ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
61
1998
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Dronsch Strecker Vogel'· "t N .. i.. III - '· II) 0) " "t .- N 111 N : O in -1') '·"' "t ... Nz : i: III c! ! ! 1. Jahrgang • Heft 1/ 98 ZEITSCHRIFT ,~NEUES TESTAMENT Das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft Herausgegeben von Stefan Alkier, Kurt Erlemann, Roman Heiligenthal Peter Müller Trends in der J esusforschung James M. Robinson Der wahre Jesus? Der historische Jesus im Spruchevangelium Q Eric M. Meyers Jesus und seine galiläische Lebenswelt Annette Merz Jesus als Wundertäter Michael Meyer-Blanck Zwischen Exegese und Videoclip - Jesus in der Bibeldidaktik Kriterien für echte Jesusworte? Klaus Berger versus Walter Sehmithals Buchreport Herausgeber Stefan Alkier Kurt Erlemann Roman Heiligenthal in Verbindung mit Klaus Berger Peter Busch Axel von Dobbeler Dirk Frickenschmidt Gabriele Hagenow Matthias Klinghardt Günter Röhser Jens Schröter Manuel Vogel Bernd Wander Jürgen Zangenberg Anschrift der Redaktion Universität Koblenz-Landau Fachbereich 6: Philologie Institut für Ev. Theologie Prof. Dr. Roman Heiligenthal Im Fort 7 · D-76829 Landau Manuskripte Zuschriften, Beiträge und Rezensionsexemplare werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Verpflichtung zur Besprechung unverlangt eingesandter Bücher besteht nicht. Anzeigen Jutta Silbereisen, Tel.: 0 70 71 / 97 97-31 Bezugsbedingungen Die ZNT erscheint halbjährlich (April und Oktober). Einzelheft: DM 24,- / öS 175,- / sFr 24,zuzügl. Versandkosten Bezugspreis jährlich: DM 48,- / öS 350,- / sFr 46,- Vorzugspreis für Studenten (Immatrikulationsbescheinigung beifügen) jährlich: DM 38,- DM/ öS 277,- / sFr 38,- © 1998 · A. Francke Verlag Tübingen· Basel. Alle Rechte vorbehalten. ISSN 1435-2249 ISBN 3-7720-9900-9 Umschlagentwurf: Werner Rüb, Bietigheim-Bissingen. Satz: Klaus Meyer, Rottenburg. Druck: Gulde, Tübingen. Bindung: Nädele, Nehren. Neues Testament Peter Müller aktuell Trends in der Jesusforschung. . . . . . . . . . . . . 2 Zum Thema James M. Robinson Der wahre Jesus? Der historische Jesus Kontroverse Hermeneutik und Vermittlung Buchreport im Spruchevangelium Q ................. 17 Eric M. Meyers Jesus und seine galiläische Lebenswelt ........................... 27 Annette M erz Jesus als Wundertäter. Konturen, Perspektiven, Deutungen ...... 40 Echte J esusworte? ..................... 48 Klaus Berger Kriterien für echte J esusworte ............ 52 Walter Sehmithals Gibt es Kriterien für echte Jesusworte? ........................... 59 Michael Meyer-Blanck Zwischen Exegese und Videoclip - Jesus in der Bibeldidaktik ............... 65 Peter Busch E. P. Sanders, Sohn Gottes. Eine historische Biographie J esu. . . . . . . . . . 78 A. Francke Verlag Tübingen und Basel· Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Internet: http: / / www.francke.de · E-Mail: narr-francke@t-online.de Exegetisch-theologische Zeitschriften erreichen durch ihre fachliche Spezialisierung und akademische Sprache im allgemeinen keine breite Öffentlichkeit. Selbst die, die von Berufs wegen ein Interesse an Fragen der neueren Forschung in Exegese und Theologie haben, fühlen sich nicht angesprochen. Wenn zu viele Vorkenntnisse nötig erscheinen und darüber hinaus der Praxisbezug nicht klar erkennbar ist, ist für Weiterbildung im Arbeitsalltag kaum Platz mehr. Genauso unbefriedigend erscheint es aber, wie die Massenmedien theologische Diskussionen präsentieren und damit meinungsbildend wirken. Der Druck, hohe Auflagenzahlen bzw. Einschaltquoten zu erreichen, zwingt in der Regel dazu, solche Diskussionen medienwirksam zu vermarkten. Das führt nicht selten zu einer Vereinfachung, wenn nicht zu einem Zerrbild theologischer und kirchlicher Zusammenhänge. An diesen Punkten setzt das Konzept der ZNT an: Sie informiert über die aktuelle Diskussion wichtiger theologischer Themen und führt sie weiter. Einerseits werden dabei keine umfangreichen Spezialkenntnisse vorausgesetzt. Andererseits wird auf den erforderlichen wissenschaftlichen Tiefgang nicht verzichtet. Die in ZNT schreibenden Autorinnen und Autoren werden dementsprechend ihre exegetische Fachkompetenz in die Beiträge einbringen und sie zugleich gut lesbar gestalten. Dem Brückenschlag zwischen wissenschaftlicher Textauslegung und kirchlich-schulischer Pra- ZNT 1 (1998) xis dient auch die konzeptionelle Gestaltung der neuen Zeitschrift: Eine erste Rubrik heißt »Neues Testament aktuell«. Hier werden Leserinnen und Leser über Trends in der theologischen Forschung informiert. Ziel ist es, laufende Diskussionen transparent und somit schnell zugänglich zu machen. Es folgen in der Regel drei Einzelbeiträge zu unterschiedlichen Fragestellungen. Ein weiteres regelmäßiges Feature ist die »Kontroverse«. Hier werden zwei gegensätzliche Meinungen zu ein und demselben Thema miteinander konfrontiert eine Aufforderung an die Leserschaft, selbst abzuwägen und am Thema weiterzudenken. »Hermeneutik und Vermittlung« umschreibt nicht nur den Zielgedanken der ZNT, sondern ist Überschrift einer eigenen Sparte. Hier können Methodenprobleme oder Ansätze einer Umsetzung exegetischer Erkenntnisse für die kirchlich-schulische Praxis dargestellt werden. Die Rubrik »Buchreport« schließlich rundet das Konzept der ZNT ab. Nicht eine Flut von Neuerscheinungen, sondern ein Buch, das in der Öffentlichkeit auf breite Resonanz stößt oder nach Meinung der Herausgeber größere Beachtung verdient, wird hier ausführlich besprochen. Die ZNT wird halbjährlich, und zwar zum 1. April und 1. Oktober, erscheinen. Jede vierte Ausgabe ist als Themenheft geplant, das Beiträge zu einem bestimmten Leitthema beinhalten wird. ZNT 1, die Nummer, die Sie in Händen halten, ist ein solches Themenheft und behandelt das Thema »Jesus Christus«. Stefan Alkier Kurt Erlemann Roman Heiligenthal 1 Peter Müller Neue Trends in der Jesusforschung Die Frage »Wer ist Jesus? « begleitet den christlichen Glauben und die Theologie von Anfang an. In Mk 8,27 fragt Jesus seine Jünger: »Wer sagen die Leute, daß ich bin? « »Die Leute« geben verschiedene Antworten: Einige sagen, er sei ein Prophet; andere sehen in ihm den für die Endzeit erwarteten Vorläufer Gottes; wieder andere halten ihn für den auferstandenen Täufer. Aber nicht nur bei den Außenstehenden gibt es verschiedene Auffassungen über Jesus. Die neutestamentlichen Schriften selbst porträtieren ihn auf unterschiedliche Weise, wie schon die verschiedenen Titel zeigen, die ihm beigelegt, oder die Geschichten, die von ihm erzählt werden. Wer Jesus »wirklich« ist, ist eine Frage bereits der ältesten Überlieferung von ihm. Bis in die Gegenwart hinein ist das so geblieben. Im Mai 1995 überschreibt der »Spiegel« seine Titelgeschichte mit: »Gesucht: Ein Mensch namens Jesus«. 1 Das »Time Magazine« geht im Dezember des gleichen Jahres auf »The Search for Jesus«.2 Das Nachrichtenmagazin »Focus« fragt auf seiner Titelseite am 29. März 1997: »Neuer Streit 2 in der Forschung: Glauben wir an den richtigen Heiland? « Und wer in einer der gängigen Suchmaschinen im Internet nach Jesus sucht, sieht sich mit einer geradezu überwältigenden Fülle von Einträgen konfrontiert (z.B. http: / / www.yahoo.com, 832 Web-Sites am 12.9.1997): Jesus in vielfältigen Variationen, manchmal in scharfer Pointierung, manchmal eher konturenlos. 3 Bei dem Streit in der Forschung, auf den der Focus-Titel anspielt, geht es um eine »neue Runde« in der Frage nach dem historischen Jesus. Diese neue Runde schlägt sich in einer großen Zahl von J esusbüchern nieder, die in den letzten Jahren auf den Markt gekommen sind. Ich nenne nur einige davon, 4 die schon im Titel eine bestimmte Fragerichtung andeuten: John Dominic Crossan: Der historische Jesus; Ed Parish Sanders: Sohn Gottes. Eine historische Biographie; Gerd Theißen/ Annette Merz: Der historische Jesus; Geza Vermes: Jesus d~r Jude. Ein Historiker liest die Evangelien. Offensichtlich geht es in diesen und vielen anderen Büchern um historisch über- ZNT 1 (1998) prüfbare Erkenntnisse zu Jesus. Hinzu kommt eine kaum zu übersehende Anzahl allgemein verständlicher Jesus bücher, die teils versuchen, den wissenschaftlichen Erkenntnisstand zu vermitteln,5 teils aber auch sehr eigenwillige Wege gehen und dabei mit erstaunlicher Sicherheit ihren >tatsächlichen< Jesus vorstellen: Jesus als erster neuer Mann oder als Macho, als Essener oder buddhistischer Philosoph, als Sozialrevolutionär oder Drückeberger - und so weiter. 6 Von Markus ins Internet: Dieses andauernde und immer wieder neu aufbrechende Interesse an Jesus ist schon erstaunlich; und ebenfalls erstaunlich ist, welche exotischen Blüten dieses Interesse bisweilen hervorbringt. Im vorliegenden Aufsatz geht es nicht darum, in knapper Form darzustellen, was man über den historischen Jesus heute sagt. Dargestellt werden vielmehr bestimmte Trends und Fragerichtungen, die gegenwärtig in der Jesusforschung zu erkennen sind, sowie verschiedene Probleme und Perspektiven, die sich im Zusammenhang mit ihnen ergeben. 1. Von der ersten zur dritten Runde In der wissenschaftlichen Jesusforschung kann man verschiedene Phasen unterscheiden: Die Leben-J esu-Forschung des 19. Jahrhunderts, die »neue Frage« nach Jesus ab der Mitte der S0er Jahre und die »dritte Fragerunde« etwa seit dem Beginn der 80er Jahre. Einen wichtigen Beitrag leistet auch die jüdische Jesusforschung, die vor allem in der »dritten Fragerunde« aufgenommen und vorausgesetzt wird. Unser gegenwärtiger Standpunkt befindet sich mitten in der »dritten Fragerunde«, und die »neuen Trends« im Titel des Aufsatzes beziehen sich hierauf. Aber um sie zu verstehen, muß man die wesentlichen Fragestellungen und methodischen Voraussetzungen der vorangegangen Phasen kennen. 1.1 Die Leben-Jesu-Forschung des 19.Jahrhunderts versuchte, das traditionelle J esusbild von der jahrhundertelangen kirchlich-dogmatischen Übermalung zu befreien, zum wirklichen, historischen Jesus vorzudringen und ihn als Vorbild für das eigene Leben vor Augen zu stellen. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Frage nach den zur Ver- ZNT 1 (1998) Peter Müller Peter Müller, Jahrgang 1950, seit 1978 ? farrer der Ev. Kirche in Hessen und Nassau. 1987 Promotion. 1991 Habilitation. Seit 1993 Professor für Ev. Theologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule in Karlsruhe. fügung stehenden Quellen. Dabei waren zwei Entwicklungen wichtig: Der Quellenwert des Johannesevangeliums trat zugunsten der Synoptiker in den Hintergrund, und innerhalb der synoptischen Evangelien gewann die Markuspriorität die Oberhand. Auf diesem Hintergrund wurde die Zwei- Quellen-Theorie (also das Markusevangelium und die aus Matthäus und Lukas erschlossene Spruchquelle Q als früheste Quellen) entwickelt, die bis heute im wesentlichen in Geltung ist. Eine Rekonstruktion des Lebens Jesu hatte sich demnach vor allem auf das Markusevangelium als (methodisch abgesicherter) ältester Quelle zu stützen. Bei der Rekonstruktion selbst wurden verschiedene Wege eingeschlagen. Der Rationalismus unternahm besonders den Versuch, die Wundererzählungen von Jesus vor dem Forum der kritischen Vernunft zu klären. 7 David Friedrich Strauß machte sich daran, die starke mythische Übermalung der Jesusgeschichten zu entfernen, in der Überzeugung, daß deren radikale Destruktion das »Ewig-Wirkliche« an Jesus, die Idee der Gottmenschlichkeit, gar nicht berühre. 8 Eine populäre Wendung nahm die Leben-Jesu-Forschung mit verschiedenen romanhaften J esusdarstellungen, unter denen das Buch von Ernest Renan 9 den größten Eindruck machte: Jesus, von liebenswürdigem Charakter und zugleich hinreißender Schönheit, predigt »eine köstliche Theologie der 3 Liebe« und verbreitet damit einen »unendlichen Zauber«, dem sich niemand entziehen könne. Das Ende des 19. Jahrhunderts schrieb die Biographie eines »liberalen Jesus«, rekonstruiert aus dem Markusevangelium und der Spruchquelle, eines Jesus, der zur religiösen Erhebung und zu einem ethisch verantworteten Leben des Einzelnen vor Gott rief, in dem das Gottesreich sich fortschreitend Gestalt entwickele. 10 Das Ende dieser Leben- Jesu-Forschung ist besonders mit den Namen Johannes Weiß, William Wrede und Albert Schweitzer verbunden. 11 Weiß rückte die Predigt Jesu vom nahen Weltende und vom bevorstehenden Reich Gottes ins Zentrum seiner Arbeit und stellte damit die Vorstellung vom geistigen und innerlichen Gottesreich an einem zentralen Punkt in Frage. Wrede hob mit seiner Arbeit über das Messiasgeheimnis bei Markus den gemeindetheologischen Charakter des Evangeliums hervor und untergrub damit das Zutrauen in sein Verständnis als verläßlicher historischer Quelle für das Leben Jesu. Und Schweitzer legte in einem gewaltigen Werk dar, daß und wie sich die Jesusdarstellungen der liberalen Leben-Jesu-Forschung ihren jeweils eigenen Jesus schufen und sich dabei vor allem an den ethischen Idealen der jeweiligen Verfasser orientierten. 4 1.2 Die grundlegende Kritik am liberalen Jesusverständnis und die tiefe Verunsicherung des 1. Weltkrieges erforderten ein neues theologisches Nachdenken und einen andere Zugang zu Jesus. Die Leitlinie wurde von Rudolf Bultmann vorgegeben: »Denn freilich bin ich der Meinung, daß wir vom Leben und der Persönlichkeit J esu so gut wie nichts mehr wissen können, da die christlichen Quellen sich dafür nicht interessiert haben, außerdem sehr fragmentarisch und von der Legende überwuchert sind, und da andere Quellen über Jesus nicht existieren«. 12 Bultmann ist nicht am Biographischen, sondern an Jesu Verkündigung interessiert, und zwar nicht im Sinne eines Lehrsystems, sondern im Sinne der Anrede, 13 des Kerygmas, wobei vor allem die Eschatologie und die Ethik Jesu im Sinne eines Rufes zur Entscheidung14 in den Mittelpunkt treten. Methodisch bedient sich Bultmann dabei im wesentlichen der Formgeschichte, mit deren Hilfe er hinter die Texte zurückfragt nach den kleinen Einheiten der mündlichen Überlieferung. Diese beeindruckende Konzeption brachte die Frage nach dem historischen Jesus für 30 Jahre zum Verstummen. Der Einspruch kam aus der Bultmannschule selbst. Er steht in Zusammenhang mit einem neuen methodischen Schritt der Evangelienexegese, nämlich der Redaktionskritik. Diese erkannte, daß die Evangelisten zwar durchaus Sammler und Tradenten von überliefertem Material waren, aber eben auch theologisch eigenständige Autoren, die ihr Material in unterschiedlicher Weise komponierten und auf diese Weise verschiedene, deutlich akzentuierte J esusdarstellungen schufen. Angesichts der Vielfalt der Darstellungen erwies sich die Frage nach der Beziehung zum irdischen Jesus aber als unausweichlich, und Ernst Käsemann formulierte: »Die Frage nach dem historischen Jesus ist legitim die Frage nach der Kontinuität des Evangeliums in der Diskontinuität der Zeiten und der Variation des Kerygmas«. 15 Sachlich ging es also darum, die Verbindung zwischen der Christusverkündigung der Gemeinde und der eigenen VerkündigungJesu herauszuarbeiten. Auch wenn sich der liberale Versuch, ein Leben Jesu zu rekonstruieren, endgültig als gescheitert erwies: »die kritische Bemühung, vor allem die Lehre Jesu herauszuarbeiten und darzustellen, geht weiter«. 16 Für diese Bemühung waren Methoden und Kriterien notwendig. Was sich mit Hilfe formgeschichtlicher und redak- ZNT 1 (1998) tionskritischer Arbeitsschritte als möglicherweise echtes J esusgut erwies, wurde einem traditionsbzw. religionsgeschichtlichen Vergleich unterzogen. Käsemann selbst formulierte dazu das sogenannte Differenzkriterium (auch Unähnlichkeitsbzw. U nableitbarkeitskriterium): Einigermaßen festen historischen Boden unter den Füßen haben wir nur, wenn sich eine bestimmte Jesustradition weder aus dem Judentum noch aus dem frühen Christentum ableiten läßt.17 Die Problematik dieses Kriteriums wurde erst später erkannt: Unausgesprochen setzt es nämlich Jesus eindeutig sowohl vom Judentum (als auch vom frühen Christentum) ab und nimmt ihn dadurch aus seinem historischen Umfeld heraus. »Jesus ist dann kein Jude mehr oder bestenfalls marginal jüdisch. Kurz: Das Differenz-Kriterium ist verkappte Dogmatik«. 18 1.3 Die moderne jüdische J esusforschung versucht demgegenüber, Jesus im Rahmen des Judentums zu verstehen. Wichtige Arbeiten erschienen bereits in der ersten Hälfte dieses J ahrhunderts. 19 Von den neueren Vertretern sind in Deutschland vor allem die Arbeiten von David Flusser, Schalom Ben Chorin und Pinchas Lapide einem breiteren Publikum bekannt geworden. Fluss er stellt Jesus als gesetzestreuen Juden dar, dessen Denken vom Liebesgebot, von der Überwindung des Vergeltungsgedankens und der Erwartung des Gottesreiches und damit insgesamt von jüdischen Traditionen bestimmt waren. 20 Ben Chorin spricht in persönlich sehr überzeugender Weise von dem »Bruder Jesus« und stellt ihn in die Nähe der Pharisäer.21 Auch Lapide sieht Jesus ganz im Zusammenhang jüdischer Traditionen und jüdischen Denkens und betreibt auf diesem Hintergrund »jüdische Evangelienauslegung«. 22 Auch wenn man bei diesen Arbeiten im einzelnen durchaus Kritik anmelden kann, 23 stellen sie doch insgesamt einen wichtigen Beitrag zur Jesusforschung dar. Sie leiten nicht nur zu einer sachgemäßen Darstellung Jesu im Rahmen der jüdischen Religionsgeschichte an, 24 sondern haben auch intensiv auf die christlichen J esusdarstellungen eingewirkt und damit zu einer neuen Phase des Fragens nach dem historischen Jesus beigetragen. Daß Jesus Jude war und im Rahmen des zeitgenössischen Judentums betrachtet werden muß, gehört heute zu den Grunderkenntnissen der Rückfrage nach Jesus. ZNT 1 (1998) Hier hat sich ein wirklicher und erfreulicher Konsens ergeben. 2. Trendsetter Von diesem Konsens geht die neueste Fragerunde zum historischen Jesus aus, die seit etwa 20 Jahren im Gang ist. Allerdings sind die Übereinstimmungen damit auch schon fast aufgezählt. Denn die Versuche, Jesus im Rahmen des Judentums seiner Zeit zu verstehen, sind in sehr unterschiedlicher Richtung ausgeführt worden und haben zu stark differierenden Ergebnissen geführt. Anhand einiger wichtiger Jesusbücher der letzten Jahre kann man sich die unterschiedlichen Auffassungen gut verdeutlichen. Ich greife dazu etwas ausführlicher vier Arbeiten heraus, die mit wissenschaftlichem Anspruch geschrieben sind und die Diskussion nicht unwesentlich mit beeinflußt haben, nämlich die Bücher von Vermes, Crossan, Borg und Sanders. Sie vertreten jeweils einen eigenen Trend in der neueren Jesusforschung. Daß es sich dabei ursprünglich um in den Vereinigten Staaten und England veröffentliche Bücher handelt, ist kein Zufall. »The third quest« nach dem historischen Jesus hat ihren Anfang vor allem im englischsprachigen Raum genommen. 2.1 Der jüdische Gelehrte Geza Vermes vertritt in seinem Buch »Jesus der Jude. Ein Historiker liest die Evangelien« 25 die Auffassung, daß Jesus nur vor dem galiläischen Hintergrund des ersten Jahrhunderts verstanden werden könne. »In seinem Herzen war er ein echter Landmensch« (S. 36) und damit ein echter Galiläer. Die Städte habe er gemieden, insbesondere Sepphoris, die Hauptstadt, und die anderen regionalen Zentren (S. 35). Charakteristisch für Galiläa ist nach Vermes ein unbändiges Judentum (S. 33), das gelegentlich zum Chauvinismus neigte (S. 271) und das die zelotische Bewegung ebenso hervorbrachte wie heilige Männer vom Typ des charismatischen Frommen (S. 66). »Alle Fäden die Untersuchung Galiläas im ersten Jahrhundert, die des charismatischen Judentums sowie der Titel J esu und ihrer Entwicklung laufen in dem einen Punkt zusammen, der Jesus einen Platz in der ehrwürdigen Gesellschaft der Frommen, der alten Chassidim, zuweist. ( ... ) Jesus ( ... ) gibt sich als 5 einer der heiligen Wundertäter Galiläas zu erkennen« (S. 205). Als solcher gehöre er in eine Reihe mit anderen charismatischen Wundertätern, wie besonders Choni und Chanina ben Dosa. Von diesen sei er freilich durch seine »unvergleichliche(n) Überlegenheit« auch unterschieden: »Die existentielle Beziehung des Menschen zum Menschen und des Menschen zu Gott« habe er auf unvergleichliche Weise zum Ausdruck gebracht (S. 206). Neben Jesu Wirken als Heiler und Exorzist geht Vermes deshalb auch im besonderen auf die Botschaft Jesu von Gott als dem Vater und dem König ein (S. 232 ff.236 ). Zentral sei für Jesus dabei die Vorstellung von der Umkehr zu Gott. Diese Umkehr stehe im Zentrum seiner Verkündigung, nicht dagegen die Frage nach einem bestimmten Zeitpunkt für das Kommen des Gottesreiches. Worauf es ankomme, sei vielmehr die Hinwendung zu Gott und die »Übereignung der Person an Gott und seinen Willen« (S. 245). 2.2 Im »Epilog« des Buches »Der historische Jesus« von John Dominic Crossan 26 (S. 548-559) findet man in komprimierter Form eine gänzlich andere Jesusdarstellung. Das Judentum zur Zeit Jesu war nach Crossan ein ganz und gar hellenistisches Judentum. Im nahe bei Nazareth gelegenen Sepphoris habe Jesus hellenistisches Denken kennengelernt, hellenistische Lebensart, Kultur und Philosophie und insbesondere das Denken der Kyniker.Jesus sei »ein Vertreter jener bäuerlichen, volkstümlichen, mündlichen philosophischen Praxis, die man als jüdischen Kynismus (oder kynisches Judentum) bezeichnen könnte« (S. 553). Dieser Kynismus sei insgesamt eher Lebensform als Philosophie gewesen, »Widerstand gegen die Zwänge der mediterranen Kultur, gegen die Herrschaft von Ehre und Schande, von Patronat und Klientenwesen, und zwar weniger in der Theorie als in der Praxis eines Lebensstils, im Aussehen, in der Kleidung, beim Essen, in der ganzen Lebensführung. Diese Kyniker waren sozusagen Hippies in einer Welt augusteischer Yuppies« (S. 553). Deshalb sei Jesus nicht in die Städte, sondern in die Dörfer Galiläas gegangen. Mit den Mitteln der Magie und des gemeinsames Essens habe er gewirkt. Elitäres Gelehrtentum sei seine Sache nicht gewesen, sondern er habe einen religiösen und ökonomischen Egalitarismus vertreten, mit dem er die hierarchische und patronale Normalität so- 6 wohl der jüdischen Religion als auch der römischen Machthaber in Frage stellte (S. 554). So vertrat Jesus nach Crossan ein inklusives hellenistisches Judentum, 27 das gerade wegen seiner gelebten Inklusivität auch auf Makler und Mittler zwischen Gott und den Menschen verzichtete. Jesus »verkündete, mit einem Wort, das keines Vermittlers bedürftige, unmittelbar gegebene Reich Gottes« (S. 554 ). 2.3 Das Buch von Ed Parish Sanders, zuerst 1993 unter dem Titel »The Historical Figure of Jesus«, wurde 1996 von Klett-Cotta auf deutsch herausgegeben: »Sohn Gottes. Eine historische Biographie« (s. Buchreport). Für Sanders war Jesus »ein charismatischer und autonomer Prophet« (S. 348), ein eschatologischer Prophet, ein »radikaler Eschatologe«: »Er erwartete einen entscheidenden Eingriff Gottes, durch den sich die Verhältnisse von Grund auf ändern würden« (S. 383). In symbolischen Handlungen habe er auf dieses Eingreifen Gottes hingewiesen (S. 370ff.): Der Einzug auf einem Esel nach Jerusalem erfülle die Verheißung aus Sach 9,9; die Tempelreinigung verbinde er mit einem Ausspruch über die bevorstehende Zerstörung des Tempels; mit dem Abendmahl weise er hin auf das nahe bevorstehende Gottesreich und seinen Anteil daran. »Die drei symbolischen Handlungen weisen demnach alle voraus auf das kommende Reich und auf die Rolle, die Jesus darin spielen würde« (S. 386). Im gleichen Zusammenhang seien auch die Verwendung der Zahl zwölf bei den Jüngern wie auch seine Wunder zu verstehen, besonders die Dämonenaustreibungen: symbolische Handlungen, die auf die Ankunft des Reiches Gottes hinweisen (S. 371). Für Sanders ist Jesus also ein ganz und gar eschatologischer, apokalyptischer Prophet. »Er sah sich als uneingeschränkt bevollmächtigt, im Namen Gottes zu sprechen und zu handeln« (S. 348). Und sich selbst habe er als »Statthalter« Gottes gesehen: »Gott war König, aber Jesus war sein Statthalter und würde das auch im kommenden Reiche Gottes sein« (S. 263). 28 2.4 Marcus J. Borg will in seinem Buch »Jesus. Der neue Mensch« 29 »in aller Kürze ein Bild (zu) skizzieren, wer Jesus als geschichtliche Gestalt vor seinem Tode gewesen ist« (S. 9). Dies sei möglich, weil mit relativer Sicherheit sowohl die wichtig- ZNT 1 (1998) sten Themen und die Stoßrichtung seiner Lehre, grundlegende Merkmale seines Handelns und wesentliche Aspekte seiner Persönlichkeit zu erkennen seien. Die Sicherheit ergebe sich durch die Ordnungsprinzipien von »Geist« und »Kultur«, wobei »Geist« für jene »andere Wirklichkeit« stehe, »die man bisweilen geistlich oder heilig nennt und als die >andere Welt< oder einfach als >Gott< bezeichnet«, während »Kultur« die Einbindung J esu in das geschichtliche Leben und soziale Gefüge seines Volkes meine (S. 35 f.). Darüber hinaus gebe es »religiöse Persönlichkeitstypen«, »die man in sämtlichen Kulturen ebenso kenne wie in der Geschichte Israels. In Anlehnung an diese Typen sei Jesus verstehbar als »ein Charismatiker, der Kranke heilte, ein Weiser, ein Prophet und der Gründer einer Bewegung, die neues Leben stiftete« (S. 35 ). Ganz zentral bezeuge er die Existenz des Geistes und gebe ein eindrucksvolles Bild für das Leben im Geist: »Da sind zum einen natürlich die ungewöhnlichen Kräfte des Geistes, die ihn bei seinen Wundertaten durchströmten«. Andere Eigenschaften kommen hinzu: »Er war ein bemerkenswert freier Mensch. Frei von Furcht und ängstlichen Vorurteilen, war er frei, zu verstehen und zu lieben. Seine Freiheit gründete sich auf den Geist, aus dem auch die anderen wesentlichen Merkmale seines Lebens hervorgingen: Mut, Ein- ZNT 1 (1998) sieht, Freude und vor allem Barmherzigkeit. Sie alle bringt der Geist hervor« (S. 214). Dieser unangepaßte, charismatische Weisheitslehrer und Erneuerer Jesus sei deshalb zugleich eine Herausforderung unserer eigenen Sicht der Wirklichkeit (S. 226 ). 3. Hintergründe Wenn man diese Arbeiten liest, begegnet Jesus einem also in sehr unterschiedlicher Weise als Frommer Israels und als Charismatiker als wandernder Kyniker als eschatologischer Prophet als geistvoll-unangepaßter Weisheitslehrer. Alle vier Entwürfe sind sehr pointiert und erheben den Anspruch historisch nachvollziehbarer Rekonstruktion. Wie kommt es dennoch zu diesen großen Unterschieden? Vier Fragen sind dabei besonders wichtig: Welche Quellen werden jeweils benutzt? Mit Hilfe welcher Methoden und Kriterien werden die Quellen ausgewertet? Welche zentralen Inhalte werden vorgestellt? Und welche hermeneutischen Voraussetzungen sind wirksam? 3.1 Alle vier Arbeiten ziehen die synoptischen Evangelien als Quellen heran. Aber sie tun dies auf unterschiedliche Weise. Für Sanders sind die Evangelien des Neuen Testaments die Hauptquellen für unsere Kenntnisse über Jesus. 30 Da sie aus ursprünglich kleinen Einheiten zusammengesetzt seien, bestehe die Aufgabe darin, diese Einheiten zunächst zu isolieren und auf ihre Historizität zu befragen, um sie sodann »möglichst passend miteinander zu verbinden und sie mit den damaligen Zeitumständen in Einklang zu bringen. Wenn uns das gelingt, werden wir über Jesus eine ganze Menge in Erfahrung gebracht haben«. 31 Auch für Vermes spielen die Synoptiker als Quellen eine wesentliche Rolle. Und daß er daneben noch andere Quellen heranzieht, nämlich »die Apokryphen und Pseudepigraphen, die Werke des Philo und des Flavius Josephus, jüdische Inschriften, die Texte vom Toten Meer sowie frühe rabbinische Schriften«, unterscheidet ihn noch nicht von Sanders. »Diese Quellen sollen jedoch nicht als Kulissen verwendet werden, sondern als Zeugen«, sie »sollen unabhängige Aussagen liefern und werden, 7 zumindest bisweilen, die Richtung der Untersuchung bestimmen«. 32 Das heißt: Die jüdischen Schriften sind selbständige, unabhängige und deswegen besonders richtungweisende Zeugen zur Beantwortung der Frage nach dem historischen Jesus. Für Crossan stellt sich die Quellenlage wiederum anders dar. Er unterscheidet verschiedene Quellenschichten, die in verschiedene Perioden zwischen 30 und 150 n. Chr. gehören. Zur ältesten und für die Frage nach dem historischen Jesus wichtigsten Quellenschicht zählen seiner Auffassung nach vor allem das Thomasevangelium, das Hebräerevangelium, die Spruchquelle Q, ein Sammlung von Wundererzählungen und das im Petrusevangelium überlieferte »Kreuzevangelium«. 33 Die Evangelien in ihrer gegenwärtigen Gestalt gehören erst zur zweiten (Markus) bzw. dritten Quellenschicht (Matthäus und Lukas). Die Hauptquellen für den historischen Jesus sind nach Crossan also verschiedene apokryphe Texte und solche Quellen, die aus den kanonischen Evangelien erst rekonstruiert werden müssen. Crossan steht damit nicht allein; besonders diejenigen amerikanischen Exegeten, die in dem sogenannten »Jesus-Seminar« mitarbeiten, 34 gehen von dem hohen Quellenwert vor allem des Thomasevangeliums aus. Für Borg schließlich geht es bei der Rückfrage nach Jesus nicht in erster Linie um das, was er gesagt oder was er getan hat, sondern um das, was er war, »nämlich ein geisterfüllter Mensch in der charismatischen Strömung des Judentums. 35 Und die Hauptquellen sind für Borg deshalb die Evangelien insofern, als sie »die Welt des Geistes« sichtbar und erfahrbar werden lassen. Im Blick auf die Quellen kann man also festhalten: Die vier Autoren verwenden teilweise unterschiedliche Quellen, und wenn sie dieselben Quellen verwenden, dann auf unterschiedliche Weise. 3.2 Auch bei den Methoden und Kriterien, die zur Auslegung der Quellen herangezogen werden, zeigen sich Unterschiede. Vermes erhebt im ersten Teil seines Buches aus den Evangelien auf eher unkritische Weise bestimmte, wiederholt genannte MerkmaleJesu (z.B. Zimmermann, Exorzist, Heiler, Lehrer) und verbindet diese mit Zeugnissen für ein charismatisch geprägtes Judentum in Galiläa. Seine Methode ist also im Grund ein religionsgeschichtlicher Vergleich mit dem zeitgenössischen Judentum. Crossan's methodisches Instru- 8 mentarium ist breit gefächert. 36 Er unterscheidet kulturübergreifende und epochenüberschreitende Fragestellungen der Sozialanthropologie (makrokosmische Ebene; beispielsweise Ehre und Schande als grundlegende Werte der antiken Welt), grundlegende historische Fragestellungen zur hellenistischen und griechisch-römischen Geschichte (mesokosmische Ebene) und literarische Fragestellungen zur schriftlich fixierten Überlieferung von Jesus (mikrokosmische Ebene). Bei dem literarischen Methodenkomplex bleibt Crossan in der Spur der »neuen Frage« nach Jesus, indem er besonders von der Wortüberlieferung Aufschlüsse über den historischen Jesus erwartet. 37 Insgesamt aber legt er größten Wert auf die Gleichberechtigung der methodischen Zugänge, die sich zudem gegenseitig unterstützen müssen, wenn ihre Ergebnisse Bestand haben sollen. Das Methodeninventar wird somit ausgeweitet in Richtung auf die Kultur- und Sozialanthropologie, und die Frage nach dem historischen Jesus wird zu einer interdisziplinären Frage. Sanders wendet die grundlegenden Arbeitsschritte der historisch-kritischen Methode an, isoliert kleine, ursprüngliche Einheiten, die er zu einem historischen überzeugenden Gesamtbild zusammenzufügen versucht. 38 Seiner Auffassung nach ist auf die Wortüberlieferung jedoch nur wenig Verlaß. 39 Deshalb konzentriert er sich sehr viel stärker auf Jesu Handlungen und auf andere Fakten aus seinem Leben. Einerseits habe Jesus die eschatologische Botschaft des Täufers akzeptiert und andererseits sie bei den Nachfolgern Jesu schon bald nach seinem Tod die Erwartung des unmittelbar bevorstehenden Kommens Gottes nachweisbar. 40 In diesen Zusammenhang füge Jesus sich zwangsläufig ein, wie gerade seine symbolischen Handlungen (und insbesondere die Tempelreinigung) zeigten. 41 Von der Wortüberlieferung nimmt Sanders dementsprechend vor allem diejenigen Teile auf, die mit dieser Zeichenhandlung in Einklang stehen und die eschatologische Botschaft J esu akzentuieren. Borg schließlich kombiniert die verschiedenen Möglichkeiten und geht davon aus, daß wir relativ sichere Aussagen sowohl über die Worte Jesu als auch über die Art seiner Taten machen können. Da er überdies eine allgemeine Charakteristik geisterfüllter Personen zugrundelegt, sieht er auch im Blick auf die Persönlichkeit J esu Erkenntnismöglichkeiten gegeben: »Wenn wir uns dies alles zu eigen machen ZNT 1 (1998) und uns nicht selbst mit der Frage in die Quere kommen, ob Jesus auch wirklich genau die Worte gesagt hat, die ihm zugeschrieben werden, dann können wir ein nahezu vollständiges und historisch vertretbares Bild von Jesus gewinnen.« 42 3.3 Wenn teilweise verschiedene Quellen mit unterschiedlichen Methoden ausgewertet werden, ist es nicht verwunderlich, daß auch die zentralen Inhalte der Botschaft J esu differieren. Besonders deutlich wird dies bei der Eschatologie und der Gottesherrschaft. Ein gänzlich uneschatologischer Jesus kommt in Crossans Buch zum Vorschein. Er habe die Verwirklichung des Reiches Gottes im »Jetzt und Hier« verkündet. 43 Zugang zum Reich Gottes gewinne man durch ein neues Handeln, das bestehende Herrschaftsverhältnisse überwinde und vor allem im Blick auf die Familien und die politischen Verhältnisse beschrieben wird, 44 Das Reich Gottes ist somit für Crossan das »ewig gegenwärtige Reich der Weisheit«, 45 das jedem in der eigenen Gegenwart offenstehe. Auch nach Borg sprach Jesus vom Gottesreich als einer gegenwärtigen Größe und Gemeinschaft. Er sieht im Reich Gottes ein Sprachsymbol, das es Jesus ermöglicht habe »über die Kraft des Geistes und das neue Leben, das er erschaffe, zu reden.( ... ) Leben im Geiste ist wirkliches Leben im Reich Gottes«. 46 Umschrieben wird dieses Leben im Geist mit Güte, Erbarmen, Solidarität, menschenfreundlicher Politik: »Genau dieses Anliegen sahen wir beim historischen Jesus: Barmherzigkeit, die Frucht des Geistes, sollte im weiten Raum der Gesellschaft verwirklicht werden.« 47 Für Vermes ist die Frage nach dem Zeitpunkt der Reich-Gottes-Erwartung Jesu unerheblich und geht sogar an Jesu eigener Vorstellung vorbei. Für Jesus stehe der Gedanke der Umkehr im Zentrum, seiner eigenen Umkehr (durch den Ruf des Täufers zur Buße bewirkt) und der Umkehr derer, die ihm nachfolgten. »Indem sie ihre Wahl dergestalt treffen, kommt Gottes Reich, und sie treten in es ein. Eine neue Ära oder vielmehr: ein neuer Äon nimmt für sie seinen Anfang. ( ... ) In der Übereignung der Person an Gott und seinen Willen realisiert sich seine Herrschaft auf Erden.« 48 So unterschiedlich die Jesusdarstellungen dieser drei Autoren im einzelnen auch sind, so stimmen sie doch darin überein, daß das Reich Gottes in der Gegenwart offen steht und daß man durch sein Verhalten den Zugang ge- ZNT 1 (1998) winnt. Wenn man mit dem Ende der liberalen Leben-Jesu-Forschung zur Jahrhundertwende vertraut ist, erwartet man angesichts dieser Übereinstimmung geradezu den eschatologischen Einspruch. Er findet sich bei Sanders: Hier ist Jesus der »Eschatologe«, der charismatische und apokalyptische Prophet, der mit seinen Handlungen immer wieder auf das bevorstehende Eingreifen Gottes hinweist. 3.4 Schließlich ist noch die Frage nach den hermeneutischen Voraussetzungen zu stellen. Borg gibt seinen hermeneutischen Standpunkt recht deutlich zu erkennen: »Ich habe ein doppeltes Anliegen. Zunächst möchte ich einen Gesamtentwurf moderner Jüngerschaft J esu vorlegen, der dem Leser allgemein zugänglich ist, sei er ein Christ oder ein aufgeschlossen Suchender. Gleichzeitig will ich gewichtige wissenschaftliche Gründe für ein eigenes Bild des historischen Jesus vorbringen, das dem herrschenden wissenschaftlichen Bild erheblich widerspricht ( ... )« 49 Jesus für unsere Zeit das ist das Anliegen Borgs, zu dem er eine Darstellung des historischen Jesus entwirft, der als Quelle der Erneuerung in seiner Zeit auch für unsere Zeit Impulse setzen kann. So kommt es bei Borg zu einem Hin- und Hergehen zwischen gegenwärtigen und historischen Fragestellungen, und man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der »Jesus für heute« die Leitlinie für das Verstehen des historischen Jesus abgibt. Die anderen hier behandelten Autoren verstehen ihre Arbeit als diejenige des Historikers, bringen dies schon in den Titeln ihrer Werke zum Ausdruck und arbeiten mit einer zum Teil sehr breit dargelegten Methodologie. Aber auch eine noch so ausgefeilte methodische Grundlegung wie bei Crossan ist vor methodenfremden Voraussetzungen nicht gefeit, wie schon der Satz, daß die Kyniker, wie Crossan sie sich vorstellt, »sozusagen Hippies in einer Welt augusteischer Yuppies« gewesen seien, 50 zeigt. Die kritische Bemerkung von Theißen/ Merz, der so vorgestellte Jesus trage mehr kalifornisches als galiläisches Lokalkolorit, trifft den Nagel auf den Kopf. 51 Und wenn Geza Vermes' Buch zwar den Untertitel »Ein Historiker liest die Evangelien« trägt, jedoch weder der Titel noch das ganze Buch an irgendeiner Stelle erkennen lassen, daß es sich um einen jüdischen Historiker handelt, der sehr deutlich in der Tradition jüdischer Evangelienaus- 9 legung steht, so ist auch hier der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, daß mit dem Etikett »Historiker« ein Anschein von Objektivität vermittelt werden soll, der weder dem Etikett noch dem Buch angemessen ist. Und Sanders? Er entspricht von den hier näher vorgestellten Autoren wohl am ehesten dem Bild des Historikers, und es ist nicht verwunderlich, daß sein Jesus wohl der fremdeste von den vieren ist (das ist eine interessante Parallele zur Jesusdarstellung von Albert Schweitzer zur Jahrhundertwende). Umstritten ist diese J esusdarstellung allerdings auch; denn eine theologisch so bedeutende Szene wie die Tempelreinigung zum Fundament einer historischen Rekonstruktion zu machen, wird gerade unter historisch-kritisch arbeitenden Exegetinnen und Exegeten äußerst kritisch betrachtet. 4. Orientierungen Die hier etwas näher vorgestellten Arbeiten deuten jeweils einen bestimmten Forschungstrend an. Alle vier Bücher stellen Jesus in den Rahmen des zeitgenössischen Judentums. Für Vermes bedeutet dies freilich, daß Jesus im Judentum völlig aufgeht, und so ist es denn kein Wunder, daß Jesus und das Christentum im Grunde durch Welten voneinander getrennt sind. 52 Borg sieht wie Vermes in Jesus den Charismatiker, der für ihn aber eher einen besonderen Typus des Menschen darstellt, der mit der Welt des Geistes in enger Verbindung steht und sich deshalb der Welt der Kultur nicht anpaßt. Jesus repräsentiert so eine besondere Gestalt des Menschseins, der es gerade in unserer Gegenwart nachzueifern gilt. Diese Verbindung von historischen und aktuellen Fragestellungen ist für Borg's Buch charakteristisch. Unangepaßt ist auch Crossans Jesus. Geprägt ist er von der kynischen Philosophie, und am ehesten kann man ihn als Weisheitslehrer bezeichnen, auch dies ein Trend, der sich in einer ganzen Reihe von Jesusbüchern ablesen läßt. Auch dieser Jesus würde mit seiner Gesellschaftskritik gut in unsere Gegenwart passen. Gemeinsam repräsentieren diese drei Autoren den weiteren Trend in der Jesusforschung, den historischen Jesus uneschatologisch zu verstehen. Sanders repräsentiert eine gegenläufige Forschungsrichtung: Jesus ist überhaupt nicht zu verstehen, wenn man ihn nicht eschatologisch versteht. Er 10 steht damit in Kontinuität zur Kritik an der Leben-Jesu-Forschung und zur »zweiten Frage« nach Jesus, begründet seine eschatologische Jesus- Darstellung aber anders als diese Vorgänger. Nun sind Trends ja nicht notwendigerweise etwas Schlechtes. Aber es ist bezeichnend, daß diese voneinander abweichenden Perspektiven bei der Betrachtung Jesu zustande kommen durch die Auswertung unterschiedlich gewichteter Quellen mit Hilfe verschiedener Methoden auf der Grundlage eines jeweils eigenen hermeneutischen Verständnisses. Aus diesem Grund halte ich die vorgestellten Arbeiten zwar alle für interessant; sie bieten, jedes auf seine Weise, erhellende Einblicke in die Umwelt J esu, sehr lesenswerte Einzelanalysen und jeweils eine Fülle wichtiger Details. Allerdings sehe ich in ihren J esusdarstellungen jeweils auch einen »trendy Jesus« (und sei es auch nur in dem Sinn, daß er sich von allen übrigen Jesusdarstellungen abgrenzen muß 53 ); und daß Jesus auch vom »historischsten« Historiker immer durch die eigene Brille gesehen wird, dafür bieten gerade diese vier Beispiele einen erneuten Beleg. Wenn nun anhand verschiedener Quellen und mit Hilfe unterschiedlicher Methoden so differierende Vorstellungen zustanden kommen, muß man da nicht resignieren bei der Rückfrage nach dem historischen Jesus? Gibt es nur divergierende Forschungstrends oder ist Orientierung möglich? Warum fragen wir überhaupt nach dem historischen Jesus? Ist die Frage wichtig? Kann man sie überhaupt beantworten, und wenn ja, mit Hilfe welcher Methoden? Ich denke, daß Orientierung möglich ist - und beziehe mich dabei wiederum auf Literatur, die ich nun zwar nicht mehr ausführlich zitieren kann, die ich aber nennen will. Die genannten Bücher gehören ebenfalls in den Rahmen der »dritten Fragerunde« nach Jesus hinein, sie hüten sich aber vor Einseitigkeiten und versuchen, ihre Methoden und hermeneutischen Voraussetzungen möglichst genau zu klären. Hilfreich finde ich in diesem Zusammenhang vor allem die Bücher von Becker, 54 Theißen/ Merz 55 und Schweizer. 