ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
2000
36
Dronsch Strecker Vogel1 ~ N .. l'- 1/ 1 - 1 lt) (1) " 'lt .- N Cl) N : o lrt -M '· 'lt 'lt ... Nz : ! : Cl) c! ! ! Heft 6 • 3. Jahrgang (2000) ZEITSCHRIFT ,~ NEUES TESTAMENT Das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft Herausgegeben von Stefan Alkier, Kurt Erlemann, Roman Heiligenthal Bernd Wander Auf den Spuren des »Frühen Christentums « eine Problemanzeige Steve Mason Aufstandsführer, Kriegsgefangener, Geschichtsschreiber: Der jüdische Historiograph Flavius J osephus und seine Bedeutung für das Verständnis des Neuen Testaments Hannah Cotton Recht und Wirtschaft. Zur Stellung der jüdischen Frau nach den Papyri aus der judäischen Wüste Klaus Koenen Biblisch-theologische Überlegungen zum Jonabuch Christina Urban Jesustypen im Film: Gibt es den typischen Jesusfilm? Die Einheit der Urgemeinde - Fiktion oder Wirklichkeit? Roman Heiligenthal versus Fran~ois Vouga Buchreport Herausgeber Stefan Alkier Kurt Erlemann Roman Heiligenthal in Verbindung mit Klaus Berger Peter Busch Axel von Dobbeler Dirk Frickenschmidt Gabriele Faßbeck Matthias Klinghardt Günter Röhser Markus Sasse Jens Schröter Manuel Vogel Bernd Wander Jürgen Zangenberg Anschrift der Redaktion Universität Koblenz-Landau Fachbereich 6: Philologie Institut für Ev. Theologie Prof. Dr. Roman Heiligenthal Im Fort 7 · D-76829 Landau Manuskripte Zuschriften, Beiträge und Rezensionsexemplare werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Verpflichtung zur Besprechung unverlangt eingesandter Bücher besteht nicht. Anzeigen Christiane Schiller, Tel.: 0 70 71 / 97 97-10 Bezugsbeding1.1nge11 Die ZNT erscheint halbjährlich (April und Oktober) Einzelheft: DM 24,- / öS 175,- / sFr 24,zuzügl. Versandkosten Bezugspreis jährlich: DM 48,- / öS 350,- / sFr 46,- Vorzugspreis für Studenten (Immatrikulationsbescheinigung beifügen) jährlich: DM 38,- / öS 277,- / sFr 38,- © 2000 · A. Francke Verlag Tübingen · Basel Alle Rechte vorbehalten ISSN 1435-2249 ISBN 3-7720-9905-X Umschlagentwurf: Werner Rüb, Bietigheim-Bissingen. Satz: Martin Fischer, Reutlingen. Druck: Gulde, Tübingen. Bindung: Nädele, Nehren. Neues Testament aktuell Zum Thema Kcmtroverse Hermeneutik und Vermittlung Bernd Wander Auf den Spuren des »Frühen Christentums« eine Problemanzeige. . . . . . 2 Steve Mason Aufstandsführer, Kriegsgefangener, Geschichtsschreiber: Der jüdische Historiograph Flavius Josephus und seine Bedeutung für das Verständnis des Neuen Testaments .................. 11 Hannah Cotton Recht und Wirtschaft. Zur Stellung der jüdischen Frau nach den Papyri aus der judäischen Wüste ................ 23 Klaus Koenen Biblisch-theologische Überlegungen zumJonabuch ......................... 31 Kurt Erlemann Die Einheit der U rgemeinde - Fiktion oder Wirklichkeit? Einleitung zur Kontroverse .............. 40 Roman H eiligenthal Die Kontroverse um das frühe Christentum . 41 Franrois Vouga Einheit und Vielfalt des frühen Christentums ................. 47 Christina Urban Jesustypen im Film: Gibt es den typischen J esusfilm? .......... 54 Reaktionen der Leserschaft ................................. 64 Buchreport Jürgen Zangenberg Gerd Theißen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums . 65 A. Francke Verlag Tübingen und Basel· Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Telefon: 0 70 71/ 9797-0 · Fax: 0 70 71 / 7 52 88 Internet: http: / / www.francke.de · E-mail: narr-francke@t-online.de ZNT im Internet: http: / / www.uni-wuppertal.de/ FB2/ ev.theol/ ZNT Das 6. Heft der ZNT, das wir Ihnen nun vorlegen können, greift als Schwerpunkt ein Thema auf, das in der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion wieder verstärkt in das Blickfeld rückt: Die Geschichte des frühen Christentums. Bernd Wander führt in »NT aktuell« grundsätzlich in das Thema ein. Er benennt, ausgehend von den großen Entwürfen zur Geschichte des Urchristentums, die aktuellen Problemstellungen und weist auf mögliche Lösungswege hin. Eine Geschichte des frühen Christentums ist auf die Werke des jüdischen Historikers Flavius Josephus angewiesen. Seine Bedeutung für das Neue Testament stellt Steve Mason als einer derbekanntestenJosephusforscher in einem weiteren Beitrag dar. Das frühe Christentum läßt sich in seiner Entwicklung ohne eine Wirtschafts- und Rechtsgeschichte Palästinas in römischer Zeit kaum begreifen. Unter dem besonderen Aspekt der Rolle der jüdischen Frau in diesem Kontext gibt Hannah Cotton Einblicke in dieses Forschungsgebiet. Die Kontroverse zwischen Fran~ois Vouga und Roman Heiligenthal fokussiert das Thema auf die Frage nach der Relevanz der Apostelgeschichte für eine Geschichte des frühen Christentums: Soll man sie ZNT 6 (3. Jg. 2000) als historische Quelle oder als einen primär theologischen Text lesen? Abgerundet wird der thematische Schwerpunkt des Heftes durch eine Rezension von Jürgen Zangenberg über das jüngste Werk Gerd Theißens zur Religion der ersten Christen. Daneben setzt Klaus Koenen mit seinen biblisch-theologischen Betrachtungen zumJonabuch einen Akzent im Bereich der Biblischen Theologie, indem er das Jonabuch mit den neutestamentlichen Gleichnissen in Beziehung setzt. Unter der Rubrik Hermeneutik und Vermittlung beschreibt Christina Urban die Typisierungen Jesu von Nazareth in verschiedenen Jesusfilmen und gibt damit für die praktische Umsetzung des Themas »Wer war Jesus von Nazareth? « hilfreiche Anregungen. Erstmalig veröffentlichen wir in dieser Ausgabe zwei Leserbriefe zur Kontroverse aus Heft 4, die die provozierende Frage stellte, ob Teile der feministischen Theologie einen »Methodenmord« begehen. Wir freuen uns, daß auf diesem Weg ein Austausch zwischen Leserschaft und den Herausgebern zustande gekommen ist. Für weitere Rückmeldungen sind wir dankbar und hoffen auf ein lebendiges Leserforum auch für die Zukunft! Stefan Alkier Kurt Erlemann Roman H eiligenthal 1 Bernd Wander Auf den Spuren des »frühen Christentums« eine Problemanzeige Wer sich heute mit dem Phänomen des Frühen Christentums oder auch an anderer Stelle so bezeichnetem Urchristentum beschäftigen möchte oder Kenntnisse erwerben will, sieht sich mit einer Vielzahl von Problemstellungen und Fragenkomplexen und vor allem mit einer kaum noch überschaubaren Literatur konfrontiert. Um sich wenigstens ansatzweise einen Überblick zu verschaffen, sei daran erinnert, daß Differenzen besonders hinsichtlich der Terminologie, der Datierung der Epoche und den jeweiligen Ansatzpunkten schon lange bestehen. Diese gehen mit der wissenschaftlichen Erforschung des Neuen Testaments einher und sind seit der Aufklärung mit großen Namen der englischen 1 wie deutschen 2 Deisten 3 verbunden. Kernfragen der Forschungsgeschichte a) Stabiler Urzustand oder Dynamik der Prozesse? Neben den Deisten hatten besonders Ferdinand Christian Baur und Rudolf Bultmann auf die weitere Frage nach dem Frühen Christentum entscheidenden Einfluß; sie präfigurierten die eingangs angerissenen Problemfelder und trieben eine Auseinandersetzung damit voran. Ferdinand Christian Baurs (1792-1860) 4 Arbeiten zu einer kritischen Rekonstruktion der Frühgeschichte des Christentums waren unter anderem von der Prämisse geleitet, daß sich in der Anfangszeit zwei rivalisierende Gruppen einer judenchristlichen Partei unter Petrus und einer heidenchristlichen Partei unter Paulus gegenüberstanden, deren Auseinandersetzungen und Gegensätzlichkeiten einen Prozess auslösten, an dessen Ende der sogenannte »Frühkatholizismus« stand. Wenn sich diese Einschätzung in der Folgezeit auch nicht halten ließ, so ist doch als Verdienst Baurs herauszuheben, daß mit seinem Entwurf in die Geschichte des Frühen Christentums das Moment der Dynamik und Bewegung kam, herausgestellt eben an unterschiedli- 2 chen Gruppierungen, welche das Frühe Christentum entscheidend prägten. b) Theologie oder Historie? Rudolf Buhmann (1884-1976) hat sich als einer der einflußreichsten Exegeten des 20. Jh. mit unserem Thema in seiner Untersuchung »Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religion« 5 eingehend beschäftigt, doch sind die entscheidenden Aussagen Bultmanns an anderen Stellen seines bedeutenden Werkes zu finden. Besonders in der Frage nach der Rekonstruktion des »historischen Jesus« und von »historischen Jesusworten« stand Buhmann auf dem Standpunkt, daß das Auferstehungskerygma zwar in einer gewissen Kontinuität zum historischen Jesus stehe, nicht aber durch Rückgriff auf ihn legitimiert werden könne. 6 Diese besondere Beziehung zur Historie sollte dann als entscheidendes hermeneutisches Kriterium bei seinen Schülern zum Tragen kommen. So betont etwa Walter Sehmithals gegenüber den eher historisch orientierten Entwürfen zum Frühen Christentum, daß der Hauptgegenstand eine Orientierung an »grundlegenden theologischen Themen« bzw. eine Suche nach »wegweisenden Schritten der theologischen Entwicklung« sei.7 c) »Frühes Christentum« oder » Urchristentum« ? Neben dem Verhältnis von Historie und/ oder Theologie ist die Terminologie ein entscheidendes Thema. Neben den Bezeichnungen »Urchristentum« und »Frühes Christentum« existieren noch andere Formulierungen wie »ältestes Christentum«8, »Urkirche« 9 oder »Frühzeit des Christentums« . 10 Stefan Alkier hatte sich in seiner Dissertation 1993 für den Terminus »Frühchristentum« ausgesprochen, weil dieser einerseits weniger Vorentscheidungen über die Ergebnisse der historischen Forschung präjudiziere und andererseits keine idealisierenden Konnotationen enthalte. 11 Fran~ois Vouga ist 1994 dann ausdrücklich der von ZNT 6 (3. Jg. 2000) Bernd Wender Auf den Spuren des »Früh,m Christentums« eine Problamanzeige Bernd Wander Jahrgang 1960, Studium der Evangelischen Theologie in Wuppertal und Heidelberg, Promotion 1992, Habilitatiton 1997, mehrjährige Tätigkeit in der Rheinischen Kirche, Lehrbeauftragter in Heidelberg, Wuppertal und Köln, 1997-1999 Lehrstuhlvertreter in Frankfurt a.M., seit 1999 in Duisburg, verschiedene Veröffentlichungen zur Umwelt des Neuen Testaments und zur Zeitgeschichte. Alkier vorgeschlagenen Formulierung gefolgt. 12 Kritiker konnte diese begrüßenswerte differenzierende Terminologie jedoch nicht überzeugen. So setzt sich etwa Gerd Lüdemann weiterhin für die Ausdrücke »Urchristentum« oder »Primitive Christianity« ein. Lüdemann wörtlich: »Beide Begriffe sind auch insofern unentbehrlich, weil sie, viel eindrücklicher als der von A.(lkier) vorgeschlagene Begriff Frühchristentum oder der engl. Terminus Early Christianity, die Entstehungszeit des Christentums als Problem in Erinnerung rufen, denn in ihr fielen maßgebliche Entscheidungen über alle künftigen Entwicklungen der Christlichen Kirche.« 13 Dies ist freilich keineswegs ein durchschlagendes Argument. Denn »Frühes Christentum« vermag besser zum Ausdruck zu bringen, daß die damit anvisierte Periode der Geschichte ein vielschichtiger, übergreifender und sich überlappender Prozeß gewesen ist. Hierzu zählen die Auseinandersetzungen von Judentum und Judenchristentum, von Judenchristentum mit Heidenchristentum, von Heidenchristenturn mit Heidenchristentum genauso wie Konflikte mit Behörden auf heidnischer wie jüdischer Seite und damit verbundenem gesellschaftlichen und sozialen Druck. »Urchristentum« ist demgegenüber ein problematischer Ausdruck, weil er vom heutigen Sprachgebrauch her mehr auf das Typische rekurriert. Von einer typischen, beispielhaften Epoche ist ZNT 6 (3. Jg. 2000) die Zeit des Neuen Testaments weit entfernt, nicht zuletzt wegen der von Anfang an bestehenden Auseinandersetzungen innergemeindlicher und außergemeindlicher Art. d) Die Frage der Abgrenzung der Epoche Neben dem Verhältnis von Theologie und Historie und der Terminologie spielen Datierungsfragen eine entscheidende Rolle. Welchen Zeitraum hat das neutestamentliche Teilgebiet zur Erforschung des »Frühen Christentums« zu erfassen? Verschiedene Vorschläge werden dazu gemacht. Jürgen Becker favorisiert die Jahre zwischen dem Auftreten J esu bis 120-130 n. Chr. 1 4, während Henning Paulsen den zeitlichen Rahmen noch einmal bis 150-180 n. Chr. erweitert. 15 Gerd Lüdemann gar spricht sich dafür aus, daß erst nach dem Abschluß des Konsolidierungsprozesses der christlichen Gruppen das »Urchristentum« als Periode abgeschlossen sei. 16 Für die Erforschung dieser frühen Phase der Kirchengeschichte sollte jedoch zu allererst den Fragen nachgegangen werden, welche die Voraussetzungen als auch die Wirkungsgeschichte des doch relativ schmalen Bestandes an neutestamentlichem Schrifttum im Auge haben. Deshalb ist mindestens auch die Epoche zwischen 333 v. Chr. und 313 n. Chr. mit zu berücksichtigen, nämlich vom Beginn der Hellenisierung des Vorderen Orients 17 bis zur endgültigen Tolerierung der christlichen Gemeinden durch den römischen Staat. 18 Mit anderen Worten: »Frühes Christentum« ist geprägt von den historischen, soziokulturellen, politischen, theologischen Bedingungen dieser Gesamtepoche 19 und kann auch nur befriedigend durch das genannte methodische Verfahren erfasst und bewertet werden. II Einzelfragen der äußeren Entwicklung Neben diesen eher grundsätzlich ausgerichteten Fragen und Problemstellungen existieren noch eine Fülle weiterer Einzelfragen, die eine vereinfachende Übersicht und Einführung in den Gegenstand erschweren. Einige Aspekte seien jedenfalls angeführt.20 Beginnt die Phase des »Frühen Christentums« mit dem Auftreten J esu oder sind Personen zu reflektieren, die vergleichbar zu Jesus viel früher wirkten? Ist von »Frühem Christentum« nicht 3 erst wesentlich seit der Auferweckung Jesu zu sprechen? Stand am Anfang des »Frühen Christentums« die Einheit der Kirche, aus der sich dann viele verschiedene Entwicklungsstränge ergaben oder lief dieser Prozess umgekehrt ab? Finden im Neuen Testament und in der Phase der frühen Kirchengeschichte die Konfessionen ihren gemeinsamen Urgrund oder wer kann sich zu Recht auf diese Epoche berufen? Welche Bedeutung hat die Geschichte des Judenchristentums nach 70 n. Chr. für diese Epoche? Welche Rolle hat Paulus gespielt und hat »Frühes Christentum« nur durch ihn überlebt? Beginnt Darstellung des Frühen Christentums mit der Auswertung der frühesten Texte (z.B. I Kor 15,3ff.) oder sind andere Ansätze denkbar? Deutlich wird wohl schon bei der Auflistung dieser Komplexe, daß sie sich trotz intensivster Erforschung wohl keiner Lösungsmöglichkeit zuführen lassen und ebenso wie der Gegenstand »Frühes Christentum« einer intensiven Debatte ausgesetzt bleiben werden. Das soll im folgenden an einigen Schneisen gezeigt werden. Dabei soll beispielhaft gezeigt werden, welche Problemzusammenhänge und Lösungsvorschläge existieren und auf welchem Stand der Erforschung sie sich befinden. Anspruch auf Vollständigkeit kann hier ebensowenig erhoben werden wie eine umfassende chronologische Durchdringung der Materie. Dennoch sollen schlaglichtartig die wichtigsten Problemfelder angeführt werden. a) Die Frage der Einheit der jerusalemer » Urgemeinde« Wenn Lukas auch die ersten fünf Kapitel seiner Apostelgeschichte für den engeren Jüngerkreis J esu reserviert, so werden doch die von Anfang an bestehenden kulturellen und sprachlichen Probleme mitgedacht und verarbeitet. Zuerst ist eine Sprachbarriere zu nennen: Obwohl durch die Hellenisierung des Vorderen Orients die griechische Sprache und Kultur einen ungeheuren Siegeslauf genommen hatte, war sie in Jerusalem keineswegs selbstverständlich. 21 Daher ist mit je eigenständigen Versammlungs- und Lebensformen von aramäisch und griechisch sprechenden Judenchristen (Aramäer / Hellenisten) zu rechnen. Über die sprachlichen Schwierigkeiten hinaus gab es auch kulturelle bzw. soziale Barrieren. So müssen wir von Anfang an von einer Vielzahl urchristlicher 4 Gemeinden in J erusalem 22 ausgehen, von denen der ehemalige enge Kreis um Jesus nur einer unter vielen war und nicht allein das Prädikat »die Urgemeinde« verdient. Am Streit um die Versorgung der Witwen (Apg 6,1-6) werden die Divergenzen sichtbar. Daß griechisch sprechende Judenchristinnen bei der Versorgung übersehen werden, heißt nichts anderes, als daß sich der aramäisch sprechende Teil für sie in keinerlei Weise verantwortlich fühlte. Die Existenz unterschiedlicher Gemeinden in Jerusalem von Anfang an wird auch dadurch evident, daß nach dem Tod des Stephanus (Apg 6f.) die einsetzende Pogromstimmung nur die griechisch sprechende Christengemeinde trifft. Die panikartige Flucht vieler Christen aus J erusalem nach der Steinigung des Stephanus hatte weitreichende Folgen für die Ausbreitung des Christentums. Denn anscheinend flüchteten Hellenisten nicht nur in benachbarte Regionen wie Damaskus oder Antiochia 23 , sondern wandten sich dem Westen zu. Die Grußliste in Röm 16 setzt jedenfalls Personen voraus, die vor Paulus Apostel geworden waren und deren Namensgebung auf die Osthälfte des Reiches verweist. 24 Im Westen gründeten die Hellenisten schon früh Gemeinden und sprachen dabei nicht nur jüdische Zuhörer, sondern auch die heidnische Bevölkerung an (Apg 11,20). Gerade aus diesen Kreisen der »Hellenisten« kamen also die Impulse zur Öffnung zur Völkerwelt hin. b) Die Bedeutung des Jüdischen Krieges Spätestens seit dem Aufstand der Makkabäer (ab 167 v. Chr.) hatten sich radikale Gruppen im Judentum formieren und halten können. Herodes d. Gr. hatte sich mit ihnen erfolglos befaßt, und in den Tagen Jesu hatte sich eine einflußreiche zelotische Bewegung 25 herausgebildet. Die Gründe für radikalen politischen Widerstand waren zahlreich: zu hohe Steuern und Abgaben, Schuldsklaverei, Verletzung religiöser Gefühle durch Rom oder Rivalitäten der Priesterklassen, um nur einige der vielen Faktoren zu nennen, die sich 66 n. Chr. schließlich in der Katastrophe des Jüdischen Krieges entluden. 26 Während der zunehmenden Radikalisierung des Judentums in Palästina am Ende der S0er und zu Beginn der 60er Jahre des 1. Jh. n. Chr. wurden die judenchristlichen Gemeinden besonders in Jerusalem in die Ereignisse hineingezogen. Die auf- ZNT 6 (3. Jg. 2000) Bernd Wander Al•f den Spun.m des »f1•ühen Christimtumi; ; ". •·· t~im~ Problan"! anzeige geladene Stimmung hatte für den Herrenbruder Jakobus im Jahr 62 n. Chr. tödliche Folgen. Der zur antirömischen Fraktion des Jerusalemer Adels gehörige Hohepriester Ananos d.J., später Mitglied der adeligen Aufstandsführung, ließ Jakobus hinrichten, die übrigen Teile der judenchristlichen Gemeinden verließen Jerusalem wegen der herrschenden Pogromstimmung.27 Man suchte durch die Hinrichtung Solidarität mit den Aufständischen zu bekunden, und die Verbindung des Kreises um Jakobus mit Personen wie Paulus, die sich durch ihren Umgang mit Heiden verunreinigten, tat wohl ein Übriges. J osephus berichtet uns in der Episode über den Übertritt des Königshauses von Adiabene, veranlaßt von einem Pharisäer aus Galiläa, welcher den weiten Weg in die Diaspora nicht scheut, um das Königshaus davon zu überzeugen: Zugehörigkeit zum Judentum sei nur via Beschneidung möglich, alles andere bliebe im Bereich des Unverbindlichen (Antiquitates 20,34-48). Im weiteren Verlauf hören wir von Spenden und aktiver Beteiligung am Krieg gegen Rom. Diese Vorgänge können auf die Formel gebracht werden, daß Übertritt zum Judentum gleichzusetzen ist mit Solidarität und Finanzhilfe für die Aufständischen. Im Galaterbrief des Paulus könnten bestimmte Anspielungen so zu verstehen sein, daß mit der jüdischen Position, gegen die Paulus unter den Stichworten »Freiheit oder Knechtschaft« (die vor allem von den Zeloten vertretene Parole) kämpft, Personen gemeint sind, die radikalen Pharisäern nahe standen. Die Zugehörigkeit zu Israel im Sinne christlicher Gottesfürchtiger oder ähnliche Konstellationen reichten für die Gegner des Paulus nicht aus, gefordert war der volle Übertritt mittels der Beschneidung. Damit war ein Kampf entbrannt, der sogar vor psychischer und physischer Gewalt nicht zurückschreckte. 28 c) Die Konfliktpunkte mit dem Diasporajudentum In der Diaspora 29 hatte sich das Judentum bereits seit Generationen in einem Spannungsfeld von mindestens vier Faktoren bewegt, die sicherlich regional jeweils unterschiedlich geprägt und auch Schwankungen unterworfen waren. Die Faktoren waren: Abgrenzung und Partizipation einerseits und Attraktion und Aggression andererseits. 30 Denn einerseits war es wegen der Vorschriften der ZNT 6 (3. Jg. 2000) Tora und Halacha nötig, sich von der Heidenwelt abzugrenzen, andererseits konnte das alltägliche Leben nur gelingen, wenn ein Mindestmaß von Partizipation an den politischen und kulturellen Gegebenheiten gewährleistet war. Umgekehrt gab es große Teile besonders der gebildeten Bevölkerungsschichten, die als »Gottesfürchtige und Sympathisanten« an den Einrichtungen des Synagogalbetriebes partizipieren wollten, während sich die unteren sozialen Schichten in den großen Städten oft keine Gelegenheit entgehen ließen, soziale Spannungen und latenten Antisemitismus an den jüdischen Diasporagemeinden abzuladen. Während Teile der Diasporasynagogen noch diskutierten, welche Konsequenzen sich aus der Forderung Deuterojesajas an Israel ergaben, Licht für die Völkerwelt zu sein, und wie dies mit der Anweisung der Tora zur Abgrenzung von den Heiden in Einklang zu bringen sei, war die Öffnung des Frühen Christentums zur Völkerwelt bereits vollzogen. Auf diesem Hintergrund ist verständlich, warum einer messianischen Sondergruppe innerhalb der Synagogenverbände in der Diaspora nicht mit der gleichen Toleranz begegnet werden konnte wie im Mutterland Palästina. Je höher der politische oder soziale Druck vor Ort war, je mehr die jeweilige jüdische Gemeinde unter Beobachtung stand, desto größer wurde die Distanz der Juden zur neuen Sonderbewegung. Die früheste Nachricht über solche Ereignisse liegt bei Sueton im sogenannten »Claudiusedikt« ( 41 und/ oder 49 n. Chr.) vor. 31 Wegen Unruhen in Folge von Streitigkeiten in der jüdischen Gemeinde von Rom um die Bedeutung eines gewissen »Chrestus« werden führende Personen vom Kaiser aus der Stadt ausgewiesen. Wer diesen Streit nun auf Fragen um die Person Jesu im Hinblick auf seine Messianität beschränken möchte, reduziert den vorhandenen vielschichtigen Konfliktstoff. Der Hauptkonfliktpunkt war die Öffnung zur Völkerwelt. Weil in der Regel schon aus organisatorischen Gründen die jeweiligen Synagogengemeinden als Verkündigungsort für die frühchristliche Mission genutzt wurden, war damit umgekehrt auch die Zielgruppe klar: Die frühchristliche Mission richtete sich insbesondere an diejenigen, die mit dem Judentum in unterschiedlicher Intensität sympathisierten, letztendlich aber vor dem Übertritt aus verschiedenen Gründen zurückschreckten. Die in den neutestamentlichen Schriften zutage tretenden 5 Septuagintakenntnisse sind nur auf dem Hintergrund zu verstehen, daß in diesen Schriften gerade solche »Gottesfürchtige« und Sympathisanten angesprochen wurden. 32 Umgekehrt sah man es als eine Gefahr für die Diasporagemeinden an, wenn sich die Umworbenen eine neue Heimat suchten. So präfiguriert das Diasporajudentum auch abgesehen von der Präsenz christlicher Gruppen ein Problemfeld, das sich mit dem Auftreten christlicher Verkündigung brandgefährlich zuspitzen sollte. Daß eine solche Konstellation kaum ein tolerantes Verhältnis der jüdischen Gemeinden zu den Christusanhängern fördern konnte, leuchtet ein. Rückwirkungen aus den Diasporagemeinden auf das Leben der christlichen Gemeinden in Palästina hatte es vermutlich schon in den 40er Jahren gegeben. Als Agrippa I. aufgrund seiner guten Verbindungen zum römischen Kaiserhof wie sein Großvater Herodes I. in den Rang eines Klientelkönigs erhoben wurde, ging er recht schnell und mit großer Härte gegen die Gemeinden der »Aramäer« in Jerusalem vor (Apg 12,1-3). 33 Möglicherweise waren die oben bereits erwähnten Unruhen in der jüdischen Gemeinde in Rom zur Zeit des Claudius die Ursache dafür. Als kühl kalkulierender politischer Beobachter wird Agrippa sehr schnell bemerkt haben, welche Gefahr dem Judentum von der Bewegung um den auferweckten Nazarener drohte, weshalb er ihre Bekämpfung an der Wurzel gewissermaßen als seine oberste Aufgabe empfand. Die aufgezeigten Problemfelder im Mutterland Palästina und in der Diaspora demonstrieren die enge Verflechtung des Frühen Christentums mit der Geschichte des Judentums des Zweiten Tempels: Fragen von Kultur und Identität, von Öffnung zur Völkerwelt hin spielen genauso eine Rolle wie der zunehmende militärische Widerstand gegen Fremdherrscher. Das Frühe Christentum ist Teil dieser Geschichte. Wie sich diese Teilhabe auf die innergemeindlichen Prozesse auswirkte, soll im folgenden gezeigt werden. III Einzelaspekte der inneren Entwicklung a) Die historische Glaubwürdigkeit der Apostelgeschichte ist zuerst die Quellenlage zu bedenken, die besonders hinsichtlich der Evangelien und der Apostelgeschichte umstritten ist. Wie gestaltet sich urchristliche Geschichtsschreibung und welche Angaben können in diesem Rahmen als gesichert gelten? Welche Rolle spielt dabei aus heutiger Sicht die Apostelgeschichte? Wie kann es gelingen, einander widersprechende Angaben miteinander in eine sinnvolle Beziehung zu setzen? 34 Unumstritten dürfte dabei sein, daß die Apostelgeschichte des Lukas als »früheste Kirchengeschichte« allen Unkenrufen zum Trotz eine wichtige und aussagekräftige Quelle darstellt. Besonders gilt das für die nachrichtenarme Zeit der 30er und 40er Jahre, wo dieser Teil des lukanischen Doppelwerks manche Lücke zu füllen hilft. Trotz einiger Skepsis bleiben hier nur zwei Alternativen übrig: Verzichtet man auf die Apostelgeschichte als »unhistorisch«, dann muß man mangels qualifizierten Quellenmaterials den Mantel des Schweigens über bestimmte Abschnitte des Frühen Christentums legen, oder aber man nimmt die Apg als historische Quelle ernst und hat dann die Pflicht, die vorhandene Überlieferung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln und mit Hilfe flankierender Angaben zum Sprechen zu bringen. Die Erforschung des Frühen Christentums kann ernsthaft sich nur mit der an zweiter Stelle geschilderten Alternative befassen. Für die Evangelien und die Apostelgeschichte gilt in diesem Fall: ihre Aussagen sind auf dem Hintergrund von Lokalkoloritforschung35, neuerer Formgeschichte 36 , epigraphischer, archäologischer und numismatischer Einsichten ebenso zu berücksichtigen wie der Aufweis religionsgeschichtlicher Parallelen oder der Vergleich mit Ereignissen des antiken Alltagsund_ Gesellschaftslebens. Um gerade die Nachrichten der Apostelgeschichte nicht überstrapazieren zu müssen, sind die größten gemeinsamen Nenner zu suchen über das, was aus heutiger Sicht haltbar ist und was nicht. Dazu sind Konsensfaktoren analog zur Frage nach dem historischen Jesus zu ermitteln.37 Nur so ist ein Weg aus der Sackgasse zu finden, die sich inhaltlich mit den beiden Extrempositionen kategorische Ablehnung einerseits und kritiklose Rezeption andererseits verbindet. b) Streitpunkt Apostelkonzil Um die inneren Problemkreise bei der Rekonstruk- Anhand der Angaben von Apg 15 und Gal 2 (sog. tion frühchristlicher Prozesse erfassen zu können, »Apostelkonzil«) soll die historische Problematik 6 ZNT 6 (3. Jg. 2000) Bernd Wander Auf den Spuren des »Fdihen Christentums« eine Pl'Oblernanzeige verdeutlicht und ein Lösungsvorschlag entfaltet werden. Wenn Paulus im Galaterbrief davon spricht, daß ihm bei der Jerusalemer Versammlung für seine beschneidungs- und ritualgesetzfreie Heidenmission keine Auflagen außer der Kollekte gemacht wurden, so geht der Bericht in Apg 15 doch dahin, daß die Verhandlungen mit Regeln beendet wurden, die im sog. »Aposteldekret« festgelegt sind (Apg 15,22-29). Apg 15 und Gal 2 haben in ihrer Auslegungsgeschichte alle möglichen Deutungen erfahren. Entweder wurden Gal 2 oder Apg 15 absolut gesetzt, beide Angaben verworfen oder miteinander mehr oder weniger schlecht harmonisiert. Welcher Weg ist aus heutiger Sicht gangbar? Unbestreitbar ist, daß beide Autoren in Apg 15 und Gal 2 über dasselbe Ereignis berichten, nämlich über eine Versammlung maßgeblicher Größen des frühen Christentums im Jahre 48 n. Chr. in Jerusalem. Weitgehend unbestritten in der Forschung ist auch, daß Paulus in Gal 2 die Ereignisse aus seiner Sicht wiedergibt. Bestritten wird aber, daß das Aposteldekret von Apg 15,22-29 in der Versammlung tatsächlich verabschiedet worden ist. Hier hat die Darstellung des Paulus absolute Priorität, wonach den in der Heidenmission Tätigen »nichts auferlegt« wurde. Das Aposteldekret ist eher als Modell anzusehen, mit dem Lukas Probleme in den 80er Jahren lösen will und es deshalb an prominenter Stelle einfügt. Gesteht man aber der Behandlung der Frage des Aposteldekrets eine gewisse Historizität für 48 n. Chr. zu, könnte sich eine neue Perspektive ergeben. Denn dann wäre die in Gai 2,9 38 angedeutete »Teilung der Missionsbereiche« eigentlich das Hauptthema der Zusammenkunft gewesen. Die verhandelte Frage müßte zugespitzt etwa folgendermaßen lauten: Wer geht in der Mission unter welchen Bedingungen zu wem? Man entschied, Paulus solle zu den Heiden ohne Beachtung von Minimalregeln gehen, während die petrinische Mission nicht ohne diese Regelungen entlassen wurde. So können die sich scheinbar widersprechenden Angaben aus Apg 15 und Gai 2 mittels des Scharniers aus Gal 2,9 doch in eine sinnvolle Beziehung gesetzt werden, nach welcher die Formulierung »zu den Juden« - »zu den Heiden« weder ethnographisch noch geographisch zu verstehen ist, sondern im Sinne einer Grundorientierung der heidenchristlichen Mission. 