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ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
1998
12 Dronsch Strecker Vogel
'· ,t N .. LI. V) - 1 Ll'i a, r- ,t .- N V> N : O J, -M '· ,t ,t „ Nz : ! ! : V> C ! ! ! 1. Jahrgang • Heft 2/ 98 ZEITSCHRIFT ,~ NEUES TESTAMENT Das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft Herausgegeben von Stefan Alkier, Kurt Erlemann, Roman Heiligenthal Uwe Gleßmer Die Texte von Qumran - Zum gegenwärtigen Stand ihrer Erforschung Holger Tiedemann Das Gesetz in den Gliedern - Paulus und das sexuelle Begehren Dirk Frickenschmidt Evangelium als antike Biographie Mirjam und Ruhen Zimmermann Brautwerbung in Samarien? Von der moralischen zur metaphorischen Interpretation von Joh 4 David Brakke Cultural Studies. Ein neues Paradigma us-amerikanischer Exegese Homosexualität im Neuen Testament Martin Hasitschka versus Wolfgang Stegemann Buchreport Herausgeber Stefan Alkier Kurt Erlemann Roman Heiligenthal in Verbindung mit Klaus Berger Peter Busch Axel von Dobbeler Dirk Frickenschmidt Gabriele Hagenow Matthias Klinghardt Günter Röhser Jens Schröter Manuel Vogel Bernd Wander JürgenZangenberg Anschrift: der Redaktion Universität Koblenz-Landau Fachbereich 6: Philologie Institut für Ev. Theologie Prof. Dr. Roman Heiligenthal Im Fort 7 · D-76829 Landau Manuskripte Zuschriften, Beiträge und Rezensionsexemplare werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Verpflichtung zur Besprechung unverlangt eingesandter Bücher besteht nicht. Anzeigen Jutta Silbereisen, Tel.: 0 70 71/ 9797-31 Bezugsbedingungen Die ZNT erscheint halbjährlich (April und Oktober) Einzelheft: DM 24,- / öS 175,- / sFr 24,zuzügl. Versandkosten Bezugspreis jährlich: DM 48,- / öS 350,- / sFr 46,- Vorzugspeis für Studenten (Immatrikulationsbescheinigung beifügen) jährlich: DM 38,- / öS 277,- / sFr 38,- © 1998 · A. Francke Verlag Tübingen· Basel Alle Rechte vorbehalten ISSN 1435-2249 ISBN 3-7720-9901-7 Umschlagentwurf: Werner Rüb, Bietigheim-Bissingen. Satz: Klaus Meyer, Rottenburg. Druck: Gulde, Tübingen Bindung: Nädele, Nehren Inhalt Heft 2/ 98 Neues Testament Uwe Gleßmer aktuell Die Texte von Qumran - Zum gegenwärtigen Stand ihrer Erforschung ...... . Zum Thema Holger Tiedemann Kontroverse Hermeneutik und Vermittlung Buchreport Das Gesetz in den Gliedern - Paulus und das sexuelle Begehren ...... . Dirk Frickenschmidt Evangelium als antike Biographie Mirjam und Ruben Zimmermann Brautwerbung in Samarien? Von der moralischen zur metaphorischen Interpretation von Joh 4 .............. . Homosexualität im Neuen Testament. Ein kulturelles oder ein theologisches Problem? .......................... . Martin Hasitschka Homosexualität eine Frage der Schöpfungsordnung ................. . Wolfgang Stegemann Homosexualität ein modernes Konzept ........................... . David Brakke Cultural Studies. Ein neues Paradigma us-amerikanischer Exegese ........... . Stefan Alkier Elisabeth Schüssler-Fiorenza, Jesus - Miriams Kind, Sophias Prophet A. Francke Verlag Tübingen und Basel· Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Internet: http: / / www.francke.de · E-mail: narr-francke@t-online.de 2 18 29 40 53 54 61 69 78 Nach dem geglückten Start der ZNT im April dieses Jahres präsentieren wir nun Heft 2 der Zeitschrift. Wie wir zahlreichen Rückmeldungen und Rezensionen entnehmen können, wird die ZNT mit ihren Sparten »NT aktuell«, den Einzelbeiträgen, der »Kontroverse«, der Rubrik »Hermeneutik und Vermittlung« und dem »Buchreport« weithin begrüßt. Heft 2, welches Sie in den Händen halten, ist kein Themenheft, sondern besteht aus Beiträgen zu verschiedenen Themenstellungen. Gleichwohl sind zwei thematische Schwerpunkte erkennbar: Sexualität bzw. Homosexualität im Neuen Testament (Einzelbeitrag von Holger Tiedemann, Kontroverse zwischen Wolfgang Stegemann und Martin Hasitschka) sowie Theologie und Kultur (David Brakke in »Hermeneutik und Vermittlung« und Wolfgang Stegemanns Beitrag in der »Kontroverse«). Die ZNT wagt nicht nur den Brückenschlag zwischen wissenschaftlicher Exegese und kirchlich-schulischer Praxis. Ebenso fördert sie das interkonfessionelle und interkulturelle Gespräch über aktuelle Fragen der Auslegung. So können wir in diesem Heft nicht nur eine ökumenisch angelegte Kontroverse präsentieren, sondern auch Einblick in neue Ansätze anglo-amerikanischer Exegese bieten (David Brakke, Cultural Studies. Ein neues Paradigma us-amerikanischer Exegese und Stefan Alkiers Buchreport über Elisabeth Schüssler-Fiorenza, Jesus - Miriams Kind, Sophias Prophet). Hier tut sich offensichtlich eine ganze Menge, was auch für die »Alte Welt« von Bedeutung ist - oder ihren Widerspruch herausfordert. Daß neutestamentliche Forschung und Lehre in immer größerem Maße zu einem internationalen und interdisziplinären Unternehmen werden, zeigt sich auch an den Beiträgen von Uwe Gleß- ZNT 2 (1998) mer, Mirjam und Ruben Zimmermann sowie Dirk Frickenschmidt. Auch mehr als 50 Jahre nach ihrer Entdeckung haben die sog. Qumran-Rollen noch nichts von ihrer Faszination verloren. Uwe Gleßmer faßt die wichtigsten Ergebnisse der internationalen Forschung pointiert zusammen. Einmal mehr wird deutlich, wie wichtig nicht nur das AT, sondern vor allem die oft vernachlässigte Zeit »zwischen den Testamenten« ist. Manches allzu einfache Modell werden wir wohl auch in der Frage des Entstehungsprozesses des Alten Testaments revidieren müssen. Mirjam und Ruben Zimmermann leisten mit ihrem Beitrag »Metapherntheorie als Hilfe zur Bildexegese« Übersetzungsarbeit in anderem Sinn. Ihr Ausgangspunkt ist die Bildhaftigkeit religiöser Sprache. Anhand von J oh 4 zeigen sie, wie neue Ansätze der Sprachwissenschaft für die Auslegung und Vermittlung biblischer Texte fruchtbar gemacht werden können. Dirk Frickenschmidts Beitrag »Evangelium als antike Biographie« schließlich schlägt die Brücke vom Neuen Testament zur Altphilologie und vergleicht die oft als unableitbar postulierte Gattung »Evangelium« mit antiken Biographien. So wird nicht nur deutlich, welches eigene Profil die neutestamentlichen »Jesus- Biographien « tatsächlich besitzen, sondern auch welche Intention ihre Autoren bei ihren Lesern verfolgten. Es lohnt sich also, Grenzen zu überschreiten, vermeintlich Altbekanntes in neuem Licht zu sehen. Diese Aufgabe haben wir uns mit der ZNT gestellt. Damit uns dies gelingt, sind wir auf Ihre kritische Begleitung angewiesen. Stefan Alkier Kurt Erlemann Roman H eiligenthal 1 Uwe Gleßmer Die Texte von Oumran - Zum gegenwärtigen Stand ihrer Erforschung 1. Vorbemerkungen Über die Qumrantexte zu schreiben, ist schon aberwitzig. Denn einerseits ist in diesem Bereich die Abfolge von Publikationen so extrem hoch, daß weniger vom Stand als vielmehr von der Bewegung in ihrer Erforschung zu berichten ist1. Zum anderen werden wohl Erwartungshaltungen geweckt wie: Nun wird endlich einmal erklärt, was wirklich dran ist an diesem Material. Durch die spektakulären Berichterstattungen richten sich die Vorerwartungen auch auf Fragen wie: Liegt Verdächtiges in der Weise in der Luft, wie es der Spiegel im ersten Heft dieses Jahres formuliert hat: » Im Lichte der Qumran-Texte erweist sich manche Lehrmeinung als überholt, manches Bibel-Wort wirkt wie ein Plagiat« ? 2 1.1 Warum ist Wissen über Qumran wichtig für ein Bibelverständnis? samtperspektive, obwohl es sich im Medium der Thematik anböte, gegenwärtige Probleme der ,Kulturbegegnung, analog zu reflektieren. b) Ein Ziel der biblischen Fächer angesichts gegenwärtiger Vielfalt muß es m. E. sein, Erklärungsmodelle anzubieten: Wie ist es dazu gekommen, daß die späteren Religionen in einem z. T. feindlichen bis mörderischen Nebeneinander existieren, obwohl sie textlich z. T. auf gemeinsame Grundlagen zurückgreifen? Differenziert und kritisch die eigene Tradition in komplexen Zusammenhängen betrachten zu können, setzt u. a. Wissen voraus, wie die Trennungsgeschichte von Juden und Christen bedingt ist. Und da liegt vieles im Argen. Das Stichwort »christlicher Antijudaismus« deutet eine Hauptschwierigkeit an, die mit der Kritik an Fehlentwicklungen verbunden ist. Dafür gilt es, die eigene Tradition und auch Bibel als etwas historisch Gewachsenes zu begreifen. Auf solche Fragen ist einzugehen, obwohl es Sensationshascherei ist, die sie hauptsächlich stimu- 2. liert. Diese Methode funktioniert jedoch, und das macht nachdenklich. Die Aufnahmebereitschaft Die Oumran-Bibliothek: eine Dokumentation von jüdischer Vielfalt liegt an Komponenten, die nicht nur Modeerscheinungen bilden, sondern durch Defizite theologischer Ausbildung mit zu verantworten sind: a) durch Abgrenzung der Bibel-Disziplinen, b) durch deren Zielsetzungen. a) Wer Theologie studiert, muß im Examen Wissen vorweisen über die biblischen Fächer, die traditionell als AT und NT abgekürzt werden. Genauso plakativ, wie sich diese Namen halten, bleibt z.T. das Denken über den Zusammenhang beider. ,Das AT< wird in der Regel höchstens bis in die Zeit der examensrelevanten Namen > Esra und N ehemia< im 5. oder 4. Jh. vuZ bedacht. Dann kommt ein großer Sprung, und es geht mit ,dem NT< weiter. Wie sich jedoch in den Jahrhunderten dazwischen religiöse und politische Umbruchsituationen vollzogen haben, bleibt am Rande der Ge- 2 Hier liegt die große Bedeutung der Qumran- Bibliothek. Denn die Reste von über 800 Handschriften zeigen, wie bereits im Judentum des 2./ 1. Jh. vuZ eine immense Bandbreite der um Bibel und ihre Auslegung gesammelten Materialien existiert. Ja, es wird hier geradezu Bibel im Wachstumsstadium greifbar, wie sie unter Bedingungen dieser Zeit in Gruppen und ihren Konflikten genutzt wird. Da die Vielfalt der ganzen Bibliothek hier nicht annähernd erschöpfend dargestellt werden kann, möchte ich diese wenigstens am Bibel-Bezug akzentuieren. Daran lassen sich zugleich beispielhaft Entwicklungslinien darstellen. ZNT 2 (1998) 2.1 Die Vielfalt biblischer Textüberlieferungen Die abenteuerlichen Fundgeschichten der Texte sind vielfach ausgebreitet worden. Wichtig sei hier der Befund, daß in elf Handschriftenhöhlen, die zwischen 1946/ 7 und 1956 nahe der Ruine Qumran beim Toten Meer entdeckt wurden, jedes vierte Manuskript eine Bibelhandschrift darstellt. - Am längsten und mit der größten Aufmerksamkeit beachtet worden ist unter den Bibelhandschriften die große Jesaja-Rolle aus Höhle 1. lQJesa: Die Benennungen von Qumrantexten, wie 1QJesa für diese Rolle, beinhaltet den Verweis auf die Höhle, dann das Q für Qumran, danach eine Inhaltsbeschreibung wie hier Jes(aja), die ggf. von einem hochgestellten Buchstaben gefolgt wird, der Mehrfachkopien unterscheidet. Aus Höhle 1 etwa sind noch Fragmente einer zweiten Rolle 1QJes 6 erhalten, aus Höhle 4 dagegen 18 Kopien: 4QJ esa bis 4QJes' sowie aus Höhle 5 eine weitere: SQJes; zusammen 21 Kopien. - Vor allem nicht-biblische Handschriften, die nicht durch einen bekannten Text näherbestimmt sind, werden oft nur mit fortlaufender Zählung innerhalb einer Höhle benannt, etwa SQJes = SQ3. 3 Die Rolle 1QJ esa ist aufgrund ihrer Aufbewahrung in einem Tonkrug nahezu vollständig erhalten und illustriert plastisch, was bereits inJer 32,14 vorausgesetzt wird: » Nimm diese Urkunden ... und tu sie in ein Tongefäß, damit sie auf lange erhalten bleiben«. Die 734 cm lange Jesaja-Rolle wurde nach Analyse des Ledermaterials ebenso wie gemäß der paläographischen Datierung anhand des Schrifttyps in der zweiten Hälfte des 2. Jh. vuZ abgeschrieben, hat also in dem Tonkrug über zwei Jahrtausende überdauert. Sie stellt so einen Text dar, der um 1000 Jahre älter ist, als es die späteren Abschriften sind, die den gedruckten Hebräischen Bibeln zugrundeliegen. Diesen Befund kann man auf verschiedene Weise betrachten. Der Text ist über Jahrhunderte hinweg treu überliefert worden. In diesem Sinne ist die enorme Kontinuität herausgestellt worden 4 • Sieht man es so, ist verständlich, warum das Standardwerk von E. Würtwein »Der Text des Alten Testaments« nur geringen Gebrauch von qumranischen Textzeugen macht. Sie unterstreichen nur Annahmen über Alter und Qualität der Überlieferung, fügen aber wenig neue Einsichten hinzu. Seit 1997 ist auch in deutsch ein Werk heranzuziehen, ZNT 2 (1998) das neue Standards setzt: »Der Text der Hebräischen Bibel« von E. Tov. Es läßt neben dem durch lQJesa geprägten harmonisierenden Blick auch spannungsvollere Befunde zum Tragen kommen. Danach ist nicht nur die Kontinuitätsperspektive wichtig, sondern zusätzlich eine Vielzahl von kleineren und größeren Differenzen. Eine Quelle der kleinen Abweichungen bildet der hebräische Text selbst. Er ist in seinen Konsonanten ohne zusätzliche Vokalzeichen z.T. mehrdeutig. Diese Situation ist mithilfe der Fassungen aus Qumran an vielen Stellen gut vor Augen zu führen. Abb.: Ausschnitt aus lQJesa Ein Beispiel bietet Jes 40,6. Nach den christlichen Übersetzungen berichtet hier ein prophetisches Ich von seiner Berufung: »Ich fragte: Was soll ich verkünden? « Dieses entspricht einer Deutung der hebräischen Konsonanten, wie sie in der griechischen Übersetzung (= Septuaginta; im folgenden: LXX) gegeben und in lQJesa durch Hilfskonsonanten zum Ausdruck gebracht wird (im Kästchen A). Dagegen hat der später zum Standard gewordene rnasoretische Text (=MT) eine andere grammatische Deutung vorgenommen (3. Person Singular), die von Buber / Rosenzweig übersetzt ist: »Es spricht zurück: Was soll ich rufen? « - Durch Hinzufügung von Vokalzeichen will der MT eine Bedeutung der Konsonanten ein für allemal festlegen. Mit besonderen Kontrollmechanismen der Überlieferung (Masora) sind Handschriften dieser Art überprüft, die vom Ende des 1. Jt. uZ vorliegen. Zusätzlich sind sie so ausgestaltet worden, daß durch Zeichen, die die Vortragsweise festlegen, das Wort Gottes immer gleich erklingen soll. Das erscheint den Tradenten dieser Phase besonders wichtig, zumal die meisten Hörer das Hebräische nicht mehr direkt verstehen. - Daß durch solche Entscheidungen andere Deutungen verworfen werden, liegt in der Natur des Bestrebens, Eindeutigkeit und einen Identität stiftenden Text herzustellen. Ein solcher Anfang eines Textes ist nicht verfügbar, sondern stellt eine Bemühung von Menschen dar, keinerlei andere 3 Uwe Gleßmer Uwe Gleßmer, Jahrgang 1951, seit 1982 Pastor der Nordelbischen Kirche. 1988 Promotion; 1996 Habilitation. Privatdozent in Hamburg; 1996 bis 1998 Lehrstuhlvertretung »Altes Testament« in Frankfurt. Mitarbeiter im internationalen Herausgeberteam der offiziellen Edition der Qumran-Schriften (DJD). Texte mehr für den Gebrauch zuzulassen und abweichende zu beseitigen. Diese Bemühung setzt Jahrhunderte früher wohl bald nach der Zerstörung des Herodianischen Tempels ein. 5 Das Problem mit »biblischen Urtexten« wird an weiteren Qumrantexten noch viel deutlicher. Es zeigt sich insbesondere, daß größere Unterschiede für eine erhebliche Zahl von biblischen Büchern soweit gehen, daß von unterschiedlichen hebräischen Textausgaben zu sprechen ist. Damit tritt ein Sachverhalt ins Bewußtsein, der zum Beispiel am ]eremia-Buch ganz deutlich ist. Es gibt von Jer nicht nur eine Fassung, sondern bereits altkirchlichen Schriftstellern war bekannt, daß die griechische Fassung beträchtlich kürzer ist als die hebräische. - Ebenso wie bei antiken Bewertungen dieses Sachverhalts gehen jedoch auch moderne Meinungen auseinander. Bei Zählungen, wieviel kürzer die LXX ist, liegen die Angaben zwischen 1/ 6 bis 1/ 8. Dabei wird die statistische Basis jeweils danach gewählt, ob stärker Abweichung oder deren sachliche Geringfügkeit herausgestellt werden soll. Auch daran wird deutlich, daß es interessenfreie Argumentation kaum gibt. Mein Interesse an diesem Beispiel liegt darin herauszustellen, daß es mehrere Optionen bei der Festlegung der Auswahl des Kanons gab: für die Hebräische Bibel ist die Wahl anders ausgefallen, 4 als in griechischen Bibelhandschriften. Für Christen sind zumindest zweigleisig Texte zu berücksichtigen: einerseits aufgrund der Bibeltradition, die das Mittelalter über die westliche Kirche dominiert hat, andererseits die hebräische Auswahl, die erst seit Humanismus und Reformationszeit wieder besondere Wertschätzung erfahren hat. Um die sich wandelnden Bibelverständnisse im Spannungsfeld von zeitbedingtem, lutherischem Kriterium hebraea veritas und einer supra-naturalen Vorstellung von H eiliger Schrift anzusprechen, bietet sich Jer besonders an. Denn durch Qumran ist bezeugt, daß die kürzere Fassung nicht das Produkt erst der griechischen Übersetzer ist. Zwei der sechs Handschriften ( 4QJ er 6·d) enthalten dieselbe charakteristische Kürze wie LXX. Sie führen vor Augen, daß bereits zwei hebräische Ausgaben existiert und auch bei der Auswahl für den MT Menschen einer Version den Vorzug gegeben haben. Was an Jer sichtbar wird, ist kein Einzelfall. Vielmehr zeigen zahlreiche andere Textfassungen ähnliche Phänomene, für die E. Ulrich die Bezeichnung Pluriformity gewählt hat 6 • Sie prägt das Erscheinungsbild mit und nötigt dazu, sie in existierende Bilder von der Überlieferung des Bibeltextes zu integrieren. Ulrich möchte auf dem Hintergrund amerikanischer Frömmigkeitstraditionen vor allem dafür werben, die Lebendigkeit des Überlieferungsprozesses als etwas Positives zu begreifen. Akzente können jedoch auch anders gesetzt werden, wie etwa bei H. Stegemann: » Bislang wurden einzelne Werke der hebräischen Bibel nämlich einige Prophetenbücher und insbesondere der Psalter gelegentlich noch als erst im 2. oder gar 1. Jh. v.Chr. fertiggestellt betrachtet. Jetzt gibt es erstmals Handschriften mit dem gleichen Text wie in der Biblia Hebraica, die eindeutig älter sind als solch späte Daten« 7• Die Kritik, daß z. T. ohne Rücksicht auf die Textbezeugung aus Qumran noch vielfältig Rekonstruktionen und Spätdatierungsvorschläge vorgenommen werden, trifft sicher Richtiges 8 • Um realistische Einschätzungen zu gewinnen, helfen jedoch generalisierende Datierungen wenig. Sicher sind am MT in der Spätzeit noch Eingriffe vorgenommen worden, wie besonders an Alters- und Zeitangaben in den Mosebüchern deutlich wird, die auf Bearbeitung bis weit in das 2. Jh. vuZ ver- ZNT 2 (1998) weisen 9. Ähnliches zeigt auch das Beispiel von J es 19,18f: Hier wird von fünf Städten im Lande Ägypten sowie der Errichtung eines Altares berichtet. Die eine benannte Stadt wird im MT mit einer Art Schandnamen versehen: »Stadt der Vernichtung«. Die griechische Übersetzung setzt hier »Stadt der Gerechtigkeit« (ähnlichJes 1,26) voraus. Daß es sich in MT um eine absichtliche Entstellung für die »Sonnenstadt« (im ägyptischen Gau Heliopolis) handelt, legt 1QJ esa nahe, denn dort wird nicht das Wort heres wie MT gelesen, sondern es ist die ältere Textfassung cheres »(Stadt der) Sonnenglut« überliefert. - An dieser Stelle ist nicht eine einfache Textverderbnis Anlaß für die Differenz im MT, sondern es handelt sich wohl um einen Reflex der Verdrängung des Jerusalemer Hochpriesters Onias IV. im 2. Jh. vuZ 10 . Dieser hat Jes 19,18 als Weissagung für seinen Exilsort und die Errichtung eines Tempels nach Jerusalemer Vorbild verstand·en, was ihm jedoch die Textänderung im MT streitig macht. Dieses Beispiel weist schon auf die Konfliktsituationen um den Jerusalemer Tempel im 2. Jh. vuZ hin, die der Qumran-Bibliothek zeitlich und sachlich vorausliegen. Auch hier gibt es diverse Deutungsmöglichkeiten, um die es unten gehen soll. Zuvor ist jedoch auf den zweiten, oben genannten Textbereich der Psalmen einzugehen. Denn auch hier ist es so, daß z.T. unter extrem geringfügiger Rücksichtnahme auf Qumran-Quellen etwa »Die Komposition des Psalters« zu rekonstruieren versucht wurde. Auch Stegemanns Angabe, es gäbe aus dem 2. Jh. vuZ bereits Fassungen wie MT, verleitet zum Ignorieren des Qumran-Befunds. 1997 hat P. Flint die Ergebnisse so dargestellt, daß zwar im Bereich der Psalmen 1-89 ein hoher Grad an Übereinstimmung festzustellen ist, daß dagegen im Bereich der Psalmen 90ff. die Mehrzahl der Texte keine Anordnung bieten, wie sie im MT vorliegt. Insgesamt ergibt sich, daß es verschiedene Bearbeitungsstufen des Psalters gibt, die sich in zwei Richtungen (Ila-Qumran) und (IIb-MT) auseinanderentwickelt haben 11 . - Darüber hinaus ist darauf zu verweisen, daß etwa von Donner gute Argumente für eine Spätdatierung von Ps 110 beigebracht worden sind 12. Wenn es richtig sein sollte, daß dieser Text erst zur Legitimation des Hochpriestertums »nach der Weise Melchisedeks« in die Sammlung aufgenommen wurde, so wäre nicht zufällig, daß dieser Psalm in keiner der 36 Handschriften aus Qumran bezeugt ZNT 2 (1998) ist 13 • Sondern es ergäbe sich wie oben beiJes 19,18: die Fassung des MT enthielte in der Ausgabe IIb eine Stellungnahme zugunsten derer, die die Kontrolle am Tempel ab der Hasmonäerzeit übernommen haben. Es wird in diesen Elementen erkennbar, wie Bibeltexte und ihre spätesten Ausgestaltungen historisch bedingt sind. Sie dienen dazu, »Meinung zu machen«, - oder wie man bei Erzähltexten sagen würde, im Interesse einer späteren Erzählzeit die frühere erzählte Zeit aufzubereiten. - Genau diesen Effekt könnte die Differenz der alt-hebräischen Handschrift (4QpalaeoExodm = 4Q22) bezeugen, die hier als letztes Beispiel dienen soll. Die Fassung von 4Q22 hat ihre nächste Parallele im hebräischen Text der Samaritaner. Dort ist ebenfalls der Abschnitt über den Räucheraltar (Ex 30, 1-10 MT) zwischen Ex 26,35.36 gegeben, was vielfach als ursprünglich angesehen wird. Diese Variante erscheint als geringfügig, denn sie betrifft nur die Position, während der Wortlaut nicht markant abweicht. Allerdings gewinnt bei genauerem Hinsehen die Positionierung des Abschnittes im MT Bedeutung, wenn dort der jährliche Sühnritus in Ex 30,10 direkt vor die Erhebung des Lösegelds (Ex 30,llff) plaziert wird. Damit ergibt sich für das folgende ein Kon-text, der im Sinne einer jährlichen Tempelabgabe verwendet werden kann. Die ältere Abgabenregelung war jedoch die, daß nur beim Eintritt in die Gemeinde des Jerusalemer Tempels, bei der Musterung der 20-Jährigen, ein Geldbetrag zu entrichten war. Aus rabbinischen Quellen liegt die Annahme nahe, daß dieser Brauch in hasmonäischer Zeit in eine reguläre jährliche Kopfsteuer umgewandelt worden ist 14 . Eine solche Abgabenänderung scheint auch 4QOrdinancesa (= 4Q159) zu bezeugen. Dort wird diese Regelung zur Zahlung eines Halb-Schekels zitiert und im Blick auf einen einmaligen Vorgang erklärt. Konflikte werden zwar nicht genannt; für die ältere Regelung erscheint jedoch Erklärungsbedarf. Die hier vorgestellte.n Beispiele von kleineren und größeren Abweichungen der Bibeltexte machen deutlich, daß sie in Wechselbeziehung zu historischen Kontexten gewachsen sind. Das muß nicht in dem Sinne verstanden werden, daß sie zu etwas ganz anderem gemacht wurden, als was sie zuvor darstellten. Vielmehr liegt mir daran zu verdeutlichen, wie ähnlich den Jahrhunderten davor - Vielfalt allmählich entsteht. Vor Konfliktsituationen unterliegen solche Unterschiede auch keinem Vereinheitlichungsdruck. Das aus 4Q159 ange- 5 führte Beispiel der Abgaben könnte jedoch erste Tendenzen von Auseinandersetzungen andeuten, die in zahlreichen Bibel-auslegenden Texten aus dem 1. Jh. vuZ dann ausdrücklich vorausgesetzt werden. 2.2 Die Träger der Überlieferungen und die Deutung der Ruine Qumran Sind bisher hauptsächlich die biblischen Texte im engeren Sinn herangezogen, so sollen im folgenden weitere Inhalte zur Sprache kommen. Bei der Ausweitung der Perspektive ist es jedoch notwendig, den ideologischen und geographischen Standort derjenigen zu beschreiben, die als Träger für diese Texte verantwortlich sind. Und hier fängt sofort der moderne Meinungsstreit an, so daß man sich leicht im Kreis bewegt. Wenn etwa die in mehreren Texten auftauchende Bezeichnung einer Gestalt als »Lehrer der Gerechtigkeit« zum Schlüssel gemacht wird, um auf eine bestimmte historische Persönlichkeit zurückzuschließen, entstehen Denkgebäude, die einen Deutungshintergrund an die Texte herantragen. Einen solchen Weg haben 1991 M. Baighent / R. Leigh mit ihrem Bestseller »Verschlußsache Jesus« beschritten, den sie auf die Thesen von R. Eisenman aufgebaut haben, daß der Herrenbruder Jakobus, der Gerechte, hier ins Spiel zu bringen sei. Allerdings ist diese Hypothese, die eine Datierung vieler Handschriften in das 1. Jh. uZ voraussetzt, inzwischen durch weitere C-14-Tests als unhaltbar widerlegt. Nicht von der Seriosität, jedoch vom Ansatz her vergleichbar sind auch Annahmen, die den » Lehrer der Gerechtigkeit« mit einer Persönlichkeit des 2. Jh. vuZ identifizieren. Dabei handelt es sich um die in der (deutschen) Literatur verbreitete Vorstellung, es handele sich um eine Bezeichnung für den bis 152 vuZ amtierenden Hochpriester, der damals durch den Makkabäer Jonathan aus seinem Amt verdrängt wurde. Bei dieser Hypothese ergibt sich kein Widerspruch aus der Datierung der Texte, die eine Konfliktsituation zum »Frevelpriester« artikulieren; jedoch sind diese erst ab den 70er Jahren des l. Jh. vuZ formuliert worden. Zudem scheint die Besiedelung in Qumran erst um die Wende vom 2. zum 1. Jh. vuZ intensiv erfolgt zu sein. So müßte für die seit der Verdrängung aus dem Tempelamt vorangehende Konfliktepoche er- 6 klärt werden, wie und wo die Gefolgschaft samt Lehrer existiert hätte. Antike Berichte über Essener 1 Jh. uZ Ausgrabungen in »Qumran« 1952ff l 947ff Textfunde in den Höhlen von »Qumran« Hier bieten Garcia Martinez und van der Woude mit der sog. Groningen-Hypothese einen Ausweg, der mehr Freiraum für Entwicklungslinien läßt. Sie schlagen vor, die Bezeichnung von Lehrer und Frevelpriester nicht auf nur eine Konfrontation zu beziehen. Die Tradenten der Texte hätten sie vielmehr wechselnd auf mehrere historische Situationen angewandt. Die Argumentation mit dem Exilsort zeigt auf jeden Fall, daß in die Gesamttheorie auch Vorstellungen über die Ruinen von Qumran einbezogen sind, die im näheren Umfeld zu den 11 Höhlen liegen. - Diese Siedlung erst jetzt in die Darstellung einzuführen, ist insofern angemessen, als auch ihre Ausgrabung erst ab 1952 (bis 1958) unternommen wurde, nachdem viele große Texte bereits publiziert waren. In der Folgezeit sind dann zusammen mit dem archäologischen Befund der Siedlung zahlreiche Elemente aus gefundenen Texten und aus antiken Nachrichten zu einem komplexen Argumentationsgeflecht verdichtet worden. Danach hätte eine mönchsartige Gemeinschaft, die von den antiken Autoren (mit dem nicht-eindeutig erklärbaren Namen) Essener oder Essäer genannt wird 15 , an diesem Ort gelebt und die in den Höhlen gefundenen Texte produziert. Eine solche Gesamtschau der Essener-These findet sich nicht nur in Touristen-Prospekten. »Die Qumran-Essener« hat J. Maier 1995-96 weiterhin die deutsche Textausgabe »Die Texte vom Toten Meer« betitelt. Die Identifikation mit den Essenern ist in den ZNT 2 (1998) letzten Jahren zunehmend und aus verschiedenen Richtungen in Frage gestellt worden. Mir scheint zwar, daß diese These noch immer Nützliches zur Erklärung leistet, doch sind auch zahlreiche kritische Punkte nicht von der Hand zu weisen. Vor allem wird zu recht kritisiert, daß die oben genannten drei Bereiche: antike Nachrichten, Textfunde und archäologischer Befund viel zu selbstverständlich miteinander identifiziert werden. Dabei werden Unsicherheiten in Maximaldeutungen leicht »übermalt« und nicht etwa markiert. 1996 hat F. Rohrhirsch das Schlußkapitel seiner methodologischen Arbeit treffend überschrieben: » Vieles wird >gewußt<, weniges begründet« 16 • Diesen Vorgang zeigt etwa der Ausstellungkatalog zur 50- J ahrfeier der Auffindung der Qumrantexte 1997. Dort wird bis in die Ortswahl hinein erklärt, daß gerade dieser Platz in der Wüste als Bezugspunkt zu verstehen sei, auf den sich das aus Jes 40,3 abgeleitete Rückzugsideal beziehe 17 • - In der ältesten Kopie der Gemeinderegel findet sich jedoch bereits eine Zitation von Jes 40,3 18 • Wenn die Datierung dieser Fassung durch J. T. Milik in die Mitte des 2. Jh. vuZ richtig sein sollte 19 , so läge sie zeitlich vor der entscheidenden Besiedelungsphase Qumrans. Dann sind diese Prophetenworte kaum allein auf diesen Ort beziehbar. Aus den antiken Berichten geht zudem kein einheitliches Bild hervor, zumal auch J osephus ausdrücklich von zwei Arten von Essenern berichtet: die einen leben ehelos, andere heiraten. Vor allem aber sind bei Philo und Josephus die Essener so vorgestellt, daß sie in einer Vielzahl von kleineren Gemeinschaften leben und nicht konzentriert an einem Ort. Nur in dem einen Kurzbericht, den Plinius der Ältere gibt, ist überhaupt von einer Örtlichkeit am Toten Meer die Rede. Dabei bleibt jedoch fraglich, wie die Details in der Zuordnung zur Stadt Engedi genau aufzulösen sind 20 • Vor allem mahnt zur Vorsicht, daß die jüngeren Berichterstattungen aus dem 1. Jh. uZ stammen und damit aus einem beträchtlichen zeitlichen Abstand zu den meisten Dokumenten geschrieben sind, deren Abfassung weitgehend bis in die Mitte des 1.Jh. vuZ abgeschlossen gewesen zu sein scheint. - Josephus nennt besonders drei Richtungen im Judentum und benutzt dafür das griechische Wort hairesis, was aufgrund der späteren Konflikte mit Häresien vielfach auch rückschauend zur unsachgemäßen Benennung »Sekte« für ZNT 2 (1998) die Jahrhunderte früheren Essener geführt hat. J osephus beabsichtigt jedoch einen Vergleich der prägenden Kräfte mit Philosophenschulen und nennt als unterschiedliche Konzepte die der Essener, Sadduzäer und Pharisäer. Doch müssen diese Benennungen keineswegs mit den mehr als 100 Jahre zuvor existierenden Gruppen ganz gleichbedeutend gewesen sein. Wichtig ist zudem, daß die antiken Berichte alle eine Außenperspektive darstellen. J osephus etwa rechnet sich selbst der Mehrheitsgruppe der Pharisäer zu. Stegemann hat bei einer detaillierten Verteidigung der Essener-These darauf hingewiesen, daß die Zahl von 4000 Mitgliedern der Essener erstaunlich hoch ist-verglichen mit 6000 Pharisäern. Auch von daher scheidet Qumran als ,der< Wohnort der Essener aus. Es muß sich vielmehr um eine breite Bewegung handeln, die durch ihre Organisationsform und Gemeinschaftsvorstellung charakterisiert ist, die gegenüber einer anderen Tempel-Theologie eigenes Profil zeigt. Insofern stimmen Angaben aus J osephus und aus Qumrantexten miteinander überein. Es wird in der Gemeinderegel ( = 1QS; publiziert 1951) nicht nur die Struktur einer Gruppe beschrieben, sondern auch deren inhaltliche Zielsetzung und Funktion in Analogie zum Tempel dargestellt nämlich: »für das Land zu sühnen ... und darzubringen einen angenehmen Opfergeruch, und ein Haus/ Tempel der Vollkommenheit und Wahrheit in Israel, um den Bund nach den ewigen Gesetzen aufzurichten. Und sie sollen wohlgefällig sein, zu sühnen für das Land ... « (lQS 8,6-11). Wenn etwas variierend Organisationsformen in verschiedenen Qumrantexten beschrieben werden, so ist trotzdem gemeinsam, daß Menschen in Gruppen von mindestens 10 Mitgliedern zusammenkommen. Die lokalen Zusammenkünfte lassen damit auch an pharisäische Genossenschaften und Synagogen-Vereine denken 21 . Die Frage, welche Bedeutung die Siedlung von Qumran gehabt hat, bleibt bei dieser Aufnahme der Essener-These noch unbefriedigend gelöst. Deshalb hat es durchaus Sinn, weiter darüber nachzudenken, welche Funktion sich aus dem archäologischen Befund ergibt. Dabei sind u. a. folgende Elemente zu erklären: 1. eine auffällig gut ausgebaute Wasserversorgung; 2. ein Raum mit besonderen Einrichtungsgegenständen (Tische oder 7 Bänke); 3. Tintenfässser; 4. ein Raum, mit einer großen Anzahl (> 700) gleichartiger Keramikschalen; 5. geschützt beerdigte Tierknochen; 6. Werkstätten (u. a. zum Töpfern); 7. Friedhofskomplexe mit über 1100 Gräbern, in denen außer wenigen Frauen - Männer bestattet sind. Auffälig ist dabei neben der Nord-Südrichtung der Bestattung die Altersstruktur: es handelt sich hauptsächlich um im Alter von 30-40 Jahren Verstorbene 22 • Als Deutung der Befunde werden z.Z. verschiedene Möglichkeiten vorgeschlagen auch solche, die keinerlei Verbindungen zu den Textfunden in den Höhlen sehen. 23 Während diese Positionen sich deutlich von der Essenerthese absetzen wollen, versuchen die nächsten beiden eine Deutung in Fortführung der vor allem auf den Ausgräber de Vaux zurückgehenden Interpretation der Siedlung 24 : - J.-B. Humbert hat vorgeschlagen, den Ort als Kultzentrum zu deuten, an dem Essener nach einer Separierung vom Tempel Opfer dargebracht und sich versammelt haben. - Von H. Stegemann wird die Ruine verstanden als »aufwendige Schriftrollenmanufaktur ... dafür gedacht, die zahlreichen essenischen Ortsgemeinden im ganzen Land mit den für Studium, religiöse Praxis und fromme Erbauung erforderlichen Handschriften zu versorgen« 25 • Die letztere These hat nicht nur den Vorteil, daß sie für den räumlichen Zusammenhang zwischen der Siedlung und den Handschriftenhöhlen eine Lösung anbietet, sie ist auch bemüht, die Menge der Mehrfachabschriften nachvollziehbar zu machen (etwa die 36 Psalmen- und 21 ]es-Handschriften). Allerdings bleibt eine entscheidende Frage künftig noch zu klären: Ist die vermutete Methode des Gerbens mit den Salzen des Toten Meeres tatsächlich so praktiziert worden? Auch wenn einzelne Elemente eine Deutung außerhalb der Lederproduktion finden sollten, bleibt doch als stärkstes Indiz für Schriftenherstellung am Ort der bisher analogielose Fund von vier (vielleicht sechs) Tintenfässern. Offenbleiben kann, ob eine neue Tonscherbe, die 1996 gefunden wurde und möglicherweise einen Bezug auf »die Einung« erkennen läßt, die ihm zugeschriebene Last als definitiver Beweis für die Zusammengehörigkeit von Texten und Ruine tragen kann 26 • Trotz dieser Einschränkung bleibt 8 die Verbindung zwischen Rollen und Ruine sowie die Identifikation der Trägerorganisationen mit den Essenern bei Philo und Josephus als wahrscheinlich vorauszusetzten. Festzuhalten bleibt, daß die jüngere Diskussion über die Sicht als einem mönchischen Studienzentrum hinausgeführt hat: Stegemann hat u.a. auf die wirtschaftliche Basis dieser Einrichtung und ihre Investitionskosten verwiesen. Das ist nicht unvereinbar mit der Lage an Handelswegen. Qumran mag durch die Besonderheiten der Region wie die Vorkommen von Salz, Asphalt/ Teer und Balsam-Produktion durchaus wirtschaftliche Bedeutsamkeit gehabt haben. Möglicherweise hängen damit Teile des >industriellen Komplexes< in der Siedlung zusammen. Aber auch zu Deutungen der Texte als Bibliothek des Tempels muß keineswegs eine unüberbrückbare Spannung gesehen werden. Neben der ganz markanten >Bibel-Orientierung< ist jedoch zu klären, welche Textelemente nicht in ein tempel-nahes Bild passen. 2.3 Teile älterer Tempelüberlieferung in Qumrantexten Eine Klassifizierung als >Bibel-Orientierung< ist so allgemein, daß sie auf den ersten Blick wenig zu helfen scheint. Gemeint sind damit Texte, die in verschiedenen Graden Bibeltext direkt oder indirekt verwenden. Die Unterscheidung ist zwar nicht immer eindeutig durchzuführen, doch sind Unterkategorien gut erkennbar-etwa Auszüge aus Bibeltexten, wie sie in Gebetsriemen (Tefillin) und Türpfosten (Mezuzot) sowie in Lektionen von Einzelabschnitten benutzt werden. Eine Anzahl von Handschriften sind Paraphrasen, die Bekanntes zusammenstellen und mit neuen Elementen kombinieren. Auf diese Weise wird z.B. in einer Rolle (4QRP = Reworked Pentateuch) als Einheit erstmalig all das greifbar, was aus einem >Fünfer-Gefäß< (penta-teuchos) zusammenwuchs und (später) als Fünferbuch im Sinne von ,die Tora< angesehen wurde. Außerdem finden sich einige griechische und aramäische Übersetzungen undbibel-ähnliche Erzählungen, die sich um biblische Gestalten ranken. Mit dieser Gruppe von Texten verwandt ist diejenige, die als Apokryphen und Pseudepigraphen bezeichnet werden 27 • Vor einer späteren Festlegung von Kanongrenzen ist die Zugehörigkeit zum biblischen Überlieferungsbereich jedoch unproblematisiert zu denken. ZNT 2 (1998) Im NT wird etwa im Judasbrief V. 14 die Weissagung der endzeitlichen Erscheinung Gottes und seines himmlischen Hofstaats als Prophetie Henochs zitiert (lHen 1,Sf.). Dieses Buch war über Jahrhunderte nur noch von der äthiopischen Kirche in ihrem AT überliefert worden, doch zeigt Qumran, daß der aramäische Text auf alte jüdische Überlieferung zurückgeht. Dieses ist ähnlich bei weiteren Texten dieser Gruppe der Fall, die z.T. nur in der LXX überliefert und aufgrund des hebraea veritas seinerzeit ausgeschieden wurden (etwa Tobit, Sirach, Ps 151). In eine Textkategorie mit deutlichem Bibel-Bezug sind auch Kommentare / Auslegungen aufzunehmen, auch wenn diese z.T. mit Deutungen versehen sind, die bereits mit dem Problem der Abgrenzung vom Tempel zusammenhängen. Deutlich ist auf jeden Fall, daß sie die Probleme im Medium der Bibel zu verarbeiten suchen. Eine solche Kategorienbildung will wenigstens mengenmäßig die Bibel-Orientierung vor Augen führen: Die Hälfte der Gesamtbibliothek besteht aus entsprechendem Material, bei dem ein Bibel- Bezug klar zu erkennen ist! - Eine zweite Kategorie gruppiert Texte, die einen >weniger deutlichen (bzw. indirekten) Bibel-Bezug, aufweisen. Diese weiteren Handschriften machen nochmals etwa 1/ 4 des Bestandes aus, so daß 3/ 4 aller Dokumente durch einen engeren oder weiteren Bibel-Bezug charakterisiert sind. Welche Untergruppen gehören zur zweiten Kategorie? Diskussions bedürftig bleiben die fünf gewählten Rubriken, obwohl sie versuchen, möglichst formal-ausweisbare Einteilungen vorzunehmen. Dieses ist bei liturgischen Texten noch relativ leicht (wobei Parallelen zu synagogalem Gut in den letzten Jahren zunehmend herausgearbeitet worden sind 28 ). Ähnlich sind kalendarische Ordnungen als Listen formal deutlich auszumachen (und auch hier bestehen zu synagogalen Inschriften der Priesterordnungen Verbindungen 29 ). Schwieriger wird es schon in all den Texten, die eine Orientierung erkennen lassen, die unscharf als >endzeitlich, benannt werden kann. Sie beinhalten damit eine Komponente, die in Wechselbeziehung zum Selbstverständnis der Träger zu stehen scheint. Denn diese verstehen ihre eigene Zeit als »die letzten Tage« oder zumindest als deren absehbaren Anfang und Orientierungsrahmen. Eschatologische Weisheitstexte ist eine Sammelüberschrift für Material, das z. T. gar nicht fern von den Apo- ZNT 2 (1998) Oumran die fundierte Einführung James.C. VanderKam Einführung in die Qumranforschung [ljffl Vandenhoeck BIii &Ruprecht James C. VanderKam Einführung in die Qumranforschung Geschichte und Bedeutung der Schriften vom Toten Meer. Übersetzt von Markus Müller. UTB 1998. 1998. 232 Seiten mit 4 Abbildungen, kart. DM 39,80 / öS 291,- / SFr 37,- ISBN 3-8252-1998-4 Die Schriftrollen vom Toten Meer sind auch gut 50 Jahre nach ihrer Entdeckung geheimnisumwittert. Ob zu Recht oder Unrecht darüber kann man sich mit dem Buch von James C. VanderKam ein eigenes Urteil bilden. Diese verständlich geschriebene und fundierte Einführung stellt beispielhafte Texte vor, ordnet sie in die Geschichte der frühjüdischen Literatur und Theologie ein und demonstriert so ihre tatsächliche Bedeutung für das Verständnis des Alten und Neuen Testaments. Die Schriftrollen öffnen ein Fenster zu der lebendigen und stets um ihre Identität ringende Vielfalt des Judentums vom 2. Jh. v. Chr. bis zur Zeitenwende. Sie erlauben einen Blick in die Überlieferungs- und Textgeschichte des Alten Testaments und geben Einblick in die geistige und religiöse jüdische Welt der damaligen Zeit. Weitere Informationen: Vandenhoeck 8 Ruprecht, Theologie, 37070 Göttingen V&R Vandenhoeck &Ruprecht 9 kryphen und Pseudepigraphen bzw. liturgischen Texten steht. Ein endzeitlicher Tenor findet sich auch in den Ordnungen / Regeln, wenn dort Einung mit den »himmlischen Gotteskindern« vorweggenommen und entsprechende Vorkehrungen für Heiligung und Reinheit getroffen werden. Schließlich stellt eine fünfte Gruppe vor ein Benennungsproblem, weil sie sowohl Ordnungen als auch eschatologische Perspektiven mehr in einem grundsätzlich wirkenden Rahmen zu regeln versucht. Die Texte sind deshalb als (Eschatologische) Lehr(? / )-Grundlagen-Texte zusammengefaßt. Als ein dritter Komplex sind schließlich Texte zu nennen, die >keinen deutlichen Bibel-Bezug< enthalten. Darunter fallen sowohl einige astronomisch-astrologische Texte und das berühmte Schatzverzeichnis der Kupferrolle sowie weitere dokumentarische Texte. Sie machen jedoch zusammen nur etwa 20 Handschriften aus. (Ca. 200 Handschriften bleiben unerfaßt, weil sie aus nicht identifizierbarem Text bestehen). 3. Besonderheiten der Überlieferungen in Qumrantexten Das Interesse der oben gegebenen Kategorien richtet sich darauf, nicht zu schnell eine Trennung durchzuführen, die das Bibliotheksmaterial einfach der ,Sekte von Qumran< zuschriebe und von >dem< normativen Judentum abtrennt. Für die überwältigende Menge von Handschriften läßt sich eine Trennung (zumal mangels Vergleichsmaterial für das 2./ 1. Jh. vuZ) nicht begründen. - Es sind jedoch vor allem in den Kommentaren/ Auslegungen, (eschatologischen) Lehr(? / )-Grundlagen-Texten sowie in Ordnungen/ Regeln Elemente erkennbar, die das besondere Profil der Träger zum Ausdruck bringen, wie es ähnlich in den jüngeren antiken Beschreibungen über die Eigenart von Essenern berichtet wird. Dabei handelt es sich jedoch nur um ca. 80 der Handschriften, also ungefähr um 1/ 10 der Bibliothek. Diese Vergleichsebene ist wegen der Zählung von Handschriften in Mehrfachkopien problematisch. Von Interesse wären Zahlen für verschiedene literarische Werke. Doch auch diese Ebene muß äußerst umstritten bleiben. » Höchstens etwa 40 Werke aus den Qumran-Funden sind von den Essenern selbst verfaßt worden« 30 , gibt z.B. H. 10 Stegemann an. In dem Projekt von D. Dimant, in Texte zu scheiden, die »Community-Terminology« (CT), und diejenigen, die nicht solchen Sprachgebrauch (NCT) enthalten, kommt es zu anderen Zahlen. Sie gelangt zu einem Verhältnis von ungefähr 115 mit CT gegenüber 70 NCT-Werken, wobei die biblischen Texte im engeren Sinne nicht mitgezählt werden 31 . Über zahlreiche Zuweisungen ist zu diskutieren. Wieweit sind Gebete und kalendarische Texte als Besonderheiten einer Gemeinschaft formal und inhaltlich erkennbar? Was könnte über die antiken Berichte hinaus als essenisches Kennzeichen gelten? Einen Ansatzpunkt zu finden, der nicht im Zirkel argumentiert, scheint kaum möglich zu sein. Eine Unschärfe beim Zählen von Handschriften-Mengen ist deshalb z. Z. einer Übergenauigkeit vorzuziehen - und ist von einem weiteren Aspekt her zu erklären. 