eJournals Vox Romanica 75/1

Vox Romanica
vox
0042-899X
2941-0916
Francke Verlag Tübingen
Es handelt sich um einen Open-Access-Artikel, der unter den Bedingungen der Lizenz CC by 4.0 veröffentlicht wurde.http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/121
2016
751 Kristol De Stefani

Prothetisches a im Bündnerromanischen

121
2016
Ricarda  Liver
vox7510143
Vox Romanica 75 (2016): 143-155 Prothetisches a im Bündnerromanischen Riassunto: Partendo dal materiale lessicologico della traduzione dell’Ecclesiasticus in romancio (puter) di Lüci Papa (1613) si discutono le diverse possibilità di spiegazione dell’origine di un fenomeno diffuso in antico engadinese. Oltre all’origine puramente fonetica, viene sottolineato il ruolo della prefissazione con ad. Uno sguardo alla situazione in altre lingue romanze illustra la complessità del fenomeno. Keywords: Ancient and modern Romansh of upper Engadine (Puter), prothetical vowel a-, prefix ad, prefix re with metathesis in ar, comparable phenomenons in others Romance languages 1. Problemstellung «Ils purs et habiagiaeders daun grimm pschait et afaun spoera. Els avierwan et arampoengian chia ils bels merls dal muwimainte patagon nun amiertessan gnyr afotografos, e chia tschearts splerins gnyervus afessan melg dad ire a’s afaer arder in ün ferm fôe». So verulkt der Oberengadiner Schriftsteller Reto Caratsch in seiner Satire La Renaschentscha dals Patagons (1949) die Verherrlichung der alten engadinischen Schriftsprache seitens der bündnerromanischen Spracherhaltungsbewegung 1 . Eines der auffälligsten Merkmale des alten Engadinischen ist zweifellos die verbreitete a-Prothese, die sich vor Substantiven, Adjektiven und besonders oft vor Verben findet. Das Phänomen ist in der Forschung zum Bündnerromanischen da und dort kommentiert, aber nie in seiner Gesamtheit diskutiert worden 2 . Die folgenden Ausführungen gehen der Frage nach, welche Typen dieser Erscheinung im alten und im neuen Engadinischen vorhanden sind und wie sich ihre Entstehung erklären lässt. 1 Zitiert nach Riatsch 1998: 183. Approximativ übersetzt: «Die Bauern und Landwirte reagieren wütend und höhnisch. Sie ereifern sich und schimpfen, dass die schönen Amseln der patagonischen Bewegung es nicht verdienten, fotografiert zu werden, und dass gewisse nervöse Schmetterlinge besser daran täten, zum Teufel zu gehen (wörtlich: sich in einem grossen Feuer verbrennen zu lassen).» Caratsch simuliert hier ein archaisches Puter, ohne sich darum zu kümmern, ob entsprechende Formen belegt sind oder nicht. Der komische Effekt entsteht oft gerade durch die Kombination von Archaismen und moderner Sprache, so in afotografos. Prothese von a auch in afaun, afaer, afessan (zu fer ‘machen’), arampoengian (zu rampugner ‘lärmen, schelten’), amiertessan (zu meriter ‘verdienen’), avierwan. Letzteres scheint eine Erfindung Caratschs zu sein, eine Ableitung von vierv ‘Wort’, vielleicht nach schwdt. worte ‘streiten, zanken’; cf. Schw. Id. 16: 1689. 2 Literaturhinweise bei Eichenhofer 1999: 447 N2. Ricarda Liver 144 3 Cf. Liver 2012: 165; 209 mit N15; 235 mit N91. 4 ZRPh. 130 (2014): 1034-41. 5 Cf. Liver 2016, kommentierte Neuausgabe des Textes. Dabei wird bald klar, dass nicht eine einzige Ursache für alle Resultate verantwortlich ist. Vielmehr führen verschiedene Prozesse zu ähnlichen Ergebnissen, und die Wirkung der Analogie verwischt die Spuren von ursprünglich unterschiedlichen Bedingungen. Diese Auffassung hatte ich in Liver 2012 verschiedentlich vertreten, allerdings eher beiläufig, ohne die Argumentation zu vertiefen 3 . Eine Reaktion von Johannes Kramer auf diese Äusserungen veranlasst mich nun, das Phänomen der a-Prothese wieder aufzunehmen. Kramer fordert in seiner Rezension meines Buches Der Wortschatz des Bündnerromanischen 4 , das Problem müsse aus gesamtromanischer Sicht angegangen werden. Er legt auch gleich eine Skizze zu einer entsprechenden Darstellung vor (p. 1040), in der das Hauptgewicht auf dem Aromunischen liegt, das beim Phänomen der a-Prothese bemerkenswerte Parallelen zum Altengadinischen aufweist. Weiterhin wird auf das Vorkommen der a-Prothese im Gaskognischen, in süditalienischen Dialekten, im Iberoromanischen und im Baskischen hingewiesen, immer