56 Was sie über den historischen Jesus an Erkenntnissen zusammentragen, empfehle ich dort jeweils selbst nachzulesen. In diesem Aufsatz kann es nur darum gehen, einige grundlegende Fragestellungen noch näher zu präzisieren. ZNT 1 (1998) 4.1 Die Rückfrage nach Jesus ist sowohl für die Theologie als Wissenschaft als auch für Kirche und Gesellschaft unaufgebbar. In der Öffentlichkeit gibt es offenbar verschiedene Gründe für das anhaltende Interesse an Jesus: Trotz eines nicht zu übersehenden Traditionsabbruchs ist unsere Gesellschaft nach wie vor christlich geprägt und die Zentralgestalt des Christentums ist allgemein bekannt. Daher ist es nicht verwunderlich, daß diese Zentralgestalt Vorstellungen und Projektionen auf sich zieht.Jesus wird von vielen als exemplarischer Mensch angesehen, auch von solchen, die dem Glauben ansonsten fernstehen. Die Frage nach Jesus hat dabei, wie schon in der Phase der Leben- Jesu-Forschung des 19.Jahrhunderts, auch heute einen kirchenkritischen Aspekt. Bei der Kritik insbesondere an der Institution Kirche beruft man sich immer wieder gerade auf Jesus als Kronzeugen. Nicht zuletzt aus diesen Gründen ist der Name Jesus im Verlagsgeschäft offensichtlich immer wieder dazu in der Lage, aus Büchern Bestseller zu machen. Manche dieser Bücher sind zwar das Papier nicht wert, auf das sie gedruckt wurden. Auf der anderen Seite haben aber die Verlage manchmal anscheinend ein besseres Gespür dafür, daß Jesus auf Interesse stößt, als die Kirchen und die Theologie. Und ganz offensichtlich geht es bei den verschiedenen Vorstellungen von Jesus nicht lediglich um die Alternative »richtig oder falsch«. Es geht auch um die Frage der Tragfähigkeit und Lebendigkeit von Vorstellungen. Historisch unzutreffende Vorstellungen können unter Umständen viel wirksamer und lebendiger sein als noch so korrekte. Sie sind deshalb immer zugleich eine Anfrage an die Lebendigkeit und Tragfähigkeit der in Theologie und Kirche vertretenen Positionen. 4.2 Im Rahmen der neutestamentlichen Exegese und der Theologie insgesamt ist die Rückfrage nach dem historischen Jesus unaufgebbar. Das bloße »Daß des Gekommenseins Jesu« bei Buhmann war eine großartige theologische Konzeption und als Reaktion auf die liberale Leben-Jesu- Forschung verständlich. Sachgemäß, d. h. den Texten und dem wissenschaftlich-theologischen Fragehorizont angemessen, war sie jedoch letztlich nicht. Die historische Rückfrage ist erstens unaufgebbar, weil sie von den Texten selbst vorgegeben ist. Nicht nur für Paulus ist der auferstandene und gegenwärtige Christus mit dem gekreuzigten Jesus ZNT 1 (1998) identisch (I Kor 1,23); auch die Evangelien halten an dieser Kontinuität fest und insbesondere Markus umkreist in seinem Werk von Anfang bis Ende die Frage, wer dieser Mensch Jesus ist. Der »Anfang des Evangeliums« (Mk 1,1) und damit die Erzählungen von dem irdischen Jesus bleiben als Ursprungsgeschichte für die Gegenwart der Nachfolgerinnen und Nachfolger bestimmend. 0 hne Zweifel sprechen die Evangelien in ihre Gegenwart hinein; aber sie tun dies, indem sie die Vergangenheit wachhalten und bewahren. Die Rückfrage nach Jesus folgt dieser Spur der Texte. Sie ist zweitens unaufgebbar wegen unseres eigenen geistesgeschichtlichen Standortes. Die historische Frage ist uns mit der Aufklärung und der Modeme aufgegeben. »Sich aus der Diskussion der historischen Vernunft auszuklinken, ist kein gangbarer Weg«, 57 weil er unseren· eigenen Stand wissenschaftlichen Nachdenkens und Erkennens unberücksichtigt ließe. Drittens hat die Rückfrage nach Jesus auch eine wichtige Funktion als Korrektiv der diversen Jesusbilder, die immer, selbst wenn sie mit noch so großem historischem Anspruch auftreten, auch subjektive Züge tragen. Und schließlich ist es zwar zweifellos legitim, eigene und sehr persönliche Vorstellungen von Jesus zu haben. Wer jedoch in Verkündigung, Unterricht oder Lehre einen Anspruch über sich selbst hinaus vorträgt, muß redlicherweise die eigene Vorstellung an dem überprüfen, was mit größtmöglicher Wahrscheinlichkeit über Jesus gesagt werden kann. Letzten Endes geht es dabei um die Unterscheidung der Worte Jesu von den eigenen Worten.58 4.3 Um solche Wahrscheinlichkeit zu erreichen, muß die Rückfrage nach Jesus methodisch und im Blick auf die Quellen abgesichert werden. Bei den Quellen gilt, daß authentisches Jesusgut durchaus außerhalb der synoptischen Tradition aufbewahrt sein kann und deshalb auch in apokryphen Evangelien entdeckt werden kann. Daß die synoptischen Evangelien von Umfang und Inhalt her die gewichtigsten der zur Verfügung stehenden Quellen darstellen, darf nicht zu einer »Tyrannei des synoptischen J esus« 59 führen. Auf der anderen Seite ist jedoch auch eine »Tyrannei des apokryphen Jesus« nicht erstrebenswert. 60 Es ist ein Problem beispielsweise der Arbeit von Crossan, daß er seine Rekonstruktion des historischen Jesus vor 11 allem auf apokryphe bzw. auf nur rekonstruierte Quellen stützt, die zudem in der Diskussion sehr umstritten sind. Bei unserem derzeitigen Erkenntnisstand können die synoptischen Evangelien als Quellengrundlage durch die Hinzuziehung weiterer Quellen zwar ergänzt, keinesfalls aber ersetzt werden 4.4 Auch im Blick auf die Methoden ist eine Ergänzung des Methodeninventars prinzipiell möglich. Schon bei der Entwicklung der historischkritischen Methode sind immer wieder neue Fragestellungen hinzugekommen, von der Methodendiskussion der letzten zwanzig Jahre ganz zu schweigen. Die Frage nach den verwendeten Methoden ist also immer nur nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand zu beantworten. Wichtig ist aber, die Methodenfrage im Gesamtkontext historischer Fragestellungen zu beantworten. Dies bedeutet, daß historische Phänomene plausibel immer nur im Rahmen bestimmter Räume und Zeiten erklärt werden können. Die grundlegenden Kriterien »Geist« und »Kultur« und die allgemeine Charakteristik geisterfüllter Personen beispielsweise, die Borg zur Erfassung der Persönlichkeit J esu anwendet, sind eher dazu in der Lage, ein zeitunabhängiges Charismatikertum (falls es so etwas je gegeben hat) zu beschreiben als eine konkrete, historische Person. Wenn das Differenzkriterium Jesus letzten Endes kontextlos machte, so neigen die Fragestellungen der allgemeinen (Kultur-)Anthropologie dazu, Jesus im kulturellen Kontext oder in anthropologische Konstanten aufgehen zu lassen. 4.5 In der Kriteriendiskussion der »dritten Runde« wurde zunächst das Differenzkriterium, das faktisch auf eine dramatische Reduktion des authentischen J esusstoffes hinauslief, durch das sogenannte Kohärenzkriterium ergänzt. Die »unableitbaren« Elemente der Verkündigung Jesu wurden also in den größeren Zusammenhang seines Lehrens und Wirkens hineingestellt. Als authentisches J esusgut wurde demnach angesehen, was weder aus Judentum noch frühem Christentum herleitbar war, was sich aber im Gesamtkontext des Wirkens Jesu verorten ließ. Nun ist aber weder die Vorstellung von Widerspruchsfreiheit noch eine völlig abgerundete Einheitlichkeit der Lehre und des Handelns ein geeigneter Ausgangs- 12 punkt für die Frage nach dem historischenJesus. 61 Die Frage nach den Kriterien ist deshalb weitergeführt worden. Theißen und Merz schlagen ein sogenanntes »historisches Plausibilitätskriterium « vor; 62 historische Plausibilität käme dem überlieferten J esusgut demnach zu, wenn es sowohl die Einbindung J esu in einen jüdischen Kontext ernst nimmt als auch die die Wirkungen J esu auf das frühe Christentum zu erklären in der Lage ist. Das Kriterium der mehrfachen unabhängigen Bezeugung tritt unterstützend hinzu. Ich halte die Formulierung des Plausibilitätskriteriums für sehr erwägenswert, weil sie wirkungs- und rezeptionsgeschichtliche Prozesse anspricht, an denen die Texte teilhaben. Den historischen Jesus kann man unabhängig von den Texten nicht darstellen. Außerdem erweckt diese Formulierung nicht den Eindruck, als vermittele sie nun auf ewig unverrückbare Erkenntnisse. 4.6 Dies hat Auswirkungen beispielsweise auf die Eschatologie und das Verständnis der Gottesherrschaft bei Jesus. Die Vorstellung eines uneschatologischen Jesus, der in gegenwärtige Gottesreich ruft, müßte im Kontext des zeitgenössischen Judentums wie auch der frühchristlichen Verkündigung plausibel gemacht werden. Crossan beispielsweise versucht dies, indem er einerseits alle J esusworte vom kommenden Menschensohn einer späteren Traditionsschicht zuweist und andererseits den jüdischen Kontext Jesu als durchgehend hellenistisch geprägt vorstellt, oder aber Jesus sich abgrenzen sieht von der apokalyptischen Prophetie des Täufers. Ist aber mit einer solchen Theorie plausibel zu erklären, daß im Markusevangelium die Gottesherrschaft mit deutlichen futurischen Akzenten konturiert wird (von Paulus ganz zu schweigen). Die Konsequenz wäre in diesem Fall kaum von der Hand zu weisen, daß die Jesusnachfolger der zweiten Generation Jesus entweder ziemlich mißverstanden oder sich bewußt von ihm abgewandt haben. Ich halte es demgegenüber eher für plausibel, daß die futurische Akzentuierung der frühen christlichen Verkündigung sich eher in Kontinuität zu Jesus erklären läßt als in Diskontinuität. Ob man aus Jesus dann wie Sanders einen »radikalen Eschatologen« machen muß, steht freilich auf einem anderen Blatt. ZNT 1 (1998) 4.7 Die Frage, ob der Wort- oder der Erzählüberlieferung größere Bedeutung für die historische Rückfrage zuzugestehen sei, sollte nicht als Alternative verstanden werden. Worum es m. E. geht, ist die Reihenfolge der Arbeitsschritte. Beide Traditionsbereiche beziehen sich nämlich in unterschiedlicher Weise auf Jesus. Die Erzählungen sind von Anfang an als Erzählungen über ihn, die Worte dagegen als Worte von ihm überliefert. Deshalb können die Erzählungen als solche nicht auf ihn zurückgehen, die Worte jedoch durchaus. Aus diesem Grund muß der Ansatzpunkt für die historische Rückfrage bei der Wortüberlieferung liegen. Auf der anderen Seite ist nicht zu übersehen, daß ein großer Teil der Jesusüberlieferung (nämlich vor allem die kanonischen Evangelien) diese Worte nicht isoliert überliefert, sondern in Erzähl- Kontexte einbettet. Und ebenso deutlich ist, daß bestimmte Verhaltensweisen J esu, wie beispielsweise das gemeinsame Essen mit Randsiedlern der damaligen Gesellschaft, in der Erzählüberlieferung sehr breit und in verschiedener Variation vertreten sind. Man wird also unter Wahrung des Einsatzes bei der Wortüberlieferung darauf zu achten haben, wie die Elemente der Erzählüberlieferung mit der Wortüberlieferung korrelieren. 4.8 Wenn Borg in seiner Arbeit die historische Rückfrage nach Jesus in den Horizont aktueller Fragestellungen hineinstellt, so bringt er damit durchaus etwas zum Ausdruck, was in den Texten vorgegeben ist. Historie und Lebensbezug sind in ihnen ineinander verwoben und die Vergangenheit wird für die Gegenwart bedeutungsvoll. Da wir keinen anderen Zugang zu Jesus als über Texte haben, keinen anderen als einen literarischen Zugang, müssen wir diese Eigenart der Texte wahrnehmen und berücksichtigen. Den historischen Jesus kann man nicht anders als in den Texten erkennen, deren Mitteilungsabsicht jedoch keine rein historische ist. Von daher steht die Rückfrage nach dem historischen Jesus in einem hermeneutischen Spannungsfeld und damit immer in der Gefahr der Funktionalisierung. Dies ist der Grund für die vielen J esusbilder, die ihren Autoren oft sehr ähneln. Demgegenüber ist das Recht der historischen Analyse zu schützen. Auf der anderen Seite hat aber auch der gegenwärtige Christusglaube sein eigenes Recht und der historische Jesus ist für ihn ZNT 1 (1998) ein sehr wichtiger, aber nicht der alleinige Maßstab. Im Verhältnis zwischen historischem Jesus und geglaubtem Christus kann es deshalb nicht lediglich um Wiederholung, sondern wird es immer um Entfaltung gehen. 5. Voll im Trend oder quer zum Trend? Es ist keine neue Erkenntnis, daß die verschiedenen Jesusvorstellungen häufig Elemente der Selbstdarstellung ihrer Autoren enthalten. 63 Das stellte bereits Albert Schweitzer in seiner Kritik an der liberalen Jesusliteratur fest, und das gilt nicht minder für die seitdem weitergegangene Jesusforschung. Ist diese Erkenntnis auch nicht neu, so hat sie doch eine bleibend wichtige Bedeutung. Wer immer sich mit neuen Jesusdarstellungen und -büchern beschäftigt, kann sich von ihr mit der nötigen Portion Skepsis ausstatten lassen, Skepsis vor allem gegenüber J esusdarstellungen, die »voll im Trend« sind. Das ist keineswegs nur bei populärer Jesusliteratur so, sondern kann auch bei wissenschaftlichen Werken der Fall sein. Auch sie gehören in eine bestimmte Zeit und ein bestimmtes Umfeld hinein und haben bestimmte Verstehensvoraussetzungen. Daß die Mehrzahl der neuen Jesusbücher die eschatologische Botschaft J esu eher herunterspielt, ist ja kein Zufall, sondern paßt in eine Zeit, die die Botschaft J esu vom Reich Gottes stärker ethisch und mit ihren gesellschaftlichen Implikationen als eschatologisch zu verstehen bereit ist.Je deutlicher aber eine J esusdarstellung mit gängigen gesellschaftlichen Leitbildern aus der Zeit der jeweiligen Autoren korrespondiert, um so mehr ist Vorsicht geboten, und zwar weniger im Blick auf das ernsthafte Bemühen, die Botschaft J esu für die Gegenwart zu verstehen, als vielmehr im Blick auf die historische Rekonstruktion. Eingleisige Erklärungsmodelle empfehlen sich nicht, weder in der wissenschaftlichen Diskussion noch dann, wenn sie darüber hinaus Eingang finden in Predigtmeditationen oder Unterrichtsentwürfe. Die Jesusüberlieferung ist vielgestaltig und in verschiedener Weise sperrig. Diese Sperrigkeit macht aber zugleich ihre Besonderheit aus, denn sie ist es, die in er Auslegungsgeschichte immer neue Verstehensbemühungen herausforderte und sie bis in unsere Gegenwart hinein provoziert. Eingängige Jesusdarstellungen, die im Trend liegen, er- 13 freuen sich zwar großer Beliebtheit, sie veralten aber auch schnell. Daß die Botschaft J esu bis heute aber offensichtlich nicht veraltet ist, liegt wohl nicht zuletzt daran, daß sie sich mit ihrer Perspektive der Gottesherrschaft bisher noch jedem Trend entzogen hat. Anmerkungen 1 Nr. 22 vom 27. 5. 1995; der Artikel folgt auf 64 ff. 2 Vgl. die Ausgabe vom 18. 12. 1995. 3 Den Photomontagen liegt das Gemälde von Rosalba Carriera, Der segnende Christus, zugrunde. 4 Wer eine Übersicht will, erhält umfassende Information in dem Sammelband von W. G. Kümmel, Vierzig Jahre Jesusforschung (1950-1990), (BBB 91), Königstein 1994 (706 Seiten! ), oder in der Bibliographie von C. A. Evans, Life of Jesus Research. An Annotated Bibliography (NTTS XIII), Leiden 1989, mit über eintausend Titeln. 5 Ich kann hier nur einige nennen: R. Heiligenthal, Der Lebensweg Jesu von Nazareth. Eine Spurensicherung, Stuttgart/ Berlin/ Köln 1994; H. C. Kee, Was wissen wir über Jesus? , Stuttgart 1993; E. Schweizer, Jesus, das Gleichnis Gottes. Was wissen wir wirklich vom Leben Jesu ? , Göttingen 1995. 6 Um diesen populären Jesusbücher-Boom geht es hier nicht. Wer dazu Informationen sucht, sei verwiesen auf J. Dirnbeck, Die J esusfälscher. Ein Original wird entstellt, München/ Zürich 1996, und R. Heiligenthal, Der verfälschte Jesus. Eine Kritik moderner J esusbilder, Darmstadt 1997. 7 So vor allem bei dem Hauptvertreter des Rationalismus, H. E. G. Paulus, Das Leben Jesu als Grundlage einer reinen Geschichte des Urchristentum, Heidelberg 1828. »Die Evangelisten haben Wunder erzählen wollen. Daran ist nicht zu zweifeln. Wer wollte leugnen, daß Wunder zu ihrer Zeit im Plan Gottes lagen, sofern nämlich durch unerklärliche Tatsachen die Gemüter erschüttert werden sollten? Diese Wirkung aber ist vollbracht. In den vom Wundersamen entfernteren Zeitaltern, beim Fortrücken der Verstandesbildung unter den zum Christentum aufgeregten Nationen, muß die Verständigkeit befriedigt werden, wenn die Gültigkeit der Sache fortdauern soll« (zitiert nach A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung I, München/ Hamburg 1966, 90). Im übrigen finden sich bei Paulus und Bahrdt bereits die meisten der heute in vielen populären Jesusdarstellungen wieder vorgetragenen Behauptun- 14 gen zuJesu Herkunft, Kindheit und Jugend sowie zu den Ereignissen während und nach der Kreuzigung. 8 D. F. Strauß, Leben Jesu, 1835/ 36. Von hier aus war der Weg zu B. Bauer's geschichtlichem Jesus als Gegenstand der schriftstellerischen Reflexion (vgl. vor allem Kritik der evangelischen Geschichte der Synoptiker, Band 1-3, Leipzig 1841-1842) und zu A. Drews' Christusmythe vorgezeichnet (Die Christusmythe, Jena 1909; Die Christusmythe. Zweiter Teil, Jena 1911). 9 La vie de Jesus, Paris 1863. Ein Textabschnitt aus Renan's Buch ist abgedruckt bei M. Baumotte (hg.), Die Frage nach dem historischen Jesus. Texte aus drei Jahrhunderten (Reader Theologie), Gütersloh 1984, 87f. 10 Vgl. A.v. Harnack, Das Wesen des Christentums. Mit einem Geleitwort von W. Trillhaas, Gütersloh 2 1985, 43: »Das Reich Gottes kommt, indem es zu den einzelnen kommt, Einzug in ihre Seele hält, und sie es ergreifen. Das Reich Gottes ist Gottesherrschaft, gewiß aber es ist die Herrschaft des heiligen Gottes in den einzelnen Herzen, es ist Gott selbst mit seiner Kraft«. 46: »Das, was den Kern in der Predigt vom Reiche gebildet hat, blieb bestehen. Es handelt sich um ein Dreifaches. Erstlich, daß dieses Reich etwas Überweltliches ist, eine Gabe von oben, nicht ein Produkt des natürlichen Lebens; zweitens, daß es ein rein religiöses Gut ist der innere Zusammenhang mit dem lebendigen Gott; drittens, daß es das Wichtigste, ja das Entscheidende ist, was der Mensch erleben kann, daß es die ganze Sphäre seines Daseins durchdringt und beherrscht, weil die Sünde vergeben und das Elend gebrochen ist«. 11 J. Weiss, Die Predigt vom Reiche Gottes, Göttingen 2 1900; W. Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien. Zugleich ein Beitrag zum Verständnis des Markusevangeliums, Göttingen 1901. 4 1969; zu Schweitzer vgl. Anm. 7. 12 R. Buhmann, Jesus, München/ Hamburg 4 1970 (11926), 10. 13 Vgl. das Nachwort von W. Sehmithals in Bultmanns Jesusbuch, 153: »Wie sehr dies Buch eine Wende bedeutete, macht die kuriose Tatsache deutlich, daß es in 1. und 2. Auflage als erster Band einer Reihe erschien, die ,Heroen< betitelt war und mit Lebensbildern großer Persönlichkeiten fortgeführt wurde; der Verleger hatte offensichtlich als selbstverständlich angenommen, daß eine sinnvolle Darstellung der Erscheinung J esu auch diesen nur als religiösen Heros schildern könne«. 14 Bultmann, Jesus, 14: Wer dabei >»Jesus, für sich immer in Anführungsstriche setzen und nur als abkürzende Bezeichnung für das geschichtliche Phänomen ZNT 1 (1998) gelten lassen will, um das wir uns bemühen, dem ist es unbenommen«. 15 E. Käsemann, Das Problem des historischen Jesus, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 6 1970, 187-214, hier 213. Vgl. auch G. Bornkamm, Jesus von Nazareth (11956), hier zitiert nach der Auflage Stuttgart 1963, 2 lf.: »Vielmehr lassen sie, wenn auch in völlig anderer Art als Chroniken und Geschichtsdarstellungen sonst, die geschichtliche Gestalt Jesu in unmittelbarer Mächtigkeit vor uns sichtbar werden. Zu deutlich ist, was die Evangelien über Jesu Botschaft, seine Taten und seine Geschichte berichten, noch immer gekennzeichnet durch eine Echtheit, eine Frische und auch eine vom Osterglauben der Gemeinde nicht bewältigte Besonderheit, die unmittelbar auf die irdische GestaltJesu zurückweisen«. 16 H. Conzelmann/ A. Lindemann, Andreas, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, Tübingen 1977, 328. 17 Käsemann, Problem, 205. 18 G. Theißen, Der Schatten des Galiläers. Historische J esusforschung in erzählender Form, München 2 1987, 199. 19 C. G. Montefiore, The Synoptic Gospels, London 1909; J. Klausner, Jesus von N azareth, 1907 (deutsch Berlin 1934); R. Eisler, IHSOUS BASILEUS OU BA- SILEUSAS; Heidelberg 1929 / 30, L. Baeck, Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte, Berlin 1938. 20 D. Flusser, Jesus in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1968. 21 Bruder Jesus. Der Nazarener m jüdischer Sicht, München 10 1987. 22 Er predigte in ihren Synagogen. Jüdische Evangelienauslegung, Gütersloh 1980 ( 4 1985); ders., Er wandelte nicht auf dem Meer. Ein jüdischer Theologe liest die Evangelien, Gütersloh 1984; ders., Wurde Gott Jude? Vom Menschsein Jesu, München 1987. 23 Vgl. hierzu die Rezensionen bei Kümmel (vgl. oben, Anm. 4), vor allem 119ff.126ff.236ff.561 ff. 24 Vgl. hierzu den Aufsatz von R. Heiligenthal, Die Wiederentdeckung der ethischen Predig Jesu. Anmerkungen zum jüdischen Jesusbild, in: Freiheit und Moral. Überlegungen zur verdrängten Verantwortlichkeit. Eine Freundesgabe für G. Altner und R. Borchert, hgg. R. Feldmeier, J. Kohn und T. M. Schneider, Neukirchen-Vluyn 1997, 41-55. 25 Neukirchen-Vluyn, 1993, 282 Seiten; der erste Teil des Buches erschien bereits 1973 in englischer Originalfassung. 26 München 2 1995, englische Originalausgabe 1991. 27 Vgl. 549: »Inklusiv nenne ich die( ... ) Tendenz, die ZNT 1 (1998) Sitten der Väter den hellenistischen so weit wie möglich anzupassen«. 28 Merkwürdig ist in diesem Zusammenhang freilich der deutsche Titel des Werkes »Sohn Gottes«, der gänzlich andere Assoziationen weckt und zum Untertitel nicht recht paßt. Die englische Originalausgabe trägt übrigens sachgemäßer den Titel »The Historical Figure of Jesus«. 29 Herder, Freiburg 1993; Originalausgabe: Jesus a New Vision, San Francisco 1991. 30 Sanders, Sohn, 86. Andere Quellen, etwa die Schriften des J osephus, treten ergänzend hinzu. 3 1 Sanders, Sohn, 126. 32 Vermes,Jesus, 2. 33 Cross an, Jesus, 563-65. 34 Einen knappen Überblick über die Arbeit des sogenannten Jesus-Seminars gibt die Lektüre des Statements von R. W. Funk, Jesus befreien, in EvKomm 9/ 96, 512-515. Die charakteristische Veröffentlichung des Jesus-Seminars ist das von R. W. Funk, R. W. Hoover und dem Seminar herausgegebene Buch »The Five Gospels. The Search for the Authentie Words of Jesus«, New York: MacMillan 1993. Das »fünfte Evangelium« ist eben das Thomasevangelium. Neu ist dabei nicht der Rückgriff auf diese Schrift als solcher (bereits Joachim Jeremias hat sie für seine Gleichnisauslegung intensiv herangezogen: Die Gleichnisse Jesu, Göttingen, 10 1984(11947). Neu ist vielmehr die Auffassung des Jesus-Seminars, daß das Thomasevangelium früher anzusetzen sei (nämlich zwischen 50 und 60) als die kanonischen Evangelien und daß es deshalb als besonderer wertvolle Quelle für die Rekonstruktion der Lehre J esu heranzuziehen sei. 35 Borg, Jesus, 39. 36 Vgl. Crossan,Jesus, 27-35. 37 Anhand einer Durchsicht der ältesten Quellenschicht stellt er diejenigen Jesusworte seinem Werk voran, die seiner Auffassung nach Anspruch auf Authentizität haben (vgl. 12-26). 38 Sanders, Sohn, 98ff.124f. 39 »Die Evangelien überliefern Jesu Aussprüche und Taten in einer Sprache, die nicht seine eigene war ( ... ); jedes Stück Information wird von ihnen in einen Zusammenhang gestellt, der eine Erfindung seiner Anhänger ist( ... ) Selbst wenn wir wüßten, ob wir es mit seinen eigenen Worten zu tun haben, müßten wir doch immer noch befürchten, daß die Worte aus dem Kontext gerissen wurden« (Sohn, 20). 40 Sanders, Sohn, 152. 41 Vgl. ebd., 370ff. Bereits in Kapitel 2 »Das LebenJesu im Umriß« werden diese Ereignisse neben der Taufe 15 durch Johannes, der Sammlung von Jüngern und der Verkündigung des Königreiches Gottes eigens genannt. 42 Borg, Jesus, 35. 43 Cross an, Jesus, 317 ff. 44 Vgl. Crossan, Jesus, 351 ff.397 ff. 45 Crossan, Jesus, 387. 46 Borg, Jesus, 225. 47 Ebd., 222f. 48 49 50 51 52 53 Vermes, Jesus, 245. Borg, Jesus, 9. Crossan,Jesus, 553. G. Theißen/ A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen, 1996, 29. Vgl. Vermes,Jesus, 252. Borg will ein Bild des historischen Jesus vorbringen, das dem herrschenden wissenschaftlichen Bild erheblich widerspricht« (9). Crossan setzt sich mit seiner Methodik ausdrücklich von den den Zunftgenossinnen und -genossen ab, denen er methodisehe Schatzgräberei vorwirft (28). Vermes grenzt sich besonders vom christlichen Credo ab und will sich selbst mit der »einfachen, authentischen und historischen Bedeutung der Worte und Taten« Jesu beschäftigen (2). Und das Buch von Sanders bewegt sich »fern von modischen Spekulation und nahe den alten Quellen« (Klappentext). 54 J. Becker, Jesus von Nazareth, Berlin/ New York 55 56 57 58 59 60 61 1996. Vgl. oben, Anm 50. Vgl. oben, Anm. 4. Becker, Jesus, 4. Vgl. Schweizer,Jesus, 10. Vgl. C. W. Hedrick, Thy Tyranny of the Synoptic Jesus, Semeia 44/ 1988, 1-8. Theißen/ Merz,Jesus, 70. Darauf macht mit Recht Klaus Berger aufmerksam: Wer war Jesus wirklich? , Stuttgart 2 1995, 19. 62 Theißen/ Merz,Jesus, 117. 63 Theißen / Merz, Jesus, 31. Theologie in QTB für Wissenschaft ' ' ' Kurt Erlemann Endzeiterwartungen im frühen Christentum UTB 1937, 1996, 204 S., DM 29,80/ ÖS 218,-/ SFr 27,50 UTE-ISBN 3-8252-1937-2 Der Band nimmt die neueste Apokalyptik-Welle zum Anlaß, grundsätzlich nach dem Informationsgehalt biblischer Endzeitaussagen zu fragen. Das umschließt unter anderem eine Funktionsanalyse sowie Überlegungen zum biblischen Zeitverständnis, zu den Rahmenbedingungen apokalyptischen Denkens und zu einem möglichen hermeneutischen Umgang mit apokalyptischen Texten. Kurz: Eine fundierte und längst überfällige Einführung in ein zentrales Thema frühchristlicher Verkündigung. GerfriedW. Hunold / ThomasLaubach(Hrsg.) Theologische Ethik Ein Werkbuch UTB 1966, 1998, ca. 350 S., ca. DM 36,80/ ÖS 269,-/ SFr 34,- UTB-ISBN 3-8252-1966-6 Wie ist christliches Handeln in einer weltlichen Welt möglich? Die Frage hat für alle Gewicht, denen das Christsein keine Belanglosigkeit bedeutet. Auseinandersetzungen, Standortsuche, Überzeugungsfindung sind angesagt. Das Buch will eine Arbeitshilfe auf diesem Weg sein. Es hat Werkcharakter. Dies bestimmt die theoretischen Einführungen und Überblicke ebenso wie die praktischen Anleitungen zum ethischen Argument. 16 Klaus Berger Theologiegeschichte des Urchristentums Theologie des Neuen Testaments UTB Große Reihe, 2., überarb. u, erw. Aufl. 1995, XXVI, 808 Seiten, geb. DM 78,-/ ÖS 569,-/ SFr 71,- UTB-ISBN 3-8252-8082-9 "Wer überhaupt die Frage stellt, was das Christentum einmal war, muß von nun an Bergers Buch durcharbeiten. Es ist durch Textnähe, Klarheit und Intelligenz ein Meilenstein in der Erforschung des frühen Christentums." Frankfurter Al/ gemeine Zeitung Franyois Vouga Geschichte des frühen Christentums UTB 1733, 1994, XIV, 287 S., DM 32,80/ ÖS 239,-/ SFr 30,50 UTE-ISBN 3-8252-1733- 7 "Der Verfasser hat mit seiner Geschichte des frühen Christentums eine beachtliche Leistung erbracht, die es verdient, daß sein Buch eine zahlreiche, es intensiv studierende Leserschaft findet." UTB FUR\v1SSEN SCHAFf Theologische Literaturzeitung Francke A. Francke Verlag· Postfach 2560 • D-72015 Tübingen ZNT 1 (1998) James M. Robinson Der wahre Jesus? Der historische Jesus im Spruchevangelium Q Das Thema »Der wahre Jesus« gab es bis zur Aufklärung überhaupt nicht, es sei denn, man wollte (als Monophysit oder Arianer oder Adoptionist) längst veraltete Häresien wieder auffrischen. Aber mit der Aufklärung, eigentlich mit dem Historizismus des 19. Jahrhunderts, stellte sich die Frage nach dem wahren Jesus als Frage nach dem historischen Jesus, d.h. als Frage nach einem neuen Zugang zu Jesus, eröffnet durch objektiv-historische Forschung statt nur durch Glaubensbekenntnisse. Wir kennen ja alle, sogar auswendig, den Jesus etwa des Apostolischen Glaubensbekenntnisses. Aber hier wird die Geschichte J esu, das, was er während seines Lebens gesagt und getan hat, völlig übergangen. Als entscheidend und heilsbedeutend wird nur angeboten: von der Jungfrau Maria geboren, unter Pontius Pilatus gelitten, gekreuzigt, gestorben und begraben. Was aber liegt dazwischen? Ist das nicht auch von Bedeutung? Hat nicht Jesus selbst gemeint, daß das, was er sagte und tat, Heilsbedeutung hatte? Hat das hinter dem Apostolikum stehende Kerygma von Kreuz und Auferstehung wirklich schon alles gesagt, was wir von der Bedeutung Jesu wissen wollen? Allerdings haben die Evangelisten selbst ihre Erzählungen von J esu Reden und Heilungen so auf das Kerygma hin zugeschnitten, daß die Botschaft von Kreuz und Auferstehung als Quintessenz des ganzen Auftretens J esu zu verstehen ist. Kann man sich die in den Evangelien doch bezeugten Einzelheiten also ersparen? Für die Modeme ist eine Gestalt, die historisch unzugänglich bleibt, irgendwie unwirklich. Es wäre eine Art moderner Doketismus, aus Ehrfurcht vor der Erhabenheit Jesu seine historische Wirklichkeit für unerforschlich zu erklären. So gab es im letzten Jahrhundert die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung von Reimarus bis zu Wrede, wovon Albert Schweitzer 1 so spannend geschrieben hat. Als man vor mehr als einem Jahrhundert dabei war, Jesus neu zu entdecken, mag es kein Zufall gewesen sein, daß man hinter den kanonischen Evangelien Matthäus und Lukas eine verschollene Spruch- ZNT 1 (1998) quelle entdeckte, die eben nicht so vom Kerygma von Kreuz und Auferstehung übermalt war, daß der historische Jesus zwar darin eingebettet, aber zugleich zugedeckt wurde. Vielmehr fand man in dieser Quelle, die wir abgekürzt Q nennen, die Sprüche Jesu ohne kerygmatische Übermalung. Hier kam der historische Jesus wirklich zur Sprache. Was hatte er also zu sagen? Diese Frage ist in unserer Zeit wieder akut geworden. In meinem allerdings nur vorläufigen Bericht beschränke ich mich auf die Spruchquelle Q, weil ich an deren kritischer Ausgabe z. Z. intensiv arbeite.2 Die erste Fassung eines kritischen Textes hat ein internationales Team von mehr als 40 Kollegen in den letzten 10 Jahren ausgearbeitet und in dem Journal of Biblical Literature Jahr für Jahr publiziert. 3 Wir haben eine enorme Datenbasis von wissenschaftlichen Meinungen zum Urtext der Spruchquelle, seit ihrer Entdeckung in Leipzig 1838, 4 gesammelt, sortiert und begutachtet. Diese Datenbasis, die schon jetzt auf Computer zugänglich ist, wird in einer Monographienreihe von etwa 31 Bänden bei Peeters in Leuven publiziert. Der erste Band erschien 1996, ein zweiter ist schon 1997 erschienen und drei weitere Bände sollen in Kürze folgen. 5 Daher verzichte ich hier auf Auseinandersetzungen mit solcher Literatur. Statt dessen biete ich sozusagen das vorläufige Ergebnis, so wie ich es sehe. In der nun folgenden Darstellung der Ergebnisse der Analyse von Q ist die im Entstehen begriffene einbändige editio critica zugrunde gelegt. Ich zitiere Q entsprechend der neuen kritischen Ausgabe nach lukanischen Kapitel- und Vers- Nummern.6 So muß ich auf den erzählenden Teil der Biographie J esu weitgehend verzichten, d. h. auf die Geburts-, Wunder-, Leidens- und Ostergeschichten, die in Q, wenn überhaupt, nur vereinzelt und nebenbei vorkommen, jedenfalls eine untergeordnete Rolle spielen. Doch ich beschränke mich auf Q in der Meinung, daß wir hier den sichersten Zugang haben zur Mitte dessen, was Jesus eigentlich wollte. 17 Nachdem die Q-Sprüche Jesu, die hinter der Redaktion des Matthäus und Lukas, ja sogar hinter der Redaktion des Spruchevangeliums selbst versteckt liegen, jetzt Wort für Wort wiederhergestellt worden sind, hat man den Eindruck, als könne man nun von Spruch zu Spruch gleichsam dem DenkenJesu folgen. Wenn wir die Evangelien lesen, wie sie uns vorliegen, sind die Sprüche Jesu so mit den Gedanken der Evangelisten selbst durchwirkt, daß man leicht Jesu »Faden« verliert. Selbstverständlich will ich nicht unkritisch übertreiben. Die ganze Problematik des Themas Historischer Jesus, die wir seit William Wrede und der Formgeschichte kennen, bleibt bestehen. Aber wie Bultmann in seinem Jesusbuch schon sagte, kann man mit Recht die älteste Schicht der Spruchüberlieferung mit dem Namen Jesus verbinden. 7 Vor einer Generation vertrat ich die Meinung der Schüler Bultmanns, wenigstens Jesu Existenzverständnis sei der existentialen Interpretation zugänglich. 8 Diese existentialistische Theologie ist heute vorbei, aber die Frage nach dem historischen Jesus besteht weiter. Doch mit dem Spruchevangelium können wir ganz unmittelbar auf Jesu Ideen stoßen. Diese Möglichkeit ist so aufregend, daß sich eine eingehende Beschäftigung damit auf jeden Fall lohnt. Jesus ist in Galiläa aufgewachsen, in einer kleineren Ortschaft, Nazara genannt. In Q 4,16 taucht die Schreibung Nazara auf, fast zum einzigen Mal in der ganzen Literatur der Antike. Doch es ist vielleicht in der Tat verständlicher, das Adjektiv Nazarenos von Nazara abzuleiten anstatt von Nazareth, das immer mit Theta oder Tau geschrieben wird. Die beste Analogie haben wir in der Ableitung Magdalena von Magdala und Gadarenoi von Gadara; so also Nazarenos von Nazara. Nachdem Jesus sich der apokalyptischen Botschaft des Johannes durch den Taufritus angeschlossen hatte, zog er von Nazara nach Kapharnaum um, wo er, wohl mit Hilfe anderer Anhänger des Johannes, sein Hauptquartier aufschlug. Hier fing er an, seine eigene Botschaft zu verkündigen, die sich weniger auf die apokalyptische Enderwartung des Johannes als auf die gegenwärtigen Früchte der Buße konzentrierte. Denn abgesehen von der Rede von den guten Früchten (Q 6,43), die bei Johannes apokalyptisch, bei Jesus aber weisheitlich verwendet wird, gibt es keine 18 James M. Robinson Prof. Dr. Dr.James M. Robinson, Jahrgang 1924, seit 1964 Professor für Religionswissenschaft an der kalifornischen Claremont Graduate University und Direktor des dortigen von ihm begründeten Institute for Antiquity and Christianity. Zur Zeit leitet er das International Q Project, dessen einbändige »Critical Edition of Q« 1m Jahr 2000 erwartet wird. Belegstelle, wo Jesus die Begrifflichkeit des J ohannes aufzunehmen scheint. Die Worte Jesu sind vor allem Anrede. Preßt man sie in theologische Sätze, werden sie automatisch umfunktioniert, um sie unserer Wissenschaftlichkeit, die wir für allein objektiv halten, anzupassen. So wird Jesus gezwungen, an uns persönlich vorbeizureden. Deshalb möchte ich in der folgenden Darstellung diese Art wissenschaftlicher Objektivität zunächst scheinbar beiseite lassen, nicht um sie preiszugeben, sondern um sie auf neue Art zum Tragen zu bringen. Was hat also Jesus selbst uns zu sagen? Q 12,22-31: Man soll sich nicht um sein eigenes Leben kümmern. Nehmt's von den Raben! Sie arbeiten nicht auf den Feldern und speichern nicht die Ernte in Scheunen, um im Winter noch genug zu essen zu haben. Sie brauchen sich nicht darum zu kümmern, weil Gott für ihre Erhaltung sorgt. Ähnlich steht es mit den Lilien, die ihre Bekleidung nicht am Webstuhl zu produzieren brauchen,9 die aber doch an Pracht die glorreiche Bekleidung eines Königs Salomo weit übertreffen, weil Gott für ihre Bekleidung sorgt. Gott weiß ja schon, was ihr nötig habt! Ihr sollt euch genau so ZNT 1 (1998) auf Gott verlassen, sorglos ihm vertrauen. Das, was man normalerweise Gottesglaube nennt, ist nur kleingläubig, kaum besser, als was die Heiden an Religion haben. Mit den größten Anstrengungen werdet ihr sowieso euren Tod nicht hinausschieben können. So ist es vernünftiger, sich auf die Verwirklichung der Gottesherrschaft einzulassen, als sich um die eigene Lebenserhaltung zu kümmern. Was hieß es eigentlich, die Gottesherrschaft zu suchen? Matthäus legt die Gottesherrschaft hier so aus, daß er, als eine Art Glosse, »Gottesgerechtigkeit« hinzufügt (Mt 6,33). So spricht man von dem moralischen Interesse des Matthäus, wobei aber noch offen bleibt, ob ein solches Verständnis Jesus richtig bzw. vollständig ausgelegt hat. An einer anderen Stelle des Spruchevangeliums kommt fast dasselbe wie bei den Raben und Lilien noch einmal vor, eine Stelle, die man also als Auslegungshilfe heranziehen kann, nämlich Q 11,2-4, das Vaterunser. Dort wird die Bitte: »Dein Reich komme! « durch die Erweiterung der matthäischen Gemeinde noch einmal verständlich gemacht: »Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel«. Nun wird aber hier klar, daß das sogenannte moralische Interesse des Matthäus gerade nicht in einer moralischen Aufforderung an die Gemeinde zur Sprache kommt, sondern in einer an Gott gerichteten Bitte. Er soll seinen Willen auf Erden aufrichten! Die Gottesherrschaft ist es, die Gottes Willen, also seine Gerechtigkeit, auf die Erde bringt. Um diese können wir ihn nur bitten. Sicherlich wird er sie nicht errichten, solange die Menschen unter sich ungerecht handeln, aber davon ist zunächst nicht die Rede. Gott selbst soll seinen gerechten Willen durchsetzen. Die Auslegung der ersten Bitte, »Dein Reich komme! «, hatte in der Spruchquelle selbst mit dem Geben von Brot zu tun: Gib uns heute unser tägliches Brot. Hat dann das Reich Gottes vor allem mit Essen zu tun? Diese nicht nur für uns, sondern schon für Matthäus anstößige Frage hat ihn veranlaßt, am Anfang der Bergpredigt die Seligpreisungen der Armen und Hungrigen vor einer solchen materialistischen Auslegung abzuschirmen, indem er hinzufügt, es gehe um die geistlich Armen, die da hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, nicht einfach um Bettler, ptochoi im vulgären Sinne. An diesem Punkt hat die Befreiungstheologie, die den Sitz im Leben seiner Worte ZNT 1 (1998) inmitten der Armen und Unterdrückten Südamerikas sah, den historischen Jesus ·besser verstanden. 10 Nicht weil sie besser oder würdiger sind, gelten ihnen die Seligpreisungen, sondern weil ihre Not größer ist. Wider allen äußeren Anschein sind sie die Seligen, in der Zuversicht, daß Gott für sie sorgt. Dem Vaterunser folgt unmittelbar eine Auslegung in Q selbst ( Q 11,9-13 ). Sogar ein irdischer Vater wird seinem Sohn weder einen Stein geben, wenn er um Brot bittet, noch eine Schlange, wenn er um Fisch bittet. Wieviel mehr dann der Vater vom Himmel! Ihr braucht ihn nur zu bitten, so wird, was ihr nötig habt, euch gegeben werden. Dieses Vertrauen ist es, was Jesus unter Glauben verstand. Dieses Mal ist es Lukas, der spiritualisiert: Gott wird den Heiligen Geist geben. Jesus aber hat versprochen, daß der Vater vom Himmel Brot und Fisch gibt. Dem Lebensstil J esu kommt man etwas näher, wenn man die Aussendungsrede genauer betrachtet. Hier geht es um die aktivsten Jünger Jesu. Diese, heute »Wanderradikale« genannt, 11 haben keinen Pfennig in der Tasche. Geldbeutel und Rucksack brauchen sie nicht, weil sie weder Geld noch Proviant mitnehmen (Q 10,4). Sie leben wie die Raben und Lilien auf dem Feld, oder wie die spottbilligen Sperlinge, die nie zur Erde fallen, ohne daß Gott es weiß (Q 12,7). Diese Jünger verlassen sich völlig ungeschützt auf Gott. Sie tragen keine Sandalen ( Q 10,4), vielleicht als Zeichen der Buße, vielleicht nur um zu bezeugen, daß sie schutzlos durchkommen. Sie sind nicht einmal mit einem Stock gegen wilde Hunde oder Räuber ausgerüstet. Sie gehen als Lämmer mitten unter die Wölfe (Q 10,3). Man soll keinen Widerstand leisten (Q 6, 29-30). Wenn euch einer auf die Wange schlägt, sollt ihr ihm auch die andere darbieten. Sogar der Dieb, der den Mantel wegreißt, soll auch das Hemd als Geschenk bekommen. Dem Bittenden gebt, was er nötig hat, und von dem, der borgt, verlangt nichts zurück. Gott wird nicht nur gebeten, uns zu vergeben, sondern auch wir sollen unseren Schuldnern die Schuld vergeben. Man soll die Feinde lieben, sogar für Verfolger beten (Q 6,27-28). Normalerweise ist man solchen Leuten gegenüber gütig, die einem notfalls mit Gegengaben helfen könnten. Aber ihr sollt euch nicht auf diese Weise Zöllnern und Heiden 19 angleichen, vielmehr sollt ihr Gott nachahmen, der regnen läßt und seine Sonne scheinen läßt auf Böse ebenso wie auf Gute. Auf diese Weise wird man Gottes Kind. Mit einem solchen Lebensstil scheint man im Alltag kaum Chancen zu haben. Allerdings stellte sich nachträglich heraus, daß z.B. im KZ gerade solche Leute bessere Chancen hatten, die sich zu kleineren Kreisen selbstloser Menschen zusammenschlossen. Wir agieren aber meist nicht als Hilfe des Nächsten, sondern als sein Schicksal, wie er auch unser Schicksal ist. Er hat nichts zu essen, weil ich mir das zusätzliche Brot aufgespeichert habe. Ich friere, weil er einen zusätzlichen Mantel im Rucksack verbirgt. Er hat keinen Pfennig, weil ich das Geld in meinem Geldbeutel für mich aufbewahre. Wir sind alle das Werkzeug des Bösen, wodurch das Leben für uns alle verdorben wird. Im extremen Falle der Blutrache, die zwischen Familien oder Ortschaften auch heute noch in manchen Teilen der Welt vorkommt, stimmen wir im allgemeinen darin überein, daß so etwas allen beiden Parteien nur schaden kann und also mit allen Mitteln verhindert werden muß. Doch in den weniger spektakulären Fällen, die unter normalen Umständen vor sich gehen, ist die entsprechende Selbstsucht, das Handeln im eigenen Interesse egal, was für Schaden dem Anderen dadurch zugefügt wird immer noch salonfähig in unserer ach so »zivilisierten« Kultur. Die Gottesherrschaft ist aber ganz anders. Ihr wollte Jesus mit seinem Kreis den Weg bahnen. Wie das in der Praxis zuging, ist verhältnismäßig eingehend in der Aussendungsrede beschrieben: Am Anfang, ehe es noch Sympathisanten oder gar Haus-Gemeinden gegeben hat, wo man mit Zuversicht einkehren konnte, sind die Q-Leute (und wohl Jesus selbst) barfuß und ohne Proviant von Ort zu Ort gegangen. Man klopfte an einer unbekannten Tür und sagte, falls die Tür überhaupt aufgemacht wurde, Schalom! (Q 10,5-6). Der Gruß war nicht gehaltlos gemeint, wie wir Guten Tag sagen, ohne eigentlich irgendein Interesse am Tag des Angesprochenen zu haben, und wie man damals und heute auch Schalom völlig gedankenlos sagen kann. Vielmehr, falls man Aufnahme fand, wurde der Hausherr »Sohn des Friedens« genannt, d. h. der in dem Schalom ursprünglich implizierte Segen ging auf ihn über. Wurde man 20 aber abgewiesen, kam der Segen auf den Anklopfenden zurück, der dann weiterziehen mußte, bis er irgendwo mit seinem Schalom empfangen wurde. Man aß, was einem vorgelegt wurde, sei es bescheiden, sei es reichhaltig. Asketen im technischen Sinne waren die Jesus- Leute nicht.Johannes verwendete als Bekleidung und Verpflegung nur das, was sozusagen direkt von der Natur geboten wurde, wie Mk 1,6 es beschreibt. Deswegen wurde er für verrückt, für besessen gehalten. Weder aß er Brot, noch trank er Wein (Q 7,33), im Unterschied zu Jesus (Q 7,34), der mit Weltkindern wie Zöllnern und Sündern am Tische saß. Als Fresser und Weinsäufer wurde er aber gleichfalls abgelehnt. Jesus lebte, was Bekleidung und Verpflegung betrifft, von dem, was Menschen, besonders Frauen, für ihn herstellten. Die Auslegung der Bitte »Dein Reich komme! « im Vaterunser selbst, nämlich: »Gib uns heute eine Tagesration Brot! «, wurde nicht durch von Himmel gefallenes Manna erfüllt, sondern durch Frauen, die, nach dem Rezept von Q 13,21, Sauerteig unter drei Scheffel Mehl verbargen, bis es ganz durchsäuert war, um im Backofen in Brot verwandelt zu werden. Solche ausgesandten Jesusleute, die, wie er, von Haus zu Haus zogen, hießen zu einer Zeit, als es noch keine Ämter wie Priester und Bischöfe gab, Arbeiter (Q 10,2.7). Was die Arbeiter an Verpflegung und Unterkunft bekamen, hatten sie verdient, erarbeitet. Ihre Arbeit bestand in dem, was sie den Hausbewohnern zu bieten hatten. Die Gegengabe zu der empfangenen Gastfreundschaft war der angebotene Friede. Er bestand in der Krankenheilung der Notleidenden, die mit dem zuversichtlichen Spruch begleitet wurde (Q 10,9): »Gottes Herrschaft hat sich euch genähert! « Hier geschieht also das, was man, in Sorglosigkeit wie die Raben und Lilien, suchen soll, und dessen Kommen man im Vaterunser erbitten soll. Ja, man braucht nur zu bitten, so wird einem gegeben, zu suchen, so wird man finden, zu klopfen, so wird einem aufgetan (Q 11,9). Man kann sich auf Gott als himmlischen Vater verlassen, so glaubte, praktizierte und verkündigte Jesus. Krankheit ist nicht gottgewollt, nicht Teil der Herrschaft Gottes. Krankheit ist vom Übel. Wenn die Krankheit durch auffallende Gesten und Geschrei begleitet wird, wie bei mondsüchtigen Geisteskranken und Epileptikern, wird sie auf Dämo- ZNT 1 (1998) nen, unreine Geister, zurückgeführt. Gott greift gerade hier besonders bemerkbar ein. Es geschieht durch seinen Finger, daß Dämonen ausgetrieben werden (Q 11,20), egal, ob Jesus oder eure Söhne als Exorzisten 12 funktionieren (Q 11,21). Jesus hat (wie andere Exorzisten) Gewalt über Dämonen, nicht weil er wie Faust im Bündnis mit ihrem obersten Beelzebul steht (Q 11,15), sondern weil Gott hier und jetzt mit seinem Finger herrscht (Q 11,22). Es geht darum, daß Gott eingreift: Brot stiftet, Kranke heilt, also herrscht. Die Bitten des Vaterunsers werden im Hause des Sohnes des Friedens erfüllt. Die Wirklichkeit des Todes wird nicht illusorisch verneint. In Trostworten wird er realistisch vorausgesetzt. Das Gras auf dem Feld, so schön es heute auch ist, wird morgen in den Ofen geworfen (Q 12,28). Die Sperlinge, die von Gott nie vergessen werden, fallen trotzdem zur Erde. Man wird ermuntert, sich vor dem leiblichen Tode nicht zu fürchten, damit man nicht vor lauter Angst sich selbst als Mensch verliert (Q 12,4), die größte Gefahr inmitten von Gewalt und Diktatur. Die Rede davon, daß man sein Kreuz auf sich nehmen muß (Q 14,27), setzt vielleicht den Tod Jesu voraus, der sonst in Q nicht ausdrücklich erwähnt wird. Aber die zwei anderen Sprüche derselben Spruchgruppe (bei Mt 10,37-39 noch zusammen) gehen eher auf Jesus selbst zurück: Man muß die eigene Familie hinter sich lassen, um die Sache J esu mitzumachen (Q 14,26). Nur wer sein Leben umJesu willen verliert, wird es wirklich retten (Q 17,33). Auch wenn Jesus seinen Tod wohl nicht im voraus prophezeit, wie es die als vaticinia ex eventu zu verstehenden wiederholten Leidensankündigungen des Markusevangeliums darstellen, kann man schwerlich annehmen, Jesus hätte nie an die Möglichkeit seiner Verfolgung oder sogar seiner Ermordung gedacht, obwohl das Spruchevangelium keine Leidensankündigungen bietet. Er war sicherlich innerlich bereit, den Tod auf sich zu nehmen. Wie geht das Spruchevangelium mit Jesu Tod um? Obwohl es in Q keine Leidens- oder Auferstehungsgeschichte gibt, führt diese Beobachtung doch nicht notwendigerweise zu dem Schluß, die Q-Leute hätten nichts von Jesu Schicksal gewußt ZNT 1 (1998) oder nie darüber nachgedacht. Es ist wohl kaum anzunehmen, sein Tod sei nicht schnell unter seinen Anhängern auch in den entlegensten Winkeln Galiläas bekannt geworden. Wäre es also nicht das einzig Sinnvolle gewesen, nach seinem Tode die ganze Sache als gescheitert anzusehen und aufzugeben? Jesus hatte versichert, »der Vater vom Himmel gibt Gutes denen, die ihn bitten« (Q H,13) und doch war sein letztes Wort, wenigstens nach Mk 15,34: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich im Stich gelassen? « Was gab es noch zu verkündigen? Das Spruchevangelium ist, überspitzt gesagt, selbst das Osterwunder! Buhmann hat das berühmt-berüchtigte Wort geprägt, Jesus sei ins Kerygma auferstanden. 