3.1 Das Wachstum von Ordnungen und Regeln in Qumrantexten Texte, die in Frage kommen, um sie für die organisatorischen Besonderheiten der Träger auszuwerten, sind inzwischen auch in Parallelversionen zugänglich. Allerdings ist dadurch nicht nur die Bezeugung besser geworden, sondern z. T. nötigen diese neuen Texte auch dazu, ein komplexeres Bild zu entwerfen, wie sich Ideale und Organisationsformen sowie entsprechende Texte entwickelt haben. Charakteristisch bleibt zwar die Abkehr von Lebensformen, die nicht als dem Bund Gottes entsprechend gewertet werden. Statt dessen wird ein Weg der besonderen, freiwilligen Unterwerfung unter eine gemeinschaftliche Disziplin und deren Art der Frömmigkeitsübungen und Hierarchie beschritten32. Nicht mehr so deutlich erkennbar sind jedoch Elemente, mit denen moderne Autorinnen argumentiert haben: die priesterliche Orientierung und der Hintergrund einer Opposition gegen einen zur Macht gekommenen nicht-zadokidischen Hochpriester 33 . Aus den jetzt verfügbaren literarisch älteren Fassungen der Gemeinderegel zeigt sich im Vergleich zu der jüngeren Version in lQS 5,2.9 eine deutliche Differenz. Erst im späteren Stadium werden besondere Leitungsfunktionen Priesternzugeschrieben, die als »Söhne Zadoks« und als hervorgehobene »Bewahrer des Bundes« benannt sind. Erkennbar sind dabei jedoch wie auch in keinem ZNT 2 (1998) anderen Qumrantext keinerlei Ansprüche durch herkunftsmäßige Rechte, wie sie für den Trennungskonflikt z.T. vorausgesetzt wurden. Vielmehr handelt es sich eher um einen interpretierenden Rückgriff auf Ez 44,15, wie er auch an anderer Stelle in Qumranschriften bezeugt ist. Er wird für diejenigen zu einer Symboltitulatur gewählt, die den Dienst treu versehen, »als die Söhne Israels von mir abirrten« 34 . Ebenso verfestigt sich erst in einem längeren Prozeß der Sprachgebrauch vom Vorgang des Sich-Einens zur Benennung als Einung. Deren Mitglieder werden in der jüngeren Fassung in Aufnahme von Jes 56,4.6 als »Festhaltende am Bund« den zuvorgenannten Bewahrern zugeordnet. Gemeinsame Funktion bleibt es, sich von den »Männern des Unrechts« zu unterscheiden. Interessanterweise ist in der ältesten Fassung 4QSe (=4Q259) noch nicht (wie im durch einen Hilfskonsonanten erweiterten Text 1QS 9,14) von »Söhnen (des! ) Zadok«, sondern von »Söhnen der Gerechtigkeit« in einem symbolischen Sinn die Rede 35 . Für sie gilt es, einerseits den »Rat der Tora zu verbergen inmitten der Männer des Unrechts«, aber andererseits »zurechtzuweisen mit Wissen, Wahrheit und gerechtem Urteil«. Bereits in den älteren Fassungen geht es ausdrücklich um eine deutlich erkennbare Übergangszeit, für die sich die Mitglieder zusammengeschlossen haben (4QSd 2 iii 3ff. / / 1Q 9,19ff.): » ... daß jeder vollkommen umgehe mit (4) seinem Nächsten in allem, was ihnen offenbar ist. - Das ist die Zeit der Wegbereitung zur Wüste! - Und um sie zu lehren all das, was sich ergibt zum Praktizieren [leer! ] in dieser (5) Zeit, und um sich abzusondern von jedermann, der nicht seinen Wandel von jeglichem Unrecht ferngehalten hat. [leer]« 36 • Mit einem solchen Ausblick schließen die »Bestimmungen für den Weg des Maskil (Unterweiser)«. Diese Personengruppe übernimmt Gemeinschaftsverantwortung für das Lehren bzw. Verständigmachen. Von den Ps 1 artikulierten zwei Möglichkeiten, im Rat der Gerechten oder Frevler zu sitzen, unterscheidet sich 1QS in zwei Nuancen. Es geht um die Zeitperspektive für das Ende der Wüstenzeit und um aktives Bemühen um Belehrung. Beide Elemente sind jedoch nicht Erfindungen der Gemeinderegel. Vorgeprägt ist der Typos der Wü- ZNT 2 (1998) stenzeit als befristete Bewährungszeit ebenso wie das aus Jes 40,3 übernommene Bild der Wegbereitung. In den späteren Teilen des Jesajabuches (57,14; 62,10) sowie in Mal 3,1.16.23 hat es eme weitere endzeitliche Auslegung erfahren: »Siehe, ich sende meinen Boten, daß er mir den Weg bereite, und plötzlich kommt dann in seinen Tempel der Herr, nach dem ihr euch sehnt und der Engel seines Bundes ... (16) Also redeten die Gottesfürchtigen untereinander ... Und ein Gedenkbuch wurde von ihm geschrieben für jene, die den Herrn fürchten ... (23) Siehe, ich sende euch den Propheten Elija, ehe mein Tag kommt ... «. In denjenigen Texten, die die essenischen Organisationsformen beschreiben, spielt das Aufschreiben der Eintrittwilligen eine ganz wichtige Rolle. Ebenso ist die Gewißheit ausgedrückt, daß es Sinn hat, sich zusammenzuschließen, um an den Prinzipien des Bundes festzuhalten und andere auf dem Weg zu unterweisen. - Und auch in diesem Bestreben folgt man dem Vorbild, das in Dan 11,32ff. von der Bedrängnis durch den fremden Frevelkönig Antiochus IV. handelt: »Jene, die geneigt sind, am Bunde zu freveln, bringt er durch Schmeicheleien zum Abfall, doch die Schar derer, die ihren Gott erkennen, wird stark und handelt. Die Einsichtigen (Maskilim) des Volkes bringen viele zur Besinnung ... Aber auch von den Einsichtigen kommen einige zu Fall; indessen sollen sie so geläutert, gesichtet und gereinigt werden ... « Stärker als die Bedrängnis ist in jedem Fall die Hoffnung, denn sie kann sich ähnlich wie in Mal auf die Hilfe der himmlischen Mächte stützen, wie es in dem berühmten Auferstehungstext Dan 12, 1- 3 für die Endzeit angesagt ist: »In jener Zeit erhebt sich Michael, ... der einsteht für die Söhne seines Volkes; es ist eine Zeit der Bedrängnis ... ; zu jener Zeit wird dein Volk gerettet, alle, die sich im Buche verzeichnet finden. Viele von denen, die in der Erde schlafen, werden aufwachen ... Da werden die Einsichtigen (Maskzlim) leuchten, ... und die, welche viele zur Gerechtigkeit geführt, wie die Sterne in alle Ewigkeit.« Eine solche Praxis der Belehrung bildet anscheinend auch den Hintergrund von 1QS (aus der Zeit um 100 vuZ). Dabei lassen die älteren Fassungen noch deutlicher erkennen, daß es sich um Ordnungen handelt, die einem einsichtig-machenden 11 Maskil als Handlungsanleitung dienen. Wieweit diese Funktion als exklusive Laien-, Leviten- oder Priesteraufgabe zu sehen ist, darüber gehen die Meinungen auseinander 37 • Die Differenzen spiegeln den Befund, daß es in den Texten im Blick auf Gemeindefunktionen von verschiedenen Aufsehern ebenfalls Unterschiede gibt. Im Damaskus Dokument (=CD) etwa wird, nachdem zuvor in 12,21 allgemein von der Maskil-Funktion die Rede war, folgende lokale Situation in 13,2f. für denkbar gehalten: »Und an einem Ort von zehn soll nicht fehlen ein priesterlicher Mann, beschlagen im Buch HHGW/ J, nach seiner Weisung richten sie sich alle. [leer] Und ist er nicht erfahren in all diesen Dingen und einer von den Leviten ist erfahren in ihnen, dann ergehe die (Los-)Entscheidung für Ein- und Ausgang auf sein Geheiß hinsichtlich aller Mitglieder des Lagers.«38 Die Funktion für die Gemeinschaft wird als das Wichtigere und erst nachgeordnet die Herkunft angesehen. Nur dann ist die jährliche Auf- und Abstiegsmöglichkeit innerhalb der Gemeindehierarchie sinnvoll, die an Verständnisfähigkeit und Verhalten zur Tora orientiert ist. 3.2 Die Abgrenzung vom Tempel und die hasmonäischen Priesterkönige Lokale Ortsgemeinden sind parallel zum Zweiten Tempel bereits in den Chronikbüchern vorausgesetzt. Dort wirken zur Belehrung in der Tora Priester und Leviten in Städten (2Chr 17,7ff.), dezentral werden Richter und Schreiber eingesetzt (19,5.11). Speziell Leviten werden hoch gewertet und als Anleiter und Aufseher geschildert (2Chr 34,13). Nach 2Chr 30,22 lobt König Hiskija diese als M askilim. Das Bild, das Chr vermittelt, will diese untere Schicht von Funktionären des Tempelstaates auf der lokalen Ebene als wichtiges Bindeglied herausstellen: für die Ausprägung gemeinsamer Tora-Beobachtung, Abgaben, hymnische Einstimmung auf und Feier gemeinsamer Wallfahrtsfeste am Heiligtum. Ihre loyale Stellung zum König - und umgekehrt wird nicht nur im Interesse rückschauender Verherrlichung herausgestellt. Die Endfassung von Chr in der Mitte des 2.Jh. vuZ scheint vielmehr neuer Konzeptbildung verpflichtet. 12 Mit dem Ende der Fremdherrschaft und dem Beginn einer Unabhängigkeit des judäischen Tempelstaates unter Leitung der Hochpriester scheinen sich endzeitliche Erwartungen verbunden zu haben. Möglicherweise hat diese Entwicklung zumindest vorübergehend die verschiedenen Gruppen aus der Zeit des makkabäischen Aufstands geeint. 142 vuZ wird schließlich Simon »für immer als Fürst und Hoherpriester« von einer Volksversammlung einhellig gewählt. - So zumindest sieht es lMakk 14. Der Zielpunkt dieser Schrift liegt jedoch in einer Tendenzdarstellung, die auf den Nachfolger Johannes Hyrkan I. (134-104) hinausläuft, der später von J osephus sogar als mit drei Ämtern begnadet gerühmt wird: als Prophet, König und Hochpriester 39 . Die Umbruchsituation der damit einsetzenden Entwicklung kann nicht stark genug herausgestellt werden. Aus diesem Anfang ergibt sich die Dynastie von Hochpriestern (von Josephus als Hasmonäer benannt), die an das Ideal staatlicher Selbständigkeit der David-Salomo-Zeit anknüpfen. Sie verstehen sich zunehmend als Herrscher und Feldherren, um das Territorium entsprechend auszudehnen. Die Annahme des Königtitels (spätestens für Aristobul I. 104/ 103 vuZ durch Münzen dokumentiert) entspricht der Logik dieser Sicht. Damit existiert nach ca. 500 Jahren wieder ein selbständiges Königtum in Jerusalem - und zugleich ein Streitpunkt, ob die Ämter des Hochpriesters und Königs in einer Person vereinigt sein sollten. Dieser Konflikt weitet sich vor allem unter Alexander Jannäus (103-76 vuZ) zu einem Bürgerkrieg aus. Auch unter den Qumrantexten finden sich Texte, die mit dem hasmonäischen Aufstieg in Zusammenhang stehen könnten. Ein einzelner Text wird sogar als »Lobrede auf König Jonathan« (4Q448) gedeutet, also auf den oben mit gräzisiertem Namen angeführten Jannäus 40 . Diese Sicht ist jedoch keinesfalls sicher. In 4QTestimonia dagegen ist das Nebeneinander von prophetischem, priesterlichem und herrscherlichem Amt Inhalt. Hier scheint der Akzent auf Trennung der Ämter zu liegen und damit auf inhaltlicher Opposition gegen Ansprüche der Hasmonäer. Besonders schwierig bleibt ein weiteres Dokument einzuordnen, das eine Aufstellung von Verhaltensweisen als allein Tora-gerecht herausstellt (4QMMT): eine Wir-Gruppe hat ein Schreiben an eine Ihr-Gruppe und an eine herausgehobene Per- ZNT 2 (1998) son adressiert, die mit »Du und Dein Volk Israel« angeredet wird. Bei letzterer muß es sich um eine autoritative Funktion handeln. - In der Deutung dieses Textes herrscht Einigkeit darüber, daß nur einer der Hasmonäerfürsten Adressat sein kann. Doch sowohl hinsichtlich der Wir- und Ihr-Gruppen als auch für die Frage, welcher der Hasmonäer als Empfänger zu denken ist, gehen die Vorschläge bisher weit auseinander von Jonathan (ab 152 vuZ) bis zu Jannäus (103-76). Bei den Gruppen- Konstellationen stehen die drei bekannten Größen zur Diskussion: Pharisäer, Sadduzäer und Essener41. Zeitlich an die spätere Hasmonäer-Zeit zu denken, in der die Hochpriester bereits Könige sind, legt sich vor allem deshalb nahe, weil auf die Vorbilder der Könige verwiesen wird. Ihr Ergehen wird in einer Weise vor Augen gestellt, die nur einleuchtet, wenn der Angesprochene sich in dieser Linie sieht. Vor allem ist es der Vergleich mit David, der als Voraussetzung hat, daß der Adressat diesem Ideal entsprechen könnte. Trotz dieser positiven Möglichkeit handelt es sich jedoch um eine Alternative, die dem Gegenüber in der Zitatenkombination von Dtn 30, 1-6 und Dtn 4,30 nur eine Wahl läßt: endzeitlicher Segen oder Fluch. Die sechs Abschriften aus herodianischer Zeit zeigen, daß lange ein großes Interesse daran bestanden hat. Dabei ist möglicherweise für Tradenten nicht mehr entscheidend, wer den Brief abgesandt hat und wer genau der Empfänger war. Aus der Rückschau bleibt das Faktum wichtig: der Angesprochene hat trotz ausdrücklicher Vermahnung keine Umkehr vollzogen. Damit bietet sich eine Lösung für die Spannung, in der sich Tradenten befinden, die sich vom Hochpriester, seiner Amtsführung und damit in wesentlichen Teilen vom Tempel getrennt haben, und die zugleich an Schriftgehorsam als Norm festhalten. Für den Fluch über Nicht-Umkehrwillige, der beim Bundesritual (lQS 2) entsprechend Dtn 29,18f. gesprochen wird, bietet 4QMMT eine aus der Schrift begründete Rechtfertigung im Blick auf die Tempelrepräsentanten. J osephus berichtet, nach Simon hätten die hasmonäischen Herrscher in Koalitionen mit Pharisäern und Sadduzäern mehrfach die Frontengewechselt. Über deren Machtpolitik sei es schließlich zu einer Bürgerkriegssituation unter Jannäus mit Tausenden von Toten sowie brutalen Massen- ZNT 2 (1998) hinrichtungen gekommen. Dieser tiefe Einschnitt zeigt, daß es in nach-makkabäischer Zeit keineswegs eine problemlose Anknüpfung an das Ideal der David-Salomo-Zeit gegeben hat, bei der der eine Tempel in Jerusalem die Identität des Volkes garantiert hätte. So will es zwar hasmonäische Tempelpropaganda, wenn sie mit 2Makk in der ägyptischen Diaspora für das neue Chanukka-Fest wirbt. Die Konkurrenz des Onias-Heiligtums in Ägypten (vgl. obenJes 19,18) zeigt jedoch die anhaltende Konfliktsituation, die auch im Lande bis ins 1.Jh. vuZ weiterwirkt und sich noch extrem verschärft hat 42 . 3.3 Endzeiterwartungen und kalendarische Konflikte Durch die grob skizzierten Auseinandersetzungen werden endzeitliche Erwartungen weiter konturiert. Zahlreiche Texte zeigen den Weg an, der für die Trägergruppen von Qumran prägend gewesen sein muß. Sie knüpfen an ältere Bilder an, wie eine solche Zeit der Bedrängnis durch Schriftforschung und Unterweisung der Bundes-Treuen zu überstehen ist. Wie die Maskzlim in Dan so bilden Unterweiser den Kern der eigenständigen Versammlungen, in denen zum Ausharren anhand der Schrift angeleitet wird. Ihren Ausgangspunkt hat die neue Bewegung zwar in einer zeitweisen Überbrückung der Naherwartung und von einer >inneren Emigration< aus genommen. Sie wandelt sich im Laufe der Zeit jedoch unter Relektüre biblischer Tempelkritik und Prophetentexte. Die organisatorische Abtrennung bildet die Entsprechung zu einer Theologie, die einen »Tempel aus Menschen« als Brücke zwischen Gegenwart und Zukunft sieht 43 . Biblische Texte bilden in dieser Zeit Instrumente der Auseinandersetzung. Sie können entweder so akzentuiert werden, daß sie real erfahrbare positive Erfüllung von Verheißung hervorheben (so lMakk 14,4.8 der Rückgriff auf Mi 4,4) oder aber deren noch ausstehendes Potential. Die Bibliotheksmaterialien sind mehrheitlich dem letzteren Weg verpflichtet4 4, wie etwa die Seligpreisungen in 4Q525 45 . Ähnlich knüpfen die Texte wie 4Q521, die endzeitliche Veränderung der Verhältnisse artikulieren, an solche Bilder an, die mit Ps 146,7f. den jetzt Schwachen Hoffnung zusprechen. Von einer mehr assoziativen Weise endzeitlichmessianischer Zitatenkombination in den themati- 13 sehen Pesher-Auslegungen aus der Spätphase des 2.Jh. scheint der Weg zu einer Gattung der fortlaufenden Pesher-Auslegungen im 1. Jh. vuZ geführt zu haben. Prophetentexte (und Psalmen) werden systematisch auf die Endzeit bezogen, in deren Rahmen die Ausleger sich und ihre Konflikte mit den Herrschenden zu begreifen suchen. Gerade diese Texte sind es, die den unüberbrückbaren Gegensatz zu Frevelpriester und anderen Gestalten im Machtpoker verschlüsselt benennen. Der archäologische Befund, daß die Hauptbesiedelungsphase Qumrans um 100 vuZ anhebt, fällt zeitlich mit diesem deutlicheren Gegensatz zu Tempelrepräsentanten zusammen. Wie stellt sich aber der Riß der Bürgerkriegszeit für lokale Gemeinden dar, die durch Schreiber, Richter und Amtleute mit dem Tempel verbunden waren? Deren Vorprägung anhand der Schrifttradition stellt notwendig vor die Alternative, eigene Wege der Ausbildung zu gehen, um einer ideologischen Vereinnahmung zu entgehen. - Versucht man die Siedlung Qumran auf diesem Hintergrund als tempel-unabhängigen Ausbildungsort für Gemeindefunktionäre zu verstehen, so ergeben sich m. E. die besten Erklärungsmöglichkeiten für alle Befunde. Die große Menge an älterer Tempelüberlieferung wie auch der bereits zuvor praktizierte innere Zusammenschluß bildet die Voraussetzung. Durch zeitweilige Ausbildungsaufenthalte mit wechselnden Besetzungen aus unterschiedlichen lokalen Traditionen werden die Vielfalt von Texten und Schreiberhänden verständlich. Vor allem wäre auch die Altersstruktur der Verstorbenen mit ihrem Schwerpunkt von 30-40jährigen Männern gut zu erklären ebenso wie die ausgeprägten rituellen Tauchbäder, die zur Einübung in konkreten Umgang mit Heiligem wie Schriften und Zehntabgaben hinzugehören. Neben allem Sich-Neu-Organisieren der Essener, kommt vor allem Anknüpfung an Tempelüberlieferungen des 2. Jh. vuZ zum Ausdruck. Wie oben dargestellt bietet besonders Dan bereits Anknüpfungspunkte, wie ein in Schriften und Weisheit ausgebildeter junger Mann zu einem unterwiesenen Unterweiser wird (vgl. Dan 9,22 haskil): er lernt, wie die Bedrängniszeit aus J er 25, 11 als Dauer von 7x70 Jahren zu verstehen ist. Deren Zielpunkt wäre etwa um die Wende vom 2. zum 1.Jh. vuZ zu erwarten gewesen. Darauf werden auch spätere Maskzlim nach Dan hingewiesen ha- 14 ben, denn in zahlreichen Texten wird dieses Muster der 490 Jahre angewendet 46 . Z. T. tritt neben diese Angaben die Umrechnung in Jobelperioden bzw. in Sabbatjahre, die die Anknüpfung an Texte über die Fluchzeit und Sabbatruhe wie Lev 26,33-35.43 erlaubt. Je differenzierter die Versuche werden, Einsicht in die Zeitläufe mittels der Schrift zu gewinnen, desto mehr stellt sich die Frage, welche Gesamtperspektive von Weltzeit und Gottesherrschaft sowie welche zeitlich-kalendarische Basis zugrunde gelegt wird. Und gerade in dieser Frage sind offenbar die Wege zwischen Hasmonäern und ihren Opponenten auseinandergegangen. Nach einer unklaren nach-exilischen Entwicklung, wie Monate und Feste genauer mit astronomischen Sachverhalten in Verbindung zu sehen sind, und vor allem nach einem Eingriff in den Festkalender (Dan 7,25) am Anfang des Jh., hat Regelungsbedarf bestanden. - Die in 1Makk 14,27.43 erwähnte Zählung der Jahre Simons hat nicht nur Implikationen für den bürgerlichen Kalender, sondern legt auch nahe, daß Feste und Abgaben entsprechend terminiert wurden. Die Kalenderlisten aus Qumran, die Feste konkreten Terminen in einer Jahresstruktur mit 364 Tagen zuordnen, lassen erkennen, daß hier ein System vorausgesetzt wird, das auf dem wöchentlichen Wechsel der 24 Priesterordnungen aus 1 Chr 24 basiert 47 . Diese Ordnungen sind zwar nicht allein auf Qumran beschränkt, sondern werden auch in zahlreichen synagogalen Inschriften vorausgesetzt. Insofern steht zu vermuten, daß es sich um eine gemeinsame Wurzel des Zweiten Tempels handelt. Doch der Vergleich mit dem später normativen rabbinischen Festtagszyklus zeigt vor allem eine entscheidende Differenz. Dort sind die Festtage auf Mondmonate bezogen, die nicht zur Siebenerstruktur kompatibel sind. - Es muß also auch hier eine Auseinanderentwicklung stattgefunden haben; und dafür kommt am ehesten die hasmonäische Epoche in Frage. Äußerst umstritten bleibt z.Z., wie die Entwicklung verlaufen sein könnte. Sind die Essener in dieser Sache als Neuerer zugunsten eines nichtpraktikablen Ideals oder als Wahrer einer älteren Tradition einzuschätzen? Mir scheint das letztere der Fall zu sein, wobei mit regional abweichenden Traditionen im neuen hasmonäischen Herrschaftsbereich zu rechnen ist. Ein Beispiel bietet das auf ZNT 2 (1998) mesopotamisch-astronomisches Denken verweisende ,Meßgerät, aus Qumran 48 • Für jüdische Gesprächspartnerlnnen sehen die Voraussetzungen jedoch z.T. ganz anders aus, wobei es beiden Seiten an definitiven Belegen fehlt. Auf jeden Fall ist die Konsequenz einleuchtend, die S. Talmon herausgestellt hat: bei konkurrierenden Festzeiten kann es religiöse Gemeinschaft auf Dauer nicht geben 49 . Daß es trotzdem verschiedene Orientierungen etwa des Pesach-Festes auch noch im 1. Jh. uZ gegeben hat, ist einerseits auf der jüdischen Seite erkennbar. Erst Hillel I. findet eine Lösung für das Problem der Pesach-Schlachtung am Sabbat. Andererseits zeigt der spätere Osterstreit unter Christen, daß über Jahrhunderte verschiedene Termine möglich waren. Erklärbar werden diese Situationen (und das Schweigen biblischer Texte über genauere Datierungsgrundlagen), wenn eine Konkurrenz verschiedener Kalender in dieser Phase um die Zeitenwende berücksichtigt wird. 50 Ähnlich ist das Wochenfest wie in Qumran von einem Teil der Christen als wichtiges Grunddatum weitergedeutet worden, während im rabbinischen Judentum dieses Fest wohl aus Abgrenzungsgründen eher klein geschrieben wurde, wenn ihm im Unterschied zu Pesach und Laubhütten kein eigener Mischna-Traktat gewidmet ist. Auch wenn diese Beispiele nur andeuten können, wie Traditionslinien und Gruppen sich getrennt haben, so ist doch immerhin durch die ZNT 2 (1998) Qumrantexte deutlich, daß sich jüdische Vielfalt im politischen und religiösen Kontext entwickelt hat. Ähnliches wie für den Kalender wird erkennbar an der Vielfalt biblischer Texte und ihrer endzeitlichen Auslegung auf die eigene Gegenwart sowie am Bestreben, tempel-unabhängige Gemeinschaftsformen zu finden. Damit werden durch Quellen Aspekte erhellt, die den Hintergrund der jüdisch-christlichen Trennungsgeschichte entscheidend mitgeprägt haben. Daß sie künftig mehr in biblischen Wissenschaften herangezogen werden, ist sehr zu wünschen. Anmerkungen 1 Ausführlich A. Lange / H. Lichtenberger, Qumran, TRE 28 (1997) 45-79 mit Literatur, weitere Titel bei F. Garcfa Martinez / D. W. Parry, A Bibliography of thc Finds in the Desert of Judah 1970-1995. Arranged by Author with Subject and Citation Indexes, (StTDJ 19) Leiden/ New York/ Köln 1996. (Im folgenden wird bei der Serie StTDJ auf die Wiederholung der Orte verzichtet). Wöchentlich aktualisierte Daten und Aktuelles bietet die WEB-Seite des Orion-Institute, Jerusalem (http: / / orion.mscc.huji.ac.il). 2 W. Harenberg, Gab es Christen vor Jesus, Spiegel 2 (5.1.1995) 126-135: 132. 3 Hilfsmittel: E. Tov (with S.J. Pfann): The Dead Sea Scrolls on Microfiche. A Comprehensive Facsimile Edition of the Texts from the Judaean Desert. Edited by E. T. / S.J. P.: With a Printed Catalogue by Stephen A. Reed: Published under the Auspieces of the Israel Antiquities Authority, Leiden 1993 (2.Auflage des Companion Volumes: 1995). Deutsche Übersetzungen: J. Maier, Die Texte vom Toten Meer. Ed. I-III (UTE 1862. 1863.1916).- München 1995f und in einer preiswerten Ausgabe: M. Wise / M. Abegg / E. Cook, Die Schriftrollen von Qumran. Übersetzung und Kommentar. Mit bisher unveröffentlichten Texten, Augsburg 1997. Bibeltexte sind weitgehend in der offiziellen Publikationsreihe (DJD = Discoveries in the Judcan Desert) veröffentlicht, etwa die Jesaja-Texte aus 4Q in DJD XV (1997) 7-143 in der Bearbeitung durch P. W. Skehan (t) und E. Ulrichhier englisch: 4Qisa" bis 4Qisa'. 4 A. Schick, Faszination Qumran. Wissenschaftskrimi, Forscherstreit und wahre Bedeutung der Schriftrollen vom Toten Meer, Berneck 1998, lOf. 5 Die nachgetragenen Worte (Kästchen B) sind durch ein Versehen ausgelassen und fehlen auch in LXX sowie 1 Petr 1,24. 6 E. Ulrich, Pluriformity in the Biblical Text, Text Groups, and Questions of Canon.in: J. Trebolle Barrera / L. Vegas Montaner (hgg): The Madrid Qumran 15 Congress, (StTDJ XI) 1992, 23-41; ders., Multiple Literary Editions: Reflections toward a Theory of the History of the Biblical Text.in: D.W. Parry / S.D. Ricks (hgg): Current research and technological developments, (StTDJ 20) 1996, 78-105. H. Stegemann, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus (Herder Spektrum 4126), Freiburg 4 1994, 125. Vgl. W. Zwickel, Dagons abgeschlagener Kopf (! Samuel V 3-4), VT 44 (1994) 239-249: 249, der ohne Rücksicht auf LXX und 4QSama vorschlägt, die diskutierte Passage »einer redaktionellen Bearbeitung in der zweiten Hälfte des 2. Jh.s v. Chr. zuzuschreiben«. Vgl. K. Koch, Sabbatstruktur der Geschichte. Die sogenannte Zehn-Wochen-Apokalypse (IHen 93,1-10 91,11-17) und das Ringen um die alttestamentlichen Chronologien im späten lsraelitentum, in: ders., Vor der Wende der Zeiten. Beiträge zur apokalyptischen Literatur(= ZAW 95 (1983) 403-430), 1996, 45-76, 67f. sowie U. Gleßmer, Explizite Aussagen über kalendarische Konflikte im Jubiläenbuch: Jub 6,22- 32.33-38, in: M. Albani / J. Frey / A. Lange (hgg.), Studien zum Jubiläenbuch, (TSAJ 65) Tübingen 1997, 127-164. 10 A. v.d. Kooij, Die alten Textzeugen des Jesajabuches, Fribourg 1981, 52ff. 11 Vgl. P. Flint, The Dead Sea Psalms Scrolls and the Book of Psalms, (StTDJ 17) 1997, 239. 12 H. Donner, Der verläßliche Prophet : Betrachtungen zu I Makk 14,4 lff und zu Ps 110, in: ders., Aufsätze zum Alten Testament aus vier Jahrzehnten, (BZAW 224) Berlin / New York 1994, 213-223. 13 Fragmente eines als llQMelchizedek (=11Q13; siehe Maier, Qumran-Essener, l.361ff) benannten Textes enthalten keinen Text von Ps 110, zeigen jedoch Interesse an diesem Symbolnamen vielleicht »Mein König ist Gerechtigkeit«; in Gen 14,18-20 begegnet Melchizedek als König von Salem und Priester des höchsten Gottes. Ihm liefert Abraham den Zehnten ab. Dieses Vorbild zu nutzen, muß auch für die Priesterkönige in hasmonäischer Zeit im 2. Jh. vuZ von großem Interesse gewesen sein. 14 P. Schäfer, Geschichte der Juden in der Antike, Darmstadt 1983, 81. 15 A. Adam/ C. Burchard, Antike Berichte über die Essener, Berlin 2 1972. Zur Ableitung des Namen wird vorgeschlagen, an das Wort 'ezah / »Rat« zu denken; möglich auch 'asah / »Werk, Tat« oder (ost-)aramäisch chase / »fromm sein« (das entsprechende hebräische Wort chasid hat Assidäern / »Frommen« den Namen gegeben, Philo deutet entsprechend die Bezeichnung Essäer). 16 F. Rohrhirsch, Wissenschaftstheorie und Qumran. Die Geltungsbegründungen von Aussagen in der Biblischen Archäologie am Beispiel von Chirbet Qumran und En Feschcha, Göttingen 1996, 298-329. 17 A. Roitman (ed.), A Day at Qumran. The Dead Sea Sect and lts Scrolls, Jerusalem 1997, 14. 18 Der zugrundeliegende Text Jcs 40,3 »In der Wüste bereitet den Weg des Herrn ... « ist zitiert in 1QS 8,13f und Mk 1,2f parr. 16 19 Vgl. S. Metso, The Textual Development of the Qumran Community Rule, (StTDJ 21) 1997. 20 Vgl. zu diesem Bericht bei H. Maaß, Qumran: Texte kontra Phantasien, Stuttgart 1994, 4lff. den Abschnitt »Plinius und die Folgen«. Ganz neu werden z.Z. Funde diskutiert, die der israelische Archäologe Y. Hirschfeld bei Engedi gemacht hat - und die von ihm ausschließlich mit den von Plinius erwähnten identifiziert werden. 21 Vgl. die Zusammenstellungen bei M. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft, (TANZ 13) Tübingen 1996, 217-249; 251-267 sowie M. Weinfeld, The Organizational Pattern and the Penal Code of the Qumran Sect: A Comparison with Guilds and Religions Associations of the Hellenistic-Roman Period, (NTOA 2) Göttingen 1986. 22 Zu den Details der Friedhöfe siehe Rohrhirsch, Wissenschaftstheorie, 235ff und speziell die Angaben zur nicht genauen Nord-Südrichtung, sondern mit Neigung dieser Achse um 23° (ebd. 253f). Die Blickrichtung zum Osthorizont bei der Wintersonnenwende scheint auf astronomische Symbolik zurückzugehen. 23 R. Donceel / P. Donceel-Voute, The Archeology of Khirbet Qumran. in: Methods of Investigation of the Dead Sea Scrolls and the Khirbct Qumran Site, New York 1994, 1-38: 27ff; L. Cansdale, Qumran and 1he Essenes. A Re-Evaluation of the Evidence, (TSAJ 60) Tübingen 1997; N. Golb, Qumran. Wer schrieb die Schriftrollen vom Toten Meer? , Hamburg 1994, 64. 24 Grabungsnotizen von de Vaux sowie diverse Fotos in der Ausgabe von J.-B. Humbert / A. Chambon, Fouilles de Khirbet Qumran et de Ai'n Feshkha, (NTOA 1/ 1) Fribourg 1994; deutsch: F. Rohrhirsch / B. Hofmeir (hgg.), Die Ausgrabungen von Qumran und En Feschcha, (NTOA lA) Fribourg 1996. 25 Stegemann, Essener, 81. 26 Dazu F. M. Cross / E. Eshel, Ostraca from Khirbet Qumran, IEJ 47 (1997). 27 Sehr preiswert in Übersetzung jetzt bei E. Weidinger (hg.), Die Apokryphen. Verborgene Bücher der Bibel, Wien 1996. 28 Vgl. dazu die Arbeiten von E.G. Chazon, Prayers from Qumran and Their Historical Implications, DSD 1 (1994) 265-284; B. Nitzan, Qumran Prayer and Religious Poetry, (StTDJ 12) 1994 und M. Weinfeld., Prayer and Liturgical Practice in the Qumran Sect, in: D. Dimant / U. Rappaport (hgg.): The Dead Sea Scrolls. Forty Years of Research, (StTDJ 10) 1992, 241-258. 29 Diese habe ich in meiner Habilitationsschrift herausgestellt, die als »Die ideale Kultordnung: 24 Priesterordnungen in den Chronikbüchern, den kalendarischen Qumrantexten und in synagogalen Inschriften« (StTDJ 24) erscheint. 30 Stegemann, Essener, 148. 31 Vgl. D. Dimant, Qumran Manuscripts: Contents and Significance, in: D. Dimant / H. L. Schiffman (hgg.), Time to prcpare thc way in the wilderness, (StTDJ 16) 1995, 23-58: 25f.57. 32 Vgl. die Übereinstimmungen etwa P. R. Callaway, The ZNT 2 (1998) History of the Qumran Community: An Investigation, QSP.SS 3) Sheffield 1988, 78f. 33 Vgl. etwa bei Steudel, A.: Der Midrasch zur Eschatologie aus der Qumrangemeinde (4QMidrEschat' 6 ): Materielle Rekonstruktion, Textbestand, Gattung und traditionsgeschichtliche Einordnung des durch 4Q174 (»Florilegium«) und 4Q177 (»Catena A«) repräsentierten Werkes aus den Qumranfunden, (StTDJ 13) 1994, 164 Anm. 5. 34 Vgl. zu CD 4,3f. und die Deutung einer der wenigen anderen Söhne-Zadoks-Passagen in 4QFlor 1-2i17 mit einem Rückgriff auf Ez 37,23 bei G.J. Brooke, Exegesis at Qumran. 4QFlorilegium in its Jewish Context, QSOT.S Series 29) Sheffield 1985, 116ff. 35 Vgl. A.I. Baumgarten, The Zadokite Priests at Qumran: A Reconsideration, DSD 4 (1997) 137-156, 152 Anm. 41 sowie R. Kugler, A Note on 1QS 9: 14: The Sons of Righteousness or the Sons of Zadok? , DSD 3 (1996) 315-320. 36 Übersetzung von 4Q258 nach Maier, Qumran-Essener, 2.209 - Kursivierung U.G. 37 Vgl. zur Diskussion der über die Gemeinderegel hinausgehenden ca. 20 Belege der Bezeichnung Maskil bei Metso, Development, 136. 38 Maier, Qumran-Essencr, 1.27. 39 Vgl. E. Nodet, A Search for the Origins of Judaism. FromJoshua to the Mishnah, Sheffield 1997, 252. 40 Vgl. etwa bei M. Wise / M. Abegg / E. Cook, Schriftrollen, 44; das geht zurück auf E. und H. Eshel sowie A. Yardeni, A Qumran Composition Containing Part of Ps. 154 and a Prayer for the Welfare of King Jonathan and His Kingdom, IEJ 42 (1992) 192-229. 41 Vgl. Golb, Wer, 246ff. (Pharisäer); L.H. Schiffman, Pharisaic and Sadduccan Halakhah in thc Light of the Dead Sea Scrolls, DSD (1994) 285-299: 287 (Sadduzäer); Stcgemann, Essener, 148ff. (Essener). - Die großen Schwierigkeiten, aus den rückschauenden Überlieferungen der späteren Zeit des NT, des Philo und J osephus sowie der rabbinischen Literatur auf die Identität der Gruppen im 2./ 1.Jh. vuZ zurückzuschließen hat aufgewiesen G. Stemberger, Pharisäer, Sadduzäer, Essener, (SBS 144) Stuttgart 1991. 42 Vgl. jetzt auch: A.I. Baumgarten, The Flourishing of Jewish Sects in the Maccabean Era: An Interpretation, QSJ.Suppl 55) Leiden 1997. 43 Siehe dazu Steudel, Midrasch, 165ff. 44 Vgl. F. Garcfa Martfnez, Messianische Erwartungen in den Qumranschriften, JBTh 8 (1993) 171-208 sowie J.J. Collins, The Scepter and the Star: The Messias of the Dead Sea Scrolls and other Ancient Literature, New York 1995. - Zum weiteren Kontext G. S. Oegema, Der Gesalbte und sein Volk. Untersuchungen zum Konzeptualisierungsprozeß der messianischen Erwartungen von den Makkabäern bis Bar Koziba, (Schriften des Institutum Judaicum Delitzschianum 2) Göttingen 1994. 45 Maier, Qumran-Essener, 2.690. Die Seligpreisungen bei Jesus als »Plagiat« (vgl. oben bei Anm. 2) zu bezeichnen, ist ganz unsachgemäß, auch wenn die Frage von Inter- ZNT 2 (1998) esse ist, wie es zur gemeinsamen Verwendung dieser Textgattung kommt. 46 Dazu D. Dimant, Thc Seventy Wceks Chronology (Dan 9,24-27) in the Light of New Qumranic Texts, in: A.S. v.d. Woude (hg.), The Book of Daniel in the Light of New Findings, (BEThL 106) Louvain 1993, 57-76: 70 und Koch, Sabbatstruktur. 47 U. Gleßmer, Calendars in the Dead Sea Scrolls, in: P. W. Flint/ J.C. VanderKam (hgg.): The Dead Sea Scrolls aftcr Fifty Years. A Comprehensive Assessmcnt. Vol. II (im Druck). 48 M. Albani / U. Gleßmer, Un instrument de mesures astronomiques a Qumran, RB 104 (1997) 88-115. Zum Hintergrund der Henoch-Astronomie M. Albani, Astronomie und Schöpfungsglaube. Untersuchungen zum astronomischen Henochbuch, (WMANT 68) Neukirchen-Vluyn 1994. 49 S. Talmon, Kalender und Kalenderstreit in der Gemeinde von Qumran, in: ders., Gesellschaft und Literatur in der Hebräischen Bibel, GA 1, Neukirchen-Vluyn 1988, 152-189: 154. 50 Das Votum bei Maaß, Qumran, 190f. gegenüber den Versuchen, die widersprüchlichen Daten der Synoptiker und Joh zu harmonisieren, ist zwar in Ausrichtung gegenüber Simplifizierungen nachvollziehbar. Daß damit aber Deutungsversuche auf dem Hintergrund der konkurrierenden Kalender gänzlich obsolet seien und »Unkenntnis bezüglich des Qumran-Kalenders« zeigten, ist überzogen. - Sie müßten allerdings ein anderes Prozeßgeschehen als das nächtliche Schnellverfahren der Evangelien voraussetzen. Eine grandiose »Theologie des Lachens«. Karl-Josef Kuschel Lachen Gottes und der Menschen Kunst 208 Seiten, geb. 36,80 DM/ 269,- ÖS / 36,80 SFr ISBN 3-89308-294-8 Erzählerisch spannend, scharfsinnig und stets unterhaltsam enthüllt der Autor die abendländische Geschichte des Lachens. ATTEMPTO VERLAG Tübingen 17 Holger Tiedemann Das Gesetz in den Gliedern - Paulus und das sexuelle Begehren 1. >The same old story<? Der verliebte Eduard Mörike, Dichter und evangelischer Vikar im Schwäbischen, wußte seinesgleichen noch in der Bibel wieder zu finden: »So ist die Lieb'! und war auch so, Wie lang' es Liebe gibt, Und anders war Herr Salomo, Der Weise, nicht verliebt.« 1 Dichter dürfen (fast) alles und daher sei auch das Recht dieser >poetischen Horizontverschmelzung, nicht bestritten. In den letzten beiden Jahrzehnten sind jedoch zunehmend weniger Historikerlnnen bereit, des Poeten Intuition zu folgen. Angesichts der Ergebnisse neuerer Geschichtsschreibung drängt sich die Erkenntnis auf, daß ,Herr Mörike< offensichtlich doch sehr anders verliebt war als > Herr Salomo<. Nicht nur, weil dieser in Jerusalem einen Harem besaß, der sich so für einen evangelischen Vikar in Schwaben schlecht denken läßt. Seit dem Ende der siebziger Jahre ist die Geschichtswissenschaft geradezu obsessiv mit einem Thema beschäftigt, das vorher eher am Rand ihres Geschäftsbereiches lag: Geschlechterverhältnisse. Stark vereinfachend ließe sich sagen: Sozialgeschichte, feministisch oder kulturanthropologisch inspirierte Geschichtsschreibung, Mentalitätengeschichte, Foucaults Diskursanalyse sie alle haben sich daran gemacht, Liebe, und das, was wir heute häufig in ihrem Gefolge sehen: nämlich Sexualität, zu historisieren. 2 Pointiert formuliert könnte man sagen: Die Geschichtsschreibung hat den Bereich der, Natur< annektiert. Mit mehr oder weniger signifikanter Verspätung hat sich auch die neutestamentliche Exegese die neuen Methoden und Einsichten zu eigen gemacht. 3 Nicht eigentlich das Thema ,Sexualität, ist für die Geschichtsschreibung neu die ,Sittengeschichten< des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts würdigen es durchaus. Neu sind vielmehr theoretische und methodische Grundeinsichten, die es erlauben, dem anvisierten Gegenstand >gerechter< zu werden, als es die Sittenge- 18 schichten, die häufig nichts anderes als ein sexualethisches Kuriositätenkabinett waren, vermochten. Zwei dieser Grundeinsichten seien hervorgehoben: a) Die Vorgängigkeit symbolischer Ordnungen. Es widerstrebt einer ersten Intuition, Sexualität zu historisieren. Ist es nicht immer die am Broadway oft besungene ,same old story" wenn jemand sagt: ,Ich begehre Dich,? Nein, denn so unmittelbar wie das Begehren daherkommt, ist es nicht. Wegweisend für diese Erkenntnis war die Kulturanthropologie. Mary Douglas etwa meinte (mit Marcel Mauss) zeigen zu können, »daß der menschliche Körper immer und in jedem Fall als Abbild der Gesellschaft aufgefaßt wird, daß es überhaupt keine >natürliche" von der Dimension des Sozialen freie Wahrnehmung und Betrachtung des Körpers geben kann.« 4 Gewiß wäre es übertrieben zu sagen, Liebe und Begehren seien ein Fall von angewandten gesellschaftlichen Wahrnehmungsrastern, aber sie sind es doch wohl auch. Nicht nur ist, bevor wir überhaupt begehren, schon eine Vorentscheidung darüber getroffen, wer als Objekt des Begehrens überhaupt in Frage kommt. Auch die Institutionalisierungen des Begehrens, sein sprachlicher Ausdruck und die Gesten, in denen sich Zuneigung und Leidenschaft manifestieren, verdanken sich zu einem Großteil einem Ordnungssystem, das in gesellschaftlicher Interaktion entstanden ist. b) Die Beständigkeit gesellschaftlicher Wahrnehmungsraster. Geschichtsschreibung hat seit jeher einen Hang zur >Veränderung,. Ihre Klassiker sind zumeist solche der Ereignisgeschichte. Niemand liest gerne eine geschichtliche Abhandlung, in der er erfährt, daß eigentlich alles beim Altengeblieben ist. Und doch: In den letzten Jahrzehnten hat die Geschichtsschreibung gelernt, Kontinuitäten neu zu würdigen. Wegweisend wurde hier Fernand Braudel, der verschiedene Zeitdimensionen der Geschichte unterschied und sich selber dabei auf die» longue duree« konzentrierte. 5 In den Blick der Geschichtsschreibung treten damit Phänomene, die von großer Beharrlichkeit sind. Was sich in ZNT 2 (1998) dieser Zeitdimension abspielt, ist vergleichsweise resistent gegenüber dem Wirken großer Persönlichkeiten oder der Durchschlagskraft politischer Ereignisse. Die Raster, in denen sexuelles Begehren wahrgenommen wird, sind von einer solchen »langen Dauer«. 6 Sie haben durchaus ein Verfallsdatum, sie setzen aber unserem Erfindungsreichtum (manchmal sinnvolle, manchmal schmerzliche) Grenzen. Eben diese Wahrnehmungsraster, die sich mit ihrem Beharrungsvermögen zwischen das Ich und das Begehren schieben, die dem Subjekt zugehören und auch wieder nicht, stehen im Mittelpunkt der Forschung, die Geschlechterverhältnisse historisch zu profilieren versucht. Wenn Paulus die Wendung nicht zu deutlich anders besetzt hätte, wäre man versucht zu sagen: Es ist das »Gesetz in den Gliedern« (Röm 7,23), dem diese Historikerinnen auf die Schliche zu kommen versuchen. 2. Drei Evidenzräume: Christus, Tora und Brauch Nicht >Herrn Salomo" sondern >Herrn Paulus< sei sich im folgenden zugewandt. >Verliebt, ist er wohl nicht gewesen, zumindest nicht im Sinne des zitierten evangelischen Vikars. Aber die Briefe des Apostels thematisieren eine solche Fülle sexualethischer Themen, daß es keineswegs aussichtslos erscheint, sie auf jene Raster hin zu befragen, in denen er Begehren wahrnimmt. Die Frage nach den Rastern der paulinischen Sexualethik dürfte nach wie vor für viele Theologlnnen prekär sein: Schrumpft so der große Theologe auf das Maß eines typischen antik-mediterranen Menschen? Immer noch werden die Grundanschaungen, die Paulus mit seinen Zeitgenossen teilt, als >Leihgut, oder >Eierschalen< denunziert. Wir sind es gewohnt, den Apostel als ethischen Innovator (vom »Christusereignis« her 7) oder aber als rigorosen Renovator (nämlich von der »eigentlichen Tora« her 8) zu denken. Doch mindestens für die Sexualethik ist die Sache komplizierter. Daß Frauen nicht sexuell miteinander verkehren sollen (Röm 1,26) steht weder in der Tora, noch wäre ersichtlich, daß sich die Meinung des Paulus aus einem Herrenwort oder gar aus Kreuz und Auferstehung J esu Christi herleiten ließe. Gelegentlich versucht Paulus zwar, Christologie in Se- ZNT 2 (1998) xualethik zu wenden, wie im Fall des Verkehrs mit einer Unzüchtigen/ Prostituierten (I Kor 6). Doch vor seiner Bekehrung wird er kaum anders über dererlei gedacht haben. >Theo-psychoanalytisch, könnte man von einer >sekundären Christologisierung, sprechen. Dieses Verfahren herrscht allerdings im Hinblick auf die Sexualethik keineswegs vor: Die Erörterung des Inzestfalles in I Kor 5 ist bar jeder Christologie. Und daß Männer nicht mit Männern verkehren sollen (Röm 1,27), ist Paulus zwar eine Erkenntnis, die er literarisch nach der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes (Röm 1,17) plaziert aber war ihm diese wirklich nötig, um zu seinem Urteil zu gelangen? Dies dürfte ihm vielmehr von Kindesbeinen an spätestens nach der Lektüre von Lev 18,22 und 20,13 festgestanden haben. Also ist es doch die Tora bzw. Schöpfungstheologie, die die Richtschnur abgibt für die sexualethischen Weisungen des Apostels? Zumindest ist es nicht die schriftliche, uns bekannte Tora, die den Apostel für die Askese plädieren läßt (IKor 7), die ihn skeptisch sein läßt in Bezug auf eine Wiederheirat (I Kor 7,40), optimistisch hingegen angesichts von Mischehen (! Kor 7,12-16). Hier mündliche Tora zu postulieren hieße doch wohl, historischer Einbildungskraft zuviel zuzumuten. Kurzum: die Sexualethik des Paulus zeitigt ein schwer zu entwirrendes Geflecht von Anweisungen und beigesellten Begründungen. Die von ihm propagierte Ordnung der Geschlechter ist sowohl Reflex von Christologie und Tora, aber auch von Brauch und Kultur. Der Apostel steht in mindestens drei Evidenzräumen zugleich: Was ihm selbstverständlich geboten erscheint, ist wenigstens in Hinblick auf die Sexualethik nicht aus einem Grunddatum zu deduzieren. Macht man sich die genannten neueren historiographischen Bemühungen zunutze, muß man keineswegs beim Konstatieren eines disparaten Befundes stehenbleiben. Möglich wird es so, die Regelhaftigkeit der paulinischen Sexualethik neu zu bestimmen. Sie gehorcht antik-mediterranen Grundannahmen, die keineswegs zu einer Einheits-Sexualethik des homo mediterranaeus führen. Aber: Diese Grundannahmen reduzieren die Fülle möglicher sexualethischer Positionen und Anschauungen ganz erheblich. Und: Sie legen offen, daß die Rede von einem >paulinischen Sexualverständnis, nur ein begrenztes Recht hat. Wie 19 Holger Tiedemann Holger Tiedemann, Jahrgang 1966, promovierte 1998 mit seiner Arbeit zum paulinischen Sexualverständnis in Foucaultschcr Perspektive am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg. Zur Zeit arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am dortigen Fachbereich für Erziehungswissenschaft. Paulus sexuelles Begehren interpretiert, ist weder das Resultat akademischer Bildung noch Gegenstand der Christusoffenbarung vor Damaskus. Es ist zum überwiegenden Teil antik-mediterranes Geimeingut. 3. Zeitenwende: Die Beharrlichkeit von Sexualverständnissen und graduelle Transformationen Die späte römische Republik und das erste Jahrhundert des römischen Kaiserreichs stecken sowohl geographisch wie zeitlich die Grenzen ab, innerhalb derer hier nach den fraglichen Rastern gefahndet werden soll. Natürlich ließe sich weiter differenzieren (>jüdisch" ,hellenistisch" ,jüdischhellenistisch,). Doch die gewählte Makrooptik hat auch ihre Vorteile: Sie läßt das Ineinander der verschiedenen Kulturkreise gewahrwerden. Mentalitäten, grundlegende Anschauungen des alltäglichen Lebens (z.B. die Erfahrung und Interpretation von Geschlechterverhältnissen), machen nicht an Provinzgrenzen halt. Schon gar nicht im römischen Reich und erst recht nicht vor oder hinter den Mauern der Versammlungsstätten christlicher Ortsgemeinden. 20 Hierarchien des Begehrens Der signifikanteste Unterschied einer modernen Konzeption von sexuellem Begehren und der antik-mediterranen ist wohl der: Wir definieren nach gut 100 Jahren moderner Sexualwissenschaft Begehren über das biologische Geschlecht des Begehrten. Entsprechend lauten unsere ordnenden Kategorien ,hetero-<, ,homo-< bzw. ,bisexuell<. Dieses Raster (,biologische Objektwahl,) ist in der Antike weitgehend unbekannt. Die Achsen des Koordinatensystems lauten hier vielmehr >aktiv/ passiv" >alt/ jung< und >frei/ unfrei<. Der Unterschied der Koordinatensysteme wird deutlich, wenn man sich die öffentliche Meinung, den Klatsch und Tratsch, der etwa über die römischen Kaiser erzählt wird, die Traktate der Moralisten oder die Grafiti in Pompeji ansieht. Daß ein Mann einen Mann begehrt und zugleich vielleicht noch Frauen das ist so interessant wie die berühmten Reissäcke in China. Aber: Wenn jemand, der über das römische Reich herrschen soll, sich beim Sexualverkehr passiv verhält, also sich penetrieren läßt, cunnilingus oder fellatio praktiziert dann entsteht die Irritation bzw. der Skandal. 9 Mit anderen Worten: Das erwartete Sexualverhalten ist ein Abbild der sozialen Ordnung. Der freie, männliche Bürger soll aktiv sein (penetrieren), ist er es nicht wird er zum Gegenstand von Spott und Satire. Es gilt aber auch das Umgekehrte: Eine Frau oder ein Sklave, die >aktiv, werden, sind eine Ungehörigkeit, ja eine Monstrosität. 