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Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an (VvAa)
vvaa
2366-0597
2941-0789
Francke Verlag Tübingen
121
2022
72 Fischer Heilmann Wagner Köhlmoos
Universitäres Studium und beru iche Praxis Edited by: Stefan Fischer, Matthias Hopf und Nancy Rahn In cooperation with: Melanie Köhlmoos Vol. 7 - 2022 | Issue II Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an Editors Stefan Fischer, Wien Matthias Hopf, Zürich Nancy Rahn, Bern In cooperation with Melanie Köhlmoos, Frankfurt am Main In association with Clarissa Breu, Göttingen Johannes Diehl, Frankfurt am Main Jan Heilmann, Dresden Florian Oepping, Osnabrück Reettakaisa So a Salo, Münster Thomas Wagner, Wuppertal Editorial Matthias Hopf Theologische Fakultät der Universität Zürich Kirchgasse 9 8001 Zürich Schweiz Notice to Contributors All articles for submissions and review copies should be sent to the editor, Matthias Hopf. There is no obligation to discuss unsolicited books or publish unsolicited manuscripts. Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an (VvAa) is a bilingual, double-blind peer-reviewed journal for methodology and practice in academic didactics of biblical exegesis. VvAa Vol. 7 - 2022 | Issue II Imprint Conditions The VvAa is published twice a year ( June and December) Single issue: € 45,- (plus postage) Annual subscription (print): € 65,- (plus postage) subscription (print & online): € 79,- (plus postage) subscription (e-only): € 69,- Orders will be accepted by your bookstore or the publisher: Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Postfach 25 60 D-72015 Tübingen Phone: +49 (0) 70 71 / 97 97 0 Fax: +49 (0) 70 71 / 97 97 11 eMail: info@narr.de Internet: www.narr.de Advertisment Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Phone: +49 (0) 70 71 / 97 97 10 © 2023 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG ISSN 2366-0597 ISBN 978-3-381-11101-5 The published contributions are protected by copyright. All rights are reserved, especially those of translations into foreign languages. No part of this publication may be reproduced, stored in a retrieval system, or transmitted by any means, electronic, mechanical, photocopying, recording, or in another machine usable language particular for any kind of data processing systems, without the prior written permission from the publisher. 9 27 53 61 79 85 93 Inhalt Contributions Holger Pyka Haltung und Methode. Chancen der exegetischen Ausbildung aus Sicht der zweiten Ausbildungsphase . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ariane Dihle / Michaela Veit-Engelmann Die Bibel im Religionsunterricht ins Gespräch bringen. Herausforderungen für das Lehramtsstudium der Evangelischen Theologie in Deutschland . . . Christiane de Vos Exegese als Teil der Theologie. Ein Kommentar aus kirchenpolitischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg Frey Eine (un-)wissenschaftliche Response. Bemerkungen eines Hochschullehrers zur Situation der Exegese in der theologischen Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Teaching Examples Reettakaisa Sofia Salo Bibelkreis im Proseminar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias Hopf Der ‚Schwarmintelligenz‘ vertrauen. Ein Lehr-/ Lernbeispiel für seminaristische Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rezensionen Nina Beerli Walter Dietrich: Die Samuelbücher heute lesen. bibel heute lesen. Zürich. 2022. TVZ, 216 Seiten, broschiert, ISBN 978-3-290-18455-1. . . . . . . . . . . . . . 95 99 107 Clarissa Breu Michael Schneider/ Michael Rydryck: Bibelauslegung. Grundlagen - Textanalysen - Praxisfelder. Göttingen. 2022. Vandenhoeck & Ruprecht, brochiert, 288 Seiten, ISBN 978-3-525-71699-1. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Fischer Das Wissenschaftlich-Religionspädagogische Lexikon im Internet (WiReLex) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Interview Interview mit … Klaus-Peter Adam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Inhalt Editorial Matthias Hopf (orcid.org/ 0000-0002-9183-7740) Es ist ein immer wiederkehrender Topos in der Debatte um die theologische Ausbildung: die ganz besondere Verbindung zwischen dem universitären Theo‐ logiestudium und der darauf folgenden beruflichen Praxis in Pfarramt, Schule oder anderen Bereichen. Diese Schnittstelle wird oft als großer ‚Gap‘ empfunden und hat Bezeichnungen wie ‚Praxisschock‘ ebenso hervorgebracht wie das Phä‐ nomen, dass Theologiestudierende bisweilen sofort nach bestandenem Examen ihre Studienbücher verkaufen - weil diese ja nun nicht mehr gebraucht würden. Da aber gerade die Beschäftigung mit biblischen Texten eine Konstante eines jeglichen theologischen Berufs ist und bleibt, stellt sich die Frage, welchen Stellenwert eben die exegetischen Methoden über den universitären Horizont hinaus haben bzw. haben sollen oder gar müssen. Selbst wenn dieses Heft damit thematisch teils neue Wege einschlägt, weil es den inneren Kreis der anwendungsbezogenen Hochschuldidaktik verlässt, bleibt die Zeitschrift der Frage nach der besseren und immer wieder neu zu denkenden Lehre treu - denn die Schnittstelle von universitärem Studium und beruflicher Praxis ist und bleibt ein außerordentlich wichtiges ausbildungspolitisches Thema. Dies zeigt sich nicht zuletzt an der jüngsten Revision der Rahmenordnung für das Erste Theologische Examen durch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). Vor diesem Hintergrund versteht sich dieses Heft auch als ein Beitrag zu diesem Diskurs um die Weiterentwicklung der theologischen Ausbildung - schließlich muss die EKD-Rahmenordnung nun umgesetzt werden; und außerdem ist nach der Reform ja immer auch wieder vor der Reform. Gleichzeitig hoffen wir, mit den Beiträgen den Lehrenden - ob am Anfang, in der Mitte oder am Ende ihrer Hochschulkarriere - Impulse und Denkanstöße zu geben, ihr eigenes Lehren unter dieser Perspektive der ‚Praxisrelevanz‘ einmal zu prüfen und ggf. weiterzudenken. Die zu diskutierenden Fragen und Probleme kreisen dabei um verschiedene Teilaspekte: So ist das Verhältnis von ‚klassischen‘ exegetischen Methoden und neueren Ansätzen ja ein Thema, das nicht nur für den innerdisziplinären Diskurs in Altem und Neuem Testament eine wichtige Rollen spielt, sondern auch für die Frage nach der späteren beruflichen Vermittlung biblischer Texte in unterschiedlichen Kontexten. Gleichzeitig besteht naturgemäß die große Gefahr eines rein additiven Vorgehens, das bestehende Überlastungsschemata noch zu verstärken droht. Immerhin hat sich das Theologiestudium sowohl für Pfarramt als auch für die Schule ganz erheblich verändert und sieht sich mit einer Vielzahl von zusätzlichen Herausforderungen konfrontiert - und das nicht erst seit ‚Bo‐ logna‘ und dem damit einhergehenden Effizienz-Mantra, dessen Auswirkungen in einem der nächsten Hefte in den Mittelpunkt gestellt werden sollen. Doch so eng das zeitliche Korsett für die Vermittlung exegetischer Methoden und Fragestellungen geworden ist, so wird in den Beiträgen dieses Hefts doch als basso continuo überdeutlich, dass ein reflektierter und verantworteter Umgang mit den historischen Bibeltexten auf der Höhe unserer Zeit unverzichtbar ist. Diese Aspekte spiegeln sich auch in je eigenen Schwerpunktsetzungen in den einzelnen Beiträgen dieses Heftes wieder, von denen sich die drei ersten Haupt‐ beiträge jeweils aus unterschiedlichen ‚praxisbezogenen‘ Feldern der Frage nach der Exegese annähern. Holger Pyka (Dozent am Seminar für pastorale Ausbil‐ dung in Wuppertal) vertritt dabei mit seinem Artikel exemplarisch die Position der Ausbildung zur Pfarrperson im Vikariat. In einem Durchgang durch die verschiedenen Themenbereiche des Vikariats - Pastoraltheologie, Homiletik, Gemeindeentwicklung, Seelsorge, Kasualien sowie der Digitalität/ Virtualität - benennt er dabei als Aufgabe und Ziel einer exegetischen Ausbildung „Hal‐ tung und Methode“, d. h. die Ausbildung eines (auch) biblisch gegründeten Selbstverständnisses in den zukünftigen Pfarrpersonen, die gleichzeitig auf einem methodisch fundierten und reflektierten Umgang mit den Texten ruht. Dabei nimmt Pyka insbesondere auch die akademischen Lehrpersonen in die Verantwortung, diesen Perspektiven bereits an der Universität sowie in ihrer eigenen Person einen gewissen Raum einzuräumen. Ariane Dihle (wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fach Religionspädagogik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg sowie Lehrerin für Deutsch und Evangelische Religion) und Michaela Veit-Engelmann (Oberkirchenrätin in der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers für Schule und Hoch‐ schule, katechetische Lehrkräfte, Schulseelsorge und die Lehramtsausbildung) verfolgen demgegenüber eher einen problembezogenen Zugang zu ihrem Be‐ reich der Religionspädagogik. Sie stellen dabei z. T. äußerst grundsätzliche Fragen, die einen Religionsunterricht (RU) umtreiben bzw. nahezu umtreiben müssen: die nach dem Umgang mit der Bibel selbst im RU, nach ihrem Wahrheitsanspruch, aber auch der Relevanz bzw. ‚Gültigkeit‘ der Texte in DOI 10.24053/ VvAa-2022-0011 4 Matthias Hopf der Gegenwart. Hinzu kommen die Perspektiven des interkonfessionellen und interreligiösen Umgangs mit der Bibel (und bzgl. letzterem insbesondere vor dem Hintergrund des christlich-jüdischen Gesprächs), ebenso wie die Frage des interdisziplinären Herangehens an biblische Texte, d. h. im Gespräch mit anderen theologischen Fächern, wie auch jenseits des theologischen Diskurses. Hauptanliegen der Autorinnen ist dabei, dass die Studierenden und angehenden Lehrkräfte schon im Studium intensiv mit der Bibel ins Gespräch gebracht werden, um eigene Zugänge zu entwickeln und zu festigen. Christiane de Vos (Oberkirchenrätin für Hochschulwesen bei der EKD) schließlich bringt in ihrem Kommentar die Perspektive der Kirchenleitung ins Spiel, wobei sie insbesondere auf ein verstärktes Miteinander dringt, welches sich auf mehreren Ebenen entfalten müsse: So müssten beispielsweise einerseits die exegetischen Fächer wieder stärker in den innertheologischen Diskurs finden. Andererseits müsste aber auch die Kirche insofern wieder mehr zurück an die Universität finden, als dezidiert theologische und exegetische Fortbildung in Form von Sabbatical und Kontaktstudium eine Chance böten, Pfarrpersonen auch im Beruf wieder stärker auf exegetische Entwicklungen zu verweisen. Jörg Frey reagiert in seiner „(Un-)Wissenschaftlichen Response“ auf die drei ersten Artikel - und zeichnet dabei gleichzeitig ein weit ausholendes Bild von exegetischer Ausbildung in den Beschwernissen und Chancen unserer Zeit. Er schlägt dabei aus seiner ganz persönlichen (und daher ‚unwissenschaftlichen‘) Perspektive einen Bogen von den Rahmenbedingungen des Theologiestudiums über die Veränderungen in den biblischen Fächern selbst hin zu einigen Ein‐ sichten als Wissenschaftler mit 30 Jahren akademischer Lehrerfahrung und großer Nähe und Sympathie für kirchliche Zusammenhänge. Als Ziel einer Exegese, die sich den Herausforderungen beruflicher Praxis stellt, sieht er die Vermittlung von Begeisterung für die theologische Tiefe der Texte, ihre literarische Kunst, gleichzeitig aber auch ihre historische Fremdheit und Wider‐ ständigkeit sowie das daraus resultierende je und je Neu-Denken theologischer Inhalte - was seiner Ansicht nach insbesondere auch in der akademischen Lehrperson als Person sichtbar werden sollte. Auch in den ‚Rubriken‘ des Heftes wird das Thema des In- und Miteinanders von Studium und Praxis thematisiert. So überträgt Sofia Salo in ihrem Lehr- Lern-Beispiel die Methode des ‚Bibelkreises‘, das ja sonst eher in gemeindlichen Kontexten beheimatet ist, auf äußerst interessante Weise auf das Proseminar. Matthias Hopf operiert hingegen in seinem Plädoyer für die ‚Schwarmintelli‐ genz‘ mit bestehendem Vorwissen, selbst wenn dieses nur teilweise oder gar rudimentär vorhanden ist. Die Rezensionen nehmen sich einerseits, rezensiert von Nina Beerli, die neue Reihe „XY heute lesen“ des Theologischen Verlags DOI 10.24053/ VvAa-2022-0011 Editorial 5 Zürich vor, welche sich dezidiert die Vermittlung gegenwärtiger exegetischer Erkenntnisse an ein breites Publikum auf die Fahne geschrieben hat, sowie andererseits, rezensiert von Clarissa Breu, ein interessantes neues Lehrwerk von Michael Schneider/ Michael Rydryck, welche bewusst von einer allgemeinen, nicht-universitären Bibelauslegung herkommend auf mögliche exegetische Zugangsweisen blicken. Stefan Fischer widmet sich im ‚Frontend‘ der enzyklo‐ pädischen Internetplattform „WiReLex“, dem „Wissenschaftlich-Religionspäda‐ gogischen Lexikon“, das auf eine unmittelbare praxisbezogenen Anwendbarkeit der präsenierten Inhalte zielt (und das viel stärker als das inzwischen ja weithin bekannte WiBiLex). Den Abschluss bildet - wie immer - ein Interview mit einem bibelwissenschaftlichen Fachvertreter. Dieses Mal steht uns Klaus-Peter Adam Rede und Antwort, der als in Deutschland sozialisierter Exeget nun an einem Lutheran Seminary in Chicago lehrt und so noch die zusätzliche Perspektive der viel stärker einphasigen Ausbildung in den USA in den Diskurs einbringt. Abschließend sei angemerkt, dass die neue Akzentsetzung dieses Heftes auch mit einem Wechsel im Herausgabekreis einhergeht. Wie schon im letzten Heft angekündigt, sind nun Nancy Rahn (Bern) und Matthias Hopf (Zürich), in die Fußstapfen von Jan Heilmann (München) und Thomas Wagner (Wuppertal) getreten. Dies ist insbesondere aus einem Grund nochmals hervorzuheben: Diese beiden haben dieses wertvolle Projekt ganz wesentlich mit den übrigen der Gründungsgeneration aus der Wiege gehoben und in der akademischen Landschaft etabliert. Auf diesem Wege sei Ihnen nochmals von Herzen dafür und den damit einhergehenden jahrelangen und unermüdlichen Einsatz für diese Zeitschrift gedankt! DOI 10.24053/ VvAa-2022-0011 6 Matthias Hopf Contributions 1 Für kollegialen Austausch und weiterführende Hinweise danke ich den Seminarkolleg: innen Anke Gödersmann (Wuppertal), Stefan Günther (Wittenberg), Dr. Matthias und Dr. Alexa Wilke (Loccum) und Juliane Hartmann (Zürich), sowie Dr. Ferenc Herzig (Leipzig). Die Wahrnehmungen und Schlussfolgerungen sowie evtl. Sachfehler verantworte ich natürlich selbst. 2 Holger Pyka ist Dozent am Seminar für pastorale Ausbildung Wuppertal. Haltung und Methode Chancen der exegetischen Ausbildung aus Sicht der zweiten Ausbildungsphase 1 Holger Pyka 2 Für Achim Reinstädtler zum Abschied aus dem Dienst This article asks for the unique contribution that academic exegesis is able to make to pastoral training in a Western, postmodern context. Current key challenges the church (and, therefore, pastoral training) is facing are identified according to those programmes and subjects, in which they are likely to be tackled: In homiletics and pastoral theology, the difficulty of transferring academic findings to the pulpit seems to be one of the more pressing issues. When it comes to church development, academic exegesis may help to develop a curious, explorative attitude, which vicars may find helpful in a time in which church life faces profound changes. Pastoral care is able to include new exegetical findings and approaches into its theories and practices and, in turn, deepen the understanding of Biblical texts. When performing weddings, funerals, and other religious rites, Biblical perspectives achieved through cross-textual exegesis by topic can help vicars facing challenges in post-modern times. Finally, digital theology would benefit strongly, if exegetes took a more active part in current discussions. 3 Kafka, Amerika, 345. 4 Vgl. Beyer, Theologiestudium, 170-179; Bukowski, Erwin; Lehnert, Dimension; Claaß, Theologie. 5 Aus Gründen der Übersichtlichkeit folge ich dabei dem in den meisten Predigersemi‐ naren üblichen Fächerkanon und füge ihm ein weiteres Stichwort hinzu. Alternativlos ist diese Aufteilung nicht, an einzelnen Ausbildungsstätten werden mittlerweile andere, entsäulte Modelle erprobt, vgl. Friedrichs, Kirchenreform; Friedrichs, Elementar und flexibel. Dass die Homiletik einen breiten Raum einnimmt, verdankt sich weniger ihrer Frontstellung in der Ausbildung, die schon in der traditionellen Bezeichnung Predigerseminar deutlich wird, als vielmehr dem Arbeitsschwerpunkt des Autors. 6 Vgl. Becker, Generation; Ruck-Schröder/ Erichsen-Wendt, Pfarrer: in, 70-103. 7 Ruck-Schröder/ Erichsen-Wendt, Pfarrer: in, 71. 8 Hermelink, Kirche, 243. „Und welchen Zweck hatte sein Studium gehabt! Er hatte ja alles vergessen“, sagt der Erzähler in Franz Kafkas Roman Amerika über die Hauptfigur Karl. 3 Manche frisch Examinierten mögen sich in diesen Selbstzweifeln wiedererkennen, wenn sie kurz nach dem Ersten Theologischen Examen feststellen, dass nur wenig ‚Bulimielernstoff ‘ den Weg ins mittlere Langzeitgedächtnis gefunden hat. Einen anderen Eindruck erhält man, wenn man die regelmäßigen Beiträge zur Kenntnis nimmt, die - aus der Perspektive des Gemeindepfarramts, der zweiten Ausbildungsphase oder der Kirchenleitung 4 - Anfragen an das Theologiestu‐ dium formulieren: Sie erwecken den Anschein, dass die Theolog: innen das, was sie im Vikariat vertiefen und anwenden sollen, oft gar nicht erst gelernt haben. Um dem mehrstimmigen, dabei letztlich wenig polyphonen Klagechor nicht einfach eine weitere Stimme hinzuzufügen, versucht der vorliegende Beitrag, vor allem die Chancen der exegetischen Ausbildung herauszustellen. Dazu sind zunächst exemplarische Herausforderungen zu beschreiben, die in den einzelnen Lernfeldern 5 derzeit dominieren und die natürlich Herausforderungen der kirchlichen Praxis widerspiegeln, z.-T. auch vorwegnehmen. 6 1 Pastoraltheologie „Pastoraltheologie boomt“, 7 stellen Adelheid Ruck-Schröder und Friederike Erichsen-Wendt in ihrer 2022 erschienenen Kompaktschrift zur Pastoraltheo‐ logie fest. Wenn auch 2010 in einer Befragung des pastoralen Personals der Nordkirche 74 % der Befragten „biblischen Leitbildern“ 8 einen hohen Stellenwert hinsichtlich ihrer eigenen beruflichen Orientierung einräumen, spielen biblischtheologische Überlegungen eine eher marginale Rolle in der deutschsprachigen evangelischen Pastoraltheologie, die in den letzten Jahrzehnten stärker von funktionalen Faktoren bestimmt scheint. Gleichwohl scheint, auch angesichts gesellschaftlicher Spiritualitätstrends, konsensfähig: „Die Rolle des pastoralen DOI 10.24053/ VvAa-2022-0012 10 Holger Pyka 9 So Proksch, Identität, 69, unter Rekurs auf Albrecht Grötzinger. 10 Vgl. Nicol, Weg, 292. 11 Vgl. Deeg, pastor. 12 Brown-Taylor, Life, 59 f. Vgl. ähnliche Forderungen einer kontinuierlichen Bibellektüre bei Kraus, Predigt, 61, und Schibilsky, Trauerwege, 214. 13 Engemann, Einführung, 76. 14 Vgl. Ruck-Schröder/ Erichsen-Wendt, Pfarrer: in, 115-118. 15 Vgl. Pätzold, Konstruktivismus. 16 Proksch, Identität, 80. 17 Meyer-Blanck, Kirche, 43. Amtes besteht heute in einer gestaltenden Reflexion sowie gestaltenden Ziel‐ führung religiöser Praxis.“ 9 Geht man davon aus, dass evangelische religiöse Praxis im weitesten Sinne schriftgebunden ist, 10 kommt die Pfarrperson im Wesentlichen als pastor legens  11 in den Blick. Eine pastorale Beschäftigung mit der Schrift soll dabei weit über den Umgang mit den Predigtperikopen hinausgehen und eine professionstypisch habitualisierte, identitätsformende Tätigkeit darstellen: „[M]y own experience has taught me the value of regular and intentional study. My relationship with the Bible is not a romance but a marriage, and one I am willing to work on in all the usual ways: by living with the text day in and day out, by listening to it and talking back to it […]. The Bible is […] a partner, whose presence […] affects everything I do.“ 12 Es geht, mit Wilfried Engemann in Anschluss an Otto Haendler etwas weiter ge‐ fasst, darum, „Theologie und Biographie unter den konkreten Bedingungen der eigenen Person in ein wechselseitiges Wahrnehmungsverhältnis zu bringen“, 13 was unter den Subjektivitäts- und Authentizitätsdiktaten der (Post-)Moderne zunehmend an Bedeutung gewonnen hat. 14 Das Herausbilden einer solchen pastoralen Identität braucht neben entsprechenden Lernerfahrungen auch Vor‐ bilder 15 und „unterstützende Impulsgeber“, 16 und hier liegt eine große Chance der exegetischen Ausbildung im Theologiestudium. An den Lehrstühlen be‐ gegnen den Studierenden Menschen, die ihr ganzes berufliches Leben (und oft nicht nur das) der Erforschung der Schrift widmen, ganze Monografien über einzelne Wörter der Bibel schreiben und das Buch der Bücher bis ins kleinste Detail kennen, ohne jemals damit abzuschließen. Um diese Chance verstärkt wahrzunehmen, bedürfte es m. E. einer größeren Auskunftsbereitschaft der Leh‐ renden und Forschenden über eben diese Wechselwirkungen zwischen Theo‐ logie (in Form eigener Forschungsergebnisse) und Biografie. Das ist natürlich eine Gratwanderung zwischen zwei „Systemlogiken“ 17 - wie die Predigt nicht zu einer exegetischen Vorlesung werden soll, soll die exegetische Vorlesung DOI 10.24053/ VvAa-2022-0012 Haltung und Methode 11 keine Predigt werden. Aber ebenso wenig, wie die Predigt sich traditionsbedingt eines (wie auch immer verstandenen) Bildungsauftrags gänzlich entledigen könnte, kann sich die Exegese vollständig vom (wie auch immer verstandenen) kirchlichen Verkündigungsauftrag ausnehmen - zumindest solange sie, auch an staatlichen Fakultäten, unter dem Dach der Theologie stattfindet. Das ist auch eine Frage der didaktischen und literarischen Kompetenz und des akademischen Habitus: Schon unter Predigenden ist das Reden in der ersten Person Singular immer noch umstritten 18 und wenig eingeübt, und im Kontext akademischer Lehre wäre das Ich auf der (universitären) Kanzel noch einmal gänzlich neu durchzubuchstabieren. Dazu kommt, was Karin Girgensohn an dieser Stelle vor einiger Zeit festgestellt hat: „Fachlehrende verstehen sich meist eher als Vermittler von Fachinhalten […]. Und obwohl sie, dem Prinzip der Einheit von Lehre und Forschung verpflichtet, auch selbst schreiben und publizieren, thematisieren sie ihr eigenes Vorgehen beim Schreiben selten in der Lehre, auch wenn diese durchaus auf eigenen Forschungsergebnissen und Erkenntnissen basiert.“ 19 Der in Deutschland mangelnde Fokus auf die kommunikative Qualität univer‐ sitärer Textproduktion bringt es mit sich, dass Forschungsergebnisse schon rein sprachlich schwer zugänglich sind (ganz abgesehen davon, dass auch opensource-Praktiken sich in der Theologie noch nicht flächendeckend durchgesetzt haben). 20 Während Wissenschaftssprache im Allgemeinen und die Fachjargons einzelner Disziplinen schon seit Längerem Gegenstand sprachkritischer Unter‐ suchungen sind, 21 liegt erst seit letztem Jahr eine Monografie zur theologischen Fachsprache vor. Joachim Gerdes, Germanist an der Universität Genua, sieht die Theologie, „insbesondere in ihrer akademisch-institutionalisierten Manifes‐ tation, einem immer stärkeren Rechtfertigungsdruck ausgesetzt“, 22 auf den ihre Vertreter: innen mit „defensiven Reflexen unterschiedlichster Art“ reagierten, DOI 10.24053/ VvAa-2022-0012 12 Holger Pyka 18 Vgl. Josuttis, Ich. 19 Girgensohn, Schreibschwierigkeiten, 75. Bislang hat es von Seiten der Exegese m. W. keine Versuche gegeben, Forschungen zur Verschriftlichung religiöser Texte und den theologischen Implikationen des Übergangs von der Oralität zur Literalität in die Schreibforschung einzubringen, ebenso, wie das Schreiben als religiöse Praxis bislang kaum Gegenstand der Theologie gewesen ist (vgl. Pyka, Schreiben, 356 f.). 20 Ich erinnere mich an eine (an sich überaus inspirierende) exegetische Vorlesung aus meiner eigenen Studienzeit, in der der Dozent vor einem bestimmten Kommentar warnte: Dieser sei zwar inhaltlich erstklassig, aber leider „viel zu populärwissenschaft‐ lich geschrieben“. 21 Vgl. grundlegend Niederhauser, Wissenschaftssprache. 22 Gerdes, Glaube, 306. „die sich auch in der Fachsprache manifestieren.“ 23 Zu diesen verschiedenen sprachlichen Reaktionsmustern zählt Gerdes eine „virulente Tendenz zur ratio‐ nalisierenden Verwissenschaftlichung“, 24 die das Ziel einer „Übereinstimmung eines rational-wissenschaftlichen Gegenwartsweltbildes und des religiös-theo‐ logischen Denkmodus“ 25 verfolge, dabei aber zu „Rückzugsbewegungen in überholte, scheinwissenschaftliche und hermetisch-kryptische Fachidiome“ 26 führe. Ob man Gerdes’ mit beißender Schärfe vorgetragene Analysen im Einzelnen teilt und ob man allen Prämissen seiner Untersuchung ungeteilt zustimmt, sei dahingestellt - ganz von der Hand weisen wird man seine Beobachtungen gerade mit Blick auf die Exegese nicht. 27 Das Problem liegt aus homiletischer Sicht dabei m. E. nicht in einer oft befürchteten und manchmal beklagten Durchsetzung der Predigtsprache mit theologischen Fachbegriffen, 28 sondern in dem Umstand, dass Sprache bekanntlich das Denken formt. Wenn die Exegese sich primär einer abstrahierenden Fachsprache bedient, in der „Emotionalität und ein direkter Erfahrungsbezug […] ausgeblendet“ 29 werden, dann bleiben entsprechende Wirkungspotenziale biblischer Texte unentdeckt. 30 Die Problematik zieht sich bis in den Aufbau exegetischer Arbeiten: Von Studierenden wird in der Regel sinnvollerweise erwartet, dass sie am Ende einer Hausarbeit den Blick weiten und eine Einschätzung „der theologischen Relevanz des Textes im gesamtbiblischen Horizont und für Fragen der Gegenwart“ 31 wagen. In exegetischen Veröffentlichungen dagegen taucht dieser Punkt selten auf, selbst bei Themenstellungen, die dies nahelegen würden. Von wem aber sollen Studierende lernen, solche Wechselwirkungen zwischen Text und Text‐ analyse, eigenem theologischen Profil und gesellschaftlichen Fragestellungen zu reflektieren und zu versprachlichen, wenn sich Lehrende und Forschende DOI 10.24053/ VvAa-2022-0012 Haltung und Methode 13 23 Gerdes, Glaube, 333. 24 Gerdes, Glaube, 305. 25 Gerdes, Glaube, 306. Als Kronzeugen für dieses Reaktionsmuster um die Jahrtausend‐ wende nennt Gerdes Ulrich Barth, Gerd Lüdemann und Notger Slenczka, im weiteren Sinne auch Wolfhart Pannenberg. 26 Gerdes, Glaube, 333. 27 Ganz ähnliche Formulierungen finden sich immerhin auch bei Backhaus, Aufgegeben. 28 Vgl. Engemann, Einführung, 272 f. Der gegenwärtige Befund müsste dabei womöglich präzisiert werden: Ich entdecke in Predigten zwar häufig abstrakte, jedoch keine ausdrücklich wissenschaftliche Fachsprache. Häufiger nehme ich wahr, was Engemann „religiöse Phraseologie“ nennt, die allerdings weniger von kirchensprachlichen Flos‐ keln als von spätmoderner Coaching- und Selfcareterminologie geprägt ist. 29 Klessmann, Pastoralpsychologie, 176. 30 Vgl. grundlegend zu homiletischer und bibelwissenschaftlicher Auslegung Greifenstein, Text, 219-246. 31 Bührer. Proseminararbeit, 23. 32 S. die Übersicht, aber auch die berechtigte Kritik bei Hoffmann, Exegese, v. a. 28- 32. Ob die von ihr festgestellte „zunehmende Entfernung“ (28) zwischen Homiletik und Exegese dabei wirklich, wie ihre Darstellung zumindest andeutet, nur einseitig verschuldet ist, wäre zu diskutieren. Backhaus’ Hinweis auf das Risiko einer intradis‐ ziplinären Isolierung der Exegese (Aufgegeben, 260) wird man hier nicht ganz von der Hand weisen können. 