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ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
61
2000
35 Dronsch Strecker Vogel
1 .; N ... L'- C/ ) - 1 Lti 0, r- "t .- N Cl)N : O in -M •.oot "t „ Nz : E (/ ) c! ! ? Heft 5 • 3. Jahrgang (2000) ZEITSCHRIFT ,~ NEUES TESTAMENT Das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft Herausgegeben von Stefan Alkier, Kurt Erlemann, Roman Heiligenthal Christopher Grundmann lnterr eligiöser Dialog und Neues Testament - Eine Orientierung Tovia Ben-Chorin Warum lesen Juden das Neue Testament? Hans-Christoph Goßmann Ist vom Neuen Testament her ein christlich-islamischer Dialog möglich? Werner Kahl Zur Interpretation des Neuen Testaments im sozio-kulturellen Kontext Westafrikas Stefan Alkier Fremde Welten verstehen lernen. Semiotische Bausteine einer interkulturellen Hermeneutik für die religionsgeschichtliche und religionsdialogische Arbeit Fordert das Neue Testament die Absolutheit des Christentums? Jörg Frey versus Peter von der Osten-Sacken Buchreport Stefan Alkier Kurt Erlemann Roman Heiligenthal Klaus Bergcr Peter Busch Axel von Dobbeler Dirk Frickcnschmidt Gabriele Faßbeck Matthias Klinghardt Günter Röhser Markus Sasse Jens Schröter Manuel Vogel Bernd Wandcr Jürgen Zangenberg Universität Koblenz-Landau Fachbereich 6: Philologie Institut für Ev. Theologie Prof. Dr. Roman Heiligenthal Im Fort 7 · D-76829 Landau Zuschriften, Beiträge und Rezensionsexemplare werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Verpflichtung zur Besprechung unverlangt eingesandter Bücher besteht nicht. Jutta Silbereisen, Tel.: 0 70 71/ 9797-31 Die ZNT erscheint halbjährlich (April und Oktober) Einzelheft: DM 24,- / öS 175,- / sFr 24,zuzügl. Versandkosten Bezugspreis jährlich: DM 48,- / öS 350,- / sFr 46,- Vorzugspreis für Studenten (Immatrikulationsbescheinigung beifügen) jährlich: DM 38,- / öS 277,- / sFr 38,- © 2000 · A. Francke Verlag Tübingen· Basel Alle Rechte vorbehalten ISSN 1435-2249 ISBN 3-7720-9904-1 Umschlagentwurf: Werner Rüb, Bietigheim-Bissingen. Satz: Martin Fischer, Reutlingen. Druck: Gulde, Tübingen. Bindung: Nädcle, Nehren. Christopher Grundmann Interreligiöser Dialog und Neues Testament - Eine Orientierung . . . . . 2 Tovia Ben-Chorin Warum lesen Juden das Neue Testament? . . 11 Hans-Christoph Goßmann Ist vom Neuen Testament her ein christlich-islamischer Dialog möglich? ..... 21 Werner Kahl Zur lnterpretation des Neuen Testaments im sozio-kulturellen Kontext Westafrikas ... 27 Stefan Alkier Fordert das Neue Testament die Absolutheit des Christentums? Einleitung zur Kontroverse .............. 36 Jörg Frey Die »Absolutheit des Christentums« und die EinzigkeitJesu Christi ........... 37 Peter von der Osten-Sacken Absolutheit und Absolutheitsanspruch des Christentums - Kritische Überlegungen mit dem Neuen Testament ............... 44 Stefan Alkier Fremde Welten verstehen lernen. Semiotische Bausteine einer interkulturellen Hermeneutik für die religionsgeschichtliche und religionsdialogische Arbeit ........... 49 Günter Röhser Anton Vögtle, Biblischer Osterglaube ..... 56 Kurt Erlemann Wilfried Eckey, Das Markusevangelium .... 59 A. Francke Verlag Tübingen und Basel · Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Telefon: 0 70 71/ 9797-0 · Fax: 0 70 71 / 7 52 88 Internet: http: / / www.francke.de · E-mail: narr-francke@t-online.de Das neue Themenheft dient in besonderer Weise dem Grundanliegen der ZNT, einen Brückenschlag zwischen neutestamentlicher Wissenschaft und kirchlich-schulischer Praxis zu leisten. Sowohl für den schulischen Religionsunterricht als auch für den Alltag der Gemeinden und des individuellen Christseins in unserer multikulturellen Gesellschaft ist die Begegnung mit anderen Religionen, mit Menschen anderen Glaubens ein zentraler Aspekt der Wirklichkeit geworden. Damit echte Begegnung möglich wird und ein bloßes Aufeinanderprallen von Wahrheitsansprüchen ebenso vermieden wird wie ein gleich-gültiges Aufgehen der verschiedenen Traditionen in einer versteckt totalitären Einheitskultur, ist es notwendig, die anderen kennen und verstehen zu lernen und auch den eigenen Standpunkt im Gegenüber anderer Religionen neu zu bedenken. Die neutestamentliche Wissenschaft hat ihren Beitrag zu dieser Aufgabe zu leisten, indem sie die Stellung des Neuen Testaments im interreligiösen Dialog der Gegenwart bedenkt und auch Gelehrte anderen Glaubens zu diesem Thema befragt. Christopher Grundmann führt in das Thema informativ ein. Der Züricher Rabbiner Tovia Ben-Chorin zeigt in einem geschichtlichen Durchgang auf, aus ZNT 5 (3. Jg. 2000) welchen Gründen einige Juden das Neue Testament lesen - und warum sie es in ihrer überwiegenden Mehrheit nicht lesen. Hans-Christoph Goßmann weist auf Perspektiven des christlich-islamischen Dialogs hin, die sich aus der Lektüre des Neuen Testaments ergeben. Der in Ghana lebende und lehrende Werner Kahl zeigt auf, was die westliche Bibelwissenschaft aus dem Dialog mit afrikanischen Religionen lernen kann. Stefan Alkier führt in ein kultursemiotisches Denkmodell ein, dessen Einsichten für die religionsgeschichtliche und die religionsdialogische Arbeit, aber auch für den schulischen und kirchlichen Alltag hilfreich sein wollen. Jörg Frey und Peter von der Osten-Sacken nehmen aus verschiedenen Positionen Stellung zu der für den Dialog mit anderen Religionen unumgänglichen Frage, ob das Neue Testament die Absolutheit des Christentums fordert. Günter Röhser stellt im Buchreport Anton Vögtles Buch Biblischer Osterglaube. Hintergründe - Deutungen - Herausforderungen, vor. Wenn Sie, liebe Leserinnen und Leser, Anregungen, Kritik oder Themenwünsche haben, so teilen Sie es uns bitte mit. Wir freuen uns auf Ihre Zuschriften. Stefan Alkier Kurt Erlemann Roman H eiligenthal 1 Christopher Grundmann lnterreligiöser Dialog und Neues Testament - Eine Orientierung 1. Zur Profilierung der Problemstellung Ende des 20. Jahrhunderts ist der interreligiöse Dialog kein Insiderthema mehr, wie er es über Jahrhunderte gewesen war. Die internationale Migration, die Globalisierung der Märkte, des Handels und des Tourismus sowie die immer engmaschiger werdende Vernetzung im Internet haben dazu geführt, daß mehr und mehr Menschen verschiedener Kulturkreise immer häufiger, gewollt oder ungewollt, miteinander in Kontakt treten. Selbst von politischer Seite wird dem Dialog zwischen den Religionen heute höchste Priorität zuerkannt, vor allem seit Mitte der neunziger Jahre Samuel P. Huntington den >Clash of Civilizations< der unterschiedlichen, wesentlich religiös bestimmten Kulturkreise prognostizierte, dem in den Schaltzentralen der Macht große Aufmerksamkeit geschenkt wird. 1 Kontakte mit Menschen fremder oder anderer Kulturen hat es immer schon dort gegeben, wo verschiedene Kulturkreise aufeinander stießen, nämlich an den jeweiligen territorialen Grenzen. Man wußte darum, daß die, die jenseits der Grenzen lebten, eine andere Sprache sprechen und andere Sitten und Gebräuche haben, wußte darum, daß sie einer anderen Lebensordnung, einer anderen lex folgten, (wie das, was heutzutage von dem semantischen Feld des Begriffes >Religion< abgedeckt wird, bis zum Beginn der Neuzeit am häufigsten bezeichnet wurde). 2 In den meisten Fällen arrangierte man sich diesseits wie jenseits der Grenzen nach rein pragmatischen Gesichtspunkten; denn verständlicherweise war man hauptsächlich darauf bedacht, möglichst schiedlich friedlich miteinander auszukommen. Zur Stabilisierung eines solchen modus vivendi trieb man Handel, verschwägerte sich und versuchte, auf den verschiedensten Gebieten voneinander durch den Austausch von Wissen, Kunst- und Handfertigkeiten zu profitieren, wofür besonders der mittelmeerische Raum beeindruckende Beispiele bietet. Über Jahrhunderte war hier das Leben in den Hafenstädten des europäischen, afrikanischen und 2 vorderasiatischen Festlandes sowie auf den großen Inseln - Kreta, Malta, Sizilien, Mallorca von Multikulturalität und Multireligiosität geprägt, obwohl immer auch wieder versucht wurde, die Hegemonie einer einzigen Religion und Kultur römischer Kaiserkult, Christentum, Islam zu etablieren. Kulturkreisgrenzen sind aber auch notorisch konfliktgeladen; denn das nichtverstandene Fremde stellt eine potentielle Bedrohung des Eigenen dar. Kein Wunder daher, daß es hier immer wieder auch zu kriegerischen Auseinandersetzungen kam, in deren Verlauf die bestehenden Grenzlinien nach verschiedenen Richtungen hin oft weit überschritten wurden. Das bewirkte dann praktisch die Verlagerung des bislang peripheren Kulturkontaktes in das jeweilige Kernland und in die Zentren hinein. Jedoch beschränkte sich bei sämtlichen vormodernen Kulturkontakten der interkulturelle und interreligiöse Austausch auf einen relativ kleinen Kreis, denn nur verhältnismäßig wenige waren mit dem Phänomen religiöser Pluralität unmittelbar konfrontiert. Die große Masse der Bevölkerung konnte so gut wie nichts davon in Erfahrung bringen, allenfalls durch Berichte von Kriegsleuten, Reisenden und Händlern oder über das privilegierte Studium entsprechender Bücher. Heute ist demgegenüber die Konfrontation mit dem Phänomen der Multikulturalität bei uns selbst aus dem Alltag entlegener Dörfer nicht mehr wegzudenken, und das Thema des interreligiösen Dialogs bzw. der Regelung von gut nachbarschaftlichen Beziehungen zu Menschen anderer Religionen steht immer mal wieder auf den Tagesordnungen von Gemeinden und Schulen. Diese zunächst rein quantitative Ausweitung des Problems erhält eine spezifische Qualifizierung dadurch, daß es, zumindest in unseren Breiten, gegenwärtig auf eine besondere Geisteshaltung des allgemeinen Bewußtseins trifft, die mit Stichworten wie >Postmodernismus" ,Erlebnis-< und >Optionsgesellschaft< zu charakterisieren versucht wird. Dadurch soll zum einen der definitive Verlust von einst allseits anerkannten Metaerzäh- ZNT 5 (3.Jg. 2000) Christopher Grundmann PD Dr. Christopher Grundmann, Jahrgang 1950; nach mehrjährigen Diensten in Venezuela und Indien theologischer Referent am Deutschen Institut für ärztliche Mission, Tübingen; ab 1992 Hochschulassistent für Missions-, Ökumene- und Religionswissenschaft in Hamburg; seit 1996 Privatdozent mit dem Schwerpunkt auf den Fragen des interreligiösen Dialogs. lungen und die Akzeptanz pluralistischer Positionalität angezeigt werden. 3 Zum anderen will man mit dieser Begrifflichkeit auch darauf aufmerksam machen, daß der Mensch an der Jahrtausendwende in buchstäblich allen Lebensbereichen ständig zwischen verschiedenen Optionen die Freiheit der Wahl hat eine Freiheit, die er unbedingt gewahrt wissen will -, und ebenso soll damit verdeutlicht werden, daß diese Entscheidungen in der Regel aus einem verwirrenden Angebot nach Maßgabe bestimmter, vom Markt determinierter Erlebniserwartungen gefällt werden und man auch fraglos dazu bereit ist, den hohen Preis für eine solch radikale Selbstbestimmung zu zahlen, nämlich den Verlust der ehedem als unerschütterlich gedachten letzten, tragenden Gewißheit. 4 Weil es nun aber gerade erklärtes Anliegen und spezifisch religiöses Proprium von Religionen ist, eine letzte, tragende Gewißheit zu vermitteln und erfahrbar zu machen, darum unterscheidet sich die aktuelle interreligiöse Dialogsituation, in der es um eine Verständigung über die verschiedenen Perspektivitäten geht, grundsätzlich von allen ähnlich gearteten Bemühungen früherer Zeiten, bei denen es um die überzeugende Hinführung zur ,Wahrheit< ging. Die allgemeine Disposition für das Gespräch zwischen Menschen verschiedener religiöser Herkunft hat sich grundlegend gewandelt; wird doch eine Aus- ZNT 5 (3. Jg. 2000) einandersetzung um revidierbare Konstrukte und revozierbare Entscheidungen in der Haltung prinzipiellen Selbstzweifels und dem Eingeständnis eigener Irrtumsmöglichkeit geführt, während ein Disput um differierende ,Absolutheits-< oder >Wahrheitsansprüche, 5 (besser, weil der Sache angemessener wäre es, hier von >Letztgültigkeitsansprüchen< zu sprechen) 6 geradezu zwangsläufig einen Machtkonflikt impliziert, der nur durch die Haltung der Toleranz, d.h. der Duldung und des Gewährenlassens entschärft werden kann. Eine solche Haltung, die erst im Gefolge der Reformation in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts europaweit aufkeimte und in sogenannten ,Toleranzedikten< einen ersten staatsrechtlichen Niederschlag fand, in der philosophischen >Toleranzbewegung< des 17. Jahrhunderts 7, vollends aber in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts mit der Ringparabel in Lessings >Nathan der Weise< als populärstem Dokument zum Allgemeingut mitteleuropäischer Geistesgeschichte wurde, setzt allerdings Zweierlei voraus, nämlich zum einen eine sich durch das Fremde nicht bedroht fühlende Sicherheit8, zum anderen ein Höchstmaß an öffentlich gewährter und verbriefter Freiheit. Die aus dem Mittelalter bekannten, meist publikumswirksam inszenierten Religionsdisputationen der lateinischen, weströmischen Kirche z.B. mit Vertretern des Judentums in Paris (1240), Barcelona (1263), Mallorca (1286), Tortosa (1413/ 14) und an anderen Orten, waren keine echten Dialoge, sondern oftmals inquisitorische Verhöre und herrscherlichautoritäre Versuche zur Integration divergierender Bevölkerungsgruppen; ähnliches galt für die Religionsgespräche im Osten, die ab dem 7. Jhdt. meist den Islam zum Gegenüber hatten bzw. unter den Auspizien moslemischen Herrscher geführt wurden. 9 Zur Argumentationshilfe bei solcherart Religionsdisputen wurden, übrigens in allen Religionsgemeinschaften jener Zeit, apologetische Katechismen publiziert, die, weil sie darüber hinaus auch das Anliegen der Vergewisserung der eigenen Tradition hatten, natürlich von jeweiligen ,Schriftbeweisen< aus Tenach und Talmud bzw. aus AT und NT oder aus Koran und Sunna geprägt waren. Doch außer in den öffentlichen Schaudialogen galten derlei Schriftbeweise im interreligiösen Gespräch nur wenig. Auf der literarisch-philosophischen Ebene, wie z.B. in Gregor bar Hebraeus 3 ,Leuchter des Heiligtums< (1264), Ibn Kammunas ,Untersuchung der drei Religionen/ Glaubensweisen< (1280) und Nikolaus von Kues' ,De pace fidei, von 1453, wurde die Berufung auf die je eigene Tradition und ,Heilige Schrift< zugunsten einer vernünftigen Argumentation bzw. der Argumentation aus Vernunftgründen zurückgestellt, gelegentlich sogar ausdrücklich untersagt. So verständigen sich im ,Buch vom Heiden und den drei Weisen< des großen mittelalterlichen mallorcinischen Religionstheologen Ramon Lull (1232-1316) die drei Vertreter der monotheistischen Religionen, eben jene ,drei Weise< darauf, daß sie, weil sie »mit Hilfe von Autoritätsbeweisen zu keiner Übereinstimmung gelangen« könnten, durch »zwingende Vernunftgründe (rationes necessariae) eine Übereinstimmung versuchen« wollten 1°. Unter dieser Voraussetzung hatte es auch Lulls etwas älterer und berühmterer Zeitgenosse Thomas von Aquin (ca. 1225-1274) in seiner ,Summa contra Gentiles< unternommen, eine Verständigung zwischen den Religionen herbeizuführen. 11 Vernunft und Intelligenz, nicht Schriftbeweise sollten die hinreichenden Gründe dafür liefern, sich mit Vertretern fremder Religionen über die ,rechte< bzw. (einzig) >wahre< Religion zu verständigen; denn der rechte Gebrauch von ratio und intelligentia, so die herrschende Überzeugung der Scholastiker, werde schon zur Erkenntnis ,der Wahrheit< führen. Dahinter stand die Überzeugung, daß nur die Berufung auf eine universal gültige anthropologische Gegebenheit wie eben die der Vernunft, als wirklich gemeinsame Basis eines solchen Dialogs taugt. Alles andere wäre ein Zeichen unzulässiger Voreingenommenheit. Daraus resultierten dann auch spezifische Dialogthemen. So bezogen sich strittige Fragen im Gespräch mit den Juden z.B. weniger auf den Tenach als vielmehr auf den Talmud und natürlich auf den Messias, nämlich ob er göttlicher oder menschlicher Natur sei und ob er in Christus schon gekommen sei, oder ob sein Kommen noch ausstehe. Während für die Christen diese Frage längst entschieden war, verwiesen die jüdischen Rabbinen immer wieder darauf, daß der Messias noch nicht gekommen sein kann, da mit seinem Kommen das Friedensreich auf Erden anbrechen würde, von dem aber noch nichts zu vernehmen sei. Auch wurde darüber disputiert, wer denn nun den richtigen, den »wahren Glauben« habe bzw. der »wahren 4 lex« folge. 12 - Strittige Fragen mit den Muslimen betrafen das Schrift- und Prophetenverständnis, die Trinität, die Inkarnation sowie die Gottessohnschaft J esu Christi, der ja im Koran ganz pointiert immer als ,Sohn der Mirjam< (Maria), nie als ,Sohn Gottes< bezeichnet wird; denn eine der übelsten Gotteslästerungen nach muslimischen Verständnis ist die >Beigesellung< einer weiteren Person zu dem ,einen Gott<, Allah. Trotz vieler, heute in manchem obsolet gewordener Streitfragen früherer Zeiten sollte aber nicht übersehen werden, daß bei den meisten der Wortführer mittelalterlicher Religionsdisputationen ein sehr ausgeprägtes Bewußtsein für exegetische und hermeneutische Fragen bestand. Die Kenntnis der Sprache des Gegenübers sowie die Fähigkeit, die umstrittenen religiösen Zeugnisse in ihrer Originalsprache lesen und interpretieren zu können, galten als selbstverständliche Voraussetzung für alle ernsthaften Bemühungen. Bereits im Blick auf die frühchristliche Polemik gegen die Juden wie sie z.B. inJustins ,Dialog mit dem Juden Tryphon< aus dem 2. Jhdt. begegnet, wurde von jüdischer Seite die fehlende Vertrautheit mit den sprachlichen Voraussetzungen, d.h. die mangelnde Kenntnis des Hebräischen und Aramäischen beklagt. 13 Zur Entkräftung dieses Vorwurfs ließ sich deswegen Raymund Martini OP (ca. 1220-1286) im Vorwort seiner noch den Antisemitismus des 19. und noch des frühen 20. Jahrhundert beeinflussenden unseligen Schrift ,Pugio Fidei adversus Mauros et Judaeos< (Glaubensdolch gegen Muslime und Juden, 1278) diesbezüglich folgendermaßen vernehmen: »Im übrigen will ich bei der Anführung der Autorität des Textes überall einen vom Hebräischen her gewonnenen und nicht der Septuaginta oder einem anderen Übersetzer folgen; und, was als Zeichen noch größerer Anmaßung scheinen wird, ich werde hierbei nicht einmal Hieronymus meine Verehrung erweisen ... , damit ich die Wahrheit der Dinge, die bei den Hebräern sind, Wort für Wort, so oft dies gewährleistet werden kann, übertrage. Durch dies nämlich wird den falschredenden Juden ein breiter und geräumiger Rückzugsweg abgeschnitten, und sie werden keineswegs sagen können, die Wahrheit sei nicht so bei ihnen belegt, wie sie von unseren Leuten nach meiner Übersetzung gegen sie angeführt werden wird.« 14 Auch in den von der Byzantinischen Kirche mit dem Islam geführten Gesprächen wie z.B. dem Dialog des Gregor Pala- ZNT 5 (3. Jg. 2000) mas, des damaligen Metropoliten von Thessaloniki mit islamisierten Juden in Nicäa von 1345 15 oder im Dialog des Kaisers Manuel II Palaiologos mit Sultan Bayezid I von 1391 wurde immer wieder die sprachliche Kompetenz eingefordert, etwas, dem heutzutage allgemein meist nur eine auffällig untergeordnete Bedeutung zugemessen wird. Mit Englisch als lingua franca wird man nicht sehr weit kommen, will sagen: nicht sehr tief in das Selbstverständnis einer fremden Religion eindringen können. Das sollte nachdenklich stimmen, ist doch der Dialog wesentlich ein Sprachgeschehen und sind fremde bzw. andere Religionen, im Unterschied zu Konfessionen und Sekten, charakteristischerweise in je eigenen Sprachwelten heimisch. 2. Die gegenwärtige Situation Wie bereits in den Jahrhunderten zuvor, so läßt sich auch in der gegenwärtigen Dialogsituation kein Kanon bevorzugter biblischer Texte ausfindig machen; denn primär sind die Dialoge themen-, nicht textorientiert. Dabei spielt natürlich die auf jahrhundertelanger Überlieferung beruhende, spezifisch geprägte Lebensweise und das sich daraus herleitende, in den jeweiligen Heiligen Schriften artikulierende Selbstverständnis der Dialogpartner eine entscheidende Rolle. Dieses Selbstverständnis kann z.B. dazu führen, daß man sich grundsätzlich dem Dialog verweigert, und das nicht aus spontannaiver, etwa ängstlicher Abwehr der fälligen Auseinandersetzung mit dem Fremden, sondern aus zutiefst religiösen Gründen: Sind doch diejenigen, mit denen man in ein interreligiöses Gespräch eintritt, bekanntermaßen Ungläubige, d.h. Menschen, die z.B. nach orthodoxer moslemischer Auffassung nicht zur Umma als der >besten aller Gemeinschaften< gehören, die auch nicht den Koran als die vollkommene Offenbarung Gottes noch Mohammed als >das Siegel der Propheten< anerkennen. Christen wissen sich bei solchen Gelegenheiten Fremden gegenüber, die Jesus Christus nicht als die verbindliche, einzigartige Offenbarung Gottes gelten zu lassen vermögen, und Juden haben sich mit denjenigen an einen Tisch zu setzen, denen das Bewußtsein für die göttliche Auserwählung sowie die brennende Hoffnung auf den kommenden Messias wenig bedeutet. Mit anderen Worten: Gerade religiös denkende und empfindende Zeitge- ZNT 5 (3. Jg. 2000) Cinistopher Grundmann lntene! igiöser Dialog und Neues Testament nossen werden sich aus dem lebendigen Gespür für Blasphemie dem interreligiösen Dialog, wenn überhaupt, nur sehr zurückhaltend öffnen 16 oder dazu tendieren, sich fundamentalistisch gesinnten Kreisen zuzuneigen. 17 Anders freilich steht es mit genuinen Mystikern, und wiederum anders mit religiösen Theoretikern. Während den Mystikern in Ost und West deutlich ist, daß das in der unio mystica von ihnen erfahrene Letzte nicht mehr sagbar ist, weil es alles vernünftige Begreifen übersteigt, und gemäß buddhistischer Auffassung, gestaltwie formlos ist, so daß man verstummen muß, besteht seitens der Religionstheoretiker ein unbändiges Interesse daran, die empirisch erfahrbaren Unterschiede in Lehre und Leben der verschiedenen Religionen mittels eines bestimmten Denkmodells in ein verhältnismäßig schlüssiges System zu bringen. Dabei wird selbstredend vorausgesetzt, daß >Religion< mit ,Religion< zumindest in entscheidenden Punkten kompatibel sei. Das ist allerdings deswegen fraglich, weil der Religionsbegriff ein Konstrukt mitteleuropäischer Geistesgeschichte ist, der sich so in anderen >Religionen< nicht findet. Im Islam könnten etwa die nichtarabischen Termini >milla< (Religionsgemeinschaft) oder das in diesem Zusammenhang häufiger verwendete ,din< (Sitte, Weisung, Vergeltung, Gericht, Gehorsam, Unterwerfung) als Synonyme dienen 18; im Judentum vielleicht ,berith< (,Bund<), wobei dies natürlich insbesondere den »mit einem Opfer besiegelten Bundesschluß« am Sinai meint, durch den Israel einst zum >Volk Gottes< wurde. 19 Und im Blick auf die gewöhnlich unter der Sammelbezeichnung>Hinduismus< laufenden indischen Religionen wie Shivaismus, Vishnuismus und Shaktismus wäre an das bedeutungsschwere Sanskrit Wort ,dharma< (Pflicht, Recht, Ordnung, Wesen, Gerechtigkeit, Tugend) zu denken, dessen Bedeutungsspektrum aber auch die Grund-,Ordnung< jeglichen Lebens und, als >sanatana dharma< das >ewige Weltgesetz< meint. In diesen Begrifflichkeiten kommt ein je eigenes und typisches Selbstverständnis zum Tragen, das nur teilweise in dem uns geläufigen Terminus ,Religion< aufgenommen ist. Das führt zwangsläufig zu Verkürzungen in der gegenseitigen Wahrnehmung. Über ein in dieser Hinsicht höchst aufschlußreiches Erlebnis berichtete einmal der frühere Hamburger Ordinarius für Religions-, Missions- und Ökumenewissenschaft, Hans Jo- 5 chen Margull, der an dem vom Ökumenischen Rat der Kirchen initiierten multilateralen Dialog zwischen Buddhisten, Hindus, Moslems, Juden und Christen im April 1974 in Colombo, Sri Lanka, teilgenommen hatte. 20 Bei diesem Anlaß mußte er mit den übrigen Teilnehmern ernüchternd feststellen, daß nicht einmal »ein gemeinsames Element« zwischen ihnen habe ausfindig gemacht werden können, und das betraf nicht nur das Verständnis von >Religion<, sondern, überraschenderweise, auch das des so unverfänglich erscheinenden Begriffes der >Spiritualität<. An diesem Punkt sei in Colombo »überhaupt die Möglichkeit jeglicher interreligiösen Gemeinsamkeit fraglich« geworden, weshalb der Dialog hier »zum Schweigen führte«, allerdings zu einem »gemeinsamen Schweigen«. 21 In der aktuellen Diskussion um den interreligiösen Dialog sind die unterschiedlichen Haltungen als ,exklusivistisch<, ,inklusivistisch, oder ,pluralistisch< typisiert 22 und verschiedene Modelle vorgeschlagen worden, die man als Schnittmengen-, Kegel- und Parzellenmodell bezeichnen könnte. 23 Das Schnittmengenmodell geht davon aus, daß zwischen den ,Religionen< trotz ihrer augenfälligen Verschiedenheit und mancherlei Ähnlichkeiten eine allen gemeinsame Schnittmenge, nämlich so etwas wie eine »natürliche« oder »wahre Religion« existiert, die im interreligiösen Dialog als gemeinsamer Nenner zu thematisieren sei und den eigentlichen Grund für das gemeinsame Gespräch zwischen den Religionen repräsentiere. Das Kegelmodell zeichnet sich dadurch aus, daß es einen eher organisch-genetischen Zusammenhang postuliert, der alle ,Religionen< miteinander verbindet und diese Entwicklung in einer Spitze kulminieren läßt, an der in der Regel die eigene religiöse Tradition zu stehen kommt; denn gemäß dem exklusivistischen Verständnis ist die eigene religiöse Tradition die letztlich einzig wahre, die nichts gemein hat, nichts gemein haben kann mit all den anderen ,Religionen<. Dieses Modell vermag so dem eigenen Letztgültigkeitsanspruch bestens gerecht zu werden, doch auf Kosten der damit unvermeidlich einhergehenden Relativierung anderer solcher Ansprüche. Es ist ein deutlich wertendes Modell, das die Grundüberzeugung vieler religiöser Fundamentalisten repräsentiert. Denen zufolge hat der interreligiöse Dialog nur darin seine Berechtigung und kann auch darin nur bestehen, daß er als Hinführung anderer zur zuvor bereits längst erkann- 6 ten ,Wahrheit< dient, im christlichen Kontext: der preparatio Evangelii, wie das folgende Zitat aus einer jüngst erschienenen Publikation deutlich macht: »Die Christenheit würde an Gott und Menschen schuldig, wenn sie den Missionsbefehl ihres Herrn mißachten ... und die Mission durch einen ,Dialog< ersetzen würde, der allenfalls eine vorbereitende oder ergänzende Rolle spielen kann.« 24 Für diese von pluralistischen Religionstheoretikern als ,exklusivistisch< bezeichnete Haltung werden neben der unspezifischen Berufung auf das »biblische Zeugnis« insbesondere neutestamentliche Texte wie z.B. Joh 3,16 (»Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen einziggeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben nicht verloren gehen, sondern ewiges Leben haben.«) und Apg 4,12 (»In keinem anderen ist das Heil, ist auch kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, darin wir sollen selig werden! «) u.ä. in Anspruch genommen; gelegentlich wird auch auf so mißverständliche Formulierungen wie >extra ecclesiam nulla salus< (außerhalb der Kirche ist kein Heil) rekurriert 25 , ohne sich dabei mit den anstehenden exegetischen und hermeneutischen Grundfragen auseinander zu setzen. So gleitet die Argumentation in einen positivistischen Schlagabtausch ab, der jeden echten Dialog zum Erliegen bringt. »Sicher beinhaltet der interreligiöse Dialog die Gefahr, daß der liebevolle Respekt vor dem nichtchristlichen Partner dazu verleitet, die eigene Position durch unbegründete Zugeständnisse auf der Ebene der Wahrheit zu relativieren und insbesondere den Anstoß erregenden unbedingten Offenbarungsanspruch Jesu preiszugeben ... Wenn der interreligiöse Dialog als Mittel zur dogmatischen Wahrheitsfindung verstanden wird und dazu dienen soll, eine den Dialogpartnern noch unbekannte übergreifende Wahrheit erst zu erschließen, dann ist diese Gefahr ... übermächtig, da der interreligiöse Dialog dann darauf zielt, die bisherige Wahrheitserkenntnis grundsätzlich zu überschreiten und insofern als nur vorläufige oder inadäquate zu überwinden«. 26 Eine solche Haltung findet sich natürlich nicht nur im innerchristlichen Bereich, sondern in allen Religionen bei den zum Fundamentalismus neigenden Kreisen. Ganz anders scheint das bei der zumeist in liberalen Zirkeln gehuldigten ,inklusivistischen< Interpretation des Kegelmodells zu sein, das den anderen ,Religionen< konzediert, Vor~LUfen der als definitiv ZNT 5 (3. Jg. 2000) erachteten, endgültigen Religion zu sein, nichts weniger, aber auch nichts mehr. Insofern die anderen Religionen Vorstufen sind, haben sie auch Anteil, realen Anteil am endgültigen Heil, dies allerdings in einer entsprechend abgestuften Weise. Zu denken wäre hier z.B. an die jüdische Lehre vom Noahbund (Gen 8,21f.) und den Hinweis auf die ,Gerechten der Völker<, oder aber auch an K. Rahners »anonyme Christen«, worunter er diejenigen Gläubigen in anderen Religionen verstanden wissen wollte, die aufrichtigen Herzens und ganz unvoreingenommen »nach Gott« fragten.27 Bei genauerem Hinsehen jedoch unterscheidet sich der exklusivistische Ansatz vom inklusivistischen nur graduell, nicht prinzipiell; denn in beiden äußert sich eine noch unerschütterte Selbstgewißheit und ein von ungebrochener Identität getragenes Selbstbewußtsein. Das läßt sich so nicht mehr für den pluralistischen Ansatz sagen. Dieser versucht nämlich der gegenwärtigen radikalen Relativierungserfahrung dadurch gerecht zu werden, daß er allen ,Religionen< Gleichwertigkeit zugesteht. Dominanz und Machtverzicht sind erklärtes Programm. Keine ,Religion< auch die eigene nicht steht höher, keine niedriger als andere. Dieser Ansatz läßt sich am besten in einem Parzellenmodell veranschaulichen, in dem jeder ,Religion< eine eigene Parzelle zukommt, ohne daß eine hierarchische Ordnung angestrebt wird. Das verhindert systematisch jegliche exklusivistische wie inklusivistische Deutung. Leidenschaftslos und um große Sachlichkeit bemüht wird so die tatsächliche Mannigfaltigkeit der multireligiösen Wirklichkeit eingefangen. Und natürlich haben in diesem Modell autoritative Schriftbeweise und -bezüge keinen Platz, sie können ihn nicht haben. Tenach, Koran und Neues Testament sind heilige Schriften unter anderen, Mohammed hat nicht den endgültigen, sondern nur einen bestimmten Willen Allahs kundgemacht; Christus ist nur »heilsrepräsentativ«, nicht »heilskonstitutiv« 28 und der Bundesschluß am Sinai ist ebenfalls lediglich ein besonders qualifizierter Ausdruck göttlichen Heilswillen unter anderen und nicht das alles entscheidende Heilszeichen. 29 Dieses so einsichtige und in seiner um vorurteilsfreie Redlichkeit bemühten Aufrichtigkeit so beeindruckende Modell ist allerdings insofern äußerst fragwürdig, da es, um der Theorie willen, die fraglos bestehenden Letztgültigkeitsansprüche der ZNT 5 (3. Jg. 2000) Christopher Grundmann lnterreligiöser Dialog und Neues Testament Religionen bagatellisieren, ja neutralisieren muß. Der britische Religionswissenschaftler John Hick, einer der Begründer der pluralistischen Religionstheorie, bemerkte dazu an hervorgehobener Stelle ganz ungeschminkt: »Der ernsthafteste Widerspruch zur pluralistischen Hypothese kommt von seiten der großen religiösen Traditionen, die jeweils eigene Absolutheitsansprüche erheben. Hier kommt es zum Konflikt. Echter Pluralismus ist nämlich unvereinbar mit Ansprüchen wie, daß es außerhalb der Kirche keine Rettung gäbe, oder außerhalb des dar al-Islam, oder des Sangha, oder außerhalb jeder anderen verbindlich lebenden menschlichen Gemeinschaft. Desgleichen ist Pluralismus unvereinbar mit dem Anspruch auf den alleinigen Besitz einer normativen Offenbarung oder gar der Wahrheit selbst, die einmal alles richten wird.« 30 Die vermeintliche Sachlichkeit des pluralistischen Modells entpuppt sich somit als faktische Auflösung des typisch religiösen Elements von Religion; denn es ist der für die Gläubigen nicht weiter zu hinterfragende jeweilige Letztgültigkeitsbezug, der Religion zu Religion macht, wobei die Rede von Letztgültigkeit nicht die Behauptung einer definitiven Gegebenheit oder eines absoluten Datums meint, sondern Hinweis ist auf das faktische Vorhandensein von unbedingt und verbindlich gelebten Beziehungen auf Letztgültiges. Diese gelebten Letztgültigkeitsbezüge variieren von ,Religion< zu ,Religion< erheblich und konstituieren das eigentliche pluralistische Problem. Dieses besteht eben nicht in dem Bewußtwerden der Vielfalt von Religionen als solchen, sondern in jenen gelebten Letztgültigkeitsbezügen, die sich bezeichnenderweise im Modus des Bekenntnisses äußern und nicht in dem des theoretischen Diskurses, der stets im unverfänglichen Bereich bloß gedanklicher Erwägungen mit ihrer Tendenz zur Unverbindlichkeit verbleibt. Letztgültigkeitsansprüche sind etwas anderes als die überwiegend kognitiv akzentuierten Wahrheitsansprüche oder ein imperialistisch bestimmter Absolutheitsanspruch. Sie entziehen sich dem wertenden und abwägenden Vergleich. Sie sind als solche zu achten, auch dann, wenn man sie selbst nicht nachvollziehen kann. Aber gerade darin liegt ja die Tiefe und Würde interreligiöser Dialoge, daß man es in ihnen nicht mit Nebensächlichkeiten zu tun bekommt, sondern mit verbindlichen, durch lange Traditionen bewährten und geschätzten Lebens- 7 entwürfen. Deren herkömmliche Plausibilitäten sind allerdings durch die gravierenden Relativierungserfahrungen mittlerweile derart erschüttert, daß sie nur noch durch den im globalen Horizont interreligiös zu führenden also echt ökumenischen - Dialog wieder neu zu gewinnen sind. Unter Anspielung auf Anselm v. Canterbury faßte ein im interreligiösen Dialog äußerst engagierter Zeitgenosse sein entsprechendes Bemühen daher in die treffenden Worte: »inter-fides quaerens intellectum zwischen verschiedenen Glaubensweisen zerrieben sucht der Glaube nach Einsicht.