39 Die N achgeschichte der Versammlung zeigt nun, daß diese ZNT 6 (3. Jg. 2000) Auslegung Schlüssigkeit besitzt, wie im folgenden gezeigt werden soll. c) Das Problem gemischter Gemeinden nach dem 1. Korintherbrief Die Jahre zwischen 48 n. Chr. und der Verhaftung des Paulus 57 n. Chr. in Jerusalem waren die entscheidenden Jahre für das junge Christentum. Was geschieht in dieser entscheidenden Phase? Schon oben war darauf verwiesen worden, daß durch die Radikalisierung des Judentums in den 50er und 60er Jahren auch die Missionsbemühungen des Paulus tangiert wurden und er sich heftig gegen entsprechende Propaganda und Repression in neugegründeten Gemeinden zur Wehr setzen mußte, so daß die von außen kommenden Einflüsse gleichzeitig immer auch ein inneres Problem waren. Die Problemstellungen in den Gemeinden lassen sich wohl am deutlichsten am 1. Korintherbrief zeigen. Ein Problemkreis, mit dem sich Paulus in Korinth auseinanderzusetzen hatte, betraf die Frage des Götzenopferfleisches. In Korinth wurde wie in vielen anderen antiken Städten auch das Fleisch auf den Märkten angeboten, welches zuvor den heidnischen Göttern geweiht worden war und nicht im Tempel zum Verzehr kam. Wie mußten sich neugewonnene Christinnen und Christen aus dem Heidentum nun beim Einkauf verhalten? Warum gibt es Unruhe und Streit in den Gemeinden? Wieso kauften Teile der Gemeinden dieses Fleisch ein, warum stürzte es andere in Gewissensnöte? Die Antworten darauf lassen sich nur finden, wenn der Parteienstreit in Korinth in die Überlegungen einbezogen wird. Paulus berichtet davon, daß sich einige Gemeinden in Korinth auf Paulus, andere wiederum auf Petrus oder Apollos berufen (I Kor 1,10-17). Damit ist kein Personenkult impliziert, wie früher immer wieder angenommen wurde, sondern es sind unterschiedliche Modelle bei der Missionierung von Heiden im Blickfeld. Der strittige Punkt für Juden(christen) war ja nicht die Existenz von heidenchristlichen Gemeinschaften, sondern die Frage des sozialen Zusammenlebens, konzentriert im gemeinsamen Essen bei den Zusammenkünften. Hier war es Juden(christen) aufgrund der Bestimmungen der Tora und ritueller Bestimmungen (Halacha) nicht erlaubt, mit Heiden Tischgemeinschaft zu halten. Aber es existierten Lösungsmo- 7 delle, nach denen vermutlich bei der Jerusalemer Versammlung 48 n. Chr. gesucht worden war. Die paulinische Mission war nun so ausgerichtet, daß Paulus und sein Mitarbeiterstab sich als Juden(christen) in Richtung Heidenchristen orientierten, wenn diese zusammenkamen und dabei auf die Reinheitsforderungen als Juden(christen) freiwillig verzichteten. Das bedeutete, daß in den von Paulus gegründeten heidenchristlichen Gemeinden kein Katalog von Forderungen existierte. Diese äußerst großzügige Regelung wurde nun aber anscheinend mißverstanden und unter dem Schlagwort »Alles ist erlaubt« (6,12) kolportiert. Die petrinische Mission hingegen war anscheinend an Minimalregeln für Heidenchristen orientiert, deren Summe das sogenannte Aposteldekret ist. Hier ist die Regelung umgekehrt. Heidenchristen orientierten sich in diesem Fall in Richtung Juden(christen) und beachteten das Fernbleiben vom Götzendienst in jeglicher Gestalt, die Sexualbestimmungen sowie den Verzicht auf Blutgenuß und auf ungeschächtetes Fleisch, allesamt Forderungen aus der Tora. Es ist leicht vorstellbar, welche Konsequenz diese unterschiedlichen Konzepte auf das soziale Zusammenleben haben mußten. Paulus bringt in I Kor 10,25 ausdrücklich das Stichwort »Fleischmarkt« als Kulminationspunkt offener Fragen und Konflikte ins Spiel. Was mußte in Gemeindegliedern vorgehen, die auf dem Fleischmarkt mit ansahen, wie andere scheinbar ohne Bedenken Götzenopferfleisch kauften, was ihnen selber verwehrt war. Da die Gemeinden in Korinth sich überwiegend aus der Unterschicht zusammensetzten, hatte diese kultische Angelegenheit auch einen finanziellen Aspekt, denn das Fleisch aus den Tempeln wurde günstiger angeboten als anderes. Diesen Konflikt versucht Paulus nun auf vielfältige Weise durch allerlei Ermahnungen und Ermunterungen zu lösen. Entscheidend ist aber letztlich seine Argumentation am Ende von Kapitel 10. Nur durch Rücksichtnahme der Starken, also derjenigen, die sich nicht am Aposteldekret orientieren, nur durch eine solche Rücksichtnahme auf die Verunsicherten können die Streitigkeiten zu einem Ende gebracht werden. Bei der Rücksichtnahme auf andere verweist Paulus wiederum auf seine eigene apostolische Existenz. Auch geht er den gleichen Weg, nämlich das zu suchen, wie er sagt, was vielen dient, zu ihrer Rettung (10,33 ). Orientiert 8 sind diese Ermahnung und sein Verhalten aber am Vorbild Christi. Paulus wörtlich: »Folgt meinem Beispiel, wie ich dem Beispiel Christi« (11,1). d) Die Desintegration von Juden- und Heidenchristen Diese auf innerer Ebene der Gemeinden ablaufenden Prozesse wirkten sich entscheidend auf das Verhältnis zwischen Judentum und Heidenchristentum aus. Durch die Verhaftung und Überführung des Paulus nach Rom und den durch Willkür herbeigeführten Tod des Herrenbruders Jakobus waren die Ansprechpartner und Mittelsmänner für das Heidenchristentum und Judenchristentum vom diplomatischen Parkett verschwunden. Vergleichbare Personen mit ähnlich integrativer und anerkannter Bedeutung fehlten anscheinend. Die Flucht der J erusalemer Christen vor den Kriegshandlungen aus der belagerten Stadt und die völlig desolate Lage nach dem Ende des Krieges, nicht zuletzt bedingt durch die römische Repressionspolitik, taten ein Übriges: Was einst als Möglichkeit zur Ausbreitung der Sache Jesu Christi von Paulus und seinem Mitarbeiterstab offensiv betrieben worden war, verwandelte sich unter dem Druck der Ereignisse in sein Gegenteil. Die Unterdrückung aller jüdischen Aktivität und Identität durch Rom ließ aus der Kirche von Juden, Samaritanern und Heiden, wie sie Lukas in der Apostelgeschichte vorgeschwebt hatte, eine Kirche werden, die rein heidenchristlich geprägt war. Die Folgen des Jüdischen Krieges wurden redaktionell in den Evangelien verarbeitet, wohl eher mit mahnender als mit richtender Tendenz. 40 Lukas versuchte, das soziale Zusammenleben von pharisäisch geprägten Judenchristen (Diasporapharisäer) mit Heidenchristen zumindest durch das Aposteldekret zu gestalten. 41 Doch die Furcht vor einem übergreifen des Jüdischen Krieges auf die Diaspora auf römischer Seite machte solche Aktivitäten schwerer. 42 Vor Klischeevorstellungen in diesem Zusammenhang ist allerdings nachhaltig zu warnen. e) Das Problem der Christenverfolgungen Zwischen der Hinrichtung Jesu und der auf die Hauptstadt Rom lokal begrenzten Christenverfolgung unter Nero 64 n. Chr. ist von kaiserlich gelenk- ZNT 6 (3. Jg. 2000) Bernd Wander Auf den Spuren des nFrühen Christentums« eine Problemanzeige ten Initiativen gegen die Christen als eigenständige Bewegung historisch nichts bekannt. Auch für die Zeit zwischen 64 n. Chr. und 113 n. Chr. unter Kaiser Trajan fehlt es an entsprechenden eindeutigen Hinweisen. Das Problem lag auf einer anderen Ebene. Weil Rom die jeweiligen Provinzen und Kolonien mit einem minimalen Verwaltungsaufwand bewirtschaftete und die Verantwortung den Behörden vor Ort übertrug 43 , war der soziale Druck in den Städten gewaltig, bei den Römern nur nicht als Unruheherd aktenkundig zu werden. Dabei spielte das Vorgehen von Polizeikräften, Ordnungshütern und vor allem des Pöbels eine entscheidende Rolle. Denn das hatte der Jüdische Krieg vor allem und nachhaltig erreicht: Die Unterdrückung nicht nur der jüdischen Lebensweise, sondern von jeglichen judaisierenden Tendenzen. Und dies hatte eine durchaus fatalere Wirkung als staatlich sanktionierte Initiativen, auch wenn die Quellenlage nicht besonders üppig ist. Dokumente wie der 1. Petrusbrief lassen sich aber gar nicht anders als in diesem Kontext verstehen: Die christlichen Gemeinden waren Repressionen von Seiten ihrer ehemaligen Nachbarn, Freunde und wahrscheinlich auch Familien ausgesetzt, weil sie sich mit der Konversion offen von der heidnischen Lebensweise, von Opferbetrieb, Bäder- und Theaterkultur sowie von öffentlichen Spielen und Festivitäten distanzierten. 44 Aber nicht nur gerieten jüdische und christliche Gemeinden unter heidnischen Druck, sie rieben sich vielmehr auch aneinander. Denn noch immer war die hohe Attraktivität der jüdischen Mutterreligion in den heidenchristlichen Gemeinden zu spüren. Ehemalige »Gottesfürchtige und Sympathisanten« werden die Konflikte vorangetrieben haben und kaum die in der Forschung oft überbewerteten und oft zur Karikatur verzerrten sogenannten »judaistischen Gegner«. Der Epheserbrief nimmt an dieser Stelle einen besonders gewichtigen Standpunkt ein, wenn er die durch kulturelle Unterschiede hervorgerufenen Auseinandersetzungen zwischen judenchristlichen und heidenchristlichen Gemeinden aufgreift und mit Hilfe des Friedensbegriffes einer Aussöhnung zuführen möchte. Hier liegt eine eindrückliche Kontinuität zum Denken des Paulus vor, welcher ebenfalls in dem von Eintracht und Frieden geprägten Ideal der Pax Romana die Gemeinden zum Frieden aufgerufen hatte. Das Verhältnis von ZNT 6 (3. Jg. 2000) christlichen Gemeinden und Staat bezieht der Autor des Epheserbriefes auf das Verhältnis von Judenchristen und Heidenchristen. Ihr Friede in den Gemeinden hat letztlich einen missionarischen Effekt, weil nämlich der auf Christus beruhende Friede ein auch für die politischen Verhältnisse wichtiger Beitrag ist. IV Fazit Bei der Rekonstruktion der Geschichte des Frühen Christentums sind sowohl die in der Einleitung als wesentlich herausgestellten Faktoren der Dynamik und Bewegung (F.C. Baur) als auch im Anschluß an R. Buhmann die angemessene Verhältnisbestimmung von Historie und Theologie zu berücksichtigen. Somit sind bei der Beschäftigung mit dem Frühen Christentum nicht nur Fragen der Datierung, der Terminologie oder die zahlreichen Einzelprobleme angemessen zu erforschen, sondern es sind vor allem historische Prozesse mit grundlegenden Einsichten in die Theologie des Neuen Testaments zu verbinden. Denn nur in einer wechselseitigen Durchdringung von theologischen Grundeinsichten und historischen Abläufen, gedacht als ein dynamischer Prozess, können weiterreichende Einsichten gewonnen werden. Diese dürften nicht nur die unmittelbar historische Forschung voranbringen, sondern dazu führen, die m. E. nicht mehr haltbare Unterscheidung zwischen der Theologie des Neuen Testaments und der Geschichte des Frühen Christentums zu überwinden und beide Bereiche in eine produktive Spannung zu bringen. Die Beschäftigung mit dem Frühen Christentum erschöpft sich also keineswegs in der Rekonstruktion historischer Prozesse oder ist gar ein Appendix zur neutestamentlichen Theologie, sondern führt mitten in sie hinein. Anmerkungen 1 Vgl. W. Baird, History of New Testament Research, Volume One: From Deism to Tübingen, Minneapolis 1992. 2 Vgl. u.a. S. Alkier, Zur Geschichte und Theologie einer exegetischen Disziplin, BHTh 83, Tübingen 1993. 3 Deismus war in der Phase der Aufklärung eine Überzeugung, nach der Gott nach der Schöpfung der Welt keinen Einfluß mehr auf den Lauf der Dinge in keinerlei Gestalt nehme. 9 4 Ausführlich zu Baur vgl. Alkier, Geschichte. 5 R. Bultmann, Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religion, Zürich 1949. 6 R. Bultmann, Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen] esus, Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, E. Dinkler (Hg.), Tübingen 1967, 468f. 7 W. Sehmithals, Theologiegeschichte des Urchristentums. Eine problemgeschichtliche Darstellung, Stuttgart 1994, 7f. 8 W. Bauer, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum (BHTh 10), Tübingen 2 1964. 9 E. Krebs, Urkirche und Judentum, Die Morgen-Reihe. Schrift 2, Berlin 1926. 10 H. von Campenhausen, Aus der Frühzeit des Christentums. Studien zur Kirchengeschichte des ersten und zweiten Jahrhunderts, Tübingen 1963. 11 S. Alkier, Geschichte, 265. 12 F. Vouga, Geschichte des frühen Christentums, Tübingen u.a. 1994. 13 G. Lüdemann, 129f. 14 J. Becker, Das Urchristentum als gegliederte Epoche (SBS 155), Stuttgart 1993. 15 H. Paulsen, Zur Wissenschaft vom Urchristentum und der Alten Kirche ein methodischer Versuch, ZNW 68 (1977), 200-230. 16 G. Lüdemann, 130. 17 Vgl. M. Bengel, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jh. v. Chr. (WUNT I/ 10), Tübingen 2 1973. 18 Vgl. Das frühe Christentum bis zum Ende der Verfolgungen. P. Guyot/ R. Klein, Bde. I-II, Darmstadt 1993/ 94. 19 Vgl. H.-J. Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums, Bde. I-II (KSTh 9), Stuttgart 1995/ 96. 20 An dieser Stelle sei nachdrücklich auf den Forschungsüberblick von G. Lüdemann verwiesen. Dort ist nicht nur die kaum noch überschaubare Literatur in repräsentativer Auswahl vorgestellt, sondern es sind auch die sich ergebenen Einzelprobleme und Fragen kenntnisreich aufgelistet. 21 Vgl. Mk 14,70; Apg 21,37. 23 Vgl. dazu die instruktive Untersuchung von M. Bengel/ A. Schwemer, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien. Die unbekannten Jahre des Apostels (WUNT I/ 108), Tübingen 1998. 24 P. Lampe, Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten. Untersuchungen zur Sozialgeschichte (WUNT II/ 18), Tübingen 1987, 124-153: 138f. 25 Noch immer aktuell M. Bengel, Die Zeloten. Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Herodes Ibis 70 n. Chr. (AGJU I), Leiden u.a. 2 1976. 26 Vgl. P. Schäfer, Geschichte der Juden in der Antike. Die 10 Juden Palästinas von Alexander dem Großen bis zur arabischen Eroberung, Stuttgart u.a. 1983, 135-144. 27 Vgl. J. Verheyden, The Flight of the Christians to Pella, EthL 66 (1990) 368-384. 28 Vgl. Ga! 6,12. 29 Vgl. dazu bes. J. Maier, Jüdische Auseinandersetzungen mit dem Christentum in der Antike (EdF 177), Darmstadt 1982. 30 Vgl. dazu meine Angaben in: Gottesfürchtige und Sympathisanten. Studien zum heidnischen Umfeld von Diasporasynagogen (WUNT II/ 104), Tübingen 1998, 15- 36; zur Frage einer jüdischen Mission 218-227. 31 Vgl. dazu ausführlich H. Botermann, Das Judenedikt des Kaisers Claudius. Römischer Staat und Christiani im 1. Jahrhundert (Hermes. E 71), Stuttgart 1996. 32 Vgl. Chr. Burchard, Zu Ga! 4,1-11, in: U. Mell/ U.B. Müller (Hgg.), FS J. Becker, Das Urchristentum in seiner literarischen Geschichte (BZNW 100), Berlin u.a. 1999, 41-58. 33 Vgl. dazu G. Theißen, Die Verfolgung unter Agrippa I. und die Autoritätsstruktur der Jerusalemer Gemeinde. Eine Untersuchung zu Act 12,1-4 und Mk 10,35-45, in: FS J. Becker, 263-289. 34 Aus der Sicht einer Althistorikerin hat H. Botermann, Judenedikt, die Gründe angeführt, die für ein Ernstnehmen der Apostelgeschichte als einer historischen Quelle sprechen (29-43). 35 G. Theißen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien. Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition (NTOA 8), Freiburg/ Schweiz u.a. 1989. 36 K. Berger, Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984. 37 R. Heiligenthal, Der verfälschte Jesus. Eine Kritik moderner Jesusbilder, Darmstadt 2 1999, 34-36. 38 H.D. Betz, Der Galaterbrief. Ein Kommentar zum Brief des Apostels Paulus an die Gemeinden in Galatien, München 1988, 187 Anm. 377. 39 Vgl. M. Klinghardt, Gesetz und Volk Gottes. Das lukanische Verständnis des Gesetzes nach Herkunft, Funktion und seinem Ort in der Geschichte des Urchristentums (WUNT II/ 32), Tübingen 1988, 207-224. 40 Vgl. Berger, Formgeschichte. 41 J. Wehnert, Die Reinheit des »christlichen Gottesvolks« aus Juden und Heiden. Studien zum historischen und theologischen Hintergrund des sogenannten Aposteldekrets (FRLANT 173 ), Göttingen 1997, 252-255. 42 Vgl. W. Stegemann, Zwischen Synagoge und Obrigkeit. Zur historischen Situation der lukanischen Christen (FRLANT 152), Göttingen 1991, 147-186: 150-156. 43 Vgl. F. Vittinghoff, »Christianus Sum« - Das »Verbrechen« von Außenseitern der römischen Gesellschaft, Hist XXXIII (1984 ), 331-357. 44 W. Schäfke, Frühchristlicher Widerstand, ANRW II. Principat 23/ 1, Berlin (u.a.) 1979, 460-723. ZNT 6 (3. Jg. 2000) Steve Mason Aufstandsführer, Kriegsgefangener, Geschichtsschreiber: Der jüdische Historiograph Flavius Josephus und seine Bedeutung für das Verständnis des Neuen Testaments Lautete meine These einfach, dass Josephus für das Studium des Neuen Testaments relevant ist, wäre dieser Essay eine Zeitverschwendung für Autor und Leser. Unbestritten sind die vier Werke des Josephus in dreißig Bänden, verfasst zeitgleich mit den Evangelien (70-100 n. Chr.) mehr als relevant: sie sind unentbehrlich. Wann immer ein Forscher eine Aussage über das geschichtliche Umfeld der Evangelien macht über Herodes d. Gr. und seine Nachkommen, die römischen Statthalter Judäas, den J erusalemer Tempel, die Pharisäer und Sadduzäer, die historische Geographie Galiläas und vieles mehr dann bezieht er sich mit größter Wahrscheinlichkeit auf J osephus. Forscher tun dies »nicht aus freien Stücken, sondern vielmehr aus Notwendigkeit«, wie Josephus vielleicht sagen würde (Vita 27). Es gibt zwar eine ganze Bibliothek weiterer jüdischer Literatur etwa aus derselben Zeit: die Schriften vom Toten Meer, Philo von Alexandrien, dazu unterschiedlichste apokalyptische und weisheitliche Texte. Doch erschöpfen sich diese Quellen meist in Andeutungen, denn sie wurden hauptsächlich für Juden geschrieben, die über die geschichtlichen und kulturellen Bedingungen ihres Daseins nicht erst unterrichtet werden mussten. Josephus dagegen hat es unternommen, ein Geschichtswerk für Außenstehende zu schreiben, versehen mit reichhaltigen editorischen Exkursen und Betrachtungen. Deshalb sind seine Schriften für das Verständnis des Neuen Testaments von größter Wichtigkeit. Hierzu mehr zu sagen, wäre überflüssig. Mir kommt es auf etwas anderes an. Ich möchte die Fragestellung folgendermaßen formulieren: Die Bedeutung von Josephus' Schriften vorausgesetzt, wie sollten Leserinnen und Leser des Neuen Testaments von ihnen »Gebrauch machen«? Josephus' dreißig in Griechisch verfasste Bücher sind um einiges länger als die siebenundzwanzig (meist kurzen) Dokumente des Neuen Testaments. Es passiert nicht selten, dass interessierte Leser die Schriften des Josephus erwerben, weil sie wissen ZNT 6 (3. Jg. 2000) wollen, was Josephus zu sagen hat, dass sie dann aber auf ein undurchdringliches Gewirr von Einzelheiten stoßen, die man sich nicht merken kann, auf endlos wiederholte merkwürdige Namen, auf Beschreibungen längst vergangener Schlachten. Die dicken Bände taugen schließlich nur noch als Buchstützen oder Briefbeschwerer. Wie findet man in der Masse der Details das, was man braucht? Vor allem aber: Wenn man gefunden hat, was man braucht, wie soll man es verstehen bzw. davon »Gebrauch machen«? J osephus' Schriften werden von Kommentatoren des Neuen Testaments allgemein als eine Art Faktensammlung für christliche Zwecke benutzt. Dass ihnen dieser Ruf anhaftet, geht auf die Kirchenväter Origenes und Eusebius (3. und 4. Jh. n. Chr.) zurück, die irrtümlich annahmen, Josephus' blutrünstige Beschreibung vom Untergang Jerusalems unterstütze die christliche Anschauung von der Vernichtung der Juden wegen ihrer Ablehnung Jesu als Messias. Der angeblich prochristliche Charakter seiner Schriften wurde in der weltlichen Tradition festgeschrieben, in der Josephus' Werke neben dem Neuen Testament geradezu als »fünftes Evangelium« überliefert wurden. Dass er kein Christ war ein Umstand, den Origenes beklagt hatte ließ ihn als Lieferant von Fakten nur umso glaubwürdiger erscheinen. So kommt es, dass ein moderner Kommentator dort, wo im Neuen Testament etwa von Archelaos, vom Census unter Quirinius oder von den Sadduzäern die Rede ist, stets einige Fakten darüber aus Josephus anführen wird. Ein konkretes Beispiel soll zeigen, dass auch in der modernen Forschung das Modell »Faktensammlung für christliche Zwecke« ungebrochen in Geltung steht. Josephus' ausführliche Beschreibung der Essener in Bellum 2, 8,2-13 / 119-161 1 rückte mit der Entdeckung der Schriftrollen vom Toten Meer im Jahre 1947 plötzlich ins Zentrum des Interesses. In einem frühen Stadium der Forschung meinten einflussreiche Qumran-Speziali- 11 sten, dass die Verfasser dieser Schriftrollen niemand anderes als die von Philo und Plinius, besonders aber von Josephus beschriebenen Essener waren. Keiner fragte jedoch danach, wer Josephus' Essener wirklich waren und welche Funktion sie im Rahmen der josephischen Erzählung haben. Man entnahm der Darstellung bestimmte Details (Verbot der Ehe, des Spuckens oder der Defäkation am Sabbat, Reinheitsgebote, Gütergemeinschaft), überging aber Einzelheiten, die für Josephus selbst von weitaus größerer Bedeutung waren (Verehrung der Sonne, Verbreitung in allen judäischen Städten, griechische Ansichten über das Leben nach dem Tod, Pazifismus)2. Bis auf den heutigen Tag verwendet man bei der Interpretation von Josephus' Essenerdarstellung gewohnheitsmäßig größere Aufmerksamkeit auf die Qumranschriften als auf den narrativen Kontext dieser Darstellung 3• Ein verwandter und gleichermaßen problematischer Zugang windet den Text J osephus mit der Behauptung aus der Hand, er habe ihn als Ganzes aus einer anderen Quelle übernommen 4• Beiden Ansätzen ist gemeinsam, dass sie die kritische Betrachtung von der Notwendigkeit entbinden, Josephus' Essenerdarstellung im Kontext seiner eigenen Gedanken und innerhalb des größeren narrativen Zusammenhang zu interpretieren. Wäre dies geschehen, hätte man sie nicht so leichtfertig mit der Trägergruppe der Qumranschriften identifiziert. Hätte man sie besser verstanden, hätte man sie anders benutzt. 5 Dieser kurze Essay muss sich in seiner Zielsetzung natürlich beschränken. Meine These ist simpel in der Anlage, aber komplex in der Ausführung: Ich möchte zeigen, dass J osephus' Werke zwar tatsächlich äußerst wertvoll für das Studium des Neuen Testaments sind, dass ihr Wert jedoch nicht in ihrem Nutzen als Daten- und Faktensammlung der neutestamentlichen Zeitgeschichte liegt. Vielmehr ist Josephus ein intelligenter Autor mit (zumeist) ernsthaften Zielen, »ein vernunftbegabtes Wesen gleich uns selbst« 6• Über die Konkordanz oder ein Sachregister zu finden, was wir zu brauchen meinen, ist nur ein sehr vorläufiger erster Schritt. Die eigentliche Herausforderung besteht in dem Versuch zu verstehen, welche Stellung das jeweilige Thema in seinem literarischen Zusammenhang hat. Ohne diesen Versuch bleibt die Beschäftigung mit J osephus wertlos. Ein erstaunlicher Effekt der J osephusforschung 12 der letzten 150 Jahre ist, dass bisher kaum jemand eine Gesamtinterpretation oder wenigstens eine adäquate Gesamtgliederung der Hauptwerke des Josephus vorgelegt hat, geschweige denn eine Darstellung seines Denkens. In diesem Essay soll es hauptsächlich darum gehen, einen Überblick über seine Schriften zu skizzieren und anschließend einige Beispiele dafür zu vorzuführen, wie die josephische Darstellung unser Verständnis des Neuen Testaments erhellt. Ein Überblick über die Schriften des Josephus Das Bellum Wir beginnen mit der Darstellung des Jüdischen Krieges im sieben Bücher umfassenden Bellum J udaicum. Die ersten sechs Bücher hatJosephus zwischen 75 und 79 n. Chr. geschrieben und Buch 7 offenbar in der Zeit Titus' (79-81) oder Domitians (81-96) hinzugefügt. Über den Hintergrund der Entstehung dieses Werkes haben wir recht zuverlässige Informationen: Josephus hatte im Aufstand gegen Rom das Kommando über eine galiläische Truppe, ergab sich den Römern jedoch schon recht bald nach seinem Eintreffen in Galiläa im Juli 67. Als römischer Kriegsgefangener diente er als Mittelsmann, wurde später jedoch freigelassen (Ende 69) und im Jahre 71 nach Rom gebracht. Dort schrieb er zunächst eine Geschichte des Krieges auf Aramäisch für die Parther und die im Partherreich lebenden Juden. Dann verfasste er eine weitere Darstellung des Krieges in griechischer Sprache, die ein im Wesentlichen neues Werk darstellte. In Rom wurde er von den flavischen Kaisern gut behandelt, wenn auch nicht mit überdurchschnittlichen Privilegien ausgestattet (Vita 75 / 417-419). Er erhielt Wohnrecht im früheren Privathaus Vespasians, das römische Bürgerrecht, eine Pension, Steuererleichterung sowie Landbesitz im eroberten Judäa, doch weder er noch einer seiner Söhne erhielt eine der üblichen Auszeichnungen für besondere Verdienste oder eine besondere Ehrenstellung am Kaiserhof (Landbesitz in Italien, ritterlichen oder senatorischen Status). Rom war in den Jahren nach 70 n. Chr. für im Ausland lebende Judäer kein einfacher Lebens- ZNT 6 (3. Jg. 2000) Steve Mason Steve Mason studierte ancient judaism und Christian origins in Kanada, Jerusalem und Tübingen und lehrt zur Zeit an der York University / Toronto. Neben weitgefaßten Forschungen zum antiken Judentum, frühen Christentum und zur römischen Welt ist er international vor allem als Spezialist in der Josephus- Forschung bekannt. raum. Sie mussten spektakuläre Triumphzüge miterleben, in denen die Eroberung Jerusalems gefeiert wurde, dazu Münzprägungen, die dieses Ereignis festhielten (» Judaea capta! «), die Errichtung des mächtigen Titusbogens durch Domitian, der an Titus erinnerte, und die aggressive Eintreibung des fiscus]udaicus, einer Steuer, die für den Tempel des Jupiter Capitolinus in Rom verwendet wurde. Römische Autoren priesen die Niederschlagung des judäischen Aufstandes aus zwei Gründen: Erstens sah man in diesem Aufstand den Niederschlag des jüdischen Nationalcharakters: sie galten als arrogant, kriegerisch und der römischen Weltkultur gegenüber verschlossen. Zweitens sah man im römischen Sieg den Sieg der römischen Tugend über die jüdische Misanthropie, wie auch den Sieg der römischen Götter über den judäischen Gott, der sein Volk auf den Hass gegenüber anderen Göttern eingeschworen hatte 7• Dies war die Situation, in der Josephus das Bellum geschrieben hat. Obwohl dieses Werk in der Forschung weithin als prorömische Propaganda gelesen wurde, deuten die Hinweise, die das Buch selbst gibt, (viel mehr noch als seine persönliche Situation) in eine andere Richtung. Er nimmt für sich in Anspruch, den bereits bestehenden antijüdischen und prorömischen Darstellungen etwas entgegenzusetzen (Bell. 1,1 / 1-3; 3 / 7-9). Seine beiden Hauptthesen sind eine direkte Entgegnung auf ZNT 6 (3. Jg. 2000) die Anschuldigungen, dass die Judäer von den Göttern gehasst werden bzw. einem besiegten Gott dienen, und dass der Aufstand gegen Rom einmal mehr die Feindseligkeit der Judäer gegen das römische Imperium unter Beweis stellt. Josephus will erstens zeigen, dass der Aufstand in Wahrheit von ein paar machthungrigen Tyrannen ins Werk gesetzt wurde, denen es aufgrund verschiedener Ursachen gelungen war, das Volk seiner traditionellen und legitimen priesterlich-aristokratischen Führung abspenstig zu machen, mit den bekannten katastrophalen Folgen. Josephus argumentiert jedoch nicht einseitig, weil er der Inkompetenz einiger Statthalter insofern eine Mitschuld anlastet, als sie die Loyalität der Judäer auf eine harte Probe gestellt haben. J osephus schreckt nicht davor zurück, Beispiele römischer Grausamkeit und Falschheit namhaft zu machen. Doch auch angesichts solcher Provokationen, behauptet er, ging die alte jüdische Tradition stets den Weg des Friedens und der Loyalität gegenüber den herrschenden Mächten. Um seine Behauptung zu untermauern, führt J osephus detaillierte Beispiele für den jüdischen Nationalcharakter an: Die Hasmonäer wurden, nachdem sie einen bösartigen Unterdrücker (und alten Feind der Römer) vertrieben hatten, umgehend zu Bundesgenossen der Römer (Bell. 1,1,4 / 38). Herodes, dessen Freundschaft mit mehreren römischen Herrschern so berühmt wie folgenreich war, hatte er doch Privilegien und Steuererleichterungen für die Juden des ganzen Imperiums erwirkt. Die weltberühmten Essener, die ein beispielhaft friedfertiges und geordnetes Leben führen (Bell. 2, 8,2-13 / 119-161). Judäische Aristokraten und Oberpriester, die sich der Wankelmütigkeit der Massen entgegenstellten und mutig für den Frieden eintraten (vgl. Bell. 2,15,4-17,4 / 321-421). Zweitens können die Juden, wie Josephus in zahlreichen Reden, die er für seine Charaktere geschaffen hat, wiederholt zum Ausdruck bringt, die Herrschaft der verschiedenen Fremdmächte deshalb so gut ertragen, weil sie in dem festen Glauben leben, dass ihr Gott die Geschichte wachsam und umsichtig lenkt. In der Überzeugung, dass keine Nation ohne göttliche Hilfe Macht erhält (Bell. 2,8,7 / 140), sind sie bereit, Aufstieg und Fall der Weltmächte als Ausdruck des souveränen Handelns 13 Gottes zu akzeptieren (Bell. 2,16,4 / 365-387), und sie wissen, dass sie selbst nur dann jemals die Freiheit erlangen werden, wenn Gott sie ihnen gewährt. Eigenes militärisches Handeln wäre zum Scheitern verurteilt (Bell. 5,9,3-4 / 362-419). Diese Geschichtsauffassung stützt sich fraglos auf das Jeremia- und Danielbuch, und Josephus sieht sich selbst als einen Jeremia seiner Zeit (Bell. 5,9,4 / 392-393). Josephus hält also der Meinung, der judäische Gott wäre nun besiegt, entgegen, dass in Wahrheit auch die Römer diesem Gott dienen, in diesem Fall als Instrumente, um seinen heiligen Tempel von der Befleckung durch die Rebellen zu rem1gen. Zwar versäumt es J osephus nicht, Vespasian und Titus im Verlauf der Darstellung gelegentlich zu schmeicheln, doch hatte er in seiner Position kaum eine andere Wahl, und er reicht dabei bei weitem nicht an die Unterwürfigkeit eines Martial oder Statius heran. Josephus wollte mit dem Bellum nicht den Römern schmeicheln, sondern den Römern nach seinen eigenen Vorgaben für die Judäer, die den Krieg überlebt hatten, Anerkennung als gute Bürger des Reiches abgewinnen. Mit großer Aufmerksamkeit verfolgt er die Repressalien der Nachkriegszeit gegen Juden in verschiedenen Zentren des östlichen Mittelmeerraumes (Bell. 2,18,1-7 / 457-493) und ruft indirekt dazu auf, die Feindseligkeiten gegen seine Landsleute einzustellen. Josephus hat mit dem Bellum also nicht römische Propaganda vorgelegt, sondern eine Stellungnahme zugunsten seines Volkes. Wir wissen nicht, wer genau die ersten Leser (bzw. Hörer) des Bellum waren, doch scheint König Agrippa II., der an der Abfassung des Werkes beteiligt war (V 65 / 361-366), sein erster Patron gewesen zu sein. Die kaiserliche Familie erhielt Abschriften des fertigen Werkes und billigte es. Seine Botschaft von Frieden, bürgerlicher Ordnung und Vermeidung von Repressionen war auch in ihrem Interesse. Aber es war nicht ihre Darstellung des Krieges. Wie bei allen antiken Texten und Autoren sollten wir annehmen, dass Josephus mit einem geneigten oder wenigstens formbaren Publikum rechnete. Seine Gegner hätten kaum die Geduld aufgebracht, sein Geschichtswerk zu lesen. Sein Ziel war also nicht so sehr, feindlich gesonnene Menschen zu überzeugen, als vielmehr Sympathisanten Argumente an die Hand zu geben, damit sie im Gespräch mit Kritikern bestehen konnten. 