mit der Angabe von einschlägiger Literatur, die in der Bibliographie am Ende der Rezension aufgeführt wird. Im Zentrum dieser Ausführungen steht die Annahme, die a-Prothese sei die Folge einer intensiven Artikulation von anlautendem r-, die sich dann analogisch auf andere Kontexte ausgedehnt hätte. Sekundär wären auch Wörter, in denen die Anlautsilbe durch Metathese von rezu arverändert wurde, in den Sog der a-Prothese hineingezogen worden. All das ist zweifellos richtig, und die Ausweitung der Fragestellung auf die Gesamtromania ist wichtig und erhellend. Dennoch scheint mir, dass eine genauere Untersuchung der Verhältnisse im Bündnerromanischen Resultate verspricht, die sowohl für die Geschichte des Rätoromanischen als auch für das Verständnis des Phänomens in gesamtromanischer Perspektive von Interesse sind. 2. Beispielmaterial Als Material für einen Versuch, die oben formulierte Hypothese von einem Zusammenspiel mehrerer Faktoren als Quellen eines a-Anlauts im Altengadinischen zu illustrieren, scheint mir die Ecclesiasticus-Übersetzung von Lüci Papa, La Sabgienscha von 1613, geeignet 5 . Der Text ist überschaubar, aber doch umfangreich genug, um eine aussagekräftige Anzahl von Beispielen zu liefern. Die Beispiele stellen nicht durchwegs sichere Fälle von a-Prothese dar. Das erwähnte Zusammenwirken von verschiedenen Faktoren, die zu einem a-Anlaut Prothetisches a im Bündnerromanischen 145 6 Gartner 1883: 71 §92. Cf. auch Walberg 1907: 64 s. §100 und 102; Lutta 1923: 141 §123, 144 §126. 7 Wir führen jeweils nur eine Fundstelle an, nach der Zählung der Ausgabe von Liver 2016. Für weitere Stellen cf. das Glossar der Ausgabe. führen können, macht die Interpretation oft schwierig. Der Redaktor des Artikels giavüschar in DRG 7: 230 spricht von der Häufigkeit von «Verben mit genetisch nicht immer transparenter a-Prothese» im Altoberengadinischen. Bei den Verben und deren Ableitungen stellt sich oft die Frage, ob der a-Anlaut auf ein lateinisches ad, respektive auf romanische Resultate desselben zurückgeht. Ein weiterer Sonderfall ist das, was Gartner «eine Art Metathese» nennt 6 , eine Synkope des Vokals der Anlautsilbe mit anschliessender a-Prothese (artraer, artschaiver). Es folgt eine Liste der Beispiele für eine mögliche a-Prothese aus Papas Ecclesiasticus-Übersetzung, geordnet nach Wortarten. Wo der a-Anlaut (selten i-) auch im modernen Puter vorhanden ist, wird die entsprechende Form in Klammer mit ° verzeichnet. Substantive abiagiamaint ‘Bebauung’ (7,16) 7 , agiavüschamaint ‘Wunsch’ (18,31), alaig m. ‘Ehe’ (ann. zu Kap. 4), amnatscha ‘Drohnung’ (13,4; °imnatscha), amorff ‘Verleumdung’ (19,15), apparagiamaint ‘Zurüstung, Bereitstellen’ (29,29), aradschun ‘Recht; Vernunft; Ursache’ (1.Vorw.V), aradschunamaint ‘Rede, Erzählung’ (4,29), araig ‘König’ (1.Vorw. III v o ), arains f.pl. ‘Rücken’ (21,18; °arains), aram ‘Ast, Zweig’ (1,25), araspaeda ‘Versammlung’ (3,1), arassa ‘Rock’ (45,10), arassetta ‘kurzer Rock’ (45,10), arazz ę da ‘Strahlenglanz’ (43,4), arcumandaschun ‘Empfehlung’ (47,7; °arcumandaziun), arfraschiamaint ‘Erfrischung’ (34,19; °arfrais-chamaint), arfüdaschun ‘Zurückweisung’ (25,36; °arfüdaschun), arguard ‘Rücksicht’ (2,21), arials m.pl. ‘Riegel’ (28,28), arichezza ‘Reichtum’ (1.Vorw. IV v o ), aridschadur ‘Herrscher, Lenker’ (10,1), aridschamaint ‘Herrschaft, Herrschaftsgebiet’ (10,25), ariginam ‘Reich, Königreich’ (2.Vorw. 8), arimur ‘Tosen, Getöse’ (43,18), arisch ‘Wurzel, Spross’ (1,6), arnuamaint ‘Erneuerung’ (ann. zu Kap. 16; °arnuamaint), aroba ‘Habe, Sache’ (6,15), aroeff ‘Bitte’ (33,20), aroesa ‘Rose’ (24,18), arouda ‘Rad’ (33,5), arüglenscha ‘Reue’ (1.Vorw.VI v o ), arüfflênscha ‘Reue’ (5,17), aruigen ‘Rost’ (12,10), aruina ‘Sturz, Untergang’ (ann. zu Kap. 13). Adjektive adeister ‘geschickt, gewandt’ (3.Vorw. 3), amurvaditsch ‘neidisch, verleumderisch’ (26,7), appusaivel ‘gerecht, geziemend’ (10,26; °dret ed appussaivel ‘recht und billig’), ardaint (auch adv.) ‘nahe’ (12,12; °ardaint), arick ‘reich’ (8,2). Ricarda Liver 146 8 In eckigen Klammern stehen rekonstruierte Infinitive von Verben, die im Text nur in flektierten Formen erscheinen. Verben abranclaer ‘umarmen, erfassen’ (15,1), achiattaer ‘finden, erlangen’ (1.Vorw. IV v o ), [adestraer] 8 ‘schulen, unterweisen’ (30,3; °adestrer), adrachaer ‘prozessieren’ (8,17), adrizzaer ‘richten, einrichten’ (35,15), adruaer ‘brauchen, anwenden’ (10,13), adüsaer, s’adüsaer ‘(sich) gewöhnen’ (23,9; °adüser), affadiar, s’affadiaer ‘sich bemühen’ (1.Vorw.V v o ), affarmaer ‘aufhalten; festmachen’ (ann. zu Kap. 4), agiavüschaer ‘wünschen’ (4,5), agravaer ‘beeinträchtigen, schädigen’ (18,15; °agraver), alaiaer ‘überschwemmen’ (24,37), [alamgiaer] ‘lindern’ (18,16; °allamger), [alvaer] ‘aufstehen; wegnehmen’ (10,20; alver), amazzaer ‘ermorden’ (ann. zu Kap. 4; °ammazzer), amnatschaer ‘drohen’ (13,4; °imnatscher), [amuantaer] ‘bewegen’ (1.Vorw.V v o ), anumnaer ‘nennen’ (22,17), apaschaer ‘versöhnen’ (35,5), ap(p)inaer ‘bereiten’ (2,20), aradschunaer ‘erzählen’ (2.Vorw. 2), [arampchaer] ‘klettern’ (37,3; °arampcher), [arantaer], s’arantaer ‘sich halten, klammern an etwas’ (summa von Kap. 14), arasaer ‘ausbreiten’ (12,19), [araspaer] ‘sammeln, versammeln’ (21,9), [arasüstaer] ‘auferstehen’ (ann. zu Kap. 48), [arcum(m)andaer] ‘empfehlen’ (24,1; °arcumander), ardubl ę r ‘verdoppeln’ (23,13; °ardubler), ardür ‘verwandeln, zurückführen’ (48,13; °ardür), [aredscher] ‘herrschen, lenken’ (10,24), arender ‘zurückgeben’ (3,34), arestaer ‘bleiben’ (41,15), arfüdaer ‘zurückweisen’ (6,24), [argiunscher] ‘hinzufügen’ (17,9), [argrignaer] ‘das Gesicht verziehen’ (19,24), arguardaer ‘berücksichtigen, ehren’ (1,20), [ariaer] ‘ausraufen, ausreissen’ (3,30), [arichiantaer] ‘bereichern’ (2,3), arir ‘lachen’ (7,12), [arischaer], [s’arischaer] ‘Wurzeln schlagen’ (3,30), aritschir ‘kräuseln’ (27,15), [arnuaer] ‘erneuern’ (ann. zu Kap. 15; °arnuer), arprender ‘tadeln’ (11,7; °arprender), [asalvaer] ‘vorbehalten, ausnehmen’ (ann. zu Kap. 16; °arsalver), artegner, s’artegner ‘(sich) zurückhalten’ (3,4; °artgnair), artraer, s’artraer ‘(sich) zurückziehen’ (2,18; °artrer neben retrer), artschaiver ‘erhalten, empfangen’ (6,34; °artschaiver), aruaer ‘bitten, erbitten, beten’ (1.Vorw.VI), arüfflaer, s’arüfflaer ‘bereuen’ (20,4; °arüvler), aruinaer ‘zugrunde richten, zerstören’ (10,3), arumagnair ‘bleiben’ (44,12), arumper ‘brechen’ (ann. zu Kap. 4), [asafdaer] ‘verkündigen, wissen lassen’ (43,2), asiever ‘einholen’ (27,9; °aziever). 3. Auswertung 3.1 avor r Das rein optische Bild dieser Beispielsammlung ergibt zunächst einmal die Feststellung, dass der bei weitem grösste Anteil an Formen mit anlautendem a dort auftritt, wo dieses vor r steht. Bei den Substantiven sind es 29 von 34, bei den Adjek- Prothetisches a im Bündnerromanischen 147 9 Vor b Subst. 1, Verben 1; vor ch (t ɕ ) Verben 1; vor d Adj. 1, Verben 5; vor f Verben 2; vor g Verben 2; vor l Subst. 1, Verben 2; vor m Subst. 2, Adj. 1, Verben 3; vor n Verben 1; vor p Subst. 1, Adj. 1, Verben 2; vor s Verben 2. 10 Cf. DRG 1: 378 s. s. ardaint II, HWR s. rudien, LCR s. rudien. 11 Cf. DRG loc.cit., LSI 4: 226. 12 Arcum(m)andaer - racumandar, ardubl ę r - redublar, ardür - redüer, arfüdaer - refütar, arguardaer - reguardar, arnuaer - renovar, arsalvaer - resalvar, artegner - retgnair, artraer - retrar, artschaiver - retschaiver. 13 Imbütter ist auch oberengadinisch. Cf. DRG 8: 240 s. 14 Cf. auch DRG 5: 622 s. engurgnir surselv., ingrignir oengad. 15 So DRG 1: 401. Zu verwandten Bedeutungen von fr. rejoindre ‘joindre de nouveau, réunir des parties qui avaient été séparées’ cf. FEW 5: 70. 16 Arantaer, arasaer, araspaer, arasüstaer, aredscher, arender, arestaer, argiunscher, ariaer, arichiantaer, arir, arischaer, aritschir, aruaer, arüfflaer, aruinaer, arumagnair, arumper. tiven 2 von 5 und bei den Verben 32 von 54. Alle anderen Konstellationen sind ungleich viel seltener 9 . In vielen Fällen ist es nicht leicht, die einzelnen Formen einer der erwähnten drei Möglichkeiten der Entstehung zuzuweisen, einer artikulatorisch bedingten Prothese, einer «Art von Metathese» oder einer Basis, die lateinisch ad oder eine romanische Entsprechung davon enthält. Am leichtesten lassen sich die Beispiele für die zweite Möglichkeit isolieren. Von den fünf Beispielen für Substantive auf arin unserem Text, die eine Metathese von rezu araufweisen, sind vier Ableitungen von entsprechenden Verben, die in der Sabgienscha