13 Wir sollten nun vielleicht besser sagen: Jesus ist in sein eigenes Wort auferstanden. Die Auferstehung ist in der Q-Gemeinde sachlich dadurch bezeugt, daß sein Wort wieder zur Sprache kommt, nicht als eine wehmütige Erinnerung an den gescheiterten Wunschtraum eines edlen, aber wahnsinnig naiven Menschen, sondern als das immer noch bestehende bzw. wieder auflebende Wort des Vertrauens auf den himmlischen Vater, der, wie im Himmel, in aller Gerechtigkeit auch auf Erden herrscht und herrschen wird. Es gibt einige Q-Sprüche, die von einem solchen Auferstehungsglauben her eher verständlich werden. So heißt es (Q 12,3/ Mt 10,27): »Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was ihr hört im Ohr, das predigt auf den Dächern«. Hier scheint es, als hätte Jesus seine Verkündigung eher heimlich geflüstert, und die Propagierung seinen Jüngern überlassen. Wir würden es gerade umgekehrt erwarten! Vielleicht birgt ein solcher Spruch die Erinnerung, daß seine Botschaft gewalttätig unterdrückt und verdunkelt wurde, dann aber umso heller und lauter als Wirklichkeit zur Verkündigung kam. Ebenso steht es mit dem bald darauf folgenden Spruch über die unvergebbare Sünde (Q 12,10). Das Wort wird gewöhnlich so verstanden, daß, selbst wer den irdischen, vorösterlichen Jesus abgelehnt hat, noch nicht endgültig verworfen ist, da ihm eine neue Möglichkeit der Rettung durch die Verkündigung der mit dem Geist begabten Jünger der Q-Gemeinde geboten wird. In beiden Sprüchen wird die Verkündigung nach Jesu Tod für wirksamer und mehr bevollmächtigt gehalten als 21 die Verkündigung durch Jesus selbst. Hier kommt ein Osterglaube besonderer Art zur Sprache. Der Osterglaube des Spruchevangeliums hat also zunächst vor allem mit der Vollmacht der Sprüche Jesu zu tun, die nach seinem Tode nicht entwertet wurden, sondern erst recht in Kraft getreten sind. In dieser Hochschätzung der Sprüche liegt die »Christologie« des Spruchevangeliums. Darum bedarf es keiner christologischen Titulaturen, die uns unterdessen so unentbehrlich scheinen. »Warum nennt ihr mich Herr, Herr! und tut nicht, was ich euch sage? « Damit wird der Schluß der Inaugural-Rede in Q (Q 6,46) eingeleitet. Darauf folgt das Doppel-Gleichnis vom Haus, das auf einem guten bzw. schlechten Fundament gebaut wird (Q 6,47-49). Jeder, der meine Worte hört und sie tut, wird im Endgericht bestehen! Nicht der Hohepriester im Tempel zu Jerusalem oder die Taufe des Johannes im Jordan-Fluß bringen das endgültige Heil, sondern die Beibehaltung der Worte Jesu, wie sie im Spruchevangelium aufbewahrt sind allerdings unter der Bedingung, daß sie wirklich eingehalten werden! Die Eschatologie des Spruchevangeliums besteht wesentlich darin, daß in der allgemeinen Auferstehung ein jeder nach seinen Werken beurteilt werden wird, wie es in der Antike und im Judentum allgemein angenommen wurde, sogar von Paulus (II Kor 5,10). Weil alle gleichzeitig auferstehen, wird der eine die Beurteilung des andern anhören und gegebenenfalls sogar beeinflussen (Q 11,31-32): »Die Königin des Südens wird auftreten vor Gericht mit den Menschen dieses Geschlechts und sie verdammen; denn sie kam von der Welt Ende zu hören die Weisheit Salomos. Und siehe, hier ist mehr als Salomo. Die Leute von Ninive werden auftreten vor Gericht mit diesem Geschlecht und werden es verdammen; denn sie taten Buße nach der Predigt des Jonas. Und siehe, hier ist mehr als Jonas.« Eure Söhne, die Exorzisten sind, werden eure Richter werden (Q 11,19). Diejenigen, die Jesus gefolgt sind, werden die zwölf Stämme Israels richten (Q 20,30). So werden sich Leute zu ihrer Verteidigung vor Gericht auf ihre Verbindung mit Jesus berufen und versuchen, ihn für ihre Rettung in Anspruch zu nehmen (Q 13,26-27): »Wir haben mit dir gegessen und getrunken, und auf unseren Straßen hast du gelehrt. Doch er wird sagen: Ich weiß 22 nicht, woher ihr seid. Weichet alle von mir, ihr Übeltäter! « Hier haben wir es nicht mit dem Menschensohn als Richter im Endgericht zu tun, sondern mit Jesus als dem entscheidenden Zeugen. Er legt Zeugnis ab für bzw. gegen Leute, die sich auf ihn berufen. Doch sichert er immerhin zu (Q 12, 8-9): »Wer mich bekennt vor den Menschen, den wird auch der Sohn des Menschen bekennen vor den Engeln Gottes. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, der wird verleugnet werden vor den Engeln Gottes.« Auch hier ist Jesus selbst nicht Richter, sondern Zeuge. Richter sind bei Lukas (12,8-9) die Engel; bei Matthäus (10,32-33) ist es der himmlische Vater. Die Bedeutung der Christologie des Spruchevangeliums für uns ist von dieser eschatologischen Aussage her zu beurteilen. Wenn das Zeugnis J esu mein Schicksal entscheidet, weil weder Gott noch die Engel sein Zeugnis ablehnen werden, dann ist es wirklich belanglos, unter welchem Titel - oder mit welcher Titellosigkeit das geschieht. Entschieden ist entschieden! Im Verlaufe der christologischen Entwicklung wird dann allerdings Jesus selbst als Richter verstanden. Indem sein existentielles Zeugnis verobjektiviert wird, vertritt oder ersetzt er Gott bzw. die Engel. Im Spruchevangelium ist diese Entwicklung höchstens angedeutet, wenn Jesus am Ende von Q denen, die ihm gefolgt sind, zusagt, daß sie auf Thronen sitzend die zwölf Stämme Israels richten werden (Q 22,30). Doch ist damit immer noch die Nicht-Exklusivität seiner Rolle als Richter vorausgesetzt. Die Spuren der späteren Christologie sind schon vorgezeichnet, aber noch nicht ausgesprochen. Darum ist das Spruchevangelium so spannend, sowohl für Laien, als auch für Theologen! Gibt es einen Weg vom Jesus des Spruchevangeliums zu uns? Wenn das Spruchevangelium uns einen Einblick in das Handeln und Denken J esu ermöglicht, wie kann das in unserem Leben zum Tragen gebracht werden? Q ist als lesbares Dokument längst verschollen. Seit dem ersten Jahrhundert hat man diesen Text nicht mehr in der Hand gehabt. Ist nicht der wahre Jesus damit auch vergangen? Der historische Jesus, so wie ich ihn anhand des Spruchevangeliums darzustellen versucht habe, ZNT 1 (1998) war nicht nur in einer gewissen Weise weltfremd er ist uns immer noch fremd! Wir wollen uns doch aber als seine Jünger verstehen dürfen, als seine Kirche; wir wollen ihn als unseren Herrn anerkennen. Die immer wieder unternommenen Versuche, einen Bogen von Jesus zu Paulus, und von da zu unserer kirchlichen Wirklichkeit zu spannen, sind mehr oder weniger gescheitert. Vielleicht liegt das daran, daß Paulus eigentlich der am wenigsten Geeignete ist, uns Jesus selbst nahezubringen, denn er hat ihn nicht gekannt. Es gibt aber durchaus einen geeigneten Weg, einen, den das Frühchristentum auch gegangen ist: Ich meine den Zweig des Frühchristentums, der sich im Matthäus-Evangelium widerspiegelt. In neuerer Zeit hat man empirisch gefragt, an welchen neutestamentlichen Schriften die frühchristlichen Gemeinden das größte Interesse hatten. Welches Buch wurde am meisten abgeschrieben und zitiert? Überraschenderweise ist es gerade das Matthäusevangelium, von dem die meisten alten Handschriften erhalten sind. Dieser Text hat zugleich auch die anderen Texte am meisten korrumpiert, weil die Abschreiber ihn am besten, ja fast auswendig kannten. Auch der in der patristischen Literatur am häufigsten zitierte Text ist das Matthäusevangelium. Das Christentum, das Schritt für Schritt das Römische Reich erobert hat, war der matthäische Zweig des Urchristentums, nicht der paulinische. Es war ein Christentum der Barmherzigkeit und Wohltätigkeit, das die einfachen Leute bekehrte, nicht ein Christentum der philosophisch ausgewiesenen neuplatonischen Theologie. Das Christentum ist zur Massenbewegung vor allem durch das Matthäusevangelium geworden. Es ist Aufgabe der Exegese, den Weg vom historischen Jesus zum kanonischen Matthäus- Evangelium verständlich zu machen, um den Weg von Jesus zu uns zu eröffnen. Hier stoßen wir aber auf Neuland. Die Kirchengeschichte ist immer den Weg über Paulus gegangen. Die Bewegung, die Jesus in Galiläa entzündet hat, wird schon seit der Apostelgeschichte weitgehend totgeschwiegen. Hier ist nur einmal nebenbei eine Kirche in Galiläa erwähnt (Apg 9,31). Paulus weiß fast nichts von J esu Worten und einer auf diesen Worten fussenden Religiosität - oder will nichts davon wissen. Auch in der Apostelgeschichte wird so etwas nicht vorausgesetzt. Jesus ist ja gen Himmel gefah- ZNT 1 (1998) ren, und der Heilige Geist leitet seit Pfingsten die Kirche. Die Kirche der Apostelgeschichte lebte nicht mehr von den Worten Jesu. Sie sind im Lukasevangelium begraben wie in einem Archiv. Die Berührungen des Matthäusevangeliums mit dem Spruchevangelium dagegen sind so auffällig, daß Ulrich Luz in seinem großangelegten vierbändigen Matthäus-Kommentar die These aufstellt, die matthäische Gemeinde sei ein Ausläufer der Q- Gemeinde.14 Es ist heute die Aufgabe, die geläufige paulinische Kirchengeschichte mit einer Kirchengeschichte zu ergänzen, die von Jesus über das Spruchevangelium zu Matthäus führt, d. h. von Galiläa bis nach Antiochien ohne den Umweg über Damaskus. Denn das wahrscheinlich aus der Umgebung von Antiochien stammende Matthäus- Evangelium ist wohl in einer Q-Gemeinde entstanden, die längere Zeit in Galiläa blieb (weil man nicht die Wege der Heiden, d.h. nicht in die Städte der Samaritaner, sondern nur zu den verlorenen Schafen Israels gehen sollte), dann aber doch, vielleicht erst im Rahmen des römischen Krieges der sechziger Jahre, nach Syrien (Mt 4,21) geflüchtet 1st. So möchte ich abschließend vier Stadien oder Schichten benennen, zwei im Spruchevangelium und zwei im Matthäusevangelium, die vom historischen Jesus zur neutestamentlichen Kirche des Matthäusevangeliums führen, 15 und dadurch zu uns hinüberleiten. 1. Schicht: Alte Sammlungen von Sprüchen Jesu, die seine Jünger schon vor Q zusammenstellten. 2. Schicht: Die Redaktion des noch judenchristlichen Spruchevangeliums selbst. 3. Schicht: Die erste, allerdings zurückhaltende Aufnahme des heidenchristlichen Markusevangeliums in das Spruchevangelium durch die Kapitel 3-11 des Matthäusevangeliums. 4. Schicht: Die vollständige Aufnahme des Markusevangeliums in das durch den Missionsbefehl des Auferstandenen heidenchristlich gewordene Matthäusevangelium, das der Jesus- Überlieferung in der Großkirche einen festen und bleibenden Platz gesichert hat. 23 Zur 1. Schicht: Die Sammlung von Jesussprüchen, die bei Lukas Feldrede, bei Matthäus Bergpredigt genannt wird, ist eine alte Sammlung, die ursprünglich als eine kleinere Einheit für sich komponiert wurde, mit Makarismen als Einführung und Ermahnungen, seine Worte auch zu tun, als Schluß. Dazwischen liegen die Feindesliebe, das Hinhalten der anderen Wange, das Wegschenken des Hemdes und die Vergebung der Schulden. Daneben gab es eine andere kleine Einheit mit Vaterunser und dem Gebets-Kommentar über den Vater, der dem bittenden Sohn weder Steine noch Schlangen gibt. Eine weitere kleine Gruppe bildeten die Raben und Lilien. Diese drei kleinen Sammlungen gehörten sachlich so eng zusammen, daß sie von Matthäus als Bergpredigt sekundär zusammengefügt wurden. Dann gab es die Aussendungsrede, mit den Verhaltensmaßregeln für die Mission der Q-Leute. Aus solchen ältesten Sammlungen ergibt sich also das Bild des historischen Jesus, das wir am Anfang beschrieben hatten. Zur 2. Schicht: Die Q- Redaktion hat das Spruchgut J esu, einschließlich dieser kleineren Sammlungen, in zwei Hinsichten ediert. Einmal hat sie das deuteronomistische Geschichtsverständnis des Alten Testaments aufgegriffen, wonach Gott die Zerstörung Jerusalems zuließ, nicht aus Untreue, sondern weil Israel Gottes Propheten abgelehnt, ja sogar getötet hatte, statt auf sie zu hören. Nach Ansicht der Q- Redaktion ist das jetzt wieder geschehen: Das Heilsangebot Jesu wurde weitgehend abgelehnt; also hat Gott sein Haus in Jerusalem verlassen und es den Römern übergeben (Q 13,35). Das Gericht wird wieder über »dieses Geschlecht« proklamiert (Q 7,31; 11,29-32.50-51). Die Q-Redaktion muß also zur Zeit der Belagerung Jerusalems in den sechziger Jahren angesetzt werden. 16 Ein weiteres Anliegen der Q- Redaktion war das Bestreben, den Spruch des Johannes (Q 3,16) über den »Kommenden«, der Gericht halten wird, von Gott auf Jesus umzudeuten (Q 7,31). Der Redaktor hat den ersten Teil der Spruchquelle so organisiert, daß Johannes den Kommenden vorhersagt (Q 3,16), der Jesajazitate aufgreifend, die Kranken heilen und den Armen das Evangelium verkündigen wird (Q 7,22). Mit der dazwischen liegenden Bergpredigt (Q 6,20-49) und der Heilung des Sohnes des Hauptmanns von Kapharnaum (Q 7, 1-10), repräsentativ für alle anderen 24 Heilungen, tut Jesus genau das und erweist sich auf diese Weise überzeugend als der vorausgesagte Kommende (der als der zukünftig Kommende noch Q 13,35 erwähnt wird). Dieses so vervollständigte Spruch-Evangelium hat vielleicht einige Täuferjünger bekehrt, aber längst nicht die erhoffte Bekehrung Israels erwirkt. Das Spruchevangelium endet statt dessen mit der Zuversicht, daß die Jünger Jesu die zwölf Stämme Israels richten werden. Die Hoffnung auf die Bekehrung Israels wird stillschweigend aufgegeben. Dieses negative Urteil über Israel ist aber nicht das letzte Wort. Zur 3. Schicht: Die kleine Q-Gemeinde mußte sich irgendwie in Verbindung setzen mit der viel erfolgreicheren heidenchristlichen Kirche. Das geschah wohl, als der Überrest dieser judenchristlichen Gemeinde nach dem Kriege in Antiochien eine Verbindung mit der heidenchristlichen Gemeinde einging, die das Markus-Evangelium benutzte. Wie verzweifelt die Q-Gemeinde versuchte, in dieser Verbindung ihre judenchristliche Vergangenheit zu retten oder wenigstens zu rechtfertigen, davon legen die Kapitel 3-11 des Matthäusevangeliums Zeugnis ab. Zur 4. Schicht: Dieser Versuch ist letzten Endes aber doch gescheitert. So übernahm die Q-Gemeinde, die wir jetzt schon eher Matthäus-Gemeinde nennen sollten, das heidenchristliche Markus- Evangelium, wie Mt. 12-28 ausweist, und rechtfertigte diesen Übergang zum Heidenchristentum mit dem weltweiten Missionsbefehl des Auferstandenen. So hörte das Judenchristentum als selbständige Größe praktisch auf zu existieren, doch die beibehaltene judenchristliche Botschaft ging so in die paulinisch-markinische Großkirche ein. Damit bleiben für uns Jesu Worte trotz allem zugänglich, so daß die Kirche noch heute auf Jesus hören kann. Das aber gerade ist es, was sie nach meiner Meinung auch tun soll! Anmerkungen 1 Siehe meine (allerdings kritische) Einleitung in: A. Schweitzer, Die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, München und Hamburg 1966, 7-24. 2 Um die Jahrtausendwende erscheint The Critical Edition of Q in a Synopsis Including the Gospels of Matthew and Luke, Mark and Thomas, with Eng- ZNT 1 (1998) lish, German and French Translations of Q and Thomas, hgg. von J. M. Robinson, P. Hoffmann und J. S. Kloppenborg (Volume Editor: M. C. Moreland), Leuven. 3 JBL 109 (1990) 499-501; 110 (1991) 494-498; 111 (1992) 500-508; 112 (1993) 500-506; 113 (1994) 495-499; 114(1995)475-485; 116(1997)521-525. 4 C.H. Weiße, Die evangelische Geschichte kritisch und philosophisch bearbeitet, 2 Bände, Leipzig. 5 Documenta Q: Reconstructions of Q Through Two Centuries of Gospel Research, Excerpted, Sorted and Evaluated, hgg. von J. M. Robinson, P. Hoffmann und J. S. Kloppenborg (General Editors). In 1996 sind die ersten beiden Bände dieser Reihe schon erschienen: Q 11: 26-4, The Lord's Prayer; und Q 4: 1-13,16, The Temptations of Jesus; Nazara. 1997 sind zwei Bände schon im Druck: Q 12: 49-59, Children against Parents; Judging the Time; Settling out of Court; und Q 12: 8-12, Confessing and Denying; Speaking against the Holy Spirit; Hearings before Synagogues. Auch noch für 1997 steht in Vorbereitung: Q 22: 28,30, Judging the Twelve Tribes of Israel. 6 Diese Verfahrensweise wurde zuerst von mir eingeführt: The Sermon on the Mount/ Plain: Work Sheets for the Reconstruction of Q, SBL.SP 22 (1983) 451-454. Sie hat sich mittlerweile weitgehend durchgesetzt. 7 R. Bultmann,Jesus, Tübingen 1926, 16: »Als der Träger dieser Gedanken wird uns von der Überlieferung Jesus genannt; nach überwiegender Wahrscheinlichkeit war er es wirklich. Sollte es anders gewesen sein, so ändert sich damit das, was in dieser Überlieferung gesagt ist, in keiner Weise. So sehe ich auch keinen Anlaß, der folgenden Darstellung nicht den Titel der Verkündigung Jesu zu geben und von Jesus als dem Verkünder zu reden. Wer dieses ,Jesus< für sich immer in Anführungsstriche setzen und nur als abkürzende Bezeichnung für das geschichtliche Phänomen gelten lassen will, um das wir uns bemühen, dem ist es unbenommen.« 8 J. M. Robinson, Kerygma und historischer Jesus, übersetzt von H.-D. Knigge, Zürich und Stuttgart 1960 (2., erweiterte Aufl. 1967). 9 Schon der Text von Q (» ... wie sie wachsen ... «) ist korrumpiert worden. Codex Sinaiticus''· las zu Mt 6,28 » ... weder krempeln ... «, eine Lesart, die auch durch das Thomas-Evangelium Spruch 36 (P. Oxy. 655) bestätigt wird: » ... Um vieles besser seid ihr als die Lilien, welche weder krempeln noch spinnen. Und kein Kleid habend, was werdet ihr euch anziehen ihr? Wer könnte zufügen eurem Lebensalter? Er selbst wird euch euer Kleid geben! « Die wohl ur- ZNT 1 (1998) sprüngliche Lesart »nicht krempeln« statt »wachsen« kann nur auf eine hinter Q liegende Urquelle zurückgehen, weil der korrumpierte Text auch bei Lk 12,27 vorkommt, also schon bei Q vorauszusetzen ist, wie im einzelnen ausgearbeitet worden ist in dem Aufsatz von J. M. Robinson und C. Heil, Zeugnisse eines schriftlichen, griechischen vorkanonischen Textes: Mt 6,286 t\ P. Oxy. 655 I,1-17 (EvTh 36) und Q 12,27, der wohl ZNW 89 (1998) erscheint. 10 J. M. Robinson, The Jesus of Q as Liberation Theologian, in: The Gospel Behind the Gospels: Current Studies on Q, hg. von R. A. Piper, Supplements to Novum Testamentum 75; Leiden, New York, Köln 1995. 259-274. 11 G. Theißen, Wanderradikalismus. Literatursoziologische Aspekte der Überlieferung von Worte Jesu im Urchristentum, ZThK 70 (1973) 245-271, Neudruck in ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19) Tübingen 1979, 79-105. 12 H. Stegemann (Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus: Ein Sachbuch, Freiburg, Basel, Wien 1993 [ 3 1994], 327-328) will Jesus nicht unter die damaligen »Exorzisten« rechnen: »Für diese Arten von Wunder gab es keinerlei Technik, die Jesus von den Essenern oder anderen Zeitgenossen hätte erlernen können. ( ... ) Für Jesus waren die Ereignisse, daß Dämonen ohne jedwede Art von Exorzismus wichen, eindeutiges Zeichen dafür, daß Gott selbst wieder auf Erden wirkte. ( ... ) Wie sein Wort vom ,Finger Gottes< und die Wunderberichte der Evangelien zeigen, ging Jesus zwar davon aus, persönlich in dieses Gotteshandeln einbezogen zu sein, betrachtete es aber nicht als grundsätzlich an seine Person gebunden. Vielmehr war er dessen gewiß, daß allerorten im Heiligen Land Gleiches geschähe, nämlich daß ohne die Anwendung exorzistischer Praktiken Dämonen wichen.« Auch wenn exorzistische Praktiken ab und zu Jesus zugeschrieben wurden, hat Jesus das Austreiben der Dämonen nicht an seine Person gebunden verstanden, wie Q 11,21 zeigt. So bin ich mit der Darstellung Stegemanns einverstanden, im Unterschied zu den landläufigen Darstellungen, die die Dämonenaustreibungen gegen den offenkündigen Sinn dieser Stelle unbedingt christologisch auslegen wollen. Ob man Jesus die Bezeichnung »Exorzist« absprechen will, ist eher eine Geschmacksfrage. 13 R. Buhmann, Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus, Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse, Jahrgang 1960, 3. Abhandlung, Heidelberg 1960, 27: »Mehrfach und meist als Kritik wird gesagt, daß nach mei- 25 ner Interpretation des Kerygmas Jesus im Kerygma auferstanden sei. Ich akzeptiere diesen Satz. Er ist völlig richtig, vorausgesetzt daß er richtig verstanden wird. Er setzt voraus, daß das Kerygma selbst eschatologisches Geschehen ist; und er besagt, daß Jesus im Kerygma wirklich gegenwärtig ist, daß es sein Wort ist, das den Hörer im Kerygma trifft.« 14 U. Luz, Matthäus, EKK 1 / 1, 66: »Wir vertreten deshalb die These, daß das Matthäusevangelium aus einer Gemeinde stammt, die von den wandernden Boten und Propheten des Menschensohns der Logienquelle gegründet worden ist und weiter im engen Kontakt mit ihnen steht. Die Überlieferungen von Q spiegeln also für die Gemeinde Erfahrungen aus ihrer eigenen Geschichte. Sie sind ,eigene< Traditionen.« 15 J. M. Robinson, The Matthean Trajectory from Q to Mark, in The Bible and Culture: Ancient and Modem Perspectives, hg. von A. Y. Collins, SBL Symposium Series, Atlanta, erscheint 1998. 16 0. H. Steck (Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten, Untersuchungen zur Überlieferung des deuteronomistischen Geschichtsbildes im Alten Testament, Spätjudentum und Urchristentum (WMANT 23), Neukirchen-Vluyn 1967, 237-239) datiert Q 13,34-35 während des jüdischen Krieges 66-70. Aber diese Stelle wurde Q nicht zugerechnet, 283, Anm. 1, weil Steck Q früher datierte, wie es damals in Heidelberg üblich war. D. Lührmann, Die Redaktion der Spruchquelle (WMANT 38) Neukirchen-Vluyn 1969, 44, Anm. 5 hat diese Schlußfolgerung nicht akzeptiert, und (88) eine Datierung von Q in den SOer oder 60er Jahren zugestanden, wie heute oft angenommen wird. Diese Spätdatierung der Redaktion von Q habe ich weiter untermauert, The Sequence of Q: »The Lament over Jerusalem«, in: Von Jesus zum Christus - Christologische Studien für Paul Hoffmann, hgg. von U. Busse and R. Hoppe, Berlin und New York, erscheint 1998. Theologie- Neuerscheinungen ETHIK UND IDENTITÄT Thomas Laubach (Hrsg.) Ethik und Identität Festschrift für Gerfried W. Hunold zum 60. Geburtstag 1998, 270 S., DM 78,-/ ÖS 569,-/ SFr 74,- ISBN 3-7720-2188-3 Das zunehmende Interesse der Moralphilosophie wie der Theologischen Ethik an Fragen der Identität verdankt sich vielfachen Herausforderungen. Der Band greift diese auf und wendet sich drei Themenkomplexen zu: 1. der Grundfrage nach der Bedeutung der Identität für die Ethik, 2. den historischen und systematischen Grundlagen der Auseinandersetzung mit diesem Spannungsverhältnis und 3. ausgewählten Problembereichen der angewandten Ethik. Ulrich Bogun Darstellendes und wirksames Handeln bei Schleiermacher Zur Rezeption seines Predigtverständnisses bei F. Niebergall und W. Jetter 1998, 270 Seiten, DM 68,-/ ÖS 496,-/ SFr 65,- ISBN 3-7720-2189-1 Die Studie bietet einen Beitrag zur Rezeptionsgeschichte Schleiermachers (1768-1834) im Bereich der Homiletik. Sie verfolgt das Ziel, Schleiermachers Predigtkonzept für die Modeme fruchtbar zu machen und greift dazu auf die Predigtgeschichte zurück. Michael Haspel Politischer Protestantismus und gesellschaftliche Transformation Ein Vergleich der Rolle der evangelischen Kirchen in der DDR und der schwarzen Kirchen in der Bürgerrechtsbewegung in den USA 1997, 376 Seiten, DM 96,-/ ÖS 701,-/ SFr 86,- ISBN 3-7720-2179-4 - A. Francke Verlag Tübingen und Basel• Postfach 2560 • D-72015 Tübingen 26 ZNT 1 (1998) Eric M. Meyers Jesus und seine galiläische Lebenswelt 1 Im folgenden möchte ich einen, im wahrsten Sinn des Wortes, handgreiflichen Einblick in eine Region vermitteln, in der ich nunmehr seit fast dreißig Jahren archäologisch tätig bin und in der vieles von dem seinen Anfang nahm, das uns Theologen und Religionswissenschaftler so sehr beschäftigt. Die Archäologie Galiläas hat gerade in den letzten Jahren eine wahre Explosion an Interesse verzeichnen können. Eine Flut neuer Ausgrabungen verändert auf dramatische Weise die sachlichen Grundlagen für archäologische Interpretationen praktisch von Minute zu Minute. Ältere Arbeiten zum Regionalismus in Galiläa Ich nehme an, meine Tätigkeiten zuerst in Obergaliläa und seit neuester Zeit in Untergaliläa haben einen kleinen Anteil daran, daß sich in letzter Zeit so großes Interesse an diesen beiden Regionen entzündet hat. Ich möchte daher zunächst mit einer Einführung und Überprüfung einiger meiner früheren Überlegungen zum Regionalismus in Galiläa beginnen und diese dann in den weiteren Kontext neuerer Forschung zu Galiläa, zu Jesus, über den zwischen-regionalen Handel und die Mobilität in Galiläa und darüber hinaus stellen. Eine der wichtigsten Einsichten, die wir während der ersten Dekade unserer Arbeit in Obergaliläa gewonnen haben, war, daß die speziellen geographischen Bedingungen dieser Region eine beträchtliche Rolle bei der Ausformung der dortigen Kultur in römisch-byzantinischer Zeit gespielt haben. Es stellte sich früh heraus, daß Reste des 1. Jahrhunderts u. Z. an den meisten Orten nur spärlich erhalten waren, und daß wir Alternativorte auswählen mußten, um zu gesicherten Ergebnissen zu gelangen. Die Erkenntnis der enormen natürlichen Unterschiede zwischen Ober- und Untergaliläa, ja sogar innerhalb des nordöstlichen Obergaliläa entlang des Grabenbruches ermöglichte es, eine Theorie zum Ausmaß und Profil der Hellenisierung des täglichen Lebens zu formulie- ZNT 1 (1998) ren, von der weite Teile durch die Forschung in der Folgezeit bestätigt wurden. 2 Einige Aspekte dieser Überlegungen, besonders zum Handel mit Gebrauchskeramik und der Verbreitung diesbezüglicher Typen, mußten freilich aufgrund neuer Grabungen und naturwissenschaftlicher Untersuchungen an der Ware (Neutronenaktivierungs- Analyse, petrographische Untersuchungen etc.) revidiert werden. 3 Das Fehlen von Städten ist eines der bemerkenswertesten Merkmale Obergaliläas. Bis in byzantinische Zeit wird die Region als »Tetrakomia« bezeichnet, mit der Implikation, daß dort wenigstens vier größere Dörfer lagen, auf die die regionale Wirtschaft und Politik bezogen waren. 4 Auch der Golan war frei von Städten in römischer Zeit, und die Ähnlichkeit vieler Aspekte der materiellen Alltagskultur zwischen Golan und Obergaliläa resultiert genau aus diesem Fehlen von Städten. In einer Zeit, in der römische Politik, und Propaganda durch ihre größeren Städte, wahrgenommen wurden, waren solche Landstriche, die noch nicht von der Urbanisierung berührt waren, signifikante Ausnahmen. 5 Es ist somit deutlich, daß einige Bewohner von Oberbeziehungsweise Untergaliläa ihren Handel über diese heidnischen Städte abwickelten, die um Obergaliläa herum lagen und dadurch sowohl die lokale Wirtschaft als auch den Handel beeinflußten. Die wichtigste der palästinischen Städte dieser Region war Tyrus, dessen Einfluß in hervorragender Weise durch die Münzen belegt wird, die in ganz Galiläa, vor allem aber in Obergaliläa, gefunden wurden, darüber hinaus aber auch Akko/ Ptolemais, beide an der phönizischen Küste gelegen. 6 Die selbständige Stadt Caesarea Philippi in der nordöstlichen Ecke Obergaliläas ist ein weiterer wichtiger Berührungspunkt mit einem urbanen Zentrum. Um Mißverständnisse zu vermeiden, ist sofort zu betonen, daß aus der Existenz solcher Städte im Osten, vor allem der Dekapolis oder der phönizischen Küste, nicht folgt, daß diese nur diejenigen Formen hellenistisch-römischer Kultur zur Schau trugen oder 27 28 PALAS TINA IM 15. REGIERUNGSJAHR DES TIBERIUS Q._ __ 10 ......_20.._ __ JO_.....,«l __ ~ .......__.6flkm ~ AOmisdle PrtNinl unter ~ PONTIUS PII.ATUS ffi HEROOES ANTIPAS ~ ~S PHIUPPUS § LYSANIAS" ABIUNE ® Haupl-unl Groest- • Sddledor Dekapob · ..... A , , 1 11 1 l. '·- ' ·- .. .. J-'· 1 1 1 1 I , PHILADELPHIA _____ " ·• .. (., •Bona r: : / ,. ZNT 1 (1998) repräsentierten, die im Gegensatz standen zur einheimischen semitischen Stadt- und Dorfkultur. Im Gegenteil, Bowersock hat erst vor Kurzem wieder in überzeugender Weise dargelegt, daß derartige städtische Zentren ihrerseits einheimische Kultur widerspiegeln, die Ausdrucksformen hellenistisch-römischer Zivilisation also den deutlichen semitischen Grundton in Bereichen wie Kult, Architektur und Sprache nicht verdecken konnten. Demnach braucht Hellenismus nicht als kulturelle Bewegung verstanden zu werden, die einheimische Religionen bedrohte, sondern der Hellenismus gab ihnen einen neuen Rahmen, in dem sie sich ausdrücken konnten. 7 Weder das Fehlen noch das Vorhandensein von Städten in Teilen Galiläas oder der Peripherie braucht also den Grad widerzuspiegeln, bis zu welchem einheimische Kultur zum Ausdrucksmittel für hellenistische Kultur geworden ist, weil letztere oft als Rahmen diente, um lokale semitische Kultur zu bewahren und weiterzuentwickeln. Durch die relative Isolation Obergaliläas von den urbanen Zentren wurde die Region also keinesfalls immun gegen die damalige wirtschaftliche und kulturelle Wirklichkeit, obwohl die dortigen Bewohner vielleicht gerade noch von den augenfälligsten Verführungen hellenistischen Lebens wie Theater und heidnischen Statuen bewahrt wurden. Importierte Feinkeramik ist regelmäßig bei Ausgrabungen anzutreffen, die regionale Währung schloß selbstverständlich tyrische Münzen ein und Luxusgüter wie Schmuck und Glaswaren wurden zweifellos von außerhalb der Region importiert. Die Küchenware bezog man vom Töpferzentrum Kfar Hananiah an der Grenze zwischen Ober- und Untergaliläa, ungefähr 12 Meilen von Meiran entfernt (mod. Kafr 'Inan, Grid Ref.: 189 258), oder von lokalen Wanderhändlern, die diese Ware mit sich führten. Mit anderen Worten erwies sich Obergaliläa als nicht so isoliert wie ich zunächst annahm, aber die folgenden Charakteristika der Region sollten festgehalten werden: 8 1. Die Verzierungen an öffentlichen und großen privaten Gebäuden zeigen zwar deutlich hellenistischen Stil, vermeiden aber allzu große ikonographische Exzesse, vor allem Tier- und Menschendarstellungen in der mittel- und spät- ZNT 1 (1998) römischen Zeit (das 1. Jh. ist sehr schlecht erhalten). Bildliche Mosaike sind praktisch unbekannt, die Hauptausnahme ist lediglich die späte Synagoge in Meroth. 2. Griechische Inschriften sind fast unbekannt in jüdischen Fundstellen der römischen Periode, was auf Aramäisch und Hebräisch als dominierende Sprachen weist. 3. Schließlich fehlen die bekannteren Merkmale städtischen Lebens wie Aquädukte, Bäder, Statuen, Nymphäen, Wandmalereien, Tempel und Theater praktisch völlig in der Tetrakomia. Man kann Obergaliläa und Teile des Golan also mit gutem Grund trotz unleugbarem hellenistischen Einflusses als konservativ, ländlich, semitisch und überwiegend jüdisch bezeichnen. Der Grad, bis zu welchem man es als »isoliert« zu betrachten hat, verdient sicherlich im Licht der beträchtlichen Funde importierter Waren weitere Diskussion. Hier aber ist Vorsicht angebracht, wie vielleicht ein Beispiel aus unseren Tagen nahelegen mag: Noch die am weitesten rechts stehenden jüdisch-orthodoxen Gruppen mögen sehr wohl manche Aspekte städtischer Kultur verachten und sogar den Staat Israel ablehnen, und trotzdem wie selbstverständlich das teuerste importierte Porzellan verwenden, sich mit den feinsten importierten Textilien kleiden oder Schmuck aus aller Herren Länder tragen. Obwohl ich keineswegs suggerieren möchte, daß Jesu Wirken sehr viel mit Obergaliläa zu tun hatte, macht sein Auftreten in Tyros und Sidon (Q 10,13f.) und seine Wanderungen in »ganz Galiläa« und an anderen Orten nahe bei Obergaliläa vielleicht doch wahrscheinlich, daß er bei der einen oder anderen Gelegenheit diese Region durchzog. Ja, man kann sich sogar vorstellen, daß die Erwähnungen von Tyros und Sidon sich auf Teile Obergaliläas beziehen, die, wie wir schon bemerkt haben, intensiven Handel mit Tyros trieben, das gerade einmal 36 Meilen Luftlinie von Sepphoris in Untergaliläa entfernt ist. Nicht umsonst sagt Markus, daß Jesus nur die Grenzen von Tyros (7,24.31 ), das Dorf Caesarea Philippi (8,27) und das Gebiet von Gadara (5,1) besucht habe, wobei er vielleicht absichtlich die urbanen Zentren vermieden hat. 29 Untergaliläa und Regionalismus Mit gutem Grund wandte man sich in letzter Zeit verstärkt Untergaliläa als der Region zu, die den Hintergrund von Jesu Wirken bildet. Obwohl diese Region näher an Griechenstädten liegt und von ihnen geradezu umschlossen ist (wie z.B. Akko/ Ptolemais, Bet-Shean/ Scythopolis, wo Juden als Minderheit bereits seit einiger Zeit lebten), bestand die Bevölkerung Untergaliläas vor dem ersten Aufstand bis zum Bar-Kochba-Krieg ebenfalls überwiegend aus Juden. Zweifellos waren die jüdisch-herodianischen Städte Sepphoris und Tiberias die wichtigsten urbanen Zentren Galiläas, wobei das Gebiet von Sepphoris eine Fläche von mindestens 60 Hektar mit etwa 18 000 Bewohnern umfaßte, und Tiberias ungefähr 80 Hektar mit einer Bevölkerung von 24000 Menschen umschloß. Mit Josephus verweist Hoehner auf Tarichaeae (Magdala, Grid Ref.: 198 247) und Gaba (Grid Ref.: 163 224) als zwei weitere größere Städte in der Region, aber sie sind viel kleiner, jeweils unter 20 Hektar und mit einer Bevölkerung von ca. 3000 Menschen. Nimmt man an, daß in Galiläa etwa 200 Dörfer existiert haben mit ungefähr jeweils 500 Einwohnern, was vernünftig scheint, dann läßt sich die Bevölkerung auf etwa 150000 bis 175000 Menschen schätzen, wobei die große Mehrheit in Dörfern statt in Städten wohnte, nicht weit von den 200 000 Personen, von denen Hoehner spricht. 9 Doch sind, wie Jonathan Reed bei seiner zurückhaltenden Schätzung der Bevölkerung Kapernaums auf ca. 1700 Personen jüngst gewarnt hat, genaue Werte aufgrund begrenzter Grabungen immer noch sehr problematisch. 10 Daher ist es nur als eine krasse Vereinfachung zu bezeichnen, wenn man meint, daß neuere Grabungen und Arbeiten in Galiläa den Eindruck bestätigen, daß signifikante städtische Einflüsse auf J esu frühes Leben und Lehren existiert hätten. Nimmt man etwa Crossans Modell, wonach ein städtisch geprägtes Galiläa das passende Setting für die Verbreitung kynischer Ideen (einer bestimmten mediterranen Philosophie, die ländliche Bevölkerungskreise befähigte, mit den Ungerechtigkeiten des Lebens zurechtzukommen), darstellte, dann müssen wir sagen, daß sich dies durch nichts bestätigen läßt, was wir in beiden Galiläas untersucht haben. 11 Im Gegenteil, trotz einiger 30 Eric M. Meyers Prof. Dr. Eric M. Meyers lehrt als Professor of Religion and Archaeology an der Duke University in Durham/ North Carolina. Seine fast 30jährige Ausgrabungstätigkeit an mehreren Orten in Galiläa (zuletzt in Sepphoris) und umfangreiche Forschungen zur Geschichte und Kultur dieser Region in hellenistisch-römischer Zeit sind wegweisend. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher und Artikel in den Bereichen Bibelwissenschaft und Judaistik und Editor-in-Chief der grundlegenden Oxford Encyclopedia of Archaeology in the N ear East (1997). Zwei Gastprofessuren führten in 1995 und 1997 auch nach Deutschland. wichtiger Einflüsse römischer Stadtkultur auf die galiläische Gesellschaft vor 70 u. Z., wie sie sich am deutlichsten in Sepphoris und Tiberias zeigt, läßt sich ein derartiges Setting nur an Orten wie Skythopolis, Ptolemais oder in der Dekapolis antreffen. Im Falle Galiläas traten diese Veränderungen erst nach 70 auf, und zwar nur in Untergaliläa und lange nach J esu Wirken. Man kann nicht behaupten (geschweige denn aus der Archäologie erschließen), daß Städte oder Dörfer zur Zeit Jesu bar jeder Kultur und Gelehrsamkeit waren.Ja, man kann nicht einmal behaupten, daß die Griechenstädte völlig »griechisch« in ihrem kulturellen Profil waren, »orientalisch« oder »nahöstlich« trifft den Sachverhalt wohl viel besser. Wie mein Kollege und Freund Sean Freyne, mir zu diesem Punkt mitteilte: »Meiner Meinung nach ist es unrealistisch anzunehmen, daß große geographische Nähe zu einem städtischen Zentrum zugleich bedeutet, daß die Bevöl- ZNT 1 (1998) kerung als ganze zwangsläufig mit den realen oder vermeintlichen Werten und Ansichten dieser Zentren erfüllt würde. Man sollte vielmehr danach fragen, mit welchem Zweck bestimmte Kreise der Bevölkerung diese Werte und Ansichten übernahmen und warum sie die überkommenen verlassen haben.« 12 So verschieden Untergaliläa auch von Obergaliläa gewesen sein mag, in vielerlei Hinsicht ähnelten sie sich sehr. Ich habe bereits auf die Tendenz hingewiesen, den »urbanen« Charakter Untergaliläas besonders aufgrund von Sepphoris und Tiberias zu überschätzen. Herodes Antipas, der von 4 vor unserer Zeit bis 39 nach der Zeitenwende als Tetrarch über Galiläa und Peräa herrschte, veranlaßte in den ersten vier Jahrzehnten des ersten Jahrhunderts den Wiederaufbau und die Erneuerung von Sepphoris, von wo aus er zuerst Galiläa seit 2 v. verwaltete, und befahl die Gründung der Stadt Tiberias zwischen 17 und 23 n. Abgesehen davon, daß Antipas Tiberias über einem jüdischen Friedhof errichten ließ (Josephus, Ant. 18,38), Herodias heiratete (Josephus, Ant. 18,109-136) und Tierdarstellungen in seiner dortigen Residenz in Auftrag gab (Josephus, Vita 65-66 ), respektierte er doch die religiösen Gefühle seiner jüdischen Untertanen. Vor allem hinsichtlich des Bilderverbots scheint es, Antipas habe dafür gesorgt, daß Galiläa während der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts weitgehend anikonisch blieb. Bisher wurden keine Statuen von Augustus oder Tiberius gefunden. Es sind auch keine Spuren von Herrscherverehrung bekannt, und keine Darstellungen des hellenistisch-römischen Pantheons wurden gezeigt. Ferner blieben die Münzen des Antipas anikonisch, trugen keinerlei figürliche Darstellungen von Menschen oder Tieren. 