Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an (VvAa)
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Francke Verlag Tübingen
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Fischer Heilmann Wagner KöhlmoosInterview mit ... Christina Hoegen-Rohls
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Christina Hoegen-Rohls
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Interview mit … Christina Hoegen-Rohls Vorneweg - Blitzlicht - Lehre - Frust oder Lust? Die Lust, bei meinen Studentinnen und Studenten die Liebe zu den biblischen Texten zu entfachen, und die Lust, den Studierenden kompetente Hilfestellung zu bieten, um die literarische Form biblischer Texte genauer zu erkunden, ihre theologische Aussage zu entschlüsseln und ihre Nachwirkung in der Literatur und in der bildenden Kunst zu entdecken, erfüllt mich auch nach meiner jahrzehntelangen hochschuldidaktischen Erfahrung noch immer in jeder einzelnen Stunde, in der ich mich auf meine Lehrveranstaltungen vorbereite, und in jeder einzelnen Lehrveranstaltungsstunde, die ich durchführe. Fast immer gelingt es, dass sich meine eigene Begeisterung für die biblischen Texte wie ein glühender Funke auf meine Studentinnen und Studenten überträgt. - Lehre oder Forschung? Früher hätte ich eindeutig gesagt: Lehre! Ich war (und bin) eine begeisterte Hochschullehrerin. Doch je länger ich in meinem Beruf tätig bin, umso mehr merke ich, dass ich unbedingt eigenständig forschen und mir immer wieder ganz Neues erarbeiten muss, damit meine Lehre spannend, attraktiv und aktuell bleibt. Wirklich: Ohne gründliche Forschung keine erfolgreiche Lehre. Interview Interview Steckbrief: Christina Hoegen-Rohls Geboren: 1959 Familiäres: verheiratet mit Prof. Dr. Jan Rohls, Mutter von Felix Nicolai Rohls (25 Jahre, Promovend der Philosophie an der LMU München) Studium: Gräzistik (bis zum 6. Semester, in Würzburg und München), Germanistik/ Ev. Theologie/ Erziehungswissenschaften (Lehramt Gymnasium) in München und Zürich 1991-1994 Gymnasiallehrerin für Deutsch und Evangelische Religionslehre; 1993 Promotion an der LMU München, 2003 Habilitation an der LMU München, 2003-2007 Privatdozentin an der LMU München und Lehrbeauftragte für Biblische Theologie an der Universität Regensburg. Seit 2007 Professorin für Bibelwissenschaften (Altes und Neues Testament) und ihre Didaktik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seit 2018 Mitherausgeberin der Encyclopedia of the Bible and its Reception (EBR). 120 Interview - Lieber Erstsemester oder lieber Integrationsphase (früher Examensphase)? Auch hier hätte ich früher ohne zu Zögern gesagt: Erstsemester! Den Grundstein legen, die Studierenden in die biblische Theologie einführen, Begeisterung für das Fach von Anfang an wecken. Doch inzwischen haben sich auch hier für mich die Gewichte etwas verschoben: Die jüngeren Lehrenden - die Assistentinnen und Assistenten, die Juniorprofessorinnen und Juniorprofessoren, die Privatdozentinnen und Privatdozenten - sind den Studienanfängerinnen und Studienanfängern oft viel näher, verstehen ihre Fragen besser und teilen mit ihnen die ‚digitale Muttersprache‘ ( digital natives ). Als erfahrene Hochschullehrerin liebe ich es, die Studierenden während der Vertiefungsbzw. Integrationsphase durch die Lehrformate Hauptseminar und Oberseminar auf das Examen vorzubereiten, mit ihnen geeignete und interessante Themen für die wissenschaftlichen Hausarbeiten zu suchen, mündliche Prüfungsthemen durchzusprechen und sie dabei stets herauszufordern durch mein hartnäckiges Fragen nach den Sinndimensionen biblischer Texte, die ohne eine feine Philologie (ob am deutschen Übersetzungstext oder an den biblischen Originaltexten) nicht erarbeitet werden können. Oft beschreiben fortgeschrittene Studierende diesen intensiven Erarbeitungsweg wie eine Bergwanderung: Es geht steil bergauf, man gerät ins Schwitzen, doch oben angekommen, öffnet sich ein wunderbar weites Panorama, der freie Blick schweift ins Tal und zugleich ist der Himmel ganz nah. - Neues oder Bewährtes? Das ist kein Entweder - Oder: Auch aus Bewährtem kann Neues erwachsen und oft wird