eJournals Vox Romanica 73/1

Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2014
731 Kristol De Stefani

Gerold Hilty (12. August 1927 - 6. Dezember 2014)

121
2014
Georges  Lüdi
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Vox Romanica 73 (2014): 247-250 Gerold Hilty (12.August 1927 - 6. Dezember 2014) Am Morgen des 6. Dezembers 2014 hat uns mit Gerold Hilty einer der großen Lehrer und Forscher der Schweizer und der europäischen Romanistik verlassen. Sein Herz versagte seinen Dienst, kurz nachdem er sein Haus in Oberrieden verlassen hatte, von dem er auch nach dem schmerzlichen Verlust seiner Gattin immer wieder zu Studienreisen aufbrach, um sich dann wie in eine Schutzburg dorthin wieder zurückzuziehen. Gerold Hiltys Wurzeln liegen im St. Galler Rheintal; aufgewachsen ist er in St. Gallen. Seinen Herkunftsdialekt hat er in all den Zürcher Jahren nie abgelegt und dem St. Galler Rheintal hat er auch im Rahmen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit immer wieder seine Beachtung geschenkt, so als Mitbegründer und Mitherausgeber des St. Galler Namenbuches. Ein frühes brillantes Resultat ist die Studie über die Herkunft des Namens seiner Heimatgemeinde Grabs ( , c ă p ŭ t r ă p ĭ dae), die er 1976 in dessen Festschrift seinem Freund Carl Theodor Gossen widmete (in: Colón, G./ Kopp, R. (eds.), Mélanges de langues et de littératures romanes offerts à Carl Theodor Gossen, Berne/ Liège 363-94). Als Romanist lag ihm namentlich die Ostschweizer Romania submersa nach dem Rückzug des Rätoromanischen in die Alpentäler am Herzen. Weil die historischen Quellen wenig über die Sprachsituation am Südufer des Bodensees zu Beginn des 7. Jahrhunderts aussagen, musste er sich der Frage, ob um 600 am Bodensee noch romanisch gesprochen wurde, auf indirekten Wegen annähern. In bleibender Erinnerung werden mir seine Überlegungen zu den drei erhaltenen Gallus-Viten bleiben (namentlich Gallus und die Sprachgeschichte der Nordostschweiz, St. Gallen 2001). Sie lasen sich wie ein Kriminalroman. Mit der Akribie eines Detektivs ging Gerold Hilty den Spuren von Gallus Wirkens in der damaligen Sprachkontaktgegend nach, belegte anhand winziger Indizien - nicht zuletzt aus der Namensforschung - überzeugend, dass zu jener Zeit in Arbon und Bregenz eine zweisprachige Bevölkerung gelebt haben muss (in Götzis, einige Kilometer südlicher bis ins 8. Jahrhundert) und dass Gallus, wie dies seine Viten nahelegen, zu dieser gemischtsprachigen Bevölkerung predigte und infolgedessen zweisprachig alemannisch-romanisch gewesen sein muss. Diese Sprachkompetenz stellte ein wichtiges Element in Hiltys Indizienkette zu Gunsten der Hypothese dar, Gallus sei nicht mit Columban aus Irland nach Frankreich gekommen, sondern erst im Kloster Luxeuil sein Schüler geworden. Diese Arbeiten stammen aus den 90-er Jahren. Jahrzehnte früher war Gerold Hilty zu Studienzwecken nach Zürich gezogen, besuchte Vorlesungen und Seminare bei Jakob Jud und Arnald Steiger, die in ihm das Interesse für die historische Sprachwissenschaft und für die mittelalterlichen Sprachdenkmäler weckten. Es wurde während eines Studienaufenthalts in Madrid von Ramon Menéndez Pidal, Georges Lüdi 248 Dámaso Alonso, Rafael Lapesa und Emilio García Gómez weiter geschärft. Eine erste Frucht dieser Begeisterung war eine als Dissertation eingereichte Ausgabe von El libro conplido en los iudizios de las estrellas aus der Werkstatt von Alfonso el Sabio, die 1954 in der renommierten Reihe des Consejo Superior de Investigaciones Científicas publiziert wurde. Neben einer Erwerbstätigkeit als Gymnasiallehrer machte sich G. H. in den folgenden Jahren an das Verfassen einer Habilitationsschrift über die erlebte Rede, die er «oratio reflexa» nannte und in welcher er sich konsequent der synchronischen Sprachwissenschaft widmete. Obwohl er dafür alle romanischen Sprachen berücksichtigt hatte, lag der Schwerpunkt aufgrund der damaligen Forschungslage zu dieser Stilform eindeutig auf dem Französischen, was ihm 1959 nach dem Rücktritt seines Lehrers Arnald Steiger die Übernahme eines Extraordinariats erleichterte, welches neben der gesamten Iberoromanistik, inklusive der Literatur, auch die Französische Linguistik umfasste. Leider