13 Insgesamt läßt sich daraus schließen, daß der Tetrarch eine bemerkenswerte Sensibilität jüdischen religiösen Ansichten gegenüber an den Tag legte oder zumindest aus purem Opportunismus die jüdischen Gesetze beachtete, um effektiver zu herrschen. Andererseits sorgte Antipas nicht generell für Gerechtigkeit in Galiläa (Josephus, Ant. 18,106-108), und die Hinrichtung Johannes des Täufers war skandalös. Man wundert sich, wie es Jesus vermochte, nicht in Konflikt mit Antipas zu geraten. Am wichtigsten aber ist, daß Antipas darauf bedacht war, die religiösen Kreise unter den Juden Galiläas nicht durch Münzbilder zu verletzen und es unterließ, ZNT 1 (1998) wie sein Vater heidnische Sitten an Orten wie Caesarea oder Samaria/ Sebaste zu fördern. In der markinischen Perikope Mk 12,13-17 spiegelt sich zweifellos, wie heikel das Thema Steuermünze und Ikonographie tatsächlich war, wobei Jesus bewußt zu vermeiden scheint, in eine unangenehme Situation hineingezogen zu werden, aus der es kaum ein Entrinnen gibt. 14 Hinsichtlich der archäologischen Befunde in Sepphoris, die in die erste Hälfte des 1. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung datieren, wurde bisher noch nichts gefunden, was sich als heidnischer Tempel interpretieren ließ, keine Altäre oder Statuen und keine relevanten Inschriften. Im Gegenteil, wir stießen auf Ritualbäder in Häusern und andere Gegenstände des täglichen Lebens, alle nicht-figural und recht unspektakulär. Sollte es zutreffen, daß Galiläa jüdischer Halacha zur Zeit J esu aufgeschlossen gegenüberstand, und die Grabungen in Sepphoris und anderswo bestätigen dies aufs Stärkste, dann können wir die Behauptung zahlreicher Forscher verneinen, die immer noch der Sicht anhängen, daß Galiläa überwiegend bäuerlich und ländlich und die Leute eher »einfach« waren. Weil die Jesusbewegung in dieser Umwelt verwurzelt sei, behauptet man, fänden sich auch keine Erwähnungen irgendwelcher städtischer Zentren wie Sepphoris oder Tiberias im NT. Sobald Juden auf Heiden treffen, fährt man dementsprechend fort, ereigneten sich diese Begegnungen vermutlich in Städten und waren stets mit Spannungen belastet. Ihre Feindseligkeit würde aus dem Gegensatz von Stadt und Dorf resultieren, wobei man sich die Stadt in der Regel als Unterdrücker durch Steuern und Landerwerb vorstellt. Da die Urbanisierung Untergaliläas mit Sepphoris und Tiberias in Verbindung gebracht werden kann, kann das auffällige Schweigen des NT über sie erklärt werden, wenn wir alle unsere Quellen zu Galiläa nutzen, um die Jesusbewegung zu erklären. Obwohl nicht ohne geographische Details oder Informationen, fehlt den Evangelien sicherlich die Breite und Genauigkeit der Angaben, die uns Josephus, die Rabbinen und heidnische Schriftsteller wie Strabon und Plinius zu Galiläa überliefern. Wie wir bereits bemerkt haben, bewegte sich Jesus frei in ganz Galiläa auf dem Weg zu verschiedenen Stadtgebieten, wenn auch nicht zu ihren Zentren. 31 Falls die neutestamentlichen Angaben zutreffen, könnte Jesus sehr wohl die nördlichen Ränder Obergaliläas besucht haben, die an Akko/ Ptolemais, Sidon und Tyros grenzen. Wäre Markus kurz vor oder nach dem ersten Aufstand gegen Rom geschrieben, wäre es unwahrscheinlich, daß Jesus so ungehindert herumgezogen sein könnte, da die jüdisch-heidnischen Beziehungen damals besonders in den hellenistischen Städten äußerst angespannt waren Qosephus, Bellum 2,457-465). Aber warum werden die jüdischen Städte Sepphoris und Tiberias in den Evangelien übergangen ? 15 Angesichts der großen Bedeutung dieser Zentren für das kulturelle und wirtschaftliche Leben Galiläas können sie nicht einfach übersehen worden sein. Mißerfolg auf Seiten Jesu oder unfreundliche Aufnahme in den herodianischen Städten hätte sich zweifellos in einer Art von Verfluchung niedergeschlagen, wie wir sie im Fall von Kapernaum, Chorazin und Bet- Saida überliefert haben. Ein Grund für Jesu Besuche in heidnischen Städten war es, zu den Juden zu predigen, die dort ansässig waren, das heißt zu den »verlorenen Schafen des Hauses Israel« (Mt 10,6; 15,24). Tyros, Gerasa und Skythopolis besaßen alle beträchtliche jüdische Bevölkerungsanteile wie auch viele andere heidnische Städte. Somit erscheint es sinnvoll anzunehmen, daß Jesu galiläische Wirksamkeit kaum Sepphoris und Tiberias ausgelassen haben wird. Insoweit als beide herodianischen Städte das sich wandelnde Profil Galiläas am Ende des zweiten Tempels verkörpern, das heißt den Umbruch von der dorfzentrierten agrarischen hin zur städtischen Gesellschaft, dessen Bevölkerung nun auch Mitglieder der »retainer class« umfaßte, scheint das Schweigen des NT zu Sepphoris und Tiberias seine Bedeutung zu besitzen. Wir müssen jedoch betonen, daß diese jüdischen Städte nicht wie ihre heidnischen Gegenüber im ersten Jahrhundert waren: Sepphoris schlug seine ersten Münzen erst im Jahre 66, Tiberias nicht vor 100 nach der Zeitenwende. Erst zu diesem späteren Datum begannen beide Städte, größeren wirtschaftlichen Einfluß auszuüben, da bisher kaum Münzen von Herodes Antipas in Judäa gefunden wurden. Anscheinend übte seine Wirtschaft keine große Wirkung außerhalb einer recht begrenzten Region aus. Relative Unabhängigkeit und ein verändertes Profil der Städte sind daher eher später als früher plausibel, als Kriegsflüchtlinge vom Süden nordwärts 32 zogen und römische Soldaten ihnen folgten, um die Ordnung aufrecht zu erhalten. 16 Bezüglich des Ausmaßes, in welchem Galiläa, vor allem aber Untergaliläa, von Auswärtigen besucht wurde, dreht sich das Bild nun um. Einerseits kann man vor allem aufgrund schriftlicher Quellen zum Schluß kommen, daß Galiläa zur Zeit Jesu relativ gut erreichbar und offen für Fremde war, so daß sogar Haushaltskeramik aus Kfar Hananiah nicht nur in beiden Galiläas und im Golan gehandelt wurde, sondern auch in Akko/ Ptolemais und Caesarea Philippi (Banias). Gleichzeitig aber stellte Adan-Bayewitz fest, daß fast keine solche Ware nach Süden über den Nazareth-Kamm hinaus transportiert wurde.17 Wir sollten jedoch auch nach den Keramikdaten bezüglich der Situation nach 70 fragen, und was die Bedeutung dieser Daten ist in bezug auf den sogenannten Stadt-Land-Gegensatz. Hinsichtlich des letzten Punktes belegen die Daten sicherlich eine Kontinuität positiver Interaktion zwischen Stadt und Land in der frührömischen Periode. Theorien, die nahelegen, daß städtische Zentren das Umland lediglich ausbeuten, müssen allein schon aufgrund der archäologischen Daten nachdrücklich zurückgewiesen werden. Ferner zeigen die Befunde auch, daß das ländliche Galiläa zu dieser Zeit nicht ausschließlich agrarisch geprägt war. Da dieselben Keramikbefunde hinsichtlich der Herkunft für die gesamte römische und bis in die frühe byzantinische Periode gelten, dürfen wir unsere Schlüsse nicht auf die frührömische Periode allein beschränken. Das heißt, daß ländliche Siedlungen wie Kfar Hanania weiterhin die Bedürfnisse sowohl der städtischen Zentren als auch der Landstädte während der gesamten römischen Periode befriedigten, obwohl Galiläa mehr und mehr urbanisiert wurde und sich dort während des 2. und 3. Jh. n. ständig mehr Heiden ansiedelten. Meiner Ansicht nach, und in partieller Übereinstimmung mit anderen, ist das Schweigen des NT hinsichtlich der herodianisch-jüdischen Städte bewußt und künstlich. Es verlangt wohl zuviel Leichtgläubigkeit, sich irgendeine Art von Jesu Wirksamkeit vorzustellen, ohne daß er in Kontakt mit der Bevölkerung entweder von Tiberias oder Sepphoris gekommen ist. 18 Ob es deren Politik oder deren wirtschaftliche Rolle war, die Jesus hinterfragte, bleibt noch zu sehen. ZNT 1 (1998) Zuvor müssen wir aber prüfen, was die Archäologie Galiläas zur Beantwortung einer solchen Frage überhaupt beitragen kann. Stimmt das Bild, das man über Galiläa und die Galiläer aufgrund schriftlicher Quellen erstellen kann, mit demjenigen überein, das sich aufgrund der Archäologie ergibt? Betreffen die archäologischen Realien wie Gefäße und Münzen tatsächlich auch die symbolische Welt einer Kultur? Können diese Realien in einen Dialog gebracht werden mit den gesicherten Angaben aus schriftlichen Quellen? Kehren wir dazu zurück zur Frage nach dem Ausmaß, in welchem Untergaliläa fremden Einflüssen gegenüber offen oder verschlossen war und erinnern wir uns an unsere Beobachtung, daß Obergaliläa isolierter war als Untergaliläa. Nichtsdestoweniger wurde im Obergaliläa des 2. Jh. u.Z. ein römischer Tempel in Cadasa (Tel Qedesh, Grid Ref.: 200 279) errichtet, der der eindrucksvollste in ganz Israel überhaupt ist. Unweit nordwestlich davon fand man einen weiteren Tempel im Südlibanon, der Apollo und Diana geweiht und von einem Ring ländlich-heidnischer Dörfer umgeben war. Die »jüdische Demarkationslinie« in Obergaliläa verläuft also unmittelbar nördlich von Sasa, Baram und Qazyon; nördlich davon wurden keine jüdischen Reste gefunden. Den entscheidenden städtischen Einfluß in dieser Region, besonders im Norden (bei Meiron, Gush Halav und Kirbet Shema') übte Tyros aus. Wenn wir uns etwas nach Westen oder Südwesten bewegen, finden sich keine Synagogenreste in Obergaliläa westlich von Peqi'in-Rama, oder westlich einer Linie durch Rama, Ibillin und Tiv'on in Untergaliläa. Die südliche Grenze, sowohl gemäß dem Architekturals auch dem Keramikmaterial, bildet der Nazareth- Kamm. Die Gebiete westlich dieser Linie fielen in den kulturellen und wirtschaftlichen Umkreis von Akko/ Ptolemais. Die Lage auf der Ostseite ist komplizierter und schlechter publiziert, jedenfalls was jüdische Reste angeht, da viele von ihnen in Transjordanien liegen. Die westlichste Grenze der Dekapolis und zugleich die südwestliche Grenze U ntergaliläas markiert Bet-Shean / Skythopolis, eine Stadt mit einer großen jüdischen Gemeinde. Während es üblich ist anzunehmen, daß die Städte der Dekapolis ein Band heidnischer Städte darstellten, die das Ausmaß und die Ausbreitung jüdischer Kultur beschränkten, sind solche Vermutungen, wie ich schon gesagt habe, ziemlich verfehlt. ZNT 1 (1998) Die orientalischen Städte der Dekapolis und andere heidnische Städte sollten nicht nur als Lieferanten hellenistisch-römischer Kultur verstanden werden, sondern eher als östliche Städte mit hellenistischen Elementen, die oft die Ausdrucksfähigkeit semitischer Religion und semitischen Lebens erleichterten, eingeschlossen das Judentum. Jüdische Reste aus römischer Zeit sind wohlbekannt aus Gerasa (Jerash), Gadara (Umm Qeis), Abila und möglicherweise Capitolias (Beit Ras), alle in der Dekapolis. Darüber hinaus kennen wir eine signifikante jüdische Bevölkerung in Moab aus frührömischer Zeit, wie sie nun durch verschiedene Dokumente aus Höhlen am Toten Meer ans Licht gekommen ist. 19 Diese Funde ergänzen die bereits aus J osephus u. a. bekannte Bedeutung der einflußreichen hellenistisch-jüdischen Bank- und Handelsfamilie der Tobiaden in Iraq al-Amir unweit südlich von Philadelphia (Amman). Mein Doktorand Eric Lapp arbeitet gerade an einer Untersuchung über die Herstellungsorte und Handelswege römischer und byzantinischer Lampen. 20 Durch die Anwendung von Petrographie, Röntgentexperimenten und Neutronenaktivierung haben seine vorläufigen Studien bereits gezeigt, daß ein viel größerer wirtschaftlicher Austausch zwischen jüdischen Regionen und Orten und den Städten der Dekapolis bestand als früher angenommen.21 So fand man beispielsweise die vielerorts in Judäa vorhandenen keilförmigen, sogenannten »herodianischen« Lampenschnauzen auch in allen gerade erwähnten Dekapolisstädten inklusive Pella. Entsprechend sind auch andere Lampentypen des ersten Jahrhunderts von angeblich jüdischer Herkunft, wie die »Darom- Lampe« und ihre Imitate, in transjordanischen Dekapolisstädten gefunden worden. Zur Zeit läßt sich die Tragweite dieser wichtigen Arbeit noch gar nicht abschätzen. Man kann nur sagen, daß die östlichen heidnischen Städte viel offener waren für Kontakte mit jüdischen Händlern, als man sich das bisher vorstellen konnte, falls die sogenannte »herodianische« und »Damm-Lampe« tatsächlich jüdischer Herkunft sein sollten. Als logische Folgerung daraus könnte man behaupten, daß Kontakte zwischen Untergaliläa (mehr als Obergaliläa) und einigen Dekapolisstädten weit größer waren als wir früher dachten. Solche Kontakte könnten in der Tat dazu beitragen, 33 das Eindringen der Jesusbewegung in diese Region zu erklären (vgl. Mk 5,1-20), was nicht erst eine spätere markinische Perspektive widerspiegeln müßte. 22 Vielmehr ist Jesu Auftreten in solchen Regionen viel eher durch die Annahme substantieller jüdischer Gemeinden zu erklären. Auch dann wäre ich aber noch vorsichtig, um nicht zu viel aus archäologischen Überresten herauszulesen. Adan-Bayewitz stellte zurecht heraus, daß einiges an Kfar Hananiah-Keramik, die eigentlich in erster Linie von Juden hergestellt und vermarktet wurde, auch an Orten gefunden wurde, deren ethnische Zusammensetzung nichtjüdisch war, wie zum Beispiel Tel Anafa (heidnisch, Grid Ref.: 210 286), 23 Tabgha (christlich? , Grid Ref.: 201 252), Kapernaum (gemischt, Grid Ref.: 204 254) oder heidnische Städte wie Akko/ Ptolemais und Hippos/ Susita (Grid Ref.: 211 242). 24 Auch das Vorhandensein herodianischer Lampen an einigen Orten muß nicht allein schon für die Anwesenheit jüdischer Bewohner sprechen. Die Gründung der beiden städtischen Zentren Sepphoris und Tiberias 4 v. und etwa 18 n. u. Z. hatte sicherlich einen bedeutenden Einfluß auf das alltägliche Leben. Zahlreiche Dörfer, Höfe und Güter hatten nun für die N ahrungsmittelversorgung der wachsenden Stadtbevölkerung zu sorgen, und auf dem fruchtbaren Umland, das bisher unabhängigen Bauern die Selbstversorgung ermöglicht hat, wurden nun Produkte in viel größerem Maßstab zum Verkauf angebaut. Einige Erzeugnisse wurden auch in die Stadt gebracht, um daraus Wein, Olivenöl, Mehl oder anderes herzustellen. Die Städte entwickelten sich so zu Zentren der Nachfrage und des Verbrauchs, wie es etwa durch Funde von Keramik aus Kfar Hananiah deutlich wird, sowie einige Baumaterialien wie Marmor, und Steingefäße, die in Reina (Grid Ref.: 179 236) nahe Sepphoris ca. 4 km südöstlich von N azareth hergestellt wurden. In ganz Galiläa gibt es keinen Ort, der mehr als 25 km Luftlinie von einem der beiden urbanen Zentren entfernt liegt. Auch wenn einige der Kleinstädte und Dörfer in Teilen Galiläas ihre Distanz zu manchen der heidnischen Städte real und im übertragenen Sinne aufrechterhielten, scheint es viel unwahrscheinlicher, daß sie in vergleichbarer Isolation von Sepphoris und Tiberias ver- 34 harrten, die auf deren Bevölkerung zur Nahrungsmittel- und Gebrauchsgüterproduktion und als Arbeitskräfte zurückgriffen. Hinsichtlich des galiläischen Regionalismus können wir also zusammenfassen, daß Untergaliläa im Licht neuerer archäologischer Ergebnisse weniger isoliert war als Obergaliläa, und vermutlich in bescheidenem Maße weniger konservativ und (soweit es die Epigraphik nahelegt) eher der griechischen Sprache gegenüber aufgeschlossen, insofern also mehr »hellenisiert« war. Das heißt, Untergaliläa zeigt mehr Aspekte hellenistisch-römischer Urbanisierung und war weniger ländlich, wenn man die offensichtliche Bedeutung der beiden Städte Sepphoris und Tiberias betrachtet. Obwohl keine der Städte im NT erwähnt wird, hat Reeds Untersuchung zur Logienquelle Q deren breite Vertrautheit mit Elementen jüdischen Stadtlebens in Galiläa gezeigt, und sogar das Markusevangelium spiegelt das Wissen um den beträchtlichen Handel und Verkehr zwischen Stadt und Land und zwischen Galiläa und den heidnischen Städten. 25 Abgesehen davon, daß die Existenz römischer Straßen in Untergaliläa die Mobilität erleichterte, stellte allein schon die physische Gestalt Untergaliläas mit seinen drei natürlichen Ost-West-Kreuzungen einen selbstverständlichen Kontaktpunkt dar. Sepphoris Zum Abschluß möchte ich noch einige generelle Bemerkungen über die zur Zeit laufenden Grabungen in Sepphoris anfügen, an denen ich von Beginn an teilgenommen habe. 26 Generell ist der Erhaltungszustand der frührömischen Anlagen des ersten Jahrhunderts, wie allzu oft in Israel, nur sehr schlecht, da die Stadt während der etwa 426 Jahre dauernden römischen Herrschaft von Pompeius 63 v. bis zum Erdbeben von 363 n. ständig umgebaut wurde. Dabei wurden ältere Reste oft bis auf den gewachsenen Fels abgetragen. Eine weitere Neuorientierung der Stadt, zumindest auf dem Westhügel, ereignete sich noch nach 363. Nach den Angaben des Josephus wurde Sepphoris von den Römern nach dem Tod des Herodes im sogenannten »Krieg des Varus, als viele der Einwohner in die Sklaverei verkauft worden sind« ZNT 1 (1998) (Bellum 2,68; Ant. 17,289) erobert. Obwohl diese Nachricht recht unzweideutig und verläßlich erscheint, wurde bisher noch keine eindeutige Zerstörungsschicht identifiziert, die mit diesem Ereignis in Verbindung gebracht werden könnte. Josephus (Ant. 18,27) spricht weiterhin eindeutig von größeren Erneuerungs- und Wiederaufbaumaßnahmen unter Antipas (4 v. bis 39 n.). Vermutlich erhielt die Stadt zu dieser Zeit ihren Ehrennamen »Zierde ganz Galiläas«, nachdem sie zu Ehren des Augustus offiziell in Autocratoris umbenannt und neu befestigt worden war (Bell um 2, 117 f. ). Dabei bezieht sich der Begriff »Zierde« anscheinend eher auf die uneinnehmbare Befestigung der Stadt, und weniger auf ihre äußerliche Pracht. Erstaunlicherweise überliefert Josephus keine weiteren Nachrichten über die Ereignisse während der Regierung des Antipas, und wir müssen uns der Archäologie zuwenden, um diese Lücke zu schließen. Neueste Grabungsergebnisse, die aber noch systematisch ausgewertet werden müssen, legen nahe, daß die Befestigungen auf der Akropolis, die in ihrem Kern bereits auf die Wende vom 2. zum 1. Jh. v. u. Z. zurückgehen dürften, unmittelbar vor dem Ausbruch des Krieges gegen Rom systematisch geräumt und zugeschüttet bzw. umgebaut worden sind. Dies würde sich gut in das bekannte Bild der Stadt zur Zeit des ersten Krieges einfügen. Immerhin unterstützten die Einwohner damals Vespasian, übergaben ihm die Stadt und ließen Münzen zu seinen Ehren schlagen, die die Aufschrift »Eirenopolis« (Stadt des Friedens) trugen und Vespasian als Friedensstifter bezeichneten (Bellum 3,30-34). Josephus deutet freilich an einigen Stellen an, daß diese prorömische Position nicht ohne Schwierigkeiten durchgehalten wurde (Bellum 2,574; 2,629; 2,635-654). 27 Zwischen dem ersten und zweiten Krieg gegen Rom ließ sich die Priesterfamilie Jedaja in Sepphoris nieder. Doch Stuart Miller hat zu Recht darauf hingewiesen, daß bereits vor dem ersten Aufstand eine starke priesterliche Komponente in der Stadt anwesend war. 28 Zweifellos bestand die überwiegende Mehrheit der Bewohnerschaft vor der Herrschaft Hadrians (117-138 n.) aus Juden. Noch zu Zeiten Trajans wurden Münzen von den jüdischen Autoritäten geschlagen, die die Aufschrift »der Kaiser gab« trugen. Während der Herrschaft Trajans wurde die alte Stadtverwaltung ZNT 1 (1998) aufgelöst, eine heidnische Regierung eingesetzt und die Stadt in Diocaesarea (»Stadt des Zeus und des Kaisers«) umbenannt. Anscheinend wurde auch ein Tempel der kapitolinischen Trias errichtet, da Münzen von Antoninus Pius (138-161 n.) das Bild eines derartigen Heiligtums tragen. Überhaupt ändern sich die Münzbilder drastisch. Statt der traditionellen jüdischen Motive wie Lorbeerkranz, Palme, Krummstab, Kornähren tauchen nun heidnische Themen und Symbole auf. 29 Dieser Wandel zeigt deutlich die veränderten kulturellen Bedingungen unter den Bewohnern von Sepphoris während des 2. Jh. n. Chr. Im Gegensatz zur Politik der indirekten Kontrolle des Landes durch Klientelherrscher wie Herodes oder seinen Sohn Antipas waren die Römer nach dem ersten, vor allem aber nach dem zweiten Aufstand entschlossen, die unruhige Provinz nun unter direkte Herrschaft zu stellen. Dies versuchten sie, vor allem durch ein System expandierender Urbanisation und Kolonisierung durch die örtliche Verwaltung und das Militär durchzusetzen. Wo sich bereits starke Zellen heidnischer Bevölkerung befanden, so z.B. in Caesarea Maritima, Scythopolis, Ptolemais und Samaria/ Sebaste, wurde die militärische Präsenz verstärkt. Noch unmittelbar nach der ersten Revolte befanden sich nur etwa 10000 römische Soldaten in Judäa, bestehend aus der zehnten Legion und sechs bis zwölf Auxiliareinheiten. Die sechste Legion traf erst um 120 in Galiläa ein, und 1000 Soldaten wurden in Legio/ Kfar Otnai (Grid Ref.: 167 220) stationiert. Bis 135, nach dem Bar Kochba-Krieg, war diese Zahl auf 15 000 angestiegen. 30 Ausgehend von der archäologischen Arbeit vor Ort scheint es, daß das Theater zwischen 70 und 120 n. u. Z. erbaut wurde, aber auch wenn sich beweisen ließe, daß es bereits Antipas erbaut hätte, 31 können wir nicht unterschlagen, daß in Sepphoris kein Gymnasion existierte, daß dutzende Ritualbäder sowohl in den Häusern der Reicheren als auch in einfacheren Wohneinheiten gefunden wurden und daß die sprachlichen Daten aus Inschriften in späteren Synagogen und einigen früheren Gräbern eine Vorliebe für Aramäisch oder Hebräisch andeuten, obwohl das Material mit abnehmenden Alter dazu neigt, stärker zweisprachig (das heißt: Aramäisch oder Hebräisch und Griechisch) oder völlig Griechisch zu werden. Der Großteil der Haushaltskeramik stammte aus Kfar 35 Hananiah, doch daneben ex1st1eren auch em1ge Gefäße aus lokaler Produktion und zahlreiche fremde Importwaren von außerhalb Israels. Viel Glas scheint aus lokaler oder regionaler Herstellung zu stammen. Daher stützt die Geschichte und Archäologie von Sepphoris stark die These, daß die Stadt zur Zeit Jesu überwiegend jüdisch und hinsichtlich Sprache und religiöser Praxis traditionell orientiert war. Vermutlich auch noch durch die gesamte Antike hindurch besaß Sepphoris eine jüdische Bevölkerungsmehrheit. Die Stadt zeigte zwar ein urbanes Profil, war aber dennoch kein städtisches Zentrum von der Größe der heidnischen Städte. Sepphoris war mit anderen Orten und Dörfern Galiläas durch Handel und die Erfordernisse eines wachsenden Bevölkerungszentrums verbunden, es war in gewisser Weise aristokratisch wegen ihrer dort wohnenden Priester- und Oberschichtfamilien und der prorömischen Stellung während des Krieges. Vielleicht war Sepphoris zwar ein unangenehmer, aber nicht unvertrauter Ort für Jesus während seiner Wanderungen durch Galiläa. Jesu relative Meidung der Stadt Sepphoris könnte, sofern wir das Schweigen des NT etwas enger fassen dürfen, mit dem Wunsch in Verbindung stehen, einem Zusammenstoß mit Antipas, den lokalen Autoritäten oder einfach der Oberschicht aus dem Weg zu gehen, die wohl nicht besonders von seiner Botschaft angetan gewesen sein dürften. Das entstehende galiläische Stadtethos wird nicht umsonst mit der Geschichte vom Bankett des Antipas und der Enthauptung des Johannes bei Markus (6,17-29) in negativen Farben dargestellt. Ergebnis Ob wir ausgehen vom galiläischen Regionalismus, der Archäologie, oder ob wir uns den Evangelien oder Josephus zuwenden, es scheint mir unausweichlich anzunehmen, daß Jesu galiläischer Kontext zuerst und zuvorderst sowohl dem Inhalt als auch der Wirkung nach jüdisch war. Trotz der ersten Anfänge einer sich entwickelnden galiläischen Stadtkultur war deren Einfluß im ersten J ahrhundert noch recht bescheiden, wenn man sie mit der Urbanität heidnischer Städte wie z.B. Bet Shean vergleicht, wo eine jüdische Minorität lebte und wo offensichtlich eine heidnische Oberschicht den 36 herodianischen Klientelkönig Antipas halbwegs tolerierte. Ferner habe ich dafür plädiert, das Phänomen des Hellenismus nicht so sehr als gewaltsam eindringende Kraft zu begreifen, der daran gelegen war, einheimische Kulturen auszulöschen, sondern wir müssen vielmehr anerkennen, daß der Hellenismus in vielerlei Hinsicht einheimische, jüdische wie auch heidnische Kulturen erst in die Lage versetzte, das jeweilige Eigenprofil deutlicher und wirkungsvoller zum Ausdruck zu bringen. Insofern bedeutet das Vorhandensein von Elementen hellenistisch-römischer Kultur nicht Anbiederung, Selbstverleugnung oder traumatischen Umbruch, sondern lediglich einen Weg, lokale Kultur in neuer und oft aufregender Weise zur Geltung zu bringen. Die dramatischste Manifestation dieser Verbindung scheint sich in Galiläa freilich nicht vor dem zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung ereignet zu haben, besonders in Sepphoris, wo Patriarch Jehudas literarische Aktivitäten offensichtlich neben den bunten Szenen eines Dionysosmosaiks stattgefunden haben. Angesichts dieses galiläischen Umfelds kann ich mir keine mediterrane (sprich: hellenistische oder griechisch-römische) Tradition vorstellen, in der kynische Philosophie jüdische Gelehrsamkeit und Frömmigkeit ersetzt haben könnte. Meiner Meinung nach hat Crossan 32 das Ethos Galiläas mit dem der autonomen Städte der Region, oder vielleicht gar mit dem der Städte im Westen verwechselt. Der religiöse und ethnische Charakter dieser Städte war, trotz teils bedeutender jüdischer Minderheiten, eindeutig heidnisch, und die Umwelt war für jüdische Bewohner fremd und zuweilen gar feindlich. Antipas freilich tat wenig, seine jüdischen Untertanen herauszufordern und bemühte sich, Bilder auf seinen Münzen zu vermeiden oder gar heidnische Kultur zu propagieren. Im Grunde ertrug der galiläische Kontext zur Zeit Jesu noch, daß sowohl der beginnende Urbanismus als auch die bestimmende traditionell-galiläische Landkultur noch harmonisch nebeneinander existierten. Stadt und Land waren wirtschaftlich verknüpft, wie wir anhand der Keramik gezeigt haben, und sogar die jüdischen Ortschaften und die vier Großdörfer Obergaliläas waren mit den zwei herodianischen Städten Untergaliläas in regelmäßigem Kontakt, wie Keramik und Münzenbelege zeigen. ZNT 1 (1998) Der eindeutig jüdische Charakter der galiläischen Umwelt Jesu sollte freilich niemanden überraschen. Warum so viele Gelehrte die ländliche Umwelt Galiläas mit all ihren Ortschaften und Dörfern so dargestellt haben, als sei sie bar aller jüdischer Gelehrsamkeit und den alltäglichen Abläufen hellenistisch-römischer Lebensweise abhold, ist schwer verständlich. Ich überlasse es anderen im Fach Neues Testament, darüber intensiver nachzudenken. Aus dem Blickwinkel der Archäologie war uns schon lange das Gegenteil bekannt, gerade aufgrund angeblich »stummer Gefäße« und »schweigender Steine«. Wenn nun die gegenwärtige Generation mehr und mehr damit vertraut wird, archäologische Berichte zu lesen, wird vielleicht der einfachste Gegenstand, jedes Objekt, das zurückgelassen wird, wenn eine Kultur vergeht, mit derselben Autorität als historische Quelle ernstgenommen werden wie eines der anerkannten Worte Jesu. Betrachte ich die Ereignisse der vergangenen letzten Jahre, so scheint diese Zeit nicht mehr so fern von uns. Anmerkungen 1 Der Beitrag wurde gefördert durch The Endowment for Biblical Research. Die deutsche Überarbeitung der Fußnoten besorgte Dr. Jürgen Zangenberg. 2 Meine grundlegenden Artikel zu dieser Thematik sind: E. M. Meyers, Galilean Regionalism as a Factor in Historical Reconstruction, BASOR 221 (1976) 93-101; ders., The Cultural Setting of Galilee. The Case of Early Judaism, ANRW II 19/ 1 (1979) 686-701; ders., Galilean Regionalism. A Reappraisal, in: W. S. Green (hg.), Appraaches to Ancient Judaism V, Atlanta 1985, 115-131. 3 Die wichtigsten Forschungen auf diesem Gebiet stammen von D. Adan-Bayewitz, vgl. sein grundlegendes Werk Common Pottery in Roman Galilee. A Study of Local Trade, Ramat Gan 1993. Mein Schüler Eric C. Lapp hat diese Arbeit unter besonderer Berücksichtigung der Tonlampen im Rahmen seiner Dissertation fortgeführt, vgl. einstweilen seinen Artikel DCP Spectrametry, in: E. M. Meyers (hg.), The Oxford Encyclopedia of Archaeology in the N ear East II, Oxford und New York 1997 (im folgenden zitiert als OEANE), 117f. mit Bibliographie. 4 Vgl. M. Goodman, State and Society in Roman Galilee, A.D. 132-212, Totowa 1983, 125; S. Freyne, Galilee, Jesus and the Gospels. Literary Appraaches and Historie Investigations, Philadelphia 1988, 144. ZNT 1 (1998) 5 Hierzu vgl. allgemein F. Millar, The Roman Near East 31 BC-AD 337, Cambridge 1993. 6 Über den besonderen Einfluß der Stadt Tyras auf Obergaliläa siehe R. S. Hanson, Tyrian Influence in the Upper Galilee, Cambridge 1980 und meine Einführung in diesem Band. 7 G. Bowersock, Hellenism in Antiquity. Thomas Spencer J erame Lectures, Cambridge 1990, z.B. 7: Hellenism »was a medium not necessarily antithetical to local or indigenous traditions. On the contrary, it pravided a new and more eloquent way of giving voice to them«. Vgl. dazu meinen Aufsatz The Challenge of Hellenism for Early Judaism and Christianity, BA 55 (1992) 84-91. 8 Diese Beobachtungen basieren auf meiner früheren Arbeit in Khirbet Shema' (Grid Ref.: 191 264), Meiran (Grid Ref.: 191 265), Gush Halav (Grid Ref.: 191 270) und Nabratein (Grid Ref.: 197 267). Zu Khirbet Shema' siehe den gemeinsamen Abschlußbericht mit A. T. Kraabel, J. F. Strange, Ancient Synagogue Excavations at Khirbet Shema'. Durham 1976. Zu Meiran siehe J. F. Strange, C. L. Meyers, Excavations at Ancient Meiran, Cambridge 1981. Zu Gush Halav siehe E. M. Meyers, C. L. Meyers, Excavations at the Ancient Synagogue at Gush Halav, Winona Lake 1990. Zu Nabratein siehe E. M. Meyers, J. F. Strange, C. L. Meyers, Second Preliminary Report on the 1981 Excavations at en-Nabratein, Israel, BASOR 246 (1982) 35-54 und die dort zitierte Literatur. Zu Beobachtungen über den Galan siehe meinen Artikel mit J. F. Strange und D. E. Grah, The Meiran Excavation Praject. Archaeological Galilee and Golan, 1976, BASOR 230 (1976) 1-24. Vgl. auch die Zusammenfassung der Befunde bei S. Freyne, Galilee in the Hellenistic Thraugh Byzantine Periods, OEANE II, 370-376. Eine gänzlich andere Sicht Galiläas bietet R. A. Horsley, Galilee. History, Politics, People, Valley Forge 1995, dazu meine Kritik in An Archaeological Response to a New Testament Scholar, BASOR 297 (1995) 17-26. 9 H. W. Hoehner, Herad Antipas, Cambridge 1972, 52f. 10 J. Reed, The Population of Capernaum, Occasional Papers of the Institute for Antiquity and Christianity 24 (1992) hat die neue Literatur zu Bevölkerungsschätzungen gesammelt und kommentiert. Die Diskussion ist in seiner unveröffentlichten Dissertation Places in Early Christianity. Galilee, Archaeology, Urbanization and Q (Diss. Claremont University 1993) fortgeführt worden. Für die ganze Fragestellung sind M. Brashis Bemerkungen höchst relevant: The Population of Western Palestine in the Roman-Byzantine Period, BASOR 236 (1980) 1-10. 37 Siehe auch Broshis neuesten Beitrag Demography, OEANE II, 142-144. Ich schlage die obige Gesamtzahl in Anwendung von Broshis und Reeds Methode vor. Obwohl es Reed vermeidet, mit einer derartigen Zahl aufzuwarten, erscheint mir ein solcher Versuch für unsere Diskussion dennoch nützlich. 11 J. D. Crossan, The Historical Jesus. The Life of a Mediterranean Jewish Peasant, Garden City und Edinburgh 1992, dt. unter dem Titel Der historische Jesus, München 1994. 12 Persönliche Mitteilung. In diesem Zusammenhang vgl. Freynes Überlegungen in Urban Rural Relations in First Century Galilee. Some Suggestions from the Literary Sources, in: L. I. Levine (hg.), The Galilee in Late Antiquity, New York 1992, 75-94 (mit Literatur). 13 Vgl. dazu auch den Beitrag von G. Theißen, Das »schwankende Rohr« (Mt 11,7) und die Gründungsmünzen von Tiberias, in: ders., Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien. Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition, Freiburg/ CH u. a. 2 1992, 26-44. 14 Ich bin Professor Paul Corbey Finney dankbar für Hinweise zu dieser Perikope, vgl. dazu seinen Aufsatz: The Rabbi and the Coin Portrait (Mark 12.156, 16). Rigorism Manque, JLB 112 (1993) 629-644. 15 Tiberias wird nur in Joh 6, 1.23; 21, 1 erwähnt, freilich nicht als Wirkungsstätte Jesu, Sepphoris überhaupt nicht. 16 Die Thematik einer möglichen Berührung Jesu mit Sepphoris und Tiberias wurde jüngst in zwei Artikeln aufgegriffen, die anläßlich einer Ausstellung des North Carolina Museum of Art bei R. M. Nagy, C. L. Meyers, E. M. Meyers, Z. Weiss (hgg.), Sepphoris in Galilee. Crosscurrents of Culture, Winona Lake 1996 veröffentlicht worden sind: S. Freyne, Christianity in Sepphoris and Galilee, 67-73 und E. P. Sanders, Jesus' Relation to Sepphoris, 75-79. 17 Adan-Bayewitz, Pottery, 228-249 und Figure 11, 216f. 18 Sanders, Relation, 77 hält es für unwahrscheinlich, daß »Jesus carried out a substantive ministry in the cities of Galilee«. 19 Vgl. H. M. Cotton, J. C. Greenfield, Babatha's Patria. Mab-oza, Mab-oz 'Eglatain and Zoar, ZPE 107 (1995) 126-134. Die meisten einschlägigen Texte liegen vor bei N. Lewis, Y. Yadin, J. C. Greenfield (hgg.), The Documents from the Bar Kokhba Period in the Cave of Letters. Greek Papyri, Aramaic and Nabatean Signatures and Subscriptions, Jerusalem 1989 Qudean Desert Studies 2) (die Veröffentlichung der nabatäischen und aramäischen Dokumente steht noch aus); H. M. Cotton, A. Yardeni (hgg.), Ara- 38 maic, Hebrew and Greek Documentary Texts from Nahal Hever and Other Sites. With an Appendix Containing Alleged Qumran Texts (The Seiyal Collection II), Oxford 1997 (DJD 27). 20 Vgl. oben Anmerkung 3. 21 Siehe Decapolis (S. T. Parker), OEANE II, 127-130 und J. M. C. Bowsher, Architecture and Religion in the Decapolis. A Numismatic Survey, PEQ 119 (1987) 62-69: 62. 22 Den Kontakt bereits der Jesusbewegung mit heidnischen Regionen betonte jüngst auch D. Edwards, The Socio-Economic and Cultural Ethos of the Lower Galilee in the First Century. Implications for the NascentJesus Movement, in: Levine, Galilee, 53-73. Edwards bezieht sich dabei auf das Vorhandensein von Kfar Hananiah Keramik in heidnischen Städten und Ortschaften, kommt aber hinsichtlich des Kontaktes Jesu mit Sepphoris und Tiberias zu einem anderen Ergebnis als ich (ebd., 73). 23 Vgl. die nun beginnende Endpublikation der Grabungen durch S. C. Herbert (hgg.), Tel Anafa. Final Report on Ten Years of Excavation at a Hellenistic and Roman Settlement in Northern Israel, Ann Arbor 1994ff. Qournal of Roman Archaeology, Supplementary Series). Zur Bedeutung der Grabungen für das NT vgl. die Rezension von J. Zangenberg, im Druck für ZDPV 113 (1997). 24 Zur Verteilung der Kfar Hananiah-Ware vgl. Adan- Bayewitz, Pottery, 202-210. 25 Reed, Places, 4. Vgl. dazu G. Z. Pucci, Pottery and Trade in the Roman Period, in: P. Garnsey, K. Hopkins, C. R. Whittaker (hgg.), Trade in the Ancient Economy, Berkeley 1983, 105-117. 26 Die aktuellste Zusammenfassung der Besiedlungsgeschichte und Kultur von Sepphoris findet sich in Nagy, Sepphoris und Sepphoris (C. L. Meyers, E. M. Meyers), OEANE IV, 527-536. Über die sukzessiven Ergebnisse der bis 1997 andauernden Grabungen informieren z.B. die Notesand News in den aktuellen Ausgaben von IEJ. Die abschließende Publikation der Grabungen des Sepphoris Regional Project auf dem Westhügel der Stadt ist derzeit in Vorbereitung. 27 S. Miller, Hellenistic and Roman Sepphoris. The Historical Evidence, in: Nagy, Sepphoris, 21-27. 28 S. Miller, Studies in the History and Traditions Sepphoris, Leiden 1984 (SJLA 37) 63-102. 29 Y. Meshorer, Coins of Sepphoris, in: Nagy, Sepphoris, 195-200: 195-198. 30 Vgl. M. Mor, The Roman Army in Eretz-Israel in the Years 70-132, in: P. Freeman, D. Kennedy (hgg.), The Defence of the Roman and Byzantine East. Proceedings of a Colloquium Held at the University of ZNT 1 (1998) Sheffield in April 1986, Oxford 1985 (British Archaeology Reports International Series 297), 575-602 und Z. Safrai, The Roman Army in Galilee, in Levine, Galilee, 103-114: 103. 31 Davon geht m. E. zu Unrecht aus R. Batey, Jesus and the Theatre, NTS 30 (1984) 563-574 mit weitreichenden Rückschlüssen auf den Charakter der Verkündigung J esu. 32 Vgl. oben Anmerkung 11. TANZ - Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter Herausgegeben vonKlaus Berger, Franfois Vouga, Michael WolterundDieterZeller Stefan Alkier / Ralph Brucker (Hrsg.) Exegese und Methodendiskussion TANZ 23, 1998, 320 S., DM 96,-/ ÖS 701,-/ SFr 86,- ISBN 3-7720-1874-2 "Exegese und Methodendiskussion" bietet einen handbuchartigen Überblick über neue exegetische Ansätze. Die 14 Beiträge deutscher, österreichischer, schweizer und USamerikanischer Exegetlnnen teilen das interdisziplinäre Interesse, Exegese im Wissenschaftsdiskurs der Gegenwart zu betreiben. Semiotik, Rhetorik, Literaturwissenschaften, Geschichtswissenschaften, Konstruktivismus, Dekonstruktion, Feministische Theorie, Archäologie und Filmwissenschaft werden als Dialogpartner in Anspruch genommen und ihre Relevanz für die neutestamentliche Exegese aufgezeigt. Die Beiträge führen aber nicht nur in die Theorie des jeweiligen Ansatzes ein, sondern stellen die jeweilige Arbeitsweise an der Auslegung neutestamentlicher Texte und exegetischer Probleme vor. Zur eigenständigen Weiterarbeit anregende Kurzbibliographien runden die Beiträge ab. Bibelstellen-, Autoren- und Sachregister tragen dazu bei, daß "Exegese und Methodendiskussion" zu einem unverzichtbaren Werkzeug zeitgenössischer Exegese wird. Heinz-Martin Döpp Die Deutung der Zerstörung Jerusalems und des Zweiten Tempels im Jahre 70 in den ersten drei Jahrhunderten n.Chr. TANZ 24, 1998, XVI, 363 S., DM 96,-/ ÖS 701,-/ SFr 86,- ISBN 3-7720-1875-0 Im Jahr 70 n.Chr. wird der Tempel in Jerusalem durch die Römer zerstört. Eine Katastrophe für die jüdische Welt, weil ihr religiöses Zentrum in Schutt und Asche liegt. Was hat das zu bedeuten? Einbemerkenswertes Ereignis auch in den Augen (juden-) christlicher Autoren. Sie erleben, daß die Mehrheit der jüdischen Welt ihrer Botschaft von Jesus als dem Messias nicht folgt. Dirk Frickenschmidt Evangelium als Biographie Die vier Evangelien im Rahmen antiker Erzählkunst TANZ 22, 1997, XV, 549 S., DM 158,-/ ÖS 1153,-/ SFr 142,- ISBN 3-7720-1873-4 Die vier Evangelien nicht als grob gewebter Flickenteppich urchristlicher Glaubens- Überlieferungen gelesen, sondern als antike Biographien, die den Anspruch erheben, ein prägnantes und umfassendes Gesamtbild Jesu weiterzugeben. A. Francke Verlag Tübingen und Basel· Postfach 2560 · D-72015 Tübingen ZNT l (1998) 39 Annette Merz Jesus als Wundertäter: Konturen, Perspektiven, Deutungen Wunder, wie sie von Jesus berichtet werden, sind in unserer naturwissenschaftlich definierten Welt (offiziell) nicht mehr vorgesehen. Die ersten Christlnnen jedoch erzählten von den Wundertaten Jesu in einer Welt, in der solche Geschichten nicht konkurrenzlos waren und dem gängigen Weltbild nicht widersprachen. Ob es überhaupt Wunder gibt und was als Wunder zu gelten hat, ist also eine Frage der Wahrnehmung und Bewertung im Rahmen sich wandelnder und oft auch konkurrierender Deutungssysteme. Darum sollen die Wunder Jesu 1 im folgenden unter verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden, zuerst aus der religionsgeschichtlichen Vogelperspektive. Die religions- und sozialgeschichtliche Makroperspektive: antikes Welt- und Wunderverständnis, Jesus und andere Wundertäter Die religionswissenschaftliche Sicht auf die Wunder stellt das Unbehagen moderner Menschen an den Wundern Jesu in einen größeren Rahmen, denn sie kann einerseits zeigen, wo sie an verbreiteten Vorstellungen partizipieren, und bereitet andererseits den Boden, sie in ihrer Besonderheit wahrnehmen zu können. Aus dem unüberschaubaren Feld antiker Wundergläubigkeit können allerdings nur ganz wenige Aspekte herausgegriffen werden. 1. Wunder und antikes Weltbild: Wunder gehören zum gesamtantiken Wirklichkeitsverständnis, man rechnete mit Wundern, d. h. mit Ereignissen, die gegen normale Erwartungen eintrafen und die man einem göttlichen Urheber zuschrieb. Dabei ist nicht das moderne alltagssprachliche Verständnis einzutragen, Wunder seien eine Durchbrechung der Naturgesetze, denn weder ging man von der durchgängigen Determiniertheit der Welt durch das Kausalitätsprinzip aus, noch galten nur widernatürliche und unerklärliche Phänomene als Wunder. Entscheidend war vielmehr das Bewußt- 40 sein, göttlicher Macht begegnet zu sein, die sich in herausragenden Naturphänomenen genauso zeigen konnte wie in Heilungen, die u. U. sogar durch Medikamente stimuliert wurden. Trotz dieser allgemein vorauszusetzenden Wundergläubigkeit ist der Stellenwert des Wunderglaubens zeit- und sozialgeschichtlich zu differenzieren. 2 So stehen die urchristlichen Wundergeschichten einerseits am Beginn einer neuen Ära massiven Wunderglaubens, sind also keineswegs als Erzeugnisse des »wildwuchernden Dschungels antiker Mirakelfrömmigkeit«3 zu erklären. Andererseits scheint der Wunderglaube besonders in den unteren Schichten verbreitet gewesen zu sein, das heißt bei Menschen, die wenig Möglichkeiten rationaler Daseinsbewältigung durch Medizin und Wissenschaft hatten. Wundertäter oder Heilkulte suchte auf, wer keinen Arzt bezahlen konnte (oder nach vielen vergeblichen Versuchen keinen anderen Ausweg mehr sah: Mk 5,26). Unter den Gebildeten finden sich Rationalisten und Zweifler, die angesichts von Wundern nach natürlichen Erklärungen suchten oder Scharlatanerie und Betrug am Werk sahen. 2. Wunder im Judentum: Das Judentum partizipiert am mythischen Weltbild der Antike, das wunderbare göttliche Eingriffe vorsieht, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, daß Jahwe, der Gott Israels allein als Schöpfer und Herr der Wirklichkeit galt. Er erweist seine Macht in »Zeichen und Wundern«, z.B. beim Auszug aus Ägypten und im Krieg (Ex 7-17; Jos 3-11 u.ö.). Auch seine Propheten (wie Mose, Elia, Elisa u. v. a.) konnten durch ihn ermächtigt, »mit seinem Finger« (Ex 8,15), Naturwunder vollbringen, Krankheiten verhängen oder heilen (IKön 13.17ff.; II Kön 1 ff. u. ö). Für die Endzeit, die nach Ansicht vieler Gruppen im Judentum zur Zeit Jesu unmittelbar bevorstand, erwartete man, daß Gott selbst sein Volk von allen Gebrechen heilen würde (4Q 521 Fr. 2 II,11-13) und daß Propheten die beim Exodus geschehenen Wunder noch überbieten würden. Mehrere solcher Zeichenpropheten sind ZNT 1 (1998) bekannt, alle scheiterten am Eingriff der Römer. 