ebenfalls belegt sind: arcumandaschun von arcum(m)andaer, arfüdaschun von arfüdaer, arguard von arguardaer und arnuamaint von arnuaer. Einzig arfraschiamaint hat keine verbale Entsprechung im Text. Pallioppi 1895 verzeichnet refrais-cher, rinfrais-cher und arfrais-cher, Peer 1962 einzig rinfras-char. Resultat einer Metathese ist auch das Adjektiv/ Adverb ardaint ‘nahe’ 10 . In der Form radent ist der Worttypus auch in Mittelbünden und in alpinlombardischen Mundarten belegt 11 . Von den 13 Verben, die wahrscheinlich als Beispiele für eine Metathese von rezu argelten können, haben 10 eine Entsprechung mit der Anlautsilbe re- (oder ra-) im Vallader 12 . Arprender ‘tadeln’ hat keine Entsprechung im Vallader, wo ‘tadeln’ imbüttar heisst 13 . Pallioppi 1895 verweist unter arprender auf reprender, riprender, was von Velleman 1929 als Italianismus bezeichnet wird. DRG 1: 401 s. argrignaer wird Sabg. 19,24 als vereinzelter Beleg für ein Verb, das zu germ. *grînan ‘das Gesicht verziehen’ gehört, angeführt. Ableitungen von dieser Basis mit dem Präfix resind laut FEW 16: 68 und 71 im Galloromanischen verbreitet 14 , so dass auch hier eine Metathese von rezu arwahrscheinlich ist. Eine Sonderstellung nimmt argiunscher ein, wo die Anlautsilbe auf ein primäres re-jungere zurückgehen könnte, das sekundär in die Reihe der metathetisch entstandenen ar-Anlaute übergegangen wäre 15 . Unser Material enthält 17 Verben, die auf aranlauten und nicht in die eben besprochene Kategorie fallen, wo arauf eine Metathese zurückgeht 16 . Bei einigen Ricarda Liver 148 17 Laut Greimas 1980 bedeutet araisnier neben ‘ansprechen’ auch ‘discourir, raconter’. 18 Zum letzten Beispiel auch Liver 2012: 165. 19 Die neapolitanischen Beispiele stammen aus D’Ambra 1873. 20 Alaiaer ist das einzige Parasyntheticum in dieser Beispielreihe. Hier ist die Interpretation a- , ad unzweifelhaft. dieser Verben ist eine Basis ad grundsätzlich möglich, aber kaum zwingend nachzuweisen. In vielen Fällen gibt es Parallelen in anderen romanischen Sprachen, was jedoch nicht unbedingt bedeutet, dass auch der Ursprung derselbe ist. So erinnert aradschunaer an afr. araisnier 17 , arampchaer an it. arrampicare, arender an arrendere, arichiantaer an arricchire, arir an arridere, aritschir an arricciare 18 . Parallelen in süditalienischen Dialekten gibt es zu aredscher (kalabr. arrèjari, Rohlfs 1949 I: 278), arestaer (nap. arrestare ‘restare’), arischaer (nap. arradecare), arumper (nap. arrompere) 19 . Zweifelhaft ist eine Basis ad in ariaer ‘ausraufen, ausreissen’. LCR s. ragada II ‘vom Wind umgeworfene Tanne, Wurfholz’ gibt als Etymon *eradicata an, eine Ableitung von *eradicare ‘an der Wurzel packen’. Nach dem Ausschluss aller Fälle, wo avor rdurch Metathese oder (wahrscheinlich) durch ein Präfix ad zu erklären ist, bleiben als Kandidaten für einen Anlaut araus rein phonetischen Motiven die Verben arasaer, araspaer, arasüstaer, aruaer, arüfflaer, aruinaer und arumagnair. Dazu kommen die Substantive, die von diesen Verben abgeleitet sind: araspaeda, arüfflênscha, arüglenscha. Eine artikulatorisch bedingte Prothese kann man wohl auch bei araig, arains, aram, arassa, arassetta, arazzaeda, arials, arichezza, arimur, arisch, aroba, aroeff, aroesa, arouda, aruigen, aruina und beim Adjektiv arich annehmen. 3.2 avor anderen Konsonanten als r Wo avor anderen Konsonanten als r steht, ist die Wahrscheinlichkeit einer Basis ad grösser. Von den 20 Verben in unserem Material lassen wenigstens 17 diese Interpretation als möglich zu. In vielen Fällen wird sie durch die Kommentare in den entsprechenden Artikeln des DRG oder HRW gestützt. Hier die Beispiele: abranclaer (cf. abratschar, DRG 1: 64 und it. abbracciare), achiattaer ( , ad + captare, DRG 1: 480), adestraer (cf. adeister adj., DRG 1: 98; afr./ aprov. adestre; it. addestrare), adrizzaer (cf. it. addirizzare), adruaer ( , adoprare; cf. DRG 5: 382 s. dovrar), adüsaer (cf. DRG 1: 110), affadiaer (cf. DRG 6: 12), affarmaer (cf. DRG 6: 213), agravaer (cf. it. aggravare, afr. agraver; DRG 1: 129), alaiaer (zu lai ‘See’ mit Präfix ad; DRG 1: 161) 20 , alamgiaer (cf. HWR s. lumiar), amazzaer (DRG 13: 754 s. mazzar: «Die engad. Formen ammazzar, -er weisen prothetisches aauf». ad wie in it. ammazzare ist jedoch ebenso wahrscheinlich), amussaer (cf. FEW 6/ 3: 98 fr. amonstrer und Dialektbelege), anumnaer (cf. it. annomare), apaschaer (cf. fr. apaiser), ap(p)inaer (cf. lat. appagineculi ‘Zieraten’; pinar nach HWR, LRC von lat. paginare). Prothetisches a im Bündnerromanischen 149 21 Cf. oben N6. 