10 Begehrt etwa eine Frau eine Frau, dann geraten zwei aneinander, die passiv sein sollen. Ordnungsgemäßer Sexualverkehr setzt aber nach antikem Verständnis voraus, daß mindestens einer der Beteiligten aktiv ist. Wie verhält sich Paulus zu dieser asymmetrischen Konzeption von Begehren? Er teilt sie (a) und partizipiert zugleich an Transformationen, die auch andernorts zu beobachten sind (b ). ad a) Die Sexualparänese in IThess 4,3-6 richtet sich an Männer. Sie werden aufgefordert, mit ihren Frauen ordnungsgemäß (das heißt: nicht leidenschaftlich) zu verkehren. Frauen als aktiv Begehrende kommen hier nicht in den Blick. Paulus teilt die Anschauung, daß Frauen in besonderer Weise der Gefahr ausgesetzt sind, scham-los zu werden ( und verordnet daher den Schleier, I. Kor 11). Und ihm ist, wie vielen seiner Zeitgenossen, gewiß, daß Frauen, die Frauen begehren, etwas ZNT 2 (1998) Abb. Petrus und Paulus, Patmos, Kloster des HI. Johannes (16. Jh.) tun, was gegen die Ordnung der Natur verstößt (Röm 1,26f). ad b) Zu den kleinen Revolutionen der späten Republik bzw. frühen Kaiserzeit gehört die Tatsache, daß an ganz verschiedenen Orten das geschlechtsspezifische aktiv-passiv-Schema relativiert wird. Ein Denken der Gleichheit/ Reziprozität bricht sich Bahn (ohne allerdings dominierend zu werden). So etwa spielt der stoische Moralist Musonius (Diatr. XII) mit dem Gedanken, man möge doch einmal die Rolle des Ehegatten und die seiner Gattin austauschen. Für beide soll das Gleiche gelten (sie sollen keinen Ehebruch begehen). Der gleiche Moralist stellt die These auf, daß der Mann, der aktiv einen anderen begehrt, letztlich gar nicht aktiv sei, sondern >beherrscht, nämlich von seiner Leidenschaft. - Anders in der Stoßrichtung, aber im Effekt ähnlich die Poeten der römischen Elegie: Hier wird es plötzlich schick, daß erwachsene Männer sich als ,Sklaven< einer/ eines Geliebten inszenieren. So wünscht sich Tibull von seinem Geliebten Marathus (1,9.21f): »Lieber, versenge mein Haupt, schlage meinen Körper mit dem Schwert, mit geflochtenem Seil geißle meinen Rücken wund.« Auch im Judentum läßt sich beobachten, daß ZNT 2 (1998) die asymmetrische, geschlechtsspezifische Begehrenskonzeption relativiert wird. Signifikant ist etwa die Begründung, die die Essener dem Verbot einer Nichtenehe geben. Diese ist anders als die Neffenehe (Lev 18,12)-von der Tora nicht verboten. Die Essener übertragen die Bestimmung bezüglich der Neffenehe auf die von Onkel und Nichte, denn: »Das Recht der verbotenen Sexualbeziehungen ist zwar im Blick auf Männer geschrieben, doch die Frauen sind wie sie« (0 CD V,9f). »Die Frauen sind wie sie« unüberhörbar sind damit neue Töne im sexualethischen Diskurs angeschlagen. Die Relativierung (nicht: Beseitigung) der Geschlechterhierarchie ist nun ebenfalls bei Paulus zu beobachten. Verwiesen sei dafür nur auf Gal 3,28, aber auch auf I Kor 7: Dieses Kapitel zeigt (anders als IThess 4) ein auffallendes Bemühen des Paulus, seine sexualethischen Anweisungen reziprok zu formulieren: »Der Mann soll seine Pflicht gegenüber der Frau erfüllen und ebenso die Frau gegenüber ihrem Mann. Nicht die Frau verfügt über ihren Leib, sondern der Mann. Ebenso verfügt nicht der Mann über seinen Leib, sondern die Frau« (IKor 7,3f). Angemerkt sei, daß die Ehe hier als ein Verhältnis von Pflicht und Schuldigkeit aufgefaßt wird; in gleicher Terminologie wird Paulus das Verhältnis des Christen zum Staat charakterisieren (Röm 13). Im ganzen Kapitel I Kor 7 fällt das Stichwort ,Liebe, nirgends. Liebe in der Ehe - und diese Ansicht teilt Paulus mit vielen seiner Zeitgenossen ist eher etwas Unerwartetes. Der Körper der Gemeinschaft Wie jemand begehrt, erklären wir heute durch zu Rateziehen seiner Biographie (frühe Kindheit) oder durch kontingente Genbzw. Hormonmischungen. Unser Raster ist orientiert am je eigenen Geschick, das einen hetero-, homo-, bisexuell oder >pervers< begehren läßt. Dies sind nun aber für den antiken Sexualdiskurs ganz untergeordnete Fragen. Vorherrscht vielmehr etwas, was man >kommunitäres Sexualverständnis< nennen könnte: Spezifisches Sexualverhalten wird Völkern, Sozialverbänden zugeschrieben, nicht dem Einzelnen: Die Heiden begehren so (nämlich »widernatürlich«, Röm 1,26f), die Juden so (sie wissen, daß sie nicht ehebrechen sollen, tun es aber trotzdem, Röm 2,22). Natürlich weiß Paulus, daß diese Urteile im 21 höchsten Maße ungerecht sind und dem Einzelfall nicht gerecht werden. Doch weil Begehren für ihn (und seine Zeitgenossen) grundlegend die Eigenschaft eines Sozialverbandes ist, hat diese Verallgemeinerung für ihn ihr Recht. Der Konnex ist typisch antik-mediterran. Er findet sich bei jüdischen Autoren wie Philo ebenso wie bei paganen. 11 Sexuelles Begehren wird so zu einem Element bei der Ausformung einer kollektiven Identität: Wir sind die, die nicht so begehren wie jene. Abgrenzung nach außen, Identitätsaffirmierung nach innen sind zwei Funktionen dieser kommunitären Konzeption von sexuellem Begehren. Diese hat jedoch noch einen folgenreichen Nebenaspekt: Das Begehren des Einzelnen affiziert den ganzen Sozialverband. Bei Paulus tritt diese Anschauung besonders deutlich bei der Erörterung des Inzest-Falls (IKor 5) hervor: Wenn jemand mit seiner (Stief-)Mutter sexuell verkehrt, dann entsteht eine Frevelsphäre, die nicht nur die beiden Übeltäter umfaßt. Das Begehren ufert aus: Die ganze Gemeinde ist davon bedroht vom »wenigen Sauerteig« (II Kor 5,6) durchsäuert zu werden. Unrechtes Begehren evoziert eine Unreinheit, die sich, ist sie erst einmal in die Welt gesetzt, ausdehnt auf alles, was sich ihr nicht entschieden entgegenstellt. Daher kennt Paulus kein Pardon und befiehlt der allzu toleranten Gemeinde in Korinth: »Schafft den Übeltäter weg aus eurer Mitte! « (IKor 5,13). Es ist wohl auch diese unterstellte Dynamik der Unreinheit, die die Qumran-Essener zu ihrem ,Exodus aus Jerusalem< bewogen haben mag. Dort nämlich geschieht in den Augen der Essener Schandvolles: Männer nehmen »zwei Frauen in ihrem Leben« 12 (0 CD IV,21) und Onkel heiraten ihre Nichten (0 CD V,7f). Für die wahrhaft Frommen reicht es nun nicht zu wissen, daß man derlei nicht tut. Sondern: diese müssen sich absondern, sie müssen ausziehen »aus dem Land Judah und Wohnung nehmen im Lande Damaskus« (0 CD VI,5). Sogar die (unwillentliche) Autoerotik läßt eine Unreinheitssphäre entstehen, die die Reinheit der Gemeinde bedroht: Wer einen nächtlichen Samenerguß hat, muß sich einem siebentägigen Reinigungsritual unterziehen. Berühren andere ihn, sind sie ebenfalls unrein (4Q 274, Frag. 1,Sf). Die Programmschrift der Tempelrolle sieht vor, drei Plätze im Osten der Heiligen Stadt zu errichten: für die Aussätzigen, die Ausflußbehafteten und die Spermabefleckten ( 11 Q XLVI, 17f). 22 Als die geheime Mitte fast aller sexualethischen Dispute dieser Zeit läßt sich die Frage benennen: Wie potent ist das (Un-)Heilige? Auf menschlicher Ebene spiegeln sich die Antworten auf diese Frage in den verschiedenen Reinheitsvorschriften wider. Wenn man die Flüssigkeit aus einem reinen Gefäß in ein unreines gießt steigt dann die Unreinheit des unteren Gefäßes auf in das Ausgangsgefäß? Die Sadduzäer (und mit ihnen die Essener) meinen: Ja. Die Pharisäer lehnen dies ab. Für Paulus stellt sich eine analoge Frage in Hinblick auf Mischehen (IKor 7,12ff): Wenn ein Heide mit einer Christin verheiratet ist überträgt sich seine Unheiligkeit auf den christlichen Partner oder etwaige Kinder? Paulus antwortet: Nein. Die Heiligkeit ist so wirkmächtig, daß sie den Kontakt mit dem Unheiligen nicht zu scheuen braucht. Anders lautet die Auskunft allerdings im Hinblick auf den Inzest-Fall (I Kor 5 ): Hier ist die Potenz des Unreinen ungebrochen, der Kampf mit ihm noch nicht entschieden. Gleiches gilt für den Verkehr mit einer Unzüchtigen (I Kor 6), wo dem Christen nur eines bleibt: die Flucht vor der Porneia anzutreten. Die Römer lassen sich weniger durch ausgreifende dämonische Mächte schrecken, gleichwohl ist auch hier das sexuelle Begehren keineswegs Privatangelegenheit (schon deshalb nicht, weil mit Augustus der Staat zunehmend Geschlechterverhältnisse reglementiert). Mit dem Begehren stehen Scham und Ehre des ganzen Hauses (domus) auf dem Spiel. Kommt es etwa zum Ehebruch einer Frau, so hat sie nicht nur ihren Gatten geschädigt, sondern dessen Anverwandtschaft gleich mit. Die Auffassung von Persönlichkeit, die diesen Sexualethiken zugrundeliegt, ist von modernen Konzeptionen fundamental unterschieden. Im Mittelpunkt antiker Sexualethik steht nicht ein Individuum, das mit seinem Gewissen auszuhandeln hätte, wie es sein Begehren auf rechte Bahnen bringt, sondern die »dyadische Persönlichkeit« 13 : Das Ich ist immer eingebettet in einen Sozialverband; Rechtverhalten bedeutet demgemäß primär: den Erwartungen anderer zu entsprechen, sich keinen Scham- oder Ehrverlust zukommen zu lassen. Die Grenzen des zu kultivierenden Körpers fallen nicht mit denen von Fleisch, Blut und Knochen zusammen. ZNT 2 (1998) Metaphysiken des Begehrens Das Interpretationsraster, das Paulus und seine Zeitgenossen zur Geltung bringen, ist in hohem Maße von einer >Metaphysik des Begehrens< geprägt. Kommt es zu unrechtmäßigem Begehren, so haben dämonische Mächte ihre Finger im Spiel, vor denen die Frommen zu fliehen haben (IKor 6,18). Wer falsch begehrt, mag sich zudem noch dieses oder jenes zuschulden kommen lassen, vor allem jedoch ist er ein »Götzendiener« (Röm 1,18ff). Er ist in den Fängen Belials, Liliths oder unterliegt anderen Einflüßen, die sich seiner Intentionalität entziehen. Dieser unterstellte Konnex mit einer göttlich-dämonischen Sphäre ermöglicht es zugleich, deren Bewohner um Beistand und Hilfe zu bitten, stößt das eigene Begehren einmal auf seine Grenzen, z.B. wenn der oder die Begehrte nichts vom Begehrenden wissen will. Wie nah sich Diesseits und Jenseits in sexueller Erfahrung kommen können, dokumentieren die in reicher Zahl vorliegenden (z. T. christlichen) Zauberpapyri eindrücklich (und nicht selten in erschreckender Weise). Die unterstellte aufdringliche Nähe dieser beiden Wirklichkeitssphären führt zugleich zu männlichen Befürchtungen, die uns heute eher skurril erscheinen: Gelegentlich werden Paulus und seine Zeitgenossen von der Angst beschlichen, Frauen könnten sexuell mit Engeln verkehren. 14 Rechtmäßiges Begehren ist demgemäß nicht ein Verhalten wie viele andere auch. Es rückt ein in das Forum letzter Dinge. Das heißt: Hier steht nicht mehr und nicht weniger auf dem Spiel als das, was es mit Gott und der Welt auf sich hat. Ist jemand Asket, so ist dies nicht schlichte Veranlagung, sondern eine »Gabe Gottes« (IKor 7,7). Will jemand unbedingt heiraten, muß er sich von Paulus sagen lassen, daß damit das Erreichen des letzten Zieles die ungeteilte Sorge um den Herrn (I Kor 7,32) erschwert wird. Der Ehe wohlgesonnener sind Musonius und Epiktet, doch auch bei ihnen steht mit dem Begehren letztes auf dem Spiel: Ehe ist »Gottesdienst« 15 , wer heiratet und Kinder zeugt, kommt den göttlichen Naturgesetzen 16 nach. Die verschiedenen Metaphysiken des Begehrens unterscheiden sich inhaltlich natürlich beträchtlich. Vergleichbar sind sie jedoch strukturell: Eingesenkt in den Sexualakt wird die Möglichkeit, Menschsein schlechthin zu verfehlen bzw. schlechthin gelingen zu lassen. ZNT 2 (1998) Selbstverhältnisse Stellt man sich die Geschichte der Geschlechterverhältnisse als ein Schauspiel vor, so stünde vor dem Akt, der hier zu betrachten ist, die Regieanweisung: >Auftritt: Jungfrau, Asket, Ehepaar.< Nicht, daß diese dem Publikum nicht schon bekannt wären. Sie haben in den vorangegangenen Akten durchaus bereits ein Stelldichein gegeben. Allein: Jetzt halten sie tragende Monologe. - Neubesetzt werden die Nebenrollen des Stücks: hier ein gleichgeschlechtlich begehrendes Männerpaar, dort jemand, dessen Begehren von Hetären und Konkubinen nicht lassen mag. Aber diese sind nun Statisten, Kolorit für die neuen Erzählungen von asketischem Eifer und ehelicher Treue. Das neue Arrangement ist keine christliche Erfindung: Christliche Eheleute und Asketen folgen nur in spezifischer Weise einer Regieanweisung, die die Zeit der späten Republik und frühen Kaiserzeit prägt. Galt es ehedem, via sexuelles Begehren einen gesellschaftlichen Status zu manifestieren, das heißt: angesichts der öffentlichen Meinung zu zeigen, ob man zu den Herrschern oder den Beherrschten gehört, so wird nun das Begehren einem anderen Regime unterworfen. Der neue Gouverneur heißt: das Selbst. Die neue Regieanweisung hat für den sexualethischen Diskurs gravierende Konsequenzen: Debattierte man zu Zeiten der griechischen Klassik und noch im Hellenismus heftig das Problem, inwiefern es gestattet sei, einen Knaben, der später einmal ein freier Bürger sein würde, zu penetrieren, so verliert dieses Thema jetzt deutlich an Brisanz. Neue Themen drängen sich auf: Läßt sich zwischen Ehemann und Ehefrau ein Verhältnis der Gegenseitigkeit etablieren? Erste Testläufe, die Liebe in der Ehe zu erproben, werden gestartet. Bei Seneca (Medea) führt dies noch zur Katastrophe. Ein halbes Jahrhundert später bei Plutarch (Erotikos) nimmt das Ganze nach allerlei Wirren einen guten Ausgang. Neu sind auch Einsichten wie die Senecas: Auch wer in Gedanken die Ehe bricht, hat sie gebrochen. 17 Musonius schließlich konstatiert: Auch Schande, die im verborgenen bleibt, ist Schande. 18 Das sexualethische Sollen beabsichtigt zunehmend weniger Außenwirkung, sondern macht sich daran, den Kosmos des Selbst zu ordnen. Es wäre historisch unsinnig, wollte man diese 23 Entwicklung dem Christentum zuschreiben. Das Christentum partizipiert an ihr. Die Selbstbeherrschung und die Enthaltsamkeit sind keine ErfindungenJesu oder der Apostel. Ihre Botschaft ist allerdings kompatibel mit einer Stimmung, die sich nach dem Zerbrechen der Polis und der Entmachtung des Demos auch auf dem Gebiet der Sexualethik auswirkt 19 : Die, denen die Möglichkeit tatsächlicher politischer Mitverantwortung genommen ist, die immer weniger die Möglichkeit haben, Macht, Ehre und Scham gesellschaftlich zur Schau zu stellen die müssen sich nach anderen Möglichkeiten umsehen, Dignität darzustellen. (Sexual-)Moral ist kein Gesellschaftsereignis mehr wie man sich zu sich selbst verhält, das wird nun zunehmend ethischer Reflexion unterworfen. Paulus fügt sich in diese Entwicklung (fast) nahtlos ein. Offeriert wird hier eine Moral, für die der in der Öffentlichkeit erzielte Effekt von marginaler Bedeutung ist. Diese Moral macht wie die der Stoa das Angebot, unter gewandelten gesellschaftlichen Bedingungen, Dignität kontrafaktisch zu erfahren 20 : Was heißt es schon, realiter ein Sklave zu sein, wenn man doch »Glied am Leibe Christi« (IKor 12,13) ist? Oder, in den Worten der Stoa: Was bedeutet es schon, nicht das Bürgerrecht Roms zu besitzen, wenn man doch »Bürger der Tugendstadt« ist (und hier fast jede erdenkliche Freiheit herrscht) ? 21 Für die Sexualethik heißt dies: Die ,Sklaven" über die man nun zu gebieten hat, sind immer weniger die frei verfügbaren Hausangestellten, sondern die Affekte und Leidenschaften. Die dyadische Persönlichkeit verinnerlicht das gesellschaftliche Arrangement. Eine unüberbietbar radikale (und erschreckende) Version dieser auf das Selbst als Herrscher und Beherrschten zugleich konzentrierten Sexualmoral findet sich in Gal 5,24: »Alle, die zu Christus Jesus gehören, haben das Fleisch und damit ihre Leidenschaften und Begierden gekreuzigt.« An keiner anderen Stelle hat Paulus Christologie so drastisch in Sexualethik gewendet. Bemerkenswert ist, daß Christ und Christin hier zugleich in die Position Christi wie in die seiner Mörder rücken. 22 Das Begehren und die Angst Spätestens seit Sigmund Freud interpretieren wir Menschsein so, daß das sexuelle Begehren zu seiner 24 Abb. Hugo van der Groes: »Der Sündenfall« (15. Jh.) Grundausstattung gehört. Freud verstand bekanntlich bereits das ,Wonnesaugen< des Säuglings an der Brust der Mutter als sexuellen Akt. Theologisch könnte man diesen Gedanken so übersetzen: Das Begehren ist schöpfungsgemäß. Besieht man sich die Fülle der Interpretationen, die die Geschichte von Schöpfung und Fall (Gen 1-3) in dem betrachteten Zeitabschnitt hervorruft, so wird man schlußfolgern müssen, daß genau dies für Paulus und einen Teil seiner Zeitgenossen eine offene Frage ist: Ist das Begehren wirklich auf Gott zurückzuführen? Gehört es zur Grundausstattung des Menschen? Eine hochkomplexe Beantwortung der Frage trägt das Jubiläenbuch (2. Jh. v. Chr.) in seiner Paraphrase der Schöpfungsgeschichte vor: Vor dem Eintritt ins Paradies bemerkt Adam durch Beobachtung der Tiere, daß ihm etwas fehlt. Gott erbarmt sich des einsamen Adams, erschafft ihm eine Frau und der Beischlaf (das »Erkennen«) wird vollzogen (3,6). Doch erst nach 40 Tagen der Reinigung darf Adam das Paradies betreten, Eva gar ZNT 2 (1998) erst nach 80. Die Konstruktion des Jubiläenbuches erlaubt es daher, zum einen an der Schöpfungsgemäßheit geschlechtlicher Vereinigung festzuhalten, zum anderen jedoch, die damit evozierte Unreinheit aus Eden, dem Archetypen des Tempels, fernzuhalten. Radikalere Positionen finden sich in der Apokalyptik. Nach der ApkMos (1. Jh. n. Chr) leben Adam und Eva im Paradies zunächst in getrennten Bezirken. Das schiedlich-friedliche N ebeneinander hat ein Ende, als der Teufel sich die Schlange als Komplizin erwählt. Mit dieser im Verbund wird er die anthropologische Voraussetzung dafür schaffen, daß Adam und Eva ,zusammenrücken< und später 63 Kinder ihr eigen nennen können. Der Grund hierfür ist das der verabreichten Frucht beigemengte Gift der Begierde: »Die (sc. die Schlange) tat aber an ihre Frucht, die sie mir zu essen gab, das Gift ihrer Bosheit, d. i. ihrer Begierde; denn die Begierde ist der Anfang aller Sünden.« 23 Ursprünglich kennen die Erstgeschaffenen die Begierde nicht. Apokalyptischer Dualismus kann geradezu in eine Polemik gegen die Schöpfung bzw. in der Theodizee-Frage münden. Hierfür sei auf die ApkAbr (23) verwiesen: Der Apokalyptiker blickt in den Garten Eden und sieht dort Mann und Frau engumschlungen unter einem Baum. Es ergeht eine Belehrung, die darüber aufklärt, daß Adam mit der Begierde und Eva mit dem Trieb gleichzusetzen sei. Die Schlange, eine Inkarnation des gefallenen Engels Asasel, steht für die ,Gottlosigkeit ihres Unternehmens<. Verständlicherweise bricht es aus dem Apokalyptiker hervor: »Urewiger Starker! Warum hast du es erlaubt, daß das Böse im menschlichen Herzen begehrt wird? Denn du zürnst über das, was erlaubt wurde von dir in deinem Rate.« 24 Das menschliche Begehren läßt eine Aporie im Willen Gottes aufbrechen. Es gilt als schöpfungsgemäß, es wurde von Gott erlaubt doch diese Erlaubnis ist nur vordergründig die Gottes. Dieser hat sein Recht partiell an Asasel abgetreten, um die Menschen wegen ihrer Böswilligkeit ins Verderben stürzen zu lassen. In den diskutierten Texten spiegelt sich eine massive Verunsicherung über die Legitimität des Begehrens wider: Warum kann das, was Gott erlaubt hat, Strafe nach sich ziehen? Hat er es gar nicht erlaubt? Hat er es nicht in Eden erlaubt? Haben Adam und Eva sich uranfänglich begehrt oder ZNT 2 (1998) ist dieses Begehren auf den Teufel, die Schlange bzw. Asasel zurückzuführen? Derartigen Zweifeln ist vielleicht am entschiedensten der Autor des IV Makk entgegengetreten. Energisch schärft er die Schöpfungsgemäßheit des Begehrens ein: »Am Tag nämlich, als Gott den Menschen schuf, hat er ihm auch seine Leidenschaften und Charaktereigenschaften mit eingepflanzt. Gleichzeitig hat er als heiligen Gebieter über sie alle durch die Sinneswerkzeuge den Verstand inthronisiert und diesem ein Gesetz gegeben. «25 Diese Position ist es (und nicht die des Verfassers der ApkAbr), die sich im Rabbinismus durchsetzen wird. Entgegen der altkirchlichen Abwertung der Ehe beharrt man entschieden darauf, daß in Eden sexuell miteinander verkehrt wurde, mithin auch für die Gegenwart das >Modell Ehe, - und nicht das >Modell Askese, zu propagieren ist. 26 Indirekt nimmt Paulus an der skizzierten Debatte teil. Seine Position wird deutlich in dem so heftig debattierten siebten Kapitel des Röm: » Ich hätte ja von der Begierde nichts gewußt, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: Du sollst nicht begehren. Die Sünde erhielt durch das Gebot den Anstoß und bewirkte in mir alle Begierde, denn ohne das Gesetz war die Sünde tot. Ich lebte einst ohne das Gesetz; aber als das Gebot kam, wurde die Sünde lebendig« (Röm 7,7-9). Hinzuweisen ist zum einen darauf, daß ,Begierde, für Paulus einen sehr viel umfassenderen Sinn hat als >sexuelles Begehren< (man sollte aber nicht bestreiten, daß dieses eben auch und zwar in besonderem Maße mitgemeint ist 27 ). Zum anderen ist der Sprecher von Röm 7 nicht einfach mit Paulus zu identifizieren, der hier über seine Biographie Auskunft gibt. Das Ich in Röm 7 ist typisiert 28 : an ihm soll Allgemeines deutlich werden. Der Sprecher vom Röm 7 scheint seine Existenz dabei im Lichte des Adam- Geschickes zu interpretieren. 29 Dafür spricht, daß bei Adam zunächst keine Kenntnis des Gesetzes vorauszusetzen ist (vergl. Röm 7, 9), er aber alsbald mit dem göttlichen Gebot konfrontiert wird (Röm 7,9, vergl. Gen 2,16 LXX). Verbinden läßt sich Röm 7 mit der Geschichte von Schöpfung und Fall auch anhand des Motives ,Täuschung durch den Widersacher< (Röm 7,11, vergl. Gen 3,13 LXX). Liest man Röm 7,7-13 vor dem Hintergrund der Diskussion um die Schöpfungsgemäßheit des Begehrens, so erfährt man vergleichsweise wenig 25 über den von Paulus unterstellten status integritatis. Nur soviel: Das Ich lebte, die Sünde war tot, Gesetz und Begehren waren unbekannt. Paulus steht damit in Nähe zur ApkMos: Das Begehren ist weder Gabe Gottes noch Eigenschaft des Menschen. Es muß auf eine dritte Größe das Gesetz, nach Gal 3,19 von einem Engelwesen, nicht von Gott erlassen zurückgeführt werden, die jenes paradiesische Einst zerbrechen läßt. Für den Menschen unter dem Gesetz gibt es nach Paulus nicht die Möglichkeit, sich der totbringenden Fleischmacht zu entziehen. Eine solche gibt es erst in Christus. Allerdings um was für einen Preis: Der sekundäre anthropologische Zuwachs Begehren wird durch einen tertiären Zuwachs den Geist zumindest potentiell wieder beseitigt, »gekreuzigt« (Gal 5,16ff). Fleisch und Blut als Sitz des Begehrens können das Himmelreich nicht erben (I Kor 15,50). E. R. Dodds hat die ersten nachchristlichen Jahrhunderte ein »Zeitalter der Angst« genannt. Er vermochte seine These zu belegen durch die Beobachtung einer keineswegs nur im Christentum grassierenden Leib- und Sexualfeindschaft: Der Haß auf die Welt wende sich gegen das eigene Ich. Er erklärte diese Wendung durch die Annahme einer kollektiven, »endogenen Neurose«, als »Anzeichen starker und weitverbreiteter Schuldgefühle.«30 Wenn man gegenüber dieser Diagnose wegen ihres anachronistischen Vokabulars auch Vorbehalte anmelden kann, so lenkt sie doch den Blick auf eine Quelle der paulinischen Sexualethik, der man bisher vielleicht zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat: die Angst. Paulus und wir Nur noch wenige dürften wissen, was Paulus in IKor 5-7, Gal 5, Röm 1, IThess 4 etc. geschrieben hat, aber die sexualethischen Anschauungen, die sich hier manifestieren, haben unsere Kultur geprägt. Der Strom der Tradition und die Arbeit von Kommentatoren haben dabei zu einer optischen Täuschung geführt: Wir fühlen uns Paulus intuitiv näher als etwa Philo von Alexandrien oder Musonius. Nicht selten werden dabei die paulinischen Verse zu einem »Rorschach-Test« (Peter Brown), der die Interpreten des Apostels kaum etwas anderes als ihre eigenen Gegenwartsideale erkennen läßt. Immer wieder wird z.B. die gänzlich unpau- 26 linische Trias von >Liebe, Ehe und Fortpflanzung, zum Inbegriff christlicher Sexualethik erklärt. Historisch-kritische Forschung wird diesen Eindruck zu korrigieren haben und die Fremdheit des paulinischen Sexualverständnisses herausstellen. Die Vorstellungen von Persönlichkeit, Reinheit und Unreinheit, Scham und Ehre, die seine Sexualethik prägen, sind nicht restituierbar. Damit sind die Briefe des Apostels sexualethisch keineswegs in die Indifferenz entlassen. Sie enthalten Denk- und Erfahrungsangebote, die für die Gegenwart durchaus attraktiv und in neuer Funktionalität reformulierbar sein können. Für eine christliche Sexualethik, sofern sie sich denn als biblische versteht und das Schriftprinzip ernst nimmt, besteht kein Grund, die Aussagen des Paulus zu verabsolutieren. Sie hätte eben dem nachzudenken: daß die Bibel selbst im Dialog mit nicht-biblischen Schriften eine stete Verschiebung des Evidenzraumes dokumentie; t, der es erlaubt, Begehren zu taxonomieren und überkommene Taxonomien in Frage zu stellen. Der amerikanische Judaist David Biale hat dies in Bezug auf das AT als »politics of sexual subversion« 31 beschrieben: Immer wieder läßt sich im AT beobachten, wie sexuell anstößiges, ja verbotenes Verhalten zum Bestandteil des göttlichen Heilsplanes wird (Gen 12; Gen 38; Jos 2; ISam 20; II Sam 11f etc.). Die Rabbinen sind für diese Abweichungen und Transformationen sehr aufmerksam gewesen. Auf die Frage, warum der fromme Abraham seine Frau Sara nicht aus der Ehe entlassen hat, wenn es doch geboten ist, sich von einer Frau nach erwiesener zehnjähriger Unfruchtbarkeit scheiden zu lassen, antwortet Rabba (bYev 64a): »All diese Normen gelten nicht. Merke, unsere Mischna ist ja von Rabbi redigiert, und schon zur Zeit Davids ist die Lebensdauer gekürzt worden, denn es heißt: unsere Lebensdauer ist siebzig Jahre.« Im Nachzeichnen dieserauch von Jesus und Paulus reichlich praktizierten - Redigiertätigkeit, deren Ziel weder das neutestamentliche Zeitalter noch die Gegenwart ist die Evangeluten nennen als Zielpunkt das Reich Gottes-, gewinnt historische Forschung geradezu einen theologischen Sinn: Sie macht aufmerksam auf die Freiheit der Kinder Gottes (Gal 5,1), sich gegenüber vermeintlich sakrosankten symbolischen Ordnungen, dem »Gesetz in den Gliedern« (Röm 7,23), kritisch zu verhalten. ZNT 2 (1998) 4 Anmerkungen Aus dem Gedicht: »Nimmersatte Liebe« (1828). Aus der Fülle der Literatur seien genannt: Foucault, M., Sexualität und Wahrheit Bd. 1-3, Frankfurt am Main 1983ff; Winkler, J., Der gefesselte Eros. Sexualität und Geschlechterverhältnis im antiken Griechenland, Marburg 1994; Richlin, A., The Garden of Priapus. Sexuality and Aggression in Roman Humor, New Haven und London 1992 2; Cantarella, E., Bisexuality in the Ancient World, New Haven und London 1992; Cohen, D., Law, Sexuality, and Society. The Enforcement of Morals in Classical Athens, Cambridge 1994; Meyer-Zwiffelhoffer, E., Im Zeichen des Phallus. Die Ordnung des Geschlechtslebens im antiken Rom, Frankfurt am Main und New York 1995. Vergl. Boswell, J., Christianity, Social Tolerance, and Homosexuality, Chicago und London 1980; Brown, P., Die Keuschheit der Engel, München und Wien 1991; Malina, B., Die Welt des Neuen Testaments. Kulturanthropologische Einsichten, Stuttgart u.a.O. 1993; Countryman, L.W., Dirt, Greed and Sex, London 1989; Berger, K., Historische Psychologie des Neuen Testaments, Stuttgart 1991; Brooten, B., Love Between Warnen. Early Christian Responses Toward Female Homoeroticism, Chicago und London 1996; Theißen, G., Eros und Urchristentum. Am Beispiel des Paulus, in: Pott, H.-G. (Hg.), Liebe und Gesellschaft. Das Geschlecht der Musen, München 1997, S. 9-30; Tiedemann, H., Die Erfahrung des Fleisches. Paulus und die Last der Lust, Stuttgart 1998. Douglas, M., Ritual, Tabu und Körpersymbolik, Frankfurt am Main 1986, S. 106. Braudel, F., Geschichte und Sozialwissenschaften - Die »longue duree«, in: Wehler, H.-U. (Hg.), Geschichte und Soziologie, Königsstein/ Ts. 1984, S. 189-215. 6 Vergl. Bourdieu, P., Die männliche Herrschaft, in: Dölling, I. und Krais, B. (Hg.), Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, Frankfurt am Main 1997, S. 153-217. Vergl. z.B. Betz, H.D., Das Problem der Grundlagen der paulinischen Ethik (Röm 12,1-2), in: ZThK 85 (1988), S. 199-218; Lindemann, A., Die biblischen Toragebote und die paulinische Ethik, in: Schrage, W., (H.), Studien zum Text und zur Ethik des Neuen Testaments, Berlin und New York 1986, S. 242-265. Vergl. z.B. Holtz, T., Zur Frage der inhaltlichen Weisungen bei Paulus, in: ThLZ 106 (1981), Sp. 385-400; Rosner, B., Paul, Scripture and Ethics. A Study of 1 Corinthians 5-7, Leiden 1994. 9 So wurde der an sich rühmliche Cäsar zum Gegenstand eines Gassenhauers, von dem bei Sueton berichtet wird (Cäsar 49): »Gallien unterwarf der Cäsar, Nikomedes Caesar einst; Siehe, Caesar triumphiert jetzt, der die Gallier unterwarf; Nikomedes triumphiert nicht, der den Cäsar unterwarf.« 70 Vergl. z.B. Martials Ausfälle gegenüber der Tribade Phi- ZNT 2 (1998) laenis (epigr. 7,67; Übersetzung: W.A. Krenkcl): »Die Tribade Philaenis bumst gar Knaben wilder als ein vor Gier gespanntes Mannsbild - und verstöpselt dazu elf Mädchen täglich.« 11 Beispiele: Die Sybariten treiben es mit Tieren (Philo, SpecLeg 3,43 ), die Mager verkehren mit ihrer Mutter, die Ägypter mit ihrer Schwester (Sextus Empiricus, pyrrh. 205). 12 Die Bedeutung der Wendung ist umstritten. Fraglich ist, ob hier jede Form der Polygamie verboten ist oder nur eine erneute Verheiratung solange die erste Ehefrau noch lebt. 13 Vergl. Malina, B., Welt, a.a.O., S. 69-76. 14 Diese Angst dürfte im Hintergrund der Schleieranordnung (I Kor 11,10) stehen. Vergl. auch lQGenAp II; JosAs 15,8. 15 Epiktet, Diss. III, 29.69. 16 Musonius, Diatr. XIV 17 Seneca, De constatia sapientis 7,2. 18 Musonius, Diatr. XII. 19 Vergl. Vcyne, P., Die römische Gesellschaft, München 1995, S.114: »Von einer Moral statuarischer Handlungen zu einer Moral interiorisierter Tugenden: dies ist die große Mutation zwischen Cäsar und Marc Aurel. Sie ist es, die den Triumph des Christentums erklärt (statt dadurch erklärt zu werden): eine Gesellschaft, die sich eine solche Ethik zu eigen gemacht hatte, konnte den christlichen Ideen nicht widerstehen; sie rief sie sogar herbei.« 20 Vergl. Plümacher, E., Identitätsverlust und Identitätsgewinn. Studien zum Verhältnis von kaiserzeidicher Stadt und frühem Urchristentum, Neukirchen/ Vluyn 1987. 21 Vergl. Philos Schrift Quod omnis probus liber sit. 22 Diese Übertragung reizt zu psychologischen Deutungen. Was Thcißen (Psychologische Aspekte paulinischer Theologie, Göttingen 1983, S. 267) in Bezug auf Röm 7 schreibt, ließe sich auch für Gai 5 formulieren: »Christus tritt als stellvertretend handelndes und leidendes Modell auf: Ihn trifft die mit dem Gesetz verbundene aggressive Macht, ohne ihm ernsthaft zu schaden. Gott verurteilt ihn, aber er revidiert sein Urteil. Der Gekreuzigte wird erhöht. Die Gläubigen vollziehen dies Geschehen immer wieder in ihrem Innern nach. Sie lernen durch dies >verdeckte Verhalten<, sich angstfrei dem fordernden Gott zu nähern.« Hinzuzufügen ist, daß diese ,Angstfreiheit< in Gai 5 mit dem ,Tod der Begierden< erkauft wird. 23 ApkMos 19 (Übersetzung: C. Fuchs). 24 ApkAbr 23,11 (Übersetzung: Philonenko-Sayar). 25 IV Makk 2,21-23 (Übersetzung: H.-J. Klauck). 26 Vergl. Anderson, G., Celibacy or Consummation in thc Garden? Reflections on Early Jewish and Christian Interpretations of the Garden of Eden, in: HThR 82 (1989), s. 121-148. 27 Anders: Käsemann, E., An die Römer(= HNT Sa), Tübingen 19804, S. 186: » ... geschweige, daß an die Sexualität gedacht wäre.« - Eine Übertreibung ist es allerdings, wenn es bei D. Boyarin (A Radica! Jew: Paul and the Politics of Identity, Berkeley u.a.O. 1994, S. 165) 27 heißt: »However we may understand the soliloquy of Romans 7, I think a strong case can be made for the interpretation that Paul's theme in this chapter is sexuality and redemption from it.« 28 Allerdings ist der Gedanke kaum ohne einen biographischen Erfahrungshintergrund. Vergl. Theißen. G., Aspekte, a.a.O., S. 204: »Das nächstliegende ist, an ein »Ich« zu denken, das persönliche und typische Züge vereint.« 29 Vergl. Käsemann, E., Römer, a.a.O., S. 188f. 30 Dodds, E.R., Heiden und Christen in einem Zeitalter der Angst, Frankfurt am Main 1992, S. 43. UTB für Wissenschaft Klaus Berger Hermeneutik des Neuen Testaments UTB Mittlere Reihe 2035, 1998, ca. 300 Seiten, ca. DM 32,80/ ÖS 239,-/ SFr 30,50 UTB-ISBN 3-8252-2035-4 Klaus Berger geht es im vorliegenden Band um die Erstellung von Kriterien für die inhaltliche Schriftauslegung. Neben der grundlegenden systematischen Reflexion über das, was in der Exegese der Schrift geschieht, stehen konkrete Regeln der Umsetzung und Applikation heute. Beide Aspekte werden eher pragmatisch beantwortet. Der Horizont der deutschen idealistischen Philosophie wird verlassen. Statt dessen zeigt Berger, daß sich gerade von jüdischen Philosophen lernen läßt, wie die gesuchten Kriterien aussehen könnten. Der Versuch, historische Auslegung und zeitgenössische Neuanwendung auseinanderzuhalten, lehrt vor allem, methodisch nachdenklicher zu werden und Klarheit zu gewinnen. UTB FURWISSEN SCHAFT Francke A. Francke Verlag· Postfach 2560 · D-72015 Tübingen 28 Die Bergpredigt ausgelegt für Christen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert REl'-.JHARD FELDMEl[R (HG.) VANDENHOECK & RUPRECHT Reinhard Feldmeier (Hg.) „Salz der Erde 1.1 Zugänge zur Bergpredigt. Biblisch-theologische Schwerpunkte, Band 14. 1998. 265 Seiten mit 6 Abbildungen, kart. DM 36,- / öS 263,- / SFr 33,-; bei Subskription der Reihe DM 32,40 / öS 237,- / SFr 30,lSBN 3-525-61358-X Die Bergpredigt mit ihrem Anspruch radikaler Nächstenliebe scheint heute, kurz vor der Jahrtausendwende, nicht mehr in die religiöse und gesellschaftliche Landschaft zu passen. Dies war für Theologen verschiedener Disziplinen (Exegese, Ethik, Pastoraltheologie und Religionspädagogik) der Anlaß, diesen zentralen Text des Christentums als Herausforderung unseres gegenwärtigen Selbstverständnisses neu zu Gehör zu bringen. Das Buch bietet eine Exegese des Textes, Überlegungen zur Ethik der Bergpredigt und viele Hinweise zur unterrichtlichen Erschließung in verschiedenen Jahrgangsstufen. Weitere Informationen: Vandenhoeck R Ruprecht, Theologie, 37070 Göttingen V&R Vandenhoeck &Ruprecht ZNT 2 (1998) Dirk Frickenschmidt Evangelium als antike Biographie Alle vier Evangelien enthalten einen Erzählblock, der als Wendepunkt in der öffentlichen Wirksamkeit J esu geschildert wird: dort folgt jeweils auf die Episode der Speisung vieler Menschen durch Jesus eine spannungsgeladene Klärung der Frage nach seiner wahren Identität, seinem wahren Wesen. Bald darauf geht Jesus nach Jerusalem und in Konflikte hinein, die schließlich mit seiner Hinrichtung enden. In modernen}esus- Biographien oder Monographien über den historischen Jesus wird dieser zentrale Erzählabschnitt gern mehr oder weniger übergangen und unter Hinweis auf Analogien zur alttestamentlichen Elisa-Parallele (IIKön 4,42-44) symbolisch verflüchtigt oder insgesamt für eine literarische Fiktion gehalten. Das liegt zum einen daran, daß das »Naturwunder« der Speisung (so die immer noch verbreitete neuzeitliche Schublade für das Geschehen) modernen Jesus-Forschern und -Biographen deutlich erkennbares Mißvergnügen bereitet. Und zum anderen scheint es aus moderner Perspektive schwerzufallen, einen Sinn in der Plazierung des Erzählblocks an dieser Stelle in den Evangelien zu sehen außer vielleicht in vermeintlichen Abendmahls-Konnotationen oder in einem Darstellungsbedürfnis übersteigerten nachösterlichen Wunderglaubens. 1 Nach der Funktion einer solchen Episode im Kontext antiker Biographien wird dagegen in der Regel erst gar nicht gefragt. Genau diese Fragestellung könnte aber zu aufschlußreichen Antworten - und dies nicht nur im Blick auf die Speisungsgeschichten, sondern auf die vier Evangelien insgesamt führen 2 • 1. Charakterisierung der Hauptperson auf dem Höhepunkt ihrer Wirksamkeit Die charakteristische Eigenart eines Menschen wurde in antiken Biographien unter anderem im Zusammenhang mit dem besonders hervorgehobenen Höhepunkt (griech. akme) seiner öffentli- ZNT 2 (1998) chen Wirksamkeit erörtert. Wie der Altphilologe G. Polman gezeigt hat, hat der bedeutendste antike Biograph Plutarch ein solches Verfahren in ungefähr der Hälfte seiner 50 erhaltenen Biographien angewandt. »Manchmal betont er die akme durch Einfügung einer Liste von Ehrungen, die dem Helden zuteil wurden (z.B. Themistokles, Aristides, Flaminius). An anderen Stellen dagegen muß der Leser selbst aus den Ereignissen im Leben des Helden die akme herauslesen (z.B. Alexander, Demetrius).«3 Der Begriff selbst mußte nicht notwendigerweise genannt werden. Ein entsprechendes Verfahren, auf den Höhepunkt der Wirksamkeit die Charakterisierung der Hauptperson folgen zu lassen, läßt sich auch in anderen antiken Biographien (bei Nepos und Tacitus) nachweisen. Auch der jüdische Geschichtsschreiber Josephus hat es in einer biographischen Passage seiner Antiquitates über das Brüderpaar Asinäus und Aniläus (J osAnt 18,314-370; dort sogar ausdrücklich mit der Wendung akmazonton) verwendet. Die Kenntnis dieses Doppel-Topos (es gab in anderen Biographien auch eine Kennzeichnung des Wirkungshöhepunktes ohne anschließende Charakterisierung der Hauptperson) ist nützlich, um die Funktion der Speisungsgeschichten und der auf sie folgenden Episoden im Gesamtaufbau der Evangelien besser verstehen zu können. 2. Schilderung eines Wunders oder Entfaltung einer Führungsrolle? Zunächst einmal muß man sich dabei vor Augen halten, daß die Speisungen aus damaliger Sicht nicht vorrangig als mirakulöses Naturereignis verstanden worden sind. In den Evangelien werden auch keine Reaktionen des Staunens oder Erschreckens (wie bei anderen wunderbaren Taten Jesu) geschildert. 4 Statt dessen wurdeJesu Handeln vor allem als öffentlicher Akt eines Wohltäters, eines Menschen mit deutlich sichtbaren Führungsqualitäten aufgefaßt. Das wird in exemplarischer 29 Dirk Frickenschmidt Dirk Frickenschmidt, Jahrgang 1954, nach Assistentenvikariat an der kirchlichen Hochschule Wuppertal seit 1989 Pfarrer in Barmen. Promotion 1997 in Heidelberg. Klarheit im J oh deutlich, wo es heißt, daß Jesus im Zusammenhang dieser Episode als »der Prophet, der in die Welt kommen soll« bezeichnet wurde und zum König gemacht werden sollte Qoh 6,14f). Der zeitgeschichtliche Hintergrund macht verständlich, wie es zu einer solchen Interpretation der Rolle Jesu kommen konnte. Öffentliche Formen von Speisungen waren im damaligen Mittelmeerraum seit langem als populäre Herrscher-Akte bekannt (vgl. bereits Hdt I, 127), bei den herrschenden Römern sowohl auf aristokratischer wie auf populistischer Seite. Plutarch erzählt uns, wie die von Gaius Gracchus durchgesetzte Lex frumentaria (Pflicht zu regelmäßiger Abgabe preiswerten Getreides an die Bürger) sein Ansehen vergrößerte; kurz danach ist von seiner »fast monarchischen Machtfülle« (Plut.Gr. 27) die Rede. Herodes der Große zeigte sich durch Brotspenden in Notzeiten als fürsorglicher Herrscher (JosAnt 15,307- 309.314-316), und die römischen Kaiser sorgten neben regelmäßigen Subventionen des alltäglichen Getreidebedarfs (Frumentum) für besondere Verteilungen von Nahrungsmitteln (Congiarium), die sogar in den Provinzen exklusiv ihnen (oder ausdrücklich von ihnen dazu ermächtigten Personen) vorbehalten waren. 5 Es ging also beim Spenden von Brot in jedem Fall um Führungsrollen gegenüber dem Volk. Bei Mk ist exakt in diesem Sinne Mangel an Führung (6,34 »wie Schafe, die keinen Hirten haben«) und nicht Mangel an Nahrung der Aus- 30 gangspunkt der Geschichte, wie schon Pesch zu Recht unterstrichen hat. 6 In einem weiteren Vergleichstext aus Qumran ist wie in Mk 6,39f von Lagereinteilung die Rede. Auch dort geht es um einen Führungsakt, um die erste Tat eines neu eingesetzten Königs (llQ 19, Kol LVII). Der vorsichtigere Lk verzichtet auf die Hirtenanspielung und konkretisiert statt dessen die Lehre Jesu in einer eigenen Einfügung als »Reden über das Gottesreich« (Lk 9,11). So macht er zurückhaltender alsJoh oder Mk deutlich, daß Jesus, wenn er schon so handelt, diese Art von Herrschaft verkörpert und vertritt (vgl. J oh 18,36f). Mt verzichtet auf beide Hinweise. Aber indem er die Episode unmittelbar auf die Erzählung von der Hinrichtung des Täufers folgen läßt, stellt er einen Kontext her, der auf andere Weise für sich spricht. Denn im Mt ist es (anders als bei Mk u. Lk) Herodes selbst, der Jesus als von den Toten auferweckten Täufer bezeichnet (Mt 14,2). Aus dieser Sicht war Jesus nicht nur mit entsprechenden besonderen Kräften begabt (ebd.), sondern verursachte auch einen ähnlich besorgniserregenden Zulauf von Menschen. In Mt 14,5 fürchtet Herodes die Menge (ton ochlon), die Johannes für einen Propheten hielt; in Mt 14, 14 ist zu Beginn der Speisungsepisode aber erst recht von einer großen Menge (polyn ochlon) die Rede. Vor diesem Hintergrund und im Blick auf das spätere Verfahren gegen Jesus vor Pilatus ist die Einstufung der Speisungsgeschichte(n) als nachösterliche Symbolgeschichte(n) oder Fiktion alles andere als plausibel. Wenn jemand wie Jesus einer größeren Menge von Menschen nicht nur Unterweisung gab, sondern ihr gegenüber auch als Brotgeber erschien, dann war das trotz des relativ kleinen Maßstabes, in dem das geschah, unter den gegebenen Umständen nicht nebensächlich. Es weckte bei jüdischen wie heidnischen Zeitgenossen eine Fülle von Assoziationen: Jesu Handeln erinnerte dabei u. a. an Gestalten wie Elisa und Mose, an herrscherliche Fürsorge und Ordnung (Lagersymbolik), einen Bruch kaiserlicher Privilegien und nicht zuletzt an den Herrschaftsanspruch Gottes, den er vertrat. All das geschah laut Auskunft der Evangelisten mit Wirkung auf nicht wenige Menschen im Kontext damaliger Hoffnungen und Ängste, wie sie u. a. in Herodes' Umgang mit Johannes dem Täufer oder auch in Josephus' Schilderungen des Geschicks charismatischer Anführer und ihrer Anhänger zum Aus- ZNT 2 (1998) druck kommen. So konnte man J esu Handeln vor diesem Hintergrund entweder (gutmütig) als Zeichenhandlung einer besonderen Art von Vollmacht oder aber (furchtsam oder böswillig) als Kollision mit bestehenden Formen von Herrschaft interpretieren. Fazit: Aus der Perspektive der Evangelisten stand Jesus im Zusammenhang der Speisungsgeschichte(n) auf dem Höhepunkt seiner öffentlichen Wirksamkeit. Die größte in den Evangelien genannte Zahl seinetwegen versammelter Menschen (wie groß oder klein wir sie auch immer historisch einschätzen) wird nicht zufällig jeweils an dieser Stelle genannt. In den Evangelien steht Jesus diesen Menschen als Führungsperson in doppelter Rolle, als Lehrer und als hoheitlicher Brotgeber, als >prophetische< und ,königliche, Autorität, zusammen mit ihm untergebenen Helfern (den Jüngern) gegenüber. Wie in anderen antiken Biographien kommt dieser Passage daher jeweils eine Schlüsselrolle im Mittelteil der Biographie zu. 3. Charakter-Kennzeichnung bei einem »Mann ohne Eigenschaften«? Aber wie steht es dann mit der in einigen Biographien mit diesem Höhepunkt verbundenen Charakterisierung der Hauptperson? Muß der Biographie-Vergleich hier nicht ins Leere laufen? Haben wir nicht seit K. L. Schmidt, Buhmann, Dibelius und anderen gelernt, daß in den Evangelien gerade die uns so vertrauten Arten der Charakterzeichnung und des »psychologischen Porträts« keine nennenswerte Rolle spielen? In den Evangelien wird doch (mit einigen wenigen Ausnahmen) kaum je im modernen Sinn erzählt, »wie Jesus war« und was für sein Gefühlsleben oder seine »Entwicklung« kennzeichnend war. Auch seine Tugenden und Schwächen werden nicht, wie wir das immerhin aus vielen griechischen Lebensläufen der Antike kennen, explizit zum Thema gemacht. So hat in jüngerer Zeit der Altphilologe A. Dihle, der ansonsten durchaus Gemeinsamkeiten zwischen Evangelien und antiken Biographien sieht, die in der peripatetischen Tradition wurzelnde Weise griechischer Charakterschilderung zu Recht in den Evangelien vermißt. 