4 Doch auch unabhängig von Endzeitspekulationen gab es in Palästina Exorzisten (Mt 12,27) und Wundercharismatiker wie Honi, den Kreiszieher oder Hanina ben Dosa, die durch ihr Gebet Kranke heilten oder durch magische Riten Gott dazu bewegten, den überfälligen Regen zu senden.5 3. Nicht nur die Wahrnehmung eines Vorgangs als Wunder, auch die ihm oft zugrundeliegenden vermeintlich »natürlichen« Vorgänge von Krankheit und Heilung sind gesellschaftlich konstruiert und determiniert. Am deutlichsten wird das bei dem z.Z. Jesu weitverbreiteten Phänomen der Besessenheit. Man glaubte, daß Dämonen, zwischen Himmel und Erde angesiedelte unreine Geister, in Menschen Wohnung nahmen und sie sich unterwarfen, so daß nicht der Mensch selbst, sondern ein fremdes, dämonisches Ich in ihm sprach und handelte. Diese Krankheitsätiologie bestimmte die Therapie: Heilung geschah durch Vertreibung des Dämons, sei es durch rituelle Beschwörungen und Einsatz geheimer Mittel, sei es dadurch, daß ein charismatischer Wundertäter den Dämon kraft seines überlegenen Geistes in einem verbalen Gefecht überwand und aus dem Kranken »herauswarf«. Der jüdische Historiker Flavius Josephus (1. Jh. n. Chr.) hat als Augenzeuge über einen Exorzismus der ersten Variante berichtet, bei dem der in salomonischer Heiltradition stehende Wundertäter Eleazar den Dämon mit Hilfe einer von einem Ring gehaltenen heilkräftigen Wurzel aus der Nase des Kranken herauszog, durch Beschwörungen am Zurückkehren hinderte und ihn zur Demonstration seines Ausfahrens ein Wasserbekken umstoßen ließ (Ant 8,46-48). Die Exorzismen Jesu von Nazareth, aber auch die des neopythagoreischen Wanderphilosophen Apollonius von Tyana 6 gehören zur zweiten Variante, als Charismatiker verfügten sie über eine unmittelbare Vollmacht.7 Wo der Dämonenglaube schwindet, drükken sich psychische Probleme in anderen Krankheitsbildern aus, die andere Formen der Therapie erfordern. 4. Weil die per definitionem überwältigende Wundererfahrung die Menschen zur Mitteilung des eigentlich Unsagbaren drängt, ist eine Tendenz zur Vergrößerung von Wundern in vielen antiken ZNT 1 (1998) Annette M erz Annette Merz, Jahrgang 1965, derzeit wissenschaftliche Angestellte an der Theologischen Fakultät Heidelberg. Sie promoviert über das Thema » lntertextueller und historischer Ort der Pastoralbriefe«. Überlieferungen erkennbar (u. a. bei Apollonius, auch die Inschriften von Epidaurus nennen unspektakuläre Heilungen und märchenhaft anmutende Wunder nebeneinander). Nirgendwo begegnet sie jedoch so massiv wie bei den Wundern Jesu. Wenn im folgenden der historische Wundercharismatiker Jesus abgehoben wird von seiner überdimensionalen Darstellung in den Evangelien, ist dies natürlich eine neuzeitliche Perspektive. 8 Die Perspektive der Quellen und die Frage der Historizität der Wunder Jesu Angesichts zahlreicher Analogien und der Tatsache, daß von keinem antiken Wundertäter so viele Wunder berichtet werden wie von ihm, ist die historische Wundertätigkeit J esu unstrittig. Wunder J esu sind inner- und außerchristlich (J osephus, Talmud) bezeugt, begegnen in voneinander unabhängigen Traditionsschichten (Mk, Q, Sondergut Mt und Lk) und in ihnen wiederum in verschiedenen literarischen Gattungen. Die Quellen lassen unterschiedliche Einstellungen zu den Wundern erkennen. All dies bietet eine gute Ausgangslage, um durch Vergleich und kritische Interpretation die Konturen des Wundertäters Jesus zu erheben. Andererseits gilt den Evangelisten eine Fieberheilung und eine wunderbare Brotvermeh- 41 rung gleichermaßen als von Augenzeugen verbürgtes Geschehen; der Osterglaube hat gerade in diesem Bereich die Erinnerung an tatsächlich geschehene Taten angereichert und um der Verkündigung der Macht des Auferstandenen willen über alles historisch Wahrscheinliche hinaus überzeichnet. Auch gattungsspezifische Aspekte sind zu berücksichtigen: Wundergeschichten variieren eine begrenzte Zahl von Erzählmotiven. Das ist nicht per se ein Hinweis auf Nicht-Historizität, kann sich doch in typischen Motiven ein typisches Geschehen spiegeln. Doch es erleichterte zweifellos das Entstehen von Wundererzählungen ohne historische Grundlage. Angesichts dieser Quellenlage ist es meist unmöglich, die Historizität eines bestimmten Wunders zu erweisen. Wohl aber können die »Eckdaten« von Jesu Wundertätigkeit erhoben werden und ihre Deutung durch ihn selbst und seine Zeitgenossen. Man kann die in der Erzählüberlieferung Jesus zugeschriebenen Wunder einteilen in Exorzismen (s.o.), Therapien (Krankenheilungen durch die Heilkraft des Wundertäters, manchmal durch Berührung oder heilende Mittel; Totenerweckungen sind aufs Äußerste gesteigerte Therapien; Heilungen am Sabbat nennen manche Normenwunder, weil sie die Gültigkeit von Normen thematisieren), ferner Rettungswunder (Sturmstillung und Seewandel), Geschenkwunder (Brotvermehrungen, wunderbarer Fischzug, Weinwunder) und Epiphanien (Ostererscheinungen und die Verklärung Jesu). Die historische Auswertung der Quellen ergibt, daß nur Exorzismen und Therapien (inklusive solcher am Sabbat) einen Anhalt beim historischen Jesus haben, die Berichte über Rettungs- und Geschenkwunder und Epiphanien entstanden erst aufgrund des Osterglaubens. Die wichtigsten Argumente dafür sind folgende: - Mehrfachbezeugung: Exorzismen und vor allem Therapien sind die am häufigsten erwähnten Wunder (ca. 19 Einzelgeschichten). 9 Auch wenn darunter Dubletten und Erzählungen ohne historisches Fundament sein werden, gilt: gattungsbildend wurde, was man als charakteristisch empfand. - Gattungsinvarianz: Nur Exorzismen und Therapien sind auch in anderen Gattungen als den Wundergeschichten i. e. S. bezeugt, in Apophthegmen und Logien, 10 sowie Wundersum- 42 marien (Mk 1,32-34; 3,7-12; 6,53-56 u.ö.). Die noch genauer auszuwertenden Apophthegmen und Logien zeigen einerseits, wie umstritten die Wunder Jesu waren, und verbinden sie andererseits mit zentralen Themen seiner Verkündigung wie der Reich-Gottes- und Umkehr- Predigt, seinem Glaubensverständnis u. a. Durch sie gewinnt man ein anderes Bild von Jesu Wundertätigkeit als durch die volkstümlich ausgestalteten Erzählungen von Exorzismen und Heilungen, die wenige für Jesus typische Züge aufbewahrt haben. - Überlieferungsmilieu: Das abweichende Wunderverständnis der Erzähl- und Wortüberlieferung hat G. Theißen soziologisch durch verschiedene Überlieferungsmilieus erklären können: Die Wundererzählungen kursierten im ganzen Volk, dabei wurden individuelle Züge abgeschliffen, Jesus wurde an andere Wundertäter angeglichen, erscheint in »volkstümlicher Verschiebung«. 11 Apophthegmen und Logien wurden dagegen nur in der Jesusbewegung weitergegeben und bewahrten typische Züge eher. Im Gegensatz zu den Exorzismen und Heilungen liegen Rettungs- und Geschenkwunder, sowie vorösterliche Epiphanien nur in wenigen Einzelerzählungen vor, die mit österlichen Motiven durchtränkt sind. Der wunderbare Fischzug von Lk 5 begegnet z.B. in Joh 21 in zweifellos ursprünglicher Form als Ostererzählung. Die Verklärung ist eine ins Leben Jesu zurückdatierte Osterepiphanie, der Mk-Evangelist deutet noch an, sie werde erst nach Ostern bekannt werden (Mk 9,9). Wir konzentrieren uns im folgenden auf die Wunder, die dem historischen Jesus nach kritischer Betrachtung der Quellen zugeschrieben werden können. Da die »Wunder an sich« nie greifbar werden, nehmen wir verschiedene Perspektiven ein, die auch in den Quellen begegnen. Außenperspektiven: die Wunder in der Sicht von Zuschauern und Zeitgenossen Die Evangelien berichten öfter, daß die Kunde von Jesu Wundertaten sich schnell im ganzen Volk verbreitete, auch über die Landesgrenzen Galiläas hinaus (Mk 1,28.45; 3,7f. u.ö.). Die Reaktionen ZNT 1 (1998) reichen von gläubigem Staunen über technische Vereinnahmung bis zu Ablehnung und Unglauben. Der typische »Chorschluß« der synoptischen Wundergeschichten beschreibt in geronnener Form die positive Reaktion der Zeugen eines Wunders als »Admiration« und/ oder »Akklamation«, d.h. als Ergriffenwerden von Staunen, Sich- Entsetzen und Fürchten einerseits und als artikulierte Stellungnahme in Form von Dank, Lob, Bekenntnis u.ä. andererseits. Wer so reagierte, hatte das Wunder als eine Manifestation Gottes erlebt, die zugleich Freude und Schrecken hervorruft. Dabei herrschte (trotz in der Umwelt vorhandener Analogien) das Bewußtsein, Einmaliges, noch nie Dagewesenes erlebt zu haben. Zweifellos haben nicht wenige Zeitgenossen so auf die Wunder J esu reagiert, auch ohne zu N achfolgerlnnen i. e. S. zu werden. Der schon erwähnte jüdische Historiker Josephus beschrieb Jesus als »Vollbringer wunderhafter Werke« (Ant 18,63) 12 und verwendete denselben Ausdruck für die Wunder des Propheten Elisa (Ant 9,182). Im Volk suchte man nach Erklärungen für die Wundermacht (Mk 6,14f.): war Jesus der von den Toten auferstandene Johannes der Täufer? oder Elia? oder ein Prophet? Als Exorzist war Jesus wohl schon zu Lebzeiten so bekannt, daß andere Exorzisten unter Zuhilfename seines Namens Dämonen austrieben, sehr zum Ärger der Jünger; die darin eine unzulässige Vereinnahmung sahen (Mk 9,38f.; Apg 19,13ff.). Auch Ablehnung und Unglauben sind bezeugt, so gab es Zeitgenossen, denen die (nicht bestrittene) Macht J esu über die Dämonen suspekt war und die ihm vorwarfen, selbst besessen zu sein, die Dämonen durch ihren Obersten auszutreiben (Mk 3,22ff.). Andere erhoben den Vorwurf der Zauberei (bSanh 43a; Origenes, contra Celsum I,28) und des Betrugs (Mt 27,63f.). Wieder andere forderten »ein Zeichen vom Himmel«, eine eindeutige Beglaubigung durch ein kosmisches Zeichen (Mk 8,11 ff.). In Nazareth, wo Jesus aufgewachsen war und man ihn zu kennen meinte, weigerte man sich, die Wunder zu glauben, und zwar »mit Erfolg«: dort konnte er bei einem Besuch kein Wunder tun (Mk 6,Sa), eine Aussage, so unerhört, daß sie schon früh abgeschwächt wurde (Mk 6,56; Mt 13,58), und daher sicher historisch. Von außen betrachtet, waren also die Wunder Jesu vieldeutig: schon damals konnte man Gott oder den Teufel am Werk sehen oder auch bestrei- ZNT 1 (1998) ten, daß überhaupt ein Wunder stattgefunden hatte. Die nächsten Abschnitte untersuchen die Binnenperspektiven der in das Wundergeschehen direkt involvierten Personen. Wunder als ganzheitliches Beziehungsgeschehen: die Perspektive der Geheilten Wundercharisma wirkt im Rahmen einer dynamischen Begegnung zwischen dem Wunderheiler und den Kranken oder deren Stellvertretern, oft im Beisein weiterer Personen oder einer großen Menge und natürlich: coram deo. Der oder die Kranke steht in einem Beziehungsfeld, das durch die Heilung gänzlich neu strukturiert wird. 1. Verändert wird die Beziehung der Kranken zu sich selbst, wobei ein ganzheitliches Verständnis der Person als körperlich-geistig-seelischer Einheit vorausgesetzt ist. Im Falle dämonischer Besessenheit wird ein mit sich selbst identisches Subjekt überhaupt erst (wieder) hergestellt. Bedauernswerte Kreaturen, die sich als Kampfplatz zerstörerischer Mächte darstellten und erlebten, die nicht mehr für sich selbst sprechen konnten, sind als Geheilte körperlich intakte, vernünftige Menschen. Im Falle von Therapien werden Leid und elementare Not überwunden, die Menschen sich selbst entfremden und ihnen alle Kraft zur Selbstentfaltung rauben. Wunder heißt hier ein neues von Schmerzen unbeeinträchtigtes Selbst- Bewußtsein, neue Wahrnehmungsmöglichkeiten (bei Blinden-/ Taubenheilungen) und die Wiederherstellung der Arbeitskraft, kurz: das Aufhalten von Verelendung, die mit Krankheit in den armen Bevölkerungsschichten untrennbar verbunden war. 2. Das führt zur zweiten Beziehungskategorie, zur Wiedereingliederung der Kranken in ihr soziales Umfeld: Kranke stehen am Rande der Gesellschaft, von menschlichem Kontakt fast völlig ausgeschlossen wie Aussätzige und gewalttätige Besessene, wie Blinde oder Lahme als Bettler geduldet, von Angehörigen in Nischen verborgen und versorgt. Als Geheilte besteht für sie die Chance auf Reintegration, so daß sie als vollwertige Mitglieder ihrer Bezugsgruppe leben können. 43 3. Die Beziehung zum Wundertäter: Bewirkt wird die neue Beziehungsfähigkeit durch das Wundercharisma Jesu, das jedoch nicht automatisch wirkt, sondern »herausgefordert« wird, sei es durch eine aggressive, abwehrende Reaktion der Dämonen, die die Kraft des Wundertäters »wittern«, sei es durch den Glauben der Kranken oder der stellvertretend für sie Bittenden. Mehrere Wundergeschichten heben die Anstrengungen hervor, die die Kranken (oder ihre Stellvertreter) auf sich nehmen, um zu Jesus zu gelangen, und betonen Widerstände, die sie überwinden. 13 »Glaube« meint in diesem Zusammenhang unbedingtes Zutrauen in die Fähigkeiten des Wundertäters, Vertrauen darauf, daß in ihm Gottes Macht verfügbar wird. Im Unterschied zu Wunderüberlieferungen der Umwelt, in denen der Glaube stets dem Wunder folgt, ist es charakteristisch für Jesus, daß er die eigentliche Wunderkraft im Glauben der Bittenden sah, wie die Zusage »Dein Glaube hat dich gerettet« zum Ausdruck bringt, 14 im Logion vom bergeversetzenden Glauben (Mk 11,23) bestätigt wird und am radikalsten in dem Wort »alles ist möglich dem, der glaubt« (Mk 9,23) ausgedrückt ist, das den Glaubenden Anteil an göttlicher Allmacht zusagt. Die Rolle Jesu ist dabei die eines Katalysators, er ermächtigt durch sein Charisma Menschen dazu, ihre menschlichen Möglichkeiten radikal zu überschreiten. 4. Nicht nur Besessenheit, die als Verfallensein an die Engel Satans galt, auch Krankheit konnte als Fesselung durch Satan verstanden werden (Lk 13,11.16) und wurde jedenfalls als Gottesferne erlebt, manchmal auch als Strafe Gottes für Sünden gedeutet. Ein Wunder dagegen war Beweis der heilsamen Nähe Gottes, konstituierte daher immer auch ein neues Verhältnis der Geheilten zu Gott. Direkt thematisiert wird das in den Erzählungen, die Sündenvergebung und Wundertat aneinanderbinden: alles, was den Menschen von Gott trennt, wird beseitigt (Mk 2,5-10; Joh 5,14). Vielleicht wählte Jesus auch deshalb den Sabbat als Zeitpunkt vieler Heilungen, weil dies der Tag der Gottesnähe und des Gotteslobes war (vgl. Lk 13,13). Äußeres Zeichen des geheilten Gottesverhältnisses ist die wiederhergestellte Kultfähigkeit der Geheilten, denn nicht nur Aussätzige (Mk 1,44), auch Blinde, Lahme, Taube und andere Versehrte galten z.Z. Jesu als nicht kultfähig (CD XV,16; 1Q28 II,5-6). 44 Für die Geheilten lag der Sinn der Wunder im Wunder selbst, es war ein Eingriff zu ihrem persönlichen Heil, ihre ganze Lebenswelt, d. h. ihr Selbstverhältnis, ihre soziale Situation, ihr Verhältnis zu Gott wurde drastisch verändert, sie selbst in ein neues Leben entlassen (das nur selten in der Nachfolge bestand: Mk 10,52; Lk 8,2f.). Doch wie schätzte Jesus selbst die Wunder ein? Die Wunder als Anfang der Herrschaft Gottes: die eschatologische Perspektive Jesu »Nicht die Gesunden bedürfen des Arztes, sondern die Kranken« (Mk 2,17) mit diesem Bildwort rechtfertigte der Wanderprediger Jesus seine Tischgemeinschaft mit Zöllnern und Sündern, die greifbarster und angreifbarster Ausdruck seiner Zuwendung zu den Randständigen war, zu Menschen, die durch Armut, Leid und Krankheit marginalisiert oder wie Prostituierte und Zöllner religiös und sozial stigmatisiert waren. Die Wunder waren nur ein Teil seines Wirkens an den »Kranken« seiner Zeit. Sie hatten ohne Zweifel legitimatorische Funktion, sollten erweisen, daß Jesus in Vollmacht handelt, und gaben seiner Verkündigung Gewicht (Mk 1,27; Mt ll,2ff.). Die Gerichtsworte gegen Chorazin, Bethsaida und Kapernaum zeigen: angesichts dieser Machttaten darf man nicht unbeeindruckt von Jesu Umkehrforderung bleiben (Mt 11,20-24 / Lk 10,13-15). Doch die Wunder gehen nicht auf in der Funktion, einen abweichenden Lebensstil und eine nicht durch Tradition abgesicherte Botschaft zu legitimieren, sie sind Teil derselben. »Wenn ich mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, dann ist doch das Reich Gottes schon bei euch angekommen« (Lk 11,20). Nichts weniger als die von vielen Juden sehnsüchtig erwartete endzeitliche Aufrichtung der Gottesherrschaft vollzog sich darin, daß Jesus mit Gottes Kraft die Dämonen, d.h. die Satan unterstellten Mächte des Bösen verjagte. Er hatte in einer Vision Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen sehen (Lk 10,18). Der Böse war gebunden, nun konnte sein Haus ausgeplündert werden (Mk 3,27). Nicht den Krieg gegen die römische Besatzungsmacht, die menschlichen Feinde Gottes, sah Jesus (wie die Zeloten) als seine Aufgabe an, sondern den Krieg gegen die mythischen Feinde Gottes, die sich der Menschen bemächtigt hatten (Lk ZNT 1 (1998) 11,21 f.). Doch ist beides nicht unabhängig voneinander zu denken. Einer der herausgeworfenen Dämonen heißt »Legion« und treibt bei seinem Ausfahren eine ganze Herde von nach jüdischem Verständnis unreinen Schweinen in den Tod (Mk 5,9ff.). Mit den Dämonen verjagt Jesus symbolisch das ganze heidnische Unwesen. Wenn seine Gegner ihm vorwerfen, von Baal Zebul besessen zu sein einem Dämon, der den Namen einer syrischen Gottheit trägt könnte auch das ein Reflex davon sein (Mk 3,22). Die Exorzismen sind also für Jesus mehr als Hilfeleistungen für schwer gequälte Menschen, sie sind symbolische Handlungen mit einer religiösen Botschaft voller politischer Untertöne: Gott ist dabei, seine Herrschaft aufzurichten. Mit jeder und jedem Geheilten, der oder die mit sich selbst identisch, in die Gemeinschaft integriert und mit Gott im Reinen ist, gewinnt sein Reich an Boden. Diese Verbindung von gegenwärtigem Wunderheil und apokalyptischer Erwartung einer kosmischen Wende ist religionsgeschichtlich singulär. »Nirgendwo sonst finden wir Wundertaten eines irdischen Wundercharismatikers, die Ende der alten Welt und Anfang einer neuen Welt sein sollen.« 15 Wohl erwarteten die Zeitgenossen, daß Gott in der Endzeit Wunder tun würde. Als Johannes der Täufer bei Jesus anfragen läßt, ob er der Erwartete sei, weist dieser mit Worten des Propheten Jesaja auf die in seiner Gegenwart geschehenden Wunder hin, wobei die Verkündigung der heilvollen Botschaft an die Armen nicht weniger wunderbar ist als die Heilung von Blinden, Lahmen, Aussätzigen, Tauben und gar die Erweckung von Toten. Mt 11,2 spricht (gg. Lk) in diesem Zusammenhang von den »Werken des Messias (= Christus)«. Doch ist zweifelhaft, ob Jesus sich selbst als Messias, den Gesalbten, den König Israels verstanden hat. Er gab seine Vollmacht, die Nähe des Reiches Gottes zu predigen und dies durch Wundertaten zu demonstrieren, an seine Jüngerinnen und Jünger weiter (Mk 6,7.13; Lk 10,9.17ff.; Mt 10,7f.; ThEv 14) und sah für die Zwölf im Reich Gottes eine herrscherliche Funktion vor (Mt 19,28). Er teilte also mit ihnen die in den Dämonenaustreibungen vollzogene messianische Reinigung des Landes von Fremdherrschaft und Götzendienst und übertrug ihnen Herrscherfunktionen des Messias (PsSal 17, bes. V. 21 f.26.29f.45). Traditionelle königliche Attribute wurden durch Jesus »demokra- ZNT 1 (1998) t1S1ert«, die Messiasvorstellung zugunsten eines »messianischen Kollektivs« umgeformt. 16 Aber Jesus konnte wohl nicht verhindern, daß das Volk in ihm den Messias, den König der Heilszeit sah, ausgewiesen durch Wunder, die größer waren als alles, was man von hellenistischen Königen sagen konnte. Diese Erwartung wurde ihm zum Verhängnis: er starb als »König der Juden« am Kreuz. Osterperspektiven Der Osterglaube führte zu einer enormen Steigerung des Wunderglaubens, die jedoch nur kurz angerissen werden kann: Dem, dessen Wunderkräfte gelegentlich auch versagten, traute man nun selbst die Auferweckung eines bereits verwesenden Leichnams zu. Dem, der mit Jüngerlnnen, Zöllnern und Sündernlnnen Tischgemeinschaft pflegte und Feste feierte, die ein Vorschein des endzeitlichen Freudenmahles waren, traute man nun auch zu, Brot die Fülle für Tausende zu beschaffen und so das Brotwunder des Elia noch weit zu überbieten. Dem, der über Dämonen Macht bewiesen hatte, traute man nun auch zu, über Naturgewalten wie Wind und Wellen zu gebieten und über das Wasser zu schreiten, wie es nur Gott kann. Dem Propheten, der verkündet hatte, daß auf Erden das Reich Gottes im Anbruch ist, und der seine Auslegung des Gesetzes souverän gegen andere Schriftgelehrte vorgetragen hatte, traute man nun auch zu, den Himmel auf die Erde zu holen, sich mit dem Gesetzgeber Mose und dem Propheten Elia höchstpersönlich zu beraten. Der Sinn all dieser gesteigerten Wunder erschließt sich nicht im Für-Wahr-Halten des Berichteten als positiver Geschichtswahrheiten, sie sind mythisch-poetischer Ausdruck der Gewißheit, daß mit Jesus Christus die endgültige Überwindung des Todes begonnen hat. Die Wunder Jesu aus heutiger Sicht Der Wundercharismatiker Jesus von Nazeareth bleibt unserer Zeit fremd. Er wurde mit Krankheitsbildern und Deutungen ihrer Entstehung konfrontiert, die man historisch erhellen und verstehen kann, die wiederzugewinnen aber weder möglich noch erstrebenswert ist. Es besteht kein 45 Zweifel daran, daß Jesus durch sein Wundercharisma viele Kranke heilte. Doch diese paranormale Begabung, die er mit anderen Wundercharismatikern teilt und deren Existenz trotz ihrer Sprödigkeit im Kontext mechanistischer Weltdeutungen nicht geleugnet werden kann, ist Menschen, die im europäischen Kulturraum sozialisiert wurden, meist auch nur als historisches oder ethnologisches Phänomen zugänglich oder begegnet in Kontexten, denen der Geruch des Abergläubischen oder Fundamentalistischen anhaftet. Es ist daher verständlich, daß man in der jüngeren Auslegungsgeschichte häufig die Pointe der Wundergeschichten nicht im Wunder sehen wollte, sondern sie kerygmatisch, gleichsam »von oben«, interpretierte, als zeitbedingten Ausdruck der Zuwendung Gottes zum Menschen in Jesus Christus, als konkrete Darstellung des »eigentlichen Wunders« der Sündenvergebung, als Ruf zum Glauben etc. Solche Interpretation kann sich berufen auf Ansätze zur symbolischen Deutung der Wunder in den Evangelien, auf christologische oder ekklesiologische Akzentuierungen durch die Evangelisten und auch darauf, daß Jesus selbst den Wundern eine symbolische Deutung gab, in ihnen das Reich Gottes angekommen sah. Doch haftet dieser symbolische Mehrwert eindeutig am konkreten, leiblichen Geschehen. Darum gehört die Deutung »von unten« notwendig zur sachgemäßen Auslegung der Wunder J esu, die da anknüpft, wo die ntl. Wundergeschichten trotz aller Fremdheit auch heute Menschen ganz unmittelbar ansprechen, weil sie Erfahrungen menschlicher Ausweglosigkeit thematisieren, angesichts unheilbarer Krankheiten, unüberwindbarer Not oder Bedrohung. Die mit den Augen des Glaubens betrachteten historischen Wunder Jesu zeigen genau wie die nachösterlich entstandenen: Gott selbst legitimiert den Protest derjenigen, die die Überwindung konkreter physischer, psychischer oder materieller Not einfordern, auch gegen alle menschliche Erfahrung, sei sie medizinischer, politischer oder ökonomischer Art. In mythisch-poetischer Erzählung ist jedes Wunder möglich, in Zeit und Raum vollziehen sich Wunder damals wie heute nicht gegen die Naturgesetze, sondern in, mit und unter ihnen (die allerdings sicher komplexer sind als der Alltagsverstand annimmt). Ob es Wunder gibt und was als Wunder zu gelten hat, ist mehr denn je eine Frage der Perspektive, wie folgendes Gedan- 46 kenexperiment zeigt. Nehmen wir an, es gelänge eines Tages, allen Menschen auf Erden genug zu essen und eine medizinische Grundversorgung zu geben. Wäre das ein nur durch göttliches Mitwirken zu erklärendes Wunder, das Umkehr voraussetzte und einen alles übersteigenden Glauben, der die Berge politischer und ökonomischer Sachzwänge versetzt? Oder ein extrem unwahrscheinlicher, aber vorstellbarer natürlicher Vorgang? Wer geneigt ist, die erste Frage zu bejahen, wird auch im alltäglichen Leben Wunder erleben und von J esu Wundern heute erzählen können. Denn das bedeutet m.E., gegen dominante Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien unserer Kultur die unbedingte Nicht-Einwilligung angesichts menschlichen Leidens wachzuhalten, zum Handeln dagegen zu motivieren und um den Glauben zu bitten, der kaum mehr Vorstellbares möglich macht. Anmerkungen 1 Thema dieses Beitrags sind die von Jesus gewirkten Wunder, nicht an ihm gewirkte wie die Auferstehung, die trotz der verwandten Problematik einer eigenen Behandlung bedürften. 2 Vgl. G. Theißen, Urchristliche Wundergeschichten, 6 1990, 229 ff. 3 So die Tendenz u.a. bei G. Klein, Wunderglaube und Neues Testament, in: Ärgernisse, 1970, 13-57. 4 Josephus, Ant 18,85-87; 20,97-99.167f.168-172 (vgl. Apg 21,38). Nach Apg 5,36 hat man Jesus mit diesen Zeichenpropheten verglichen, die sachliche Parallele liegt jedoch nicht in den Heilungswundern, sondern in seiner Verheißung eines neuen Tempels (Mk 14,57f.; 15,29). 5 Vgl. G. Vermes,Jesus der Jude, 1993, 45-68. 6 Jesus: Mk 1,23-27; 5,1-20; 7,24-30; 9,14-27; Mt 9,32f./ Lk 11,14; Lk 8,2; Philostratus, bes. Vita Apollonii 4,20. 7 Zum Nebeneinander ritueller und charismatischer Wundertäter vgl. D. Trunk, Der messianische Heiler (HBS 3) 1994, 357-362.426ff. 8 Vgl. die ausführlichere Behandlung in G. Theißen/ A. Merz, Der historische Jesus, Göttingen 1996, 256-284. Einen anderen Zugang wählt K. Berger, Darf man an Wunder glauben? , Stuttgart 1996, der versucht, von heutigen mythischen Erfahrungen aus eine Brücke zu den Wundererzählungen zu schlagen und historische Fragen dabei fast ganz ausklammert. ZNT 1 (1998) 9 Exorzismen (s.o. Anm. 6) sind in der Wortüberlieferung und im MkEv wichtig, treten aber in der späteren Erzählüberlieferung zurück, wohl weil ihr krasser Dämonenglaube als anstößig empfunden wurde. Therapien berichten Heilung von Fieber, Aussatz, Lähmungen, Blutfluß, Taubstummheit, Blindheit, Verkrümmung, Wassersucht, sowie Totenerweckungen. Sie sind in allen wichtigen Traditionsschichten überliefert. Mk: 1,30f.; 1,40ff.; 2,1 ff.; 3,1 ff.; 5,22ff.; 7,31ff.; 8,22ff.; 10,46ff.; Q: Mt 8,5/ Lk 7,lff.; LkS: 7,1 ff.; 13,l0ff.; 14,2ff.; 17,11 ff.; Mts: 9,27ff.; Joh: 4,46ff.; 5,2ff.; 9,1 ff.; 11,1 ff. 10 Mk: 3,22ff.; 6,1ff.14ff.; 9,38ff.; 11,23; Q: Mt 12,22ff./ Lk 11,14ff.; Mt ll,2ff./ Lk 7,18ff.; Mt 11,20-24/ Lk 10,13-15; Mt 12,43-45 / Lk 11,24-26; LkS: 13,31 ff. 11 Vgl. G. Theißen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien (NTOA 8), 1989, 102-119. 12 Zwar steht die Aussage über Jesu »wunderhafte Werke« im »Testimonium Flavianum«, einem christlich überarbeiteten Bericht über Jesus, sie dürfte jedoch aus inhaltlichen und stilistischen Gründen auf Josephus selbst zurückgehen, vgl. G. Theißen / A. Merz, Der historische Jesus, Göttingen 2 1996, 74-82. 13 Z.B. Mk 2,3 ff.; 7,25 ff.; 10,48 u. ö. 14 Z.B. Mk 5,34; 10,52; vgl. Mt 8,10.13. 15 G. Theißen, Urchristliche Wundergeschichten, 275. 16 Vgl. G. Theißen, Gruppenmessianismus, JBTh 7 (1992) 101-123. Zum Weiterlesen Pierre Cimaz Jeremias Gotthelf (1797-1854) Der Romancier und seine Zeit Aus dem Französischen von Hanns Peter Holl 1998, 572 Seiten, geb. DM 68,-/ ÖS 496,-/ SFr 65,- ISBN 3-7720-2185-9 Pierre Cimaz' umfassende Studie zu Jeremias Gotthelf und seinem Werk bietet eine detailgenaue Analyse der zwölf Romane des Dichters sowie des Romanfragments Der Herr Esau. Die Untersuchung bezieht aber auch die rund 50 Erzählungen und Gotthelfs zahlreiche andere Schriften ein und verankert diese im historischen Kontext. Dem Autor gelingt es auf überzeugende Weise literaturwissenschaftliche, theologische, volkskundliche und politische Fragestellungen zu verbinden und das Gesamtwerk des großen Schweizers wieder lebendig werden zu lassen. A. Francke Verlag Tübingen · Basel ZNT 1 (1998) Statt eines verblühenden Blumenstraußes eine Anthologie mit Bestand. »Eine reichhaltige, vorzüglich ausgewählte Anthologie gegen das Verdrängen. Eine Entdeckungsreise ist angesagt, und selbst literaturkundige Leser werden auf kaum bekannte Zeugnisse stoßen. Vom Gilgamesch-Epos über die Sappho und die Bibel bis hin zu Sarah Kirsch und Thomas Bernhard.« Beatrice Eichmann-Leutenegger klöpfe meyer ve rl a g tzA~~4f! ! ! il~f~t~fm~ 47 Echte J esusworte? Eine Einführung zur Kontroverse Klaus Berger versus Walter Sehmithals Die Frage, ob es uns heute noch möglich ist, zwischen authentischen Worten Jesu und späteren Gemeindetraditionen methodisch begründet unterscheiden zu können, gehört zu den spannendsten Fragen, die in der neutestamentlichen Wissenschaft diskutiert werden. Denn es geht im Kern darum, ob wir heute noch ein Bild des Menschen Jesus von Nazareth zeichnen können, das sich der historischen Realität annähert. In dieser Diskussion steht spätestens seit Rudolf Bultmann die theologische Grundsatzentscheidung im Hintergrund, ob die methodisch kontrollierte Rückfrage nach dem historischen Jesus überhaupt Gegenstand christlicher Theologie sein kann, oder aber ob der Mensch Jesus von Nazareth lediglich zu den Voraussetzungen christlicher Theologie gehört. Zur Information des Lesers möchte ich einleitend Argumente vorstellen, die für die theologische und historische Notwendigkeit eines Rückbezugs auf den historischen Jesus sprechen: a. Das wirkungsgeschichtliche Argument: Das Christentum wurde durch seine gesamte Geschichte besonders auch an entscheidenden Schnittstellen durch die Lebensspuren des historischen Jesus beeinflußt, ja geprägt. Die »Imitatio Christi« war immer auch zu großen Teilen eine »Imitatio Jesu«. Auch wir stehen in der Wirkungsgeschichte des historischen Jesus. Sie und die Tradition sperren sich gegen eine historische und theologische Ausblendung des historischen Jesus. b. Das Ursprungsargument: Der Ursprung des Christentums ist nicht ein Kerygma der Gemeinde, sondern ein konkret faßbares historisches Ereignis: das Wirken und Sterben des Menschen Jesus von Nazareth. c. Das Verarmungsargument: Die Vielfalt neutestamentlicher Aussagen, Theologien und Lebenswirklichkeiten werden mit der Reduktion auf Bekenntnissätze nicht erfaßt. Der historische Jesus schützt vor einem »Kanon im Kanon«. d. Das Quellenargument: dieses Argument hat zwei Aspekte: das Selbstverständnis der Quellen und ihre heutige Beurteilung aus wissenschaftlicher Perspektive. Martin Hengel hat nachdrücklich darauf hingewiesen, daß der von Karl Ludwig 48 Schmidt gezogene Graben zwischen antiker Biographie und den Evangelien wohl zu tief gezogen ist. 1 Die Evangelien, nicht nur Lukas, hatten ein gemeinsames Interesse, die Geschichtlichkeit der Botschaft von der Erlösung im Lebensweg Jesu von N azareth zu manifestieren. Dies zeigt schon der recht große, wenn auch in Einzelheiten variierte Grundbestand an historischen Begebenheiten in den Evangelien. e. Das Argument personaler Kontinuität: Es ist ein unbestreitbares Faktum, daß die Jünger Jesus, insbesondere natürlich die Apostel, in persönlichem Kontakt zu Jesus standen. Sie sind die historischen Garanten für eine eigenständige Jesusüberlieferung. Jesus teilte mit ihnen seine messianische Hoheit. »Nach den Basileia-Aussagen der Jesusüberlieferung hat die Gottesherrschaft nicht nur in einem einzelnen ihren Repräsentanten, sondern in mehreren. Jesus versteht sich nicht exklusiv als der, der die Königsherrschaft Gottes bringt, sondern teilt seine Vollmacht anderen mit. Die Berufungs- und Aussendungsüberlieferungen bringen das zum Ausdruck. «2 Jesus läßt seine von ihm berufenen Nachfolger an seinem Messianismus partizipieren. 3 Das Israellogion in Mt 19,28/ Lk 22,28-30 spricht sogar von der Inthronisation der Jünger im eschatologischen Gericht. Gerd Theißen kann in diesem »Gruppenmessianismus« den Ursprung der Kirche im Jüngerkreis sehen. 4 Es bedarf schon eines hohen Maßes argumentativen Aufwands zu belegen, daß die Apostel und Jünger ihre nachösterliche Glaubenserfahrung unter Absehung ihrer vorösterlichen Erfahrungen verstanden und überlieferten. Was konnte Petrus über seinen Auftrag sagen: »Und wir sind Zeugen für alles, was er getan hat im jüdischen Land und in Jerusalem« (Apg 10,39). Auch Paulus beanspruchte die Bevollmächtigung zu Zeichen, Wundern und Kräften als Kennzeichen des Apostels für sich (II Kor 12, 12) und stellt sich damit in eine hinter Ostern zurückreichende Kontinuität. f Das Argument der Einheit von Kerygma und Didache: Als Paulus nach Ephesus kam, traf er dort auf Apollos, »der unterwiesen war im Weg des Herrn« (Apg 18,25). Pris- ZNT 1 (1998) zilla und Aquila unterwiesen ihn hierin weiter (18,26). Aufgrund dieser Unterweisung konnte er dann Zeugnis davon ablegen, daß Jesus der Christus ist (Apg 18,28). Bereits Joachim Jeremias konnte mit Nachdruck darauf hinweisen, daß es zu keiner Zeit in der Urkirche ein Kerygma ohne Didache gegeben hat. 5 g. Das Argument der Kontinuität des Geistes: Es kann angenommen werden, daß Jesus bereits während seines Lebens Träger des Heiligen Geistes gewesen ist. Hierin begründet sich sein Vollmachtsanspruch und letztlich auch seine Fähigkeit, Wunder zu tun. Geza Vermes hat dies von jüdischer Seite nochmals nachhaltig betont. 6 In den Kontroversen um Jesu Vollmacht oder um die Qualität des von ihm beanspruchten Geistes, wurde die christologische Fragestellung bereits vor Ostern grundgelegt. Hierin könnte auch eine Brücke zu Paulus bestehen. Der Geist wahrt über Ostern hinweg die Kontinuität. h. Das Argument der paulinischen lmitatio Christi als Brücke zum historischen Jesus: Indem sich Paulus immer wieder seiner Schwachheit rühmt (II Kor 11,30; 12,9) entspricht er seinem Herrn, der in Schwachheit gekreuzigt wurde (IIKor 13,4). Paulus gewinnt sein eigenes Verständnis als Apostel in der Nachahmung Jesu: So gerät er immer wieder in Lebensgefahr (II Kor 1,9f.), erträgt Verfolgungen und Leiden, wird aber auch in letzter Minute regelmäßig errettet. Hierin wird er selbst zum lebendigen Evangelium. »Denn es geht immer um Tod und Leben. Der Tod, der an ihm sichtbar wird, ist Jesu Tod, das Leben, das Gott ihm neu schenkt, ist Leben J esu. So wird er selbst zur Botschaft.« 7 Dies kann so weit gehen, daß er als Apostel die Wundmale Christi trägt (Gal 6,17). Die Beauftragung durch Christus wird so bei Paulus auch körperlich sichtbar. Sein Apostolat umfaßt auch den Leib des Apostels, der damit in seinen Verletzungen zum Abbild Christi selbst wird. Deshalb nimmt die Gemeinde den Apostel nach Gal 4,14 auf wie »einen Boten des Herrn«, d. h. wie den Herrn selbst. 8 i. Das antidoketische Argument: Dieses häufig gebrauchte und mit der Inkarnationsvorstellung auf das engste verbundenen Argument ist bereits im 1. Joh geradezu klassisch formuliert: »Was von Anfang an war: was wir gehört haben, was wir gesehen haben mit unseren Augen, was wir geschaut und (was) unsere Hände betastet haben, bezüglich des Wortes des Lebens - und das Leben ist erschienen.« ZNT 1 (1998) Die Kriteriendiskussion um Möglichkeiten der Unterscheidung zwischen sogenannten »echten« und »unechten« Worten und Taten Jesu schließt sich nun in zwei Statements an, die sich in ihren theologischen Ausgangspositionen grundsätzlich unterscheiden. Roman Heiligenthal Anmerkungen 1 M. Hengel, Zur urchristlichen Geschichtsschreibung, Stuttgart 1979, 24. 2 G. Theißen, Gruppenmessianismus. Überlegungen zum Ursprung der Kirche im Jüngerkreis Jesu, in: Volk Gottes, Gemeinde und Gesellschaft QBTh 7), hgg. v: : m I. Baldermann u.a., Neukirchen-Vluyn 1992, 117. 3 So: M. Hengel, Die Ursprünge der christlichen Mission, NTS 18 (1971) 36. 4 Theißen, Gruppenmessianismus, 123. 5 J. Jeremias, Der gegenwärtige Stand der Debatte um den historischen Jesus, in: Der historische Jesus und der kerygmatische Christus, hgg. von H. Ristow/ K. Matthiae, Berlin 1960, 19. 6 G. Vermes, Jesus der Jude. Ein Historiker liest die Evangelien, Neukirchen-Vluyn 1993. 7 K. Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums. Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1994, 437. 8 So Berger, Theologiegeschichte, 437. 49 ASCHE NOOR FF ________________________ vE_R_L_A_G ~ In vier Bänden Der II. Band ist soeben erschienen Die exegetische Forschung (vor allem des letzten Jahrhunderts) hat gezeigt, daß die neutestamentlichen Zeugnisse nicht auf einer Linie liegen, sondern eine Vielfalt von zum Teil divergierenden Interpretationen des Evangeliums darstellen. Wieso können sie dann noch als „das Neue Testament" die maßgebende Urkunde christlichen Glaubens sein? Mit seinem Werk „Die Neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus" strebt Wilhelm Thüsing einen Neuentwurf der Theologie des Neuen Testaments an. Da es hierfür eines ausreichend tragfähigen Fundaments bedarf, wird es in seinem Untertitel als „Grundlegung einer Theologie des Neuen Testaments" bezeichnet. Das Werk umfaßt vier Bände: I. Kriterien aufgrund der Rückfrage nach Jesus und des Glaubens an seine Auferweckung. In 2. Auflage, erweitert um ein neues Vorwort, um ein Schriftstellen- und Autorenregister sowie um ein umfangreiches Sachregister. 405 Seiten, fester Einband, DM 68,- / öS 496,- / sFr 62,-. ISBN 3-402-03408-5 II. Programm einer Theologie des Neuen Testaments mit Perspektiven für eine Biblische Theologie, 362 Seiten, fester Einband, DM 78,- / öS 569,- / sFr 70,50. ISBN 3-402-03409-3 III. Einzigkeit Gottes und Jesus-Christus-Ereignis. In Vorbereitung. IV. Exemplarische Darstellungen zu neutestamentlichen Theologien (insbesondere zur paulinischen und zur johanneischen Theologie). In Vorbereitung. Verlag Aschendorff - 48135 Münster ASCHENDORFF ________________________ v_ER_L_A_G ~ Der I. Band „Kriterien" gibt unter dem Aspekt der „Kontinuität mit Jesus Christus" einen "Maßstab" zur theologischen Einordnung der einzelnen neutestamentlichen Theologien an die Hand. Die Kriterien werden als "regulatives Prinzip", als Leitlinie eingesetzt, ohne den maßgeblichen Ansatz beim Christusglauben der neutestamentlichen Autoren zu beeinträchtigen. Die „strukturierte" Ganzheit aus Jesuanischem und Nachösterlichem steht für das Ganze im Keim, für den ganzheitlichen Ursprung des Christlichen. Der neue II. Band entwickelt das Programm und erarbeitet hierfür die hermeneutischen und methodischen Grundlagen. Thüsings wichtiges Anliegen ist es, bei dem im Neuen Testament gegebenen unauflöslichen Ineinander von Kerygma und theologischer Interpretation nicht nur die Vielfalt der neutestamentlichen Theologien sorgfältig und ohne Harmonisierung herauszustellen, sondern auch Wege der Annäherung an ihre verborgene Einheit zu suchen. Die Theologie des Neuen Testaments wird von Anfang an als Dienst an der Verkündigung des einzigen Gottes betrachtet; sie wird dezidiert im Rahmen Biblischer Theologie gesehen. Thüsings so zustande kommender Neuentwurf bietet einen in zentralen Fragen weiterführenden Diskussionsbeitrag. Urteile über den I. Band "Ich bin überzeugt, daß dieses Werk zu den großen Werken katholischer Theologie im 20. Jh. gehören wird. Ich stehe nicht an, es als genial zu bezeichnen." (Prof Franz Mußner, Passau) „Ein großartiges Buch, weil hier wirklich eine reflektierte Theologie vorliegt, welche entschlossen Theologie sein will, und nicht bloß eine Darstellung des neutestamentlichen Stoffes oder eine Geschichte des urchristlichen Denkens." (Prof Ulrich Luz, Bern) Klaus Berger Kriterien für echte Jesusworte? Die Frage nach der Echtheit von Jesusworten ist neu zu diskutieren, weil ständig neue Kriterien genannt werden, die Hypothesen über Echtheit oder Unechtheit stützen sollen. Ich selbst hatte wiederholt angemahnt, die Frage wegen Unentscheidbarkeit vorerst auf sich beruhen zu lassen. Mit dieser »radikalen« Lösung ist die Zunft erkennbar unzufrieden, und so werden Rettungsversuche angeboten, um die jahrzehntelange Mühe des Sortierens und Unterscheidens im Grunde zu rehabilitieren, zumindest in der Haupt- K sache. Man kann sich denken, daß Fachwissenschaftler, die ihr Leben lang nichts anderes getan haben als Echtheitsfragen zu diskutieren, hier nach jedem Strohhalm greifen werden. Zumindest bietet es sich an, zunächst einen Kompromiß anzustreben, für den man dann aber eben doch Kriterien nennen müßte. - Aus meiner Sicht sind diese Bemühungen ich lasse mich gerne eines möglichen besseren belehren nicht erfolgversprechend. Zunächst zur Begründung des Verzichts darauf, nach Echtheit oder Unechtheit überhaupt zu fragen: Kein Kriterium der bisherigen Diskussion hat sich- und sei es auch nur zum Zweck der Hypothesenbildung als tragfähig erwiesen. Insbesondere lagen der älteren Fragestellung häufig Zirkelschlüsse zugrunde. Die mutmaßlichen Kriterien sind kurz zu nennen und zu besprechen: a) Gemeindebildungen aufgrund verschobener Interessenlage. Gemeint war: Jesus habe sich zum Beispiel mit Fragen von Kindern und Ehescheidung (Stoff von Mk 10,1-15) nicht beschäftigt, da dieses bei Wanderradikalen kein Problem gewesen sei. Dagegen: Wer sagt eigentlich, daß Jesus monothematisch nur die Rede vom Reiche Gottes auf höchster theologischer Ebene im Blick gehabt habe und nicht auch die Konsequenzen daraus für das alltägliche Leben? b) Parusieverzögerung. Gemeint war; Worte, die mit einer längeren noch ausstehenden Dauer dieses Äons rechnen, passen 52 nicht in den Rahmen der Naherwartung, die für Jesus typisch ist. Beispiel: Im Gleichnis von den zehn Jungfrauen wird mit einem Ausbleiben des Bräutigams gerechnet (Mt 25,5). Dagegen: Parusieverzögerung und Naherwartung sind zwei Seiten derselben Medaille. Die gründlichen Arbeiten von K. Erlemann 1 haben nicht nur dieses erbracht, sondern auch gezeigt, daß Naherwartung im frühen Christentum nicht den Charakter einer eigenständigen Dogmatik hat, vielmehr funktional zu betrachten ist. c) Differenz zum Judentum. Gemeint war: Nur das ist sicher echt, was keine Parallele im Judentum hat. Dieses sogenannte Differenzkriterium hat eine bedeutende Geschichte gehabt. 2 Dagegen: Der Ertrag der religionsgeschichtlichen Erforschung des Neuen Testaments ist: Alles und jedes hat eine Analogie im Judentum und in der hellenistischen Umwelt, und alles und jedes hat auch seinen eigenen Charakter. Weil es hier nur um ein mehr oder weniger geht, ist das Kriterium unbrauchbar. Für viele spielten hier massive theologisch-systematische Grundentscheidungen wie der Gegensatz von Gesetz und Evangelium eine bedauerlich große Rolle. d) Seltene Bezeugung. Gemeint war: Wenn z.B. ein Wort so selten bezeugt ist wie Mt 19,12 (Eunuchen-Wort), dann mag es wohl aus einer Sonderüberlieferung kommen, entspricht aber keinem Grundzug der Verkündigung Jesu. Dagegen: Häufige Rezeption kann immer auch aus späteren Interessen erklärt werden, seltene Rezeption aus späteren Hindermssen. e) Stimmigkeit der Jesusüberlieferung in sich selbst (Widerspruchsprinzip). Gemeint war: Man müsse von Grundlinien der Verkündigung Jesu ausgehen, in die etwas einzuordnen sei. Dagegen: Die Gefahr von Zirkelschlüssen ist hier evident. Man kann das gut daran verfolgen, wie trotz nur einmaliger Bezeugung das Gleichnis vom verlorenen Sohn zum Evangelium ZNT 1 (1998) schlechthin erklärt wird, die Gerichtsaussagen Jesu dagegen für unecht erklärt werden. 