« 31 ; und das gilt sowohl für die jüdische als auch für die muslimische und auch die christliche Theologie. Diese können heutzutage nicht mehr intra muros als monoreligiöse Monologe betrieben werden, wenn sie denn glaubwürdig sein und bleiben wollen. Sie haben sich um ihrer Plausibilität willen dem Gespräch mit den anderen >Religionen< zu stellen, ob es ihnen paßt oder nicht. Darin liegt die große, anspruchsvolle Herausforderung dieser Zeit, eine Herausforderung, die dazu nötigt, jeweils das gesamte theologische Repertoire von Grund auf neu durchzubuchstabieren. Für die dafür christlicherseits zu leistende Arbeit z.B. am Neuen Testament kann das zu überraschenden Entdeckungen führen, von denen einige abschließend wenigstens kurz angedeutet werden sollen. 3. Neutestamentliche Perspektiven für den interreligiösen Dialog Grund und Ermutigung zum interreligiösen Dialog sind nach christlichem Verständnis in dem sich aus der Anerkennung der Geschichte göttlicher Selbsterschließung ergebenden Gottsein Gottes begründet, d.h., es gehört wesentlich mit zum christlichen Gottesverständnis, daß der lebendige Gott als der lebendige Gott aller Gotteserkenntnis voraus ist. Vor dem Hintergrund der Heilsgeschichte läßt sich das christlich motivierte Engagement für einen vorbehaltlos offenen interreligiösen Dialog als Ausdruck des festen Vertrauens in die Gegenwart des auferstandenen Christus verstehen, der sich allen zeigen wird und zeigen will, wie einst den Jüngern auf dem Weg nach Emmaus (Lk 24, 13ff) und am See Tiberias Qoh 21,lff.). Doch ist er nie sogleich als der erkennbar, der er wirklich ist, sondern begegnet immer wieder als Fremder, den 8 man so noch nicht kennt. Aber letztlich bleibt er doch nicht unerkannt. An seinem Verhalten wird er immer wieder und unverwechselbar als der gekreuzigte Auferstandene erkannt, der sich aber in dem Augenblick sogleich wieder in seine Unverfügbarkeit zurückzieht, in dem er als solcher erkannt wird. Schon die ersten Jünger wurden immer und immer wieder dazu genötigt, ihre Vorstellungen von dem, wer Gott ist und was nach seinem Willen zu tun sei, zu revidieren: sie konnten J esu Passion nicht verstehen, erst recht nicht seine Auferstehung; und als sie zur Verkündigung dieses Geschehens ausdrücklich beauftragt wurden (vgl. Mt 28,16ff.), da mußten sie feststellen, daß dieses Mandat sie dazu führte, andauernd ihre fest etablierten religiösen, ethnischen, kulturellen und sozialen Grenzen zu überschreiten. Das gab bekanntlich schon sehr früh Anlaß zu schweren Konflikten z.B. zwischen Paulus und den ,Uraposteln<, an denen die junge Gemeinde zu zerbrechen drohte, wie die Spuren dieser Auseinandersetzungen auf dem Jerusalemer ,Apostelkonvent< in Apg 15 und Gal 2 noch deutlich erkennen lassen. 32 Weil nach christlichem Verständnis der Glaube die freie menschliche Antwort auf den Ruf Gottes (vgl. Gen 3,9; 12,lff.; Röm l,16f. u.a.), also zutiefst dialogischer Natur ist, darum ist die sich solchem Glauben verdankende und sich aus ihr entwerfende Existenz nur dann wirklich authentisch christlich, wenn sie auch dialogisch gelebt wird. 33 Das bedeutet praktisch die Ermutigung zum Dialog im multikulturellen und multireligiösen Umfeld vor Ort, oder, um es mit dem inzwischen dafür etablierten terminus technicus auszudrücken: zur Konvivenz 34, ohne die dabei auftretenden Konflikte und sich zeigende Widersprüche herunterzuspielen oder zu verdrängen, wozu I Kor 4,2ff. (»Wir sagen uns los von feiger Heimlichtuerei, die wir nicht wandeln in Verschlagenheit ... « etc.) ermutigt. Das Leitbild für ihre Haltung zum Dialog finden Christen in dem ganz und gar dialogischen Leben Jesu, der nicht nur in vielen Gleichnissen die Natur zum Sprechen brachte, sondern auch in Streit- und Lehrreden mit Repräsentanten der jüdischen Umwelt, mit seinen Jüngern und mit der Bevölkerung das Gespräch suchte, und auch selbst in seinen Gebeten mit Gott dialogisierte. Dabei ließ er sich dazu bewegen, seine Haltung zu ändern, wenn ihm bedingungslose Offenheit und rückhalt- ZNT 5 (3. Jg. 2000) loses Vertrauen entgegengebracht wurden, wie z.B. von der kanaanäischen Mutter, die die Heilung ihrer kranken Tochter erflehte (Mt 15,21ff.), oder vom Hauptmann aus Kapernaum, der für einen seiner erkrankten Soldaten bat (Mt 8,Sff.). Wenn gesagt wird, daß Christen ihr Leitbild für die Haltung zum Dialog in Person und GestaltJesu von Nazareth finden, so wie diese in den Evangelien erkennbar wird, dann kann nicht unerwähnt bleiben, daß diese Existenz, in einer Hinsicht zumindest, als gründlich gescheitert anzusehen ist; denn an Jesu Lebensende stand das schmähliche Kreuz! Doch erfuhr die von Jesus gelebte dialogische Existenz in der Auferstehung eine ungeahnte Bestätigung, die so nicht vorauszusehen war. All diejenigen, die sich in seiner Nachfolge wissen, sind deswegen zu einem entsprechenden Lebenszeugnis aufgerufen. Sie sollen den gleichen Weg gehen, wie er: »Gleichwie mich mein Vater gesandt hat, so sende ich euch! « (Joh 20,21). Solches Gesandtsein heißt nichts anderes, als in mutiger Überwindung aller ängstlichen Bedenken, was aus einem selbst dabei werden könnte, eine ebenso vorbehaltlos dialogische und damit kenotische Existenz zu leben wie er. 35 Sofern nämlich Dialog auf Mitteilung in persönlicher Begegnung aus ist, impliziert er immer auch existentielles Risiko. Man sollte sich dessen bewußt sein, daß ein gelingender Dialog alle daran Teilnehmenden verwandelt, indem sie ein Stück gemeinsamen Wegs zu gehen sich aufgemacht haben und sich dadurch einander als Weggenossen wahrnehmen, die nachher nicht mehr die gleichen sind wie zuvor. Nicht grundlos findet sich ja neben der Mahnung: »Wer sein Leben lieb hat, der wird es verlieren! « (Joh 12,25) auch die Verheißung: »Wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden! « (Mt 10,39). Billiger ist der interreligiöse Dialog nicht zu haben. Anmerkungen 1 New York 1996; (deutsch: Kampf der Kulturen - Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München / Wien 5 1997). - Huntington, Mitbegründer der außenpolitischen Fachzeitschrift >Foreign Affairs<, ist zugleich auch Berater des US-Außenministeriums. 2 Zur Begriffsgeschichte von >Religion< vgl. die wichtigen Studien von E. Feil, Religio - Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffes vom Frühchristentum bis zur Reformation, Göttingen 1989; ders., Religio - Die ZNT 5 (3. Jg. 2000) Christopher Grundmann lnteneligiöser Dialog und Neues Testament Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffes zwischen Reformation und Rationalismus, Göttingen 1997. -Andere, häufig verwendete Synonyme für das eher selten gebrauchte >religio< waren: fides, pietas, cultus, secta. 3 Vgl. dazu J. Lyotard, La condition postmoderne, Paris 1979 (deutsch: Das postmoderne Wissen - Ein Bericht, 1980). 4 Vgl. dazu bes. G. Schulze, Die Erlebnisgesellschaft - Eine Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt 5 1995; P.L. Berger, Der Zwang zur Häresie - Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Frankfurt 1980; J. Kunstmann, Christentum in der Optionsgesellschaft, Weinheim 1997; K. Füssel u.a. (Hgg.), Die Sowohl-als-auch- Falle - Eine theologische Kritik des Postmodernismus, Luzern 1993. 5 Vgl. dazu R. Bernhard, Der Absolutheitsanspruch des Christentums von der Aufklärung bis zur pluralistischen Religionstheologie, Gütersloh 2 1993. 6 Vgl. C.H. Grundmann, In Wahrheit und Wahrhaftigkeit - Für einen kritischen Dialog der Religionen, Hannover 1999, 93ff. 7 Ein Beleg dafür ist z.B. Th. Morus (1478-1535), Ein wahrhaft goldenes Büchlein von der besten Staatsverfassung, übers. v. G. Ritter, Stuttgart 1997. 8 Unter psychologischen Aspekten behandelte A. Mitscherlich die Toleranz in seinem Beitrag: Wie ich mir so ich dir. Zur Psychologie der Toleranz, in: Psyche 5 (1951) 1-15; ders.: Toleranz - Überprüfung eines Begriffes, Frankfurt a. M. 1976. 9 Vgl. dazu B. Lewis / F. Niewöhner (Hgg.), Religionsgespräche im Mittelalter, (Wolfenbütteler Mittelalter- Studien 4) Wiesbaden 1992. 10 R. Lull, Das Buch vom Heiden und den drei Weisen, übers. u. hg. v. Th. Pindl, Stuttgart 1998, 17. 11 Vgl. Thomas v. Aquin, Summe gegen die Heiden, hg. u. übers. von K. Albert/ P. Engelhardt, Darmstadt 1974ff. 12 Vgl. dazu bes. H. Denifle, Quellen zur Disputation Pablos Christiani mit Moses Nachmani zu Barcelona 1263, in: Historisches Jahrbuch der Görries-Gesellschaft 8 (1887) 225-244. 13 Vgl. Disputations and Polemics, Encyclopaedia Judaica 6,Jerusalem 1971, Sp. 79-103; Sp. 84. 14 Zitiert nach I. Willi-Plein/ Th. Willi, Glaubensdolch und Messiasbeweis - Die Begegnung von Judentum, Christentum und Islam im 13. Jahrhundert in Spanien, Neukirchen-Vluyn 1980, 30. 15 Vgl. D.J. Sahas, Captivity and Dialogue: Gregory Palamas 1296-1360 and the Muslim, in: The Greek Orthodox Theological Review 25 (1980) 459ff. 16 Ein schönes Beispiel dafür, allerdings aus älterer Zeit, findet sich z.B. in: A.v. Kremer, Geschichte der herrschenden Ideen des Islams, Leipzig 1868 (Reprint: Darmstadt 1961), 241f. 17 Vgl. dazu jetzt verschiedene Beiträge in: Kein anderer Name - Die Einzigartigkeit Jesu Christi und das Ge- 9 Neues Testament aktuell spräch mit nichtchristlichen Religionen. FS zum 70. Geburtstag von P. Beyerhaus, Nürnberg 1999. 18 Vgl. Handwörterbuch des Islam, Leiden 1976, 98f. 505ff. sowie: The Encyclopaedia of Islam, New Edition, V, Leiden 1981, 431ff. 19 berith (G. Quell), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament II, Stuttgart 1954, 106ff. 20 H.J. Margull, Der Dialog von Colombo, Ökumenische Rundschau (1974) 525-534; ders., Verwundbarkeit- Bemerkungen zum Dialog, Evangelische Theologie 34 (1974) 410-420. Die Dokumente dieses Dialogs sind publiziert worden von S.J. Samartha, Towards World Community-The Colombo Papers, Genf 1974. 21 Margull, Verwundbarkeit, 419. 22 Vgl. dazu P. Schmidt-Leukel, Zur Klassifikation religionstheologischer Modelle, Catholica 47 (1993) 159ff. 23 Vgl. Grundmann, Wahrheit, S. lOlff. 24 W. Neuer, Interreligiöser Dialog als Notwendigkeit, Chance und Gefahr, in: Kein anderer Name, FS P. Beyerhaus, 214. 25 Sehr informativ dazu J. Dupuis, Towards a Theology of Religious Pluralism, Maryknoll 1997. 26 W. Neuer, Dialog, 212. 27 So z.B. Kirche, Kirchen und Religionen (K. Rahner), Schriften zur Theologie VIII, Einsiedeln u.a. 1967, 355ff. 28 Vgl. P. Schmidt-Leukel, Was sind Religionen? , in: Fremde Nachbarn - Religionen in der Stadt, Hamburg 1997, 31. 29 Vgl. dazu J. Hick/ P.F. Knitter (Hgg.), The Myth of Christian Uniqueness, Maryknoll 1987. 30 Religious Pluralism, Encyclopaedia of Religions 12, New York 1987, 333. 31 U. Schoen, Jean Faure - Missionar und Theologe in Afrika und im Islam, Göttingen 1984, 10. 32 Vgl. auch Apg 10,lOff. (Petrus wird als Antwort auf seine Weigerung vor der Begegnung mit dem nichtjüdischen Hauptmann Kornelius in einer sprechenden Vision daran gemahnt, das nicht unrein zu heißen, was Gott gereinigt habe.) 33 Vgl. Grundmann, Wahrheit, 112ff. 34 Zum Begriff der Konvivenz vgl. Th. Sundermeier, Konvivenz als Grundstruktur ökumenischer Existenz heute, (Ökumenische Existenz heute 1 München 1986, 49- 100. 35 Vgl. Phil 2,5ff. 10 VOLKER KÜSTER G J Volker Küster Chri.,11,l"gie in1nlwhn(dl Die vielen Gesichter Jesu Christi Christologie interkulturell 226 Seiten, Paperback DM 38,öS 277,- ! sFr 35,- ISBN 3-7887-1743-2 Mit diesem Buch liegt ein Kompendium der christologischen Entwürfe aus Afrika, Asien und Lateinamerika vor, das zugleich eine gute Einführung in die Theologie der Dritten Welt allgemein bietet. Die Frage nach Gemeinsamkeiten, Unterschieden und ökumenischen Lernchancen weist dabei über eine enzyklopädische Darstellung hinaus. Im interkulturell-religiösen Vergleich erscheinen traditionelle systematisch-theologische Kategorien wie Theologie der Herrlichkeit und Kreuzestheologie ebenso in einem neuen Licht wie die Unterscheidung von historischem Jesus und kerygmatischem Christus oder die paulinische Rechtfertigungslehre. Ingo Baldermann Auferstehung sehen lernen Entdeckendes Lernen an biblischen Hoffnungstexten Wege des Lernens, Bd. 10 160 Seiten, Paperback DM 29,80 öS 218,- / sFr 27,50 ISBN 3-7887-1721-1 Jesus Christus in Lebenswelt und Religionspädagogik Jahrbuch der Religionspädagogik, Bd. 15 275 Seiten, Paperback DM 78,öS 569,- / sFr 71,- ISBN 3-7887-1765-3 Jesus Christus in Lebenswelt und Religionspädagogik Jah1buch derRehgionspadagogik Henu•~•·; ~h,n"11"n; ehl.Ch,; "1,1,E; ,.,.Rol"'1~0,c" ~,.,1"oil,OI, Fofä,·d~,c(""""dfm,1".1,lch"<it,e, Wie kann in der Religionspädagogik sinnvoll und angemessen von Jesus Christus geredet werden? Dieser Kernfrage widmet sich aus verschiedenen Perspektiven der neue Band des »Jahrbuchs der Religionspädagogik«. Es wird der Versuch unternommen, Jesus Christus im Horizont der Religionen zu verstehen und seine Bedeutung im Kontext von Lebenswelt und Religionspädagogik zu bestimmen. Die zunehmende Notwendigkeit des interreligiösen Dialogs findet in den einzelnen Beiträgen ihren Niederschlag. Das vollständige Buch-Programm fordern Sie bitte an bei: Neukirchener Verlag 47506 Neukirchen-Vluyn Andreas-Bräm-Str. 18/ 20 Telefon 02845/ 392222 Telefax 02845/ 33689 ZNT 5 (3. Jg. 2000) Tovia Ben-Chorin Warum lesen Juden das Neue Testament? Der Titel dieses Artikels, der sich mit der Beziehung der Juden zum Neuen Testament befasst, wurde durch die Redaktion formuliert. Er geht dies ist eine christliche Sicht davon aus, dass die Juden tatsächlich das Neue Testament lesen. Bevor wir uns mit dieser Annahme auseinander setzen, möchten wir vorausschicken, dass Menschen in der Regel nicht die Heiligen Schriften anderer lesen. Es gibt Religionen, die das Lesen Heiliger Schriften nur mit einem autorisierten Kommentar erlauben. Der oder die Lesende darf sich dem Text nur über die zugelassene Deutung nähern. Andere verbieten ihren Gläubigen die Lektüre fremder heiliger Bücher und verpflichten sie dazu, ihren Predigern und Gelehrten zuzuhören, die berechtigt sind, die Tradition dem Volk näher zu bringen. Dahinter steht die Befürchtung, das Lesen fremder heiliger Texte könnte die Gläubigen in eine nicht gewünschte Richtung beeinflussen. In der westlichen Welt steht dem ein interessanter umgekehrter Effekt gegenüber: Viele Menschen fühlen sich von den Religionen des fernen Ostens angezogen und lesen ihre Schriften. Es ist verständlich, dass das Ferne, das Fremde, das Exotische eine besondere Anziehungskraft aufweist. Natürlich bewegen sich auch Juden in dieser Richtung. Sie fühlen sich angezogen, weil sie in den Religionen des Ostens bestimmte Aspekte des Judentums wieder finden, während diese auf der anderen Seite nie etwas mit Judenverfolgungen zu tun hatten. Es gibt keine Verpflichtung zu einer idealen Form der Ruhe, wie sie im Schabbat oder in den Feiertagen gegeben sind, die sowohl nationale 'als auch universale Aspekte aufweisen. Wer sich in diese Richtung bewegt, fühlt sich weniger als Jude, sondern eher als Mensch gefordert. Es gibt keinen Bezug zu Antijudaismus oder Antisemitismus, wenn man sich mit den erwähnten Religionen beschäftigt. Sie sind sich über die Existenz von Juden nicht bewusst, und dieser Umstand ist attraktiv. Die christliche Erwartung, dass Juden das Neue Testament lesen sollten, beruht vor allem auf den Bezeichnungen Altes Testament und Neues Testa- ZNT 5 (3. Jg. 2000) ment, die eine sprachliche Verbindung zwischen den beiden Sammlungen schaffen. Jede christliche Bibel sei sie katholisch oder protestantischenthält die 24 heiligen Bücher des Judentums, von der Genesis bis zur Chronik, 1 also das Alte Testament, das Neue Testament und die Apokryphen. In einer jüdischen Bibel hingegen ist nur das Alte Testament enthalten. Nur ein kleiner Kreis von jüdischen Intellektuellen und Forschern studiert zuweilen auch Bücher aus dem Neuen Testament. Ein weiterer Grund für diese Erwartung liegt im Ausdruck Neues Testament oder Neuer Bund selber, der in Jer 31,30-33 zu finden ist: »Siehe, Tage kommen, spricht der Ewige, da ich mit dem Haus Israel und dem Haus Judah einen neuen Bund schließen werde. Nicht wie der Bund, den ich mit ihren Vätern schloss, als ich ihre Hand hielt, um sie aus dem Land Ägypten heraus zu führen. Da brachen sie meinen Bund und ich habe sie verachtet, spricht der Ewige. [... ] Denn alle werden mich erkennen, von Klein bis Groß, spricht der Ewige, denn ich werde ihre Sünde verzeihen und ihre Verfehlung nicht mehr erwähnen.« Der klassische christliche Zugang zum Verständnis des Begriffs neuer Bund ist beispielsweise im Brockhaus2 zu finden: »Der neue Bund. In einem Abschnitt von grundlegender Bedeutung spricht J eremiah etwas aus, was wie kaum etwas anderes die Einheit der Bibel begründet. Das N.T. befasst sich mit dem Kommen und der Errichtung des neuen Bundes, aber der Gedanke jenes neuen Bundes gehört bereits ins A.T.« Ein Jude, der diesen Text auf hebräisch lesen würde, käme nie auf den Gedanken, dies mit dem christlichen Neuen Testament in Verbindung zu bringen. Erstens kennt er seine Heilige Schrift nicht unter der Bezeichnung Altes Testament, sondern als TaNaKh. 3 Um den Text in Jeremiah und vor allem den Begriff neuer Bund nach dem jüdischen Verständnis zu interpretieren, verwenden wir den Kommentar des Rabbi David Kimchi. 4 »Neuer Bund. Das Neue liegt darin, dass er bestehen bleibt und nicht gebrochen wird, wie es hier mit dem Bund geschah, den Gott mit den Kindern 11 Israels am Sinai schloss. Der Prophet verheißt eine zukünftige neue Torah, die nicht der neuen Torah entspricht, die am Berg Sinai gegeben wurde, indem er sagt: > Nicht wie der Bund, den ich mit ihren Vätern schloss.< Die Torah ist darin neu, dass er ihnen die Möglichkeit zur Umkehr erneuert. Er führt aus, worin sie besteht: ,Nicht wie der Bund, den ich mit ihren Vätern schloss [... ], da brachen sie meinen Bund.< Dieser [neue] Bund wird nicht gebrochen werden. ,Denn ich werde meine Torah in ihr Inneres geben und sie auf ihr Herz schreiben,< so dass sie diese nie wieder vergessen werden. Es handelt sich dabei wie der Prophet später ausführt nicht um eine Erneuerung des Bundes, sondern um seine Erhaltung. Es wird nie eine neue Torah geben, sondern immer diejenige, die am Sinai gegeben wurde.« Um diesen Punkt noch klarer zu machen, lohnt es sich, den Midrasch]alkut Schimoni 5 zu zitieren. >»Und alle deine Kinder sind Schüler Gottes; groß ist der Friede deiner Kinder< Qes 54,13): In dieser Welt lernen die Kinder Israels die Torah von [Menschen aus] Fleisch und Blut, daher vergessen sie diese; die Torah wurde durch Mose gegeben, einem [Menschen aus] Fleisch und Blut. So wie ein [Mensch aus] Fleisch und Blut vergeht, vergeht auch seine Lehre.[ ...] In Zukunft werden die Kinder Israel aber von seinem (Gottes) Munde lernen. So wie der Heilige, gepriesen sei er, in Ewigkeit lebt und besteht, gilt dies auch für seine Lehre. Was Israel von ihm lernt, wird es nie vergessen, wie gesagt wurde (Ob 1,17): ,Am Berg Zion aber wird ein Entrinnen sein, ein Ausgeheiligtes ist er geworden; seine Erbteile erbt das Haus Jakobs neu.< Mit Erbteil ist aber die Torah gemeint, wie gesagt wurde (Dt 33,4): >Torah befahl uns Mose, ein Erbteil für die Gemeinde Jakobs.<« 6 Bis zur Zeit der Emanzipation, also bis zur Französischen Revolution 1789, lasen die Juden das Neue Testament überhaupt nicht. Durch die Polemik, der sie durch die Kirche ausgesetzt waren, beschäftigten sich zwar viele Juden mit dem Christentum und wurden mit ihm vertraut. Nachdem das Christentum aus dem Judentum heraus entstanden war und später zu seinem Feind und Verfolger wurde, konnten die Juden die Existenz des Nazareners Jesus nicht ignorieren. Woher nahmen sie ihre Kenntnisse über ihn und das Christentum? 12 Die Epoche des Talmud Eine detaillierte und sehr gute Untersuchung über dieses Thema kann man in einer Sammlung von Artikeln von Jacob Z. Lauterbach (1873-1942) finden, der die rabbinische Literatur erforschte; einer davon heisst]esus im Talmud. 7 Dieser ausgezeichnete Forscher lehrte im Hebrew Union College in Cincinnati (USA). Es ist kein Zufall, dass der Professor für Talmud im Lehrhaus für reformierte Rabbiner diesen wichtigen Artikel schrieb. In diesem Lehrhaus und in allen seinen Zweigen in den USA und in Israel (Cincinnati, New York, Los Angeles, Jerusalem) wird Neues Testament und christliche Philosophie als Teil der Vorbereitung zur Ordinierung als Rabbiner gelehrt. Man kann schließlich nicht verleugnen, dass die Mehrheit des jüdischen Volkes in einer christlichen oder postchristlichen Umgebung lebt. Christliche Ideen und Glaubensvorstellungen sind integrierende Bestandteile der westlichen Kultur, in der viele Juden leben. Dieses Thema werden wir später noch vertiefen. Das Wissen über das Christentum in den talmudischen Quellen stammt ca. aus dem 2. Jahrhundert. Es muss bemerkt werden, dass die meisten Stellen im Talmud, die von Jesus oder vom Christentum handeln, in den meisten Ausgaben durch interne und externe Zensur entfernt wurden. Das Bild von Jesus, das sich nach dem Talmud zeichnen lässt, ist jenes eines Gelehrtenschülers, der die Schule verlassen hatte und sich nicht mehr nach ihren Normen verhielt. Es ist zu erkennen, dass die Erzähler kein genaues Wissen über Jesus, seine Zeit und sein Werk besaßen. Eine talmudische Erzählung, die später im Mittelalter ein Traktat über das LebenJ esu inspirieren sollte, berichtet, Jesus sei mit Josua ben P'rachjah nach Alexandria geflüchtet. 8 Nach ihrer Rückkehr ins Land Israel habe Jesus gesündigt und J osua ben P'rachjah habe ihn mit dem Bann belegt.Jesus habe »einen Ziegelstein aufgerichtet und sich vor ihm verbeugt.« Nachdem ihnJosua zur Umkehr aufgefordert hatte, habe Jesus erwidert: »Ich habe von dir gelernt: ,Keinem, der fehlt und andere zur Verfehlung anleitet, wird die Möglichkeit gegeben, Umkehr zu üben.«< Der Talmud fährt fort: »Wir lernten: Jesus der Nazarener zauberte, hetzte Israel [gegen Gott] auf und verführte es.« Als Magier, Aufwiegler und Verführer wird Jesus auch in einer Barajta 9 erwähnt, die über sein Erhängen berichtet: »Vierzig ZNT 5 (3. Jg. 2000) Tovia Ben-Chorin Rabbiner Dr. h.c. Tovia Ben-Chorin,Jahrgang 1936; Hebräische Universität Jerusalem, Bibel und Jüdische Geschichte F.A. 1960; Hebrew Union College, Cincinnati MAHL und Ordination 1964; Jüdische Liberale Gemeinde Or Chadasch, Zürich, seit 1996. Tage vorher wurde ausgerufen: >Er wird gesteinigt werden, weil er zauberte, aufhetzte und Israel verführte. Jeder, der zu seinen Gunsten aussagen kann, möge kommen und aussagen.< Es fand sich keine Aussage zu seinen Gunsten.« Im Talmud wird die Frage gestellt, warum überhaupt Aussagen zu Gunsten eines Hetzers gesucht wurden. Sie wird beantwortet: »Anders ist es bei Jesus, welcher der Regierung nahe stand.« Diese Antwort reflektiert eine Periode, in der das Christentum bereits Staatsreligion war, also die Zeit nach Konstantin. Wie jeder Hetzer wurde Jesus zur Steinigung und zum anschließenden Erhängen verurteilt, was der Regel für Gesteinigte zur Zeit des zweiten Tempels entsprach. Eine Legende berichtet über den Proselyten Onkelos 10, er habe durch Magie Titus, Bileam und Jesus herbei gerufen, um sich durch sie in der Frage seines Übertritts zum Judentum beraten zu lassen. Während ihm Titus und Bileam abraten, gibt ihm Jesus eine positive Antwort. Er rät ihm: »Suche ihnen (Israel) Gutes zu tun, ihren Schaden meide aber.Jeder, der sie berührt, ist, als berühre er seinen Augapfel.« Obwohl Jesus mit anderen Übeltätern in eine Reihe gestellt wird, sucht er das Wohlergehen der Juden und warnt davor, sie zu verfolgen. Diese Erzählung muss wohl vor dem Hintergrund des vierten Jahrhunderts interpretiert werden, in dem die Juden im Römischen Reich verfolgt wurden. ZNT 5 (3. Jg. 2000) l'ovia Ben-Chorin Warum lesen .,! uden das Neue Testament? In den Erzählungen über Jesus im Talmud wird eine hervorragende Persönlichkeit mit speziellen seelischen Kräften geschildert. Die Judenverfolgungen, die im Römischen Reich beginnen, nachdem das Christentum zur Staatsreligion wurde, schaffen Erzählungen, die dem psychologischen Schutz dienen, um dem steigenden Druck gewachsen zu sein. Es wird nie zum Neuen Testament Stellung genommen, sondern nur zur Persönlichkeit J esu. Das Mittelalter In der jüdischen Geschichtsschreibung wird als Mittelalter die Zeit zwischen den arabischen Eroberungen 632 und dem Tod von Baruch Spinoza (1677) oder Mose Mendelsohn (1786) verstanden. In dieser Zeit wurden Juden sowohl von Christen als auch von Muslims verfolgt. Im Mittelalter war die Identität eines Menschen durch seine Religion bestimmt, so dass der Judenhass bis auf den heutigen Tag auch durch religiöse Inhalte bestimmt war. Die Vorwürfe des Christentums gegen die Juden waren 11: Die Ablehnung Jesu als Messias, der Gottesmord, spirituelle Blindheit, religiöse Überheblichkeit, der rächende Gott der Juden und die Gesetzeshörigkeit, die durch die praktische Ausübung der biblischen Gebote zum Ausdruck kam. Das Judentum warf dem Christentum die Trinitätslehre als Abfall vom Monotheismus vor. Es sei nicht möglich, dass der eine und einzige Gott, von dem die Torah und die Propheten sprachen, der dreifaltige Gott sei, von dem die Christen sprechen. Ebenso wurde die Aufhebung der Gesetze der Torah nicht akzeptiert. Mit dem Islam war die Auseinandersetzung weniger scharf. Die Muslims warfen den Juden vor, sie würden Mohammed nicht als den letzten Propheten Gottes und den Koran nicht als Heilige Schrift akzeptieren. Im Zusammenhang mit dem Monotheismus gab es keinen Streit, es bestanden auch keine Probleme mit Abbildungen Gottes, wie es sie mit dem Christentum gab. Ein Vorwurf der Muslims an die Juden war, sie hätten Inhalte der Torah gefälscht; im Gegensatz dazu akzeptierten die Christen das Alte Testament mit seinen Inhalten. Ihre Vorbehalte betrafen die jüdische Exegese, vor allem bei Abschnitten in den Propheten, die nach christlicher Auffassung das Kommen Jesu 13 ZumThema i1S" nN n: : iiti1 "; ,: : : , : "i? 13 ! Jtvii1" "31 1DN ~ : • .... - •• - T • •• ••• - ••• ! • - - T ; 13": : : , 11"N: : .>K : im: : >; , i"? ! J i17! JD ,1"7! .7 n1,nn1 : • •: T- TT •: -: - TT "! ": " i11i1 C7i! Ji1 ,C"D? i! J "ltDJ N1i1 ': }113 tvi1i; 'i17 -: - T T • T ••: • T T - : 1DNP .'""ll13: : )" i11ir-l n : JT* J"n: : ,-: r ,NJil C7i! Ji11 -T: •: T: -: T -•• •: • T.- T T·! c,N ,c"! lv tv1v~i1 n"3tv rot3 : " 13 ? Jrliin" "31 TT T- T! •- 0 ••• -: • ••• •: -••• : • ilnlD 1: JW i1MlD ,i1„3 il? i! J 1: ,0 i17i! J J"1vD T! " -: T: 0 T: T -: T •: - : : nn: : >i1 i"7! J i17! JD i17DtD ir-i! J1tD "D 7: lN .i1"J T - T T •: -: - T T ! ! - "l • T -: T ! 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Jtliil" nN 1: ,11 ,. • T T ; , T : •• T : • •• "lt - * T T • T T : T - - - ••• : ••• T T : Nl„ln "31 inN "0~ J1 11.3N T•-: •- -T •- - -T Sanhedrin, 43 Aus: Babylonischer Talmud, Mischna-Traktat 14 ZNT 5 (3. Jg. 2000) von Nazareth als erlösender Messias und Gottessohn ankündigten. Keine andere religiöse Lebens- oder Handlungsweise löste so viel Hass aus, wie es die jüdische bei den christlichen Gläubigen tat. Die Juden hatten zwar auch unter islamischen Regierungen Erniedrigung und Verfolgung zu erleiden, doch nie im gleich extremen Ausmaß, wie dies unter christlichen Regierungen der Fall war. 12 Als Gegengewicht zu den Verfolgungen, Vertreibungen und Erniedrigungen entstand die Erzählung Die Geschichte Jesu (oder: Die Erzählung über den Gehenkten). 13 Der Kern der Erzählung entstand entweder im achten Jahrhundert in Italien oder eventuell später, im zwölften Jahrhundert, als Reaktion auf die Judenmorde während der Kreuzzüge. Sie wurde von den europäischen Juden in der Weihnachtsnacht gelesen, die auch Nittelnacht genannt wurde. Bei dem Ausdruck könnte es sich um eine Verballhornung der Begriffe Natale Domini oder Dies Natalis also die Geburt Gottes handeln.14 Die Erzählung existiert in verschiedenen Versionen. In groben Zügen lässt sie sich wie folgt zusammenfassen: Maria gebärt Jesus. Sie wird als positive Figur geschildert. Sie wurde aber nicht von ihrem Verlobten Johannes schwanger, sondern durch einen ehebrecherischen Nachbarn - Josef ben Pandera der sie während ihrer Menstruation vergewaltigt. Als den Nachbarn zu Ohren kommt, dass Maria vergewaltigt wurde, flüchtet ihr Mann. So wird Jesus nicht nur als Bastard geboren, sondern ist auch Sohn einer Menstruierenden. 15 Der Knabe Jesus wächst auf und beeindruckt seine Umgebung durch seine Weisheit und durch seine Kenntnisse des jüdischen Schrifttums. Zudem verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er schrieb den vierbuchstabigen Gottesnamen im Tempel auf ein Pergament, trennte seine Hüfte auf, fügte dort das Pergamentstück ein und nähte die Hüfte wieder zusammen. So verließ er den Tempel im Besitz des vierbuchstabigen Gottesnamens. Er nahm das Pergament wieder heraus, lernte den Namen und seine Verwendung und war so in der Lage, mit magischen Kräften zu arbeiten. Die Rabbinen belegen ihn mit dem Bann und beauftragen RabbiJehudah, ihn unter Verwendung des vierbuchstabigen Gottesnamens zu vernichten. So entsteht zwischen Rabbi Jehudah und Jesus ein Wettbewerb, wer die größeren Wunder wirken kann. Im Verlauf dieses Wettstreits schweben beide in der Luft; Rabbi Jehudah gelingt es, auf Jesus zu urinieren. Dadurch ZNT 5 (3. Jg. 2000) Tovia Ben-Chorin Warum lesen .Juden das Neue ·restament? wird dieser unrein und fällt zur Erde. Er wird vor das Gericht der Rabbinen gestellt, die ihn zum Tod verurteilen. Jesus, der zur Feier des Pessach nach Jerusalem kommt, wird von den Gerichtsdienern der Rabbinen ergriffen. Er wird gesteinigt, gehenkt und seine Leiche anschließend in einen Kanal geworfen und begraben; nach einer anderen Version wird er sofort begraben. Seine Jünger kommen an sein Grab und finden es leer vor. Sie glauben, er sei in den Himmel aufgefahren. Nach einer Version wurde er aus seinem Grab beim Kanal entfernt und durch einen Gärtner in Jerusalem begraben. Es ist klar, dass diese Erzählung keinen historischen Bezug hat. Es handelt sich bei ihr um eine Sammlung von Reaktionen, die in einer Geschichte zusammen gefasst wurden. Dies geschah zum psychologischen Schutz, da diese Nacht nach einer kabbalistischen Auffassung von spiritueller Unreinheit erfüllt ist, so dass die Torah nicht studiert werden durfte. Daher wurde in dieser Nacht diese Erzählung gelesen oder Karten gespielt. Das Buch wird heute nicht mehr verwendet, während der Brauch des Kartenspiels in bestimmten ultraorthodoxen Kreisen vorzufinden ist. Für wen wurden die Romane, Bühnenstücke und Gedichte über jenen Mann geschrieben? Die oben erwähnte Erzählung, die auf moderne Lesende Abscheu erregend wirkt, kann nur vor dem Hintergrund der Zeit verstanden werden. Daneben gab es aber immer Menschen, die trotz der Verfolgung und des Leidens das klare Denken nicht verlernt hatten. Gleich wie im Christentum gab es auch im Judentum des Mittelalters verschiedene Strömungen. In jeder Religion gibt es Männer und Frauen, die durch ihre Art des Glaubens Hass säen und ihre Mitgläubigen höher stellen als andere, die nicht an ihren Weg glauben. Im Gegensatz dazu bestehen aber stets Gruppen, die nicht nur anderen Religionen tolerant gegenüber stehen, sondern auch ihre positiven Werte erkennen. Ein Beispiel dafür ist der größte jüdische Denker des Mittelalters, Maimonides. 16 Im letzten Band seines Kodex Die starke H and 17 im elften Kapitel der Gesetze über die Könige schreibt er 18 : »Bereits Daniel weissagte über Jesus den Nazarener, der meinte, er sei der Messias und der auf Anordnung des Gerichts getötet wurde, indem er sprach: >Gewalttätige aus deinem Volk werden sich erheben, um eine Vision zu erfüllen und sie werden versagen.< Gibt es ein größeres Versagen als dieses: Alle Propheten 15 sprachen davon, wie der Messias werde Israel erlösen und befreien, die Diaspora einsammeln und die Einhaltung der Gebote stärken. Dieser verursachte aber, dass Israel durch das Schwert vernichtet und sein Überrest vertrieben und erniedrigt wurde. Die Torah wurde ausgewechselt und viele Menschen dazu verführt, andern Gottheiten als dem Ewigen zu dienen. Kein Mensch kann aber die Absichten Gottes erfassen, denn unsere Wege und Gedanken sind nicht die seinen. 