aus Neuem Bewährtes. Das gilt methodisch wie thematisch. Bei der Arbeit an den biblischen Texten greifen wir stets auf die etablierte, bewährte historisch-kritische Methode zurück und ergänzen sie doch immer wieder durch neue methodische oder hermeneutische Fragestellungen. Was die Themen meiner Lehrveranstaltungen betrifft, so weiß ich, dass die Studierenden mir am meisten vertrauen können, wenn es um meine bewährten Themen Paulus, Johannes und die Nachwirkung biblischer Texte in deutschsprachiger Lyrik geht. Aber auch weniger vertraute Felder zu beackern oder gar Neuland zu betreten, lohnt sich für mich und meine Studierenden: Wir teilen dann die Wagnisse erster Schritte ins Unbekannte und die gemeinsame Entdeckerfreude. - Referate oder Gruppenarbeit? Mein Glückskonzept heißt Expertenbeitrag mit drei Reizfragen : Studierende bereiten sich - unter Rücksprache mit mir in meinen Sprechstunden oder per E-Mail - auf ein Thema vor, für das sie in einer Seminarsitzung verantwortlich sind. Sie liefern nicht einfach ein 20-Minuten-Referat ab, sondern geben zu Beginn der Stunde einen möglichst hochinformativen 5-Minuten-Impuls ins Plenum, der in drei ausgewählte Reizfragen zum Thema einmündet. Eines der didaktischen Ziele der Sitzung ist es, diese Reizfragen zu reflektieren und zu beantworten, möglicherweise aber auch zu hinterfragen: Waren das wirklich die Fragen, die uns halfen, das Thema sinnvoll zu bearbeiten und zu vertiefen? Welche anderen mit dem Thema verbundenen Fragen Interview 121 sind uns wichtig geworden? Die Expertinnen und Experten bleiben auf diese Weise durch die ganze Sitzung hindurch wichtige Gesprächs- und Reflexionspartner sowohl für ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen als auch für mich selbst als Seminarleiterin. Das Konzept Expertenbeitrag mit drei Reizfragen bereitet auf Team-Teaching vor, das ich für bestimmte Phasen der Seminareinheiten gezielt mit den Expertinnen und Experten plane und durchführe. Dabei können bei präzisem Zeitmanagement auch Gruppenarbeitsphasen zum Zuge kommen. Ich bin immer wieder überrascht, wie produktiv und effizient Gruppenarbeit ausfallen kann, doch lohnt sie sich nur, wenn genügend Zeit für die Präsentation und Reflexion der Gruppenergebnisse einkalkuliert wird. Frau Hoegen-Rohls, welche Erfahrungen und/ oder Menschen haben Ihre Lehre nachhaltig geprägt bzw. beeinflusst? Meine prägenden Erfahrungen für die Hochschullehre stammen alle - was mich überrascht, wenn ich es mir heute bewusst mache - von männlichen akademischen Lehrern: von meinen gräzistischen Lehrern Arbogast Schmitt (damals Würzburg) und Ernst Vogt (München), von meinen germanistischen Lehrern Walter Müller-Seidel (München) und Peter von Matt (Zürich) und von meinen theologischen Lehrern Hans Weder (Zürich) und insbesondere Ferdinand Hahn (München). Was alle verband, war ihr überragendes Fachwissen, ihre ungebrochene fachwissenschaftliche Leidenschaft, ihr weit über das eigene Fachgebiet hinausgehendes Interesse an Kunst und Kultur und ihre große, tiefe Menschlichkeit. Das hat mich fasziniert, berührt und motiviert: Ich wollte werden wie sie. Und was sie ebenfalls alle vermochten, das war - ohne jeden didaktischen Schnickschnack -, eine Vorlesung zum Bühnenerlebnis zu machen und ein Seminar zur Gelehrtenwerkstatt. Man konnte einfach nicht genug davon bekommen. Geprägt - vielleicht sogar in genetischem Sinne - hat mich aber ganz sicher auch mein Vater, der wiederum von seinem Vater eine große pädagogische Begabung, die Gabe der freien, stimmlich modulierten Rede und eine überzeugende, natürliche Autorität geerbt hat. Was ist das Grundparadigma Ihrer Lehre; also würden Sie sagen, dass es bei Ihnen eine Grundüberzeugung gibt, die sich durchzieht? Vielleicht ist es eher eine Grund haltung, die sich durchzieht: die Haltung der Neugierde. Es interessiert mich zutiefst, was Studierende denken. Was geht in ihren Köpfen vor? Wie lesen sie einen biblischen Text oder einen klassischen Text aus der Forschungsgeschichte, der mich auch nach jahrzehntelanger Beschäftigung nicht loslässt? Selbst das eher monologisch geprägte Lehrformat der