verunmöglichten ihm die mit dem Aufbau dieses Lehrstuhls verbundenen Aufgaben die Fertigstellung und Publikation der Habilitationsschrift; eine Fülle von Aufsätzen, davon mehrere in dieser Zeitschrift zum Tempussystem (VRom. 24, 1965 und 26, 1967) und zu den verschiedenen Formen der Redewiedergabe (z. B. VRom. 32, 1973), erlauben es freilich auch heute noch nachzuvollziehen, wie sich die subtile Fähigkeit, Texte zu exzerpieren und zu interpretieren (natürlich noch ohne digitalisierte Korpora und moderne Suchalgorithmen) mit einer umfassenden Kenntnis des Forschungsstandes und mit der Freude an der Diskussion und Argumentation mit Kollegen verband, z. B. mit dem damals aufgehenden «Stern» Harald Weinrich oder mit seinem Heidelberger Freund Klaus Heger. Seine Erfahrung als Lehrer und seine didaktischen Fähigkeiten schufen diesbezüglich einen Raum, in welchem sich nicht nur angehende Sprachwissenschaftler, sondern auch die vielen Lehramtsstudierenden angeregt und wohl fühlten und viel für ihre zukünftige Lehrtätigkeit mit nach Hause nehmen durften. Die vielen weiteren Früchte aus diesen Jahren können hier nur andeutungsweise genannt werden. Persönlich angesprochen hat mich ganz besonders seine Auffassung von der Bedeutung als Semstruktur als substantieller Beitrag zur strukturellen Semantik (VRom. 30, 1971 und 31, 1972). An ganz zentraler Stelle muss aber über einzelne Beiträge hinaus die Begeisterung für Fragen der gallo-romanischen und iberoromanischen Sprachwissenschaft erwähnt werden, die er bei seinen zahlreichen Lizentianden, Doktoranden und Habilitanden weckte. Memorable Ausflüge auf den Spuren Rolands oder des Cids erweiterten das rein akademische Wissen und gaben den Studierenden außerdem die Gelegenheit, ihren manchmal als streng erlebten Lehrer auch von seiner anderen, menschlichen Seite kennen zu lernen. Die Aufgabe, die gesamte Westromania abzudecken, begünstigte Gerold Hiltys sprachübergreifende Interessen, nicht nur im Bereich der historischen Sprachwissenschaft. So forschte er z. B. zu den Strukturunterschieden zwischen Deutsch und Französisch vornehmlich auf der Basis von Übersetzungen. Freilich verschob sich der Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Tätigkeit zunehmend in Richtung Iberoromania. Seit 1963 Ordinarius für Romanische Philologie (Französische Nachruf Gerold Hilty (1927-2014) 249 Sprachwissenschaft und Iberoromanistik), überließ er die Französistik zunehmend seinem Schüler und Kollegen Jakob Wüest und konzentrierte sich nach seiner Rückkehr aus dem Rektorat in der Lehre auf die Hispanistik. Dies geschah nicht zuletzt um zu verhindern, dass sein Doppellehrstuhl nach seiner Emeritierung nur dem Französischen gewidmet würde, wie er im Interview zu seinem 80. Geburtstag (VRom. 66, 2007) freimütig zugab. Dennoch konnte er seine sprachübergreifenden Interessen weiter pflegen. So widmete er seine allerletzte Vorlesung den ältesten Sprachdenkmälern im galloromanischen und im iberoromanischen Raum und versuchte damit weiterhin, die Westromania als gesamten Raum zu vertreten. Er kehrte damit im übrigen zu einem Thema zurück, das seit seinen bekannten Aufsätzen über die Straßburger Eide (VRom. 25, 1966) und zur Eulalia-Sequenz (VRom. 27, 1968) immer wieder im Zentrum seiner wissenschaftlichen Tätigkeit gestanden hatte, Publikationen, die entscheidend zu seinem Ruf als herausragender Romanist beigetragen haben. Dass sein Einsatz zur Konsolidierung der Iberoromanistik erfolgreich war, belegt die Entwicklung der Lehrstühle am Zürcher Romanischen Seminar mit heute zwei Professuren für französische Sprachwissenschaft (diachron und synchron) und drei Professuren für Spanisch (eine für Sprachwissenschaft und zwei für Literaturwissenschaft). Aber auch dass der gesamte Lehrkörper des Romanischen Seminars in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert mehr als verdreifacht werden konnte, ist nicht zuletzt dem politischen Geschick Hiltys zu verdanken. Sein Engagement für die Romanistik ging aber weit über die Lehre und Forschung hinaus. Als die Schweizer Romanistik nach dem unerwarteten Tod von Arnald Steiger 1963 die Herausgabe ihrer sprachwissenschaftlich-historischen Zeitschrift Vox Romanica mit einer