7 Ist der Jesus der Evangelien also nicht, um mit Musil zu sprechen, ein ZNT 2 (1998) »Mann ohne Eigenschaften«? Diese Frage läßt sich nur im Blick auf die verschiedenen Arten von »Charakterschilderung« in der gesamten Breite antiker Biographien adäquat beantworten. Und hier zeigen sich neben grundlegenden Gemeinsamkeiten interessante und wichtige Unterschiede in griechischen, römischen und jüdischen Biographien. Antiken Biographien gemeinsam ist die Auffassung, daß das Wesen eines Menschen von Geburt an vorgegeben ist und vor allem in seinen Taten zum Ausdruck kommt. Von allmählicher Entwicklung wie in moderner Perspektive ist hier nicht die Rede, bestenfalls vom schwächeren oder stärkeren Hervortreten bereits vorgegebener Eigenschaften je nach Lebensumständen. Entsprechend solcher Grundannahmen hatte die antike Erziehung nicht das Ziel, Menschen entscheidend zu formen, sondern durch praktische Übung die besseren Seiten zu stärken und die schlechteren zu disziplinieren. »Charakter« war dann das Ergebnis von Anlagen und Übung, wie es in Taten Gestalt annahm. Solchen weithin gemeinsamen Grundauffassungen standen aber unterschiedliche Ausprägungen dessen gegenüber, was man unter »Charakter« jeweils in griechischen, römischen und jüdischen Biographien verstand. In der griechischen, maßgeblich von der Aristoteles-Schule geprägten Tradition ging es hauptsächlich um individualethisches Handeln, in dem man Charakter positiv oder negativ manifestiert fand. Tugend- und Lasterbegriffe, die den einzelnen Menschen betrafen, wie »Klugheit« oder »Mut«, bildeten eine Orientierungshilfe, um Taten beurteilen und die darin zum Ausdruck kommende Eigenart und sittliche Qualität des Betreffenden daraus ablesen, bewerten und kommentieren zu können. Römische Biographen setzten andere Schwerpunkte. Sie waren weniger daran interessiert, persönliche Tugenden ausgiebig zu kommentieren und vertrauten insgesamt mehr darauf, daß Taten und Verhalten, z.B. in der öffentlichen Ämterlaufbahn, prägnant für sich selbst sprechen würden. Und dort, wo sie sich explizit über entsprechende Eigenarten ihrer Helden äußerten, taten sie es oft weniger unter dem Gesichtspunkt der Verwirklichung persönlicher Normen als vielmehr im Blick auf die Bewährung kollektiv-ethischer Werte und staatstragender Tugenden. Eine ähnliche Tendenz zur eher narrativ entfal- 31 tenden als kommentierenden Art der Charakterschilderung begegnet uns auch in jüdischen biographischen Texten. Zugleich zeigt sich hier eine noch auffälligere, religionsgeschichtlich begründete Besonderheit, die sich gut an der Wirkungsgeschichte der bereits im Alten Testament in biographischer Form vorliegenden Simson-Erzählung verdeutlichen läßt. Auf der einen Seite steht J osephus, der in seiner Neuerzählung der Geschichte innerhalb seines Geschichtswerkes G osAnt 5, 276ff) an peripatetische Charakterschilderung anknüpft. Er bemüht sich, Simson als überlegenen Vertreter griechischer Kardinaltugenden zu schildern und die biblische Vorlage moralisierend zu enttheoiogisieren. Auf der anderen Seite zeigt sich in Ps-Philos Liber Antiquitatum die umgekehrte theologische Betonung dessen, was in jüdischbiblischer Tradition als die wirklich wesentliche Eigenart eines Menschen aufgefaßt wurde: die Qualität seiner Beziehung zu Gott (Simsons Leben als »Geheiligter« AntBibl 42,3 ), der seinerseits treuen Beistand gewährt (AntBibl 43,5). Diese Tendenz kommt auch in der armenisch erhaltenen Schrift De Sampsone 8 prägnant zum Ausdruck: dort heißt es, daß Simson das Pneuma anstelle einer Seele diente (De Sampsone 19). Eine derartige Sichtweise hat nun erhebliche Auswirkungen auf die Art der Charakterdarstellung in einer biographischen Erzählung. Denn aus dieser jüdischen Perspektive wurde der »Charakter« eines Menschen statt mit Hilfe individual-ethischer Kategorien streng relational, als Qualität der Beziehung zu Gott und als Art und Intensität der Begabung mit Gottes Geist verstanden. »Charakter« zeigt sich dann vor allem in inspirierter Bewährung gegenüber den von Gott gegebenen Gaben und Aufgaben. Das geschieht innerhalb einer beständigen Beziehung, jenseits derer nicht von sittlich autonomen Tugenden die Rede sein kann. In den Evangelien wird im Anschluß an die »Speisung der 5000« biographisch genau das thematisiert, was aus dieser genuin jüdischen Perspektive für Jesu Wesen und »Charakter« als kennzeichnend betrachtet wurde. 9 Das vielsagende »Ich bin's« bei der nächtlichen See-Begegnung mit den Jüngern leitet die Klärung für die bei Mk noch begriffstutzigen (Mk 6,52) und bei Mt bereits Jesus als Gottessohn erkennenden (Mt 14,33) - Jünger ein. Im Petrusbekenntnis wird die Frage, wer und von welcher Art Jesus denn nun sei, mit der Qua- 32 lität der Gottesbeziehung Jesu als »Heiliger Gottes« Qoh 6,69) bzw. »Messias/ Christus« (Mk 8,29 parr) oder »Sohn des lebendigen Gottes« (Mt 16,16) beantwortet. Zugleich wird die Treue gegenüber Gottes Willen und Auftrag ein weiteres wichtiges »Charakter-Kennzeichen« aus jüdischbiblischer Perspektive in den synoptischen Leidensweissagungen thematisiert, die nicht zufällig im Zusammenhang der akme-Charakterisierung beginnen. Schließlich erreicht die Klärung des Wesens Jesu bei den Synoptikern in der Verklärung ihren Höhepunkt. Im J oh führt Jesus selbst mit der Brotrede diese Klärung erläuternd herbei. Dazu paßt es, daß im J oh erst auf diese biographische akme-Selbst-Charakterisierung nun weitere sog. Ich- Bin Worte folgen, die als Prädikate Symbole wie Brot, Licht etc. haben. Fazit: Beide Teile der bei Nepos, Plutarch, Tacitus und Josephus begegnenden biographischen akme-Charakterisierung finden sich auch in allen vier Evangelien. Der Höhepunkt der öffentlichen Wirksamkeit Jesu wird jeweils deutlich gekennzeichnet und mit einer anschließenden Charakterisierung J esu innerhalb jüdischer Kennzeichnungs- Weisen (Art und Qualität der Gottesbeziehung) verbunden. Wie in anderen antiken Biographien werden nach dem Höhepunkt des Mittelteils auch deutliche Krisensignale im Blick auf Konflikte, Gefährdungen und das Ende der Hauptperson (bei den Synoptikern in den Leidensweissagungen, bei Joh in der auf die Brotrede folgenden Spaltung unter Jesus-Anhängern) angesprochen. 4. Die Dreigliederung antiker Biographien und der Aufbau der Evangelien Die akme-Charakterisierung ist nun bei weitem nicht der einzige Topos, den die Evangelien mit antiken Biographien an vergleichbarer Stelle im Gesamtaufbau gemeinsam haben. Andere Topoi, vor allem im stark durch Konventionen geprägten Anfangsteil, sind in antiken Biographien noch erheblich breiter belegt. Aber hatten antike Biographien neben verbreiteten Topoi denn überhaupt einen vergleichbaren Gesamtaufbau? Diese Frage muß gestellt werden, weil biographisches Erzählen in der Antike nicht (wie bei hohen antiken Literaturformen) weitgehend durch Gattungsregeln festge- ZNT 2 (1998) schrieben war, sondern durch Beispiele und allmählich entstandene Erzählkonventionen geprägt wurde und dabei eine erhebliche Variantenbreite zeigte. Wie sich zeigt, weisen antike Biographien bei aller Varianz und Flexibilität eine allgemein verbreitete Grundform auf, die jeweils drei Hauptabschnitte mit ihnen konventionell zugeordneten Topoi umfaßt. Biographische Abschnitte in Herodots Historien zeigen bereits ebenso wie ältere biographische Enkomien einen solchen Aufbau. Aristoteles unterscheidet in seiner Poetik zwischen einem dreigliedrigen kurzen Entwurf einer personenbezogenen Handlung (noch nicht: Biographie) und einer ausführlichen episodischen Ausgestaltung aller drei Abschnitte. In der Folge läßt sich eine solche Struktur ebenso wie das »Herstellungs-Verfahren« (allmähliche episodische Ausgestaltung einer dreigliedrigen Basis- Skizze) auch für die Blütezeit antiker Biographien nachweisen. Dabei reicht das Spektrum von dreigliedrigen Basis-Biographien, die aus wenigen Sätzen (entsprechend der aristotelischen ersten Skizze) bestanden, über Zwischenformen mit Anfügung weiteren Materials an solche Grundformen, bis hin zur ausführlichen, ebenfalls dreigliedrigen Ausgestaltung in mittleren bis langen Voll- Biographien. Die kennzeichnenden Topoi der drei Erzählabschnitte können hier nur knapp im Überblick gestreift werden. 10 Hauptthema des ersten Abschnitts war die Herkunft der Hauptperson und ihr Leben bis zu einem ersten Höhepunkt in der beginnenden öffentlichen Wirksamkeit. Im Mittelteil wurde in kennzeichnenden Taten und Worten ebenso wie im Blick auf Reaktionen von Freunden und Feinden das verborgene Wesen der Hauptperson entfaltet. Im Schlußteil schließlich wurde von den Problemen oder Konflikten erzählt, die zum Ende der öffentlichen Wirksamkeit und zum Tod der Hauptperson führten. Innerhalb aller drei Teile, vor allem aber im Mittelteil, gab es neben grundlegenden Topoi flexible Ausgestaltungsmöglichkeiten, je nach Art und Menge des zur Verfügung stehenden biographischen Materials und je nach Art des Menschen, um den es ging. Alle vier Evangelien zeigen so viele und so intensive Gemeinsamkeiten sowohl mit dem Gesamtaufbau als auch mit vielen verbreiteten Topoi antiker Biographien (und dies an je vergleichbarer Stelle), daß man sie ZNT 2 (1998) als antike Biographien im Vollsinn des Wortes bezeichnen muß. Die unter Exegeten immer noch weit verbreitete, literaturgeschichtlich schon immer fragwürdige Annahme, Mk habe eine völlig neue Gattung »Evangelium« geschaffen, erweist sich vor diesem Hintergrund als Fehlannahme. Das gilt nicht weniger von einer anderen verbreiteten Ansicht, die Sehmithals kürzlich in ZNT 1 noch einmal wiederholt hat: man könne doch unmöglich annehmen, daß der Evangelist Johannes die durch Mk eingeführte singuläre Gattung Evangelium noch einmal erfunden habe. 11 Dagegen ist festzuhalten, daß nicht nur der Aufbau des Mk, sondern auch Struktur-Ähnlichkeiten des Joh gegenüber Mk mühelos als Gemeinsamkeiten beider Evangelien mit anderen antiken Biographien zu erklären sind. Die ohnehin höchst problematische Herleitung der Gesamtform des Joh aus der fälschlich für singulär gehaltenen Evangelienform des Mk ist durch den Biographievergleich also ebenfalls überflüssig geworden. 5. Geburt und Kindheit: häufig Fehlanzeige Aus moderner Sicht ist klar, womit eine Biographie zu beginnen hat: mit der Geburt und der Schilderung der Kindheit und Jugend. So liegt die immer wieder begegnende falsche Schlußfolgerung nahe, erst Mt und Lk hätten sich mit entsprechenden Geschichten einer biographischen Erzählform wenigstens teilweise angenähert. 12 Aber antike Biographen folgten solchen modernen Auffassungen nicht. In den großen antiken Biographie-Sammlungen um die Zeitenwende (Nepos, Plutarch, Sueton13) ist von Geburt regelmäßig nur (und selbst dort oft lediglich stichwortartig) in Suetons Kaiserbiographien die Rede. Ansonsten erweist sich der Topos als ein relativ selten angedeuteter und noch seltener ausgeführter Nebenaspekt damaliger Lebensbilder. Im Gegensatz zu den verzichtbaren Geburtsangaben und -geschichten fehlten aber so gut wie nie Herkunftsangaben. Antike Biographen haben unter Stichworten wie »Anfang/ anfangen«, »zuerst« u.ä. auch explizit erläutert, daß sie ihrer Meinung nach grundlegend für den ersten Abschnitt einer antiken Biographie waren. Bereits in elementarer 33 Form (Name, evtl. Beiname, »Sohn des x«, evtl. kleine Erweiterungen dieser Grundform wie »aus y«) konnten sie eine antike Biographie einleiten. Manchmal folgte auf eine solche Herkunfts-Einleitungswendung sogar direkt der Übergang zum Mittelteil. So konnten antike Biographien mit alttestamentlichen Propheten-Erzählungen gelegentlich darin konvergieren, daß nach den Herkunftsangaben nicht Kindheit, Jugend und Ausbildung, sondern der Beginn der öffentlichen Wirksamkeit zum Ausgangspunkt biographischen Erzählens wurde (vgl. Nep.Dat.l, Plut.Tim.3 u. Ni.l oder Diog.Laert. I,74 über Pittakos). Vor dem Hintergrund solcher Konventionen läßt sich u.a. auch die umstrittene Wendung »Anfang des Evangeliums« in Mk 1,1 besser verstehen. Denn hier muß nicht gerätselt werden, ob der Satz im Sinn einer Buchüberschrift über das ganze Evangelium oder eher als allgemeiner Verweis auf die »Anfänge« des Wirkens Jesu gemeint sei. Das Stichwort »Anfang« signalisiert statt dessen genau wie in biographischen Vergleichstexten einfach den ersten der drei grundlegenden Biographie- Abschnitte, in dem es um die Herkunft der Hauptperson und ihr Leben bis zu einem ersten öffentlichen Höhepunkt ging. Entsprechend folgt in Mk 1,1 zunächst die Herkunftsangabe, nur nicht im Blick auf leibliche Eltern, sondern als gewagte Metapher: 14 »Anfang des Evangeliums [hier im Sinn einer froh machenden biographischen Erzählung] von Jesus Christus, dem Sohn Gottes.« Und der so gekennzeichnete Anfangsabschnitt reicht dann bis Mk l,14f und dem ersten öffentlichen Auftreten Jesu in Galiläa (mit dem folgenden »Tag in Kafarnaum« als Übergang zum Mittelteil). Auch für die anderen Evangelienanfänge erweist sich der Biographievergleich als hilfreiche Interpretationsgrundlage: mit biblos geneseos in Mt 1,1 ist ebenfalls keine (dann seltsame) Buchüberschrift und auch nicht nur die Genealogie gemeint (dann wäre biblos verfehlt), sondern wieder der durch das Thema Herkunft bestimmte und mit einer Genealogie eingeleitete erste von drei längeren Biographie-Abschnitten (Mt 1,1-4,17). Joh 1,1 greift das biographische Stichwort »Anfang« ebenfalls auf, aber spitzt die Frage nach der Herkunft noch mehr zu als Mk mit seiner gewagten Metapher »Sohn Gottes«. Wichtig ist aus der Sicht des Joh nicht so sehr, von wem Jesus abstammt, son- 34 dem in welcher grundlegenden und über jede Abstammung hinausgehenden Weise er in Relation zu Gott steht (sein grundlegendes »Bei-Gott-sein; vgl. oben die jüdische, relationale Art der »Charakterdarstellung«). Der sog. Prolog Joh 1,1-18 kehrt zugleich das konventionelle Thema der Herkunft anhand des Stichwortes Gotteskindschaft auf faszinierende Weise um: nun geht es nicht mehr nur um die tiefere Bedeutung von »Herkunft« auf Seiten der Hauptperson, sondern auch um Gotteskindschaft auf Seiten der Leser bzw. Hörer. Lk schließlich kennzeichnet sein Evangelium innerhalb seines kunstvollen Proömiums (mit historiographischen und biographischen Stichworten) ausdrücklich als »Erzählung« und umschreibt diese rückblickend in Act 1,1 indirekt als Biographie (alles, was Jesus tat und lehrte), bevor er dann parallel von der Herkunft und Geburt des Täufers und Jesu erzählt. 15 Solche in antiken Biographien üblichen Gegenüberstellungen von wichtigen Personen wurden synkrisis genannt und spielen auch in anderen Evangelien eine wichtige Rolle. Die Besprechung der Herkunft sollte schon im ersten Abschnitt antiker Biographien Hinweise auf die (verborgene) Eigenart der Hauptperson geben und begann mit dem Blick auf Eltern oder Vorfahren. Dort wurde auch in heutzutage eher unüblichen Formen, wie z.B. ausführlichen Genealogien, das für die Person Kennzeichnende gesucht. Solche Genealogien, die übrigens auch außerhalb jüdischer Traditionen in antiken Biographien begegnen (zum Teil sogar mit Zählung der Glieder wie in Mt 1,17), stellten einen zeitübergreifenden personalen Kontext her. Sie ließen die Hauptperson der Biographie von Beginn an quasi in einen Bereich eintreten, der bereits durch Taten und Eigenschaften berühmter oder bemerkenswerter Vorfahren qualifiziert war. Weitere Topoi thematisierten u. a. die Beziehung zu Volk und Vaterland oder als bedeutungsvoll empfundene numinose Kontexte, z.B. durch Zukunftsträume, Vorzeichen und Voraussagen über Bedeutung und Schicksal der Hauptperson. Kindheitsgeschichten begegnen nur gelegentlich und gehören nicht zu den zentralen Themenfeldern. Erziehung und Ausbildung spielten dagegen häufig eine wichtige Rolle in antiken Biographien, aber mit einer interessanten Ausnahme: in Dichterbiographien war statt dessen regelmäßig von göttlicher Begabung die Rede. Ähnlich in den ZNT 2 (1998) Evangelien: dort geht es nicht um Jesu Erziehung, sondern um seine Begabung mit Gottes Geist. 6. Passionsgeschichte mit ausführlicher Einleitung oder Biographie mit Schwerpunkt? Ein anderer Einwand gegen einen Biographie-Vergleich ist die modernen Lesern nicht vertraute ungleichmäßige Stoffverteilung innerhalb der Evangelien. Sind die Evangelien, in denen es jeweils schon früh um Jesu Konflikte geht und in denen sein Weg zum Kreuz besonders breiten Raum einnimmt, zugespitzt ausgedrückt, nicht »Passionsgeschichten mit ausführlicher Einleitung« (so eine oft aufgegriffene Wendung von Kähler)? Wie Burridge gezeigt hat, kann man das im Blick auf die Stoffverteilung in anderen antiken Biographien kaum sagen, denn auch dort konnten wichtige, wenn auch kurze Phasen im Leben der Hauptperson lang und ausführlich behandelt werden (auch in Schlußabschnitten), während an anderer Stelle Jahre öffentlicher Wirksamkeit nur am Rande gestreift oder kurz zusammengefaßt wurden. 16 Die Evangelien bewegen sich auch hier ganz und gar im Rahmen dessen, was in antiken Biographien als erzählerische Schwerpunktbildung möglich und üblich war. Burridge macht auch darauf aufmerksam, daß es ein viel wichtigeres Kriterium als die Stoffverteilung gibt, um biographische von nichtbiographischen Schriften zu unterscheiden: die Häufigkeit, in der die Hauptperson als handelndes oder redendes Satzsubjekt auftaucht. An diesem scheinbar trivialen, aber höchst effektiven Indikator zeigen sich gravierende Unterschiede zwischen biographischen und nichtbiographischen Schriften. Manchmal wird auch behauptet, es gehe in den Evangelien nicht vorrangig um Jesus, sondern um Gott bzw. göttliche Heilsgeschichte o. ä. Wie nicht nur der von Burridge verwendete Indikator zeigt, ist eine solche Annahme unvereinbar mit der tatsächlichen sprachlichen Gestalt der Evangelien. Sie sind eben nicht nach vorne hin erweiterte theologische oder gar theozentrische Traktate, etwa zum Thema der Heilsbedeutung der Kreuzigung und Auferweckung Jesu, sondern (und dies ausdrücklich einschließlich der Passionsgeschichte) antike Biographien im Vollsinn des Wortes. Sie ZNT 2 (1998) thematisieren das ganze Leben Jesu und ihn selbst konkurrenzlos als Hauptperson. Die Passionsgeschichte ist also jeweils ein wichtiger, aber dabei völlig in die Biographie integrierter Teil der Evangelien. Darin liegt auch die Ursache für die gescheiterten Versuche, für eine isolierte Gattung »Evangelien-Passionsgeschichte(n)« literaturgeschichtliche Parallelen zu finden. Weder der frühjüdische oder heidnische Märtyrer- Bericht noch der Bericht über den Tod berühmter Männer (exitus illustrium virorum), um nur die zwei wichtigsten unter den untersuchten Vergleichsgattungen zu nennen, können einlinig als Gattungsvorbilder für sie in Anspruch genommen werden. Wenn man umgekehrt nicht von einer isolierten Passionsgeschichte, sondern von ihrer Funktion im Rahmen einer antiken Biographie ausgeht, ergibt sich ein sinnvolles Bild: die Evangelisten konnten dann auf verbreitete Topoi beider genannter Untergattungen zurückgreifen, die zusammen mit anderen Elementen innerhalb der Gesamtform antiker Biographien verbreitet waren. Für die Passionsgeschichte als jeweils dritten Abschnitt der Jesus-Erzählungen bieten diese Viten, in denen erstaunlich häufig Konflikte zum Tod der Hauptperson führten (durch Hinrichtung, Mord, Selbstmord oder Verelendung), ebenfalls nützliche Interpretationshilfen. Zwei Beispiele sollen das verdeutlichen. 7. Prozesse und Pseudo-Prozesse Wenn in fünf von fünfundzwanzig kurzen N epos- Biographien Verrats- oder Hochverrats-Anklagen gegen die Hauptperson eine wichtige Rolle spielten, dann mag daran deutlich werden, daß die Evangelien kein in der Antike singuläres Thema am Ende ihrer Jesus- Biographien behandelten. Nicht nur das fragwürdige Verfahren gegen Sokrates, das mit seinem Tod endete, war berühmtberüchtigt. Diogenes Laertius macht im Anschluß an seine kurze Wiedergabe dieses Verfahrens (Diog.Laert. II, 38-42) eine aufschlußreiche Bemerkung (11,43): »Dieser Vorgang mit Sokrates und den Athenern steht übrigens nicht vereinzelt in der Geschichte da, es gibt viele ähnliche Fälle.« Tatsächlich wurden solche Verfahren in vier anderen antiken Biographien ausdrücklich als Pseudo- Prozesse gekennzeichnet, die jeweils nur dem 35 Zweck der Beseitigung der Hauptperson dienten und in denen nur äußerlich und oberflächlich der Schein eines rechtmäßigen Verfahrens gewahrt wurde. Die Art und Weise, wie bei Nepos (über den Athener Phokion), Plutarch (über Phokion und den spartanischen Reformer Agis, dem in einem nächtlichen Schnellverfahren ein der unmittelbaren Hinrichtung dienender Prozeß gemacht wurde) und in der anonymen Vita Aesopi G (»sie ersannen, weil sie keinen Grund zur Anklage hatten, eine schurkische Tat«, VitAes 121, die Aesop dann eine Verurteilung zum Tod einbrachte) solche Pseudo- Prozesse gekennzeichnet wurden, zeigt überraschende Parallelen zu der Art und Weise, in der die Evangelisten die Verfahrensweise gegen Jesus schildern. Das müßte (zusammen mit anderen wichtigen biographischen Parallelen) weitreichende Konsequenzen für die Exegese der Passionsgeschichte haben. Denn statt den Evangelisten zu unterstellen, ihre Darstellung der PassionJesu sei wirklichkeitsfremd, weil sie an wichtigen Punkten nicht damaligem Recht entspreche, müßte man angesichts der Vergleichstexte zunächst genau umgekehrt fragen: Wollten sie ihre Leser nicht im Rahmen üblicher Sprachsignale antiker Biographien gerade auf die rechtlich und menschlich fragwürdige Inszenierung eines aus ihrer Sicht inakzeptablen Pseudo- Prozesses aufmerksam machen? Auch an anderen Stellen könnte man aus antiken Biographien entsprechend Wichtiges zur Verurteilung und Hinrichtung Jesu lernen. So ist es entgegen vieler anders lautender Behauptungen weder als juristische Unkenntnis noch als Pilatusfreundliches Indiz auf Seiten der Evangelisten zu werten, daß sie nicht von einem formellen Schuldspruch des Pilatus erzählen. Im Gegenteil: ein solcher Schuldspruch war laut Haackers Untersuchung17 wegen des Schweigens J esu zur ihm vorgetragenen Anklage völlig überflüssig geworden wie den Evangelien-Autoren anscheinend im Gegensatz zu ihren neuzeitlichen Kritikern klar war. Eine bedrückende Szene, die eine solche römische Rechtsauffassung eindrücklich vor Augen führt, findet sich in Plutarchs Poplicola-Vita. Dort konfrontiert ein Konsul seine wegen Hochverrats angeklagten Söhne dreimal mit der Anklage. »Und als sie, dreimal gefragt, keine Antwort gaben, wandte er sein Gesicht den Liktoren zu und sagte: ,Das übrige ist nun eure Sache.< Die ergriffen sofort 36 die Jünglinge, rissen ihnen die Kleider vom Leibe, banden ihnen die Hände auf den Rücken und hieben sie mit ihren Ruten.« (Plut.Pp.6) Laut Plutarch folgte unmittelbar die Enthauptung. 8. Die doppelte Funktion antiker Biographien und der Zweck der Evangelien Selbst wenn die Evangelien sowohl den grundlegenden Aufbau als auch viele biographische Topoi mit anderen antiken Biographien gemeinsam haben, und selbst wenn Einzelfragen wie die nach ihrer Art der »Charakterschilderung« geklärt werden konnten, bleibt doch noch eine wichtige Frage zu berücksichtigen: Bleiben die Evangelien nicht als Ausdruck des Glaubens an Jesus anderen Biographien unvergleichbar? Verhindert ihr religiöser Charakter nicht einen Vergleich mit Schriften, die auf den ersten Blick bestenfalls moralisierten, im schlechteren Fall sogar nur leichte Unterhaltung boten? Tatsächlich sollte man spezifische religiöse Voraussetzungen und Ziele, wie sie in den Evangelien zweifellos zu erkennen sind, nicht durch einen Vergleich nivellieren. Man sollte sie aber auch nicht so übertreiben, daß man offenkundige Gemeinsamkeiten nicht mehr erkennen kann. Richtig ist, daß es unter antiken Biographien unter anderem oberflächliche Unterhaltungsliteratur gab. Aus diesem Grund befürchtete schon Nepos im Vorwort seiner Feldherrn-Viten, man könne diese (biographische) Art von Literatur (»hoc genus scripturae«) für oberflächlich (»leve«) halten (Nep.Praef.l). Aber dieser Vorwurf betraf ebenso leicht viele nichtbiographische, erzählende oder darstellende Werke. Deshalb konnte sich Philo von Alexandrien zu Beginn seiner Mose-Vita den Seitenhieb nicht verkneifen, andere (griechische) Autoren hätten generell die Tendenz, zuviel Zeit und Bildung mit leichter komödiantischer oder sonstiger Unterhaltung zu verschwenden, anstatt von vortrefflichen Menschen und ihrem wegweisenden Leben zu erzählen (VitMos I,3f). Antike Biographen verfolgten nämlich, wie das u. a. Philo selbst beanspruchte, auch sehr ernsthafte Ziele mit ihren Werken. Bereits seit Isokrates und der Zeit früher Enkomien (Lobschriften) sollte die Darstellung des Lebens eindrucksvoller und in irgendwelcher Hinsicht vorbildlicher Menschen ZNT 2 (1998) ausdrücklich dazu dienen, der Jugend Vorbilder zu geben, darunter auch solche, die nicht der fernen Vergangenheit angehörten, sondern der Gegenwart noch nahe waren (so äußerte sich auch einige hundert Jahre später noch der sonst so skeptische Lukian: Luk. Dem.1). Plutarch ging noch einen Schritt weiter und erwähnte, für ihn bedeute die Entfaltung eines Lebenslaufes ein intensives Vertrautwerden mit der jeweiligen Hauptperson. Er habe dabei nicht nur versucht, vor dem Spiegel der Geschichte sein eigenes Leben »gewissermaßen zu formen und dem Vorbild jener Männer anzugleichen«. Er betrachte auch das, was dabei vor sich gehe, als eine Art stetiges Zusammensein und Zusammenleben mit »Gästen«, die das eigene Leben und den eigenen Charakter in sehr positiver Weise bereicherten (Plut.Aem.1 ). Diese Art von Symbiose war u. a. durch die starke Wirkung des exemplum Socratis, des für viele beispielhaften Verhaltens des großen Philosophen, nicht nur für Biographen zu einem Orientierungspunkt in unruhigen Zeiten geworden. Auch Seneca schrieb in seinen Briefen an Lucilius, nichts führe mehr zum Guten als der Umgang (conversatio) mit guten Menschen (Sen.ep. 94,40f). Er riet dabei auch zum Umgang mit den besten nicht (mehr) Anwesenden mittels entsprechender Literatur: »Wende dich an bessere Begleiter: Leb mit [sie! ] den beiden Catones, mit Laelius, mit Tubern. Willst du aber auch mit Griechen zusammenleben, so verkehr mit Sokrates, mit Zenon ... « (Sen.ep. 104,21). Das, was bestimmte Menschen so wichtig und wegweisend für andere Menschen machen konnte, wurde von antiken Biographen weithin als eine Art Lebensgeheimnis verstanden: In und an besonderen Menschen gab es demnach wichtige Dinge zu entdecken, zu erspüren und darzustellen, die als besonders kennzeichnend im Blick auf die verborgene Identität eben dieser Menschen gelten konnten. So bekamen solche Biographien häufig eine doppelte Funktion. Einerseits sollten sie eine prägnante Entfaltung des verborgenen Wesens der Hauptperson in ihren Taten und ihrem Verhalten präsentieren. Andererseits sollten sie das Leben der Hauptperson so in das Leben der Adressaten hineinerzählen, daß eine Art von Zusammenleben mit der Hauptperson ermöglicht wurde, das wichtige Auswirkungen auf das eigene Leben haben ZNT 2 (1998) Dirk fricl<enschmidt Evangelium als anti! <e Bio~1raphie und es verändern und prägen konnte. Die Evangelisten haben diese doppelte Zielrichtung a.ntiker Biographien anscheinend aufgegriffen und prägnant theologisch zugespitzt. Ein solcher Zweck kommt explizit inJoh 20,31 zum Ausdruck. Die Leser/ Hörer sollen einerseits glauben, daß Jesus der Christus und Gottes Sohn ist (bejahendes Begreifen der verborgenen Identität). Andererseits sollen sie durch diesen Glauben inJesu Namen Leben haben (grundlegende Bereicherung durch die Anwesenheit der in das eigene Leben hineinerzählten Person). So geht das Joh zwar auf religiöse Weise über das, worauf andere antike Biographien zielen, weit hinaus, indem es 1 schlechterdings unüberbietbar vom »Leben halben« als Ziel spricht. Aber es knüpft dabei eben an den Vorstellungshorizont des doppelten Zwecks antiker Biographien an, statt sich als theologische Schrift nur prinzipiell davon zu unterscheiden. Ähnliches läßt sich von Mk sagen. Einerseits ist das gesamte Markusevangelium der erkennbare Versuch, die verborgene Identität J esu als »Sohn Gottes« mitsamt all dem, was Gott gerade durch diesen Sohn für Menschen tut begreifbar werden zu lassen. Andererseits dient es dazu, zur Jesus-Nachfolge durch Vertrautheit mit der Jesus-Biographie zu ermutigen und sie zu ermöglichen. Ähnliches ließe sichmit je eigenen Akzenten auch von Mt und Lk sagen. Wie die anspruchsvolleren unter den antiken Biographien wurden die Evangelien nicht vorrangig zu Unterhaltungszwecken geschrieben. Wie diese, aber aus spezifischen religiösen Gründen weit intensiver, sollten sie statt dessen dem Kennenlernen und Einüben einer verbindlichen und heilvollen Lebensform dienen. Anmerkungen 1 Einige Beispiele aus jüngeren theologischen Jesus-Darstellungen: Gnilka, Jesus von Nazareth. Botschaft und Geschichte, (HiThK Suppl. III) Freiburg, Basel, Wien 1990, 140 streift die Episode(n) nur kurz (hier und an wenigen Stellen), u. a. als eine von mehreren Wundergeschichten aus vermeintlich betont nachösterlicher Perspektive: »Nicht was er [i.e.Jesus] einmal getan hat und war, sollte man fragen, sondern was er jetzt noch tut und für uns ist.« (ebd. 139). J. Becker, Jesus von N azaret, Berlin, New York 1996 bespricht die Speisung(en) überhaupt nicht. J.D. Crossan, Der historische Jesus, München 1994 und ders., Jesus. Ein revolutionäres Leben, München 1996, beschäftigt sich zwar ausführlich mit 37 Mählern im allgemeinen und speziell der vermeintlichen Rolle der Speisung als »rückblickend in das Leben J esu versetzten Beschreibung des Rituals« eines nachösterlichen Abendmahls (ebd. 226f), aber eben nicht mit der Rolle dieser Episoden in den Evangelienerzählungen über die öffentliche Wirksamkeit J esu. In G. Theißen u. A. Merz, Der historische Jesus, Göttingen 1996, 267 wird die Speisung ebenfalls eher beiläufig als nachösterliche Wundergeschichte (fiktives Geschenkwunder) charakterisiert, das allerdings »schon früh von Jesus erzählt wurde« (starke Mehrfach-Bezeugung in unabhängigen Quellen). Für Rettungs-, Geschenkwunder und Epiphanien sei der Osterglaube Voraussetzung, der Jesus übermenschliche Fähigkeiten zuschreibe (268f). Auch E.P. Sanders, Jesus. Eine historische Biographie Jesu, Stuttgart 1996, bemerkt zu den Speisungen nur beiläufig, der merkwürdige Aspekt an solchen wohl auf Übertreibungen der Evangelien beruhenden - Naturwundern sei »der geringe Eindruck, den sie nach Auskunft der Evangelien machen« (ebd. 236). Das Gegenteil nur eben nicht unter dem Aspekt des Wunders, sondern der öffentlichen Rolle J esu wird allerdings in Joh 6,14f.26 ebenso deutlich wie in Lk 9,18-20. Bei Mk und Mt ist die Speisungsgeschichte eingebettet in weitere Episoden, die insgesamt zu Reaktionen der Menschen auf Jesu große öffentliche Rolle führen (vgl. Mk 6,53-56 par. u. Mt. 15,29-31). Wie aus der vorigen Anmerkung hervorging, kann das typisch moderne Anliegen, Jesu Wunder historisch zu beurteilen, leicht die zentrale Rolle der Geschichte in einer antiken Biographie verdecken, sowohl formgeschichtlich, als auch im Blick auf die dann womöglich anders zu beurteilenden historischen Implikationen. Die folgenden Ausführungen beziehen sich weitgehend auf die Buchfassung meiner Dissertation: D. Frickenschmidt, Evangelium als Biographie, (TANZ 22) Tübingen 1997 und fassen deren Ergebnisse kurz zusammen. Die Gliederung des Buches erlaubt ein schnelles Auffinden der dort ausführlich besprochenen zahlreichen Belege bzgl. Aufbau und Topoi antiker Biographien einschließlich der Evangelien. Dort finden sich auch weitere Literaturhinweise, Angaben zu den verwendeten Quellen und Übersetzungen sowie ein forschungsgeschichtlicher Überblick. Zur besseren Übersichtlichkeit habe ich Quellen- und Literaturverweise im vorliegenden Aufsatz knapp gehalten. G.H. Polman, Chronological Biography and akme in Plutarch, CP 69 (1974) 169-177: 173. 4 Wenn Jesus seinen Zuhörern oder einer größeren Zahl von ihnen (oder, wie andere annehmen: erst im Nachhinein den Evangelisten) als der Geber und Gastgeber einer großen gemeinsamen Mahlzeit erschien (aus was für Gründen auch immer), dann ist es für das Verständnis der Episode also vergleichsweise wenig relevant, wie wir heute den Vorgang der Brotverteilung unter dem Gesichtspunkt moderner Wunderkritik beurteilen. Jesus konnte prinzipiell vorösterlich ebenso gut wie nachösterlich als der Brotgeber eines öffentlichen Mah- 38 les verstanden werden, das er mit dem Austeilen von Brot einleitete und bei dem viele Menschen fanden, daß sie überraschenderweise mehr als genug zu essen hatten. Auch die bekannten Analogien zum von Elisa berichteten Speisungswunder in II Kön 4,42-44 unterstreichen dann ebenso wie der joh Bezug auf Mose und Manna Qoh. 6,31f) vor allem den starken Signalcharakter für den Bereich öffentlichen Handelns. Sie eignen sich trotz erkennbarer poetischer Freiheit in der Deutung des Geschehens weniger als Basis für historische Urteile über die mögliche Fiktionalität der gesamten Geschichte(n). Hierzu K. Berger, Manna, Mehl und Sauerteig. Korn und Brot im Alltag der frühen Christen, Stuttgart 1993, 122f. R. Pesch, Das Markusevangelium (Mk 1,1-8,26), (HThK II,1) Freiburg, Basel, Wien 4 1984, 355. 7 Vgl. A. Dihle, Die Evangelien und die griechische Biographie, in: P. Stuhlmacher (hg.), Das Evangelium und die Evangelien, (WUNT 28) Tübingen 1983, 383-412. 8 Drei hellenistisch-jüdische Predigten. »Über Jona«, »Über Simson« und »Über die Gottesbezeichnung « ,wohltätig verzehrendes Feuer<«, Bd. I, Übers. aus dem Armenischen u. sprachliche Erläuterungen v. F. Siegen, (WUNT 20) Tübingen 1980; Bd. II: ders., Kommentar nebst Beobachtungen zur hellenistischen Vorgeschichte der Bibelhermeneutik, (WUNT 61) Tübingen 1992. Bei Mk und dem ihm folgenden Mt wird dieser Zusammenhang durch die Doppelung der Speisungsgeschichte erweitert, die zusammen mit anderen Episoden theologische Funktion hat. Kann Jesus auch für Heiden öffentlich der sein, der er ist, und wie steht es dann mit Fragen von Reinheit und Unreinheit? Interessanterweise stellt Lk gegenüber dieser Erweiterung den unmittelbaren Zusammenhang von Höhepunkt des öffentlichen Wirkens und akme-Charakterisierung durch die direkte Abfolge von Speisung und Petrusbekenntnis wieder her. Im J oh charakterisisiert sich Jesus in der auf Speisung und See-Begegnung folgenden Brotrede selbst, bevor das Petrusbekenntnis folgt. 10 Ein Überblick über viele wichtige Topoi wird in meinem 11 12 13 Buch durch die Auswertung eines Grundbestandes von 142 erhaltenen Biographien der Antike erschlossen. W. Sehmithals, Gibt es Kriterien für die Bestimmung echter Jesus-Worte? , ZNT 1 (1998) 61. Ein jüngeres Beispiel (neben dem sich weitere nennen ließen): H. Conzelmann u. A. Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, (UTB 52) Tübingen 11 1995, 36: »Bei Matthäus treten durch Kap. 1 und 2 biographische Elemente hinzu .... Lukas ... strebt nach einer stärker biographischen Entfaltung und stellt daher [sie] stärker eine Reihe von Vorgeschichten und Kindheitserzählungen [Lk 1.2) seinem Evangelium voran.« Cornelius Nepos (geboren 110 v Chr.) schrieb lateinische Biographien in Sachgruppen, in denen er je eine Gruppe von Römern einer von Griechen gegenüberstellte. Neben einer Gruppe von 20 nichtrömischen Feldherren sind noch einige Einzelviten (von ursprünglich ca. 400 Biographien) erhalten geblieben. Von Plu- ZNT 2 (1998) tarch (geboren 50 n. Chr.) ist eine Sammlung von fünfzig nicht nur umfangreichen, sondern auch besonders weit entwickelten Biographien erhalten. In den meisten wurde je ein Grieche einem Römer gegenübergestellt. Dabei spielte die ethische Bewertung der Helden im Rahmen peripatetischer Tradition eine große Rolle. Sueton (geboren ca. 70 n.Chr.) hat in einem biographischen Sammelwerk über prominente Personen in fünf Gruppen über Dichter, Redner, Historiker, Philosophen sowie Grammatiker und Redner erzählt. Erhalten geblieben sind zwölf Kaiserbiographien und einzelne Viten aus anderen Gruppen. Näheres zu diesen und vielen anderen antiken Biographen findet sich in meinem oben genannten Buch. 14 Mk 1,1 enthält (ebenso wenig wie Mk 1,11) eine Anspielung auf Ps 2,7. Es geht hier weder um eine Adoption oder »Einsetzung zum Gottessohn« (analog zu jüdischen Vorstellungen von einer »Adoption« des Königs oder Israels als »Sohn«) noch um griechische Traditionen einer physisch verstandenen Abstammung von Göttern. Statt dessen ist in Mk 1,1 innerhalb des Topos der Herkunftsangabe anstelle des hier üblichen Vaternamens Gott eingesetzt: eine kühne Metapher innerhalb biographischer 'Konventionen. 15 Für Lk bekommt das Stichwort »Anfang/ anfangen« im Blick auf sein biographisch-historiographisches Doppelwerk einen anderen Sinn. Es meint nun den ersten Teil des Doppelwerkes und nicht, wie in reinen Biographien üblich, den ersten Teil der Biographie. Solche Doppelwerke sind auch sonst belegt, vgl. Plutarch über Galba und Otho und die Verzahnung der Krates-Vita mit der seiner Schüler bei Diogenes Laertius. 16 R.A. Burridge, What are the Gospels? A Comparison with Graeco-Roman biography, Cambridge 1992. Dort werden auf S. 164-167 Beispiele zum Thema »allocation of space« in antiken Biographien ausführlich mit Zahlen belegt. 17 K. Haackcr, Wer war schuld am Tod Jesu? , ThBeitr 25 (1994) 23-36: 34 unter Verweis auf durch die ! ex Rubria XXI geregelte Fälle, in denen der Angeklagte davon absah, sich zu verteidigen (»defensionem relinquere«). ZNT 2 (1998) Neues Testament Biblische Hermeneutik Jahrbuch für Biblische Theologie (JBTh), Band 12 (1997) Beiträge v. N. Lohfink, H. Spieckermann, G. Stemberger, S. Pedersen, U. Wi! ckens, E. Herms, U. H. J. Kiirtner, W Pannenberg, R. Koerrenz, 0. Fuchs, J. Barthel, B. Ego, H. Hoping, S. Reader 280 Seiten, Paperback, DM 68,-/ iJS 496,-/ sFr62,- ISBN3-7887-1642-8 Wer von „Biblischer Hermeneutik" spricht, geht von der Überzeugung aus, daß die eine Wahrheit der zweigeteilten christlichen Bibel einer Auslegung bedarf, welche die Verbindlichkeit ihrer Botschaft wahrnimmt und verständlich weitersagt. Der neueste Band des Jahrbuchs stellt sich dieser Aufgabe in Form von Grundsatzbeiträgen aus der Biblischen Exegese, der Judaistik sowie der Systematischen und Praktischen Theologie. Andreas Obermann An Gottes Segen ist allen gelegen Eine Untersuchung zum Segen im Neuen Testament. Mit einem Ausblick auf kirchliches Segenshandeln heute. BThSt, Band 37 144 Seiten, Paperback, DM 38,-/ öS 277,-/ sFr 35,- ISBN 3-7887-1705-X Wer die aktuelle Diskussion über Sexualität und Lebensformen verfolgt, stößt unweigerlich auf die Bedeutung des Segens in der besonderen biographischen Situation des Beginns eines gemeinsamen Lebensweges. Dabei stellt sich die Frage nach dem Wesen und Charakter des Segens. Die vorliegende Studie will neutestamentliche Impulse zur Beantwortung dieser zentralen Frage liefern. Das komplette Buch-Programm fordern Sie bitte an bei: Ncukirchener Verlag 47506 Neukirchen-Vluyn A.ndreas-Bräm-Str. 1si20 Telefon O28 45 / 39 22 22 Telefax O28 45 / 3 36 89 39 Mirjam Zimmermann/ Ruben Zimmermann Brautwerbung in Samarien? Von der moralischen zur metaphorischen Interpretation von Joh 4 für Prof Dr. Jörg Thierfelder zum 60. Geburtstag Die Szene ist bekannt, aber merkwürdig: Jesus trifft am Brunnen auf eine samaritanische Frau. Sie sprechen über Wasser, über lebendiges Wasser, das Jesus allein geben kann. Doch als die Frau dieses Wasser haben will, wechselt er abrupt das Thema. Scheinbar unmotiviert fordert Jesus die Samaritanerin auf, ihren Mann zu holen. Sie habe keinen Mann, versichert die Frau. Dann die vielsagende Antwort Jesu: »Wahr hast du geredet. Fünf Männer hast du gehabt und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann«. Der ganze Abschnitt über die Männerbeziehungen der Samaritanerin Qoh 4,16-19) hat den Exegeten immer wieder Anlaß gegeben, über die moralischen Entgleisungen oder gar das ausschweifende Sexualleben der samaritanischen Frau zu spekulieren: »Durch das Eheleben der von Begierde zu Genuß taumelnden Frau (wird) nicht nur die Unruhe, sondern auch die Verirrung des Lebenstriebes gekennzeichnet«. 1 Andere Interpreten sprechen von einer »moralischen Verkommenheit«, vom »Elend mit all seinem Schmutz« oder charakterisieren die Frau als ein »in gesetzloser Rohheit dahin lebendes Weib«. 2 Besonders hartnäckig wird die zitierte Bemerkung über die gegenwärtige Beziehung (V. 18) auf ein »uneheliches«, »nicht legales Verhältnis« (Link) bzw. eine »wilde Ehe« (Becker) oder »offenbaren Ehebruch« (de Boor) gedeutet, zumindest gilt es als Konsens, daß sie mit ihrem jetzigen Gefährten »sündhaft« (Schnackenburg) zusammenlebt. 3 Und was ist der Grund für diese moralische Entlarvung durchJ esus? Die Antwort von B. Weiss gibt im wesentlichen noch heute den exegetischen Main-Stream wieder: »Es gibt aber kein anderes Mittel, geistliches Bedürfnis zu wecken, als die Erregung des Schuldgefühls. Darum bringt Jesus durch die Aufforderung an das Weib, ihren Mann zu rufen, ihre Ehegeschichte zur Sprache, die durch ungezügelte Sinneslust, wohl auch durch 40 manche schwere Verfehlungen, wie noch gegenwärtig durch ihr direkt unsittliches buhlerisches Verhalten ihr Gewissen belastet (4,16-18).« 4 Die durch Jesu Allwissenheit entlarvte Lügnerin und Sünderin wird dann aber in ihrem Schuldbewußtsein zur Christuserkenntnis und zum Christusbekenntnis fähig. Von einem Schuldbekenntnis der Samaritanerin erfahren wir allerdings im Text ebensowenig wie von einer Anklage durch Jesus. Jede moralische Komponente ist der ganzen Szene offensichtlich fremd. So legt sich die Vermutung nahe, daß bei der genannten Deutung Moralvorstellungen der bürgerlichen Eheinstitution des 19. Jh.s und steile Bekehrungstheologie eine verführerische Liaison eingegangen sind. Im folgenden soll hingegen gezeigt werden, daß es inJoh 4, 16-19 wie im gesamten Kapitel in metaphorischer Sprechweise um eine ganz andere Liebesbeziehung geht. Bevor diese am Text erläutert wird (2.) soll zunächst die methodische Zugangsweise skizziert werden, nach der Joh 4 als >emotive lnteraktionsmetapher< zu verstehen ist (1.). 1. Methodische Zugangsweise Wenn wir Joh 4 als >metaphorischen< Text verstehen wollen, ist zunächst die Frage gestellt, was überhaupt eine »Metapher« ist. 5 Der in der rhetorischen Tradition wurzelnden Substitutions- oder Vergleichstheorie (d .h. Metapher als verkürzter Vergleich) wurde schon Mitte des Jahrhunderts durch die grundlegenden linguistischen Arbeiten von I. A. Richards und M. Black die sogenannte Interaktionstheorie gegenübergestellt, die im folgenden aufgenommen wird. Versucht man die Metapher sprachlich zu fassen, ist es hilfreich, die drei grundlegenden Sprachebenen der Syntax, Semantik und Pragmatik zu unterscheiden. ZNT 2 (1998) 1.1 Syntax der Metapher: Welche formale Struktur kennzeichnet die Metapher? Es ist das Verdienst der Vertreter der Interaktionstheorie, eine abstrakte Betrachtung der Metapher als ein einziges Wort oder Lexem abgewiesen zu haben. » Eine Metapher ist folglich nie ein einfaches Wort, immer ein wenn auch kleines - Stück Text.« 6 Dieser Text zeigt in seiner Tiefenstruktur mindestens zwei Teile, die man immer wieder mit verschiedenen Begriffen zu definieren versuchte und die hier bildspendender und bildempfangender Bereich 7 genannt werden sollen. Erst die Wechselwirkung, die >Interaktion, dieser beiden Teile, machen zusammen die Metapher aus. 1.2 Semantik der Metapher: Welche Bedeutungs- und Sinnprobleme zeigt die Metapher? Es fällt auf, daß die metaphorische Relation zwischen dem Bildspender und Bildempfänger zunächst als Spannung wahrgenommen wird. Die >eigentlich, lexikalisch an einzelne Zeichen gebundenen Bedeutungsspektren lassen sich nicht in gewohnter Weise miteinander verbinden. Im Sinnfindungsprozeß nimmt der Hörer/ Leser eine semantische Störung wahr. Gleichwohl ist jedoch eine Bedeutung, eben ein metaphorischer Sinn zu erheben. Diesen Vorgang hat H. Weinrich als »Konterdetermination«8 bezeichnet. Die Sinnbezirke werden in neuer Weise miteinander kombiniert, allerdings bleibt die ursprüngliche Bedeutung der Metaphernteile transparent. Maßgeblich für den Reiz wie auch für den Erfolg einer Metapher innerhalb einer Sprachgemeinschaft ist die Verwurzelung in der Metapherntradition. So wie ein Einzelwort bzw. Lexem im >Wortfeld, verankert bleibt, ist eine Einzelmetapher in den Zusammenhang ihres Bildfeldes 9 gestellt. Zum besseren Verständnis von J oh 4 wird man nach eventuellen Vorkommen eines ähnlich strukturierten Bildfeldes in Vor- und Umfeldtexten suchen, wobei die zentrale Bedeutung des Alten Testament für das gesamte JohEv auch hier zu berücksichtigen ist. 10 ZNT 2 (1998) Mirtam Zinimerrnann / Ruban Zimmermann Brautwarbung in Samarien? 