14 Fragen wir nach der Makrostruktur des Bellum, so entdecken wir in der göttlichen Offenbarung an Josephus, die ihn davon abhält, sich das Leben zu nehmen, und die ihn in die Hände der Römer spielt, wo er in göttlichem Auftrag den Aufstieg Vespasians vorhersagt, den Dreh- und Angelpunkt des Werkes in seinem ursprünglichen Umfang von sechs Büchern. Um dieses Zentrum gruppiert J osephus folgende Teile: Herodes als Erbauer des Tempels (Buch 1) und auf der anderen Seite Titus als dessen Zerstörer (Buch 6); zunehmende innere Unruhen (Buch 2) und parallel dazu der tobende Bürgerkrieg, der mit der Zerstörung Jerusalems endet (Buch 5); das Bemühen des J osephus und der Oberpriester, der Situation Herr zu werden (Buch 3) und der rapide Niedergang, als die Rebellen die Hohenpriester vertreiben oder umbringen und den Tempel irreversibel schänden (Buch 4). Die Antiquitates Wir wenden uns nun dem einundzwanzigbändigen opus magnum des Josephus zu, den Antiquitates Judaicae und der Vita. Josephus hat dieses Werk in den letzten Jahren der Herrschaft Domitians (nach 93 n. Chr.) vollendet, in einer für römische Aristokraten schwierigen Zeit. Im Prolog behauptet J osephus, dass ihn einige an judäischer Kultur interessierte Heiden gedrängt hätten, eine Darstellung der judäischen Verfassung zu versuchen (Ant. 1,2-3 / 5-17). Diese» Lernwilligen« wurden angeführt von einem gewissen Epaphroditus, dessen Identität unsicher ist. Die zweite Hälfte des Prologs (Ant. 1,4 / 18-26) beginnt mit der Entfaltung der »philosophischen« Grundlagen der judäischen Verfassung. Josephus will zeigen, dass diese Verfassung in der ganzen Welt einzigartig ist: älter als alle anderen, philosophisch anspruchsvoller und, im Unterschied zu den Gesetzeswerken anderer Nationen, von umfassender Wirksamkeit in der Bestrafung des Lasters und in der Belohnung der Tugend. Die Antiquitates schalten sich deshalb in eine alte in Griechenland wie in Rom geführte Debatte über die beste Verfassung ein: Monarchie, Aristokratie oder Demokratie. Dies war zur Zeit des Josephus keine bloß theoretische, sondern eine höchst aktuelle und dringliche Frage. Die alte aristokratische Republik des römischen Stadtstaates war aus dem Gleichgewicht geraten, je schneller ZNT 6 (3. Jg. 2000) das römische Territorium im 2. Jh. v. Chr. wuchs. Im 1. Jh. v. Chr. waren mehrere römische Bürger als Diktatoren oder Mitglieder von Juntas zu großem Einfluss gelangt und hatten damit das republikanische Modell an seine Grenzen der Belastbarkeit gebracht. Seit Augustus bestand eine Art Kompromiss zwischen republikanischen Strukturen und der Exekutivgewalt des princeps, doch die Probleme dauerten an. Im Rom des Josephus, wo Domitian sich mit den sichtbaren Insignien des Königtums schmückte und sich viele Senatoren insgeheim nach den alten Verhältnissen zurücksehnten, waren Verfassungsfragen unter den Gebildeten ein vorrangiges Thema. WennJosephus die judäische Verfassung präsentiert, lässt er wenig Vorsicht walten, was wiederum auf ein positiv eingestelltes Publikum schließen lässt. Die Judäer, sagt er, haben eine senatorischpriesterliche Aristokratie, die älter und unverfälschter ist als jede andere und die eine Monarchie nicht duldet (Ant. 4,8,17 / 223; 6,3,3 / 36). Erbeginnt mit den philosophischen Ursprüngen, die in die Zeit der Schöpfung und der Patriarchen zurückreichen. Abraham eröffnet die Szene, indem er die Einzigkeit Gottes erschließt und den Ägyptern die Wissenschaften bringt, von wo aus sie nach Griechenland gelangten. Die judäische Verfassung selbst wird in Ant. 3-4 ausführlich vorgestellt als ein einzigartig gerechtes und zugleich menschliches Gesetzeswerk. Moses hat dieses Gesetzeswerk einem Priesterkollegium unter der Leitung des Hohenpriesters anvertraut, unter dessen Obhut es sich seitdem befindet. Die Priester bildeten einen Senat, den die Staatsoberhäupter stets um Rat fragten ein Aspekt politischen Lebens in Judäa, den J osephus in den biblischen Stoff einträgt. Obwohl die Verfassung die Aristokratie vorsah, haben die Judäer von Zeit zu Zeit mit der Monarchie experimentiert, doch hatte dies von Saul angefangen bis zu den letzten judäischen Königen immer desaströse Folgen. Selbst Herodes d. Gr. erscheint nun im Gegensatz zum Porträt des Bellum als unrechtmäßiger Monarch, der von den Gesetzen abgewichen ist (Ant. 14,15,2 / 403). Gegen Ende seines Hauptwerkes nimmt J osephus den Fall des Gaius Caligula zum Anlass, in eine für sein römisches Publikum unmittelbar relevante ausführliche Diskussion über Verfassungen und die Fallstricke der Monarchie einzutreten (Ant. 19,2,5-4,4 / 201-262). ZNT 6 (3. Jg. 2000) Obwohl die Monarchie nicht der Idealzustand war, konnte sie eine Zeitlang toleriert werden, wenn der Herrscher zugleich ein Philosoph war. So war Salomo ein bemerkenswerter Herrscher, weiser als alle anderen in seinem Verständnis der Natur und des Volkes, obwohl auch er in die Irre gegangen ist, als er seine persönlichen Wünsche über die Erfordernisse der Verfassung stellte. Tatsächlich lebten alle berühmten Gestalten der Judäer, ob militärische Führer, Könige, Propheten oder Priester, ein philosophisches Leben: Abraham, Joseph, Moses, Josua, David, Salomo, Jeremia und Daniel. Die Judäer sind, wie schon die ältesten griechischen Beobachter festgestellt haben, eine Nation von Philosophen, die den einen, unsichtbaren Gott verehren, die Entbehrungen gewohnt sind, einen einfachen Lebensstil schätzen und sich in Todesverachtung üben. Angesichts von Josephus' Wertschätzung der Aristokratie verwundert es nicht, dass er in den leicht zu erregenden Massen eine ständige Bedrohung der göttlichen Ordnung sieht. Der Mob unterstützte den berüchtigten Herrscher Gaius Caligula (Ant. 19,2,5 / 202). Josephus teilt die Befürchtungen römischer Autoren in Sachen Demokratie oder »Herrschaft der Massen« und hält das Volk für gänzlich abhängig von seinen verfassungsmäßigen (aristokratischen) Leitern, zugleich aber anfällig für Demagogen, die es mit Versprechungen schnellen Wohlstandes verführen. Er spricht vom »gemeinen Volk, das von Natur aus Gefallen daran hat, die Mächtigen schlecht zu machen, und sich in seiner Meinung von dem beeinflussen läßt, was irgend jemand gerade sagt« (Ant. 4,3,1 / 37). Die biblische Figur des Korach wird zum Inbegriff des Demagogen, der einen beispiellosen Aufruhr entfacht (4,2,1 / 12). Korach gehört wie der berühmte Catilina zur Aristokratie. Aus Neid auf Moses' Ehre verwendet er seine rhetorischen Fähigkeiten, um Mose und Aaron als Tyrannen zu brandmarken (4,2,2 / 14-19). Seine zur Schau getragene Sorge für das Volk verdeckt seine unverschämten Ambitionen (4,2,3 / 20). An späterer Stelle fällt Davids Sohn Absalom die Rolle des Demagogen zu (7,9,1 / 194-196). Noch später sind es die Pharisäer, die unter dem Deckmantel der Volksnähe ihren verderblichen Einfluss ausüben (13,10,5 / 288; 15,5 / 401; 18,1,1 / 9-10; 1,3 / 15; 1,4 / 17), und in der jüngsten Vergangenheit waren es die Umtriebe falscher Messiasse, die das Volk ins 15 Elend gestürzt haben (vgl. z.B. 18, 1,1 / 3-6; 20,8,5 / 160; 8,6 / 167. 172). Diese Darstellung der judäischen Verfassung im griechischen Gewand zerfällt in zwei Hälften mit derselben konzentrischen Struktur, die wir auch in Bellum 1-6 beobachtet haben. Den Angelpunkt bildet auch in den Antiquitates eine wichtige göttliche Offenbarung, nämlich die an den Exilspropheten Daniel. Ohne jede Kenntnis des tatsächlichen Entstehungszeit des Danielbuches, so später der Neuplatoniker Porphyrius (3. Jh. n. Chr.) wie auch die moderne Forschung, war Josephus tief beeindruckt davon, dass Daniel die Ereignisse unter Antiochus Epiphanes so lange vor ihrem Eintreten vorausgesagt hatte. Er nimmt dies als Beweis für seine grundlegende These: dass der judäische Gott nicht nur die gesamte Geschichte kontrolliert, sondern diese Geschichte auch in den heiligen Büchern der Judäer niedergelegt hat (Ant. 10,11,7 / 277-281). Um dieses Zentrum sind eine Reihe paralleler Stücke gruppiert. Um nur einige wenige Beispiele zu nennen: Die Bücher 1 und 20 spielen beide in Mesopotamien und handeln von wichtigen Konvertiten (Abraham und die königliche Familie von Adiabene). Die Bücher 3 und 4 entfalten die jüdische Verfassung, wogegen die Bücher 18 und 19 mehr oder weniger die Verfassungskrise Roms vorwegnehmen. Etwa in der Mitte beider Teile werden der erste (Buch 6) und letzte König Judäas (Bücher 14 bis 17) vorgestellt, nämlich Saul und Herodes d. Gr., die viele Gemeinsamkeiten aufweisen. König David, der Höhepunkt der frühen Monarchie (Buch 7) entspricht Johannes Hyrkan, dem herausragenden Vertreter der Hasmonäerdynastie (Buch 13 ). Unmittelbar an die Schlusspassagen der Antiquitates fügt J osephus ein weiteres Buch über seine eigene Lebensführung und Persönlichkeit an. Dieser Anhang soll die Qualität der judäischen Verfassung anhand seines eigenen Charakters (griech. ethos) als Autor illustrieren (Ant. 20,11,3 / 266; Vita 76 / 430). Den Vorgaben antiker Rhetorik folgend, stellt er seinen Charakter anhand edler Abstammung und einer herausragenden öffentlichen Karriere unter Beweis (Vita 2 / 12). Als Angehöriger der alten judäischen Priesteraristokratie und Kenner der philosophischen Grundlagen der Verfassung kann er auf eine glänzende, wenn auch nur kurze öffentliche Laufbahn in der Zeit verweisen, bevor er sich den Römern ergab. Personen in öf- 16 fentlicher Leitungsfunktion waren mit der Schwierigkeit vertraut, sich im Umgang mit den Massen freundlich zu zeigen und nicht dadurch Unruhen auszulösen, dass man durchblicken ließ, wo man einen unpopulären Kurs verfolgte 8, und Josephus hatte den nahezu unausführbaren Auftrag, das Volk auf einen Krieg vorzubereiten, den er selbst ablehnte (Vita 4-7 / 17-29). Dies zwang ihn dazu, ständig ein doppeltes Spiel zu spielen, nämlich das eine zu sagen und das andere zu denken. Gleichwohl erfuhr er göttliche Gunst und Bewahrung, dazu die Freundschaft wichtiger Protagonisten. Obwohl er von niedrig gesinnten, neidischen Gegnern (»Banditen«) angegriffen wurde, von bestechlichen Unruhestiftern Qohannes von Giskala, einer Jerusalemer Delegation, Justus von Tiberias), siegte Josephus schließlich, während sie alle kläglich scheiterten. Sein römisches Publikum darf sich also getrost auf seine Autorität als Repräsentant jener erhabenen judäischen Verfassung verlassen. Auch dieses kleine Buch hat eine sehr anschauliche konzentrische Struktur. Auch hier finden als Mittelpunkt eine göttliche Offenbarung, die die Mission des Josephus autorisiert (Vita 42 / 208- 211). Wiederum gruppiertJosephus um dieses Mittelstück eine Reihe komplementärer Episoden, die mit deutlichen Textsignalen aufeinander verweisen, so etwa zwei Berichte über Agitationen der Stadt Tiberias gegen seine Person, die er in beiden Fällen geschickt zu unterbinden wusste (Vita 16- 23 / 84-113; 53-58 / 271-304 ). Contra Apionem Josephus' letztes Werk in zwei Büchern ist traditionell unter dem Titel Contra Apionem bekannt, obwohl nur etwa ein Viertel dieser Schrift von dem alexandrinischen Grammatiker Apion handelt. Josephus selbst hat dieses Werk Über das Alter der Judäer o. ä. betitelt. Es handelt sich um den Versuch, die Hauptthesen der Antiquitates nochmals in einer systematischeren Form darzulegen: Das hohe Alter der Judäer, ihre edle Herkunft als Volk, die Reinheit ihrer priesterlichen Generationenfolge als Garant der Bewahrung ihrer Verfassung, der einzigartige moralische Standard dieser Verfassung, die Judäer als Vermittler der erhabensten Werte der Menschheit. Im Zuge dieser systematischen Darlegung widmet Josephus jedoch das Mittelstück l,24 / 219-2,15 / 145 der direkten Wider- ZNT 6 (3. Jg. 2000) Steve Mason ! }in Bedeutung des fl"wius Josephus für das Neue'Testament legung der bekannteren Gegner der Judäer, bei denen es sich durchweg um Alexandriner handelt. In der Forschung hat man aus dieser defensiven Argumentation traditionell und aus verständlichen Gründen geschlossen, dass Josephus Contra Apionem geschrieben hat, um die Verleumder des Judentums direkt zu bekämpfen. Dies ist jedoch unwahrscheinlich, weil diese Personen, wie wir schon im Blick auf das Bellum festgestellt haben, eine solche Schrift gar nicht gelesen hätten. Nimmt man außerdem die Widerlegungen aus der Feder des Josephus einmal genauer unter die Lupe, so stellt man fest, dass sie einen entschiedenen Gegner wohl kaum überzeugt hätten. Er verwendet zahlreiche Figuren rhetorischer Argumentation, etwa das verkürzte Zitat, das den Gegner lächerlich machen soll. Mit einem Wort: er »predigt dem Chor«. Auch Contra Apionem setzt noch jene Gruppe um Epaphroditus voraus, die schon seine früheren Werke gefördert hat (1,1 / 1; 2,41 / 296). Es handelt sich um Nichtjuden, die bereits ein gewissen Interesse an judäischer Kultur mitbringen. DaJosephus auch in der Vita literarische Gegner attackiert, ist die Forschung zu dem Urteil gelangt, dass auch diese Schrift der Widerlegung von Angriffen auf J osephus diente. Doch lässt sich aus den Attacken nicht der Schluss ziehen, J osephus habe damit gerechnet, dass seine Gegner die Schrift lasen. Nach der Logik antiker Rhetorik war es immer von Vorteil, wenn man jemanden hatte bevorzugt einen einfachen Gegner, der beim Publikum ohnehin schon einen schweren Stand hatte-, den man angreifen und als dunkle Folie verwenden konnte, um die eignen Tugenden besonders wirksam herausstellen zu können. Contra Apionem jedenfalls, Josephus' letztes uns bekanntes Werk, endet mit der eindrucksvollen Präsentation der judäischen Verfassung und ihres Einflusses auf die ganze Welt. In diesem Schlussstück fasst J osephus die Themen seiner früheren Werke für jene Gruppe interessierter Heiden in Rom nochmals prägnant zusammen, nicht ohne erneut die Aufnahme von Übertrittswilligen zu thematisieren (Contra Apionem 2,29 / 209-210; 37 / 261; 40 / 282). Der Rhetoriker Josephus Wir haben nun einen ersten Einblick in die schriftstellerischen Ziele des J osephus gewonnen. Es ge- ZNT 6 (3. Jg. 2000) hört jedoch zu den Merkwürdigkeiten eines großen Teils der antiken Literatur etwas, was für unser in der Tradition der europäischen Aufklärung stehendes Denken nur schwer nachvollziehbar ist-, dass ein Autor, so ernsthaft er auch gewesen sein mag, sein Thema gewissermaßen immer mit einem Augenzwinkern abgehandelt hat. Ich meine den Einfluss der Rhetorik als des wichtigsten Elements antiker Bildung auf alle Arten des Redens und des Schreibens. Ein römischer Redner hat auch dann, wenn er bei einem schwerwiegenden Fall die Position der Anklage oder der Verteidigung innehatte, eine kunstvolle, ja fast verspielte Sprache verwendet. Dies galt auch für Geschichtsschreiber. Antike Historiographen verwendeten für ihre Darstellung bestimmte rhetorische Kunstgriffe, um dem Publikum zu gefallen. Zusätzlich zu der beobachteten symmetrischen Struktur seiner Werke ist der spielerische Umgang des Josephus mit seinem Stoff beispielsweise an seinem Gebrauch von Namensformen abzulesen, die für antike Leser stets eine konkrete Bedeutung hatten. So stellt er ironisch fest (Vita 9 / 34), dass die Fraktion in Tiberias, die Rom die Treue (pistis) aufgekündigt hatte, von einem Mann namens Pistos (»treu«) und seinem Sohn Justus (»gerecht«) angeführt wurde. An anderer Stellte ändert er den griechischen Namen Noaros in das lateinische »Varus« (»verbogen, verdreht«), um einen Kontrast zu dem gerechten und fairen Aequus Modius zu erzielen, dessen Name, zumal in der Umstellung in Vita 180 (Modius Aequus), soviel wie »rechtes Maß« bedeutet. Der Wechsel von Noaros (Bellum) zu Varus (Vita) ist auch insofern ein Beispiel für rhetorische Verspieltheit, als Studenten der Rhetorik darin ausgebildet wurden, jedes beliebige Ereignis in unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Versionen darzustellen, mit ganz anderen Details und anders gelagerter Aussageabsicht. Wo Josephus Material aus einem früheren Werk in ein späteres übernimmt (Bell. 1-2 / Ant. 14-20; B 2-3 / Vita), verändert er es in der neuen Version meist grundlegend. Die ehrenwerten Versuche der Forschung, eine hinter diesen Änderung stehende, unseren Maßstäben entsprechende Logik aufzuspüren, waren alles andere als erfolgreich. Offenbar hat J osephus Spaß daran, selbst die unbedeutendsten Details zu ändern: Datierungen, Orte, Zahlen, Personennamen, Ereignisabfolgen. Und dennoch verweist er regelmäßig auf 17 die ältere, abweichende Darstellung! Allem Anschein nach genießt er die Freiheit der Gestaltung, die man ihm als Schriftsteller zubilligte und auch von ihm erwartete. Das Urteil der Forschung über Josephus' Werke war seit jeher von der traditionellen Meinung über sein Leben bestimmt, dass er nämlich ein Verräter und Spitzel war. Dementsprechend hielt man auch seine Schriften für propagandistisch und opportunistisch, oder aber man erblickte darin schamvolle Versuche des Autors, sich selbst zu rehabilitieren. Doch sollten wir uns an das halten, was wir haben, seine Werke, und nur mit großer Vorsicht Aussagen über sein Leben machen. Er gibt in Bellum und Vita sehr unterschiedliche Darstellungen seines Lebens, wie wir gesehen haben. Was wir für Schuldeingeständnisse halten, sind in Wahrheit Beispiele für seinen Trick- und Einfallsreichtum, die Josephus voller Stolz vorführt. Wie Homers Odysseus lügt er das Blaue vom Himmel herunter, um seine Ziele zu erreichen. Wenn wir ihm zugestehen, dass er uns nur das gesagt hat, was er uns wirklich sagen wollte, und zwar um sich als Überlebenden zu präsentieren, der seine Feinde überlistet hat, dann sollten wir das, was er uns über sein Doppelspiel und seine Täuschungsmanöver erzählt, nicht als belastendes Material werten. Vieles davon hat so vielleicht überhaupt nicht stattgefunden. Es geht ihm nur um Punktegewinn im Spiel der antiken Rhetorik. Über die tatsächlichen Ereignisse seines Lebens wissen wir nur sehr wenig. Josephus und das Neue Testament Es dürfte nun klar geworden sein, dass Josephus' Werke alles andere sind als eine Faktensammlung für christliche Zwecke. »Für christliche Zwecke« taugen sie schon deshalb nicht, weil J osephus und die neutestamentlichen Autoren ungeachtet ihrer Zeitgenossenschaft einander doch sehr fremd sind. Josephus gehört in Judäa wie in Rom in den Kreis einer kleinen, mächtigen Elite, die die hungerleidende und ungebildete große Masse kontrolliert. Er ist ein stolzer Vertreter gerade jener Priesteraristokratie, denen sich Jesus im Tempel entgegenstellt, und die auch die neutestamentlichen Autoren angreifen. Verglichen mit den Mächtigen rangieren Jesus und seine frühen Nachfolger am entgegengesetzten Ende der sozialen Skala. Die unterschiedli- 18 Josephus: Gott Hoherpriester Priesterliche Aristokratie {Philosophen; z.B. Essener, Johannes d~rTäufer) Die judäische Bevölkerung Demagogen Messiasse, Aufrührer, Pharisäer {und vielleicht Jesus) Neutestamentliche Autoren: Gott Satan Jesus korrupte Priesterschaft Pharisäer Die judäische Bevölkerung chen Wertesysteme des Josephus und der neutestamentlichen Autoren können äußerst vereinfacht dargestellt werden (vgl. obige Graphik). Und was die »Faktensammlung« betrifft, so müssen wir schlicht feststellen, dass wir etwas derartiges bei J osephus nicht finden. Vielmehr erzählt er aus bestimmten Gründen eine bestimmte Geschichte. Wie bei jedem anderen erzählenden Text der Antike können wir über das tatsächliche Geschehen und die Motive der Beteiligten nur mehr oder weniger wahrscheinliche Mutmaßungen anstellen. Wenn Josephus nun aber als Faktensammlung nicht zu gebrauchen ist, wozu ist er dann zu gebrauchen? Im Blick auf die Erforschung des Neuen Testaments möchte ich sechs Aspekte nennen. Erstens: überall dort, wo sich Josephus über Personen, Orte, Ereignisse und Institutionen äußert, die auch im Neuen Testament eine Rolle spie- ZNT 6 (3. Jg. 2000) len, sollten wir bei J osephus keine fertig aufbereiteten Informationen suchen, sondern seine eigenen, um ihrer selbst lesenswerten Geschichten. Wir können dabei noch nicht einmal fragen: »Was sagt J osephus über XY «, weil er sich in den meisten Fällen von einem Werk zum nächsten ganz unterschiedlich äußert. Seine Bewertung zahlreicher Herrscher, Parteien und Ereignisse variiert zum Teil erheblich. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als diese Geschichten als Geschichten zu lesen, und die Frage, was wirklich geschehen ist, unter Berücksichtigung alles weiteren epigraphischen, numismatischen und sonstigen Materials separat zu stellen. Zwar hatte Josephus einen weitaus besseren Zugang zu wichtigem Quellenmaterial als die Autoren des Neuen Testaments, doch reproduziert er diese Quellen nicht einfach, sondern er verwendet sie im Blick auf seine eigenen erzählerischen Absichten. Deshalb kann auf keine seiner Äußerungen vor einer solchen umfassenden Untersuchung ein besonderes Gewicht gelegt werden. Um es positiv auszudrücken: Wir sollten J osephus aus dem Grund lesen, aus dem wir auch das Neue Testament lesen: Aufgrund unserer Wertschätzung dieser Schriften. Zweitens: Wenn wir Josephus' Werke als ernsthafte (und zugleich auch unterhaltsame) Kompositionen eines intelligenten Autors lesen, dann werden wir immer wieder feststellen, dass die Sicht des Josephus der der neutestamentlichen Autoren widerspricht. Dies wird im Falle des lukanischen Doppelwerks, das den josephischen Schriften literarisch am nächsten steht, besonders deutlich. Wie Josephus schreibt auch dieser Autor für einen interessierten Patron (Theophilus), dem er die Entwicklung der Gruppe, der er zuneigt, in einer geordneten Geschichtsdarstellung nahe bringen will. Im Laufe seiner Darstellung bezieht sich der Autor auf eine Reihe von Schlüsselfiguren und -ereignissen, die auch bei Josephus eine Rolle spielen: der Zensus unter Quirinius, Pontius Pilatus, die Pharisäer, Sadduzäer und Tempelautoritäten, die Burg Antonia, der Rebell Judas, die Aufrührer Theudas und der ägyptische Prophet, die Könige Agrippa 1. und II. und Berenike, sowie Felix und Festus. Wenn wir von Josephus jedoch nicht bloßes Faktenmaterial haben wollen, sondern nach der Geschichte fragen, die er zu erzählen hat, dann stellen wir fest, dass seine Darstellung der christlichen in vieler Hinsicht widerspricht. So kommen die Pha- ZNT 6 (3. Jg. 2000) risäer bei Lukas viel besser weg als bei Josephus: Sie sind diejenigen, die am ehesten in der Lage wären, das orientierungslose Volk Gottes zu führen; sie sind »nicht fern vom Reich Gottes«, nehmen Jesus gastfreundlich auf, erkennen ihn als Lehrer an, obwohl sie an seinem Verhalten gelegentlich Anstoß nehmen. Sie verlieren ihre Offenheit auch dann nicht, als er sie scharf kritisiert, sie hätten keine Antworten auf die wahren Bedürfnisse des Volkes. Dagegen sind die Priester und Tempeloberen bei Lukas ein hoffnungsloser Fall. Ganz anders bei Josephus: Für ihn sind die Priester die einzige legitime Autorität, und Probleme gibt es erst, als ihnen Populisten wie die Pharisäer diese Position streitig machen. Dieser Kontrast zwischen Josephus und einem neutestamentlichen Autor sollte genug Diskussionsstoff bieten. Es geht nicht darum, dass die Pharisäer so oder so waren, sondern dass unterschiedliche Gruppen sie so oder so wahrnehmen. Drittens: Josephus und die neutestamentlichen Autoren stehen gemeinsam auf dem Boden der jüdischen Schriften. Schriftzitate sind im Neuen Testament autoritative Argumentationsgrundlage, undJosephus verwendet mehr als ein Drittel seiner dreißig Bücher (Ant. 1-11) auf eine Paraphrase der Bibel. Auch hier sind die Perspektiven denkbar verschieden. Besonders bei Paulus wird die Schrift häufig zitiert, um zu zeigen, warum es nicht länger notwendig ist, ihre Gesetze (etwa Beschneidung und Speisegebote) zu befolgen. Josephus dagegen liebt das judäische Gesetz, und er will zeigen, dass es für jedermann gilt. Erhellend ist, wie Paulus Abraham und Mose weit voneinander abrücken will (Gal 3,15-20), sie bei Josephus dagegen in direkter Kontinuität stehen (Ant. 1,6,5 / 148-2,16,6 / 349). Viertens: Gerade weilJosephus und die neutestamentlichen Autoren in ihren Grundansichten so differieren, sind stellenweise Übereinstimmungen historisch um so wertvoller. So lassen sich etwa zwischen Josephus und dem lukanischen Doppelwerk bei allen konzeptionellen Unterschieden folgende Übereinstimmungen feststellen: Die judäische Nation wurde hauptsächlich von einem priesterlicharistokratischen Jerusalemer Rat regiert, wenngleich auch die Pharisäer einen gewissen Einfluss hatten. Die Sadduzäer waren eine kleine Partei innerhalb dieser Führungselite, und die Pharisäer waren eine Art philosophische Schule, eine Gruppe von Lehrern ohne traditionelle Macht oder Autorität, aber mit beträchtlichem Rückhalt im Volk. 19 Fünftens: Josephus gibt uns Einblick in bestimmte antike Sozialstrukturen, die uns heute nicht mehr geläufig sind, etwa die Relation zwischen einem »Patron«, einer einflussreichen Person, die ihre Untergebenen zu versorgen hatte, und seinen »Klienten«, die die Machtposition des Patrons durch ihre Loyalität festigten. Diese Relationen wurden oft in den weicheren Begriffen familiärer und freundschaftlicher Beziehungen ausgedrückt (Vater, Mutter, Sohn, Tochter). So zeigt sich Paulus in seinen Briefen oft verstimmt, weil sich Dritte zwischen ihn uns seine Gefolgsleute gestellt und ihm diese abspenstig gemacht haben. Er reagiert dann traurig oder ärgerlich und erinnert an seine Rolle als Erbauer, Vater, Pflanzer, Hebamme, usw. (II Kor 3,10-15; 4,14-21; II Kor 10-13; Phil 3,2-6; Gal 1,6-10; 4,12-20). Josephus' Vita gibt einen lebendigen Einblick in die Dynamik solcher Beziehungen. Er hat, so behauptet er, ein offizielles Mandat, in Galiläa Truppen zu rekrutieren, die ihm zur Loyalität verpflichtet sind, doch seine Konkurrenten versuchen, diese Gruppen auf ihre Seite zu bringen. Große Teile der Vita zeigen Josephus in einer Paulus vergleichbaren Situation, in der er die Zuneigung seiner Gefolgsleute zurückzugewinnen versucht. Schließlich: Wenn selbst Josephus, der angeblich so nüchterne Historiograph, seine Darstellung in solch hohem Maße rhetorisch angereichert hat, sollten wir Vergleichbares nicht auch in den neutestamentlichen Schriften erwarten, die noch weit mehr darauf angelegt sind, eine bestimmte Wirkung bei ihrem Publikum zu erzielen? Vieles von dem, was wir bisher noch als Äußerungen der so grundlegenden wie komplexen paulinischen Theologie lesen, lässt sich möglicherweise viel angemessener als Teil einer kunstvollen rhetorischen Strategie beschreiben. Was die Evangelien betrifft, so widerstrebt es der redaktionskritischen Betrachtung bisher, unterschiedliche Versionen derselben Ereignisse als Ausdruck eines rhetorischen Spiels zu verstehen. Wenn Matthäus und Lukas Chronologie, Namen und Orte abändern, so nehmen wir meist an, dass der spätere Autor das, was er vorfand, aus ideologischen oder theologischen Gründen abänderte. In vielen Fällen ist dies eine plausible Erklärung, doch sollte uns das Beispiel des Josephus zu denken geben. Einern antiken Autor gereichte es nicht zur Ehre, wenn er ein Ereignis im exakten Wortlaut 20 seiner Quelle wiedergab. Also entwickelte man ein gewisses Vergnügen daran, Einzelheiten abzuändern. So wie J osephus gern dasselbe Ereignis in unterschiedlichen, ja widersprüchlichen Versionen präsentiert, so existiert auch die Überlieferung von der Berufung des Paulus in mindestens zwei verschiedenen Fassungen, und zwar innerhalb Apostelgeschichte, so dass hier keine ideologischen Gründe vorliegen können. Wir müssen daraus den Schluss ziehen, dass die Verfasser entweder nachlässig waren, oder, viel wahrscheinlicher, dass sie die betreffende Erzählung einfach in einer neuen Variante darbieten wollten. Für moralisierenden Gebrauch von Namen im Neuen Testament finden wir ein schönes Beispiel in I Kor 1,19, wo Paulus Jes 29,14 zitiert: »Vernichten (apolo) werde ich die Weisheit der Weisen und die Einsicht der Einsichtigen werde ich verwerfen«. Dies scheint ein scharfer und im rhetorischen Sinne doch spielerischer Seitenhieb gegen Apollos zu sein, da er offensichtlich derjenige ist, der auf Paulus' Fundament weiterbaut (I Kor 3,16. 10. 12- 15). Paulus scheint auch sonst gern mit Wortformen zu spielen, obwohl er jegliche rhetorische Fähigkeit ableugnet. Es ist gut möglich, dass die gewundene Argumentation des Römerbriefes, die zahllose tiefgründige Dissertationen in (theo )logischen Begriffen zu beschreiben versucht haben, sich viel besser als rhetorisches Phänomen erschließt9. Ich habe zu zeigen versucht, dass Josephus in der Tat für die, die das Neue Testament lesen, von großer Bedeutung ist, doch nicht als prochristliche Faktensammlung, sondern als echte Herausforderung, als ein Autor, der es verdient, dass wir ihn zu seinen eigenen Bedingungen ernst nehmen. Wenn wir ihn aus der Schublade befreien, in die wir ihn gesteckt haben, wird er unsere Lektüre des Neuen Testaments in ungeahnter Weise bereichern. Anmerkungen 1 Vor der modernen Paragrafenzählung (hier: Bellum 2,119-161) wird die alte Kapitel-/ Abschnittszählung angegeben (hier: Bellum 2,8,2-13 ), die noch der drei bändigen Werkausgabe von H. Clementz zu Grunde liegt (Flavius Josephus, Geschichte des Jüdischen Krieges, Wiesbaden o.J.; Des Flavius Josephus Jüdische Altertümer, Wiesbaden 8. Auflage 1989; Flavius Josephus. Kleinere Schriften, Wiesbaden 2. Auflage 1995. Das im drit- ZNT 6 (3. Jg. 2000) Steve Masoo Die Bedeutung des f: iavi•.1s Joseph"s fiir das Neue Tll! s: tamont ten Band enthaltene 4. Makkabäerbuch stammt nicht von Josephus). Clementz' Übersetzung ist veraltet und vielfach unzuverlässig bis irreführend. Es ist jedoch (nicht zuletzt wegen des niedrigen Preises) im deutschen Sprachraum noch immer die am weitesten verbreitete Ausgabe. 2 Vgl. etwa F.M. Cross, The Ancient Library of Qumran, New York 1961, 70-106; A. Dupont-Sommer, The Essene Writings form Qumran, Cleveland / New York 1961, 21-61; M. Black, The Serails and Christian Origins: Studies in the Jewish Background of the New Testament, New York 1956, 25-47. 3 Vgl. etwa T.S. Beall, Josephus' Description of the Essenes Illustrated by the Dead Sea Scrolls, Cambridge 1988; E.P. Sanders, Judaism: Practise and Belief 63 BCE - 66 CE, London/ Philadelphia 1992, 342-379; L.L. Grabbe, Judaism from Cyrus to Hadrian, Bd. 2, Minneapolis 1992, 494-495; R. Gray, Prophetie Ligures in late Second Temple Jewish Palestine: the evidence from Josephus, New York 1993, 81-82. 4 M. Black, The Account of the Essenes in Hypolytus. In: W.D. Davies; D. Daube (Hgg.), The Background of the New Testament and its Eschatology, Cambridge 1956, 172-181; M. Smith, The Description of the Essenes in Josephus and the Philosophoumena, HUCA 35 (1958), 273-293; R. Bergmeier, Die Essener-Berichte des Flavius Josephus: Quellenstudien zu den Essenertexten im Werk des jüdischen Historiographen, Kampen 1993. 5 Vgl. M.D. Goodman, A Note on the Qumran Sectarians, the Essenes andJosephus,JJS 46 (1995), 161-166; S. Mason, What Josephus says about the Essenes in his Judean War. In: S.G. Wilson / M. Desjardins (Hgg.), Text and Artifact in the Religions of Mediterranean Antiquity, FS P. Richardson, Waterloo 2000, 434-467. 6 So treffend R. Laqueur, Der jüdische Historiker Flavius Josephus, Gießen 1920, 231. 7 Obwohl die Schriften, die Josephus zu bekämpfen behauptet, nicht erhalten sind, finden wir deutliche Spuren dieser Position in Schriften späterer römischer Autoren: Tacitus, Historien 5,1-13; Philostratos, Apollonius von Tyana 5,33; Kelsos, logos alethes, bei Origenes, Contra Celsum 5,41; Minucius Felix, Octavius 10,33. 8 Vgl. Plutarchs Traktat Praecepta Gerendae Reipublicae (Mor. 798-825). 9 Vgl. dazu Steve Mason, »For I am Not Ashamed of the Gospel«: The Gospel and the First Readers of Romans. In: L.A. Jervis / P. Richardson (Hgg.), Gospel in Paul: Studies in Corinthians, Galatians and Romans for Richard N. Longenecker, Sheffield 1994, 254-287. ZNT 6 (3. Jg. 2000) Vorschau auf das nächste Heft Thema Wunder Neues Testament aktuell Stefan Alkier Wen wundert was? Einblicke in die Wunderauslegung von der Aufklärung bis zur Gegenwart Einzelbeitröge M elissa Au bin Beobachtungen zur Magie im Neuen Testament Peter Busch War Jesus ein Magier? Ralph Brucker Wunder der Apostel Wunder im frühen Christentum - Wirklichkeit oder Propaganda? Rainer Riesner versus Michael Wohlers Herm"net1tik und Vermitllun~J Bernd Kollmann Die Heilung des blinden Bartimäus (Mk 10,46-52)ein Wunder für Grundschulkinder Heft 7 erscheint im April 2001 21 TANZ - Texte und Arbeiten zum Neutestamentlichen Zeitalter Markus Sasse Der Menschensohn im Evangelium nach Johannes TANZ 35, 2000, XII, 376 Seiten, div. Tab., DM 86,-/ ÖS 628,-/ SFr 77,- ISBN 3-7720-2827-6 Das Johannesevangelium ist von einer christologischen Intention geleitet - Ziel ist die theologische Integration von ausgestoßenen Judenchristen in eine johanneische Gemeinde. Die Menschensohnchristologie beantwortet die Fragen, die für die theologisch orientierungslos gewordene Gemeinde am wichtigsten sind: "Ist Jesus der Messias? " und "Warum mußte Jesus sterben? ". Diese beiden Fragen vermag keine andere christologische Konzeption im Johannesevangelium zusammen zu beantworten. Nach einer Einführung in die Kommunikationssituation des Johannesevangeliums bietet Markus Sasses Untersuchung ausführliche Auslegungen der Jesus-reden, in denen der Menschensohnbegriff eine wichtige Rolle spielt. Neben einer traditionsgeschichtlichen Herleitung der verwendeten Motive geht es v.a. um die Bestimmung der argumentativen Funktion des Menschensohnbegriffs in der Jesus- Biographie des Johannesevangeliums. Holger Sonntag NOMOI IilTHP Zur politischen Theologie des Gesetzes bei Paulus und im antiken Kontext TANZ 34, 2000, XIV, 337 Seiten, DM 96,-/ ÖS 701,-/ SFr 86,- ISBN 3- 7720-2826-8 Wie wird ein Mensch gerecht, wie kann er ein sicheres, kultiviert-menschliches, kurz: lebenswertes Leben führen und für den jüdisch-christlichen Bereich: über den Tod hinaus bewahren? In dieser philologischthematisch aufgebauten Untersuchung wird herausgearbeitet, daß nach gemein-antiker Auffassung das Gesetz eine zentrale Rolle bei der Erlangung und Bewahrung von Gerechtigkeit und gutem Leben spielt. Die paulinische Kritik an diesem Konsens paganer, jüdischer und christlicher Autoren verdankt sich der Offenbarung des einen Evangeliums Jesu Christi. Denn dieses stellt als verbindliche Äußerung des einen Gottes nicht nur den Weg zur Beseitigung vergangener und gegenwärtiger Schuld dar; darüber hinaus ist es auch die Weisung für richtiges Handeln gegenüber Gott und den Mitmenschen. Auf Grund dieses Doppelcharakters steht das Evangelium des Paulus aber im Konflikt mit allen anderen Normen, seien sie jüdischer oder paganer Provemenz. Gabriele Faßbeck Der Tempel der Christen Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zur Aufnahme des Tempelkonzepts im frühen Christentum TANZ 33, 2000, XII, 317 Seiten, DM 96,-/ ÖS 701,-/ SFr 86,- ISBN 3-7720-2825-X In der neutestamentlichen Forschung war die Beschäftigung mit Tempel und Kult des Frühjudentums lange von Vorbehalten geprägt, die eher die theologischen Präferenzen der Wissenschaftler widerspiegelten als die historischen Sachverhalte in der Zeit des frühen Christentums. Neuere Arbeiten haben die Bedeutung des Tempels auch für die ersten christlichen Generationen erkannt. Diese Untersuchung zeigt auf, wie interessiert frühchristliche Autoren an der Übernahme tempeltheologischer Konzepte waren und welche Wege sie beschritten, um diese für ihre eigenen Aussageabsichten fruchtbar zu machen. A. Francke Verlag Tübingen und Basel Hannah M. Cotton Recht und Wirtschaft. Zur Stellung der jüdischen Frau nach den Papyri aus der judäischen Wüste 1 In einem zu Recht berühmten Aufsatz aus dem Jahre 1959 hat Claire Preaux, gestützt auf Angaben von Papyri aus Ägypten, in meisterhafter Weise verschiedene Aspekte der Stellung der Frau in hellenistischer Zeit skizziert 2• Seither haben viele allgemeine und spezialisierte Studien unsere Kenntnisse dieser Thematik beträchtlich erweitert und vertieft. Die Erforschung der Papyri aus der Judäischen Wüste jedoch steckt noch in den Anfängen: Der Hauptteil des Materials wurde erst vor kurzem veröffentlicht, und einiges ist bis heute noch nicht zugänglich. Doch kann man auch hier diejenigen Methoden mit Erfolg einsetzen, die für Papyri aus Ägypten entwickelt worden sind. In der vorliegenden, wohl ersten Untersuchung zum Status von Frauen aufgrund von Angaben aus Papyri der judäischen Wüste wird versucht, dem Aufbau der bahnbrechenden Studie von Claire Preaux zu folgen und, wie sie es getan hat, den Schwerpunkt auf die rechtlichen Aspekte dieses Themas zu legen. Dies entspricht der Natur des zur Verfügung stehenden Materials, denn die Mehrheit der Urkunden aus der judäischen Wüste besteht aus juristischen Texten. Das Material Zunächst ist eine knappe historische Einführung zu den Urkunden aus der judäischen Wüste notwendig. Den historischen Kontext vieler Urkunden bilden die beiden Jüdischen Aufstände gegen Rom, der sogenannte Große Aufstand von 66 bis 70 n.Chr. und der Bar Kochba-Aufstand der Jahre 132 bis 135 / 136 n.Chr. Während dieser Revolten wurden zahlreiche Juden aus ihrer Heimat in den Provinzen Judaea und Arabia vertrieben und dazu gezwungen, ihre persönlichen Dokumente, und hier vor allem solche mit rechtlicher Bedeutung wie Kauf-, Pacht-, Leihverträge, Ehe- und Scheidungsurkunden, in den Höhlen bei N ahal Hever, Wadi Murabba'at, Nahal Se'elim, Nahal Mishmar, Ketef Jericho, Wadi Sdeir (Nahal David), Wadi Ghuweir und andernorts in Sicherheit zu bringen. ZNT 6 (3. Jg. 2000) Die Texte decken somit eine Zeitspanne von weniger als hundert Jahren ab. In geographischer Hinsicht stammen die in den Dokumenten erwähnten Personen aus so verstreuten Orten wie En Gedi am Westufer des Toten Meeres, Kesalon und Hardona in der Nähe von Jerusalem, Jerusalem selbst, Kfar Barucha, Yaqim (oder Yaqum) und Aristobulias in der Region südöstlich von Hebron, Beth-Bassi bei Hemdion, Galoda im östlichen und Batharda im südlichen Samarien, Mazra'a und Mahoza bzw. Mahoz 'Aglatain am Toten Meer in der Provinz Arabia und schließlich Sophathe [... ] bei Livias in Peräa, das, obwohl in Transjordanien gelegen, damals zur Provinz Judaea gehörte. Die weit überwiegende Mehrzahl der Dokumente, gleich ob Briefe oder Rechtsurkunden, wurde entweder von Juden verfaßt oder bezog Juden mit ein. Dadurch ermöglichen uns die Texte bisher unerreichte Einblicke in die jüdische Gesellschaft in den ländlichen Regionen der römischen Provinzen Judaea und Arabia zur Zeit ihrer Abfassung. In den Dokumenten werden kaum Stadtbewohner erwähnt, aber zu dieser Zeit lebte die Mehrheit der Juden dieser Provinzen ohnehin in Dörfern. Damit verleihen diese Papyri wie auch weitere von anderen Orten im römischen Nahen Osten der sonst stummen Mehrheit der Bevölkerung eine vernehmbare Stimme. Es besteht kein Zweifel, daß die Juden beider Provinzen zu einer einzigen jüdischen Gesellschaft gehörten, deren Zusammengehörigkeit durch Provinzgrenzen nicht eingeschränkt wurde, wie man leicht aus deren Eheschließungen, Grundstücksgeschäften und Aufenthaltsorten ersehen kann. Die Dokumente sind in jüdischem Aramäisch, in Hebräisch (während der beiden Aufstände), in nabatäischem Aramäisch oder Griechisch verfaßt. Oft sind zwei oder mehr Sprachen in einem Archiv vertreten, zum Teil sogar im selben Dokument verwendetein Merkmal, das auch in anderen Dokumenten des römischen Nahen Ostens begegnet wie zum Beispiel in kürzlich veröffentlichten Papyri vom mittleren Euphrat. Die Benutzung der griechischen Sprache läßt jedoch nicht automatisch auf 23 hellenisierte oder halb-hellenisierte Juden schließen eine Tatsache, die durch deren aramäische Unterschriften und subscriptiones bestätigt wird und durch die sehr fehlerhafte Version der griechischen Sprache, die die Verfasser zuweilen benutzen. Hierdurch wird deutlich, daß die Dokumente aus der judäischen Wüste ein authentisches Bild der gesamten jüdischen Gesellschaft dieser Zeit und ihrer Rechtsregeln vermitteln und nicht Randgruppen oder Sekten repräsentieren. Die oben gegebenen geographischen Hinweise zeigen, daß die in den Dokumenten erwähnten Personen aus dicht besiedelten jüdischen Gebieten stammen, einige von ihnen sogar aus dem Kernland der religiösen und nationalen Bewegungen, aus denen vor allem die beiden Aufstände hervorgingen. Angesichts dieser Tatsachen legt sich ein Vergleich der in den Papyri belegten jüdischen Rechtspraxis und Gesellschaftstruktur mit zeitgenössischen und späteren rabbinischen Rechtstraditionen aus Palästina (vor allem die Mischna, redigiert am Ende des 2. Jh. n. Chr.) fast von selbst nahe. Man braucht freilich nicht zu betonen, daß keinesfalls alle Aspekte des Alltags von Frauen durch die Dokumente abgedeckt werden; auch kann kein erschöpfendes Gesetzescorpus aus ihnen zusammengestellt werden. Dennoch bin ich der Meinung, daß das, was wir aus ihnen erfahren können, authentisch und repräsentativ ist. Ferner ist kein besseres Kriterium vorstellbar, die geschichtliche Wirklichkeit hinter den rabbinischen Quellen zu überprüfen und den Einfluß der Rabbinen auf das Rechtsleben damaliger Juden zu erfassen. Besonders wichtig in dieser Hinsicht sind zwei Sammlungen von Dokumenten aus Nahal Hever: das Archiv der Babatha und das Archiv der Salome Komaise, Tochter des Levi. Beide Archive handeln von Rechtsangelegenheiten jüdischer Familien aus Mahoza / Mahoz 'Aglatain, einem Dorf am Südufer des Toten Meeres, das zunächst zum Königreich der Nabatäer gehörte und 106 n. Chr. Teil der römischen Provinz Arabia wurde. Zusätzlich zu diesen beiden Corpora besitzen wir einzelne Dokumente, die Frauen gehörten oder solche erwähnen. Manche davon wurden in Wadi Murabba'at gefunden, andere sind Teil der sogenannten Seyal- Sammlung und stammen daher sehr wahrscheinlich wie die beiden eben erwähnten Archive auch aus Nahal Hever. Diese Texte beziehen sich eben- 24 falls auf jüdische Frauen aus der Provinz Judaea und vielleicht auch aus der Provinz Arabia. Wirtschaftliche Tätigkeit Schon ein flüchtiger Blick in die Papyri eröffnet die überraschende Erkenntnis (vielleicht aufgrund eigener latenter Vorurteile? ), wie nachhaltig und unabhängig die in den Texten erwähnten Frauen am wirtschaftlichen Leben ihrer Zeit teilgenommen haben. Diese Frauen, gleich ob sie verheiratet sind oder nicht, besitzen Immobilien (Häuser, Höfe und Dattelpflanzungen), über die sie frei verfügen konnten. Manche dieser Immobilien wurden ihnen durch einen Schenkungsakt von Eltern oder Ehegatten übereignet. So berichten Dokumente, die im nabatäischen Königreich verfaßt wurden, davon, daß Frauen selbständig Grundstücke verkauften. Die derzeit noch unveröffentlichten Texte P. Yadin 2 und 3 aus dem Jahr 99 n.Chr., geschrieben in nabatäischem Aramäisch, handeln vom Verkauf eines Dattelhains durch eine N abatäerin (Abi' adan, Tochter von Aftah, Tochter des Manigros) zunächst an einen Mann namens Archelaos, Sohn des Abd 'amiyu, und einen Monat später an Shim'on, der wahrscheinlich mit Shim'on, Sohn des Menachem, Babathas Vater zu identifizieren ist. Eine weitere unpublizierte Verkaufsurkunde in Nabatäisch wahrscheinlich aus derselben Zeit gehört zur sogenannten Seyal-Sammlung: Eine Jüdin namens Shalom verkauft Land an einen Nabatäer namens Sha'ad-Allahi. Zwei weitere Dokumente erwähnen Frauen, die zusammen mit ihren Männern Grundstücke verkaufen. In zwei Verkaufsurkunden, einer in Aramäisch und einer in Hebräisch, erklärt eine Ehefrau ihren Verzicht auf alle Ansprüche auf gerade verkauftes Eigentum, vermutlich weil dies die Rückgabe ihrer ketubba oder ihrer Mitgift garantierte. Eine Frau konnte, auch wenn sie schon verheiratet war, außerdem mittels Schenkung über ihr Eigentum verfügen, wie etwa im Jahre 129 Salome Grapte (oder Gropte) zugunsten ihrer Tochter Salome Komaise, der sie eine Dattelpflanzung und die Hälfte eines Hofes in Mahoz 'Aglatain vermachte. Die Erwähnung ihres Gatten als Vormund (epitropos) legt nahe, daß Salome Grapte verheiratet war, als die Urkunde abgefaßt wurde. ZNT 6 (3.Jg. 2000) HannaM. Cotton Dr. Hanna M. Cotton, geb. 1948, wurde 1977 in Oxford promoviert und lehrt zur Zeit als Professor of Classics an der Hebräischen Universität Jerusalem. Ihr Forschungsinteresse gilt der Papyrologie und Epigraphik des antiken Palästina, vor allem der Publikation der Schriftdokumente aus Masada und der Judäischen Wüste. Seit 1991 ist sie Mitherausgeberin der Scripta Classica Israelica. Zur Zeit wirkt sie im Editorial Board des Corpus Inscriptionum Iudaeae / Palaestinae, einer international angelegten wissenschaftlichen Edition aller antiken Inschriften aus Israel und Palästina, mit. cotton@h2.hum.huji.ac.il Eine Landdeklaration, die zum Zweck der Steuerfestsetzung an die römischen Behörden eingereicht wurde, setzt ebenfalls volle Eigentumsrechte voraus. Auch im Bereich der Steuererklärungen waren Frauen aktiv: Obwohl wir nicht völlig sicher sein können, ob Babatha bereits mit Juda, Sohn des Elazar Khthusion verheiratet war, als sie ihre Landdeklaration anläßlich des Zensus in Arabia im Jahr 127 abgab, legt seine Anwesenheit als Vormund doch sehr nahe, daß dies der Fall war. Dennoch steht nicht infrage, daß Babatha das volle Eigentumsrecht über die von ihr deklarierten vier Dattelhaine besaß: >Ich deklariere, was ich besitze" läßt sie in das Dokument schreiben. Im Unterschied etwa zu Sammouos, Sohn des Shim'on (in DJD XXVII, Nr. 62), gibt Babatha in der Steuererklärung nicht ihr Alter zur Zeit des Zensus an, was bedeuten könnte, daß Frauen in Arabia, wie auch in Ägypten, nicht der individuellen Kopfsteuer unterworfen waren. Ihren Landbesitz mußten sie aber gleichwohl deklarieren. Geldverleih stellt einen weiteren Beleg für wirtschaftliche Aktivität von Frauen dar. Im Februar 128, kurz bevor seine Tochter Shelamzion heiratet, ZNT 6 (3. Jg. 2000) borgt Juda, Sohn des Elazar Khthusion (Babathas zweiter Mann) von Babatha dreihundert Denare (P. Yadin 17), wohl weil Juda im Moment nicht über genügend flüssiges Geld verfügt. Nach Judas Tod beschlagnahmt Babatha gemäß der Bedingungen der Bürgschaft, die ihr das Recht gab, überall Ansprüche auf Judas Besitz durchzusetzen, drei Dattelhaine, die ihr Schuldner in Mahoza besaß >anstatt meiner Mitgift und einer Schuld, (P. Yadin 21; diese Wendung ist möglicherweise zu verstehen im Sinn von >anstatt der Schuld auf meine Mitgift,). Wie auch immer, Babatha behauptet in P. Yadin 26, daß ihr verstorbener Gatte die Dattelhaine in ihrem Namen registriert hatte, während die Vertreter der Neffen ihres verstorbenen Mannes ihr vorwarfen, daß sie diese zu Unrecht zurückgehalten habe (P. Yadin 25). Der Streit wurde nie geschlichtet, aber Babathas Forderung, die Grundstücke als Sicherheit für eine Schuld oder als Hypothek auf ihre Mitgift in ihrem Namen registrieren zu lassen, scheint rechtlich nur allzu plausibel. In Dokumenten aus Ägypten ist belegt, daß Mitgift durch Grundstücke abgesichert wurde, und es gibt Indizien dafür, daß man dies auch andernorts praktizierte. Babatha legte ferner große wirtschaftliche Eigeninitiative und beachtlichen Einfallsreichtum (freilich letzten Endes ohne Erfolg) nach dem Tod ihres Mannes in ihren Streitigkeiten mit den von Amts wegen bestellten Vormündern ihres nun vaterlosen Sohnes an den Tag. In P. Yadin 15 beklagt sie, daß die Vormünder ihres Sohnes sein Geld schlecht angelegt hätten, wodurch sein Unterhalt nicht dem Lebensstil entspräche, den der Sohn gewohnt sei (oder wie er seinem sozialen Status angemessen sei) und der es ihm ermöglichen würde, in Wohlstand aufzuwachsen und dankbar zu sein gegenüber >diesen höchst segensreichen Zeiten der Statthalterschaft des Julius Julianus<, wie in Babathas Schreiben an den römischen Gouverneur von Arabia die Wortformeln lauten; solche Formeln kennen wir auch aus der kaiserlichen Propaganda Roms. Sie selbst, so sagt sie, könne jedoch 18 % Gewinn im Jahr erwirtschaften, falls man sie mit der Verwaltung des Vermögens des Jungen betrauen würde. Sie sei sogar bereit, so schreibt sie den Vormündern, ihr eigenes Vermögen als Sicherheit zu stellen, >da ich Eigentum besitze, das im Wert dem Geld des (Halb-)Waisen entspricht, das ihr habt. Daher habe ich bereits vorher Geld beiseite gelegt, damit ihr entscheiden mögt, mir das Geld 25 anzuvertrauen gegen die Sicherheit einer Hypothek auf mein eigenes Vermögen< (P. Yadin 15). In dieser Angelegenheit wie auch bei dem Versuch, die Vormunde wegen Untreue bei Gericht anzuzeigen und dadurch ihres Amtes zu entheben, muß Babatha den Rat von Leuten gesucht haben, die im römischen Recht bewandert waren, da man zeigen kann, daß ihr Vorgehen dem entsprach, was nach späteren römischen Quellen Müttern eines unter Vormundschaft stehenden Kindes an Rechtsmitteln zur Verfügung stand. Weder Babatha noch ihre Kontrahenten hegten irgendwelche Scheu, beim römischen Statthalter direkt vorstellig zu werden, die jeweiligen Gegner zu jeder Zeit und an jedem Ort bei ihm vorzuladen und einen Rechtsstreit über Dinge anzuzetteln, die zuweilen trivial erscheinen, wie zum Beispiel darüber, daß Dinge aus dem Haus von Juda, Sohn des Eleazar Khthusion nach dessen Tod durch Miriam, Tochter des Beianos, seiner anderen oder früheren Ehefrau, unter dem wütenden Protest der Babatha entfernt wurden. Vor dem Hintergrund, daß verheiratete Frauen frei über ihren Besitz verfügten, lassen sich auch die unterschiedlichen Stufen von Kontrolle näher betrachten, die nach jüdischem Gesetz der Ehemann über das Eigentum seiner Gattin ausüben konnte. Die Rabbinen waren uneins in der Frage, ob der Ehemann ein Recht auch an dem Besitz hat, der nicht im Ehevertrag (ketubba) aufgeführt war, also entweder am Besitz der Frau vor ihrer Heirat oder daran, was sie nach der Heirat erworben hatte. Andererseits geht Eigentum, das im Ehevertrag aufgeführt ist, während der Ehe in die Kontrolle des Ehemannes über. Dies implizieren auch die Papyri. Jedoch kann man feststellen, daß die Mitgift oder ketubba nach den Dokumenten, gleich ob sie in Griechisch oder Aramäisch verfaßt wurden, ausschließlich in Wertsachen (Schmuck und Kleider) oder Geldbeträgen besteht; Grundbesitz wird nie als Teil der Mitgift erwähnt. Es war also kaum Zufall, daß Juda, Sohn des Elazar, nachdem er seine Tochter Shelamzion an Juda Cimber verheiratet hatte (P. Yadin 18), weitere elf Tage wartete, bis er ihr in einer Schenkungsurkunde (P. Yadin 19) die Hälfte eines Hofes in En Gedi vermachte. Eine derartige Absicherung der Ansprüche von Töchtern auf den Besitz ihrer Eltern hat bemerkenswerte Parallelen in ägyptischen Papyri. Die jüdische Praxis scheint sich davon in nichts unterschieden zu haben. 