33 Vgl. etwa https: / / www.kirchenrecht-ekm.de/ document/ 9814#s637240018. 34 Roth, Genesis, 346. 35 Hoffmann, Exegese, 26 (Anm. 2). 36 Dass die beiden Studien methodisch nur bedingt vergleichbar sind, ergibt sich nicht nur aus den unterschiedlichen konfessionellen Kontexten und der quantitativ höchst un‐ terschiedlichen Quellenbasis, sondern auch aus den Textgrundlagen der untersuchten Predigten: Roth hat mit der Akedah eine Perikope gewählt, bei der es kein Wunder ist, dass Predigende verstärkt die Hilfe der Exegese in Anspruch nehmen, zumal dann, wenn die Predigten zur schriftlichen Veröffentlichung konzipiert sind. Hoffmann dagegen hat Predigten an einem Tag untersucht, an dem, wie sie selbst zurecht feststellt, die Tendenz zu „Predigten mit starkem Traditionsbezug“ (Hoffmann, Exegese, 26) sehr stark ist. dieser Aufgabe entziehen und sie an die theologischen Nachbardisziplinen oder die zweite Ausbildungsphase delegieren? 2 Homiletik Die Angewiesenheit der Kirche und damit auch des Pfarramts auf die Exegese ist in der Predigt und in ihrer Reflexion in der Homiletik besonders augenfällig. Eine Predigt ist in aller Regel Auslegung einer biblischen Perikope, und in homi‐ letischen Lehrbüchern 32 und Prüfungsordnungen 33 wird vorausgesetzt, dass der Predigt exegetische Vorarbeiten zugrunde liegen. Zwei jüngere Untersuchungen kommen dabei zu diametral verschiedenen Ergebnissen, was den Stellenwert exegetischer Forschung in Predigten angeht: Johannes Roth stellt anhand von 23 (katholischen) Predigten zu Gen 22 fest, „dass […] exegetische Erkenntnisse und Potentiale berücksichtigt werden, und zwar nahezu in ihrer gesamten Bandbreite.“ 34 Christine Wenona Hoffmann zeigt dagegen an einer ungleich breiteren Quellenbasis (235 Reformationstagspredigten), „wie marginal die Orientierung am biblischen Text, besonders aber an (neuerer) Exegese in der ge‐ genwärtigen Predigtpraxis ist.“ 35 Wie auch immer man diese Ergebnisse deutet, 36 so deuten sie zumindest an, dass eine verstärkte Transferleistungen zwischen wissenschaftlicher Exegese und homiletischer Praxis wünschenswert wäre. Dies lässt sich konkretisieren anhand von häufigen Predigtschwierigkeiten, deren Bearbeitung bzw. Prophylaxe bereits in der ersten Ausbildungsphase angelegt sein könnten: DOI 10.24053/ VvAa-2022-0012 14 Holger Pyka 37 https: / / austinkleon.com/ category/ newspaper-blackout-poems/ . 38 Vgl. die Fastenaktion des damaligen Zentrum für evangelische Predigtkultur in Witten‐ berg: https: / / www.ohne-grosse-worte.de. 39 Von Rad, Exegese, 12. 40 Einen wichtigen Beitrag zur Abhilfe verspricht hier ein 2023 erscheinendes, überaus vielfältiges Methodenbuch von Ann-Kathrin Knittel und Christina Wenona Hoffmann, das die klassischen historisch-kritischen Arbeitsschritte als Anlass für kreative Schreib‐ impulse nimmt. Eine besondere Herausforderung scheint für Vikar: innen die Epistelpredigt darzustellen. In Predigtentwürfen ist regelmäßig eine homiletische Strategie anzutreffen, die man in Anlehnung an Austin Kleons (bezeichnenderweise in einer Schaffenskrise entwickeltes) poetisches Konzept 37 als ‚Black-Out-Exegese‘ bezeichnen könnte: Der größte Teil des Textes wird gedanklich geschwärzt, ein oder zwei übriggebliebene bedeutungsschwere Begriffe (oft die berühmten großen Worte 38 des Christentums) bilden die Grundlage für eine mehr oder weniger durchdachte Themenpredigt. Möglich und nötig wird eine solche Verlegenheitshomiletik dort, wo es an Bereitschaft, aber auch an methodischer Kompetenz fehlt, die im liturgischen Kalender oft mit einiger Verve kupierten Textabschnitte in den größeren argumentativen Zusammenhang eines Briefs einzuordnen. Über Episteln hinaus (ein ähnliches Vorgehen lässt sich bei Pre‐ digten über prophetische Texte beobachten) ist damit auch die Frage nach Einlei‐ tungswissen und nach Hypothesen zur Entstehungsnotwendigkeit und antiken Alltagsrelevanz eines biblischen Textes tangiert. Wenn es, wie Gerhard von Rad 1973 feststellte, in der Predigt vor allem darum geht, „die Aussage der Bibel in unserer Sprache genauso konkret (so konkret ad hominem) weiter[zu]geben, wie sie in der Bibel gemeint war“, 39 dann brauchen Predigende entsprechend konkrete exegetische Erkenntnisse, die ihnen diesen Transfer ermöglichen. Unklarheiten bestehen auch in hermeneutischen Fragen (die dann im Examen zu handfesten Problemen werden), etwa bei der am Ende des Vikariats gestellten Unsicherheit: Wie verhält sich eine mutmaßlich ursprüngliche Textgestalt, die ein: e Vikar: in in den Vorarbeiten zur Examenspredigt nach allen Regeln der text- und literarkritischen Kunst rekonstruiert hat, zur kanonisch überlieferten Version, die im Perikopenbuch vorgeschrieben ist? Diese Frage scheint im Studium regelmäßig unbeantwortet zu bleiben, was im schlechtesten Fall dazu führt, dass einzelne exegetische Arbeitsschritte, schlimmstenfalls das gesamte historisch-kritische Methodenrepertoire als art pour l’art wahrgenommen und als Möglichkeit zur eigenen theologischen Positionsfindung ausgeschlossen werden. 40 Die Problematik unklarer theologischer (und in einem weiteren Schritt homiletischer) Konsequenzen exegetischer Zwischenergebnisse betrifft DOI 10.24053/ VvAa-2022-0012 Haltung und Methode 15 41 Nicol/ Deeg, Wechselschritt, 134. 42 Ein positiver Effekt des verspäteten Skandals um Notger Slenczkas Thesen zum Stellenwert des Alten Testaments (ab 2015) war ohne Zweifel der innertheologische Rechenschafts- und Klärungsprozess, der daraus entstand. 43 Das Fach taucht in der deutschsprachigen Seminarlandschaft, wie in der Literatur, in unterschiedlichen Bezeichnungen mit je unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen auf: Gemeindeaufbau, Gemeindeleitung, Kybernetik u.-ä. 44 Vgl. Ruck-Schröder/ Erichsen-Wendt, Pfarrer: in, 31-40. 45 https: / / www.ekd.de/ zwoelf-leitsaetze-zur-zukunft-einer-aufgeschlossenen-kirche-601 02.htm. 46 Backhaus, Hebräerbrief, 31. 47 Backhaus, Hebräerbrief, 27. nicht nur eine klassische historisch-kritische Dekonstruktion biblischer Texte, sondern auch neuere Perspektiven kontextueller Exegese. Schließlich umfasst auch die Frage nach der christlichen Predigt alttestament‐ licher Texte wichtigere und grundlegendere Probleme als nur die stilistischen Schwierigkeiten der berüchtigten „Jesus-Kurve“ 41 am Ende einer Predigt. Diese Frage allein in der Homiletik zu verhandeln, beraubt die Diskussion der spezi‐ fischen Perspektive der Exeget: innen. 42 3 Gemeindeentwicklung 43 Vikar: innen, die derzeit die zweite Ausbildungsphase durchlaufen, werden auf eine kirchliche und gemeindliche Wirklichkeit hin ausgebildet, von der niemand wirklich sagen kann, wie sie sich gestalten und wie sie gestaltbar sein wird. Spätestens seit der Freiburger Studie (2019) 44 haben auch kirchenleitende Stellen ihre allzu optimistischen und in Folge der EKD-Programmerklärung Kirche der Freiheit (2006) häufig formulierten Wachstumserwartungen korrigiert. An die Stelle des Schlagworts vom ‚Wachsen gegen den Trend‘ ist die Einsicht getreten: „Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Einsicht, dass die Kirchen in Deutschland zukünftig weniger Mitglieder und weniger Ressourcen haben werden. Strukturen und Angebote können nicht im jetzigen Umfang fortgeführt werden.“ 45 Die Chancen der exegetischen Ausbildung sind groß in einer Zeit, in der die Kirchen der westlichen Welt auf eine Minderheitenposition zusteuern und sich in den Gemeinden vielerorts eine „lebenspraktische Spielart ‚negativer Theologie‘, die sich in Unanschaulichkeit, Erfahrungslosigkeit, Ungreifbarkeit des Glaubens niederschlägt“, die die Glaubenden „zermürbt.“ 46 An den neutes‐ tamentlichen Briefen ließe sich etwa exemplarisch zeigen, wie eine Kirche „im eigenen Selbstbewusstsein als Minderheit legitimiert werden [kann], damit die christlichen Widerstandskräfte wachsen.“ 47 In der Exegese erworbenes literar‐ DOI 10.24053/ VvAa-2022-0012 16 Holger Pyka 48 Vgl. Witt u.-a., Fresh X. 49 Moynagh, Church, 3-28. 50 Faix/ Reimer, Welt, 25. 51 Die Idee, städtische Räume als Texte zu „lesen“, spielt eine zentrale Rolle in wissen‐ schaftlich-ästhetischen Grenzgebieten wie der Promenadologie und der Psychogeo‐ grafie; vgl. die Hinweise bei Roßbach, Zeit-Räume, v.-a. 168. 52 Vgl. Freuding, Art. Othering. kritisches und redaktionsgeschichtliches Wissen über die intentionsgeleitete Konstruktion identitätsprägender Narrative könnte angehende Pfarrpersonen dazu inspirieren, solche Erzählungen, die es im Gemeindeleben auch gibt und die Transformationsprozesse behindern oder fördern können, buchstäblich historisch-kritisch anzugehen. In der fresh-x-Bewegung, 48 die als Reaktion auf kirchliche Relevanz- und Ressourcenkrisen nach der Jahrtausendwende in der Church of England ent‐ standen ist und z. T. Erkenntnisse und Praktiken der emerging-church-, sowie der church-planting-Bewegung weiterführt, ist die Bedeutung kontextsensibler Ge‐ meindeformen hervorgehoben worden, die in einer mixed economy traditionelle parochiale Gemeindemodelle ergänzen. Für diese Bewegung ist die paulinische Missionstätigkeit von zentraler und inspirierender, damit durchaus praktischer Bedeutung, wie Michael Moynagh in seinem Grundlagenwerk Church for Every Context von 2012 durchbuchstabiert hat. 49 Das Wegbrechen vieler alter Strukturen und Vergemeinschaftungsformen schafft die Notwendigkeit, aber auch die Möglichkeit für Kirche und Gemeinde, neu in das Quartier vor Ort „loszuziehen, um zuzuhören, um zu lernen, um zu empfangen“. 50 Eine solche suchende, explorative Grundhaltung im Erschließen eines Sozialraums scheint der Einstellung vergleichbar, die es zur exegetischen Begehung eines biblischen Textraums braucht: Ich rechne damit, etwas zu erleben oder zu erfahren, das ich noch nicht wusste. 51 Die Studierenden können also in der Exegese wiederum einen Arbeitsmodus bzw. vielmehr eine Haltung kennen und einüben lernen, die sie im pastoralen Alltag noch häufig gebrauchen werden - wahrscheinlich wird ihnen dieses Lernen leichter fallen, wenn solche Transfermöglichkeiten schon in der ersten Ausbildungsphase explizit benannt werden. Ähnliches gilt für den Umgang mit Diversität und Pluralität, die pastorales Arbeiten bereits in der Gegenwart herausfordern: In der exegetischen Forschung haben sich kontextuelle und inter- oder transkulturelle Hermeneutiken längst etabliert. Wenn es gelänge, etwa biblische Othering-Strategien 52 den Studierenden so zu vermitteln, dass sie zu einem machtkritischen Blick auf kirchliche Kom‐ munikations- und Vergemeinschaftungsformen anregen, könnte die Exegese DOI 10.24053/ VvAa-2022-0012 Haltung und Methode 17 53 Vgl. den schon etwas älteren Überblick bei Ziemer, Seelsorgelehre, 51ff. 54 Vgl. besonders Nauer, Seelsorge, 65-72. 55 Bukowski, Bibel. 56 Baumgartner, Pastoralpsychologie, 139-142. Bei Baumgartner wie Nauer handelt es sich bezeichnenderweise um römisch-katholische Theolog: innen. 57 Vgl. Poser, Ezechielbuch. 58 Vgl. Gärtner/ Schmitz, Resilienznarrative. 59 Meyer-Blanck, Ansichtssache, 338. einen wichtigen Beitrag zu notwendigen gemeindlichen und gesellschaftlichen Transformationsprozessen leisten. 4 Seelsorge In der poimenischen Literatur ist zumindest der Rückgriff auf biblische Vor‐ bilder, mitunter auch auf exegetische Fachliteratur mittlerweile 53 verbreitet. Das beginnt bei dem Versuch, einem Seelsorgekonzept einen biblisch qualifi‐ zierten Seelen-Begriff zugrunde zu legen 54 und geht weiter mit pragmatischen Vorschlägen, „die Bibel ins Gespräch [zu] bringen“, 55 bis hin zu dem Versuch, das poimenische Gesamtkonzept als Nachvollzug biblischer Handlungsdyna‐ miken zu entfalten. 56 Die Möglichkeiten des interdisziplinären Gesprächs gehen dabei noch viel weiter: Eine psychologisch informierte und inspirierte Ex‐ egese kann biblische Textproduktion, -redaktion und -tradition als religiöse coping-Strategien identifizieren und mit ihren Ergebnissen ihrerseits die pasto‐ ralpsychologische Theoriebildung und das poimenische Methodenrepertoire wieder bereichern, wie sich an Ruth Posers traumatheoretischer Studie zum Buch Ezechiel und ihrer Rezeption in der Praktischen Theologie eindrucksvoll zeigen lässt. 57 Auch andere biblische Erkundungen aus seelsorglich relevanten Perspektiven wie jener der Resilienz  58 versprechen eine Intensivierung des exegetisch-poimenischen Diskurses. Bislang scheinen solche inter- und trans‐ diszplinären Entdeckungsreisen vor allem auf Tagungen stattzufinden, was sie für Studierende nicht unbedingt zugänglicher macht. 5 Kasualien Das Fach Kasualien gehört zu denjenigen Kursen, deren Bedeutung Vikar: innen unmittelbar einleuchtet: Kasualien als „Ernstfall volkskirchlicher Interaktion und Inszenierung“ 59 genießen einen hohen Stellenwert, die erste eigene Taufe oder die erste Beerdigung im Vikariat stellen wichtige Passageriten im Prozess der Ausbildung einer eigenen pastoralen Identität dar. Praktische Übungen zur liturgischen Präsenz sorgen für unmittelbare Erfolgserlebnisse bei der DOI 10.24053/ VvAa-2022-0012 18 Holger Pyka 60 Vgl. grundsätzlich Handke, Momente. 61 Hauschildt, Unterhaltungsmusik, 295. 62 Vgl. Döhling, Fremden. 63 Vgl. Geiger, Fremde. eigenen Ritualkompetenz. Zugleich wird bei der Diskussion der systemischen Faktoren jedoch ebenso unmittelbar deutlich, vor welchen Herausforderungen die volkskirchliche Kasualpraxis in der Gegenwart steht. 60 Die kirchlichen Amtshandlungen werden von einem Großteil der Bevölkerung (und der Kir‐ chenmitglieder) nicht mehr selbstverständlich in Anspruch genommen, sie stehen außerdem in direkter Konkurrenz zu den Angeboten frei- oder nicht‐ religiöser Akteure. Zunehmende Traditionsabbrüche und die Konfrontation mit eventuell befremdenden Gestaltungswünschen stellen hohe Anforderungen an die theologische Deutungs- und Elementarisierungsfähigkeit der Ausfüh‐ renden: Nach dem Motto „Interpretation statt Konfrontation“ 61 gilt es, religiöse und existenzielle Bedürfnisse hinter einem Wunsch zu identifizieren und in eine Form zu überführen, die mit dem liturgischen Rahmen und christlichen Glaubenstraditionen kompatibel ist. Damit solches postmoderne Ritualdesign nicht nur dramaturgisch stimmig, sondern auch biblisch-theologisch fundiert ist, bedürfte es mehr Lehrveranstaltungen, die neben den spezifischen Eigen‐ heiten einzelner Schriften auch Lebensthemen wie Krankheit und Tod, (religiöse) Biografie oder Glaube und Zweifel, aber auch etwa Flucht und Migration  62 ge‐ samtbiblisch durchdenken. Auch Veranstaltungen zu den biblischen Grundlagen des Kirchenjahres (und warum nicht zu den Dauerbrennern unter den Tauf-, Konfirmations- und Trausprüchen? ) müssten keineswegs an die Praktische Theologie delegiert werden. Es gilt für die universitäre Exegese, aufmerksam für gesellschaftliche Religionstrends zu sein und fachlich fundiert darauf zu reagieren, wie es etwa bei der seit einiger Zeit andauernden „Engel-Renaissance“ mit großem Gewinn geschehen ist. 63 Da sich die Öffentlichkeit bei der Wahl ihrer Gesprächsthemen nicht um die interne Organisation theologischer Fakultäten schert, ist damit natürlich eine Anfrage an die Versäulungstendenzen speziell innerhalb der Exegese impliziert. 6 Digitalität und Virtualität Vikar: innen, die im Frühjahr 2020 ihre ersten praktischen Erfahrungen sam‐ meln sollten, sahen sich mit einem jähen und fast vollständigen Abbruch traditioneller gemeindlicher Kommunikationsstrukturen und Vergemeinschaf‐ tungsformen konfrontiert. Bei der durch Lockdowns erzwungenen Entwicklung digitaler Verkündigungsformate standen vor allem technische, ästhetische und DOI 10.24053/ VvAa-2022-0012 Haltung und Methode 19 64 Vgl. Haberer, Theologie. 65 Vgl. Beck u.-a. (Hg.), Theologie. 66 An dem voluminösen Sammelband Theologie und Digitalität haben v. a. Praktische und Systematische Theolog: innen mitgeschrieben, das Stichwort ‚Exegese‘ taucht im Volltext überhaupt nicht auf. 67 Büsch, Geschöpf, 204. 68 Bauer, Gott. 69 Stalder, Kultur, 95. 70 Büsch, Geschöpf, 204. medienrechtliche Fragen im Vordergrund, die theologische Grundsatzfragen überlagerten. In Teilen war dies sicherlich einem hohen Innovationsdruck ge‐ schuldet, was jedoch nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass die Diskurslage Anfang 2020 noch sehr übersichtlich war. Breiter rezipierte deutschsprachige Publikationen der 2010er Jahre hatten vorwiegend medientheoretische Themen oder, manchmal recht banal, ethische Fragen des „Neulands“ Internet 64 ver‐ handelt. Im Kielwasser der Pandemie und der sprunghaften Digitalisierung kirchlichen Lebens hat sich die Debatte seitdem deutlich ausdifferenziert. 65 An der Suche nach spezifisch theologischen Interpretationen von Digitalität und Virtualität haben sich Exeget: innen bislang m. W. kaum beteiligt. 66 Dort, wo von nicht-exegetischer Seite auf die Schrift rekurriert wird, geschieht dies eher schlagworthaft und dient vor allem der Konstruktion bipolarer Realitäten: Die Bibel erscheint (paradoxerweise) als Zeugnis einer paradigmatisch prämedialen Kultur, 67 digitale Innovation als Anfrage an biblische Menschenbilder. 68 Die Chancen für die Exegese können an dieser Stelle nur angedeutet werden: So nennt etwa der Medienwissenschaftler Felix Stalder Referentialität und Ge‐ meinschaftlichkeit als zwei zentrale Kennzeichen digitaler Kultur. 69 Exegetische Einsichten in die Kompilationsleistungen der biblischen Redaktoren und ihre Funktionen für antik-religiöses Communitybuilding könnten medientheoreti‐ sche Diskurse bereichern, die Exegese ihrerseits neue methodische Perspektiven daraus gewinnen. Der Rekurs auf biblische Zeit- und Raumvorstellungen könnte Debatten über virtuelle Gemeinschaften vertiefen, die nicht selten auf ein wie auch immer verstandenes Ideal der Gleichzeitigkeit in Form „zeitlicher und räumlicher Kopräsenz“ 70 fixiert scheinen. Die universitäre Exegese würde damit einen Beitrag dazu leisten, dass Theolog: innen bereits mit einem geklärten biblisch-theologisch fundierten Digitalitätsbegriff den praktischen Teil ihrer Ausbildung beginnen und sich davon ausgehend digitale Handlungsspielräume erschließen. DOI 10.24053/ VvAa-2022-0012 20 Holger Pyka 7 Letzte An- und Rückfragen „Haltung und Methode“, mit diesem aus der Themenzentrierten Interaktion stammenden Begriffspaar 71 sind die hier formulierten Chancen der Exegese aus Sicht der zweiten Ausbildungsphase überschrieben und zusammengefasst. Verantwortliches pastorales Handeln braucht, neben anderem, auch exegetische Methoden, die, wie hoffentlich deutlich geworden ist, auf viele gemeindliche Arbeitsbereiche übertragbar sind. Es liegt an den Lehrenden der exegetischen Fächer, diesem Berufsziel, das unter den Studierenden an den Fakultäten domi‐ niert, Rechnung zu tragen und zu derartigen Transferleistungen zu ermutigen. Damit verbunden ist die Notwendigkeit einer Haltung und eines beruflichen Selbstverständnisses, das die eigene Rolle und die eigene Verantwortung als Auszubildende und hoffentlich Inspirator: innen angehender Geistlicher ernst nimmt. Keine Wissenschaft findet im sterilen Raum weltanschaulicher Neutra‐ lität statt, und an theologischen Fakultäten erschiene es fast grotesk, eine solche für sich zu reklamieren. Zum Schluss: Es ist keine große Leistung, aus fachfremder Sicht ein Wunsch‐ konzert anzustimmen. Groß ist dagegen das Risiko, dabei ein karikaturesk verzerrtes Bild der angesprochenen Disziplinen zu zeichnen. Meine Vermutung ist, dass viele der hier formulierten Desiderate bereits Berücksichtigung in der akademischen Lehre finden. Damit stellt sich aber die Frage, warum sich Vikar: innen trotzdem wie Franz Kafkas Karl fühlen oder zumindest so verhalten. Natürlich liegt es auch an den Lehrenden in der zweiten Ausbildungsphase, exemplarisch die Bedeutung ihrer eigenen exegetischen Kenntnisse für die seminaristischen Lehrinhalte und Lernprozesse und ferner für die kirchliche Praxis aufzuzeigen. Vor allem aber dürfte der Ball bei den EKD-Gliedkirchen liegen: Die landesspezifisch konstruierten Studien- und vor allem Examensord‐ nungen müssten der notwendigen Inter- und Transdisziplinarität Rechnung tragen und in Themenstellung, Prüfungsarchitektur und Bewertungsrichtlinien zu solchem Arbeiten ermutigen. Literatur Backhaus, Knut: Aufgegeben? 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Six different examples from school practice are used to explain what demands the subject of religious education places on teachers and what problem areas exist. Finally, the tension between academic studies and studies that are designed with practice in mind is addressed. 1 Religionsunterricht - einige Vorbemerkungen Schule ist - nach einer aktuellen Studie der Religionspädagog: innen Mirjam Zimmermann und Carsten Gennerich - der entscheidende Ort, an dem Kinder und Jugendliche die Bibel kennenlernen. 81 % der befragten Jugendlichen in der Studie kennen biblische Geschichten aus der Schule. 2 Wie oft allerdings die Bibel direkt im Religionsunterricht (RU) vorkommt, ist unter den befragten Schüler: innen (S: S) sehr unterschiedlich: bei fast 60 % nie bis einmal im Monat; bei 40 % könne die Bibel als durchgängiges ‚Leitmedium‘ des RU gesehen werden. 3 Dabei scheint es einen schulformspezifischen Unterschied zu geben: 4 Mendl, Religionsdidaktik, 84. 5 Vgl. Mendl, Religionsdidaktik, 84; Gennerich/ Zimmermann, Bibelwissen, 88f. 6 Kirchenamt der EKD (Hg.), Orientierung, 40. 7 Alle diese Szenen wurden jeweils von einer der beiden Autorinnen miterlebt, entweder als Besucherin oder als Unterrichtende. In der Grundschule würden oftmals biblische Geschichten behandelt, wohin‐ gegen dies in der Sekundarstufe I nachlasse und eine gewisse „Bibelmüdigkeit“ zu spüren sei 4 - wobei hier zu klären wäre, ob das an der Bibel selbst oder an der methodischen Herangehensweise im Unterricht liegt. 5 Dennoch gilt: Schulischer RU ist der Ort, an dem Bibellesen und Bibelauslegung zentral stattfindet. Die Bezugswissenschaft dieses RU ist jedoch nicht allein die Exegese, sondern sind die sogenannten klassischen Disziplinen der Theologie: Bibelwissenschaften, Systematische Theologie, Kirchengeschichte und Religi‐ onspädagogik, sowie daneben noch Religionswissenschaft(en), Theologie(n) unterschiedlicher religiöser Traditionen, aber auch die Philosophie und je nach Unterrichtsthema auch andere Disziplinen wie etwa Geschichte, Biologie oder Physik. Der RU ist in den meisten deutschen Bundesländern nach Artikel 7.3 Grundgesetz organisiert. Es handelt sich nicht um einen religionskundlichen RU, sondern er findet in ‚Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religi‐ onsgemeinschaften‘ statt. Die Möglichkeit der Abmeldung und Wahl eines Ersatzfaches garantiert die negative Religionsfreiheit nach Artikel 4 Grund‐ gesetz. Evangelischer RU ist immer offen auch für nicht-evangelische S: S, 6 an diesem Unterricht nehmen deshalb S: S unterschiedlicher christlichen Deno‐ minationen, unterschiedlicher Religionen sowie sogenannte ‚konfessionslose‘ S: S teil. Das stellt die Lehrkräfte vor große Herausforderungen, gerade wenn es um den Einsatz der Bibel im Religionsunterricht geht. Dies zeigen im Folgenden einige authentische Szenen aus dem RU. 7 Sie lassen fragen, welche exegeti‐ schen, hermeneutischen und theologischen Fragen eine Lehrkraft geklärt haben muss, um die Bibel im Unterricht einzusetzen? Wie kann das Lehr‐ amtsstudium Evangelische Theologie angemessen auf die unterrichtlichen Herausforderungen vorbereiten? Diesen Fragen geht dieser Artikel nach, der ausgehend von der schulischen Situation hochschuldidaktische Herausforde‐ rungen formuliert. DOI 10.24053/ VvAa-2022-0013 28 Ariane Dihle / Michaela Veit-Engelmann 8 Baldermann, Einführung, 19. 9 Vgl. zum Folgenden grundsätzlich Zimmermann, Weg, 197-203. 10 Zur aktuellen Debatte zu den Zielen des Religionsunterrichts (an Berufsbildenden Schulen) vgl. grundlegend Lorenzen, Entscheidung. 11 Zimmermann, Niemandsland, 5. 2 Die Bibel im Religionsunterricht - 2.1 Die Bibel im Religionsunterricht - wieso, weshalb, warum? Ingo Baldermann betont: Die Bibel ist kein Buch der Lehre, sondern „Buch des Lernens“. 8 Drei verschiedene Ebenen des Umgangs mit der Bibel sind deshalb im unterrichtlichen Geschehen zu unterscheiden: 9 Weil die Bibel selbst über Jahrhunderte sprach- und bildprägend gewirkt hat, sind ihre Inhalte Teil eines umfassenden Bildungskanons. Zugleich muss es im RU aber auch darum gehen, die Bibel selbst auf ihr Potenzial zur kritischen Weltwahrnehmung hin zu befragen und die ihr inhärenten Veränderungsimpulse auf die Gegenwart anzuwenden. Und schließlich darf ein RU, der als konfessionell gebundener die S: S zu reflektierter Positionalität und konfessionsbezogener Ich-Identität anregen will, 10 nicht bei diesen beiden Aspekten stehen bleiben, sondern soll zu einem „Prozess der aneignenden Sinnfindung“ 11 anleiten. Ziel der Beschäftigung mit der Bibel im RU ist also - mit Ausnahme der gymnasialen Oberstufe - nicht der Erwerb exegetischen oder historisch-kriti‐ schen Wissens, sondern Ziel ist es, zu einem Umgang mit der Bibel zu finden, der deren Lebensrelevanz für die eigene Gegenwart und die eigene Existenz erkennbar werden lässt oder zumindest den Perspektivwechsel ermöglicht, die Welt probehalber aus einer christlichen Perspektive zu deuten. Beides - exegetischer Wissenserwerb und Relevanzerkenntnis - kann nicht als ein Entweder-Oder gegeneinander ausgespielt werden, sondern bedingt einander und bedarf des jeweils anderen Zugangs: Exegese ohne die Frage nach dem persönlichen Bezug bleibt totes Wissen; die individuelle Auslegung eines Textes und vielleicht gar nur eines Verses ohne jede Kontexteinbettung öffnet hingegen der Beliebigkeit Tür und Tor. Diese doppelte Nennung zweier nichtmöglicher Formen des Umgangs mit der Bibel im RU unterstreicht, welcher Spagat den Lehrkräften abverlangt wird und verstärkt die Dringlichkeit, eine Antwort auf die hier aufgeworfenen Fragen zu finden. DOI 10.24053/ VvAa-2022-0013 Die Bibel im Religionsunterricht ins Gespräch bringen 29 2.2 Sola scriptura - zur Bedeutung der Bibel innerhalb der protestantischen Glaubenstradition „Der Evangelische Religionsunterricht erschließt die religiöse Dimension des Lebens in der besonderen Perspektive, die auf die konkrete Gestalt, Praxis und Begründung des christlichen Glaubens in seiner evangelischen Ausprägung bezogen ist. Er ist durch ein Verständnis des Menschen und seiner Wirklichkeit geprägt, das in der biblisch bezeugten Geschichte Gottes mit den Menschen gründet.“ 12 Religion ist eine spezifische Weltdeutung und also ein Modus des Weltzugangs; diesen lernen die S: S im RU kennen. In dem hier gebotenen Zitat klingt die Rolle der Bibel für den RU an, ist sie doch Zeugnis der ‚Geschichte Gottes mit den Menschen‘ und damit Grundlage für christliche Weltdeutung, die den S: S als eine mögliche Option im RU angeboten wird. Der Bibel kommt für die protestantische Tradition eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu; dies bezeugt auch die reformatorische Exklusivpartikel ‚sola scriptura‘, die mit dem Ruf ‚Allein die Schrift‘ die Bibel als Grundlage evangelischen Glaubens benennt. Bereits Martin Luther betonte: Die Bibel selbst vermittle die Heilsbotschaft, sie bedürfe keiner Ergänzung oder interpretierenden Auslegung durch ein kirchliches Lehramt. Jede und jeder einzelne Gläubige ist deshalb unmittelbar verwiesen auf die Schrift. Die Formulierung ‚sola scriptura‘ beschreibt die Verantwortung dafür, das in der Bibel enthaltene Wort Gottes ständig neu zur Sprache zu bringen, Martin Luther betont dafür auch die Wirkung des Heiligen Geistes. Leitendes hermeneutisches Prinzip ist die Botschaft von Jesus Christus als Mitte der Schrift; von dieser her gilt es immer wieder auszutarieren, was ‚Christum treibet‘ (wie Luther es formuliert hat) und was damit dem Leben dient - und was nicht! 