19 Alle Worte des Nazareners Jesus und dieses Arabers 20 , der später folgte, dienen ausschließlich dazu, dem messianischen König den Weg zu bahnen und die Welt dafür vorzubereiten, zusammen dem Ewigen zu dienen, so wiegesagt wurde: ,Dann werde ich verwandeln die Lippen der Völker in reine Lippen, so dass sie alle den Namen des Ewigen anrufen und ihm gemeinsam dienen< (Zeph 3,9). Wie geschieht dies? Die Welt ist bereits von den Worten des Messias erfüllt, von der Lehre und von den Geboten.« Mit anderen Worten: Maimonides anerkennt, dass Jesus und sein Einfluss auf viele Völker zur weltweiten Verbreitung des messianischen Glaubens und der damit verbundenen Konzepte von Lehre und Geboten beigetragen haben. Entsprechend fährt er fort: »Diese Inhalte haben Verbreitung bis zu den entferntesten Inseln gefunden und bis zu zahlreichen Völkern[, die zuvor] verschlossenen Herzens [waren]. Sie debattieren über die Inhalte und Gebote der Lehre. Die einen sagen: ,Diese Gebote waren trefflich, gelten aber heute und für weitere Generationen nicht mehr.«< Aus diesem Text geht hervor, dass Maimonides das Neue Testament kannte und vom paulinischen Argument wusste, durch Jesus seien die Gebote erfüllt, so dass sie für spätere Generationen keine Gültigkeit mehr hätten. Maimonides fährt fort: »Die anderen behaupten: ,Es gibt in ihnen verborgene Inhalte und sie dürfen nicht wörtlich verstanden werden. Der Messias 21 ist bereits gekommen und hat ihre Geheimnisse aufgedeckt.< Wenn der messianische König tatsächlich kommen wird, er Erfolg haben und [dadurch] hoch angesehen wird, so werden sie (die Völker) alle unverzüglich Umkehr üben und erkennen, dass ihre Vorfahren die Lüge vererbten, und dass ihre Propheten und Vorfahren sie irreführten.« 22 Walter Jacobs bemerkt in seinem Werk Christianity Through Jewish Eyes 23: »Im Mittelalter gab es zwar einiges Interesse L von jüdischer Seite] 16 am Christentum, aber es war gefährlich, sich frei über den Glauben des Verfolgers zu äußern.« Diese Meinung ist in der Forschung allgemein akzeptiert. Erst neulich ist in Israel das Buch jener Mann - Juden erzählen über Jesus erschienen. 24 Dieses Werk gibt eine Übersicht mit viel Quellenmaterial über Jesus, von Josef ben Matthias bis zur aktuellen hebräischen Literatur in Israel. Aus dem Mittelalter werden 14 Quellen angeführt, die sich mit Jesus befassen. Trotz aller Verfolgungen vermieden es die Juden nicht, sich mit Jesus zu beschäftigen, und sei es auch nur zum Zweck der Verteidigung. Sie mussten schließlich eine Antwort finden auf die Frage: »Wenn ihr an die Lehre des Ewigen glaubt und seine Gebote einhaltet, warum werdet dann ihr verfolgt, während das Christentum das nach eurer Meinung vom Weg Gottes abweicht die Oberhand hat und Israel bedrängt? « Verschiedene Gelehrte setzten sich mit dem Christentum auseinander. Es liegt in der Natur der Sache, dass sie dafür das Neue Testament und Sekundärliteratur studierten. Die Masse des Volkes hingegen das wegen dieses Buches zu leiden hatte hielt sich davon fern. Die Neuzeit Eine umfassende und gründliche Untersuchung zu diesem Thema findet sich im Artikel Das J esusbild im Judentum, den mein Vater Schalom ben Chorin s.A. schrieb. 25 Das Buch von Walter Jacobs ergänzt den Zeitraum bis 1974. 26 Die Integration der Juden in die westliche Gesellschaft brachte sie all den Quellen näher, derer sich diese Kultur bedient. Natürlich entdeckte man das Jüdische J esu und wollte ihn ins jüdische Volk reintegrieren. Wer sollte durch alle Forschungsarbeiten, Romane, Bühnenstücke und Gedichte, die über jenen Mann geschrieben wurden, angesprochen werden? Es trifft zu, dass es auch in Israel Kreise und Schriftsteller gibt, die Jesus in den Rahmen der nationalen Geschichte des jüdischen Volkes einbezogen. Geschah dies für das Volk oder um das Volk in den Rahmen der westlichen Kultur zu integrieren? Der Mensch Jesus, Revolutionär, Träumer, die Verkörperung jüdischer Moralität schlechthin, der Archetyp der Zaddikim der chassidischen Bewegung, der Kämpfer gegen das römische Joch: An wen richten sich alle diese Charakterisierungen? Ich gehe davon ZNT 5 (3. Jg. 2000) aus, dass die Schreibenden in ihrem Inneren auch an ihr Volk dachten. Aber das Bewusstsein für und das Interesse an diesem Thema ist einerseits bei einer Minderheit intellektueller Juden zu finden, auf der anderen Seite bei einer breiten und vielschichtigen christlichen Leserschaft. In der neueren Zeit wurde gegen die christliche Welt polemisiert mit dem Argument: »Wie wagt ihr es, den Juden Jesus zu nehmen und ihn zum Feind seines Volkes umzuinterpretieren? Er ist Fleisch von unserem Fleische und gehört zu uns! « Mit dem Entstehen der jüdischen Geschichtsschreibung im Deutschland des 19. Jahrhunderts begann man, die Gestalt Jesu im Rahmen der jüdischen Geschichte zu überprüfen. Jüdischen Denkern fällt es nicht schwer, sich mit den Synoptikern zu arrangieren, sich mit Paulus auseinander zu setzen und in Jesus die Verkörperung reinster jüdischer Moralität zu sehen. Bekannt ist der von Schalom Ben Chorin geprägte Satz: »Der Glaube Jesu einigt uns, der Glaube an Jesus trennt uns.« 27 Dieser Satz folgt den Auffassungen von Martin Buber und Leo Baeck. Ich möchte diesen Artikel mit einigen persönlichen Bemerkungen abschließen. Ich wuchs in einem Haus auf, in dem der jüdisch-christliche Dialog Lebensinhalt war und zum Alltag gehörte. Mir ist klar, dass mein Vater durch seine Beschäftigung mit dem Christentum ein Gebot erfüllte, das von vielen Juden vergessen wird, auch wenn es zur allwöchentlichen Liturgie des Freitagabends beim Eingang des Schabbat gehört: »Erzählt unter den Völkern seine Herrlichkeit, unter allen Nationen seine Wunder! « 28 Drei jüdische Gestalten, die jedem Christen bekannt sind, denen mein Vater eine Trilogie 29 widmete - Jesus, Paulus und Maria bilden eine gedankliche, philosophische und künstlerische Brücke zwischen der christlichen Welt und dem jüdischen Volk. Diese drei Gestalten waren jüdisch. Es gilt, ihre jüdischen Wurzeln offen zu legen und zu betrachten, wie diese im Christentum verarbeitet wurden. Diese Arbeit legt die Basis zum Dialog. Sie ist erforderlich, um dem Ideal näher zu kommen, das Juden am Ende jedes der drei täglichen Gebete aussprechen: » Es werden erkennen und wissen alle Bewohner der Welt, dass sich vor dir beuge jedes Knie, [bei dir] schwöre jede Zunge.« 30 Im Geist unserer Zeit versuchte mein Vater, seinen Beitrag zur Verbesserung der Welt zu leisten. Nur wenn man sich gegenseitig kennen lernt, die Verdächti- ZNT 5 (3. Jg. 2000) gungen und das Unwissen abbaut, kann man den Hass besiegen. Sein Wirken beruhte auf dem Gefühl, als Sohn des jüdischen Volks eine Botschaft an die Deutsch sprechenden Völker - und über sie auch an andere Völker zu haben. Ich glaube aber, dass außerhalb einer dünnen Schicht von jüdischen Intellektuellen ein geringes Interesse am Christentum oder dem Neuen Testament besteht. Das jüdische Volk hat dermaßen schwer um seinen Fortbestand zu kämpfen, dass seine Söhne und Töchter wenig Raum haben, sich um zwischenmenschliche Beziehungen vor religiösem Hintergrund zu kümmern. Anders sieht es aus, wenn konkrete mitmenschliche Hilfe gefordert ist. Wenn Menschen von einem Unglück heimgesucht werden, stehen Juden allgemein und insbesondere der jüdische Staat zuvorderst, um Hilfe anzubieten. Wir dürfen zufrieden sein, dass wir so weit sind, dass der jüdische Staat obwohl er klein ist sich weltweit im Zusammenhang mit Katastrophenhilfe einen guten Ruf geschaffen hat. In Bezug auf die Lektüre des Neuen Testaments oder die rege Teilnahme am interreligiösen Dialog befinden wir uns aber erst am Anfang des Wegs. Der gedankliche und philosophische Weg dazu ist vorgespurt. Für das neue Jahrtausend wird das jüdische Volk lernen müssen, 1000 Jahre der Verfolgung zu verarbeiten. Viele Brüder und Schwestern in unserem Volk werden die Verdächtigungen überwinden müssen, die sie gegenüber jedem Nichtjuden hegen. Es bestehen Ängste, sowohl vor Philoals auch vor Antisemiten. Als die Juden seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Beginn des zweiten Weltkriegs mit der christlichen Welt in Dialog treten wollte, gab es darauf beinahe kein Echo. Wir werden einen lange dauernden Prozess brauchen, bis wir jener stetig an Einfluss gewinnenden christlichen Minderheit antworten können, die das Gespräch sucht. Das Judentum ist ebenso wenig monolithisch, wie es das Christentum ist. Wir müssen aber verstehen, dass es sich hier um zwei völlig verschiedene Formen menschlichen Daseins handelt, die sich existenziell grundlegend unterscheiden. Das Christentum ist eine Weltreligion für viele verschiedene Völker. Im Gegensatz dazu ist das Judentum eine Ausdrucksform für Menschen mit gemeinsamem Schicksal, die über die ganze Welt zerstreut sind. Ein Christ bezeugt als solcher einen bestimmten Glauben, der mit einer 17 zentralen Gestalt verbunden ist, um die alles kreist. Ein bewusster Jude bezeugt, dass er an einer Schicksalsgemeinschaft Teil hat. Dieses Zeugnis kann religiös, national oder kulturell ausgedrückt werden. Alle diese Formen der Identität sind gemeinsam, einzeln oder in beliebigen Kombinationen möglich. Sie beruhen alle auf dem Buch der Bücher, dem Ersten Testament, und auf den verschiedenen religiösen Auslegungen. Das säkulare Judentum Allen bewussten Juden gemeinsam ist die Verwendung der gleichen Quelle, der Lehre Israels, angefangen bei der Genesis bis hin zu den aktuellen Ausdrucksformen der heutigen jüdischen Lebensweise. Die zweite gemeinsame Grundlage ist eine Lebensweise, die vorn jüdischen Kalender geprägt ist. Sie verbindet das Individuum mit dem jüdischen Volk, dem Land Israel, der Lehre Israels und dem Gott Israels. Zum letzten Begriff wird ein säkularer Jude Distanz halten und vielleicht als Atheist betonen, dieser gehöre nicht zum Gewebe seiner Erfahrungen. Die dritte gemeinsame Grundlage ist die Sensibilität für menschliches Leiden: »Denn Fremde wart ihr im Land Ägypten« (Lev 19,34). Je tiefer der Dialog wird, desto tiefer werden seine Wurzeln auch im jüdischen Volk reichen. Dies wird für Juden ein Grund sein, das Neue Testament zu studieren, um so den christlichen Nachbarn besser kennen zu lernen, und den Koran zu lesen, um mehr über seine muslimischen Mitmenschen zu erfahren. (Übersetzung: Raphael Pifko) Anmerkungen 1 Aus jüdischer Sicht das letzte Buch des Alten Testaments (Anm. des Übersetzers). 2 Brockhaus, Kommentar zur Bibel II, Wuppertal 1987, 793. 3 Ein Akronym für Torah (Pentateuch), Newiim (Propheten), K'tuwim (Hagiographen). 4 Aus der französischen Provence (1160-1235). 5 Klassische rabbinische Anthologie, welche das ganze TaNaKh begleitet; Jeremiah 317 zu Jer 31,28. 6 Die Auslegung beruht also auf der Analogie des Aus- 18 drucks Erbteil (Hebräisch: Moraschah) in den zitierten Schriftversen. 7 Jacob Lauterbach, Rabbinic Essays, Cincinnati 1951, 473-570. 8 BT, Sanhedrin 1076. Der ganze Bericht ist anachronistisch; Josua ben P'rachjah lebte im 1. Jh. v.d.Z. In den zensurierten Ausgaben des Talmud (ab Basel 1578- 1580) erscheint dieser Bericht nicht. In der deutschen Übersetzung des Talmud von Lazarus Goldschmidt (Berlin 1934) erscheinen die zensurierten Abschnitte, der vorliegende in Band IX, 119. Von Goldschmidt gibt es auch ein ältere Uebersetzung des Talmud (1897-1935) in neun Bänden, in welcher der Originaltext neben der deutschen Uebersetzung und dem aparatus criticus erscheint. Die jüngere Ausgabe (1926-1936) in zwölf Bänden ist jedoch weiter verbreitet. Weitere Quellen sind im Artikel von Lauterbach (siehe Anm. 7) angeführt. Auch in der modernen Ausgabe des Talmud von A. Steinsaltz sind die zensurierten Stellen enthalten. 9 Apokrypher Text aus der Zeit der Mischnah, die ca. 200 redigiert wurde (Anm. des Übersetzers); BT Sanhedrin 43a). 10 Auch als Akilas bekannt; BT Gittin 56b-57a. Die Forscher sind sich darüber uneinig, wann er genau lebte, er ist ca. dem 3. Jahrhundert zuzuordnen. Er übersetzte als erster den Pentateuch ins Aramäische. Diese Übersetzung wurde von den Rabbinen als autoritativ akzeptiert. 11 Geschichte des jüdischen Volkes (hebräisch), Tel Aviv 1969. 12 Der Zusammenhang zwischen kirchlichem Antijudaismus und dem modernen rassistischen Antisemitismus wird heute durch Protestanten und Katholiken gleichermaßen anerkannt. Darum geschah die Schoah in Europa und nicht in islamischen Ländern. Dies ist eine Indikation für den tiefen und weit verbreiteten Judenhass in Europa. 13 Samuel Kraus, Das LebenJesu nach den jüdischen Quellen, Berlin 1902 (Nachdruck: Hildesheim 1977 und 1994 ); enthält verschiedene Versionen und eine Uebersetzung ins Deutsche. 14 Ein weiterer Zusammenhang könnte mit dem hebräischen Nitleh (Gehenkter) bestehen (Anm. des Übersetzers). 15 Was in der jüdischen Tradition als schwerwiegender Mangel betrachtet wird (Anm. des Übersetzers). 16 Rabbi Mose ben Maimon, im Judentum häufig mit dem Akronym Rambam bezeichnet, 1137-1204. 17 Auch Mischneh Torah (Wiederholung der Torah) genannt. 18 Diese Passage ist nur in wissenschaftlichen Ausgaben zu finden, da sie in den üblichen Ausgaben durch die Zensur entfernt wurde (Anm. des Übersetzers). 19 Hier klingt Jes 55,8 nach (Anm. des Übersetzers). 20 Damit ist Mohammed gemeint, den Maimonides nicht namentlich erwähnt. 21 Damit ist Mohammed gemeint. 22 Jesus und Mohammed werden auch im Briefnach Jemen des Maimonides allerdings nicht namentlich erwähnt ZNT 5 (3. Jg. 2000) (Volksausgabe des Maimonides, Mossad ha-Rav Kook, Jerusalem 1987). Jesus wird jener Mann genannt (182) und Mohammed der Verrückte (184). Maimonides ist der Meinung, der Islam sei für das Judentum gefährlicher als das Christentum. Dieses Thema wird auch bei der Beantwortung einer Anfrage aufgeworfen, ob es erlaubt sei, einem Nichtjuden die Torah beizubringen. Seine Antwort: »Es ist nach dem Gesetz erlaubt, Christen die Gebote und Kommentare beizubringen. All dies ist aber bei Muslims nicht erlaubt, denn sie glauben nicht daran, dass diese Lehre himmlischen Ursprungs ist, so dass sie uns damit bedrängen werden. Die Christen anerkennen aber, dass der uns vorliegende Text der Torah vollständig ist; sie legen die Torah [aus jüdischer Sicht gesehen] nur nicht richtig aus. Es besteht die Möglichkeit, dass sie [ihre Auslegung] revidieren; selbst wenn sie dies nicht tun, entsteht dadurch Israel kein Schaden, da sie in ihrer Lehre die selben Inhalte wie in der unsrigen vorfinden« (Responsa des Maimonides zu den Gesetzen über Könige, Volksausgabe, Jerusalem 1962, 427). Maimonides stellt sich also nicht gegen den Dialog mit christlichen Gesprächspartnern, während er gegen einen solchen mit Muslims ist. Seine Meinung beruht auf dem Umstand, dass im Alten Testament eine gemeinsame Grundlage besteht. Auch wenn über seine Auslegung Meinungsverschiedenheiten zwischen Judentum und Christentum vorhanden sind, ist man sich darüber einig, dass es das Wort Gottes ist. 23 Hebrew Union College Press, 1974, 1. 24 Hebräisch; Yediot Acharonot, Tel-Aviv 1999. 25 Schalom ben Chorin, Das Jesus bild im Judentum, Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 3 (1953) 1- 27. 26 Siehe Anm. 23. 27 Schalom Ben Chorin, Bruder Jesus. Der Nazarener in jüdischer Sicht. München 1967, S. 12. 28 Ps 96,3. 29 Schalom Ben Chorin, Bruder Jesus; ders., Paulus. Der Völkerapostel in jüdischer Sicht. München 1970; ders., Mutter Mirjam. Maria in jüdischer Sicht. München 1971. 30 Schlussgebet; Gebetbuch Ausg. Rödelheim S. 65 (Anm. des Übersetzers). ZNT 5 (3. Jg. 2000) lovia Ben-Chorin lf\Jarnm lesen Juden das Neue Testament? In neuer Sprache Das Neue Testament Übertragen von Jörg Zink 576 Seiten; Hardcover DM 39,90 ISBN 3-7831-1795-X Hier kommt die neue Übersetzung des Neuen Testaments von Jörg Zink in preiswerter Ausgabe! Ein genialer Einführungstext von Jörg Zink fasst außerdem die 12 wichtigsten Glaubensaussagen des Alten Testaments zusammen. Die Ausgabe enthält auch die Versangaben sowie ein 1 n ha ltsverzeich n is. 944 Seiten mit 460 Abbildungen, Hardcover mit Schutzschober DM 198,- ISBN 3-7831-1598-1 Die Bibel. CD ROM Mehr als eine Übersetzung. Was Jörg Zink vorlegt, ist eine sprachliche Nachdichtung der Bibel, und das so, dass dem Leser von heute der Zugang zu diesem wichtigsten Dokument der Christen erleichtert wird. Diese reich bebilderte Bibel bringt Fotos aus den Ländern der Bibel und Gemälde aus der christlichen Kunst. Das Neue Testament ist vollständig enthalten, das Alte Testament in Auswahl. KREUZ: Was Menschen bewegt. www.kreuzverlag.de 19 TANZ - Texte und Arbeiten zum Neutestamentlichen Zeitalter Gabriele Faßbeck Der Tempel der Christen Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zur Aufnahme des Tempelkonzepts im frühen Christentum TANZ 33, 2000, XII, 317 Seiten, DM 96,-/ ÖS 701,-/ SFr 86,- ISBN 3-7720-2825-X In der neutestamentlichen Forschung war die Beschäftigung mit Tempel und Kult des Frühjudentums lange von Vorbehalten geprägt, die eher die theologischen Präferenzen der Wissenschaftler widerspiegelten als die historischen Sachverhalte in der Zeit des frühen Christentums. Neuere Arbeiten haben die Bedeutung des Tempels auch für die ersten christlichen Generationen erkannt. Diese Untersuchung zeigt auf, wie interessiert frühchristliche Autoren an der Übernahme tempeltheologischer Konzepte waren und welche Wege sie beschritten, um diese für ihre eigenen Aussageabsichten fruchtbar zu machen. Hanna Roose "Das Zeugnis Jesu" Seine Bedeutung für die Christologie, Eschatologie und Prophetie in der Offenbarung des Johannes TANZ 32, 2000, 252 Seiten, DM 86,-/ ÖS 628,-/ SFr 77,- ISBN 3-7720-2824-1 Was verrät der Begriff des "Zeugnisses Jesu" über den Seher Johannes, seine Einschätzung der Gegenwart und die Gemeinden, an die er schreibt? Auf dem Weg einer detaillierten historisch-kritischen Untersuchung kommt die motivgeschichtliche Arbeit zu neuen Ergebnissen. Dieter Massa Verstehensbedingungen von Gleichnissen Prozesse und Voraussetzungen der Rezeption aus kognitiver Sicht TANZ 31, 2000, 389 Seiten, DM 108,-/ ÖS 788,-/ SFr 97,- ISBN 3-7720-2823-3 Diese Studie bietet nicht nur eine kritische Sichtung der verschiedenen Schulen der Gleichnisexegese in der Theologie und der germanistischen Parabelforschung, sondern zeigt auch neue Wege zwischen den Fronten auf. Dies geschieht durch die Orientierung an modernsten Erkenntnissen der kognitiven Sprachverarbeitungsforschung. Gleichnisse sind mehrsinnige sprachliche Bilder, die eine besondere kognitive Verstehensaktivität vom Rezipienten verlangen. Axel von Dobbeler Der Evangelist Philippus in der Geschichte des Urchristentums Eine prosopographische Skizze TANZ 30, 2000, 335 Seiten, DM 98,-/ ÖS 715,-/ SFr 88,- ISBN 3-7720-2822-5 Am Beispiel des in der Forschung bisher wenig beachteten Evangelisten Philippus eröffnet die Arbeit Einblicke in die Geschichte des Urchristentums. In den vier noch erkennbaren Phasen seiner Wirksamkeit erscheint Philippus durchweg als pneumatisch begabter und charismatisch wirkender führender Vertreter eines sich wesentlich an prophetischen Traditionen orientierenden Christentums, für das die praktische Diakonie als Ausdruck "wahrer" Prophetie zentrale Bedeutung hatte. A. Francke Verlag Tübingen und Basel Hans-Christoph Goßmann Ist vom Neuen Testament her ein christlich-islamischer Dialog möglich? Die Frage, mit der dieser Beitrag überschrieben ist, hat ihren Sitz im Leben in der aktuellen gesellschaftlichen Realität. Wir leben schon seit langem mit Menschen anderer kultureller und religiöser Zugehörigkeit zusammen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Das >Lexikon der Hamburger Religionsgemeinschaften,1 weist in seiner zweiten Auflage (1995) 105 Religionsgemeinschaften in Hamburg auf. Diese Zahl macht deutlich, daß die Zeiten religiöser Homogenität der Vergangenheit angehören und daß diejenigen, die in Städten wie Hamburg leben, sich mit dieser Vielfalt auseinanderzusetzen haben, weil sie ihr im alltäglichen Leben auf Schritt und Tritt begegnen. Aus kirchlicher Perspektive betrachtet mag diese Auseinandersetzung durchaus auch schmerzliche Züge tragen ist sie doch mit der Erkenntnis verbunden, daß die Kirche ihr Monopol in bezug auf Religion und Religiosität verloren hat. Die Frage >Religiöser Pluralismus oder christliches Abendland? " mit der Reinhart Hummel seine 1994 erschienene Monographie 2 überschrieben hat, scheint somit eindeutig beantwortet. Mit dieser Frage stellt sich für die christliche Theologie noch eine weitere: die nach der Wertung der anderen Religionen. Kann diese zweite Frage auf der Grundlage biblischer Aussagen beantwortet werden? In bezug auf das Verhältnis zum Judentum ist diese Frage so alt wie das Christentum selbst. In der Diskussion um diese Frage, die im evangelischen Kontext in Deutschland geführt wird, ist die erste Studie >Christen und Juden< des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) aus dem Jahr 1975 3 von entscheidender Bedeutung. Denn sie hat in unterschiedlichen Gliedkirchen der EKD Diskussionen über das christlich-jüdische Verhältnis ausgelöst, die mittlerweile in vielen kirchlichen Verlautbarungen ihren Niederschlag gefunden haben. So bezog sich die Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR) in ihrem sehr kontrovers diskutierten >Synodalbeschluß zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden, vom 11. Januar 1980 direkt auf die EKD-Studie von 1975. Diese Studie ZNT 5 (3. Jg. 2000) ist in drei Teile untergliedert: >l. Gemeinsame Wurzeln" >II. Das Auseinandergehen der Wege, und >III. Juden und Christen heute<. Im ersten Teil wird deutlich, daß das Christentum mit dem Judentum durch Gemeinsamkeiten verbunden ist, die es mit keiner anderen Religion teilt. So beginnt der Teil I. mit den Sätzen: »Die christliche Gemeinde hat ihre Wurzeln im Judentum. Jesus lebte und lehrte innerhalb des jüdischen Volkes. Er selbst wie auch seine Jünger und die Apostel waren Juden; sie hatten teil am Glauben und an der Geschichte ihres Volkes.« 4 Daß dieser Teil I. unter das Wort aus dem Römerbrief gestellt ist: »Du sollst wissen, daß nicht du die Wurzel trägst, sondern die Wurzel trägt dich« (Röm 11,18), bedarf keiner weiteren Erklärung. Auch die Lutherische Europäische Kommission Kirche und Judentum (LEKKJ) betont in ihrer >Erklärung zur Begegnung zwischen lutherischen Christen und Juden, vom 8. Mai 1990 diese Gemeinsamkeiten und zieht aus ihnen folgende Konsequenzen: »Weil Jesus aus dem jüdischen Volk kommt und sich von ihm nicht losgesagt hat und weil das Alte Testament die Bibel J esu und der Urkirche war, sind Christen durch ihr Bekenntnis zu Jesus Christus in ein einzigartiges Verhältnis zu Juden und ihrem Glauben gebracht, das sich vom Verhältnis zu anderen Religionen unterschiedet.«5 Diese Auffassung zieht sich wie ein roter Faden durch die unterschiedlichen christlichtheologischen Verhältnisbestimmungen zum Judentum, und so ist es nicht erstaunlich, daß dieser Satz aus dem LEKKJ-Erklärung in der Präambel der Erklärung >Christen und Juden< der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern vom 24. November 1998 zitiert ist. 6 Bereits in flüchtiger Blick in die Schriften des Neuen Testamentes zeigt, daß sich in ihnen eine Vielzahl von Aussagen findet, auf die im Rahmeneiner christlich-theologischen Verhältnisbestimmung zum Judentum eingegangen werden kann. Bei der o.g. Frage nach der Wertung anderer Religionen haben wir in bezug auf das Judentum folglich eine vollkommen andere Ausgangslage als hinsichtlich anderer Religionen insbesondere hinsichtlich 21 nachchristlicher Religionen, zu deren Wertung sich im Neuen Testament keine Aussagen finden können. Aber ist aus diesem Befund die Konsequenz zu ziehen, daß keine andere Religion mit dem Christentum so eng verbunden ist wie das Judentum? Die Gemeinsamkeiten zwischen Christentum und Judentum, die in den eingangs zitierten kirchlichen Verlautbarungen zur Sprache kommen, verbinden in der Tat das Christentum mit dem Judentum - und mit keiner anderen Religion. Aber ist damit bereits gesagt, daß es keine Gemeinsamkeiten zwischen dem Christentum und einer anderen Religion gibt, die es zwischen Christentum und Judentum nicht gibt? Im folgenden wird diese Frage anhand des Islams, also einer religionsgeschichtlich gesehen nachchristlichen Religion thematisiert. Allein die Tatsache, daß der Islam eine nachchristliche Religion ist, hat bereits zu massiver Ablehnung durch christliche Theologen geführt. Diese Ablehnung richtete sich in der Regel gegen Muhammad. Monika Tworuschka hat in der Einleitung des von ihr herausgegebenen Bandes >Der Prophet Gottes: Mohammed/ einen kurzen Überblick über christliche Muhammadbilder gegeben. 8 Sie legt dar, daß bis zur Zeit der Aufklärung Muhammad und damit auch der Islam ausschließlich negativ beurteilt worden sind. Muhammad wurde als falscher Prophet gesehen, der sich in seiner Verkündigung nicht legitimerweise auf eine Offenbarung Gottes berufen könne. Trotz einiger neuerer Ansätze in der Beurteilung Muhammads 9 und des von ihm verkündigten Glaubens ist diese negativ Sichtweise nach wie vor prägend. So sieht um nur ein Beispiel zu nennen - Eberhard Troeger in seinem Beitrag ,Der Islam in christlicher Sicht< 10 im Islam »das Ergebnis christlichen Versagens und deshalb einen Ruf zur Umkehr« 11 und »das Ergebnis eines Irrtums« 12 . Daß der Islam das Ergebnis christlichen Versagens sei, begründet Troeger mit den Hinweis darauf, daß Muhammad »ein Zerrbild von Christentum« 13 kennengelernt habe, so daß er nicht hat »begreifen können, daß das Evangelium seinem Volk gilt.« 14 Aus seiner These, »daß die Christenheit für das Entstehen der islamischen Irrtümer verantwortlich ist« 15 , folgert Troeger: »Der Islam ist ein Irrtum.« 16 Aufgrund der inhaltlichen Differenzen zwischen Bibel und Koran sieht Troeger im Islam schließlich »eine nachbiblische und damit antibiblische, endzeitliche Erscheinung« 17. 22 Die von Troeger vollzogene Gleichsetzung von »nachbiblisch« und »antibiblisch« macht deutlich, daß es für ihn eine Offenbarung Gottes nach der Offenbarung in Jesus Christus nicht geben kann. Ist eine solche Auffassung mit neutestamentlichen Aussagen zu belegen? In diesem Zusammenhang wird oft auf die Aussage in Hebr 9,1 lf. hingewiesen, daß Christus »ein für allemal« in das Heiligtum hineingegangen sei und auf diese Weise »eine ewige Erlösung« erlangt habe. Aus der Formulierung »ein für allemal« wird gefolgert, daß Gott sich kein weiteres Mal offenbaren werde. Jeder nachbiblischen Religion also auch dem Islam -wird damit der Anspruch bestritten, auf göttlicher Offenbarung zu basieren. Ist durch diese neutestamentliche Aussage dem Islam die Legitimität als Offenbarungsreligion abgesprochen? Wer dies bejaht, wird die eingangs gestellte Frage, ob vom Neuen Testament her ein christlichislamischer Dialog möglich sei, verneinen. Denn ein interreligiöser Dialog ist nur dann möglich, wenn sich die an ihm Beteiligten gegenseitig als Gläubige akzeptieren und respektieren. Wer wie Eberhard Troeger im Islam ein nachbiblisches und damit antibiblisches Phänomen sieht, kann die Offenbarungen, auf die Muhammad sich beruft, auch als ein antichristliches Phänomen sehen. So vertritt Jürgen Kuberski in seinem Band >Mohammed und das Christentum.< 18 unter Berufung auf II Kor 11,14 und Gal 1,8 die Auffassung, »daß der Gegenspieler Gottes diese Erscheinungen direkt oder indirekt dazu benutzt hat, Mohammeds Irrtümer zu bestärken.« 19 Daß diese negativen Wertungen Muhammads und des Islams mit Zitaten aus dem Neuen Testament begründet werden, wirft die Frage auf, ob dies eine theologisch zu vertretende Interpretation der zitierten Bibelstellen ist. Wenn auch hinsichtlich der beiden von Jürgen Kuberski herangezogenen Paulus-Stellen deutlich ist, daß diese nicht im Rahmen einer Exegese ausgelegt, sondern in Form einer Eisegese als Projektionsflächen für eine Begründung der Ablehnung der Islams instrumentalisiert werden, die mit der jeweils ursprünglichen Intention dieser Stellen nichts gemeinsam hat, so gestaltet sich die Beantwortung dieser Frage in Hinblick auf die o.g. Stelle aus dem Hebräerbrief ungleich komplexer. Denn wenn die Möglichkeit einer nachchristlichen Offenbarung grundsätzlich ausgeschlossen wird, dann lautet unter Bezug- ZNT 5 (3. Jg. 2000) Hans-Christoph Goßmann Pastor Hans-Christoph Goßmann, geb. 1959, Studium in München, Kiel, Jerusalem, Münster und Tunis, ist Theologischer Referent für christlichislamischen Dialog am Nordelbischen Zentrum für Weltmission und Kirchlichen Weltdienst (NMZ) in Hamburg und Lehrbeauftragter am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg (Missions-, Ökumene- und Religionswissenschaft) Zahlreiche Veröffentlichungen zur hebräischen Sprache und ihrer Didaktik sowie zum interreligiösen Dialog mit dem Judentum und dem Islam. nahme auf Hebr 9,1 lf. die Antwort auf die Frage, ob vom Neuen Testament her ein christlich-islamischer Dialog möglich ist: Nein. Wie ist die Aussage von Hebr 9,1 lf. zu verstehen? Um diese Frage beantworten zu können, ist der Kontext zu berücksichtigen, in dem dieser Vers steht. Hans-Friedrich Weiß schreibt in seinem Kommentar >Der Brief an die Hebräer< 20 über Hebr 9,1-10, also den Abschnitt, der den in diesem Zusammenhang relevanten Versen unmittelbar vorausgeht: »Im Kontext der Kapitel 8 und 9 ist die nunmehr folgende Beschreibung des irdischen Heiligtums und seines Priesterdienstes von vornherein auf die Gegenüberstellung zum neuen und endgültigen Priesterdienst des >Christus< (9,1 Hf.) ausgerichtet.« 21 In Vers 9,11 wird diese Gegenüberstellung ausgeführt: »Dem irdischen Hohenpriester der alten Kultordnung (V.7.) wird nunmehr >Christus< gegenübergestellt« 22 , es geht also um »die Überbietung des irdischen Hohenpriestertums«23. Worin diese Überbietung besteht, wird in Vers 12 ausgeführt: »In welchem Maße die Gegenüberstellung von irdischem und himmlischem Heiligtum, wie sie zunächst für V.11 bestimmend gewesen ist, ihrerseits wiederum in unserem Abschnitt in den soteriologisch ausgerichteten Kontext integriert ist, zeigt sich jedenfalls ZNT 5 (3. Jg. 2000) Hans-Cluistoph Goßmann Neues Testament und christ! ich-is! amischer Dialog vor allem in V.12: Hier wird nunmehr über alle räumlich-dualistischen Kategorien und alle Andeutungen einer himmlischen Topographie hinaus der entscheidende Unterschied zwischen der alten und der neuen Heilsordnung benannt. Er besteht in der Art und Weise der Vermittlung von Heil und Erlösung, was in den hier die Argumentation bestimmenden kultischen Kategorien heißt: im Vollzug des Opfers.