22 Cf. DRG 1: 222 s. alvar, DRG 8: 265 s. imnatscha. 23 Cf. Walberg 1907: 64 s. §100, Lutta 1923: 141 §123, 144 §126, Eichenhofer 1999: 447 §672, LSI 3: 144 s. levá. Weiteres unten Kap. 4. 24 Cf. Lutta 1923: 144 §126; DRG 8: 265 s. imnatscha. 25 Seine Bedeutungsangabe ‘liebeskrank, verliebt’ ist wohl irrig (Verwechslung mit amuraditsch DRG 1: 252? ), der Hinweis auf it. ammorbare hingegen wertvoll. Zingarelli 1966 glossiert das Verb mit ‘render malsano, infetto, appestare’. Der Worttypus lebt in anderer Form (mit Intensivpräfix sch-) in eng. schmuorv ‘Beschimpfung, Beleidigung’, schmuorvar, -er intr. ‘stinken, übel riechen’, tr. ‘jem. schmähen, beleidigen’, schmuorvantar, -er ‘verpesten’ fort. Cf. HWR s. schmuorvar, miervi, muorv. 26 Cf. DRG 10: 315 s. lai II. Etymologisch geht eng. lai, alach, surs. lètg auf legem zurück, eine Lehnübersetzung von mhd. ê, êwe ‘Recht, Gesetz’, daraus ‘Ehe, Ehebund’, unter dem Einfluss der deutschen Rechtsterminologie. Cf. auch Decurtins 1993: 181. Wenig wahrscheinlich ist eine Basis ad im Fall von adrachaer ‘prozessieren’. Zu agiavüschaer ‘wünschen’ bemerkt der Autor des Artikels giavüschar in DRG 7: 230: «Verben mit genetisch nicht immer transparenter a-Prothese sind im Aoengad. häufig». Zu den Ergebnissen der Entwicklung, die als Synkope des Vortonvokals und Kompensation durch prothetischen Vokal oder eine Art Metathese beschrieben wird 21 , gehören die Verben alvaer und amnatschaer 22 . Parallelbeispiele zu alvar, -er gibt es im Engadinischen viele, so aldüm ( , laetamen), altschiva ‘Wäsche’ ( , lixiva), almanter ‘klagen’ ( , lamentare), aber auch in alpinlombardischen Mundarten und in anderen italienischen Dialekten 23 . Im Fall von amnatschaer stimmt Lüci Papa mit Bergün und dem obersten Albulatal (C 1 ) überein, während Bifrun (wie das heutige Puter) imnatschêr hat 24 . Von den 6 Substantiven, die avor einem anderen Konsonanten als r aufweisen, sind abiagiamaint, agiavüschamaint und apparagiamaint deverbale Ableitungen. Die a-Prothese von agiavüschaer ist, wie oben festgehalten, nicht geklärt. Ein Verb abiagaer ist bei Lüci Papa nicht belegt, wohl aber biagiaer (20,30). Bifrun hat abiagiêr. Ob es sich beim Anlaut um eine rein phonetische Prothese oder vielleicht um eine Anlehnung an dt. anbauen handelt, ist nicht zu entscheiden. Zu agiavüschaer, wo die Erklärung von aebenfalls unsicher ist, cf. oben. Auch das Verb, von dem apparagiamaint abgeleitet ist, kommt bei Papa nicht vor. Pallioppi 1895 verzeichnet parager ‘zurüsten, bereiten’. It. appareggiare ‘pareggiare’ legt die Vermutung nahe, dass hier ad zugrunde liegt. Auch bei amorff ‘Verleumdung’, wovon das Adjektiv amurvaditsch ‘verleumderisch’ abgeleitet ist, könnte ad im Spiel sein. Pallioppi 1895, der das Adjektiv als veraltet registriert, fügt hinzu: «richtiger ammurvaditsch, ... abgeleitet von ital. ammorbato» 25 . Amnatscha gehört zum besprochenen Verb amnatschaer und somit zu den Beispielen für Sprossvokal nach Synkope des Vortonvokals. Ein Sonderfall ist alaig m. ‘Ehe’, wo sich der a-Anlaut aus der Agglutination des Artikels erklärt 26 . Ricarda Liver 150 27 Die Bemerkung in DRG 1: 328 s.v., «Die Entwicklung eines Sprossvokals aim Anlaut ist in Eo. normal» ist hier nicht am Platz, umso weniger, als an derselben Stelle auf apparair verwiesen wird. 28 Der letzte Fall ist in unserem Material nur gerade durch alaig ‘Ehe’ vertreten. Die Form steht in der Sprache der Zeit neben Beispielen für den umgekehrten Vorgang, wo ein ursprünglicher a-Anlaut durch Deglutination vom Substantiv abgetrennt und zum Artikel gezogen wird, wie la mur für l’amur, la marusa für l’amarusa (in unserem Text nicht belegt). Cf. Schneider 1968: §268a. Als letztes Beispiel für avor anderem Konsonant als r bleibt das Adjektiv appusaivel ‘gerecht, billig, geziemend’, wo wohl ad zugrunde liegt wie in vielen Bildungen mit dem Anlaut app- 27 . 