3 Die Bibel im Religionsunterricht - schulische und hochschuldidaktische Herausforderungen - 3.1 Niemandsland oder Heimatland? 13 - zur Funktion der Bibel im Religionsunterricht In einer 7. Klasse werden laut Lehrplan Wundererzählungen behandelt. Die Studentin im Praktikum hat Mk 2,1-12 als Unterrichtsgegenstand ausgewählt. Der Stundeneinstieg beginnt mit der Formulierung: „Ich habe euch heute eine Geschichte über eine große DOI 10.24053/ VvAa-2022-0013 30 Ariane Dihle / Michaela Veit-Engelmann 12 Kirchenamt der EKD (Hg.), Kompetenzen und Standards, 11. 13 Vgl. Zimmermann, Niemandsland, 197: Die Bibel muss im RU vom Niemandsland zum Heimatland werden. 14 Vgl. grundlegend Fuchs/ Wiedemann, Theologie, 75-77. 15 Zimmermann, Niemandsland, 203f. 16 Dittrich, Entwicklung, 310. Freundschaft zwischen fünf Personen mitgebracht.“ In der Stunde wird mittels Innerer Monologe erarbeitet, wie dankbar der Gelähmte seinen Freunden ist und warum diese ihm helfen möchten. Im weiteren Verlauf der Stunde wird über Formen und Bedeutung von Freundschaft nachgedacht. Am Ende formulieren die Siebtklässler: innen anhand der Geschichte, wie sie selbst - ebenso wie die Freunde des Gelähmten - in ihrem Leben heute gute Freunde sein können. Im Nachgespräch zwischen Studentin und Dozentin wird deutlich, dass die Studentin die Wahl des Bibeltextes aufgrund der von ihr antizipierten Rollenerwartung an sich und ihr Fach getroffen hat. Bezüglich des Wundercharakters des biblischen Textes ist sie wenig auskunftsfähig; ihr Schwerpunkt liegt darauf, die Heilungsgeschichte (implizit) metaphorisch zu lesen: Es ist eine Geschichte, an der Kinder am Modell lernen können, wie sich durch Gemeinschaft und Zusammenhalt schwere Situationen meistern lassen. 3.1.1 Zur Funktion der Bibel im Religionsunterricht - schulische Problemanzeigen Nicht nur unter S: S, sondern auch unter den Lehrkräften sind der viel beschworene Traditionsabbruch sowie Kirchenferne, Säkularisierung und synkretistische Glau‐ bensvorstellungen längst Realität. Tatsächlich bilden Lehramtsstudierende mit dem Fach Evangelische Religion hinsichtlich der gelebten Frömmigkeitspraxis den Bevölkerungsdurchschnitt ab. 14 Wenn sie jedoch der Bibel für den eigenen Glauben keine hohe Relevanz zuerkennen, ist es nur folgerichtig, dass diese weder bei den Unterrichtsgestaltungsmöglichkeiten noch bei den Unterrichtszielen („Zugänge zur Bibel schaffen“) auf den vorderen Rängen zu finden ist. 15 Religionslehrkräfte, das hat Thorsten Dittrich im Rahmen der ReVikoR- Studie für Schleswig-Holstein zeigen können, verstehen sich vor allem als „Staatliche Lehrkraft, die dem Bildungs- und Erziehungsauftrag verpflichtet ist“ (94,2% bei Dittrich). 82,9% der Lehrkräfte stimmten der Aussage zu „Ich rege zu eigenständiger Urteilsbildung und kritischer Auseinandersetzung an“, wohingegen sich lediglich 42,8% als „Vermittler/ in des christlichen Glaubens“ sehen oder als „[a]uthentisches Beispiel für meine gelebte Religion“ (34,8%). 16 Es fällt dabei auf, dass christliche Inhalte und in Unterrichtsstunden transformierte Theologie erst einmal eine untergeordnete Rolle spielen. Dass die Bibel im RU vorkommen muss - nicht nur als Lerngegenstand und als Beitrag zur Vermittlung von Allgemeinwissen, sondern als Glaubensdoku‐ ment -, wird dann zur scheinbar unbegründeten Vorgabe. Wenn nicht mehr verstanden wird, wieso gerade biblische Texte die Lernenden zum Verstehen DOI 10.24053/ VvAa-2022-0013 Die Bibel im Religionsunterricht ins Gespräch bringen 31 17 Englert u.-a., Innenansichten, 122 f. 18 Vgl. Englert u.-a., Innenansichten, 122. 19 Zimmermann, Situation, 328 f. ihrer selbst anleiten, geht deren theologisches und pädagogisches Potenzial verloren. Das (weitgehend anspruchslose) Lernziel der oben geschilderten Szene hätte auch durch die Beschäftigung mit einem aktuellen literarischen Text oder einem (Kurz-)Film erreicht werden können. Das Problem liegt auf der Hand: Dass die Verwendung biblischer Texte im RU einen Mehrwert hat, erscheint häufig allen (! ) Beteiligten als unbegründete Set‐ zung, die nur dann einen Sinn gewinnt, wenn sich ihr Einsatz im Unterricht aus dem Inhalt der verwendeten Perikopen heraus plausibilisieren lässt. Letzteres führt dazu, dass biblische Texte vor allem dann Gehör und Verwendung finden, wenn sie als Bestätigung eigener Ansichten dienen. Rudolf Englert und sein Team sprechen deshalb von einer „Hermeneutik der Wiedererkennung“, die im RU betrieben werde: „Dabei stehen die lebensweltlichen Analogien zwischen re‐ ligiösen Zeugnissen und lebensweltlichen Erfahrungen im Vordergrund.“ 17 Zwar wird die Bibel für die S: S als Buch von Erfahrungen begreifbar, die Menschen mit Gott gemacht haben, doch wird der Mehrwert religiöser Traditionen dadurch nicht erfasst: 18 Mk 2,1-12 ausschließlich als Freundschaftsgeschichte zu lesen, wird dem Text nicht gerecht - so gerät die theologische Herauforderung der Frage nach dem Wundertäter Jesus fast vollständig aus dem Blick. Das kritische und infrage stellende Potenzial biblischer Texte geht damit aber verloren! 3.1.2 Hochschuldidaktische Überlegungen Hochschullehrende beklagen angesichts des mangelnden Vorwissens vieler Studierender, dass sie die Grundlagen, die sie für die universitäre Beschäftigung mit exegetischen oder systematischen Fragestellungen brauchen, erst selbst schaffen müssten; manche sprechen hinter vorgehaltener Hand von einem nachgeholten Konfirmandenunterricht im Studium und vergleichen dies mit Musikstudierenden, die keine musiktheoretischen Kenntnisse haben und kein Instrument spielen. So hat eine Befragung der Gemischten Kommission/ Fach‐ kommission II aller Evangelisch-Theologischen Fakultäten und Institute für Evangelische Theologie - mit einer Rückläuferquote von fast 90 % - ergeben, dass 54-% der Lehrenden fehlende Vorkenntnisse der Studierenden bemängeln. Manche forderten deshalb Vorkurse vor dem Studium oder „eine striktere Vorauswahl der Studienanfänger über Noten bzw. Eingangstests“ (so 22-%). 19 Für einen immer größer werdenden Teil der Studierenden findet in der Tat im Studium eine Erstbegegnung mit biblischen Texten statt - Ausnahmen bilden höchstens die biblischen ‚Klassiker‘. Deshalb müsste der wissenschaftlichen DOI 10.24053/ VvAa-2022-0013 32 Ariane Dihle / Michaela Veit-Engelmann 20 Studierende lernen damit zugleich unterschiedliche Methoden kennen, um verschie‐ dene Lerntypen in einer heterogenen Lerngruppe methodisch vielfältig anzusprechen. 21 Gennerich/ Zimmermann, Bibelwissen, 89. 22 Das Mentorat für Lehramtsstudierende ist in den einzelnen evangelischen Landes‐ kirchen in Deutschland und an den einzelnen Studienstandorten unterschiedlich organisiert. Es handelt sich dabei um ein kirchliches Begleitprogramm für Lehramts‐ studierende, das als freiwilliges Angebot dazu dient, Studierenden zu einer Klärung ihrer eigenen Rolle als Lehrkräfte und zur Positionierung in Glaubensfragen zu finden. 23 Zimmermann, Situation, 330. 24 Vgl. dazu FiBS, Entwicklung, 6. Auseinandersetzung mit einem Bibeltext eigentlich eine genaue Textlektüre vorausgehen. Narrative Zugänge mit Perspektivwechseln, Methoden wie Bibli‐ olog, Bibliodrama und kreative Schreibaufgaben (u. a. Innerer Monolog, Dialog, Briefe, Tagebucheinträge von biblischen Figuren) sind deshalb geeignete didak‐ tische Zugänge auch für die Hochschule, selbstverständlich immer ergänzt um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Texten im Nachgang. 20 Solche Methoden müssten flächendeckender im Studium zum Einsatz kommen, denn vermutlich lässt sich der Befund Zimmermanns/ Gennerichs auch auf Studierende übertragen: „Mit Blick auf die Methoden zeigt sich, dass ein bloßes Darüber-Sprechen, was die Geschichte mit dem eigenen Leben zu tun hat, nicht unbedingt methodisch zielführend ist. Offenbar erleichtern Methoden wie ‚Erzählen‘ und ‚Nachspielen‘ eher eine Anwendung im eigenen Leben, und die Rekonstruktion im damaligen Kontext kann den zweiten hermeneutischen Schritt der Entwicklung möglicher Bedeutungen im heutigen Kontext fördern.“ 21 Nun könnte der (berechtigte) Einwand eingebracht werden, dass es im Studium gerade nicht um die Affirmation der biblischen Texte gehe, sondern um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung. Idealerweise, so könnte man argumen‐ tieren, würde ein studienbegleitendes kirchliches Mentorat 22 diese Lücke füllen. Doch zeigt die bereits erwähnte Befragung der Gemischten Kommission/ Fach‐ kommission II, „dass eine solche kirchliche Begleitung Studierender an fast der Hälfte aller Standorte noch nicht etabliert ist“. 23 Dass die kirchliche Begleitung protestantischerseits zu Recht auf die Freiwilligkeit der Studierenden setzt - und als Angebot zur Glaubens- und Persönlichkeitsbildung auch niemals verpflich‐ tenden Charakter haben kann -, führt allerdings angesichts knapper zeitlicher Kapazitäten neben dem Studium, möglicher familiärer Verpflichtungen der Studierenden und einer Erwerbstätigkeit 24 dazu, dass damit vor allem diejenigen erreicht werden, denen die Sinnhaftigkeit dieses Angebots einleuchtet. DOI 10.24053/ VvAa-2022-0013 Die Bibel im Religionsunterricht ins Gespräch bringen 33 25 Vgl. grundlegend Fuchs/ Rothenbusch, Grundlagen, 7. 26 Neben enger Taktung und z. T. hoher Prüfungsbelastung in den Studiengängen, fehlender Einsicht in die Notwendigkeit bibelkundlichen Wissens, fehlenden zeitlichen Kapazitäten durch Erwerbstätigkeiten neben dem Studium, dem Rückgriff auf (ver‐ meintlich) gutes Unterrichtsmaterial, das eigene Defizite kompensiert, ist hier auch auf die Konkurrenz verschiedenster Themenfelder zu verweisen, in denen angehende Lehrkräfte möglichst - und das in zwei verschiedenen Fächern - neben dem Studium noch Kompetenzen erlangen sollen (z. B. Differenzierung, Inklusion, Differenzsensi‐ bilität, Deutsch als Zweitsprache, Digitalisierung, Medienkompetenz, fachspezifische Methoden wie Bibliolog usw.). Hinzu kommt, dass Studierende nicht immer ein klares Bild ihrer bibelkund‐ lichen Defizite haben; dies werde ihnen oftmals erst während der Praxisphase bewusst, zumeist also erst im Masterstudium. 25 Eine Vielzahl von Gründen 26 verhindert, dass die Studierenden fehlende Bibelkenntnis auch jenseits von Kreditpunkten und Lehrveranstaltungen eigenständig aufarbeiten. Noch eine zweite Herausforderung tut sich auf: Die Studierenden stehen an‐ gesichts eines Studiums von meist zwei Fächern bzw. bei Sonderpädagogik/ För‐ derschullehramt angestrebten Förderschwerpunkten vor großen Herausforde‐ rungen in der Stundenplangestaltung. Religion kann - mit schulform- und bundeslandspezifischen Ausnahmen - mit beliebigen anderen Fächern kom‐ biniert werden, so dass eine Kollision von Veranstaltungszeiten nicht auszu‐ schließen ist: Die Empfehlungen des Studienverlaufsplans müssen daher im Hinblick auf die reale Studierbarkeit vielfach unterlaufen werden. Oftmals kann deshalb in nicht-bibelwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen kein kon‐ sensuales Vorwissen seitens der Studierenden vorausgesetzt werden, sodass ein konsekutives Studieren mit kumulativem Wissenserwerb schwierig ist. Eine disziplinübergreifende Anlage von Modulen mit beispielsweise einer reli‐ gionspädagogischen und einer bibelwissenschaftlichen bzw. einer systematischtheologischen und einer exegetischen Lehrveranstaltung, die gemeinsam in einem Semester in einem Modul belegt werden müssen und thematisch aufein‐ ander abgestimmt sind, könnte hier ein erster Lösungsversuch sein. - 3.2 Nicht passiert und doch wahr? - Zur Frage des Wahrheitsanspruchs biblischer Texte In der Fachschule Sozialpädagogik nimmt ein Schüler am RU teil, der aus einer Freikirche stammt und der immer wieder Beispiele aus seiner eigenen Bibellektüre und seiner Frömmigkeitspraxis in den Unterricht einbringt. Ein wortwörtliches Verständnis biblischer Geschichten ist für ihn selbstverständlich. Als die Referendarin in der Einheit „Kindern von Jesus erzählen“ auf den metaphorischen Charakter einiger DOI 10.24053/ VvAa-2022-0013 34 Ariane Dihle / Michaela Veit-Engelmann 27 Gennerich/ Zimmermann, Bibelwissen, 45. 28 Gennerich/ Zimmermann, Bibelwissen, 45. 29 Vgl. auch die Beobachtungen bei Kubik, Beziehungslosigkeit, 11-13. Andreas Kubik- Boltres hat dafür in der mündlichen Diskussion den Begriff „sekundärer Dogmatismus“ geprägt. Wundererzählungen verweist, reagiert er mit Unverständnis: „Sie sind doch Christin! Wie können Sie da behaupten, was in der Bibel steht, ist nicht passiert? “ 3.2.1 Zum Wahrheitsanspruch biblischer Texte - schulische Problemanzeigen Für S: S als Kinder und Jugendliche des 21. Jahrhunderts ist die Wahrheitsfrage untrennbar verbunden mit historischer Korrektheit - ‚Wahrheit‘ impliziert für schulische Lerngruppen auch im RU „im Sinne der Korrespondenztheorie die nachprüfbare Übereinstimmung zwischen einer Aussage und einer Tatsache“. 27 Und eine nicht nur in der Grundschule häufig gestellte Frage lautet: ‚Ist das so passiert? ‘ Hat also Mose das Meer geteilt, hat Jesus Lazarus wirklich von den Toten auferweckt und hat Gott die Welt in sieben Tagen erschaffen? Die Herausforderung für die Lehrkraft besteht darin, auch bei der Verneinung der historischen Überprüfbarkeit bestimmter Geschichten gleichzeitig dennoch an deren theologischem Wahrheitsgehalt und damit an ihrer bleibenden Relevanz festzuhalten - und sich vor der Beantwortung dieser Frage nicht durch ein Ausweichen auf andere Themen zu drücken. Wer diesen Konnex von Wahrheit und Historizität im Studium nicht selbst durchdacht hat, gerät vor Schulklassen schnell in eine schwierige Situation. Empirische Untersuchungen unterstrei‐ chen: „Wer biblische Geschichten nicht mehr wortwörtlich auffasst, neigt infolgedessen dazu, sie für unglaubwürdig und unwichtig zu halten.“ 28 Manche Lehrkraft hofft, sich vor dieser Gefahr durch reflexartige Verteidigung biblischer Texte bewahren zu können, vielleicht sogar wider besseres Wissen. Sie zieht sich damit auf Positionen zurück, von der sie denkt, dass eine evangelische Religionslehrkraft sie einnehmen müsse - doch ist das meist ein Zerrbild protestantischer Theologie. 29 Für den biblizistisch argumentierenden Schüler ist die Gleichsetzung von Historizität biblischer - hier: jesuanischer - Überlieferungen und ihrer Wahr‐ heit Bedingung für das Christsein; dieses spricht er der Lehrkraft deshalb ab. Hierauf muss diese angemessen reagieren. Und das meint weder ein reflexar‐ tiges Verteidigen biblischer Texte als historisch noch einen Rückzug auf das scheinbar sichere Terrain historisch-kritischer Exegese, sondern ‚angemessen‘ heißt: Rechenschaft über den Stand der Wissenschaft ablegen und dies mit der eigenen Glaubenspraxis und Frömmigkeit korrelieren können. DOI 10.24053/ VvAa-2022-0013 Die Bibel im Religionsunterricht ins Gespräch bringen 35 30 Kirchenamt der EKD, Orientierung, 50. Dort wird zugleich betont, dass dies nicht mit einer lehramtlichen Kontrolle verwechselt werden dürfe. 31 Kubik, Beziehungslosigkeit, 12. 3.2.2 Hochschuldidaktische Überlegungen Evangelische Theologie ist auf ein Glaubenssystem bezogen, jedoch von dem eigenen Glauben unterschieden. Deshalb kann Evangelische Theologie als Wissenschaft auch ohne eigene in der evangelischen Tradition verortete Glau‐ bensüberzeugungen betrieben werden. Der Anspruch an eine Religionslehrkraft im konfessionellen RU nach Art. 7,3 Grundgesetz ist jedoch ein anderer: „Nach evangelischem Verständnis setzt die Befähigung zum Religionsunterricht eine Bindung an den christlichen Glauben voraus.“ 30 Es ist deshalb wichtig, dass die universitären Lehrveranstaltungen den Raum für die Bildung einer eigenen fundierten Theologie eröffnen. Dies gilt für alle theologischen Disziplinen und wird durch die unter 3.1 beschriebene Einsicht, dass das universitäre Studium die Grundlagen, die es kritisch zu reflektieren gilt, zunächst noch schaffen muss, gleichsam zu einer Quadratur des Kreises. Doch kann nur so verhindert werden, dass im RU entweder ein Zerrbild protestantischer Theologie vermittelt wird oder er sich gänzlich reduziert auf soziale oder klassenspezifische Themen, „populäre ethische Themen“ und „sim‐ pelste Verhaltensbinsenweisheiten, für die ein religiöses Schleifchen überflüssig erscheint“. 31 - 3.3 Und die Bibel hat doch Recht? - Zur ‚Gültigkeit‘ biblischer Texte Eine Klasse angehender Pflegeassistent: innen diskutiert über das Thema Liebe und Partnerschaft. Schnell steht das Thema Homosexualität im Raum. Die S: S - tatsächlich noch eher die Schüler als die Schülerinnen - fühlen sich zur Positionierung genötigt. Ein muslimischer junger Mann verweist auf den Koran und betont: „Der Koran sagt, Homosexualität ist doof, also ist Homosexualität doof.“ Ein anderer Jugendlicher, laut Liste im Klassenbuch evangelischen Glaubens, sagt sehr überzeugt: „Die Bibel sagt, Homosexualität ist doof, also ist die Bibel doof.“ 3.3.1 Die Bibel hat doch Recht? - Schulische Problemanzeigen Wie an Berufsbildenden Schulen und inzwischen auch in vielen anderen Schul‐ formen nicht unüblich findet der RU in dieser Szene im Klassenverband statt. Dies ist häufig eine schulorganisatorische ‚Notlösung‘, deren Grundgesetzge‐ mäßheit (Art. 4 Grundgesetz: negative Religionsfreiheit) durch die formale Möglichkeit einer Abmeldung zumindest grundlegend sichergestellt ist; sie wird DOI 10.24053/ VvAa-2022-0013 36 Ariane Dihle / Michaela Veit-Engelmann 32 Vgl. für Schleswig-Holstein Dittrich, Studie, 310. 33 Kirchenamt der EKD (Hg.), Bildung, 127. Vgl. dazu auch Jakobs/ Schröder, Ausdrucks‐ formen, 8-11. 34 Vgl. Englert, Innenansichten, 128-130; Kubik-Boltres, Flecken, 306. 35 Vgl. u.-a. Gen 1,27; Lev 18,22; 20,13; 1-Kor 6,9; Röm 1,26f; 1-Tim 1,10. allerdings von vielen evangelischen Lehrkräften als wünschenswerter Zustand wahrgenommen. 32 Doch gilt dann verstärkt, was ein Grundlagentext der EKD von 2020 pointiert formuliert: RU wird erteilt auf der Grundlage einer „Hermeneutik des noch nicht gegebenen oder nicht zu erwartenden Einverständnisses“. 33 Gemeinsame Einstellungen oder Überzeugungen können innerhalb der S: S nicht vorausge‐ setzt werden; es gibt keine vermeintliche Normalität, von der dann Einzelne abweichen, sondern grundsätzlich gilt, dass im RU jeder Wahrheitsanspruch jederzeit in Frage steht. In der Tat: Die beiden Schüler in dieser Szene stellen mit ihren knappen und sehr pauschalen Sätzen auch die Wahrheitsfrage: Welche Wahrheit zeigt sich in den Überlieferungen der eigenen Tradition, auch oder gerade dann, wenn diese nicht mit meiner eigenen Weltsicht übereinstimmt? Doch wie kann eine Lehrkraft damit umgehen, wenn die unterschiedlichen Ansprüche verschie‐ dener Religionen und Traditionen aufeinanderprallen? Nicht immer werden solche Wahrheitsfragen im RU in der wünschenswerten Tiefe ausgehandelt. 34 Religiöse Diskussionen enden schnell in einer kognitiv wenig herausfordernden Beliebigkeit; das Potenzial des Miteinanders verschiedener Meinungen und Hermeneutiken wird so jedoch verschenkt. Es gilt eben gerade nicht, dass es ‚in Reli‘ bei solchen Fragen ‚kein richtig oder falsch gibt‘. Um in der oben geschilderten Szene kompetent agieren zu können, ist es unabdingbar, dass die Lehrkraft die Bibel als lebendiges Glaubensdokument kennt. Das meint mehr als eine Orientierung im klassischen bibelkundlichen Sinne, sondern eine Souveränität im Umgang mit biblischen Themen und Texten. Tatsächlich gibt es ja Bibelstellen, die die Position der S: S - ‚Die Bibel sagt: Homosexualität ist doof.‘ - zu bestätigen scheinen. 35 Hier muss eine Lehrkraft nicht nur wissen, wie mit diesen Bibelstellen hermeneutisch angemessen umzugehen ist, sondern auch alternative Geschichten aus dem Alten und Neuen Testament kennen, die anders von zwischenmenschlichen Beziehungen erzählen; sie muss diese so einspielen können, dass die darin enthaltene Glaubenswahrheit deutlich wird. Gleichzeitig muss die Lehrkraft sich mit den Schüler: innen in einen Dis‐ kurs begeben, der grundsätzlich nach der Bedeutung und Gültigkeit religiöser Überlieferungen und Traditionen fragt. Hier stehen ja nicht nur der Wahrheits‐ DOI 10.24053/ VvAa-2022-0013 Die Bibel im Religionsunterricht ins Gespräch bringen 37 36 Vgl. weiterführend Köhlmoos, Denken, 239. 37 Vgl. die Überlegungen von Hopf, Bibelkenntnis, passim. 38 Gennerich/ Zimmermann, Bibelwissen, 112. 39 Vgl. hierzu Brieden, Es gibt kein richtig. anspruch der Bibel und der des Koran einander gegenüber, sondern es gilt auch, die eigene Tradition einer kritischen Reflexion zu unterziehen: Welche Normativität hat die eigene Überlieferung? Wie ist sie wahrzunehmen und von welcher Mitte her ist sie auszulegen? Eng verknüpft damit ist die Beschäftigung mit dem historischen Entstehungskontext der Texte. 36 3.3.2 Hochschuldidaktische Überlegungen Vertiefte Exegese kann immer nur exemplarisch arbeiten. Die Studierenden sollen exemplarisch erworbene Kompetenzen auf den Umgang mit jedem beliebigen weiteren biblischen Text anwenden; allerdings fehlt ihnen oftmals ein Überblickswissen über die Texte der Bibel. Welche biblischen Texte bieten zu welchem Thema zentrale Impulse? Solcherart vernetzende Kenntnisse sind im Studium zu erwerben, deshalb müsste im Rahmen der Bibelkunde die Bibelkenntnis stärker ins Blickfeld gerückt werden. 37 Erfahrungen in der Lehre legen die Vermutung nahe, dass es Studierenden schwerfällt, Auslegungen am Text zu begründen. Ähnlich wie die befragten S: S in der Studie von Gennerich/ Zimmermann neigen sie dazu, biblische Texten durch „bloße Behauptungen“ (42 % in der Studie) und „mit externen Argumenten“ (15 % in der Studie) auszulegen. 38 Argumentationsmuster wie ‚Gott liebt alle Menschen‘ oder ‚Gott ist die Liebe und daher kann Liebe nicht falsch sein‘ ersetzen allerdings die historisch-kritische Exegese durch systema‐ tisch-theologisch angehauchte und unbegründete Allgemeinplätze. Dabei kann gerade das Studium ein Übungsfeld sein, Wahrheitsfragen zu diskutieren, das eigene Denken durch produktiven Dissens weiterzuentwickeln und Meinungen von theologisch positionierten Standpunkten unterscheiden zu lernen. 39 Die theologisch reflektierte Diskussion solcher Fragen, nicht nur im Seminarge‐ spräch, sondern hochschuldidaktisch reflektiert unter Anwendung vielfältiger Methoden (z. B. Gruppenanalyse, Strukturierte Kontroverse, Schreibgespräch, Pro- und Kontra-Diskussionen) sollte daher im universitären Studium einen größeren Raum erhalten. Dies gilt ausdrücklich auch für bibelwissenschaftliche Seminare; denn auch dort kann es nicht ausreichen, Bibelstellen historisch(-kri‐ tisch) einordnen zu können, sondern es muss ein hermeneutisch reflektierter Umgang eingeübt werden, der diese Texte zugleich auf lebensweltliche Frage‐ stellungen hin transferiert. DOI 10.24053/ VvAa-2022-0013 38 Ariane Dihle / Michaela Veit-Engelmann 40 Vgl. der gemeinsame Beschluss 5 (2019) von KIET und E-TFT, abrufbar unter http: / / ki et.online/ wp-content/ uploads/ 2019/ 10/ Beschluesse_ETFT_2019-5.pdf. 41 Vgl. Langenhorst, ,Heilige‘ Schriften, 175. 42 Vgl. weiterführend Dihle/ Schulze-Marmeling, Gott, 43-57. Dazu gehört ebenso eine Sensibilität für ungleiche Zuschreibungspraktiken im Klassenzimmer. Wenngleich oft unter evangelischen und nicht-religiösen Schüler: innen die Position vertreten wird, alle könnten glauben, was sie wollen, zeigen Studien, dass diese Offenheit nicht alle Religionen gleichermaßen trifft. Insbesondere in Bezug auf den Islam gibt es die meisten Vorbehalte. Vgl. dazu z. B. Bertelsmann-Stiftung (Hg.), Religionsmonitor, Universität Duisburg-Essen (Hg.), Muslime, 40. Weiterführend Willems, Rassismus. 43 Vgl. weiterführend Sajak, Formate. In diesem Kontext gilt es auch der Heterogenität christlicher Bibelherme‐ neutik bereits im Studium Rechnung zu tragen. Denn es ist durchaus denkbar, dass die Lehrkräfte in ihren Klassen auf christliche Schüler: innen treffen, die aus der vermeintlichen biblischen Ablehnung homosexueller Beziehungen eine bis heute gültige Regel ableiten, weil sie die Bibel als unumstößlich gültiges Wort Gottes betrachten. Angesichts der Pluralität und Heterogenität schulischer Lerngruppen auch im Religionsunterricht müsste zudem überlegt werden, wie der universitäre Fächerkanon um Theologien anderer Religionen erweitert werden kann. 40 Ein Verständnis und eine (differenzierte) Hermeneutik für die Schriften verschie‐ dener Religionen zu erwerben, ist unabdingbar. In der geschilderten Szene wäre ein Wissen um die Bedeutung des Koran als Gottesoffenbarung 41 und den Umgang mit dieser zentral, um keine antimuslimischen Stereotype zu reproduzieren. 42 - 3.4 Alle Christ: innen haben doch die gleiche Bibel? - Konfessionelle Differenzen wahrnehmen Alle S: S einer 5. Klasse im konfessionell-kooperativen RU erhalten ein Arbeitsblatt mit einem Regal biblischer Bücher. Auf diesem Arbeitsblatt sind viele, unterschiedlich dicke, zum Teil als Gruppe zusammenstehende Bücher mit leeren Buchrücken zu sehen. Die Kinder erhalten die Aufgabe, anhand des Inhaltsverzeichnisses ihrer Bibel die Buchrücken im ‚Regal biblischer Bücher‘ mit den Titeln biblischer Bücher in der richtigen Reihenfolge zu beschriften. 3.4.1 Konfessionelle Differenzen - Schulische Problemanzeigen Der konfessionell-kooperative RU (kokoRU) wird in einzelnen Bundesländern immer stärker ausgebaut; 43 in Niedersachsen wird gegenwärtig die Einführung eines Christlichen Religionsunterrichts in gemeinsamer evangelischer und DOI 10.24053/ VvAa-2022-0013 Die Bibel im Religionsunterricht ins Gespräch bringen 39 44 Vgl. https: / / www.religionsunterricht-in-niedersachsen.de/ christlicherRU/ papiere. 45 Vgl. Kirchenamt der EKD (Hg.), Religionsunterricht, passim. 46 Vgl. weiterführend: Kollmann/ Weidemann, Bibel. 47 Monika Fuchs und Florian Wiedemann sprechen in ihrer Studie deshalb nicht mehr von einer konfessionellen Beheimatung der Studierenden, sondern nur noch von einer (eher zufällig erfolgten) konfessionellen Kontextualisierung, vgl. Fuchs/ Wiedemann, Studie, 74-78, besonders 76. 48 Dazu zählen beispielsweise Kanonfragen, der Umgang mit der Schrift (Schriftprinzip und Autorität der Schrift), aber auch Übersetzungsfragen (vgl. die Diskussion um Mt 16,18: ‚Gemeinde‘ oder ‚Kirche‘? ). katholischer Verantwortung (CRU) diskutiert. Begründet wird dieser Schritt mit Blick auf gesellschaftliche Veränderungen wie abnehmende Kirchenmitglied‐ schaft, schwindende gesellschaftliche Relevanz konfessioneller Trennlinien und gelebte Ökumene. 