« 24 Der Verfasser des Hebräerbriefes hatte somit also die bisherige Kultpraxis im Blick und setzt sich mit ihr kritisch auseinander, da er sie durch Gottes Heilshandeln in Jesus Christus für überholt hält. Die Entstehung einer oder mehrerer Religionen nach diesem göttlichen Heilshandeln lag außerhalb seines Horizontes. Somit enthält auch die Aussage von Hebr 9,1 lf. in ihrer ursprünglichen Intention nicht die Aussageabsicht, einer religionsgeschichtlich gesehen nachchristlichen Religion wie z.B. dem Islam die Legitimität als Off enbarungsreligion abzusprechen. Die o.g. Gleichsetzung von »nachbiblisch« und »antibiblisch« läßt sich also mit Hebr 9,1 lf. nicht begründen. Somit steht diese Bibelstelle einem christlich-islamischen Dialog nicht grundsätzlich entgegen. Die Ausgangsfrage, ob vom Neuen Testament her ein christlich-islamischer Dialog möglich ist, ist damit jedoch noch offen. Um sie zu beantworten, ist zu klären, was unter einem ,Dialog< zu verstehen ist: Der Begriff >Dialog< ist aus dem Griechischen übernommen. Das Substantiv >dialogos< ist ein Derivat des Verbes >dialegomai<, das gemäß dem >Griechisch-Deutschen Schul- und Handwörterbuch< von Wilhelm Gemoll 25 die Bedeutungen hat: >sich etw. im Nachdenken auseinanderlegen" >überdenken< und >erwägen, 26 . Bereits an diesen Bedeutungen wird deutlich, daß dieses Verb einen Prozeß beschreibt, in dem sich etwas klärt, in dem sich Auffassungen und Einstellungen verändern. Die dann darüber hinaus genannten Bedeutungen >sich unterreden<, >besprechen< sowie ganz allgemein: >sprechen<27 sind vor diesem Hintergrund zu sehen. Das von dem Verb >dialegomai< abgeleitete Substantiv ,dialogos< bezeichnet dementsprechend keinen small talk, sondern ein kommunikatives Geschehen, das sich zwischen zwei oder mehreren Menschen vollzieht und bei dem die an ihm Beteiligten sich wirklich aufeinander einlassen. Ein christlich-islamischer Dialog ist also kein Dialog zwischen zwei abstrakten Größen na- 23 Mohammed im Gebet bei der Kaaba. Aus Ehrfurcht vor dem heiligen Geschehen bleibt das Gesicht des Propheten verhüllt. Aus: Hubertus Halbfas, Unterrichtswerk für die Sekundarstufe I. Religionsbuch für das 5. und 6. Schuljahr, Düsseldorf 1989 (Patmos Verlag) mens ,Christentum< und ,Islam<, sondern eine Begegnung von Menschen, die in diesen Religionen auf ihre je eigene, unverwechselbare Art und Weise beheimatet sind. Einern solchen Dialog sind weder durch die beiden von Jürgen Kuberski zitierten Stellen aus den Briefen des Apostels Paulus noch durch Hebr 9,1 lf. Steine in den Weg gelegt. Im Neuen Testament begegnen vielmehr Aussagen, die zu einem solchen Dialog ermutigen und ermuntern. So heißt es in der Bergpredigt: »Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden? « 28 Hier wird ausdrücklich dazu aufgefordert, sich den Anderen zuzuwenden denen, die nicht der eigenen Gemeinschaft angehören. Ein christlich-islamischer Dialog wird nur dann fruchtbar sein, wenn neben den Gemeinsamkeiten auch die Unterschiede in den Blick genommen werden. Musliminnen und Muslime sind für Christinnen und Christen Angehörige einer anderen, 24 nichtchristlichen Religionsgemeinschaft. Die dadurch markierte Grenze verhindert einen Dialog mit ihnen jedoch nicht ganz im Gegenteil: In Mt 5, 46f. werden Christinnen und Christen nachdrücklich dazu aufgefordert, sich Menschen jenseits aller Grenzen zuzuwenden. In Anbetracht dieses neutestamentlichen Befundes ist die eingangs gestellte Frage, ob vom Neuen Testament her ein christlich-islamischer Dialog möglich ist, eindeutig zu bejahen. Die Bergpredigt fordert nachdrücklich dazu auf, sich Menschen außerhalb der eigenen Gemeinschaft zuzuwenden - und somit auch Musliminnen und Muslimen-, und da sich aus den neutestamentlichen Schriften nicht ableiten läßt, daß dem Islam seine Legitimität als Offenbarungsreligion abzusprechen ist, werden durch sie diesem Dialog auch keine Steine in den Weg gelegt. Ganz im Gegenteil: Das Neue Testament bietet eine Vielzahl von Themen für diesen Dialog. Denn viele Erzählungen, die wir aus dem Neuen Testament kennen, begegnen auch im Koran wenn auch in anderer Form. Daß einerseits einander entsprechende Inhalte begegnen, die andererseits auf unterschiedliche Weise dargestellt sind, lädt zu einem Dialog geradezu ein. Die einander entsprechenden Inhalte bilden als Gemeinsamkeiten die Grundlage für einen Dialog, und die Unterschiede in der Darstellung eröffnen den Weg zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung über die Glaubensinhalte, die die Grenzen zwischen den beiden Religionen markieren. Dialoge auf einer solchen Grundlage können dazu beitragen, die jeweils Andersgläubigen in ihrer Andersartigkeit besser zu verstehen, d.h. besser zu verstehen, worin die theologischen Differenzen im einzelnen bestehen. Dies soll im folgenden anhand eines konkreten Beispieles verdeutlicht werden: anhand der Darstellung der Ankündigung der Geburt Jesu sowie der Geburt selbst. Im Koran werden die GeburtJesu und ihre Ankündigung in Sure 19, 16-36 beschrieben. Diese Sure stammt aus der mekkanischen Zeit und ist mit den Namen ,Maria (Maryam), überschrieben. Der Text hat folgenden Wortlaut: » 16 Und gedenke im Buch der Maria, als sie sich von ihren Angehörigen an einen östlichen Ort zurückzog. 17 Sie nahm sich einen Vorhang vor ihnen. Da sandten Wir unseren Geist zu ihr. Er erschien ihr im Bildnis eines wohlgestalteten Menschen. ZNT 5 (3. Jg. 2000) 18 Sie sagte: ,Ich suche beim Erbarmer Zuflucht vor dir, so du gottesfürchtig bist.< 19 Er sagte: ,Ich bin der Bote deines Herrn, um dir einen lauteren Knaben zu schenken.< 20 Sie sagte: ,Wie soll ich einen Knaben bekommen? Es hat mich doch kein Mensch berührt, und ich bin keine Hure.< 21 Er sagte: ,So wird es sein. Dein Herr spricht: Das ist Mir ein leichtes. Wir wollen ihn zu einem Zeichen für die Menschen und zu einer Barmherzigkeit von Uns machen. Und es ist eine beschlossene Sache.< 22 So empfing sie ihn. Und sie zog sich mit ihm zu einem entlegenen Ort zurück. 23 Die Wehen ließen sie zum Stamm der Palme gehen. Sie sagte: ,O wäre ich doch vorher gestorben und ganz und gar in Vergessenheit geraten! , 24 Da rief er ihr von unten her zu: ,Sei nicht betrübt. Dein Herr hat unter dir Wasser fließen lassen. 25 Und schüttle den Stamm der Palme gegen dich, so läßt sie frische, reife Datteln auf dich herunterfallen. 26 Dann iß und trink und sei frohen Mutes. Und wenn du jemanden von den Menschen siehst, dann sag: Ich habe dem Erbarmer ein Fasten gelobt, so werde ich heute mit keinem Menschen reden.< 27 Dann kam sie mit ihm zu ihrem Volk, indem sie ihn trug. Sie sagten: ,O Maria, du hast eine unerhörte Sache begangen. 28 0 Schwester Aarons, nicht war dein Vater ein schlechter Mann, und nicht war deine Mutter eine Hure.< 29 Sie zeigte auf ihn. Sie sagten: ,Wie können wir mit dem reden, der noch ein Kind in der Wiege ist? < 30 Er sagte: ,Ich bin der Diener Gottes. Er ließ mir das Buch zukommen und machte mich zu einem Propheten. 31 Und Er machte mich gesegnet, wo immer ich bin. Und Er trug mir auf, das Gebet und die Abgabe (zu erfüllen), solange ich lebe, 32 und pietätvoll gegen meine Mutter zu sein. Und Er machte mich nicht zu einem unglückseligen Gewaltherrscher. 33 Und Friede sei über mir am Tag, da ich geboren wurde, und am Tag, da ich sterbe, und am Tag, da ich wieder zum Leben erweckt werde.< 34 Das ist Jesus, der Sohn Marias. Es ist das Wort der Wahrheit, woran sie zweifeln. 35 Es steht Gott nicht an, sich ein Kind zu nehmen. Preis sei Ihm! Wenn Er eine Sache beschlossen hat, sagt Er zu ihr: Sei! , und sie ist. 36 ,Und Gott ist mein Herr und euer Herr; so dienet Ihm. Das ist ein gerader Weg.<« 29 Ein synoptischer Vergleich dieses Textes mit Mt 1,18-25, Lk 1,26-38 und Lk 2,1-20 verdeutlicht sowohl die Gemeinsamkeiten wie auch die Unterschiede zwischen der neutestamentlichen ZNT 5 (3. Jg. 2000) i·fans-Cluistoph Goßmann NeuesTestament und christlic: h-islamischer Dialog Der Prophet auf dem Berge Hira. Aus: Hubertus Halbfas, Unterrichtswerk für die Sekundarstufe I. Religionsbuch für das 5. und 6. Schuljahr, Düsseldorf 1989 (Patmos Verlag) und der koranischen Darstellung. Er zeigt die hohe Bedeutung, die Jesus auch im Koran hat, macht aber zugleich deutlich, daß Jesus im Islam eine andere Bedeutung hat als im Christentum. Eine eingehende Betrachtung der Texte würde dies anhand vieler Einzelaspekte belegen. Hier sollen lediglich einige wenige zentrale Punkte zur Sprache kommen. So ist bemerkenswert, daß im Neuen Testament wie im Koran die Geburt J esu als Jungfrauengeburt dargestellt ist. Ein weiteres Thema ist das der Schöpfung durch Gottes Wort, wie sie in Vers 35 der 19. Sure thematisiert ist, wo es über Gottes schöpferisches Handeln heißt: »Wenn Er eine Sache beschlossen hat, sagt Er zu ihr: Sei, und sie ist.« Dies entspricht der paulinischen Aussage über Gott, »der da lebendig macht die Toten und ruft dem, was nicht ist, daß es sei.« 30 Im Koran wie im Römerbrief ist es das Wort Gottes, das schöpferisch wirkt. In Sure 19, 35 ist jedoch auch eine Aussage enthalten, die zumindest auf den ersten Blick eine 25 ZumThema klare Absage an die christliche Lehre der Gottessohnschaft enthält: »Es steht Gott nicht an, sich ein Kind zu nehmen.« Diese Aussage eröffnet, gerade weil sie den Unterschied zu christlichen Glaubensinhalten so deutlich benennt, den Weg zu einem interreligiösen Dialog zwischen Christen und Muslimen, in dem die christlichen Dialogpartnerinnen und -partner darlegen können, was sie unter Gottessohnschaft verstehen und was sie ihnen bedeutet. Ein synoptischer Vergleich würde noch weitere Themen zu Tage fördern, die in christlich-islamischen Dialogen von Bedeutung sind. Aber bereits dieser erste Blick auf die Texte dürfte gezeigt haben, daß vom Neuen Testament her ein christlichislamischer Dialog nicht nur möglich ist, sondern daß das Neue Testament den Christinnen und Christen eine Grundlage liefert, auf der sie diesen Dialog in Respekt vor der Andersartigkeit ihrer muslimischen Dialogpartnerinnen und -partner führen können. Anmerkungen 1 Wolfgang Grünberg u.a. (Hgg.), Lexikon der Hamburger Religionsgemeinschaften, Hamburg 1994. 2 Reinhart Hummel, Religiöser Pluralismus oder christliches Abendland? Herausforderung an Kirche und Gesellschaft, Darmstadt 1994. 3 Christen und Juden. Eine Studie des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland. Herausgegeben im Auftrag des Rates von der Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh, 2 1976. 4 Christen und Juden, 9. 5 Zitiert nach: U. Schwemer (Hg.), Christen und Juden. Dokumente einer Annäherung, Gütersloh 1991, 182. 6 Vgl. die Dokumentation der Erklärung in: Freiburger Rundbrief, Neue Folge 6 (1999) 191. 7 Monika Tworuschka (Hg.), Der Prophet Gottes: Mohammed, Gütersloh 1986. 8 Ebd., S. 9-17. 9 So postuliert der evangelische Systematiker Reinhard Leuze, Christentum und Islam, Tübingen 1994, daß Muhammad christlicherseits als Prophet anerkannt werden sollte. 10 Eberhard Troeger, Der Islam in christlicher Sicht, in: Jahrbuch Mission 1986, Hamburg 1986, 72-80. 11 Ebd., S. 76. 12 Ebd., S. 77. 13 Ebd., S. 76. 14 Ebd., S. 77. 15 Ebd. 16 Ebd. 26 17 Ebd., S. 79. 18 Jürgen Kuberski, Mohammed und das Christentum. Das Christentum zur Zeit Mohammeds und die Folgen für die Entstehung des Islam (Disputationes religionum orbis, Sectio 0: Orient et occident 1 ), Bonn 1987. 19 Ebd., S. 82; 68. 20 Der Brief an die Hebräer. Übersetzt und erklärt von Hans-Friedrich Weiß (Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament 13), Göttingen, 15 1991. 21 Ebd., 448. 22 Ebd., 464. 23 Ebd. 24 Ebd., 467. 25 W. Gemoll, Griechisch-Deutsches Schul- und Handwörterbuch, München/ Wien, 8 1962. 26 Ebd., 201. 29 Ebd. 28 Mt 5,46f. 29 Zitiert nach: Der Koran. Übers. von Adel Theodor Khoury (GTB 783) Gütersloh 1987, 230f. 30 Röm 4,17. Vorschau auf das nächste Heft Neues T~stament aktuell Bernd Wander Das frühe Christentum unter der Lupe Ein: zelbeiträge Steve Mason Aufstandsführer, Kriegsgefangener, Geschichtsschreiber: Der jüdische Historiograph Flavius Josephus und seine Bedeutung für das Verständnis des Neuen Testamentes Hannah Cotton Zur rechtlichen Stellung der Frau im Judentum des 1. Jahrhunderts Klaus Koenen Die Gestalt des Jona im AT und NT Kontro1i'erse Die Einheit der Urgemeinde - Fiktion oder Wirklichkeit? Franr; ois Vouga versus Roman Heiligenthal Hermeneutik und Vermittlung Christina Urban Jesus im Film Heft6 erscheint im Oktober 2000 ZNT 5 (3. Jg. 2000) Werner Kahl Zur Interpretation des Neuen Testaments im sozio-kulturellen Kontext Westafrikas Eine sich in Menschenrechtsfragen engagierende US-amerikanische Austauschstudentin in Ghana äußert einer afrikanischen Religionswissenschaftlerin gegenüber ihren Unmut über die starke und noch weiter anwachsende Präsenz des Christentums in Westafrika. Dieses Phänomen deutet sie als klaren Beweis für die anhaltende und durchschlagende Einflussnahme des westlichen Imperialismus. Ihre Professorin ist eine geduldige und weise Frau. Sie hört zu, und sie kann die Aufregung der Studentin nachvollziehen, wenn auch nicht teilen. Denn bei allem Engagement offenbaren ihre Ausführungen doch, dass sie die afrikanischen Christ- Innen nicht ernstnimmt. Die Professorin weist sie darauf hin, dass es mit der Entkolonialisierung vor 40 Jahren tatsächlich von politischer Seite Versuche gab, im Namen des Panafrikanismus das Christentum durch die Wiederbelebung der traditionellen Religion zu verdrängen. Doch das Kirchenvolk reagierte anders: Es nahm die Kirche(n) in die eigenen Hände und afrikanisierte sie, indem europäische Kulturelemente, die im afrikanischen Kontext kaum oder gar keinen Sinn machen (Orgelmusik und Choräle, europäische Kleidung, Sitzen, Stille, Zentrierung auf Pastor, starre Liturgie), durch afrikanische ergänzt bzw. ersetzt wurden (Kongas, Rhythmusinstrumente, Tanz, afrikanische Kleidung und traditionelle Symbole, Partizipation der Gemeinde, Begeistertes Singen im Stehen, Offenheit der Liturgie für spontane Elemente, Raum für emotionale Äußerungen von Trauer und Freude sowie für Begegnungen mit dem Geist Gottes), bzw. gleich in großer Zahl neue Kirchen ins Leben gerufen wurden. So konnte das Christentum in Afrika ein Zuhause finden aufgrund der kritischen und kreativen Aktivität von AfrikanerInnen. Diese Entwicklung hat alle Kirchen erfasst. Einige frühere Missionskirchen, die sich zu widersetzen versuchten, drohten durch rapiden Mitgliederschwund in die Bedeutungslosigkeit abzugleiten. Erst die Öffnung für Reformen ermöglichte die Weiterexistenz -im neuen, afrikanischen Gewand, d.h. farbenfroh, lebendig und freundlich. Gleiches trifft auf die akademische Theologie ZNT 5 (3. Jg. 2000) zu. Afrikanische ReligionswissenschaftlerInnen und Theologinnen begleiten den kirchlichen Prozess der aktiven Kontextualisierung kritisch reflektierend. Als in afrikanischer Tradition gegründete und in westlicher Theologie geschulte Universitätslehrerinnen entwickeln sie eine genuin afrikanische Theologie, die Antworten auf Fragen sucht, die in diesem Kontext relevant sind. Hiesige Neutestamentlerlnnen exegetisieren aus afrikanischer Perspektive. Dabei entdecken sie im Hinblick auf Wertesysteme und Wirklichkeitsdeutung sowie sozio-ökonomische Gegebenheiten viele Übereinstimmungen zwischen der Antike und Westafrika. Die Christinnen in den Kirchen und jungen Gemeinden scheinen darüber hinaus in einem erstaunlichen Maße von ähnlichen Fragen, Erfahrungen und Hoffnungen umtrieben zu werden wie ihre Vorgängerinnen in neutestamentlicher Zeit. Das Studium kirchlicher und populärchristlicher Phänomene in diesem Kontext wird somit bei Wahrung des kritischen und für Diskontinuitäten offenen Blicks als durchaus aufschlussreich für die Einschätzung frühchristlicher Zeugnisse und Entwicklungen erachtet. 1. Hermeneutische Voraussetzungen Gerd Theißen plädiert für eine »polyvalente Exegese«. Die Ernstnahme afrikanischer Interpretationen und Applikationen des Neuen Testaments kann an seine Ausführungen anknüpfen: »Ein Grundsatz analytischer Hermeneutik ist die Anerkennung des konstruktivistischen Elements jeder Interpretation. Jede Interpretation muß im Text Ergänzungen vornehmen, Strukturen eintragen, probeweise Identifikationen vollziehen.« 1 Die Einsicht in die begrenzte Polysemie von Texten und in die Bedeutung des sozio-ökonomischen und sonstigen kulturellen Kontextes der Leserinnen innerhalb einer lnterpretationsgemeinschaft 2 auch einer wissenschaftlichen-hat zu einer Relativierung der europäischen Exegese und damit einhergehend zu einer Aufwertung von lateinameri- 27 kanischen 3, afrikanischen 4 und asiatischen 5 Hermeneutiken sowie von bisher nicht berücksichtigten kulturellen Perspektiven wie feministischer 6 oder afro-amerikanischer 7 Theologie geführt. 8 Das vor einem Vierteljahrhundert insbesondere von Seiten lateinamerikanischer Theologinnen von ihren europäischen Kolleglnnen eingeforderte Zugeständnis des kontextuellen Charakters jeglicher Theologie und auch jeglichen methodischen Zugangs zur Bibel ist erst im wissenschaftstheoretischen Diskurs der Gegenwart allgemein plausibel geworden. 9 Der Absolutheitsanspruch westlicher Exegese hingegen konnte als Bestandteil eines kulturgeschichtlichen Imperialismus benannt und somit relativiert werden. Neuere methodische Zugänge zur Bibel orientieren sich an Erkenntnissen der kontemporären Epistemologie und Textwissenschaft. Der sich Bahn brechende Paradigmenwechsel innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft ist Ausdruck eines dezentrierenden und befreienden Prozesses innerhalb der Theologie, der seine Entsprechung in der Polyzentrizität der Bibel selbst findet. 10 Die seit wenigen Jahren wichtig werdende kulturelle Exegese erhellt Lektüren des Neuen Testaments aus unterschiedlichen kulturellen Perspektiven und bringt sie miteinander ins Gespräch, um auf diese Weise das Bedeutungspotential des Neuen Testaments vollständiger, als das aus nur einer Perspektive möglich wäre, erschließen zu können. 11 Damit wird Exegese zu einer interkulturellen, ökumenischen und auch interdisziplinären Angelegenheit und Aufgabe. 12 Der Auseinandersetzung mit anderen kontemporären Lesarten des Neuen Testaments kommt außerdem eine korrigierende Funktion zu. Die Beachtung anderer Lektüreergebnisse kann mein jeweiliges Verständnis des Neuen Testaments in Frage stellen, es erweitern und somit bereichern. Innerhalb der neueren hermeneutischen Diskussion ist darauf aufmerksam gemacht worden, daß es Aufgabe kritischer Exegese sein muß, Lektüren in verschiedener Hinsicht auf ihre Angemessenheit hin zu prüfen: Sinnvolle / nterpretationen der Bibel sofern es sich nicht um willkürliches Benutzen des Textes handeln soll haben den drei Kriterien Schriftgemäßheit, kulturelle Plausibilität und situativ-kontextuelle Relevanz standzuhalten.13 Wie genau die Verifikation einer Lesart am Text vorzunehmen ist, bedarf allerdings der semiotischen Reflexion. 14 Die Leserperspektive differen- 28 ziere ich aufgrund epistemologischer Erwägungen in Relevanz- und Plausibilitätskriterium: Eine Lesart wird in einer bestimmten sozio-ökonomisch geprägten Situation, bzw. im Kontext bestimmter existentieller Fragen und Interessen relevant; Voraussetzung ihrer Aktualisierung ist aber die kulturell bedingte Enzyklopädie der Interpretationsgemeinschaft. Die intersubjektiv vermittelte Enzyklopädie der LeserInnen ist die Möglichkeitsbedingung der Selektion und Aktualisation im Lektürevorgang, während die jeweilige Lebenssituation einhergehend mit einer entsprechenden Interessenlage den auslösenden Faktor als hinreichende Bedingung einer Sinnfestlegung darstellt. 15 Unter diesem Blickwinkel werde ich im folgenden maßgebliche Lektüren des Neuen Testaments in Westafrika vorstellen und befragen, und zwar am Beispiel populärer Bibelauslegung 16, wie sie vor allem in dort weit verbreiteten oralen Traditionen wie Liedern begegnet. Im Brennpunkt der folgenden Darstellung steht die in Westafrika vorherrschende Deutung von Jesus Christus als wunderwirkendem Retter und Erlöser aus konkreter Not.17 Eine besondere Herausforderung an die westliche Exegese der nördlichen Hemisphäre bedeutet dabei die Frage, ob nicht anderen kulturellen Perspektiven aufgrund einer größeren Affinität zu antiken sozio-ökonomischen Verhältnissen und kulturellen Voraussetzungen hinsichtlich des Verständnisses des Neuen Testaments ein hermeneutischer Vorsprung eingeräumt werden müsse. 18 2. Kulturelle Parameter des Wirklichkeitsverständnisses in Westafrika Der ghanaische Religionswissenschaftler Kwarne Opoku macht im Hinblick auf die afrikanischen traditionellen Religionen sowohl auf den Pluralismus afrikanischer Religiosität als auch auf verbindende Elemente aufmerksam: »Afrika ist so groß und hat eine so große Anzahl von Gesellschaften, die sich deutlich voneinander unterscheiden, dass man dem Risiko der Verallgemeinerung zu erliegen droht, wenn man von einer traditionellen afrikanischen Religiosität spricht. Trotzdem lassen sich weitgehende Gemeinsamkeiten im Hinblick auf ursprüngliche Werte, Ansichten und Erfahrungen feststellen.« 19 ZNT 5 (3. Jg. 2000) Werner Kahl Werner Kahl,Jahrgang 1962, promovierte im NT an Emory University / Atlanta mit einer semiotischen Arbeit über antike Wundergeschichten. Nach einigen Jahren pastoraler Tätigkeit in der Rheinischen Landeskirche verbringt er zur Zeit einen längeren Forschungsaufenthalt in Ghana zum Zweck der Ausarbeitung einer Habilitation (Universität Dresden). An der University at Legon Übernahme einer Lehrbeauftragung für NT mit dem Schwerpunkt kulturelle Exegese / kontextuelle Hermeneutik. John Pobee, ghanaischer Neutestamentler, bestätigt diese Beobachtung, wenn er Strukturen von »Africanness behind all the different versions of the African« 20 identifiziert. Er benennt diese fundamentalen Elemente, denen Gültigkeit für den gesamten Bereich Afrikas südlich der Sahara zuerkannt wird 21 : 2.1. In Afrika ist eine Ontologie und Epistemologie der Gemeinschaftlichkeit vorauszusetzen. Dies gilt in zweifacher Hinsicht: 2.1.1. Die diachrone Familie Das Dasein ist an die vergangene und gleichzeitige Präsenz von Ahnen gebunden, die bezeichnenderweise als the living dead gelten. Heimat ist, wo die Vorfahren lebten. Sie können in Not angerufen werden und erscheinen als fürsorgliche und beschützende Mittlerwesen zwischen Gott und den Menschen. In Afrika wird weithin als dringendes Anliegen empfunden, die Linie der Familie weiterzuführen, die in den Nachfahren weiterlebt. Entsprechend gilt Kinderlosigkeit in Afrika insgesamt und besonders in den matrilinearen Ethnien etwa Ghanas wie den Akan für Frauen als große Schande. ZNT 5 (3. Jg. 2000) Werner Kahl Das N"f' im so.: .io--lmlturellen Kontext Westafrikas 2.1.2. Die synchrone Familie In Afrika ist das Leben in der Gemeinschaft von erweiterter Familie (extended family) und ethnischer Gruppe maßgebend. Das Individuum definiert sich aus der Perspektive dieser Gemeinschaft. Pobee stellt das afrikanische Lebensgefühl hinsichtlich der Gemeinschaft eindrücklich der westeuropäisch- US-amerikanischen Tendenz zur Vereinzelung gegenüber: Hat im Abendland die philosophische Tradition des cartesianischen cogito ergo sum prägend g~wirkt, so gilt für afrikanisches Selbstverständnis: »cognatus ergo sum, d.h. durch mein Blut (bzw. durch Abstammung; W.K.) gehöre ich zu einer Familie, deshalb bin ich.« 22 Diese Selbstbezogenheit auf die erweiterte Familiengemeinschaft findet ihren Ausdruck auch in der Sprache. In der Akansprache Twi wird etwa der deutsche ich-bezogene Ausdruck »ich heiße ... « zu »ydn: me ... «(=sie nennen mich ... ) und »mein Geburtstag ist ... «, bzw. »ich wurde geboren ... « wird zu »yEwoo me ... «(=sie haben mich geboren ... ). Dieses auf die Gemeinschaft bezogene Existenzverständnis wird auch bezeugt durch folgende Redewendungen: Die Marktfrau kann nach einem erfolgreichen Arbeitstag mit ihrem leeren Korb nach Hause zurückkehren und ihrem Mann freudig mitteilen: » Wir haben alles gekauft.« Im Falle eines Diebstahls der Einkünfte aber kann es heißen: » Wir haben all mein Geld geklaut.« 2.2. Theologie und Glauben sind nicht allein auf intellektuelle Aktivität beschränkt, sondern erfassen den ganzen Menschen, d.h. neben seinen denkerischen Fähigkeiten auch sein Fühlen und Handeln. Dieses ganzheitliche Erleben und Praktizieren von Theologie und Glauben findet seinen prägnanten Ausdruck im ekstatischen afrikanischen Tanz als körperliche Manifestation des Erfülltseins mit dem Geist Gottes und damit einhergehender Trance das läßt sich beobachten sowohl bei den Shrines der sog. Fetischpriesterlnnen als auch in christlichen Gottesdiensten, vor allem solchen charismatischer oder afrikanisch-unabhängiger Provenienz. Christliche Theologie erscheint hier im wörtlichen Sinne konkret inkarniert im Leben der gläubigen Gemeinde. 2.3. Lebenswirklichkeit wird erfahren als unlöslich mit der numinosen Sphäre verwoben. D.h. der Glaube an die unmittelbare Präsenz und konkrete 29 Wirksamkeit von Gott, Ahnen, Dämonen und Geistern mitten im Leben wird vorausgesetzt. Dieses Bewusstsein von der Verwobenheit des Lebens in all seinen Bezügen mit der numinosen Sphäre wird im Straßenbild wohl jeder westafrikanischen Großstadt anschaulich. Kleinbusse (in Ghana: Trotro) und Verkaufsbuden sowie Friseurshops tragen Aufschriften wie »Jesus saves«, »Our healer« oder »God is allmighty«. Daneben begegnen in Ghana auf Wänden und Stoffen die sog. Adinkrasymbole aus der traditionellen afrikanischen Religion, die z.B. auf die Allmacht Gottes verweisen. Zeitungen berichten von den Erfolgen christlicher sowie traditioneller Wunderheilerlnnen, etc. Insgesamt scheint also die etwas pathetisch anmutende - Formel von Pobee zuzutreffen: homo africanus homo religiosus radicaliter. 23 Dabei verweist das allgemeine Bewußtsein von der wirksamen Präsenz numinoser Mächte sowohl auf das Eingeständnis der grundsätzlichen Ungesichertheit menschlicher Existenz aufgrund des Einwirkens lebensbedrohlicher, dämonischer Mächte als auch auf die Einsicht in das Angewiesensein auf die Fürsorge Gottes und seiner Agenten. So wie die Aktivität widergöttlicher Mächte gegenwärtig Leid hervorruft, so wird von der göttlichen Machtssphäre erwartet, daß sie sich jetzt und hier in der Überwindung von Unheilssituationen manifestiert. 24 Somit ist das gesamte religio-kulturelle System in Afrika in allen seinen Bezügen darauf ausgerichtet, unheilvolles Chaos zu vermeiden und Harmonie aufrecht zu erhalten, 25 mit dem Ziel, »Leben in Fülle« (vgl. Joh 10,10b) 26 konkret zu ermöglichen. 3. Kulturelle Affinitäten zum antiken Weltbild In Afrika lebende Gelehrte haben darauf aufmerksam gemacht, daß Lebenswirklichkeit und ihre Deutung in Afrika heute bemerkenswerte Parallelen zum antiken Weltbild aufweisen. Kwarne Bediako, Neutestamentler und Leiter des Akrofi-Christaller Zentrums in Akropong/ Ghana, zitiert John Ferguson, ehemals klassischer Philologe in Nigena: »Unsere Fakultät für klassische Philologie befindet sich in einem der wenigen Teile der Erde, an denen man noch immer Orakel konsultieren kann, 30 wo es tonale Sprachen gibt (so wie klassisches Griechisch tonal war), wo eine lebendige Tradition des religiösen Tanzdramas existiert (was sonst war ursprünglich die griechische Tragödie? ), wo Opferungen verstanden werden, wo die gegenwärtige Gesellschaft viele faszinierende Parallelen zur antiken griechischen und römischen Geschichte aufweist. Nigerianische Gelehrte können falls sie die klassische Periode mit nigerianischen und nicht mit europäischen Augen betrachten uns die Epoche der Klassik in einer Weise interpretieren, wie es kein europäischer Gelehrter vermag.« 27 Was Ferguson in bezug auf die Erforschung der klassischen Antike aus nigerianischer Perspektive im allgemeinen beobachtet, gilt für die Beziehung zwischen Frühchristentum und afrikanischem Christentum im besonderen: »Afrikanische Leser- Innen (... ) sind in einer viel besseren Lage, die wirklichen Anliegen biblischer Texte die mythische und magische Ebene zu interpretieren, denn die Fragen, die die Bibel aufwirft, ähneln denen, die Afrikanerlnnen in ihren eigenen Kontexten stellen.«28 Für antikes wie für afrikanisches Weltverständnis gilt weithin 29 , daß die sichtbare Welt von Einflüssen numinoser Mächte durchdrungen und somit unlöslich verwoben mit numinosen Zusammenhängen ist. In dieser Hinsicht sind das antike und afrikanische Weltbild identisch. Das skizzierte numinose Wirklichkeitsverständnis wird in Afrika übrigens grundsätzlich von im westlichen Sinne - Gebildeten wie Ungebildeten, renommierten Universitätsprofessorlnnen wie Fischern, Politikerlnnen wie Marktfrauen geteilt. 30 Dieses Verständnis von Wirklichkeit das Eingebettetsein der empirisch wahrnehmbaren Welt in einen numinosen Gesamtzusammenhanghat z.B. Auswirkungen auf die Interpretation, Ätiologie und Behandlung von Krankheiten, die hier wie dort auf den Einfluß von Dämonen zurückgeführt werden können. 31 Entscheidend in diesem Zusammenhang ist die Frage nach dem Grund des Eintretens einer Notsituation zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort. 32 Krankheit verursachende Dämonen finden Eingang in Menschen insbesondere aufgrund der Brechung eines Tabus bzw. der Übertretung eines göttlichen Gebotes (vgl. Mk 2,1-12; Joh 9,lff; Jak 5,14-16). Die Wiederherstellung von Gesundheit setzt somit die Wiedergutmachung vorangegangener Schädigun- ZNT 5 (3. Jg. 2000) gen des Rechts einer Gottheit (vgl. die Motive Vergebung und Opfergaben) oder des sozialen Verbandes voraus. 4. Der sozio-ökonomische Kontext westafrikanischer Exegese Zum Verständnis westafrikanischer Interpretationen der Bibel ist es allerdings nicht nur nötig, ihre Plausibilität im Rahmen der religio-kulturellen Enzyklopädie zu würdigen. Ebenso wichtig ist die Berücksichtigung der herrschenden sozio-ökonomischen Lebensumstände, die hier in bezug auf die Relevanz der Interpretation von Jesus Christus zu benennen sind. Die kenianische Exegetin Musimbi Kanyoro macht auf die ständig drohende Gefährdung des Lebens aufmerksam, der Afrikanerinnen in weiten Teilen des Kontinents aufgrund von Naturkatastrophen und vor allem Infektionskrankheiten (z.B. AIDS, Malaria) ausgesetzt sind. 33 Ein - und dann: eingeschränkter! - Krankenversicherungsschutz besteht in den wenigsten Fällen (z.B. bei Universitätsangestellten). Die technische und medizinische Ausstattung von Krankenhäusern spiegelt die desolaten gesamtwirtschaftlichen Verhältnisse afrikanischer Länder wider. Mit einem Durchschnittseinkommen von monatlich umgerechnet etwa 100 DM ist z.B. HIV-positiven Afrikanerinnen jeglicher Zugang zu effektiven Behandlungsmöglichkeiten, wie sie in den USA und in Westeuropa gegeben sind Gahreskosten über 20.000 DM), verwehrt. Menschen aller Alterstufen sind ständig dadurch bedroht, aufgrund einer oft ungeklärten - Infektionskrankheit innerhalb weniger Tage zu versterben, d.h. jedes Fieber etwa kann ein Vorbote des Todes sein. Diese Dramatik von Erkrankungen ist in den USA und in Europa weithin zur Randerscheinung geworden. In Afrika ist es ein bedrängendes Schicksal, das im übrigen so auch in der Antike gegeben war. 34 5. Populäre Interpretation des Neuen Testaments am Beispiel des Christusverständnisses In diesem Zusammenhang wird in Afrika die Interpretation von Jesus als Christus Victor wichtig, der ZNT 5 (3. Jg. 2000) Werner t(ahl Das r"T im sozio-l<ultme! len l{ontext Westafrikas wie in neutestamentlicher Zeit, so gegenwärtig als wirksam im Kampf gegen lebensbeeinträchtigende Dämonen erfahren wird. Gerade religiöse Lieder erzählen von der Wundertätigkeit Jesu. So sei im folgenden der in der traditionellen Religiosität wurzelnde und für die afrikanische Christenheit so prominente Aspekt der andauernden und so erlebten Fürsorge Jesu im religio-kulturellen Kontext Ghanas anhand der Analyse folgender, im anglophonen Westafrika sehr populärer Lieder exemplifiziert. 1. Cast your burden Cast your burden onto Jesus, 'cause he cares for you. (2x) Higher, higher, higher, higher, higher, higher, higher, higher, Jesus is the higher, higher. Lower, lower, lower, lower, lower, lower lower, lower, Satan is the lower, lower. 2.Jesus power Jesus power, super power. (4x) Satan power, powerless power. (4x) 3. He's a miracle working God He's a miracle working God. (2x) He's the Alpha and Omega. He's a miracle working God. Typisch für diesen Kontext sind kurze Liedtexte mit einer eingängigen Melodie, die von der Gemeinde in beliebig häufigen Wiederholungen in verschiedenster Hinsicht variiert werden können: zwischen laut und leise, zart und kräftig, schnell und langsam, hoch und tief, etc. Dabei bleiben die Hände frei zum rhythmischen Klatschen, und die Lieder werden getanzt - Ausdruck der Überzeugung, dass Gottes Gegenwart den ganzen Menschen angeht und erfasst. In diesen Liedern wird direkt an neutestamentliche Motive angeknüpft (Mt 11,28-29; Mk 1,23- 28; Apk 22,13). Die singende Gemeinde, bzw. die singende Einzelperson, kann sich mit den im Neuen Testament vorausgesetzten Adressaten der Wohltaten Jesu unmittelbar identifizieren. 35 Diese Ungebrochenheit der Übertragung neutestamentlicher Motive in die westafrikanische Welt der Gegenwart ist wie schon angedeutet möglich auf dem Hintergrund weitgehender Übereinstimmung in bezug auf die Verhältnisbestimmung von menschlicher Existenz und numinoser Sphäre: Sowohl in der mediterranen Antike als auch in der traditionellen afrikanischen Kultur und Religio- 31 sität lebt der Mensch im Spannungsfeld göttlicher wie widergöttlicher Machtssphären, wobei die göttliche Sphäre lebenserhaltend und -fördernd und die widergöttliche lebensvernichtend und -gefährdend wirkt. Wie im NT nicht nur theoretisch proklamiert (vgl. z.B. I Kor 15,53-57), sondern vor allem in den Evangelien erzählend veranschaulicht, setzt sich das Leben gegen den Tod durch: Gott, bzw. Jesus ist stärker als die Dämonen und andere lebenszerstörende Mächte (vgl. die Heilungswunder Jesu sowie die Wundererzählung der AuferweckungJesu von den Toten durch Gott). Das gilt nicht nur in Hoffnung auf das Eschaton, sondern manifestiert sich im Verständnis afrikanischer Christlnnen schon und vor allem jetzt mitten im Leben. Wie damals der irdische so kümmert sich auch heute der erhöhte Christus um die Gläubigen. Diese präsentische Interpretation der aus Notlagen befreienden Wundertätigkeit Jesu ist Afrikanerlnnen plausibel. Im Kontext des traditionellen religio-kulturellen Systems leuchtet ein, daß eine Theologie oder Christologie, die nicht im Leben der gläubigen Gemeinde inkarniert ist und somit konkret erlebt werden kann, geradezu unsinnig da Sinn-los wäre und keinen Anspruch auf Plausibilität erheben könnte. Denn die lebenserhaltende und lebensfördernde Fürsorge gilt als wichtigstes Attribut Gottes. Wie in der traditionellen Religion und im Frühchristentum so rechnen afrikanische Christlnnen fest mit dem rettenden Eingreifen Gottes durch seinen Mittler Christus in jedweder Notlage: Bei Krankheit, Armut, Feindschaft, Kinderlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Depression, etc. wird um Überwindung der Mangelsituation gebetet and it works! Westliche, medizinische Errungenschaften vermögen weder die Plausibilität noch die Relevanz dieser Überlebensstrategie zu unterminieren, denn ökonomisch bedingt sind sie in Afrika nicht allgemein zugänglich und wenn, dann nur in rudimentärer Form. Auch eine Heilung nach medizinischer Behandlung wird vornehmlich im Rahmen des numinosen Gesamtzusammenhangs allen Lebens gedeutet. 