26 Die rechtliche Kompetenz von Frauen Ökonomische Aktivität führt natürlicherweise zur Frage nach den rechtlichen Kompetenzen, und auch der Bildung von Frauen insgesamt. Die einzige im gesellschaftlichen Sinn gebildete Frau, der wir in den Papyri begegnen, ist eine gewisse Julia Crispina. In ihrer Funktion als Vormund (epitropos) der Waisen des J eshu' a, Sohn des Eleazar, setzt sie ihre persönliche Erklärung (eine subscriptio) unter ein Schreiben in griechischer Sprache, während der männliche Vormund die seine auf Aramäisch verfaßt (P. Yadin 20). Babatha hingegen >kannte ihre Buchstaben nicht< (konnte also nicht schreiben) und ließ ihre subscriptio daher von einem Dritten verfassen (P. Yadin 15). Babathas Unterschrift auf der Rückseite ihrer Landdeklaration gleicht der einer Person, die angestrengt und mechanisch die Handschrift eines anderen nachahmt. Analphabetismus mag auch in solchen Fällen anzunehmen zu sein, wo dies nicht explizit als Grund für die Heranziehung eines anderen für die subscriptio genannt ist. Ein hübsches Beispiel ist der Fall der Shelamzion, Tochter des Jehosef, die in der subscriptio zu ihrer Widerrufsurkunde sagt, daß sie, obgleich persönlich anwesend, ,die Hand des Matat, Sohn des Shimeon, geliehen habe, der geschrieben hat, was sie sagte< (XHev / Se ar 13). Derjenige, der die subscriptio leistete, erfüllte lediglich eine eher technische Funktion: er unterzeichnete für eine Person, die (gleich ob Mann oder Frau) rechtlich gesehen dazu in der Lage war, die jedoch aufgrund fehlender Bildung oder anderer Gründe nicht selbst schreiben konnte, wenn eine eigenhändige subscriptio und/ oder Unterschrift erforderlich war, um ein Dokument rechtsgültig zu machen. Heirat Unter den Papyri aus der judäischen Wüste befinden sich neun Heiratsverträge, fünf in Griechisch und vier in Aramäisch. Zusätzlich zu den Ehen, die Gegenstand dieser Dokumente sind, erfahren wir aus anderen Texten von Dutzenden weiterer Ehepaare. Aufgrund der Eigennamen scheint es, daß zumindest die Juden, die in den Dokumenten erwähnt werden, untereinander geheiratet haben. Ich betone diese Tatsache bewußt, um sie mit meiner ZNT 6 (3. Jg. 2000) Behauptung zu kontrastieren, daß den griechisch abgefaßten Heiratsverträgen aus der judäischen Wüste jeglicher Zug fehlt, der sie (abgesehen von der Eigennamen der beteiligten Personen) als dezidiert jüdisch kennzeichnen würde. Alle derartigen Dokumente entsprechen in Geist und Ausdrucksformen zeitgenössischen griechischen Heiratsverträgen aus Ägypten. Die aramäischen Heiratsverträge hingegen verraten uns, daß der rabbinische Ehevertrag, die ketubba, zwar in der Tat bereits zur Abfassungszeit der Papyri seine spezifische Form ausgeprägt hatte, jedoch noch nicht normativ geworden war, da auch nicht ein einziger der griechisch abgefaßten Heiratsverträge als Übersetzung einer aramäischen ketubba gelten kann. Darüber hinaus fehlt ihnen die aus mindestens zwei der aramäischen Verträge bekannte Einleitungsformel, wonach der Bräutigam der Braut erklärt, >daß du meine Frau sein sollst gemäß dem Gesetz des Moses und der Juden< (Mur 20, Zeile 3; vgl. P. Yadin 10 Zeile 5). Diese Formel ordnet die Ehe in einen strikt jüdischen Rahmen ein und erlegt ihr die Bestimmungen jüdischen Rechts auf. In den griechischen Eheverträgen bestätigt der Bräutigam den Empfang einer Mitgift von Seiten der Braut (prosphora, proix), während er in den aramäischen Urkunden die Schuld des ketubba-Ge! des ihr gegenüber anerkennt. Unter der Wendung >das Geld deiner ketubba< (Mur 21; P. Yadin 10) versteht man gewöhnlich den fiktiven mohar, d.h. das rabbinische >Scheidungsgeld<, das der Frau zusteht, wenn die Ehe aufgelöst wird, und das den biblischen mohar ersetzt, der eine direkte Zahlung, eine Braut- Gabe an den Vater der Ehefrau, darstellte. Wenn dies so ist, dann wurde das >Geld der ketubba< in derselben Weise gehandhabt wie die Mitgift in paganem Bereich: Das ganze Vermögen des Ehemannes unterliegt der Haftung, um die Rückzahlung dieses Geldes bei Auflösung der Ehe zu gewährleisten, und es wird festgelegt, daß der Sohn der Frau dieses Geldvermögen erbt, falls diese vor ihrem Gatten sterben sollte. Freilich findet sich nichts in den aramäischen Kontrakten, das uns zur Annahme zwingt, mit dem >Geld deiner ketubba< sei der fiktive rabbinische mohar gemeint und nicht die übliche Mitgift der auf Griechisch verfaßten Eheverträge. Die Bestätigung des Empfangs der Mitgift bietet in vier Eheverträgen den Anlaß, die Pflicht zum Unterhalt der Frau verbindlich zuzusichern, und zweimal auch die der zukünftigen Kinder (P. Yadin ZNT 6 (3. Jg. 2000) Hamiah M. Cotton Recht und Wirtschaft 10 und 18; DJD XXVII, Nr. 65 und 69). Die Erklärung, die Ehefrau mit Nahrung und Kleidung zu versorgen, ist ein regelmäßiges Element in griechischen Heiratsurkunden aus Ägypten und folgt wie auch hier oft unmittelbar nach der Empfangsbestätigung für die Mitgift. Andererseits existieren nur indirekte Hinweise dafür, daß die Verpflichtung, für die Frau zu sorgen, Bestandteil rabbinischer Verträge der frühen mischnischen Periode war. In drei griechisch verfaßten Eheverträgen aus der judäischen Wüste folgt nach der Unterhaltsformel eine Erklärung, die den gesamten Besitz des Ehemannes als Sicherheit für die Versorgung der Ehefrau der Haftung unterwirft. Keine derartige Wendung findet sich meines Wissens in griechischen Heiratsverträgen aus Ägypten, wo generell erklärt wird, daß der Ehemann nach seinen Möglichkeiten für alles Nötige sorgen wird, und wo die Haftungserklärung wie im Fall der anderen Heiratsurkunden aus der judäischen Wüste lediglich dafür verwendet wird, die Rückzahlung der Mitgift im Fall einer Scheidung oder des Todes des Ehemannes zu garantieren. Jedoch kann man in demotischen Eheverträgen aus Ägypten lesen, daß >der Ehemann wiederholt alles, was er besitzt und erwerben wird, als Sicherheit verspricht, um den Verpflichtungen nachzukommen, die er durch Vertrag hinsichtlich einer Heirat auf sich genommen hat, 3• Alle eben diskutierten Praktiken und Verpflichtungen finden sich in der Tat ständig in Dutzenden griechischer Eheverträge aus Ägypten und aus anderen Teilen des römischen Reiches und sind daher sicherlich nicht nur auf jüdische Eheverträge beschränkt. Somit gab es noch keinen einheitlichen, normativen oder autoritativen Heiratsvertrag, an den sich Juden zu halten hatten. Auch sollten wir nicht annehmen, daß für jeden erhaltenen griechisch verfaßten Ehevertrag eine gleichsam >koschere< jüdisch-aramäische Begleit-ketubba verloren gegangen ist. Vielmehr fühlten sich die Juden, die diese Urkunden abfaßten, ganz offensichtlich frei, diejenige Rechtsform zu wählen, die ihnen am meisten zusagte. Der vielleicht bemerkenswerteste Beleg für den erstaunlichen Grad an Integration der jüdischen Gesellschaft (und damit auch der Frauen) in ihre Umwelt sind Hinweise darauf, daß sie die >Rechtsform< der >ungeschriebenen Ehe< (agraphos gamos) kannte; dies ergibt sich klar aus DJD XXVII. Nr. 27 65 (= P. Yadin 37) trotz des schlechten Erhaltungszustandes des Papyrus. Die plausibelste Erklärung für verschiedene Wendungen in diesem Dokument (bekannt von ähnlichen ägyptischen Verträgen) ist der Sachverhalt, daß Salome Komaise, Tochter des Levi, und Jeshu'a, Sohn des Menachem aus Peräa, bereits einige Zeit in einer Art >wilder Ehe< gelebt hatten, bevor das Dokument abgefaßt worden ist. Die >ungeschriebene Ehe< bezeichnet, wie ihr Name impliziert, eine Ehe ohne schriftlichen Vertrag, deren rechtliche Gültigkeit sich freilich nicht von der ,geschriebenen< Ehe (engraphos gamos) unterschied. Was auch immer der Ursprung dieser Einrichtung gewesen sein mag, sicher ist, daß sie auch außerhalb Ägyptens existiert hat: P. Dura 31 aus dem Jahr 204 n. Chr. belegt ihre Existenz im Dorf Ossa im damaligen Coelesyrien. Wiederverheiratung, Polygamie und Witwenschaft Die Dokumente aus der judäischen Wüste werfen auch einige Schlaglichter auf die Umstände von Wiederheirat, Polygamie und Witwenschaft. Eine zweite Ehe ist im Fall dreier Frauen in den erwähnten Archiven belegt, nämlich bei Babatha, Salome Komaise und Salome Grapte, ihrer Mutter. Papyrus Mur 115 stellt einen Vertrag über eine zweite Ehe dar, in der der Bräutigam seiner früheren Frau eine erneute Mitgift zusichert, ein Merkmal, das auch in ägyptischen Papyri belegt ist. Das jüdische Gesetz erlaubte einem Mann, seine geschiedene Frau erneut zu heiraten, solange diese in der Zwischenzeit keine andere Ehe eingegangen war. Freilich können wir aufgrund dieses einen Dokuments nicht entscheiden, ob eine derartige Regel von der gesamten damaligen jüdischen Gesellschaft anerkannt war. Aufgrund von P. Yadin 26 und 34 behauptete der Herausgeber Naftali Lewis, daß zu jener Zeit von Juden in Arabia Polygamie praktiziert wurde. Denn in diesen Dokumenten taucht eine weitere Frau von Babathas zweitem Mann Juda, Sohn des Eleazar Khthusion, nach dessen Tod auf, und beide Frauen bezeichnen Juda als >meinen und deinen toten Gatten<. Lewis' Interpretation des Textes wurde von Ranon Katzoff mit der Behauptung infrage gestellt, 28 die jüdische Gesellschaft im 2. Jh. n. Chr. sei prinzipiell monogam gewesen. Adi Schremer wies auf die wichtige Tatsache hin, daß im Falle einer polygamen (oder, wie er sich ausdrückt, polygynen) Gesellschaft nicht jedes ihrer männlichen Mitglieder mit mehr als einer Frau verheiratet sein muß, was wirtschaftlich ohnehin nur schwer zu bewerkstelligen wäre. Polygamie kann selbst in einer Gesellschaft, die sie an sich akzeptiert, in der Realität kaum praktiziert worden sein. Fünf Heiratsverträge (Mur 20, 21, 30, 116 und P. Yadin 10) belegen, daß die Witwe das Recht hatte, im Haus ihres verstorbenen Mannes zu bleiben und aus seinem Vermögen versorgt zu werden (während ihre Mitgift/ ketubba unangetastet blieb), entweder solange, wie sie es wünschte, oder bis die Erben ihr die Mitgift/ ketubba zurückgezahlt hatten. Die rabbinischen Quellen führten die erstere Sitte auf die Leute aus Jerusalem zurück, denen die Galiläer gefolgt seien, während letztere Praxis derjenigen in Judäa entsprochen haben soll (mKet 4,12). Ein Schenkungsvertrag eines Ehemannes sichert seiner Frau im Falle seines Todes zu, die verheiratete Tochter mit einer Hütte auf dem Grundbesitz ihrer Eltern für den Fall zu versorgen, daß sie verwitwet ist und solange sie nicht wieder heiratetso wie es in den rabbinischen Quellen überliefert ist (tKet 11,6f). Scheidung Auch zum Thema Scheidung erfahren wir aus den Papyri wertvolle Einzelheiten. Papyrus Mur 19 aus dem Jahr 79 oder 111 n. Chr. (veröffentlicht 1961) enthält eine Scheidungsurkunde eines Mannes für seine Frau, die zu einem großen Teil den Wortlaut rabbinischer Scheidungsurkunden widerspiegelt. Eine grundsätzliche Abweichung von rabbinischem Scheidungsrecht ist nun jedoch durch DJD XXVII, Nr. 13 des Jahres 134 oder 135 n. Chr. ebenfalls belegt. Diese Urkunde ist keine Empfangsbestätigung für eine ketubba oder einen Scheidebrief, wie manche meinten, sondern ein Widerruf aller Ansprüche seitens einer Ehefrau, die, in striktem Gegensatz zu allem rabbinischen Recht, ihrem Ehemann die Scheidung ausgesprochen hatte. Die dabei verwendeten Formulierungen erinnern stark an den entscheidenden Teil rabbinischer Scheidungsurkunden, wie sie in aramäi- ZNT 6 (3. Jg. 2000) scher Sprache aus mGit 9,3 und in Mur 119 bekannt sind, nur hier aber vom Mann ausgesprochen werden. Die Verwendung dieser sogenannten >rabbinischen< Formeln in einer von einer Frau erteilten Scheidungsurkunde, kombiniert mit der Tatsache, daß die Scheidungsurkunde selbst nur beiläufig als Hintergrund des Verzichts der Ehefrau auf alle rechtlichen Ansprüche erwähnt wird, muß zu der Überzeugung führen, daß eine routinemäßige, allgemein anerkannte Praxis im Hintergrund von DJD XXVII, Nr. 13 steht. Mit der rabbinischen Halacha ist dies natürlich nicht zu vereinbaren, die die Auflösung einer Ehe zum alleinigen Vorrecht des Mannes erklärt. Man kann im Anschluß an Bernadette Brooten behaupten (was auch lange vor ihr bereits Joseph Modrzejewski gesagt hatte)4, daß neben den bei den Rabbinen belegten Rechtsvorschriften andere Sitten existierten, die uns bei Josephus, in den Papyri aus Elephantine, in samaritanischen und karäischen Quellen, wie auch in der berühmten neutestamentlichen Passage Mk 10,llf. überliefert sind. Vor allem über letzteren Text ist so viel geschrieben worden, daß eine Wiederholung der einschlägigen Argumente hier nicht nötig ist. Entweder handelten die in diesen Zeugnissen genannten Juden offen gegen die Halacha, oder die Halacha war zu dieser Zeit eben noch nicht normativ geworden. Es ist freilich nicht unwichtig zu sehen, daß die Scheidungsformel in mGit 9,3 5 eine aramäische Formel inmitten eines hebräischen Textes darstellt; sie ist wahrscheinlich viel älter als der Rest des Textes eine Formel also, die im Umlauf war, bevor die Halacha die Auflösung einer Ehe zum ausschließlichen Vorrecht des Mannes erklärte. Eine gewisse Bestätigung für diesen älteren rechtlichen Zustand mag in einem nahezu gleichzeitigen Heiratsvertrag zwischen zwei Juden aus En Gedi vorliegen, die in Mahoz 'Aglatain in der römischen Provinz Arabia heirateten, und gemäß dem festgelegt war, daß die Frau zu jeder Zeit die Rückgabe ihrer Mitgift verlangen und dadurch vermutlich gleich auch die Scheidung einleiten konnte (P. Yadin 18 aus dem Jahr 128 n. Chr.). Aber bedeutet die Rückforderung der Mitgift automatisch auch die Auflösung der Ehe durch die Frau? Falls die Antwort auf diese Frage positiv ist, mag man dennoch fragen, warum dies in dem Dokument nicht auch explizit ausgesprochen wird. Ich gebe zu, daß ich für dieses Problem noch keine Lösung habe. ZNT 6 (3. Jg. 2000) Fazit Für ein knappes Jahrhundert, etwa zwischen 50 und 135 / 136 n. Chr., hebt sich der Vorhang, und wir sind in der Lage zu beobachten, wie jüdische Frauen in dem Rechtssystem lebten und agierten, das damals in den römischen Provinzen Judaea und Arabia in Kraft war. Der Schwerpunkt auf den rechtlichen Aspekten in diesem Aufsatz wurde durch die Natur der diskutierten Quellen bestimmt und deren Inhalt erlaubte es, Frauen in den Mittelpunkt zu stellen. Dennoch betreffen die Konsequenzen, die man aus diesen Texten ziehen kann, die jüdische Gesellschaft als Ganzes. Die Urkunden aus der judäischen Wüste weisen eine außerordentliche Ähnlichkeit mit ihren ägyptischen und anderen nahöstlichen Gegenstücken auf und offenbaren dadurch einen bemerkenswerten Grad an Integration der gesamten jüdischen Gesellschaft in ihre Umwelt. Die Zeugnisse aus der judäischen Wüste dokumentieren ferner eine Rechtswelt, die noch nicht verfestigt war, sondern sich noch in einem Übergangszustand befand: verschiedene rechtliche Systeme erscheinen, die sich manchmal, jedoch nicht immer, mit dem überschneiden, was später als rabbinisches Recht greifbar wird. Die Unterschiede, die wir zwischen dem Recht der Papyri und dem rabbinischen Recht feststellen konnten, scheinen mir zu beweisen, daß das, was im Lauf der Zeit normatives jüdisches Recht werden sollte, zur Zeit der Abfassung der Papyri diesen Stand eben noch nicht erreicht hatte. Schließlich sollte deutlich geworden sein, daß man die damalige jüdische Gesellschaft mit Recht als integralen Teil einer nahöstlichen Zivilisation betrachten kann, die zwar Laufe der Jahrhunderte als ganze dem Einfluß des Hellenismus ausgesetzt war, dabei aber dennoch ihre eigene kulturelle Vielschichtigkeit bewahrt hatte. Nach 135 / 136 n. Chr. versiegt der Fluß der Urkunden aus der judäischen Wüste und der Vorhang fällt wieder. Für die Zeit nach dem Bar Kochba-Aufstand sind wir fast ausschließlich auf die rabbinischen Rechtsquellen angewiesen. Die Frage drängt sich auf, ob die Gesellschaft, die uns in diesen Quellen gegenübertritt, und ob der Rechtskodex, nach dem sie sich ausgerichtet haben soll, jemals in Wirklichkeit existierte. Ist es wirklich zutreffend, daß sich das Judentum nach dem Bar Kochba-Aufstand in die Innerlichkeit zurückzog 29 und der Austausch mit der Umwelt aufhörte? Und wie erging es dann den Frauen in einer Gesellschaft, die das rabbinische Recht angeblich als bindend ansah? Viele und weit ausgreifende Fragen drängen sich auf. Ihre Erforschung jedoch liegt außerhalb der Grenzen dieses Aufsatzes. Anmerkungen 1 Dieser Beitrag wurde ursprünglich während eines Kolloquiums in Brüssel in englischer Sprache vorgetragen. Für die Übersetzung dieser verkürzten Version des Artikels, bei dem auch auf Anmerkungen verzichtet wurde, bin ich Herrn Dr. Jürgen Zangenberg zu großem Dank verpflichtet. - Anm. des Übersetzers: Das Kürzel »P.« bedeutet »Papyrus«, »DJD« steht für die Reihe »Discoveries in the Judaean Desert«, deren einzelne Bände mit römischen Zahlen versehen sind. 2 C. Preaux, Le Statut de la femme a l' epoque hellenistique principalement en Egypte, Rec. de la Societe Jean Bodin 9 (1959), 127-175. 3 P.W. Pestman, Marriage and Matrimonial Property in Ancient Egypt, Leiden 1961, 115 in deutscher Übersetzung; vgl. dort auch 115-117 und 133-136. 4 B. Brooten, Konnten Frauen im alten Judentum die Scheidung betreiben? , EvTh 43 (1983), 65-80. J. Modrzejewski, Les juifs et le droit hellenistique: divorce et egalite des epoux (CPJud. 144), Iura 12 (1961), 162-193. 5 Die Mischnastelle lautet in der Übersetzung von Lazarus Goldschmidt: »Der wesentliche Text des Scheidebriefes ist: du bist nun jedermann erlaubt. R. Jehuda sagt, [man schreibe] auch: dies diene dir von mir als Trennungsschrift, Entlassungsbrief und Scheidungsurkunde, um zu gehen und jedermann nach Belieben zu heiraten«. Auswahl wichtiger Fachliteratur 1. Publikationen der Dokumente aus der Judäischen Wüste: P. Benoit, J.T. Milik, R. de Vaux (Hgg.), Les Grottes de Murabba'at, Oxford 1961 (Discoveries in the Judaean Desert II) (zitiert unter dem Kürzel: Mur oder P. Murabba'at). H.M. Cotton, A. Yardeni (Hgg.), Aramaic, Hebrew and Greek Texts from Nahal Hever and Other Sites with an Appendix Containing Alleged Qumran Texts. The Seiyal Collection II, Oxford 1997 (Discoveries in the Judaean Desert XXVII) (zitiert mit dem Kürzel: XHev / Se oder P. Hever, dort findet sich auch das Archiv der Salome Komaise, Tochter des Levi). 30 N. Lewis, J. Greenfield, Y. Yadin (Hgg.), The Documents from the Bar Kokhba Period in the Cave of Letters I. Greek Papyri with Aramaic and Nabatean Signatures and Subscriptions, Jerusalem 1989 Qudean Desert Studies II) (zitiert unter dem Kürzel P. Yadin, dort findet sich der griechische Teil des Babatha Archivs). A. Yardeni, B. Levine (Hgg.), The Documents from the Bar Kokhba Period in the Cave of Letters II: Mit einem Beitrag von Hannah Cotton, Jerusalem, in Vorbereitung Qudaean Desert Studies III, der Band wird das gesamte Bar Kokhba-Material enthalten und den semitisch-sprachigen Teil des Babatha Archivs= P. Yadin). 2. Überblickswerke H.M. Cotton, W. Cockle, F. Millar, The Papyrology of the Roman Near East. A Survey, Journal of Roman Studies 85 (1995), 214-235. E. Tov, S.J. Pfann (Hgg.), The Dead Sea Scrolls on Microfiche. Companion Volume, Leiden 1993 / überarb. 2 1995. 3. Einzelstudien der Autorin dieses Beitrags The Guardianship of Jesus Son of Babatha: Roman and Local Law in the Province of Arabia, Journal of Roman Studies 83 (1993 ), 94-113. Subscriptions and Signatures in the Papyri from the Judaean Desert: The cheirochrestes,Journal ofJuristic Papyrology 25 (1996), 29-40. The Guardian (epfrropos) of a Woman in the Documents from the Judaean Desert, Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 118 (1997), 267-273. Deeds of Gift and the Law of Succession in Archives from the Judaean Desert, Akten des 21. Internationalen Papyrologenkongress Berlin, 13.-19.8.1995, Leipzig 1997, 179-188 (Archiv für Papyrusforschung Beiheft 3). The Law of Succession in the Documents from the Judaean Desert Again, Scripta Classica Israelica 17 (1998), 115- 123 (FS Abraham Wasserstein, Band 3). The Rabbis and the Documents, in: M. Goodman (Hg.), The Jews in a Greco Roman World, Oxford 1998, 167-179. XHev / Se ar 13 of 134 or 135: A Wife's Renunciation of Claims, Journal of Jewish Studies 49 (1998), 108-118 (mit E. Qimron). The Languages of the Legal and Administrative Documents from the Judaean Desert, Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik 125 (1999), 219-231. Die Papyrusdokumente aus der judäischen Wüste und ihr Beitrag zur Erforschung der jüdischen Geschichte des 1. und 2. Jh.s n. Chr., ZDPV 115 (1999), 228-247. Ein Gedi between the Two Revolts, in: R. Katzoff, (Hg.), Proceedings of the Judaean Desert Documents Workshop Held in Bar Ilan University, 3-5 June 1998 (in Vorbereitung). ZNT 6 (3.Jg. 2000) Klaus Koenen Biblisch-theologische Überlegungen zum Jonabuch Biblische Theologie fragt nach den sachlichen Verbindungen zwischen Altern und Neuem Testament. Ausgehend vom Jonabuch und seinen verschiedenen Sinnebenen sollen im folgenden einige Linien vom Alten zum Neuen Testament gezogen werden, um den Zusammenhang beider Testamente zu veranschaulichen. 1 Die Sinnfülle des Jonabuchs Das Jonabuch gliedert sich in zwei Teile. Der erste, Kap. 1-3, enthält die eigentliche Handlung. Jahwe beauftragt Jona, nach Ninive zu gehen und der Stadt Unheil anzukündigen. Der Prophet will jedoch nicht und sucht mit einem Schiff das Weite, aber Gott holt den Ausreißer zurück. Er schickt einen schrecklichen Sturm und einen rettenden Fisch, der Jona wieder an Land bringt. Mit Kap. 3 setzt die Handlung neu ein.Jona erhält seinen Auftrag ein zweites Mal, und diesmal führt er ihn aus. Er geht nach Ninive, der Hauptstadt der feindlichen Assyrer, und kündigt dem Sündenpfuhl Unheil an. Der König und die ganze Stadt einschließlich der Tiere tun daraufhin Buße, und Jahwe erbarmt sich ihrer. Im zweiten Teil der Erzählung, Kap. 4, wird das Geschehen von Kap. 1-3 in einem Gespräch zwischen Jona und Jahwe reflektiert. Zornig wirft der Prophet Gott vor, daß er Ninive begnadigt hat. Jahwe antwortet darauf mit einer Zeichenhandlung und deren Deutung. Er läßt eine Kürbispflanze wachsen, dann jedoch eingehen und darüber ist der Prophet sehr traurig. Es folgt eine Erklärung mit einem Argument vom Kleineren zum Größeren: WennJona schon über den Untergang einer Pflanze traurig ist, die er noch nicht einmal selber gemacht hat, um wieviel mehr müßte dann Jahwe über den Untergang einer riesigen Stadt traurig sein? Mit dieser Frage endet das Jonabuch und fordert so Hörerinnen und Hörer sokratisch heraus, selbst eine Antwort zu finden. »Hilff Gott, wilch ein wunderlich werck ist doch das! « seufzt Luther über das Jonabuch und fährt fort: »Wer kan es genugsam bedencken, das ZNT 6 (3.Jg. 2000) ein mensch soll drey tage und nacht so einsam, on liecht, on speyse mitten ym meer ym fische leben und widder komen? Das mag wol eine seltzame schiffart heyssen. Wer wolts auch gleuben und nicht fur eine lügen und meerlin halten, wo es nicht ynn der schrifft stünde.« (1526; WA 19,219, 22- 27). Die Jona-Erzählung eine Lüge? Der Helmstedter Theologieprofessor Herrmann von der Hardt erhielt noch im 18.Jh. neben einer Geldstrafe Publikationsverbot, weil er die Historizität des J onabuchs angezweifelt hatte. 1 Doch heute ist klar: Das J onabuch ist kein historischer Bericht, will es auch gar nicht sein, und alle rationalistischen Erklärungen, bei dem Fisch habe es sich um ein Schiff mit dem Namen »Großer Fisch« gehandelt, sind fehl am Platz. Wir haben es hier vielmehr mit einer Lehrerzählung zu tun, wie die rhetorische Frage am Ende des Buches zeigt, die anJona, in Wirklichkeit natürlich an Hörerinnen und Hörer gerichtet ist. 2 Doch was will diese Lehrerzählung lehren? Diese Frage ist in der Forschung recht unterschiedlich beantwortet worden. Problematisch ist an den verschiedenen Antworten, daß sie immer wieder versuchen, das Jonabuch auf eine einzige Aussage zu reduzieren. Die Erzählung zielt jedoch gerade nicht einfach auf einen einzigen Punkt, sondern enthält eine Reihe von Sinnebenen, die sich keineswegs ausschließen. Jona und Ninive können nämlich-und das führt zu unterschiedlichen Deutungen für verschiedene Größen stehen: J ona für den sündigen, aufbegehrenden Menschen, eine Gruppen in Israel oder die Propheten als Berufsgruppe; Ninive für den sündigen, aber zur Umkehr bereiten Menschen oder für die Völker außerhalb Israels. 1) Wenn Ninive den sündigen, aber zur Umkehr bereiten Menschen repräsentiert, verkündet die Erzählung entweder Gottes Gnade gegenüber solchen Sündern oder, wenn man bedenkt, daß die Zerstörung Ninives 612 v. Chr. zur Zeit der Entstehung der Erzählung längst als bekannt vorausgesetzt werden kann, Gottes Freiheit, zu 31 begnadigen und diese Begnadigung wieder zurückzunehmen. Dabei kann die Erzählung zugleich als eine Mahnung zur Umkehr verstanden werden, in der Ninive dem unbußfertigen Israel (vgl. Jer 36,3.24) als positives Vorbild vor Augen geführt wird. 2) Wenn Ninive dagegen für die Völker und Jona für Israel bzw. eher eine Strömung in Israel steht, ist die Erzählung als ein gegen partikularistische Tendenzen gerichtetes Plädoyer für die Einbeziehung der Völker ins Heil zu verstehen. 3) Wenn Jona nicht eine Gruppe in Israel repräsentiert, sondern den sündigen, gegen Gott rebellierenden Menschen, wird die Erzählung vor allem als Mahnung zum Gehorsam gegenüber Gott gelesen. Der Mensch will zwar vor Gott weglaufen, muß aber letztlich einsehen, daß das nicht geht. 4) Wenn Jona für die Propheten steht, will die Erzählung das Nicht-Eintreffen prophetischer U nheilsankündigungen erklären. Jona zürnt dann nicht wegen der Begnadigung der Sünder oder des Fremdvolks, sondern weil sein Wort nicht eintrifft. Die Erzählung würde gegen Dt 18,21f. besagen: Wenn sich ein Prophetenwort nicht erfüllt, muß der Prophet keineswegs ein falscher Prophet gewesen sein, sondern es ist auch möglich, daß Gott seinen Entschluß geändert hat. Im folgenden sollen vier zentrale Aussagen der Jonabuchs herausgegriffen werden, von denen Linien ins Neue Testament führen und die damit insbesondere wenn man ihre inneralttestamentliche Vorgeschichte berücksichtigt für eine gesamtbiblische Theologie von Relevanz sind. Diese Linien zeigen, daß die beiden Testamente nicht in einem grundsätzlichen Gegensatzverhältnis stehen, sondern es Kontinuität und inneren Zusammenhang gibt. 2 Das Jonabuch mahnt zur Umkehr Die klassischen Propheten des Alten Testaments etwa Arnos und Jesaja haben Israel ganz radikal das Gericht angesagt (Am 8,2). Die Möglichkeit, umzukehren und so der Vernichtung zu entgehen, gab es ihrer Ansicht nach nicht, denn das Unheil war in ihren Augen nicht mehr aufzuhalten. Erst später, nachdem Israel untergegangen, Jerusalem zerstört und ein Großteil der Bewohner ins Exil 32 verschleppt worden war, wird der Ruf zur Umkehr zu einem zentralen theologischen Thema. Erst jetzt werden die Propheten der Vergangenheit als Bußprediger verstanden, die Israel radikal zur Umkehr, d.h. zur Abkehr von den Sünden und zur Hinwendung zu Jahwe als dem einzigen Gott gemahnt haben, wenn auch vergebens. II Kön 17 erklärt, wie es zum Untergang Israels kommen konnte. Das Volk hatte sich permanent an Jahwe versündigt, und das, obwohl er es immer wieder durch seine Propheten gemahnt hatte: »Kehrt um von euren bösen Wegen und haltet meine Gebote und Satzungen! « (17,13) Die Propheten erscheinen hier also entgegen ihrem ursprünglichen Selbstverständnis als Umkehrprediger. Ganz im Sinne dieses späteren Prophetenbildes sind die Worte Jeremias von einem Redaktor überarbeitet worden. Die radikale Unheilsankündigung des Propheten wird von dieser Redaktion als ein letzter, freilich vergeblicher Versuch verstanden, das Volk vor dem Untergang zur Umkehr zu bewegen. So wird Jeremia in 18,7 ein Gotteswort in den Mund gelegt, das ihn als Umkehrprediger erscheinen läßt: »Ich kündige einem Volk und einem Königreich an, es auszureißen ... und zu vernichten. Wenn dieses Volk ... aber von seiner Bosheit umkehrt, dann lasse ich mich des Unheils gereuen, das ich schon beschlossen habe.