44 In der schulischen Wirklichkeit lässt sich das anekdotisch bestätigen: Manches Mal muss mit den S: S erst mühsam herausgefunden werden, welcher Konfession sie eigentlich angehören. Im kokoRU kommen geteilte Bekenntnisse sowie konfessionell Trennendes zur Sprache 45 - bei der oben beschriebenen Szene wären das konfessionelle Un‐ terschiede in Umfang und Anordnung des biblischen Kanons. 46 Der geschilderte Arbeitsauftrag zeigt jedoch, dass der unterrichtenden Lehrkraft die Bedeutung ihrer konfessionellen Prägung für biblische Themen nicht bewusst ist. Das führt nicht nur zu fachlichen Ungenauigkeiten, sondern auch zu einem Ausblenden der Perspektive der S: S der jeweils anderen Konfession, die aber ebenfalls ein Recht darauf haben, in ihrer je eigenen Religiosität gefördert zu werden. 3.4.2 Hochschuldidaktische Überlegungen Eine bisher unveröffentlichte Umfrage unter Oldenburger Studierenden aus dem Frühsommer 2022 zeigt, dass sich viele von ihnen eher als ‚christlich‘ denn als ‚evangelisch‘ definieren würden - für sie spielt die Konfessionalität eine untergeordnete Rolle 47 . Studierende brauchen die Möglichkeit, im Studium ihre konfessionelle Prägung zu reflektieren - dazu gehört, dass sie sich ihrer eigenen (ggf. unbewussten) Perspektivität bewusst werden. Dies benötigt die differenzsensible Beschäftigung mit interkonfessionellen Inhalten, auch im Hinblick auf konfessionelle Unterschiede in der Exegese. Auch wenn in bi‐ belwissenschaftlichen Fächern konfessionelle Trennlinien nicht die primären Differenzlinien zu sein scheinen, 48 sollten konfessionelle Unterschiede auch hier in den Blick kommen. So werden die angehenden Lehrkräfte dazu befähigt, in entsprechender Weise im RU zu agieren und gleichzeitig (vermeintlich) konfessionelle Differenzen nicht künstlich zu (re-)produzieren. DOI 10.24053/ VvAa-2022-0013 40 Ariane Dihle / Michaela Veit-Engelmann 49 Vgl. Kraus u.-a., Neue Testament Jüdisch erklärt, 147. 50 Ausgehend von der Prämisse, dass sich christliche Signaturen im zeitgenössischen Antisemitismus finden, ist es umso wichtiger, Narrative aufzuspüren, die antijüdisch oder anschlussfähig an antisemitische Narrative auch außerhalb des RU sind. Vgl. weiterführend dazu: Staffa, Antisemitismuskritik, und Töllner, Antijudaismus. 51 Vgl. weiterführend Rothgangel, Diagnose. 3.5 Jüdisch-christliche Bibelauslegung als Querschnittsthema In einer 6. Klasse wird das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37) be‐ handelt. Auf dem Arbeitsblatt steht folgender Infokasten „Priestern waren besonders strenge jüdische Reinheitsregeln auferlegt, da sie im Tempel Opfer darbrachten und direkt mit Gott in Kontakt standen. Meistens waren sie Sadduzäer, manchmal auch Pharisäer. Unrein konnte man auf verschiedene Weise werden, zum Beispiel durch die Berührung eines Toten. Leviten kommen aus dem Stamm Levi. Auch sie waren am Tempeldienst beteiligt.“ Der Arbeitsauftrag lautet: „Jesus erzählt nicht, was die anderen Beteiligten gedacht haben. Versetze dich an die Stelle des Priesters, der an dem Verletzten vorbeigeht und schreibe seine Gedanken in der Ich-Form auf. Beachte dafür die Zusatzinformationen aus dem Info-Kasten.“ Bei der Besprechung wird deutlich, dass in der Zielsetzung der Lehrkraft die Kinder bei dem Priester vor allem einen inneren Konflikt wahrnehmen sollen, dem Mann helfen zu wollen, aber es wegen der Reinheitsgebote nicht zu dürfen. 3.5.1 Jüdisch-christliche Bibelauslegung - schulische Problemanzeige In der hier beschriebenen Szene wird eine Auslegung von Lk 10,25-37 betrieben, die eine antijüdische Interpretation gegen das Gesetz nahelegen möchte und ein Zerrbild des Judentums zur Zeit Jesu präsentiert. 49 Diese Auslegung wird weder dem Text gerecht noch nimmt sie historische Umstände in den Blick. Doch reiht sie sich ein in eine lange antijüdische Tradition innerhalb der christlichen Theologie, die von einer Überordnung des Christentums gegenüber dem Judentum ausging. Wenn bedacht wird, dass für viele S: S die Hauptbe‐ gegnung mit christlicher Theologie in der Schule stattfindet - die meisten kennen vermutlich Lk 10,25-37 vor der Unterrichtsstunde nicht - und für einige Heranwachsende die Schule der letzte Ort sein wird, an dem sie sich mit Theologie auseinandersetzen, ist es umso wichtiger, keine antijüdischen Zerrbilder zu zeichnen, die beispielsweise das Judentum als Negativfolie zur christlichen Selbstüberhöhung verwenden. 50 Unter den Bedingungen des Tra‐ ditionsabbruchs und der notwendigen Elementarisierung mit dem Wunsch, den S: S deutlicher zu machen, was mit dem Christentum (vermeintlich) Neues kommt, fällt dies in (falscher) Abgrenzung zum Judentum leichter. 51 DOI 10.24053/ VvAa-2022-0013 Die Bibel im Religionsunterricht ins Gespräch bringen 41 52 Synode der EKD, Kundgebung. 53 E-TFT/ KIET, Gemeinsamer Beschluss 3. 54 AG Juden und Christen beim DEKT, Vorstellung, Punkt 4.8. 55 Vgl. weiterführend Deeg, Bibel; Hecke/ Staffa, Wahrheit. 56 Vgl. Förster, Kein Mordvorsatz. 3.5.2 Hochschuldidaktische Überlegungen Es gibt eine lange Tradition von christlichem Antijudaismus. Heute finden sich in 14 von 20 deutschen Landeskirchen Artikel, die das Verhältnis zwischen Juden- und Christentum neu definieren: Der Bund Gottes mit Israel bleibt bestehen. Auf der 12. EKD-Synode 2015 wurde in Auseinandersetzung mit Martin Luthers antijüdischen Schriften postuliert: „Wir stellen uns in Theologie und Kirche der Herausforderung, zentrale theologische Lehren der Reformation neu zu bedenken und dabei nicht in abwertende Stereotype zu Lasten des Judentums zu verfallen.“ 52 Deutlich wird mit dem Wort ‚Herausforderung‘, dass eine fast zweitausendjährige antijüdische Geschichte nicht einfach zu verlernen ist - und das betrifft alle theologischen Disziplinen. In einem gemeinsamen Beschluss des E-TFT und der KIET 2019 wird der Wunsch formuliert, „dass kein Studierender an ihren Mitgliedsinstitutionen ein Theologiestudium absolviert, ohne sich mit historischen, aber auch gegen‐ wärtigen Ausprägungen des Judentums befasst zu haben“. 53 Dies ist jedoch bisher nicht der Fall. Somit ist eine „Asymmetrie zwischen kirchlichem Selbst‐ verständnis und theologische[r] Ausbildung“ festzustellen. 54 Eine antijudaismuskritische Bibelauslegung unter Berücksichtigung der bis‐ herigen Ergebnisse des jüdisch-christlichen Dialogs und der Erkenntnis, dass es sich beim Ersten Testament um eine Heilige Schrift zweier Religionen handelt, 55 sollte Grundlage der Beschäftigung mit biblischen Texten im Studium sein; gerade weil sie in der Schule elementarisiert behandelt werden. Dies ist dabei nicht additiv zu ‚klassischen‘ Auslegungen zu sehen, sondern als durchgängige Perspektive zugrunde zu legen. Dies bezieht immer wieder die Beschäftigung mit Übersetzungen oder nach wie vor gängigen Kommentaren zu biblischen Büchern ein, die - weitgehend unbemerkt - Antijudaismen in biblische Texte eintragen, die in diesen Urtexten nicht vorkommen. 56 Das bedeutet auch, dass Lehrende in der Lehramtsausbildung ihre eigenen Verstrickungen in Antijudaismus erkennen lernen und eigenes bestehendes Wissen hinterfragen müssen. Einige Klassiker, die in der Schulwirklichkeit regelmäßig vorkommen und in einer auch zum Teil antijüdischen Auslegungs‐ tradition stehen, wie beispielsweise die Josefs-Erzählung, die Psalmen, die Erzählungen vom 12-jährigen Jesus im Tempel, Jesus und die Pharisäer, Zachäus, Jesus und die Ehebrecherin, der Barmherzige Samariter, die sogenannten ‚An‐ DOI 10.24053/ VvAa-2022-0013 42 Ariane Dihle / Michaela Veit-Engelmann 57 Vgl. für einen Überblick Lenhard, Problem. tithesen‘ und die Bergpredigt, Wunderheilungen am Schabbat, Jesu Passion, Paulus’ Haltung zum Gesetz, sind gezielt in den Fokus von Lehrveranstaltungen zu rücken. Dabei gilt es, antijüdische Narrative explizit zu thematisieren, um das eigene Weltwissen sowie problematische Bilder aus Kinderbibeln und biblischen Erzählkarten und aus Schulbüchern den Studierenden bewusst zu machen. Insbesondere im Umgang mit Texten der Hebräischen Bibel ist zu überlegen, wie bereits teilweise praktiziert, Kommentare und Auslegungen aus der jüdischen Theologie in bibelwissenschaftliche Seminare einzubeziehen, um in einer gemeinsamen Deutungstradition zu lernen. Exkurs zu einer alten Frage: Sprachanforderungen im Studium Die Sprachenfrage im Lehramtsstudium ist seit langem eine Streitfrage und wird sowohl bei der KIET als auch beim E-TFT breit und kontrovers diskutiert. 57 Manchen erscheint sie inzwischen obsolet, andere wiederum sehen darin einen Identitätsmarker evangelischer Theologie, der nicht aufgegeben werden dürfe. Die Grundfrage ist: Welches Ziel verbindet sich mit dem Spracherwerb? Die Erfahrung lehrt, dass viele Studierende sich zum Beispiel das Griechische nicht auf einem solchen Niveau aneignen können, dass sie selbstständig Studien im Urtext betreiben können. Hinzu kommt: Die Sprachanforderungen unterscheiden sich für das Lehr‐ amtsstudium je nach Bundesland und Lehramt erheblich. Aufgrund von schul‐ formübergreifenden Seminaren an der Universität sowie Fachseminaren an Studienseminaren mit Absolvent: innen aus unterschiedlichsten Bundesländern kann deshalb kein Rückgriff auf hebräische oder griechische Bibeltexte statt‐ finden - schlicht weil die Sprachen nicht vorausgesetzt werden können. Dies jedoch evoziert vielfach Unverständnis, warum sie dann überhaupt gelernt werden mussten. Aber: Sprachenkenntnisse sind dann von unschätzbarem Wert, wenn es um den reflektierten Umgang mit Bibelübersetzungen geht. Es mag eine Binsen‐ weisheit sein, dass jede Übersetzung immer auch eine Interpretation darstellt, doch gilt es, diese Weisheit für die schulische Praxis fruchtbar zu machen. So stellt es einen nicht unerheblichen Unterschied dar, ob man das Substantiv τέλος in Röm 10,4 mit ‚Ziel‘ oder ‚Ende‘ übersetzt. Möglich wäre beides, doch geht damit eine fundamentale theologische Unterscheidung einher: Ob Christus nun das „Ziel“ des Gesetzes (so die Einheitsübersetzung), sein „Ende“ (so Luther 2017) oder das „Endziel“ (so die Elberfelder Bibel) ist, stellt Weichen für die weitere Lektüre dieses paulinischen Abschnitts. DOI 10.24053/ VvAa-2022-0013 Die Bibel im Religionsunterricht ins Gespräch bringen 43 58 Zum Beispiel: Was bedeutet die Rede von der Schöpfung? Wie ist sie ins Verhältnis zu Evolution zu setzen? Gibt es eine Schöpfungsordnung? In welchem Verhältnis steht der Mensch als Geschöpf zu anderen Geschöpfen? Was bedeuten die Texte für das Geschlechterverhältnis? Was folgt aus dem sogenannten Herrschaftsauftrag in Genesis 1,26-28? Welches Gottesbild wird hier deutlich? Jede Religionslehrkraft braucht deshalb entsprechende (übersetzungs-)her‐ meneutische Kompetenzen, die es ihr ermöglichen, exegetisch verantwortlich, theologisch reflektiert und pädagogisch angemessen mit den S: S zu solchen Fragen zu arbeiten. Vielfach werden in Klassen unterschiedliche Übersetzungen verwendet, hier muss die Lehrkraft Verstehenshilfen leisten - und sie muss reflektiert darüber entscheiden können, welche freien Übertragungen und Nacherzählungen in Kinderbibeln oder Erzählkarten verwendet werden können und was es für ihren Unterricht bedeutet, dass diese durch die Perspektivität der Übersetzer: innen und Autor: innen geprägt sind. Interlinear-Übersetzungen, Bibelübersetzungen in andere gelebte Fremdsprachen sowie vielfältige digitale Bibelseiten, die ver‐ schiedenste Bibelübersetzungen unaufwendig gegenüberstellen, bieten hoch‐ schuldidaktische Möglichkeiten, die Bedingtheiten aller Übersetzungen zu re‐ flektieren. - 3.6 Religionsunterricht - jenseits von Fachlogiken Eine Lehrkraft möchte für die 9. Klasse eine Einheit zum Thema Schöpfung planen. 3.6.1 Fachlogiken und Religionsunterricht - schulische Problemanzeigen Es geht im RU - mit Ausnahme des wissenschaftspropädeutischen Anspru‐ ches der gymnasialen Sekundarstufe II - nicht darum, in theologische Diszi‐ plinen einzuführen, sondern religiöse Welt- und Selbstdeutungsprozesse zu ermöglichen. Damit findet außerhalb der gymnasialen Oberstufe im RU keine Exegese statt, sondern es wird mit den Ergebnissen wissenschaftlicher Exegese gearbeitet. Deshalb sind Unterrichtseinheiten nie nur bibelwissenschaftlich orientiert, sondern werden es darin Diskurse unterschiedlicher theologischer Disziplinen aufeinander bezogen. So muss eine Lehrkraft bei der Planung einer Unterrichtseinheit zum Thema ‚Schöpfung‘ auf bibelwissenschaftliche Grund‐ lagen zur Entstehung und Differenz der zwei Schöpfungserzählungen in Genesis 1 und 2 zurückgreifen können und diese in einen Dialog mit systematischtheologischen und ethischen Fragestellungen setzen. 58 Dieses Nachdenken muss zugleich immer religionspädagogisch reflektiert erfolgen: Was ist das verantwortbare Ziel eines RU im Lernen über ‚Schöpfung‘? DOI 10.24053/ VvAa-2022-0013 44 Ariane Dihle / Michaela Veit-Engelmann 59 Vgl. weiterführend Büttner/ Dieterich, Entwicklungspsychologie, 89-102. 60 Vgl. Rothgangel, Schöpfung. 61 Vgl. die Kritik von Köhlmoos, Bibeldidaktik, 239. Sollen sich die S: S selbst als Geschöpf im Gegenüber zu einem Schöpfer sehen - oder wäre dies eine Glaubensfrage, die nicht in der Verfügbarkeit des RU liegt? Wäre ein (Teil-)Lernziel eine Perspektivübernahme, die den S: S verstehen hilft, inwiefern sich Christ: innen als Geschöpf Gottes verstehen und was daraus resultiert? Entwicklungspsychologische Grundlagen müssen bei der Auswahl der Fragen und Themen ebenfalls leitend sein: Inwiefern können S: S einer Lerngruppe komplementär denken und Evolution und Schöpfung in eine sich nicht gegenseitig ausschließende Beziehung zueinander setzen? 59 Welche Haltung bringen die S: S möglicherweise zum biblischen Text mit - haben sie ein kreationistisches Schöpfungsverständnis oder stellt Gen 1 für sie einen wissenschaftlich widerlegten, veralteten Erklärungsansatz für die Entstehung der Welt dar? 60 Damit die biblischen Texte nicht verzweckt werden 61 und sachlich ange‐ messen in den RU eingespielt werden, sind exegetische Erkenntnisse Grundlage der Unterrichtsplanung, jedoch nicht unmittelbar in Unterrichtsinhalte zu übertragen. 3.6.2 Hochschuldidaktische Überlegungen Die Logik des Theologiestudiums ist nicht unmittelbar kompatibel mit der des schulischen RU. Insbesondere beim Gymnasiallehramt geht es an vielen Universitätsstandorten darum, Studierende in die Theologie mit ihren unter‐ schiedlichen Disziplinen einzuführen: in Kirchengeschichte und Systematische Theologie, in das Neue und das Alte Testament, manchmal auch gemeinsam als Bibelwissenschaften bezeichnet, sowie in die Religionspädagogik. Exegese und Bibelwissenschaft sollten im Studium nicht nur in den exegeti‐ schen Fächern vorkommen, sondern verstärkt Teil von Lehrveranstaltungen anderer Disziplinen sein, um auf den schulischen Unterricht vorzubereiten: So sind religionspädagogische Seminare zu Themen wie Schöpfung, Propheten, Psalmen oder Wundererzählungen nicht denkbar, ohne dass in einzelnen Sit‐ zungen im Laufe des Semesters exegetische Grundlagen thematisiert werden. Da sich die verschiedenen theologischen Disziplinen in ihren Binnenlogiken zum Teil widersprechen, Studierenden es gerade bei neu erworbenem Wissen schwer fällt, die unterschiedlichen Inhalte und Logiken aufeinander zu beziehen und sich gleichzeitig eine deutliche höhere Lernmotivation bei Studierenden abzeichnet, wenn es einen Schul- und somit Praxisbezug im Lernsetting gibt, DOI 10.24053/ VvAa-2022-0013 Die Bibel im Religionsunterricht ins Gespräch bringen 45 62 Vgl. beispielhaft neben vielen anderen Universitäten, die dies in einzelnen Modulen teilweise bereits praktizieren für Hannover Fuchs/ Rothenbusch, Grundlagen. 63 Kirchenamt der EKD (Hg.), Kompetenz, 16. bieten sich hochschuldidaktisch interdisziplinäre Lehrveranstaltungen an. 62 Hierdurch ergeben sich Synergieeffekte, die Freiraum für eigenes theologisches Nachdenken der Studierenden schaffen. 4 Fazit Im Studium erarbeiten sich die Studierenden theologisch-religionspädagogische Kompetenzen; das meint „die Gesamtheit der beruflich notwendigen Fähigkeiten und Fertigkeiten, der Bereit‐ schaft und berufsethischen Einstellungen, über die ein Religionslehrer bzw. eine -lehrerin verfügen muss und die es ihnen ermöglicht, mit der Komplexität von be‐ ruflichen Handlungssituationen konstruktiv umzugehen, d. h. religionspädagogisch handlungsfähig zu sein.“ 63 Anhand von sechs verschiedenen Beispielen aus der schulischen Praxis haben wir ausgeführt, welche Anforderungen der schulische RU an Lehrkräfte stellt. Die Grundfrage, ob sich ein Hochschulstudium überhaupt an den schulischen Anforderungen orientieren sollte, haben wir jedoch bisher nicht gestellt. Des‐ halb fragen wir jetzt: Wie relevant sind die Ansprüche der schulischen Realität für das Studium - wie relevant dürfen sie sein und wie relevant müssen sie sein? Ein Studium ist keine Ausbildung. Ein wissenschaftliches Studium will vom Selbstanspruch her gerade nicht auf konkrete berufliche Aufgaben vorbereiten, sondern im Sinne einer vertieften Bildung ein breites Spektrum zukünftiger Tätigkeiten ermöglichen. Das korreliert damit, dass in den einzelnen Lehrver‐ anstaltungen oftmals Menschen unterschiedlichster Berufsziele sitzen (Schul‐ formen, Pfarramt, außerschulische Berufsziele). Ein Großteil der Theologiestudierenden versteht sich allerdings als ange‐ hende Lehrkräfte, auch weil ein nicht unerheblicher Teil der Lehramtsstu‐ dierenden bereits im Studium als Vertretungslehrkraft oder Pädagogische Mitarbeiter: in an Schulen arbeitet - wenn sich das je nach Bundesland und Schulform auch recht unterschiedlich darstellt. Dies führt verstärkt dazu, dass Lehramtsstudierende ihren universitären Kompetenzerwerb von den Anforde‐ rungen ihres angestrebten und bereits gegenwärtig praktizierenden Berufsziels DOI 10.24053/ VvAa-2022-0013 46 Ariane Dihle / Michaela Veit-Engelmann her reflektieren. Dies kann defizitär gelesen oder aber ressourcenorientiert wahrgenommen werden. 64 Als Quintessenz unserer Beobachtungen ließe sich (mit Fokus auf den exege‐ tischen Fragen) formulieren: In einem Studium, das von den schulischen Anfor‐ derungen her gedacht ist, braucht es Zeit für das Finden selbstständiger Text‐ auslegungen, eigener theologisch verantworteter Positionen, für den Erwerb von Bibelwissen statt reiner Bibelkunde, mehr Raum für interkonfessionelle Perspektiven und im Diskurs marginalisierte theologische Perspektiven sowie mehr Raum für nicht-christliche Theologien. Lehramtsstudierende studieren in der Regel aber mindestens noch ein zweites Fach mit eigenen spezifischen Anforderungen. Hinzukommt die Vielzahl an Querschnittsthemen wie Globales Lernen, Demokratie, Inklusion, Digitalisierung, Deutsch als Zweitsprache, Ras‐ sismuskritik, die ebenfalls allesamt mehr Raum und mehr Zeit im Studium bräuchten: Es ist eine Vielzahl an ‚mehreren‘ Anforderungen, die zueinander in Konkurrenz stehen - und zum Teil auch in Diskrepanz zu den Lernausgangs‐ lagen in Bezug auf das theologische Vorwissen, auf dem das Studium aufbauen könnte. Ein Lehramtsstudium kann nicht dauerhaft additiv ergänzt werden, wenn die geforderten Additionen in den Kompetenzen auch eine Chance auf Realisierung haben sollen. Ebenso wenig kann es die geforderten Kompetenzen immer weiter in eigeninitiatives Selbststudium delegieren. Ein Lehramtsstudium bleibt bei 180 KP im Bachelor und 120 KP im Master -, aufgeteilt auf - in der Regel - zwei Fächer oder ein Fach und Förderschwerpunkte sowie einen berufsspezifischen Anteil. Und so stellt sich die Frage, ob sich unter diesen Bedingungen so etwas wie eine ‚Theologie für die Schule‘ entwickeln lässt? Dies gelänge in einem Studium, das nicht in die jeweiligen theologischen Disziplinen und ihre Binnenlogiken einführt, sondern das in interdisziplinären theologischen Seminaren mit hineinnimmt in theologisches Denken unter Rückgriff auf die einzelnen Disziplinen und mit Blick auf die Schule und damit die eigene theologische Positionalität von Grundauf fördert. Ein solcher Ansatz hätte weitreichende Folgen für die Modulstrukturen und auch für die Zusammenarbeit unter den Disziplinen. 65 DOI 10.24053/ VvAa-2022-0013 Die Bibel im Religionsunterricht ins Gespräch bringen 47 64 Dies kann hier nicht umfassend problematisiert werden; vgl. deshalb weiterführend die Aufsätze in Leonhard u.-a., Grau. 65 Vgl. auch Joachim Willems, der sich dafür ausspricht, „die Frage der Inhalte des Studiums vom Berufsfeld her zu denken, in ausgewählten theologischen Disziplinen exemplarisch in wissenschaftliches Arbeiten einzuführen (z. B. mit einem Wahlfach- Modell in Vertiefungsmodulen) und unbedingt die Vernetzung dieser Disziplinen am Beispiel relevanter Themen in interdisziplinären Seminaren einzuüben.“ (Willems, Thesenpapier). Wenn die Bibel im RU ins Gespräch gebracht werden soll, muss genau das bei angehenden Lehrkräften im Studium auch geschehen: Sie müssen dort ebenfalls mit der Bibel ins Gespräch kommen, sich selbst und ihre eigene Religiosität weiterentwickeln 66 und auf diese Weise dazu befähigt werden, religiöse Bildungsprozesse fachdidaktisch verantwortet reflektiert und adressat: innenorientiert in der Institution Schule zu initiieren. Damit wird ein Dilemma skizziert: Ist das dann noch ein Theologiestudium oder doch eine „Reli-Lehrer: innenausbildung“? Können dann aus den Lehramtsstudiengängen noch zukünftige Nachwuchswissenschaftler: innen der einzelnen theologischen Disziplinen erwachsen? Oder erfolgt so nicht zu schnell eine Positionierung ohne notwendige Grundlagenarbeit in den einzelnen Disziplinen? Das sind berechtigte Anfragen, aber ein ‚einfach immer weiter so‘ kann nicht die Antwort sein. - Literatur AG Juden und Christen beim DEKT: Vorstellung des „Projektes zur Analyse der Curricula des Studiums der Evangelischen Theologie für Pfarramt und Lehramt in Bezug auf jüdische und/ oder jüdisch-christliche Lehrinhalte“, https: / / www.ag-juden-christen.d e/ reform-der-reformation. Letzter Zugriff: 07.03.2023. Baldermann, Ingo: Einführung in die Bibel, Göttingen 4 1996. Bertelsmannstiftung (Hg.): Religionsmonitor 2015 der Bertelsmann-Stiftung. Kurzfas‐ sung, https: / / www.bertelsmann-stiftung.de/ fileadmin/ files/ Projekte/ 51_Religionsmo nitor/ Zusammenfassung_der_Sonderauswertung.pdf. Letzter Zugriff: 07.03.2023. Brieden, Norbert: „Es gibt kein richtig und falsch in Glaubensdingen! “ Zum Umgang mit religiösen Wahrheitsansprüchen aus hochschuldidaktischer Perspektive, Theo-Web 21,2 (2022), 128-163. 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It sets in with subjective perceptions on the ambivalence that lies between the ideal of the importance of Biblical texts and the factual reality of their low significance in various areas of church life. Subsequently, four goals are presented, exegetical education at universities should aim at: a) the ability to perceive and express central messages of Biblical texts, b) and this against the background of their historical contexts; c) identifying and understanding innerbiblical and post-biblical reception processes; d) attaining a plurality of methodological approaches without losing the perspective for the whole of translating Biblical texts to today’s life. Important means to achieve this, are humility towards the texts, respecting the contexts of text production and reception, an awareness for one’s ordination on Bible and Confession, as well as modern re-conceptualizations of what norma normans and sola scriptura mean. The author pleads for a decided selfunderstanding of exegesis as part of theology as a whole, a stronger focus on higher education didactics in university teaching, reinforcing an explicitly theological stance in pastoral continued education, and a strengthened cooperation of church leaders and academic teachers. Mit diesem Beitrag kann und will ich nicht mehr als einige Eindrücke zur Exegese aus kirchlicher Perspektive festhalten und verschiedene Einwürfe in die Debatte um die Rolle der Exegese in der Theologie einbringen. Eine syste‐ matische und umfassende Schilderung muss anderen Ansprüchen genügen, als dies hier möglich ist. 1 Subjektive Wahrnehmungen - 1.1 Kirchliche Aus- und Fortbildung Zu Anfang meiner Berufstätigkeit als Pastorin wurde ich von Kolleg: innen bei gelegentlichem Austausch zu biblischen Texten auch mal angeseufzt mit „Du immer mit deinen exegetischen Kommentaren“. Noch vor 15 Jahren herrschte in einigen Predigerseminaren eine skeptische bis abweisende Haltung gegenüber dem, was die Vikar: innen von der Univer‐ sität mitbrachten: „Nun vergessen Sie mal alles, was Sie im Studium gelernt haben…“ Auf der anderen Seite bricht sich im Kreis der Ausbildungsreferent: innen der EKD immer wieder die Ratlosigkeit Bahn angesichts eines theologischen Nachwuchses, dem häufig die Kompetenz fehlt, eigene theologische Aussagen zu wagen und zu begründen: „Was haben die eigentlich die ganzen Jahre des Studiums gemacht? “ Die Verantwortlichen für Fortbildung in der EKD bedauern, dass die Bu‐ chungen für das vorher stark nachgefragte Format „Update Theologie“ ein‐ gebrochen sind; mehr sei Friedhofsverwaltung und Beschwerdemanagement gefragt. - 1.2 Kirchliche Praxis Gerade im Blick auf Gottesdienstvorbereitungen - einschließlich Kasualien - beobachte ich großes Interesse an exegetischen Einsichten in der Pfarrerschaft. Ein kleiner Blick in die Social Media bestätigt dies. Auf der anderen Seite stehen Predigten, bei denen nicht der Predigttext mit seinem theologischen Fokus den Impuls bildet, sondern assoziativ an Stichwörter des Predigttextes angeknüpft wird. Ein Beispiel: Das johanneische μένειν, „bleiben“, wird in einer Predigt laienpsychologisch aufgegriffen und anschließend als Ermutigung dafür gedeutet, bei sich selbst zu bleiben, zu sich selbst zu finden. Wie kommt es zu solchen Predigten? Aus Unkenntnis? Aufgrund eines eigenen Schriftverständnisses und/ oder einer eigenen herme‐ neutischen Idee? Ein weiteres Phänomen ist die Begründung dogmatischer Topoi (z. B. Trinität, Allmacht Gottes) oder anachronistischer Werte (wie z. B. Demokratie) mit biblischen Verweisen. Dies ist wohl eher Eisegese. DOI 10.24053/ VvAa-2022-0014 54 Christiane de Vos 1.3 Universitäre Welt Lehrende der Fakultäten scheinen das fächerübergreifende Gespräch eher aufgrund persönlicher Sympathie als konzeptionell zu pflegen. Die Strukturen der Fakultäten in ihrer Abgrenzung in Seminare und Institute mögen dies erschweren. Im mündlichen Austausch mit Lehrenden höre ich über tiefe Gräben zwischen einzelnen Fächern, bekanntlich wird dies gelegentlich sogar in Publikationen benannt. Herrscht hier ein gegenseitiges Unverständnis innerhalb der Fakul‐ täten/ Fachbereiche? Von der einen Seite kommen teils eventuell berechtigte Vorwürfe, die ‚historischen‘ Fächer blieben ausschließlich auf ihren historischen Kontext bezogen, während es doch um - ja, was? - ginge. Exeget: innen und Kir‐ chenhistoriker: innen beklagen ihrerseits, dass z. B. bei manchen systematischtheologischen Lehrangeboten die biblischen und historischen Befunde über‐ haupt keine Rolle spielen bzw. verzerrt werden oder manche Homiletiker: innen die Exegese für wenig wichtig halten. 