6. Würdigung afrikanischer Hermeneutik und Ausblick In Entmythologisierung geschulte und medizinisch bestens versorgte europäische Exegetlnnen 32 mag die skizzierte Interpretation und Applikation des Neuen Testaments in dieser Ungebrochenheit hier gibt es keinen »garstigen Graben« -womöglich als zu naiv befremden. Es bleibt jedoch zu betonen, dass es sich bei dieser Überlebensstrategie deutlich um so schriftnahe wie schriftgemäße Aktualisierungen handelt, die auf eine für das Neue Testament wesentliche, im Text manifeste Bedeutungsdimension abheben. 36 Wie im Neuen Testament vielfach bezeugt und im Begriff sozein (retten)37 greifbar, gehen auch in seiner afrikanischen Deutung endzeitliches Erretten und irdisches Heilen ineinander über: Das allumfassende Heil leuchtet auf als konkret erfahrbare und auf Gott zurückgeführte Heilung und Entdämonisierung mitten im Leben. Afrikanischen Exegetlnnen - und unter ihnen insbesondere den Frauen! ist daran gelegen, in enger Zusammenarbeit mit Laien eine für diesen Lebenskontext plausible und relevante Hermeneutik zu entwickeln. Inkarnation und Wertschätzung des Lebens und nicht etwa die lutherische Rechtfertigungslehre bilden ihren hermeneutischen Schlüssel: »Es geht hier eigentlich darum, die Bibel in einer Weise zu gebrauchen, durch die das Leben gefördert wird. Letztendlich ist das genau das Thema der Bibel (... ) Es geht uns also um eine befreiende Hermeneutik.« 38 Die zugrunde liegende Theologie des Lebens erschöpft sich nicht in Worten. In Entsprechung zur Inkarnation des Wortes Gottes wird sie sinnvoll erst als gelebte und erlebbare Rede von Gott (»theozen«). Als solche erfasst sie den ganzen Menschen, und in Afrika kann sie durch Tanz und Trommel kommuniziert werden! Diese Theologie hat eine auf die Ökumene zielende, ökonomische Dimension, denn sie stellt ein Weltwirtschaftssystem in Frage, dass einem Großteil der Weltbevölkerung den Zugang zu universal anwendbaren und äußerst effektiven Maßnahmen der Lebensbewahrung versperrt. Wie ist der exegetische Beitrag afrikanischer Zugänge zum NT, wie sie hier mit dem Fokus auf der maßgeblichen Interpretation von Jesus Christus als Retter in Not exemplarisch dargestellt wurden, aus ökumenischer Perspektive zu würdigen? Er liegt sicher nicht in der Aufforderung an europäische ProfessorInnen und Studentlnnen, ihre Theologie zu tanzen. Ein wichtiger Gewinn liegt ganz allgemein darin, dass in afrikanischer Lektüre des Neuen Testaments Bedeutungsdimensionen ZNT 5 (3. Jg. 2000) und Aspekte zu Tage treten, die im europäischen Kontext bewusst übergangen, bestritten oder einfach nicht wahrgenommen werden. Die kritische Ernstnahme solcher Lektüreergebnisse bewahrt vor allzu bequemen, weil entschärfenden und die eigene Position bestätigenden Vereinnahmungen des biblischen Materials. 39 Die Kenntnisnahme der afrikanischen Interpretationen mag dazu beitragen, dass uns Paulus wieder etwas fremder wird, etwa wenn wir seine Begründung von Krankheit und Tod in I Kor 11,27-30 lesen und realisieren, dass auch er eine Auffassung von Krankheitsverursachung teilt, die gemeinantik war, und die auch sonst im Neuen Testament ganz selbstverständlich begegnet. 40 Europäische Konstruktionen seiner Theologie beginnen fragwürdig zu werden, wenn deutlich wird, dass Paulus doch hat problemlos denken können, was wir ihm lieber nicht zuschreiben möchten und was dann gelegentlich gegen den eindeutigen textgeschichtlichen Befund in den Apparat von Nestle-Aland verbannt wird (vgl. Röm 5,1 und I Kor 15,49). Die Prüfung anderer Interpretationen kann zu einer kritischen Überprüfung der eigenen Lektüreergebnisse und ihrer Voraussetzungen führen. Der Sinn des Studiums des Neuen Testaments kann ja nicht eigentlich darin bestehen, sich selbst zu spiegeln, sondern klarer zu sehen. Gerade die Nichteinebnung und also Anerkennung der Unterschiede, die zwischen der neutestamentlichen und unserer Enzyklopädie bestehen, fordern zu Übersetzungen und Interpretationen heraus, die in unserem europäischen Kontext plausibel und relevant sind und die sich zugleich am Kriterium der Schriftgemäßheit messen lassen. Anmerkungen 1 G. Theißen, Methodenkonkurrenz und hermeneutischer Konflikt. Pluralismus in Exegese und Lektüre der Bibel, in: J. Mehlhausen (Hg.), Pluralismus und Identität, Gütersloh 1995, 127-140; 137. Seit Mitte der neunziger Jahre gibt es im Bereich der angelsächsischen, südafrikanischen und US-amerikanischen neutestamentlichen Forschung erste systematische Bemühungen um die Wahrnehmung und Würdigung afrikanischer Interpretationen des Neuen Testaments, vgl. Glasgow Consultation, Interpreting the Bible in African Contexts. Minutes of the Glasgow Consultation, Scotus College/ Glasgow 1994; G. West / W. Dube (Hgg.), »Reading With«: An Exploration of the Interface between Critical and Or- ZNT 5 (3.Jg. 2000) Werner Kahl Das NT im Sllzio-l<ultural! on l<ontext Westafrikas dinary Readings of the Bible. African Overtures (Semeia 73) Atlanta 1996. 2 Zu diesem Begriff vgl. die anregende Aufsatzsammlung von St. Fish, Is There a Text in This Class? The Authority of Interpretive Communities, Cambridge/ MA 1980. 3 Vgl. T. Sehmeiler, Das Recht der Anderen. Befreiungstheologische Lektüre des Neuen Testaments in Lateinamerika. (Neutestamentliche Abhandlungen N.F. 27) Münster 1994. 4 Vgl. G. West, Biblical Hermeneutics of Liberation: Modes of Reading the Bible in the South African Context, New York 2 1995; ders. / Dube, Reading With. 5 Vgl. V. Küster, Theologie im Kontext: zugleich ein Versuch über die Minjung-Theologie, Nettetal 1995. 6 Vgl. die Einführung von T. Pippin, Feminist Theories and Exegesis, in: S. Alkier / R. Brucker (Hgg.), Exegese und Methodendiskussion. (TANZ 23) Tübingen 1998, 271-280. 7 Vgl. B.K. Blount, Cultural Interpretation: Reorienting New Testament Criticism, Minneapolis 1995; ders., If You get MY Meaning: Introducing Cultural Exegesis, in: Alkier / Brucker, Exegese und Methodendiskussion, 77-97. 8 Vgl. die wichtigen Beiträge zur methodologischen Grundlegung der Analyse und Würdigung kontextueller Theologien von Küster, Theologie im Kontext, 17-104; Jesus und das Volk im Markusevangelium: ein Beitrag zum interkulturellen Gespräch in der Exegese, Neukirchen 1996, 1-7. 95-98; Text und Kontext. Zur Systematik kontextueller Hermeneutik, in: Evangelisches Missionswerk in Deutschland (Hg.), Der Text im Kontext. Die Bibel mit anderen Augen gelesen, Weltmission heute 31 (1998) 130-143. Vgl. dazu auch den Entwurf von T. Sundermeier, Den Fremden verstehen. Eine praktische Hermeneutik, Göttingen 1996, sowie meine Annäherungen an das Thema aus exegetisch-hermeneutischer Perspektive: Überlegungen zu einer interkulturellen Verständigung über neutestamentliche Wunder, ZMR 82/ 2 (1998), 98-106; Falls du verstehst, was ich meine: Paradigmenwechsel in der Exegese als Ausdruck und Voraussetzung einer ökumenischen Lektüre- und Lebensgemeinschaft, in: Missionswissenschaftliches Institut Missio (Hg.), Jahrbuch für kontextuelle Theologien 1998, 155-166; Twi-Lieder über Jesus Christus, den Retter aus Not, Vision Mission. Zeitschrift des Missionsseminars Hermannsburg 1/ 3 (1998), 3-5. 9 Vgl. P. Lampe, Wissenssoziologische Annäherung an das Neue Testament, NTS 43 (1997), 347-366. 10 Vgl. Blount, Meaning, 89; F.F. Segovia, »And They Began to Speak in Other Tongues«: Competing Modes of Discourse in Contemporary Biblical Criticism, in: ders. / M.A. Tolbert (Hgg.), Reading from this Place, Vol. I: Social Location and Biblical Interpretation in the United States, Minneapolis 1995, 1-32.8; Kahl, Paradigmenwechsel; U. Luz, Kann die Bibel heute noch Grundlage für die Kirche sein? Über die Aufgabe der Exegese in einer religiös-pluralistischen Gesellschaft, NTS 44 (1998), 317-339; W. Günther, Wahre Theologie: lebendig und 33 praktisch anwendbar. Die Herausforderung der kontextuellen Theologien, in: K. Schäfer (Hg.), Plädoyer für Mission. Beiträge zum Verständnis von Mission heute (Weltmission heute 35), Hamburg 1998, 82-90.85. 11 Blount, Cultural Interpretation; ders., Meaning; D. Brakke, Cultural Studies. Ein neues Paradigma US-amerikanischer Exegese, in: ZNT 1/ 2 (1998), 69-77. 12 Vgl. dazu die von den beiden Herausgebern verfasste »Einleitung: Neutestamentliche Exegesen interdisziplinär ein Plädoyer«, in Alkier/ Brucker, Exegese und Methodendiskussion, IX-XIX. 13 Vgl. die Ausführungen von Küster, Theologie im Kontext, 48-52; ders., Markusevangelium, 2-3; ders., Text und Kontext, 136, der zwischen Identitäts- (Schriftgemäßheit) und Relevanzkriterium unterscheidet. 14 U. Eco, Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation, München 1994, 70. Vgl. Isotopie (A. Greimas / ]. Courtes), Semiotique. dictionnaire raisonne de la theorie du langage, Paris 1993, 197-199, sowie die Ausführungen von S. Alkier, Hinrichtungen und Befreiungen: Wahn - Vision - Wirklichkeit in Apg 12. Skizzen eines semiotischen Lektüreverfahrens und seiner theoretischen Grundlagen, in: ders. / Brucker, Exegese und Methodendiskussion, 111-133. 15 Vgl. dazu D. Patte, Discipleship According to the Sermon of the Mount: Four Legitimate Readings, Four Plausible Views of Discipleship, and Their Relative Values, Valley Forge/ PA 1996, 17-22. 16 »Populär« meint hier die Abgrenzung zur akademischen Theologie und sollte in keinster Weise Herabwürdigung konnotieren. Diese Opposition dient zur Wiedergabe dessen, was im englischen Sprachgebrauch mit / ordinary readers / vs. / academic (bzw. critical oder trained) readers/ gemeint ist, vgl. etwa die maßgebenden Beiträge von West, Biblical Hermeneutics; ders. / Dube, An Introduction: How We have Come to »Read With«, in: ders. / Dube, Reading With, 7-17. 17 Vgl. J.S. Mbiti, 'O l: QTHP 'HMQN as an African experience, in: B. Lindars, S.S. Smalley (Hgg.), Christ and Spirit in the New Testament, FS C.F.D. Moule, Cambridge 1973, 397--414. 18 Darauf weist nachhaltig hin K. Bediako, Christianity in Africa. The Renewal of a Non-Western Religion, Maryknoll, NY 1995, 252-255; siehe auch Kahl, Überlegungen. 19 K.A. Opoku, West African Traditional Religion, Accra 1978, 8 (Übersetzung W.K. ). 20 J.S. Pobee, West Africa. Christ would be an African Too, Gospel and Cultures Pamphlet 9, Genf 1996, 22. 21 Pobee, Bible Study in Africa: A Passover of Language, in: West / Dube, Reading With, 161-179: 166. 22 Pobee, Grundlinien einer Afrikanischen Theologie, Göttingen 1981, 84; vgl. dazu insgesamt T. Sundermeier, The Individual and Community in African Traditional Religions, Münster 1998. 23 Pobee, Bible Study, 166. Vgl. auch den folgendenAkan- Spruch: Obi nkycre akwadaa Nyame - »Es ist nicht nötig, einem Kind Gott zu zeigen.« 34 24 Vgl. aus südafrikanischer Perspektive, Ch. Grundmann, Leibhaftigkeit des Heils. Ein missionstheologischer Diskurs über das Heilen in den zionistischen Kirchen im südlichen Afrika, (Hamburger Theologische Studien 11) Münster 1997, 69. 25 Vgl. J.D.K. Ekem, Priesthood in Context. A study of Akan traditional priesthood in dialogical relation to the priest-christology of the epistle to the Hebrews, and its implications for a relevant functional priesthood in selected churches among the Akan of Ghana, (Perspektiven der Weltmission. Wissenschaftliche Beiträge 19), Ammersbek 1994, 35: »Salvation in Akan thought could thus be defined positively as the maintenance of society's equilibrium/ holistic well-being through an appeal to the supernatural with the aid of ceremonial rituals«. 26 Ebd., 34: »Salvation in Akan thought means the availability of whatever goes into reinforcing life in the hereand-now. This includes good mental and physical health, ability to bear children to perpetuate the family line, abundant food harvest, success in in one's daily occupation and deliverance from the adverse influence of (lebensfeindliche Mächte), as well as from pre-mature death«; vgl. Sundermeier, Individual and Community, Münster 1998, 235. 27 Bediako, Christianity in Africa, 252 (Übersetzung: W.K. ); vgl. auch R. Horton, Tradition and modernity revisited (1982), in: ders., Patterns of thought in Africa and the West. Essays on magic, religion and science, Cambridge 1993, 301-346.304f. 28 G.O. West, On the eve of an African biblical studies. Trajectories and trends, Journal of Theology for Southern Africa 99 (1997) 99-115.100. 29 Für die antike Geschichtsschreibung vgl. E. Plümacher, TEPATEIA. Fiktion und Wunder in der hellenistischrömischen Geschichtsschreibung und in der Apostelgeschichte, ZNW 89/ 1-2 (1998), 66-90; sowie die bestechenden Ausführungen von E. Käsemann, Zum Thema der Nichtobjektivierbarkeit, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. 1, Göttingen 1964, 224- 236.227. 30 Vgl. A. Ekue, »Und sie denken, du bist eine mamissi ... « Geistinhabitation in einem Frauenkult und ihre Adaptation im Kontext afrikanischer Christen in Süd-Togo, (Hamburger Theologische Studien 9) Hamburg 1996, 122. 31 Vgl. für den afrikanischen Bereich die Ausführungen von Ekue, Geistinhabitation, sowie U.C. Manus, African Christologies: the centre-piece of African Christian Theology, ZMR 82/ 1 (1998), 3-23. 32 Vgl. M. Kanyoro, Reading the Bible from an African Perspective, The Ecumenical Review 51/ 1 (1999), 18- 24.20: »People ask, why did that particular tree fall on that particular person at that particular time and not on any other person? How could malaria pick out my child from all the children in the world? «. 33 Musimbi, African Perspective, 20. 34 Vgl. etwa die Krankenberichte der hippokratischen Schriften. Auf diesem Hintergrund sind die Beschrei- ZNT 5 (3. Jg. 2000) bungen akuter Erkrankungen wie Fieber und Konvulsionen in den Wunderheilungserzählungen des Neuen Testaments zu würdigen, und zwar als potentiell todbringende Erkrankungen, vgl. etwa Mk 1,29-31 und den zutreffenden Kommentar zur Stelle von D. Lührmann, Das Markusevangelium, (HNT 3) Tübingen 1987, 52. 35 Vgl. Kanyoro, African Perspective, 21: »In the texts of Jesus< healing miracles, the warnen see themselves as >those who came to Jesus bringing their sick or their own sickness< (Luke 7: 1-10; Matt. 15: 21-28; Mark 7: 31- 38).« 36 In seinen so brillanten wie provokanten Studien zur traditionellen westafrikanischen Religion und ihrer oft inadequaten westlichen Deutung macht R. Horton wiederholt auf symbolistische und theologische Interpretationen aufmerksam, die wörtliche Bedeutungen durch figurative ersetzen und somit den ursprünglichen, intendierten Absichten sowie ihren Proponenten nicht gerecht werden, vgl. z.B. seinen Vortrag Back to Frazer? (1987), in: ders. Patterns of thought, 105-137.115f. Diese Kritik trifft über weite Strecken den Umgang mit dem NT innerhalb der Theologie in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Werner Kahl Das NT im sozio-l<ulturellen Kontext Westafrikas 37 Vgl. W. Schrage, Heil und Heilung im Neuen Testament, Evangelische Theologie 46/ 3 (1986), 197-214. 38 L. Magessa, From Privatized to Popular Biblical Hermeneutics in Africa, in: H.W. Kinoti / J.M. Waliggo (Hgg.), The Bible in African Christianity. Essays in Biblical Theology, Nairobi 1997, 25-39.27. 39 Auf diese immerwährende Gefahr auch und gerade wissenschaftlicher Exegese macht K. Berger zu recht aufmerksam, zuletzt in seiner neu überarbeiteten Hermeneutik des Neuen Testaments, Tübingen / Basel 1999. 40 Vgl. dazu S. Alkier, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus. Ein Beitrag zu einem Wunderverständnis jenseits von Entmythologisierung und Rehistorisierung, (WUNT. 1.Reihe) Tübingen 2000 (im Druck). Einmalige, limitierte Schön ausgestattete Sonderausgabe zum 100. Geburtstag des Novum Testamentum Graece. Der Text der aktuellen 27. Auflage und interessante Beigaben: eine Würdigung Eberhard Nestles und seines Werks von Barbara Aland. Im Anhang Fotos von Eberhard Nestle und seinem Sohn Erwin, das Titelblatt der Erstausgabe und die Reproduktion einer Seite aus dem Arbeitsexemplar von Eberhard Nestle. ZNT 5 (3. Jg. 2000) Jubiläums- Ausgabe Novum Testamentum Graece Jubiläumsausgabe (100 Jahre Nestle) Herausgeberin: Barbara Aland 13,3 x 18,7 cm, XVI, 80* und 81 0 Seiten, 7 Abb., Leinen ISBN 3-438-05108-7 DM 49, -/ öS 358, -/ sFr 49, - 88 Deutsche Bibelgesellschaft Postfach 81 03 40, 70520 Stuttgart, Telefon 07 11/ 71 81-0, Fax 07 11/ 71 81-1 26 35 Stefan Alkier Fordert das Neue Testament die Absolutheit des Christentums? Einleitung zur Kontroverse Die Frage nach der Absolutheit des Christentums verweist auf ein Problem: Das Christentum ist nicht die einzige Religion mit einem Wahrheitsanspruch. Wie aber kann man angesichts der anderen Religionen den eigenen Anspruch aufrechterhalten? Da wäre zum einen der vielbeschrittene Weg der Ignoranz. Je weniger ich den anderen kenne, desto einfacher kann ich mich über ihn erheben. Einen anderen Weg ging Georg Friedrich Wilhelm Hegel, der die Rede von der »Absolutheit des Christentums« prägte. Er befaßte sich mit der Geschichte der Religionen im Zusammenhang der »Geistesgeschichte« und stellt auch nicht-christlichen Religionen ihren Beitrag dazu nicht in Abrede. Das Christentum aber sei die absolute Religion, der Höhepunkt der gesamten religiösen »Entwicklung, weil in ihr durch die Menschwerdung das absolute Wesen der Wirklichkeit in der Entäußerung offenbar geworden ist. Weil sie als offenbare Religion das Wesen aller Religionen erfüllt, ist sie die absolute Religion.« 1 Wie verhält es sich aber mit den Schriften des Neuen Testaments selbst? Fordern diese die Absolutheit des Christentums, sei diese nun als exklusiver oder inklusiver Überlegenheitsanspruch verstanden. Die nachfolgende Kontroverse zwischen Jörg Frey und Peter von der Osten-Sacken zeigt, wie schwierig diese Frage zu beantworten ist, gerade weil beide Stellungnahmen ihr jeweiliges Anliegen eindringlich und mit bedenkenswerten Argumenten zur Sprache bringen. Man wird nicht umhin können, über diese Frage und ihre Vielschichtigkeit weiter nachzudenken und sich klar darüber werden müssen, welche Position man vertritt, denn diese Entscheidung wird maßgeblichen Einfluß auf die Haltung im Dialog mit anderen Religionen, mit Menschen anderer Glaubensrichtungen haben. Die Entscheidung darüber kann niemandem abgenommen werden, aber ein Weg sollte unter Christen und Christinnen aller Couleur als nicht länger gangbar gelten: der Holzweg der Ignoranz ... Stefan Alkier Anmerkung 1 Absolutheitsanspruch des Christentums (H.M. Vroom), RGG 4 Bd. 1, Sp. 83. Kontakte - Beiträge zum religiösen Zeitgespräch 36 Michael Fischer/ Max Himmel (Hrsg.) Herausforderung Gemeindeentwicklung Erfahrungen - Aspekte - Perspektiven Kontakte 8, 2000, 200 Seiten, DM 39,80/ ÖS 291,-/ SFr 39,80 ISBN 3-7720-2527-7 Im Zusammenhang mit der Frage nach der Zukunftsfähigkeit von Christentum und Kirche findet derzeit das Thema Gemeindeentwicklung besondere Beachtung. Dabei geht es um Prozesse, die eigendynamischen Charakter haben. Zunehmend finden solche im Rahmen der pastoralen Planungen und Konzepte der Diözesen und Landeskirchen Beachtung. Vor dem Hintergrund der Bildung sog. Pastoraler Räume (Seelsorgeeinheiten) wird das Entwicklungsthema für die Gemeinden selbst zur Herausforderung. Daß es dabei nicht nur um organisatorisch-funktionale Konzepte gehen kann, sondern um theologisch und spirituell Grundlegendes, signalisiert das Stichwort "Evangelisierung" als Leitbild für die Seelsorge. In diesem Buch berichten verschiedene Autoren über Erfahrungen mit der Entwicklung von Gemeinden, auch aus anderen Ländern und Kirchen. Dabei werden zentrale Aspekte beleuchtet und Grunderfordernisse thematisiert. A. Francke Verlag· Tübingen und Basel· Postfach 2560 · D-72015 Tübingen· Fax (07071) 75288 ZNT 5 (3. Jg. 2000) Jörg Frey Die »Absolutheit des Christentums« und die Einzigkeit Jesu Christi1 Die von den Herausgebern dieser Zeitschrift aufgeworfene Frage, ob das Neue Testament »die Absolutheit des Christentums« fordere, ist in der Formulierung höchst problematisch und in der Sache allemal verfänglich. Eine positive Antwort auf sie ist heute alles andere als en vogue. Wer solche ,Ansprüche< vertritt, gerät in Verdacht, auf Positionen zu beharren, die nicht mehr in die Welt des 21. Jahrhunderts passen, die Geum interreligiös dialogfähig zu werden« 2• Sie sollten auf alle Superioritäts-, Exklusivitäts- und Finalitätsbehauptungen verzichten und Person und Werk Christi so verstehen, »daß andere, nichtchristliche Gestaltwerdungen des Transzendenzgrundes und damit andere Wege zu ihm in ihrem eigenständigen Offenbarungs- und Heilsanspruch anerkannt werden können<<3. Diese Forderung sieht sich in der Nachfolge meinschaft aller Menschen im Eintreten für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung behindern und ein Religionen : TROV älterer >relativierender< Ansätze in der Theologiegeschichte. Genannt wer- und Kulturen umgreifendes »Projekt Weltethos« (Hans Küng) unmöglich machen. Hat die These der Einzigkeit des christlichen Heilswegs nicht durch die lange Geschichte ,christlicher< Überheblichkeit jeglichen Anspruch auf Anerkennung eingebüßt? Durch solche Argumentationsfiguren verunsichert, ziehen sich Christinnen und Christen oftauch in Predigt und Unterrichtauf ,bescheidenere<, nur noch subjektiv-erfahrungsbegründete Positionen zurück und wagen kaum mehr, für den Inhalt ihres Glaubens weiterreichende Wahrheitsansprüche zu vertreten. Sollte das Neue Testament wirklich meinen, was einige seiner Texte sagen daß allein in Jesus Christus und »in keinem anderen das Heil« zu finden ist (Apg 4,12), daß er der (einzige) Weg, die Wahrheit in Person ist und »niemand zum Vater gelangt, außer durch ihn« (Joh 14,6)? Sollten die neutestamentlichen Texte und ihre Autoren so unbescheiden sein und für den in ihnen vertretenen Heilsweg bzw. die Person Christi eschatologisch-endgültige, exklusive Gültigkeit beanspruchen? >Deabsolutierung< der Christologie? Demgegenüber fordern Vertreter einer »pluralistischen Religionstheologie« die »Deabsolutierung« der Christologie: Christen sollten, wie Reinhold Bernhardt formuliert, »christologisch abrüsten, ZNT 5 (3. Jg. 2000) den hier die aufklärerische Interpretation Jesu als eines Lehrers des rechten Vernunftgebrauchs (Lessing) oder vollkommener Sittlichkeit (Kant), die liberal-theologische Reduktion des ,Wesens des Christentums< auf die Botschaft J esu, nämlich den Glauben an Gott den Vater und den unendlichen Wert der Menschenseele (Harnack), oder auch das ,Entmythologisierungsprogramm< Rudolf Bultmanns, das die Aussagen der neutestamentlichen Christologie in Aussagen über die menschliche Existenz zu transformieren versuchte. 4 Den modernen Vertretern einer ,Deabsolutierung< der Christologie geht es ähnlich wie manchen ihrer Vorgänger darum, den wahren ,Kern< des christlichen Glaubens von seiner unzeitgemäßen ,Schale< zu befreien. Diesen>Kern< suchen sie zumeist-wie die alten Liberalen in einem bestimmten Bild des irdischen Jesus, »in Person und WerkJesu von Nazareth vor seiner hellenisierenden Vergöttlichung« 5. Die Aussagen über die österliche Erhöhung Christi und sein eschatologisches Richteramt, seine Präexistenz und Schöpfungsmittlerschaft und erst recht die christologischen Formeln der altkirchlichen Bekenntnisse werden hingegen als eine zeitbedingte, den Kern sekundär verfälschende ,Schale, verstanden. Diese meint man abstreifen zu können, ohne das ,Eigentliche, des christlichen Glaubens zu gefährden, um so ohne den ,Ballast< solcher vermeintlich besonders zeitbedingter und für Nichtchristen inakzeptabler Aussagen im interreligiösen Kontext besser dialogfähig zu sein. 37 Aber kann man so klar zwischen Schale und Kern trennen, den >eigentlichen< Inhalt aus seiner sprachlichen Form herausschälen? Eine von der neueren Sprachwissenschaft inspirierte Hermeneutik verneint diese Möglichkeit: Der Kern ist nicht ohne seine Schale, die Botschaft nicht ohne ihre sprachliche, z.T. auch mythologisch-bildhafte Gestalt zu gewinnen. Und der vermeintlich ,eigentliche< Kern, das Bild eines ,historischen< Jesus, der als schlichter Mensch allein Gott verkündigte, im Blick auf sich selbst keine weiteren Ansprüche stellte und erst später ganz gegen seine ureigene Intention - >vergöttlicht< wurde, steht unter stärkstem Projektionsverdacht. 6 Natürlich gab es im frühchristlichen Verständnis der Person Jesu und in der sprachlichen Ausgestaltung der neutestamentlichen Christologie Entwicklungsprozesse, an deren Ende die Aussagen über Jesu Gottheit Qoh 1,lf.18; 20,28; I Joh 5,20) standen. Aber auch die ältesten uns zugänglichen Schichten der Jesustradition bieten keinerlei Grund zur Annahme, daß ein so reduktionistisches Bild des irdischen Jesus historisch wahrscheinlich sei. Ganz abgesehen davon ist es sehr fraglich, ob die nur hypothetisch zu rekonstruierende Botschaft Jesu uns heute das Kriterium für die Wahrheit jener Aussagen liefern kann, die nach Ostern, im Rückblick, über sein Wesen und seine Bedeutung formuliert wurden. Am Ende des hier exemplarisch angeführten Beitrags gibt auch Reinhold Bernhardt zu, daß sich die in der pluralistischen Theologie der Religionen geteilte »Annahme von Heilswegen neben dem Jesus-Weg ... allein im Rückgriff auf die biblische Überlieferung von Jesus Christus ... nicht begründen läßt« 7• Für seine Forderung nach ,Deabsolutierung< kann er letztlich nur auf eine andere >Quelle< verweisen, nämlich auf den gegenüber der Urchristenheit fortgeschrittenen Erkenntnisstandpunkt unserer Gegenwart. Damit ist jedoch eingeräumt, daß die neutestamentlichen Zeugnisse ohne Einschränkung und ausnahmslos eben jenen Standpunkt vertreten, deru. a. in Apg4,12 undJoh 14,6 formuliert wird: In Jesus Christus, d.h. in der Wirksamkeit und Predigt Jesu von Nazareth, in seinem Kreuzestod und seiner Erhöhung, gründet Gottes eschatologisches Heil, und das Evangelium, die aufgrund des Christusgeschehens verkündigte Heilsbotschaft von Jesus Christus, beansprucht universale Gültigkeit. 38 Die Problematik der Rede von der >Absolutheit< Man mag solche Aussagen als »Absolutheitsanspruch« bezeichnen gleichwohl ist die Rede von der »Absolutheit des Christentums« problematisch und wird dem, was die neutestamentlichen Texte meinen, kaum gerecht. Der Begriff »Absolutheit« ist ganz neuzeitlichgeprägt z.B. von Hegels Rede von der ,absoluten Religion< 8 -, er sollte im 19. Jh. das Christentum als vollkommenste Verwirklichung der natürlichen Religion oder die Realisierung der Idee der Religion prädizieren, doch mußte dies in Anbetracht des geschichtlichen Charakters aller existierenden Religionen bald als unhaltbar erscheinen. 9 ,Absolutheit< im Sinne von Losgelöstheit oder gar Beziehungslosigkeit kann ohnehin nicht gemeint sein, denn in allen Diskussionen um die ,Absolutheit< des Christentums ist der Bezug auf andere Religionen stets mitgegeben. Es ist wohl besser, hier von ,Exklusivität< und ,Finalität< oder einfach von der ,Wahrheit< zu sprechen. Der Gegenstand eines solchen Wahrheits->Anspruchs< kann jedoch nicht das ,Christentum< sein, das sich ja institutionell in so vielfältigen Formen darbietet, sondern allein die im Neuen Testament bezeugte Selbsterschließung Gottes in Christus und das in ihr eröffnete Verständnis der Wirklichkeit. 10 Zuletzt ist auch die Rede vom >Anspruch< nicht unproblematisch, denn die neutestamentliche Verkündigung besteht ja nicht einfach in Sachaussagen, deren Bejahung von Außenstehenden eingefordert werden könnte. Dies würde gemäß einem landläufigen Mißverständnis das Wesen des biblischen Verständnisses des Glaubens >an< Gott bzw. Jesus Christus verfehlen und den bedingungslosen Zuspruch des Heils, das Evangelium, ins >Gesetz< verkehren. Gleichwohl ist natürlich von Wahrheitsansprüchen zu reden, weil und insofern die neutestamentlichen Aussagen Wirklichkeit zur Sprache bringen und mit ihren Aussagen zumindest teilweise auf das Ganze der Wirklichkeit zielen. 11 Es kann daher kein Zweifel daran bestehen, daß die neutestamentlichen Texte in ihrem Anspruch ernst genommen werden wollen, daß die in ihnen bezeugte Offenbarung wahr ist. Freilich ergeht diese Botschaft von Anfang an in dem Vertrauen, daß die Wahrheit, von der die Zeugen reden, ihrerseits die Kraft besitzt, ihre Hörerinnen und Hörer bzw. Leserin- ZNT 5 (3. Jg. 2000) Jörg Frey Jahrgang 1962, Promotion 1996 und Habilitation 1998 in Tübingen, ab 1997 Lehrvertretung, ab 1998 Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena, seit 1999 Ordinarius für Neues Testament an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Ludwig- Maximilians-Universität München. nen und Leser anzusprechen und zu verändern Qoh 8,35). Dies gilt in besonderem Maße für die Mitte der neutestamentlichen Verkündigung, für jene Aussagen, die das Wesen und die Heilsbedeutung Jesu Christi zur Sprache bringen und darin ihren Hörern und Lesern das Heil in dem verkündigten Herrn Jesus Christus selbst zu-sprechen. Der Anspruch jedoch, daß dieser eine der Messias bzw. Christus ist (Mk 6,29), der Herr (Kyrios: Röm 10,9), der Sohn Gottes Qoh 20,31), und zwar dezidiert der einzige Qoh 1,14.18), in dem der in der Bibel bezeugte Gott Israels mit eschatologischer und universaler Gültigkeit geredet und gehandelt hat (Hebr 1,2), dieser Anspruch ist im Neuen Testament alles andere als marginal oder gar eine abstreifbare ,Schale<. Die Einzigkeit Christi und der biblische Monotheismus Das Bekenntnis zur Einzigkeit Christi ist sachlich mit dem monotheistischen Bekenntnis Israels engstens verbunden. In I Kor 8,6 zitiert Paulus ein frühes Gemeindebekenntnis, in dem »der eine Gott, der Vater, aus dem alles ist und wir zu ihm« und »der eine Herr, Jesus Christus, durch den alles ist und wir durch ihn« in völliger Parallelität nebeneinander gestellt sind. Die Einzigkeit Gottes und ZNT 5 (3. Jg. 2000) Christi begründet hier, warum den vielen, in der hellenistischen Welt verehrten und gefürchteten ,Göttern< oder ,Herren< keinerlei Mächtigkeit zuerkannt werden kann weder zum Unheil noch zum Heil. Diese Rede von der Nichtigkeit der ,Götzen" die damals für die paulinischen Adressaten eine befreiende Funktion hatte, gründet historisch in dem in Israel ausgebildeten Bekenntnis zur Einzigkeit JHWHs, gegenüber dem die ,Götter< der Völker Nichtse und die Götzen(-Bilder) leblos und stumm sind (vgl. Ps 96,4f.; Jes 41,23f.; 44,6ff. etc.). Mit diesem monotheistischen Bekenntnis verband sich spätestens bei Deuterojesaja auch der Gedanke der universalen Herrschaft JHWHs Qes 45,20ff. ), der vermittelt durch das Zeugnis Israels bei allen Völkern Anerkennung finden will (vgl. Jes 45,20ff.). Das alttestamentliche Bekenntnis zur Einzigkeit und universalen Herrschaft des biblischen Gottes bildet seither eine stets anstößige Begrenzung dessen, wie man auf der Basis der biblischen Traditionen von Gott reden kann. Weder ein Dualismus zweier gleichursprünglicher Prinzipien (s. dagegen Jes 45,7) noch ein Pantheon oder ein Pleroma göttlicher Wesenheiten läßt sich auf dieser Basis anerkennen. Hier liegt die Wurzel biblischmonotheistischer Einzigkeitsansprüche. Wo man diese preisgibt, kann man auch kaum mehr von dem biblischen Gott als einem ,lebendigen<, redenden und geschichtlich wirksamen Gott sprechen. Der sich >manifestierende< ,Transzendenzgrund< mancher moderner Pluralitätskonzeptionen hat mit diesem nicht einmal mehr den Namen gemem. Der biblisch-jüdische Hintergrund des Christusbekenntnisses In hellenistischer Zeit zog der biblisch-jüdische Monotheismus viele Menschen an. Die >Attraktivität, der Synagoge und ihre Predigt veranlaßte schon lange vor der späteren christlichen Mission zur Abkehr von den toten Götzen und die Hinkehr zu dem einen wahren und lebendigen Gott. 12 Bemerkenswert ist aber, daß das Urchristentum neben dem Bekenntnis zum ,einen Gott< in gleicher Einzigkeit - Jesus Christus als den ,einen Herrn< bekennen konnte. 13 Für Juden konnte, ja mußte dies als eine Gefährdung des monotheistischen Bekenntnisses erscheinen. Die Frage der Le- 39 gitimität des Christusbekenntnisses wurde daher zum wohl entscheidenden Faktor im langen Prozeß der Trennung zwischen den (zunächst ja ganz juden-)christlichen Gemeinden von der Synagoge, und es ist bis heute der Glaube an Jesus, der Juden und Christen trennt. Wie konnte es zu dem Bekenntnis zu Jesus als dem Messias, Herrn und Gottessohn kommen? Die alte religionsgeschichtliche Schule dachte hier vornehmlich an heidnische Einflüsse aus Mysterien, Kaiserkult und Gnosis. Neuere Forschungen weisen in eine andere Richtung. 