1.3 Pragmatik/ Wirkungsästhetik der Metapher: Welche Wirkung wird auf die Hörer/ innen erzielt? Wurde die leserzentrierte Erzählstruktur des Joh- Ev vielfach nachgewiesen 11, so kann eine Ausrichtung am sogenannten ,impliziten Leser" dem fiktiven Gegenüber des Autors, auch für Joh 4 angenommen werden. Dies ist für eine metaphorische Lesart des Kapitels insofern relevant, als es sich bei der Metapher um eine Sprachbildung handelt, die eine hohe Deutungsaktivität der Leser/ innen voraussetzt. Nur wenn ein Leser oder eine Rezipientin auch den Wechsel von gestörter und neuer Sinnfindung nachvollzieht, d.h. die Spannungen zwischen einzelnen Sinnbezirken konstruktiv auflöst, kann er/ sie die Bildrede verstehen. Dieser Verstehensvorgang läßt sich insbesondere mit kognitivistischen Theorien als mehrdimensionaler Verarbeitungsprozeß erklären: bei der Entschlüsselung einer uneigentlichen Rede konstruiert ein/ e Hörer/ in mentale Bilder (Depiktionen), die Wissensbestände aktivieren und in konzeptuelle Vorgänge eingebettet bleiben. Neben einem solchen Erkenntnisprozeß werden je nach Anschaulichkeitsgrad der Bildrede emotionale Wirkungen hervorgerufen. Die bildhafte Vorstellung fungiert dabei als Affekt, als Möglichkeit, einem bestimmten Gefühl Ausdruck zu verleihen. Kognitive und affektive Wirkungen erfüllen eine appellative Funktion: Die Metapher intendiert ein bestimmtes Ziel, will also die Leser/ innen zu etwas anregen, von etwas überzeugen. Eine solche >rezeptionsästhetische Exegese, mahnt jedoch zugleich auch die Grenzen historischer Rekonstruierbarkeit an. Die Deutungsoffenheit der metaphorischen Rede verbietet die Rekonstruktion einer allgemeingültigen Auslegungswahrheit, als könne man dem Leser begrifflich aufdiktieren, was die Bildrede bewußt offenlassen will. So kann es im folgenden nur darum gehen, die Möglichkeiten aufzuzeigen, wie innertextliche Zusammenhänge und der Vergleich mit Umfeldtexten, einen (schon historischen) Verstehensvorgang vorstrukturieren und wahrscheinlich machen können. 41 Mirjam Zimmermann Dr. Mirjam Zimmermann, Jahrgang 1969, Studium der Germanistik und Theologie, Promotion 1997 an der theologischen Fakultät der Universität Heidelberg, derzeit im Referendariat. 2. Joh 4 als emotive Kontextmetapher 2.1. Die narrative Grundstruktur von J oh 4: Brautszene am Brunnen Die Erzählung J oh 4 gestaltet die Begegnung von Jesus mit der Samaritanerin als ein Treffen zwischen Mann und Frau ohne weitere Zuhörer. Die Analyse des narrativen Verlaufs zeigt eine Wellenbewegung der feinfühligen Annäherung und Zurückweisung zwischen den beiden Protagonisten, die die Geschlechterdimension der Beziehung zusätzlich hervorhebt. 12 Auf der Grundlage jüdischer Gesellschaftsnormen 13 ruft eine solche Szene ausdrücklich das Erstaunen der Jünger hervor (4,27). Es war nicht üblich, daß ein jüdischer Mann in der Öffentlichkeit alleine mit einer fremden Frau sprach, es sei denn innerhalb geprägter Begegnungsformen, wie z.B. dem Hochzeitsritus. Schon häufiger wurde gezeigt, daß die Perikope literarisch dem typischen Erzählmuster einer »Brautwerbung am Brunnen« 14 folgt. Robert Alter hat für eine solche Verlobungsszene, wie sie etwa in Gen 24; 29; Ex 2 (vgl. ISam 9) berichtet wird, fünf charakteristische Elemente herausgearbeitet, die im folgenden direkt auf Joh 4, der Begegnung am Jakobs(! )-Brunnen, zu beziehen sind 15 : 42 1. Bräutigam oder Bote reist in ein fremdes Land 2 B. trifft am Brunnen auf eine junge Frau (na ·ara) 3. Einer der Antagonisten schöpft Wasser vom Brunnen 4. Die junge Frau eilt nach Hause, um die Nachricht von dem Fremden zu bringen 5. Der Bräutigam wird eingeladen, Verlobung (mit Verlobungsmahl) wird im Haus der Braut arrangiert Jesus kommt nach Samarien Uoh 4,3-5) Jesus trifft am Jakobsbrunnen die samarit. Frau Uoh 4,6-7) Wasserschöpfen ist Thema inJoh4,7-15 Samariterin geht ins Dorf um über Jesus zu berichten (4,28-30.39-42) Essen wird inJoh4, 31-34 thematisiert, Jesus bleibt in Sychar Qoh 4,40) Neben diesen Grundentsprechungen sind noch weitere parallele Einzelheiten zu den entsprechenden atl. Texten auffällig. 16 Ferner deuten einzelne semantische Ambiguitäten/ Doppeldeutigkeiten auf das Gewicht der Geschlechterrelation innerhalb der Erzählung hin. So ist der Begriff sygchraomai ( 4, 9) mit sexuellen Konnotationen behaftet. Auch die Anrede der Frau an Jesus (kyrie, 4, 11.15.19) ist insofern doppeldeutig, als Kyrios gerade die Bezeichnung für den Eheherrn bzw. Bräutigam war 17 und im Gang des Evangeliums noch nicht als Hoheitstitel eingeführt ist. Schließlich bestätigt auch die Einbettung in den weiteren Kontext, daß inJoh 4 die Mann-Frau-Relation im Hintergrund steht. Da das ganze Kapitel 4 viele Verbindungslinien (Kohärenzmerkmale) mit J oh 3,22-36 aufweist (s. u.), ist anzunehmen, daß die in Joh 3,28f. explizit formulierte Brautmetapher für die Leser/ innen auch in J oh 4 präsent sein wird. Durch den Hinweis der Rückkehr nach Kana in Joh 4,46 umschließt das Thema der Hochzeit schließlich die gesamten Kapitel 2 bis 4. Fazit: Daß innerhalb der literarischen Gestaltung der Szene in J oh 4 die Geschlechterrelation ein besonderes Gewicht erhält und wahrscheinlich auf die typische Erzählstruktur einer >Brautwerbung am Brunnen, anspielt, kann kaum bestritten werden und wird in der Forschung inzwischen auch vielfach anerkannt. 18 Jetzt gibt es allerdings auch deutliche Abweichungen zum klassischen Typus der Brauterzählung: Zunächst wird natürlich deutlich, daß es faktisch keine Verlobung zwischen Jesus und der Samaritanerin im eigentlichen Sinn gibt. Wichtige Elemen- ZNT 2 (1998) te des klassischen Erzähltypus fehlen oder werden bewußt verändert: Die Samaritanerin ist keine Jungfrau mehr (wie z.B. Rebekka in Gen 24,16), über das Wasserschöpfen und Trinken (3. Element) wird nur gesprochen, keiner der beiden Akteure stillt im eigentlichen Sinn seinen Durst. Ferner fehlt das Verlobungsmahl, statt dessen wird von einer Essensverweigerung Jesu gesprochen. Unterschiedliche Erklärungsmuster wurden herangezogen, um diese Spannungen zu lösen. Einerseits wurde die Geschlechterdimension der Erzählung ganz auf die psychologische Ebene zwischenmenschlicher Relation reduziert, andererseits wurden die Störungen als narrative Parodisierung oder Ironisierung der Brautszene interpretiert, die jedes fleischliche Mißverständnis der Leser/ innen im Blick auf den ,fleischgewordenen Logos, (Joh 1,14) ausräumen wollen. 19 Nicht selten wurde das Gewicht auch auf die moralischen Entgleisungen der Frau gelegt, die als Kontrastfolie für den christologischen Hoheitserweis dienen sollten (s.o.). Derartige Erklärungsmuster haben gemeinsam, daß sie die Mann-Frau-Relation und ihre konkrete Thematisierung in Joh 4,16-19 vollständig auf der Ebene des primären Textsinns verstehen wollen. Es fällt allerdings auf, daß das ganze Kapitel und insbesondere die RedenJesu von Elementen >uneigentlicher Sprechweise, durchzogen sind. Wenn aber die Rede von Wasser, Anbetung, Essen und Ernte unangezweifelt einen Sinnüberschuß impliziert, warum sollte dann nicht auch die Geschlechterbeziehung figurativ verwendet sein? Im folgenden soll nun die These erläutert werden, daß die in Joh 4 sichtbaren semantischen und narrativen Spannungen als M etaphernsignale zu verstehen sind, die darauf hindeuten, daß die Mann-Frau-Dimension hier im Rahmen einer Kontextmetapher bewußt eingesetzt wird. Konkret bedeutet das: 1. die Spannungen, die aus der Erwartung der Leser/ Hörer im Blick auf eine Brauterzählung resultieren, sollen durch neue Kohärenzbildung gelöst werden. 2. Die bildempfangenden Bereiche, wie z.B. Wasserthematik, Anbetung, und vor allem Fragen nach J esu Person werden durch die semantische Interaktion mit dem Bildspender >Mann-Frau- Relation, sinnvoll erhellt. 3. Die Brautmetapher wird in ihrer interaktionel- ZNT 2 (1998) Ruben Zimmermann Dipl. Diakoniewissenschafder Ruben Zimmermann, Jahrgang 1968, nach Vikariat in der Badischen Landeskirche derzeit Arbeit an einer Dissertation im Neuen Testament zum Thema ,Metaphorische Christologie<. Seit Wintersemester 1997/ 98 gemeinsamer Lehrauftrag an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Zeitschriftenpublikationen in den Bereichen Biblische Exegese, Ethik und Praktische Theologie. len Dynamik gerade zum im Sinne der Erzählstruktur notwendigen Bindeglied der unterschiedlichen thematischen Schwerpunkte vonJoh 4. Die These soll im folgenden exemplarisch untersucht werden. 2.2. Bildspendender Bereich: Was sagt der Text über die samaritanische Frau und ihre Männer? Die Frage nach der geschlechtlichen Identität der Samaritanerin und ihren Männerbeziehungen lenkt den Blick noch einmal zurück auf den eingangs zitierten Abschnitt}oh 4,16-19, in denen diese Dimension dominiert. Wie erwähnt wird die gegenwärtige Beziehung der Frau als eine »wilde Ehe« gedeutet, da nach rabbinischem Eherecht höchstens drei Ehen möglich gewesen seien (Yeb 64b; Nid 64a). Hier scheinen jedoch Vorstellungen bürgerlicher Ehemoral unserer Zeit in die neutestamentliche Zeit hineinprojiziert. Wie vorsichtig man bei der Beurteilung derart zeit- und gesellschaftsabhängiger historischer Phänomene wie der Mann-Frau-Relation sein muß, hat uns der franzö- 43 sische Philosoph M. Foucault in seinem Spätwerk »Sexualität und Wahrheit« eingeschärft. 20 Nach jüdischer Eherechtsauffassung gab es kein »uneheliches Zusammenleben« zwischen Mann und Frau im modernen Sinn. Nach dem Mischna-Traktat Qid 1,1 und der talmudischen Diskussion ist die körperliche Gemeinschaft Ausdruck rechtsverbindlicher Eheschließung. 21 Wer mit einem Mann zusammenlebte, mußte auch rechtlich als dessen Frau gelten. Bestenfalls kann man eine gewisse Hierarchie der gesellschaftlichen und religiösen Wertschätzung unterschiedlicher Ehen konstatieren, wie an der Beurteilung etwa von Mischehen oder Ehen ohne Ketubba (Vertrag) abgelesen werden kann (vgl. ShemR 32,2; PesK 5,11). Im Blick auf die Deutung von J oh 4, 16-19 wird u. E. zu wenig berücksichtigt, daß die Verwendung des gleichen Verbs (echein) keine qualitative Differenz zwischen den zurückliegenden Männer- Beziehungen und der jetzigen Liaison erkennen läßt. Daraus ergeben sich zwei Deutungsvarianten: Entweder es handelt sich bei allen Männerbeziehungen der Samaritanerin jeweils um legale Ehen, die durch Scheidung oder Tod beendet wurden. Daß Mehrfachehen auch für Frauen denkbar waren, wird durch Tob 3,8 und Mk 12,18-27par deutlich. Die Formulierung pantes gar eschon auten (Mt 22,18) in Fassung der >Sadduzäerfrage< zeigt ferner eine gewisse sprachliche Nähe zu Joh 4,18. Die Bestreitung Jesu (dein jetziger Mann ist nicht dein Mann) müßte dann sofort auf eine uneigentliche Tiefendimension schließen lassen, um nicht widersinnig zu sein. Die Aussagen der Frau in Joh 4,29.39 wären dann im Sinne der Verkündigungstätigkeit des Messias (4,25: anaggelei hemin hapanta), ohne moralische Wertung zu deuten. Oder aber der narrativ deutlich herausgehobene Satz »Ich habe keinen Mann« (4,17) würde nicht nur als Lüge verstanden, sondern anzeigen, daß die Frau wirklich keinen Mann hat und noch nie einen hatte. Das Selbstbekenntnis der Frau in J oh 4,29 und 39 würde dann auf einen problematischen Lebenswandel im Blick auf Männer ( denn nur über diese Dimension erfahren wir etwas) hindeuten. Ohne rechtliche Regelungen müßten ihre Männerbeziehungen im Kontext jüdischer Ehemoral als hurerisch eingestuft werden. Vielleicht bleibt der Text hier bewußt in der Schwebe. Die für beide Möglichkeiten gültige 44 Pointe könnte in der Tat der herausgehobene Satz »Ich habe keinen Mann« (4,17) sein. Denn Jesus wiederholt nicht nur wörtlich (mit veränderter Syntax) diese Aussage, sondern deklariert sie als richtig (kalos), sogar als >Wahrheit, (alethes). Mit Vers 18 (»der ist nicht dein Mann«), der dann sinngemäß auch für die vorgängigen Verbindungen gilt, wird diese Aussage konkretisiert: keine dieser Beziehungen, ob legal oder hurerisch, verdient die intime Bezeichnung »Dein Mann«. Auf dieses Ziel schient der Dialogabschnitt letztlich zuzulaufen. Die Charakterisierung der Frau erfährt durch die in Joh 4,7-9 mehrfach betonte Zugehörigkeit zu den Samaritanern eine zusätzliche Pointe. Nach rabbinischer Überlieferung galten die Samaritanerinnen als unrein von Geburt an 22 , Ehen mit Samaritanerinnen waren für Juden verboten (Qid 4,3). Fazit: Es geht hier folglich nicht um die Werbung einer Jungfrau entsprechend dem jüdischen Brautritus. Vielmehr bemüht sich Jesus um eine Frau, die schon mehrere Ehen oder Männerbeziehungen hinter sich hat und als Samaritanerin grundsätzlich als unrein angesehen werden muß. Gleichwohl wird die Aussage, sie habe keinen Mann, als >wahr, in den Raum gestellt, und deutet auf einen tieferliegenden Sinn. Die >Werbung< um eine solche Frau muß dann aber aufhorchen lassen. Liegt vielleicht darin gerade der Reiz der metaphorischen Verbindung? 2.3. Interaktion der unterschiedlichen semantischen Felder sowie Verankerung im Bildfeld Die Metapher zeichnet sich nun gerade dadurch aus, daß eigentlich nicht ursprünglich aufeinander bezogene Bereiche miteinander in Verbindung gebracht werden. Hatte man mit der Einbettung von V. 16-19 in den Kontext immer schon Schwierigkeiten gehabt, so werden durch die metaphorische Deutung gerade die Relationen dieses Abschnitts mit dem Kontext ins Zentrum des Interesses gesetzt. Im folgenden ist demnach die Mann-Frau- Relation (V. 16-19) zur Wasserthematik (4,1-15) und zur Frage nach der rechten Anbetung (4,20-26) in Beziehung zu setzen. Dabei gilt es, eine möglicherweise vorgängige Kombination dieser Motivkomplexe im Alten Testament und Frühjudentum (Bildfeldtradition) wahrzunehmen. ZNT 2 (1998) Wasser- ]oh 4,1-15: Wasser ist weithin als Liebessymbol der damaligen Zeit bekannt. Ist für den Rezipienten der Perikope das Brautszenario erzählerisch erkennbar, werden beim Hörer/ Leser auch beim ,Wasser< und ,Durst< diese Bedeutungsspektren aktiviert. Anklänge bis hinein in sprachliche Ähnlichkeiten finden sich gerade auch in der biblischen Tradition: In Cant 4,12.15 wird die Geliebte und Braut als ,Quelle< (V.12) und ,Brunnen lebendigen Wassers< (V.15) bezeichnet. In Prov 5, 15-18 wird die alleinige sexuelle Gemeinschaft mit der Ehefrau im Bild des Wassertrinkens aus der eigenen Quelle (he pege sou) beschrieben, um damit zugleich die Verführungen durch die ,fremde Frau< abzuweisen. Wird die enge metaphorische Verbindung von Wasser- und Beziehungsdimension mittlerweile allgemein anerkannt 23 , so wird jedoch selten die Verbindung der Mann-Frau-Relation zum nachfolgenden Gesprächsgang über die Anbetung gesehen. Nach Eslinger fühlt sich die Frau in ihren sexuellen Begierden ertappt und lenkt nun das Gespräch bewußt auf religiöse Themen. 24 Metaphorische Interaktion ermöglicht u. E. allerdings gerade auch hier eine intertextuelle Bezogenheit: Frage der rechten Anbetung- ]oh 4,20-26: In Joh 4,20-26 ist die Frage nach der rechten Anbetung schon terminologisch durch das erschlagende Übergewicht des Lexems proskyneo ktl. (l0mal in V.20-24) ins Zentrum gerückt. Hier steht zweifellos der religiöse Konflikt zwischen Juden und Samaritanern im Hintergrund. 25 Die Samaritaner lehnten den J erusalemer Tempelkult ab, da Jerusalem im Pentateuch, für sie die einzig gültige Schrift, nicht benannt werde und richteten einen Tempel auf dem Berg Garizim unweit von Sichern ein. Die Juden betrachteten die Samaritaner aufgrund ihrer ethnologischen Herkunft (Kuthäer) und Zusammensetzung als kultisch unrein und bezeichneten sie im Anschluß an II Kön 17,29-41 pejorativ als »Löwenproselyten« (vgl. Jos Ant 9,277-282; Sanh 10,1; bQid 75a-76a etc.), d.h. Heiden, die nur aus Furcht vor Jhwhs Strafmaß zur Verehrung des Landesgottes veranlaßt wurden. Der Garizimkult galt für Juden deshalb als Götzenkult. In unserem Zusammenhang interessiert die Schlüsselstelle II Kön 17,29-41 besonders, weil dort einerseits fünf(! ) Fremdvölker erwähnt werden, die in Samarien eingefallen waren, und ande- ZNT 2 (1998) Mi,·iarn Zimmermann/ Rub1m Zimmermann Brautwerbung in Sanwrien? rerseits der Vorwurf samaritanischen Götzendienstes in frühjüdischer Zeit unter Bezug auf diese Stelle begründet wurde (vgl. Jos Ant 9,288-291; bSan 636). Bei der Frage vorgängiger metaphorischer Zuordnung von Mann-Frau-Relation und Gottesbeziehung stoßen wir auf ein geprägtes Bildfeld von Hurerei und Götzendienst, das sich sogar bis in lexikalische Phänomene verfestigt hat (znh: Hurerei und Götzendienst betreiben). Im Blick auf unseren Untersuchungsgegenstand ist auffällig, daß in Ez 16,46-55 und verstärkt dann in Ez 23 (Ohola) das personifizierte Samaria (neben Jerusalem) als untreue und hurerische Frau charakterisiert wird, um damit die zerbrochene Gottesbeziehung durch Fremdgötterkult zu beschreiben. Ez steht hierbei in einer breit bezeugten Tradition, die vor allem in Hos und J er ihren Niederschlag gefunden hat. Im positiven Gegenzug zum Hurenbild wird die Brautmetapher dann vor allem als Bild für die Zeit des erinnerten Glücks sowie des verheißenen Heils verwendet (Hos 2,17; 11,1; Jer 2,lf.; Ez 16,43.60). Ein charakteristisches Motiv der prophetischen Metaphorik liegt darin, die Verheißung der Vergebung (vgl. 16,53ff) im Bild der Wiederannahme der geschiedenen/ untreuen »Frau der Jugend« (vgl. Prov 5,18) zum Teil als neue Hochzeit und Brautzeit zu beschreiben (Hos 3,1; Jer 3,lff. u.a.). Auch in frühjüdischer Zeit ist das Bildfeld Ehebruch/ Hurerei und Götzendienst weit verbreitet. 26 Der Bildkomplex> Wasser- Braut/ Ehe - Gottesbeziehung/ Götzendienst<: In unserem Zusammenhang interessiert dann vor allem eine bereits traditionell bekannte metaphorische Verbindung der drei Themenkomplexe Wasser, Ehe und Gottesbeziehung. Inmitten der von Braut- und Ehebildern bestimmten Kapitel Jer 2 und 3 erscheint folgender Satz als Gottesrede: »Mich die lebendige Quelle verlassen sie« (Jer 2,13, vgl. Ps 35,l0LXX). Ähnliche Verknüpfungen von Wasser- und Brautmetaphorik im Blick auf die Gottesverehrung zeigen sich auch in frühjüdischen Schriften, wie z.B. in der Damaskusschrift (CD): Hier ist die Tora ein »Brunnen lebendigen Wassers« (B XIX,34, vgl. ferner III,16; VI,4). Vielfach wird gerade im Kontext dieser Stellen von der Verunreinigung durch sexuelle Vergehen gesprochen (z.B. III,16f.: »Er öffnete ihnen und sie gruben einen Brunnen für 45 viel Wasser (! ), doch seine Verächter blieben nicht leben. Sie verunreinigten sich durch Mannesvergehen und durch Blutungsverunreinigungen« 27 ; ähnlich V,2; V,6f.: »Ferner verunreinigen sie das Heiligtum, weil sie nicht gemäß der Tara [absondern] und mit einer schlafen, die ihren Blutfluß sieht.« (vgl. Befleckung durch Dirnen CD VII, 1, vgl. VII, 7-8). Es ist bezeichnend, daß hier explizit auch die Frauen einbezogen werden (vgl. CD V, 9f.: »Das Recht der verbotenen Sexualbeziehungen ist zwar im Blick auf Männer geschrieben, doch die Frauen sind wie sie«). Ferner wird im Umfeld dieser Stellen die Einehe ausdrücklich betont (IV, 20-V,2). Die Abweichung vom Brunnen des Lebenswassers geht pikanterweise bis zum Auftreten der Messiasse Aarons und Israels (CD B XIX, 33-XX,1). Fazit: Es zeigt sich, daß die metaphorische Verbindung von Wasser - Mann-Frau-Relation und Gottesverehrung in der Bildfeldtradition geläufig ist und somit auch die Sprachbildung in J oh 4 erhellen kann. Ihre Pointe zielt auf die Frage der rechten und das meint exklusiv intimen Gottesbeziehung und wird häufig vom verfehlten Ideal aus formuliert. Die Verbindung der Abschnitte Joh 4,7-15; 16-19 und 20-26 legen eine entsprechend theologische Zuspitzung nahe. 2.4. Neue Kohärenzbildung (]oh 3,22-4,42): Brautmetapher als Integral von Wasser, Anbetungsort und M essiasbekenntnis Die thematischen Spannungen und Brüche der unterschiedlichen Abschnitte in J oh 4 können durch metaphorische Kohärenzbildung überbrückt werden: Die durch metaphorische Interaktion der unterschiedlichen Bereiche aktivierte theologische Dimension zielt auf die Exklusivität der Gottesbeziehung, die vor dem Hintergrund konkurrierender Alternativen (Brunnenwasser, andere Männer, Anbetungsorte) betont wird. In Konkretion am Text könnte die Zuordnung der Gottesverehrung (V. 20ff.) zu den Männerbeziehungen der Frau eine sehr einfache immer wieder versuchte - Gleichung ergeben: Die samaritanische Frau hat mit fünf Männern gehurt. Auch der Garizimkult, auf den V. 20-24 anspielen, wird aufgrund der fünf Fremdvölker im Kontext von II Kön 17 als Götzendienst betrachtet. Hieraus wurde gefolgert, daß die Frau als Repräsentantin der Samaritaner steht und ihre Hurerei mit Göt- 46 zendienst identifiziert wird. Die Brautwerbung diente dann im Sinne alttestamentlicher Prophetenmetaphorik dazu, die treulos gewordene Frau der Jugendzeit, d. h. Samaria, wiederanzunehmen und den Ehebund aufs Neue zu bekräftigen. Eine derartige >Metaphorisierung, verkennt jedoch wichtige Akzentuierungen der Erzählung: 1. Die Samaritanerin muß nicht unbedingt als Hure gesehen werden. 2. Der Text berichtet explizit von sechs Männerbeziehungen, die nicht mit den fünf Fremdvölkern korrelieren. 3. Der Bildbereich des Wassers wird vernachlässigt. 4. Die Samaritanerin kommt gerade zum (eigenen) Brunnen bzw. bittet Jesus um lebendiges Wasser. Im Bildfeld ist hingegen vom Verlassen des lebendigen Wassers Qer 2,13), oder dem Abweichen vom Brunnen (CD) die Rede, nur das ist dann Götzendienst. 5. Schließlich wird explizit erwähnt, daß der Garizimkult der Samaritaner der Vergangenheit angehört (4,20). Wenn also im Blick auf die Frage nach der rechten Anbetung die Alternative Jerusalem - Garizim gar nicht mehr zur Debatte steht, stellt sich die Frage, wer durch die in der Metapher zugespitzte Exklusivität der Gottesverehrung als >Konkurrent< abgewiesen werden soll. Wen betet die Samaritanerin eigentlich an? Joh 4,22 gibt die Antwort, daß die Samaritaner, für die die Frau steht, jemanden anbeten, den sie nicht kennen Qoh 4, 22 o ouk oidate). Diese Formulierung ist allerdings zuvor im Mund von Johannes dem Täufer belegt: »Ich taufe mit Wasser, aber er ist mitten unter euch getreten, den ihr nicht kennt.« (on hymeis ouk oidate, 1,26! ). Ja, Johannes selbst bekennt seine anfängliche Unkenntnis: »Auch ich kannte ihn nicht, aber er, der mich gesandt hat, mit Wasser zu taufen, er hat mir gesagt: Auf wen du den Geist herabkommen siehst, und auf wem er bleibt, der ist es, der mit dem heiligen Geist tauft« Qoh 1,33). Erst die Geistbegabung läßt Jesu Identität und Vorordnung vor Johannes erkennen. Hier fügt sich allerdings folgende Frage an: Könnte die durch die Metapher akzentuierte Konkurrenzbeziehung innerhalb der Gottesbeziehung auf den Autoritätskonflikt zwischenJ esus und Johannes aus der Perspektive ihrer ZNT 2 (1998) Jünger anspielen? Eine solche Deutung legt sich aus der Fülle von Kohärenzmerkmalen zwischen Joh 4 und Joh 3,22-36 28 nahe, die die Vermutung zulassen, daß die Begegnung mit der Samaritanerin eine narrative Ausgestaltung der zuvor entfalteten Themen ist. Dabei wird ein bewußter Perspektivenwechsel vollzogen: Berichtet J oh 3 zunächst aus der Perspektive des Johannes, geht es in J oh 4 um Jesusbzw. Jüngerperspektive. Im folgenden soll exemplarisch die neue metaphorische Kohärenzbildung vor dem Hintergrund dieser Vermutung untersucht werden: Sensibel für die theologische Topographie des Evangelisten wird der Blick auf Joh 3,22 gelenkt. Der Taufort des Johannes wird detailliert auf Ainon eggys tau Saleim lokalisiert. Die geographische Bestimmung dieses Orts ist umstritten. 29 Im Kontext interessiert vor allem die Lokalisation in Samarien, da dort bis heute 'Ainun unweit von Salim bei Sichern liegt. Da das Taufelement für Johannes offenbar eine Rolle spielt (vgl. Joh 1,26.33) und auch hier die explizite Erwähnung reichen Wasservorkommens betont wird Qoh 3,23), ist ferner die bereits von N. Krieger 30 in den 50er Jahren vorgeschlagene Deutungsvariante zu bedenken, nach der Ainon die transkribierte Fassung des aramäischen Plural von »Quelle« darstellt. Salim steht dann entsprechend für Shalom. Im Blick auf die Relationsbestimmung von Jesus und Johannes hieße das, daß Johannes an der »Quelle nahe zum Frieden« tauft. Weniger spekulativ ist hingegen die Kontrastierung des wasserreichen Tauforts des Johannes mit der Ortsbestimmung, d.h. konkret Herkunft Jesu in 3,27.34 (vom Himmel), die die Messiasfrage und Brautmetapher in Joh 3 umschließt. In ähnlicher Weise wird auch die Ortsfrage inJ oh 4,20ff. als Frage nach dem rechten Ort der Anbetung Qoh 4,20ff.) aufgegriffen und bewußt relativiert. Nicht mehr der Ort, sondern die Art der Anbetung (in Geist und Wahrheit) ist entscheidend. Wird hier explizit von Jerusalem und dem Berg Garizim gesprochen, so kann man implizit auch den wasserreichen Taufort des Johannes mitdenken. Dies lenkt den Blick noch einmal auf die Bedeutung des Wassers: Joh 3,23 macht deutlich, daß Wasser zugleich in enger Verbindung zu dem in den einführenden Versen Joh 3,22-26 und Joh 4,lf. genannten Thema der Taufe steht. Offenbar ist in 3,25 auch ein Streit zwischen Johannesjüngern und Jesus bzw. J esusjüngern über die Taufe ZNT 2 (1998) angedeutet. 31 Die ausführliche Thematisierung des Wassers inJoh 4,1-15 kann deshalb kaum von diesem Aspekt absehen. Kann der Gang der Frau zum Brunnen traditionell zunächst als Suche nach der Tora verstanden werden (vgl. CD), weckt Jesus den Durst nach lebendigem Wasser. Wenn die Frau jetzt um dieses Wasser bittet (V. 15), könnte man hier im metaphorischen Kontext ein Taufbegehren der Samaritanerin erkennen. Die Reaktion J esu wertet die Bitte der Frau allerdings als Mißverständnis. Sie hat noch nicht begriffen, daß Jesus nicht (mehr) mit Wasser, sondern mit Geist tauft Qoh 1,26.32f.; vgl. 4,2) und das verheißene »Trinken des Wassers« (vgl. Joh 7,37) eine Teilhabe an Jesus darstellt, wie sie gerade durch die Brautmetaphorik impliziert ist.Jesus lenkt deshalb folgerichtig das Gespräch auf das Thema der Mann-Frau- Relation. War durch den Erzähltypus >Begegnung am Brunnen< bereits das Brautthema implizit angesprochen, allerdings nicht zu der erwarteten Nähe der Protagonisten vorgedrungen, so erfolgt im jetzt folgenden Erzählabschnitt (4,16-20) eine explizite Verhandlung der Geschlechterdimension, die zweifellos hier wie die anderen Themen des Kapitels >Uneigentliche< Tiefenstrukturen erkennen läßt. Wenn man anerkennt, daß die fünf vergangenen Männer-Beziehungen der Frau eine Anspielung auf die fünf Fremdgötter nach II Kön 17 sind, 32 dann ist auch der jetzige Mann der Samaritanerin symbolisch zu deuten. Entscheidend ist jeweils, daß die Frau den Mann, den sie suchte, offenbar bislang nicht fand. Für ihre jetzige Beziehung gilt: »und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann« - oder wie das Lexem aner auch zuläßt 32 : nicht dein Bräutigam. Die Negativformulierung sowie der Terminus echein verbindet Joh 4,18 unmittelbar mit J oh 3,28f.: Nur wer die Braut hat, ist der Bräutigam, sagt dort Johannes und expliziert damit seine Abgrenzungsformel »Ich bin nicht der Christus« die bereits aus J oh 1,20 bekannt ist. Oder umgekehrt formuliert: nur wer den Bräutigam/ Mann hat, ist auch Braut des Messias. Dies ist die Frau offenbar noch nicht. Sie hält sich an einen, der nicht »ihr Mann« ist, und der im Blick auf Joh 3,29 und den gesamten Kontext vielleicht mit dem ,Freund des Bräutigams< identifiziert werden darf. Vor allem mißversteht sie wie schon zuvor - Jesu uneigentliche Rede: statt den Hinweis auf den Messiasbräutigam wahrzunehmen, folgert sie nur auf ,einen Propheten<. Erst der Geistbesitz klärt 47 die Frage der Anbetung (V. 4,20ff.) wie auch die Frage nach dem Messias. Wie eng diese Anbetungsform mit der Messiasgegenwart in Verbindung steht, beweist die Frau durch ihre Reaktion: »Ich weiß, daß der Messias kommt.« So findet die bislang nur negativ formulierte Messiasfrage von Joh 3,28 nun in Joh 4,25f. ihr positives Pendant. Der Gesprächsgang steuert abschließend durch das jetzt folgende Selbstbekenntnis Jesu im Ego eimi- Satz auf seinen Höhepunkt zu. Es fällt auf, daß der Objektbereich anders als bei den folgenden Ego eimi-Worten hier bewußt offen bleibt. Dies könnte auf die bewußte Mehrdeutigkeit metaphorischer Rede hindeuten. Haben die einzelnen Erzählabschnitte jeweils offene Fragen provoziert (Wer ist das lebendige Wasser? Wer ist der eigentliche Mann? Wer soll wirklich angebetet werden? ), so liefert nun die mehrdeutige Selbstreferenz J esu auch eine polyvalente Antwort: Jesus ist sowohl das lebendige Wasser, als auch der wahre Mann und dadurch eben der Messias, genannt der Christas. War im Gespräch mit Jesus deutlich geworden, daß keine Männer bzw. keine bisherige Form der Anbetung wirklich befriedigen konnten, so hat die Samaritanerin durch das Selbstbekenntnis J esu in V 26 erkannt, daß Jesus, der ist, den sie suchte. Diesem Mann will sie auch weitere Jünger zuführen. Es verwundert dann nicht mehr, daß die Frau nach ihrer Christusbegegnung den Krug am Brunnen zurückläßt (4,28). Sie will den Menschen der Stadt kein (Tauf)wasser mehr bringen, sondern die Verkündigung reicht aus. Indem sie hingeht, die Menschen anspricht und zu Jesus führt (V. 28-30), erfüllt sie dann die zuvor auf den Mann bezogenen Aufforderungen Jesu (V. 16). So löst sich schließlich auch die Spannung inJoh 4,lf. Jesus tauft nicht (mehr), weil die Wassertaufe des Johannes überboten wird. Jesus gewinnt seine Jünger, indem er sich selbst als lebendiges Wasser anbietet und Gemeinschaft mit ihnen haben will. Erst durch die personale Gemeinschaft mit Jesus (4,40) und durch die Anbetung im ,Geist und Wahrheit, wird er als Bräutigam-Messias erkannt und erfahren(4,29 .39 > 4,42). Der stufenweise Hoheitserweis und die Christuserkenntnis des Kapitels finden somit auch im Bildbereich ihren Niederschlag. Brautmetaphorik überbietet die Wassermetaphorik! Und daß die metaphorische Verlobung und Teilhabe am Messiasbräutigam dann doch erreicht wird, be- 48 stätigt wenigstens implizit der Abschluß: Die Samaritaner glauben schließlich nicht wegen der Verkündigung der Frau an den Messias, sondern weil sie selbst Gemeinschaft mit ihm hatten (4,41). In J oh 4,40 erscheint gleich zweimal der johanneische Schlüsselbegriff meno (bleiben), der z.B. J oh 15 die enge leibliche Verbundenheit der Gläubigen und Jesus zum Ausdruck bringt. Jetzt wissen die Samaritaner, daß Jesus wahrhaft der Retter der Welt ist (o aletos o soter tau kosmou, V. 42) ist. 2.5 Pragmatik/ Wirkungsästhetik der Metapher (kognitiv, affektiv, persuasiv) Welche Wirkungen löst nun diese bildliche Rede in Joh 4 bei den Leser/ innen aus? in kognitiver Hinsicht fordert die stets verdeckt bleibende Kontextmetaphorisierung, daß der Leser die Zuordnung der Themenbereiche ,Wasser/ Taufe" ,Mann-Frau- Relation< und ,Gottesbeziehung überhaupt erst vollzieht und damit den tieferliegenden theologischen Sinn des Kapitels konstruiert. Diese Deutungsaufgabe stellt sich vor allem auch für die Kernmetapher >Jesus als Messias-Bräutigam<. Auch wenn durch das Brunnen-Setting, die narrativ-dialogische Gestaltung und die Thematisierung der Männerbeziehungen klare Hinweise auf diese Interpretationsmöglichkeit gegeben sind, bleibt es doch dem Leser überlassen, die konkrete Zuordnung zu vollziehen. Diese Deuteaktivität des Lesers wird jedoch möglich, da er den Verstehensschlüssel, den sogenannten >metaphorischen Code" schon inJoh 2,1-11 und 3,29 erhalten hat. Diese Erzählstrategie dient dem Zweck, den Leser in die interne Hermeneutik des Textes hineinzunehmen, denn er/ sie wird somit genötigt, den stufenweisen Verstehensprozeß der Samaritanerin, wer Jesus ist, selbst nachzuvollziehen. 34 Stehen anfangs Mißverständnisse und Negativformulierungen (V. 17; V.21), so können die Leser am Ende in das Bekenntnis der Samaritaner miteinstimmen: Wir wissen, daß er wahrhaft der Retter der Welt ist (V.42). Neben der Hoheitserkenntnis ermöglicht die Metapher des Messias-Bräutigams zugleich eine Versprachlichung für die im JohEv charakteristische Anteilhabe der Jünger an ihrem Herrn. Ein Leser, der sich in den metaphorischen Verstehensvorgang des Textes mit hineinnehmen läßt, bleibt allerdings kaum bei einem rein geistigen Nachvollzug der Bildersprache stehen. Bildverste- ZNT 2 (1998) hen vollzieht sich vielmehr als ein ganzheitlicher Prozeß, der in hohem Maße psychologische und emotionale Dimensionen mit einschließt. Eine solche >emotive< Wirkung der Metapher wird bei den hier eingebrachten Bildbereichen wie Wasser und Braut/ Ehe unmittelbar greifbar: Was im Blick auf den unstillbaren Durst nach Wasser oder die unerfüllte Suche zwischenmenschlichen Glücks explizit ausgeführt wird, ist unmittelbar auf die Jesus- Relation zu übertragen, ja findet hier erst Erfüllung. Die Frau sucht sehnsüchtig danach, ihren Durst zu stillen. Jesus verheißt Wasser, das ewiges Leben schenkt. Die Frau hat ,ihren Mann< vergebens gesucht- Jesus ist derjenige, der ihr Leben offenlegt. Das existenzumfassende und in gewisser Hinsicht erotische Verlangen, das durch die Bildbereiche wachgerufen wird, wird also metaphorisch auf die Person J esu ausgerichtet. Die kreative Potenz dieser Metaphorisierung liegt dann darin, daß eine durchJesu Person vermittelte einzigartige Gottesbeziehung spürbar nahegebracht wird. Schließlich erfüllt die Bildlichkeit des Textes eine persuasive Intention, d.h. der Text will Überzeugungsarbeit leisten. Folgt die ganze Szene bereits narrativ dem Erzähltypus einer Brautwerbung, so lassen Ernte- und Lohnmetaphorik inJoh 4,35ft. als geläufige Bilder der Mission kaum Zweifel, daß es in der gesamten Erzählung um Mission geht. Die Werbung des Bräutigams will insofern argumentativ hinsichtlich der Mission fruchtbar gemacht werden. Joh 4 wäre in diesem Sinn als Zeugnis einer frühen Samaritanermission zu lesen. DurchJesu Person und damit die Relativierung der Bedeutung des Anbetungsorts (Garizim oder Jerusalem) sahen offenbar urchristliche Kreise die Chance gegeben, die Samaritaner in den Verband des Juden(christen)tums zurückzuholen. Eine zentrale Rolle spielt dabei das ,offensive Reinheitskonzept< Jesu Qoh 3,25). Was in der BegegnungJesu mit der samaritanischen Frau vorgeführt wird, gilt auch allgemein: während die Samaritaner aufgrund ihrer gemischten Bevölkerung von den Juden als kultisch unrein angesehen wurden, erfolgt durch Jesus nun eine Neubewertung der Reinheitsvorstellungen auf der Grundlage einer neuen Gottesbeziehung. Es deutet einiges darauf hin, daß die ähnlich motivierte Wasser-Taufe des Johannes gerade innerhalb des Samaritanerlandes bereits eine gewisse Wirkung erzielt hatte. Die Vorarbeiter in Samarien (alloi 4,37ff.) wären dann nicht die ZNT 2 (1998) Mirjam Zimmermann / Ruben z; mmerm.: mn Brnut.we1·bung in Sarmuien? aus Apg 8 >entlehnten< Hellenisten (Cullmann, Brown, Schnackenburg, u.a.), sondern der Täufer und seine Jünger. 35 Der damit implizierte Autoritätskonflikt Jesus - Johannes wird aber ganz im Sinne vonJoh 3,29 gelöst: Die Freude von Sämann und Schnitter ist ebenso gleich wie die vom Bräutigam und seinem Freund (chara, 3,29 - 4,36). So wird der Täufer nicht um seine Bedeutung gebracht, sondern hat sie gerade dann gefunden, wenn seine Jünger dem wahren Bräutigam zulaufen.36 3. Ergebnis Wir haben eine uns allen bekannte Szene neu gelesen, mit einem teils abstrakten Methodenrepertoire interpretiert und sind in einer metaphorischen Lesart auf eine Liebesbeziehung gestoßen, in deren Horizont viele vordergründige Spannungen entschärft werden konnten. Ausgehend von der konstatierbaren erzählerischen Grundstruktur der Perikope als »Brautwerbung am Brunnen«, bietet sich die aus Joh 3,29 aufgenommene Kernmetapher ,Jesus als Messias- Bräutigam< als Integral an, das es vermag, die unterschiedlichen Sinnbezirke (Wasser, Ehe, Anbetung, Täuferkonflikt) konstruktiv zu verbinden. Die metaphorische Zuordnung dieser Bereiche ist bereits in alttestamentlich-prophetischer und frühjüdischer Zeit ein geprägtes Bildfeld, dessen theologische Zuspitzung in der Proklamation einer exklusiven Gottesbeziehung zu sehen ist. Das Brautbild wird dann neutestamentlich nicht nur konsequent mit J esu Person verknüpft, es scheint auch eng in den Umkreis von Johannes dem Täufer zu weisen (vgl. Mk 2,18-22), was der Gesamtkomplex Joh 3,22-4,42 bestätigt. Die Auseinandersetzungen der J ohannesjünger und J esusjünger und dabei erkennbare Rangstreitigkeiten um den jeweiligen Meister sollen hierbei konstruktiv durch eine enge Zuordnung, aber zugleich Unterordnung von Johannes unter Jesus gelöst werden. Joh 4 könnte vor diesem Hintergrund als narrativ gestaltete Missions>predigt< im Bild einer Brautwerbung vorrangig an johanneische Jüngerkreise, oder sogar an ,johanneische Samaritaner< gelesen werden. Die Unschärfe metaphorischer Rede wird in J oh 4 allerdings nicht durch definitorische Klarheit abgelöst. So wie die Messiasbekenntnisse im 49 Kapitel vorsichtig und unbestimmt bleiben (4,25f.29.39), so bleibt auch die Zuweisung der Bräutigamprädikation an Jesus dem/ der Leser/ in überlassen, der ja den metaphorischen Code bereits aus 2,1-11 und 3,29 kennt. Durch diese subtilen und emotiv kreativen Bildungsmechanismen der Metaphorisierung werden die Rezipienten allerdings auf kunstvolle Weise in den stufenweisen Erkenntnis-, Glaubens- und Liebesprozeß der Samaritanerin hineingezogen. Der Hinweis auf die Männerbeziehungen der Samaritanerin dient dann letztlich dem Zweck, den Leser/ innen die Exklusivität der Gottesbeziehung vor Augen zu führen, wie sie in der Begegnung mit dem Messiasbräutigam auf intime Weise ermöglicht wird. Anmerkungen R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes(= KEK 4), Göttingen 16 1959, 138. 2 Zitate vonJ. Becker, Das Evangelium nach Johannes Bd. 1, Gütersloh/ Würzburg '1991 (1978), 204; W. de Boor, Das Evangelium des Johannes, 1. Teil: Kapitel 1-10 (Wuppertaler Studienbibel), Wuppertal 7 1980, 135f.; E. Hirsch, Das vierte Evangelium in seiner ursprünglichen Gestalt verdeutscht und erklärt, Tübingen 1936, 146. 3 Zitate von A. Link, >Was redest du mit ihr? < Eine Studie zur Exegese-, Redaktions- und Theologiegeschichte von Joh 4,1-42, Regensburg 1992, 269; Becker, Johannes, 204; de Boor, Johannes, 135; R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium. Einleitung und Kommentar zu Kapitel 1-4 (HThK 4/ 1), Freiburg i.Br. u.a. 5 1992, 467. 4 B. Weiss, Das Johannesevangelium als einheitliches Werk. Geschichtlich erklärt, Berlin 1912, 79. Ähnlich neuerdings z.B. Schnackenburg Gohannesevangelium ), 467. Sehr viel vorsichtiger U. Wilckens, Das Evangelium nach Johannes (NTD 4), Göttingen 1998, 83. 5 Einen guten Überblick zum Diskussionsstand bis ca. 1980 gibt der Sammelband A. Haverkamp (hg.), Theorie der Metapher (WdF 389), Darmstadt 2 1996 (1983), der die wichtigsten Aufsätze zum Thema in dt. Übersetzung vereint. Zur neuesten Diskussion vgl. M.-C. Bertau, Sprachspiel Metapher. Denkweisen und kommunikative Funktion einer rhetorischen Figur, Opladen 1996; G. Frieling, Untersuchungen zur Theorie der Metapher. Das Metaphernverstehen als sprachlich-kognitiver Verarbeitungsprozeß, Osnabrück 1996; R. Schumacher, Metapher. Zur Theorie der ,frischen< Metapher, Basel 1997; C. Baldauf, Metapher und Kognition. Grundlagen einer neuen Theorie der Alltagsmetapher, Frankfurt a.M. u.a. 1997; W. Abraham, Zur Uneigentlichkeit der Sprache. Linguistik der Metapher, in: Ders., Linguistik der uneigentlichen Rede. Linguistische Analysen an den Rändern der Sprache, Tübingen 1998, Kap. 9, 227-270. 50 6 H. Weinrich, Sprache in Texten, Stuttgart 1976, 319. 7 So zuerst Weinrich, Sprache in Texten, 297. Andere Klassifizierungen sind Bildsphäre und Sachsphäre (Stählin), Thema und Rhema (Kallmeyer), tenor und vehicle (Richards),focus und frame oder principal subject und subsidiary subject (Black). 8 Weinrich; Sprache in Texten,.320, ebenso 311. 9 Vgl. H. Weinrich, Münze und Wort.Untersuchungen an einem Bildfeld, in: Romanica, FS Rohlfs, Halle 1958. Geringfügig verändert wieder in Weinrich, Sprache in Texten, 276-290, insb. 283ff. Der Begriff »Bildfeld« ist in Anlehnung an P. Claudels »champ de figures« entstanden. 70 Vgl. dazu neuerdings W. Kraus, Johannes und das Alte Testament. Überlegungen zum Umgang mit der Schrift im Johannesevangelium im Horizont Biblischer Theologie, ZNW 88 (1997) 1-13; im Blick auf Joh 4 vgl. J.-L. Ska, Jesus etla Samaritaine Gh 4). Utilite de I'Ancien Testament, NTR 118 (1996) 641-652. 11 Vgl. zur Rezeptionsästhetik in der Exegese J. Frey, Der implizite Leser und die biblischen Texte, ThBeitr 23 (1992) 266-290, für Joh J. L. Staley, The Print's First Kiss: A Rhetorical Investigation of the Implied Reader in the Fourth Gospel (SBL Diss. Ser. 82) Atlanta 1988, 95-102; konkretisiert an Sprechakten J. E. Botha, Jesus and the Samaritan Woman. A Speech Act Reading of John4: 1-42 (NT Suppl. Ser. 65) Leiden 1991; M. W. Stibbe, John as Storyteller (MSSNTS 73) Cambridge 1992. 12 Vgl. dazu ausführlich Staley, The Print's First Kiss; S. v. Tilborg, Imaginative Love in John, Leiden 1993, 177ff.; J.-A. A. Brant, Husband Hunting: Characterization and Narrative Art in the Gospel of John, Biblical Interpretation 4 (1996) 205-223. 13 Vgl. z.B. Aboth 1,5: »Rabbi Jose 6. Johanan sagt: Unterhalte dich nicht viel mit einer Frau«; man soll auf der Straße nicht hinter einer Frau hergehen, sie nicht grüßen, nicht mit einer anderen Frau allein sein (TestR 3,10; bBer 61a; bQid 70a; diese und weitere Belege bei Strack-Billerbeck I, 299f.; II, 438). Anders R. G. Maccini, A Reassessment of the Wo man at the Weil in John 4 in Light of the Samaritan Context, JSNT 53 (1994) 35-46, der zeigen will, daß im samaritanischen Kontext andere Normen gelten. 14 Vgl. M.E. Boismard, Aenon, Pres de Salem, RB 80 (1973) 223-226, N. R. Bonneau, The Woman at the Weil. John 4 and Genesis 24, Bible Today 67 (1973) 1252-1259; H. Neyrey (S.J.), Jacob Traditions and the Interpretation ofJohn 4: 10-26, CBQ 41 (1979) 419-437; C.M. Carmichael, Marriage and the Samaritan Woman, NTS 41 (1980) 332-346; L. Eslinger. The Wooing of the Woman at the Well: Jesus, the Reader and Reader- Response Criticism, in: M. W. G. Stibbe (hg.), The Gospel of John as Literature. An Anthology of Twentieth-Century Perspectives, Leiden 1993, 165-182 (zuerst Literature and Theology 1 [1987],167-183); vgl. Brant, Husband Hunting, 205-223; D. A. Lee, The Story of the Woman at the Weil: A symbolic Reading Qohn 4: 1-42), ABR 41 (1993) 35-48; S.M. Schneiders, Une etude de cas: une inter- ZNT 2 (1998) pretation feministe de Jean 4,1-42, in: Lectio Divina (Editions du Cerf) 161 (1995) 297-328; Ska, Jesus et la Samaritaine, 642f. 15 Vgl. R. Alter, The Art of Biblical Narrative, London 1981, 52. Alter faßt »fixed constellations of predetermined motifs« zu stereotypen Erzählmustern (»typescenes«) zusammen, und verfolgt parallele Konstruktionen in der Umweltliteratur bis zu Homer. Die Rezeption für Joh 4 schon bei Staley, The Print's First Kiss, l00f.; Eslinger, Wooing, 167. 16 Vgl. dazu Eslinger, Wooing, 167. 17 Vgl. umfangreiche Belegstellen bereits bei W. Erdmann, Die Ehe im Alten Griechenland (Münchner Beiträge zur Papyrusforschung und antiken Rechtsgeschichte 20) München 1934, 267ff. 18 Insbesondere innerhalb der angelsächsischen Exegese herrscht hier annähernd Einigkeit (vgl. Anm. 14). So zuletzt Brant, Husbgand Hunting, 211: »near consensus«. 19 Ironisch deutet z.B. P. D. Duke, lrony in the Fourth Gospel: The Shape and Function of a Literary Device (Ph. D. Diss. ), 1982; P. J. Cahill, The Johannine Logos as Center, CBQ 38 (1976) 54-72; als Parodie verstehenJoh 4 z.B. Staley, The Print's First Kiss, 98ff.; Brant, Husband Hunting: »Comic use of the betrothal type« (216). Brant disqualifiziert damit allerdings den Höhepunkt der Erzählung im christologischen Hoheitserweis als Ersatzhandlung und Notlösung, da die Annäherung auf Beziehungsebene scheitert. Gegen fleischliches Mißverständnis plädiert Eslinger, Wooing. 