« Wir haben es also mit einem Drei-Schritt zu tun, wie er sich auch in der Ninive-Szene des Jonabuchs findet: Einern Volk wird Gericht angesagt, es kehrt um und Jahwe nimmt seinen Vernichtungsbeschluß zurück. Was sich in Jer 18 als theoretische Überlegung findet, wird in den Erzählungen von Jer 26 und 36 expliziert. Jahwe beauftragt den Propheten, in Jerusalem zu predigen, damit das Volk von seinen bösen Wegen umkehrt und Gott seinen Vernichtungsbeschluß zurücknehmen kann. Doch die Jerusalemer hören nicht auf Jeremia. Weder der König noch seine Diener tun Buße, im Gegenteil sie vernichten die Schrift des Propheten. Jerusalem ist also nicht Ninive. Die im J eremiabuch bezeugte Konzeption, prophetische Unheilsankündigungen als Umkehrrufe zu verstehen, findet sich auch im Jonabuch, das mit seiner Erzählung von der Umkehr ZNT 6 (3. Jg. 2000) Klaus Koenen Dr. Klaus Koenen, geb. 1956. Studium der Evangelischen Theologie in Ann Arbor (USA) und Bonn. Promotion 1987 in Tübingen über Tritojesaja; Habilitation 1994 in Bonn über Spätschichten der Prophetenbücher; seit 1999 Professor an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät in Köln; Veröffentlichungen über Psalmen, Alttestamentler 1m 3. Reich und alttestamentliche Eschatologie. Ninives ein positives Pendant zu den J eremia-Erzählungen von der Verweigerung Jerusalems bietet. Jona kündigt Ninive Unheil an ohne jedes Wenn und Aber: »Noch 40 Tage und Ninive wird zerstört! «. Von einer Möglichkeit, die Vernichtung im letzten Moment noch irgendwie abzuwehren, läßt das kurze Prophetenwort nichts ahnen, es sei denn man versteht die 40 Tage, die Ninive verbleiben, als einen versteckten Hinweis auf eine letzte Frist. Wie dem auch sei, im vorliegenden Textzusammenhang wird die Unheilsankündigung als Umkehrruf gedeutet. Die Bewohner Ninives kehren anders als die Jerusalems nach der Unheilsankündigung des Propheten um, kleiden sich als Zeichen der Buße in Sack und Asche, wenden sich von ihrem bisherigen Lebenswandel ab und richten ihr Leben ganz auf Gott aus.Jahwe reagiert darauf, indem er nun seinerseits umkehrt und seinen Vernichtungsbeschluß rückgängig macht. Ninive wird also gerettet. Für Hörerinnen und Hörer erscheint Ninive damit wie zuvor schon die Seeleute, die sich zu Jahwe bekehren als positives Beispiel. Deswegen impliziert die Erzählung eine Mahnung zur Umkehr, und deswegen kann man das Jonabuch auch als eine Beispielerzählung bezeichnen, die uns die Bewohner des Sündenortes Ninive in ihrer Umkehr als Vorbild vor Augen führt. Wie die Leute von Ninive sollen ZNT 6 (3. Jg. 2000) l<laus Koenen Biblisch-theologische Überlegungen zum Jonabuch sich Hörerinnen und Hörer zu Gott bekehren und Buße tun. Diese Aussage wird in der jüdischen Tradition hervorgehoben, wenn das Jonabuch am Nachmittag des J om-Kippur verlesen wird, der zu Buße und Umkehr aufruft. Im Neuen Testament wird der prophetische Umkehrruf des Alten Testaments aufgenommen. Johannes der Täufer, als prophetische Gestalt gezeichnet, tritt nach Mt 3 als Umkehrprediger auf. In drastischen Bildern kündigt er das unmittelbar bevorstehende Zornesgericht Gottes an: »Schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt« (3,10). Wenn überhaupt, dann gibt es nur noch eine allerletzte Möglichkeit der Rettung: die radikale Umkehr. Deswegen tauft Johannes mit Wasser zum Zeichen der Umkehr (3,11) und fordert von den Menschen, Früchte zu bringen, Taten zu tun, die der Umkehr entsprechen (3,8). Wie das Jonabuch ruft Johannes also zur Buße auf. Für den, der dem bevorstehenden Unheil entrinnen will, kann es nur eines geben: umzukehren, d.h. die von Gott geschenkte Möglichkeit der Umkehr anzunehmen, sein Leben vollständig zu verändern und in ein neues Verhältnis zu Gott zu treten. 3 Auch für Jesus ist der Ruf zur Umkehr von erheblichem Gewicht. Nach dem Markusevangelium beginnt Jesus die Verkündigung seiner Heilsbotschaft mit den Worten: » Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe gekommen. Kehrt um und glaubt an die Heilsbotschaft! « (Mk 1,15) Auch hier also der Umkehrruf, doch der Kontext, in dem dieser Ruf bei Jesus steht, ist ein etwas anderer. Findet sich schon im Deuterojesajabuch der Ruf: »Kehr um zu mir, denn ich habe dich erlöst« (Jes 44,22), so ist auch Jesu Umkehrruf anders als der des J ona und des Johannes zunächst einmal nicht auf dem Hintergrund einer Unheilsankündigung zu sehen, sondern auf dem seiner Heilsbotschaft. Die Botschaft vom Reich Gottes, die auch an Deuterojesaja anknüpft (vgl. Jes 52,7), steht im Zentrum der Verkündigung Jesu. Die Gottesherrschaft ist auch wenn seine Vollendung noch aussteht in Jesu Wirken schon jetzt präsent (Lk 11,20). Sie ist im Anbruch begriffen, und es liegt am Menschen, darauf mit Umkehr zu antworten. Man soll also nicht umkehren, um gerettet zu werden, sondern das Reich Gottes ist bereits da, und die Umkehr ist nur noch die selbstverständliche 33 Reaktion auf die Präsenz des Heils im WirkenJesu. Umkehr orientiert sich an Jesus, sie ist auf seine Person bezogen, und der Ruf zur Umkehr entspricht damit dem Ruf in die Nachfolge. Neben der Heilsbotschaft kennt Jesus die Gerichtspredigt (z.B. Lk 10,13-15; 13,6-9), und auch sie zielt auf Umkehr. Allen, die das Heil nicht annehmen wollen und sich dem Umkehrruf damit verschließen, kündigt Jesus das Gericht an, um sie so doch noch zur Umkehr und damit zum Heil zu bewegen. 4 Nach Lk 11,32 / Mt 12,41 zieht Jesus eine Verbindung zwischen seiner Gerichtspredigt und der des Jona und gibt damit zu erkennen, daß seine Unheilsankündigung wie die des Jonabuchs letztlich nichts anderes als die Umkehr der Betroffenen will. 3 » Die Männer von Ninive werden beim Gericht gegen dieses Geschlecht auftreten und sie werden es verurteilen, denn sie kehrten um nach der Predigt des J ona, und siehe hier ist mehr als Jona.« Das Jonabuch verkündet Gottes Gnade gegenüber den Sündern Der Mensch ist böse von Jugend auf, heißt es am Ende der jahwistischen Sintflut-Erzählung, und doch sichert Jahwe dem sündigen Menschen zu, daß er ihn nicht wieder verfluchen, ihn nie wieder mit einer Sintflut schlagen wird. Jahwe erbarmt sich also des Sünders. Auch im Jonabuch erweist sich Jahwe als gnädiger Gott, und zwar zum ersten in der Rettung des Jona. Er läßt den ungehorsamen Propheten, der sich von ihm entfernt hat, nicht im Meer ertrinken, sondern schickt einen Fisch zu seiner Rettung. Von einer Bestrafung des Jona ist keine Rede. Auch der ungehorsame Mensch, der sich von Gott abgewandt hat, wird gerettet. Das darf Jona am eigenen Leib erfahren, ehe er genau dagegen protestiert. Zum zweiten zeigt sich Gottes Gnade darin, daß er Jona ausgerechnet nach Ninive schickt und dieser Stadt dadurch überhaupt erst die Möglichkeit zur Umkehr eröffnet. Ninive, das ist das Sündenbabel der damaligen Zeit, oder wie der Prophet Nahum sagt die Stadt des Blutes, voll von Gestohlenem, eine unzüchtige Hure. Es ist die Hauptstadt des schlimmsten Feindes, des assyri- 34 sehen Weltreichs, das für seine Brutalität gefürchtet war. In dem königlichen Palast dieser Stadt hat man die Siege über Israel auf großen Reliefs verewigt, die heute in London im Britischen Museum zu sehen sind. Ninive das schlimmste also, was man sich vorstellen kann ausgerechnet diese Stadt rettet Jahwe und erbarmt sich damit der allerübelsten Sünder. Wer will es Jona verdenken, daß er sich gegen eine Begnadigung der Menschen ausspricht, die sein Volk so lange tyrannisiert und geplündert, die soviel gefoltert und gemordet haben? Und gehörte die Erwartung, daß Jahwe diesem Erzfeind ein Ende bereiten werde, nicht zu den elementaren Hoffnungen Israels? Das Entsetzen, das Gerechtigkeitsempfinden des J ona ist verständlich, Gottes Gnade dagegen unverständlich. Sie macht nicht einmal vor dem brutalen Erzfeind halt. Nach den beiden Rettungstaten spricht Jona Gebete, die jeweils wie eine Quintessenz klingen. Schon im Bauch des Fisches bekennt der Prophet: »Bei Jahwe ist Rettung« und nach der Verschonung Ninives betet er: » Ich weiß, daß du ein gnädiger und barmherziger Gott bist, langmütig und reich an Güte.« ( 4,2) Dieses Bekenntnis zum gnädigen Gott, im Alten Testament in ähnlicher Form mehrfach überliefert,5 gehört zu den zentralen Aussagen des Jonabuchs. Nichts von einem brutalen Gott, wie man ihn dem Alten Testament immer wieder allzu pauschal nachsagt, nichts von Auge um Auge, Zahn um Zahn, im Gegenteil: Das J onabuch wendet sich innerhalb des Alten Testaments deutlich gegen jedes starre Vergeltungsdenken und erzählt von Gottes Gnade gegenüber dem umkehrenden Sünder. Genau diese Gnade ist auch ein zentrales Thema des Neuen Testaments, ja die Rechtfertigung des Gottlosen ist der eigentliche Inhalt des Evangeliums. Hier wäre nun eine Fülle von Material auszubreiten, doch ein Blick auf Lk 15,11-32, das Gleichnis vom verlorenen Sohn, das man besser als Gleichnis vom barmherzigen Vater bezeichnet, soll genügen. 6 Ein Mann hatte zwei Söhne. Der jüngere läßt sich seinen Erbteil ausbezahlen, zieht in die Fremde, verpraßt sein Geld, verarmt völlig und kehrt kleinlaut nach Hause zurück in der Hoffnung, vielleicht als Tagelöhner eingestellt zu werden. Doch ZNT 6 (3. Jg. 2000) dann kommt im Gleichnis das für den Sohn wie für Hörerinnen und Hörer überraschende Moment: Noch ehe der Sohn bekennen kann: »Vater, ich habe gesündigt! «, kommt ihm der Vater entgegengelaufen, erbarmt sich des Sohnes, der sich im wahrsten Sinne des Wortes von ihm abgewandt hatte, jetzt aber zu ihm umgekehrt ist, und nimmt ihn liebevoll auf, ja bereitet ihm ein großes Freudenfest, in dem sich die neue, von Jesus verkündete Wirklichkeit spiegelt. So ist der Vater, »so ist Gott, so gütig, so gnädig, so voll Erbarmen« 7• Groß ist seine Freude über jeden Sünder, der umkehrt. Das Gottesbild, das sich im Gleichnis vom verlorenen Sohn ausdrückt, entspricht dem des Jonabuchs, und wenn man nach den traditionsgeschichtlichen Wurzeln des Gleichnisses fragt, 8 wird man auch an das in diesem Zusammenhang bislang übersehene J onabuch denken dürfen. Doch das Gleichnis ist noch nicht zu Ende, sondern das Verhalten des Vaters wird noch gegen Einwände abgesichert. In einer zweiten Szene, V.25-32, erscheint der ältere Bruder, der ganz anders reagiert als der Vater, der nämlich nicht in Freude ausbricht, sondern genau wieJona darüber erzürnt, daß ein Sünder derart liebevoll aufgenommen wird, der aber auch wie J ona zurechtgewiesen wird. Beide, der ältere Bruder und Jona, geben -wer will es ihnen verdenken dem viel beschworenen »gesunden« Rechtsempfinden Ausdruck und fordern Gerechtigkeit vergeltende Gerechtigkeit, die keine Gnade kennt. In beiden wird Hörerinnen und Hörern eine Identifikationsfigur angeboten, die sie bei ihrem eigenen Pochen auf Gerechtigkeit abholen soll. Beide Erzählfiguren müssen am Ende, nachdem der Vater bzw. Gott das letzte Wort haben, verstummen und einsehen, daß die Begnadigung des Sünders ein höherer Wert ist als vergeltende Gerechtigkeit. Genau das gilt auch für die Pharisäer und Zöllner, auf deren Murren Jesus sein Gleichnis nach der Darstellung des Lukasevangeliums (15,lf.) erzählt, und es gilt bis heute für alle Hörerinnen und Hörer, die sich mit Jona und dem älteren Bruder identifizieren oder von anderen mit ihnen identifiziert werden. Ihnen ist -wie insbesondere an der Offenheit des Schlusses deutlich wirddas Verhalten Gottes bzw. des Vaters zur Beurteilung aufgegeben, doch die Verfasser weisen ihnen den Weg, indem sie Gott bzw. dem Vater das letzte Wort geben. Das Jonabuch und das Gleichnis wollen Hörerinnen ZNT 6 (3. Jg. 2000) Klaus l{oenen Siblisch-the•: .l! ~! ; ! is,.: ; ! H: 1 Üt.w~r·ieutm~len zum .Jonabuch und Hörer so zu der Einsicht führen, daß nicht die Gesunden einen Arzt brauchen, sondern die Kranken, nicht die Gerechten, sondern die Sünder. Für diese Einsicht treten sie gegenüber Kritikern ein, die auf Gerechtigkeit pochen und eine Vergebung der Sünden ablehnen. Gott stellt Gnade und Liebe über das Prinzip Gerechtigkeit. Der gnädige Gott hebt seinen eigenen gerechten Unheilsbeschluß auf, ändert also seine Entscheidung. Die Wandelbarkeit Gottes, die modernem Denken so großen Anstoß bereitet, gehört zur Gnade dieses Gottes. Jahwe bleibt gegenüber seinem Wort frei, er stellt sein Mitgefühl über sein Interesse, sein Wort zu verwirklichen, und auch über ein starres Gerechtigkeitsprinzip. Man hätte auf das Gleichnis vom verlorenen Sohn auch in dem Abschnitt »Das Jonabuch mahnt zur Umkehr« verweisen können. Wie das Jonabuch läßt sich nämlich auch das Gleichnis nicht einfach auf eine Aussage reduzieren. Man kann es nicht nur als eine Parabel lesen, die im Verhalten und der Freude des Vaters gipfelt und im Rahmen der eschatologischen Verkündigung Jesu Gottes Heilszusage zur Sprache bringt, sondern auch als eine Beispielerzählung, die ihre Spitze in der Umkehr des Sohnes hat und Hörerinnen und Hörer dadurch, daß sie der Umkehrparadigmatisch übergroßen Erfolg zuteil werden läßt, implizit zur Umkehr ruft. Antwortet das Gleichnis als Parabel verstanden auf die Frage »Was darf ich hoffen? «, so bezieht es sich als Beispielerzählung auf die Frage »Was soll ich tun? «. Dann steht nicht eine Zusage im Vordergrund, sondern ein Anspruch. 4 Das Jonabuch lehrt Gottes Freiheit In seinem Protest und in seinem Verstummen am Ende der Erzählung erinnert J ona wie auch der ältere Bruder des Gleichnisses an Hiob, ja das J onabuch thematisiert wie das Hiobbuch die Theodizee-Frage: Ist Gott gerecht? Allerdings wird diese Frage das macht einen Vergleich der Bücher so spannend aus ganz verschiedenen Perspektiven gestellt. Hiob fragt angesichts seiner Leiden: Ist Gott gerecht, wenn Sündlose Unheil erfahren müssen? Jona fragt dagegen: Ist Gott gerecht, wenn Sünder Heil erfahren dürfen? Hiob protestiert also gegen Gottes Zorn, J ona gegen Gottes 35 Gnade. Beide, Hiob und Jona, wollen Gerechtigkeit im Sinne der Konstituierung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs, doch beide müssen lernen, daß sie die Rechnung ohne Gott gemacht haben. Am Ende der beiden Bücher, die vom Aufbegehren ihrer Helden erzählen, stehen Gottesreden, und diese Gottesreden heben je auf ihre Weise die Freiheit Gottes hervor. Wer hat die Macht, mit Gott zu rechten? Natürlich niemand! Gott bleibt in seinem Verhalten gegenüber dem Menschen, gegenüber dem Gerechten wie dem Sünder frei. Im Neuen Testament kommt Gottes Freiheit sehr schön im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg zur Sprache, das man treffender als Gleichnis vom gütigen Gutsbesitzer bezeichnet (Mt 20,1-16). 9 Der Besitzer eines Weinbergs stellt frühmorgens Tagelöhner ein und vereinbart mit ihnen einen Denar als Lohn. Im Laufe des Tagesheuert er mehrfach für die jeweils verbleibenden Stunden weitere Arbeiter an. Als Lohn verspricht er ihnen das, »was recht ist« (V.4). Mit dieser offenen Formulierung wird beim Hörer die Erwartung geweckt, die später eingestellten Arbeiter erhielten eine proportional abgestufte Bezahlung. Doch genau dieser Erwartung will das Gleichnis entgegentreten. Als es am Abend zur Auszahlung kommt, gibt der Gutsbesitzer allen Arbeitern unabhängig von ihrer Leistung den vollen Tageslohn von einem Denar. Mit dieser Großzügigkeit, die für die Arbeiter wie die Hörer überraschend kommt, wird eine neue Welt propagiert, in der Gerechtigkeit nicht nach dem Tun-Ergehen-Zusammenhang als exakte Vergeltung nach den Werken definiert wird, sondern als gütiges Geben. Doch damit widerspricht das Gleichnis traditionellem Gerechtigkeitsempfinden, denn die Gnade ist der Feind der vergeltenden Gerechtigkeit. Genau dieser Punkt wird dann auch noch eigens thematisiert. Die Ganztagsarbeiter, die Hörerinnen und Hörern jetzt als Identifikationsfiguren angeboten werden, halten die Tat des Gutsbesitzers, die das gültige Wertesystem und das Ideal gerechter Vergeltung durchbricht, für ungerecht. Sie protestieren, denn sie meinen nun, mehr bekommen zu müssen als den vereinbarten Denar. Der Prophet richtet sich wohlgemerkt nicht dagegen, daß der Herr den später Eingestellten gegenüber großzügig ist, sondern dagegen, daß er ihnen selbst gegenüber nicht entsprechend großzügig ist. Doch 36 der Protest für mehr Gerechtigkeit wird wie der des J ona mit einem Verweis auf Gottes Freiheit beantwortet: »Darf ich mit dem Meinen nicht tun, was ich will? Oder schaust du etwa schlecht drein, weil ich gütig bin? « (Mt 20,15) Diese beiden rhetorischen Fragen am Ende des Gleichnisses drücken im Grunde dasselbe aus wie die Zeichenhandlung am Ende des J onabuchs, die den Propheten fragt: Darf ich nicht betrübt sein wegen Ninive? Ja natürlich, Gott darf, er hat die Freiheit, sich der Sünder zu erbarmen und Fehlleistungen nicht zu zählenso das Gleichnis vom gütigen Vater -, und er hat die Freiheit, den einen mehr zu schenken als den anderen und damit nicht stur nach Leistung zu entlohnen, sondern Ungleiches gleich zu behandeln so das Gleichnis vom gütigen Gutsbesitzer. Es ist die Freiheit des gnädigen Gottes. Das müssen sich Jona und der ältere Bruder, das müssen sich die Arbeiter im Weinberg und vor allem natürlich Hörerinnen und Hörer sagen lassen, die wieder zur Beurteilung herausgefordert sind, da der Schluß wie in der Jona-Erzählung und im Gleichnis vom gütigen Vater offen ist. Zur Freiheit des gnädigen Gottes gehört also, daß seine Gnade eine freie, unverfügbare Gabe ist. Der Sünder kann nicht sagen: »Gott wird's gewiß richten! «. Dessen sind sich in der Jona-Erzählung der Schiffskapitän (1,6) und auch der König von Ninive bewußt. Der König ruft sein Volk zur Umkehr, nicht weil er meint, Gottes Gnade so erwirken zu können und ihr automatisch teilhaftig zu werden, sondern weil er hofft, ganz bescheiden wider alle Hoffnung hofft: » Wer weiß, vielleicht läßt Gott sich gereuen und wendet sich ab von seinem grimmigen Zorn? « Qon 3,9) Wer weiß, vielleicht 10 die Unsicherheit bleibt, auch radikale Umkehr bietet keine Garantie, und so bleiben auch im Neuen Testament neben den Zusagen, daß das Reich Gottes präsent ist und die Sünden vergeben sind, die Bitten des Vaterunsers: Dein Reich komme vergib uns unsere Sünden. Diese Bitten müssen neben den Zusagen stehen, damit die Zusagen nicht als Garantien mit Einlöseautomatik mißverstanden werden und die Freiheit Gottes gewahrt bleibt. ZNT 6 (3. Jg. 2000) 5 Das Jonabuch tritt ein für die Teilhabe der Völker am Heil Ninive, die sündige Stadt par excellence, kann im Jonabuch als Repräsentation der Sünder verstanden werden. Doch das ist nicht alles. Zugleich kann Ninive nämlich das Ausland repräsentieren. Die Stadt, am oberen Tigris im heutigen Irak gelegen, weit über 1000 km von Jerusalem entfernt, ist ein Zentrum des assyrischen Reiches, und ausgerechnet diese fremde, ausländische, ja feindliche Stadt wird im Jonabuch welche Provokation! positiv dargestellt. Sie kehrt um und wird von Gott gerettet. Das Heil ist also nicht auf Israel beschränkt, nein auch die Völker dürfen an diesem Heil partizipieren. Jahwe kann und will auch sie retten. Man hat dem Alten Testament häufig eine nationalistische Enge vorgeworfen. Und tatsächlich kommen im Alten Testament auch Strömungen zu Wort, die sich von allem Fremden, allem Ausländischen distanzieren, Fremdlingen die Aufnahme in die Gemeinde verbieten (Dt 23,4ff.), Ehen mit ausländischen Frauen ablehnen und die Auflösung bestehender Ehen fordern (Esr 10; Neh 13), ja im Blick auf die Endzeit sogar die Vernichtung der fremden Völker ankündigen (Sach 14; Jo 4). Alles Fremde wird hier als Gefahr empfunden, und dagegen will man sich abschotten. Die Situation, in der dies geschieht, ist die nachexilische, persische Zeit. Israel hatte damals die Katastrophe des Exils gerade überlebt, seine Eigenständigkeit und Eigenstaatlichkeit jedoch verloren. Es ist auf der Suche nach einer neuen Identität, und manche Gruppen glauben, diese Identität durch eine scharfe Abgrenzung nach außen erlangen zu können. Das J onabuch wendet sich gegen solche Strömungen. Es ist ein Buch gegen die Abgrenzung nach außen, ein Buch gegen Ausländerfeindlichkeit. Die Ausländer sind besser als Israel denkt: Die Seeleute bekehren sich sofort, die Niniviter wenden sich spontan von ihren Sünden ab. Und wichtiger noch: Gott selbst hat Ausländern, ja sogar den Bewohnern des verfeindeten Ninive seine Gnade erwiesen. Das muß Jona lernen, auch wenn er sich mächtig dagegen sträubt und bis ans Ende der Welt davonlaufen will, und das sollen auch die Hörerinnen und Hörer lernen. Die Gnade Gottes von Jona selbst in 4,2 wie aus dem Katechismus gelernt vorgetragen gilt nicht nur Israel, sondern ZNT 6 (3. Jg. 2000) l<laus Koenen 8ibfü,ch-theolo{Jisch,e Übedegungen zum Jonabuch auch den Völkern. Sie macht keinen Unterschied zwischen Israel und den Heiden. Der Universalismus, für den das Jonabuch eintritt, ist im Alten Testament keineswegs singulär. In den Prophetenbüchern besonders im Buch Jesaja finden sich immer wieder Verheißungen, die die Teilhabe der Völker an der ersehnten endgültigen Heilszeit verkünden, allerdings auf sehr unterschiedliche Weise. 11 Manche Texte sehen die Völker nach Jerusalem pilgern, um sich dort von Jahwe belehren zu lassen Qes 2,2-5; Mi 4,1-4), um ihm ihre Gaben zu bringen und seine Taten zu preisen Qes 60). Der Tempel Jahwes soll dann ein Bethaus für alle Völker sein Qes 56,7), und auch Fremdlinge können in ihm Priester werden Qes 66,18-22). Andere Texte verheißen, daß die Völker Jahwe nicht in Jerusalem, sondern in ihren jeweiligen Heimatländern verehren Qes 19,18ff.). In beiden Fällen gilt Gottes Segen nicht nur Israel, sondern allen Völkern der Erde. Der Universalismus des Jonabuchs und die universalistische Linie des Alten Testaments finden ihre Fortsetzung im Neuen Testament. Die Aufnahme von Heiden in die Gemeinde war unter den ersten Christen zunächst umstritten und konnte nur gegen anfänglichen Widerstand durchgesetzt werden. Nach der Darstellung der Apostelgeschichte bringt die Taufe des römischen Hauptmanns Cornelius und seiner Angehörigen einen ersten Durchbruch (Apg 10,1-11,18). Sie wird vom Heiligen Geist vorangetrieben, ja der Geist kommt auf Cornelius und die Seinen, und erst diesem zweiten Pfingstwunder kann sich Petrus, schon von einer Vision zum Umdenken gezwungen, nicht mehr verschließen. Er tauft die unbeschnittenen Heiden, muß sich dafür aber vor der judenchristlichen Gemeinde in Jerusalem rechtfertigen. Dabei erzählt er von seiner Vision (l 1,5ff.), mit der der Leser nach 10,1 lff. somit ein zweites Mal konfrontiert wird: Ein Behälter wie ein großes Tuch wird vom Himmel herabgelassen und in ihm sind alle Tiere der Erde, Vierfüßler, Kriechtiere und Vögel, also auch eklige, unreine Tiere. Von diesen Tieren soll Petrus so fordert es die Stimme Gottes mehrfach essen. Doch der Apostel sträubt sich genau so, wie sich einst der ProphetJona gesträubt hatte: »Nein, Herr! Noch nie ist etwas Unheiliges und Unremes in meinen Mund gekommen.« (11,8; vgl. 10,14) 37 Doch Petrus muß lernen, wie Jona. Er muß sich sa- 6 Das Jonabuch und Jesu Gleichnisse als Erzählungen gen lassen: »Nenne nicht unrein, was Gott für rein erklärt hat.« (10,15; 11,9) Petrus schließt seine Apologie mit den Worten: » Wenn Gott den Heiden, die zum Glauben an den Herrn Jesus Christus gekommen sind, die gleiche Gabe gegeben hat wie uns, wie wäre ich da imstande gewesen, Gott zu hindern.« (11,17) Nach dieser Rede bleibt den Anklägern nur die Einsicht, die auch sehr gut zum Jonabuch paßt: »Also hat Gott auch den Heiden die Umkehr zum Leben gegeben.« (11,18) Die Einbeziehung der Völker, der Heiden ins Heil ist also im Alten wie im Neuen Testament ein zentrales Thema. Das Jonabuch bezieht eindeutig Position für eine Öffnung Israels gegenüber den Völkern und Ausländern. Die Apostelgeschichte erzählt wie der Geist und ihm folgend Petrus die frühchristliche Gemeinde für die Völker geöffnet haben. In Auslegungen des Jonabuchs findet man immer wieder die von christlichem Antijudaismus geprägte Auffassung, Ninive stehe für die Heiden und Jona repräsentiere das Judentum, genauer den engstirnigen, nicht assimilierungsfähigen, partikularistischen Juden, der den Völkern die Aufnahme ins Heil nicht gönne, während der Verfasser des Buches mit seinem Universalismus und seiner Offenheit gegenüber den Heidenvölkern schon einen christlichen Geist atme. Er halte den Juden in Jona ein Spiegelbild ihres unfrommen Fanatismus vor Augen. Gegen diese schon in der Alten Kirche einsetzende antijüdische Auslegung muß eingewandt werden: Jona repräsentiert nicht das Judentum, sondern nur eine Strömung im Judentum, und das Jonabuch, das dieser Strömung kritisch gegenübersteht, repräsentiert eine andere Strömung im Judentum. Das Buch ist von Juden für Juden geschrieben und damit Dokument einer innerjüdischen Diskussion. Jede Auslegung, die mit antijüdischen Klischees arbeitet, geht am Jonabuch vorbei. 12 38 Das Jonabuch vermittelt seine Aussagen, indem es eine virtuelle Realität entwirft, die aus der Vergangenheit für die Gegenwart aufleuchtet. Wie die Gleichnisse Jesu aber natürlich nicht nur sie zeichnet, ja konstituiert es eine Realität, die die erlebte Welt der Hörer aufnimmt, sich von ihr aber zugleich radikal unterscheidet. Die Hörer werden in eine andere, eine ungewohnte, eine alternative Welt eingewiesen, die der Erzähler ihnen als eine bessere Welt propagiert. Diese Welt soll und kann für die bestehende Welt ein Vorbild sein, und als solches für diese Welt Normen setzen und Hoffnung stiften. Indem nämlich erzählt wird, wie in der virtuellen Welt Umkehr zum Leben geführt hat, wird Umkehr auch für die vorfindliche Welt als ein zum Leben führender Weg und Wert propagiert. Indem weiter erzählt wird, wie Sünder in der virtuellen Welt Vergebung erfahren und dadurch Leben gewonnen haben, wird Sündern in der vorfindlichen Welt die Hoffnung geschenkt, auch in dieser Welt Vergebung und Leben erfahren zu können, wenn sie sich in ihrem Handeln an dem Handeln orientieren, das sich in der virtuellen Welt bereits bewährt hat, also wie die Erzählfiguren den Weg der Umkehr einschlagen. Indem schließlich auch erzählt wird, wie liebevoll Gott als oberste Normen setzende Instanz in der virtuellen Welt mit verrufenen Ausländern umgegangen ist, wird ein entsprechender Umgang mit Ausländern auch für die vorfindliche Welt erwartet und damit zugleich als Wert für mein Verhalten gegenüber Ausländern in dieser Welt propagiert. Das ist narrative Wertevermittlung. Der Entwurf einer virtuellen Welt schenkt für die Zukunft die Hoffnung, daß sich die erlebte Welt nach der Vorgabe der virtuellen und den in ihr geschehenen Interaktionen richten wird. Sie ist eine vom Erzähler gestaltete Soll- und Wunschwelt, in der Probleme in Erfüllung fundamentaler Wünsche gelöst werden und damit ein Ideal als real erlebbar ist bzw. die Wirklichkeit als Verwirklichung einer Idee erfahren wird. Im Tun, Fühlen und Empfinden der Erzählfiguren sowie in dem, was an ihnen geschieht, wird dem Hörer etwas vorgemacht, und genau damit propagiert die Erzählung eine bessere Welt sowie bessere Formen der Interaktion und des Verhaltens. Ist das als Ziel der Erzählung erkannt, dann ist es ganz gleich, ZNT 6 (3. Jg. 2000) ob das Erzählte tatsächlich geschehen ist oder nicht. Das gilt für die Jona-Erzählung wie für viele andere Erzählungen nicht nur der Bibel. Als Erzählung spricht das Jonabuch - und für die genannten Gleichnisse gilt dasselbe - Hörerinnen und Hörer nicht direkt an, doch es enthält eine Dimension der Anrede, eine Appellstruktur. Es lädt ihn ein, sich von seiner bisher erfahrenen Wirklichkeit zu befreien und in die virtuelle Welt der Erzählung einzutreten, um sich in seinem Hoffen und Handeln von ihr bestimmen zu lassen. Indem die Erzählung Werte narrativ entfaltet, entspricht sie einer Pädagogik, die genau weiß, was sie will, aber dem Hörer seine Freiheit läßt. Sie oktroyiert ihm nichts auf, sondern macht ihm ein Angebot, lädt ihn ein und fordert ihn zunächst zum Mitdenken heraus. Er muß selbst entscheiden, ob er die Einladung annimmt, das für ihn Paradigmatische herausfiltert, das Erzählte auf seine Situation appliziert und die Konsequenzen zieht. Durch die Didaktik des Angebots erweist sich der Verfasser der Erzählung als behutsamer Seelsorger, der sich selbst als Mäeuten und Erzählen als eine diskrete Form des Lehrens versteht.13 7 Zusammenfassung Das Jonabuch läßt sich nicht auf eine Aussage reduzieren. Es mahnt zur Umkehr, verkündet Gottes Gnade gegenüber den Sündern, lehrt Gottes Freiheit und tritt ein für die Teilhabe der Völker am Heil. Von diesen Aussagen, die innerhalb des Alten Testaments fest verwurzelt sind, lassen sich direkte Linien ins Neue Testament ziehen, und deswegen ist die J ona-Erzählung geeignet, inhaltliche Verbindungen zwischen beiden Testamenten aufzuzeigen und damit zentrale biblische Wahrheiten und Grundeinsichten christlichen Glaubens darzustellen. Gott belohnt und bestraft die Menschen nicht nach menschlicher Gerechtigkeit, nicht nach dem Tun-Ergehen-Zusammenhang, sondern nach seiner freien Güte, die allen Menschen zuteil wird. ZNT 6 (3. Jg. 2000) l<laus Koenen Biblisch-theologische Übt: trlegungan zum .Jonabuch Anmerkungen 1 Nach R. Lux, Jona, Prophet zwischen »Verweigerung« und »Gehorsam«, (FRLANT 162) Göttingen 1994, 23. 2 Vgl. K. Koenen, Gerechtigkeit und Gnade. Zu den Möglichkeiten weisheitlicher Lehrerzählungen, in: J. Mehlhausen (Hg.), Recht - Macht - Gerechtigkeit, (VWGTh 14) Gütersloh 1998, 274-303: 293-295. 3 Vgl. R. Kühschelm in: K. Koenen / R. Kühschelm, Zeitenwende. Perspektiven des Alten und Neuen Testaments (Die Neue Echter Bibel. Themen 2), Würzburg 1999, 61f. 4 Vgl. G. Theissen / A. Merz, Der historische Jesus, Göttingen 2 1997, 242ff. 5 Jo 2,13; Ex 34,6; Num 14,18; Ps 86,15; 103,8; 111,4; 145,8; Nah 1,3; Neh 9,17.31. 