14 Die Verehrung Christi als »Herr« und »Gottessohn« ist keine späte hellenistisch-verfälschende ,Schale< um einen ,eigentlich< jüdischen ,Kern<. Chronologisch gehen die meisten Aussagen - Akklamationen wie »Herr ist Jesus« (Röm 10,9) oder »Maranatha« (I Kor 16,22), Bekenntnisformeln über Sterben und Auferweckung J esu (Röm 4,25; vgl. 8,32), seine Einsetzung in Macht (Röm 1,4), seine Erhöhung ,zur Rechten< Gottes (Röm 8,32), und die Sendung ,des Sohnes< (Röm 8,3; Gal 4,4) und auch z.T. hymnische Aussagen über seine Präexistenz (I Kor 8,6; Phil 2,6)-in die Frühzeit der Urgemeinde vor und neben Paulus zurück. Sprachlich basieren die Formulierungen weithin auf jüdischen Traditionen. Sie lagen den ersten Anhängern Jesu, die ja sämtlich Juden waren, in der Schrift (einschließlich ihrer griechischen Übersetzung, der LXX), in frühjüdischen Auslegungen und Spekulationen über endzeitliche oder messianische Gestalten, über Engel, die Weisheit Gottes, sein Wort und andere ,Hypostasen< vor. Mit Hilfe dieser Vielfalt vorliegender Traditionen konnte formuliert werden, was im Rückblick auf den WegJesu und seinen Tod, angesichts der österlichen Erscheinungen und der Erfahrung des Geistes über J esu Gestalt und Bedeutung zu sagen war. Das urchristliche Christusbekenntnis geht insofern auf eine doppelte Wurzel zurück: auf das, was die Zeugen über Jesu Botschaft und Geschick sagen konnten, und in nicht geringerem Maße zugleich auf das, was ihnen an Ostern und Pfingsten, d.h. in der Erscheinung des Auferstandenen und in der Erfahrung des Geistes, widerfahren war. Freilich ist die Wirklichkeit dieser Widerfahrnisse, die uns ja nicht anders als in sprachlich gefaßten Zeugnissen vorliegen, ,von außen< nicht überprüfbar. Daher läßt sich die Wahrheit des christlichen Glaubens auch in historischer oder philosophischer Ar- 40 gumentation nicht ,andemonstrieren< 15 . Auf der anderen Seite verbaut man sich jedoch die Chance, die urchristlichen Zeugnisse historisch und sachlich zu verstehen, wenn man z.B. durch eine bestimmte Konzeption von Wirklichkeitsolche Erfahrungen von vorneherein ausschließt oder meint, sie in irgendeiner Weise vollständig ,erklären< zu können. 16 Im vorliegenden Zusammenhang kann es nur darum gehen zu zeigen, daß das Christusbekenntnis der nachösterlichen Zeugen historisch und sachlich nicht von der Botschaft des irdischen Jesus abgelöst werden kann und daß auf beiden Stufen des Traditionsprozesses der Anspruch der Definitivität und Exklusivität des bezeugten Heilsgeschehens zu belegen ist. Jesu Botschaft und ihr eschatologischer Anspruch Ein eschatologischer Anspruch war schon Bestandteil der Sendung und der Botschaft des irdischen Jesus. Bei aller Zurückhaltung, die aus methodischen Gründen in der Rekonstruktion des Wirkens und der Botschaft J esu geboten ist, ergibt sich doch aus den Quellen sehr klar, daß Jesus nicht in der Art eines (vor-)rabbinischen Toralehrers und erst recht nicht als ,kynischer< Wanderphilosoph aufgetreten ist. Sein Wirken war vielmehr geprägt von eschatologischen Zügen: Die Rede von der ,nahen, (vgl. Mk 1,15) Gottesherrschaft, die zu erbitten und zu erwarten ist (Mt 6, 10 par Lk 11,2) und sich zugleich zeichenhaft in Heilungen und Exorzismen schon ereignet (Lk 11,20), sprengt auch alles, was von einem ,letzten, Propheten, gesagt werden kann. Der letzte Rufer vor dem Ende, der wiedergekommene Elia (vgl. Mal 3,23), war nach Jesu eigenem Urteil der Täufer. Was in seinem eigenen Wirken geschah, beschrieb er mit Worten wie »mehr alsJona« (Mt 12,41), und »mehr als Salomo« (Mt 12,42 par Lk 11,31). Die Dringlichkeit der geforderten Umkehr und die Größe der hier offenbarten Weisheit Gottes überstiegen nachJesu Sendungsanspruch auch die Gipfelpunkte der israelitischen Heilsgeschichte. Was sich in J esu Wirken ereignete, war nur im Rückbezug auf die biblischen Heilsverheißungen (vgl. Mt l 1,5f.), d.h. als Erfüllungsgeschehen zu erfassen. Daß er der ,Messias, sei -dieser ,Titel, wurde an ihn möglicherweise aufgrund seiner Machttaten herangetragen hat ZNT 5 (3. Jg. 2000) er wohl nicht vor seinem Prozeß bekräftigt 17, was ihm dann als Gotteslästerung zum Vorwurf gemacht wurde. Aber sein Wirken wird wohl selbst mit der Kategorie des Messianischen noch nicht hinreichend erfaßt: In seiner auch gegenüber ,Mose< kritischen Auslegung der Tora (Mt 5,21ff.: »ich aber sage euch«) und im direkten Zuspruch der Vergebung von Sünden (Mk 2,lff.) 18 hat er für sich eine Kompetenz beansprucht, die, historisch gesehen, alle Schemata sprengt. Sie läßt sich nur durch die indirekte Aussage umschreiben, daß in Jesu Wirken Gott selbst gehandelt hat, daß er in Jesus seinen ,eigentlichen< Schöpferwillen proklamiert und ,Sündern< das Heil letztgültig zugeeignet hat. Daß Jesu Person und der Stellung zu ihm eschatologische Bedeutung zukommt, wird noch deutlicher in dem wohl ebenfalls authentischen Logion Lk 12,Sf. (par Mt 10,32): »Wer mich bekennt vor den Menschen, den wird auch der Menschensohn bekennen vor den Engeln Gottes ... «. Hier wird nicht weniger ausgesagt, als daß die letzte richterliche Entscheidung über das eschatologische Heil der Menschen an deren irdisches Bekenntnis zu Jesus gebunden ist. Dieser unerhörte SendungsanspruchJesu hat bereits bei seinen Zeitgenossen gespaltene Reaktionen ausgelöst: Man warf ihm Manie (Mk 3,21), Magie (Mk 3,22) und schließlich Blasphemie vor (Mk 2,7; 14,64) und überstellte ihn zuletzt dem römischen Statthalter mit der politisch hochbrisanten Anklage, er sei ein Königsprätendent. Jesus selbst hat allerdings kurz zuvor seinen bald bevorstehenden Tod im Rahmen des letzten Mahls anders gedeutet: als Sterben für »die vielen« (Mk 14,24 parr.; vgl. J es 53,12), d.h. im Licht der biblischen Prophetie vom Gottesknecht als ein Geschehen, in dem allem Anschein zum Trotz kraft der ,Stellvertretung, des Knechts das Heil zugunsten der ,Vielen< erwirkt wird. Das Zeugnis der Zeugen und das Bekenntnis zu Jesus Für den Unglauben endet die Geschichte damit, und es bleibt bei einem historisch z.T. noch rekonstruierbaren, sachlich aber als hybrid und unangemessen bewerteten Selbstanspruch eines Wanderpredigers aus der galiläischen Provinz. Wäre dies alles, was zu sagen ist, dann wäre dieser Anspruch in der Tat durch das Auftreten anderer religiöser ZNT 5 (3. Jg. 2000) Persönlichkeiten vor und nach Jesus und durch den Fortgang der Geschichte gründlich relativiert. Das Neue Testament will seine Leserinnen und Leser jedoch weiter führen: zu einer Perspektive des Glaubens, der auf dem Zeugnis von Zeugen beruht. Übereinstimmend wurde von ganz unterschiedlichen Personen bezeugt, Jesus sei ihnen in neuer Lebendigkeit erschienen, Gott habe also den Gekreuzigten von den Toten auferweckt. Man kann dieses Zeugnis nicht schon deshalb abweisen, weil es von Glaubenden stammt zum Zeitpunkt ihrer Christophanie waren weder der schuldig gewordene und in Verzweiflung geflohene Petrus noch der zuvor gegenüber Jesus skeptisch-distanzierte Jakobus Glaubende, erst recht nicht der später um die Bekämpfung des vermeintlichen ,Aberglaubens< ringende junge Schriftgelehrte Schaul / Paulus. Alle drei erfuhren durch dieses Widerfahrnis eine grundlegende Neuorientierung ihrer Existenz: Ihre (Wieder-)Annahme durch den ,Erhöhten< und ihre Sendung zur Weitergabe der Botschaft die nun nicht mehr einfach die Botschaft des irdischen Jesus war, sondern die Kunde davon, daß Gott an dem Gekreuzigten eschatologisch gehandelt und darin sein Wirken und seinen als Heilsgeschehen gedeuteten Tod bekräftigt hatte. Der in göttliche Herrlichkeit, ja (nach Ps 110,1) >zur Rechten Gottes< Erhöhte konnte nun angerufen werden (,Maranatha< I Kor 16,22). Sein Tod »für uns« bzw. »für unsere Sünden« (Röm 4,25; I Kor 15,3b) und seine Auferweckung »nach der Schrift« (I Kor 15,46) und »um unserer Rechtfertigung willen« (Röm 4,25) konnte nun als ein von Gott selbst gewirktes Heilsgeschehen ausgesagt werden. Der Glaube an ihn, in dem Gott eschatologisch zum Heil gehandelt hatte, war von nun an der Modus der Teilhabe an diesem Heil (Röm 10,9). Die Wiederannahme der am Karfreitag geflohenen Jünger und insbesondere die Berufung des Verfolgers Paulus führten schließlich zu der Erkenntnis, daß das in Jesus eröffnete Heil Gottes den Menschen ohne eine Vorbedingung zuteil wird und daß diese Botschaft schließlich auch uneingeschränkt, über die Grenzen des erwählten Gottesvolkes hinaus, zu verkündigen sei. Die weitere Ausbildung der neutestamentlichen Christologie bis hin zu den johanneischen Aussagen über Jesus als »Gott« ist in diesem Anfang angelegt und braucht hier nicht weiter nachgezeich- 41 net zu werden. Es dürfte deutlich geworden sein, daß die Aussagen der urchristlichen Christologie sehr wohl an die Verkündigung des irdischen Jesus anknüpfen und sein Geschick gewiß im österlichen Rückblick, aber doch in weitgehender sachlicher Übereinstimmung mit Jesu eigenem Sendungsanspruch als eschatologisches Heilshandeln Gottes verstehen. Dies impliziert, daß das in Christus zugeeignete Heil definitiv ist 19 . Nur so bietet sich im Glauben an Christus eine verläßliche Grundlage für die menschliche Existenz im Leben wie im Sterben. Wer hingegen die eschatologische Endgültigkeit der Heilszusage leugnet und neben diesem einen, in dem Gott gehandelt hat, mit der Möglichkeit anderer ,Manifestationen des Transzendenzgrundes< rechnet, der gibt nicht nur den biblischen Gottesbegriff preis, sondern nimmt sich auch die Möglichkeit, im strengen Sinne von ,Heil, zu sprechen. Was dies für das Gespräch mit Menschen anderen Glaubens bedeutet, kann hier nicht weiter erörtert werden. 20 Ein aufrichtiger Dialog kann freilich nicht an die Voraussetzung gebunden sein, daß, wer an ihm teilnimmt, seine Wahrheits->Ansprüche, von vornherein zurücknehmen muß. Christen, die durch Christus zum Glauben berufen und mit >ewigem Leben< beschenkt sind, können sehr wohl mit Paulus zugestehen, daß »unser Wissen Stückwerk« ist (I Kor 13,12). Das Bekenntnis zu dem ,einen Herrn Jesus Christus< (I Kor 8,6) läßt sich aber nicht ,deabsolutieren< zur Rede von einem unter vielen, wenn nicht zugleich die Gültigkeit des in ihm verbürgten Heils und damit letztlich der biblische Gottesbegriff im Ganzen preisgegeben werden soll. Anmerkungen 1 Für die kritische Diskussion des Beitrags danke ich Herrn Dr. Christof Landmesser (Tübingen). 2 R. Bernhardt, Deabsolutierung der Christologie? , in: M. v. Brück/ J. Werbick(Hgg.), Der einzige Weg zum Heil? Die Herausforderung des christlichen Absolutheitsanspruchs durch pluralistische Religionstheologien, (QD 143) Freiburg 1993, 144-200.144. Vgl. ausführlich ders., Der Absolutheitsanspruch des Christentums. Von der Aufklärung bis zur Pluralistischen Religionstheologie, Gütersloh 1990. 3 R. Bernhardt, Deabsolutierung, 146. 4 R. Bernhardt, Deabsolutierung, 147ff. Bultmanns Programm läßt sich in dieser Linie nur mit Einschränkun- 42 gen nennen, weil Buhmann an der soteriologisch exklusiven Bedeutung Jesu Christi dezidiert festhielt. 5 R. Bernhardt, Deabsolutierung, 151. 6 Schon Albert Schweitzer hatte gegenüber der liberalen Leben-Jesu-Forschung gezeigt, wie sehr jedes Bild des historischen Jesus den Idealen entspricht, die für seinen Autor als erstrebenswert gelten. 7 R. Bernhardt, Deabsolutierung, 193 (kursiv J. F.). 8 Der älteste Beleg dürfte vorliegen bei I. A. Dorner, Die deutsche Theologie und ihre dogmatischen und ethischen Aufgaben in der Gegenwart (1856), in: ders., Gesammelte Schriften, 1883, 21f. Vgl. W. Härle, Dogmatik, 103ff. 9 Vgl. die fundamentale Kritik bei E. Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902), Tübingen 3 1929, 88. Seine Lösung, das Christentum sei zwar nicht ,absolut<, aber in der bisherigen Entwicklung der Religionen relativ »höchststehend«, ist jedoch nicht weniger problematisch als die Rede von der Absolutheit. 10 So die Bestimmung bei W. Härle, Dogmatik, 105f. 11 Vgl. grundlegend Ch. Landmesser, Wahrheit als Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft, (WUNT 113) Tübingen 1999. 12 Vgl. z.B. die pseudo-philonische Predigt De Jona, § 216f. (in: F. Siegert, Drei hellenistisch-jüdische Predigten, (WUNT 20) Tübingen 1980), die Darstellung inJos- As 11,8-10 sowie die Spuren der christlichen Missionsterminologie in I Thess 1,9f.; Hebr 6,1; Apg 14,15-17 und 17,22ff. S. zur Sache M. Hengel / A. M. Schwemer, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien, (WUNT 108) Tübingen 1998, 101-132. 13 Sprachlich rekurriert das Bekenntnis in I Kor 8,6 sogar unmittelbar auf das Grundbekenntnis zur Einheit Gottes, das ,Höre Israel, von Dt 6,4, das nun freilichgegen seinen ursprünglichen Sinn in zwei parallelen Aussagen ,binitarisch< entfaltet wird; s. 0. Hofius, »Einer ist Gott - Einer ist Herr«. Erwägungen zu Struktur und Aussage des Bekenntnisses I Kor 8,6, in: Eschatologie und Schöpfung, FS E. Gräßer, (BZNW 89) Berlin/ New York 1998, 95-108. 14 S. dazu grundlegend M. Hengel, Der Sohn Gottes, Tübingen 1975; ders., »Setze dich zu meiner Rechten! « Die Inthronisation Christi zur Rechten Gottes und Psalm 110,1, in: M. Philonenko (Hg.), Le Trane de Dieu, (WUNT 69) Tübingen 1993, 108-194; A. Chester, Jewish Messianic Expectations and Meditorial Figures and Pauline Christianity, in: M. Hengel / U. Hecke! (Hgg.), Paulus und das antike Judentum, (WUNT 58) Tübingen 1991, 17-90; W. Horbury, Jewish Messianism and the Cult of Christ, London 1998; L. Hurtado, One God, One Lord. Early Christian Devotion and Ancient Jewish Monotheism, Edinburgh 2 1998. 15 Dies gilt allerdings nicht nur für die Wahrheitsansprüche des christlichen Glaubens, sondern grundsätzlich für alle Wahrheitsansprüche, die angesichts der Komplexität der Wirklichkeit auf einer Auswahl relevanter Propositionen beruhen und somit ein nicht mehr zwin- ZNT 5 (3. Jg. 2000) gend zu begründendes »Präferenzkriterium« voraussetzen (s. dazu Ch. Landmesser, Wahrheit, 63ff. u. ö.). 16 Dies geschieht z.B. in der psychologischen Erklärung der österlichen Erscheinungen bei G. Lüdemann, Die Auferstehung Jesu, Göttingen 1994, 108ff.126ff. 17 Daß andererseits die Bejahung dieses Anspruchs in Mk 14,62 nicht nur ein Zeugnis später Gemeindetheologie ist (so G. Theissen / A. Merz, Der historische Jesus, Göttingen 1996), sondern in der Substanz auf ein Drohwort Jesu im Rahmen des Prozesses zurückgehen könnte, hat D.L. Bock, Blasphemy and Exaltation in Judaism and the Final Examination of Jesus, (WUNT II/ 106) Tübingen 1998, 209ff., mit beachtlichen Argumenten erhärtet. 18 Das Streitgespräch in dieser Perikope braucht nicht sekundär zu sein. Die beliebte Ausscheidung dieser Passage dürfte sich vielmehr dem Vor-Urteil verdanken, daß Jesus selbst nicht in der hier beschriebenen Weise gehandelt haben könne. S. zur Einheitlichkeit 0. Hofius, J esu Zuspruch der Sündenvergebung. Exegetische Erwägungen zu Mk 2,Sb,JBTh 9 (1994) 125-143. 19 Wäre dies nicht der Fall, dann wäre die Rede von der Gewißheit des in Christus zugesagten Heils (vgl. Röm 8,38f.) hinfällig. 20 Ein Sonderfall, der hier nicht erörtert werden kann, ist das Verhältnis zu Israel, mit dem die mittlerweile überwiegend heidenchristliche Christenheit durch die gemeinsame Bibel und insbesondere den Juden Jesus von Nazareth unlöslich verbunden ist. Die Rückbindung an Israel kann daher nie auf einer Ebene mit dem Verhältnis zu anderen Religionen verhandelt werden. Vielmehr beinhaltet das neutestamentliche Zeugnis wenigstens bei Paulus (Röm 9-11) explizit die Hoffnung auf die eschatologische Rettung Israels. UTB für Wissenschaft Kurt Erlemann Gleichnisauslegung Ein Lehr- und Arbeitsbuch UTB 2093, M, 1999, 320 Seiten, DM 36,80/ ÖS 269,-/ SFr 34,- UTB-ISBN 3-8252-2093-1 Das neue Buch von Kurt Erlemann sichtet die Geschichte der Gleichnisforschung kritisch und schreibt sie weiter. Nach der theoretischen Grundlegung entfaltet der Autor eine Methodik der Gleichnisauslegung. Anhand von Übungsfragen und Musterexegesen wird den Lesern ein Leitfaden für die eigene Beschäftigung mit den Texten geboten. UTB FtJRWISSEN SCHAFT ZNT 5 (3. Jg. 2000) Francke Neue Aspekte zu Welt und Wirken der Zisterzienser Barbara Scholkmann / Sänke Lorenz (Hrsg.) Von Citeaux nach Bebenhausen Welt und Wirken der Zisterzienser 2000, 235 Seiten, geb., mit zahlr. z. r farbigen Abbildungen DM 49,80 DM/ ÖS 364,- / SFr 47,- ISBN 3-89308-305-7 1098 zogen sich die Benediktiner aus der Abtei Molesme nach C1teaux zurück, um in strenger Beachtung der benediktinischen Regel ein neues monastisches Leben in Einfachheit, Handarbeit und Weltabgeschiedenheit zu beginnen. Ihr Kloster wurde zur Keimzelle des neuen Ordens der Zisterzienser. Geprägt von der Gestalt des HI. Bernhard von Clairvaux, trat der Orden einen Siegeszug durch die monastische Welt an. Am Ende des Mittelalters verfügten die Zisterzienser allein im deutschen Sprachraum über 141 Niederlassungen. Dieser Band geht auf die allgemeinen Aspekte der Geschichte, der Kunst- und Wirtschaftsgeschichte der Zisterzienser ebenso ein wie auf deren Verwirklichung am Beispiel Bebenhausens, einer der wichtigsten Zisterziensergründungen im süddeutschen Raum. »Geschichte wird hier am exemplarischen Beispiel höchst lebendig.« Schwäbisches Tagblatt ATTEMPTO VERLAG Dischingerweg 5 • 72070Tübingen 43 Peter von der Osten-Sacken Absolutheit und Absolutheitsanspruch des Christentums Kritische Überlegungen mit dem Neuen Testament 1. »Allein in Christus allein durch die Schrift allein dem Glauben« teile sich Gott mit. So hat Gerhard Ebeling die hermeneutische Grundeinsicht Martin Luthers zusammengefaßt, die seine gesamte Schriftauslegung bestimme und damit zugleich auch seine Theologie. 1 Diese Grundeinsicht ist bis heute das Erkenntnisprinzip evangelisch-lutherischer Theologie geblieben. tums darauf, dessen Absolutheit zu vertreten, so daß sich jener Ring, gemessen an der konfessionell verbindlichen evangelisch-lutherischen Tradition, nur mit Gewalt aufbrechen ließe? 2. Die Aufzählung ,Christus, Schrift und Glaube, erweckt zwar den Anschein, Man kann auf diesen Kanon fraglos unterschiedlich reagieren. Man kann ihn in befreiendem oder in : TROV als handle es sich um drei gleichartige, auf einer Ebene angesiedelte Größen. beengendem Sinne verstehen, ihn bekräftigen oder abwehren. Von sich selber her hat er nicht gerade etwas Bedrohliches, doch auf jeden Fall eine deutliche ausgrenzende Tendenz: Nirgendwo anders, nur hier teilt sich Gott mit. In der Tat hat Luther selbst so formulieren können, von Beginn an, seit seiner ersten Psalmenvorlesung von 1513-15: »Niemand kann zu Gott bekehrt werden, wenn er nicht zuvor zu Christus bekehrt worden ist.« 2 Sätze dieser Art klingen wie absolut gültige, nahezu >objektive< Feststellungen. Sie sind es zwar nicht, dennoch werden sie in vielen Diskussionen, in denen es um ein anderes als um ein fundamentalistisches oder absolutistisches Verhältnis zu anderen Religionen geht, als Veto benutzt und nicht selten wie ein Spaten, mit dem man unliebsame Maulwurfshügel abflacht.Jeder, der in innerchristlichen Diskussionen für eine theologisch-qualitative Erneuerung des christlich-jüdischen Verhältnisses und damit für eine Absage an traditionelle theologische Schwarzweißmalerei eintritt, kann ein Lied davon singen. Das, was einmal befreiende Botschaft war, legt sich vielfach wie ein eiserner Ring um Christen, der sie hindert, verstehend auf andere zuzugehen und in ihnen letztlich mehr zu sehen als die Empfänger der eigenen Botschaft. Kann man diesen Ring aufschließen, oder verpflichtet zumindest die reformatorische Grundlage des evangelischen Christen- 44 Sie unterscheiden sich dennoch gravierend. >Die Schrift< in christlicher Begrifflichkeit Altes und Neues Testamentbenennt nach Luther das (allein relevante) Terrain, in dem die Selbstmitteilung Gottes an die Welt literarisch eingefroren ist. >Christus< und ,der Glaube, hingegen sind die lebendigen, über das mündliche Wort zusammenkommenden Größen, die als Interpretationsprinz1p1en jenes Gefrorene auftauen und die Selbstmitteilung Gottes von einst zu einer heilsamen Begegnung jetzt werden lassen. Die Schrift auf der einen Seite, Christus und der Glaube auf der anderen treffen freilich im Rahmen dieses Geschehens nicht als voneinander unabhängige Größen aufeinander. Vielmehr schließt das skizzierte Verhältnis das Verständnis ein, daß gerade die Schrift selbst, mithin die von diesen Größen einzig greifbare, die beiden anderen, Christus und den Glauben, Seite um Seite und in allen möglichen Brechungen als ihr entscheidendes Zentrum in sich birgt. Dies aber umschließt unabweislich einen Tatbestand von erheblicher Tragweite. Die Schrift ist nicht nur Objekt der Interpretation, vielmehr hat sie selbst ein Wörtchen mitzureden, wenn die, die sie theologisch auslegen, sich ihr mit ihren Interpretationsprinzipien zuwenden. Andernsfalls auch wäre sie ihnen ganz und gar ausgeliefert. Wie also spiegelt sich jener eingangs zitierte Kanon in der Schrift selbst? ZNT 5 (3. Jg. 2000) 3. Peter von der Osten-Sacken Geboren 1949; von 1973-1993 Prof. für Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Berlin (West); seit 1994 für Neues Testament und christlich-jüdische Studien an der Humboldt-Universität Berlin; seit 1974 Leiter des zunächst an der Hochschule, ab 1994 an der Universität ansässigen - Instituts Kirche und Judentum. Das Grundbekenntis Israels, das Christen stets auch als das ihre verstanden haben, ist ein Gotteswort, von Mose empfangen und weisungsgemäß dem Volk überliefert: »Höre, Israel, der HErr, unser Gott, der HErr ist einer! « (Dt 6,4). Eine frühe und freie christliche Variante dieses Bekenntnisses ist vom Apostel Paulus im 1. Korintherbrief aufgenommen. Sie wird dort in Verbindung mit dem Problem zitiert, ob Christen anders als Juden heidnischen Göttern geweihtes Opferfleisch essen dürfen. Paulus schreibt: »Von dem Essen des Götzenopfers aber wissen wir, daß kein Götze in der Welt ist und daß kein Gott ist als der eine. Und wiewohl solche sind, die Götter genannt werden, es sei im Himmel oder auf Erden, wie es ja viele Götter und viele Herren gibt, so haben wir doch nur einen Gott, den Vater, von welchem alle Dinge sind und wir zu ihm, und einen Herrn,Jesus Christus, durch welchen alle Dinge sind und wir durch ihn« (1 Kor 8,4-6). In der Tradition dieser Bekennntnisse wiederum steht, desgleichen mit eigener Kontur, das muslimische: »Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet! « Aber dies mag nur in Erinnerung gerufen werden. In beiden Bekenntnissen, dem jüdischen wie dem christlichen, steht der eine Gott im Zentrum. Um ihn und seine Offenbarung zu qualifizieren, wer- ZNT 5 (3. Jg. 2000) Peter von der Osten-Sacken Absolutheit und Absolutheitsanspruch den Begriffe wie »absolut« vornehmlich ins Feld geführt, einmal dahingestellt, ob damit bereits die relevanten Motive für den Begriffsgebrauch erschöpft sind. In der Tat erscheinen in beiden Bekenntnissen für einen Moment Aussageelemente, die in eine absolut klingende Richtung weisen: »Der HErr ... ist einer«/ »daß kein Gott ist als der eine«. Beide Elemente sind freilich Aussagefragmente, die nicht vom jeweiligen ganzen Satzgefüge ablösbar sind. Dieses Gefüge aber hat beide Male ein eindeutiges Gefälle. Im ersten Fall handelt es sich um einen Aufruf an Israel, der dem Volk ins Gedächtnis prägt, daß sein (»unser«) Gott einer ist, und dort, wo dieser Satz als Anfang des gesamten Schma Jisrael/ Höre Israel im Gebet des einzelnen oder mehr noch der Gemeinde laut wird, machen beide ihn sich als verpflichtendes Bekenntnis zu eigen. Desgleichen ist im Falle des von Paulus angeführten Bekenntnisses die Gemeinde eindeutig als Träger der zitierten Aussagen benannt: »... so haben wir doch nur einen ... , durch den wir ... «. Dieser Bezug auf das Volk dort, die Gemeinde hier gibt die unzweifelhafte Relationalität des Bekenntnisses zu erkennen, seine Bezogenheit auf eine bekennende oder proklamierende Trägergruppe, und in diesem Sinne zugleich seine Relativität. Sie sind unausgesprochen stets auch dort gegeben, wo die Rede von dem einen Gott laut wird, ohne daß die Bekenntnisqualität der Rede sprachlich betont wird. 4. Sich dies zu vergegenwärtigen ist von besonderem Gewicht bei den beiden neutestamentlichen Aussagen, die wahrscheinlich am häufigsten angeführt werden, um die unabweisbare Pflicht zu demonstrieren, daß Christinnen und Christen für die Absolutheit des Christentums einzutreten haben. Zum einen handelt es sich um die geistgewirkte Erklärung des Petrus vor dem Hohenrat für sein heilendes Handeln in der Kraft Jesu Christi: »In keinem andern ist das Heil, ist auch kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, durch den wir sollen gerettet werden.« (Apg 4,12). Zum anderen geht es um den Satz des johanneischen Jesus, mit dem auch Martin Luther die eingangs aus seiner Psalmenvorlesung zitierte Behauptung neutestamentlich begründet hat: »Ich 45 bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.« Qoh 14,6). Im ersten Fall ist der Bekenntnischarakter der Aussage relativ leicht erkennbar, wenn man die Situation und den Sprecher einbezieht. Im zweiten scheint demgegenüber geradezu ,christlicher Anspruch pur< zu begegnen. Eine solche Einschätzung des Wortes wird freilich, so geläufig sie auch ist, durch den Charakter des Johannesevangeliums erschwert. Bekanntlich gibt es in unvergleichlich größerer Intensität als die synoptischen Evangelien das Wort des Nazareners so wieder, wie es die Trägergruppe des Evangeliums in ihrer Zeit gehört hat. Jedes der Ich-bin-Worte ist damit letztlich ein Bekenntnis der Gemeinde zu ihm in Gestalt eines Selbstbekenntnisses. Die christologisch pointierten Worte bringen mithin in kaum noch zu steigernder Weise zum Ausdruck, daß sich die Gemeinde in allem dem verdankt, dem sie diese Selbstbekenntnisse in den Mund legt. Nach dem Johannesevangelium selbst ist die Bindung der Gemeinde an den Nazarener als den Weg, die Wahrheit und das Leben keine Konkurrenz zur Bindung an den einen Gott, sondern deren Eröffnung. Dies zeigt der exkludierende Zusatz: »Niemand kommt zum Vater denn durch mich.« Mit seinem nicht einladenden, sondern eher drohenden Ton erinnert er freilich zumindest von ferne an den Wächter in Kafkas bekannter Erzählung »Vor dem Gesetz«. So scheint der Hinweis zu lohnen, daß das Johannesevangelium Ich-bin-Worte umschließt, denen diese Seite fehlt und die das christologische Bekenntnis ohne einen solchen exkludierenden Seitenblick entfalten. Sie werden zwar bezeichnenderweise sehr viel weniger oft zitiert, haben jedoch ungeachtet dessen eine unvergleichlich größere Leuchtkraft, allen voran die Tod und Leben umspannende Zusage: »Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe. Und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben.« Qoh 11,25). Worin bestehen Sinn und Gewinn, wenn man hinzufügt: >Und jeder andere Weg führt ins Verderben<? Beläßt man es bei solchen allgemeinen exkludierenden Feststellungen, so übt man eine verbale Repression aus, die die Christusbotschaft eher ruiniert als fördert. Sinn machen solche Grenzziehungen deshalb nur, wenn man sich durch sie vergewissert, warum man als einzelner oder als Gemeinschaft diesen und keinen anderen Weg 46 wählt. Dazu aber bedarf es der Argumentation und nicht der exkludierenden Proklamation. Das Johannesevangelium ist durchaus nicht bar jeglicher argumentativen Entfaltung seiner Botschaft. Aber es dominieren, begründet in Situation und Botschaft, die monologisch-proklamative Rede und ein Dualismus, der die anderen in solcher Finsternis ansiedelt, daß ihre Gestalt kaum noch zu erkennen ist. 5. Begriffe und Programme wie »Absolutheit« und »Absolutheitsanspruch« verdecken, was gerade jene Aussagen im Neuen Testament kennzeichnet, die dafür herhalten sollen, beide zu begründen: Sie stellen Bekenntnisse dar, die die Wahrheitsgewißheit einer Gemeinschaft bezeugen, nicht aber Aussagen, auf die man irgendeinen Absolutheitsanspruch gründen könnte. Ein solcher Anspruch schlösse ein, daß der einzelne oder die Gemeinschaft oder eine Institution, die ihn verträte, ein Recht hätte, sich mit dem Absoluten zu identifizieren, um seinen Anspruch geltend zu machen. Die christliche Gemeinde aber lebt von Worten und Taten, die unverändert aufs trefflichste durch jene Begebenheit gekennzeichnet werden, die Joh 12 erzählt: Jesus hört die Stimme Gottes, einige urteilen, ein Engel habe mit ihm geredet, und das Volk sagt, es hat gedonnert (V.28f.). Was der Gemeinde gegeben ist, ist eine Gewißheit, die aus Begegnungen erwachsen ist, nicht irgendeine Gewißheit, sondern die, die sie trägt und die für sie identisch ist mit der Erkenntnis der Wahrheit. Das Johannesevangelium hat diese Wahrheit im Neuen Testament am deutlichsten als >Wahrheit in Person< zum Ausdruck gebracht: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben«. Die Wahrheit ist diese Person, weil sie ihrem eigenen Zeugnis nach von sich aus nichts ist und von sich aus nichts tun kann,3 sondern ganz aus der Einheit mit Gott lebt. 4 Es ist auf biblischem Grunde per se unmöglich, daß eine Gemeinde die Wahrheit erkannt hat und sie nicht laut werden läßt für andere. Der biblische Begriff für den Auftrag, der mit der Gottes- oder Wahrheitserkenntnis gegeben ist, ist im Alten wie im Neuen Testament der des Zeugnisses. Zu diesem der Gerichtssprache angehörigen Begriff wiederum gehört konstitutiv das Moment der Glaubwür- ZNT 5 (3. Jg. 2000) digkeit. Es betrifft sowohl die bezeugte ,Sache< wie die bezeugende Person, auch wenn beide, Zeugnis und Zeuge, nicht miteinander identisch sind. Christliches Zeugnis dürfte heutzutage schwerlich glaubwürdig sein, wenn es die Vertreter anderer Religionsgemeinschaften, allen voran die biblisch benachbarte jüdische Gemeinde, unter der Voraussetzung betrachtet, sie hätten theologisch nichts Relevantes beizutragen, weil die Wahrheitsfrage bereits geklärt sei. Ob die eine oder die andere Seite für den jeweils anderen etwas beizutragen hat, läßt sich nicht durch den Austausch oder die Proklamation von Ansprüchen ausmachen, sondern nur durch die gemeinsame Erörterung von klar umgrenzten Themen und Problemen, seien sie theologisch-theoretischer oder mehr praktischer Natur. Nicht selten, wenn nicht mit einer gewissen Regelmäßigkeit kann man die Klage hören, was ,dann noch bleibt<, wenn man die Rede von der Absolutheit des Christentums oder von dessen Absolutheitsanspruch zurückläßt. Gerade weil sich in solcher Klage unverkennbar Identitätsangst zeigt, kann man um der Sache willen nur zurückfragen: Wenn jetzt vermeintlich nichts mehr bleibt, was war dann vorher da? 6. Zu den ebenso sachgemäßen wie hilfreichen Modellen, die entworfen oder angedacht sind, um speziell das Verhältnis von Juden und Christen heilsam zu bestimmen, gehört die Umschreibung, die Martin Buber am 14. Januar 1933 in dem öffentlichen Gespräch mit Karl Ludwig Schmidt in Stuttgart gegeben hat: »Das Juden und Christen Verbindende bei alledem [sc. bei dem Trennenden, das in der Christusfrage liegt] ist ihr gemeinsames Wissen um eine Einzigkeit, und von da aus können wir auch diesem im Tiefsten Trennenden gegenübertreten; jedes echte Heiligtum kann das Geheimnis eines echten anderen Heiligtums anerkennen. Das Geheimnis des anderen ist innen in ihm und kann nicht von außen her wahrgenommen werden. Kein Mensch außerhalb Israels weiß um das Geheimnis Israels. Und kein Mensch außerhalb der Christenheit weiß um das Geheimnis der Christenheit. Aber nicht wissend können sie einander im Geheimnis anerkennen. Wie es möglich ist, daß es die ZNT 5 (3.Jg. 2000) Pl: ! ter v„n dm· Osten-Sacken Absolutheit und .Absolutheitsanspruch Geheimnisse nebeneinander gibt, das ist Gottes Geheimnis. Wie es möglich ist, daß es eine Welt gibt als Haus, in dem diese Geheimnisse >mitsammen< wohnen, ist Gottes Sache, denn die Welt ist ein Haus Gottes. Nicht indem wir uns jeder um seine Glaubenswirklichkeit drücken, nicht indem wir trotz der Verschiedenheit ein Miteinander erschleichen wollen, wohl aber indem wir unter Anerkennung der Grundverschiedenheit in rückhaltlosem Vertrauen einander mitteilen, was wir wissen von der Einheit dieses Hauses, von dem wir hoffen, daß wir uns einst ohne Scheidewände umgeben fühlen werden von seiner Einheit, dienen wir getrennt und doch miteinander, bis wir einst vereint werden in dem einen gemeinsamen Dienst ... «. 5 Hier ist dreierlei gewahrt: das Geheimnis, d.h. die Identität der jeweiligen Gemeinschaft, die Offenheit füreinander im Mitteilen dieses Geheimnisses und die Hoffnung, die die Gegenwart übergreift und Vorläufiges nicht für Endgültiges ausgibt. Das nicht so leicht ausgeschöpfte Gespräch zwischen Schmidt und Buber ist paradigmatisch noch in einer anderen Hinsicht. Zwar vertritt Schmidt als christlicher Theologe traditionsgemäß den Absolutheitsanspruch des Christentums und in diesem Sinne eine Position der Stärke; doch die sachlich bohrenden und herausfordernden Fragen kommen eher von Buber, der für die jüdische Seite einen Anspruch- »ein zu menschlich stolzes Wort für diese [sc. unsere] Situation« negiert. 6 7. »Je besser sich irgend ein Volk geglaubt hat, je stolzer ist es stets gewesen. Dies ist die Natur aller aufgrund der Sünde.