20 Vgl. M. Foucault, Sexualität und Wahrheit, Bd. 2: Der Gebrauch der Lüste; Bd. 3: Die Sorge um sich, 5 1997 (11986) (StW 717/ 718), Frankfurt a.M. (orig. Histoire de la sexualite 1984). 21 Nach Qid 1,1 konnte man eine Frau auf dreierlei Weise erwerben: 1. durch Brautpreis 2. durch Vertrag (ketubba); 3. durch Geschlechtsverkehr (vgl. auch bQid 96). Bis zu den augusteischen Ehegesetzen ist auch nach dem römischen Verständnis die Ehe ein faktisches Verhältnis verwirklichter Lebensgemeinschaft und kein Rechtsverhältnis; vgl. M. Kaiser, Das römische Privatrecht I (HAW Abt. X Teil III, 2) München 2 1971, § 73. 22 Vgl. Nid 4,1: »Die Töchter der Kuthäer gelten als Menstruierende von ihrer Wiege an« (vgl. tNid 5,1), zit. nach J. Zangenberg, SAMAPEIA. Antike Quellen zur Geschichte und Kultur der Samaritaner in deutscher Übersetzung(= TANZ 15) Tübingen/ Basel 1994, 137. 23 Vgl. dazu zuletzt L. P. Jones, The Symbol of water in the Gospel of John(= JSNT Suppl. Ser. 145), Sheffield 1997, inbesondere 89ff. 24 Eslinger, Wooing, 180. 25 Vgl. dazu allgemein A. D. Crown (hg.), The Samaritans, Tübingen 1989; F. Dexinger / R. Plummer (hgg.), Die Samaritaner, Darmstadt 1992; Art. Samaritaner (F. Dexinger) EKL 4 (1996) 47-48. 26 Vgl. Belege bei K. Berger, Die Gesetzesauslegung Jesu. Ihr historischer Hintergrund im Judentum und im Alten Testament (WMANT 40), Neukirchen/ Vluyn 1972, 307-326.508-575. ZNT 2 (1998) 27 Übersetzung wie auch im folgenden nach J. Maier, Die Qumran-Esscner: Die Texte vom Toten Meer, Bd. 1, München/ Basel 1995, 12.14. 28 Taufe: 3,22f.26 - 4,lf.; Ortsfrage: 3,22 - 4,20-21; Wasser: 3,23 - 4,6-16; Reinheit: 3,25 - 4, 9; Zeugnis: 3,26.28.32f. - 4,39; ,Gemeinde,wachstum: 3,26.30 - 4,39.41; Messiasfrage: 3,28-4,25.29.39; Brautbild: 3,29- 4 passim; Wahrheit: 3,33 - 4,17; 23f.42; Geist: 3,34 - 4,23f.; Vater: 3,35 - 4,23; ewiges Leben: 3,36-4,14. 29 Folgende Lösungen werden erwogen: 1. Scythopolis (Betshan) wird im 4. Jh. durch Eusebs Onomasticon (GCS 11, 40,1-4; 153,6-7) bezeugt; 2. Perea östlich des Jordans, wo Johannes nach Joh 1,28 wirkte; 3. in Samarien, wo bis heute 'Ainun unweit von Salim bei Sichern liegt (so zuerst W. F. Albright, HTR 17, 1924, 193-194). Zur Diskussion vgl. J. Zangenberg, Frühes Christentum in Samarien. Topographische und traditionsgeschichtliche Studien zu den Samarientexten im Johannesevangelium, Diss. Heidelberg 1995, 49-57. 30 N. Krieger, Fiktive Orte der Johannestaufe, ZNW 45 (1953/ 54) 121-123. 31 So bereits Buhmann, J ohanncs, 122. Vgl. zu dieser Deutung neuerdings wieder J. W. Pryor, John the Baptist and Jesus: Tradition and Text in John 3.25, JSNT 66 (1997) 15-26. 32 So z.B. B. Olsson, Structure and Meaning in the Fourth Gospel: A Text-Linguistic Analysis of John 2,1-11 and 4,1-42 (CB.NT 6) Lund 1974, 185ff. Selbst H. Thyen (Art. Johannesevangelium, TRE 17 [1988], 200-225, 203) neigt dieser Interpretation zu. 33 Vgl. im NT z.B. IIKor 11,2; Apk 21,2; vgl. Bauer/ Aland, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, Berlin - New York 1988, 131. 34 Vgl. in diesem Sinn auch Staley, the Print's First Kiss, 101: » N either here nor in the previous instances does the implied author explicitly state through the narrator or a character that Jesus is thc bridegroom. This infercnce is left for the implicd reader to draw for himself.« 35 Anders J. Neugebauer, Die Textbezüge von Joh 4,1-42 und die Geschichte der johanneischen Gruppe, ZNW 84 (1993) 135-141. 36 Diese Täuferdarstellung im vierten Evangelium charakterisiert K. Berger treffend als »Gratwanderung zwischen Herabsetzung des Täufers und seiner Indienstnahme für Jesus«, vgl. ders., Im Anfang war Johannes. Datierung und Theologie des vierten Evangeliums, Stuttgart 1997, 68. Ähnlich J. Ernst, Johannes der Täufer. Interpretation - Geschichte Wirkungsgeschichte (BZNW 53) Berlin/ New York 1989, 212ff.; M. Stowasser, Johannes der Täufer im vierten Evangelium. Eine Untersuchung zu seiner Bedeutung für die johanneische Gemeinde (ÖBS 12) Klosterneuburg 1992, 241. Vgl. ferner unseren Beitrag »Der Freund des Bräutigams Qoh 3,29) - Deflorations- oder Christuszeuge? «, ZNW 89 (1998) (im Erscheinen). 51 Peter Trummer Daß meine Augen Der Autor Dr. Peter Trummer ist a.o. Universitäts-Professor für Neues Testament an der Universität Graz sich öffnen Kleine biblische Erkenntnislehre am Beispiel der Blindenheilungen Jesu 1998. 224 Seiten, Kart. DM 39,80/ öS 291,-/ sFr 37,- 3-17-015279-3 Die Blindenheilungen Jesu konfrontieren mitvielen Arten von Blindheit: nicht nur kranke Augen sind es, die das Sehen schwer oder unmöglich machen. Oft liegt ein Schleier über der Erkenntnis, es fehlt das Licht, die Perspektive, der Durchblick. Die fernen biblischen Wundergeschichten kommen hier erschreckend nahe, jedoch nicht niederschmetternd, sondern aufrichtend eine heilsame biblische Erkenntnislehre mit großen Konsequenzen. Kohlhammer W. Kohlhammer GmbH · 70549 Stuttgart • Tel. 0711/ 78 63 - 430 Homosexualität im Neuen Testament. Ein kulturelles oder ein theologisches Problem? Eine Einführung zur Kontroverse Wolfgang Stegemann versus Martin Hasitschka Die Diskussion hat in der Rheinischen und Nordelbischen Kirche in den letzten Jahren Schlagzeilen gemacht, darüber hinaus aber längst die meisten Kirchen Europas und Nordamerikas erfaßt und wird auch auf der Tagung des Weltkirchenrates im Dezember diesen Jahres nicht zu verhindern sein. »Die Bibel verbietet jede Form von Homosexualität«, das wird im gegenwärtigen Streit um die ethische Bewertung von Homosexualität, um die Akzeptanz von Schwulen und Lesben in Kirche und Gesellschaft und um die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare oft behauptet. Was für die einen Fundamentalargument ist, ist für die anderen Anlaß, die Bibel in diesen Fragen schlicht für irrelevant und »überholt« zu erklären. Beiden ist zu raten, die Bibel genauer zu lesen und sorgfältiger zu fragen, was die Texte wirklich sagen. Welche (ungenannten) Voraussetzungen, z.B. welches Frauen- und welches Männerbild und welche Sicht und Wertung von Sexualität überhaupt, liegen der biblischen Bewertung homosexuellen Verhaltens zugrunde? Mit welchem Recht teilen wir diese? Dabei lautet die entscheidende Frage: Was meint in diesem Zusammenhang »Natur«? Die einen verstehen das (wie im folgenden M. Hasitschka) im Sinne des Naturrechts als »Schöpfungsordnung«, die auch für uns heute verbindlich ist. Die anderen verstehen »Natur« bei Paulus (wie im folgenden W. Stegemann) als Ausdruck einer sich (schon innerhalb der Bibel) wandelnden» Kulturanthropologie«, die zu fragen anleitet, was jeweils »Ehre« und »Schande« für einen Menschen ist und darum in concreto zu anderen Urteilen als Paulus kommen kann. Rainer Stuhlmann Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie Herausgegeben von Max Seckler, Gerfried W. Hunold, Peter Hünermann und Georg Wieland Raul Gutierrez Wille und Subjekt bei Juan de la Cruz Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie 15, 1998, 154 Seiten, DM 68,-/ ÖS 496,-/ SFr 65,- ISBN 3-7720-2583-8 Im Unterschied zu anderen Untersuchungen zu dem spanischen Mystiker Juan de la Cruz (1542-1591) versucht die vorliegende Studie, die Konsistenz und Kohärenz seines Denkens im Zusammenhang mit der neuplatonisch inspirierten und das Subjekt thematisierenden Entwicklung von Meister Eckhart über Tauler zu Nikolaus von Kues zu zeigen. Leitfaden ist dabei die zentrale Rolle des Willens im dialektisch verstandenen Prozeß der Selbstwerdung der Seele. Anton van Harskamp Theologie: Text im Kontext Auf der Suche nach der Methode ideologiekritischer Analyse der Theologie, illustriert an Werken von Drey, Mähler und Staudenmaier Aus dem Niederländischen von Hedwig Meyer-Wilmes Band 13, 1998, ca. 550 S., ca. DM 140,-/ ÖS 1022,-/ SFr 126,- ISBN 3-7720-2581-1 Theologie kann ideologisch sein: Manchmal dient sie nur beschränkten Gruppeninteressen. Aber wie kann man den ideologischen Aspekten auf die Spur kommen? Mittels einer Analyse der Verhältnisse zwischen (Kirchen)Politik und Theologie bei einigen Theologen im Umfeld der sogenannten katholischen 'Tübinger Schule' beantwortet der Autor diese Frage; zugleich eine überraschende Neuinterpretation dieser Schule aus dem neunzehnten Jahrhundert. - A. Francke Verlag Tübingen und Basel · Postfach 2560 · D-72015 Tübingen ZNT 2 (1998) 53 Martin Hasitschka Homosexualität eine Frage der Schöpfungsordnung Nicht nur aufgrund des geringen Umfanges der einschlägigen biblischen Texte, sondern auch wegen der weitgehenden Übereinstimmung in ihrer Auslegung scheint mir eine Kontroverse mit dem Beitrag von Wolfgang Stegemann nur in begrenztem Maß möglich zu sein. Ich stimme seinen Ausführungen grundsätzlich zu, insbesondere hinsichtlich der Auffassung, daß Homosexualität in der Bibel »weder verboten noch verdammt« wird und von malakos ist »weich« (vgl. Mt 11,8; Lk 7,25: Menschen in weichen/ feinen Kleidern). Im Kontext des Lasterkataloges bezeichnet malakos eine verwerfliche Art des Verhaltens (weichlich, verweichlicht) und dies auch in sexueller Hinsicht. Zwar nicht malakos, aber malakia (Weichlichkeit) verwendet Philo, SpecLeg 3,39-40, im sexuellen Sinn: Der Päderast (Knabenliebhaber) 2 fördert das schlimme Laster der daß es in Röm 1,26f nicht um Paränese geht, sondern eher um eine »Ätiologie«, jedenfalls um eine Aussage K' TROV Weichlichkeit, das verbunden ist mit Unmännlichkeit und Zügellosigkeit. Nicht zwingend ist die innerhalb eines größeren Argumentationszusammenhanges. Auch wenn es zu manchen Doppelungen zu seinen Ausführungen kommt, bringe ich zunächst eine eigene Textauslegung und versuche im Anschluß daran zwei unterschiedliche Sichtweisen hervorzuheben. Die drei für die Thematik relevanten Texte nennen homosexuelle Praktiken im Zusammenhang mit Lasterkatalogen, welche ihrerseits einen bestimmten Stellenwert in umfassenderer theologischer Argumentation haben. 1 1. 1Kor6,9 Der 10-teilige Lasterkatalog I Kor 6,9-11, durch den Paulus illustriert, was »Ungerechte« sind, die das Reich Gottes nicht erben werden, ist eine erweiterte Liste der bereits in 5,10 und 5,11 erwähnten Laster. Die Erweiterung betrifft vor allem den Bereich der Sexualität. Zu den schon in 5, 10.11 genannten »Unzüchtigen« (pornoi) kommen hinzu »Ehebrecher« (moichoi), »Weichlinge« (malakoi) und »mit Männern verkehrende Männer« (arsenokoitai). Daß der mit »Weichling« übersetzte Begriff malakos sexuelle Konnotation hat, ergibt sich m.E. bereits aus seiner Mittelstellung zwischen moichos und arsenokoites. Die Grundbedeutung 54 Annahme, daß unter malakos ein »Lustknabe« oder »effeminate call-boy« 3 zu verstehen ist. Der Begriff arsenokoites, »einer, der mit Männern geschlechtlich verkehrt«4, ist in der antiken Literatur vor Paulus nicht zu finden. 5 Wörtlich verstanden als »einer, der mit Männlichem (arsen) im Bett (koite) ist/ Beischlaf hat«, erinnert dieser Begriff an Lev 18,22 und 20, 13 in der Übersetzung der Septuaginta 6, zwei Weisungen, die im Kontext verschiedener Gebote über das sexuelle Verhaltenstehen (Lev 18,6-23; 20,10-21). Arsenokoites ist vielleicht ein unter dem Einfluß dieser Stellen gebildeter Neologismus, der möglicherweise aus dem hellenistischen Judentum stammt. 7 Er enthält ähnlich wie jene beiden Stellen weder eine Angabe über das Alter der betreffenden Person (Mann oder Kind), noch über die Art des Einverständnisses zur angedeuteten homoerotischen Praxis (freie Einwilligung oder Zwang). Wenngleich arsenokoites auch »Knabenschänder« oder »Päderast« bedeuten kann 8, ist eine Einschränkung des Begriffsinhaltes auf diese Bedeutung nicht erforderlich. Hätte Paulus, wenn er diese spezielle Bedeutung vermitteln wollte, sich nicht bekannter und verbreiteter Begriffe wie » Knabenliebhaber« (paiderastes), » Knabenschänder« (paidophthoros - Test XII.Lev 17,11) oder des Verbums »Knaben schänden« (paidophthoreo - Did 2,2; Barn 19,4) bedienen können? Arsenokoites kann sowohl ZNT 2 (1998) Subjekt als auch Objekt geschlechtlicher Aktivitäten sein. Nicht gesichert ist jedenfalls die verbreitete Auffassung, daß der mit malakos und arsenokoites gebildete Doppelausdruck auf homosexuelle Praktiken zu beziehen ist, wobei der erste Ausdruck den passiven, der zweite den aktiven Partner bezeichnet. Die zumindest bei arsenokoites mitklingenden homoerotischen Beziehungen werden unbetont unter anderen Lastern mitgenannt. Die genannten Laster gehören für Christen der Vergangenheit an und widersprechen dem neuen Sein in Christus. 2. 1 Tim 1, 10 [Der Neologismus] arsenokoites findet sich nochmals im Lasterkatalog I Tim 1,9-10, der deutliche Anspielungen an den Dekalog erkennen läßt. Der Katalog enthält drei Wortpaare, die die verkehrte und gestörte Stellung des Menschen zu Gott umschreiben, drei Ausdrücke für Mißachtung des Lebens der Eltern und anderer Menschen (4. und 5. Gebot), drei Bezeichnungen für den Mißbrauch anderer Menschen (pornoi, arsenokoitai, Menschenhändler - 6. und 7. Gebot) und zwei Ausdrücke für unwahren Umgang mit anderen (8. Gebot). Eine Einschränkung der Begriffsbedeutung von arsenokoites auf »Knabenschänder« legt sich hier ebensowenig nahe wie in I Kor 6,9. 3. Röm 1,26f Den Kontext dieser Stelle bildet der Großabschnitt Röm 1,18-3,20, der im Licht des Evangeliums (1,16f) die universale Unheilssituation der Welt aufzeigt. Röm l,26f steht im näheren Kontext von 1,18-32. Nach dem Vorbild der prophetischen Gerichtspredigt erhebt Paulus in diesem Abschnitt Anklage. Obwohl allen Menschen gegeben ist, Gott wahrzunehmen und zu erkennen in seinen Schöpfungswerken, wird Gott nicht als Gott anerkannt und verehrt (1,19-21). Der »Zorn Gottes« (1,18) erweist sich nun darin, daß der Mensch an seine durch Verweigerung der Gottesverehrung gekennzeichnete U nheilssituation preisgegeben wird. Röm 1,22-32 ist in drei konzentrischen Kreisen ZNT 2 (1998) aufgebaut (1,22-24.25-27.28-32), die eine rhetorische Steigerung aufweisen: Die Schuld des Menschen wird immer kürzer, ihre Folge immer ausführlicher beschrieben. Der Abfall zum Götzendienst (Röm 1,23 vgl. Ps 106,20; J er 2, 11) und die »Vertauschung« der Anbetung (kultische Verehrung der Schöpfung an Stelle des Schöpfers - Röm 1,25) sind die »U rsünde«, in der alle Störungen und das Chaos in den menschlichen Beziehungen wurzeln. Bei der dreifachen Schilderung der Folge dieser Sünde wird jeweils das Verbum »übergeben« gebraucht. Der Mensch wird an seine eigenen Begierden (1,24 ), Leidenschaften (1,26) und seine verwerfliche Sinnesweise (1,28b) übergeben. Die Auslieferung des Menschen an seine Unheilssituation bedeutet ein »Zorngericht«, das sich schon in der Gegenwart ereignet. Röm 1,18-3,20 bildet aber nur den dunklen Hintergrund für die in 3,21 beginnende Darstellung der Erlösungstat Gottes in Jesus Christus. Die an Christus Glaubenden wissen sich befreit aus dem Unheilsbereich der Sünde und bekunden dies durch eine neue Lebenspraxis (vgl. besonders Röm 6). Möglicherweise liegt in Röm 1,18-32 Einfluß von Sap 13-15 vor. Dieser von hellenistisch-jüdischer Apologetik geprägte Text beginnt mit einer »theologia naturalis«: Im Betrachten der Schöpfungswerke kann der Mensch den wahren und lebendigen Gott erkennen (Sap 13,1-9). Ganz ähnlich argumentiert Paulus in Röm l,19f. Die Abschnitte Sap 13,10-14,31; 15,7-19 veranschaulichen sodann die Torheit des Götzendienstes. Dieser wird gesehen als der Beginn der Unzucht (porneia 14,12) und der Anfang von allem Übel, seine Ursache und sein Höhepunkt (14,27). Zur Reihe einzelner Übel, wie kindesmörderische Einweihungen, ekstatische Orgien (14,23), Ehebruch (14,24), Blut, Mord und Diebstahl (14,25), zählt auch die »Vertauschung (enallage in LXX nur hier) des Geschlechtes (genesis)« (14,26). Der Begriff genesis, der an mehreren Stellen des Weisheitsbuches mit »Werden« (auch: »Entstehen«, »Ursprung«) zu übersetzen ist, kann hier wie in Sap 3,12; 16,26; 18,12 in der Bedeutung von »Geschlecht«, »Art« verstanden werden. Ein weiteres Argument für die Interpretation dieses Begriffes im Sinne der Geschlechterrolle ist, daß auf den Ausdruck »Vertauschung des Geschlechtes« zwei sexuelle Verfehlungen folgen: »Unordnung der Ehe« und »Ehebruch« (14,26). Es gibt also Gründe für die Annah- 55 Martin Hasitschka Martin Hasitschka SJ,Jahrgang 1943. Studienorte: Pullach bei München (Studium der Philosophie), Innsbruck (Studium der Theologie, Habilitation im Bereich der Neutestamentlichen Bibelwissenschaft). Derzeitige Tätigkeit: Professor für Neutestamentliche Bibelwissenschaft an der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck. Hauptforschungsgebiet: Johannesevangelium und Offenbarung des Johannes. me, daß mit »Vertauschung des Geschlechts« auf homoerotische Praktiken angespielt wird. Dann ließe sich der Einfluß von Sap 13-15 auch auf Röm 1,26f ausdehnen. 9 3.1 Röm 1,26b Die Beschreibung der »Leidenschaften«, in die der Mensch übergeben wird, hat im ersten Teil den Wortlaut: »Nämlich ebenso wie die Weiblichen von ihnen den natürlichen (physikos) Umgang mit dem gegen (die) Natur (para physin) vertauschten, ... «. Paulus spricht in Röm 1,266-27 nicht von Männern und Frauen, sondern verwendet das Wortpaar männlich-weiblich (arsen theleia). Außer an dieser Stelle gebraucht er es auch in Gal 3,28 (arsen thely). Im übrigen NT kommt es nur noch bei Mt 19,4 und Mk 10,6 vor, im Zitat aus Gen 1,27 (vgl. Gen 5,2). Sicher nicht ohne Absicht verwendet Paulus das Verbum »vertauschen« (metallasso) sowohl in Röm 1,25 (Vertauschen der Wahrheit Gottes mit der Lüge) als auch in 1,266 (Vertauschen des [sexuellen] Umganges 10 ). Tiefster Grund für Störung im sexuellen Bereich ist ein verzerrtes Verständnis von Gott (Lüge) und ein gestörtes Verhältnis zu seiner Schöpfung. 56 Die Hauptfrage bei der Interpretation dieser Stelle richtet sich auf das Verständnis von »natürlich« (physikos) und »Natur« (physis). Das Adjektiv physikos (es bedeutet auch: »zur Natur gehörig«, »der Natur entsprechend«, »naturgemäß«) verwendet Paulus nur hier. Den Begriff physis hingegen gebraucht er auch an anderen Stellen. In I Kor 11,14 (im Kontext von 11,13-15) ist physis handelndes Subjekt (sie lehrt).11 An dieser Stelle wird der Naturbegriff beinahe zu einem Kulturbegriff. Innerhalb des Römerbriefes ist vor allem auf Röm 11,21.24 zu verweisen, auf das Bild von den beiden Ölbäumen. Paulus spricht einerseits von den Zweigen, die »von Natur aus (kata physin)« zum edlen Ölbaum gehören, und andererseits von Zweigen, die aus dem »von Natur aus (kata physin)« wilden Ölbaum herausgehauen und »gegen die Natur (para physin)« in den edlen Ölbaum eingepfropft werden. Das Bild vermittelt die Vorstellung, daß Gott sogar »gegen die Natur« handelt. Liest man Röm 1,26 im Licht von Röm 11,21.24, so bekommt die Wendung »gegen die Natur« (auch: »wider die Natur«, »an der Natur vorbei«) die Bedeutung: gegen die Schöpfungsordnung.12 Das Widernatürliche besteht dann in erster Linie im Fortfall des in der Schöpfungsordnung verankerten Zweckes der Sexualität~ nämlich der Fortpflanzung (Gen 1,28). Für den Bezug zur Schöpfungsordnung sprechen auch das an Gen 1,27 erinnernde Begriffspaar »männlich weiblich«, der Anklang an Gen 1,20-27, der in Röm 1,23 durch den Ausdruck »Gestalt/ Bild (eikon)« und die in besonderer Reihenfolge genannten Tiere gegeben wird, sowie die Verwendung der Begriffe »Schöpfer« und »Schöpfung« in Röm 1,25. Den Hintergrund für das spezielle Verständnis von »Natur« und »natürlich« in Röm 1,26f bildet vor allem die hellenistische Philosophie und das davon beeinflußte Judentum. Für Platon hat der geschlechtliche Verkehr von Natur aus (kata physin) Zeugung von Nachkommenschaft zum Ziel. Homoerotische Beziehungen, die dieses Ziel ausklammern, sind gegen die Natur (para physin).13 Platon hat großen Einfluß auf das hellenistische Judentum, das unter Verweis auf die Schöpfungsordnung homoerotischen Praktiken gegenüber negativ eingestellt war. Dies war zugleich eine Weise, die eigene Identität zu bewahren in einer heidnischen Weltkultur, die hinsichtlich homoerotischer Beziehungen (bes. Päderastie) eher freizügig war. ZNT 2 (1998) Repräsentant dieses Judentums ist besonders Philo v. Alexandrien. 14 Auch J osephus belegt die bereits bei Platon zu findende Gegenüberstellung von natürlichem (kata physin) und widernatürlichem (para physin) geschlechtlichem Verkehr. 15 Vor diesem Hintergrund kann man die in Röm 1,26f genannten Praktiken »ganz und gar griechisch als Verfehlung der natürlichen Ordnung« 16 charakterisieren. Für Paulus ist die natürliche Ordnung zugleich Schöpfungsordnung. Fraglich ist noch, ob in Röm 1,266 sexuelle Beziehung zwischen Frauen (lesbische Liebe) gemeint ist oder unnatürlicher heterosexueller Verkehr (Unterbindung der Nachkommenschaft). 17 Vertreter für beide unterschiedlichen Auffassungen finden sich bereits in der patristischen Auslegungsgeschichte.18 Hauptargument für eine Interpretation im homoerotischen Sinn ist die Parallelität der Aussagen von Röm 1,266 und 1,27. 19 Die Reihenfolge in Röm 1,266-27 (zuerst die Weiblichen, dann die Männlichen) ist unerwartet. In Analogie zu I Kor 10,16f (die unerwartete Nennung des Bechers vor dem Brot dient dazu, eine besondere Interpretation des Brotes zu geben) kann man davon ausgehen, daß Paulus das Schwergewicht auf die Aussage über die Männlichen legt. 3.2 Röm 1,27 Die zweite Aussage von Röm 1,266-27 ist durch die syntaktische Konstruktion »ebenso wie ... so« mit der ersten verknüpft: » ... so verließen auch die Männlichen den natürlichen (physikos) Umgang (mit) dem Weiblichen und entbrannten in ihrem Verlangen zueinander, Männliche mit Männlichen die Schamlosigkeit verübend ... «. Dem Verbum »vertauschen« in der ersten Aussage entspricht in der zweiten Aussage das Verbum »verlassen«. Dieses vermittelt die Vorstellung von einer Sexualität, die losgelöst ist von der »natürlichen«, d.h. in der Schöpfungsordnung verankerten geschlechtlichen Beziehung. Das »Entbrennen« im »Verlangen zueinander« ist konkreter Ausdruck der in 1,24 und 1,26a genannten Begierde und Leidenschaft. Die Haltung der Begierde (epithymia), die durch die Sündenmacht ausgelöst wird und in der der Mensch sich gegen Gott richtet, spielt im Römerbrief noch eine wichtige Rolle (Röm 7,7f). Die Fehlrichtung des Begehrens zeigt sich am krasse- ZNT 2 (1998) sten in den in Röm 1,266-27 genannten Fehlrichtungen der Sexualität. Hinsichtlich der konkreten Form der homoerotischen Beziehung bleibt die Aussage von Röm 1,27 ebenso unbestimmt und offen wie jene in 1,266. 20 4. Ergebnisse aus dem biblischen Befund Die behandelten Stellen konstatieren das Faktum verschiedener homoerotischer Praktiken. Die verwendeten Begriffe (malakos, arsenokoites) und Wendungen (»natürlicher Umgang«, »gegen die Natur«) haben nicht präzise, sondern eher weite Bedeutung und lassen keine Rückschlüsse auf konkrete homoerotische Ausdrucksformen zu. In der Bewertung dieser Praktiken liegt das Neue Testament auf der Linie von Lev 18,22; 20,13 und des hellenistischen Judentums. 21 An allen drei Stellen werden die homoerotischen Beziehungen nicht isoliert, sondern in einer Reihe mit anderen Lastern erwähnt. Die Lasterkataloge aber haben eine besondere Funktion in der Gesamtaussage der Briefe. Der Lasterkatalog in I Kor 6,9-11 veranschaulicht, was »Ungerechte« sind. Ihnen werden die Christen gegenübergestellt, die »gerecht« geworden sind im Namen J esu und im Geist Gottes (6,11). In I Tim 1,10 steht der Lasterkatalog im Dienst der Polemik gegen falsche Gesetzeslehrer (1,3-7) und gegen das, was der »gesunden Lehre« widerspricht (1,10). In Röm 1,18-32 illustrieren die Laster die Folgen einer fehlenden oder verfehlten Gottesbeziehung und den damit gegebenen Verlust von »Herrlichkeit« (3,23; vgl. 1,23). In diesem Kontext ist homosexuelles Verhalten »Symbol einer von Gott abgewandten, in sich verkehrten Welt«. 22 Röm 1,18-32 ist jedoch nicht Ausgangspunkt für ethische und moralische Unterweisung (Paränese), sondern für die Entfaltung des Evangeliums (Christologie). Die genannten biblischen Stellen sprechen nicht von homosexueller Verfaßtheit des Menschen, sondern nur von bestimmten Verhaltensweisen und Praktiken. Eine irreversible homosexuelle Veranlagung oder Neigung im Sinne heutiger Erkenntnisse (Psychologie / Sozialwissenschaften) ist der Bibel unbekannt. 23 Das Verständnis der Sexualität und des damit zusammenhängenden Naturbegriffes sind grund- 57 sätzlich dem geschichtlichen Wandel unterworfen.24 Diesbezügliche Reflexionen geschehen auch auf dem Gebiet der Dogmatik (Ehesakrament) und Sexualethik in der heutigen Theologie. Um die behandelten Texte aktualisieren zu können, müssen wir unterscheiden zwischen zeitbedingten, wandelbaren Auffassungen und bleibender, auch heute gültiger Aussage. Diese läßt sich aber nicht ermitteln, ohne daß wir zuvor die Texte im größeren Kontext der Briefe und im Kontext der konkreten gesellschaftlichen Situation ihrer Verfasser und Adressaten zu verstehen suchen. 5. Unterschiedliche Sichtweisen Bei der Interpretation von I Kor 6,9 geht Wolfgang Stegemann von speziellen Begriffsbestimmungen aus. Unter malakoi versteht er weibliche Männer bzw. Männer, die sich sexuell wie Frauen behandeln lassen, unter den arsenokoitai »Männer penetrierende Männer« und unter den pornoi männliche Prostituierte im Sinne von passiven Sexualpartnern. Diese Interpretation ist vom Bedeutungsumfang der betreffenden griechischen Begriffe sicher möglich und gedeckt. Der Begriffsinhalt läßt sich m.E. aber nicht einschränken auf die vorgenommene Interpretation. 25 Bei der Auslegung von Röm 1,26 neigt Wolfgang Stegemann eher zur Deutung im Sinne eines unnatürlichen heterosexuellen Geschlechtsverkehrs. Röm 1,27 wird auf »anale Penetration« eines Mannes durch einen Mann bezogen. Auch an diesen Stellen stimme ich zu, daß sich der Urtext so interpretieren läßt. Ich habe aber versucht zu zeigen, daß die verwendeten Begriffe und Formulierungen manches unbestimmt lassen. Sowohl IKor 6,9 als auch Röm 1,26f enthalten m.E. Ausdrücke, deren Bedeutung weit und letztlich unscharf ist. Rückschlüsse bezüglich der Aktivität oder Passivität der Partner, hinsichtlich ihres Alters oder in Bezug auf die Frage, ob sie freiwillig oder unter Zwang handeln, sind möglich, aber nicht zwingend. Eine weitere unterschiedliche Betrachtungsweise betrifft speziell die »natürliche« Rolle der Geschlechter. Wolfgang Stegemann beschreibt sie unter kulturanthropologischer und soziologischer Rücksicht. Er geht davon aus, daß die den Ge- 58 schlechtem zugeschriebenen und erlaubten »natürlichen« Rollen im Sexualverkehr durch die Polarität von aktiv und passiv gekennzeichnet waren. Er betont damit die enge Verbindung von Sexualität und sozialer Rollenfestlegung in der Antike. Das sexuelle Verhältnis zwischen Mann und Frau ist gekennzeichnet durch soziale Vorrangstellung des Mannes gegenüber der Frau. Im Bereich der Sexualität spiegeln sich bestimmte Strukturen von Macht und Abhängigkeit. Der Mann ist »aktiv« und dominant, die Frau ist naturgemäß »passiv« und untergeordnet. Dieses Rollenverständnis trifft für die antike Gesellschaft sicher weitgehend zu. Eine von solchem Verständnis der Geschlechterrollen geleitete Interpretation von Röm 1,26f scheint zu rivalisieren mit der von mir vertretenen Auslegung, die vom platonisch-hellenistischen Natur- und vom paulinischen Schöpfungsbegriff ausgeht. Ich sehe aber keine grundlegende Meinungsverschiedenheit. Eine von kulturellen und gesellschaftlichen Wertmaßstäben der Antike geleitete Fragestellung kann vielleicht zusätzliche Aspekte erbringen zu meinem am philosophischen und schöpfungstheologischen Hintergrund orientierten Ansatz. Über unterschiedliche Sichtweisen hinaus verbindet uns das Thema der »Negativkategorien« von Macht, Gewalt und Abhängigkeit. Sie sind m.E. Kennzeichen der Folgen jenes rätselhaften »Vertauschens«, von dem Röm 1,18-32 spricht, Merkmale einer vom Schöpfer losgelösten und durch den Menschen versklavten Schöpfung (ktisis). Röm 1,18-32 ist jedoch Ausgangspunkt für das paulinische Verständnis von Erlösung durch Christus. An der Erlösung des Menschen wird die gesamte Schöpfung partizipieren. In der jetzt leidenden und vom Menschen »unterworfenen« Schöpfung vernimmt Paulus ein »Seufzen«. Es ist für ihn Ausdruck der sehnsüchtigen Hoffnung, daß die Schöpfung aus aller »Knechtschaft« befreit werden wird und Anteil bekommt an der »Freiheit« und »Herrlichkeit« jener, die dem »Bild« (eikon) Christi gleichgestaltet werden (Röm 8, 19-22.29). ZNT 2 (1998) Anmerkungen Anregungen für meine Auslegung verdanke ich besonders M. Stowasser, Homosexualität und Bibel. Exegetische und hermeneutische Überlegungen zu einem schwierigen Thema, NTS 43 (1997) 503-526, und M. Öhler, Homosexualität und neutestamentliche Ethik, Protokolle zur Bibel 6 (1997) 133-147. Die Päderastie (Knabenliebe), bei der die homoerotische Beziehung eines (sexuell aktiven) Erwachsenen zu einem (sexuell passiven) Heranwachsenden eine Rolle spielt, kann als das einzig bekannte »Modell« männlicher Homosexualität in der biblischen Umwelt gelten. 3 R. Scroggs, The New Testament and Homosexuality, Philadelphia 1984, 65. 4 Vgl. W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther (I Kor 1,1-6,11) (EKK VII/ 1), Zürich u.a. 1991, 432. Sib 2,73 ist ein alter Beleg für den Gebrauch des Verbums arsenokoitein: »Do not practice homosexuality (arsenokoitein), do not betray information, do not murder« Q.H. Charlesworth [hg.], The Old Testament Pseudcpigrapha. Volume 1, New York u.a. 1983, 347). Diese Stelle ist beeinfluß von PseuPhok 3: »Brich nicht in fremde Ehen ein, laß nicht Männerliebe (arsena Kyprin [Metapher für eros]) aufkommen« (N. Walter, Pseudo- Phokylides, JSHRZ 4/ 3, Gütersloh 1983, 182-216: 197). 6 Lev 18,22 LXX: »Und mit Männlichem (arsen) sollst du nicht schlafen den Beischlaf (koite) einer Frau. Ein Greuel ist es.« Lev 20,13 LXX : »Und wer schläft mit Männlichem (arsen) den Beischlaf (koite) einer Frau einen Greuel haben beide getan.« Diese Auffassung vertritt und begründet überzeugend D.F. Wright, Homosexuals or Prostitutes? The meaning of arsenokoitai (1 Cor. 6: 9; 1 Tm 1: 10), VigChr 38 (1984) 125-153. Er verteidigt sie erneut in seinem Beitrag: Translating arsenokoitai (1 Cor 6: 9; 1 Tim 1: 10), VigChr 41 (1987) 393-398. So bei W. Bauer, Wörterbuch zum Neuen Testament, Berlin und New York 6 1988. 9 Theologia naturalis im hellenistischen Sinn in Verbindung mit dem Problem der gestörten Gottesbeziehung des Menschen sowie der Störung mitmenschlicher Beziehungen (auch in sexueller Hinsicht) enthält in vergleichbarer Weise auch TestXII.Naph 3,3f: »Die Völker, die verführt wurden und den Herrn verließen, veränderten ihre Ordnung und gehorchten Hölzern und Steinen, den Geistern der Verführung. Ihr aber (handelt) nicht ebenso, meine Kinder, da ihr doch an (Himmels- )feste, Erde und Meer und an allen Schöpfungswerken den Herrn, der alles geschaffen hat, erkennt, damit ihr nicht werdet wie Sodom, das die Ordnung (taxis) seiner Natur (physis) veränderte (enallasso).« Q. Becker, Die Testamente der zwölf Patriarchen, QSHRZ 3/ 1) Gütersloh 1980, 101). 70 Der mit »Umgang«/ »Verkehr« zu übersetzende Begriff chresis findet sich im NT nur in Röm l,26f. Seine Grundbedeutung ist »Gebrauch«, usus (Vulgata). In sei- ZNT 2 (1998) nen wenigen Vorkommen in der Septuaginta fehlt sexuelle Konnotation. Diese Konnotation ist auch außerhalb der Bibel nur selten anzutreffen, z.B. Platon Leg 84 la. 11 Physis (H. Paulsen), EWNT III, Stuttgart 1983, 1063-1065: 1063. 12 Die Wendung »gegen (para) (die) Natur« kann m.E. in theologische Beziehung gebracht werden zu dem in 1,25 gebrauchten Ausdruck »an Stelle (para) des Schöpfers«. Die Handlungsweise gegen die Natur ist zutiefst Folge einer gegen den Schöpfer gerichteten Haltung. 13 Leg 636c: Geschlechtliche Vereinigung von Mann und Frau zum Zwecke der Zeugung und die damit verbundene Lust ist naturgemäß (kata physin). Verkehr von Männern mit Männern und von Frauen mit Frauen ist naturwidrig (para physin). 838e: Naturgemäßer Beischlaf ist jener, der zur Kinderzeugung dient; Männern darf man nicht beiwohnen, weil Fortpflanzung vereitelt wird. 841d: Aus widernatürlichem Umgang mit Männern kann keine Frucht entsprießen. 14 In SpecLeg 3,37-42 kritisiert Philo das (besonders in den Städten anzutreffende) Übel der Knabenliebe (Päderastie), weil dabei das Gepräge der Natur (physis) verfälscht wird. Der Päderast arbeitet hin »auf die Verödung und Entvölkerung der Städte« (39). Philo steigert das bei Platon genannte Problem der Vereitelung der Fortpflanzung durch die Vorstellung einer regelrechten Entvölkerung (vgl. auch VitCont 59-63). - In Abr 133-141 gibt Philo eine Auslegung zu Gen 19. Unter den sexuellen Ausschweifungen Sodoms wird hervorgehoben: »Männer verkehrten auch geschlechtlich mit Männern, ohne Scheu vor der gemeinsamen Natur, die sie mit ihren Mitschuldigen verband« (135). Die Folgen sind Weichlichkeit und Entvölkerung (136 ). Der natürliche Verkehr (kata physin) von Männern und Frauen dient hingegen dem Zweck der Zeugung von Kindern (137). Für Philo besteht also die Sünde von Sodom in der gleichgeschlechtlichen Beziehung, nicht in der Verletzung des Gastrechtes. 15 Ap 2,199.273. Als widernatürlich wird hier der Verkehr zwischen »Männlichen« bewertet. 16 Physis (H.Köster), ThWNT IX, Stuttgart 1973, 246-271: 267. 17 J. E. Miller, The Practices of Romans 1: 26; Homosexual oder Heterosexual? , NT 37 (1995) 1-11, versteht Röm 1,26b »as a description of unnatural heterosexual intercourse« (1 ). Er meint: » The obvious partner for the woman in verse 26 is male and the relationship heterosexual « (8). Röm 1,26 ist im Grunde »a rejection of some or all unnatural (non-coital) heterosexual intercourse« (11 ). 18 Vgl. B.J. Brooten, Patristic Interpretations of Romans 1: 26, (StPatr 18,1) Leuven 1989, 287-291. 19 Vgl. Homosexualität (B.J. Brooten), NBL II, Zürich und Düsseldorf 1995, 192f. Die Auffassung, daß Röm 1,26b von sexueller Beziehung zwischen Frauen spricht, wird vor allem gestützt durch den Verweis auf PsPhok 190-192, einen der wenigen Belege (abgesehen von Platon, Leg 636c) für homoerotische Beziehungen unter 59 Frauen. Das in Röm 1,26f beklagte Vertauschen des natürlichen Verkehrs mit dem wider die Natur »mag sich darauf beziehen, daß lesbische Frauen ihre von Natur aus passive Rolle verlassen haben, während homosexuelle Männer ihre aktive, dominierende Stellung aufgegeben haben, um auf die Stufe der Frau herabzusinken« (192). Der Naturbegriff rückt damit auch in die Nähe eines Kulturbegriffes. 20 R. Scroggs, The New Testament and Homosexuality, 115, vermutet auch in 1,27 Päderastie. Man wird die Aussage von 1,27 aber nicht darauf beschränken können. 21 Zur Verwerfung homoerotischer Praktiken im hellenistischen Judentum vgl. auch Arist 152; ApkAbr 24,7-8; Sib 3, 184-186; 5,386-393. 22 Homosexualität (U. Rauchfleisch, W. Korff, G. Bier, W. Müller), LThK V, Freiburg 31996, 254-260: 256. 23 Ansatzweise findet sich das Thema der homosexuellen Disposition jedoch bereits bei Aristoteles. In seiner Nikomachischen Ethik kommt er im Zusammenhang mit Ausführungen über Enthaltsamkeit und Unenthaltsamkeit auch auf sinnliche / sexuelle Beziehungen unter Männern zu sprechen, zu denen »den einen die Neigung von Natur (physis) anhaftet, den anderen, z.B. solchen, die von Jugend auf mißbraucht worden sind, infolge der Gewohnheit« (EthNic 7, 6, 11486, 29-30). Aristoteles rechnet also mit der Möglichkeit, daß bei einer homoerotischen Neigung auch die Natur der Grund dafür sein kann. 24 Vgl. Homosexualität (K. Hoheisel), RAC 16, Stuttgart 1994, 289-364. Hoheisel beginnt seine umfassende Darstellung mit der Vorbemerkung: »Sexualität ist kein a priori eindeutiges, allgemein bekanntes Kulturphänomen; ihre Umschreibung, Strukturierung und Verquickung mit anderen Lebens- und Erfahrungsbereichen sind Ergebnis komplexer geschichtlicher Prozesse.« (290) 25 Vgl. Effeminatus (H. Herter), RAC 4, Stuttgart 1959, 620-650. Der Begriff malakos spielt bei der Beschreibung des effeminatus eine Rolle, hat aber einen »weiteren Anwendungsbereich« (620). TANZ - Texte und Arbeiten zum Neutestamentlichen Zeitalter Peter Söllner Jerusalem,~ ~gebaute Stadt Eschatologisches uud Himmlisches Jerusalem im Frühjudentum und im frühen Christentum Peter Söllner Jerusalem, die hochgebaute Stadt Eschatologisches und Himmlisches Jerusalem im Frühjudentum und im frühen Christentum TANZ 25, 1998, XII, 348 Seiten, DM 96,-/ ÖS 701,-/ SFr 86,- ISBN 3-7720-1876-9 Wie konnte es zur Vorstellung des "Himmlischen Jerusalem" kommen, die erst im neutestamentlichen Kanon aber nicht vorher - Erwähnung findet? Die Arbeit geht der traditionsgeschichtlichen Entwicklung des eschatologischen und "Himmlischen Jerusalem" im Frühjudentum und im Neuen Testament nach. In diesem Zeitraum vom dritten vorchristlichen Jahrhundert bis zum ersten nachchristlichen Jahrhundert wurde die alttestamentliche Zion/ Jerusalem-Restaurationskonzeption auf die veränderten politisch-gesellschaftlichen sowie religiösen Situationen in modifizierter Form appliziert. Jürgen Zangenberg Frühes Christentum in Samarien Topographische und traditionsgeschichtliche Studien zu den Samarientexten im Johannesevangelium TANZ 27, 1998, 308 Seiten, DM 78,-/ ÖS 569,-/ SFr 74,- ISBN 3-7720-1878-5 Jürgen Zangenberg Frühes Christentum in Samarien Topographische und traditionsgeschichtliche Studien zu den Samarientexten im Johannesevangelium Samarien ist für die neutestamentliche Exegese noch weitgehend terra incognita. Und doch besitzt die Region vor allem für das Johannesevangelium eine im NT einzigartige Bedeutung. Die Arbeit setzt nun nicht bei theologischen oder historischen Modellen zur Geschichte des frühen Christentums an, sondern bewußt bei den Ortsangaben des Evangeliums selbst. Was wissen wir von diesen Orten? Welches religiöse und kulturelle Profil der Region Samarien ist erkennbar? Wie geht der Evangelist mit den dort ansässigen Gruppen um? - A. Francke Verlag Tübingen und Basel· Postfach 2560 · D-72015 Tübingen 60 ZNT 2 (1998) Wolfgang Stegemann Homosexualität ein modernes Konzept Zu dem Beitrag von Herrn Hasitschka möchte ich mich in meinem eigenen Beitrag nicht in Einzelheiten äußern. Wir stimmen in der Exegese der einschlägigen neutestamentlichen Texte weithin überein und mir scheint, daß mein Beitrag insofern noch einmal eine andere Sicht auf das Problem eröffnet, da ich nach den antiken kulturellen Werten und Diskursen frage, in denen das Phänomen zur Sprache kommt, das wir Homosexualität nenwird in kirchlich-theologischen Diskursen die Bibel gelesen und gefolgert: In ihr werde Homosexualität als „Greuel« (Lev 18,22; 20,13) und »Sünde« (Röm 1,26f; IKor 6,9; vgl. ITim 1,10) verdammt. Aus den einschlägigen biblischen Texten wird immer noch ein christliches Verbot zumindest der homosexuellen Praxis gefolgert, homoerotische Orientierung ohne entsprechende Praxis allenfalls toleriert. Doch darf gefragt werden: nen. Ich meine sogar, daß K mein Beitrag sinnvoll an den von Hasitschka an- ~ TROV „Verstehest du auch, was du liesest? « (Apg 8,30). Meinen die erwähnten Verschließt, da die Schlußbemerkung seines Aufsatzes, in der es um die Frage geht, daß die neutestamentlichen Aussagen in der konkreten gesellschaftlichen Situation ihrer Verfasser und Adressaten verstanden werden muß, der Ausgangspunkt meiner eigenen Überlegungen ist. Wir scheinen zu wissen, was Homosexualität ist: die sexuelle Beziehung zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern. Und Menschen, die eine entsprechende sexuelle Praxis haben, sind Homosexuelle, seien es Männer, an die wir wohl zunächst denken, oder Frauen. In jedem Fall ob negativ konnotiert oder in bester Absicht neutral gemeint ist für uns Homosexualität eine >deviante< Form von Sexualität, Abweichung von der ,normalen< Form, der Heterosexualität. Homosexualität wird also einerseits als eine von der heterosexuellen Praxis der Mehrheit ,abweichende, Sexualpraktik verstanden, andererseits werden Menschen, die diese Praxis zu haben scheinen, mit ihr identifiziert: Sie sind Homosexuelle. Damit verbinden sich immer noch bestimmte oder unbestimmte Verdächtigungen ihres Menschseins überhaupt, die sie zu Typen machen, Stereotype, die in der Alltagskommunikation sich etwa in Witzen oder in Filmchargen niederschlagen. Manche meinen sogar, sie seien in der Lage, Homosexuelle aufgrund ihrer Kleidung oder ihres angeblich spezifischen Verhaltens von Heterosexuellen unterscheiden zu können. Bewaffnet mit diesem (modernen) Vorwissen ZNT 2 (1998) se aus dem Heiligkeitsgesetz bzw. den Paulusbriefen das Phänomen, das wir meinen, wenn wir von Homosexualität sprechen? 1. Homosexualität als modernes westliches kulturelles Konstrukt Unser Begriff und Verständnis von Homosexualität (und natürlich auch Heterosexualität) setzen ein Konzept von Sexualität voraus, also die Vorstellung von einem eigenen Bereich personaler menschlicher Identität, der durch sexuelle Begierden, Lusterfahrungen und Akte definiert ist. Und von hierher wird es möglich, jeden einzelnen Menschen mit einer individuellen sexuellen ,Orientierung< zu behaften, die ihn oder sie zu homosexuellen oder heterosexuellen oder bisexuellen Typen macht. Die Konzeptualisierung von Sexualität ist freilich ein Kennzeichen der Moderne. Zu denken gibt schon, daß es die Begriffe homosexuell (und in der Folge davon) heterosexuell erst seit ca. 100 Jahren gibt. 1 Die Begriffe homosexuell bzw. Homosexualität sind erstmals nachweisbar in zwei in Leipzig anonym publizierten Pamphleten aus dem Jahre 1869 und wohl durch ihre Aufnahme in der zweiten Auflage des Buches von Krafft-Ebbing (Psychopathia sexualis, 1887) bekannter geworden. Homosexualität ist also ein Kunstwort, eine Mischung aus einem griechischen und einem latei- 61 nischen Wort. Und die Begriffsprägung setzt ihrerseits die Invention der Sexualität als eines abtrennbaren Bereichs menschlicher Identität voraus, der z.B. auch Gegenstand physiologischer und psychologischer Analysen bzw. Therapien sein kann. Diese Fähigkeit, Sexualität als einen autonomen Bereich menschlicher Existenz zu verstehen, zeigt sich auch daran, daß wir sexuelle Identität von Geschlechtszugehörigkeit unterscheiden, Arten sexueller Vorlieben von Graden von Männlichkeit oder Weiblichkeit abkoppeln. 2 Die Konzeptualisierung von Sexualität als abgrenzbarer Sphäre individueller (privater) Existenz könnten wir mithin als ein kulturelles Konstrukt moderner westlicher Gesellschaften bezeichnen. Und daß wir darüber reden können, ist allein schon bemerkenswert. Denn zwar sind unsere Diskurse über Sexualität auch mit anderen Diskursen verbunden bzw. beziehen sie mit ein, doch daß wir überhaupt über Sexualität qua Sexualität einen Diskurs führen und Homosexualität von Heterosexualität unterscheiden können, ist nicht selbstverständlich. Der Apostel Paulus jedenfalls hätte keinen der Begriffe in seine Sprache übersetzen können. Für ihn und seine Zeitgenossen war das, was wir Sexualität nennen, nicht abtrennbar von Institutionen und Diskursen, die wir als politisch, ökonomisch oder sozial bezeichnen würden. Und die Wahl eines gleichgeschlechtlichen Sexualpartners hätte er nicht wie wir als Homosexualität auf den Begriff bringen können, nicht nur, weil er das Wort nicht kannte, sondern auch, weil für ihn in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung die durch die Schöpfung (als ,natürlich,) gesetzten geschlechtsspezifischen Rollen von Männern und Frauen berührt waren. Paulus argumentierte in einem anderen System kultureller Werte, als wir es besitzen. 