Vorlesung unterbreche ich daher immer wieder durch dialogische Phasen, in denen ich mit den Studierenden ins Gespräch komme. Meine Neugierde für die Gedanken und Gedankenexperimente der Studierenden geht manchmal soweit, dass sie mich schließlich im Laufe einer Vorlesung oder eines Seminars fragen: „Aber was denken denn nun Sie ? Immer fragen Sie uns nach 122 Interview unseren Auffassungen - bitte verraten Sie uns doch auch Ihre Sicht der Dinge! “ Dann hole ich aus und mache meine Position - bisweilen durchaus provokativ - glasklar, was wiederum die nächste Diskussionsrunde anregt, in der mich erneut interessiert, was die Studierenden denken, und die Studierenden erneut danach fragen, was ich denke. Auf diese Weise wird es wirklich für beide Seiten kaum je langweilig. Und damit kann ich dann wohl doch auch Ihre Frage nach dem Grundparadigma oder der Grundüberzeugung meiner Lehre beantworten: Lehr-/ Lern-Prozesse gelingen, wenn gegenseitige Neugier und Wertschätzung spürbar sind, denn in einem solchen Klima gedeihen Ausdauer für den thematischen Gegenstand und echte, überraschende Erkenntnisse. Welche Bedeutung hat die Kompetenzorientierung für Ihre Lehre? Meines Erachtens ist Kompetenzorientierung nicht ohne sorgfältigen Wissens- und Methodenerwerb bzw. zuverlässige Wissens- und Methodenvermittlung und außerdem nicht ohne das Lernen am Vorbild möglich. Das gilt insbesondere für das ‚Hauptfach‘ der Kompetenzen, die Lesekompetenz, mit der wir es in den Bibelwissenschaften ganz grundlegend zu tun haben: Ich muss meinen Studierenden möglichst genau zeigen, wie ich mit biblischen oder fachwissenschaftlichen Texten umgehe, um ihnen eigene Lesewege zu eröffnen. Die Kompetenz, Texte sinnerfassend zu lesen, entwickelt sich nur über einen längeren Prozess hinweg - ich selbst feile noch immer an meiner Lese-, Verstehens- und Urteilskompetenz im Blick auf Texte. Studierenden zu zeigen, wie ich - auf der Basis von Erfahrung, Fachwissen, methodologischer und hermeneutischer Reflexion - lese, ermöglicht ihnen auf einer ersten Stufe des prozesshaften Lernens, meine Lektüreweisen zu übernehmen und nachzuahmen, dann aber auf einer zweiten Stufe auch, diese in Frage zu stellen und schließlich - auf vielen weiteren Stufen - experimentell und eigenständig weiterzuentwickeln. Oft wirkt es so, dass die Lehre an unseren Hochschulen eher stiefmütterlich im Gegensatz zur Forschung behandelt wird. Beschreiben Sie Ihren Weg Forschung und Lehre miteinander zu verknüpfen. Wo sehen Sie Potentiale für Synergieeffekte zwischen diesen beiden Bereichen? Ich habe das Glück, an einer Hochschule zu unterrichten, für die die Lehre hoch im Kurs steht. Die Westfälische Wilhelms-Universität gehörte zu den Siegern des Bund-Länder-Wettbewerbs zur Förderung verbesserter Studienbedingungen und verbesserter Qualität in der Lehre, sie gehörte zu den Siegern der Qualitätsinitiative Lehrerbildung und des Qualitätspakts Lehre, durch die ebenfalls umfangreiche Gelder zur Verfügung gestellt wurden, die der Lehre zugutekommen. Während meiner Zeit im Lehrbeirat der WWU (2011-2017) konnte ich mich gezielt für die Belange guter Lehre einsetzen - so wie es meine Kolleginnen und Kollegen im Forschungsbeirat für die Belange hochrangiger Forschung taten. Die systematische Vernetzung von Forschung und Lehre wird an der WWU hochschuldidaktisch durch das Projekt Forschendes Lernen gefördert, durch das Studierende an der Forschung von Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern beteiligt werden können. Die Synergieeffekte liegen auf der Interview 123 Hand: Die Forschung der Lehrenden fließt unmittelbar in die Lehre ein, erreicht dort die Studierenden und regt diese zu eigenen Forschungsvorhaben an, die wiederum im Rahmen des Forschungskonzepts der Lehrenden umgesetzt werden können - bis hin zu gemeinsamen Veröffentlichungen. In diesem Winter-Semester 2018/ 19 bin ich an einem solchen Projekt beteiligt: Gemeinsam mit meiner Kollegin Antje Roggenkamp, meinem Kollegen Traugott Roser und Kolleginnen und Kollegen von der Protestantischen Fakultät der Universität Paris erarbeiten und erforschen wir mit