6 R. Hoppe, Gleichnis und Situation. Zu den Gleichnissen vom guten Vater (Lk 15,11-32) und gütigen Hausherrn (Mt 20,1-15), BZ 28 (1984) 1-21; K. Erlemann, Das Bild Gottes in den synoptischen Gleichnissen, (BWANT 126) Stuttgart 1988, 131-150; E. Rau, Reden in Vollmacht. Hintergrund, Form und Anliegen der Gleichnisse Jesu, (FRLANT 149) Göttingen 1990, 182-215; K.-W. Niebuhr, Kommunikationsebenen im Gleichnis vom verlorenen Sohn, ThLZ 116 (1991) 481-514; E. Rau,Jesu Auseinandersetzung mit Pharisäern über seine Zuwendung zu Sünderinnen und Sündern. Lk 15,11-32 und Lk 18,10-14a als Worte des historischen Jesus, ZNW 89 (1998) 5-29; K. Erlemann, Gleichnisauslegung. Ein Lehr- und Arbeitsbuch, Tübingen/ Basel 1999, 142f. 7 J. Jeremias, Die Gleichnisse J esu, Göttingen 81970, 131. 8 Vgl. Erlemann, Bild, 141ff; Rau, Rede, 216H. 9 Vgl. I. Broer, Die Gleichnisexegese und die neuere Literaturwissenschaft. Ein Diskussionsbeitrag zur Exegese von Mt 20: 1-16, BN 5 (1978) 13-27; Ch. Dietzfelbinger, Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg als Jesuswort, EvTh 43 (1983) 126-137; Hoppe, Gleichnis, 13- 20; Erlemann, Bild, 93-114; Ch. Hezser, Lohnmetaphorik und Arbeitswelt in Mt 20,1-16 (NTOA 15), Freiburg/ Göttingen 1990; U. Busse, In Souveränität anders. Verarbeitete Gotteserfahrung in Mt 20,1-16, BZ 40 (1996) 61-72. 10 Vgl.Jo 2,12-14. 11 Vgl. Koenen, Zeitenwende 36ff. 12 Vgl. F. Golka, Jonaexegese und Antijudaismus, Kul 1 (1986) 51-61. 13 Vgl. Koenen, Gerechtigkeit 296-300. 39 Kurt Erlemann Die Einheit der Urgemeinde - Fiktion oder Wirklichkeit Einleitung zur Kontroverse Was stand am Anfang des Christentums? Diese Frage hat weit mehr als eine rein historische Dimension, berührt sie doch die Frage unserer Identität als christlicher Glaubensgemeinschaft. Außerdem suggeriert sie, bei der Suche nach einer »idealen« christlichen Lebensform und der Organisation kirchlichen Lebens, wertvolle, wenn nicht normierende Anhaltspunkte zu liefern. Die nachfolgende Kontroverse bietet unterschiedliche Anwege, historische Klarheit in der Frage nach den christlichen Anfängen zu erreichen. Dabei wird deutlich, dass vor allem die historische Aussagekraft der Apostelgeschichte des Lukas auf dem Prüfstand steht. te und mündet in ein eigenständiges Modell der Entstehung des Christentums. Das thetische Vorgehen von Fran~ois Vouga stellt die Alternative von ursprünglicher Einheit und ursprünglicher Vielfalt grundsätzlich in Frage und kommt so zu einem Modell, das deutlich andere Akzente trägt. Ob nun das Modell des »Baumes« oder das Modell des »Besens« für die Entstehungsgeschichte des Christentums vorzuziehen sei, mag der persönlichen historischen und theologischen Einschätzung des Problems vorbehalten sein; die Konsequenzen für unsere Identität als christliche Glaubensgemeinschaft und für das Verständnis von Ökumene, gerade nach den jüngsten Äußerungen des Vatikans, dürften dabei durchaus unterschiedlich ausfallen. Der Artikel von Roman Heiligenthal nimmt seinen Ausgangspunkt in der Forschungsgeschich- Kontakte - Beiträge zum religiösen Zeitgespräch Ökumene wohin? Bischöfe und Theologen entwickeln Perspektiven -- BemdJochenHJberath und.HlrgenMuhmanrl Kontakte 9, 2000, XII, 147 Seiten, DM 36,80/ ÖS 269,-/ SFr 36,80 ISBN 3-7720-2528-5 Die Ökumene am Anfang einer neuen Ära Augsburg, Reformationstag 1999: Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre, mit Mühe erreicht, von Protesten begleitet. Berlin 2003: Gemeinsamer Kirchentag, im Kirchenvolk steigt der Druck hin auf eine gemeinsame Feier des Abendmahls. Kirchenleitungen und wissenschaftliche Theologie sind herausgefordert. In diesem Buch stellen sich Bischöfe und Theologen der Tübinger Evangelischen und Katholischen Fakultät und entwickeln Perspektiven für die Zukunft der Ökumene. Die bischöflichen Ausführungen zur aktuellen Lage und den Möglichkeiten einer Einigung der Kirchen bilden die Klammer zu drei jeweils aufeinander bezogenen Vorträgen. Diese fragen nach dem leitenden Konzept von Kirchengemeinschaft, nach den Möglichkeiten zur Überwindung der Kirchenspaltung sowie danach, welche Rolle Konfessionalität überhaupt noch in einem Zeitalter individualisierter Religiosität spielt. A. Francke Verlag· Tübingen und Basel· Postfach 2560 · D-72015 Tübingen· Fax (07071) 75288 40 ZNT 6 (3. Jg. 2000) Roman Heiligenthal Die Kontroverse um das frühe Christentum Bereits 1775 kam Johann Salomon Semler zu dem Ergebnis, daß es im Urchristentum eine Partei von Christen gegeben habe, »die zu der Diöces von Palästina gehöret«, und eine andere Partei von Christen, »welche zu Pauli Diöces gehören«, und daß diese Gruppen eine »Abgeneigtheit« gegeneinander gehabt hätten. 1 Hinter dieser Feststellung Semlers steht ein Anliegen der Aufklärungstheologie, die fordert, daß man den Kanon nicht mehr als eine feste Einheit betrachten dürfe, sondern als eine Entstehung und der Einheit neutestamentlicher Theologien. Und spätestens jetzt wird die rein historische Analyse von Konflikten und Gegensätzen innerhalb und zwischen den frühen christlichen Gemeinden zu einem bestimmenden methodischen Ansatz der neutestamentlichen Exegese. 7 Hierin besteht Baurs großes Verdienst und, um mich noch einmal auf Ernst Käsemann zu berufen, »stehen wir auf dem von ihm geschaffenen Grunde«. 8 Bereits gegen Ende des Zusammenstellung unter- V, schiedlicher Schriften mit l\: jeweils eigenem Charakter ". TROV vorvergangenen und zu Beginn des 20. Jahrhunderts modifizierte der Nachfolger Ferdinand Christian und eigener Intention. 2 Semlers Leistung bestand nicht nur in der Feststellung eines Konfliktes zwischen zwei Richtungen, sondern besonders darin, daß er die paulinische und petrinische Position mit einzelnen neutestamentlichen Schriften in Zusammenhang gebracht hat, und damit erkannt war, »daß das Neue Testament keine Einheit darstellt und die Auseinandersetzung zwischen den sich widersprechenden Gruppen die eigentliche geschichtliche Bewegung verursachte. « 3 1831 veröffentlichte Ferdinand Christian Baur seinen grundlegenden Aufsatz »Die Christuspartei in der korinthischen Gemeinde, der Gegensatz zwischen dem paulinischen und petrinischen Christentum in der ältesten Kirche, der Apostel Petrus in Rom«. 4 Dieser Bericht über den Parteienstreit im I Kor wurde dabei zum Ausgangspunkt der Tübinger Tendenzkritik, ja man kann mit Ernst Käsemann formulieren: I Kor 1,12 wurde »der archimedische Punkt, von dem aus sich für Baur die urchristliche Geschichte erschloß«. 5 J udenchristliche und heidenchristliche Partei, Petrus- und Paulusanhänger standen sich nun gegenüber, und die Analyse der Gegensätze und Konflikte zwischen beiden Richtungen ließen das Bild einer prozeßhaften Entwicklung der frühchristlichen Gemeinden und ihrer Theologie entstehen, die erst im sog. »Frühkatholizismus« 6 zu einem ersten Ausgleich gekommen sei. Spätestens jetzt stellt sich in der Forschung das Problem der ZNT 6 (3. Jg. 2000) Baurs auf dem Tübinger Lehrstuhl, Carl Weizsäcker, das Geschichtsbild seines Lehrers. Weizsäcker erkannte die Bedeutung der griechisch sprechenden Judenchristen für die Entwicklung der frühen Kirche und zeigte damit, daß an den Konflikten des frühen Christentums mehr als nur zwei Parteien beteiligt waren. 9 In den folgenden Jahrzehnten wurden dann die bis heute historisch bestimmenden Faktoren einer Frühgeschichte des Christentums erarbeitet. Einige Meilensteine: Die religionsgeschichtliche Betrachtungsweise entdeckte den Einfluß sowohl der paganen als auch der frühjüdisch-hellenistischen Religionsgeschichte auf die Geschichte des frühen Christentums. 10 So wird der Boden für eine Erklärung theologischer Entwicklungen aufgrund außerchristlicher religiöser Einflüsse bereitet. Am markantesten wird dies bei den zahlreichen Versuchen deutlich, den Gnostizismus als treibende Kraft und als Ursache zu sehen. 11 Daneben machte bereits Adolf v. Harnacks berühmte These, daß die christliche Religion erst mit dem Beginn der gesetzesfreien Heidenmission in Antiochia vor allem durch Paulus und Barnabas zu einer eigenständigen Größe wurde bei aller Angreifbarkeit noch einmal auf die schwierigen Ablösungsprozesse vom Judentum und die damit verbundenen Identitätsfindungsprobleme als ein Movens frühchristlicher Theologiegeschichte aufmerksam. 12 41 Roman H eiligenthal Professor Dr. Roman Heiligenthal, Jahrgang 1953, Studium der Evangelischen Theologie in Bonn und Heidelberg. Promotion 1982, Habilitation 1990, seit 1992 Universitätsprofessor für Biblische Wissenschaften an der Universität Koblenz-Landau, Abt. Landau/ Pfalz und Vizepräsident der Universität Koblenz-Landau. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt: Der LebenswegJesu von Nazareth. Eine Spurensicherung. Stuttgart 1994; Der verfälschte Jesus. Eine Kritik moderner Jesusbilder. 2. erw. Aufl. Darmstadt 1999; Einführung in das Studium der Evangelischen Theologie. Stuttgart 1999. 1934 erschien erstmals Walter Bauers Untersuchung »Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum« 1 3, in der der Göttinger Professor für die Zeit jenseits des frühen Christentums zeigen wollte, daß auch in Rom wie in allen anderen Verbreitungsgebieten des Christentums während des 1. und 2. Jahrhunderts nicht die spätere katholische Orthodoxie, sondern »häretische« Anschauungen eine vorherrschende Rolle im Glauben der Gemeinden gespielt hätten. Damit wurde methodisch das Paradigma Orthodoxie versus Häresie zur wertenden Erschließung der urchristlichen Geschichte grundsätzlich in Frage gestellt, was an der Intention von Gottfried Arnolds »Unpartheyische Kirchen- und Ketzer- Historie« 14 erinnert. Die Geschichte des Glaubens war von Beginn an eine Geschichte der Vielfalt, in der unterschiedliche Gruppen konfliktreich um den richtigen Weg miteinander gerungen haben. Ferdinand Christian Baur rückte dabei den grundsätzlichen Konflikt zwischen Juden- und Heidenchristentum in den Blick; mit Carl Weizsäcker begann die Erkenntnis zu wachsen, daß die maßgebenden Gruppierungen differenzierter betrachtet werden müssen, insbesondere daß das» Judenchristentum« wie auch das 42 Judentum zur Zeit der frühen Kirche überhaupt vielfältiger waren, als es noch Baur, der der hegelianischen Geschichtsphilosophie verpflichtet war, sehen konnte. Den Blick nach außen öffnete neben anderen Wilhelm Bousset 15 , indem er die Einflüsse aus dem religionsgeschichtlichen Umfeld des frühen Christentums auf diesen Prozeß mitberücksichtigte und gleichzeitig das Mißtrauen gegenüber jedweder »Dekadenztheorie« dadurch schärfte, daß er in seinen Forschungen die Kanongrenze grundsätzlich nicht als eine qualitative Grenze ansah.16 Und schließlich bewahrheitete sich Walter Bauers Sichtweise auch bei der Analyse des Neuen Testaments in der Weise, daß in manchen neutestamentlichen Schriften bekämpfte Positionen den Positionen der Verfasser anderer kanonischer Schriften entsprechen. 17 Mit dem Durchbruch der formgeschichtlichen Methode wurde die Erforschung des frühen Christentums um einen wesentlichen Gesichtspunkt ergänzt: Mit ihrem Aufkommen rückte die Gemeinde als Sitz im Leben theologischer und historischer Entwicklungen in der frühen Christentumsgeschichte verstärkt ins Blickfeld. »Sie rechtfertigte die Forderung, Texte primär als Ausdruck der Gemeindetheologie und des Gemeindeglaubens zu deuten.« 18 Allerdings blieb die Frage nach dem »Sitz im Leben« bis in die sechziger Jahre hinein beschränkt auf die Frage nach dem religiösen Ort der Texte im Leben der Gemeinden. Besonders bei Martin Dibelius 19 wirkt sich hierbei im Anschluß an Overbeck ein Geschichtsbild aus, das einen anfänglichen grundsätzlichen Gegensatz von Evangelium und Welt postuliert. Ausgehend von diesem Antagonismus wird die Geschichte des frühen Christentums als eine Geschichte der zu nehmenden Verweltlichung und Paganisierung verstanden. Die von Dibelius und Overbeck angenommene »christliche U rliteratur« 20 stehe noch ganz im Zeichen der N aherwartung unliterarischer Menschen. Ob dieser Ansatz zur Analyse der Frühgeschichte des Christentums tauglich ist, scheint mir zumindest fraglich. Denn bereits in den Gemeinden von Qumran verträgt sich eine hochstehende literarische Textproduktion mit einer brennenden Naherwartung. Außerdem ist es fraglich, ob man so streng zwischen weltlichen und weniger weltlichen Formen unterscheiden kann, wie dies noch Dibelius tun konnte. 21 Erst die Wiederentdeckung sozialer und soziologischer Frage- ZNT 6 (3. Jg. 2000) stellungen, die ja bereits um die Jahrhundertwende eine erste Blüte erlebt hatten, 22 lenkte die Aufmerksamkeit auch wieder auf die sozialen Hintergründe frühchristlicher Gemeindekonflikte. Ganz allgemein signalisiert diese forschungsgeschichtliche Entwicklung einen methodischen Neuaufbruch, der auf die Integration unterschiedlicher humanwissenschaftlicher Ansätze in den theologischen Diskurs zielt. 23 Auch wenn diese neuere Entwicklung nicht unbetrauert geblieben ist2 4, so sehe ich in dieser Öffnung hin zu den Humanwissenschaften das notwendige methodische Spiegelbild der Einsicht, daß sich die Geschichte des frühen Christentums vielschichtig, bunt und nicht monokausal erklärbar entwickelt hat. In der heutigen Forschung werden die folgenden Fragen weiterhin kontrovers diskutiert bzw. neu aufgeworfen: Die Bedeutung von prosopographischen Studien zur Geschichte des frühen Christentums sollte neu entdeckt werden. Mit Sicherheit werden wir nicht sagen können, es ließe sich eine biographische Studie über neutestamentliche Personen im modernen Sinn erstellen. Hierzu fehlt sowohl das Material als auch das methodische Instrumentarium, das es uns in jedem Falle erlauben würde, zwischen der Rezeption in frühchristlichen Traditionen und dem historischen Hintergrund einer Personendarstellung exakt unterscheiden zu können. Dennoch lassen sich individuelle und typische Züge einzelner urchristlicher Gestalten durchaus noch erkennen. Im Wissen um die Schwierigkeiten einer historischen Rekonstruktion möchte ich lieber von einer prosopographischen Skizze sprechen.25 Es kann also nicht das individuelle Leben im Vordergrund der Betrachtung stehen, sondern es sollte um die Bedeutung frühchristlicher Gestalten hinsichtlich ihrer Stellung in der Geschichte des Urchristentums gehen. Eine solche an der Person ausgerichtete Perspektive schützt vor einem allzu schematischen Bild des frühen Christentums und »fungiert als methodischer Vorbehalt, als eine Art Bollwerk gegen jede Schematisierung frühchristlicher Geschichte und Theologie, oder positiv gewendet: als stete Aufforderung, Widersprüche, Ungereimtheiten, Brüche, Spannungen als Elemente einer sie umfassenden individuellen Einheit zu verstehen.« 26 Dieser Vorbehalt kommt zum Beispiel mit Blick auf Petrus und J akobus zum Tragen, da ihre Einschätzung bis heute durch die auch ZNT 6 (3. Jg. 2000) Roman Heiliganthal Die tfontrover,; ; e, mn d.; ,1, fri.ihe C! u-istentum konfessionell bedingte 27 These eines Gegensatzes zwischen paulinischen und petrinischem/ jakobinischem Christentum verstellt werden kann. 28 Nach wie vor umstritten ist die Bedeutung der Apostelgeschichte für eine Darstellung des frühen Christentums. Besonders die deutsche Auslegungstradition der vergangenen Jahrzehnte sah in der Apostelgeschichte vorrangig ein theologisches Dokument meist minderen Ranges und keine antike Historiographie. Dieser Ansatz hat meiner Ansicht nach seine Wurzeln in dem dogmatischen Vorurteil, dass der reine Glauben sich nicht an historischen Tatsachen festmachen darf. Häufig verbindet sich diese unausgesprochene Voraussetzung mit einer Einordnung der Apostelgeschichte in eine Verfallsgeschichte des Christentums unter dem Stichwort »Frühkatholizismus«. Auch neueste Versuche, eine Geschichte des frühen Christentums zu schreiben, lehnen den historischen Quellenwert der Apostelgeschichte ab. So schreibt Frarn,; ois Vouga: »Methodisch muß eine Darstellung der Geschichte des frühen Christentums davon ausgehen, dass die historisch-kritische Forschung und besonders die Formgeschichte die herkömmlichen Vorstellungen, die sich an die Konstruktion der Apostelgeschichte stark anlehnen, grundsätzlich in Frage gestellt haben.« 29 Mit Hinweis auf die formgeschichtliche Methode betrachtet Vouga die Apostelgeschichte als einen fiktiven geschichtstheologischen Entwurf3° und sieht offensichtlich in Lukas eher einen Apostelromanschreiber mit gewissen theologischen Tendenzen. 31 Zu Recht wird heute auch in Deutschland darauf hingewiesen, dass die redaktionsgeschichtliche Sicht der Apostelgeschichte ebenso zu gewagten historischen Rekonstruktionen führte, allerdings zumeist gegen den Text der Apostelgeschichte. Es scheint sich mittlerweile trotz aller gebotenen Vorsicht die Einsicht Weg zu bahnen, dass der Apostelgeschichte ein historischer Gehalt nicht abzusprechen ist. 32 Es ist heute soweit ich sehe allgemeiner Konsens, von unterschiedlichen Theologien bzw. Richtungen innerhalb des frühen Christentums zu sprechen. Ob man allerdings die Ausdifferenzierung des Christentums von Beginn an mit dem Modell einer »Chaostheorie« (so F. Vouga) erklären sollte, erscheint mir fraglich. Ich würde lieber das Bild eines Baumes verwenden. Die Wurzel dieses Baumes liegen in Jerusalem, wo sich die ersten Messiasbekenner sammelten. Hieraus erwuchs ein 43 Kontroverse Stamm gemeinsamer Traditionen, die sich dann immer weiter verästelten. Nur so lassen sich meiner Meinung die zahlreichen Konvergenzen zwischen den neutestamentlichen Schriften erklären. Ein Moment der Einheit besteht meines Erachtens auch darin, dass das gesamte frühchristliche Schrifttum von Judenchristen verfasst ist, so dass man nur sehr bedingt von einem Gegensatz zwischen Juden- und Heidenchristentum sprechen kann. Ein Letztes: Gerade die protestantische Theologie ist immer wieder versucht, die Geschichte des frühen Christentums ganz aus paulinischer Perspektive heraus zu schreiben. Doch die Wurzeln des Christentums liegen in Jerusalem, wo sich meist im Konsens die späteren, auch paulinischen Entwicklungslinien des Christentums herausbildeten. Jakobus steht hier für den Ausgleich zwischen palästinischem und hellenistischem Judenchristentum. Petrus für die Öffnung hin zur gesetzesfreien Heidenmission und Philippus für das pneumatische Element, das das gesamte Frühchristentum geprägt hat. Anmerkungen 1 J.S. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canons IV, 1775, 8f. 2 Semler bezieht sich ausdrücklich auf den 1720 entdeckten Canon Muratori. Sein wichtigstes Anliegen war die Unterscheidung zwischen verbindlichen moralischen Wahrheiten und zeitbedingten Aussagen, die für die Gegenwart überholt seien. 3 W.G. Kümmel, Das Neue Testament im 20. Jahrhundert. Ein Forschungsbericht, 1970 (SBS 50) 1 lf. 4 TZTh 4 (1831), 61-206. 5 E. Käsemann, Einführung, IX: F.Chr. Baur, Ausgew. Werke I, 1963. 6 H. Conzelmann benennt die folgenden Elemente des »Frühkatholizismus«: Die Kirche wird als Heilsanstalt gesehen; für den Kirchenbegriff wird das Amt konstitutiv. Damit wird der Geist an das Amt und das Heil an das Priestertum gebunden. Das Heil wird durch das Sakrament und die Disziplin verwaltet. In den Ignatiusbriefen und bei Clemens fände der »Frühkatholizismus« seine volle Ausbildung durch den programmatischen Entwurf einer Hierarchie, die Bindung des Traditionsgedankens an die Amtssukzession und die Trennung von Klerus und Laien; vgl. H. Conzelmann, Grundriß der Theologie des Neuen Testaments (EETh 2), 2 1968, 318- 322. Konstitutiv für diese Sicht der frühchristlichen Geschichte ist die Beurteilung des Kirchenrechts, das in seiner regulierenden Funktion in einem Gegensatz zum 44 Evangelium stünde (vgl. die grundlegende These von R. Sohm). Dagegen sollte man jedoch bedenken, daß die Dimension des Rechts von vornherein eine bedeutende Rolle in der Geschichte des frühen Christentums spielte. Beispielsweise in der intensiven Durchdringung von rechtlichem und charismatischem Bereich im juristischen Charakter mancher visionärer Erfahrungen, in Zeugenberichten, auch in der Absicherung von Erscheinungsberichten durch die Betonung ihres kollektiven Charakters. 7 Eine erste Antwort auf die Frage nach dem Gemeinsamen der unterschiedlichen frühchristlichen Richtungen gab Albrecht Ritschl, indem er in der Erwartung der Parusie das verbindende Element zwischen Paulinern und Petrinern sah: »Paulus unterscheidet sich auch darin nicht von den Aposteln, daß er die von Christus selbst (Mk 13,20) angeregte Hoffnung hegte, die Wiederkunft des Herrn in der nächsten Zeit zu erleben ... «, A. Ritschl, Die Entstehung der altkatholischen Kirche. Eine kirchen- und dogmengeschichtliche Monographie, 2 1857, zitiert nach: W.G. Kümmel, Das Neue Testament. Geschichte der Erforschung seiner Probleme, 1970, 204. 8 Käsemann, Einführung, IX. 9 C. Weizsäcker, Das Apostolische Zeitalter der christlichen Kirche, 3 1902, 146-179. 10 Vgl. u.a. G. Lüdemann/ M. Schröder, Die Religionsgeschichtliche Schule in Göttingen. Eine Dokumentation, 1987. 11 Einen guten Überblick über diese bis heute in Teilen der Forschung fortbestehende Tendenz bieten: Gnosis/ Gnostizismus I, (K. Berger), TRE 13 (1984), 519-535 und Gnosis/ Gnostizismus II, (R. McLachlan Wilson), TRE 13 (1984), 535-550. 12 A. v. Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 1: Die Entstehung des kirchlichen Dogmas, 4 1909, 20: »Das Dogma ist in seiner Conception und in seinem Ausbau ein Werk des griechischen Geistes auf dem Boden des Evangeliums.« Diese berühmte These Harnacks ist eine Weiterbildung der Annahme A. Ritschls, daß der frühe Katholizismus eine Fortbildung vulgären Heidenchristentums gewesen sei. Harnack leugnet radikal die Entstehung der frühkatholischen Theologie als Produkt eines Gegensatzes von »urapostolischen Lehrbegriffen« und stellt sich damit gegen die Thesen Baurs zur Geschichte des frühen Christentums. 13 W. Bauer, Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum, (BHTh 10), 2 1964. 14 Nachdruck 1967. 15 Vgl. A.F. Verheule, Wilhelm Bousset, Leben und Werk, 1973. 16 Die wissenschaftlichen Untersuchungen Wilhelm Boussets gehören noch heute zu den Standardwerken neutestamentlicher Theologie. Sein Kommentar zur Johannesapokalypse und die ihn vorbereitende Studie über den Antichristen, die Untersuchungen »Die Religion des Judentums im neutestamentlichen Zeitalter« und »Hauptprobleme der Gnosis«, besonders aber auch sein Hauptwerk »Kyrios Christos«, die Geschichte der ZNT 6 (3. Jg. 2000) Christologie bis Irenäus darstellend, umreißen in etwa sein weites Forschungsinteresse: die Arbeit an der Erforschung der frühchristlichen Eschatologie und die Darstellung des religionsgeschichtlichen Milieus des Urchristentums. 17 Für die Positionen der Verfasser desJud und des Kol habe ich dies versucht nachzuweisen: R. Heiligenthal, Zwischen Henoch und Paulus. Studien zum theologiegeschichtlichen Ort des Judasbriefes (TANZ 6), Tübingen 1991, 95-124. 18 G. Theißen, Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19), Tübingen 1979, 6. 19 M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, 3 1959. 20 Vgl. F. Overbeck, Über die Anfänge der patristischen Literatur (HZ 1882), 417ff. 21 Vgl. hierzu bes. K. Berger, Formgeschichte des Neuen Testaments, 1988. 22 Zu nennen wären hier u.a. die wegweisenden Untersuchungen von E. Troeltsch und A. Deissmann. 23 Vgl. für den deutschsprachigen Raum u.a. die folgenden Untersuchungen: G. Theißen, Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19), Tübingen 1979; ders., Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien, (NTOA 8), Fribourg/ Göttingen 1989; ders., Psychologische Aspekte paulinischer Theologie (FRLANT 131 ), Göttingen 1983; K. Berger, Historische Psychologie des Neuen Testaments (SBS 146/ 7), Stuttgart 1991; H.K. Berg, Ein Wort wie Feuer. Wege lebendiger Bibelauslegung, 1991. 24 Vgl. etwa: U.H.J. Körtner, Theologie in dürftiger Zeit. Ein Essay, 1991. 25 Beispielhaft wurde der prosopographische Ansatz jüngst von A. v. Dobbeler, Der Evangelist Philippus in der Geschichte des Urchristentums. Eine prosopographische Skizze, Habil. masch. Heidelberg 1998, durchgeführt. 26 v. Dobbeler, Evangelist, 17. 27 Ein Beispiel hierfür ist die Studie von P. Gaechter, Petrus und seine Zeit, 1958, in der Petrus ganz dem institutionell-juridischen und Paulus dem pneumatologischtheologischen Bereich zugeordnet wird. 28 R. Heiligenthal, Methodische Erwägungen zur Analyse neutestamentlicher Gemeindekonflikte, ZRGG 48 (1996), 97-113. 29 F. Vouga, Geschichte des frühen Christentums, 1994, 2. 30 Vgl. bes. die Arbeiten von Martin Dibelius, Hans Conzelmann und Ernst Haenchen, die für die deutschsprachige Actaforschung der vergangenen Jahrzehnte bestimmend wurden. 31 Dies wird mit Recht kritisiert von Martin Hengel: M. Hengel/ A.M. Schwemer, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien. Die unbekannten Jahre des Apostels (WUNT 108), Tübingen 1998, 226. 32 Vgl. hierzu: M. Hengel, Zur urchristlichen Geschichtsschreibung, Stuttgart 2 1984. ZNT 6 (3. Jg. 2000) Roman Hailigenthal Die l{ontrnvmse um das friihe Chri5tEmtum Zur weiteren Lektüre: Steve Mason Flavius Josephus und das Neue Testament Aus dem Amerikanischen von Manuel Vogel UTB 2130 S, 2000, 354 Seiten, DM 36,80/ ÖS 269,-/ SFr 34,- UTB-ISBN 3-8252-2130-X Die Werke des Flavius Josephus stellen die wichtigsten Quellentexte für die Geschichte des frühen Christentums und des antiken Judentums dar. Der kanadische Josephus-Spezialist Steve Mason zeigt jedoch, daß diese Texte in der Forschung vielfach als bloßer Steinbruch für historisches Datenmaterial benutzt werden und das schriftstellerische Eigeninteresse des jüdischen Historikers weithin gar nicht wahrgenommen wird. Vorrangig für Studierende des Neuen Testaments, aber auch für theologisch, judaistisch und althistorisch Interessierte legt Mason deshalb eine für diese Übersetzung überarbeitete Einführung in das Werk des Josephus vor, die nicht nur das nötige Grundwissen vermittelt, sondern auch zu einem eigenständigen, methodologisch reflektierten Umgang mit diesen Quellentexten hinführt, die für das Verständnis besonders des Neuen Testaments von unschätzbarem Wert sind. UTB FURWISSEN SCHAFT Francke 45 Neu zum Thema Philosophie Hartmut Heuermann Wissenschaftskritik Konzepte - Positionen - Probleme 2000, 352 Seiten, DM 78,-/ ÖS 569,-/ SFr 74,- ISBN 3-7720-2753-9 Mit jedem Tag, der vergeht, schreitet die Wissenschaft rasanter voran. Keine Entwicklung ist so offenkundig wie die Verwissenschaftlichung unserer Welt. Aber mit jedem Tag wird auch die Janusköpfigkeit des Unternehmens problematischer. Während das wissenschaftlich gestiftete Wissen ins Immense wächst, kann die kulturelle Weisheit mit der "Wissensexplosion" nicht Schritt halten, und während das System der Wissenschaft prosperiert, stellt sich immer dringlicher die Frage nach seiner Lenk- und Verantwortbarkeit. Dieses Buch erschließt Wissenschaftskritik 1. über Schlüsselkonzepte, die das Phänomen analysieren; 2. über Positionen, die die wissenschaftlichen Konstruktionen des "Wirklichen" in Frage stellen; 3. über Problemdiskussionen, die immanente Schwächen und Fehlsteuerungen bloßlegen. Marcus Düwell / Dietmar Mieth (Hrsg.) Ethik in der Humangenetik Die neueren Entwicklungen der genetischen Frühdiagnose aus ethischer Perspektive Ethik in den Wissenschaften 10, 2., unveränd. Aufl., 2000, 520 Seiten, DM 86,-/ ÖS 628,-/ SFr 77,- ISBN 3-7720-2620-6 Am Beispiel der genetischen Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik will der Sammelband die ethische Diskussion um die genetische Diagnostik vertiefen und sie fundierend weiterführen. Dagmar Penner Kunst jenseits von Gut und Böse? Kritischer Versuch über das Verhältnis von Ästhetik und Ethik Basler Studien zur Philosophie 12, 2000, 573 Seiten, DM 108,-/ ÖS 788,-/ SFr 97,- ISBN 3-7720-2081-X "Ästhetik" feiert heute Hochkonjunktur und kursiert als Modewort unserer postmodernen Modeme. Dieses Buch stellt einen historisch-systematischen Versuch dar, anhand typologischer Studien zum Verhältnis der philosophischen Disziplinen Metaphysik, Erkenntnistheorie, Ethik und Ästhetik quer durch die Philosophiegeschichte hindurch den Weg der angeblichen Substituierung der Metaphysik durch die Ästhetik zu beleuchten, wobei der Schwerpunkt auf der Beziehung zwischen Ästhetik und Ethik liegt. Welche Konsequenzen zeitigen die Inthronisation der Ästhetik und die Okkupation sämtlicher Lebens- und Wissensbereiche durch das "Ästhetische" für das individualethisch gute Leben und das sozialethisch gerechte Zusammenleben? Dagmar Penners kritischer Versuch richtet sich explizit nicht an Spezialisten, sondern an alle philosophisch Interessierten, die beständig bestrebt sind, sich selbst und die Welt neu zu entdecken, zu transformieren und gemeinsam mit anderen zu revidieren. A. Francke Verlag Tübingen und Basel Frarn~ois Vouga Einheit und Vielfalt des frühen Christentums Die Anfange des frühen Christentums sind nur als Zusammenhang von verschiedenen Ereignissen und von vielfältigen Entwicklungen zu denken. Dabei muß allerdings berücksichtigt werden, daß die Wirklichkeit sicher komplexer gewesen ist, als es sich die historischen Rekonstruktionen vorstellen können. Eine erste These verweist auf die Evidenz der Vielfalt, die die Geschichte des Christentums von Anfang an gekennzeichnet hat. Eine zweite These zeigt die 1. Vom neutestamentlichen Gesichtspunkt her ist es klar: Der Tod und die Auferstehung sind das Ereignis, von dem aus die Geschichte J esu zu verstehen ist. Diese christologische Aussage geht mit einer historischen einher: Ostern und die Erscheinungen des Auferstandenen bilden den Anfang des Christentums. Diese These ist nicht nur von Rudolf Bultmann 1 programmatisch vertreten worden, sondern bereits von einem der ältesten Texte des Frühchristentums: Nach theologische Notwendigkeit dieser Vielfalt, die daraus folgt, daß der Pluralismus zum Wesen, zur K8 TROV der traditionellen Formel, die Paulus in I Kor 15,3-5 oder I Kor 15,3-7 zitiert, gründen das Evangelium Identität und deshalb auch zur Einheit des Christentums gehört. Eine dritte These behauptet, daß die Apostelgeschichte selbstverständlich und genauso wie alle anderen frühchristlichen Schriften als Quelle für eine sachgemäße Darstellung der Geschichte des frühen Christentums verwendet werden muß. Die vierte und letzte These hebt hervor, daß eine treue historische Rekonstruktion insofern viel Phantasie verlangt, als der Historiker immer versucht ist, sein ideologisches Verständnis dessen, was die Wirklichkeit sein könnte, und seine Vorurteile als Maß der vergangenen Geschichte zu betrachten. 