2. Sozialer Status und sexuelle Praxis Eine der Erkenntnisse, die M. Foucault in seinem dreibändigen Werk über Sexualität und Wahrheit (Frankfurt 1977ff.) auf den Begriff gebracht hat, besteht darin, daß es in den antiken Gesellschaften keinen autonomen, abgrenzbaren Bereich von ,Sexualität< gegeben hat. Sexuelle Begierde und Lust waren untrennbar verbunden mit den Macht- und Herrschaftsbeziehungen, die die damaligen Gesellschaften prägten. D. h. die Grenzen zwischen 62 erlaubten und unerlaubten Formen sexueller Betätigung hingen vom sozialen Status und insofern auch von der Geschlechtszugehörigkeit der Partner ab. Die Wahl des Liebesobjekts unterlag Regulationen, weil in ihr der Status des Sexualpartners von Bedeutung war. Das Geschlecht spielte eine Rolle, weil mit ihm ein bestimmter sozialer Status verbunden war. Im klassischen Athen war sexuelle Praxis, wie Halperin zusammenfassend formuliert, »eine zutiefst polarisierende Erfahrung, konstruiert am Modell der Penetration, das ,Penetration< als einen wesentlich eine Richtung nehmenden Akt interpretiert; Sexualität teilt den beteiligten Partnern asymmetrische und letztlich hierarchische Positionen zu, indem sie den einen Partner als ,aktiv, und ,dominant<, den anderen Partner als >passiv, und ,untergeordnet< definiert. Mehr noch, sexuelle Rollen sind isomorph mit Status- und Geschlechtsrollen; ,Männlichkeit, verbindet die kongruenten Funktionen von Penetration, Aktivität, Dominanz und sozialen Vorrang, während ,Weiblichkeit, bedeutet, penetriert zu werden, Passivität, Unterwerfung und soziale Unterordnung«. 3 Die Wahl des Sexualpartners war also durch dessen sozialen Status eingeschränkt und gerade durch die soziale Ungleichheit des aktiven und passiven Sexualpartners bestimmt. Freie Männer standen als aktive Sexualpartner auf der einen Seite, Frauen, Sklavinnen und Knaben als passive auf der anderen. Normierend für die Sexualpraxis war nicht das Problem von Heterobzw. Homosexualität. Der freie griechische Mann konnte Frauen, Sklaven (männlich und weiblich) und Knaben penetrieren, nicht aber einen anderen freien griechischen Mann. Diese Partnerwahl war verpönt, weil der andere Mann die passive, untergeordnete, weibliche Rolle hätte übernehmen müssen. 4 3. Voraussetzungen in der Hebräischen Bibel (Lev 18,22; 20, 13) Die neuesten Analysen zeigen, daß die Hebräische Bibel einen bestimmten sexuellen Akt zwischen Männern verbietet, nicht aber Homosexualität überhaupt. 5 Lev 18,22 Du sollst nicht mit einem Mann wie mit einer Frau liegen; das ist Greuel. ZNT 2 (1998) Lev 20,13 Liegt einer mit einem Mann wie man mit einer Frau liegt, dann haben sie ein Greuel begangen; beide werden mit dem Tod bestraft. In diesen Versen geht es nicht um homoerotische Beziehungen zwischen Männern überhaupt. Olyan stellt die Frage: »Haben die Israeliten (jegliche sexuelle) Beziehung zwischen Männern verabscheut, wie generell angenommen wird, bis heute? Die Beweiskraft der Hebräischen Bibel zur Unterstützung dieser Sicht ist zweifellos unzureichend. Eine solche Generalisierung kann viel leichter für Ehebruch, Inzest und die (sexuelle) Beziehung zwischen Menschen und Tieren verteidigt werden; sie alle werden in Gesetzestexten außerhalb des Heiligkeitsgesetzes verboten. Obwohl der Ursprung des Verbotes (Lev 18,22) dunkel ist, so kann es in seiner endgültigen Form im Heiligkeitsgesetz (Lev 20,13) nicht von anderen Reinheitsvorschriften getrennt werden. Leviticus 18,22 und 20, 13 verbieten offensichtlich ausschließlich Geschlechtsverkehr (Penetration), während sie andere mögliche sexuelle Akte zwischen Männern ignorieren. «6 Verboten wird eine bestimmte Sexualpraxis, nämlich die anale Penetration eines Mannes. Der Vorgang wird in seiner kulturellen Einschätzung klarer, wenn beachtet wird, daß das Zusammenliegen eines Mannes mit einem Mann wie ein Zusammenliegen mit einer Frau umschrieben wird. D. Boyarin schreibt in seiner Auslegung dieser Verse: »The issue is gender and not ,homosexuality<, and gender is conceived around penetration and being penetrated.« 7 Anale Penetration eines Mannes bedeutet dessen »Feminisierung« und verletzt damit also die Unterschiede zwischen Mann und Frau. Von hierher ist im übrigen auch erklärbar, daß dieses Verbot in der Tora nur für Männer nicht für Frauen gilt. Die in diesem Zusammenhang gern bemühte Erklärung, das Verbot ergehe im Interesse der Abgrenzung von kanaanäischen Kultpraktiken, läßt sich nicht begründen. 8 Das Problem ist also, daß ein Mann einen anderen Mann als Frau »gebraucht« und damit die Grenzen zwischen den Geschlechtern überschreitet, nämlich die in der Schöpfung gesetzten Unterschiede zwischen Mann und Frau (Gen 1,27). ZNT 2 (1998) Wolfgang Stegemann Wolfgang Stcgemann, Jahrgang 1945. Nach Promotion 1975 und Habilitation 1983 seit 1984 ordentlicher Professor für Neues Testament an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Sozialgeschichte des Urchristentums und zum christlich-jüdischen Dialog. 4. Das Problem ist die Geschlechtszugehörigkeit bzw. deren Vertauschung Das Verbot analen Verkehrs zwischen Männern im Heiligkeitsgesetz nimmt Paulus in I Kor 6, 9f auf. Ich biete zunächst meine Übersetzung: IKor 6,9f Wißt ihr nicht, daß Unrechttäter Gottes Königreich nicht erben werden? Irrt euch nicht: Weder männliche Prostituierte (pornoi) noch Götzendiener noch Ehebrecher noch weibliche Männer (malakoi) noch Männer penetrierende Männer (arsenokoitai) ... werden das Königreich Gottes erben. Der sog. »Lasterkatalog« dieser Verse enthält einige Begriffe, die nicht leicht zu übersetzen sind. Am einfachsten noch sind die Unrechttaten zu identifizieren, die mit den Begriffen eidololatrai und moichoi bezeichnet werden: Götzendiener und Ehebrecher. Doch welches konkrete Fehlverhalten bringt das Wort pornoi (Unzüchtige) auf den Begriff? Wer sind die malakoi (Weichlinge), wer die arsenokoitai (Männerbeischläfer)? Deutlich ist zunächst, daß der zuletzt genannte Begriff die griechische Übersetzung von Lev 18,22; 22,13 aufnimmt; gemeint sind Männer, die den mit Frauen üblichen Beischlaf (Penetration) mit Männern ausüben. So merkwürdig es ist, daß in der Reihe von 63 U nrechttaten I Kor 6, 9f auch Götzendiener genannt werden, scheint mir doch damit nicht nur ein Topos (dazu gleich), sondern zugleich auch ein Hinweis auf die sie verbindende »Logik« gegeben zu sein. So wie Götzendiener die Wahrheit mit Lüge vertauschen und anstelle des Schöpfers Geschöpfe göttlich verehren (vgl. Röm 1,25), so handelt es sich bei den U nrechttätern von I Kor 6, 9 ebenfalls um » Vertauscher«. Das bedeutet: arsenokoitai sind Männer, die Männer penetrieren statt Frauen; malakoi sind Männer, die sich wie Frauen kleiden und/ oder geben bzw. sexuell behandeln lassen; pornoi sind männliche Prostituierte, die als passive Sexualpartner dienen. Es sollte bezüglich der Reihung von I Kor 6, 9 besser nicht von »Sexuallastern« oder »sexuellen« Verfehlungen gesprochen werden. Der sexuelle Aspekt der inkriminierten Verhaltensweisen ist das Problem, weil im übergreifenden kulturellen System, in dessen Kontext Paulus die aufgeführten Verhaltensweisen deutet, die durch die Schöpfungsordnung gezogenen Grenzen zwischen Männern und Frauen verletzt werden. In Aufnahme und Abwandlung des oben zitierten Diktums von D. Boyarin: Das Problem ist die Vertauschung der mit der Geschlechtszugehörigkeit verbundenen Zuschreibungen in einem bestimmten sexuellen Akt. Männer, die Männer penetrieren, gebrauchen diese wie Frauen; Männer, die sich von Männern penetrieren lassen, verhalten sich wie Frauen; Männer in Frauenkleidung überschreiten die Geschlechtergrenzen (s. auch das dezidierte Verbot des Tragens von Kleidung des jeweils anderen Geschlechts in Dtn 22,5; dies wird ebenfalls »Greuel« genannt). 5. Idolatrie und falscher Lebensstil Von hierher können wir jetzt auch den schwierigeren Text Röm 1,26f betrachten. Aus dem näheren Kontext (Röm 1,18ff) dieser Verse muß geschlossen werden, daß Paulus die hier geschilderten falschen Verhaltensweisen als Folge der verkehrten Gottesverehrung (griechisch: asebeia, d. h. die Anbetung von Geschöpfen statt des Schöpfers) versteht. Implizit sind offenkundig Nichtjuden gemeint, zumal Griechen (vgl. nur Röm 1,17). Grundsätzlich argumentiert Paulus also aus jüdischer Perspektive. Vergleichbare Aussagen finden 64 sich bei anderen griechischsprechenden Juden (s. nur EpArist 152; Philo, Abr 135-137; SpecLeg 3, 37-42) und den Rabbinen, die nichtjüdische Völker gerade auch hinsichtlich ihrer sexuellen Praxis kritisch beurteilt haben. 9 Wie Paulus verstehen sie bestimmte Sexualpraktiken nichtjüdischer Völker als Ausdruck von Idolatrie bzw. als etwas, was zur Idolatrie führt. Die Kritik gegen bestimmte Sexualpraktiken in Verbindung mit Idolatrie ist offensichtlich ein Topos des jüdischen Diskurses. An eine bestimmte sexuell konnotierte nichtjüdische Kultpraxis (etwa »Tempelprostitution«) ist m.E. nicht gedacht. Im übrigen ist aus dem Sprachgebrauch des Paulus auch zu erkennen, daß er Vorstellungen der griechisch-römischen Kultur in seine Argumentation mit einbezieht. Ich biete zunächst wieder meine Übersetzung von Röm 1,26f: Röm 1,26f Darum hat Gott sie entehrenden Leidenschaften ausgeliefert; denn ihre Frauen vertauschten den natürlichen Gebrauch in den widernatürlichen; ebenso gaben die Männer den natürlichen Gebrauch der Frau auf und entbrannten in ihrer Begierde gegeneinander, Männer in/ mit Männern die Schande verübend empfingen den Lohn, den sie wegen ihrer Verirrung (empfangen) mußten, an sich selbst. Da ich eine pauschale Kennzeichnung der hier beschriebenen Praktiken mit dem modernen Begriff der Homosexualität für unangebracht halte, will ich versuchen, durch Analyse einzelner Aussagen dem auf die Spur zu kommen, was Paulus selbst meint. a) Entehrende Leidenschaften: Paulus spricht zu Beginn von Leidenschaften der Unehre (pathe atimias), entehrenden Leidenschaften. Zum besseren Verständnis dieses Syntagmas verweise ich nur auf I Thess 4,3-5, wo Paulus die Glaubenden in Thessalonike auffordert, sich von der Unzucht (porneia) fernzuhalten, statt dessen Sexualität in Heiligung und Ehre zu praktizieren, nicht wie die Heidenvölker ( ethne) in leidenschaftlicher Begierde. Paulus kennzeichnet in Röm 1,27 auch das Verhalten der Männer u. a. dadurch, daß sie in ihrer Begierde gegeneinander entbrannten. Daß Paulus auch im Römerbrief zunächst an die nichtjüdischen Völker, zumal Griechen, denkt, ist einerseits aus dem näheren Kontext des Verse im Römerbrief selbst, andererseits aus dem genannten Text I Thess 4,3-5 und schließlich auch daraus zu entnehmen, ZNT 2 (1998) daß die erotische Begierde der Männer (! ) nach konventioneller athenischer Einschätzung als eine Art Appetit (Hunger und Durst) verstanden wird. 10 Dagegen wird die erotische Begierde der Frauen als der physiologischen Ökonomie des weiblichen Körpers und seiner generativen Funktion entsprechend gesehen. Erotische Begierde allein ist für Paulus offenkundig ein Kennzeichen nichtjüdischer Lebensweise und eine entehrende Leidenschaft. 11 b) ihre Frauen: Gemeint sind die Frauen jener Menschen, die durch Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit geprägt die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten (Röm 1,18). Gemeint sind die Frauen der »Götzendiener«, wenn es erlaubt ist, diesen verkürzenden Begriff hier der Einfachheit halber zu verwenden (Röm 1,21-23). Sie werden mit dem Gattungsbegriff thelaiai (weibliche Menschen) bezeichnet. Dieses Wort erinnert (im Kontext mit arsenes für Männer in Röm 1,27) an die Schöpfung (Gen 1,27), absichtlich wohl, um die mit der Schöpfung von Mann und Frau festgelegten Geschlechtsrollen und -unterschiede aufzurufen. c) natürlicher Gebrauch: Mit der Erschaffung von Mann und Frau ist für Paulus aber auch ein »natürlicher Gebrauch« (physike chresis) festgelegt. Den haben »ihre« Frauen mit einem »widernatürlichen« (para physin) Gebrauch vertauscht. Der Begriff chresis meint grundsätzlich Beziehung, Funktion, besonders auch im Blick auf Geschlechtsverkehr.12 Paulus verbindet offensichtlich das (jüdische) Argument der schöpfungsmäßigen Festlegung und Unterscheidung der Geschlechter mit dem griechisch-stoischen Konzept von der »Natur«. Leben in Übereinstimmung mit der natürlichen Ordnung ist ein stoisches Ideal. Hier wird es auf die Geschlechterrollen im Sexualverkehr bezogen. d) vertauschen, widernatürlicher Gebrauch: »Ihre« Frauen haben den natürlichen mit dem unnatürlichen Gebrauch vertauscht. Was ist gemeint? Im folgenden Vers 27 wird vom »natürlichen Gebrauch der Frau« (durch den Mann) physike chresis tes theleias gesprochen. Eine entsprechende Genetivergänzung (des Mannes) fehlt wohl nicht zufällig in der Aussage über den ZNT 2 (1998) »natürlichen Gebrauch« in Bezug auf Frauen. Frauen können im Sinne der antiken Mentalität, die auch Paulus teilt, Männer nicht »gebrauchen«. Klar ist zunächst nur, daß es um den Geschlechtsakt, seine Lüste und Begierden geht (s. Anmerkung 12). Möglich - und meistens favorisiert ist die Deutung: Sexualverkehr zwischen Frauen. Dafür wird zumal das Adverb homoios (ebenso) zu Beginn von Vers 27 angeführt. 13 Doch ist ebenso möglich, daß Paulus hier ein in seinem Sinne »unnatürliches« Sexualverhalten von Frauen im Geschlechtsverkehr mit Männern (! ) meint. Mit unseren Worten: Paulus spräche in diesem Falle nicht von lesbischer Liebe, sondern von einer in seinem Wertesystem »unnatürlichen« Form heterosexuellen Geschlechstverkehrs. In Frage käme entsprechend der mediterranen Mentalität, die Frauen gerade auch im Sexualverkehr eine passive Rolle zuschreibt etwa schon jede Form aktiven Verhaltens von Frauen im Sexualverkehr mit einem Mann, gerade dem Ehemann. Auszuschließen ist aber auch keineswegs jene Interpretation, die hier eine empfängnisverhütende Sexualpraktik von Frauen als »unnatürlich« kritisiert sieht. 14 Nach Josephus kennt das Mosegesetz nur den natürlichen Sexualverkehr mit der Ehefrau (ten kata physin ten pros gynaika) zum Zwecke der Zeugung von Kindern (Contra Apionem II 199). Wegen der einleitenden Bemerkung über die entehrenden Leidenschaften liegt es freilich näher, daß entweder eine im Sinne des Paulus »unnatürliche« Sexualpraxis von Frauen im von uns so genannten heterosexuellen Geschlechtsverkehr, oder eine von uns so bezeichnete homosexuelle Beziehung zwischen Frauen gemeint ist. Wenn die meistens favorisierte Deutung auf »lesbische Liebe« zutrifft, wäre immerhin auffallend, daß der Apostel anders als etwa die Rabbinen urteilt. 15 Unverständlich wäre auch, daß er die dann inkriminierte Praxis von Männern ungleich ausführlicher und »empörter« beschreibt. Schließlich ist auch zu bedenken, daß auch die Tora nur vom Akt der analen Penetration unter Männern spricht und diesen verbietet. Da es im folgenden Vers um diesen Sexualakt geht, wie ich noch darlegen werde, scheint mir in Röm 1,26 eher eine konventionell den Männern vorbehaltene aktive Sexualpraxis der Frauen gemeint zu sein. »Ihre« Frauen haben also den natürlichen Gebrauch, der ihnen eine passive Rolle zuschreibt, in einen unnatürlichen Gebrauch 65 verkehrt, indem sie in der (heterosexuellen) Beziehung eine aktive Rolle übernehmen. e) Männer in/ mit Männern: Aus Röm 1,27 geht hervor, daß Männer den »natürlichen Gebrauch der Frau« verlassen haben und in ihrem erotischen Appetit gegeneinander entbrannten. Folgen wir der Logik von Lev 18 und 20, dann ist der »natürliche Gebrauch der Frau« die (vaginale) Penetration (für Paulus vermutlich zum Zwecke der Prokreation). Wenn nach Röm 1,27 Männer den natürlichen Gebrauch der Frau verlassen haben und in/ mit Männern Schande ausüben, dann legt sich wiederum nahe, daß es um (anale) Penetration von Männern geht. Die Grundbedeutung der Präpositionen ist lokal (in); en kann aber auch instrumental (mit) gedeutet werden. Wie auch immer: Die Formulierung Männer in/ mit Männern (arsenes en arsesin) umschreibt anale Penetration eines Mannes durch einen Mann. f) die Schande verübend: In Lev 18 finden wir dezidierte Verbote, die das Enthüllen (apokalyptesthai) der Scham (he aschemosyne) betreffen. So ist es verboten, die Scham der Mutter oder der Schwester oder der Schwägerin usw. zu entblößen. Lev 20 beschreibt die dafür geltenden Strafen, macht aber auch darauf aufmerksam, daß (z.B.) ein Mann, der mit der Frau seines Vaters schläft, die Scham seines Vaters entblößt hat (Lev 20,11). Enthüllen der Scham kann also den genitalen Akt meinen. Entsprechend ist m.E. die Formulierung ten aschemosynen katergazomenoi in Röm 1,27 eine Umschreibung für den genitalen Akt. g) Verirrung: Daß Männer, die Männer penetrieren, den verdienten Lohn für ihre Verirrung (plane) an sich selbst empfangen, heißt wohl, daß ihre Abirrung von Gott (im Götzendienst) sich an ihnen selbst, ihren Körpern (vgl. Röm 1,24) auswirkt, eben in der Entehrung ihres Körpers durch diesen »unnatürlichen« Akt. Ich fasse die Analysen von Röm 1,26f zusammen: Paulus schildert Verhaltensweisen von »Götzendienern«, die als zwangsläufige Folge ihres Abfalls von Gott (der Vertauschung des Schöpfers mit dem Geschöpf als Objekt der Gottesverehrung) gedeutet werden. Dem falschen Gottesdienst folgt der 66 falsche, »vertauschende« Lebensstil auf den Fuß; er ist für Paulus eine somatische Manifestation des Zornes Gottes. Es geht nicht um Paränese! Eher handelt es sich um eine Art Ätiologie, d.h. um eine Erklärung für den (falschen) Lebensstil von »Götzendienern«, zu denen aus der (jüdischen) Sicht des Paulus etwa die Griechen gehören (sie sind z.B. auch in Röm 1,17 das Gegenüber zu den Juden; gegen eine mögliche Selbstüberhebung argumentiert der Apostel freilich dann sofort in Röm 2). Plakativ formuliert: Paulus deutet bestimmte Aspekte des griechischen Lebensstils als Folge ihrer falschen Gottesverehrung. So wie sie in der Gottesverehrung den Schöpfer mit dem Geschöpf vertauscht haben, so verkehren sie auch die in der Schöpfung (bzw. qua Natur) festgelegten Rollen von Männern und Frauen. »Ihre« Frauen übernehmen im Sexualverkehr »aktive«, »natürlicherweise« nur Männern zugeschriebene Rollen. Männer »gebrauchen« sexuell Männer, wie sie »natürlicherweise« nur Frauen gebrauchen dürfen. Es geht nicht um Sexualität überhaupt, sondern um bestimmte sexuelle Akte. Sie sind problematisch wegen der dabei verletzten Grenzen der Geschlechtszugehörigkeit (gender), wegen der Vertauschung der den jeweiligen Geschlechtern zugeschriebenen und erlaubten Sexualpraktiken. Das übergeordnete Deutungssystem ist also auch hier nicht die Differenzierung in Homo- oder Heterosexualität, sondern die Dichotomie der Geschlechter. 6. Einige Folgerungen in Thesen 6.1 »Homosexualität« als solche wird in der Bibel weder verboten noch verdammt Ich habe versucht, deutlich zu machen, daß eine Lektüre der genannten biblischen Texte am hermeneutischen Leitfaden dessen, was wir unter » Homosexualität« verstehen, anachronistisch ist. Sie liest in diese antiken Texte ein modernes Konzept von Sexualität hinein, das deren Autoren noch gar nicht kannten. Die oft zu hörende Behauptung, daß »Homosexualität« in der Bibel verboten bzw. verdammt wird, ist also in dieser Form viel zu pauschal gedacht und nicht nur unpräzise, sondern auch unbegründet. Verboten wird in Lev 18,22 allerdings eine bestimmte Sexualpraktik, die anale Penetration von Männern; Männer, die diese Praktik aktiv oder passiv ausüben, werden Lev 20,13 ZNT 2 (1998) mit dem Tode bedroht. Paulus spricht in diesem Zusammenhang kein explizites Verbot aus. Für ihn ist die in Leviticus verbotene Sexualpraktik ein Kennzeichen des verkehrten Lebensstils von »Götzendienern« (Röm 1,27). Er geht aber davon aus, daß solche Menschen den Tod verdient (Röm 1,32) bzw. keine eschatologische Rettung zu erwarten haben (I Kor 6,9f). In einem gewissen Sinne »verdammt« Paulus also Menschen, die diese Sexualpraktik haben. Aber auch der Apostel »verdammt« nicht grundsätzlich »Homosexualität«. 6.2 Die biblischen Texte reflektieren ein vormodernes Wertsystem Doch es ist nicht genug, nur die Unangemessenheit unseres modernen Konzeptes von Homosexualität in Bezug auf biblische bzw. andere antike Texte über gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen festzustellen. Ein Rekurs auf die einschlägigen biblischen Texte im Kontext moderner Sexualethik muß auch und gerade deren Einbettung in ein kulturelles und soziales System berücksichtigen, durch das sich antike mediterrane Mentalität gravierend von der Mentalität moderner westlicher Gesellschaften unterscheidet. Juden wie Griechen waren sich in einem einig, nämlich in der polaren Entgegensetzung von männlicher und weiblicher Sexualpraxis: Männer penetrieren, sind aktiv und dominant, Frauen werden penetriert, sind passiv und untergeordnet. Allein schon die sich darin ausdrückende Hierarchisierung der Geschlechter und deren phallokratische Perspektive sind unserem modernen Empfinden zutiefst anstößig. Und wir übernehmen ja auch aus guten Gründen diese an Herrschaft und Männlichkeit ausgerichteten antiken Werte in unserer modernen Sexualethik nicht. Im Gegenteil: Macht, Gewalt und Abhängigkeit sind zentrale Negativkategorien des modernen Diskurses über Sexualität, sie kennzeichnen deren Mißbrauch. Ethisch positiv beurteilen wir verantwortliche, selbstbestimmte, partnerschaftliche und freiwillige Sexualität. Es gibt vermutlich nur wenige antike Texte der mediterranen Welt, die diesen modernen sexualethischen Diskurs unterstützen können. Doch niemand würde behaupten, daß wir darum falsche Werte haben. Eher wird uns dadurch der beträchtliche kulturelle Unterschied zwischen den modernen und den antiken Gesellschaften bewußt. ZNT 2 (1998) 6.3 Wird »Homosexualität« noch heute wegen eines überholten Männlichkeitsbzw. Weiblichkeitsideals kritisiert? Umgekehrt stellt sich die Frage, ob sich die Aussagen der diskutierten biblischen Verse auf den gegenwärtigen Diskurs über Sexualethik speziell den Diskurs über Homosexualität ohne das sie begründende Wertesystem übertragen lassen? Bedeutet nicht die Übernahme dieses Verbotes zugleich auch die Übernahme seiner systemimmanenten Ablehnungsgründe: also die Überschreitung der (schöpfungsmäßigen bzw. »natürlichen«) Grenzen zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit bzw. die damit verbundene Statusdegradierung eines Mannes? Wir müssen uns also mit dem Problem auseinandersetzen, ob sich in der modernen Ablehnung oder Verwerfung von »Homosexualität« (unerkannt) ein antikes Männlichkeitsbzw. Weiblichkeitsideal bewahrt, ein vormodernes, vordemokratisches und unemanzipiertes Bewußtsein von penetrierenden, zeugenden und dominierenden Männern und deren weiblichem Gegenstück. Es lohnt sich, so meine ich, in Auseinandersetzung mit den biblischen Texten und dem sie begründenden kulturellen Wertesystem danach zu fragen, welche Gründe in unserer Gegenwart gerade auch in kirchlichen und theologischen Diskursen gegenüber Homosexualität geltend gemacht werden, und zwar jenseits der bloßen Schlagwörter - »widernatürlich«, »in der Bibel verboten«, »Sünde« usw. Auch homosexuelle Beziehungen sollten nicht von den Kriterien der für alle Menschengeltenden verantwortlichen Sexualethik ausgenommen werden, etwa von der Freiwilligkeit, Gleichberechtigung und Unabhängigkeit der Partner. Aber: Kann eine moderne Sexualethik von homosexuellen Partnern anderes verlangen als von heterosexuellen, ohne in den Verdacht zu geraten, unerkannt ein überholtes Männlichkeitsideal bzw. Weiblichkeitsideal einzufordern? Anmerkungen 1 Ich verweise zur weiteren Information auf D.M. Halperin, One Hundred Years of Homosexuality, New York / London 1990, lSff. 2 Halperin, 25. 67 3 Halperin, 130. 4 Vgl. P. Veyne, Homosexualität im antiken Rom, in: Aries, Bejin, Foucault u.a., Die Masken des Begehrens und Metamorphosen der Sinnlichkeit, Frankfurt 1989, 40ff: 40.42. S. auch Halperin, 31; K.J. Dover, Greek Homosexuality, Cambridge 2 1989, 103f. 5 Dazu D. Boyarin, Are There Any Jews in ,The History of Sexuality,? , in: Journal of the History of Sexuality 5 (1995) 333ff.; S.M. Olyan, ,And with a Male You Shall Not Lie the Lying Down of a Woman<: On the Meaning and Significance of Leviticus 18: 22 and 20: 13, in: Journal of the History of Sexuality 4 (1994) 179ff. 6 Olyan, 205f.; Übersetzung und verdeutlichende Klammern von mir. 7 Boyarin, 344. 8 S. dazu nur Olyan, 198f. 9 Dazu M. I. Sadow, ,They Abused Hirn Like a Woman.< Homoeroticism, Gender Blurring, and the Rabbis in Late Antiquity, Journal of the History of Sexuality 5 (1994) lff: 21, und P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. III, München 3 1961, 64ff. 10 S. Halperin, 137. TANZ - Texte und Arbeiten zum Neutestamentlichen Zeitalter Dirk Frickenschmidt Evangelium als Biogr..aP.hie Die vier Evangelien im Rahmen antiker Erzählkunst Dirk Frickenschmidt Evangelium als Biographie Die vier Evangelien im Rahmen antiker Erzählkunst TANZ 22, 1997, XVI, 549 S., DM 158,-/ ÖS 1153,-/ SFr 142,- ISBN 3-7720-1873-4 Dirk Frickenschmidt hat erstmals einen umfassenden Überblick über die wichtigsten Themen und Erzählformen antiker Biographien erarbeitet und so einen überraschend neuen Blick auf Form und Funktion der Evangelien eröffnet. Entgegen verbreiteter Ansicht sind in den Evangelien nicht bloß einzelne urchristliche Überlieferungen lose miteinander verbunden worden oder lediglich Glaubensinhalte durch Geschichten anschaulich gemacht worden. Die neutestamentlichen Jesus-Erzählungen sind von vornherein als Biographien konzipiert. Das Evangelium als Biographie stellt seinen Lesern nicht einzelne Taten und Worte, sondern ein prägnantes Gesamtbild Jesu vor Augen. A. Francke Verlag Tübingen · Basel 68 11 »Der epikuräische Gedanke, daß man dem Trieb nachgeben soll wie der Bauch dem Hunger, wird zurückgewiesen«, Philippe Arics, Paulus und das Fleisch, in: Aries, Bejin, Foucault u. a., Die Masken des Begehrens und Metamorphosen der Sinnlichkeit, Frankfurt 1989, 51-54: 54. 12 Halperin, 67: chresis aphrodision: »the management of venereal acts, pleasures and desires«. 13 Ich selbst habe diese Deutung in einem Aufsatz vorgetragen: W. Stegemann, Keine ewige Wahrheit. Die Beurteilung der Homosexualität bei Paulus, in: B. Kittelberger u.a. (hg.), Was auf dem Spiel steht, München 1993, 262ff. 14 J.C. Ford/ G. Kelly, Contemporary Moral Theology, 2 Bände, Westminster 1958-64, II 272. 15 Dazu etwa Boyarin (s. Anm. 5) und Sadow (s. Anm. 9). 16 Selbst wenn sexuelle Beziehungen zwischen Frauen gemeint sind, geht es im Vorwurf des »Vertauschens« um die Übernahme einer aktiven, männlichen Rolle durch eine Frau: so auch B. Brooten, Die weibliche Homoerotik bei Paulus, in: M. Barz / H. Leistner / U. Wild, Hättest du gedacht, daß wir so viele sind? Lesbische Frauen in der Kirche, Stuttgart 1987, 113ff: 115. Vorschau auf das nächste Heft Folgende Beiträge sind bisher geplant: Neues Testament aktuell Kurt Erlemann Wohin steuert die Gleichnisforschung? Einzelbeiträge Eckart Reinmuth Lazarus und seine Schwestern - Was wollte Johannes erzählen? Wolfgang Kraus Der Tod Jesu als Sühnetod bei Paulus. Überlegungen zur neueren Diskussion Kontroverse Die Kontroverse führen Klaus Hoch und Folker Siegert zum Thema: War Jesus Apokalyptiker? Erscheint im März 1999 ZNT 2 (1998) David Brakke Cultural Studies. Ein neues Paradigma us-amerikanischer Exegese 1 1. Cultural Studies ein interdisziplinäres Forschungsfeld Der Begriff, der die Gemüter in der gegenwärtigen us-amerikanischen akademischen Kultur bewegt, ist der Begriff ,Kultur,. Nicht nur Anthropologinnen, sondern auch Literaturwissenschaftlerlnnen, Historikerlnnen, Psychologlnnen und viele andere fordern, Kulturen zu studieren, was dazu führte, daß ein neues interdisziplinäres Forschungsfeld in den USA und in Großbritannien entstanden ist: cultural studies. Forscherlnnen dieses neuen Feldes fragen danach, wie Kulturen dazu beitragen, Macht und Herrschaft in einer Gesellschaft zu befestigen. Ihre Arbeiten lösen die Grenzen zwischen ,hoher< Kultur (Kunst, Literatur, Poesie) und ,Pop,-Kultur (Fernsehen, Film, Werbung) auf und verdanken sich häufig der Perspektive einer Minderheit oder marginalisierter Gruppen (z.B. African-American studies, gay and lesbian studies).2 Eine ethnographische und gender Analyse us-amerikanischer Kultur untersucht mit derselben Sorgfalt z.B. Herbert Melvilles klassisch gewordene Novelle Billy Bud und den inter-ethnischen ,Männerfreundschafts,-Film Lethal Weapon3. Religionswissenschaften und Theologie waren von jeher Disziplinen, die ihre Methoden aus anderen Forschungsbereichen entliehen oder adaptiert haben, und so untersuchen nun viele usamerikanische ReligionswissenschaftlerInnen und Theologinnen solche bisher ignorierte Sujets wie Gegenwartsfilme und religiöse Verkaufsstrategien.4 Den Forschungsschwerpunkt der cultural studies bildet die gegenwärtige westliche Kultur, die eine Fülle von Evidenzen bereitstellt für den Zusammenhang von medialen Welten, Konsumverhalten und elitärer Macht und die den Schauplatz für den gegenwärtigen Kampf gegen die weiße, euro-amerikanische Vorherrschaft abgibt. Jedoch erachteten auch Forscherinnen, die Literatur vergangener Zeiten und Kulturen studieren, die Methoden und Perspektiven der cultural studies als hilfreich für ihre Arbeit. Nach Jahrzehnten litera- ZNT 2 (1998) rischer Theoriebildung, die den historischen Kontext der zu bearbeitenden Texte zu ignorieren schien (Strukturalismus, Dekonstruktion), versuchte eine literaturwissenschaftliche Schule, der new historicism, Literatur und ihren historischen Kontext durch das Medium der ,Kultur, wieder zu verbinden. 5 2. Die Verabschiedung des vormodernen Kulturbegriffs US-amerikanische Bibelforscherlnnen, inbesondere N eutestamentlerlnnen, verwenden ebenfalls in zunehmendem Maße den Begriff ,Kultur" um das Objekt ihrer Studien zu beschreiben. Ich werde mich auf Arbeiten zur neutestamentlichen Wissenschaft beschränken, da es das Feld ist, das ich am besten kenne. Sicher, die vorangegangenen Generationen von Neutestamentlerinnen suchten das Frühchristentum mit der griechisch-römischen Kultur in Beziehung zu setzen, aber sie arbeiteten mit einer künstlichen Unterscheidung: griechisch-römische Kultur war eine Sache, das Frühchristentum eine andere. Sie fragten danach, ob und in welchem Ausmaß das Neue Testament griechisch-römische Kultur >reflektierte< oder von dieser sie >umgebenden< Kultur ,beeinflußt, war. Zudem untersuchten diese Forscherlnnen, wenn sie nach für das Frühchristentum relevanten Elementen griechisch-römischer Kultur ausschau hielten, fast ausschließlich ,Ideen<, die sie als >religiös, oder >philosophisch< erachteten; nur spärlich betrachteten sie soziale Institutionen und Praktiken, populäre Literatur oder ,Magie,. Wenn diese Foscherlnnen überhaupt mit einer theoretisch reflektierten Definition von Kultur arbeiteten, dann war es der deutsche Begriff der ,Kultur" wie er in den Arbeiten von Männern wie Johann Gottfried Herder entwickelt wurde: ,Kultur< als die unterscheidende Identität oder der spezifische Ausdruck eines Volkes oder einer Nation, die vornehmlich in seinen künstlerischen, philosophischen und religiösen Schöpfungen gefunden 69 wird. 6 Demzufolge war es die Aufgabe der Neutestamentlerlnnen zu zeigen, wie das christliche Evangelium sich in den >Zeitgeist< der hellenistischen Welt einfügte. Viele der heutigen Neutestamentlerinnen hingegen unterscheiden nicht mehr zwischen dem Neuen Testament und Kultur: für sie ist das Frühchristentum selbst eine Kultur oder eine Pluralität von Kulturen, die mit denselben Methoden untersucht werden sollen, wie andere Kulturen, gehören sie nun der Vergangenheit oder der Gegenwart an. 3. Cultural Studies des Neuen Testaments im Zeichen eines modernen Kulturbegriffs Die ersten us-amerikanischen Forscherlnnen, die mit dieser neuen Perspektive arbeiteten, verwendeten Ideen über Kultur, die vornehmlich von Symbol- oder Kulturanthropologen wie Franz Boas, Claude Levi-Strauss und Clifford Geertz entwickelt wurden. In Übereinstimmung damit, was die Theologin Kathryn Tanner »die moderne Bedeutung von Kultur« nennt, ist Kultur ein universales Phänomen menschlichen Lebens. Sie ist zu unterscheiden von einem bloß biologischen Leben: sie ist, was Menschen von Tieren unterscheidet. 7 Kulturen sind nicht nur verschieden und besonders in bezug auf ein Volk oder eine Nation, sondern auch in bezug auf soziale Gruppen innerhalb einer größeren Gesellschaft. Die Kultur einer Gruppe ist ihre »ganze Lebensweise, alles, was die Gruppe von anderen unterscheidet, inbegriffen ihre sozialen Gewohnheiten und Institutionen, Rituale, Kunstwerke, kategorialen Schemata, Überzeugungen und Werte.« 8 Mehr oder weniger von jedem Mitglied der Gruppe geteilt, schafft und reflektiert Kultur den sozialen Konsens. Während Kultur einerseits als eine kontingente menschliche Konstruktion begriffen wird, ist sie andererseits das, was jedes individuelle Mitglied der Gruppe konstruiert und seine bzw. ihre Identität formt. Forscherlnnen, die von diesem Standpunkt aus eine gegebene Kultur, z.B. das frühe Römische Reich, oder eine >Sub-Kultur" z.B. das paulinische Christentum, analysieren, analysieren sie als ein zusammenhängendes Ganzes, in dem der soziale Kontext und die verschiedenen Elemente der Kultur synchron als ein einziges ,Bedeutungsnetz< untersucht werden. 70 Diese moderne Betrachtung von Kultur regte einige der bedeutendsten und originellsten neutestamentlichen Arbeiten der 70er und 80er Jahre an, was ich hier am Beispiel der herausragenden Arbeiten von Wayne Meeks, Professor an der Yale Universität, zeigen möchte. Sich vor allem auf den Ansatz von Clifford Geertz stützend untersuchte Meeks das johanneische und paulinische Christentum als distinkte Subkulturen, in denen das Zusammenspiel von Ritual, sozialer Organisation, Predigt, Schrift und religiöser Symbole einzigartige >soziale Welten< formte. So zeigte er beispielsweise auf, wie die Darstellung Jesu des vierten Evangeliums als fremd gegenüber und getrennt von dieser Welt der sozialen Trennung der johanneischen Christinnen vom zeitgenössischen Judentum Sinn verlieh, schlaglichtartig dargestellt durch ihren Ausschluß aus der Synagoge (Joh 16,1-4). Meeks erklärte den dunklen Symbolismus dieses Evangeliums im Sinne ihres sektiererischen Gemeinschaftsbewußtseins. 9 Ebenso bemüht Paulus, wenn er den Galatern schreibt, »da ist nicht länger männlich und weiblich, denn ihr alle seid einer in Christus Jesus« (Gal 3,28), ein religiöses Symbol, ,das Bild des Androgynen" das im Ritual der Taufe in Szene gesetzt wurde, aber verschiedene Bedeutungen haben konnte, je nachdem wie verschieden frühchristliche Gruppen gender verstanden und ihre sozialen Strukturen organisierten.10 Diese Studien erreichten ihren Höhepunkt in Meeks maßgeblichem Buch, Urchristentum und Stadtkultur. Die soziale Welt der paulinischen Gemeinden, 11 das eine vergleichende Analyse des paulinischen Christentums als eine Kultur vorlegte, mit ihren eigenen Ritualen, Symbolen, Herrschaftsstrukturen, Verhaltensweisen und Überzeugungen. Nach Meeks können die paulinischen Lehren nicht ohne ihre soziale Funktion verstanden werden: die Bedeutung der Behauptung, es gäbe nur einen Gott, ist unabdingbar gebunden an die Praktiken und Institutionen, in die diese Überzeugung eingebunden ist. Elemente der Kultur sind verwoben in ein bedeutungsvolles Ganzes. Dieser Ansatz bleibt ein weit praktiziertes und erhellendes Verfahren in us-amerikanischer neutestamentlicher Wissenschaft. Meeks selbst hat seine Kulturanalyse ausgedehnt auf den Bereich der frühchristlichen Ethik. In einem seiner letzten Bücher, zielt er darauf, die »Moralität« des Frühchristenstums zu beschreiben, aber nicht lediglich ZNT 2 (1998) ihre ethischen Normen, sondern vielmehr die Textur ihres moralischen Lebens: die Geschichten, Rituale und Praktiken, die den frühen Christinnen ein Gefühl moralischer Zuversicht gaben, eine Fähigkeit moralisch in ihrer Kultur zu handeln. 12 Susan Garrett's Buch über Magie in der Apostelgeschichte des Lukas gehört auch zu dieser Perspektive.13 Moderne Anthropologinnen haben Kultur und Text miteinander verglichen: der Interpret einer Kultur ist wie eine Literaturwissenschaftlerin, die eine Erzählung oder ein Gedicht liest und aufzeigt, wie die Teile des Textes ein kohärentes Ganzes ergeben. Garret verwendet ,die narrative Welt, der Apostelgeschichte als ein Fenster zur ,kulturellen Welt" in die Lukas gehörte. Die modernen Exegetinnen dürfen sich dem biblischen Text nicht mit ihrem eigenen Begriff von ,Magie, nähern und damit danach fragen, ob die Wunder Jesu oder die Taten des Simon Magus (Apg 8,4-25) >magisch, sind. Vielmehr muß die Auffassung des Lukas von ,Magie, verstanden werden als Teil der kulturellen Welt, die er bewohnte. »Die Frage ist nicht, ob die Weltsicht der Christinnen magisch war, sondern wie Magie als ein Erfahrungen ordnendes Symbol in der Weltsicht der Christlnnen funktionierte.« 14 Garrett arbeitet heraus, daß in der lukanischen christlichen Subkultur ,Magie« bezug nimmt auf außerordentliche, von Menschen unter der Autorität Satans ausgeführte Taten: der Konflikt zwischen den Aposteln und den Magikern enthüllt den Sieg Christi über Satan. Die Aktivitäten der Apostel und der Magiker erscheinen auf der Oberfläche ähnlich, aber innerhalb der Kultur der lukanischen Gemeinschaft bedeuten sie sehr verschiedene Dinge. Diese Studien von Meeks und Garrett reflektieren die moderne Bedeutung von Kultur insoweit, als ihre Perspektive zu einer synchronischen tendiert, die auf einen bestimmten Moment in der Geschichte gerichtet ist, und zu einer ganzheitlichen, indem sie den Konsens und die Kohärenz von Kulturen und Subkulturen betonen. Unddie Kultur der modernen Interpretinnen wird bezeichnenderweise nicht eigens problematisiert: der/ die Interpret/ in bleibt diskret off-stage als Beobachter/ in, der/ die Zusammenhänge und Bedeutungen sieht, die den antiken Beteiligten nicht unbedingt bewußt gewesen sind. ZNT 2 (1998) David Brakke Professor Dr. David Brakke unterrichtet Neues Testament und Geschichte des Frühchristentums am Institut für Rcligious Studies der Indiana University, Bloomington. Er ist Autor des Buches »Athanasius and the Politcs of Ascetiscm« (Oxford, University Press, 1995). Er veröffentlichte zahlreiche Artikel in exegetischen und kirchengeschichtlichen Fachzeitschriften. 4. Cultural Studies des Neuen Testaments im Zeichen eines postmodernen Kulturbegriffs Diese Charakteristika der modernen Bedeutung von Kultur wurden in den letzten Jahren von Anthropologinnen, SozialwissenschaftlerInnen und Forscherinnen, die sich mit Minderheiten befassen, kritisiert. Das Ergebnis ist ein >postmoderner< Kulturbegriff, der den modernen Kulturbegriff nicht so sehr ersetzt, als ihn vielmehr kompliziert. 15 Die neuesten Kulturtheoretikerinnen geben zu bedenken, daß die holistische, synchrone Analyse, wie sie von modernen Anthropologinnen und Historikerinnen praktiziert wird, die Kämpfe und Konflikte die in Kulturen auftreten, verbergen. Kulturen erscheinen nicht einfach und gehen ihren Weg, sondern sie sind Produkte historischer Prozesse voller Konflikte, Macht und Herrschaft. Völker tendieren dazu, nicht in kultureller Gleichheit zu teilen: vielmehr werden kulturelle Produkte häufig von Eliten hervorgebracht, die ein Interesse an der Legitimierung ungleicher sozialer und ökonomischer Arrangements haben. Personen, die nicht zu diesen Eliten gehören, konsumieren aber auch nicht lediglich die kulturellen Produkte der Elite, sondern transformieren sie bei Zeiten kreativ 71 in subversiver Weise. Kultur ist häufig nicht der Garant eines sozialen Konsens, sondern der Schauplatz der Konflikte zwischen verschiedenen Visionen einer Gesellschaft. Postmoderne Kulturtheorie stellt die Untersuchung von Macht in und durch Kultur in den Mittelpunkt, unterscheidet nicht zwischen ,hoher< und ,niedriger< Kultur und verortet explizit den/ die Interpreten/ in in einen kulturellen Kontext, der seine/ ihre Ergebnisse formt. Sie ist ausgezeichnet durch einen moderaten Marxismus, durch die Voraussetzung einer Form des Materialismus (Ideen sind eng gebunden an ökonomische und soziale Konditionen) und durch ihre Verwendung eines neutralen Begriffes von »Ideologie« als »die Beziehung zwischen Sprache und gesellschaftlichen Machtstrukturen«. 16 Die Lektüre des Neuen Testaments aus dieser Perspektive »erfordert eine doppelte Anstrengung, (1) die antiken biblischen Geschichten mit Blick auf ihren ideologischen Inhalt und mit Blick auf die Art und Weise ihrer Produktion zu lesen und (2) den ideologischen Charakter der gegenwärtigen Lektürestrategien zu erfassen.« 17 U s-amerikanische NeutestamentlerInnen adaptieren kulturtheoretische Ansätze für die biblische Interpretation in verschiedener Weise, die ich hier nicht alle darstellen kann. Ein Gebiet, das ich von meinem Überblick ausschließen möchte, ist das Studium der Frage, wie die Bibel oder das Neue Testament in späteren Kulturen funktionierte: Arbeiten dieser Art sind tatsächlich involviert in cultural studies der Bibel, aber sie beanspruchen nicht, Lektüren der Bibel selbst zu sein; vielmehr untersuchen sie die Bibel als ein Element späterer Kulturformationen.18 Forscherlnnen, die dies bearbeiten, betrachten sich selbst nicht als ,biblical scholars<, die dann auch z.B. zur Society of Biblical Literature gehörten der größten professionellen Organisation für Bibelwissenschaftlerlnnen in Nordamerika. Die Autoren, die ich hier besprechen werde, präsentieren sich alle, wie auch immer, als Neutestamentlerlnnen, die Lektüren des Neuen Testaments erarbeiten. Da sie gerade in Übereinstimmung mit postmoderner Kulturtheorie eine heterogene Gruppe bilden, sollten sie nicht vereinheitlichend gelesen werden. Brian Blount, der Neues Testament am Princeton Theological Seminary lehrt, bietet eine ausgeklügelte Analyse der Art und Weise, wie der kulturelle Kontext biblische Interpretationen formt. 19 In 72 Anlehnung an soziolinguistische Theorien demonstriert Blount, daß kulturelle Variabilität zwischen Interpretationen unvermeidlich ist: jede Lektüre erfüllt eine soziale Funktion innerhalb einer bestimmten kulturellen Matrix. Er untersucht die Art und Weisen biblischer Interpretation, wie sie von Rudolf Bultmann, den nicaraguanischen Bauern von Solentiname, den Sängerlnnen von Negro Spirituals und den Predigerlnnen afroamerikanischer protestantischer Kirchen praktiziert wurden und zeigt, wie jede dieser Lektüren ihren spezifischen sozialen Kontext wiederspiegelt, selbst wenn der Interpret beansprucht, seine hermeneutische Perspektive sei universal (wie Bultmann es tat). Wenn das der Fall ist, ist dann die Bedeutung des Neuen Testaments völlig arbiträr, lediglich bezogen auf verschiedene kulturelle Orte? Nicht völlig. Der neutestamentliche Text hat nach Blount nicht eine einfache ,Bedeutung" sondern er trägt ,mögliche Bedeutungen<, die verschiedene Interpretationen erlauben, aber sie auch begrenzen. Blount kann z.B. die Bauern von Solentiname dafür kritisieren, daß sie damals ihre politische Agenda dem Text aufsetzten, aber ihre gesamte Lektürestrategie bleibt wertvoll und angemessen für ihre kulturelle Situation. Als ein Beispiel für das Verfahren einer cultural interpretation analysiert Blount den Prozeß J esu im Markusevangelium in Hinsicht auf sein ,Bedeutungspotential, und zeigt dann, wie dieses Potantial in verschiedener Weise von modernen Interpretlnnen in verschiedenen kulturellen Settings aktualisiert wurde. Blounts Vorschlag fordert das herrschende Paradigma neutestamentlicher Wissenschaft heraus, indem er das Begehren, die eine ,wahre< Bedeutung des Textes als seine originale, ursprüngliche historische Bedeutung wiederzufinden, verwirft. Keine Interpretation ist frei von ihrem eigenen kulturellen Kontext. Blount schlägt vor, dieses Faktum nicht lediglich einzuräumen, um dann weiterzumachen wie bisher, sondern die Neutestamentlerlnnen sollen aufmerksam werden auf Lektüren des Neuen Testaments aus kulturell marginalisierten Perspektiven. Die marginalen Lektüren z.B. zentralamerikanischer Bauern und afroamerikanischer Prediger müssen Teil des wissenschaftlichen Austauschs über die Bedeutung des biblischen Textes werden. Vincent Wimbush vom Union Theological Seminary in New York hat neulich seine eigene kul- ZNT 2 (1998) turelle Position der Marginalität als eines Afroamerikaners in der von Weißen dominierten Gilde der neutestamentlichen Wissenschaft artikuliert. 