2 Exegese und kirchliches Handeln - 2.1 Ziel der Exegese Grundsätzliches Ziel des Theologiestudiums muss aus Sicht der Kirche eine eigene theologische Sprachfähigkeit sein, die nicht nur auf der Kanzel dringend nötig ist, sondern in allem Reden und Schweigen, Tun und Lassen der Kirche gebraucht wird. Hierbei spielt die exegetische Kunst eine große Rolle, die sich in der Fachlichkeit durch Kompetenz der Unterscheidung oder, anders gesagt, in der Kritik im Sinne von Beurteilung widerspiegelt. Der Umgang mit biblischen Texten bewegt sich stets zwischen Befremdung und Aneignung. Ist die wissenschaftliche Theologie nicht an demselben Ziel der theologischen Sprachfähigkeit interessiert? Darüber würde sich eine Debatte zwischen Kirche und Universität nach meiner Einschätzung lohnen. Im Folgenden möchte ich ein paar Gesichtspunkte der Exegese benennen, doch vorab will ich von meinen eigenen Erinnerungen an mein AT-Prose‐ minar berichten (Sommersemester 1984). Die Kleinteiligkeit der exegetischen Methoden schreckte mich zunächst ab, ich studierte doch Theologie um der großen Fragen willen! ? Die Texte wurden sorgfältig auseinandergenommen, und doch hatte ich nie die Befürchtung, ich könnte in Textkritik und weiteren Methodenschritten untergehen. Denn meine Dozentin wurde nicht müde, stets daran zu erinnern, dass die Analyse der Texte immer als Ziel habe, den Text als Ganzes zu interpretieren. Dies war enorm motivierend und hilfreich. DOI 10.24053/ VvAa-2022-0014 Exegese als Teil der Theologie 55 2.2 Historisch-kritisch - nachbuchstabiert Biblische Texte sind historisch gebunden. Sie sind immer in ihrem Kontext zu lesen. Dazu braucht es Kenntnisse der Welt und Umwelt, aus denen diese Texte stammen: Geschichte, Geografie und Kultur, um nur einige Bereiche zu nennen. Mit Kontext ist ebenso der direkte und größere Textzusammenhang des je‐ weiligen Textes gemeint. Texte müssen im Kontext der Absicht der Autor: innen gelesen werden können. Beim Blick auf den Text selbst geht es letztendlich um die Erfassung der theo‐ logischen Aussage. Diese herausarbeiten und in eigenen Worten wiedergeben zu können, ist etwas, das nach meiner Wahrnehmung nicht häufig genug geübt werden kann. Die Methode des Close Reading ist dafür eine gute Hilfe; sie ist nur vermeintlich einfach, sondern eine hohe Kunst. - 2.3 Wechselwirkung von Exegese und Rezeption Welche Intention haben die Autor: innen, die Bearbeitung/ en, die Redaktion/ en, der Endtext? Dies ist in Gänze nie sicher festzustellen, doch ist es für die Exegese wichtig, sich des Werdungsprozesses eines Textes bewusst zu sein. Selbst wenn dieser nicht leicht oder gar nicht zu beschreiben ist: Dass nahezu jeder Text in seinem vorgefundenen Kontext das Produkt nicht nur einer individuellen Hand ist, hilft gegen fundamentalistische Versuchungen und freie Fantasie - um es einmal ganz extrem auszudrücken. Dabei geht jeder Entstehungsprozess fließend in die Rezeptions- und Wir‐ kungsgeschichte eines Textes über, denn Rezeption wie auch Wirkung eines Textes zeigen sich bereits bei der ersten innerbiblischen Bearbeitung, von der Platzierung im Kanon ganz zu schweigen. Exegese ist auch immer biblische Theologie. Dies klingt so selbstverständlich, doch gibt es Alttestamentler: innen, die alles nach dem AT unwichtig finden, und Neutestamentler: innen, die sich zu wenig mit dem AT beschäftigen. Beides erschwert ein Verstehen der meisten neutestamentlichen Texte bzw. macht es unmöglich. - 2.4 Hermeneutik Hermeneutik als Über-Setzung der biblischen Texte ist unverzichtbar, denn sonst bleibt die Exegese tatsächlich ein rein historisches Fach. In der deutsch‐ sprachigen Welt der Exegese gibt es Spezialisierungen, häufig eingebettet in eine hochdifferenzierte Methodik, die manchmal den Gegenwartsbezug als optionale Perspektive vernachlässigt. Des Weiteren konzentrieren sich manche Exeget: innen auf eine ausgesuchte Methode, deren Erläuterung manchmal die Hälfte des Buches benötigt oder DOI 10.24053/ VvAa-2022-0014 56 Christiane de Vos sich auf eine bestimmte Fragestellung fokussiert. Dabei denke ich z. B. an post‐ koloniale Exegese, Genderfragen und Rezeptionsästhetik. Die Forscher: innen verfolgen diese Fragen engagiert und zu Recht. Doch führt ein solches Vorgehen in der Folge häufig zu einseitigen Blickrichtungen. Durch einseitige Fragen kommt es zu einseitigen Antworten. Kirche braucht die Vielfalt der Methoden und Perspektiven - doch immer im Kontext von Theologie, Geschichte und Gegenwart, der die eigenen Einsichten relativiert und manchmal vielleicht auch stört und stören soll. Theologie bereitet auch auf den Pfarrberuf vor. Dafür ist es essenziell, zwischen den Einsichten, die mittels exegetischer Methoden gewonnen werden, und der gegenwärtigen Realität Bezüge herstellen zu können. Sonst bleibt eine Kluft zwischen diesen beiden ‚Geschichten‘. In der Predigtpraxis besteigen manche Pfarrer: innen den ‚Bus nach Babylon‘, die Hörer: innen erfreuen sich im Zweifelsfall an einer interessanten Geschichte, doch selbst wenn dieser Bus innerhalb der Predigt wieder in der Gegenwart ankommt, bleibt es so manches Mal bei einem folgenlosen Ausflug in die Vergangenheit. Die klassische Frage „Was wollen uns diese Worte sagen? “ braucht Antworten - im Plural wohlgemerkt! 3 Haltung - 3.1 Demut vor dem Text Vielleicht klingt es etwas altertümlich, doch bin ich davon überzeugt, dass Demut eine Haltung ist, die bei der Erfassung biblischer Worte hilft, die - um es fromm zu sagen - Gottes Wort an mich werden können. Alle Methodenkenntnis kann schnell zum Missverständnis führen, die Exegetin hätte den Text in der Hand. Ich bin überzeugt, dass eine Skepsis gegenüber zu schnellem Erfassen von Bibeltexten zu einer differenzierteren, reicheren Einsicht führen kann. Für die, denen diese Wortwahl ‚Demut‘ fremd ist, versuche ich es anders: Ein beharrliches Befragen der Texte führt dazu, dass sie sich erschließen lassen, aber nie ein für alle Mal. Diese Haltung, der eine innere Distanz inhärent ist, hilft gerade angesichts von Irritationen, die viele Texte auslösen. Eine Voraussetzung für die Klärung der eigenen Haltung ist, die eigene Glaubensbiografie zu reflektieren. Wessen Aufgabe ist das? Sicher die der Kirche in z. B. Studierendenbegleitung, Vikariat oder Fortbildung. Aber ist es die der Kirche allein? Das ist für mich eine offene Frage. DOI 10.24053/ VvAa-2022-0014 Exegese als Teil der Theologie 57 3.2 Achtung vor den Kontexten Die Bibel ist kein Steinbruch. In der wissenschaftlichen Theologie wie in der kirchlichen Praxis wird sie trotzdem eklektisch genutzt. Wenn man auf Rezeptions- und Wirkungsgeschichte schaut, scheint dies unvermeidlich zu sein. Doch wenn dies geschieht, weil es gar nicht anders möglich ist, dann bitte hermeneutisch reflektiert! Die Achtung vor den Kontexten können wir erhalten, wenn wir neugierig bleiben auch auf Befremdendes, uns vorsehen vor allzu schnellem Kitten von Irritationen. Auch diese Einsicht gilt m. E. grundsätzlich. In Bezug auf Predigten geschieht die Vermeidung von Brüchen durch Psychologisieren, indem man etwas als in moderner Sicht überholt kennzeichnet oder Aussagen eine Symbol‐ kraft zuerkennt. Die Allegorese ist ein fragwürdiges Mittel der Predigt. - 3.3 Ordination auf Bibel und Bekenntnis Die Pfarrer: innen werden in den evangelischen Kirchen in Deutschland ‚auf Bibel und Bekenntnis‘ ordiniert. Wenn ich mich in diesem Zusammenhang auf die Bibel konzentriere, bleibt zu reflektieren, wie die Verbindlichkeit der Bibel Gestalt annimmt. Auf jeden Fall scheint mir das Nachdenken hierüber nicht ausschließlich Sache der Kirche zu sein. - 3.4 Was bedeuten heute norma normans oder sola scriptura? Als dogmatische Begriffe zum Schriftverständnis sind norma normans und das reformatorische sola scriptura klassisch. Kirchliches Handeln und Reden wird in der protestantischen Tradition mit der ‚Heiligen Schrift‘ begründet. Doch wenn mit biblischen Texten manches Mal wenig theologieorientiert umgegangen wird, durch Unkenntnis oder aufgrund einer überheblichen Hal‐ tung, frage ich mich, was hier die normierende Norm ist. Würde sich eine kirchliche und theologische Debatte über die heutige Bedeutung der norma normans lohnen? Ebenso scheint es mir sinnvoll zu sein, die Forderung sola scriptura der Reformationszeit kritisch zu beleuchten. Zumindest in kirchlichen Räumen ist dieser Ruf noch regelmäßig zu hören. Dabei ist er nicht nur anti-römischkatholisch. Sola scriptura im Sinne einer Abgrenzung zur Tradition ist nicht zu halten, weil eben diese Tradition bereits im innerbiblischen Rezeptionsprozess ihren Anfang nimmt und bis zu den heutigen Adressat: innen führt. - 3.5 Großer Kontext: Öffentlichkeitsrelevanz von Theologie Aktuell ringen Kirche und wissenschaftliche Theologie um die Zukunft der theologischen Studiengänge. In allen Reformdebatten um Studium, Zukunft DOI 10.24053/ VvAa-2022-0014 58 Christiane de Vos der theologischen Forschung und Lehre geht es letztlich um die gemeinsame Verantwortung, die Öffentlichkeitsrelevanz von Theologie plausibel zu ma‐ chen. Könnte der Umgang mit biblischen Texten nicht ein exemplarisches Versuchsfeld hierfür sein, gerade weil zumindest in der Kirche so häufig und so unterschiedlich auf biblische Texte referiert wird? 4 Plädoyer - 4.1 Für Exegese als Teil der Theologie Exegese soll an der Universität als Teil der Theologie angesehen und gelehrt werden. Dieses Plädoyer ist Teil eines größeren Anliegens, nämlich für eine Integration der theologischen Einzelfächer, die diesen Namen auch verdient. Bislang gibt es in der Rahmenstudienordnung des Studiengangs, der den Zugang zum Pfarrberuf eröffnet, eine sogenannte Integrationsphase als Vorbereitungs‐ zeit auf die Studienabschlussprüfung. In diesem Jahr besuchen die Studierenden üblicherweise Repetitorien, in denen sie das Grundwissen der einzelnen Fächer wiederholen bzw. erwerben, um sich auf diese Weise eine Gesamtschau des betreffenden Faches zu erarbeiten. Die eigentliche Integration, bei der die Kenntnis und Einsichten einzelner Fächer in eigene theologische Perspektiven führen, müssen die Studierenden leider meist selbst vornehmen. Damit werden sie mit der anspruchsvollsten Aufgabe des Theologiestudiums, der Entwicklung einer eigenen Theologie, weithin allein gelassen. Mir ist völlig bewusst, dass ich hiermit vielen Lehrenden bitter Unrecht tue! Eine gesamttheologische Integration soll Bestandteil der neuen Rahmenstudienordnung werden, die zurzeit erarbeitet wird, damit dies strukturell gewährleistet ist. - 4.2 Hochschuldidaktik als Weg zur Qualitätssicherung Exegetische Methoden haben ebenso wenig einen Selbstzweck wie Hebraicum oder Graecum. Gerade bei Proseminaren, in denen Studierende häufig zum ersten Mal die exegetischen Fächer näher kennenlernen, darf es nicht nur um Wissens‐ vermittlung gehen. Methodenbeherrschung ist ein Mittel. Das Ziel der Exegese aber ist die Textinterpretation im Rahmen einer reflektierten theologischen Position. Dazu gehört das Ausprobieren und Entwickeln von Wegen, die Textinhalte in eigener Sprache wiederzugeben, um sich die theologischen Einbzw. Ansichten der Texte vertraut zu machen. Dies alles dient der Entwicklung der theologischen Sprachfähigkeit, und das dürfte in aller Interesse sein, nicht nur im kirchlichen. Ich halte die Entwicklung hochschuldidaktischer Kurse, die spezifisch die Eigenheiten der Theologie im Blick haben, für zwingend. In der katholischen DOI 10.24053/ VvAa-2022-0014 Exegese als Teil der Theologie 59 2 Vgl. https: / / www.dghd.de/ community/ netzwerke/ netzwerk-theologie-und-hochschul didaktik/ . Theologie gibt es in diesem Bereich eine eigene Tradition. 2 Aus den Reihen des wissenschaftlichen Nachwuchses evangelischer Theologie vernehme ich großes Interesse hieran, was mich sehr freut! - 4.3 Für theologische Fortbildung Es gibt Pfarrer: innen, die neugierig auf die Entwicklung der Forschung sind. Immer wieder verbringen Kolleg: innen ein Sabbatical im Hörsaal einer theo‐ logischen Fakultät. Doch könnte dies noch wesentlich verstärkt und weiter gefördert werden. Ein Beispiel: Meine Generation hat während des Studiums in Deutschland in den 80er Jahren noch nichts erfahren von der New Perspective on Paul, auch wenn dies seit Ende der 70er Jahre debattiert wird. Wenn wir einfach weiter einen ‚lutherischen‘ Paulus predigen, haben wir etwas verpasst, das es wert ist, in die Verkündigung aufgenommen zu werden. Vielleicht sollten Kirchen und Fakultäten/ Fachbereiche über Formate theolo‐ gischer Fortbildung nachdenken, die forschungsaktuell und generationenüber‐ greifend arbeiten. Das wäre für alle Seiten ein Gewinn. - 4.4 Für ein stärkeres Miteinander Das erwähnte häufig fehlende Miteinander evangelisch-theologischer Fä‐ cher/ Fachvertreter: innen macht es aus der Perspektive der Kirche schwer, in einen Dialog zwischen Kirche und wissenschaftlicher Theologie zu treten. Ich gebe sofort zu, dass dies in anderer Weise umgekehrt auch wahrgenommen wird - denn wer ist ‚die‘ evangelische Kirche? Es gibt ca. alle drei Jahre eine Konsultation von wissenschaftlicher Theologie und Kirchenleitung, was von den Beteiligten als Gewinn erfahren wird. Zudem laden einzelne Fakultäten zu ihrem dies academicus ausdrücklich auch kirchliche Vertreter: innen ein. Der Austausch über theologische Einsichten und kirchliche Erfahrungen sollte auf den unterschiedlichen Ebenen - will sagen: nicht nur mit dem Leitungspersonal - ausgebaut werden, selbstverständlich im Bewusstsein und in Wahrung der verschiedenen Rollen. Die Kirche wird kleiner, die Präsenz evangelischer Theologie an den Universitäten auch. Dies sollte eine Provokation sein, das zu zeigen, was uns gegeben ist und was wir zu sagen haben und sagen können! - Literatur https: / / www.dghd.de/ community/ netzwerke/ netzwerk-theologie-und-hochschuldi‐ daktik/ . Letzter Zugriff: 01.06.2023. DOI 10.24053/ VvAa-2022-0014 60 Christiane de Vos Eine (un-)wissenschaftliche Response Bemerkungen eines Hochschullehrers zur Situation der Exegese in der theologischen Ausbildung Jörg Frey (orcid.org/ 0000-0001-6628-8834) The following response reflects on the status of exegesis within theological education from a personal stance. The respondent positions himself not only as an engaged teacher and researcher of New Testament exegesis, but also as an active part of a congregation in the Swiss Reformed Church. Looking back on his own journey through life in university and church, as well as on the ever-changing history of the connections between theory and praxis, he covers three main fields of attention: The altered circumstances of theological faculties and churches in the German speaking world, the dynamics of change in the field of Biblical Studies, and observations from his own teaching experience. Gerne komme ich der Bitte nach, auf die drei Beiträge aus dem kirchlichen Ausbildungsbereich zu antworten. Ich tue dies aus einer mehrfachen Perspek‐ tive: Seit 30 Jahren lehre ich Neues Testament, erst als Assistent in Tübingen, dann auf Professuren in Jena, München und Zürich. Ich habe selbst das Vikariat absolviert, bin ordiniert, predige regelmäßig und habe Teil am Leben der Gemeinde, in der meine Frau als Pfarrerin wirkt. Für mich selbst glaube ich zu beanspruchen, hochkarätige Wissenschaft im internationalen Rahmen zu betreiben - ohne im sprichwörtlichen Elfenbeinturm zu leben. Ich bin begeistert von meinem Fach, dem Neuen Testament, ich liebe meinen Beruf und weiß auch, dass der Pfarrberuf eine wunderbare, erfüllende Tätigkeit sein kann, existentiell, ganzheitlich und Menschen zugewandt - wenn denn die Rahmenbedingungen stimmen. Seit meinem Studium in den 80er-Jahren hat sich vieles verändert. Die Stel‐ lung der Kirche in der Gesellschaft wurde marginaler und ebenso die Stellung der Theologie an Universitäten. Bildungspolitische Vorgaben haben sich geän‐ dert (Bologna), und der theologische Bildungsmarkt hat sich dadurch erheblich pluralisiert, was auch die Zugänge zum Pfarramt betrifft. Die Perspektiven des Pfarrberufs und auch die Voraussetzungen und (kirchlich-religiösen) Hin‐ tergründe der Studierenden haben sich ebenfalls verändert. Auch die Exegese ist anders geworden, weniger monolithisch auf Textentstehung konzentriert, stärker narratologisch, methodologisch pluraler und internationaler. Es hat keinen Sinn, einer alten ‚Herrlichkeit‘ nachzuträumen, als die Theo‐ logie noch ‚intakt‘ war, die Zahl der Studierenden noch höher und die Kirche noch ‚im Dorf ‘. Ich möchte auch nicht das strukturell depressive Mantra nachbeten, dass die Kirche immer ‚älter, kleiner, ärmer‘ wird, und auch nicht das Ende der Theologie an Universitäten vorwegnehmen, sondern im Glauben an die Kraft des Geistes sowohl für die Kirche (in welcher institutionellen Form auch immer) als auch für die Theologie hoffen. Berufspessimismus ist fehl am Platz. Es gilt, die Herausforderungen anzunehmen. Ich kommentiere im Folgenden einige der spannenden Überlegungen und Wünsche der Kolleg: innen zunächst aus der Reflexion der (veränderten) Rah‐ menbedingungen, dann aus Beobachtungen zur gegenwärtigen exegetischen Wissenschaft, und schließlich aus der eigenen Erfahrung in Unterricht und Betreuung. 1 Veränderte Rahmenbedingungen Theologische Fakultäten im deutschsprachigen Raum stehen derzeit unter Rah‐ menbedingungen, die die Studienorganisation und die Studieninhalte vielfältig beeinflussen: 1. Die staatskirchenrechtliche Absicherung theologischer Fakultäten und Lehrstühle in Deutschland ist international einzigartig. Sowohl aus dem Ausland wie auch von kirchenfern gewordenen Universitätsleitungen wird sie nur noch mit Unverständnis als ein Relikt der Vergangenheit betrachtet, und es ist absehbar, dass sich dieser Sonderstatus nicht auf immer halten lassen wird. Wann und in welchem Maße Fakultäten verklei‐ nert oder fusioniert werden müssen, ist offen. Der Platz der Theologie an öffentlichen Universitäten wird sachlich nur dadurch gestützt, dass sich diese kompetent ins interdisziplinäre Gespräch einbringt, mit Philologie, Geschichte, Sprach- und Kulturwissenschaften, Religionswissenschaft, Psychologie etc. Dies geschieht in gemeinsamen Forschungsprojekten, Exzellenzclustern etc. und beeinflusst auch die Lehre. Damit tritt aber oft die innertheologische Interdisziplinarität, der im deutschen Studiengang DOI 10.24053/ VvAa-2022-0015 62 Jörg Frey seit Schleiermacher traditionelle Bezug der Exegese auf Kirchengeschichte, Systematische und Praktische Theologie, eher zurück. Was aus Belangen der kirchlichen Ausbildung wünschenswert bleibt, ist universitätspolitisch oder im Blick auf Drittmittelprojekte weniger hilfreich. Momentan sind wir gefordert, beides zugleich im Blick zu haben: Ich biete gemeinsame Lehrveranstaltungen mit Systematikern und Praktischen Theologinnen an und praktiziere die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Klassischer Philologie, Judaistik und Religionswissenschaft. Wie lange geht das alles zugleich? Ich finde, gerade aus der Erfahrung in der Schweiz, wo wir keine so luxuriöse Absicherung der Theologie haben, dass die interdisziplinäre Verankerung in der Universität der Theologie gut tut, und sie ist auch im Blick auf die öffentliche Relevanz der Kirche unverzichtbar. Es gibt gute Gründe dafür, dass sich die Theologie nicht in das Abseits von ei‐ genen kirchlichen Seminaren oder frommen Privatinstituten zurückzieht, sondern sich ohne Angst dem breiten gesellschaftlichen Diskurs und dem öffentlichen Wahrheitsbewusstsein stellt. Wissenschaftliche Theologie ge‐ hört an Universitäten, hier muss sie sich bewähren, ohne ihre Theologizität und ihren Bezug auf die konkreten Kirchen und das gelebte Christentum preiszugeben. 2. Abgesehen von der Absicherung einzelner Lehrstühle ist auch in Deutsch‐ land die personelle Grundausstattung in kleinen Fächern wie der Theologie zunehmend in Frage gestellt. Alles ist ökonomisiert, dem Wettbewerb untergeordnet. Gibt es noch Mittelbau-Stellen für gute Lehre? Oder gibt es sie nur kurzzeitig und auf Antrag, je projektorientiert? Die Forderung nach stetiger Drittmitteleinwerbung und das in Deutschland bundesweit politisch verordnete Wettrennen um den Status einer Eliteuniversität binden Kräfte, die dann oft der Lehre und der Lehrentwicklung entzogen werden. Die ‚Leuchttürme‘ zählen, der Rest ist den Bildungspolitikern egal. Die Universität soll aber nicht nur ein ‚Ausbildungsprodukt‘ liefern, sondern Menschen bilden. Hier braucht es persönlichen Einsatz und auch politisches Bemühen, damit nicht nur die Statistik, sondern primär die Begleitung der Studierenden hinreichend Beachtung erfährt. 3. Der Bildungsmarkt ist durch ‚Bologna‘ - politisch gewollt - pluralisiert, auch in der Theologie. Es gibt nicht mehr nur Pfarramts- und Lehramts‐ studiengänge, sondern vielfältige Optionen, auf Bachelor- und Master‐ ebene, mit Fächerkombinationen in Major und Minor. Dies führt nicht nur intern zu sehr inhomogenen Gruppen in Lehrveranstaltungen, deren Teilnehmende ganz unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen, die aber miteinander (mit und ohne alte Sprachen, auf unterschiedlichen Ni‐ DOI 10.24053/ VvAa-2022-0015 Eine (un-)wissenschaftliche Response 63 veaus) zu unterrichten sind. Extern führt die Pluralisierung zu vermehrter Konkurrenz: Den Theologischen Fakultäten stehen nicht nur die Institute für Lehramtsstudien, sondern weitere, z. T. private Institutionen gegenüber. Aus manchen früheren ‚Bibelschulen‘ sind nun akkreditierte Hochschulen geworden, die z. T. auf andere Berufsfelder hin ausbilden. Aber die Grenzen verfließen, und zunehmend stellt sich die Frage, unter welchen Bedin‐ gungen Kirchen deren Absolvent: innen oder auch Bewerber: innen mit ausländischen Abschlüssen ins Pfarramt übernehmen. Und ungeachtet des universitären Selbstbewusstseins ist oft zuzugestehen, dass auch diese vieles mitbringen und manches sogar besser gelernt haben, als es an unseren Fakultäten möglich ist. Umgekehrt stellt sich die Frage, was das ‚Proprium‘ der universitär ausgebildeten Theolog: innen sein kann, auch im Spektrum der kirchlichen Berufe. 4. Seitens der Kirchen beobachte ich derzeit eine gewisse Panik angesichts des drohenden Personalmangels und der seit der Corona-Zeit noch einmal massiv eingebrochenen Studierendenzahlen. Nachdem Quereinsteiger- Studiengänge schon länger laufen, wird nun mancherorts erwogen, Absol‐ venten anderer Institutionen ins Pfarramt zu übernehmen. Das Erfordernis der 1. Theologischen Dienstprüfung bzw. (in der Schweiz) eines MA der Theologie wackelt. Manche der von kirchlichen Verantwortlichen geäu‐ ßerten Ideen sind recht unausgegoren. So wurde erwogen, Interessenten schon nach dem BA ins Vikariat aufzunehmen, andere wünschen, dass die Universitäten einen ‚praxisorientierten‘ Studiengang anbieten sollten, in dem nur das gelehrt wird, was auch im Pfarramt ‚benötigt‘ wird. „Schnell in die Praxis“ ist das Mantra - im Hintergrund steht wohl gelegentlich die eigene Bildungsgeschichte von Verantwortlichen, die negative Erinne‐ rungen an das eigene Studium oder eine skeptische Aversion gegenüber der Theorie weitertragen. Wenn der Wert der Theologie schon in Kirchen‐ leitungen nicht mehr gesehen wird, hat sie wirklich eine düstere Zukunft. 5. Ich erlaube mir, den ‚schwarzen Peter‘ zurückzugeben: Der Personalmangel ist nicht nur eine Frage, wie das Studium attraktiver oder ‚studierbarer‘ ge‐ macht werden kann, sondern zugleich eine Frage, wie das Berufsbild Pfarr‐ person bzw. die Kirche als Arbeitgeberin attraktiv gehalten oder gemacht werden können. Oft geht es auch um den Umgangston, das Miteinander in der Kirchengemeinde und den Respekt gegenüber den Bewerber: innen. Wenn eine Vikarin im Landeskirchenamt im paternalistischen Ton von oben herab behandelt wird, lässt sie sich das heute eben nicht mehr gefallen und geht - in eine andere Landeskirche oder einen anderen Beruf. Wenn Pfarrbezirke einfach von drei auf fünf Dörfer erweitert werden, so dass bei DOI 10.24053/ VvAa-2022-0015 64 Jörg Frey den Beschäftigten der nächste Burnout absehbar ist, dann wird der Beruf unattraktiv. Ich kenne mehr als eine Handvoll guter Theolog: innen, die sich aufgrund verschlechterter Bedingungen oder konsistorialer Bocksbeinig‐ keit aus der betreffenden Landeskirche oder überhaupt dem Beruf haben vertreiben lassen und andere Wege gewählt haben. Die ‚heilige Kuh‘ der deutschen Beamtensicherheit hält vor allem die weniger Flexiblen und Sicherheit Suchenden; die Guten, Kreativen und Ideenreichen lassen sich durch ein System aus dem 19. Jahrhundert nicht mehr binden. Die Kirche muss hier als Arbeitgeberin bzw. ‚Dienstherrin‘ in ihrer Personalführung beträchtlich umdenken, sonst sind alle Studienreformen vergeblich. 6. Ein wichtiger Aspekt wird sein, dass den theologisch gut ausgebildeten Pfarrpersonen auch die Möglichkeit gegeben wird, das zu tun, wozu sie ausgebildet sind, und dass diese nicht - wie so häufig - durch allzu viele andere Aufgaben von Verwaltung, Personalmanagement und Bauaufsicht, für die sie nicht ausgebildet sind, absorbiert werden. Wenn Pfarrpersonen bei Fortbildungsangeboten eher Beschwerdemanagement und Friedhofs‐ verwaltung nachfragen, vielleicht noch Kurse in Spezialseelsorge, die für die eigene Berufslaufbahn Türen öffnen können, dann zeigt sich darin die Krise, in der das gegenwärtige Berufsbild steht. Geschäftsführende Pfarr‐ personen kommen kaum mehr dazu, das zu tun, wozu sie ausgebildet sind, viele der Verwaltungsaufgaben könnten besser und schneller von anderen übernommen werden. Hier ist die Struktur der kirchlichen Berufsbilder zu überdenken, um diejenigen, die Fachleute in Theologie sind, eben das sein zu lassen. Viele Aufgaben in Unterricht, Sozialdiakonie und Verwaltung könnten besser von anderen ausgefüllt werden. Vielleicht würde der Pfarrberuf wieder neu attraktiv, wenn das Berufsbild, das ‚Dienstrecht‘ und die Anstellungsbedingungen im Ganzen flexibler würden, wenn die Tätig‐ keiten in Teams gabenorientierter verteilt werden könnten und nicht mehr das Ideal einer ‚eierlegenden Wollmilchsau‘ die Vorstellungen dominieren würde. 2 Wandlungen der Exegese Ich lese mit Freude und Zustimmung, dass alle Beitragenden zu dieser Ausgabe die Bedeutung der Bibelexegese für die evangelische Theologie und die pfarr‐ amtliche Praxis hoch einschätzen. Auch wenn Pfarrpersonen in der Praxis nur noch wenig zu genauer exegetischer Textlektüre kommen und die Predigtarbeit oft unter Zeitdruck und mit wenigen Hilfsmitteln erfolgen muss, ist es doch klar, dass die gute Kenntnis der biblischen Texte und eine realistische Einschätzung DOI 10.24053/ VvAa-2022-0015 Eine (un-)wissenschaftliche Response 65 dessen, was sie bieten können (und was nicht), für die gemeindliche Praxis in vielen Praxisfeldern wichtig ist. Bibelkundliches Wissen, eine Kenntnis des geschichtlichen Umfeldes und eine Vorstellung von der Entstehung der Texte sind die Grundlage, hermeneutische Reflexion muss dazu kommen, und je besser die Einübung ist, der ‚schnelle Blick‘, um an Texten Wesentliches zu ihrer literarischen Form, ihrer Argumentationsstruktur oder ihrem theologischen Gehalt zu erkennen, desto besser können solche Beobachtungen dann auch in der Predigtarbeit fruchtbar gemacht werden. 1. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Bibelexegese nicht nur interna‐ tional, sondern auch im deutschsprachigen Raum erheblich verändert. Neuere exegetische Methodenbücher dokumentieren diese Veränderung. Während ältere Darstellungen noch ganz auf die Fragen der Textentste‐ hung und die Bestimmung des ursprünglichen Textsinns konzentriert waren, stehen in aktuelleren Methodenlehren und in der verbreiteten Praxis von Proseminaren narratologische und rezeptionsorientierte An‐ sätze viel stärker im Vordergrund, und auch ‚engagierte‘ Methoden der Bibellektüre werden zumindest ergänzend berücksichtigt. Auch wenn der naive Glaube an literarkritische Logik an manchen deutschen Fakultäten noch begegnet, ist Exegese heute nicht mehr primär an der Rekonstruk‐ tion der Textentstehung und der bloßen Erhebung historischer Fakten interessiert. Texte werden stärker in ihrer überlieferten Endgestalt, ihrer literarischen Kunst und kommunikativen Wirkung wahrgenommen. Und wo Prozesse der Fortschreibung und Überlieferung thematisiert werden, sieht man darin nicht mehr in erster Linie die Verfälschung von etwas Ursprünglichem, sondern umgekehrt das Wirkungspotential der Stoffe und Texte. Nachdem die historisch-kritische Exegese in der protestantischen Theologie bisweilen geradezu als ‚Ersatzpapst‘ fungierte, weil sie (wenn‐ gleich oft nur hypothetisch) den ‚ursprünglichen‘ Sinn der biblischen Texte zu offenbaren beanspruchte, ist exegetische Arbeit heute bescheidener geworden, realistischer im Blick auf die eigenen Erkenntnismöglichkeiten und sicher auch pluralitätsoffener. Der ein-eindeutige Textsinn, den meine Tübinger Lehrer noch durch die ‚richtige‘ Anwendung von Grammatik und Konkordanz zu erheben wähnten, ist einem Verständnis der Offenheit von metaphorischer Sprache und von Lektüreprozessen gewichen. Das führt nicht zur Beliebigkeit eines ‚anything goes‘. Es gibt auch in einem rezeptionssensiblen Thema durchaus ‚Grenzen der Interpretation‘ (U. Eco). Aber ich sehe meine eigene Aufgabe als Exeget - etwa in der Kommentie‐ rung des Johannesevangeliums - weniger in der eindeutigen Fixierung des Textsinns, als vielmehr in der verstehenden Beschreibung des Weges durch DOI 10.24053/ VvAa-2022-0015 66 Jörg Frey den Text, in der Beschreibung von Sinnlinien und Welten, die der Text seiner Leserschaft eröffnet. 2. Diese Veränderungen in der Exegese stellen uns bei der exegetischen Arbeit zunächst in die Solidarität mit allen Bibelleser: innen, die ohne viel Hintergrundwissen und Hilfsmittel und mit wachem Verstand viele Beobachtungen selbst machen können, die eine vom Gesamttext ausge‐ hende oder narratologisch orientierte Exegese zusammenträgt. Ohne dass damit der kritische Blick auf die Texte vermindert oder verhindert würde, kann eine solche Vorgehensweise doch die oberlehrerhafte Konfronta‐ tion vermeiden, mit der die klassisch-deutsche Exegese zuweilen meinte, dem Glauben der Gemeinde die ‚richtige‘ Wahrheit der Wissenschaft entgegensetzen zu müssen. Dies ist nicht zuletzt für die Arbeit mit der Bibel in Predigt, Unterricht und anderen gemeindlichen Praxisfeldern von großer Bedeutung, denn nur so können interessierte Gemeindeglieder für bibelwissenschaftliche Beobachtungen und Denkbewegungen gewonnen werden. Auch Studierende lassen sich aus einer solchen Perspektive wohl besser ‚abholen‘ und in neue Dimensionen der Wahrnehmung führen. In äl‐ teren Studienkonzepten wurde gelegentlich noch konfrontativ vermittelt, die Studierenden sollten „ihren Glauben an der Garderobe ablegen, weil jetzt ‚Wissenschaft‘ betrieben“ werde. Solche Entgegensetzungen führen bei ‚fromm‘ geprägten Studierenden eher zu Abwehr und Oppositionshal‐ tungen, und in manchen Kreisen wurde dann durchaus nicht ohne Grund vor dem ‚Glaubensverlust‘ im Studium gewarnt. M.-E. sind die skizzierten Gegenüberstellungen wissenschaftsdidaktisch naiv und wenig hilfreich. Eine exegetische Lehre und Praxis, die auch für die Persönlichkeit und Spiritualität der eigenen Person wie auch der zu Unterrichtenden sensibel ist, funktioniert anders. Sie ermöglicht Beobachtungen und Textwahrneh‐ mungen und reflektiert deren historische und theologische Relevanz. Sie nimmt auch Ängste und Vorbehalte der Studierenden gegenüber einem ihnen bislang ungewohnten Umgang mit der Bibel ernst und versucht, ihnen die Erfahrung zu vermitteln, dass der genaue Blick auf die Texte, die Einsicht in historische Kontexte und Prozesse zu einer vertieften Ein‐ sicht führt, die letztlich auch für einen praktizierten christlichen Glauben keine Gefahr ist, sondern eine existentiell und kirchlich-theologisch trag‐ fähige(re) Position zu gewinnen hilft. 3. All die Bemühungen, die Denkbewegungen der exegetischen Arbeit, die historischen Methoden und ihre Praxis nachvollziehbar und attraktiv zu gestalten, können jedoch nicht verbergen, dass die historisch-philologische und kritische Exegese gelegentlich ‚lästig‘ ist. Sie distanziert die Texte, DOI 10.24053/ VvAa-2022-0015 Eine (un-)wissenschaftliche Response 67 die im kirchlichen und persönlichen Bibelgebrauch oft unmittelbar gehört werden. Sie stört bei allzu eilfertigen Vereinnahmungen der Texte für ge‐ genwärtige, persönliche, religiöse oder politische Interessen und stellt die Fremdheit der impliziten Vorstellungen, die Distanz zwischen der dama‐ ligen Welt und uns heute heraus. Sie öffnet die Augen für problematische Machtstrukturen, patriachalische Bilder, zeitbedingte Werte und Maßstäbe und für unfaire Polemik gegen ‚andere‘. Sie kratzt an den traditionellen und frommen Vorurteilen und agiert unerbittlich als Anwältin der Texte in ihrer Fremdheit und bisweilen auch jener Stimmen, die in den uns überlieferten Texten nur marginalisiert oder in polemischer Verzerrung er‐ kennbar sind. Sie fungiert nicht einfach nur bestätigend, sondern zunächst und in erster Linie infragestellend. Es ist in der Tat eine theologische Grundentscheidung, dass eine evangelische Kirche ihre verantwortlichen und mit der öffentlichen Predigt beauftragten Mitarbeiter: innen diesem Feuer der Kritik ausgesetzt wissen will. Dieser selbstkritische Habitus unterscheidet evangelische Theologie von einer wie auch immer ‚funda‐ mentalistischen‘, zur Selbstkritik unfähigen Ideologie ebenso wie von der ökonomisch orientierten, marktschreierischen Art, in der religiöse Werbung von manchen Gruppen betrieben wird. Nur so kann die Kirche sich und anderen gegenüber glaubwürdig bleiben. Gewiss braucht es dann auch das Bemühen, dass nach der Infragestellung der mitgebrachten Vorurteile auch eine neue, historisch und theologisch reflektierte Position entwickelt wird. Das hermeneutische Gespräch über die Tragweite und Bedeutung der historischen Einsichten, die Verknüpfung von exegetischen und systematisch-theologischen Fragen, die Integration der Einsichten in eine persönliche Glaubens- und Lebenspraxis und später in eine pastorale Praxis sind unverzichtbar. Innertheologische Interdisziplinarität ist für eine erfolgreiche Integration der exegetischen Arbeit in das Studium der Theologie von erheblicher Bedeutung. 4. Von hier aus stellt sich noch einmal die Frage, wie das exegetische Wissen erworben, strukturiert, hermeneutisch reflektiert und eingeübt werden kann, so dass es sich in der späteren Praxis als hilfreich erweist. Es geht nicht nur darum, Fachmodule wie die Proseminararbeit oder dann die Klausur im ersten theologischen Examen zu bestehen, sondern die Frage stellt sich, wie bereits im Studium (und angesichts der Rahmenbe‐ dingungen, die das Studium immer mehr ‚effizient‘ zu gestalten versuchen) ein angemessener und reflektierter Umgang mit biblischen Texten eingeübt werden kann, und zwar ebenso fachlich wie existentiell. Die Übung, die zu erwerben ist, betrifft nicht nur (und vielleicht nicht primär) das Übersetzen DOI 10.24053/ VvAa-2022-0015 68 Jörg Frey von Texten, auch nicht primär das Abarbeiten von Methodenschritten, die am ausführlichsten und ‚schulmäßig‘ in einer Proseminararbeit, aber danach vielleicht nie mehr in dieser Breite, durchgeführt werden. Auch das Auswendiglernen von Essaythemen für eine Examensklausur mag oft als ‚Bulimiewissen‘ erscheinen, das bald nach dem Examen vergessen ist und nicht mehr weiterträgt. Ob sich im Studium eine exegetische Praxis einüben lässt, ein regelmässiger, historisch und theologisch informierter Umgang mit Texten, hängt auch an der Frage, ob die biblischen Texte für die Studierenden überhaupt eine relevante Bezugsgröße sind, mithin an der je eigenen Spiritualität und theologischen Prägung. Diese wird von manchen schon ins Studium ‚mitgebracht‘, aber sie verändert sich auch im Lauf des Studiums. Andere, die vielleicht ohne eine kirchlich-religiöse Prägung das Studium beginnen, sollten die Gelegenheit bekommen, in dieser Zeit auch einen eigenen existentiellen Zugang zu gewinnen. Und es braucht Foren, Übungsräume und Gesprächsangebote, um diese Fragen persönlich und gemeinschaftlich zu erörtern und Formen der Bibel-Spiritualität in großer Vielfalt und Weite auszuprobieren. 5. Einiges hängt daran, ob auch Lehrende der Exegese diese existentiellspirituelle Dimension mit einzubeziehen bereit sind. Können wir vermit‐ teln, dass die biblischen Texte existentiell und theologisch relevant sind und dass es nicht nur im Blick auf zu absolvierende Studienleistungen, sondern darüber hinaus lohnend und fruchtbar ist, sich mit ihnen ausein‐ anderzusetzen. Kann ich meinen ‚Professoren-Habitus‘ der wissenschaft‐ lichen Unanfechtbarkeit und ‚Absicherung‘ gelegentlich fallen lassen und meine Studierenden spüren lassen, dass ich mit ihnen selbst auf dem Weg bin, in einer Solidarität der Lesenden und Lernenden, ja auch in der Gemeinschaft der gerechtfertigten Sünder? Das im deutschsprachigen Raum gelegentlich noch zu findende Verständnis von ‚Wissenschaft‘, das die Dimension der persönlichen und existentiellen Betroffenheit völlig ausklammert, ist für die hier anstehenden Lernprozesse m. E. eher nicht hilfreich. Natürlich sind nicht alle Lehrenden gleichermaßen bereit, auch Einblicke in ihren eigenen persönlichen Umgang mit biblischen Texten zu geben. Die eigene ‚Religiosität‘ ist für viele ‚Privatsache‘, und sie steht unter dem Verdikt ‚unwissenschaftlich‘ zu sein. Im angelsächsischen Raum und in anderen Weltgegenden ist die Hemmnis gegenüber solchen persönlichen Fragen deutlich geringer, das deutsche Wissenschaftsethos erscheint hier besonders steif. Doch ist genau dieser Hiat zu überwinden, sowohl im Ausbildungsbereich wie dann auch in der gemeindlichen Praxis. Die eigene Person, die eigene Biographie und vielfältige persönliche Erfahrungen sind DOI 10.24053/ VvAa-2022-0015 Eine (un-)wissenschaftliche Response 69 unwillkürlich in unsere theologische Arbeit und auch in unsere Lehre involviert, und es ist aufrichtiger und im Blick auf die Kommunikation in der Lehre auch wichtig, dies in gewissem Maße offenzulegen. So sehr klar ist, dass die exegetische Vorlesung keine Predigt ist, so wollen Studie‐ rende doch auch wissen, wie der Exeget, der die Texte in der Vorlesung historisch nach allen Regeln der Kunst analysiert, dann über diese Texte predigt. Und so sehr bei Studienarbeiten darauf zu achten ist, dass der Sprachmodus der historischen Deskription eingehalten und nicht durch applikativ und predigthafte Floskeln durchsetzt sind (z. B. im Stil: „damit sagt uns Jesus“, oder „deshalb sollten wir alle auch…“), mag es nützlich sein, wenn Studierende als Appendix einer Proseminararbeit dann auch einen (nicht zu bewertenden) Versuch der eigenen Applikation (Andacht, Unterrichtsidee, Lied, gegenwartsbezogene Reflexion) anfügen und so ggf. erkennen, dass die genaue Arbeit am Text sie nützliche neue Dinge zu sehen gelehrt hat. 6. Solche Reflexion und Einübung könnte helfen, die im Bibelgebrauch bei Pfarrpersonen gelegentlich auftretenden Probleme präventiv zu ver‐ meiden. Die im exegetischen Studium erlernten kritischen Einsichten sollen ja in der theologischen Praxis weder verschämt verschwiegen werden (aus der Angst, die Gemeinde nicht zu ‚verunsichern‘), noch sollen sie ungefiltert und unbarmherzig in Predigt und Unterricht über die Gemeinde ausgeschüttet werden. Nicht alles im Studium Gelernte oder Gelesene ist für die jeweiligen Gemeindeglieder verdaulich. Histori‐ sche Exkurse in der Predigt dienen manchmal eher der intellektuellen Selbstrechtfertigung der Predigerin oder des Predigers als der gelingenden Kommunikation mit der Gemeinde. Andererseits ist eine Predigt, in deren Vorbereitung die historischen Probleme wahrgenommen und hermeneu‐ tisch reflektiert wurden, gewiss anders, als wenn diese Reflexionen aus Bequemlichkeit oder Unvermögen übergangen worden wären. Eine Predigt zum Heiligabend muss nicht die Geburtsgeschichten historisch-kritisch dekonstruieren, aber sie sollte genauso wenig naiv-historisierend einfach nur davon reden, dass diese ganzen Geschichten eben alle so geschehen sind. Ich muss in einer Predigt über die Pastoralbriefe nicht in aufklä‐ rerischem Habitus deren Abfassungsverhältnisse erklären. Solche Erörte‐ rungen wären besser in einem Bibelseminar untergebracht, wo dann auch Nachfragen und Diskussion möglich sind. Aber ich muss mir überlegen, ob und ggf. wie ich von Paulus rede, auch wenn ich weiß, dass der zu predi‐ gende Brieftext nicht von Paulus selbst stammt, sondern einen ‚erinnerten Paulus‘ repräsentiert. Hier ist die hermeneutische Reflexion vonnöten, was DOI 10.24053/ VvAa-2022-0015 70 Jörg Frey die (hypothetisch, mit mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit) rekonstru‐ ierten Sachverhalte und Kontexte bedeuten. Wo diese Reflexion fehlt, wird das exegetische Wissen entweder zum überflüssigen Ballast, oder anderer‐ seits zum Mittel, durch das sich die Pfarrperson in problematischer Weise als Expert: in geriert und so Fach-Autorität reklamiert. Beides wäre im Blick auf die Predigt- und Gemeindetätigkeit unangemessen. Ein angemessener Umgang mit diesen Sachverhalten ist aber nicht erst im Vikariat einzuüben, sondern schon im Studium zu reflektieren. Lehrpersonen, die dies für sich selbst reflektiert haben, können dabei im Sinne einer ‚best practice‘ Anstoß und Vorbild sein. 3 Erfahrungen in der Lehre Nach diesen, z. T. eher programmatischen Überlegungen zur exegetischen Ar‐ beit und ihrer Relevanz für die kirchliche Praxis möchte ich abschließend noch einige Beobachtungen aus der konkreten Lehr- und Prüfungspraxis benennen. 1. Die theologische Lehre, die Vermittlung dessen, was mich fachlich faszi‐ niert und was mir existentiell bedeutsam ist, ist eine herausfordernde und erfüllende Aufgabe. Aber auch hier haben sich die Bedingungen verändert. Wo meine eigenen Lehrer in der Vorlesung noch ein Buchmanuskript regelrecht vorgelesen haben, ist heute ein freier Vortrag, die Unterstützung durch Powerpoints, und eine dialogische Unterrichtsgestaltung selbstver‐ ständlich geworden. Und während ich in den 1980ern in Seminaren mit 50 bis 80 Studierenden saß, in denen man den Professor nur schwer greifen konnte, ist heute durch kleinere Gruppengrößen ein anderes kommunika‐ tives Umfeld geschaffen. Das ist gut so. Denn Theologie lässt sich nicht lehren wie Mathematik oder irgendeine bloße Faktenwissenschaft. Sie braucht das Gespräch, die Diskussion. Sie braucht Begegnungsflächen, das Sich-Reiben an Personen und Positionen. Nur so wird das vermittelt und habitualisiert, was dann am Ende eine ‚theologische Existenz‘ ausmacht. Das gilt gerade auch da, wo der Umgang mit der Bibel und Fragen der persönlichen Lebens- und Glaubenspraxis berührt sind. Weit über die bloße Vermittlung einer exegetischen ‚Technik‘ ist es hier notwendig, mit den Studierenden ins Gespräch zu kommen und ein Vertrauen aufzubauen, in dem dann auch persönliche Fragen und Vorbehalte thematisiert werden können. 2. Als ich nach meinem Vikariat in Tübingen als Wissenschaftlicher Assistent Proseminare zu unterrichten hatte, gewann ich den Eindruck, dass auch ein Proseminar letztlich nichts anderes ist als ‚Konfirmandenunterricht DOI 10.24053/ VvAa-2022-0015 Eine (un-)wissenschaftliche Response 71 auf anderem Niveau‘. Bei allen Unterschieden geht es in beiden Fällen darum, Menschen in einer prägenden Phase ihres Lebens zu begleiten. Ge‐ rade im Proseminar sind die wissenschaftlichen Fragen der Studierenden oft mit Fragen der eigenen Existenz, der persönlichen und spirituellen Lebensorientierung und der späteren Berufsperspektive verknüpft. Als Lehrender bin ich Zeuge dafür, dass man dieses Studium ‚schaffen‘ und durchstehen kann, ohne Schiffbruch zu erleiden, ich bin Trainer, der hilft, gewisse Denkvollzüge und Darstellungsweisen einzuüben, und ich bin manchmal auch Seelsorger, der in persönlichen Fragen und Notlagen ins Vertrauen gezogen wird. Dies gilt nicht zuletzt bei den Fragen nach dem Verhältnis von wissenschaftlicher Exegese und persönlicher Spiritualität oder bei Fragen nach der eigenen Studien- oder Berufsperspektive, die besonders in Situationen des Misserfolgs, nach misslungenen Prüfungen oder schwachen Seminararbeiten, zu thematisieren sind. 3. Mit den oben skizzierten veränderten Rahmenbedingungen treten auch in der Lehre neue Probleme zutage. Vielerorts sind inzwischen die altsprach‐ lichen Kenntnisse von Studierenden sehr viel geringer geworden. Das bisher in Deutschland noch geforderte, aber derzeit wieder stärker infrage gestellte Niveau des staatlichen Latinums bzw. Graecums ist schon länger nur noch ein Ideal, dem die Wirklichkeit weithin nicht mehr entspricht. Für viele sind auch die alten Sprachen ein ‚Bulimiewissen‘, das für die Sprachprüfung und dann erst wieder für das Examen gepaukt wird, aber sich nie wirklich ‚setzen‘ kann. Im exegetischen Seminar mit Studierenden Texte zu übersetzen ist oft illusorisch bzw. würde zu viel von der knappen zur Verfügung stehenden Zeit von anderen, wichtigeren Sachverhalten und Themen abziehen. Aber mit der Fähigkeit, mit den neutestamentlichen Texten im griechischen Text umzugehen, geht mehr verloren. Studierende und Pfarrpersonen sind den gebotenen Übersetzungen ausgeliefert, bleiben im eigenen Urteil unselbständig und unsicher. Eine Eigenständigkeit des Urteils, die dem reformatorischen Konzept des Pfarramts entspräche, ist dann kaum mehr zu erreichen. An dessen Stelle tritt die Abhängigkeit von allerlei neuen ‚Päpsten‘ und von der Trivialität des im Internet gerade Verfügbaren. Die wohlfeile Reduktion der intellektuellen Ansprüche für das Theologiestudium droht die Kirche in die Trivialität zu stürzen. 4. Die Probleme betreffen bei weitem nicht nur die alten Sprachen. Nicht we‐ nige Studierende kommen auch mit enormen Schwächen der sprachlichen Aufnahme- und Ausdrucksfähigkeit an die Universität: In Proseminaren braucht es schon viel Training, bis sprachlich korrekt Textphänomene beschrieben werden können und nicht nur der Text ‚nacherzählt‘ wird. In DOI 10.24053/ VvAa-2022-0015 72 Jörg Frey Studienarbeiten werden oft Zitate aus der Literatur zusammengekleistert, ohne dass wirklich ein eigener Gedankengang entwickelt würde. Man könnte hier den ‚Schwarzen Peter‘ der Schule zuschieben, die uns an der Universität zunehmend schlechtere Abiturient: innen hinterlässt, die zwar als ‚digital natives‘ mit Google, Handy und bald auch KI-Maschinen umgehen können, aber deren Fähigkeit, Texte zu verstehen oder selbst nuanciert zu formulieren, oft sehr gering ist. Für einen Beruf, in dem der differenzierte Umgang mit Worten überall notwendig ist, sind das schlechte Voraussetzungen, für die Exegese natürlich auch. 5. Was vielen Studierenden heute schwerer fällt als noch vor 20 Jahren, ist eigenständiges Denken. Der Ruf nach Verschulung des Studiums entspringt nicht nur einer ökonomisierten Bildungspolitik, sondern auch aus der schulisch antrainierten Unselbständigkeit. Eine Schule, die nur noch Re‐ produktion belohnt und kreative Eigenständigkeit bestraft, bereitet wenig auf ein Studium vor, in dem es eigentlich darum ginge, sich umfassend kompetent zu machen. Studierende der Anfangssemester tun sich schwer damit, den Habitus von ‚Schule‘ auf ‚Studium‘ umzustellen, sie erwarten immer noch, bei allen kleinen Schritten an die Hand genommen und sicher geführt zu werden. In manchen Evaluationen wird dies dann noch als ‚gute Lehre‘ gelobt, weil so der ‚Erfolg‘ sichergestellt wird und alle, auch die Schwächsten letztlich das Modul erfolgreich bestehen. Im Wertesystem der ‚Bologna-Bildungsfabrik‘, in das sich die Universitäten von den alles bestimmenden Ökonomen haben zwingen lassen, steht die Erfolgsstatistik an der Spitze, nicht die intellektuelle Herausforderung, die Eigenständig‐ keit oder die Kreativität. 6. In der exegetischen Praxis zeigen sich die Folgen. Studierende fühlen sich sicher, wenn sie aus irgendeinem gedruckten (oder online bezogenen) Buch zitieren können. Und so werden Zitate zuammengekleistert, oft ohne die Rückfrage, woher und aus welchem Diskurs diese Aussagen kommen, manchmal werden auch Positionen zusammengefügt, die eigentlich gar nicht passen. Es ist dann nicht leicht, ein kritisches Bewusstsein dafür zu vermitteln, wie viel auch in gedruckten Büchern unsinnig ist und kritisch reflektiert werden müsste. Oft fehlt auch die Zeit für solche Metareflexion. Wer sich für Nachbesprechungen von Studienarbeiten Zeit nimmt, kennt diese Probleme. Hier besteht die Aufgabe, das Vertrauen in die eigenen Beobachtungen zu stärken und dazu zu ermutigen, daraus auch - vorsichtig - eigene Schlüsse zu ziehen. Es ist besser, eine falsche These zu wagen, als viele Richtigkeiten nur abzuschreiben. Auch in Examensklausuren, die ich nach wie vor für eine deutsche Landeskirche korrigiere, zeigen sich die DOI 10.24053/ VvAa-2022-0015 Eine (un-)wissenschaftliche Response 73 analogen Probleme. Exegetische Arbeitsschritte werden da ‚schulmäßig‘ durchgeführt, manchmal auch an Texten, an denen der jeweilige Metho‐ denschritt wenig sinnvoll ist, aber der Ertrag der Beobachtungen zu Syntax und Wortfeldern, zu narrativen und rhetorischen Gestaltungselementen, zur Argumentation oder zu Quellen- und Traditionsverwendung wird oft nicht für die Interpretation fruchtbar gemacht. Nach allen Arbeitsschritten ist die ‚Vers-für-Vers-Exegese dann oft wieder eine Nacherzählung, für die es die methodischen Arbeitsschritte nicht gebraucht hätte. Dann zeigt sich, dass im Studium verpasst wurde, etwas einzuüben, das nicht nur in der Examensklausur, sondern auch in der späteren pastoralen Praxis notwendig wäre: eine Praxis der exegetischen Methoden, die nicht nur in der Ausführlichkeit einer Proseminararbeit funktioniert, sondern auch in einer zeitlich begrenzten Textbetrachtung. Wenn eine solche Technik eingeübt ist, wenn gelernt wurde, in begrenzter Zeit am Text Wesentliches zu entdecken und diesen Beobachtungen zu trauen, dann wird dies auch für die Predigtvorbereitung nützlich sein. Wenn Studierende nur mit dem Ideal entlassen werden, dass sie der geforderten Detailliertheit ohnehin nie gerecht werden können, dann lassen sie die Exegese später links liegen und arbeiten unselbständig und mit dem, was im Netz steht. 7. Die Herausforderungen an die exegetische Arbeit im Studium sind groß. Die Wunschlisten aus der Praxis der zweiten Ausbildungsphase sind vielleicht noch größer. Doch ist ein Mehr an Methoden - alternative, engagierte, postkoloniale etc. Methoden, praktische Formen wie Bibliolog, Bibliodrama etc. - im immer kürzer getakteten Zeitbudget des heutigen Studiums kaum unterzubringen. Die Zeit ist ohnehin knapp für das zu vermittelnde Wissen aus den verschiedenen Dimensionen der exegetischen Fächer. Was ich unterstreichen möchte, ist die Bedeutung der innertheolo‐ gischen Interdisziplinarität, der hermeneutischen Reflexion und - soweit möglich - die Reflexion der Wechselwirkungen zwischen Theologie und Biographie, die für einen reflektierten eigenen Umgang mit Bibeltexten im Studium und darüber hinaus von zentraler Bedeutung ist und die auch uns Lehrenden im Wissenschaftsbetrieb gut ansteht. Dieser Herausforderung nachzukommen, ist bei aller Mühe eine faszinierende und erfüllende Aufgabe. Wenn es gelingt, in der Vorlesung Begeisterung für die Texte, ihre literarische Kunst und ihre theologische Tiefe zu vermitteln, wenn engagierte Studierende in ihren Arbeiten eigene Wege wagen und eigene Fragen entwickeln, wenn in der exegetischen und theologischen Arbeit die gespannte Freude auf die pastorale Praxis wächst und wenn später ehemalige Studierende berichten, was ihnen das Studium des Neuen Testaments für ihren weiteren Weg DOI 10.24053/ VvAa-2022-0015 74 Jörg Frey und ihre jetzige Praxis bedeutet, dann kann nicht alles falsch gelaufen sein. Das geschieht, trotz der veränderten Rahmenbedingungen, auch trotz ‚Bologna‘, und ungeachtet der negativen Schlagzeilen der Kirche und der negativen Rhetorik des ‚kleiner, älter, ärmer‘. Ich möchte darin gerne auch ein Zeichen der Kraft des Geistes sehen, der Faszination der Texte, die die christliche Kirche bis heute begleiten, immer neu infrage stellen und zugleich weitertragen. Und ich bin dankbar, dass ich diese Texte einer neuen Generation von Theolog: innen vermitteln darf. DOI 10.24053/ VvAa-2022-0015 Eine (un-)wissenschaftliche Response 75 Teaching Examples 1 Entsprechende Fragen finden sich in den zentralen Evaluationsbögen der Georg-August- Universität Göttingen. 2 Folgende Zitate stammen aus meinen Evaluationsbögen an der Georg-August-Universität Göttingen in den Jahren 2019-2023. Bibelkreis im Proseminar Reettakaisa Sofia Salo (orcid.org/ 0000-0002-5124-4983) 1 Einführung und didaktische Ziele Die Studierenden der Pfarramtsstudiengänge wünschen sich immer wieder einen größeren Praxisbezug im Studium der Evangelischen Theologie. Dieser Wunsch wird einerseits gegenüber den Lehrkräften im Kontext von Veranstaltungen und Gremiensitzungen mündlich geäußert. Er wird andererseits in den Lehrverans‐ taltungsevaluationen sichtbar: Dort wird der Punkt „Die in der Lehrveranstaltung erworbenen Schlüsselkompetenzen schätze ich als nützlich für meinen späteren Beruf ein“ 1 meiner Erfahrung nach recht heterogen beantwortet. In den offenen Feldern, in welchen die Studierenden frei schreiben können, wird ebenso regel‐ mäßig ein stärkerer Gemeindebezug gewünscht: 2 „[D]ie Gegenwartsrelevanz war mir persönlich zu wenig.“ „Da ein Ziel des Theologiestudiums das Pfarramt ist, wäre […] die Frage nach einer Gegenwartsrelevanz der Texte interessant gewesen. Diese kam teilweise vor, aber leider nur selten.“ In den alttestamentlichen Proseminaren für Studierende mit Sprachkennt‐ nissen sollen die Dozent: innen ihnen eine „Einführung in die wissenschaftliche Exegese des Alten Testaments“ anbieten. Üblicherweise werden die klassischen Methoden der historisch-kritischen Exegese vorgestellt und ihre Anwendung an beispielhaften Texten erprobt. Als Prüfungsleistung wird in der Regel eine Proseminararbeit geschrieben. Die Anzahl der Sitzungen lässt nur wenig Spielraum für individuelle Schwerpunktsetzungen, sodass für hermeneutische und gegenwartsbezogene Fragen kaum Zeit übrig bleibt. Um dem studentischen Wunsch nach mehr Gemeindebezug nachzukommen, habe ich angefangen, im Proseminar einen Bibelkreis nachspielen zu lassen. 