Studierenden, wie einerseits biblische und religiöse Vorstellungen von Herrschaft und Macht, andererseits profane Vorstellungen von Herrschaft und Macht in Objekten der Kunst zur Geltung kommen. Wir studieren diese Vorstellungs- und Äußerungsformen anhand ausgewählter Exponate aus zahlreichen Museen von Paris, die wir auf einer Exkursion vor Ort besuchen. So werden die Studierenden ihre Referate zu Bildern und Skulpturen dieses Mal nicht im Seminarraum, sondern direkt im Louvre, im Musée d’Orsay, im Musée Cluny, im Musée Rodin und im Centre Pompidou halten. Für uns als Lehrende ist die Verbindung von Bibel/ Religion und Kunst ein von uns allen bereits bearbeitetes Forschungsfeld, in das wir unsere Studierenden einbinden, um gemeinsam mit ihnen auf diesem Feld weitere Erkenntnisfortschritte zu erzielen. Die Beiträge der Studierenden und unsere eigenen Erkenntnisse werden einfließen in eine gemeinsame Buch-Publikation, die dann wieder zum Gegenstand weiterer Lehrveranstaltungen werden wird. So verzahnen sich Forschung und Lehre im Lehr-/ Lern-Prozess ganz unmittelbar und organisch und befruchten sich gegenseitig auf höchst spannende Weise. Die Lehre in den bibelwissenschaftlichen Fächern ist gerade durch den Einstieg im Proseminar sehr stark auf die korrekte Durchführung von methodisch geleitetem Arbeiten ausgerichtet. Dies ist natürlich sehr wichtig, kann aber tendenziell zu einer zu starken Fixierung auf die Methoden und einer Vernachlässigung eines Gesamtbildes führen. Welche didaktischen Möglichkeiten sehen Sie, vernetztes Denken bei den Studierenden zu fördern? Um Ihre Frage zu beantworten, greife ich gerne nochmals auf das gerade erwähnte Projekt zurück, das seinerseits eine Weiterentwicklung meines Seminarformats Bild und Botschaft darstellt. In Jahrgang 2 (2017) unserer Zeitschrift Forum Exegese und Hochschuldidaktik: Verstehen von Anfang an hatte ich von diesem Format berichtet (vgl. Christina Hoegen-Rohls: Vom Text ins Bild und vom Bild in den Text - Die Methode der korrelativen Text- und Bildwahrnehmung am Beispiel von 2 Sam 11,1-12,1). Sein Anliegen und Ziel besteht darin, Studierenden den Blick für die biblischen Texte gerade dadurch zu schärfen, dass sie nicht nur den Text, sondern auch Bilder und Skulpturen betrachten, die biblische Themen aufgreifen: sei es Michelangelos David , Rembrandts Batseba , Poussins Sintflut oder Jouvenets Kreuzabnahme� Der künstlerische Umgang mit dem biblischen Sujet, seine Einbindung in kulturelle, politische und religiöse Interessen der jeweiligen Epoche und des einzelnen Künstlers weiten den Horizont der Theologie-Studierenden und macht ihnen zugleich ganz deutlich, 124 Interview welchen Wert die sichere, methodisch geleitete Auslegung biblischer Texte darstellt: Sie ermöglicht es, den möglichst ursprünglichen Sinngehalt der Texte zu entziffern, von dem aus dann auch erkannt und beurteilt werden kann, was aus ihnen in der europäischen Wirkungsgeschichte wurde. Zum Schluss: Was würden Sie den Kollegen und Kolleginnen mit Blick auf die eigene Lehre gerne mitgeben? Ich denke, es ist nicht an mir, Ratschläge zu erteilen. So verschieden wir als Menschen sind, so verschieden sind wir als Lehrpersönlichkeiten und so unterschiedlich mag unser Lehrstil ausfallen. Suum cuique! Genau darin liegt aber eine große Chance, die wir hier in Münster auch rege wahrnehmen: nämlich die Möglichkeit gemeinsam durchgeführter Lehrveranstaltungen, in der sich unsere verschiedenen Lehrpersönlichkeiten und Lehrstile ergänzen, gegenseitig bereichern und befruchten - oder auch einmal heilsam in Frage stellen lassen. Die Studierenden staunen oft in interdisziplinär durchgeführten Lehrveranstaltungen, wie verschieden wir sind, amüsieren sich über unsere Eigenheiten und genießen den theatralischen Team-Effekt, der den akademischen Unterrichtsalltag auf erfrischende Weise belebt. Gerade wenn wir gemeinsam und fächerübergreifend unterrichten, wird uns deutlich, was uns mit den Studierenden verbindet: dass wir auch als erfahrene Lehrende in bestimmten Bereichen immer wieder Anfängerinnen und Anfänger sind und dass wir lebenslang Lernende bleiben.