3.3 Fazit Die Ergebnisse der Sichtung unseres Materials bestätigen die eingangs geäusserte Vermutung, der im Altoberengadinischen verbreitete a-Anlaut habe verschiedene Ursachen. Abgesehen natürlich von den Fällen, in denen aeiner sicheren etymologischen Basis angehört (amur, ami etc.), haben wir vier Konstellationen vorgefunden, die als Ausgangspunkt für einen Anlaut mit unbetontem agelten können: 1. eine rein artikulatorisch bedingte Vokalprothese, 2. eine Synkope des Vortonvokals mit anschliessender Vokalprothese oder Metathese innerhalb der Anlautsilbe, 3. eine ursprüngliche Präfixbildung mit ad oder dessen romanischem Resultat, 4. eine durch Agglutination des Artikels entstandene a-Prothese 28 . Da viele Fälle nicht eindeutig der einen oder anderen Konstellation zuzuordnen sind (vor allem zwischen 1 und 3 ist die Zuordnung oft schwierig), hat eine statistische Auswertung unserer Daten wenig Sinn. Dies auch deshalb, weil die Beispiele, die aus einem einzigen Text stammen, für die Gesamtsprache nicht völlig repräsentativ sind. Unübersehbar ist, dass die meisten Fälle von a-Anlaut Lexeme betreffen, in denen auf ar folgt. Am leichtesten sind die Beispiele für Konstellation 2 (Metathese) zu identifizieren. Bei den Verben mit avor r sind es 13 von insgesamt 33, bei denen mit avor anderen Konsonanten 2 von 20. Im nominalen Bereich stehen 5 Substantive (immer Ableitungen von entsprechenden Verben) und ein Adjektiv/ Adverb (ardaint) mit Anlaut areinem einzigen Beispiel mit avor einem anderen Konsonanten (amnatscha, Ableitung von amnatschaer) gegenüber. Bei Verben ist eine Basis mit dem Präfix ad grundsätzlich oft möglich, in den einzelnen Fällen jedoch schwer nachweisbar. In den Beispielen für avor anderen Prothetisches a im Bündnerromanischen 151 29 Cf. oben p. 148. 30 Phonetisch bedingt ist letztlich auch die Kategorie der metathetisch entstandenen Formen. Nur handelt es sich hier nicht um einen neuen Sprossvokal, sondern um die Vorwegnahme und Modifizierung eines schon vorhandenen Vokals. 31 Stotz 2000 (vol. 2): 401 s. §114. 32 Stotz 2000 (vol. 2): 153 s. §78, vor allem 78.3. 33 Stotz 1996 (vol. 3): 275 §235.3. Konsonanten als r, wo dieser Ursprung verschiedentlich auch vom DRG angenommen wird 29 , lassen 17 von 20 Verben diese Interpretation zu. Die Beispiele für eine wahrscheinlich rein artikulatorisch bedingte a-Prothese stammen alle aus der Kategorie avor r. Sie gehören sowohl dem verbalen als auch dem nominalen Bereich an, wobei im Fall der Verben immer auch eine Basis ad in Betracht gezogen werden muss. Es ist anzunehmen, dass die genetisch verschiedenen Typen von a-Anlaut sich gegenseitig beeinflusst und zu mannigfachen Analogiebildungen geführt haben. Da die Interpretation in vielen Fällen fraglich ist, bleiben schliesslich nicht sehr viele Fälle von wahrscheinlichen Kandidaten für eine rein phonetisch bedingte a-Prothese 30 . - Verben: arasaer, araspaer, arasüstaer, aruaer, arüfflaer, arunaer - Substantive: aradschun, araig, arains, aram, araspaeda, arassa, arassetta, arazz ę da, arials, arichezza, ariginam, arimur, arisch, aroba - Adjektiv: arich Die relativ geringe Zahl von Verben ist unter anderem dadurch bedingt, dass wir in vielen Fällen die Annahme einer Basis ad in Betracht gezogen haben. Dass der Anteil der Präfixbildungen mit ad in unserem Zusammenhang nicht unterschätzt werden sollte, legen auch die Verhältnisse im mittelalterlichen Latein nahe. Peter Stotz weist in seinem monumentalen Handbuch Lateinische Sprache des Mittelalters verschiedentlich auf Verhältnisse hin, die uns in dieser Auffassung bestärken. Wichtig ist zunächst der Hinweis auf die generell grosse Zahl neuer Präfixbildungen mit ad zu alten Simplicia 31 . Auch die Tatsache, dass oft Verben mit Präfix ad dieselbe Bedeutung haben wie die entsprechenden Simplicia, eine Erscheinung, die sporadisch schon in klassischer Zeit auftritt, im Mittelalter jedoch häufiger wird 32 , könnte zu einer Annährung von ad-Bildungen und Verben mit phonetischer a-Prothese im Sprecherbewusstsein geführt haben, einer Voraussetzung für analogischen Ausgleich. Schliesslich sprechen auch die mittellateinischen Beispiele für einfaches r anstelle von rr in Verben mit Präfix ad (arepere, arestare, aripere, arogare) für diese Sicht 33 . Ricarda Liver 152 34 Handelt es sich bei asvelt ‘flink’, das für Olivone und Poschiavo (LSI 5: 382), aber auch im Dolomitenladinischen bezeugt ist, um eine a-Prothese? Die Fussnote zum Artikel asvélt in EWD 1: 169 legt diese Interpretation nahe: «aus euphonischen Gründen». Ob sie zutrifft, scheint mir jedoch fraglich, da im Dolomitenladinischen der Anlaut svsonst durchaus geläufig ist. Das anlautende akönnte aus dem Ausdruck alla svelta stammen, der oft mit svelto kommutiert. Cf. die Karte «Spicciatevi» AIS 8: 1608. 