3 Vgl. beispielsweise Becker, Exegese. Nachdem die exegetische Methode der Traditionskritik / Traditionsgeschichte anhand eines markanten Themas behandelt worden ist, sollten die Studierenden die Fragen ihrer fiktiven Gemeindemitglieder beantworten können. Dadurch üben sie, die im und für den akademischen Kontext erworbenen Kenntnisse auf Fragen von Laien anzuwenden. Die Methode funktioniert zugleich als eine Wiederholung der Traditionsgeschichte. Das Nachspielen eines Bibelkreises zeigt den Studierenden, dass sie die exegetischen Kenntnisse und Kompetenzen brauchen, um über biblische Texte im Gemeindekontext reden zu können. Schließlich wird Gesprächsführung geübt. Beispielsweise fällt es den Studie‐ renden oft schwer, Missverständnisse und falsche Informationen der Bibelkreis‐ teilnehmenden als solche zu bezeichnen und auf sie zu reagieren. 2 Einbettung in die Lehrveranstaltung Das alttestamentliche Proseminar, in welches das Unterrichtsbeispiel einge‐ bettet ist, folgt der gängigen Reihenfolge der exegetischen Methodenschritte. 3 Diese werden vor allem anhand der Plagenerzählungen (Ex 7-11) bearbeitet. Das Seminar ist wie folgt gegliedert: Sitzung Themen 1 Einführung 2 Geschichte Israels Sprachliche Beschrei‐ bung 3 Textkritik I 4 Textkritik II 5 Literarkritik I 6 Literarkritik II 7 Formkritik 8 Traditionskritik I BibleWorks 9 Traditionskritik II Literaturrecherche Zitieren DOI 10.24053/ VvAa-2022-0016 80 Reettakaisa Sofia Salo 4 Vgl. z.-B. Becker, Exegese, 133-149. 5 Die Georg-August-Universität Göttingen verfügt über eine Campus-Lizenz für Bible‐ Works 7. 6 Literatur: Strawn, Strong Hand. 7 Literatur: Schipper, Geschichte, 13-34. 10 Traditionskritik III Überlieferungskritik 11 Redaktionskritik I 12 Redaktionskritik II 13 Historische Aussageab‐ sicht Gesamtinterpretation Proseminararbeit Das Lehrbeispiel „Bibelkreis im Proseminar“ gehört zu Sitzung 10, zum Thema Traditionskritik III. Um es besser verstehen zu können, soll der Inhalt der vorangehenden Sitzungen zur Traditionskritik kurz vorgestellt werden. Sitzung 8: Als Vorbereitung haben die Studierenden Jes 51,9-11 übersetzt und die Vorstellung der Traditionskritik / Traditionsgeschichte im Methodenbuch gelesen. 4 Da im Seminar schon viele Texte aus der Exoduserzählung gelesen worden sind, kann herausgearbeitet werden, auf welche von diesen in Jes 51,9-11 angespielt wird. Weiterhin wird gefragt, ob die Studierenden Motive aus anderen Traditionen erkennen können. In der zweiten Hälfte der Sitzung wird eine Einführung in den Gebrauch einer exegetischen Software gegeben. 5 Sitzung 9: Vor dieser Sitzung üben die Studierenden den Umgang mit den (di‐ gitalen) Konkordanzen. Sie wählen einen Begriff aus Jes 51,9-11 aus und machen dazu eine Konkordanzanalyse. Die Ergebnisse sollen mit einem theologischen Wörterbuch verglichen werden. In der Sitzung stellen die Studierenden ihre wichtigsten Funde vor. Zudem wird der Exodusbezug in Hos 9,1-5 untersucht. Als Vorbereitung für Sitzung 10 wird noch eine kurze Einführung in drei Spe‐ zialbereiche der Traditionskritik gegeben: Ikonographie, biblische Archäologie und religionsgeschichtlicher Vergleich. 3 Darstellung des Beispiels Die Studierenden sind am Ende von Sitzung 9 in drei Gruppen eingeteilt worden, die verschiedene Themen für Sitzung 10 vorbereiten. Gruppe A arbeitet zu Ikonographie, 6 Gruppe B zu biblischer Archäologie 7 und Gruppe C zum DOI 10.24053/ VvAa-2022-0016 Bibelkreis im Proseminar 81 8 Literatur: Kaplony-Heckel/ Kausen, Texte (zur Israel-Stele vgl. 554-552); Hecker, Texte (zur Sargon-Legende vgl. 56-57). religionsgeschichtlichen Vergleich. 8 Die Durchführung des Lehrbeispiels dauert ca. 55 min. 15 min. Gruppenarbeit in den Gruppen A-C: Die Studierenden diskutieren über den Text, den sie vorbereitet haben, unter der Fragestellung: „Was ist der Hauptbeitrag zum Verständnis der Exodustradition und der Plagenerzäh‐ lungen? “ 15 min. Gruppenarbeit in gemischten Gruppen: Die Studierenden stellen ihre Ergebnisse den Mitgliedern der anderen Gruppen vor (jeweils ca. 5 min. / Thema). 20 min. Weitere Gruppenarbeit in den gemischten Gruppen: Bibelkreis im Prose‐ minar. Den Studierenden wird erzählt, dass sie jetzt im Gemeindepraktikum oder Vikariat sind und dort im Bibelkreis über das Buch Exodus und die Plagenerzählungen gesprochen haben. Ihnen werden Fragezettel ausgeteilt (s.-u.), die verdeckt auf einem Stapel in der Mitte liegen. Die Studierenden lesen der Reihe nach Fragen vor und die anderen versuchen, diese zu beantworten. Die Fragen greifen größtenteils Themen aus der empfohlenen Literatur auf. Die Lehrkraft geht währenddessen herum und hört sich die Gespräche an, mischt sich aber nicht ein. 5 min. Plenum: kurze Möglichkeit zur Aussprache und Methodenreflexion. Mögliche Fragen für den Bibelkreis: • Frau Fromm: „Was hat das mit unserem christlichen Leben zu tun? “ • Herr Schmitz: „Kann man das irgendwie beweisen, dass die auch wirklich in Ägypten waren? “ • Frau König: „Also ich denke, dass die Plagen so ein Symbol sind. Für unser Leiden in einer Welt voller Sünde! Warum würde man sonst solche Geschichten erzählen? “ • Herr Meyer: „Was ist mit Israel hier eigentlich die ganze Zeit gemeint? Die hatten ja noch nicht im Land Israel gelebt, oder? “ • Frau Scholle: „Ich verstehe das nicht, das mit dem ausgestreckten Arm. Ist das irgendein ritueller Gruß oder eine Gebetshaltung? “ • Herr Haupt: „Ich habe mal so eine Sendung gesehen, wo gesagt wurde, dass diese Wunder durch Naturerscheinungen erklärt werden können. Das rote Wasser zum Beispiel kommt von irgendwelchen Kleintieren, und das Meerwunder könnte man durch einen Vulkanausbruch erklären. Was sagen Sie denn dazu? “ DOI 10.24053/ VvAa-2022-0016 82 Reettakaisa Sofia Salo • Frau Becker: „Ich finde das gemein dem Pharao gegenüber. Gott verstockt ja immer sein Herz, das ist doch grauenhaft. Warum macht Gott das, er liebt doch alle Menschen? Oder? Ich will nichts mit einem Gott zu tun haben, der so mit Leuten spielt! Vielleicht spielt er auch mit mir? “ • Herr Heinrich: „Weiß man, wo dieses Schilfmeer überhaupt ist? Und was ist mit diesen Zahlen nun eigentlich hier? Man kann ja nicht durch die Wüste mit einer so großen Truppe? Oder kann man? “ • Frau Schulz: „Hatten die Israeliten überhaupt mit Ägyptern etwas zu tun in der Zeit? Das ist ja ganz schön weit! “ 4 Variationsmöglichkeiten Ähnliche Aufgaben können als ein Rollenspiel geübt werden, sodass anstelle von fertigen Fragen Rollenbeschreibungen verteilt werden. In dieser Variante bietet es sich eher an, die Gesprächssituation als einen studentischen Bibelkreis oder Hauskreis anzumoderieren: Es fällt den Studierenden leichter, sich Fragen und Antworten auszudenken, die näher an ihrer eigenen Lebenswirklichkeit sind. Die Rollenbeschreibungen müssen genügend Anhaltspunkte enthalten, damit die Studierenden leichter in die Rollen schlüpfen können. Meiner Erfahrung nach ist es besser, sie möglichst geschlechtsneutral zu formulieren. Beispiels‐ weise können Namen ausgelassen werden. Diese Variante erfordert mehr Engagement von den teilnehmenden Studierenden und funktioniert deswegen nicht mit jeder Unterrichtsgruppe. Der Bibelkreis gelingt nicht nur im Proseminar, sondern auch als ein Bestand‐ teil von Übungen. 5 Evaluation der Unterrichtsmethode Die mündliche Feedbackrunde ist wichtig, um noch einmal nach dem Empfinden der Studierenden zu fragen. Auf offene Fragen wie „Wie fanden Sie es? “ oder „Konnten Sie die Fragen gut beantworten? “ gehen sie meist gut ein und reden offen über ihre Gespräche. Hier kann zu einzelnen Punkten nachgefragt werden. Wenn man für die Methode mehr Zeit einplant, können im Plenum noch mögliche Antworten auf die Fragen erarbeitet werden. In ersten spontanen Rückmeldungen wird die Unterrichtsmethode „Bibel‐ kreis im Proseminar“ oder eine entsprechende Durchführung im Rahmen einer inhaltlichen Übung in der Regel sehr positiv bewertet. Entsprechende Rückmeldungen habe ich auch in den Freitextfeldern der schriftlichen Veran‐ DOI 10.24053/ VvAa-2022-0016 Bibelkreis im Proseminar 83 9 Folgende Zitate stammen aus meinen Evaluationsbögen an der Georg-August-Univer‐ sität Göttingen aus den Jahren 2019-2023. Daneben gibt es auch negative Reaktionen, wobei die Studierenden häufig dann gleich sagen, dass sie ähnliche Gruppenmethoden grundsätzlich nicht mögen: „Nicht so gut gefallen [hat mir] das Rollenspiel zur Josefsgeschichte (liegt aber einfach daran, dass ich damit nichts anfangen kann [sic! ] pädagogisch gesehen ist das super).“ staltungsevaluation erhalten: 9 „Ich war sehr erfreut über die Gruppenarbeit mit den Gemeindefragen! “ „Die Applikationsübungen für die Gegenwart fand ich sehr hilfreich, spannend und erfrischend! Gerne öfter! “ - Literatur Becker, Uwe: Exegese des Alten Testaments. Ein Methoden- und Arbeitsbuch (UTB 2664), Tübingen 5 2021. Hecker, Karl: Akkadische Texte, in: Dietrich, Manfred u.-a. (Hg.): Ergänzungslieferung (TUAT IV), Gütersloh 2001, 11-60. Kaplony-Heckel, Ursula/ Kausen, Ernst: Ägyptische historische Texte, in: Conrad, Diet‐ helm u.-a. (Hg.): Rechts- und Wirtschaftsurkunden. Historisch-chronologische Texte III (TUAT I,6), Gütersloh 1985, 525-619. Schipper, Bernd: Geschichte Israels in der Antike (Beck’sche Reihe 2887), München 2018. Strawn, Brent A.: „With a Strong Hand and an Outstretched Arm.“ On the Meaning(s) of the Exodus Tradition(s), in: de Hulster, Izaak J. u. a. (Hg.): Iconographic Exegesis of the Hebrew Bible / Old Testament. An Introduction to Its Method and Practice, Göttingen 2015, 103-116. DOI 10.24053/ VvAa-2022-0016 84 Reettakaisa Sofia Salo Der ‚Schwarmintelligenz‘ vertrauen Ein Lehr-/ Lernbeispiel für seminaristische Gruppen Matthias Hopf (orcid.org/ 0000-0002-9183-7740) 1 Problemstellung Ein bestimmtes Problem kann gerade bei relativ flexibel strukturierten Modul‐ studiengängen immer wieder auftreten: In einer Veranstaltung wäre eigentlich etwas aus einer anderen vorauszusetzen, nur ist jene andere noch nicht belegt worden. Dies ist bspw. bei Proseminaren und einleitenden Überblicksvorle‐ sungen des Öfteren der Fall. Erstere werden häufig jedes Semester angeboten, letztere aber je nach Semesterrhythmen und Größe der Fakultät bzw. des Instituts vielleicht nicht. Im hier vorausgesetzten konkreten Fall des alttestamentlichen Proseminars ging es um den fehlenden Überblick über die Geschichte Israels, die schwerlich in einem Proseminar abgedeckt werden kann, aber eben auch nicht jedes Se‐ mester als Vorlesung angeboten wird. Ähnliches ist im Bereich Neues Testament vorstellbar oder auch in der Kirchengeschichte, wenn man eigentlich einen groben Überblick über einen bestimmten Zeitraum bräuchte. Das Problem ist jeweils, dass zwar eine vorlaufende lesende Aneignung von Einleitungswissen o. ä. durchaus möglich ist Inhalte aber ohne den größeren Bezugsrahmen u. U. sehr abstrakt, sodass angelesenes Wissen keinen Platz auf der ‚mentalen Karte‘ bspw. den mehreren hundert Jahren der Geschichte Israel findet. Umgekehrt heißt das aber nicht, dass überhaupt nichts vorauszusetzen ist. Ein Teil der Studierenden hat u. U. sehr wohl schon erste Vorkenntnisse. Bei anderen können Teilkenntnisse vorhanden sein; manchmal existiert aber nur oberflächliches, vages und ‚gefühltes‘ Wissen. Eine solche Diskrepanz in den Voraussetzungen kann erschwerend zum zumindest teilweise fehlenden Vorwissen hinzukommen. 1 Vgl. hierzu auch die Überlegungen zur Wirksamkeit des Ansprechens vielfältiger Bezugsebenen bei Gerstenmaier/ Mandl, Wissenserwerb. 2 Als Materialien bieten sich u. a. Baustellenabsperrband (aus dem Baumarkt), ein Seil, sehr dicke Wolle o.-ä. an - in jedem Fall sollte es gut sichtbar sein. 3 Laminiert halten diese auch mehrere Semester. 2 Darstellung der Methode Das hier vorgestellte Lehr-/ Lernbeispiel will an diese komplexe Situation an‐ knüpfen, um mit just diesem disparaten Wissensschatz zu arbeiten und, daran anknüpfend, diese Vorkenntnisse zu ordnen, zu strukturieren und so ‚greif‐ barer‘ zu machen sowie gleichzeitig die Studierenden stärker auf ein ähnliches Wissensniveau zu bringen. Dabei wird auf räumlichem Vorstellungsvermögen sowie auf den sozialen Bezügen zwischen den Studierenden aufgebaut. 1 Im beschriebenen konkreten Fall eines alttestamentlichen Proseminars war dabei jeweils das Ziel, dass sich die Studierenden in der Rolle je eines Ereig‐ nisses o. ä. in der Geschichte Israels auf einem Zeitstrahl positionieren und so schließlich gemeinsam selbige im wahrsten Sinne des Wortes verkörpern und darstellen. Dazu ist im Vorlauf dieser ca. 30 bis 45minütigen Einheit ein Zeitstrahl mit einer Länge von mindestens zehn Metern Länge abzustecken, damit genug Platz für die Positionierung der Studierenden vorhanden ist. 2 Zusätzlich sollten durch Plakate, Fähnchen o. ä. Jahreszahlen in 100er- oder 200er-Schritten angezeigt werden. Ein weiteres Hilfselement kann sein, den Zeitstrahl im Zeitraum der ‚geteilten Reiche‘ Israel und Juda zu splitten, um so eine zusätzliche Orientierungsmöglichkeit zu bieten. Dies sähe dann in etwa so aus: Abbildung 1: Zeitstrahl der Geschichte Israels Nachdem die Studierenden an den Zeitstrahl geführt wurden und bevor die eigentliche Aufgabenstellung erläutert wird, ist es sinnvoll, den Zeitstrahl kurz mit den Studierenden zu besprechen: die Zeiträume, den Hintergrund des ggf. gesplitteten Zeitstrahls und warum der eine Ast sehr viel früher endet etc. Im Anschluss daran müssen die Studierenden je ein Plakat mit einem Zeitab‐ schnitt bzw. einem Ereignis aus einem Stapel ziehen. 3 Im konkreten Fall wurde DOI 10.24053/ VvAa-2022-0017 86 Matthias Hopf 4 Diese ist zugegebenermaßen sehr am biblischen Narrativ bzw. an der recht konserva‐ tiven Darstellung von Donner, Geschichte, orientiert. 5 Denkbar wäre beispielsweise, gerade die zwischentestamentliche Zeit noch stärker ereignisgeschichtlich abzubilden, etwa indem man Alexander den Großen, die Makka‐ bäer o.-ä. mit aufnimmt. 6 Gerade die erstgenannten Phasen der Erzeltern etc. können bspw. auch einfach auf dem Zeitstrahl ausgelegt werden, wenn nicht genügend Studierende das Seminar besuchen bzw. in der Arbeitseinheit anwesend sind. In diesem Fall sollte aber eine auf die Gruppe zugeschnittene Auswahl an Plakaten vorbereitet werden, dass die verwendeten Ereignisse nicht völlig dem Zufall überlassen bleiben. Es sei zudem darauf hingewiesen, dass es wenig ratsam erscheint, Studierenden mehr als ein Plakat zu geben, da dies den Effekt der Identifizierung und Orientierung im Raum konterkariert. 7 Ob man den Austausch von Plakaten zulässt, ist eine Abwägungsfrage. Ich würde eher davon abraten, da so das gemeinsame Nachdenken befördert wird. dabei die folgende Auswahl verwendet: 4 Erzeltern, Exodus, Landnahme, Rich‐ terzeit, Saul, David, Jerusalem wird Hauptstadt, Salomo, Bau des ersten Tem‐ pels, Reichsteilung, Jerobeam, Rehabeam, Untergang Nordreich, Belagerung Jerusalems durch Assur, Josianische Kultreform, Erste Eroberung Jerusalems, Zerstörung Jerusalems, Exil, Kyros-Edikt, Bau des zweiten Tempels, Qumran- Schriften, Zerstörung des zweiten Tempels, Niederschlagung des Bar-Kochba- Aufstandes. Natürlich sind hier auch andere Auswahlen und Schwerpunkte möglich. 5 Wichtig ist nur, dass diese Plakate keine Jahreszahlen oder anderen Hinweise enthalten und zumindest in Grundzügen einem vorauszusetzenden Wissen entsprechen. Es ist zudem sinnvoll, einen grundsätzlich größeren Satz von Plakaten mit einer Vielzahl von Ereignissen in Reserve zu haben, da ja Studiengruppen von Semester zu Semester bisweilen erheblich in der Größe variieren. 6 Als Aufgabenstellung ist dann auszugeben, dass sich die Studierenden ge‐ meinsam und in Kooperation auf dem Zeitstrahl positionieren müssen. Manche werden etwas überfordert darauf reagieren. Umso wichtiger ist es zu betonen, dass vielleicht nicht jede bzw. jeder das eigene Ereignis o. ä. genau einordnen kann, dass aber in der Summe der Gruppe - im Zusammenspiel der ‚Schwarmin‐ telligenz‘ - vermutlich alle Studierenden mit ihren Plakaten einen Platz finden dürften. Entsprechend sind die Studierenden weiterhin explizit zur Absprache, zur gegenseitigen Korrektur und zur Diskussion zu ermuntern. 7 Die Erfahrung aus mehreren Semestern zeigt, dass sich die Studierenden tatsächlich insgesamt relativ gut einordnen, selbst wenn manchmal - v. a. bei kleineren Gruppen - evtl. etwas nachgeholfen werden muss. In einem Schlussabschnitt der Arbeitseinheit ist es schließlich sinnvoll, mit den Studierenden in ein reflektierendes und vertiefendes Gespräch einzutreten - etwa darüber, was besonders einfach oder schwierig einzuordnen war. Auch DOI 10.24053/ VvAa-2022-0017 Der ‚Schwarmintelligenz‘ vertrauen 87 kann es sehr lehrreich sein, auf einzelne Studierende und ihre Ereignisse zu verweisen oder zu überlegen, wie wer mit wem interagiert - da so die sozialen Beziehungen auf die jeweils vertretenen Ereignisse etc. hin transparent werden. Weiterhin ist es ratsam, einen kurzen Dozierendenvortrag anzuschließen, der alleine durch die aufgelockerte Atmosphäre deutlich nachhaltiger wirkt als dies im Rahmen des Seminarraums der Fall wäre. Inhalte eines solchen Inputs können sein: In welchem Bereich des Zeitstrahls bewegen wir uns in histo‐ risch relativ gesicherten Phasen, wo sind die Unsicherheiten groß bzw. die Quellenlage dürftig? Welche Zeitabschnitte sind besonders formativ für die atl. Literatur? Wo sind welche biblischen Bücher literarhistorisch anzusiedeln u.-v.-m. 3 Chancen und Grenzen der Anwendung Insgesamt soll in dieser Arbeitseinheit ein Gesamtbild der Geschichte Israels entstehen, welches aufgrund der Positionierungen im physischen wie sozialen Raum möglichst einprägsam ist und zusätzlich durch das oft sehr unterhaltsame Geschehen eine positive emotionale Besetzung bewirkt, was in Kombination eine wesentlich nachhaltigere Orientierung ermöglicht, als dies eine rein le‐ sende Aneignung je könnte. Letztere mit ihren Details kann dadurch natürlich nicht ersetzt werden. Gleichwohl wird so bestehendes Wissen strukturiert und geordnet sowie die Studierenden zumindest in Ansätzen auf einen vergleich‐ baren Wissensstand gebracht, sodass im Folgenden das Einleitungswissen zur Erörterung literarhistorischer Fragen durch eine viel plastischere Anschauung leichter und fruchtbringender eingesetzt werden kann - nicht zuletzt, weil durch die Methode eine Vielzahl von Gedächtnisebenen angesprochen werden. Grundsätzlich erscheint eine so strukturierte Arbeitseinheit für nahezu alle räumlich darstellbaren Sachverhalte einsetzbar: für einen Überblick über das corpus paulinum, zur Erschließung der Topographie Israels, für die Darstellung der Bezüge innerhalb der synoptischen Tradition oder auch für viele weitere bibelkundliche oder einleitungswissenschaftliche Fragen und Aspekte. Wichtig zu beachten ist nur, dass grundsätzliche Vorkenntnisse vorhanden sein müssen, dass also der behandelte Wissensbereich nicht zu spezifisch oder zu speziell sein darf. Auch ist abzuwägen, ob der vergleichsweise hohe Zeitaufwand dem Thema angemessen ist. Im besprochenen Fall eines Überblicks über das essenzielle Thema der Geschichte Israels ist dies sicherlich so, in anderen Fällen vermutlich nicht unbedingt. Insgesamt zeigen die Erfahrungen mit dieser Methode sowie die Rückmel‐ dungen von Studierenden - die ich z. T. auch noch lange nach der Veranstaltung DOI 10.24053/ VvAa-2022-0017 88 Matthias Hopf erhalten habe -, dass die so erarbeiteten Inhalte einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Dieser Effekt wäre aber beispielsweise auch am Ende einer Ein‐ führungsveranstaltung zur Wiederholung des Besprochenen einsetzbar, wenn‐ gleich hierfür dann die Aussprache deutlich vertiefter ausfallen müsste. In jedem Fall zeigt die Erfahrung, dass der hier beschriebene spielerische Umgang mit der Materie für weiteres, vertieftes Lernen großes Potenzial birgt. - Literatur Donner, Herbert: Geschichte des Volkes Israels und seiner Nachbarn in Grundzügen (2 Bde.; GAT 4), Göttingen 3 2000-2001. Gerstenmaier, Jochen/ Mandl, Heinz: Wissenserwerb unter konstruktivistischer Perspek‐ tive, ZP 41 (1995), 867-888. DOI 10.24053/ VvAa-2022-0017 Der ‚Schwarmintelligenz‘ vertrauen 89 Rezensionen 1 Vgl. https: / / www.tvz-verlag.ch/ reihe/ bibel-heute-lesen-59/ ? page_id=56. Walter Dietrich: Die Samuelbücher heute lesen. bibel heute lesen. Zürich. 2022. TVZ, 216 Seiten, broschiert, ISBN 978-3-290-18455-1. rezensiert von Nina Beerli (orcid.org/ 0000-0003-4077-7511) Der Band „Die Samuelbücher heute lesen“ gehört zur Reihe „Die Bibel heute lesen“, in der bisher vor allem neutestamentliche Bücher behandelt wurden. Für das Alte Testament ist neben den Samuelbüchern auch der Band zur Urgeschichte bereits verfügbar (Stand: Juli 2023). Die Reihe will nach eigener Aussage „prägnant und anschaulich“ 1 in die biblischen Bücher einführen. Sie richtet sich an Menschen ohne theologisches Vorwissen, die sich für die Texte der Bibel selbst interessieren, daneben aber auch mehr über ihre Entstehung und ihre geschichtlichen Hintergründe erfahren, den Weltbildern und Denkwelten der damaligen Menschen auf die Spur kommen und Einblicke in ihre Wirkungs‐ geschichte erhalten wollen. Das Büchlein setzt mit einem knappen Überblick über den biblischen und geschichtlichen Zusammenhang der Samuelbücher ein und gibt anhand der Haupt- und Nebenfiguren einen ersten groben Überblick über die Handlung der beiden Bücher. Im Hinblick auf das Ziel der Reihe, ein breiteres Publikum anzusprechen, ist dieser Einstieg sehr gut gewählt (und ein guter Tipp für die Lehre). Er ermöglicht es, auf lustvolle Weise und ohne großes Vorwissen in die Thematik der Samuelbücher hineinzufinden und sich einen soliden ersten Überblick zu verschaffen. Daran anschließend folgen ein Kapitel zu wichtigen Themen sowie ein Kapitel zu Menschen- und Gottesbildern der Samuelbücher. Auf diesen stärker inhaltlich ausgerichteten Teil folgen drei Kapitel, die sich mit der literarischen Gestaltung, der Entstehung und der Überlieferung der Samuelbücher befassen. Es schließt sich ein Kapitel an, das sich mit dem Anspruch der Samuelbücher, Geschichte darzustellen, auseinandersetzt und dabei auch in knapper Form auf archäologische Methoden eingeht. Anschließend werden in einem rasanten aber gleichwohl anschaulichen Überblick wirkungsgeschichtliche Dimensionen bis in die Gegenwart angeschnitten. Letzte Bemerkungen für die eigene Lektüre der Samuelbücher, ausgewählte Angaben zu weiterführender Literatur, Über‐ sichtsmaterial zur Geschichte Israels, wichtigen Orten und Personen sowie ein schematischer Aufbau der Samuelbücher helfen bei der Orientierung und runden den Band ab. Das Büchlein (das Format liegt irgendwo zwischen A5 und A6) bietet auf rund 200 Seiten eine spannende, informative, anschauliche und süffig geschriebene Einführung in die Samuelbücher, die Lust auf den biblischen Originaltext macht. Die einzelnen Kapitel können auch unabhängig voneinander gelesen werden. Jedes Kapitel zeigt eine jeweils andere Perspektive auf die Samuelbücher auf. Zugleich werden in den verschiedenen Kapiteln oft die gleichen Beispieltexte aus den Samuelbüchern herangezogen. Das erlaubt es den Lesenden, sich den Samuelbüchern aus unterschiedlichen Richtungen anzunähern. Zugleich können sie die verschiedenen Aspekte anhand der (oft) gleichen Beispieltexte miteinander ins Gespräch bringen. Ganz nebenbei wird auch viel Wissen über andere alttestamentliche Texte, alttestamentliche Theologie(n) und bi‐ belwissenschaftliche Methodik vermittelt, wodurch die Lektüre gelegentlich recht voraussetzungsreich wird. Das macht einerseits Lust auf Mehr, zeigt andererseits aber auch die Grenzen der Reihe auf: Ganz ohne theologisches Vorwissen geht es nicht. Das Profil der Reihe bringt es auch mit sich, dass nicht alle Fragen angesprochen oder teilweise nur sehr oberflächlich behandelt werden können. Dies fällt meines Erachtens stark im Kapitel „Die Samuelbücher und die Geschichte der frühen Königszeit“ ins Gewicht. Da viele Fragen und Themen hier höchstens angetippt werden können, bleiben die Ausführungen oft vage und das Kapitel wirkt gelegentlich eher wie eine Doppelung zu bereits Gesagtem. Alles in allem ist der Band „Die Samuelbücher heute lesen“ nicht nur für (informierte) Laien lehrreich, spannend und kurzweilig zu lesen, sondern ist auch für Studierende der Theologie, für Pfarrpersonen, die ihre Kenntnisse auffrischen und/ oder vertiefen wollen, eine gewinnbringende Lektüre. Der Band bietet zudem viel Material und Anregungen, die für die universitäre Lehre oder die Erwachsenenbildung nutzbar gemacht werden können. - Literatur https: / / www.tvz-verlag.ch/ reihe/ bibel-heute-lesen-59/ ? page_id=56. Letzter Zugriff: 08.08.2023. DOI 10.24053/ VvAa-2022-0018 94 Nina Beerli Michael Schneider/ Michael Rydryck: Bibelauslegung. Grundlagen - Textanalysen - Praxisfelder. Göttingen. 