3 Anstelle solcher Zirkelschlüsse ist m. E. das Modell eines offenen Mosaiks das vorerst methodisch angemessenste. f) Ereignisse, die nicht im Rahmen der Naturgesetze erklärbar seien, hält man für unhistorisch. 4 Konsequenzen aus der Ablehnung der Echtheitsfragen Die Konsequenz aus diesem Ansatz besteht nicht darin, alles für echt zu halten. Sie besteht auch nicht darin, »die historische Frage« überhaupt auszuschalten. Die historische Frage wird nicht ausgeblendet, sondern auf mehreren Ebenen beantwortet. So kann man den Versuch unternehmen, die Aktualität bestimmter Traditionen in verschiedenen Phasen der Geschichte des Urchristentums zu bestimmen. 5 Gewiß: Man darf sich darüber Gedanken machen, ob vielleicht nicht alle Worte J esu, die die Evangelien bieten, echt in dem Sinne sind, daß Jesus sie so und nicht anders einmal gesagt hat. Zumindest die apokryphen Evangelien lassen da Zweifel aufkommen. Allerdings sind die meisten apokryphen Evangelien von vornherein als Gespräche Jesu mit seinen Jüngern nach der Auferstehung auf dem Ölberg formuliert. Nur wenige Evangelien sind offenbar in der Art der vier vorhandenen verfaßt worden, dazu gehören P. Egerton und P. Oxy 864. Diese Beschränkung läßt aufmerken. So bleiben außer diesen beiden Sprüchesammlungen wie ThomasEv, PhilippusEv und die Agrapha als Stoffe, deren Echtheit hier problematisch ist. Ich sehe es kommen, daß man am Ende doch die schlichte historische Abfassungszeit als einziges mögliches Kriterium wird gelten lassen können. Von hier aus gesehen ergibt sich vielleicht für die Beurteilung apokrypher Materialien eine Chance: Historisch interessant für die Frage nach Jesus sind sie, sofern sich von Fall zu Fall Brücken zu den J esusüberlieferungen des 1. Jh. Erkennen und beweisen lassen. Im ThomasEv ist das z.B. sehr oft der Fall. ZNT 1 (1998) Neu diskutierte »Kriterien« Das Kriterium der Plausibilität hatte ich selbst als das einzige verbleibende zuerst zur Sprache gebracht. 6 Gemeint war: Wenn bei Bestreitung der Echtheit der Gesamtverlauf der Geschichte des Urchristentums unverständlich wird, sollte eine solche Bestreitung unterbleiben. Es ist aber ganz klar: Zu negativem Ende, d.h. zur Bestreitung einer fraglichen Echtheit, ist dieses Kriterium nicht verwendbar. Begründung: Man kann wohl feststellen, ob eine gegebene Überlieferung in das (meist traditionelle) Bild von der Geschichte des Urchristentums, das sich die Forschung gemacht hat, paßt. Aber wenn die Überlieferung da nicht hineinpaßt, was dann? Es ist doch wohl nicht möglich, sie für unecht zu erklären, wenn sie sich unserem Bild nicht einfügen will. Neuerdings wird nun dieses Kriterium von D. Winter und G. Theißen aufgegriffen und erweitert. Es lautet: historische Kontextplausibilität. Gemeint ist: »Was aus dem damaligen Judentum nicht ,abgeleitet< werden kann, ist wahrscheinlich nicht historisch. Anders ausgedrückt: Jesus kann nur das gesagt und getan haben, was ein jüdischer Charismatiker im 1. Jh. hätte sagen oder tun können«. Auch Kritik am Judentum müsse kontextuell nachvollziehbar sein.7 Dagegen: Dieses Kriterium scheitert bei jeder denkbaren Anwendung. Begründungen: a. Das »damalige Judentum« ist in so vielfältiger Hinsicht offen gegenüber seiner Umwelt und in sich so inhomogen, daß es als historisches Ausschlußkriterium nicht verwendbar ist. Jedenfalls im Blick auf frühchristliche Überlieferungen gilt: Alles, was in der »Weisheit« der hellenistischen Antike und in den Völkern rings um das Volk der Juden möglich war, konnte auch von Israel rezipiert werden. Ich kann nicht ein Wort wie Mk 7,15 deshalb für unjesuanisch erklären, weil die nächste Analogie bei Plato liegt. Seit Jahrhunderten wurde Plato von Juden rezipiert. Selbst wenn Jesus den Gedanken also von Plato hätte (was nicht auszuschließen ist), was spricht denn dagegen, daß er so geredet haben kann? Und wenn Lukas 16,19-31 seine nächste Entsprechung im 53 ägyptischen Setne-Roman hat, 8 warum soll nicht Jesus diese Geschichte auch und im Rahmen seiner Botschaft leicht modifiziert erzählt haben? 6. Die Eingrenzung auf »jüdische Charismatiker« ist unverständlich. Unbestritten hat Jesus Züge jüdischer Charismatiker, jedoch ist er gewiß nicht nur das gewesen. Zum Beispiel Schriftgelehrte und Philosophen sind gleichfalls zum Vergleich heranzuziehen. c. Wieso soll »kontextuelle Nachvollziehbarkeit« denn nur für Jesus und die Frage nach der Echtheit seiner Worte gelten, nicht aber für die frühe Gemeinde? Hier liegt m. E. ein unheilbarer Bruch in der Argumentation vor. d. Das Postulat der »kontextuellen Nachvollziehbarkeit« bezieht sich vermutlich auf steilere dogmatische Aussagen wie Gottheit, Jesu etc. Darf man wirklich frühchristliche Überlieferungen in jüdische und unjüdische aufteilen? Es gibt keine unjüdische; im Zweifelsfalle wird stets etwas jüdisch durch jüdische oder judenchristliche Rezeption. Und zugleich ist jede Aussage auch christlich, d. h. sie ist immer auch »neu«, »originell« und im Rahmen des Judentums irgendwie ohne Vergleichbares. Immer gilt beides. Manchmal kommt es darauf an, wieweit man den Vergleich strapaziert, das Vergleichbare oder das Abweichende betont. Kontextuelle Individualität meint nach G. Theißen und A. Merz: Unterscheidbarkeit in einem gemeinsamen Kontext. Jesus werde »im Judentum profiliert. Seine Individualität ist . . . kontextgebundene Besonderheit«. 9 Laut Beispiel soll sich Jesus z.B. (am Ende doch offenbar wohltuend) vom Reich-Gottes-Verständnis einer bestimmten jüdischen Schrift unterscheiden. Gehen wir einmal davon aus, daß diese Beobachtungen richtig sind. Was folgt daraus für die Echtheit der Jesus-Überlieferung in diesem Punkt? Doch wohl gar nichts, und zwar aus folgenden Gründen: a. Es gibt andere Schriften des zeitgenössischen Judentums, deren Reich-Gottes-Verständnis sehr wohl mit dem Jesu übereinstimmt oder ihm nahekommt. 6. Bei allen Fragen hinsichtlich des Judentums gilt, daß Jesu Jünger aus »demselben Holz geschnitzt waren« wie ihr Meister. Warum muß denn eine Profilierung wenn es denn eine ist 54 Klaus Berger Klaus Berger, Jahrgang 1940, nach Promotion und Habilitation 1970 Universitätsdozent in Leiden/ Holland. Seit 1973 Professor für Neues Testament an der Universität Heidelberg. Zahlreiche Veröffentlichungen. immer von Jesus ausgehen, warum nicht von den Jüngern? Hier liegt bei Theißen/ Merz möglicherweise ein implizites Schema zugrunde, nach welchem Jesus das Genie, die Jünger die Epigonen waren. Diese Annahme und Ähnliches wären nicht zu begründen. Wenn man also sagt: »Je kontextueller, desto echter«, bezogen auf das palästinische Judentum der Zeit J esu bzw. des 1. Jh. n. Chr., so finde ich darin folgende Schwierigkeiten: Das palästinische Judentum ist nicht abzuriegeln vom Rest der (jüdischen) Welt. Auch und gerade die »palästinischen« Texte von Qumran zeigen ein hohes Maß von Hellenisierung. Das Denkmodell »mehr oder weniger (palästinisch-)jüdisch« ist fragwürdig. Alles J esuanische ist sowohl jüdisch als auch ganz neu. Unsere Kenntnis des Judentums (z.B. in Palästina) ist sehr begrenzt. Man darf nur vorsichtig fragen: Was für Quellen hätten wir überhaupt, gäbe es die Funde von Qumran nicht? Der Hinweis auf die Sammlung von Strack/ Billerbeck mag zur Genüge zeigen, wie sehr wir vom jeweiligen Quellenbestand abhängig sind, der sich im Falle der Qumrantexte ganz zufällig erweitert hat. Und auch bezüglich dieser Texte ist man uneins: Geht es nur um Schriften einer Sekte, die alles andere als repräsentativ sind? Die Mehrheit der deutschen Forscher denkt wohl noch immer an eine Sekte. ZNT 1 (1998) Das zusätzliche neue Kriterium der Wirkungsplausibilität soll meinen: Einmal: »Was in von einander unabhängigen Quellen mehrfach bezeugt ist, kann eine Wirkung des historischen Jesus sein« (aaO., 118). So gesagt ist das vorsichtig und richtig. Aber daraus einen »Querschnittsbeweis« zu machen, geht wieder über das Beweisbare hinaus. Ein Wort, ein Tag, ein Motiv muß keineswegs deswegen »historisch« sein, weil viele es bezeugen. Es kann sich doch um eine frühe Überlieferung handeln, die für viele attraktiv war. D. Zeller (mdl., 13. 6. 97) macht darauf aufmerksam, daß die liberale Forschung die Totenerweckungen Jesu trotz Mehrfachbezeugung aus anderen Gründen ablehnt. Auch hier gilt: Ein Ausschlußkriterium ist hier ebensowenig zu gewinnen wie ein Beweis. Es bleibt bei dem »kann«, das aber eben generell gilt und eine Hypothesenbildung nicht erleichtert. Zum anderen: » Wirkungsplausible Tendenzwidrigkeit« soll meinen: Mehrfachbezeugtes läßt sich »besonders dann als Auswirkung des historischen Jesus in den Quellen plausibel machen«, wenn es »nicht aus bekannten Tendenzen des Urchristentums erklären« läßt oder »sogar ausgesprochen tendenzspröde« sei. 10 Als Beispiele werden genannt: »die Taufe Jesu durch Johannes, sein Konflikt mit der Familie, der Teufelsbundvorwurf, Verrat und Flucht der Jünger, die Kreuzigung«. Dagegen: a. Die angeführten Beispiele sind wenn nicht unglücklich so doch zumindest leicht in ihrer Argumentationskraft in Frage zu stellen. Denn entweder handelt es sich um Dinge, die historisch einfach feststanden wie will man über Jesu Martyrium berichten, ohne die Kreuzigung zu erwähnen? -, oder aber, die nur für uns ein »Problem« sind, nicht aber für die frühen Christen. Oft hat die Exegese aufgrund von Prämissen des 19. Jh. angebliche Rivalitäten und Probleme an die Texte herangetragen, die ihnen selbst fremd sind. 11 Beispiel: Mk 9,1 mit der Ansage des Reiches Gottes zu Lebzeiten gilt für fast alle modernen Exegeten als Ausweis des Irrtums J esu. Hätte nach dieser Deutung der Stelle dieser Text nicht auch schon für Markus ein Problem sein müssen? Offenbar war er es nicht; erst aufgrund der Exegese des 19. Jh. wurde aus der Stelle ein Problem. Sollte man daher nicht zuerst fragen, ob z.B. unser ZNT 1 (1998) Verständnis von Reich Gottes der Textstelle angemessen ist? Selbst wenn es anders wäre, gilt: 6. Daß eine Überlieferung für bestimmte Menschen (es sind doch immer nur bestimmte! ) »unangenehm ist«, besagt nichts über deren Alter. Beispiel: Daß Jesus mit Salome ein Bett besteigt (ThomasEv 61) und Maria Magdalena häufig auf den Mund küßt (Evangelium der Maria), mußte für asketische Christen möglicherweise anstößig sein (oder auch nicht), jedenfalls aber geht in keinem Falle aus diesen Überlieferungen hervor, daß die Sache wohl »echt« war. Und wie ist es mit der Tradition über Judas? Sind die Exegeten im Recht, die sagen, das Ganze sei eine Erfindung, um die » Juden« (Judas als der Jude) zu belasten und die Römer zu entlasten - oder ist seine Figur als Abschreckung für spätere Jünger und Kontrast zu Jesus geradezu willkommen - oder ist der ganze Kranz von Erzählungen der Versuch, mit einer äußerst unangenehmen Tatsache fertig zu werden? Ich halte alle drei Lösungen für möglich und sehe das Kriterium »echt« weil »potentiell unangenehm« ohne wirkliche Chance. Wirkung Daß etwas wahrscheinlich »echt« sei, wenn es als »Wirkung Jesu« erklärbar sei, liegt als Argument einigen der oben genannten Kriterien zugrunde. Auch diese Auskunft reicht nicht für ein Kriterium. Wirkung Jesu sind außer allen vier Evangelien auch alle übrigen Phänomene des Christentums. In der Geschichte pflegt es so zu sein, daß nichts monokausal Wirkung von etwas anderem ist. Darin liegt stets das Problem. Rückläufige Prozesse nach Ostern Hat man nicht seit alters in der Exegese auch mit den nachösterlichen Phänomenen der Rejudaisierung und z.B. Re-Apokalyptisierung gerechnet, und wie steht es damit? Hier werden nun die Gefahren aus Zirkelschlüssen und die methodischen Schwierigkeiten noch größer. 55 Beispiel: Einern Kollegen »gefiel« in einem Disput Mt 5,14-16 nicht, und zwar wegen der missionarischen Wirkung der »Werke«. Unter Protest meinerseits erklärte er den Text für das Resultat nachösterlicher Rejudaisierung. Der Protest hatte folgende Gründe: 1. Eine klar erkennbare konfessionelle Position war der Hintergrund für dieses Urteil über Echtheit. 2. Das Urteil machte die unbewiesene Voraussetzung, Jesus habe sich vom Judentum entfernt, und zwar merkwürdigerweise gerade in diesem Punkt, der für den reformatorischen Disput über Paulus wichtig geworden wäre. Welcher historische Anlaß für Jesus bestanden hätte, wurde nicht erkennbar. 3. Auf die erste Hypothese wird eine zweite gestapelt: Trotz aller ihrer Erfahrungen mit den Juden hätten die Jünger nach Ostern sich wieder in die Arme des Judentums fallen lassen. Auch hier wird kein möglicher Grund erkennbar. 4. Der Hintergrund für die Hypothese der Rejudaisierung scheint vielmehr ausschließlich zu sein: Wenn der große Meister, der alles Bisherige in den Schatten gestellt hat, nicht mehr da ist, fallen sein Schüler in die alten Gewohnheiten und »Sünden« zurück. Frage: Ist »das Judentum« hier so einzuordnen? Ist noch immer »das Judentum« der große Widerpart Jesu? Noch schwieriger steht es mit der Re-Apokalyptisierung. Setzt doch diese These voraus, daß Jesus frei war von »apokalyptischen Spekulationen«. Vorausgesetzt ist ein negatives Bild von Apokalyptik, von der Jesus auf jeden Fall freizuhalten wäre. Dieses Bild von Apokalyptik (Berechnung, Festlegung Gottes) ist schon in sich religionsgeschichtlich Nonsens. Erst recht ist die rein apologetische Behauptung, Jesus müsse frei davon gewesen sein, völlig willkürlich. Überhaupt keine Kriterien? Man kann nun fragen: Wenn alles in den vier Evangelien (und anderen alten Texten wie dem Thomas-Evangelium) Überlieferte »echt« sein könnte, zerfällt dann nicht jeder wissenschaftliche Zugriff auf Worte und Wirken J esu? Benötigt man nicht doch, um argumentieren und verstehen zu können, bestimmte Haupt- und Grundlinien, damit nicht Beliebiges zum Zentrum erklärt werden kann? Die Forschungsgeschichte zeigt, daß es durchaus möglich ist, den Gesamtbestand der Jesusüberlieferung sehr eng konfessionell-dogmatisch zurechtzulegen. 56 Antwort: 1. Der beste Schutz gegen eine monologische und ideologisierende Deutung der Worte Jesu ist eine religionsgeschichtliche Auslegung. Die Bibel kann nur verstanden werden als fremder, abständiger Text. Angesichts unserer begrenzten Kenntnisse taugen religionsgeschichtliche Parallelen aber nicht als Ausschlußkriterium. Beispiel: Vom »Fleisch« des Messias sprechen weder die bisher bekannten alttestamentlichen und jüdischen Quellen noch die hellenistische Umwelt. Also müssen wir sorgsam rekonstruieren, was dieser wichtige Ausdruck hat bedeuten können. 2. Das erhaltene Material läßt rein statistisch betrachtet (! ) bestimmte Haupt-Trassen erkennen, zu denen auch die Verkündigung des Reiches Gottes gehört. Aber Existenz dieser Hauptströme oder mangelnde Möglichkeit, ein Wort diesen zuzuordnen, besagt nichts über die Echtheit. Auch hier erlaubt unsere begrenzte Kenntnis nicht die Verwendung als Ausschluß- Kriterium. Beispiel: Mk 9,50f. Man kann dieses Wort kaum auch nach langen Mühen einer Hauptlinie zuordnen. Trotzdem können wir nicht über die »Echtheit« oder» Unechtheit« befinden. Theologische Torheit Ein pseudo-religiöses Sicherheitsbedürfnis steht m. E. hinter dem Bestreben, echte oder unechte Jesusworte zu scheiden. Die Kirche hat es zur Zeit der Kanonbildung wagen können, vier Evangelien anzubieten. Man hat zweifellos gewußt, daß es vier recht unterschiedliche Evangelien waren. Aber offenbar konnte man sich die historische Unsicherheit, die dieses Mosaik mit sich brachte, leisten, weil es klar war: Das, was gelten soll, wählt die Kirche in ihrer jeweiligen Verkündigung aus dem Kanon aus. Nur eine starke kirchliche Autorität konnte sich den Kanon der vier Evangelien leisten. Diese hermeneutische Vorentscheidung hielt das Mittelalter hindurch und überstand auch die Reformationszeit. Sie wurde erst mit der Aufklärung brüchig. Denn als die Autorität »der Kirche« systematisch angreifbar wurde und zerfiel, mußte man anderswo »festen Halt« finden. Man suchte ihn in ZNT 1 (1998) historischen Argumenten. Die Suche nach der »echten Jesusüberlieferung« war die Suche nach der verbindlichen Norm, die man nun nicht mehr im gegenüber der Kirche zur Schrift fand, sondern innerhalb der Schrift selbst zu finden meinte. Hermeneutisch gesehen handelte es sich aus der Sicht der Untersucher bei der Frage nach den echten J esusworten um ein höchst bedeutsames Unternehmen. Daher meint man auch heute, darauf bestehen zu müssen, und zwar nicht nur aus historischer Neugier, sondern auf der Suche nach dem Kanon der Interpretation. Historische Forschung ist in meinen Augen mit dieser Fragestellung prinzipiell überfordert. Das kirchliche Modell war aus meiner Sicht nicht total unbrauchbar. Es ließ sich wenigstens von der richtigen Einsicht leiten, daß die Schriften des Urchristentums im Schoße christlicher Gemeinden und für diese entstanden. Daher besteht jedenfalls ein bleibender (kritischer) Bezug dieser Schriften zu jeder späteren kirchlichen Gemeinschaft. Und man darf fragen: Wer sollte sie sonst in ihrer Gesamtheit auslegen als die Gruppe, für die sie einst geschrieben worden ist? Dabei hätte Exegese einen bleibenden Auftrag: die Schrift vor jeder ideologischen Vereinnahmung zu schützen. Unechtheit christologischer Hoheitsaussagen? Die klassischen Argumente gegen die Echtheit vieler Jesusworte (insbesondere imJohEv) werden aus dem allgemeineren Urteil über das Verhältnis zwischen historischem Jesus und nachösterlichem Christus gewonnen. Diese ältere liberale Konzeption besagt: Jesus hat vom Reich Gottes (und eventuell vom Menschensohn als einem anderen) gesprochen, nicht aber über sich selbst. Mit dem Glauben an Jesus seien zugleich »das Christentum« und die Kirche entstanden. So ist der Ostergraben die wichtigste Scheidemöglichkeit zwischen echten und unechten Jesusworten. Das Kriterium heißt: Christologie. Alle christologische Einsicht, insbesondere titulare Formulierungen, seien erst nachösterlich. Diese simple Theorie, die auf ein paar höchst anfechtbaren Prämissen beruht, findet noch immer gläubige Anhänger. Immer wieder spricht man auch für die synoptischen Evangelien von rück- ZNT 1 (1998) projizierten Ostererfahrungen. Dazu rechnet man eigenartigerweise bei den Synoptikern bereits alle Sohn-Gottes-Aussagen. 12 Für das JohEv beruft man sich auf die Textstellen, die sagen, daß Jesu Jünger bestimmte Sätze erst nach Ostern verstanden hätten. 13 Keine dieser Stellen besagt allerdings, daß die christologische Einsicht überhaupt erst nach Ostern gekommen sei. Undifferenziert werden Aussagen über Präexistenz als Hoheitschristologie eingestuft. Erstaunlicherweise ist bisher noch nicht versucht worden, diese These exegetisch zu verifizieren. Unser Frage heißt daher: Lassen die Texte des Neuen Testaments etwas von der zentralen Wende im Glauben der Jünger durchscheinen? Hat sich irgendwo die Erinnerung daran erhalten, daß man eben erst nach Ostern und aufgrund von Ostern zu der entscheidenden Einsicht gelangt ist? In Wirklichkeit gibt es keinen einzigen neutestamentlichen Text aus dem hervorgeht, daß die entscheidende christologische Erkenntnis den Jüngern erst nach Ostern zuteil geworden wäre. Die Grundprämisse liberaler Exegese in der Frage der Christologie hält daher dem Textbefund des Neuen Testaments nicht stand. Sie ist anders, und zwar philosophisch entstanden und zu deuten. Es ist höchste Zeit, sie kritisch zu diskutieren. Für W. Wrede war das Gebot J esu, erst nach der Auferstehung des Menschensohnes von seiner christologischen Autorität zu erzählen, das klassische Argument für seine These, der Glaube an diese christologische Würde Jesu sei zu Ostern eben erst entstanden. Diese Aussage enthält der Text in Mk 9 nun freilich keineswegs. Er besagt vielmehr das Gegenteil: Die christologische Erkenntnis sei eben vorösterlich. Ostern markiert hier nur den Zeitpunkt, von dem ab verkündigt wurde, den terminus a quo der Verkündigung, nicht aber des Glaubens. Im Gefolge der These W. Wredes wurden dann zahlreiche Versuche unternommen, die Verklärung zu einer nachösterlichen Erfahrung zu machen. Diese Unterfangen können als gescheitert gelten. Das ganze Szenario findet sich in keiner Ostervision. Die Offenheit des Frühjudentums für visionäre und mystische Erfahrungen wurde nicht erst durch die Osterbotschaft begründet; diese gehört vielmehr in jene hinein. Berufen hat man sich immer auf die Stellen des 57 Joh, nach denen sich die Jünger nach der Erhöhung J esu an Worte J esu erinnert und sie dann erst verstanden hätten. Doch kein Text sagt etwas über die christologische Erkenntnis erst ab Ostern. Zweimal belehrt nach dem LkEv der Auferstandene Jünger über die Schrift, und zwar über Leiden und Herrlichkeit des Christus (Lk 24,26-27.45-46). Dieses, nicht daß Jesus der Christus sei, ist Inhalt der Schrifterkenntnis. Sie wird durch Visionen des Auferstandenen vermittelt, nicht durch die Osterereignisse selbst. Nicht die Jünger, wohl aber Außenstehende werden durch die Auferweckung Jesu und die sie bezeugenden Erscheinungen überwältigt und überzeugt, aus ihrer Unkenntnis befreit. Das betrifft einmal die frühen Judenpredigten nach Apg 2-5. Hier ist auch von der Unkenntnis die Rede, die die Juden veranlaßte, Jesus zur Kreuzigung auszuliefern. Vor allem aber Paulus erlangt durch die nachösterliche Offenbarung des Sohnes Gottes das Glaubenswissen über die Identität Jesu. Die Berufungsvision macht deutlich: Jesus ist Sohn Gottes (Ga! 1,16). Es scheint, daß die liberale Theologie wieder einmal von Paulus ausgegangen ist und ihn als den Maßstab für alles gewertet hat. Unbestritten gibt es auch weitere nachösterliche neue Erkenntnisse, nur beziehen sich diese nicht auf die christologische Frage. Die Tatsache, daß es keinerlei Erinnerung darüber gibt, daß Ostern etwa die christologische Erkenntnis begründet habe, läßt mißtrauisch gegenüber der Grundthese der liberalen Theologie werden. Sie entstammt offensichtlich keiner exegetischen Einsicht, sondern hermeneutischen Überlegungen. Anmerkungen 1 K. Erlemann: Naherwartung und Parusieverzögerung im Neuen Testament (TANZ 17), Tübingen 1995. ders.: Endzeiterwartungen im frühen Christentum (UTB 1937), Tübingen 1996. 2 Vgl. dazu: D. Winter: Das Differenzkriterium in der J esusforschung, Heidelberg 1995. 3 Trotz grober Zuspitzung symptomatisch für viele: G. Lüdemann: Ketzer. Die andere Seite des frühen Christentums, Stuttgart 1995, 214-216 »Was Jesus wollte und tat«. 4 Vgl. dazu meine Beiträge: Darf man an Wunder glauben? (Stuttgart 1996) und: Ist mit dem Tod alles aus? (Stuttgart 1997). 58 5 Dazu: K. Berger: Theologiegeschichte des Urchristentums, 2 1995, 13 f. 6 Vgl. z.B. in: H. Schmidinger (hg.): Jesus von Nazareth. Salzburger Hochschulwochen 1994, Graz 1995, 193-195. 7 G. Theißen, A. Merz: Der historische Jesus, 1 1996, 119. 8 C. Colpe, K. Berger: Religionsgeschichtliches Textbuch zum Neuen Testament, Göttingen 1987, Nr. 237, 141 f. 9 Theißen / Merz, Jesus, 119. 10 Ebd., 118. 11 Beispiel: Taufe Jesu durch Johannes. - Im JohEv fehlt diese Erzählung. Daraus hat man geschlossen, Joh unterdrücke sie absichtlich, um die unangenehme Tatsache der Taufe Jesu durch Joh »auszubügeln«. Eine recht naive Vorstellung über die kriminellen Methoden des Evangelisten Johannes. Könnte es nicht umgekehrt so sein, daß bei den Synoptikern die Tradition von der Taufe Jesu Konflikt mit der Familie spiegelt: Hier geht es erkennbar um einen Topos. Der Prophet ist nicht nur in der Vaterstadt, sondern besonders in der eigenen Familie untragbar. Beispiel: Teufelsbundvorwurf. - Dieser Vorwurf belastet weitaus mehr die Gegenseite als Jesus! Im übrigen war es sachlich naheliegend, wenn nicht geradezu notwendig, die Alternative aufzustellen, nach der Jesus entweder durch den Heiligen Geist oder durch Beelzebul die Geister austrieb. Beispiel: Verrat und Flucht der Jünger, besonders des Judas. Die breite Schilderung der Evangelisten läßt erkennen: Hier geht es um abschreckende Beispiele. Literarisch gesehen war das gut zu gebrauchen (vgl. die Patriarchen nach den TestPatr). Es stützt die einzigartige Rolle J esu und warnt die Gemeinde. Warum also unterdrücken? Es gibt exegetische Meinungen, nach denen man Judas, hätte es ihn nicht gegeben, geradezu hätte erfinden müssen. 12 Vgl. Theißen/ Merz, S. 104: »Nachösterlicher Glaube wird in das vorösterliche Leben eingetragen, wenn Jesus schon in ihm als »Sohn Gottes« proklamiert wird und als allmächtig und allgegenwärtig gilt«. Man darf fragen, woher die Verf. das nun so genau wissen wollen. Im übrigen ist das mit der Allmacht eine Fehlinterpretation von Mt 11,27 (der Ton liegt nicht auf »alles«, sondern auf »von meinem Vater übergeben«; es geht um eine Legitimations-, nicht um eine Allmachtsaussage), und die »Allgegenwart« ist eine Eintragung dogmatischer Kategorien aus späteren Katechismen dort, wo es um den jüdisch-alttestamentlichen »Namen« geht. 13 Vgl. Theißen/ Merz, Jesus, 51: »Jesus spricht und handelt als der sich seiner Präexistenz bewußte Offenbarer Qoh 8,58), als der er aber dessen ist sich der Verfasser bewußt erst nach Ostern und unter Wirken des Geistes erkannt ... werden kann« (vgl. 2,22; 7,39; 12,16; 13,7). ZNT 1 (1998) Walter Sehmithals Gibt es Kriterien für die Bestimmung echter Jesusworte? Zu einer Kontroverse mit den Ausführungen von Klaus Berger kann es nur in begrenztem Maße kommen. Ich habe mich der »Neuen Frage nach dem historischen Jesus« von Anfang an versagt, und ich stimme Berger darin zu, daß die Versuche, zureichende Kriterien für die Bestimmung einzelner Worte als ipsissima vox J esu festzulegen, methodisch unzureichend sind. Ich übrigen aber muß ich, sofern ich nicht nur mein Unverständnis kundtun kann, Berger fundamental widersprechen, und ich kann nicht verhehlen, daß dieser Widerspruch einen Zustand unserer neutestamentlichen Wissenschaft exemplarisch sichtbar macht, der kaum anders als mit dem Begriff »chaotisch« zu beschreiben ist. Berger schlägt vor, die Frage nach Echtheit oder Unechtheit von Jesusworten vorerst auf sich beruhen zu lassen. Wann und unter welchen Bedingungen soll die Fragen aber wieder aufgenommen werden? Seit mehr als 200 Jahren ist die historische Wissenschaft auf der Suche nach den echten Jesusworten, ohne bisher methodisch und sachlich zu unanfechtbaren Ergebnissen gekommen zu sein. Angesichts solcher Erfahrung kann diese Situation durch die historische Wissenschaft selbst nicht verändert werden, und auf eine archäologische Sensation wird Berger schwerlich hoffen. Wer also heute keine Möglichkeit sieht, die Frage nach den echten Jesusworten definitiv zu beantworten, wird auch für morgen mit einer solchen Möglichkeit nicht rechnen dürfen. Diese Erkenntnis ficht denjenigen nicht an, der mit Buhmann der Überzeugung ist, daß die Verkündigung Jesu nur zu den Voraussetzungen des christlichen Glaubens gehöre, nicht aber dessen Gegenstand bildet, weil nämlich das christliche Kerygma nicht die Verkündigung J esu wiederholt, sondern ihn selbst als den Gekreuzigten und Auferstandenen verkündigt. Da Berger dieser Feststellung und den ihr zugrunde liegenden historischen bzw. exegetischen Beobachtungen nicht zustimmt, stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzun- ZNT 1 (1998) gen er selbst die Suche nach dem »historischen Jesus« (vorerst) suspendieren kann. Offensichtlich setzt er auf »eine starke kirchliche Autorität«, die bis zur Zeit der Aufklärung bestimmt haben soll, was legitime Verkündigung ist, und er hält dies »kirchliche Modell« anscheinend nach wie vor für brauchbar, so daß der Exegese nur die Aufgabe bleibt, »die Schrift vor jeder ideologischen Vereinnahmung zu schützen«. Man würde freilich gerne wissen, wie dies Modell heute funktionieren soll und an welche starke kirchliche Autorität Berger denkt. Im einzelnen irritiert mich an Bergers Argumentation z.B., daß er, wenn er über Kriterien für echte J esusworte handelt, in erheblichem Maße mit der Erzählüberlieferung argumentiert, obschon doch zwischen dem »Gedächtnismäßigen« und dem »Reflexionsmäßigen« nicht nur systematisch, sondern im Hinblick auf die Spruchüberlieferung einerseits, das Markusevangelium andererseits auch traditionsgeschichtlich unterschieden werden muß, wie die von Berger im Prinzip akzeptierte Zwei-Quellen-Theorie zeigt. »Alles und jedes hat eine Analogie im Judentum und in der hellenistischen Umwelt«; »Alles, was( ... ) rings um das Volk der Juden möglich war, konnte auch von Israel rezipiert werden«; »Alles Jesuanische ist sowohl jüdisch als auch ganz neu« solche und andere Totalitätsaussagen Bergers zerstören den Charakter der differenzierten historischen Prozesse und sollen offenbar den kritischen Historiker einschüchtern. Aber man kann nicht zugleich Apokalyptiker und Platoniker sein, zugleich Pharisäer und Sadduzäer. Mich stört in diesem Zusammenhang auch, daß Berger plakativ mit der »Gefahr von Zirkelschlüssen« argumentiert, obschon doch keine historische Rekonstruktion auf den hermeneutischen Zirkel verzichten kann, so daß als kritisches Argument nur der Nachweis des unkritischen Vorurteils etwas taugt. Und wieso soll die Vorstellung einer Gemeindebildung oder einer redaktionellen Bildung generell 59 als Kriterium ausscheiden, wenn doch die entsprechenden Worte deutlich die Situation der nachösterlichen Zeit der zweiten oder dritten Generation oder die Sonderinteressen eines Redaktors widerspiegeln? Wenn Naherwartung im frühen Christentum funktional betrachtet worden ist, bedeutet das doch nicht, daß ein Visionär, der den Satan vom Himmel stürzen sieht, sich zugleich apologetisch mit der Parusieverzögerung auseinandersetzen kann. Ganz unbegreiflich ist mir auch, daß Berger, die Zwei-Quellen-Theorie ignorierend, nicht nur die drei synoptischen Evangelien traditionsgeschichtlich egalisiert, sondern daß er auch noch das Johannesevangelium in ihren Bund aufnimmt und sogar geneigt ist, mit apokryphen Evangelien ähnlich zu verfahren. Dieser Umgang mit den Überlieferungen der Evangelien erinnert an die in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts dominierenden Traditionshypothese, die Übereinstimmungen und Differenzen unserer ersten drei Evangelien auf ein ihnen zugrunde liegendes mündliches Urevangelium zurückführte. Sowohl die konservativen Verfechter der Traditionshypothese wie Gieseler als auch ihre kritischen Vertreter wie Strauß gaben aber traditionsgeschichtliche Gründe für ihre Auffassung von der vorliterarischen und der literarischen Überlieferungsgeschichte an, die man kritisch überprüfen und widerlegen konnte; die Zwei-Quellen-Theorie ist bekanntlich aus solcher Widerlegung herausgewachsen. Nach solchen Gründen sucht man bei Berger vergeblich. Hinsichtlich der mündlichen Überlieferung schließt er sich in einer diffusen Weise an die traditionsgeschichtlichen Vorstellungen der formgeschichtlichen Schule an, ohne die Argumente zu beachten, die schon Weisse gegen die entsprechenden Vorstellungen von Strauß vorgebracht hat; hinsichtlich der literarischen Überlieferung werden die quellenkritischen und die redaktionsgeschichtlichen Einsichten zwar nicht grundsätzlich bestritten, wohl aber ignoriert. In dem allen gibt sich ein methodisches Vorurteil zu erkennen, das auch die Gründe entwertet, die Berger gegen die mancherlei Kriterien ins Feld führt, mit deren Hilfe viele Forscher echte Jesusworte zu ermitteln versuchen. Mit dem zuletzt beschriebenen Manko hängt zusammen, daß Berger es unterläßt, zwischen dem Aufweis der Echtheit und dem der Unechtheit von 60 Jesusworten zu unterscheiden, obschon doch das methodische Vorgehen in beiden Fällen keineswegs identisch ist. Nur wer die gesicherten Erkenntnisse der Quellen- und Redaktionsanalyse unbeachtet läßt, kann jene Differenzierung mißachten. Die Ansicht, man könne die Echtheit eines Jesuswortes weder positiv noch negativ feststellen, führt dann zu der nun zwar nicht mehr verwunderlichen, wohl aber wunderlichen Feststellung, daß alles in den Evangelien Überlieferte echt sein könnte und daß erst die apokryphen Evangelien Zweifel an der allgemeinen Echtheit aufkommen lassen. Christologie Zu den »echten« Überlieferungen zählt Berger auch die christologischen Hoheitsaussagen. Daß diese österlichen Ursprungs sind, sei eine »simple Theorie«, die »noch immer gläubige Anhänger« finde, die aber »dem Textbefund des Neuen Testaments nicht stand« halte. Es liegt nahe, bei diesem wichtigen Gesichtspunkt zu verweilen. Nach Berger gibt es »keinerlei Erinnerung darüber« und »keinen einzigen neutestamentlichen Text, aus dem hervorgeht, daß die entscheidende christologische Erkenntnis den Jüngern erst nach Ostern zuteil geworden wäre«. Indessen ist z.B. die vorpaulinische Formel Röm 1,3-4 ein solcher Text. Diese Formel konstatiert, daß der irdische Jesus zwar die Bedingung für die Berufung in das messianische Amt erfüllt, daß aber seine Einsetzung in die Würde des Sohnes Gottes erst »aus der Totenauferstehung« erfolgt sei. Dementsprechend weiß das gleichfalls vorpaulinische Christuslied in Phil 2,5-11 vom irdischen Jesus nur zu sagen, daß er wie ein gewöhnlicher Mensch erfunden wurde, und es ist diese totale Erniedrigung, die Anlaß zu seiner österlichen Erhöhung zum Kyrios gab. Auch die in Gal 4,4-5 aufgegriffene und von Paulus kontextgemäß erweiterte Formel stellt fest, daß Jesus »vom Weibe geboren« sei, und verweist damit auf die Identität des irdischen Jesus mit den anderen Menschen, die auf diese Weise ihre Gotteskindschaft empfangen sollen. Solche traditionellen Formulierungen zeigen, daß das auf Petrus zurückgehende Urbekenntnis der Christenheit, Gott habe Jesus von den Toten auferweckt (Gal 1,1; Röm 4,24; 8,11; IIKor 4,14; Kol 2,12), nicht ZNT 1 (1998) auf ein Christusbekenntnis zurückblickt, sondern Ausgangspunkt der christologischen Bekenntnisbildung gewesen ist. Dem entspricht die schon im vorigen Jahrhundert gewonnene Erkenntnis, daß die älteste Spruchüberlieferung das Ostergeschehen noch nicht reflektiert und zugleich noch nicht christologisch geprägt ist. Die Messiasgeheimnis- Theorie kann, darin ist Wrede zuzustimmen, vernünftigerweise nur erklärt werden, wenn sie den Ausgleich zwischen einem nicht explizit christologischen Wirken Jesu und einer christologisch geprägten Jesusdarstellung herstellt, indem sie behauptet, die messianische HoheitJesu sei während seiner galiläischen Wirksamkeit in der Öffentlichkeit verborgen geblieben. Aus dem Gesagten folgt, daß die Christologie ein sicheres Kriterium darstellt, um negative Echtheitsentscheidungen fällen zu können. Darum ist z.B. auch die Verklärungsgeschichte, die Berger ausdrücklich anspricht, zwar nicht Ausdruck »einer nachösterlichen Erfahrung«, wohl aber eine österliche Erzählung, die von der Metamorphose der irdischen Leiblichkeit des Auferstandenen in die »verklärte« Leiblichkeit des Erhöhten berichtet. Daß sich diese Szene »in keiner Ostervision« findet, ist schon deshalb kein Argument, weil die Szene überhaupt keine visionäre Erfahrung wiedergibt, sondern ihren Ursprung theologischer Reflexion verdankt. Johannesevangelium: Berger stellt das Johannesevangelium auf eine Stufe mit den Synoptikern, soweit es um die Frage nach »echter« oder »unechter« J esusüberlieferung geht. Indessen zeigt die Gattung »Evangelium«, der auch das vierte Evangelium angehört, daß der Evangelist Johannes das eine oder das andere synoptische Evangelium gekannt haben muß; denn daß er diese singuläre literarische Gattung unabhängig von einer synoptischen Vorlage noch einmal erfunden haben soll, kann man unmöglich annehmen, und eine Abhängigkeit der Synoptiker vom Johannesevangelium wird auch Berger nicht behaupten wollen. Angesichts der durchgehend christologischen Ausrichtung des Johannesevangeliums ließe sich dann aber in dieser Schrift möglicherweise echte Überlieferung, die sich nicht einer synoptischen Vorlage verdankt, nur ausmachen, wenn sie sich deutlich als vorchristologisch zu erkennen gibt. Es liegt am Tage, daß dies bei keiner johanneischen Überlieferung der Fall ist. Überhaupt ist die Vorstellung, ZNT 1 (1998) Walter Schmith.: ils Gibt es Kriterien flir für die Bestimmung echter Jesusworte? Walter Sehmithals Walter Sehmithals, Jahrgang 1923, nach Promotion 1956 und Habilitation 1962 ordentlicher Professor für Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Berlin. Emeritiert. Zahlreiche Zeitschriften- und Buchpublikationen. daß das Johannesevangelium noch an einem Strom mündlicher J esusüberlieferung partizipiert, nicht zu verifizieren; denn einerseits lassen sich seine entsprechenden Stoffe in jedem Fall auf synoptische Vorlagen zurückführen, andererseits ist ein solcher mündlicher Überlieferungsstrom um die erste Jahrhundertwende nirgendwo nachzuweisen. Das bedeutet aber, daß das Johannesevangelium nicht in Betracht zu ziehen ist, wenn man nach authentischer Jesusüberlieferung sucht. Die Suche nach Kriterien für echte J esusworte ist insoweit negativ erfolgreich. Sondergut von Matthäus und Lukas Ein entsprechendes Urteil ist angesichts des Sondergutes der beiden späteren synoptischen Evangelien zu fällen, die das Markusevangelium und die Spruchquelle miteinander verbinden. Es läßt sich ausschließen, daß sie das Material, das ihnen diese beiden Quellenschriften vermitteln, zugleich noch in einer mündlichen Überlieferung besaßen. Denn in diesem Fall müßte sich der Einfluß solcher mündlichen Überlieferung bei der redaktionellen Bearbeitung des im Markusevangelium und in der Spruchquelle vorgefundenen Stoffes deutlich zu erkennen geben, zumal wenn die mündlichen Traditionen den beiden späteren Evangeli- 61 sten und ihren Lesern durch einen festen Sitz im Leben der Gemeinde vertraut waren. Auch müßten dann von Fall zu Fall signifikante Übereinstimmungen von Matthäus und Lukas gegen literarische Vorlagen begegnen. Beides ist nicht der Fall, und darum spielt auch der Rekurs auf mögliche mündliche Parallelüberlieferungen in der Synoptikerexegese selbst dort keine Rolle, wo man, den formgeschichtlichen Prämissen folgend, deren Existenz grundsätzlich behauptet. Entsprechende Folgerungen sind dann aber auch für das Sondergut zu ziehen, das Matthäus und Lukas je für sich haben und das höchstens in vereinzelten Ausnahmefällen aus der Spruchquelle stammen könnte, nämlich dann, wenn der andere Evangelist das eine oder andere Logion aus Q ausgelassen haben sollte. Daß das Sondergut bei Matthäus und Lukas sich in der Regel keiner christlichen Gemeindeüberlieferung verdankt, ergibt sich auch aus der Beobachtung, daß es sich, sieht man von dem Bekenntnis zur jungfräulichen Empfängnis Jesu als solchem ab, in keinem einzigen Fall überschneidet. Zugleich läßt sich das Sondergut durchweg bestimmten redaktionellen Interessen des jeweiligen Evangelisten zuordnen. Das bedeutet zwar nicht, daß das Sondergut auch ausnahmslos redaktionellen Ursprungs sein muß; die charakteristischen Beispielserzählungen des Lukasevangeliums (Lk 10,30-35; 12,16-20; 16,19-31; 18,9-14) dürften z.B. aus dem Lehrgut der hellenistischen Synagoge stammen, und der Erzählzyklus Lk 2,1-52 geht auf eine schriftliche Vorlage zurück. Aber es bedeutet, daß auch die Echtheit dieses Sondergutes prinzipiell unter ein negatives Vorzeichen zu stellen ist, so daß sich auch in diesem Fall erweist, daß negative Echtheitsentscheidungen durchaus möglich und für positive Entscheidungen nicht ohne Bedeutung sind. Markusevangelium und Spruchquelle Es sind solche negativen Beobachtungen, die den Weg zu positiven Urteilen öffnen. Denn es ergibt sich, daß Kriterien für echte J esusworte, jedenfalls sofern diese intern aus der Überlieferung selbst gewonnen werden, ausschließlich im Blick auf die Stoffe des Markusevangeliums und der Spruchquelle zu entwickeln sind. Denn niemand wird heute noch ernsthaft die Agrapha mehr als beiläu- 62 fig in Betracht ziehen, und den Versuchen, apokryphen Evangelien, namentlich dem koptischen Thomasevangelium echte Überlieferung zu entnehmen, die nicht durch die Synoptiker vermittelt wurde, steht anscheinend auch Berger mit gutem Grund skeptisch gegenüber. Nun darf man freilich auch die Überlieferungen des Markusevangeliums und der Spruchquelle traditionsgeschichtlich nicht über einen Kamm scheren, wie es seit dem Siegeszug der synoptischen Formgeschichte üblich geworden ist. Diese Formgeschichte geht nämlich davon aus, daß ein einheitlicher mündlicher Überlieferungsstrom bei seiner Verschriftlichung zunächst aufgeteilt wurde, und zwar derart, daß im Markusevangelium im wesentlichen das Erzählgut, in der Spruchquelle aber im wesentlichen die Logien gesammelt wurden. Im Fortgang der literarischen Überlieferung haben dann Matthäus und Lukas unabhängig voneinander das getrennte Gut zusammengeführt und insoweit wieder den Status der anfänglichen Überlieferungsgeschichte erreicht. Hat ein solcher Vorgang schon an sich keine Wahrscheinlichkeit für sich, so haben die Vertreter der Formgeschichte sich auch keine Gedanken darüber gemacht, daß die sortierende Aufteilung der mündlichen Stoffe auf das Markusevangelium und die Spruchquelle nur möglich gewesen wäre, wenn der Verfasser der späteren Schrift die frühere Schrift gekannt hat. Nun hat man aber zu bedenken, daß der Evangelist Markus die von ihm tradierten Stoffe nicht etwa sekundär christologisch überformt hat, sondern daß die Masse dieser Stoffe, angefangen von der Berufung Jesu zum Sohn Gottes bei der Taufe durch Johannes bis hin zu den Passions- und Osterberichten, ursprunghaft christologisch geprägt ist. Demgegenüber ist die Spruchüberlieferung, sieht man von einzelnen christologischen Ergänzungen ab, noch rein prophetisch oder weisheitlich ausgerichtet, und selbst die literarische Spruchquelle enthält das Kerygma von Kreuz und Auferstehung noch nicht. Angesichts dessen kann man von keinem einheitlichen synoptischen Traditionsstrang