35 Nach DEI s. ribòla ‘sorta di vino rosso pregiato’ , rubeolus. 4. Ausblick auf andere romanische Sprachen Am Anfang dieser Ausführungen haben wir auf die von Johannes Kramer erwähnten Parallelen zwischen dem Engadinischen und dem Aromunischen im Vorkommen von a-Prothesen hingewiesen. Die Übereinstimmung dieses Sprachnamens mit Bifruns Arumaunsth (Gartner 1913: 1) ist schlagend! Aber nicht nur in dieser Varietät des Rumänischen, auch in zahlreichen anderen romanischen Sprachen und Dialekten findet sich Vergleichbares. Allerdings sind Verbreitung und Erscheinungsformen des Phänomens in den verschiedenen Sprachen sehr unterschiedlich. Um Genaueres dazu aussagen zu können, müssten Untersuchungen durchgeführt werden, die den Rahmen dieser Skizze bei weitem sprengen würden. Wir beschränken uns darauf, einige Resultate bisheriger Forschung zusammenzutragen, um die Verbreitung der a-Prothese in der Romania zu dokumentieren. In der näheren Nachbarschaft des Engadins (abgesehen vom obersten Albulatal) finden sich kaum Spuren des Phänomens 34 . Im Dolomitenladinischen ist nach Kramer 1981: 174 die vokalische Prothese auf die Fälle beschränkt, wo in Präfixverben auf reder Vortonvokal durch Synkope fiel und sekundär prothetisches avor r auftrat, also eine Art Metathese. So ergibt relevare in allen Mundarten arleve(r) ‘aufziehen, erziehen’, *rebassare arbase(r) ‘erniedrigen’ (loc. cit.). Im Friaulischen scheint die a-Prothese nur in älterer Zeit eine gewisse Rolle gespielt zu haben. Paola Benincà 1995: 52 unterscheidet in ihrem Artikel zum Friaulischen vom Mittelalter bis zur Renaissance zwischen a-Prothese «per motivi puramente fonetici» und Fällen, in denen das Präfix ad zugrunde liegt. Beispiele für die erste Variante sind etwa aras m. pl. ‘rape’, arasons ‘ragioni’, aribola ‘ribolla’ 35 , für die zweite apagar ‘(ap)pagare’, adusi ‘condurre’, asconiur ‘(io) scongiuro’. Im Artikel derselben Autorin zum aktuellen Friaulischen (1989: 564-68) findet das Phänomen keine Erwähnung. In den italienischen Dialekten ist die Situation ziemlich kompliziert. Rohlfs 1949: 278 s. (§164) geht in seiner Darstellung zu anlautendem r von der Feststellung aus, dass in grossen Gebieten Süditaliens r- «mit starkem Stimmeinsatz als rr gesprochen (wird) wie auf der iberischen Halbinsel», was dann oft zu einer a-Prothese führe: siz. arraggiu ‘raggio’, kalabr. arramu ‘ramo’, nap. arrissa ‘rissa’ etc. Beispiele finden sich nördlich bis Rom und in die Abruzzen, aber auch in Mittelitalien (Toskana, Umbrien und Marken). Dass auch andere Faktoren als die verstärkte Prothetisches a im Bündnerromanischen 153 36 Verweis p. 279 auf §338, wo dieser Vorgang behandelt wird. 37 Cf. auch Rohlfs 3 1977 §383. 38 Arregemundo (um 990), Arrenaldo (um 1026), Arroger (um 1105). Loc.cit. 39 Die ausführliche Studie von Leif Sletsjøe von 1978, «AR ER - adverbes indépendants en ancien galicien-portugais - et les mots en arren ibero-roman» schliesst mit dem Zugeständnis, kein schlüssiges Resultat erreicht zu haben: «Le présent article n’a d’autre prétention que de présenter le problème d’une façon nouvelle et d’inviter d’autres à s’en occuper» (Sletsjöe 1978: 288). Artikulation von rfür entsprechende Resultate verantwortlich sein können, deutet Rohlfs an, wenn er auf die massive Präsenz von Verben mit arr-Anlaut im Süditalienischen hinweist und dabei die Möglichkeit in Betracht zieht, hier könnte auch das Präfix ad eine Rolle spielen (N1 zu p. 278). Auch in Bezug auf die besonders in Mittelitalien (südliche Toskana, Umbrien und Marken) sehr häufigen Verben, in denen arauf reberuht, zieht Rohlfs eine andere Erklärung als die rein artikulatorische in Betracht, nämlich die