2022. Vandenhoeck & Ruprecht, brochiert, 288 Seiten, ISBN 978-3-525-71699-1. rezensiert von Clarissa Breu (orcid.org/ 0000-0002-1550-3925) Das exegetische Methodenbuch Bibelauslegung. Grundlagen - Textanalysen - Praxisfelder von Michael Schneider und Michael Rydryck ist von seinem Selbstverständnis her besonders, weil es bei der Praxis der Bibelauslegung in kirchlichen und schulischen Zusammenhängen ansetzt und nicht als Leitfaden zum Erstellen einer Seminar- oder Proseminararbeit konzipiert ist. Dement‐ sprechend wird die Aufgabe der Exegese von der Praxis her bestimmt und der akademischen Exegese in diesem Bereich ein klarer Platz zugewiesen: „Biblische Texte werden individuell und kollektiv immer schon ausgelegt und die wissenschaftliche Theologie kann von diesen Prozessen lernen und sie kritisch begleiten. Nur weil es Schriftgebrauch und Bibelauslegung in der Praxis gibt, lohnt sich theologisches Nachdenken darüber - nicht umgekehrt! “ (10). Die wissenschaftliche Theologie als lernende und kritische Begleiterin der Praxis ist das gewinnbringende Konzept, das dem Buch vorangestellt ist. Programmatisch wird zudem formuliert, dass weder an einer einzigen Methode noch an einem eindeutigen Sinn festzuhalten ist, sondern dass beides - Methodenauswahl und Interpretation - nachvollziehbar und intersubjektiv kommunizierbar geschehen sollte (14). Methoden begleiten auf dem Weg der Interpretation und müssen dementsprechend anhand ihrer Angemessenheit ausgewählt werden. Das Buch ist so gestaltet, dass es für Altes und Neues Testament gleichermaßen anwendbar ist und bezieht sich auf die neuere Literatur- und Geschichtswissenschaft. Es ist übersichtlich gegliedert und enthält unter den Stichwörtern „Impulse“, „Positionen“ und „Leitfragen“ anregende Gedanken und weiterführende Ideen. Es ist in drei große Abschnitte unterteilt, die dem Untertitel entsprechen: Grundlagen, Textanalysen und Praxisfelder. (A) Grundlagen: Der Grundlagen-Teil bespricht hermeneutische Vorausset‐ zungen der Bibelauslegung und reflektiert (1) die Textualität biblischer Texte, (2) deren Verhältnis zu ihren Kontexten und (3) Intertextualität und Kanon. (B) Textanalysen: Der zweite große Abschnitt stellt anhand des semiotischen Modells von C. W. Morris in drei Unterabschnitten und Fragerichtungen (syn‐ tagmatisch, semantisch, pragmatisch) Methoden der Texterschließung vor. (C) Praxisfelder: In diesem letzten und kürzesten Abschnitt werden Gottesdienst und Bibeldidaktik als Prozesse von Textauslegung reflektiert sowie abschlie‐ ßend Impulse zu Fakt und Fiktion, Geltung und Schriftgebrauch geboten. Die Kohärenz der Teile A, B und C könnte stärker ausgeprägt sein, doch ist es eine große Errungenschaft des Buches, sich an der Praxis von Bibelauslegung zu orientieren und die oft bediente Unterscheidung in akademisch-informierte und kirchlich-laienhafte Exegese theoretisch und methodisch begründet zu hinterfragen. Auch die theoretisch reflektierte Durchbrechung der Unterschei‐ dung in synchrone und diachrone Methoden ist ein wesentlicher Aspekt des Buches (88), das zudem methodisch reflektierte Möglichkeiten liefert, histori‐ sche ebenso wie gegenwärtige Kontexte als fruchtbare Impulsgeber für die Auslegung zu verstehen. Die Brücke zwischen beiden leisten im Wesentlichen die Begriffe des Diskursuniversums, der Lebenswelt und der Enzyklopädie (37- 44), die allerdings eine noch genauere theoretische Durchdringung vertragen könnten. Der Text, als Teil eines Diskursuniversums verstanden, ist nicht radikal von einer als ‚Umwelt‘ abgegrenzten Welt ‚außerhalb‘ des Textes bzw. ‚vor‘ dem Text zu unterscheiden, da diese sich in Form von Lebenswelt (als vorfindliche und vorreflexive Welt), aber auch in Form einer Enzyklopädie, die die vorreflexive Welt sinnvoll ordnet, im Text niederschlägt. Auch das im Buch leitende Verständnis von Texten als Medien in einer Kommunikationssituation (19, 20, 47) ermöglicht es, Texte in Kommunikation mit gegenwärtigen und vergangenen Kontexten zu verstehen. Historischen Kontexten wird nicht die alleinige Deutung über den Text überlassen, die Autorintention durch die Rede von der Textintention abgelöst (auch hier wäre mehr theoretischer Hintergrund sinnvoll). Es wird betont, dass Texte Einfluss in der Rezeption gewinnen können, wenn sie aus ihrem ursprünglichen Kontext getrennt werden (65). Dieser Ansatz ist ein maßgeblicher Schritt zu mehr Praxistauglichkeit wissenschaftlicher Methoden und hilft gegen historistische Missverständnisse historischer Kritik. Es ist außerdem positiv zu würdigen, dass das Buch in Teil A gewichtige Fragen aufwirft, wie etwa „Gibt es richtige und falsche Interpretationen? “ (16) oder „Worin besteht der Unterschied zwischen kanonischen, deuterokanonischen und nichtkanonischen Schriften? Welche Bedeutung hat dieser Unterschied in der theologischen Wissenschaft und der kirchlichen Praxis? “ (79) Der Einbezug DOI 10.24053/ VvAa-2022-0019 96 Clarissa Breu der Perspektive des Raumes (117) entspricht neueren Entwicklungen in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Insgesamt ist das Buch daher ein Zugewinn im Feld der exegetischen Methodenbücher. Zu wünschen wäre aus literaturwissenschaftlicher Perspektive, dass die vielen verschiedenen theoretisch-methodischen Ansätze, die auf unterschied‐ lichen Voraussetzungen und Theoriesträngen basieren, nicht nur angerissen, sondern auch klar zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. So ist zu fragen, ob nicht ein Bekenntnis zu einer Theorietradition insgesamt tragfähiger wäre als die Zusammenstellung von Bruchstücken aus verschiedenen theoretischen Hintergründen, denn die semiotische Perspektive scheint das Buch wesentlich zu prägen, doch wie verhält sie sich zum Gedanken der Kommunikationssitua‐ tion und der Medialität von Texten? Warum taucht unvermittelt auch Gadamers Begriff der „Horizontverschmelzung“ (47) auf (also: Wie hängen Semiotik und Hermeneutik zusammen)? Wie sieht die Beziehung von Semiotik und Kommu‐ nikationstheorie zum Lebenswelt- und Diskursuniversums-Begriff genau aus? Was sind Probleme und Chancen des Begriffs der Textintention? Aufgrund des zu begrüßenden Ansatzes des Buches bei der Praxis wäre zudem eine noch konkretere Orientierung an der Zielgruppe wünschenswert. Hier wären z. B. integrierte Kopiervorlagen oder Leitfäden für eine Kurzexegese hilfreich. Diese beiden Kritikpunkte mindern nicht den Eindruck, dass es sich hier um eine wichtige Ergänzung zu bereits existierenden Methodenbüchern handelt. Das vorliegende Buch liefert dringend notwendige Impulse für die Frage der Anschlussfähigkeit akademischer Exegese an die Praxis. Es ist zu hoffen, dass es Diskussionen und weitere exegetische Arbeiten in diese Richtung anstößt. DOI 10.24053/ VvAa-2022-0019 Michael Schneider/ Michael Rydryck: Bibelauslegung 97 Das Wissenschaftlich-Religionspädagogische Lexikon im Internet (WiReLex) rezensiert von Stefan Fischer (orcid.org/ 0000-0002-4856-5946) 1 Das Projekt Die Deutsche Bibelgesellschaft führt unter www.bibelwissenschaft.de verschie‐ dene Online-Ressourcen zusammen. Dieses sind Online-Bibeln in verschie‐ denen Übersetzungen, sowie der hebräische Bibeltext der BHS, der griechische Text des Neuen Testaments (28. Auflage von Nestle-Aland und UBS 5), der griechische Text der LXX, sowie der lateinische Text der Biblia Sacra Vulgata. Andere Links führen zu Die Bibel in der Kunst, einer Bibelkunde zum Alten und Neuen Testament, dem Online Bibelkommentar (OBK). Des Weiteren findet sich hier das in den Bibelwissenschaften verbreitet genutzte Wissenschaftliche Bibel‐ lexikon im Internet (WiBiLex) und das Wissenschaftlich-Religionspädagogische Lexikon im Internet (WiReLex). Letzteres wird hier vorgestellt, da sich dieses für das Thema des Heftes „Universitäre Theorie und berufliche Praxis“ anbietet. Das WiReLex gibt es seit 2015 und es ist kostenlos. Inzwischen stehen fast 700 Beiträge zur Verfügung, welche von 385 Autor: innen verfasst wurden. Die Artikel sollen primär Basiswissen vermitteln und ggf. verschiedene Positionen, insbesondere voneinander abweichende konfessionelle Positionen vorstellen. Einmal im Jahr werden neue Artikel hinzugefügt und die bestehenden Artikel teilweise aktualisiert. Diese werden von Fachleuten geschrieben, redigiert und formal vereinheitlicht. Die Hauptherausgeberinnen sind: Mirjam Zimmermann (Universität Siegen) und Heike Lindner (Universität Köln). Neben der Deutschen Bibelgesellschaft wird mit dem Comenius Institut kooperiert. Unterstützung gewähren die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die Deutsche Bischofskonferenz. Für die Autor: innen bei WiReLex gibt es Richtlinien für einen guten Lexi‐ konartikel. Zu ihnen gehören neben den üblichen Anforderungen an einen Lexikonartikel der religionspädagogische Fokus, die methodisch genaue Un‐ terscheidung zwischen deduktivem und induktivem Verfahren, Konkretionen mit passenden Beispielen und Anregungen für die Lesenden zum Weiter‐ denken/ Weiterarbeiten. 2 Content Es gibt zehn thematische Bereiche. Für jeden zeichnen zwei Bereichsheraus‐ geber: innen (je evangelisch und katholisch) verantwortlich. Die thematischen Bereiche sind: 1. Wissenschaftstheorie, Forschungsmethoden 2. Fachdidaktische Konzepte 3. Methoden und Medien 4. Inhalte I: Bibeldidaktik 5. Inhalte II: Kirchengeschichtsdidaktik 6. Inhalte III: Systematisch-theologische Didaktik 7. Inhalte IV: Didaktik der Religionen 8. Lernende/ Lehrende 9. Politische und rechtliche Dimensionen religiöser Bildung 10. Lernorte und Institutionen religiöser Bildung Falls es das Thema nahelegt, werden Artikel nach Konfessionen getrennt oder für zwei verschiedenen Zielstufen, Primar- oder Sekundarstufe, geschrieben. Die zehn thematischen Bereiche decken eine Vielzahl von religionspädagogi‐ schen Themen ab. Für die Bibelwissenschaften ist die Kategorie „Inhalt 1: Bibeldidaktik“ beson‐ ders von Interesse. Darunter findet sich allerdings derzeit nur eine überschau‐ bare Anzahl von Einträgen zu biblischen Figuren, Büchern oder Themen: Josef, Maria Magdalena, Offenbarung des Johannes, König David, Altes Testament im Religionsunterricht, Neues Testament im Religionsunterricht, Pfingstgeschichte, Propheten, Geburtsgeschichten Jesu/ Weihnachten, Jona, Teufel/ Satan, Galaterbrief, Flucht als Thema der Bibel, Judas Iskariot, Galater‐ brief, Maria (Mutter Jesu), Apostelgeschichte, Berufungserzählungen, Dekalog, Rut, Simon Petrus, Bergpredigt, Gleichnisse, Jakob, Johannesevangelium, Mose und Mirjam, Wunder, Paulus, Ijob/ Hiob, Abraham und Sara, Jesus Christus, Passion und Auferstehung, Segen/ Segnen. Außerdem finden sich einzelne Stichwörter in anderen Zusammenhängen, wie z.-B. „Abraham, interreligiös“ oder „Tod interreligiös“. Inhaltlich sind die Artikel gut recherchiert, in der thematischen Auswahl hinterlassen sie jedoch einen unausgewogenen Eindruck. Weshalb gibt es z. B. nur einen Beitrag „Gottesvorstellung, muslimische Kinder“ und nicht auch DOI 10.24053/ VvAa-2022-0020 100 Stefan Fischer für andere Kinder? Weshalb werden unter „Tod interreligiös“ Hintergründe zu den Religionen Judentum, Islam und Östliche Religionen gegeben, aber das Christentum ausgelassen? Hingegen finden sich unter „Auferstehung der Toten“ systematische Orientierungen und anthropologische Bestimmungen aus christlicher Sicht, ohne dass es zu einer Auseinandersetzung mit biblischen Texten kommt. Durch die Richtlinien für Autor: innen wird eine gewisse Einheitlichkeit in den Artikeln angestrebt, die sich in etwa an Strukturen, Wahrheiten, Erfah‐ rungen, Zugängen und Lernwegen orientiert oder nach einem lebensweltlichen Zugang, Fragen und Anknüpfungspunkten, biblisch-theologischen Klärungen und didaktischen Überlegungen strukturiert ist. Jeder Beitrag wird durch ein Literaturverzeichnis abgeschlossen. Für die Hochschuldidaktik sind die Artikel zu Lernende/ Lehrende lesenswert, welche auch die verschiedenen Dimensionen der Positionalität und Spiritualität der Lehrenden aufnehmen und entsprechende Denkanstöße geben. 3 Suchfunktionen Die einzelnen Artikel sind auf zwei Weisen zugänglich. Zum einen sind sie nach den bisherigen neun Jahrgängen sortiert und zum anderen sind sie alphabetisch sortiert. Die Jahrgangsortierung bietet einen direkten Überblick über die jeweiligen Artikel und ist besonders für diejenigen geeignet, welche das Lexikon fortlaufend genutzt haben und so die jeweils neuen Beiträge zur Kenntnis nehmen möchten. Die Suchfunktion der Artikel hat zwei Suchfenster. Das eine heißt „Direkt zum Artikel“ und führt, falls ein Artikel unter einem Stichwort vorhanden ist, direkt zu diesem oder öffnet eine Auswahl von den Artikeln, bei denen die Buchstabenfolge des Stichwortes in der Überschrift vorkommt. So bietet bspw. „Gott“ zehn Suchergebnisse, die mit „Gott“, „Gotteskritik“ und „Gottesvorstel‐ lung, muslimische Kinder“ einen thematisch engeren Kreis haben, dann aber auch „Gottesdienst“, „Kindergottesdienst“ und „Schulgottesdienst“ ebenso wie den Vornamen „Gotthilf “ erfassen. Das zweite Suchfenster „Stichwörter“ führt zu den gleichen Ergebnissen. Da zwar die Überschriften, nicht aber die Artikel selbst auf Stichwörter durchsucht werden, erschließt sich der Unterschied der beiden Suchfenster bisher nicht. Die Einrichtung einer Volltextsuche ist ein noch ausstehendes Desiderat. Die angegebenen Bibelstellen sind mit dem Portal der Deutschen Bibelgesell‐ schaft (DBG) verlinkt. Es erscheint die Lutherübersetzung 2017. Bei der DBG registrierte Nutzer können die Übersetzung individualisieren. DOI 10.24053/ VvAa-2022-0020 Das Wissenschaftlich-Religionspädagogische Lexikon im Internet (WiReLex) 101 Innerhalb der einzelnen Artikel gibt es Querweise, die per Hyperlink ver‐ knüpft sind. 4 Hilfefunktionen und Datenexport Es gibt keine Hilfefunktion. Die einzelnen Artikel können als PDF exportiert werden. Auch gibt es einen permanenten Link zum Artikel und eine Digital Object Identifier (DOI) Adresse, so dass sowohl Zitierfähigkeit als auch Auffind‐ barkeit gewährleistet sind. Über den Browser kann das WiReLex auch auf einem Smartphone abgerufen werden, eine App gibt es jedoch nicht. 5 User Exchange Es ist kein User Exchange vorgesehen. Da jeder Artikel eine Autorschaft hat und es ein Verzeichnis der Autor: innen gibt, können diese individuell kontaktiert werden. Dabei sind die Kontaktdaten unterschiedlich vollständig. Jedoch gibt es eine offene Einladung, Artikel zu schreiben, und entsprechende Richtlinien und Standards für einen guten Lexikonartikel. 6 Einsatzmöglichkeiten im akademischen Unterricht Das WiReLex bietet einen guten lexikalischen Überblick über eine Vielzahl von Themen, so dass diese gut zur vorgängigen Lektüre für Studierende geeignet sind. Die geringe Anzahl von Beiträgen in der Bibeldidaktik führt dazu, dass es noch sehr viele Lücken gibt, so dass nicht generell auf das WiReLex zurückge‐ griffen werden kann. Dort jedoch, wo ein Artikel vorhanden ist, bietet er einen Mehrwert. Der Rezensent hat gelegentlich einzelne Artikel des WiReLex in der Ausbildung von Religionslehrpersonen im Fachbereich Biblischer Theologie eingesetzt, so bspw. den Beitrag „Jakob - bibeldidaktisch I (Primarstufe)“: Die exegetischen Überlegungen beschränken sich auf eine Zusammenstellung der wesentlichen Erzählungen. Da diese recht knapp gehalten sind, bietet es sich an, hierzu auf den Artikel „Jakob“ im WiBiLex zurückzugreifen, um Jakob im Alten Testament, Fragen der Historizität und der Rezeptionsgeschichte zu berücksichtigen. Auf dieser Grundlage erschließen sich die elementaren Erfah‐ rungen und Zugänge sowie die elementaren Strukturen mit den entsprechenden Themen (Differenz und Beziehung, Grenzen der Freiheit, Tat und Folge, Reue und Versöhnung, Planung und Fügung, Segen, Verantwortung und Gnade). Die im Anschluss aufgezeigten elementaren Wege (Zeichen innerhalb der Erzählung deuten, eigene Fragen an die Erzählung herantragen) sind kompetenzorientiert. DOI 10.24053/ VvAa-2022-0020 102 Stefan Fischer 1 Steinkühler, Art. Jakob, Abschnitt 3. Im Rahmen der Kompetenzorientierung „ist es nicht nur nötig, dazu anzu‐ leiten, Fragestellungen des Textes mit eigenen Erfahrungen zu konfrontieren und insbesondere die Frage nach Gott probehalber in den Alltag, die aktuelle Lebenswelt zu übertragen […], sondern auch von der immanenten Dynamik des Textes zurückzutreten, um sich ihm von außen zu nähern mit Fragestel‐ lungen aus der Erfahrungswelt der Kinder […]. Das verändert Zugänge und Fragestellungen. Die Erzählepisoden werden didaktisch fokussiert angeboten […]; die Rezeption des überlieferten Textes wird eingebettet in eine gemeinsam erarbeitete Forscherhaltung (Anforderungssituation).“ 1 Für den Brückenschlag zwischen Theorie und Praxis sind diese letztge‐ nannten Punkte von Bedeutung. Dieses ist insbesondere dort relevant, wo Studierende parallel dazu Praktika im schulischen Kontext absolvieren oder den Schulalltag mit reflektieren. Für die Verknüpfung der bibelwissenschaftlichen Fächer mit der Unterrichtspraxis über die auch Pfarrer: innen an den Lernorten Schule oder Kirche verfügen, ist diese Kompetenzorientierung wesentlich. An denjenigen Orten, wo es einen staatlichen Unterricht im Bereich Ethik-Religion- Gemeinschaft (ERG)/ Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde (LER) o. ä. gibt, bietet sich das WiReLex ebenfalls als geeignete Ressource an. - Literatur Steinkühler, Martina: Art. Jakob - bibeldidaktisch I (Primarstufe) (2017), Das Wissen‐ schaftlich-Religionspädagogische Lexikon im Internet (WiReLex), https: / / www.bibel wissenschaft.de/ stichwort/ 100264/ . Letzter Zugriff: 03.08.2023. DOI 10.24053/ VvAa-2022-0020 Das Wissenschaftlich-Religionspädagogische Lexikon im Internet (WiReLex) 103 Interview Interview mit … Klaus-Peter Adam Steckbrief: Klaus-Peter Adam Geboren: 1965 Werdegang: Promotion (1999) und Habilitation (2005) an der Philipps-Universität Marburg, seit 2009 Professor für Altes Testament an der Lutheran School of Theology at Chicago, einer Hochschule für Pfarramts- und Magisterstudierende der Evangelical Lutheran Church of America (ELCA). Forschungsinteressen: Arbeitet zur narrativen Ethik der Saul-David-Überlieferung, zur Privatfeindschaft im Recht, zu Fehdestrukturen in Sippengesellschaften und in unterversorgten Gebieten im Südteil Chicagos; zu Feindkonzeptionen in den Individualpsalmen. Privates: Genießt in seiner Freizeit Radtouren und Laufen entlang des Michi‐ gansees. Vorneweg - Blitzlicht • Lehre - Frust oder Lust? Lust: Meine Studierenden sind sehr interessiert und motiviert zum Studium. Ich habe die Möglichkeit, einige Veranstaltungsthemen selbst zu wählen. • Lehre oder Forschung? Forschung: Die Faszination am tieferen Verstehen und der Austausch über Texte, die ich über lange Zeit bearbeitet habe, sind motivierend. • Lieber Erstsemester oder lieber Integrationsphase (früher Examensphase)? Erstsemester: Vor allem, weil sie so viel Neugier mitbringen und oft eine gewisse Unmittelbarkeit im Lesen der Texte. • Neues oder Bewährtes? Bewährtes: Lehrveranstaltungen werden besser werden mit der Routine bewährter Arbeitsformen. Wenn ich an die ersten Versuche der online- Seminare mit Google Slides denke, wird das gut deutlich. • Referate oder Gruppenarbeit? Gruppenarbeit: Wenn Gruppenarbeiten gut vorbereitet sind, binden sie mehr Teilnehmer ein und der pädagogische Effekt ist ungleich größer. Welche Erfahrungen und/ oder Menschen haben Ihre Lehre in Ihrem momentanen Arbeitsfeld nachhaltig geprägt bzw. beeinflusst? Prägend finde ich zwei Erfahrungen bzw. kulturelle Zusammenhänge in meinem gegenwärtigen Arbeitsfeld. Zum einen die spezifische Rezeptionsgeschichte des Alten Testaments in den USA, besonders der legitimatorische Gebrauch biblischer Texte zur Rechtfertigung der Sklavenhaltung in der neuzeitlichen Bibelauslegung. Es gibt ganz unmittelbare Interpretationsstrategien zur Recht‐ fertigung der Sklaverei, z. B. den Philemonbrief oder dem Fluch Hams in Gen 9, um nur zwei Belegtexte zu nennen, die in den USA z. B. gezielt African Americans gelehrt wurden. Darüberhinaus gibt es eine ganze Reihe fataler, im Kontext der USA offen oder verdeckt rassistischer Interpretationslinien, wie etwa die Wirkungsgeschichte und das Verständnis Ägyptens als Teil der Geographie Vorderasiens, nicht Nordafrikas. Das taucht oft als Argumentati‐ onszusammenhang in der Propagierung einer grundsätzlichen Superiorität von weißer gegenüber African American Culture auf. Als Professor an einer Hochschule in einer vorwiegend weißen Denomination mit vorwiegend weißen Pfarramtsstudierenden, der Evangelical Lutheran Church of America (ELCA), heißt das für mich, dass ich Altes Testament mit landes- und kulturspezifischer Rezeptionsgeschichte lehre und den spezifischen Missbrauch biblischer Kultur‐ konzepte im US-amerikanischen Kontext mit Studierenden behandle. Zum anderen habe ich im vergangenen Jahrzehnt über die Zusammenhänge zwischen Fehdestrukturen in lokalen Sippengesellschaften in der Antike und breiter, rechtsgeschichtlich und ethnographisch gearbeitet. Dabei sind mir die Fehdestrukturen in sogenannten „ganglands“ aufgefallen. Eine Erwachse‐ nenbildungsveranstaltung „What the Bible says about police violence, gang violence and the Defund the Police movement“ stellt die ethnographischen und soziologischen Zusammenhänge von Fehdestrukturen in Gangs und den problematischen Druck auf Zeugen durch die Polizei bei der Aufklärung von Verbrechen allgemeinverständlich dar. Das Ziel ist kurz gesagt, dass besonders weiße, im weitesten Sinne ‚evangelikale‘ bzw. ‚evangelische‘ (‚mainstream evangelical‘) US-Amerikaner: innen lokale Fehdestrukturen in unterversorgten Bereichen soziologisch und historisch beschreiben und analysieren lernen. Nur so können sie das oft verzerrt dargestellte Anliegen der „Defund the Police - Fund Communities! “-Bewegung verstehen, das sich besonders im Gefolge der Polizeigewalt u.a. in Ferguson, Missouri, gegen Michael Brown, in New York gegen Eric Garner (beide 2014) und in Minnesota gegen George Floyd (2020) herausgebildet hat. Mir ist wichtig geworden, dass biblische Analyse im Wissenstransfer zum zentralen gesellschaftlichen Diskurs über Waffengewalt in diesem Land beiträgt. DOI 10.24053/ VvAa-2022-0021 108 Interview mit … Klaus-Peter Adam Was ist das Grundparadigma Ihrer Lehre; also würden Sie sagen, dass es bei Ihnen eine Grundüberzeugung gibt, die sich durchzieht? Das Alte Testament hat keine „theologische Mitte“, daher gibt es eine Reihe von Aspekten, die ich immer wieder lehre. Ich beschränke mich auf einen dieser Aspekte. Theologisch sind mir in der Lehre das Jesajabuch und die Jeremiaü‐ berlieferung, sowie verschiedene Psalmen wichtig und zwar im Zusammenhang mit der lutherischen Kreuzestheologie. Ich unterrichte die Prophetenüberliefe‐ rung als komplexe Geschichte und Reflexion zum prophetischen Auftrag, d. h. mit den Themen der prophetischen Identität und Verkündigung vom 8. bis zum 3. Jahrhundert v. Chr. Ich arbeite idealtypisch zur prophetischen Identität in der Jesajadenkschrift und zum theologischen Problem der Unzugänglichkeit Gottes im Heiligtum und dann in redaktionsgeschichtlichen Entwicklungen des Jesajabuches bis hin zu den Gottesknechtsliedern sowie zur Frage von wahrer und falscher Prophetie im Jeremiabuch und zum Leiden am prophetischen Auftrag in den Konfessionen Jeremias. Das Lesen alttestamentlicher Prophetie schärft unter anderem den Blick auf die Christologien des NT und auch auf spezifische Traditionen jüdischer (biblischer) Theologie im AT. Welche Bedeutung hat die Kompetenzorientierung für Ihre Lehre? Die Hochschule hat vor etwa acht Jahren ein kompetenzorientiertes Studien‐ programm eingeführt, wie das typisch für viele Seminaries in den USA ist. Eine konkrete Folge ist, dass meine Überblicksveranstaltungen im AT nicht mehr alle Bereiche abdecken und ich in Lehrveranstaltungen viel stärker exemplarisch arbeite. Daher bekommen etwa Beispieltexte in der Quellenscheidung im Pen‐ tateuch mehr Bedeutung als Überblicksanalysen. Oft wirkt es so, dass die Lehre an unseren Hochschulen eher stiefmütterlich im Gegensatz zur Forschung behandelt wird. Beschreiben Sie Ihren Weg, Forschung und Lehre miteinander zu verknüpfen. Wo sehen Sie Potentiale für Synergieeffekte zwischen diesen beiden Bereichen? Ich kann mich glücklich schätzen, dass die Lutheran School of Theology at Chicago ein Doktorandenprogramm hat, in dem ich sehr viel leichter meine Forschung in die Lehre einbringen kann, als in Einführungsveranstaltungen für Pfarramtsstudierende. Zum anderen inspiriert mich die Lehre manchmal auch zur Forschung. Seit vier Jahren habe ich zusammen mit einer argentinischen Kollegin, Mercedes Garcia-Bachmann, eine Einheit zu den „Pornoprophetics“ (Drora Setel, Athalya Brenner) in die Überblicksveranstaltung zur Prophetie eingebunden. Ich fand, dass ich das den Studierenden schulde, obwohl mich selbst das Thema nicht interessiert hat. Das hat sich im Verlauf der vergangenen Jahre geändert. Im Moment stelle ich einen Artikel zum hebräischen Wurzel znh in H (Lev DOI 10.24053/ VvAa-2022-0021 Interview mit … Klaus-Peter Adam 109 19: 29; 21: 7,9,14) und Ezechiel auf dem Hintergrund des biblischen Sklaven- und Heiratsrechts und zu Genderdiskursen zusammen. Der Aufsatz beruht auf einem Vortrag, den ich über die letzten Jahren mehrfach gehalten habe. Insgesamt empfinde ich es als großes Vorrecht, dass ich im Bereich Altes Testa‐ ment unterrichte und dass mir dadurch, besonders im Bereich des Pentateuch, einige Texte über die Jahre vertraut wurden und mich zur eigenen Weiterarbeit in der Forschung anregen. Als in den USA lehrender Exeget kennen Sie die akademische Welt in Deutschland wie in den USA. Wie haben Sie in diesen unterschiedlichen Kontexten das Span‐ nungsfeld von universitärer Theorie und beruflicher Anwendung erlebt? Wo sehen Sie die Stärken und Schwächen der unterschiedlichen Systeme, und was können beide vielleicht auch voneinander lernen? Die kompetenzorientierte Ausbildung in den US-amerikanischen Seminaries könnte eine große Chance für die theologische Ausbildung besonders für pra‐ xisorientierte Studierende in Deutschland bieten. Das Konzept eines einjährigen Praxisjahres, das in der Lutherischen Kirche (ELCA) üblich ist, hat Vorteile als konkrete Vorbereitung auf die berufliche pfarramtliche Praxis; dazu gehört auch das dreimonatige Clinical Pastoral Training (CPT), das in seiner eigenen Weise die Herausbildung einer pastoralen Identität fördert. Was die Exegese anbelangt, blicke ich ein bisschen neidisch auf meine deutschen Kolleg: innen. Vierstündige Vorlesungen und gute Sprachenqualifikationen ma‐ chen es attraktiv, in den Bibelwissenschaften zu lehren. An meinem Seminary lernen die meisten Studierenden zwei Semester Griechisch, viele, aber nicht alle, lernen Hebräisch. Interessanterweise ist die berufliche Verweildauer von Pfarramtsstudierenden in den evangelischen Denominationen in den USA allerdings im Schnitt nur 50 % nach fünf Jahren, obwohl Studierende die pfarramtliche Realität viel früher und gewissermaßen ‚drastischer‘ kennenlernen. Ob Absolventen in Deutschland länger im Pfarramt bleiben, ist mir nicht bekannt. Zum Schluss: Was würden Sie den Kollegen und Kolleginnen mit Blick auf die eigene Lehre gerne mitgeben? Wie für alle Lehre gilt: Theologische und bibelwissenschaftliche Lehrer: innen motivieren und überzeugen am meisten durch ihr eigenes Vorbild. Gute kontextuelle Einbindung der bibelwissenschaftlichen Arbeit, gepaart mit historisch-kritisch kompetenter Methodik, kann Theologiestudierende moti‐ vieren für die Relevanz des Studiums der biblischen Texte. So können kontextu‐ elle Themen Experimentierfelder werden, die zum theologischen und biblischen wissenschaftlichen Weiterarbeiten im Studium motivieren. DOI 10.24053/ VvAa-2022-0021 110 Interview mit … Klaus-Peter Adam BUCHTIPP Das Lehr- und Arbeitsbuch behandelt zentrale altkirchliche Themen bis zum Ende des 5. Jahrhunderts. Fokussiert werden insbesondere die Wechselwirkungen zwischen theologischen, politischen, sozialen und religionsgeschichtlichen Entwicklungen. Jedes Kapitel behandelt ein Jahrhundert altkirchlicher Geschichte und führt dabei in die äußere Geschichte, religionsgeschichtliche Kontexte, Verflechtungen zwischen Kirche und Umwelt, innerkirchliche Entwicklungen, theologische Themen, Schrifttum und prägende Gestalten des jeweiligen Zeitabschnitts ein. Ein ausführlicher Serviceteil, inhaltliche Überblicke, Karten und Grafiken sowie ein eLearning- Kurs erleichtern die Lektüre und das Studium. Kurt Erlemann Alte Kirche Entwicklungen - Kontexte - Vermittlung 1. Auflage 2023, 442 Seiten €[D] 35,00 ISBN 978-3-8252-6194-8 eISBN 978-3-8385-6194-3 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG \ Dischingerweg 5 \ 72070 Tübingen \ Germany Tel. +49 (0)7071 97 97 0 \ Fax +49 (0)7071 97 97 11 \ info@narr.de \ www.narr.de www.narr.digital Forum Exegese und Hochschuldidaktik: VvAa Verstehen von Anfang an Vol. 7 - 2022 | Issue II ISBN 978-3-381-11101-5 Editorial Contributions Holger Pyka Haltung und Methode Chancen der exegetischen Ausbildung aus Sicht der zweiten Ausbildungsphase Ariane Dihle / Michaela Veit-Engelmann Die Bibel im Religionsunterricht ins Gespräch bringen Herausforderungen für das Lehramtsstudium der Evangelischen Theologie in Deutschland Christiane de Vos Exegese als Teil der Theologie Ein Kommentar aus kirchenpolitischer Perspektive Jörg Frey Eine (un-)wissenschaftliche Response Bemerkungen eines Hochschullehrers zur Situation der Exegese in der theologischen Ausbildung Teaching Examples Reettakaisa Sofia Salo Bibelkreis im Proseminar Matthias Hopf Der „Schwarmintelligenz“ vertrauen Ein Lehr-/ Lernbeispiel für seminaristische Gruppen Reviews Interview with … Klaus-Peter Adam