« 7 Die superbia, der Stolz oder Hochmut als die Sünde des Menschen, lauert entsprechend nach Luther stets auch bei Christen vor der Tür und hält mit Wonne bei ihnen Einzug. In seiner Psalmenvorlesung von 1513-1515 nennt er sie mehrfach unverblümt ein Monster. 8 Wie will man diesem Monster begegnen und seinem Zugriff entgehen, wenn man sich auf Absolutheit und Absolutheitsanspruch des Christentums versteift? Das Absolute ist nun einmal a priori das überlegene, und wie immer das Absolutheitsinteresse persönlich begründet sein mag, in die Hochmutsfalle, ist man, wenn man dieses Banner trägt, allemal getappt ohne daß die, die dieses Banner liegen 47 lassen, damit schon auf dem Wege der Demut wären. Der aber scheint nach dem Evangelium am Ende der köstlichere Weg. Kaum ein Text aus der Bibel hat dem nachhaltiger Ausdruck gegeben als die Geschichte von der Versuchung Jesu. Die Abwehr der satanischen Machtverlockungen gipfelt in dem Schriftzitat: »Du sollst den HErrn, deinen Gott, anbeten und ihm allein dienen! « (Dt 6,13; Mt 4,10). Dies ist der wahre Absolutheitsanspruch, den die Bibel stellt. Der Teufel muß sich ihm beugen, der Sohn beugt sich ihm in Wahrheit, uns Hochmütigen aber bleibt die unmögliche Möglichkeit, diesem Anspruch in der Kraft dessen, der den Versucher überwunden hat, ein ganzes Leben lang zu folgen - »von deinem ganzen Herzen, von deiner ganzen Seele und mit aller deiner Kraft« (Dt 6,5; Mt 22,36). Jeder Absolutheitsanspruch, der nicht Widerspiegelung dieses einzig wahren Anspruches ist, ist am Ende ein Zeichen von Kleingläubigkeit, die nach dem sichernden Balken sucht, wo nur der Wandel auf dem See trägt. Anmerkungen 1 G. Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung. Eine Untersuchung zu Luthers Hermeneutik, Darmstadt 2 1962, 277. 2 WA4,7, 8f. 3 Joh 5,19.30; 7,28; 8,28.42.54; 12,49; 14,10. 4 Joh 10,30; 17,21f. 5 K.L. Schmidt/ M. Buher, Kirche, Staat, Volk, Judentum. Zwiegespräch im Jüdischen Lehrhaus in Stuttgart am 14. Januar 1933, zuerst in: TheolBl 12 (1933), 257-274, unter Berücksichtigung späterer kleinerer Ergänzungen Buhers bei der Wiederveröffentlichung seiner Dialogteile neu herausgegeben vom Verfasser im Rahmen des Beitrags: Begegnung im Widerspruch. Text und Deutung des Zwiegesprächs zwischen Karl Ludwig Schmidt und Martin Buher im Jüdischen Lehrhaus ... , in: P. von der Osten-Sacken (Hg.), Leben als Begegnung. Ein Jahrhundert Martin Buher (1878-1978), Berlin 2 1982, 116- 144.129. Der Text der Neuausgabe (119-135) ist übernommen in: K.L. Schmidt, Neues Testament - Judentum - Kirche. Kleine Schriften, München 1981, 149- 165. 6 von der Osten-Sacken, Leben, 127. 7 So Luther in seiner Auslegung der Geschichte von Kain und Abel in seiner Genesisvorlesung von 1535-1545 (WA 42,189,34-36). 8 Vgl. bes. eindrücklich WA 4,315,13: »dieses verfluchte Ungeheuer« (hoc maledictum monstrum). 48 UTB für Wissenschaft Wilfried Engemann Einführung in die Homiletik Theologische Grundlagen - Methodische Ansätze - Analytische Zugänge UTE 2128, S, 2000, ca. 350 Seiten, ca. DM 36,80/ ÖS 269,-/ SFr 34,- UTE-ISEN 3-8252-2128-8 Die vorliegende Einführung in die Homiletik umfaßt alle Themen der Predigtlehre. Eine Besonderheit stellt die einleitende Dokumentation der Probleme der Predigt auf der Basis der Auswertung von Predigten dar. Das Buch enthält außerdem einen eigenen, der Theologie der Predigt gewidmeten Teil, in dem die Aufgabe, das Ziel und die Dimensionen der Predigt erörtert werden. Im Hauptteil des Werkes werden verschiedene Ansätze der Homiletik vorgestellt und im Hinblick auf ihre Konsequenzen bedacht. Ein Kapitel über die Predigtanalyse stellt in gut verständlicher Weise die wichtigsten Verfahren vor. Im letzten Teil des Buches wird ein Modell zur Erarbeitung einer Predigt vorgestellt. Ein umfangreiches Register und eine thematisch gegliederte Bibliographie schließen das Buch ab. Steve Mason Flavius Josephus und das Neue Testament Aus dem Amerikanischen von Manuel Vogel UTE 2130, S, 2000, 354 Seiten, DM 36,80/ ÖS 269,-/ SFr 34,- UTE-ISEN 3-8252-2130-X Die Werke des Flavius Josephus stellen die wichtigsten Quellentexte für die Geschichte des frühen Christentums und des antiken Judentums dar. Der kanadische Josephus-Spezialist Steve Mason zeigt jedoch, daß diese Texte in der Forschung vielfach als bloßer Steinbruch für historisches Datenmaterial benutzt werden und das schriftstellerische Eigeninteresse des jüdischen Historikers weithin gar nicht wahrgenommen wird. Die für diese Ubersetzung überarbeitete Einführung in das Werk des Josephus vermittelt Studierenden des Neuen Testaments nicht nur das nötige Grundwissen, sondern führt auch zu einem eigenständigen, methodologisch reflektierten Umgang mit den Quellentexten. UTB FtJRWISSEN SCHAFT Francke ZNT 5 (3. Jg. 2000) Stefan Alkier fremde Welten verstehen lernen. Semiotische Bausteine einer interkulturellen Hermeneutik für die religionsgeschichtliche und religionsdialogische Arbeit* Biblische Texte und die Religionen der anderen als fremde Welten Wer biblische Texte liest, begibt sich ebenso in fremde Welten wie diejenigen, die sich am interreligiösen Dialog beteiligen. Für den interreligiösen Dialog mag das sofort einleuchten, denn es handelt sich dabei um ein Gespräch mit Menschen, die einer anderen Glaubensrichtung angehören, die als Überzeugungssystem ihre eigene Wirklichkeit hervorbringt und Plausibilitäten entwickelt, die bis in den Alltag hineinreichen. Religionen sind nicht auf Glaubenssätze zu reduzieren, vielmehr erzeugen sie eine eigene Welt, in der die Glaubenden leben. Von der Welt des je eigenen Glaubens aus stellt die Begegnung mit anderen Glaubensrichtungen eine Begegnung mit einer fremden Welt dar eine Welt, die man von der eigenen Welt aus erkunden kann, in der man aber nicht lebt, solange es nicht zu einem Übertritt in die andere Glaubensrichtung kommt. Wer in den biblischen Texten nicht nur immer wieder das bestätigt finden will, was er/ sie selbst schon immer für richtig gehalten hat, tut gut daran, biblische Texte ebenfalls als fremde Welten zu lesen, um sie neu und vielleicht auch anders entdecken zu können. Die biblischen Texte stammen aus vergangenen Zeiten und sind im Kontext für uns fremder Kulturen mit ihren je eigenen Plausibilitätsannahmen entstanden, die überwiegend nicht mehr die heutigen sind. 1 Die Welten der biblischen Texte sind verglichen mit der fremden Welt einer im interreligiösen Dialog der Gegenwart begegnenden Glaubensrichtung sogar weiter entfernt, denn wir können nicht in ihnen leben. Wir können nur versuchen, sie vom Standpunkt unserer eigenen Welt aus zu erkunden und zwar so umfassend, wie es nur irgendwie geht. Dennoch können wir nicht zu Christen und Christinnen der ersten beiden Jahrhunderte werden, in denen die biblischen Texte entstanden und deren Welten sie teils bestätigend, teils kritisierend und sie verändernd verpflichtet sind. ZNT 5 (3. Jg. 2000) Die religionsgeschichtliche Erforschung der neutestamentlichen Texte zeigt, daß sie zu einem nicht unerheblichen Anteil selbst Produkte vergangener interreligiöser Konflikte sind,2 und es ist ein schwieriges Geschäft, die nicht-christlichen religiösen Welten zu rekonstruieren, mit denen sich neutestamentliche Texte auseinandersetzen bzw. die Auseinandersetzungen nachzuzeichnen, die in den Schriften des Alten Bundes mit den Religionen der Völker geführt werden. Die Lage verkompliziert sich noch einmal erheblich dadurch, daß weder das Christentum noch das Judentum und erst recht nicht die Religionen der >Heiden< als monolithische Größen zu betrachten sind, sondern jeweils eine große Vielfalt verschiedener Gruppierungen darstellen, die nicht nur Unterschiedliches, sondern zum Teil auch Gegensätzliches vertreten. In religiöser Hinsicht war die Welt, in der das Christentum entstand, kaum weniger pluralistisch als unsere heutige Postmoderne. Versuchten ältere christliche Exegeten wie Johann Salomo Semler 3 im 18. Jahrhundert und Ferdinand Christian Baur 4 im 19. Jahrhundert dieser verwirrenden Vielfalt religiöser Konzepte und Konflikte, in denen das Christentum entstand, durch komplexitätsreduzierende Modelle in den Griff zu bekommen, deren hermeneutischer Zugewinn im Vergleich zu den vorangehenden Auslegungsmodellen auch im Nachhinein nur zu bewundern ist, so wird deren modellbedingte Starrheit durch die neuere religionsgeschichtliche Forschung korrigiert. Als Meilenstein dafür verweise ich auf Martin Bengels Monographie Judentum und H ellenismusS, seitdem nicht nur die einfache kulturgeschichtliche Opposition von Judentum und Hellenismus, sondern auch die starre Gegenüberstellung eines separatistischen >reinen< palästinischen Judentums einerseits und eines kulturoffenen >vermischten, hellenistischen Judentums andererseits passe ist. Damit geraten aber auch die als Oppositionen formulierten Kategorien des 49 J udenchristentums 6 und des H eidenchristentums ins Wanken, die zumindest neu überdacht werden müssen. Offen bleibt aber weiterhin die hermeneutische Frage, wie denn mit den überlieferten frühchristlichen Welten und denen ihrer rekonstruierbaren religiösen Kontrahenten umgegangen werden soll, eine Frage, die sich nicht nur für die religionsgeschichtliche Arbeit am Neuen und Alten Testament, sondern auch im Schulunterricht mit Blick auf die fremden bzw. fremd gewordenen biblischen Texte und ebenso im Blick auf die nichtchristlichen Religionen im interreligiösen Dialog 7 stellt: Wie können wir vom je unhintergehbaren eigenen Standpunkt aus fremde Welten erkunden ohne dem anderen die eigene Welt überzustülpen. Zwei notwendige Schritte dafür sind zum einen, den eigenen Standpunkt zu erkunden und zu reflektieren, d.h., die Welt in der wir je selbst leben in ihrer ganzen Komplexität als unsere Enzyklopädie, als unsere Verstehensmatrix wahrzunehmen, der wir zustimmend, kritisierend, verändernd verpflichtet sind. Zum anderen ist es notwendig, den anderen als anderen wahrzunehmen, die fremde Welt, in der der andere lebt und in der seine Aussagen Sinn erzeugen als fremde Welt zu erkunden. Um diese hermeneutischen Einsichten methodisch umzusetzen, möchte ich zwei der Semiotik die Theorie der Zeichen, ihrer Erzeugung und Verwendung verpflichtete Begriffe vorstellen, denn der Begriff des Diskursuniversums, den ich der Semiotik des amerikanischen Gelehrten Charles Sanders Peirce 8 entnommen und für die Auslegung biblischer Texte modelliert habe, 9 und der der Enzyklopädie, wie ihn der Semiotiker Umberto Eco 10 ausgearbeitet hat, eröffnen methodisch kontrollierbare Wege in eigene und in fremde Welten gerade dann, wenn man Diskursuniversum und Enzyklopädie unterscheidet. / Diskursuniversum/ definiere ich als «die Welt eines konkreten Zeichenzusammenhangs», z.B. eines Textes, eines Spiels, einer Straßenverkehrsordnung oder einer Gesprächssituation. / Enzyklopädie/ definiere ich als «das in einer gegebenen Gesellschaft konventionalisierte Wissen über die Welt». Ein Diskursuniversum ist ein Ausschnitt aus einer Enzyklopädie. Diese (virtuelle) Enzyklopädie wiederum kann nur in den Blick geraten über die Erkundung von Diskursuniversen.11 50 Daß man mit diesen beiden semiotischen Begriffen unter methodischer Nutzung ihrer Implikationen in elementarisierter Weise auch im Schulunterricht biblische Texte spannend bearbeiten kann, haben Bernhard Dressler und ich in unserem gemeinsamen Aufsatz »Wundergeschichten als fremde Welten lesen lernen. Didaktische Überlegungen zu Mk 4,35-41 « zu bedenken gegeben. 12 Das Diskursuniversum »Nehmen wir einmal an, daß während wir in einem Raum zusammensitzen, eine dritte Person, die am Fenster steht, plötzlich ausruft >Es schneit<! Was meint sie? Wir wissen, daß es schneit die Beschreibung eines bestimmten Zustands ist. Wenn wir die Worte in einem Wörterbuch finden, so behaupten sie nichts. Sie sind weder wahr noch falsch. Es handelt sich lediglich um eine Beschreibung, die verwendet werden könnte, aber nicht verwendet wird, solange wie das Wort isoliert dasteht. Doch wenn wir sehen, daß jener Mann am Fenster steht, und nach draußen blickt und wir die Emphase der Überraschung bemerken, so fühlen wir sicher, daß er meint, daß diese Beschreibung auf den wirklichen und gegenwärtigen Zustand anwendbar ist. Wir wissen sehr wohl, daß er nicht vom Planeten Mars träumt, noch von der Kergueleninsel. Er meint hier und jetzt; und wir alle wissen, was >hier und jetzt< ist. Es ist dasjenige, von dem wir, die wir zusammen dort sind, feststellen, daß es unseren Sinnen aufgezwungen wird. Doch wenn einer von uns ein Buch aufnimmt, wir wissen nicht, welches Buch, und an einer beliebigen Stelle aufschlägt, den ersten Satz liest, der ihm ins Auge fällt und dieser Satz lautet >Es schneit<, so haben wir nicht ein Teilchen Information übermittelt bekommen, weil wir nicht wissen, worauf der Satz sich bezieht. Es ist genauso, als ob wir die Worte >Es schneit, in einem Wörterbuch gesehen hätten. Es ist also klar, daß zumindest ein Element der Behauptung (assertion) in der Anwendung einer Beschreibung auf etwas zwischen dem Sprecher und seinem Zuhörer Wohlbekanntes und Wohlvertrautes sich bezieht.« 13 Die semiotische Grammatik erarbeitet ein formales Zeichenmodell, das beschreibt, welche Komponenten zusammenwirken müssen, damit überhaupt ein Zeichenprozeß, Semiose, entstehen kann. Sie vermag zu erläutern, welche formalen Bedin- ZNT 5 (3. Jg. 2000) Stefan Alkier Dr. habil. Stefan Alkier, Jahrgang 1961. Studium der Ev. Theologie in Münster, Bonn, Hamburg, Promotion 1993 in Bonn, Habilitation 1999 in Hamburg. 1993-1999 Wiss. Assistent für NT in Hamburg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Hermeneutik und Methodologie, Forschungsgeschichte, Wunder, Paulus. Zur Zeit Vertretungsprofessur für den Lehrstuhl für Neues Testament an der Universität Gesamthochschule Kassel. gungen das Zeichen / es schneit/ erfüllt und welchem Zeichentyp bzw. welchen Zeichentypen es zugehört bzw. zugehören kann. Sie sagt aber nichts über die kommunikativen Bedingungen der Verwendung dieses Zeichens aus. Diese Aufgabe kommt der semiotischen Rhetorik zu. Innerhalb dieser Fragestellung spielt das Peircesche Konzept des Diskursuniversums eine fundamentale Rolle. Ein gegebenes Zeichen, und sei es auch ein so komplexes Zeichen wie ein Text, kann als Zeichen nur fungieren, wenn es einer Welt dem Diskursuniversum des Zeichenzusammenhangs zugeordnet wird, innerhalb deren Bedingungen es Sinn erzeugen kann. Alice im Wunderland bezieht sich auf eine andere Welt als die Naturreportagen, die die Fernsehsendung Wunderbare Welt zeigt, und die letztere verlöre ihre Glaubwürdigkeit, würde man in ihr Feen und Hexenmeister zeigen, die wir aber selbstverständlich im Wunderland von Alice nicht nur bereit sind zu akzeptieren, sondern die wir sogar erwarten. Die Notwendigkeit der Zuordnung eines Zeichens zu einer Welt ist aber nicht auf den Spezialfall einer Gattungsunterscheidung zu beziehen, sondern sie gilt für jedes Zeichen, und wie das oben angeführte Beispiel des Zeichens / Es schneit/ zeigt, gilt sie für jede Alltagssituation. ZNT 5 (3. Jg. 2000) Stefan All<ier fremde Walten verstehen lernen Alle Menschen leben in Diskursuniversen, und es ist überlebensnotwendig, die verschiedenen Diskursuniversen, in denen wir leben, unterscheiden zu lernen. Das kommunikative Problem des Diskursuniversums besteht nun aber gerade darin, daß es verschiedene Welten mit verschiedenen Gesetzen gibt und wir in jedem Akt der Äußerung anzeigen müssen, worauf sich unsere Aussagen beziehen. Dabei setzen wir die gemeinsame Kenntnis der jeweils gemeinten Welt zwischen uns und unserem Gesprächspartner voraus, und wir müssen das tun, um pro Tag mehr als einen Satz sagen zu können. 14 Der Akt der Bezugnahme auf eine als gemeinsam gekannte Welt gehört zur Ökonomie menschlichen Sprechens und auch zu anderen menschlichen Zeichensystemen: Wenn wir eine rote Ampel sehen, dann ist es sinnvoll, daß nicht bei jeder Ampel ein Exemplar der Straßenverkehrsordnung angeheftet ist, das wir erst lesen müßten, um zu entscheiden, ob diese Ampel dieselbe Funktion erfüllt wie die anderen Ampeln, die wir schon kennen, oder ob sie vielleicht einer anderen Welt mit anderen Regeln angehört. Paulus, käme er per Zeitreise heute in eine Stadt, wüßte mit diesem Zeichen ad hoc nichts anzufangen, denn er wäre mit der Welt, auf die sie sich bezieht, nicht vertraut. Da er auch die Straßenverkehrsordnung nicht lesen könnte, wäre er auf jemanden angewiesen, der sie ihm erklärt. Uns geht es aber mit den Bibeltexten ungefähr so wie Paulus mit unserer Ampel. Die Welt(en) dieser Texte ist (sind) uns fremd, und es ist ein mühsames und unsicheres Geschäft, diese Welt(en) verstehen zu lernen, denn wir können niemanden anders als die Texte fragen. Das Beispiel der Ampel und der Straßenverkehrsordnung finden wir lächerlich, weil wir unsere Welt kennen, wir wären aber dankbar, wenn wir ausdrückliche Hinweise bei jedem Vorkommen z.B. des Zeichens / pneuma/ (Geist) von Paulus hätten, wie er es gerade an dieser Stelle verstanden hat, und er sich darüber ausließe, nach welchen Generierungsgesetzen er vom Zeichen / pneuma/ grundsätzlich Gebrauch macht. Es ist das bleibende Verdienst historisch-kritischer Exegese, auf die Notwendigkeit der Frage nach der Situiertheit biblischer Texte aufmerksam gemacht zu haben. Diese Frage darf aber nicht auf die textexterne Situiertheit und auch nicht auf die enzyklopädische Zugehörigkeit der Texte be- 51 schränkt werden, sondern muß bereits innerhalb der Texte gestellt werden. Wir teilen mit den Schreibern und Adressaten der biblischen Schriften nicht ihr jeweiliges Diskursuniversum, in dem ihre Aussagen ihren Sinn entfalten. Wir müssen daher versuchen, annäherungsweise innerhalb der auszulegenden Schriften danach zu fragen, welches Diskursuniversum bzw. welche Diskursuniversen die Texte (voraus)setzen, wie auf Diskursuniversen Bezug genommen wird und welche Gesetze in diesen Diskursuniversen gelten. Wir müssen uns bei der Lektüre von Bibeltexten auf fremde Welten einstellen, die ihr Geheimnis nicht ohne Akzeptanz ihrer Differenz zu unseren Welten auch nur annäherungsweise zu lüften bereit sind. Wie wir heute in verschiedenen Diskursuniversen leben, so auch die damaligen Menschen. Sicher gibt es Überschneidungen, Ähnlichkeiten und Äquivalenzen zu unserer Welteinteilung, aber wir können nicht von vornherein sicher sein, worin sie bestehen. Wir nehmen wahr, daß der um 120 n. Chr. geborene berühmte Sophist und Satiriker Lukian von Samosata 15 mit der Leichtgläubigkeit einiger Zeitgenossen spielt und seine Ironie Parallelen zur Wunderkritik der Aufklärung aufweist. Daraus aber eine Wundersucht ,des< antiken Menschen abzuleiten ist ebenso fatal, wie aus dem Boom an Fernsehsendungen, die >unglaubliche Geschichten< im Stile eines wohlrecherchierten Tatsachenberichts dem nach Sensationen lüsternden Publikum feilbieten, eine Wundersucht ,des< Menschen des 20. Jahrhunderts zu schlußfolgern. Die Lage ist viel komplizierter. Die semiotische Theorie des Diskursuniversums nötigt zu der Untersuchungsprozedur, jeden Text danach zu befragen, wie er auf ein oder auch mehrere Diskursuniversen Bezug nimmt, welche Grundannahmen dieses Diskursuniversum aufweist und wie in diesem Diskursuniversum der zur Debatte stehende Gegenstand einer Untersuchung verortet werden muß. Die Enzyklopädie Der Begriff des Diskursuniversums, wie ich ihn verwende, bezieht sich immer auf einen konkreten Zeichenzusammenhang z.B. einen Text, während die (virtuelle) Enzyklopädie sich auf das konventionalisierte Wissen einer gegebenen Kultur be- 52 zieht und die Ebene des gegebenen Textes übersteigt. Jede Textherstellung und jede Textlektüre muß auf eine Enzyklopädie kulturell konventionalisierten Wissens zurückgreifen. Die konventionalisierte Enzyklopädie ist eine regulative Hypothese, die erklären soll, was wir tun, wenn wir schreiben oder lesen, sprechen oder zuhören. Sie geht davon aus, daß jeder Mensch als Teilnehmer einer bestimmten Kultur über kulturelles Wissen verfügt und daß Texte wie alle anderen semiotischen Erzeugnisse dieser Enzyklopädie weitgehend verpflichtet sind. Auch wenn Texte dem kulturellen Wissen widersprechen oder es erweitern, bleibt es auch wenn es nicht genannt wirdals Bezugspunkt des Neuen von konstitutiver Bedeutung für den gesamten Signifikationsprozeß. Eine Enzyklopädie besteht nicht nur aus einem Wörterbuch, vielmehr enthält sie » Koreferenzregeln«, »kontextuelle und situationelle Selektionen«, »rhetorische und stilistische Übercodierung«, »ideologische Übercodierung« und allgemeine und intertextuelle »Szenographien« 16 (das sind typische Situationen, die in der Lebenswelt und in geläufigen Texten immer wieder vorkommen).17 Ein Eintrag in diese virtuelle Enzyklopädie enthielte »die Definition, die eine Gesellschaft konventionell für eine bestimmte kulturelle Einheit akzeptiert.« 18 In die Enzyklopädie des Römischen Reichs gehörte ein Eintrag unter dem Stichwort / Liebeszauber/ . Ob es hingegen einen Eintrag / Liebeszauber/ in eine Enzyklopädie der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland geben sollte, wäre zumindest fraglich. Auf jeden Fall gäbe es in der römischen Enzyklopädie dazu juristische Ausführungen, in der bundesdeutschen aber nicht. Die Lektüre eines Textes oder das Zuhören eines Gesprächspartners ist daher kein passives Verfahren reiner Aufnahme, sondern ein interaktiver Prozeß, der eine kreative Mitarbeit der Lesenden bzw. Hörenden verlangt. Umberto Eco hat in seinem Buch Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten versucht, die bisherigen Lektüretheorien und semiotischen Arbeiten in einem weiteren Sinn zu kombinieren und daraus ein eigenes Modell zu entwickeln. Nach Ecos Einsichten ist der Lektürevorgang ein komplexes Verfahren, das nicht mit dem auskommt, was ,da, steht oder ausdrücklich gesagt wird. Es ge- ZNT 5 (3. Jg. 2000) nügt nicht, die reine Ausdrucksebene, also die lineare Manifestation des Textes bzw. der Rede, wahrzunehmen. Es genügt aber auch nicht, Wort für Wort zu addieren und grammatische Regeln anzuwenden. Die Arbeit des Lesens 19 bzw. Hörens erfordert ebenso die Aktivierung oder Narkotisierung kulturellen und intertextuellen, d.h. enzyklopädischen Wissens, die das Entzifferte bzw. das Gehörte erst zu einem sinnvollen Ganzen werden läßt. Nun ist es ein Problem, daß Sender und Empfänger in aller Regel nicht über dieselben Codes verfügen, ein Problem, das sich bei der Interpretation von Texten anderer Zeiten oder/ und anderer Kulturen nochmals potenziert. Daher muß danach gefragt werden, welcher Enzyklopädie sich die lineare Manifestation des Textes bzw. der Rede verdankt und welche Enzyklopädie dem Lektürebzw. dem Redeakt zugrundegelegt werden muß, wenn man gemäß der Enzyklopädie lesen bzw. hören will, der der Text oder die Rede seine Produktion verdankt. Konsequenzen für die religionsgeschichtliche Arbeit Aus diesen beiden semiotischen Bausteinen ergeben sich Konsequenzen für die religionsgeschichtliche Arbeit. Sie muß es sich zum Grundsatz machen, die nicht kanonisierten christlichen und jüdischen Texte und auch die religiösen Texte der nicht-christlichen und nicht-jüdischen hellenistischen Kulturen mit demselben Respekt vor dem anderen zu erforschen wie er den kanonisierten Texten entgegengebracht wird. Der religionsgeschichtliche Vergleich ergibt nur Sinn, wenn er beide zum Vergleich herangezogenen Größen mit derselben Methode und derselben Hermeneutik der Behutsamkeit erforscht, die den anderen als anderen in den Blick nimmt und gelten läßt. Konkret: Bevor ein religionsgeschichtlicher Vergleich stattfinden kann, müssen der biblische und der zum religionsgeschichtlichen Vergleich herangezogene Text auf sein je spezifisches Diskursuniversum und die darin geltenden Plausibilitätsannahmen hin untersucht werden. Die Frömmigkeit etwa des gebildeten und in seiner Zeit hochangesehenen Rhetors Publius Aelius Aristides, der seine autobiographischen Krank- ZNT 5 (3. Jg. 2000) Stefan Alkier fremde Welten verstehen lernen heitsgeschichten und ihre Behandlungen in seiner Schrift >Heilige Berichte< 20 aus der zweiten Hälfte des 2. Jh. n. Chr. niederlegte und seine Heilungen bzw. Schmerzlinderungen vornehmlich dem Gott Asklepios zuwies, sollte nicht als berechnender Aberglaube abgetan werden, dem dann apologetisch und triumphierend zugleich diejenigen neutestamentlichen Wundergeschichten gegenübergestellt werden, in denen der Glaube im Mittelpunkt steht, der dann wiederum auf diese Weise exklusiv dem Christentum zugeordnet wird. Ein sorgfältiges Studium der Schrift des Aristides sollte jedem religionsgeschichtlichen Vergleich dieses Textes mit neutestamentlichen Wundergeschichten vorangehen. Diese Textarbeit sollte aber auch nicht von einem gemeinantiken Wunderverständnis ausgehen, das dann bei Aristides nur wiedergefunden wird, sondern sich auf sein Diskursuniversum, also die Welt des Textes, wie er sie setzt und voraussetzt, einlassen und sie zu erkunden suchen. Jenseits von Apologie und Polemik wird das die Andersheit der Plausibilitätsannahmen des Aristides behutsam und respektvoll erkundende Forschen dann auch über den religionsgeschichtlichen Vergleich zu einem wirklich tieferen Verständnis der neutestamentlichen Texte führen, die ihre Gemeinsamkeiten ebenso differenzierter benennen können wird wie ihre Unterschiede. 21 Auf der Basis der Untersuchung verschiedener Diskursuniversen können die notwendig groben Vorannahmen über die zu Grunde liegende Enzyklopädie ausdifferenziert werden. Je sorgfältiger einzelne Texte auf ihr spezifisches Diskursuniversum hin untersucht werden, desto zuverlässiger wird die Formulierung enzyklopädischer Hypothesen über einen gegebenen kulturellen Zusammenhang ausfallen. Konsequenzen für den interreligiösen Dialog Auch für den interreligiösen Dialog der Gegenwart und seine schulische Thematisierung ergeben sich förderliche Einsichten. Ein Text sei es ein christlicher oder der einer Fremdreligion sollte nicht nur als Illustration für die vom Lehrer bzw. von der Lehrerin gegebenen enzyklopädischen Überblick benutzt werden, sondern die Schüler und Schülerinnen sollten dazu aufgefordert werden, die Welt des Textes wie ein fremdes Univer- 53 sum zu erkunden. Dazu muß den Schülerinnen und Schülern freilich auch zugemutet werden, daß sie Neues zu entdecken in der Lage sindzumuten im doppelten Sinne des Wortes, denn es bedarf des Vertrauens auf die eigene Erkenntnisfähigkeit ebenso wie die Anstrengung, diese Fähigkeit auch einzusetzen. Der interreligiöse Dialog kann auf beides nicht verzichten. Nicht nur für die spezielle didaktische Schulsituation sondern für den interreligiösen Dialog selbst macht die Unterscheidung von Diskursuniversum und Enzyklopädie Sinn. Jede Gesprächssituation setzt ein spezifisches Diskursuniversum, wie das oben von Peirce zitierte Alltagsgespräch zeigt. Wenn das jeweilige konkrete interreligiöse Gespräch von einer enzyklopädischen Vorannahme zu sehr überlagert wird, dann hat der Gesprächspartner kaum mehr eine Chance, wirklich gehört zu werden, denn man weiß ja schon, was ein Moslem, ein Jude, ein Christ, ein Buddhist denkt und glaubt. Nur wenn wir bereit sind, dem konkreten anderen als jemanden zuzuhören, der vielleicht anderes sagt, als wir erwarteten, eröffnet sich ein echter Dialog. Der interreligiöse Dialog kann nur gelingen, wenn wir dem anderen respektvoll und neugierig auf seine Welt gegenübertreten. Nur so kann gemeinsam erkundet werden, welche Schritte gemeinsam gegangen, welche Welten gemeinsam bewohnt werden können und wo und warum sich Wege trennen. Daß auf diese Weise der eigene Glaube, die eigenen Traditionen, die eigenen Geschichten im Angesicht des anderen neu formuliert werden müssen und so vielleicht zu einem neuen Verständnis gelangen, könnte nicht das geringste Ergebnis eines aufrichtigen Dialogs sem. Anmerkungen * Ich danke mit diesem Aufsatz dem Vikarkurs Castrop- Rauxel der Ev. Kirche von Westfalen, dem ich ein gutes halbes Jahr angehören durfte, für die vielen Anregungen und die erfahrene Gemeinschaft. Ich wünsche der Kirchenleitung von Westfalen zu begreifen, daß ihre Vikare und Vikarinnen keine» Unterbringungsfälle« sind, sondern ein Schatz, über den sich die Kirche nur freuen kann. Das gilt im besonderen Maße von den Vikarinnen und Vikaren des Kurses Castrop-Rauxel. 1 Werner Kahl macht in seinem Beitrag zu diesem Heft zu Recht darauf aufmerksam, daß auch in den verschiedenen Kulturen der Gegenwart unterschiedliche Plausibi- 54 litätsannahmen gelten, deren Nähe bzw. Distanz zu denen der biblischen Texte verschieden ausfällt. Dabei darf aber nicht die Gefahr übersehen werden, die die Hypothese der Nähe mit sich bringt, denn die Vernachlässigung der Differenz gegenwärtiger Kulturen zu denen der biblischen Texte könnte zu einem Einlesen gegenwärtiger Plausibilitätsannahmen in die der Antike führen. 2 Vgl. z.B. I Thess 1,9; I Kor 10,14-22; Gai 4,8-11; Apg 16,16-24; 17,16-34. 3 Vgl. S. Alkier, Urchristentum. Zur Geschichte und Theologie einer neutestamentlichen Disziplin, (BHTh 83) Tübingen 1993, 38. 4 Vgl. ebd., 221-244. 5 Vgl. M. Hengel, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2.Jahrhunderts vor Christus, (WUNT 10) Tübingen 1 1969 [Tübingen 3 1988] lf. 6 Vgl. dazu H. Lemke, Judenchristentum. Zwischen Ausgrenzung und Integration. Zur Geschichte eines exegetischen Begriffes, Dissertation, Hamburg 1998. 7 Die religionswissenschaftliche Rubrizierung von Exklusivismus, Inklusivismus und Pluralismus hat das Anliegen einer interreligiösen Hermeneutik sicherlich dadurch gefördert, daß verschiedene mögliche Umgangsweisen mit anderen Religionen bewußt gemacht wurden. Die umsichtige Kritik an diesem Modell von A. Grünschloß, Der eigene und der fremde Glaube. Studien zur interreligiösen Fremdwahrnehmung in Islam, Hinduismus, Buddhismus und Christentum, (HUTH 37) Tübingen 1999, zeigt aber, daß auch diese Trias noch zu starr ist, weil die historisch beobachtbaren Phänomene komplexer sind als das kritisierte Modell. Ich möchte aber im folgenden nicht das alternative, an der Systemtheorie Niklas Luhmanns orientierte religionswissenschaftliche Modell von Grünschloß vorstellen, sondern zwei auf semiotischer Theoriebildung basierende Begriffe einführen, die aufgrund ihres formalen Charakters offen genug sind um mit möglichst wenig Vorentscheidungen an die Wahrnehmung fremder Welten heranzugehen. 8 Die wohl beste Einführung in die Semiotik von Peirce liegt vor in der Arbeit: J.J. Liszka, A General lntroduction to the Semeiotic of Charles Sanders Peirce, IUP, Indiana and Bloomington 1996. 9 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Hinrichtungen und Befreiungen: Wahn - Vision - Wirklichkeit in Apg 12. Skizzen eines semiotischen Lektüreverfahrens und seiner theoretischen Grundlagen, in: S. Alkier / R. Brucker (Hgg.), Exegese und Methodendiskussion, (TANZ 23) Tübingen/ Basel 1998, 111-133. Ausführlicher habe ich das semiotische Lektüreverfahren und seine hermeneutische Fruchtbarkeit dargestellt in meiner Habilitationsschrift: Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus. Ein Beitrag zu einem Wunderverständnis jenseits von Entmythologisierung und Rehistorisierung, (WUNT l.Reihe) Tübingen 2000 (im Druck). 10 Vgl. U. Eco, The Role of the Reader. Explorations in the Semiotics of Texts. Advances in Semiotics, IUP, ZNT 5 (3.Jg. 2000) Bloomington 1979; ders., Semiotik und Philosophie der Sprache, Supplemente 4, übers. v. C. Trabant-Rommel u. J. Trabant, München 1985; ders., Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, Supplemente 5, übers. v. G. Memmert, München 1987; ders., Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, übers. v. H.-G. Held, München/ Wien 1987. 11 Eco, Lector in fabula, 28: »Enzyklopädie oder Thesaurus sind das Destillat (in Form von Makropropositionen) anderer Texte. Es handelt sich um eine Zirkularität, die eine strenge Untersuchung nicht unbedingt entmutigen muß: das Problem besteht nur darin, so rigoros vorzugehen, daß von dieser Zirkularität auch Rechenschaft gegeben werden kann.« 12 In: B. Dressler / M. Meyer-Blanck (Hgg.), Religion zeigen. Religionspädagogik und Semiotik (Grundlegungen 4), Münster 1998, 163-187. Vgl. dazu auch meine Beiträge: Lazarus - Fact, Fiction, Friction, Loccumer Pelikan 4/ 1996, 153-159, und: Wunder PunktJesusfilm. Pastoraltheologie 86 (1997), 167-182. 13 C.S. Peirce, Semiotische Schriften 2, 1903-1906, hg. u. übers. v. C. Kloesel u. H. Pape, Frankfurt a.M. 1990, 96. 14 C.S. Peirce, Collected Papers 3.621, zitiert nachJ.J. Liszka, A General Introduction to the Semeiotic of Charles Sanders Peirce, 93: »The universe [referred to a proposition] must be weil known and mutually known to be known and agreed to exist, in some sense, between speaker and hearer [...] or there can be no communication, or >common ground, at all.