neuen Redaktion auf eine breitere Grundlage stellen wollte, erklärte sich Gerold Hilty bereit, zusammen mit Carl Theodor Gossen und Toni Reinhard die Geschicke der Zeitschrift in die Hand zu nehmen. Nach dem Hinschied von Reinhard (1965) und später von Gossen (1983) betreute er die Zeitschrift bis zu seinem Rücktritt im Jahre 1991 allein und trug wesentlich zu ihrem hohen Ansehen bei. Als nach dem Tode von Walther von Wartburg 1971 die Fortführung und Fertigstellung dessen großen Werks, das Französische Etymologische Wörterbuch, gefährdet war, initiierte er zu dessen Weiterführung die Gründung der Stiftung für das Französische Etymologische Wörterbuch von Professor Walther von Wartburg, die er während über eines Jahrzehnts mit Umsicht präsidierte, bis er 1985 in den Forschungsrat des Schweizerischen Nationalfonds berufen wurde, der die Arbeit am FEW weitgehend finanzierte. Von 1989 bis 1996 amtierte er als Präsident der Abteilung Geistes- und Sozialwissenschaften des SNF und konnte so seine breite Erfahrung und sein internationales Netzwerk, aber auch sein kompromissloses Eintreten für eine objektive Bewertung der wissenschaftlichen Qualität fruchtbar in die Forschungs- und Nachwuchsförderung einbringen. Dass Gerold Hilty als Romanist weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt und geschätzt war, belegt auch seine Wahl zum Präsidenten des internationalen Dachverbandes der Romanisten, der Société de linguistique romane, deren 20. Kongress Georges Lüdi 250 er im April 1992 in Zürich organisiert hatte, für die Amtsdauer 1992 bis 1995. Zwei doctores honoris causa der Universitäten Basel und Zaragoza sind weitere Zeugnisse seines herausragenden wissenschaftlichen Rufs. Gerold Hilty war nicht nur ein hervorragender Wissenschaftler und begnadeter Lehrer, sondern entwickelte auch Führungsqualitäten. Diese setzte er zunächst im militärischen Bereich ein. Um die Ausbildungslücken seiner Studierenden nicht allzu groß werden zu lassen, benutzte er jede Möglichkeit, während seiner Führungsausbildung seinen Vorlesungsverpflichtungen nachzukommen - in Uniform, was in den 60-er Jahren von den Romanisten problemlos akzeptiert wurde. Dass ich später als sein Assistent an der WK-Befehlsgebung für sein Gebirgsinfanterieregiment beteiligt war, ermöglichte mir direkte Einblicke in mögliche Synergien zwischen Führungsaufgaben militärischer und akademischer Art. Die militärische Karriere von Gerold Hilty gipfelte im Kommando einer Kampfbrigade. In der universitären Selbstverwaltung stieg er allmählich von der Leitung des Romanischen Seminars über das Dekanat der Philosophischen Fakultät bis ins Rektorat der Universität Zürich in den Jahren 1980-82 auf. Für die Übernahme echter Führungsverantwortung als Rektor, wofür er prädestiniert gewesen wäre, war die Zeit zwar noch nicht reif; seine Erfahrung erlaubte es ihm jedoch, das Schiff der Universität ohne zu viele Probleme durch die Stürme der Zürcher Jugendunruhen zu leiten. Nach seiner Emeritierung setzte sich Gerold Hilty keineswegs zur Ruhe. Nicht nur erfüllte er sich seinen Jugendtraum eines zweiten Bandes seines Kommentars zu El Libro Conplido en los Iudizios de las Estrellas (Alicante: Biblioteca Virtual Miguel de Cervantes, 2009); aus seiner Feder flossen weiterhin wegweisende Aufsätze, von der Figur des juglar in Kastilien des 13. Jahrhunderts (1995) über die sogenannte mozarabische Lyrik (VRom 56, 1997) bis zur Mehrsprachigkeit am Hofe von Alfonso el Sabio (Alicante: Biblioteca Virtual Miguel de Cervantes, 2010). Dass ihn trotz gesundheitlicher Probleme eine ungebrochene geistige Frische charakterisierte und er wissenschaftlich kein bisschen müde war, davon zeugen nicht zuletzt die beiden Aufsätze aus seiner Feder, die in dieser Nummer der Vox Romanica erscheinen. Sie sollen zusammen mit seinen vielen anderen Schriften sein Vermächtnis sein. Die Schweizer und die weltweite Romanistik haben mit Gerold Hilty einen großen Verlust zu beklagen. Aber er wird nicht nur in seinen zahlreichen Werken weiterleben, sondern auch in den Herzen all jener, welche seiner souveränen und gleichzeitig stets menschliche Wärme ausstrahlenden Persönlichkeit begegnet sind, in Verehrung und Freundschaft. Basel Georges Lüdi