ausgehen, und in der Tat hat sich heute die Erkenntnis weithin durchgesetzt, daß für die Spruchüberlieferung und für das Markusevangelium unterschiedliche Trägerkreise anzusetzen sind. Diese Einsicht aber ist von nicht geringer Bedeutung für die Frage nach möglichen Kriterien ZNT 1 (1998) echter J esusworte. Denn weil eine ursprunghaft christologische Überlieferung das Ostergeschehen voraussetzt, fällt der wesentliche Stoff des Markusevangeliums zumindest für einen unmittelbaren Zugriff zur ipsissima vox J esu aus. Dies Urteil gilt auch dann, wenn meine Überzeugung, daß dieser Stoff schriftstellerischer Herkunft ist, nicht zutreffen sollte und das Markusevangelium als eine Sammlung mündlicher Einzelüberlieferungen zu erklären ist. Die Abfolge negativer Kriterien reduziert also die Frage nach möglichen Kriterien für echte Jesusworte im wesentlichen auf die synoptische Spruchüberlieferung, das heißt auf die aus Matthäus und Lukas rekonstruierte Spruchquelle Q nach Abzug ihrer deutlich erkennbaren, vor allem durch ihr Erzählgut repräsentierten christologischen Redaktion. Die Botschaft der Spruchüberlieferung Nun enthält diese Spruchüberlieferung vor allem Aussagen, die einem prophetisch-apokalyptischen Umfeld angehören, daneben allerdings auch einige Traditionen, in denen Jesus als Weisheitslehrer erscheint (z.B. Lk 6,31par; 12,6-7.22-34par; Mt 5,45par). Ob sich beides verträgt oder ob mit der vorliegenden Beobachtung ein weiteres »negatives« Kriterium zur Feststellung echter Jesusworte in den Blick tritt, war schon im vorigen Jahrhundert umstritten. In diesem Zusammenhang ist ein Blick auf die »Dubletten« des Markusevangeliums hilfreich, also auf jene Logien, die sich sowohl bei Markus als auch in der Spruchüberlieferung finden; sie begegnen im Zusammenhang mit der Messiasgeheimnis-Theorie des Markusevangeliums in dessen redaktioneller Schicht und exzerpieren mit Bedacht die ältere Spruchüberlieferung. In diesen »Dubletten« findet sich aber nichts von den weisheitlichen Logien der Spruchüberlieferung, obschon Markus an ihrem apokalyptischen Gedankengut gar nicht interessiert ist. Es liegt deshalb nahe anzunehmen, daß wir es bei den weisheitlichen Stücken der Spruchüberlieferung mit einer von ihrem Ursprung her nicht jesuanischen Nebentradition zu tun haben. Die Kette der negativen Kriterien führt also darauf, daß die authentische Jesusüberlieferung in den prophetisch-apokalyptischen Aussagen der synoptischen Spruchüberlieferung zu suchen ist. ZNT 1 (1998) Walter Sehmithals Gibt es iüiterien fiir für die Bestimmung i)chülr Je~osworte? Insoweit ist also weiterhin den Einsichten Raum zu geben, mit denen Johannes Weiß vor rund 100 Jahren das Ende der Leben-Jesu-Theologie einläutete und die auch von den wechselnden Konzepten der »Neuen Frage nach dem historischen Jesus« in keiner stichhaltigen Weise widerlegt worden sind. Es scheint mir allerdings nicht möglich zu sein, positive Kriterien auszumachen, die erlauben, einzelne der entsprechenden Logien und Gleichnisse als »echte J esusworte« auszugeben und insofern von Worten des Täufers oder einzelner Propheten zu unterscheiden. Vielhauer hat z.B. nachzuweisen versucht, daß Jesus von der kommenden Gottesherrschaft, nicht aber von dem kommenden Menschensohn-Richter gesprochen hat, doch scheinen mir auch in solchem Fall sichere Distinktionen nicht möglich zu sein. Nur insoweit stimme ich Berger also zu, daß wir keine Kriterien zur Bestimmung einzelner echter Jesusworte haben. Indessen halte ich seine Ansicht, daß »alles in den vier Evangelien (und anderen alten Texte wie Thomas-Evangelium) Überlieferte >echt, sein könnte«, für ebenso verfehlt wie sein methodisches Vorgehen, zwischen positiven und negativen Kriterien nicht zu differenzieren. Wir können zwar von einzelnen Worten nicht behaupten, daß sie uns aus dem Munde Jesu überliefert wurden; die Grundlinien der Verkündigung Jesu sind aber erkennbar. Gegenprobe Dies Urteil wird durch eine Gegenprobe bestätigt, die darauf beruht, daß zwischen der Botschaft des irdischen Jesus und dem Kerygma der U rgemeinde eine Kontinuität bestehen muß. Diese Kontinuität ist fundamental damit gegeben, daß das Urbekenntnis, das aller weiteren Bekenntnisbildung zugrundeliegt und dem zufolge Gott Jesus von den Toten auferweckt hat, anfänglich in einem apokalyptischen Bezugsrahmen gesprochen wurde; denn eine frühe und breite Überlieferung besagt, daß Jesus als der » Erstling der Entschlafenen« auferweckt wurde (IKor 15,20; vgl. Röm 6,lff.; IKor 6,14; Kol 1,18; Apk 1,5; Mt 27,52f.; Apg 26,23; IClem 24,1). Diese Vorstellung ist noch nicht christologisch, sondern sie verbindet die Naherwartung der allgemeinen Totenauferstehung mit dem Bekenntnis zur Auferweckung J esu. 63 Die Erfüllung der von Jesus selbst angesagten Erwartung des eschatologischen Heilshandelns Gottes bricht in seiner Auferweckung an. Erst in einem zweiten Schritt wird die Auferweckung J esu als ein exzeptionelles, seine christologische Hoheit begründendes Ereignis verstanden und interpretiert. Die entsprechende christologische Formel in Röm 1,3-4 läßt dabei den ursprünglichen apokalyptischen Bezugsrahmen noch deutlich erkennen, wenn sie konstatiert, daß die Einsetzung Jesu zum machtvollen Gottessohn »aus der Auferstehung der Toten« erfolgt ist. Es läßt sich also dann und nur dann die anfängliche Bekenntnisbildung kontinuierlich mit der Verkündigung Jesu verknüpfen, wenn diese Verkündigung anhand der prophetisch-apokalyptischen Spruchüberlieferung der synoptischen Tradition erhoben wird. Die interne, vor allem von »negativen« Kriterien geleitete Analyse der evangelischen Überlieferung und die externe, an der frühen Bekenntnisbildung orientierte Rekonstruktion der urchristlichen Theologiegeschichte führen also zum gleichen Ergebnis. Von keinem überlieferten Jesuswort läßt sich mit Sicherheit sagen, daß Jesus es selbst einmal so und nicht anders gesagt hat, und insoweit sollte man die Suche nach echten Jesusworten nicht »vorerst«, sondern überhaupt einstellen. Davon bleibt unberührt, daß sich die Grundzüge der Verkündigung Jesu hinreichend erkennen lassen, freilich als die Voraussetzung der christlichen Theologie, nicht als deren Gegenstand, der sich vielmehr in den Bekenntnissen ausspricht, die bis hin zu Apostolikum und Nizänum ihre Voraussetzung nicht zu ihrem Gegenstand machen. Kontakte- Beiträge zum religiösen Zeitgespräch Herausgegeben von Michael.Kessler Ziel der Reihe ist es, aktuelle Fragestellungen des religiösen und kirchlichen Lebens, der seelsorglichen Praxis, der Glaubensunterweisung und Theologie im Kontext heutiger Kultur und Gesellschaft problemorientiert und allgemeinverständlich zu behandeln. "Kontakte" will Impulse, Informationen und Hilfen für das religiöse, theologische und kirchliche Zeitgespräch geben und ermuntern, sich daran zu beteiligen. Michael Fischer / Alwin Hummel/ Franz Nagler/ Hans Ostertag (Hrsg.) Basisgemeindliche Kirche Dokumentation Band 1, 1996, 174 Seiten, DM 29,80/ ÖS 218,-/ SFr 29,80 ISBN 3-7720-2520-X 64 Michael Kessler (Hrsg.) Eucharistie Rückfragen zum Katechismus der Katholischen Kirche Band 2, 1996, 155 Seiten, DM 29,80/ ÖS 218,-/ SFr 29,80 ISBN 3-7720-2521-8 Albert Biesinger / Michael Kessler (Hrsg.) Himmel - Hölle - Fegefeuer Theologisches Kontaktstudium 1995 Band 3, 1996, 140 Seiten, DM 29,80/ ÖS 218,-/ SFr 29,80 ISBN 3-7720-2522-6 Michael Kessler (Hrsg.) Ordination - Sendung - Beauftragung Anfragen und Beobachtungen zur rechtlichen, liturgischen und theologischen Struktur Band 4, 1996, 140 Seiten, DM 29,80/ ÖS 218,-/ SFr 29,80 ISBN 3-7720-2523-4 Arno Schilson Medienreligion Zur religiösen Signatur der Gegenwart Band 5, 1997, VIII, 230 Seiten, DM 39,80/ ÖS 291,-/ SFr 39,80 ISBN 3- 7720-2524-2 Otto Baur / Michael Kessler (Hrsg.) Christus erkennen Ein Glaubensgespräch in Maibriefen von Wilhelm Geyer und Werner Oberle Band 6, 1997, 164 Seiten, DM 34,80/ ÖS 254,-/ SFr 34,80 ISBN 3- 7720-2525-0 A. Francke Verlag Tübingen und Basel PF. 2560 · D-72015 Tübingen ZNT 1 (1998) Michael Meyer-Blanck Zwischen Exegese und Videoclip Jesus Christus in der Bibeldidaktik Ein geläufiges Unterrichtsthema: » Jesus und die Außenseiter«. Die Schülerinnen und Schüler sollen nicht nur historische Kenntnisse über Jesus erwerben, sondern darüber hinaus Lebensorientierung gewinnen: Auch in unserer Gesellschaft gibt es Außenseiter. Schnell jedoch landet man bei den didaktischen Aporien. Es könnte ja gefragt werden: »Warum brauchen wir denn Jesus, um uns den Außenseitern heute zuzuwenden? « Und sicher könnte ein Schüler antworten: »Na ja, es ist doch Religionsstunde! « 1 Ein solcher didaktischer Kurzschluß von (Pseudo- ? ) Historie und ethischer Nutzanwendung ist verbreitet. Theoretisch reflektiert, handelt es sich um eine (unbewußte? ) Art von Vorbildchristologie, die zudem beansprucht, gerade keine (»abgehobene«) Christologie zu sein, sondern direkte Verknüpfung von Bibel und Lebensrealität. Für die Neutestamentler stellt sich damit die Frage, warum der neuesten Jesusforschung 2 weitaus weniger Interesse entgegengebracht wird als simplifizierenden bzw. längst überholten J esusbildern.3 Der folgende Beitrag soll die Problematik der Vermittlung so entfalten, daß sie als eigener Zugang zur theologischen Hermeneutik transparent wird, nicht als Anwendung von Theologie in der Praxis, sondern als eigener theologischer Zugriff, als didaktischer, praktisch-theologischer Zugriff auf die Frage nach Jesus Christus. Dazu werde ich nach grundsätzlichen Überlegungen zum Verhältnis von historischem Jesus und Christologie (1.) zunächst die übergreifenden didaktischen Fragen ansprechen (2.) und diese schließlich thematisch und methodisch entfalten (3.+4.). 1. Jesus, Christus und Jesus Christus: Grundsätzliches Die neutestamentlichen Fragen nach dem Verhältnis von vorösterlichem Jesus, nachösterlicher Christologie und deren Rückbezug auf die Sicht und Darstellung des irdischen Jesus in den Evan- ZNT 1 (1998) gelien, die die Exegese dieses Jahrhunderts umgetrieben haben, kehren auf religionspädagogischer Ebene mehr oder weniger deutlich wieder. Blickt man in Rahmenrichtlinien, Unterrichtsbücher und Unterrichtshilfen, dann fällt zunächst auf: Das Thema »Jesus« nimmt breiten Raum ein, während das Thema »Jesus Christus« bzw. »Christologie« so gut wie gar nicht begegnet. 4 Die entscheidende Frage der Theologie des Neuen Testamentes, wie sich denn Jesus und Christus, historischer und glaubensbezogener Aspekt der Gestalt Jesu zueinander verhalten, wird mit den Jugendlichen den Unterrichtsvorschlägen zufolge gar nicht thematisiert. Es gibt so etwas wie eine implizite Christologie, die aber nicht explizit thematisiert - und damit auch nicht kritisierbar wird: Die christologische Position wird als historische dargestellt die Religionspädagogik steht damit »wie viele populäre Sachbücher über Jesus von Nazareth auch in der Gefahr, an Stelle des verkündigten Christus ein einseitig reduziertes J esusbild zu vermitteln«.5 Wenn Unterricht bildende, aufklärende oder schlicht: informierende Qualität haben soll, dann ist aber der christologische Aspekt unverzichtbar. Christologie im Unterricht würde dann gerade nicht bedeuten, auf eine bestimmte »dogmatische« Sicht festgenagelt zu werden, sondern im Gegenteil: Argumentationsfähig und kritisch werden im Hinblick auf verschiedene Jesusbilder aus unterschiedlichen Epochen und Kulturen. Insofern ist Christologie im Unterricht der Schutz vor der Projektion von Jesusbildern in die Vergangenheit, 6 bzw. positiv: die Einsicht in die Zusammenhänge zwischen Lebenssituation und Jesusbild. Eine derart lebensgeschichtliche, erfahrungsbezogene Christologie im Unterricht wird dann umgekehrt Jugendliche ermutigen, ihre eigenen Jesus bilder zu artikulieren und miteinander zu diskutieren. Eine solche christologische Herangehensweise an die Frage nach Jesus hat aber zwei gravierende didaktische Probleme. Sie setzt 1. einiges an Abstraktionsvermögen voraus und kann 2. zudem die historischen Bemühungen im Kern untergraben. 65 Der Zug zum theoretisierend-Abstrakten ist bekannt aus der Konzeption des »Hermeneutischen Religionsunterrichts«. 7 Dieser blieb dementsprechend wesentlich auf die Gymnasien beschränkt. Aus der Praxis der »Christenlehre« in der DDR berichtete Eva Heßler 1967, zu welchen Problemen der »interpretierende Unterricht« führen konnte: »Soweit die Erfahrungsberichte erkennen lassen, führt das Hin- und Herfragen zwischen dem >historischen Jesus, und dem >kerygmatischen Christus< zu einem unheimlichen Vexierspiel, weil die Einheit, die in dem Namen Jesus Christus gegeben ist, auseinander tritt und zwei Gesichter annimmt: ein menschlich vertrautes Gesicht, das aber farblos bleibt, und ein göttliches Gesicht, vom Mythos überblendet«. 8 Das »Vexierspiel« dürfte aber wesentlich darauf beruht haben, daß im Hintergrund zumal in der gemeindlichen Christenlehre der Verkündigungsanspruch stand, das Ziel, Kinder zum lebendigen Christusglauben der Gemeinde zu führen 9 - und ihnen nicht nur eine Urteilsbildung zur Gestalt Jesu und zu den über Jesus begegnenden Anschauungen zu ermöglichen. Wenn die Intention des Unterrichts demnach bescheidener ist, nicht unbedingt erreichen möchte, daß sich eine Begegnung mit Jesus (Christus) ereignet, sondern Jesus- Bilder ( = Christologien) zur abgrenzenden Auseinandersetzung oder zur aneignenden Identifikation vorstellt, dann dürfte sich das »Vexierspiel« nicht ergeben. Der Ansatz bei der Christologie birgt in sich jedoch die andere, gegenwärtig wahrscheinlich eher drohende Gefahr: daß die Bemühung um den historischen Jesus verdrängt wird von der Bemühung um das eigene Jesusbild. Die anthropologische Wende in der Religionspädagogik hat bekanntlich mit guten Gründen die persönliche Erfahrung vor die objektive Wahrheit gesetzt. Unter der Voraussetzung dieser Wertigkeit kann dann etwa skeptisch gefragt werden: »Ermöglichen wir den Jugendlichen eine Begegnung mit dem gegenwärtigen Christus, indem wir ihnen gesichertes Wissen über den historischen Jesus vermitteln? Oder bieten wir ihnen damit nicht eher Material, um mit der Christusbotschaft wie mit einem Gegenstand umzugehen und sich ihren Anspruch vom Leibe zu halten« ? 10 Beiden Gefahren begegnet man aber am besten dadurch, daß das Thema der Christologie gerade 66 Michael Meyer-Blanck Michael Meyer-Blanck, Jahrgang 1954. 1987-1995 Dozent am religionspädagogischen Institut in Loccum. 1995 Ernennung zum Professor für Religionspädagogik, Homiletik, Liturgik an der Humboldt-Universität Berlin. 1997 Ernennung zum Professor an der Universität Bonn. Forschungspunkte neben der Religionspädagogik: Liturgik, Geschichte der Praktischen Theologie und semiotische Theorien in der Praktischen Theologie. nicht ausgeklammert wird. Abstrakt wird das Ganze erst, wenn die Frage nach dem Verhältnis von historischer Forschung und glaubender Lehrbildung als solche thematisiert wird (diese eignet sich darum erst für die gymnasiale Sekundarstufe II). Die praktisch umgesetzte Frage der Christologie, die schlicht didaktisch gewendet verschiedene J esusbilder betrachtet, kann sowohl die persönlichen Erfahrungen als auch die historischen Konzeptionen (von der Christologie der Evangelien über die altkirchliche Lehrentwicklung bis zur Leben-Jesu-Forschung im 19.Jahrhundert und zu Jesusbildern der Gegenwart) in den Blick nehmen. Gerade die christologischen Kontroversen sind im Unterricht methodisch gut herauszuarbeiten (durch Inszenierungen wie Rollenspiel, Streitgespräch, Pro- und Contra-Gespräch o.ä.). 11 Aber die Unterrichtsbücher zeigen an diesen Fragen wenig Interesse. Es dominiert eine »Reduzierung der Christologie auf eine Vorbild-Nachfolge-] esulogie, ganz orientiert am >historischen Jesus< der Evangelien«, wie Jörg Ohlemacher in einer Analyse von Schulbüchern kürzlich f estge- ZNT 1 (1998) stellt hat. 12 Aber auch die fachdidaktische Literatur läßt einen beim Thema »Jesus (Christus)« nahezu völlig im Stich. Es scheint gar keine Frage zu sein: Jesusgeschichten werden in der Grundschule behandelt, Jesus in seiner Zeit und Umwelt begegnet in der Sekundarstufe I (Orientierungsstufe) und die Christologie ist angeblich zu abstrakt wenig Grund also für fachdidaktische Überlegungen.13 Dies führt denn in der Praxis leicht zu einer Historisierung und Psychologisierung. Im Rahmen des Projektes »Bibelunterricht dokumentiert und analysiert« hat Günter Stachel anhand einer 1974 gehaltenen Stunde zum Hauptmann von Kapernaum (Mt 8,5-13) in einer 5. Klasse Gymnasium gezeigt, wie im Unterrichtsprozeß die Wunder- und Glaubensgeschichte zu einer Geschichte vom Wachstum der inneren Gläubigkeit des historischen Hauptmanns von Kapernaum wurde, 14 und Klaus Wegenast hat in einem Überblick zur Bibeldidaktik 1975 bis 1985 beklagt, »daß die hermeneutische Arbeit nirgends genügend weit vorgetrieben wird«. 15 Positiv müßte aus dieser eher negativen Bilanz folgen, daß der hermeneutische Ansatz im Religionsunterricht einer Neubelebung harrt, ohne daß daraus wieder die abbilddidaktische, mißverstandene Variante einer »Karikatur eines Proseminars«16 wird. Die Alternative von historischer Information oder Thematisierung gegenwärtiger Befindlichkeiten führt ebenso wenig weiter wie deren unreflektierte Kombination. Es muß vielmehr um eine doppelseitige Erschließung von Erfahrung und Historie gehen, indem wir uns mit historischen Erfahrungen in ihrer Auswirkung auf die Jesusdarstellungen (z.B. des Matthäus) ebenso beschäftigen wie mit den gegenwärtigen Erfahrungen, welche durch die historischen wiederum gebrochen werden. Die subjektive Beliebigkeit wie die Präsentation der objektiven Kirchenlehre (oder historischen Fakten) sind dabei die Irrwege. Historie und Historie, Erfahrung und Erfahrung müssen vielmehr miteinander ins Spiel kommen, so daß sich in der Begrifflichkeit von Henning Schröer eine »Leben-Jesu-Forschung im Alltag der Welt« 17 ergibt, welche den historischen Jesus nicht zum Museumsgegenstand macht, 18 aber auch nicht Erfahrung mit Erlebnis verwechselt ohne Rückgriff auf historische Erfahrungen mit Jesus Christus. ZNT 1 (1998) Daraus ergibt sich auch das Recht der kognitiven Dimension des bibeldidaktischen Unterrichts zu Jesus Christus. Die naive Leben-Jesu-Position ohne den Bewußtseinsstand der christologischen Brechung darf Jugendlichen zumal im öffentlichen Bildungssystem Schule nicht zugemutet werden. Der Mangel an Christologie im Unterricht kann zu einer naiv-unreflektierten>J esulogie, führen, die im schlimmsten Falle unhinterfragt ethisch instrumentalisiert wird. Und schließlich: Mit einer Christologie der Schülerinnen und Schüler, mit einer wie auch immer zaghaften, unsicheren Glaubensbeziehung zu Jesus Christus sollte mindestens gerechnet werden. Glauben zu wecken ist nicht Ziel des RU, aber auch die konventionellkritische Attitüde ist von den Unterrichtenden nicht zu bevorzugen weder Glaube noch Unglaube werd~n prämiert. Es geht vielmehr darum, unterschiedliche Glaubensweisen an Jesus Christus ins Spiel zu bringen. 2. Spiel mit Verheißungen: Didaktisches Um einen didaktischen Ansatz zu gewinnen, greife ich noch einmal den von Eva Heßler negativ gebrauchten Begriff »Vexierspiel« auf. Damit meint sie, daß der hermeneutische Zugang die Schülerinnen und Schüler in Verwirrung stößt, weil er sie im unklaren darüber läßt, wie sie wirklich mit Jesus »dran« sind. Gerade diese kritische Bemerkung kann auf dem Hintergrund heutiger Jugendlicher jedoch anders, nämlich eher positiv verstanden werden. Ist das »Vexierbild« ein »Suchbild, das eine nicht sofort erkennbare Figur enthält«, 19 so ist in dem Begriff das eine, eigentliche Bild vorausgesetzt, welches es als das wahre, eben nur verborgene Bild zu entdecken gilt. Solange dies nicht geschieht, wird der Betrachter »vexiert«, gequält (von lat. vexare, necken, quälen). Gerade an diesem Punkt aber empfinden Jugendliche gegenwärtig anders als diejenigen, die Eva Heßler im Blick hatte. Das Spiel mit Bildern, Meinungen, Selbst- und Fremdeinschätzungen ist gerade zum Normalfall geworden, und es »vexiert« Jugendliche eher, wenn sie auf einen Stil festgelegt werden sollen bzw. wenn ihnen ein mangelnder Ernst, das Springen zwischen Stilen (und politischen Orientierungen) vorgeworfen wird. 67 So bilanziert die neue Shell-Studie 1997 die jugendlichen Gegenentwürfe zur Gesellschaft, diese seien »notgedrungen nicht mehr starr, bipolar, geschlossen festgefügt und überdauernd, sondern sie können und müssen flexible Formen annehmen. Dabei sind ihre Inhalte ebenso eklektizistisch, schnellebig und diffus wie die modernen Gesellschaften selbst«. 20 Das Spiel mit Stilen demnach mit jugendlichen Wirklichkeitsentwürfen ist zum Hauptkennzeichen geworden. Dementsprechend zitiert die Shell-Studie unter der Zwischenüberschrift »Gruppenstile - Schluß mit frustig! « den englischen Sozialwissenschaftler Ted Polhemus: »To combine Hippy naturalnes with Pervy plastic is to play with meaning as well as with style.« 21 Das würde bedeuten: Die Suche nach Sinn und Bedeutung vollzieht sich über das Spiel mit Sinn und Bedeutung - »to play with meaning« überlagert »the quest for meaning«. 22 Diese Art des Spiels mit Bedeutung ist schon länger beschrieben worden in der Regel mit einem Schuß Kulturpessimismus, indem der Verlust verbalargumentativer Aneignungen (im Vergleich zu früheren Schülergenerationen) in der Analysehaltung des »nicht-mehr« beklagt wurde. 23 Demgegenüber dürfte es eher darauf ankommen, den spielerischen Umgang Jugendlicher mit Zeichenwelten nicht zu beklagen, sondern zu akzeptieren, ja zu fördern. Auch christliche und andere Traditionen sind nicht mehr »Symbole«, deren »tiefer« liegende Sinnwelten zu entschlüsseln sind, sondern Zeichenwelten, 24 die so oder so kombiniert werden, en passant Bedeutung gewinnen, diese aber auch wechseln oder wieder verlieren können. Offensichtlich wollen gegenwärtige Jugendliche nicht »Probleme lösen«, sondern ihr Welterleben spielerisch umkreisen. Dies markiert die Grenze einer Bibeldidaktik, welche persönliche Ängste mit Hilfe von biblischen Texten thematisiert. Das Spielerische ist vorsichtig mit persönlicher Intensität (»Betroffenheit«) und legt statt dessen Wert auf die Möglichkeit zur Distanznahme. Was bedeutet dies nun für die Auseinandersetzung mit Jesus Christus in der Bibeldidaktik? Hilfreich ist dafür die von Christoph Bizer 25 eingeführte didaktische Kategorie der Verheißung. Christusgeschichten sind Verheißungsgeschichten: Sie versprechen etwas im Namen von Jesus 68 Christus, sie sind auf Glauben aus und verlangen keine Gegenleistung, und sie haben Jesus Christus zum Inhalt. Mit diesen Kriterien lassen sich Christusverheißungen von anderen Verheißungen etwa in der Werbung unterscheiden. 26 Im Sinne der gegenwärtig angemessenen zeichentheoretischen Didaktik ließe sich dann formulieren: Nicht der Glaube an die Christusverheißungen ist das vorrangige Ziel des Unterrichts (wie in der Evangelischen Unterweisung), auch nicht nur das Verstehen der Verheißung wie im Hermeneutischen RU, aber auch nicht die Entschlüsselung der religiösen Tiefe des »Christussymbols«, sondern zunächst und als Voraussetzung für alle diese (begrenzt sinnvollen) Intentionen das Spiel mit Verheißungen. Es ist diese spielerische, ästhetisch gebrochen auf religiöse Inhalte anspielende, bisweilen ironisierende Art und Weise, mit religiösen Inhalten umzugehen, die Jugendliche aus der Werbung und aus Videoclips kennen. Das Spiel mit Verheißungen ist von daher ein (mindestens unbewußt) vertrautes Muster. Darauf wird unten näher einzugehen sein. Theoretisch-didaktisch kann aber vorläufig so formuliert werden: Die Religionspädagogik hat es noch vor sich, das Spielerische (»to play with meaning as well as with style«) produktiv zu akzeptieren, statt kulturpessimistisch abzuwerten. Der Streit um die Wahrheit 27 scheint heute weniger plausibel zu sein als das Experiment mit partiellen Wahrheiten. In einer Gesellschaft, die ein immer flexibleres, sich ständig änderndes Verhalten erfordert, ist dies nicht verwunderlich. Auch die Werbung funktioniert anders als vor gut 20 Jahren. Analysierte Christoph Bizer 1976 die Anzeige »Was bin ich? Hessen horcht auf - DM 1900,monatlich und mehr«, 28 so wurde damals tatsächlich eine neue Identität verheißen. Heutige Werbung und Videoclips aber verheißen partielle Erlebnisqualitäten durch angespielte Teilidentitäten. Vor zwanzig Jahren war es denn auch üblich, Verheißungen der Werbung im Unterricht entlarvend zu analysieren, um Jugendliche dagegen zu immunisieren. Das aufgeklärte, informierte, identische Subjekt als Ziel auch der religiösen Bildung ergab sich daraus. Auch heute wird man zumal in der öffentlichen Schule von diesen Bildungszielen nicht grundsätzlich Abschied nehmen können. Aber es ZNT 1 (1998) kommt eher auf eine Akzentsetzung, auf eine etwas andere Intention der Unterrichtenden an. An die Stelle des Pathos des Wahren, »Symbolisch«- Tiefen im Gegensatz zum Unechten, Oberflächlichen müßte die Entdeckerfreude an der Vielfalt der Sprachen, Zeichen, Anspielungen und damit auch an die Vielzahl der möglichen Erfahrungen treten. Das Entdeckende müßte vor dem Entlarvenden stehen, die Freude an der Illusion (als »Ein-Spielung« ! 29 ) vor der kritischen Analyse, die damit ja nicht suspendiert sein muß. Auch Christus kann viele Gesichter haben gerade wenn sie in ästhetischer Brechung außerhalb der Kirchenmauern und erst recht außerhalb der »Relevanz gegenwärtiger gesellschaftlicher Probleme« begegnen. Schon diese Alternative einer traditions- und kirchenorientierten oder eher problemorientierten Einbindung von Jesus Christus 30 ist nicht der Weisheit letzter Schluß. Methode im Unterricht wird es vielmehr sein, die Sprache verschiedener J esusbilder ( = Christologien) zu verstehen, auch Anspielungen in Texten, Bildern, Musik wahrzunehmen und dann im Hinblick auf die darin zum Ausdruck kommenden Lebensverhältnisse, Wünsche und Hoffnungen (»Verheißungen«) zu beschreiben, ohne diese der Oberflächlichkeit zu bezichtigen. Dennoch liegt an dieser Stelle zweifellos auch das klassische informierende, analytische und aufklärerische Moment des Unterrichts. 3. Von der Grundschule über die Konfirmandenarbeit zur Sekundarstufe II: Thematisches Jesus war kein Didaktiker. Die Form seiner Lehren insbesondere greifbar in den Reich-Gottes- Gleichnissen, verdankt sich nicht einem didaktischen Arrangement, um die Sache den Menschen besser beibringen zu können. Die Gleichnisse J esu sind im streng theologischen Sinne zeitgebunden: Sie sind die der Zeit der anbrechenden Gottesherrschaft angemessene Redeweise. 31 Die Person des dort Redenden ist nicht nur Sprecher einer ansonsten auch anders zu vermittelnden oder einzusehenden Information. In seinen Reden didaktisiert Jesus nicht die Bedeutung, sondern er setzt das Anbrechen der Gottesherrschaft selbst damit in Kraft. An diesem Punkt besteht nach meiner ZNT 1 (1998) Michael Meyer-Bland: .Zwischen Exegese und Videoclip Einsicht ein weitgehender Konsens in der Gleichnisexegese.32 Seitdem dies erkannt ist, hat man sich mit den Gleichnissen Jesu im Unterricht schwerer getan als vorher. Die geläufige Methode (etwa in den Jahrgangsstufen 5/ 6): Wir sprechen über Vergleiche und Bildworte wie »schwer auf Draht« oder »ein Brett vorm Kopf«, die »eigentlich« etwas anderes aussagen, und wir übertragen es dann auf Jesus, der »eigentlich« nicht von der Saat oder von Weinbergbesitzern spricht, sondern vom Reich Gottes diese Methode kann nun nicht mehr so recht überzeugen. Entwicklungspsychologische Probleme kommen hinzu: Grundschulkinder können etwa den Weinbergbesitzer aus Mt 20 nur als ungerecht, keinesfalls als gerecht verstehen. 33 Zudem macht der Lernort Schule einem solchen Verständnis Probleme. Denn wenn sich in dem Lautwerden der Geschichten J esu das Reich Gottes selbst ereignet, so ist dies allenfalls auf den Gottesdienst und auf gottesdienstliche Elemente in der Konfirmandenarbeit übertragbar. Das analytisch-informierende Element, Abstraktion, Vergleich und Übertragung sind es den neuen Gleichnistheorien zufolge gerade, die den Gleichnissen Jesu als Phänomenen ganz eigener Art nicht entsprechen können. Bleibt dann nur noch eine Erneuerung der »Evangelischen Unterweisung«, die sich als Ereignis der Verkündigung selbst in der Schule verstand? Die Frage stellen, heißt sie verneinen, sind doch die Voraussetzungen einer Gesellschaft mit klaren konfessionellen Milieus und selbstverständlicher Kirchlichkeit nicht mehr gegeben. Aber dennoch ist unter ganz anderen Rahmenbedingungen ein Prinzip der »Evangelischen Unterweisung« es wert, erneut bedacht zu werden. Es ist das Prinzip der den Inhalten angemessenen Präsentation im Unterricht. Die Geschichten Jesu, die gleichzeitig Geschichten von/ über Jesus Christus sind, müssen eine Chance erhalten, überhaupt ihre Wirkung zu entfalten. Die Interesse findende und sachlich angemessene didaktische Inszenierung ohne den Rückfall in die Form des verkündigenden Unterrichts ist eine wichtige künftige religionspädagogische Aufgabe. Der Unterschied liegt in einem wichtigen Punkt: Die Distanzierungsmöglichkeit von dem Dargebotenen wird von vorneherein miteingeplant werden müssen. Nicht ein bedauerlicher 69 Zwischenfall, sondern ein gezielter Normalfall ist dieses Abstandnehmen von dem unterrichtlich Inszenierten.34 Der Ernst der Verkündigung (oder auch »symbolisch« inszenierter religiöser Befindlichkeit) muß informativ und spielerisch durchbrochen werden (gerade das leisten Videoclips, dazu s. unter Abschnitt 4 ). So gesehen kann das Erzählen von Jesusgeschichten im Unterricht wieder rehabilitiert werden. Es zielt darauf, der Form (etwa des Gleichnisses) eine Chance zu geben, nicht darauf, unmittelbar zum Glauben zu bekehren. Dies gilt nicht nur für die Grundschule eine gut erzählte Geschichte verfehlt ihre Wirkung auch in schwierigen Gruppen/ Klassen nicht. Die Informationen zu Zeit und Umwelt Jesu haben ihren angestammten Ort in den Klassen 4-6, und es gibt keinen Grund, an diesem Realienunterricht viel zu ändern (außer eben: im Kontakt mit der neuesten Jesusforschung zu bleiben! ). Die Kinder sind in diesem Alter mehrheitlich an solchen Informationen interessiert, ermöglichen sie ihnen doch eine erste übergreifende Sicht. Die didaktisch gleichermaßen schwierigste wie interessanteste Zeit ist dann mit den J ahrgangsstufen 7-11 gegeben. Darauf vor allem ist das zu beziehen, was oben als »Spiel mit Verheißungen« benannt wurde. Jetzt muß die Vielfalt der Jesusbilder und Christologien erarbeitet werden. In der Sekundarstufe II im Kurssystem kann es dann thematisch anspruchsvoller, aber didaktisch konventioneller um die Erarbeitung theologischphilosophischer Grundfragestellungen gehen. Diese sind im Hinblick auf unser Thema vor allem die Fragen nach der Kreuzestheologie, nach Sühne und Opfer 35 und dem Zusammenhang mit dem Gottesbild. Diese Fragen ermöglichen auch Anknüpfungen an den im Geschichtsunterricht thematisierten Zusammenhang von Judentum und deutscher schuldbeladener Vergangenheit. Weiterhin kann sicher auch ein Jesuskurs angeboten werden, in dem die neueste J esusforschung einschließlich der populären/ populärwissenschaftlichen Jesusliteratur zum Teil gelesen und besprochen werden kann. Zu einem solchen Kurs könnte das Buch »Der verfälschte Jesus« von Roman Heiligenthal3 6 eine gute Hilfe sein wenn nicht sogar selbst Unterrichtsmaterial-, enthält es doch eine große Anzahl zusammenhängender Zitate aus den besprochenen Büchern. 70 In der Konfirmandenarbeit wird der Schwerpunkt auf der Christologie liegen, wie sie in den Aussagen des Apostolikums greifbar ist. Dabei wird selbstverständlich auf Jesusgeschichten zurückgegriffen, aber die bloße Erschließung des Inhaltes von allzu bekannten Geschichten (Zachäus, Verlorener Sohn, Arbeiter im Weinberg) hat ebensowenig Sinn wie das Thema »Zeit und Umwelt Jesu«. In manchen Gemeinden wird so getan, als gäbe es keinen schulischen RU, jedenfalls nimmt man keine Notiz davon. Der Kontakt zwischen Gemeinde und Schule ist immer noch gelinde gesagt verbesserungsfähig. J esusgeschichten können grundsätzlich nicht ohne Christologie behandelt werden und umgekehrt, dennoch hat der KU durch das Glaubensbekenntnis einen christologischen Schwerpunkt. Durch die liturgischen Inhalte 37 - Gebet, Taufe, Abendmahl, Gottesdienst insgesamt hat der KU weitere selbstverständliche Bezüge zum Christus praesens, wird doch nicht nur das Gebet Jesu besprochen, sondern zusammen gebetet und werden die Sakramente möglichst nach gemeinsamer Vorbereitung auch gefeiert. 38 4. Exegese und Videoclip: Methodisches Es gibt sehr viele Methoden der biblischen Texterschließung von der Gliederung, Zusammenfassung, Vergleich von Textversionen und Auslegungsmethoden bis hin zur gestalterischen Umsetzung in theaterbezogenen, musikalischen oder bildenden künstlerischen Werken mit Bild, Ton oder gar selbst gestalteten AV-Medien. 39 Dabei steht der Text im Vordergrund, und neue exegetische Einsichten sind von den Unterrichtenden im Unterrichtsprozeß so beizusteuern, daß sie die Aktivität der Gruppe nicht behindern, sondern dieser möglichst neue Impulse geben. Eine Methode, die sich in letzter Zeit in der Gemeindearbeit verbreitet hat und mit der ich selbst gute Erfahrungen gemacht habe, ist »Bibel teilen«, das aus Südafrika stammt und über das katholische Missionswerk »Misereor« bekannt geworden ist. Diese Methode hat den Vorteil niedriger intellektueller, diskursiver und methodischer Schwellen und verlangt, daß eine Gruppe miteinander reden kann. Dann aber kann ein Text als offene »Textur«, als Zeichenrepertoire zum ge- ZNT 1 (1998) meinsamen Weiterschreiben in spielerischer Weise erfahren werden. Sie funktioniert nach meiner Erfahrung am besten mit älteren Jugendlichen, die nicht nur diskutieren wollen, ideal ist eine Gruppengröße von 10-12 Personen, da der Charakter spielerisch und meditativ ist. Man sitzt ruhig im Kreis. Dann wird eine Geschichte aufgeschlagen. Eine(r) aus der Gruppe liest den Text. Danach schweigt man einen Moment. Alle haben einen Augenblick Zeit zur Besinnung des Gehörten. Danach sucht sich jeder ein einzelnes Wort (oder auch mehrere) aus, eventuell auch zusammenhängende Versteile, aber keine ganzen Halbverse oder gar Verse. In einer zweiten Runde werden diese gelesen. Nach jedem Beitrag schweigt man wieder und kommt erst in der nächsten Runde darüber ins Gespräch: »Ich bin bei den gleichen Worten wie Du aufmerksam geworden, warum hast Du gerade diesen Halbsatz gelesen, wie verstehst Du diesen Vers? « oder ähnlich. 40 Es handelt sich demnach um eme Methode der Präsentation, die die »verlangsamende« Rezeption eines Textes zu Beginn der Beschäftigung fördern kann, worauf andere informative, diskursive, distanzierende - Schritte folgen können. Dennoch folgt auch diese Methode der eher gängigen Reihenfolge: Vom Text zur Lebenswelt, vom historischen Leben Jesu zum gegenwärtig Bedeutsamen. Daneben gibt es aber ganz andere »Textwelten«, die zwar auf Jesus (Christus) nur mehr oder weniger anspielen, die aber den Vorteil haben, daß die Jugendlichen mehrheitlich darin zu Hause sind. Die Videoclips sind voll von religiösen Anspielungen, und es lohnt sich für die Religionspädagogik, diese genau zu exegesieren und Jugendliche daran zu beteiligen. Dieses Verfahren hat ein Lust-Moment auf seiner Seite, und wahrscheinlich auch das naheliegende Interesse von Jugendlichen, das vertraute Medium besser zu verstehen schon aus diesem Grunde dürfte der Wunsch nach Information über religiöse Inhalte bestehen. Dabei wird nicht die »Entlarvung« von Oberflächlichkeit und Kommerzialismus das Interesse der Unterrichtenden sein können, sondern das spielerische, neugierige Entdecken. Wenig hilfreich in diesem Zusammenhang war auch die Symboldidaktik mit ihrer eher kulturpessimistischen Meinung, daß »die allegorischen Figuren ZNT 1 (1998) Michael Meyer-Blande Zwischen Exe~1ese und Videoclip der Comic-Strips, TV-Serien und Videoclips ( ... ) in ihrer Oberflächlichkeit wie eine Sperre gegen die ,Tiefe, religiöser Symbole« wirken, so daß es »zu einer Immunisierung gegenüber der unaufdringlich überzeugenden Wahrheit der Symbole« komme. 41 Das Spielerische des Zeichengebrauches in Videoclips scheint mir vielmehr typisch zu sein für eine »Polyidentität« in gegenwärtiger Kultur, und die religiösen Anspielungen darin sind nicht zu übersehen. Andreas Mertin hat kürzlich den Videoclip »Like a prayer« von Madonna ausführlich analysiert42 bis hin zu ganz konkreten Unterrichtsvorschlägen, in denen der Clip zunächst genau analysiert wird (Aufbau, Story, Ebenen, Intertextualität, verschiedene Lesarten), dann im Unterricht verändert (Änderungen an der Story, Bildergeschichten bis hin zum selbst gedrehten Clip) und schließlich in die kritische Auseinandersetzung gebracht wird. Zum Inhalt nur so viel: Madonna sieht, wie eine Statue auf dem Nischenaltar einer Kirche und weint. Danach legt Madonna sich auf eine Kirchenbank und träumt: Die Statue wird lebendig und verläßt die Kirche, Madonna schneidet sich kunstvoll an einem Messer, das sie beim Altar findet. Es folgt als Rückblick, wie Madonna den Mord an einer jungen Frau beobachtet, bei dem nicht der wahre Täter, sondern ein zu Hilfe eilender Farbiger verhaftet wird. Danach singt und tanzt Madonna vor vielen brennenden Kreuzen, bevor sie wieder träumt: Die Heiligenstatue weint blutige Tränen, der Farbige wird abgeführt. Schließlich ist Madonna wieder in der Kirche diese wird nun zur Gefängniszelle: Madonna hat mit ihrer Aussage bei der Polizei für die Freilassung des Gefangenen gesorgt. Es folgt der Epilog: auf einmal verbeugen sich alle Beteiligten, und das Ganze erweist sich als - Theaterstück. Nicht ohne Grund analysiert Mertin Madonnas Clip » Like a prayer« darum auch unter der Überschrift: »Like a sign« denn die Religion sei darin »als ästhetisches Ereignis erkennbar, als Inszenierung mit spannendem, sozialen Plot( ... )«. 43 In diesem Clip begegnen ohne Zweifel Jesus- und Christus-Motive anspielend, weiterschreibend, ästhetisch und musikalisch gebrochen. Als bewußte Blasphemie wäre das Ganze oberflächlich mißverstanden. Es ist eher eine Aneignung durch Enkulturation, wie sie in der bildenden 71 Kunst und auch in einer guten Predigt geläufig ist. 44 Nur wird eben nicht von einem einzelnen Bibeltext ausgegangen, sondern von einem Ensemble geläufiger Jesus-(Christus-)Überlieferung. Die folgenden biblischen Motive lassen sich entdekken: - Die Nachfolge ]esu (hier motiviert durch die die Kirche verlassende Statue) birgt Schmerzen in sich: Der blutige Schnitt, den Madonna sich beibringt, kann als Interpretament von Mk 8,34f. par. (»Wer mir nachfolgen will, der nehme sein Kreuz auf sich«, vgl. Mt 10,37-39) verstanden werden; die Verbindung von Tränen und Blut, die sich so im Neuen Testament nicht findet (vgl. aber IJoh 5,6f. und Joh 19,34) ist gerade einen Vergleich von Bibel und Clip wert. 45 - Der unschuldig leidende Jesus (vgl. IPetr 1,19 und Hebr 7,26) begegnet in dem unschuldig gefangen genommenen Schwarzen als Botschaft gegen Rassismus ist der Clip demnach auch gelesen worden. - Die Predigt Jesu von der anbrechenden Befreiung der Gefangenen (Lk 4,18/ Jes 61,1) und von dem entsprechenden Handeln der Glaubenden, bei welchem Jesus selbst anwesend ist (Jes 42,7 und Mt 25,35ff.), 46 ist Hintergrund der gesamten Handlung freilich ist das Ganze hier ritualistisch verstärkt auch dies ist einen Vergleich von biblischer J esusüberlieferung und Clip wert. Dieser sollte demnach nicht als »Häresie entlarvt« werden, sondern kann vielmehr zu vergleichender und zu interessierter Lektüre der biblischen J esusgestalt anleiten. Entscheidend ist dabei das spielerisch-inszenatorische Element, weil Religion nicht unmittelbar den Atem verschlägt oder »heilige« Gefühle verlangt, sondern »Like a prayer« in Szene gesetzt wird, »Like a sign« in der Gegenwartskultur begegnet - und nicht als Heiliges gegen die Gegenwartskultur. Diese Haltung, welche Schülerinnen und Schülern um der Distanzierungsmöglichkeit immer wichtiger wird (vgl. dazu das oben zur Didaktik Ausgeführte), scheint das Eigentümliche der Videoclips zu sein, in denen jugendliche »Polyidentität« auf Probe einschließlich biblischer Anteile begegnet. Nicht ohne Grund dürfte ein anderer erfolgreicher Clip auch auf einen »like a ... «-Song zurück- 72 gehen, auf den Titel »Like a believer« der schwarzen Gospel-Soul-Sängerin Marla Glen. 47 In diesem Fall könnte man von einer inszenatorischen Darstellung des Glaubens, der Gemeinschaft der Glaubenden sprechen, wiederum in der probeweisen Haltung. Glaube, die Erwartung eines Friedensreiches und die Hoffnung auf Leben jenseits von Tod und Krieg sind die Themen. Im Clip ist das biblisch unzählig belegte Motiv des Weges 48 transformiert in eine Lokomotivenfahrt, die für die bedrohte Fahrt der Gemeinschaft durch die Zeit (vgl. Mk 4,35-41 par.) steht. 49 Das neutestamentliche Schiff trotzt den Stürmen aber im Clip bricht die Lokomotive durch den Tunnel des Todes hindurch in das gelobte Land. Dazu singt Marla Gien: »This world is in trouble/ We got to find a way«. Die Lokomotive rast auf den geschlossenen Tunnel zu und mißachtet drei Warnschilder (»Stop«, »Restricted Area«, »Strictly no entry«), durchbricht Eingang wie Ausgang des Tunnels, an dessen Ende gleißendes Licht zu sehen ist. Auch nach dem Neuen Testament wohnt der himmlisch erhöhte Christus »in einem Licht, zu dem niemand kommen kann« (ITim 6,16), und das Licht des himmlischen Jerusalem ist »gleich dem alleredelsten Stern, einem Jaspis, klar wie Kristall« (Apk 21,5). 