« 15 Seine bissigen Satiren sind auch für heutige Leser und Leserinnen köstlich zu lesen. Eine Auswahl in deutscher Übersetzung auf Grund der Wielandschen Übertragung wurde herausgegeben von E. Ermatinger und K. Hoenn: Lukian, Parodien und Burlesken, Zürich 1948. Vgl. zu Lukian: H.D. Betz, Lukian von Samosata und das Neue Testament. Religionsgeschichtliche und paränetische Parallelen. Ein Beitrag zum Corpus Hellenisticum Novi Testamenti, Berlin 1961. 16 Die Terminologie entstammt der Monographie von U. Eco, Lector in Fabula, 89. Ebd. findet sich eine Graphik, die die Mitarbeit der Lesenden darstellt. Das Konzept der Enzyklopädie wird, ebd., 94-106, erläutert. Vgl. dazu auch U. Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, 77-132; ders., Semiotik, 143ff., 162ff., 174-178. 17 Semiotische Exegese sucht daher das interdisziplinäre Gespräch mit allen Forschungsrichtungen, die unsere Kenntnis der frühchristlichen Enzyklopädie erweitern können. 18 U. Eco, Semiotik, 144. 19 Es sei angemerkt, daß es zwischen Ecos Theorie der Mitarbeit der Lesenden und Wolfgang Isers Analyse des Leseaktes bei allen Unterschieden weitreichende Übereinstimmungen gibt, die hier darzustellen aber über die Absicht des vorliegenden Beitrags zu weit hinausreichen würde. Eco versteht seine Theorie der Mitarbeit der Lesenden ebenso als semiotische»Textpragmatik« (Eco, Lector in fabula, 5) wie Iser, der das Interesse seiner ZNT 5 (3. Jg. 2000) Arbeit Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1976, 89, als semiotische Pragmatik offenlegt: »Das Interesse gilt daher der pragmatischen Dimension des Textes [...] Pragmatische Zeichenverwendung hat immer mit Verhalten zu tun, das im Empfänger bewirkt werden soll.« Zudem möchte ich darauf verweisen, daß Isers Begriff des Repertoires Ecos Enzyklopädiebegriff weitgehend entspricht. Iser, Der Akt des Lesens, 115: »Im Repertoire präsentieren sich insofern Konventionen, als hier der Text eine ihm vorausliegende Bekanntheit einkapselt. Diese Bekanntheit bezieht sich nicht nur auf vorangegangene Texte, sondern ebenso, wenn nicht sogar in verstärktem Maße, auf soziale und historische Normen, auf den sozio-kulturellen Kontext im weitesten Sinne, aus dem der Text herausgewachsen ist [...] Das Repertoire bildet jenen Bestandteil des Textes, in dem die Immanenz des Textes überschritten wird.« 20 Einleitung, dt. Übers. u. Komm. v. H.O. Schröder, Vorw. v. H. Hommel, WKGLS, Heidelberg 1986. 21 Werner Kahl hat in seiner die religionsgeschichtliche und formkritische Erforschung neutestamentlicher Heilungsgeschichten fördernden Untersuchung ,New Testament Miracle Stories in their Religious-Historical Setting, A Religionsgeschichtliche Comparison from a Structural Perspective (FRLANT 163), Göttingen 1994, in vorbildlicher Weise gezeigt, daß der religionsgeschichtliche Vergleich nur Sinn macht, wenn er mit einer durchdachten Untersuchungsprozedur den nicht-christlichen Texten dieselbe Aufmerksamkeit widmet, wie den christlichen. Kahl formuliert seine Ergebnisse erst nach einer dargelegten Untersuchung von rund 150 Heilungsgeschichten, die er dem Neuen Testament, frühjüdischen Schriften und anderen antiken Glaubenssystemen entnimmt. 55 Anton Vögtle Biblischer Osterglaube. Hintergründe - Deutungen - Herausforderungen Eingeleitet, bearbeitet und herausgegeben von Rudolf Hoppe. Mit einem Beitrag von Eduard Lohse. Neukirchen-Vluyn 1999, 144 S. Auch nach dem endgültigen Abschied Gerd Lüdemanns vom Christentum bleibt die exegetische und theologische Diskussion über den Osterglauben bestimmt durch die in seinem Buch von 1994 (»Die Auferstehung J esu. Historie, Erfahrung, Theologie«) formulierten Thesen. Zwar ist das Wenigste davon wirklich neu, Lüdemann hat aber zweifellos den Finger in eine offene Wunde heutiger Glaubensvermittlung gelegt. Diese ist durch zweierlei Defizite bedingt: einmal durch den Mangel und die Schwierigkeit, exegetische Einsichten allgemein verständlich weiterzugeben, und Anton Vögtle 56 Hintergründe Deutungen Herausford1.•rungen Emgeleitet, bearbeitet und herausgegeben von Rudolf Hoppe Mit einem Beitrag von Eduard J.ohse NEUKIRCHENER zum anderen fehlt es an einer überzeugenden hermeneutischen Verarbeitung der erreichten Ergebnisse (hier stoßen wir also wieder auf die zwei Beweggründe für die Entstehung der ZNT). Auch das zu besprechende Buch von A. Vögtle kann die aufgeworfenen Fragen nicht abschließend lösen, es reiht sich aber ein in die (wenigen) löblichen Versuche namhafter Exegeten, die genannten Probleme anzugehen und einer Lösung näher zu bringen. Hervorgegangen ist es aus einer Artikelserie in der Zeitschrift »Christ in der Gegenwart« von 1994, also im Jahr des Erscheinens von Lüdemanns Buch, auf das der Verfasser auch ausdrücklich eingeht (102-113, vgl. 92-98). In einer Einleitung (13-28) gibt der Bearbeiter und Herausgeber R. Hoppe eine kurze Einführung in das Werk des 1996 verstorbenen katholischen Neutestamentlers, das v.a. durch Beiträge zur Evangelien- und Jesusforschung und die bahnbrechende, teilweise schmerzhafte Öffnung der katholischen Exegese für die moderne Bibelwissenschaft gekennzeichnet ist. Vögtle hat damit einen Meilenstein für den »ökumenischen« Charakter heutiger Exegese gesetzt, und so verläuft auch die aktuelle Diskussion über die Begründung und Artikulierung des Osterglaubens ein Thema, das Vögtles Lebenswerk durchzieht jenseits und quer zu konfessionellen Grenzen. Die Ansprache von E. Lohse (dem das Buch im übrigen gewidmet ist) bei der akademischen Gedenkfeier für Vögt! e, die dem Band beigefügt ist (115-138) und die gegenüber den Ausführungen Vögtles nichts Neues bietet, bestätigt dies. Ein Auswahlregister zu Bibelstellen, Namen und Sachen (139-144) erleichtert die Benutzbarkeit des Buches. Vögtles Text ist für den angestrebten Zweck einer elementaren Darstellung dennoch sehr dicht geschrieben und nicht immer leicht zu lesen, aber er ist sich dessen bewusst und man wird ihm zugute halten, dass die Komplexität des Themas und der Probleme jenem Bemühen natürliche Grenzen setzt. 1 In der Sache geht Vögtle von der Frage aus, die sich angesichts des Kreuzestodes Jesu stellte: Wer hatte Recht - Jesus oder seine Gegner? Waren Jesus und sein Anspruch durch seine Hinrichtung widerlegt? Vögtle antwortet (indem er seinen Schüler L. Oberlinner zitiert): Nur Gott selbst konnte diese Frage beantworten und er hat sie beantwortet, indem er »Jesus aus dem Tod in eine gottgleiche Existenzweise erhöht (hat), die ihn zur Vollendung des von ihm initiierten Heilsunternehmens ermächtigt hat« (32). Doch hier beginnen auch schon die historischen und exegetischen Probleme, wie Vögtle anschließend im Einzelnen ausführt. Er setzt ein mit einer Darlegung der Unmöglichkeit, die Erzählungen vom leeren Grab und den Erscheinungen Jesu in den Evangelien (Mk 16; Mt 28; Lk 24; Joh 20) zu harmonisieren. Als Beispiel vergleicht er (35-38) die unterschiedlichen Schilderungen der Erscheinung vor den Elf in Mt 28,16- 20; Lk 24,36-49 und Joh 20,19-23. Als Erklärung wird angeboten: »Die ausführlichen Erscheinungsdarstellungen sind jüngere Verkündigungsstücke, die die christologische und ekklesiologische Bedeutung des Ostergeschehens explizieren und dessen Realität verteidigen« (38). Um auf die Anfänge des Osterglau- ZNT 5 (3. Jg. 2000) bens rückschließen zu können ist man deshalb auf ältere Stücke wie das »vorpaulinische Bekenntnis I Kor 15,36-5« (38) und dessen paulinische Fortsetzung (I Kor 15,6-8) angewiesen, die Hinweise in Kurzform (»er erschien«/ »er ließ sich sehen«) auf die ältesten ErscheinungenJesu enthalten. Der Osterglaube selbst gründet auf den in Galiläa zu lokalisierenden Ersterscheinungen vor Kephas (Simon Petrus) und dem um Judas reduzierten Zwölferkreis und artikuliert sich als Bekenntnis zur Auferweckung und Erhöhung Jesu in den Himmel. Denn nur so wird deutbar, wie Jesus den Jüngern erscheinen konnte (vgl. 63); und vom Himmel her wird auch seine Wiederkunft zu Gericht und Heilsvollendung erwartet und erbeten (vgl. I Kor 16,22: »marana tha«/ »Unser Herr, komm! «). Hingegen ist die Erzählung vom geöffneten und leeren Grab erst eine Konsequenz aus dem Glauben an die Auferstehung Jesu, nicht dessen Begründung, und ihre Historizität ist von daher stark zu bezweifeln; sie ist eher ein »erzählendes Christusbekenntnis«. Zur Begründung wird (mit Oberlinner) auf die »jüdische Anthropologie« verwiesen, bei der eine Auferweckung »die Aufhebung des im Grabe liegenden Leichnams« einschließe, also nur »leibhaft« gedacht werden könne (50), und darauf, dass diese Erzählung außerhalb der Evangelien nicht bekannt gewesen zu sein scheint. Mk 16,7-8 (Hinweis auf Galiläa, Verschweigen der Auferstehungsbotschaft durch die Frauen) schafft die Verbindung zu der ältesten Osterüberlieferung, nach der eben die Verkündigung der Auferweckung sich auf die Ersterscheinungen vor den Jüngern in Galiläa gründet und nicht auf die Botschaft eines Engels 1m Grabe (45.50.88). »Die den Osterglauben auslösende Erfahrung« (51), nämlich das Sich- Sehen-Lassen Jesu, wird sodann ZNT 5 (3. Jg. 2000) nach dem alttestamentlichen Modell von Gotteserscheinungen als visuelle Wahrnehmung, die »nur durch die Selbstbekundung Jesu ermöglicht wurde«, beschrieben, gleichzeitig aber davor gewarnt, sich eine zu genaue Vorstellung von dem Vorgang machen zu wollen (52f., vgl. 125). Auch aus dem Selbstzeugnis des Apostels Paulus in Gal 1,12.15f. ergibt sich, dass es sich dabei um ein »Offenbarungsgeschehen « handelt, durch das Jesus als Sohn Gottes und Herr erkannt wird (59f.). Gott hat ihn im Himmel als Messias/ Christus eingesetzt und so seine »von Menschen erwirkte Verurteilung« als »König der Juden« und »politischer Messiasprätendent« rückgängig gemacht (62). Von dieser göttlichen Legitimierung her kann und muss dann auch das Sterben Jesu positiv, als Sühne schaffender Akt Gottes in Christus gedeutet werden (Vögtle erörtert besonders Röm 3,24-26 in seiner möglichen Beziehung zur Abendmahlsüberlieferung: 69-72). Eine Besonderheit der Darstellung Vögtles ist die ausführliche Behandlung der Frage: »Hat der Erscheinende gesprochen? « (72-91). Vögtle zieht alttestamentliche »Jahwe- Erscheinungen« als Analogie zu Mt 28,18-20 heran (74), fragt nach »Analogien in den Grabeserzählungen« (75-78) und untersucht die Frage der Sendungsworte bei den anderen Ostererscheinungen und Christophanien (z.B. dem Petrusauftrag). Das Ergebnis ist durchweg negativ: Nirgends vermag er die »apostolatbegründende Wirkung« (79.87) von Erscheinungen oder andere Aufträge und Verheißungen in entsprechenden Berichten verankert zu sehen in einem tatsächlichen Sprechen Jesu. Alle Erscheinungsworte lassen vielmehr in theologisch reflektierter Weise nachträglich Jesus selbst die allein aufgrund der Erscheinungen erkannte Bedeutung des Ostergeschehens und seine Folgen aussprechen (vgl. 91). Mit der Frage, welche Vorstellungen und Erfahrungen die Empfänger von Ostererscheinungen »als Reflexions- und Verstehenshilfen in die Situation nach dem Karfreitag mitgebracht haben« könnten (91), wendet sich Vögtle abschließend einem Kernstück der gesamten Debatte um die Auferstehung Jesu zu. Denn hier geht es um die Frage der Einzigartigkeit und Unableitbarkeit des Ostergeschehens als Offenbarungshandeln Gottes, demnach grundsätzlich um das Verhältnis von Gottes Handeln zu menschlichem Handeln, zu menschlichen Vorstellungen und Erfahrungen. Wie qualitativ neu und unerwartbar ist eigentlich das österliche Handeln Gottes gegenüber der Situation an Karfreitag und der Zeit des irdischen Jesus? In Vögtles Referat eines Freiburger Symposions über Lüdemanns Buch wird auch sogleich deutlich, dass man hier unterschiedliche Optionen vertreten kann. Neben der ausschließlichen Verankerung der Auferstehungsbehauptung in der vorösterlichen Erfahrung der Jünger steht die von Vögtle selbst als »genial« bezeichnete Hypothese von R. Pesch, Jesus habe sich einerseits selbst als wiederkommenden Menschensohn gesehen und so die sichere Erwartung seiner Auferstehung an seine Jünger vermittelt, andererseits sei er nach seinem Tode von Gott erhöht und als solcher von seinen Jüngern in den Ostervisionen geschaut worden. Letztere seien also »als Werk der Jünger und ebenso ganz und gar als das Werk Gottes« zu betrachten (96). Doch für Vögtle ist dies zu viel an angenommenen vorösterlichen Voraussetzungen. Er vermag selbst weder »die altbiblische Erwartung der endzeitlichen Totenauferweckung« (99) noch die von ihm als nachösterlich eingeschätzte (so mittlerweile auch P. Hoffmann)- Menschensohnerwartung (101) als ausreichende Voraussetzung für das Verstehen, geschweige denn das Zu- 57 standekommen der Ostererfahrung anzuerkennen und verweist stattdessen auf »das Wissen um den heilsmittlerischen Anspruch« Jesu und seine Erwartung der »volloffenbaren Gottesherrschaft«, die auch seine Auferweckung »implizierte« (vgl. Mk 14,25), als »die entscheidende Verstehenshilfe für Simon und seine Mitjünger« (100). Wesentlich ist aber für Vögtle, dass der Osterglaube »durch ein nicht menschlicher Initiative verdanktes Offenbarungsgeschehen ausgelöst wurde« und von daher für jeden Christen »zur Glaubensfrage schlechthin« wird (102). Vor dieser Sicht kann dann natürlich auch Lüdemanns Position nicht bestehen. Denn dessen Lösung besteht ja gerade darin, die Christusvisionen des Petrus und des Paulus tiefenpsychologisch als Halluzinationen im Rahmen emer Geschichte der Schuldbewältigung, d.h. also rein innerweltlich zu erklären. Jesu Leichnam sei in einem unbekannten Grab verwest, der Glaube an eine »wirkliche Erhöhung Jesu aus dem Tod zu neuer personaler Existenz« (106) somit gegenstandslos. Gerade an letzterem will Vögtle aber mit aller Entschiedenheit festhalten (vgl. 137), weil ansonsten nicht nur der christliche Glaube, sondern die gesamte nachösterliche Entwicklung das »reale Fundament« (112) verliert und unverständlich bleibt. Der dargestellte Entwurf Vögtles ist zweifellos in der gegenwärtigen neutestamentlichen Wissenschaft in weiten Teilen »mehrheitsfähig«. Das Verdienst des Verfassers besteht v.a. in Folgendem (und es ist dem Herausgeber zu danken, dass er dieses gerade in der augenblicklichen Diskussionslage einem breiteren Publikum zugänglich gemacht hat): Vögtles Darstellung vermag dem Verdacht zu begegnen, eine rückhaltlose historisch-kritische Behandlung der Osterüberlieferungen müsse notwendig in einer theologi- 58 sehen Verflachung oder gar wie kürzlich bei G. Lüdemann in einer Absage an das Christentum enden. Sämtlichen Erscheinungsworten, allen Grabeserzählungen und einigen Erscheinungsberichten spricht Vögtle die Historizität ab; gleichwohl verlässt er niemals das kirchliche Glaubensfundament und macht deutlich, dass dies auch weder naheliegend noch sachgemäß ist. Trotzdem müssen nun um Leserinnen und Leser, deren man diesem Buch viele wünscht, zum eigenen Nach- und Weiterdenken anzuregen auch einige kritische Anmerkungen zu den Ausführungen Vögtles gemacht werden. Dies beginnt bei emem schon angesprochenen Punkt: Vögtle reißt letztlich doch vorösterliche und österliche Erfahrung mit Jesus recht weit auseinander, wenn er die authentischen Erscheinungen mit dem Geheimnis der Nicht-Nachvollziehbarkeit umgibt (102). Nichts hindert m.E. daran, nach Karfreitag mit einem weitergehenden Reflexionsprozess der Anhängerschaft Jesu (vgl. 97 zu J. Werbick) zu rechnen, der sich dann wie auch immer zu Christusvisionen (oder anderen »paranormalen« Wahrnehmungen wie z.B. dem leeren Grab) verdichtet hat. Menschliches Wirken (Nachdenken und Handeln) und göttliches Wirken sind dabei in derselben unlöslichen Weise miteinander verbunden wie im Falle anderer wunderhafter Geschehnisse um Jesus auch (angefangen von der Jungfrauengeburt über Heilungs- und Naturwunder bis hin zu den sog. Begleitwundern beim Tode Jesu). Historisch ist es nicht notwendig und theologisch ist es gefährlich, den »Bezug von Geschichte und Transzendenz im J esusverständnis« (Hoppe 22) allein über Ostern laufen zu lassen. Denn am Ende lauert doch wieder die Gefahr eines außergewöhnlichen Mirakels, durch welches allein(! ) der christliche Glaube konstituiert wird. Vielmehr gibt es auch andere Phänomene im Leben Jesu, an denen sich »Glaube« entzünden kann und entzündet hat. Vögtle zahlt noch einen anderen Preis für seine starke Heraushebung der Ostererscheinungen: Er betont nachdrücklich die Unableitbarkeit des Glaubens an einen gekreuzigten Messias aus dem Judentum. In diesem und ähnlichen Zusammenhängen fallen mehrfach sehr stark wertende Ausdrücke wie »absolut unsinnig« (47, vgl. 55.102), »eine absolut befremdende Zumutung« (82) o.ä. Dabei wird übersehen, dass der Osterglaube von Juden und Jüdinnen artikuliert wurde und die neue Bewegung zunächst ganz im Rahmen des Judentums blieb. Die Glaubenden haben ihr Verständnis von Jesus mit frühjüdischen Denk- und Sprachmitteln formuliert und dabei selbstverständlich auch Neues gesagt. Dieses aber (zumindest in Teilen) als »religionsgeschichtlich nicht ableitbar« (55) zu bezeichnen, halte ich historisch wie theologisch für problematisch. Zweifellos ist Vögtles exegetisches Lebenswerk von einer unbedingten »intellektuellen Redlichkeit« (16) und von daher einem »analytisch und auf innere Logik bedachte(n) Zugang zur Jesustradition« (22) bestimmt. Gelegentlich vermag ich mich aber des Eindrucks nicht zu erwehren, dass dies eine moderne Logik ist, die derjenigen antiker Texte und Vorstellungen nicht immer entspricht. Wie »scharfsinnig« (18.20) eine Unterscheidung von verkündigendem (vorösterlichen) Jesus und verkündigtem (nachösterlichen) Christus ist, die ersterem keinerlei Verkündigung seiner selbst oder der Heilsbedeutung seines Todes zutraut (deren Denkmöglichkeit zuletzt P. Stuhlmacher erwiesen hat, auch wenn man ihm in vielem nicht folgen mag 2 ), oder ob sie nicht vielmehr die Folge eines »rationalen« J esusbildes ist, sei also dahingestellt. ZNT 5 (3. Jg. 2000) Unbestritten ist, dass ein geöffnetes und leeres Grab als solches keinen Auferstehungsglauben zu erwecken und zu begründen vermag (vgl. 44). Ist aber die funktionalistische Reduzierung dieser Geschichte auf eine bloße (weil erfundene) Veranschaulichung der Leibhaftigkeit der Auferstehung Jesu (50) nicht allzu modern gedacht? Sollte man nicht wenigstens mit der Möglichkeit einer Historizität der Wahrnehmung von leerem Grab und Engel in der Glaubenserfahrung von Jesusnachfolgerinnen rechnen wenn schon nicht mit dem »historischen Faktum« des leeren Grabes als solchem? Immerhin befasst sich bereits Paulus in I Kor 15, wenn auch in anderer Weise, mit der Frage der Vorstellbarkeit einer leiblichen Auferstehung! Fazit: Eine gute, allgemein verständliche Einführung in den Problemstand und eine engagierte, sorgfältig begründete Position, die aber das eigene Nach- und Weiterdenken nicht ersetzen kann und soll. 3 Günter Röhser Anmerkungen 1 Gelegentlich wird aber doch zu viel vorausgesetzt, z.B. zum Paulusverständnis oder wenn nicht erklärt wird, wer die Gruppen der »Hellenisten« und »Hebräer« in der Urgemeinde waren. 2 Vgl. Biblische Theologie des Neuen Testaments Bd. 1: Grundlegung. Von Jesus zu Paulus, Göttingen 2 1997. 3 Druckfehlerberichtigung: Im Inhaltsverzeichnis muss auf S. 9 der Abschnitt VI »Hypothesen zur Begründung des Osterglaubens . . . 22« ergänzt und bei Vögtle die Überschrift in »Biblischer Osterglaube« (wie 29) geändert werden. ZNT 5 (3. Jg. 2000) Wilfried Eckey Das Markusevangelium. Orientierung am WegJesu Ein Kommentar. Neukirchen-Vluyn 1998, 444 S. Es mag ungewöhnlich erscheinen, in der ZNT einen Evangelienkommentar zu besprechen. Denn dieses Genre zeichnet sich für gewöhnlich durch besondere »Trockenheit« der Darbietung und redundante exegetische Quisquilien aus. Nicht so der neue Markuskommentar von Prof. em. Wilfried Eckey (Wuppertal). Er kommt in erfrischendem sprachlichen Stil daher, bietet solide Exegese und ist auch für Theologinnen und Theologen in den verschiedenen Praxisfeldern außerhalb der Universität »verdaubar«. Ja, selbst interessierte Laien werden von dem Kommentar profitieren. Nicht nur, dass Eckey sprachliche Hürden wie griechische und lateinische Ausdrücke mit Übersetzungshilfen versieht und auf Fachjargon wie Fußnoten weitgehend verzichtet. Der Autor schafft es auch, die gerade in den Details oft weit verzweigte Forschung auf den Punkt zu bringen. Hier meldet sich ein »theologischer Generalist in Lehramtsstudiengängen« (V) zu Wort, der nach dem Ausscheiden aus dem aktiven Dienst seine gesammelten Erfahrungen in Lehre und Predigt in fruchtbare Exegese ummünzt. Das Anliegen des Autors ist vergleichsweise bescheiden formuliert: Kein enzyklopädisch angelegter Kommentar, sondern eine »auf wissenschaftlicher Grundlage erarbeitete Lesehilfe« will sein Beitrag sein. Nicht eine umfassende Darstellung aller Facetten des Genres, sondern die Einführung in das historische Verständnis des Markusevangeliums ist das erklärte Ziel Eckeys. »Wesentlich ist es, immer intensiver Hörer des Evangeliums und Schüler des Wortes der Bibel zu werden.« (VI) Die Auswahl seiner methodischen Schwerpunkte wird ebenfalls im Vorwort grundgelegt. Es geht ihm um die »Besinnung auf das spezifische Zeugnis des Markus«, darum, den urchristlichen Autor in seiner Zeit ernst zu nehmen. Dabei ist Eckey der historisch-kritischen Methode verpflichtet. Seinem Anliegen entsprechend, setzt er den Schwerpunkt in der redaktionskritischen Betrachtungsweise des Evangeliums. Spekulative Fragestellungen wie nach der Authentizität bestimmter Überlieferungen bleiben dagegen weitestgehend außen vor. Man mag dies als Mangel ansehen, besonders, wenn die eigene Fragerichtung auf den historischen Jesus und seine »Lehre« zielt. Doch angesichts der damit verbundenen methodischen und hermeneutischen Vorbehalte wirkt diese Zurückhaltung eher angenehm und lektürefördernd. Überhaupt ist die Zurückhaltung, mit der Eckey unsichere Ergebnisse historischer Analyse einführt, vorbildlich. An keiner Stelle kommt der Verdacht auf, es würden hypothetisch gewonnene Ergebnisse zu Fakten erklärt. Bereichernd für das eigene Textverständnis und für die Applikation in Predigt und Schule sind die zahlreichen traditions- und religionsge- Wilfried Eckey ORIENTIERUNG AM WEG JESU Ein Kommentar 59 schichtlichen Exkurse in Eckeys Markuskommentar. Eine sinnvolle Auswahl solcher Texte ist in den Gang der Analyse eingeflochten, ohne sie zu überfrachten. Weiterhin führt der Autor in die formgeschichtlichen Aspekte der Texte, in textlinguistische Gesichtspunkte und in Realienfragen ein. Dagegen wird die standardmäßige literarkritische Unterscheidung von Tradition und Redaktion als ultima ratio der Exegese behandelt. Durch die strenge\ und konsequent durchgehaltene Beschränkung des exegetischen Fragerasters gewinnt Eckeys Kommentar an Übersichtlichkeit und Gradlinigkeit. Eine fortlaufende Lektüre ist so durchaus möglich (und vom Autor erwünscht). Die zum Teil ausufernden Diskussionen gerade in Einzelfragen werden nicht übergangen, aber so gebündelt dargestellt, wie es nur jemand vermag, der sich über lange Jahre mit ihnen beschäftigt und ihre Voraussetzungen reflektiert hat (vgl. etwa die treffend vorgenommene Kurzanalyse der literarkritischen Fragestellung auf S. 21). In dieser gebündelten Form gelingt ein rascher Zugang zu den Sachdiskussionen, ohne dass dabei der Blick für den Text des Evangeliums verloren geht. Nach so viel Lob möchte ich auch die Grenzen dieses Kommentars benennen: Es liegt an der konzeptionellen Selbstbeschränkung, dass bestimmte Aspekte der historischtheologischen Beschäftigung mit dem Markusevangelium zu kurz kommen. Aus meiner Sicht betrifft das vor allem theologische Anfragen und hermeneutische Überlegungen. Ich möchte das an drei Punkten festmachen, zuerst am Beispiel der mk. Wunderberichte: Der Leser bzw. die Leserin erfährt viel Wissenswertes über verschiedene Wundergattungen, über das jeweilige Textgefälle, innerevangelische Bezüge oder vergleichbare Wunderberichte in der Antike. Die Analysen sind in der 60 Regel solide und erhellend. Eckey verzichtet auf jede Form rationalistischer oder psychologischer Erklärungsversuche. So begrüßenswert das ist, fehlen gleichwohl grundsätzliche Ausführungen zum mk. Wunderverständnis, zur Frage des historischen Kerns und zum hermeneutischen Umgang mit den Wundern. In diesen Fragen bleiben Leserinnen und Leser auf ihre eigenen Überlegungen bzw. auf weiterführende Literatur angewiesen. Ähnliches gilt zweitens für die mk. Gleichnistheorie: Eckey kann zwar offen vom esoterischen bzw. allegorischen Charakter der Gleichnisrede (seil. Im Markusevangelium) sprechen, enthält sich aber der spannenden Frage nach deren ursprünglichem Charakter. So erfahren wir viel Korrektes und Nachdenkenswertes über den markinischen Jesus, erhalten aber keine Hinweise auf die Problematik, die die Gleichnisforschung seit Adolf Jülicher umtreibt. 1 Ein drittes Beispiel für die Zurückhaltung Eckeys in theologischen Sachfragen ist die mk. N aherwartung der Parusie, wie sie in Mk 9,1 oder 13,30 zum Ausdruck kommt. Eckey begnügt sich mit der Feststellung, dass diese Erwartung enttäuscht wurde. Hierin ist er ehrlich und nüchtern zugleich, und das spricht für den Kommentar. Doch wie hermeneutisch mit einem solchen »Irrtum« umzugehen ist, bleibt offen. Fazit: Wer eine solide gearbeitete historische Einführung in das Denken des zweiten Evangeliums und seines Autors sucht, wer sich in einer sprachlich ansprechenden Form auf den Stand der Dinge in den einzelnen Auslegungsfragen bringen und sich nicht in exegetischen Quisquilien verlieren, sondern den »roten Faden« des Evangeliums greifbar haben möchte, wer darüber hinaus Freude an religionsgeschichtlichem Anschauungsmaterial und an kulturellem bzw. sozialgeschichtlichem Hintergrundwissen Interesse hat, ist bei Eckey genau richtig. Den theologisch interessierten Leserinnen und Lesern erschließt sich im Kommentar die ganz eigene Welt des Evangelisten Markus. Selbst Fachexegetinnen und Fachexegeten können manch weiter führende Anregung finden. 2 Wer freilich darüber hinaus in die Reflexion theologischer Sachfragen einsteigen möchte und nach »Munition« für die hermeneutische Auseinandersetzung sucht, wird bei Eckeys Kommentar nicht stehen bleiben, sondern auf weitere Literatur zugreifen. Das differenzierte Literar- und Stichwortverzeichnis am Ende des Kommentars ist hier eine wertvolle Hilfe. So betrachtet, kann ich diesen Kommentar, obwohl er gewissermaßen »außer Konkurrenz«, will sagen: außerhalb etablierter Kommentarreihen erschienen ist, wärmstens empfehlen. Auf die nächsten Eckey'schen Kommentare (zum lukanischen Doppelwerk) dürfen wir uns freuen! Kurt Erlemann Anmerkungen 1 Dazu vgl. meinen Beitrag »Wohin steuert die Gleichnisforschung? «, ZNT 3, 1999, 3-10. 2 Vgl. etwa die durchaus kritische und profunde Deutung der »Verstockungsaussage« in Mk 4,10-12 auf S.141. Nicht nur dieses Beispiel weist Eckey als philologisch versierten Exegeten aus, der durchaus gegen gängige Meinungen argumentiert, wo es sachlich geboten erscheint. ZNT 5 (3.Jg. 2000) Neues Testament bei Vandenhoeck & Ruprecht Wolfgang Harnisch Die Zumutung der Liebe Gesammelte Aufsätze Herausgegeben von Ulrich Schoenborn. Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, Band 187. 1999. 237 Seiten, Leinen DM 98,- / öS 715,- / SFr 90,- ISBN 3-525-53871-5 Neutestamentliche Exegese greift heute selbstverständlich auf die Metapherntheorie zurück. Dies ist nicht zuletzt Untersuchungen von Wolfgang Harnisch zu verdanken, von denen besonders diejenigen Arbeiten hier zusammengestellt sind, die auf eine an der Metapher orientierte Sprache achten und der Suche nach einer darauf bezogenen Gleichnistheorie Ausdruck geben. Ralph Hochschild Sozialgeschichtliche Exegese Entwicklung, Geschichte und Methodik einer neutestament- 1 ichen Forschungsrichtung Novum Testamentum et Orbis Antiquus, Band 42. 1999. 297 Seiten, gebunden DM 128,-. ISBN 3-525-53942-8 Gemeinsam mit dem Universitätsverlag Freiburg Schweiz Sozialgeschichtliche Exegese neutestamentlicher Texte erhellt die konkreten Lebensverhältnisse, auf die diese Texte sich beziehen. Obwohl die Fragestellung und Methode ihre Wurzeln im J 9. Jahrhundert hat, war die Institutionalisierung dieser Forschungsrichtung erst in den 1980er Jahren abgeschlossen. Der Autor untersucht die vorhandenen Ansätze und Arbeiten sowie deren Vorgeschichte. Karl-Wilhelm Niebuhr (Hg.) Grundinformation Neues Testament Eine bibelkundlich-theologische Einführung In Zusammenarbeit mit Michael Bachmann, Reinhard Feldmeier, Friedrich Wilhelm Horn und Matthias Rein. UTB 2108 M. 2000. 419 Seiten mit 8 Abbildungen, kart. DM 48,- / öS 350,- / SFr 46,- ISBN 3-8252-2108-3 Das Arbeitsbuch stellt die Schriften des Neuen Testaments allgemeinverständlich in der Reihenfolge des Kanons dar. Der Zugang erfolgt über eine bibelkundliche Erschließung. Exegetische Hinweise dienen der Einordnung der behandelten Schrift und der Erhellung ihrer Entstehung. Anschließend werden theologische Schwerpunkte dargestellt und Hinweise zu Wirkungsgeschichte und gegenwä11iger Bedeutung gegeben im Kirchenjahr, in der Kunst oder auch im "säkularen" Alltag. Durch vorangestellte Thesen, Übersichten sowie zusätzliche Informationen in einer Randspalte wird der Text didaktisch ersch I ossen. Mit einem Verzeichnis der wichtigsten Studienliteratur, Glossar und biblischem Personenverzeichnis. Weitere Informationen: Vandenhoeck 8: Ruprecht, Theologie, 3 7070 Göttingen e-mail: info@vandenhoeck-ruprecht.de 1 nternet: http: / / vandenhoeck-ruprecht.de Peter Stuhlmacher Biblische Theologie des Neuen Testaments Band 2: Von der Paulusschule bis zur Johannesoffenbarung. Der Kanon und seine Auslegung 1999. XI, 372 Seiten, kartoniert DM 72,- / öS 526,- / SFr 67,50 bei Subskription des Gesamtwerkes DM 64,80 / öS 473,- / SFr 61,- ISBN 3-525-53596-1 Vorzugpreis für Band 1 und 2 DM 131,- / öS 956,- / SFr 117,- ISBN 3-525-53597-X Band ·1: Grundlegung. Von Jesus zu Pa uI us. 2., durchgesehene Auflage 1997. XI, 419 Seiten, kartoniert DM 74,- / öS 540,- / SFr 69,- ISBN 3-525-53595-3 In diesem zweiten Band der neutestamentlichen Theologie werden die Briefe der Paulusschule, die Katholischen Briefe, die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte sowie die Johannesschriften , biblisch-theologisch analysiert und ausgewertet. Anschließend bündelt der Autor die Einzelergebnisse beider Bände syste- ' matisch und untersucht die Entstehung des zweiteiligen christlichen Kanons, stellt die Frage nach seiner Mitte und legt dar, wie die biblischen Schriften aus sich selbst heraus interpretiert werden wollen. V&R Vandenhoeck &Ruprecht Mainzer Hymnologische Studien Christian Möller (Hrsg.) Kirchenlied und Gesangbuch Quellen zu ihrer Geschichte Ein hymnologisches Arbeitsbuch Band 1, 2000 , ca. 400 Seiten , za hlr. Abb., geb. ca. DM 88 ,-/ ÖS 642 ,-/ SFr 79 ,- IS BN 3-7720-3001-7 kart. ca. DM 58,- / ÖS 423 ,-/ SFr 55,- ISB N 3-7720-2911-6 Der über viele Jahre erarbeitete Eröffnungsband der Reihe behebt ein wesentliches Desiderat der Hymnologie: daß es nämlich bisher kein umfassendes Qu ellenbuch gab , mit dem die 2000jährige Geschichte von Kirchenlied und Gesangbuch gelehrt und st udiert werden kann. Mehrere Anläufe zu so einem Buch scheiterten bisher an der äußerst komplexen Quellenlage. Nun ist es ein em Team von erfahrenen Hymnologen gelungen , die verzweigten und vielschichtigen Qu ellen zu sichten , die wichtigsten auszuwählen , kurze Lesehilfen zu verfassen und in die einze lnen Epochen der Hymnologiegeschichte einzuführen . Was am Ende als hymnologisches Arbeitsbuch hera usgekommen ist, könnte man auch eine "Kirchengeschichte des Singens" nennen. Geschichte wird beim Studium dieses Quellen buches lebendig , gewinnt in vielen Notenbeispiel en Klang und wird in einzigartiger Weise anschaulich hörbar. Mit diesem Arbeitsbuch kann Hymnologi e nun intensiver studiert und gelehrt werden. l rm ga rd Scheitler (Hrsg.) Geistliches Lied und Kirchenlied im 19. Jahrhundert Irmgard Scheitler (Hrsg.) Geistliches Lied und Kirchenlied im 19. Jahrhundert Theologische, musikologische und literaturwissenschaftliche Aspekte Band 2 , 2000 , 25 4 Seiten , div. Abb. , DM 78, -/ ÖS 569, -/ SFr 74,- ISB N 3-772 0-29 12-4 Die Bedeutung des 19. Jahrhunderts für di e Wiederentdeckung und Kodifizierung alten Liedguts ist zwar unbestritten dennoch wird die Epoche von der hymnologischen Forschung eher gemieden. Die Beiträge des vorliegenden Bandes versuchen , das 19 . Jahrhundert von seinem Staub zu befreien und ihm seinen Platz in der Frömmigkeitsgeschichte zuzuweisen . Wese ntlich ist dabei , die hymnologischen Bestrebungen im Zusammenhang mit den zeitgenössischen historischen , sozialen und epistemologischen Veränderungen zu sehen. Verbreitete Vorurteile wie das vom 'harten Bruch ' mit der Aufklärungstradition müssen differenzierteren Betrachtungsweisen weichen . Manche Aspekte zeigen das Jahrhundert als Wegbereiter moderner Vorstellungen . Mit ihrem Ringen um die Mitte zwischen Bewahrung und Erneuerung erscheinen die Diskussionen des 19 . Jahrhun derts erstaunlich aktuell. A. Francke Verlag Tübingen und Basel