20 Obwohl er selbst »das Spiel gespielt« hat, das Spiel der akademischen Leistung und dafür seine Belohnung erhielt, sagt Wimbush, daß er nicht mehr beginnen kann mit »den Kategorien und Konstruktionen und Annahmen anderer, und sicher nicht mit dem euro-amerikanischen Paradigma der Verpflichtung auf die Bibel.« Weiter schreibt Wimbush: »Ich muß beginnen in meiner Welt, mit meiner Welt. Ich muß beginnen mit der Einsicht, daß die Bibel, wie sie meine Zeitgenossen und ich sie haben, kein antikes, sondern ein modernes, ein Dokument des späten 20.jahrhunderts ist. Das ist der Fall, weil ich als ein Afroamerikaner ein Mitglied der afrikanischen Diaspora, das mit Amerika untergehen und überleben mußte ein >moderner< bin. Deshalb muß ich beginnen mit dem Faktum der soziopolitischen Gegebenheit und der darauffolgenden historischen kulturellen Transformation der Gegebenheit der Bibel in der Welt, in die ich hineingeboren wurde, in der ich zuerst die Notwendigkeit entdeckte und dafür kämpfte, mein Selbst zu kultivieren. Kein Bezug auf antike Texte oder Geschichten kann in diesem kritischen Augenblick gerechtfertigt werden oder Sinn für mich machen, es sei denn, man kommt erst zu Begriffen der kulturellen Gegebenheit und kulturellen Inanspruchnahme und Manipulation dieser Texte oder Geschichten in meiner Gegenwart.« 21 Während die meisten Bibelforscherlnnen danach trachten, ihre kulturelle Identität mit Hilfeeiner >objektiven< analytischen Stimme zu verbergen, stellt Wimbush seine kulturelle Eingebundenheit gerade heraus und plädiert für ein Bibelstudium, »als eine Weise der Kulturkritik eine Analyse religiöser Weltsichten und Ausdrücke der gegenwärtigen (us-)amerikanischen Kultur.« 22 Was Wimbush anvisiert ist eine politischere Version des traditionellen hermeneutischen Zirkels: der/ die Interpret/ in beginnt mit einer Analyse der eigenen Kultur, befaßt sich mit dem biblischen Text von dieser Analyse aus und kehrt zurück zur gegenwärtigen Kultur, um sie zu kritisieren. Als ein Forschungsprojekt unter dieser Perspektive schlägt Wimbush vor, die >anders-weltliche< Dimension afroamerikanischer Religion zu analysieren und sie vom Studium der asketischen, weltverwerfenden Haltung (contemptus mundi) ZNT 2 (1998) aus zu kritisieren, die im Frühchristentum zu finden ist. Das Ziel dabei bleibt nicht länger das Verstehen der frühchristlichen Texte um ihrer selbst willen, sondern die Lektüre zielt auf einen Beitrag für die Herausstellung und Unterminierung von >Anders-Weltlichkeit, als Teil der gegenwärtigen dominanten kulturellen Formation, in der Afroamerikaner marginalisiert sind. Es bleibt abzuwarten, ob Wimbush's primäres Interesse an seiner eigenen Kultur die eigentümlichen kulturellen Kontexte der frühchristlichen Texte in einem Ausmaß überschatten wird, die andere Forscherinnen für unakzeptabel halten werden. Ein Beispiel des Bibelstudiums als cultural criticism, das das Interesse an antiken und modernen Kulturen auszubalancieren sucht, ist Daniel Boyarin's Buch über Paulus mit dem Titel A Radical Jew. 23 Wie Wimbush von seiner afroamerikanischen Identität aus arbeitet, so liest auch Boyarin die Briefe des Paulus von seiner kulturellen Position eines »(post)modernen Juden« 24 her. Boyarin analysiert einige der vorherrschenden Forschungsrichtungen hinsichtlich der Beziehung des Paulus zum Judentum und deckt ihre ideologische Basis in der lutherischen Theologie und/ oder im modernen europäischen Antisemitismus auf. Boyarin nennt Paulus einen jüdischen Kulturkritiker des ersten Jahrhunderts: Die Unzufriedenheit des Paulus mit dem Judentum erwächst aus der Partikularität des Judentums, seiner Kultivierung von Differenz und seines mangelnden Interesses an einer weltweiten menschlichen Solidarität. Die Vision des Paulus ist die einer universalen Menschheit, in der »alle einer sind in Christus Jesus« (Gai 3,28). Die grundlegende Dichotomie im paulinischen Denken ist nach Boyarin nicht Gnade vs. Gesetzlichkeit, sondern Geist (Universalität) vs. Fleisch (Partikularität). Trotz der befreienden Implikationen der universalen Vison des Paulus delegimitiert seine dualistische Emphase des Geistes Verschiedenheit, marginalisiert diejenigen, die anders sind (Frauen, Sklaven, etc.) und endet in der Entfremdung vom »Fleisch« - Körper und Sexualität inbegriffen. Dennoch sieht Boyarin das Denken des Paulus als eine ständige Herausforderung der Juden und als Möglichkeit einer kulturellen Analysepostmoderner jüdischer Identität: »Wie kann ich ethisch eine partikuläre Identität konstruieren, die ausgesprochen kostbar für mich ist, ohne in einen Ethnozentrismus oder Rassismus der ein oder anderen 73 Spielweise zu verfallen? « 25 Den Zionismus verwerfend plädiert Boyarin für eine »diasporasierte« jüdische Identität: »Verzicht auf Souveränität, Autochthonie, Indigeneität (wie sie politisch verkörpert ist im Begriff der Selbstbestimmung) einerseits, kombiniert mit einer entschiedenen Hartnäckigkeit im Beharren auf kulturelle Identität andererseits.«26 Boyarin sieht eine große Verheißung im Jüdischsein als Verkörperung einer solchen postmodernen kulturellen Haltung, da »Jüdischsein sämtliche Kategorien der Identität zerbricht, weil es nicht national, nicht genealogisch, nicht religiös, aber alles das in dialektischer Berührung miteinander umfaßt.« 27 Blount, Wimbush und Boyarin verwenden kulturtheoretische Ansätze in Weisen, die das dominante Paradigma neutestamentlicher Wissenschaft herausfordert. Sie erreichen das, indem sie zeigen, daß biblische Interpretation selbst ein politischer Akt ist, der in spezifischen Kulturen situiert und nicht unschuldig an politischen und sozialen Auswirkungen ist. Was sie von vorangegangenen Ansätzen politischer oder befreiungstheologischer Methodologien unterscheidet, ist, daß sie nicht mit einem einfachen Modell von Herrschaft und Unterdrückung arbeiten, das unkritisch die Position der Unterdrückten privilegierte. Vielmehr sehen sie Kultur als einen Ort, der ganz und gar durchdrungen ist von Macht als einem unentrinnbaren Netzwerk ungleicher Beziehungen, eine Matrix, in der Identitäten nicht besessen, sondern konstruiert und erkämpft werden. Diese Forscherlnnen sind skeptisch gegenüber der Möglichkeit >die authentische Stimme" etwa >der< Frauen oder >der< Armen, wiederzuentdecken, weil selbst die intimsten Dimensionen des Selbst wie gender von den Spuren sozialer und kultureller Prozesse gezeichnet und unsere Quellen literarische Konstruktionen sind, geformt von rhetorischen Absichten. 28 Biblische Studien werden zu einer Möglichkeit für Kulturkritik, d.h. für die Unterminierung festgefahrener kultureller Formen und Identitäten und für die Konstruktion neuer Identitäten, insbesondere von Positionen marginalisierter Kultur. 29 Einige us-amerikanische cultural studies des Neuen Testaments sind weniger explizit im Hinblick auf die gegenwärtigen Verzweigungen ihrer Lektüren, aber beziehen sich dennoch auf die postmoderne Kulturtheorie als Theorierahmen ihrer Methoden und Fragestellungen. Zum Beispiel, im 74 Kontrast zu Wimbush, der die Notwendigkeit betont, mit der eigenen kulturellen Verortung zu beginnen und zu enden, führt Mary Ann Tolbert an: »Die Texte der Bibel zu historisieren, indem sie in ihre eigene vergangene und fremde Zeit gestellt werden, fordert die transzendente Autorität heraus, die ihnen von der kirchlichen Macht zugeschrieben wurde und schafft möglicherweise einen Raum der Befreiung von einer unterdrückenden Verwendung, für die diese Texte immer wieder herhalten mußten.« 30 Ihr Essay über das Markusevangelium stellt die christlichen Evangelien an die Spitze der >popular culture, in der griechisch-römischen Welt: ihr engster literarischer Verwandter ist der antike Roman, der auf »ein weites Spektrum der Gesellschaft« 31 zielte. Tolbert vergleicht die Episode im Garten von Gethsemane (Mk 14,32-42) mit den inneren Monologen in anderen Werken griechisch-römischer Literatur von Homer bis zu den Romanschreibern. Das Gebet J esu in Gethsemane stellt sich heraus als ein konventioneller Zug populärer Literatur, ein Zug, der den Leserinnen/ Hörerinnen signalisiert, daß der Held in eine entscheidende Ereignisfolge eintritt. Der markinische Jesus ist demzufolge »ein epischer Held für gewöhnliche Leute« 32 Die von der postmodernen Kulturtheorie eingebrachte Auflösung der Grenzen zwischen ,hoher< und >niedriger< Kultur und zwischen >religiöser< und >weltlicher, Literatur befähigt Tolbert, die von einem konventionellen Motiv getragenen kulturellen Bedeutungen aufzudecken. Auch Dale Martin's Buch über den l .Korintherbrief, The Corinthian Body, setzt sich über die künstlichen Unterscheidungen der Forschung hinweg und stellt Kultur als den Schauplatz des Konfliktes zwischen konkurrierenden Ideologien heraus. 33 Eine moderne Theorie der Kultur hätte Martin dahingeführt, >den Körper< als ein Symbol innerhalb der paulinischen Subkultur zu untersuchen, indem er gezeigt hätte, wie dieses Symbol mit anderen theologischen Ideen, Riten und sozialen Praktiken in einem zusammenhängenden Bedeutungsnetz verbunden ist. Anstelle dessen rekonstruiert Martin einen Konflikt in der korinthischen Gemeinde zwischen wetteifernden ideologischen Konstruktionen des Körpers. »Während Paulus und (wahrscheinlich) die Mehrheit der korinthischen Christinnen den Körper als eine gefährliche, durchlässige Entität betrachteten, gefährdet von ZNT 2 (1998) unreinen Kräften, stellte eine Minderheit in der korinthischen Gemeinde [die >Starken<] ... das hierarchische Arrangement des Körpers und seine eigentümliche Balance seiner Konstituenten heraus, ohne viel Aufmerksamkeit zu verwenden auf die Grenzen oder Gefährdungen des Körpers.« 34 Diese in Opposition zueinanderstehenden Ideologien des menschlichen Körpers und solche des »Körpers Christi«, der Kirche, liegen hinter den Disputen über Rhetorik, Ehe und Zölibat, Zungenrede und Auferstehung. Martin zieht eine breite Sammlung antiker Literatur heran, inbegriffen medizinische Texte, philosophische Schriften und jüdische Literatur aller Art, aber nicht um >Einflüsse< auf Paulus oder seine Gegner zu finden, sondern um die Ideologien bzgl. des Körpers zu rekonstruieren, die in der griechisch-römischen Kultur zirkulierten. In Übereinstimmung mit einem postmodernen Skeptizismus bzgl. der Möglichkeit, >Intentionen< antiker Menschen aufzufinden, behauptet Martins ideologische Analyse nicht, daß die frühen Christen, Paulus inbegriffen, sich dieser ideologischen Basis ihrer Positionen notwendig bewußt gewesen sein müßten, aber er behauptet, daß ihre Sichtweisen nichtsdestoweniger ihren Ausdruck finden in und partizipieren an diesen Ideologien. Martin unternimmt keine holistische Interpretation der paulinischen Subkultur, aber er analysiert diese Subkultur in den Begriffen von Konflikt und Macht. Aufgrund dieser Kategorien möchte ich hier meine eigene Studie über die Kanonisierung der Bibel im Christentum des vierten Jahrhunderts anführen.35 Im Jahre 367 nutzte Athanasius, der Bischof von Alexandrien seinen 39.Fastenbrief (Osterbrief), um die Bücher des Alten und Neuen Testaments aufzulisten, und seine Liste war die erste, die genau die 27 Schriften enthält, die nun das Neue Testament bilden. Forscherinnen haben für gewöhnlich diesen Punkt als einen Angelpunkt in einem unvermeidlichen Prozeß des Abschlusses des biblischen Kanons interpretiert. Damit behaupteten sie einen singulären Begriff von >Schrift< und >Kanon< in christlicher Kultur: die Konflikte darüber, was einzubeziehen und was auszuschließen sei, seien damit beigelegt. In meinem Essay hingegen ziehe ich den Brief des Athanasius heran, um die ägyptische christliche Kultur des vierten Jahrhunderts zu rekonstruieren als eine, die durch den Konflikt zwischen widerstreitenden Weisen ZNT 2 (1998) der geistigen und sozialen Formation gekennzeichnet ist, von denen jede ihr eigenes Verständnis und ihren eigenen Umgang mit der Schrift hatte. Die konkurrierenden autoritativen Figuren des Lehrers, des Bischofs und des Märtyrers bildeten die Streitpunkte der verschiedenen christlichen individuellen und kollektiven Identitäten. Der geschlossene Kanon wie wir ihn kennen wurde nicht in einer monolithischen christlichen Kultur hervorgebracht, sondern war spezifisch für eine spezielle Weise christlicher Kultur, nämlich die des in Erscheinung tretenden imperialen Episkopats. Alles andere als eine Gegebenheit im christlichen Diskurs ist die Schrift selbst ein kulturelles Produkt, gekennzeichnet durch besondere Ideologien der Autorität und spiritueller Identität. Diese Studien sind (post)moderner Kulturtheorie verpflichtet, wenn sie neutestamentliche Texte (und das Neue Testament selbst) als Kulturelemente behandeln, die anderen Kulturelementen ihrer Zeit (antike Romane, medizinische Abhandlungen etc.) beiseite gestellt werden können und zwar nicht als Empfänger oder Verweigerer von >Einflu" sondern als gleichfalls Beteiligte im umkämpften Millieu griechisch-römischer Kultur. Unterscheidungen zwischen hoher und niedriger Kultur, religiöser und weltlicher Literatur, Ideen und Praktiken herrschen nicht vor. Frühchristliche Kultur wird nicht analysiert als ein kohärentes Ganzes, ähnlich einem zu interpretierenden Gedicht, sondern als der Schauplatz von Konflikten um Macht und Identität. In diesen Studien sind Tolbert, Martin und ich nicht explizit befaßt mit der Kritik unserer eigenen Kultur, obwohl alle drei behaupten, daß ihre Arbeiten gewisse gegenwärtige Konstruktionen von Schrift, Körper und christlicher Identität problematisieren, die in der usamerikanischen Kultur zirkulieren. 36 Das vielleicht eindrücklichste Beispiel einer biblischen Studie als cultural criticism ist Stephen Moores Buch, God's Gym: Divine Male Bodies of the Bible. 37 Dieses Buch, eine erstaunliche tour de force, verwendet die kulturelle Konstruktion des Körpers, um die Schrift in drei Essays zu untersuchen, die sich einer Zusammenfassung widersetzen (und daher werde ich mich auf Moore's eigene Zusammenfassung38 beziehen). Der erste Essay,»Tortur: Der göttliche Schlächter«, »legt offen, in welchem Ausmaß das Kreuz als eine >Disziplinierungstechnologie<, als eine Strategie der Unterwer- 75 fung in christlicher Theologie verwendet wurde, wobei seine eigentliche Funktion im Römischen Reich repliziert wurde.« Der zweite Essay, »Dissektion: Wie Jesu auferstandener Körper zu einem Leichnam wurde«, situiert die Entstehung der historischen Bibelkritik (insbesondere Literar-, Form- und Redaktionskritik) in einer aufgeklärten Kultur der visuellen Einsichtnahme, die gleichfalls die Anatomie gebar, Ein-sieht (inspection) durch Zer-gliedern ( dissection ). Moore » legt offen, in welchem Ausmaß Bibelkritik eine Übung in Gewalt ist. Je ein-schneidender, je ein-dringlicher die Kritik, um so tiefer die Wunde, die sie ihrem Objekt zufügt, diesem Text-Körper, der für Billionen von Menschen über Tausende von Jahren das unüberbietbare Phantasieobjekt gewesen ist: ein Buch, das nur die Wahrheit sagen kann.« Der dritte Essay, »Auferstehung: Furchtbare Pein, Glorreicher Lohn«, liest die Darstellungen von Jahwes Körper im Alten Testament, die Darstellungen des Körpers J esu im Neuen Testament und die des Körpers Gottes in der Offenbarung mittels einer Karikatur, die auf dem interpretativen Rahmen gegenwärtiger body-building Kultur basiert. Moore kommt zu dem Schluß, daß, wie der Champion body-builder, »der biblische Gott die höchste Verkörperung hegemonialer Hypermaskulinität und als solche das Objekt universaler Anbetung darstellt.« Moore unternimmt eine Forschungskritik der Konstruktionen von Maskulinität in biblischer und gegenwärtiger Kultur und stellt dabei die historisch-kritische Bibelforschung dar als der Ideologie der Kontrolle verpflichtet durch zer-gliedernde (dissecting) Analyse. Noch besser ist es, daß das Buch über weite Strecken sehr amüsant zu lesen ist. 5. Cultural Studies und die politische Verantwortung neutestamentlischer Wissenschaft für den zeitgenössichen Bibelgebrauch Wahrscheinlich werden die meisten Bibelforscher- Innen Moores Buch fremdartig und unseriös finden: Wer denkt schon daran, daß die Bibel irgendetwas mit body-building zu tun haben könnte? Aber Moore führt die Experimente dieser neuartigen Gelehrsamkeit nur zu einem Extrem. Diese Forscherinnen fragen: Was geschieht, wenn wir die Bibel aus ihrer hermetisch abgeriegelten, unter 76 Verschluß stehenden Seifenblase herausnehmen und sie in die Mitte der Kultur stellen, die die von der modernen Universität aufgerichteten Grenzen nicht beachtet? Wie alle Experimente mögen einige dieser Lektüren nicht lange einer kritischen Prüfung standhalten. Bewegungen im us-amerikanischen akademischen Leben kommen und gehen sehr schnell und so werden Kritiken an diesen neuen Ansätzen nicht lange auf sich warten lassen. Aber die multikulturelle Umgebung der USA bietet einen fruchtbaren Boden, einen kulturtheoretischen Ansatz neutestamentlicher Wissenschaft zu entwickeln und reifen zu lassen. Cultural studies nahmen ihren Ausgang in Großbritannien nach dem 2.Weltkrieg, eine Zeit, in der die Ausbreitung von Massenkultur, der Zusammenbruch von Klassenunterschieden und die Immigration von Menschen anderer Hautfarbe aus den ehemaligen Kolonien die Frage kultureller Identität besonders dringlich machte. 39 Aber die cultural studies fanden ein natürliches Heim in den USA, wo die Amerikaner ihren Multikulturismus, ihren Mangel an einer essentiellen nationalen Identität, bei Zeiten gefeiert und bei Zeiten beklagt haben. Was es heißt, ein >Amerikaner< zu sein, ist immer ein Gegenstand der Diskussion. In den vergangenen Jahren hat eine zunehmend starke Stimme in dieser Debatte sich dafür ausgesprochen, daß Amerika eine >christliche Nation< sei und daß seine Kultur sich auf >biblische Werte< zurückbesinnen sollte. Professionelle Bibelforscherinnen in diesem Land tendierten dazu, zu schweigen, als andere die Bibel als eine Waffe im >Kulturkampf< benutzten, der hinsichtlich gender, Rassenpolitik, sexueller Orientierung und nationaler Identität tobt. Vielleicht ist das neue Interesse unter den us-amerikanischen Bibelforscherinnen am Zusammenhang von Neuem Testament und >Kultur< ein Anzeichen dafür, daß dieses Schweigen zu einem Ende kommt. Anmerkungen 1 Aus dem Amerikanischen übersetzt von Stefan Alkier und vom Verfasser autorisiert. 2 Eine gute Einführung in dieses Forschungsfeld ist: The Cultural Studies Reader, ed. Simon During, London/ New York: Routledge, 1993. 3 Vgl. Robyn Wiegman, American Anatomies: Theori- ZNT 2 (1998) zing Race and Gender, The New Americanists, Durham, N.C.: Duke Univ. Press, 1995. 4 Siehe Margaret R.Miles, Seeing and Believing: Religion and Values in the Movies, Boston: Beacon, 1995; Colleen McDannell, Material Christianity: Religion and Popular Culture in America, New Haven/ London: Yale Univ. Press, 1995. 5 Bzgl. der Literaturwissenschaft siehe: The New Historicism, ed. H.Aram Veeser, London/ New York: Routledge, 1989, und Biblical Interpretation 5: 4 (1997), ein Band, der der Verbindung von New Historicism und Biblischer Exegese gewidmet ist. Für die Geschichtswissenschaften siehe: Culture/ Power/ History: A Reader in Contemporary Social Theory, ed. Nicholas B. Dirks, Geoff Eley, Serry B.Ortner, Princeton Studies in Culture/ Power/ History, Princeton, N.J.: Princeton Univ. Press, 1994, und The New Cultural History, ed Lynn Hunt, Studies on the History of Society and Culture (Berkeley/ Los Angele/ London: Univ. of California Press, 1989. 6 Vgl. Kathryn Tanner, Theories of Culture: A New Agenda for Theology, Guides to Theological Inquiry, Minneapolis: Fortress, 1997, 9-12. Vgl ebd. 25-37. 8 Ebd. 27. Siehe Wayne A.Meeks, The Man from Heaven inJohannine Sectarianism, JBL 91 (1972) 44-72. 11 Ders., The Image of the Androgyne: Some Uses of a Symbol in Earliest Christianity, History of Religions 13 (1974) 165-208. 12 Gütersloh 1993, i. 0.: The First Urban Christians: The Social World of the Apostle Paul, New Haven/ London: Yale Univ. Press 1983. 12 Ders., The Origins of Christian Morality, New Haven/ London: Yale Univ. Press 1993. 13 Susan R.Garret, The Demise of the Devil: Magie and the Demonic in Luke's Writings, Minneapolis: Fortress 1989. 14 Ebd., 29. 15 Vgl. Tanner, Theories of Culture, 38-58. 16 Dale B.Martin, The Corinthian Body, New Haven/ London: Yale Univ. Press, 1995. 17 The Bible and Culture Collective, The Postmodem Bible, New Haven/ London: Yalc Univ. Press, 1995, 277. 18 Siehe z.B. Theophus Smith, Conjuring Culture: Biblical Formations of Black America, New York: Oxford Univ. Press, 1994, und Mary McClintock Fulkerson, Changing the Subject: Women's Discourses and Feminist Theology, Minneapolis: Fortress, 1994, bes. 117-182. 19 Brian K.Blount, Cultural Interpretation: Reorienting New Testament Criticism, Minneapolis: Fortress, 1995. Eine knappe Einführung in seinen Ansatz hat er vorgelegt unter dem Titel: If You Get MY Meaning: Introducing Cultural Exegesis, in: Stefan Alkicr, Ralph Brucker (Hg.), Exegese und Methodendiskussion, TANZ 23, Tübingen/ Basel 1998, 77-98. 20 Vincent L.Wimbush, Contemptus Mundi Means >••• Bo- und for the Promised Land ... <: Religion from the Site of ZNT 2 (1998) Cultural Marronage, in: The Papers of the Henry Luce III Fellows in Theology, ed.Jonathan Strom, 2 vols. thus far; Atlanta: Scholars, 1996, 2.131-161. 21 Ebd., 135. 22 Ebd., 141. 23 Daniel Boyarin, A Radical Jew: Paul and the Politics of Identity, Contraversions: Critical Studies in Jewish Literature, Culture and Society, 1, Berkeley/ Los Angeles/ London: Univ. of California Press, 1994. 24 Ebd., 228. 25 Ebd., 228f. 26 Ebd., 259. 27 Ebd., 244. 28 Zu diesem Problem siehe Elizabeth A.Clark, The Lady Vanishes: Dilemmas of a Feminist Historian after the >Linguistic Turn<, Church History 67 (1998) 1-31. 29 Blount und Wimbush arbeiten von einer afroamerikanischen Perspektive aus, Boyarin von einer jüdischen. Hinsichtlich vergleichbarer Studien aus einer Verortung in der gay und lesbischen Gesellschaft siehe Dale B.Martin, Heterosexism and the Interpretation of Romans 1: 18-32, Biblical Interpretation 3 (1995) 332-355; ders., Arsenokoites and Malakos: Meanings and Consequences, in: Biblical Ethics & Homosexuality: Listening to Scripture, ed. Robert L.Brawley, Louisville, KY: Westminster John Knox, 1996, 117-136. 30 Mary Ann Tolbert, The Gospel in Greco-Roman Culture, in: The Book and the Text: The Bible and Literary Theory, ed Regina M.Schwartz, Oxford: Basil Blackwell 1990, 258-275, hier 258. 31 Ebd., 267. 32 Ebd., 272. 33 Vgl. Anm. 16. 34 Martin, Corinthian Body, XV. 35 David Brakke, Canon Formation and Social Conflict in Fourth-Century Egypt: Athanasius of Alexandrias 39. Fastenbrief, Harvard Theological Review 87 (1994) 395-419. 36 Ausdrücklicher thematisiert Martin diesen Bereich in den Aufsätzen, die ich in Anm. 29 angeführt habe. 37 Stephen D.Moore, God's Gym: Divine Male Bodies of the Bible, New York/ London: Routledge, 1996. Obwohl Moore Ire ist und an der Universität von Sheffield lehrt, schrieb er dieses Buch wie einige seiner anderen währen eines längeren Lehraufenthalts an us-amerikanischen Universitäten. 38 Ebd., 139. 39 Hinsichtlich eines kurzen Abrisses der Geschichte der »cultural studies« siehe Simon During, Introduction, in: Cultural Studies Reader, ed. During, 1-25. 77 Elisabeth Schüssler Fiorenza, Jesus - Miriams Kind, Sophias Prophet. Kritische Anfragen feministischer Christologie, aus dem Engl. v. Melanie Graffam-Minkus und Bärbel Mayer-Schärte! , Gütersloh 1997, Verlag Chr. Kaiser, 68,- DM, im Original: Jesus - Miriam's Child, Sophia's Prophet. Critical Issues in Feminist Christology, New York 1995, The Continuum Publishing Company Elisabeth Schüssler Fiorenza, Professorin für Neues Testament in Harvard, gehört zu den versiertesten Vertreterinnen feministischer Exegese und Theologie. Ihre Arbeiten haben dazu beigetragen, feministische Exegese im universitären Rahmen zu etablieren. Darüber hin- 78 Elisabeth Schüssler Fiorenza Jesus- Miriams Kind, Sophias Prophet Kritische Anfragen feministischer Christologie Chr.Kaiser Gütersloher Verlagshaus aus hat sie durch eine große Leser- Innenschaft eine erhebliche Breitenwirkung über die Universität hinaus erzielt. Ihr Buch Jesus - Miriams Kind, Sophias Prophet. Kritische Anfragen feministischer Christologie legt auf beides großen Wert. Sie betont gleichermaßen ihren wissenschaftlichen Anspruch wie die Relevanz ihrer Ausführungen für alle Menschen. Diese Zielrichtung ist zugleich ihr Programm: eine feministische Befreiungstheologie zum »Wohlergehen[.] für jede Frau und jeden Mann ohne Ausnahme« (281). Sie schätzt ihr Projekt ein als »vielfältig, inklusiv und offen, aber zugleich engagiert und verbindlich« (280). Der Ausgangspunkt ihrer Ausführungen besteht in der wichtigen Einsicht, daß jeder Diskurs in einem kulturellen Kontext stattfindet, der als »Denkrahmen« (17) den jeweiligen Diskurs trägt. Daß dies auch für den christologischen Diskurs gilt, führt Schüssler Fiorenza sowohl bei ihrer Kritik traditioneller ( = männlicher) als auch feministischer Aussagen zur Christologie vor. Diese Einsicht führt sie dazu, mit einer Offenlegung ihrer eigenen theologischpolitischen Position zu beginnen, um den Leserlnnen zu ermöglichen, ihre weiteren positiven wie kritischen Ausführungen zum Thema innerhalb ihrer positionellen Vorgaben zu lesen. Ihren Denkrahmen stellt sie als »kritische feministische Befreiungstheologie« (35) vor. Exegetisch kann man das »kritisch« als Bekenntnis zur traditionellen, westeuropäischen historisch-kritischen-Methode lesen. Systematisch-theologisch zielt es darauf, den biologistischen Patriarchatsbegriff unter Bezugnahme auf die philosophische gender-Diskussion und unter terminologischer aber unsachgemäßer Verwendung des nicht erläuterten Konzepts der Dekonstruktion (Schüssler Fiorenza verwendet diesen Begriff wie viele Zeitgenossinnen unsachgemäß reduziert, nahezu umgangssprachlich im Sinne von ,Destruktion<: von Spuren einer Lektüre Jacques Derridas oder Paul de Mans findet sich bei Schüssler Fiorenza nichts) durch den soziopolitischen Begriff des Kyriarchats zu ersetzen. Der von Schüssler Fiorenza eingeführte Neologismus »Kyriarchat« meint »die Herrschaft des Kaisers/ Herren/ Meisters / Vaters/ Mannes über seine Untergebenen«. »Durch diese Begriffsbildung möchte ich darauf hinweisen, daß nicht alle Männer unterschiedslos alle Frauen beherrschen und ausbeuten, sowie daß privilegierte westliche, gebildete, besitzende, euro-amerikanische Männer die Ausbeutung von Frauen und von anderen ,Unpersonen< gerechtfertigt und von ihr profitiert haben.« (34f.) Daß die Autorin die Ausbeutung von Frauen durch Frauen und die Ausbeutung von Männern durch Frauen nicht in ihren soziopolitischen Begriff des Kyriarchats aufnimmt und damit in dem von ihr sonst durchgehend kritisierten »vorkonstruierten Rahmen des Geschlechtersystems« (124) verharrt, stellt innerhalb ihres »Denkrahmens« einen Selbstwiderspruch dar. Als Gegenmodell zum Kyriarchat entwirft Schüssler Fiorenza »die Vorstellung der Frauen-Ekklesia als kritische, radikal-demokratische Praxis und Vision einer radikalen Demokratie in Gesellschaft und religiösen Institutionen« (51). ZNT 2 (1998) Schüssler Fiorenzas »Frauen-Kirche« meint aber »nicht eine Frauenkirche, die Männer ausschließt.« »Vielmehr stellt die > Wirklichkeit< und Vision der Frauen-Ekklesia ein hermeneutisch, diskursiv-konstruiertes Konzept dar«. Damit »soll ein kritisch-demokratischer Ort bezeichnet werden, von dem aus Feministinnen« mit kleinem, ausgrenzendem »i«, »sprechen können, um hegemonial-theologische ,Alltagsdiskurse, zu verändern.« »Ekklesia als eine Versammlung gleichgestellter Bürgerlnnen namhaft zu machen, heißt, eine alternative Wirklichkeit mit Gerechtigkeit und Wohlergehen für alle, ohne Ausnahme, anzuvisieren.« (55) Schüssler Fiorenzas These ist es nun, daß die gesamte traditionelle Christologie, beginnend mit den frühesten christlichen Traditionen im kyriarchalen Denkrahmen entwickelt wurde und das mit Ausnahme ihres eigenen Konzepts auch nahezu alle feministischen Christologien innerhalb dieses Konzepts gefangen bleiben, da sie zumindest implizit dem Mannsein Jesu Bedeutung zukommen lassen und damit kyriarchale Ideologie übernehmen. So kritisiert Schüssler Fiorenza, »daß sie Jesus als Held-Retter-Figur verstehen, der der etablierten Ordnung dadurch widersteht, daß er dem Willen des Vaters gehorcht.« (131, vgl. 79; 83; 97). Die Orientierung an dem herausragenden Mann Jesus führt dann nach Schüssler Fiorenza unweigerlich zum Antijudaismus, da das Mannsein Jesu auf Kosten anderer jüdischer Männer positiv bewertet wird (vgl. 138f.; 114; 135; 231). Das Hauptargument der ÜBER- Blicks-These von der kyriarchalen Verdorbenheit des traditionellen und des feministischen christologischen Diskurses ist es, daß die Opposition männlich/ weiblich als bedeutungsstiftender Rahmen Festschreibungen von Herr-schaft erzeugt: » Indem der vorgefertigte ZNT 2 (1998) Denkrahmen das Geschlechtersystem männlich/ weiblich und maskulin/ feminin als universal und selbstverständlich hinstellt, verschleiert und mystifiziert dieser Denkrahmen die Realität, daß allein schon der Begriff oder die Vorstellung von zwei Geschlechtern ein soziokulturelles Konstrukt ist, das der Aufrechterhaltung von Herrschaftsstrukturen dient, aber auf keinen Fall eine biologische ,Gegebenheit< darstellt oder ein angeborenes Wesen repräsentiert. Dieser vorgefertigte Denkrahmen verstellt uns den Blick dafür, daß vor noch gar nicht so langer Zeit auch rassische und nationale Unterschiede als natürliche, biologische und g': •ttgegebene Tatsachen angesehen wurden wie es heute noch manchmal geschieht.« (65f.) Die Schreibweise G''tt wählt Schüssler Fiorenza, um »darauf aufmerksam zu machen, daß wir in unserer Sprache nur in einer unangemessenen Weise von G': ·tt sprechen können« (17, Anm. 3) Elisabeth Schüssler Fiorenzas Kritische Anfragen feministischer Christologie sind daher zugleich kritische Anfragen an feministische Christologien. Diese Ausrichtung des Buches hat für die Leserschaft den positiven Effekt, einen kenntnisreichen und problemorientierten Überblick nicht nur über die Probleme zu bekommen, die die Autorin in der traditionellen männlichen Rede von Jesus als dem Christus sieht, sondern zugleich in die diesbezüglichen feministischen Debatten eingeführt zu werden. Ihre Lektüreanweisung im deutschen Vorwort, ihr Buch sei »weder ein zusätzliches Werk über den historischen Jesus noch ein systematischer Entwurf feministischer Christologie« (9) erweist sich aber als Understatement, denn ihr Schreibverfahren ist zwar tatsächlich »engagiert und verbindlich« aber kaum »vielfältig, inklusiv und offen« (280): in ihre Kritik an traditionelle und feministische Diskurse über Jesus Christus in Exegese und Theologie allgemein ist als durchgehender Faden ihre eigene Sichtweise des historischen Jesus, der ganz der traditionellen Denkweise der Verfallstheorie verpflichteten Theorie der Verfälschung des Ursprungs und der daraus folgenden systematischtheologischen Konsequen.zen eingeflochten. Der von Schüssler Fiorenza konstruierte Ursprung ist die »frühchristliche Sophialogie« (217), ein Ableger »frühjüdischer Weisheitstheologie« (202). Da die Exklusivität Jesu Christi Schüssler Fiorenza zufolge kyriarchalen Denkmustern verpflichtet ist, konstruiert sie den reinen Ursprung der Sophialogie gemeinsam um Johannes den Täufer und den historischen Jesus, die sie kurzerhand beide zu Propheten »ihrer gnädigen Sophia-G''tt« erklärt. Dieser »Sophialogie« (212) kommt die soteriologische Kraft zu, nicht Jesus Christus. Die Bewegung um Johannes und Jesus ist die in das Frühchristentum projizierte Frauen-Ekklesia: eine radikal demokratische Ekklesia der Frauenweisheit nordamerikanischer Prägung (vgl. z.B. 140). Mittels literarkritischer Hypothesen »gräbt« Schüssler Fiorenza diesen »reinen Ursprung« frei: »Ich möchte [...] argumentieren, daß für die Q- Leute diese prophetische Tradition eine offene, fortdauernde Tradition darstellt. Jesus von Nazareth, den sie als herausragenden Propheten der Sophia verstanden, schließt diese Tradition nicht ab, sondern belebt sie. Als Kind von Sophia-G': •tt steht Jesus in einer langen Folge von Prophet-Innen, die die Kinder Israels sammeln wollen zu ihrer gnädigen Sophia- G': •tt. Wie einige der anderen Propetinnen, Frauen und Männer, die ihnen vorausgingen, wurden Johannes der Täufer und Jesus als Gesandte der göttlichen Weisheit verfolgt und getötet.« (214) 79 Der Buchrücken faßt dann die Verfallstheorie Schüssler Fiorenzas treffend zusammen: »Die Weisheit der Frauen, durch Jesus als Propheten in das Neue Testament eingedrungen, verschwand bald hinter der männlichen Sprache theologischer Reflexion.« Im Buch heißt das: »Die Einführung der Vater-Sohn- Sprache in die frühchristliche Sophialogie ist aufs engste mit einer theologischen Exklusivität verbunden, die die Offenbarung auf wenige Erwählte beschränkt und die Grenzen der Gemeinde-Identität zwischen Eingeweihten und Außenstehenden zieht. Wie die offenbarende Auferstehungsformel versucht sie die Autorität der Mächtigen zu stützen, die zu Mittlern der Offenbarung G''·ttes erwählt wurden.« (217f.) Die theologische Funktion der Christologie übernimmt bei Schüssler Fiorenza die Sophialogie. Der historische Jesus wird zur Funktion der Sophialogie. Die Soteriologie übernimmt die Frauen-Ekklesia. Damit bürdet Schüssler Fiorenza der Frauenkirche eine für Menschen untragbare, niederdrückende und ganz und gar nicht befreiende Last auf, nämlich das Heil »für jede Frau und jeden Mann ohne Ausnahme« (281) zu leisten. Jesus, Miriams Kind, Sophias Prophet ist bei Schüssler Fiorenza in keinster Weise mehr der Christus. Christologie wird bei dieser Argumentation eliminiert und bestenfalls zur ,Christologie,. Konsequenterweise schließt das Buch dann auch mit einem Kapitel, daß sich der Mariologie als Kehrseite der »Christologie« widmet. Die Schreibweise Schüssler Fiorenzas ist die der auktorialen Erzählerin, eine Neuauflage »der großen Erzählungen« Q.-F. Lyotard, Das postmoderne Wissen, 1986, 54) vom reinen Anfang und den aufgedeckten Verfälschungen, die über den Ort außerhalb der Erzählung ihre Allwissenheit als ÜBER-Blick le- 80 g1t1m1ert. Ihr Meisterinnendiskurs lädt über weite Strecken nicht zu einer gemeinsamen Diskussion ein, sondern verweist »jede Frau und jeden Mann ohne Ausnahme« (281), die nicht das historisch-kritische feministisch-befreiungstheologische Konzept der Autorin befürworten, dem Bereich des kyriarchalen Herrschaftsdenkens zu und nicht selten wird Andersdenkenden zugleich die Wissenschaftlichkeit abgesprochen. Die uneingestandene Metatheorie, die ihre Geschichtskonstruktion erzeugt, ist weder eine kritische feministische Befreiungstheologie, noch eine semiotisch und kulturtheoretisch sensibilisierte gender-Theorie und schon gar nicht eine Denkfigur, die man als Dekonstruktion bezeichnen könnte. Das alles wäre weiterführend und vielleicht sogar befreiend, wie der ebenso informative wie anregende Abschnitt Feminist and Womanist Criticism, in: The Bible and Culture Collective, The Postmodern Bible, 1995, 225-271, oder der kurze aber neue Perspektiven eröffnende Aufsatz Feminist Thoeries and Exegesis von Tina Pippin, in: S. Alkier, R. Brucker (Hg.), Exegese und Methodendiskussion, TANZ 23, 1998, 271-280 (dort weitere interessante Literatur zum Thema) zeigen. Die Metatheorie, die die Geschichtskonstruktion und damit die Christologie Schüssler Fiorenzas erzeugt, ist vielmer eine Variante der stereotypen, ermüdenden, patriarchalen Theorie vom reinen Ursprung und seinem Verfall, wie sie im abendländischen Denken immer wieder bemüht wurde und ihre bis heute wirksame Ausprägung im Rahmen historisch-kritischer Exegese im 19.Jahrhundert fand. Befreiend finde ich das nicht. HOMOSEXUALifÄT .... ALS SCHOPFUNGS„ E~FAHRUNG Martin Steinhäuser Homosexualität als Schöpfungserfahrung Ein Beitrag zur theologischen Urteilsbegründung 482 Seiten. Gebunden mit Schutzumschlag. DM 98,- / öS 715,- / sFr 89,- ISBN 3-7918-2141-5 Seit Jahren sorgt der Streit in der Kirche über ihre Einstellung zu Homosexuellen und zur Homosexualität für Schlagzeilen. Immer mehr Pfarrer und kirchliche Mitarbeiter kommen aus ihrer Deckung und bekennen offen, schwul zu sein und so auch leben zu wollen. Damit kommt die Kirche bis heute nicht klar, und auch die wissenschaftliche Theologie hat noch keine konsensfähigen Positionen erarbeitet. In diesem Streit führt Martin Steinhäusers Untersuchung einen entscheidenden Schritt weiter. Er reflektiert nicht nur kritischdifferenziert den aktuellen Erkenntnisstand, sondern legt auch von einem erfahrungs- und schöpfungstheologischen Ansatz her den Grund für eine »Theologie der Homosexualität«, die es bisher nicht gab. Quell Verlag Stuttgart ZNT 2 (1998) NEU BEI MOHR: Das Neue Testainent Spiegel al<tueller Forschung • llll Frarn; : ois Vouga An die Galater Frarn; ois Vouga bietet in diesem Kommentar eine theologische, philologische und historisch-kritische Auslegung des Galaterbriefes. Er setzt sich mit der neueren Diskussion um die paulinische Theologie und neuen literaturwissenschaftlichen Ansätzen auseinander. 1998. Ca. 180 Seiten (Handbuch zum Neuen Testament 10). ISBN 3-16-147002-8 Broschur DM 68,-/ öS 496,-/ sFR 62,-; ISBN 3-16-147972-0 Leinen DM 128,-/ öS 934,-/ sFR 109,- (September) Martin Hengel Judaica, Hellenistica et Christiana Kleine Schriften II Mit diesem zweiten Band der Kleinen Schriften setzt Martin Hengel seine Aufsätze und Studien zur jüdischen Geschichte, Religion und Literatur in ihrem hellenistischen Kontext fort. 1998. Ca. 460 Seiten (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 109). ISBN 3-16-146847-3 Leinen ca. DM 250,-/ ca. öS 1820,-/ ca. sFR 220,- (September) Martin Hengel / Anna Maria Schwemer Paulus zwischen Damaskus und Antiochien Die unbekannten Jahre des Apostels mit einem Beitrag von Ernst Axel Knauf Zwischen der Berufung des Paulus und dem Apostelkonzil liegen seine ,unbekannten Jahre'. Durch intensive Quellenarbeit gelingt es den Autoren, ein anschauliches Bild dieser für Paulus und das früheste Christentum entscheidenden Jahre zu zeichnen und damit die Frühgeschichte des Urchristentums ganz neu zu erhellen. 1998. Ca. 520 Seiten (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 108) ISBN 3-16-146749-3 Leinen DM 198,-/ öS 1445,-/ sFR 169,- (September) Franz Mußner Jesus von Nazareth im Umfeld Israels und der Urkirche Gesammelte Aufsätze Herausgegeben von Michael Theobald Welche Konsequenzen hatte die jüdische Abstammung Jesu auf sein Wirken und sein Umfeld? Mit seinen gesammelten Aufsätzen zu diesem Thema leistet Franz Mußner einen Beitrag zum christlich-jüdischen Dialog. 1998. Ca. 410 Seiten (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament). ISBN 3-16-146973-9 Leinen ca. DM 160,-/ ca. öS 1170,-/ ca. sFR 140,- (September) Jörg Frey Die johanneische Eschatologie Band II: Das johanneische Zeitverständnis Wie geht das Johannesevangelium mit dem Erzählfaktor Zeit um? Im zweiten Band seines dreibändigen Werkes zur johanneischen Eschatologie untersucht Jörg Frey das johanneische Zeitverständnis. Er stellt die Diskussion um die umstrittenen eschatologischen Aussagen auf eine breitere philologische Grundlage 1998. Ca. 320 Seiten (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament). ISBN 3-16-146845-7 Leinen ca. DM 170,-/ ca. öS 1240,-/ ca. sFR 150,- (August) Petri Luomanen Entering the Kingdom of Heaven A Study on the Structure of Matthew's View of Salvation Petri Luomanen argues that Matthew's view of salvation is a combination of traditional Jewish ideas about God's covenant with Israel and a new Christian faith in the Lord Jesus as a prerequisite for salvation. 1998. XII, 343 Seiten. (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 2. Reihe 101) ISBN 3-16-146940-2 fadengeheftete Broschur DM 118,-/ öS 861,-/ sFR 101,- Geoffrey R. Treloar Lightfoot the Historian The Nature and Role of History in the Life and Thought of J.B. Lightfoot (1828-1889) as Churchman and Scholar This is the first full length scholarly treatment of the life and work of J.B. Lightfoot. Using ! arge quantities of unpublished sources Geoffrey R. Treloar presents a picture of Lightfoot in relation to the social and cultural conditions of his day and explains the breakthrough he achieved for the higher criticism of the New Testament in the English Church. 1998. XIII, 465 Seiten (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 2. Reihe 103). ISBN 3-16-146866-X fadengeheftete Broschur DM 128,-/ öS 934,-/ sFR 109,- Mohr Siebeck http: / / www.mohr.de Bücher zur Theologie. Im Radius-Verlag Kurt Marti Von der ----- Weltleidenschaft Gottes ------- Radius Staunen, Lust, Schmerz, Vielfalt des Glaubens, das Geheimnis, der Name, Passion, Ostern, Pfingsten, Liebe - Themen der Denkskizzen des Schweizer Dichterpfarrers Kurt Marti. Rund 200 prägnante Kurztexte, die der Sprach- und Bedeutungslosigkeit heutiger Theologie entgegenwirken und vor allem einen Weg weisen wollen: nicht wie oder woran man glauben soll, sondern wie man im Kontext gegenwärtiger Fragen von und an Gott denken kann. 100 Seiten, Broschur, 29 DM Vorträge und Predigten eines engagierten Lutheraners: Christian Krause, Landesbischof der Evang.-Luth. Kirche in Braunschweig und Präsident des Lutherischen Weltbundes. Die Themen: Perspektiven des deutschen Protestantismus, die Rolle der evangelischen Kirche in der Gesellschaft, die Verantwortung vor der Geschichte, ohne die es keine Zukunft gibt. Mit einem Vorwort von Manfred Stolpe und einer Einführung von Karl-Wilhelm Lange. 208 S., Hardcover, 32 DM Predigen in Israels Gegenwart heißt: die leidvolle Geschichte der christlich-jüdischen Beziehungen erinnern, das Verhältnis von Christen und Muslimen reflektieren und der Frage nachgehen, was wir als Angehörige der drei großen monotheistischen Religionen voneinander lernen können. Zum l00jährigen Bestehen der Erlöserkirche in Jerusalem ein Band mit Predigten des Propstes der deutschsprachigen Auslandsgemeinde Karl-Heinz Ronecker. 176 S., Br., 29 DM Paulus: Überwinder zügelloser Heiden und Juden? Oder Begründer einer zweitausendjährigen christlichen Sexualethik? Weder noch denn die paulinische Sexualethik ist von Grundannahmen bestimmt, die der Apostel vor allem mit seinen Zeitgenossen teilte und die der Gegenwart fremd geworden sind. Der junge Hamburger Theologe Holger Tiedemann formuliert die Frage neu: Wie kann eine christliche Sexualethik heute aussehen? 420 Seiten, Broschur, 68 DM Das neue Buch des bekannten Praktischen Theologen Rudolf Bohren gibt einen einzigartigen Einblick in die vielfältige Welt der Sehnsucht und des Glaubens: Ein kleines Universum voller Wunder und Kuriositäten - Anekdoten, philosophische und theologische Assoziationen -, voller Weisheit und Poesie. Ein faszinierendes Buch, das die Leser mit Staunen und Freude erfüllt, das lachen und weinen macht und mehr wirkt als 100 Predigten. 192 Seiten, Hardcover, 29 DM Gerhard Marcel Martin DasThomas- Evangelium Ein spiritueller Kommentar Radius In seinem neuen Buch bahnt der Marburger Praktische Theologe Gerhard Marcel Martin eine methodisch ausgewiesene Lektüre des Thomas-Evangeliums an. Unter Anknüpfung an den längst vergriffenen Band Werdet Vorübergehende zeigt er auf tiefenpsychologischem und textanalytischem Weg, wie sich ein religiöser Text für die Gegenwart erschließen läßt und Lebens- und Glaubenspraxis zusammengebracht werden können. 336 Seiten, Broschur, 58 DM Neue Prospekte beim Radius-Verlag • OlgastraBe 114 · 70180 Stuttgart · Tel 0711. 607 66 66 · Fax 607 55 55