50 Hoffnungen individueller und kollektiver Eschatologie begegnen in dem Clip populär und ästhetisch-spielerisch gebrochen, der Glaube an das Kommen der Gottesherrschaft, der Glaube J esu erscheint in der Haltung des Menschen, der nicht gläubig oder ungläubig, nicht oberflächlich oder religiös ist (so die fatalen Entgegensetzungen), sondern der »like a believer« ist. Auch daran ließe sich der Unterschied zu neutestamentlichen Glaubensformen und Eschatologien erarbeiten. Es lohnt sich demnach, das Thema Jesus Christus nicht nur in der Reihenfolge »Von der Exegese zur Lebenswelt« zu behandeln, sondern auch in der umgekehrten Reihenfolge, indem von einer »Exegese der Lebenswelt« mit Hilfe von Alltagskultur ausgegangen wird. Vor allem für das polyidentisch-experimentierende Wirklichkeitsverständnis von Jugendlichen dürfte damit etwas gewonnen sem. Am Schluß sei es jedoch dem Praktischen Theologen noch zugestanden, eine Anmerkung zum exegetischen Geschäft beizusteuern, wie sie sich aus den Videoclips ergeben könnte. Beim Ver- ZNT 1 (1998) ständnis der Christologie der Johannesoffenbarung gibt es eine unentschiedene Kontroverse bezüglich des Verständnisses von Apk 6,2: 51 Wer ist der Reiter auf dem weißen Pferd? Gehört er zu den anderen drei apokalyptischen Reitern in Apk 6,3-8, die für Krieg, Teuerung und Tod stehen? Oder ist der König, der erste Reiter, mit dem Christus von Apk 19,11-16 zu identifizieren, der dort ebenfalls als Reiter auf einem weißen Pferd erscheint? Beide Verständnisse haben ihre Schwierigkeit. Die Identifikation der beiden Reiter in Apk 6,2 und 19,11 ff. hat gegen sich, daß Christus im Kontext von drei (anderen) Plagen erscheint, so daß Heinrich Kraft in seinem Kommentar anmerkt: »Es ist eine ästhetische Sünde, wenn man den Logos mit einer Plage aus einer Plagenreihe gleichsetzt«.52 Wenn man aber den Reiter in 6,2 nicht als Christus, sondern als Plage verstehen will, 53 bleiben ebenfalls Aporien: Der erste Reiter und die anderen drei erscheinen zwar in einer »Plagenreihe«, sind aber doch inkompatibel, weil des ersten Reiters Insignien, Krone und Bogen, ambivalent sind und nicht mit Krieg, Teuerung und Tod in 6,3-8 zusammenpassen. Zudem würde der heilbringende Christus in 19,llff. von 6,2 her negativ konnotiert: Dem siegreichen Christus würde etwas vom Bild des Plagereiters in 6,2 anhaften. Und wie wäre es, wenn im Hinblick auf 6,2 die Frage »Ist es Christus oder ist es nicht Christus? « falsch gestellt wäre und diese zu überholen wäre durch eine mehrdeutig-wechselnde Identität im Stile eines Videoclips? Dann wäre der erste Reiter im Ensemble der angespielten apokalyptischen Bildwelten (in denen die schnelle »Schnittfolge« überhaupt den wechselnden Eindrücken moderner Medien vergleichbar sein könnte zu verstehen »like Christ«. Das hieße: Im Kontext der Plagen, die Plagen bleiben, »mutiert« die erste Plage für einen Moment zu dem wirklichen Kronenträger, der in 19,11 ff. erscheint. Dann wäre 6,2 als virtuelle Erscheinung, als Anspielung im Kontext der Plagen auf Christus und als Plage zugleich zu lesen. Der Christus von 19,11 ff. wäre dann so etwas wie das versuchsweise proleptisch vor die Klammer der Plagen gesetzte Vorzeichen. Von einer alltäglichen Logik der Ausschließlichkeit her mag man diese Lösung bezweifeln, weil damit in einer Streitfrage einfach beiden Seiten Recht gegeben werde. Von der zeichenhaften, ZNT 1 (1998) Michael Meye,-Blanck Zwischen Exegese und Videoclip verweisenden Logik moderner Bilderwelten mit ihrem Wirklichkeitsverständnis »like a ... « erscheint aber eine solche Sicht auch in antiken Bildwelten nicht als von vorneherein ausgeschlossen. Und ist es nicht schließlich auch die neutestamentliche Christologie insgesamt, welche für diese Sicht spricht, indem die Herrlichkeit des Christus unter dem Leiden verborgen (IIKor 7,4ff.) beziehungsweise erst im Leiden offenbart wird (so das Markusevangelium)? So eben würde in den Plagen der Christus nur kurz aufleuchten, »like a Christ«, in Analogie zu den neuzeitlichen Glaubensversuchen, die in ganz anderer Weise, aber doch auch kostbare, weil leicht verderbliche Ware sind, »like a prayer«, » like a believer«, » like a sign « - und so auch »like a Christ«. Dieser Art von Glauben nachzugehen, ist eben nicht nur lohnend im Hinblick auf die Glaubensversuche heutiger Jugendlicher, sondern auch im Hinblick auf diejenigen, die uns die Jesus- und Christustradition aufgeschrieben haben. Anmerkungen 1 So S. Heine, Jesus und Christus. Grundlinien einer didaktischen Analyse, EvErz 39/ 1987, 63-79: 63. 2 Außer den Beiträgen dieses Heftes vgl. dazu C. Breytenbach, Jesus-Forschung 1990-1995, BThZ 12 (1995) 226-249, sowie das sehr informative, knappe Buch vom R. Heiligenthal, Der verfälschte Jesus. Eine Kritik moderner Jesusbilder, Darmstadt 1997. Das Buch steht zum einen für die neue theologische Begründung der Frage nach dem historischen Jesus und zum anderen gegen die Willkür mancher Jesusbilder, die auch der akademischen Zurückweisung der Frage nach dem wirklichen Leben Jesu entspringt: »Heraus kam häufig ein ,Jesus light, [ ... ]« (R. Heiligenthal, Jesus, 125). 3 Dies gilt etwa für Eugen Drewermanns antiklerikales, antiinstitutionelles (und tendenziell auch antijudaistisches) Jesus bild, das wie die Leben-Jesu-Forschung vor Johannes Weiß CT- Weiß, die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, Göttingen 3 1964 [1900]) ohne Apokalyptik auskommt und gerade von Religionslehrer(innen) breit rezipiert wurde. Dies beruht m. E. auf wesentlich drei Phänomenen: Auf der Vision urzeitlicher Einheit angesichts moderner Unübersichtlichkeit, auf der Propagierung des religiösen Weges in die individuelle Tiefe sowie auf der damit verbundenen Institutionenkritik im Namen der 73 Liebe. Vgl. dazu memen Aufsatz: Ursprung und Tiefe. Einige religionspädagogische Anmerkungen zu Eugen Drewermanns Märchen- und Bibelauslegung, Ev.Erz. 48 (1996) 57-69. 4 Im Bereich des kirchlichen Unterrichts (Konfirmandenarbeit) verhält sich dies anders, da das Glaubensbekenntnis als Katechimusstück (und als Memorierstoff) zum klassischen Kanon des KU gehört, s. dazu etwa das Konfirmandenbuch »Leben entdecken« (hg. von H. Reimer und H. Reller im Auftrag der Bischofskonferenz der VELKD, Gütersloh 8 1992) mit der Unterrichtseinheit »Ich möcht', daß einer mit mir geht von Jesus Christus« sowie das Themenheft KU-Praxis 20: An Jesus Christus glauben. Bausteine, Gottesdienste, Unterrichtseinheiten, Gütersloh 1985. Dort findet sich u. a. eine Zusammenstellung von G. Fähndrich unter dem Titel: Jesus Christus wie ihn die Konfirmandenbücher darstellen (63-68), und ein Grundsatzartikel von W. Neidhart: Jesus, der Christus Ein Unterrichtsthema fordert theologische Entscheidungen (68-74). 5 So zu Recht R. Heiligenthal, Jesus, 126. 6 Noch heute gilt, was A. Schweitzer klassisch formulierte (Geschichte der Leben-Jesu-Forschung 2 1913, Ges. Werke in 5 Bänden, München 1974, Bd. 3,875): »Es ist geradezu ein Verhängnis der modernen Theologie, daß sie alles mit Geschichte vermischt vorträgt und zuletzt noch auf die Virtuosität stolz ist, mit der sie ihre eigenen Gedanken in der Vergangenheit wiederfindet«. 7 Kurz und knapp dazu vgl. W. Sturm, Religionspädagogische Konzeptionen, in: G. Adam/ R. Lachmann (hgg.), Religionspädagogisches Kompendium, Göttingen 5 1997, 37-86: 50-53. Begründer war der Buhmann-Schüler Martin Stallmann (1903-1980), Ziel des Unterrichts ein existentielles Verstehen der Tradition. 8 E. Heßler, Die Aufnahme und Verarbeitung theologischer Fragestellungen in der Katechetik, in: D. Reiher (hg.), Kirchlicher Unterricht in der DDR 1949-1990. Dokumentation eines Weges, Göttingen 1992, 84-93 ( = Die Christenlehre 20 [1967] 5-9, 16-18), Zitat bei Reiher, 89f. 9 Vgl. Heßler, Aufnahme, 90: »Wir meinen, den Standpunkt unter dem Christus praesens wählen zu müssen ( ... ). Der Glaube ist das ,Existential" wodurch der Mensch nach christlichem Verständnis erst Mensch wird«. 10 So W. Neidhart, Jesus, der Christus, 69. Trotzdem plädiert Neidhart aber für eine Thematisierung der Frage nach dem historischen Jesus im KU, weil manche Jugendliche daran interessiert sind, wie es wirklich gewesen ist (S. 70). 74 11 In seinem Aufsatz über die in KU-Praxis 20 veröffentlichten Unterrichtsvorschläge hat W. Neidhart, Jesus, der Christus, 73, denn auch mit Recht angemerkt: »Eher verwunderlich finde ich, daß keiner der Autoren den Sachverhalt der christologischen Kontroversen thematisiert hat.« Im übrigen hat N eidhart in der Passionschristologic einen Wechsel vom »Für uns« zum »Mit uns« in den Unterrichtsvorschlägen festgestellt: »Das Mitleiden Gottes mit uns ist für die Verfasser das eigentliche Heilsgeschehen der Passion.« (ebd.) 12 J. Ohlemacher, Kreuzestheologie in Schulbüchern für den evangelischen Religionsunterricht. Eine Problemanzeige, Glaube und Lernen 11 (1996) 160-171: 170. In diesem Zusammenhang werde die Gotteslehre »auf die Rede vom nur liebenden Gott« verkürzt, das Alte Testament und das Corpus Paulinum seien ausgeblendet (ebd.). Fraglich ist mir hingegen, ob es einen Rückweg zur Präsentation der »christlichen Glaubensformen mit ihren Traditionen und Lehren« (ebd.) geben kann und ob nicht vielmehr die Lehre der Kirche ebenso wie die Religion der Jugendlichen als lebensgeschichtliches und kulturelles Phänomen zu erschließen wäre. 13 Dies konnte ich bei einem fachdidaktischen Seminar zu »Jesus Christus im Unterricht« feststellen. Die wenigen Arbeiten zum Thema sind der in Anm. 1 zitierte Aufsatz sowie Christoph Bizers Studie: Christusgeschichten. Theologische Kriterien unterrichtlicher Gestaltung des Evangeliums, in: ders.: Kirchgänge im Unterricht und anderswo: zur Gestaltwerdung von Religion, Göttingen 1995, 117-139. Auch das in der letzten Anm. genannte Themenheft der Zeitschrift »Glaube und Lernen« enttäuscht bezüglich eines konstruktiven Zugriffs auf die Fachdidaktik der Christologie. 14 G. Stachel (hg.), Bibelunterricht dokumentiert und analysiert. Eine Untersuchung zur Praxis des Bibelunterrichts, Zürich u. a. 1976, 63, schreibt in seiner fachdidaktischen Gesamtwürdigung der gehaltenen Stunde zu Mt 8,5-13: »Das entscheidende Verkennen der zugrundeliegenden Schriftperikope liegt ( ... ) in der durchgängigen Historisierung und Psychologisierung, zu der der Unterricht anregt und bei der er bleibt.« Dies kann im Unterrichtsprotokoll in der Tat nachgelesen werden (vgl. auch 24 und 31). 15 K. Wegenast, Bibeldidaktik 1975-1985. Ein Überblick, JRP 3 (1986), 127-152: 149. Wegenast merkt ferner an, in den neueren Entwürfen werde fast überall eine Funktionalisierung, Moralisierung und Poljtisierung abgelehnt, ohne deswegen auch de facto vermieden zu sein (ebd.). ZNT 1 (1998) 16 Wegenast, ebd. 17 H. Schröer, Bibelauslegung durch Bibelgebrauch. Neue Wege »praktischer Exegese«, EvTh 45 (1985) 500-515: 508. Über die Verwendung von Bibeltexten als »Problemlösungspotential« in der Religionspädagogik merkt Schröer an: »Das Interesse an Weisung, die Neigung zu Konkretheit und Gesetzlichkeit stieg« (505). 18 Davor warnt Ingo Baldermann in seinem neuesten, die eigene Lebensarbeit zusammenfassenden Buch: Einführung in die Biblische Didaktik, Darmstadt 1996. Auch Baldermann betrachtet demgegenüber die Christologie (die Botschaft von Christus in der Absicht, Hoffnung zu vermitteln) als unterrichtliche Herausforderung. Es muß m. E. bei Baldermanns Ansatz jedoch darauf geachtet werden, daß den Schülerinnen und Schülern auch Distanzierungsmöglichkeiten offenstehen. Baldermann ist seinem frühen bibelorientierten Ansatz im wesentlichen treu geblieben, vgl. ders., Biblische Didaktik. Die sprachliche Form als Leitfaden unterrichtlicher Texterschließung am Beispiel synoptischer Erzählungen, Hamburg 1963 und ders. Die Bibel - Buch des Lernens. Grundzüge biblischer Didaktik, Göttingen 1980. 19 So der Duden Bd. 7, Das Herkunftswörterbuch, Mannheim 1963, 744. 20 Jugend '97: Zukunftsperspektiven, Gesellschaftliches Engagement, Politische Orientierungen, hg. vom Jugendwerk der Deutschen Shell, Opladen 1997,375. 21 Jugend '97, 364 (Quelle: T. Polhemus, Street Style. From Sidewalk to Catwalk, London 1994). 22 Vgl. dazu das in den letzten Jahren in Deutschland breit rezipierte Buch von James W. Fowler, Stages of faith. The Psychology of Human Development and the Quest for Meaning, New York 1981 (deutsch: Gütersloh 1991 ). 23 So etwa W. Bergau, Die neuen Schüler. Beobachtungen und Reflexionen, EvErz 39 (1987) 636-654: »Verlust von Eigentätigkeit«, »Mediatisierung« und »Pädagogisierung« werden als neue Sozialisationsbedingungen beschrieben. Durch die Mediatisierung trete »die ikonische Aneignung an die Stelle der verbalargumentativen« (644). Eher analytisch beschreibt auch Thomas Ziehe neue Wissensformen und vermutet eine Verlagerung »von diskursiven Verarbeitungsweisen hin zu ornamental-geometrisierenden Seh- und Denkweisen« (T. Ziehe, Zeitvergleiche. Jugend in kulturellen Modernisierungen, Weinheim/ München 1991, 145.) 24 Vgl. dazu M. Meyer-Blanck, Vom Symbol zum Zeichen. Symboldidaktik und Semiotik, Hannover 1995. ZNT 1 (1998) 25 s.o. Anm. 13. 26 Vgl. dazu die vier von Bizer, Christusgeschichten, 126f., benannten Kriterien. 27 Dies hat W. Bergau in dem in Anm. 23 angegebenen Aufsatz beschrieben. 28 Bizer, Christusgeschichten, 124. 29 Diese Bedeutung ist zwar sprachgeschichtlich nicht belegt, entspricht aber der wörtlichen Herleitung. Vgl. dazu auch: T. Klie, Religionsunterricht in den Vorhöfen des Heiligen. Ein spieltheoretischer Gedankengang, in: Loccumer Pelikan 1997 Heft 2, 57-61: 58. 30 Die Praktische Theologie insgesamt steht gegenwärtig vor der Aufgabe, sich einen Weg jenseits der eingefahrenen Alternative von primärer Orientierung an der Systematischen Theologie oder an den Human-/ Sozialwissenschaften zu erarbeiten, wofür besonders gie Rezeption der Semiotik in der Praktischen Theologie steht. 31 »Nicht die Hörer verlangen metaphorisches Reden, metaphorisches Reden ist durch die Wahrheit selbst verlangt, ( ... ). Gerade die Einsicht, daß das Gleichnis sich nicht der Didaktik Jesu, sondern vielmehr der Qualität seiner Botschaft verdankt, ist von erheblicher didaktischer Relevanz«. (H. Weder, Zugang zu den Gleichnissen Jesu. Zur Theorie der Gleichnisauslegung seit Jülicher, EvErz. 41 [1989] 384-396: 395.) 32 Dies betrifft etwa die Gleichnistheorien von H. Weder, W. Harnisch und D. 0. Via, die mindestens an zwei Punkten konvergieren: 1. Die Gleichnisse sind nicht »Illustration« eines sonst auch anders Sagbaren; 2. Die Gleichnisse sind vielmehr Kunstwerke sui generis, die Sinn erschließen, gerade indem sie an ihre Form gebunden sind. Vgl. dazu auch: K. Wegenast, Gleichnisse im Unterricht. Didaktische Erwägungen in praktischer Absicht, EvErz. 41 (1989) 397-411. 33 Dazu s. A. A. Bucher, Gleichnisse verstehen lernen. Strukturgenetische Untersuchungen zur Rezeption synoptischer Parabeln, Freiburg/ Schweiz 1990. Selbst eine elfjährige Schülerin verneinte in einem dort geschilderten Gespräch den Zusammenhang von Mt 20 und Reich Gottes mit der Begründung: »Ich glaube nicht, daß es im Reich Gottes, also im Himmel, daß es dort Trauben hat und so« (S. 43). 34 Das Spannungsfeld von Präsentation und Distanzierungsmöglichkeit ist bisher hauptsächlich unter dem Gedanken der »Elementarisierung« (im Anschluß an die Allgemeine Didaktik Wolfgang Klafkis) beschrieben worden. So hat etwa Karl Ernst Nipkow (Grundfragen der Religionspädagogik Band 3, Gütersloh 1982, 223-232) anhand der Versuchungs- 75 geschichte Mt 4,1-11, vier Fragerichtungen unterschieden, welche eine »elementare Bibel- und Lebensauslegung« anstreben: 1. Der Wahrheitsanspruch des Textes, 2. Jesu Gottesbeziehung als Grundstruktur des Textes, 3. Jesu Gotteserfahrung und unsere Erfahrungen, 4. Versuchung und Gehorsam auf dem Verstehensweg der Kinder. - Die gescheiterte Elementarisierung hat ihr Kennzeichen demnach entweder in der bloßen Darbietung von Tradition oder in der Funktionalisierung des biblischen Textes. 35 Dazu vgl. die Skizze von C. Frey: Das Kreuz diffuses Symbol oder Anstoß zu Umkehr und Leben? , Glaube und Lernen 11 (1996) 113-123. 36 s.o. Anm. 2. 37 Dazu s. meinen Aufsatz: Liturgik und Didaktik die Religion in Form. Zur Frage liturgischer Elemente im schulischen Religionsunterricht, in: W. Gräb (hg.), Religionsunterricht jenseits der Kirche? Wie lehren wir die christliche Religion? , Neukirchen Vluyn 1996, 83-93. 38 Vgl. dazu den Agendcnentwurf: Konfirmation, im Auftrag der Kirchenleitung der VELKD hrsg. vom Lutherischen Kirchenamt, Hannover 1995. Darin ist versucht, u.a. Tauf- und Abendmahlsgottesdienst als didaktisch-liturgische Orte in der Konfirmandenzeit ernstzunehmen. 39 Dazu s. H. K. Berg, Methoden biblischer Texterschließung, in: G. Adam/ R. Lachmann (hgg.), Methodisches Kompendium für den Religionsunterricht, Göttingen 1993, 163-186, wobei besonders die grundlegenden Prinzipien »Den Text nicht auf eine Aussage festlegen, sondern als Textur lesen« und »Bibeltexte als ,Antworttexte< verstehen« (S. 165f.) sowie die Grundmethoden »Verlangsamen« und »Verfremden« (S. 168ff.) bei allen Verfahren durchbuchstabiert zu werden verdienen. 40 Vgl. dazu das Faltblatt des Missionswerkes »Misereor«. Am Schluß, als 7. Schritt heißt es dort: »Wir bedenken, was der Herr von uns will«. Diese eng an die Form des Gebetskreises gebundene Formulierung habe ich dann etwa so abgewandelt: »Wir denken darüber nach, wie der Text für unser eigenes Leben und für das Zusammenleben mit anderen hilfreich sein kann«. 41 So P. Biehl, Symbole geben zu lernen. Einführung in die Symboldidaktik anhand der Symbole Hand, Haus und Weg, Neukirchen-Vluyn 1989, 164. - In einer Verteidigung der Massenkultur hatte hingegen Umberto Eco schon 1964 geschrieben: »Die gescholtene Massenkultur hat nicht den Platz der Hochkultur okkupiert; sie hat sich unter jenen Bevölkerungsschichten verbreitet, die früher keinen 76 Zugang zu kulturellen Ausdrucksweisen hatten.« (U. Eco, Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frankfurt/ M. 1984 (1964), 45.) 42 A. Mertin, Religion in der Alltagswelt am Beispiel des Videoclips »Like a prayer« von Madonna, in: Schönberger Hefte, Heft 3, 1995, 1-12; eine weitergehende Fassung wurde bei einer Loccumer Tagung zum Thema »Semiotik und Religionspädagogik« im Juni 1996 vorgetragen und wird 1998 im Litt-Verlag Münster erscheinen. Aus dem unveröffentlichten Manuskript wird im folgenden zitiert. 43 A. Mertin, Religion, 3. Einwände habe ich allerdings gegen Mertins Fortsetzung des Satzes, die lautet: »aber es bleibt eben nur eine Inszenierung«. In meiner Schrift: Inszenierung des Evangeliums. Einkurzer Gang durch den Sonntagsgottesdienst nach der Erneuerten Agende, Göttingen 1997, habe ich den Inszenierungs begriff vielmehr als fundamental-liturgischen Begriff in Anspruch genommen: Auch die christliche Religion ist nur sinnlich erfaßbar in ihrer Gestaltung im Zustand eben der Inszenierung. Es ist gerade der unschätzbare Vorteil der äußeren Darstellung von Religion, daß der Zustand der Authentizität des religiösen Erlebens der Beteiligten nicht eigens thematisiert wird in der Regel kann man sich danach wieder distanzieren. Das macht der Liturg, indem er sein Gewand ablegt und gegebenenfalls eine Zigarette raucht ohne daß das heilige Geschehen vorher dadurch als »nur« eine Inszenierung entwertet würde. 44 Die Urteilskraft von Jugendlichen, eben dies zu erkennen, darf nicht unterschätzt werden, wie Mertin richtig anmerkt (Religion, 4): »Die Fähigkeit zur Qualifizierung der Machart (also der ästhetischen Strategien) eines Clips gehört zu den vorausgesetzten Standards der Jugendszene«. 45 Mertin, Religion, 13, verweist hier auf Franz von Assisi, bei dem sich 1224 während einer Kreuzesvision Wundmale bildeten, aus denen Blut floß, ferner auf Gai 6,17 »ich trage die Malzeichen Jesu an meinem Leibe«. 46 So auch Mertin, 13. 47 Eine ausführliche Beschreibung findet sich in: G. Fermor, Religion in der Werbung - Werbung für die Religion? , PTh 86 (1997) 2-12. 48 Vgl. dazu das Unterrichtswerk von U. Früchte! , Auf dem Weg. Vollständiger Kurs für zwei Jahre Konfirmandenunterricht, Göttingen 3 1993, welches sämtliche Themen des Kirchlichen Unterrichts über das Motiv des Weges zu erschließen sucht. 49 Vgl. dazu das bekannte Lied »Ein Schiff, das sich Gemeinde nennt« von Martin Gotthard Schneider, ZNT 1 (1998) EG Anhang Nieders.-Bremen Nr. 572 und Anhang Bayern-Thüringen Nr. 589. 50 Vgl. dazu auch Martin Luther, Ein Sermon von der Bereitung zum Sterben, WA 2, 685-697: Wie bei der Geburt, »geht der Mensch durch die enge rforte des Todes aus diesem Leben. Und(... ) so ist es doch alles gegen den zukünftigen Himmel so viel enger und kleiner, wie es der Mutter Leib gegen diesen Himmel ist« (685f. = BoA 1, S. 162, Orthographie modernisiert). - Dies entspricht auch den von Raymond Moody gesammelten Berichten von beinahe Toten, die fast stereotyp von einem jenseits empfangenden Licht berichten (R. Moody, Leben nach dem Tod, Reinbek/ Hamburg 1982. Michael IVleyer-Blanck Zwischen Exegese und Videoclip 51 Dazu s. den noch unveröffentlichten Berliner Habilitationsvortrag von J. Herzer: Der erste apokalyptische Reiter und der König der Könige. Ein Beitrag zur Christologie der J ohannesapokalypse, unveröffentlichtes Manuskript Juli 1997. 52 H. Kraft, Die Offenbarung des Johannes (HNT 16a) Tübingen 1974, 114, zitiert nach J. Herzer (s. letzte Anm.), 3. Ein Großteil der Forschung plädiert für diese Sicht. 53 Gegen diese Sicht plädiert Herzer mit guten Argumenten, ohne mich gänzlich überzeugen zu können darum der an dieser Stelle gemachte Vorschlag. Tübinger Studien zur, Theologie und Philosophie Herausgegeben von Max Seckler,.Gerfried W.· Hunold, Peter Hünermann und Georg Wieland EberhardTiefensee Philosophie und Religion bei Franz Brentano (1838-1911) Eberhard Tiefensee Philosophie und Religion bei Franz Brentano (1838-1917) Band 14, 1998, 570 Seiten, DM 116,-/ ÖS 847,-/ SFr 104,- ISBN 3-7720-2582-X Franz Brentano, Philosoph und Psychologe, gehört zu den Begründern der Phänomenologie und der analytischen Psychologie. Kaum beachtet werden in der Forschung seine Bemühungen, in denen er das eigentliche Ziel seines Lebens sah: Die Philosophie so auf den Stand der modernen Wissenschaft zu bringen, daß sie, in geeigneter Weise popularisiert, auf Dauer die Religion ersetzen kann. Die Untersuchung zeichnet das Entstehen dieser Konzeption in Brentanos Biographie und in seinem akademischen Werdegang nach. Im Zentrum der Untersuchung steht eine sorgfältige Analyse des religionsphilosophischen Nachlaß-Materials. Anton van Harskamp Theologie: Text im Kontext Auf der Suche nach der Methode ideologiekritischer Analyse der Theologie, illustriert an Werken von Drey, Möhler und Staudenmaier Aus dem Niederländischen von Hedwig Meyer-Wilmes Band 13, 1998, ca. 550 Seiten, ca. DM 140,-/ ÖS 1022,-/ SFr 126,- ISBN 3-7720-2581-1 Christoph Hübenthal Ethik, Struktur und Wirklichkeit Zur theologisch-ethischen Relevanz der Strukturphänomenologie Heinrich Rombachs Band 12, 1997, 359 Seiten, DM 96,-/ ÖS 701,-/ SFr 86,- ISBN 3- 7720-2580-3 Michael Zöller Gott weist seinem Volk seine Wege Die theologische Konzeption des 'Liber Scivias' der Hildegard von Bingen (1098-1179) Band 11, 1997, XXII, 610 S., DM 98,-/ ÖS 715,-/ SFr 88,- ISBN 3-7720-2579-X - A. Francke Verlag Tübingen und Basel· Postfach 2560 · D-72015 Tübingen ZNT 1 (1998) 77 E. P. Sanders Sohn Gottes Eine historische Biographie J esu Aus dem Englischen von Ulrich Enderwitz, Stuttgart (Klett-Cotta) 1996, 452 S. gebunden, 48,- DM Der moderne Sir Parzival der neutestamentlichen Wissenschaft hat als Gegenstand seiner Queste nicht den Heiligen Gral, sondern dessen Erstbenutzer: Jesus von Nazareth. Viele Suchende zuvorderst in der neuen, nun auch verstärkt in der alten Welt versuchen ihn neu zu entdecken, den Historischen Jesus. Die Suchenden führt der Weg durch weite Flur. Während einige in neue Gefilde vorstoßen und dabei neuer apokrypher Kunde lauschen, vollziehen andere die bewährten Wege neu nach und schöpfen vornehmlich aus bekannter Quelle. Einer der letzteren ist E. P. Sanders von der Duke-University in North- Carolina; über seine Suche hat er schon mehrfach ausführlich berichtet. Zu nennen ist hier vor allem sein Buch »Jesus and Judaism« von 1985, in dem er seine Wegbeschreibung zum Historischen Jesus dem akademischen Fachpublikum vorstellte. Acht Jahre später hat er in »The Historical Figure of Jesus« diesen Weg nochmals für eine breite interessierte Öffentlichkeit aufbereitet. Um die deutsche Übersetzung des letztgenannten Buches geht es hier. Zur Darstellung: Mit flüssigem Stil und weitgehendem Verzicht auf detaillierte Fachdiskussionen (hier verweist er meist auf eigene exegetische Vorarbeiten) trägt Sanders seinem Bemühen um ein breites Publikum Rechnung. Der deutsch- 78 sprachigen Leserschaft wird das anglo-amerikanische Kolorit der zur Erhellung herangezogenen Beispiele wohl etwas fremd sein (so die Biographien Churchills und Jeffersons, S. 16 oder die mittelalterliche englische Königsgeschichte, S. 134); dennoch erfüllen auch diese Passagen ihren Zweck, die Schwelle für die Leserinnen und Leser niedrig zu halten. Soweit zur Darstellung; nun zur Methode, die hauptsächlich im ersten Drittel des Buches ausgeführt wird. Sanders Suchstrategie gleicht der eines erfahrenen Puzzlespielers: Zuerst werden unverwechselbare Randstücke gesucht, deren Zwischenräume danach sukzessive gefüllt. Die Randstücke des Puzzles werden gebildet von einer Liste historisch unumstrittener Facts über die Biographie J esu von der Geburt bis zum Tod und über die unmittelbar darauf folgenden Ereignisse (S. 27f). Die Biographie Jesu wie im Untertitel der deutschen Ausgabe vermerkt steht also im Zentrum der Suche; das ist gewiß nichts Neues in der einschlägigen Literatur, und doch ist hier schon eine Grundrichtung erkennbar. Es geht nicht um die echten Worte des Historischen Jesus, über die, parallel zu Sanders, seine Kollegen vom Jesus- Seminar diskutieren. Es geht ihm auch nicht primär um das jesuanische Selbstverständnis dererlei Themen werden zwar diskutiert und eingeordnet, bilden aber nicht die Suchstrategie. Die Zwischenräume der historischen Facts sind dann Thema der weiteren gut 400 Buchseiten; dort entfaltet Sanders diese Facts ausführlich, präzisiert sie und füllt Lücken dazwischen aus (so S. 124). Dabei ist er bemüht, seine »Basisinformationen über Jesus« (S. 125) aus einem tendentiell begrenzten, engen Terrain zusammenzusuchen. Seine Quellenbasis ist eindeutig auf die synoptischen Evangelien konzentriert. Den historischen Informationen aus dem Johannesevangelium mißtraut er in der Regel, das Thomasevangelium wird nicht zitiert und die historische Verwendbarkeit der apokryphen Evangelien in summa wird angezweifelt (S. 108f.). Kurz, Sanders gehört genau zu den Forschern, denen Weggefährten bei der Suche nach dem Historischen Jesus eine »Tyrannei des synoptischen Jesus« vorgeworfen haben. Er entscheidet sich bei der Informationensuche für die vergleichweise schmalste, die synoptische, Basis. Doch dort sucht er um so gründlicher. Nicht umsonst hält er die Exegese an den Synoptikern schon im Vorwort für »Schwerstarbeit« (S. 11 ). Auch die beiden Zusammenhänge (oder besser Kontexte, um näher am englischen Original zu bleiben), aus deren Hintergrund die Aussagen von und über Jesus verständlich werden, sind im Vergleich zum breiten Spektrum der gängigen Vorschläge moderner Forschung eng gewählt. Bei der Kontextbestimmung des historischen verharrt er ausschließlich im Bereich des palästinischen Judentums: Im weiteren, theologischen Kontext bildet der Begriff der jüdischen »Heilsgeschichte«, im engeren Kontext direkt um die Wirkperiode Jesu die Person des Täufers den Boden, auf dem Sanders' Jesus Kontur gewinnt. Pagane ZNT 1 (1998) Analogien werden an dieser Stelle nicht thematisiert. Diese methodische Anbindung an das palästinische Judentum wird implizit vom Kontext eines »common judaism« getragen, das Sanders in früheren Arbeiten schon durch bestimmte Grundkategorien zu skizzieren versuchte (vgl. auch S. 62ff. im vorliegenden Buch). In dieses wird Jesus eingepaßt. Als Folge davon ist eine Abgrenzung von der griechisch-römischen Umwelt deutlich erkennbar, und das drückt sich auch in Detailfragen aus: Etwa S. 164ff. werden das urbane galiläische Zentrum Sepphoris und die Dekapolis als direkte Kontexte zu Jesus nicht akzeptiert; das vieldiskutierte Fehlen der jesuanischen Scheltworte gegen die (gemischtjüdischen) Städte Sepphoris, Tiberias und Scythopolis in den Evangelien wird S. 168 dadurch begründet, daß Jesus selbst sie nicht würdigte. Weiterhin ist in diesem Zusammenhang zu nennen, daß die beiden heidenfreundlichen Äußerungen Mt 8,10; 15,28 nach Sanders' Auffassung nicht jesuanisch sind. Alles in allem fallen bei Sanders' Suchstrategie die Strukturälmlichkeiten des methodischen Ansatzes mit den von ihm bevorzugten Quellen auf: Wie deutlich spiegelt sich das biographische Interesse des Exegeten in dessen bevorzugten Quellen, den Synoptikern, wider! Auch schickt sich nicht nur der Exeget Sanders an, einen vorgegebenen Rahmen mit speziellen Inhalten zu puzzeln, sondern es ist nach Sanders' Analyse auch das Tagwerk eines synoptischen Evangelisten und bestimmt nach der Meinung des Exegeten Sanders genauso die Weltsicht Jesu (S. 153). Der Verdacht eines hermeneutischen Zirkels läßt sich hier nicht vollständig auflösen: Ob Sanders methodische Anleihen von seinen Quellen macht, oder ob er eigene ZNT 1 (1998) Ansätze in sie hineindeutet, bleibt trotz der vorbildlichen methodischen Explizitheit der vorliegenden Darstellung nicht ganz geklärt. Nun aber zu Sanders' Jesusbild, das in den weiteren zwei Dritteln des Buches entfaltet wird. Auf einen Nenner gebracht: Der Jesus von E. P. Sanders ist in der Hauptsache ein eschatologischer Prophet, und dies macht der Autor von vielen Richtungen her deutlich (vgl. z.B. S. 231; 248; 381). Zentral für Jesu Verkündigung skizzierte Sanders in einigen Kapiteln den Begriff vom »Reich Gottes«. Die Vielfalt der Verwendungsmöglichkeiten dieses Begriffes, etwa ob zukünftig oder gegenwärtig, transzendent oder gerade anbrechend, werden sorgfältig analysiert (S. 257ff.), und Jesus wird auch keine dieser verschiedenen Verwendungen abgesprochen (vgl. S. 267). Doch die »am zuverlässigsten bezeugte Überlieferung« für das, was Jesus wirklich dachte (so S. 273), ist von einer eschatologischen Naherwartung geprägt: Gott wird in naher Zukunft die Geschichte entscheidend verändern (so S. 153; 273). Dieser Kernpunkt der jesuanischen Verkündigung, in früheren Arbeiten von Sanders noch mit dem Begriff der »Restauration« (Wiederherstellung Israels) emheitlich gefaßt, bleibt in der vorliegenden Darstellung ohne scharfe Konturen. Die Restaurationsthese (»Jesus intended Jewish restoration«), die in »Jesus and Judaism« als eschatologische Hoffnung J esu breit entfaltet wurde, spielt im vorliegenden Buch eine marginale Rolle. Ihr ist kein zentrales Kapitel gewidmet, und einige Themenblöcke sind nicht mehr in ihrem Zusammenhang interpretiert worden; beispielsweise die Tempelreinigung, in »Jesus and Judaism« ein tragendes Beispiel für die Wiederherstellung Israels, wird im vorliegenden Buch S. 372-383 ohne den Begriff »Wiederherstellung« oder »Restauration« behandelt; sie wird mit dem Logion von Zerstörung und Wiederaufbau des Tempels als Indiz für eine »radikale Eschatologie« gesehen, bei der die grundlegende Veränderung von Gott bewirkt wird, nicht von Menschen. Von der Wiederherstellung Israels ist nur noch im Zusammenhang mit den» 12 Jüngern« die Rede (S. 186; 275). Die eschatologische Botschaft vom kommenden Eingriff Gottes in die Welt ist also zentral für Sanders' Jesus, und an diesem Punkt werden andere Facetten zweitrangig, beispielsweise die Wunder. Explizit wird das von anderer Seite vorgeschlagene Attribut »the magican« als primäre Bestimmung für Jesus abgelehnt (S. 231). Die charismatische Komponente J esu wird der prophetischen deutlich untergeordnet. Wunder unterstreichen weder Jesu Taten noch sind sie Beweise seiner göttlichen Natur (vgl. S. 205; 242), sondern sie unterstreichen Jesu eschatologische Botschaft (vgl.S. 253). So ist also am Ende der Suche nach dem Historischen Jesus die Skizze eines eschatologischen Propheten entstanden. Auf der Basis von Sanders Grundannahmen ist dieses Bild stimmig und die Darstellung ist durchaus gelungen. Es ist zu wünschen, daß eine breite deutschsprachige Leserschaft dieser Suche nach dem Historischen Jesus kritisch und nachdenklich folgt; und vielleicht ist die Prognose möglich, daß dieses Buch bei uns eher gewürdigt als verrissen wird. Denn Sanders tut mit seinen harmlosen Thesen niemandem weh. Wer seiner Suche folgt, der darf sich auf vertrauten Pfaden der Jesusforschung bewegen; der ist von vorne herein vor steilen Thesen behütet und der ist letztlich vor der Überraschung geschützt, mit 79 einem völlig neuen Jesusbild leben zu müssen. Gerade die deutschsprachige Leserschaft wird nach der Lektüre dieses Buches bei dem »eschatologischen Propheten« E. P. Sanders den »apokalyptischen Propheten« A. Schweitzers mitassoziieren können, wird dabei vertraute Strukturen entdecken, die neu und differenziert dargeboten sind und dadurch auf Zustimmung stoßen dürften. Nach der Lektüre des vorliegenden Buches können sich Leserinnen und Leser in der beruhigenden Sicherheit wiegen, daß auch bei der aktuellen Suche nach Jesus von N azareth im Grunde alles beim Alten geblieben ist. 80 Peter Busch Perspektiven einer Theologie für die Gegenwart. Jean-Pierre Wils (Hrsg.) Warum denn Theologie? Versuche wider die Resignation. 185 Seiten, br. 34,- DM/ 248,öS / 31,50 sfr ISBN 3-89308-238-7 Mit Beiträgen von Alfons Maurer, Urs Baumann, Herbert Niehr, Karl- Josef Kuschel, Hermann-Josef Stipp und Jean-Pierre Wils. »Eine schonungslose Analyse der Sklerosetendenz in Gesellschaft, Theologie und Kirche.« Süddeutsche Zeitung Attempto Verlag Tübingen Vorschau auf Heft 2 Folgende Beiträge sind bisher geplant: Uwe Glessmer Zum gegenwärtigen Stand der Qumran- Forschung Holger Tiedemann Sexualität bei Paulus Mirjam und Ruben Zimmermann Zu Johannes 4 Dirk Frickenschmidt Evangelium als Biographie Die Kontroverse führen Rainer Stuhlmann und Wolfgang Stegemann zum Thema: Gleichgeschlechtliche Liebe und das Neue Testament David Brakkee Cultural Theory. Ein neues Paradigma US-amerikanischer Exegese? Stefan Alkier Elisabeth Schüssler-Fiorenza: Jesus - Mirjams Kind, Sophias Prophet Heft2 erscheint im Oktober 1998 Die Geschichte Israels Von Abraham bis Bar-Kochba Überblick über fast zweitausend Jahre Geschichte Israels. 12 x 18 cm, 200 Seiten. Kartoniert ISBN 3-438-06206-2 DM 19,80/ öS 145,00/ sFr 19,80 Die Schriften der Bibel Entstehung und Botschaft Der Band informiert für jede der biblischen Schriften über Entstehung, Botschaft und Verfasserschaft. 12 x 18 cm, 240 Seiten. Kartoniert ISBN 3-438-06207-0 DM 19,80/ öS 145,00/ sFr 19,80 Bibelkunde im Überblick Inhaltsangaben und Übersichten Eine wertvolle Hilfe, um die Botschaft der biblischen Bücher zu erschließen und einzuprägen. 12 x 18 cm, 206 Seiten. Kartoniert ISBN 3-438-06205-4 DM 19,80/ öS 145,00/ sFr 19,80 88 Deutsche Bibelgesellschaft Postfach 81 03 40 • 70520 Stuttgart Ferdinand Hahn Frühjüdische und christliche Apokalyptik Eine Einführung Biblisch-Theologische Studien, Band36 ca. 190 Seiten, Paperback ca. DM 39,80/ öS 291,-J sFr 37,- ISBN 3-7887-1667-3 Die vorliegende Einführung verschafft einen umfassenden Zugang zu den Texten und dem Phänomen der Apokalyptik. Die apokalyptisch geprägten Schriften von Daniel bis zur Johannesoffenbarung werden charakterisiert und erläutert. Dabei wird die Eigenart apokalyptischen Denkens erfaßt und umschrieben. Heinz Joachim Held Den Reichen wird das Evangelium gepredigt Die sozialen Zumutungen des Glaubens im Lukasevangelium und in der Apostelgeschichte Paperback, 88 Seiten DM 19,80/ öS 145,-JsFr 19,- ISBN 3-7887-1641-X Bisher ging man davon aus, das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte seien für die Armen verfaßt. Der Autor beweist das Gegenteil: Lukas verkündet Jesu Evangelium für die Armen gerade den Reichen. Er ist der Evangelist der Oberschicht. Die Wohlhabenden und Einflußreichen sollen für den Glauben und damit für ein neues soziales Denken und Handeln gewonnen werden zum Wohl der Armen. Das Buch richtet sich an Theologen und theologisch interessierte Bibelleser gleichermaßen. Hans-Josef Klauck Vorspiel im Himmel? Erzähltechnik und Theologie im Markusprolog Biblisch-Theologische Studien, Band32 128 Seiten, Paperback DM 38,-JöS 277,-JsFr35,- ISBN 3-7887-1643-6 Prologe stimmen auf das ein, was folgt. Sie wollen nach den Gesetzen der Redelehre beim Publikum Wohlwollen, Aufmerksamkeit und Spannung wecken. Im Markusevangelium übernimmt das „Zweitafelbild" mit den Portraits von Johannes dem Täufer und Jesus in Mk 1,1-15 diese Aufgabe und leistet damit Entscheidendes für die theologische Grundlegung des Gesamtwerks. Jens Schröter Erinnerung an Jesu Worte Studien zur Rezeption der Logienüber/ iejerung in Markus, QundThomas Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament, Band76 480 Seiten, Paperback DM 148,-/ öS 1080,-/ sFr 131,- ISBN 3-7887-1646-0 In welchem Verhältnis steht die Verkündigung Jesu zu ihrer Aufnahme in den Evangelien? Diese Frage bewegt die Forschung seit langem. Schröter unterzieht die im 20. Jahrhundert von der „Formgeschichte" entwickelte Antwort einer kritischen Prüfung und ersetzt sie durch das Modell der „Erinnerung". Dieser, an der aktuellen kulturwissenschaftlichen Diskussion orientierte Begriff wird anhand einer Analyse gemeinsamer Überlieferung des Markus- Evangeliums, der Logienquelle Q und des Thomas- Evangeliums angewandt. Dies hat auch Konsequenzen für die Frage nach dem historischen Jesus. Martin Röse! Bibelkunde des Alten Testaments Die kanonischen und apokryphen Schriften Überblicke - Themakapitel - Glossar Paperback, 192 Seiten DM 29,80/ öS 218,-JsFr 27,50 ISBN 3-7887-1582-0 Klaus-Michael Bull Bibelkunde des Neues Testaments Die kanonischen Schriften und die Apostolischen Väter Überblicke - Themakapite! - Glossar Paperback, 200 Seiten, DM 29,80/ öS 218,-JsFr27,50 ISBN 3-7887-1622-3 Diese Bibelkunde neuen Typs ist gegliedert in einen „klassischen" Teil, der die einzelnen biblischen Bücher in übersichtlicher Weise bibelkundlich erschließt. Die Bibelkunde des Alten Testaments enthält in einem zweiten Hauptteil zudem 22 Kapitel zu Themen wie „Schöpfung", "Bund", "Der Tempel in Jerusalem" oder „Biblische Theologie", die Bibelkunde des Neuen Testaments 13 Kapitel zu Themen wie „Verkündigung Jesu", "Ekklesiologie im NT" oder „Qumran". Ein ausführliches Glossar exegetischer Fachbegriffe schließt beide Bibelkunden ab, die so zu einer Einführung in jegliche Beschäftigung mit dem AT und NT werden. Biblische Hermeneutik Jahrbuch für Biblische Theologie (JBTh), Band 12 (1997) Beiträge v. N. Lohfink, H. Spieckermann, G. Stemberger, S. Pedersen, U. Wilkens, E. Herms, U.H.J. Körtner, W Pannenberg, R. Koerrenz, O.Fuchs, J.Barthe! , B.Ego, H.Hoping, S.Reader 280 Seiten, Paperback, DM 68,-/ öS 496,-JsFr62,- ISBN 3-7887-1642-8 Wer von „Biblischer Hermeneutik" spricht, geht von der Überzeugung aus, daß die eine Wahrheit der zweigeteilten christlichen Bibel einer Auslegung bedarf, welche die Verbindlichkeit ihrer Botschaft wahrnimmt und verständlich weitersagt. Der neueste Band des Jahrbuchs stellt sich dieser Aufgabe in Form von Grundsatzbeiträgen aus der Biblischen Exegese, der Judaistik sowie der Systematischen und Praktischen Theologie. Jahrbuch für Biblische Theologie Biblische Hermeneutik IHiiH Was wissen wir über das Leben Jesu? Gerd Theißen / Annette Merz Der historische Jesus Ein Lehrbuch. 2., durchgesehene Auflage 1997. 557 Seiten, kartonierte Studienausgabe DM 58,- / öS 423,- / SFr 52,50 ISBN 3-525-52143-X Leinen DM 98,- / öS 715,- / SFr 89,- ISBN 3-525-52149-9 Das Lehrbuch will auf möglichst sachliche und verständliche Weise über die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung zum historischen Jesus informieren. Jesus wird als eine auch heute noch erkennbare, tief im Judentum verwurzelte, profilierte Gestalt dargestellt. Abschließend wird der Weg von seinem Selbstverständnis, in Gottes Handeln eine entscheidende Rolle zu spielen, zur Verehrung seiner Person als Messias und Gottessohn verständlich gemacht. Zu allen Themen werden kurze Überblicke der Forschungsgeschichte geboten. Der Text ist didaktisch aufgearbeitet, u.a. durch viele Übersichten und Tabellen sowie vor- und nachbereitende Anregungen. Alle Teile geben Denkanstöße zur hermeneutischen Reflexion über die Gegenwartsbedeutung und -problematik der diskutierten historischen Sachverhalte. „Das Buch befaßt sich auf hohem Niveau, aber zugleich gut verständlich und, wie gesagt, didaktisch gut aufbereitet, mit allen wichtigen Einzelfragen, die zum Problemkreis ,Historischer Jesus' gehören. Neueste und allerneueste Tendenzen sind berücksichtigt." Theologische Revue „Dieses Buch ist als ein Standardwerk der Lehre und zugleich als eine unverzichtbare Grundlage für die künftige Forschung zu empfehlen." Biblische Zeitschrift "Dieses Buch ist faszinierend in seiner differenziert gegliederten Fülle und themenorientierten didaktischen Aufbereitung .... Besonders anregend ist die informative Grundstruktur: Jedes Thema wird in sich so abgerundet, daß man sich auf das Lesen einzelner Paragraphen beschränken kann." Religionspädagogische Hefte Gerd Theißen / Dagmar Winter Die Kriterienfrage in der Jesusforschung Vom Differenzkriterium zum Plausibilitätskriterium. Novum Testamentum et Orbis Antiquus, Band 34. 1997. XII, 348 Seiten, gebunden DM 128,- ISBN 3-525-53936-3 Gemeinsam mit dem Universitätsverlag Freiburg Schweiz In der Jesusforschung gilt das Differenzkriterium als das wichtigste Kriterium zur Unterscheidung echter und unechter Jesusüberlieferung. Danach ist echt, was aus Judentum und Urchristentum unableitbar ist. Die Autoren stellen in einem forschungsgeschichtlichen Teil die geistesgeschichtlichen Voraussetzungen für dieses Kriterium seit der Renaissance und seinen Aufstieg zum dominierenden Kriterium in der Zeit der „Neuen Frage" nach dem historischen Jesus dar. Sie zeigen ferner, wie sich mit dem sogenannten „Third Quest" (seit ca. 1980) die Jesusforschung in ihrer Praxis von diesem Kriterium löst. Weitere Informationen: Vandenhoeck Et Ruprecht, Theologie, 37070 Göttingen V&R Vandenhoeck &Ruprecht