Entstehung eines Stützvokals infolge Verlustes des Vortonvokals (Synkopierung) 36 . Es fällt auf, dass in den Artikeln des LRL zur Areallinguistik der italienischen Dialekte, wo die entsprechenden Phänomene auftreten, die a-Prothese nicht thematisiert wird. Anders in den Artikeln zum Sardischen. Michel Contini 1988: 838 hält in seinem Beitrag zur Sprachgeschichte des Sardischen fest: «Il trattamento della Riniziale, sempre rafforzata e spesso con protesi vocalica, accomuna il sardo all’iberoromanzo». Allerdings geht aus dem Artikel von Maurizio Virdis 1988 zur Areallinguistik des Sardischen hervor, dass die Erscheinung auf das Campidanesische beschränkt ist. Sie bestimmt eine der Isoglossen, die das Campidanesische vom Logudoresischen abgrenzen. Im Logudoresischen stehen rosa, ruere, roda den Formen arròsa, arrùiri, arròda im südlich angrenzenden Campidanesischen gegenüber (1988: 900). Ein Zusammenhang des Phänomens der a-Prothese mit den Verhältnissen im Iberoromanischen (und im Baskischen) wird auch in der Literatur zum Gaskognischen postuliert. Xavier Ravier 1991: 87, der im Artikel zur okzitanischen Areallinguistik die Beispiele arrat ‘rat’, arrasim ‘raisin’, arròda ‘roue’ zitiert, weist auf Parallelen zum Aragonesischen und zum Baskischen hin 37 . Bemerkenswert sind die Beispiele von a-Prothese in latinisierten Personennamen im mittelalterlichen Aquitanien 38 . Auf der Iberischen Halbinsel ist das Phänomen, wie erwähnt, verbreitet. In den asturianisch/ leonesischen Scriptae des Mittelalters ist es reichlich bezeugt (aromper, alimpiant , limpidant, arecibir, García Arias 1995: 627), ebenso im älteren Portugiesisch-Galicischen (cf. Sletsjøe 1978). Die Frage, ob die zahlreichen Verben auf arredes heutigen Spanischen (und verwandte Formen im Portugiesisch-Galicischen und im Katalanischen) auf Präfigierung mit re und ad zurückgehen oder auf phonetische Prozesse, die eine a-Prothese bewirkten, ist wohl ebenso schwierig zu beantworten wie im Fall des Engadinischen 39 . Interessant ist die Tatsache, dass im umgangssprachlichen Spanisch der Gegenwart eine Tendenz zur a-Prothese zu Ricarda Liver 154 40 Martínez Martín 1992: 449. Die Beispiele bestätigt Rolf Eberenz, dem ich auch für weitere Hinweise danke. beobachten ist, und zwar nicht nur vor r: arrecoger für recoger, la afoto für la foto, la arradio für la radio, la amoto für la moto 40 . Aus diesem summarischen tour d’horizon über Erscheinungen in der Romania, die mit den eingangs dargestellten Verhältnissen im Engadinischen vergleichbar sind, ergeben sich einige Beobachtungen, die trotz offenen Fragen dazu beitragen, das Phänomen der a-Prothese im Altengadinischen in einen weiteren Rahmen einzuordnen. Zunächst zeigt es sich, dass die a-Prothese im Mittelalter verbreiteter war als in späteren Zeiten. Das stimmt mit der Situation im Engadin (vor allem im Oberengadin) überein, wo ebenfalls die alte Sprache deutlich mehr Beispiele aufweist als die neuere. Dieser Sachverhalt könnte auch erklären, warum die a-Prothese nur im Oberengadin und im oberen Albulatal belegt ist. Da wir keine (oder fast keine) Zeugnisse von mittelalterlichem Rätoromanisch haben, können wir nicht wissen, ob das Phänomen allenfalls in früherer Zeit weiter verbreitet war. Der Überblick über die Gesamtromania macht zudem deutlich, dass die verschiedenen Fälle von a-Anlaut mit Sicherheit auf verschiedene Faktoren und deren Zusammenwirken zurückzuführen sind. Neben artikulatorisch bedingten Prozessen spielt zweifellos die Präfigierung mit ad eine wichtige Rolle. Lützelflüh Ricarda Liver Bibliographie AIS = Jaberg, K./ Jud, J. 1928-40: Sprach- und Sachatlas Italiens und der Südschweiz, 8 vol., Zofingen Benincà, P. 1989: «210. Friaukisch/ Friulano. Interne Sprachgeschichte I. Grammatik/ Evoluzione della grammatica», in: LRL 3: 563-85 Benincà, P. 1995: «123. Friaulisch/ Il friulano», in: LRL 2/ 2: 42-61 Contini, M. 1988: «287. Sardisch/ Sardo. Interne Sprachgeschichte I. Grammatik/ Evoluzione della grammatica. 1. Fonetica e fonologia del sardo», in: LRL 4: 837-38 D’Ambra, R. 1873: Vocabolario napolitano-toscano domestico di arti e mestieri, Napoli Decurtins, A. 1993: Rätoromanisch. 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