1. Die notwendige Pluralität der Anfänge Die Idee, daß eine Bewegung wie das Frühchristentum einen klaren, isolierbaren und beschreibbaren Anfang haben konnte, ist reine Naivität. Sie wäre allerdings nur dann reine Naivität, wenn jedes ideologische Interesse dabei fehlen würde. Das Interesse besteht darin, eine einfältige, einheitliche und orthodoxe Definition des Christentums durch den Verweis auf einen eindeutigen Anfang begründen zu können. Eine kurze Reflexion genügt, um zu verstehen, daß das Christentum keinen Anfang haben konnte. Oder präziser: daß es nur zahlreiche, parallele und voneinander unabhängige Anfänge haben konnte. ZNT 6 (3. Jg. 2000) und das Christentum darauf, daß Jesus auferstanden ist und sich von Petrus, den Zwölfen, den 500 Brüdern, von Jakobus und den Aposteln hat sehen lassen. Diese Kette von Zeugen impliziert zwar eine Pluralität, und Ludger Schenke 2 hat wahrscheinlich mit Recht beobachtet, daß sie wahrscheinlich einen Anfang in Galiläa hatte, wo Petrus, die Zwölf und die 500 Brüder den Auferstandenen gesehen haben, und einen anderen, parallelen und gleichzeitigen, in Jerusalem, wo er Jakobus und den Aposteln erschienen ist. Aber diese Pluralität bildet die Grundlage für eine gewisse Einheit und eine bestimmte Definition des Wesens des christlichen Glaubens. 2. Die nächstliegende Frage ist aber dann: Hat alles an Ostern angefangen? Bilden die Erscheinungen des Auferstandenen eine creatio ex nihilo? Der erste Name, der genannt wird, ist schon an sich eine klare Beantwortung der Frage: Petrus ist als eine der Hauptfiguren bekannt, die in Galiläa Schüler J esu gewesen sind. Gehörten schon die Wanderpredigt und die Tischgemeinschaften, die in den Evangelien erzählt werden, zu den Anfängen des Christentums? Wenn wir dem zustimmen, dann haben wir schon zwei zeitlich getrennte Anfänge des Frühchristentums. Wenn wir an unserer ersten Definition, nach welcher die Geschichte des Christentums erst an Ostern anfängt, festhalten, dann erwarten uns neue Fragen. Auf das Problem hat Burton Mack 3 am klarsten hingewiesen: Wenn 47 die Träger-Gruppe der Jesus-Traditionen in Galiläa nicht zum Christentum gehörte, weil sie die Worte Jesu und nicht das Kerygma des Todes und der Auferstehung überliefert hat, stammen die wichtigsten Quellen der Predigt Jesu, u. a. die sogenannte Logienquelle, aus einem nicht-christlichen Milieu? Zugespitzt formuliert: Sind die engsten Genossen des historischen] esus außerhalb des Christentums geblieben? 3. Wenn man annehmen kann, daß die Anfänge des Christentums zum Teil klar, zum Teil diffus gewesen sind, und daß sie sich weder als ein einziges, entscheidendes Ereignis noch als eine einheitliche Entwicklung darstellen lassen, was einen Konsens zwischen Roman Heiligenthal und mir zu sein scheint, dann stellt sich die Frage, ob es tatsächlich in der Geschichte des frühen Christentums einen Ort und einen Zeitpunkt gibt, in dem die theologische oder die institutionelle Einheit sichtbar wäre, die Herder voraussetzt, wenn er von einer »festen apostolischen Sage« spricht. 4 In der kirchenhistorischen Geschichtsschreibung wird die einzige Möglichkeit eines solchen Moments im Treffen des Paulus mit den sogenannten Säulen in Jerusalem, das in Gai 2,1-10 und in Apg 15 erzählt wird, gefunden. Doch zum einen ist es erstaunlich, daß die Rezeption der Konferenz in Jerusalem und ihrer Ergebnisse im Neuen Testament auf diese beiden Texte von Gai 2,1-10 und Apg 15 beschränkt ist. Selbst Paulus scheint nicht mehr mit der Gültigkeit der ehemaligen Anerkennung rechnen zu dürfen, wenn er zum letzten Mal nach Jerusalem reist, um die Kollekte dorthin zu bringen (Röm 15,14-29). Die gegenseitige Anerkennung, die nach Gai 2,6- 10 durch den berühmten Handschlag symbolisiert wird, scheint nur Jakobus, Petrus, Johannes, Paulus und Barnabas einigermaßen verbunden zu haben, aber sie verpflichtet weder die Gemeinde in Jerusalem und die falschen Brüder, denen ein großer Einfluß dort von Paulus selbst zugestanden wird (Gai 2,2-5), noch andere Missionsunternehmen, wie zum Beispiel die Hellenisten, die in Korinth nach II Kor 10,1-13,10 auftauchen und die daran nicht beteiligt sind. Zum anderen bildet die gegenseitige Anerkennung der Säulen, des Paulus und des Barnabas keinen »Konsens« in dem Sinne, daß die Basis für die Formulierung eines normativen Evangeliums dadurch gegeben worden wäre. Offensichtlich hat 48 die Einheit in Jerusalem die Form des Dialoges, und nicht die Form des Konsenses angenommen. Die Konsequenzen dieser Beobachtungen führen zu einer ersten These, die folgendermaßen lautet: These 1: Wie jede historische Bewegungen folgt die Entstehung des Frühchristentums aus einer Folge von einzelnen Ereignissen und Begegnungen, die uns zum Teil unbekannt sind und unbekannt bleiben werden. Der Glaube kann bekennen, daß alle diese Ereignisse und Begegnungen zur Einheit eines Heilsplanes Gottes gehören. Der Historiker kann nur eine Vielfalt von Fakten und Entwicklungen feststellen, die unabhängig voneinander zu erklären sind. Ohne die Vielfalt dieser verschiedenen Ereignisse und Begegnungen lassen sich die Anfänge, die im Neuen Testament dokumentiert sind, nicht verstehen. 2. Die überflüssige Suche nach Einheitlichkeit Die Suche nach einem klar abgrenzbaren Anfang des frühen Christentums erweist sich als eine Notwendigkeit für die christliche Theologie, sobald sie es unternimmt, das Evangelium als Orthodoxie zu definieren oder es mit einer Institution verbindlich zu identifizieren. 1. Das paulinische Verständnis des Evangeliums, nach welchem Gott niemanden »aus dem Gesetz«, das heißt wegen seiner Eigenschaften und seiner Zugehörigkeit zum Bund, sondern jeden Menschen, der sein Vertrauen in das Vertrauen, das in Jesus war, setzt, rechtfertigt (»aus dem Glauben an und von Christus gerechtfertigt«, Gal2,14b-21), begründet einen pluralistischen Universalismus und einen universalistischen Pluralismus, die auf der Anerkennung der Subjektivität jeder einzelnen Person basieren. 5 Das Programm dieses pluralistischen Universalismus besteht in dem Bekenntnis, daß in Christus alle eins sind, so daß es weder Griechen noch Juden, weder Sklaven noch Freie, nicht Mann und Frau gibt (Gai 3,28). Die Bedeutung dieses Satzes ist, daß jeder von Gott und in der christlichen Gemeinde als Person unabhängig von seinen Eigenschaften anerkannt wird, und daß deswegen jeder mit seinen Eigenschaften von Gott und in der Gemeinde als Person bedingungslos an- ZNT 6 (3. Jg. 2000) Franr,; ois Vouga Geboren 1948 in N euchatel; 1973-1974 Assistent von Christophe Senft in Lausanne; 1975-1982 Gemeindepastor in Avully und Chancy (Genf); 1982- 1985 Maitre assistant in Montpellier; 1985 These de doctorat und venia legendi im Fach Neues Testament in Genf; 1984-1985 Gastprofessor in Neuchatei; 1985-1986 Professor in Montpellier, 1986 an der Kirchlichen Hochschule Bethel. Seit 1988 regelmäßige Gastprofessuren in Rom; 1998 Ehrendoktor der Universität Neuchatei; 1999 Gastprofessur in Quebec. erkannt wird. 6 Dieses »Evangelium Gottes« ist deswegen pluralistisch, weil es als Überzeugungssystem so strukturiert ist, daß die Pluralität Bestandteil seiner Einheit ist. Daraus folgt, daß Einheit und Vielfalt keine konträren Größen sind, die sich gegenseitig bedrohen und begrenzen, sondern umgekehrt, daß sie sich gegenseitig verstärken. Die Einheit ist um so stärker, als sich divergierende Interpretationen des Evangeliums gegenseitig anerkennen, und die Vielfalt ist um so größer, als die Einheit durch die gegenseitige Anerkennung jedes Einzelnen gegeben ist. 7 2. Die paulinischen Briefe entwickeln nicht nur ein Verständnis der Auferstehung und des Todes J esu, das ein Programm des pluralistischen U niversalismus oder des universalistischen Pluralismus begründet (Gal 3,18). Zum einen bildet die christologische und ekklesiologische Metapher des Leibes, wie sie in I Kor 12,1-31 entwickelt ist, die konkrete Anwendung dieses Programmes zur Interpretation und Gestaltung des alltäglichen Lebens in den christlichen Gemeinden. Die doppelte Idee des Leibes, wie sie in der hellenistisch-römischen Welt verwendet ist, nach welcher die Gesellschaft trotz aller sozialen Ungleichheiten eine organische Einheit bildet, so daß die arbeitenden Schichten der ZNT 6 (3. Jg. 2000) Fran~ois Vouga ,; i; ; iii10i·~ iiud Vk~lfait des frühen Christentums Bevölkerung den privilegierten Klassen loyal und solidarisch bleiben sollen, wird christologisch und pneumatologisch in ihr Gegenteil umgekehrt: Jede Person ist in der Gemeinde Trägerin einer unersetzlichen Begabung des heiligen Geistes, und die Vielfalt ist eine Notwendigkeit für die organische Einheit des Leibes, so daß sich die Glieder gegenseitig als gleichberechtigt anerkennen müssen und daß die bescheidenen besonders beachtet werden sollen. Zum anderen findet das paulinische Programm des universalistischen und pluralistischen Evangeliums seine Entsprechung in der Organisation der paulinischen Mission und in der liberalen Haltung des Paulus gegenüber der Theologie seiner Mitarbeiter. Die paulinische Mission bildet eine offene Gesellschaft. 8 Wie jede offene Gesellschaft muß sie sich gegen ihre Feinde verteidigen. Wer sind die Feinde der offenen Gesellschaft der paulinischen Mission, die Paulus »Feinde Christi«, »Feinde des Kreuzes«, »Falsche Apostel« oder »falsche Brüder« nennt? Im Galaterbrief betrachten sie die Beschneidung und die Zugehörigkeit zum Bund als die Bedingungen der Zugehörigkeit zum Evangelium.9 Im 2. Korintherbrief lästern sie über die Kollekte, die die gegenseitige Anerkennung der Kirchen der heidenchrist! ichen Mission und der Gemeinden in Judäa symbolisieren soll. In beiden Fällen sind die Feinde Christi Leute, die den pluralistischen Universalismus des Evangeliums oder den universalistischen Pluralismus verhindern wollen. 3. Der pluralistische Universalismus oder der universalistische Pluralismus erscheinen immer da als eine Gefahr, wo sich historische Institutionen, Lehrer, Apostel oder Christen mit der Wahrheit selbst identifizieren. Andere Ereignisse, Personen oder Institutionen als das Kreuz und die Auferstehung J esu werden sakralisiert, so daß eine Grenze zwischen Orthodoxie und Heterodoxie innerhalb des Christentums doch konstruiert wird, wo das »Kreuz« jede andere Abgrenzung als die Taufe (Gal 3,26-29 10) zuvor aufgehoben hatte. Die historisch willkürlichen Entscheidungen, einen fiktionalen Anfang des frühen Christentums festzulegen, um eine »Einheit« und eine maßgebliche Definition des wahren Christentums durch die Auswahl einer privilegierten Entwicklungslinie und durch den Ausschluß der anderen zu begründen, müssen als ideologische (eher als dogmati- 49 sehe) Machtprozesse berachtet werden 11 , die weder historisch noch neutestamentlich begründet werden können. Die Ablehnung des Pluralismus, die aus der Suche nach Einheit resultiert, führt zur Zersplitterung des Christentums, wie es der erste Ideologe der Einheit, Ignatius von Antiochen, selbst feststellen mußte. 12 Die Konsequenzen dieser Beobachtungen führen zu einer zweiten These, die folgendermaßen lautet: These 2: Die ursprüngliche Vielfalt des frühen Christentums, die die historische Arbeit feststellen muß, stellt weder die anfängliche Einheit noch die Deutlichkeit der Identität des Christentums in Frage. Der Grund dafür besteht in der Paradoxie, daß der pluralistische Universalismus und der universalistische Pluralismus der frühchristlichen Gemeinden aus der apostolischen Selbstdefinition des Christentums folgt. Die Pluralität und die Vielfalt gehören also zum Wesen und zur Identität des Christentums, so daß sie als Bestandteil seiner Einheit zu verstehen sind. Als Konsequenz muß gedacht werden, daß die sachgemäße Form der Einheit der Christen die Form des Dialogs und nicht die Form des Konsenses ist. 3. Die Apostelgeschichte als Quelle für die Geschichte des Frühchristentums Die These einer einheitlichen Entstehungsgeschichte des frühen Christentums beruft sich auf die Autorität der Apostelgeschichte. Die Idee, die Einheit der sogenannten »Urgemeinde« und des sogenannten »Urchristentums« auf dem lukanischen Zeugnis zu begründen, ist wiederum reine Naivität. 1. Die Erzählabsicht der Apostelgeschichte besteht offensichtlich nicht darin, eine Geschichte des frühen Christentums zu schreiben. Die Erzählabsicht des Historikers ist im Programm seines Werkes explizit erklärt. Es geht darum, die Kontinuität der apostolischen Mission zwischen Jerusalem und Rom plausibel zu machen. Diese Kontinuität hat legitimierende Funktion und beschäftigt sich nur mit der westlichen, europäischen Entwicklungslinie des Christentums. Die Verbreitung des christlichen Weges bis nach Rom muß legitimiert werden, und die Apostelgeschichte er- 50 zählt nur die Etappen, die zu einer von den Aposteln autorisierten Predigt in Rom führen. Die Geschichte der Gemeinden in Jerusalem interessiert den Verfasser nur bis zum Augenblick, in dem die Heidenmission vonJakobus und durch die Versammlung der Apostel und der Ältesten der »Urgemeinde« abgesegnet worden ist. Weder die Entstehung des Christentums in Ägypten noch die Entstehung eines johanneischen Christentums, die durch das Evangelium, die drei Briefe und die Offenbarung innerhalb des Neuen Testaments gut belegt sind, finden Platz im historischen Abriß des Verfassers. Lukas verliert auch sehr schnell die Spur der petrinischen Mission. Sein Thema ist nämlich ein anderes: Die diskontinuierliche Kontinuität des Christentums von Jerusalem bis nach Samarien, Antiochien, Ephesus, Korinth und Rom. 2. Darüber hinaus muß die Apostelgeschichte nicht nur von ihrer Erzählabsicht, sondern auch von ihrer Gattung her verstanden werden. Die einschlägigen Arbeiten von Eckhard Plümacher 13 zeigen, daß sich Lukas nicht nur als Historiker hat verstehen können, sondern daß der historische Charakter seiner Geschichtsschreibung mit der Akzeptanz seitens der hellenistisch-römischen Welt rechnen konnte. Vorausgesetzt ist in diesem Urteil die Existenz der Gattung der rhetorisch-historischen Monographie, die einmal durch das Anliegen bestimmt ist, Thesen zu vertreten und zu begründen, die des weiteren für ein breites Publikum veröffentlicht wird, und die sich zuletzt von den Gattungen der historisch-kritischen Geschichtsschreibung deutlich unterscheidet. Daraus folgt: Die doppelte Feststellung, wonach die Komposition der Apostelgeschichte einerseits durch bestimmte theologische Thesen geleitet ist und wonach sie andererseits die Geschichte der frühchristlichen Mission nach Westen so darstellt, daß diese Thesen belegt und begründet werden können, widerspricht dem Anspruch des lukanischen Buches, ein historisches Werk zu sein, keinesfalls. Daher ist der Apostelgeschichte ein historischer Gehalt nicht abzusprechen, auch wenn eine Rekonstruktion der Geschichte des frühen Christentums oft unabhängig von der Apostelgeschichte und manchmal gegen ihren Text unternommen werden muß. Dadurch nimmt man aber gerade den Text, die Gattung und die Erzählabsicht des lukanischen Geschichtswerks wahr und ernst. ZNT 6 (3. Jg. 2000) 3. Die alte, klassische Idee, daß eine Geschichte des frühen Christentums zum Teil gegen den Text der Apostelgeschichte geschrieben werden muß, folgt aus der Tatsache, daß bestimmte historische Angaben der Apostelgeschichte und der paulinischen Briefe nicht nur konträr, sondern auch widersprüchlich (kontradiktorisch) sind. Die Informationen in Gal 2, 1-10 und in Apg 15 sind konträr, wenn Paulus die Abwesenheit des Titus erwähnt, während ihn Lukas überhaupt ignoriert. Solche konträren Aussagen können auf einer höheren Ebene miteinander vereinbart werden und lassen sich durch die Verschiedenheit der jeweiligen Gesichtspunkte erklären. Kontradiktorische Informationen hingegen schließen sich gegenseitig aus. Paulus kann nicht unmittelbar nach seiner Berufung nach Jerusalem gegangen sein, um die Zwölf zu sehen (Apg 9) und gleichzeitig drei Jahre bis zu seiner Reise nach Jerusalem gewartet haben, um Petrus und Jakobus kennenzulernen, ohne die anderen Aposteln gesehen zu haben (Gal 1,17-18). Aus dem Vergleich zwischen den eigenen Berichten des Paulus und der Erzählung der Apostelgeschichte folgt, daß Lukas Ereignisse verschweigt, einschiebt oder so verändert, daß sie in sein Geschichtsbild hineinpassen. Die Konsequenzen dieser Beobachtungen führen zu einer dritten These, die folgendermaßen lautet: These 3: Die Apostelgeschichte soll als Quelle für die Rekonstruktion des frühen Christentums genau so ernst und sorgfältig wie die anderen frühchristlichen, kanonischen und nicht-kanonischen Texte verwendet werden. Dabei soll sie historischkritisch interpretiert werden, wenn sie als historisches Dokument verwendet wird. Das bedeutet unter anderem, daß die Beurteilung und die Verwendung der Informationen, die sie vermittelt, ihre Gattung als rhetorische Monographie, ihre theologische Erzählabsicht und die Implikationen ihrer Gattung und ihrer Erzählabsicht berücksichtigen muß. Daraus folgt auch, daß die Feststellung, daß eine Rekonstruktion der Geschichte des frühen Christentums dem Texte der Apostelgeschichte entspricht oder widerspricht, nichts über Plausibilität und Wahrscheinlicheit aussagt. ZNT 6 (3. Jg. 2000) 4. Die hermeneutischen Modelle: deterministisches Chaos, Baum, Besen und Busch Verschiedene Metaphern werden verwendet, um die Dialektik zwischen der Einheit und der Vielfalt des frühen Christentums zu beschreiben. Dem Modell des deterministischen Chaos, das ich vorgeschlagen habe 1 4, zieht Roman Heiligenthal das Bild des Baumes vor. Ich denke, daß diese Vorstellungen noch differenziert werden müssen. 1. Der Begriff des deterministischen Chaos 15 hat ihre Wurzeln im philosophischen Denken des Mathematikers Henri Poincare 16 und ist im Bereich der Naturwissenschaften weiterentwickelt worden. Er bezeichnet Systeme, die durch Ursachen und Voraussetzungen determiniert sind, die aber gleichzeitig Änderungen erfahren, die unvorhersehbar bleiben. Das deterministische Chaos unterscheidet sich insofern von einem aleatorischen System, als die wahrnehmbaren Veränderungen, die dort geschehen, auf Oszillationen und Wechselwirkungen zurückzuführen sind, deren Komponenten meßbar und berechenbar sind. Es unterscheidet sich andererseits von einem determinierten System, weil diese Wechselwirkungen komplex sind, sie verschiedene Entwicklungen provozieren können und die Ergebnisse, zu denen sie führen können, innerhalb von bestimmten Grenzen offen bleiben. Das Modell des deterministischen Chaos scheint mir deswegen angemessen die Geschichte des frühen Christentums zu interpretieren, weil gewisse Voraussetzungen gegeben sind, die als Konstanten betrachtet werden können, während die Wechselwirkung zwischen den Handlungen der einzelnen Figuren und der Gesamtentwicklung der frühchristlichen Bewegung durch keine wiederholbare und kalkulierbare Regelmäßigkeit bestimmt ist. 2. Das Modell des deterministischen Chaos und das Bild des Baumes stellen keine Alternative dar, weil jeder Baum aus einem System des deterministischen Chaos besteht. 17 Das Wachstum jedes einzelnen Baumes bleibt unberechenbar und die Chancen, zwei identische Bäume zu finden, sind äußerst gering. Als Interpretament für die Geschichte des frühen Christentums scheint mir das Bild des Baumes dennoch unglücklich, weil es zwei Momente der Diskontinuität voraussetzt, die ich in der Entstehungsgeschichte der ersten Gemeinden nicht finden kann. 51 Das erste Moment ist der Übergang zwischen dem chaotischen Netz der Wurzeln zur Einheit des Stammes. Wann und wie soll diese Vereinheitlichung stattgefunden haben? Wenn ich Roman Heiligenthal recht verstehe, ist sie in der Entstehung einer gemeinsamen Tradition in Jerusalem zu lokalisieren. Aber gerade hier muß Paulus nochmals erwähnt werden, weil sein Brief an die Galater das einzige einigermaßen zeitgenössische Zeugnis der sogenannten Jerusalemer Urgemeinde ist, und weil das paulinische Christentum dazu explizit nicht gehörte (Gal 1,10-12). Hat das paulinische Gottesevangelium einen zweiten Stamm des Baumes gebildet, und die johanneische Schule einen dritten? Das zweite Moment ist der Übergang zur Verästelung. Was hat dazu geführt und inwiefern ist die Pluralität, die in den Anfängen unzulässig war, mittlerweile legitim geworden? Hier besteht die Lösung des Problems in seiner bloßen Verschiebung. Aber die Verschiebung wirft andere Fragen auf. Wenn der Baum sich verästelt, wo bleibt das Wahrheitskriterium? Die Antwort kann nur lauten: in der Kontinuität mit dem Stamm. Die Vorstellung einer Pluralität und eines Konfliktes der Interpretationen (P. Ricoeur), die sich als Auslegungen eines Gründungsereignisses verstehen und unter der Autorität dieses gründenden Ereignisses stehen, ist konsequent zugunsten einer institutionellen Kontinuität, die sich als Orthodoxie von den anderen Richtungen auszeichnet, abgelehnt worden. 3. Wenn auch jeder Baum ein System bildet, das als deterministisches Chaos gekennzeichnet werden kann, so nimmt doch nicht jedes deterministische Chaos die Form eines Baumes an. Andere Modelle können erfunden werden, um die Beobachtungen des Historikers und die Komplexität der Wirklichkeit zu deuten und zu verstehen. Ein erstes alternatives Modell ist das Modell des Besens. Die alten Besen der Bauernhöfe sind dadurch gekennzeichnet, daß zahlreiche Holzäste oder Strohstücke so miteinander verbunden sind, daß jede Entwicklungslinie ihren Ursprung und ihr Ende hat, aber daß sie so zusammengehalten werden, daß sie fast parallel sind und sich gegenseitig verstärken. Die Implikationen dieses Modells sind, daß jede Entwicklungslinie ihren Ursprung, ihre Geschichte und ihre Identität hat, aber daß sie durch ein gemeinsames Bekenntnis (die Verbindung des Glaubens mit der Bezugsperson Jesus Christus), durch eine gemeinsame theologische 52 Anthropologie (die bedingungslose Anerkennung des Anderen als Subjekt unabhängig von seinen Eigenschaften), durch eine gemeinsame Praxis (die Tischgemeinschaft) und durch die Überzeugung der Legitimität ihrer Vielfalt zu einer übergeordneten Größe gehören. Ein zweites alternatives Modell ist das Modell des Busches. Auch hier sind die Parallelitäten wichtiger als die genetische Zusammengehörigkeit. Die Wurzeln entwickeln sich unabhängig voneinander im selben Boden, und verschiedene Stämme, die untereinander verwandt sind, differenzieren sich in vielfältige Verästelungen. Die Identität ist gegeben einerseits durch die geographische Nähe und andererseits durch die Gemeinsamkeit der Art. Die Implikationen dieses Modells sind, daß die Einheit des Christentums durch gemeinsame Voraussetzungen (den alttestamentlichen Boden, den bekennenden Monotheismus oder die Monolatrie, die Universalisierung des Erwählungsgedankens, die Aufhebung der Abgrenzungsgebote und -mechanismen) und eine Selbstdefinition, die durch das Selbstverständnis und durch das Verständnis des Verhältnisses zu Gott, zu sich selbst und zum Anderen bestimmt ist. Die Konsequenzen dieser Beobachtungen führen zu einer vierten These, die folgendermaßen lautet: These 4: Das interpretative Modell des deterministischen Chaos scheint mir deshalb angemessen die Geschichte des frühen Christentums zu interpretieren, da es sowohl die beiden Momente der Vorherbestimmung und der Freiheit als auch die verschiedenen Dimensionen der persönlichen, der sozialen, der institutionellen Geschichte sowie der Weltgeschichte integrieren und miteinander verbinden kann. Der Zusammenhang der Singularitäten, der Oszillationen, der Wechselwirkungen und der Reaktionsketten, die den wahrnehmbaren Teil der Geschichte als deterministisches Chaos prägen, kann mit Hilfe von verschiedenen Metaphern dargestellt werden. Noch einmal läßt sich die Feststellung des Dirigenten Ernest Ansermet 18 bestätigen, daß es ohne Phantasie keine gute Interpretation geben kann. ZNT 6 (3. Jg. 2000) Anmerkungen 1 R. Buhmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1948-1953. 2 L. Schenke, Die Urgemeinde. Geschichtliche und theologische Entwicklung, Stuttgart 1990. 3 B.L. Mack, The Lost Gospel. The Book of Q and Christian Origins, San Francisco 1993. 4 J.G. Herder, Vom Erlöser der Menschen. Nach unsern drei ersten Evangelien, 1796. Cf. dazu W. Sehmithals, Einleitung in die drei ersten Evangelien, Berlin - New York 1985. 5 A. Badiou, Saint Paul. La fondation de l'universalisme, Les essais du College international de Philosophie, Paris 1997. 6 F. Vouga, An die Galater (HNT 10), Tübingen 1998. 7 F. Vouga, Das Problem der Selbstdefinition und der theologischen Einheit des frühen Christentums, in: U. Mell u. U.B. Müller (Hgg.), Das Urchristentum in seiner literarischen Geschichte, FS Jürgen Becker, Berlin 1999, 487-515. 8 K. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Tübingen 6 1980. 9 J.L. Martyn, Galatians (AcB 33A), New York 1997. 10 R. Buhmann, Der Arier- Paragraph im Raum der Kirche, Theologische Blätter 12 (Dezember 1933), Sp. 356-369. 11 F. Vouga, Das Osterkerygma und das Problem der Anfänge des Christentums, in: J. Ernst u. S. Leimgruber (Hgg.), Surrexit Dominus vere. Die Gegenwart des Auferstandenen in seiner Kirche, FS Degenhardt, Paderborn 1995, 107-116. 12 Ignatius von Antiochien, Phld 7, 1-2. 13 E. Plümacher, Neues Testament und hellenistische Form. Zur literarischen Gattung der lukanischen Schriften, Theologia Viatorum 14 (1979), 109-123; ders., Terateia. Fiktion und Wunder in der hellenistisch-römischen Geschichtsschreibung und in der Apostelgeschichte, ZNW 89 (1998), 66-90; ders., Cicero und Lukas. Bemerkungen zu Stil und Zweck der historischen Monographie, in: J. Verheyden (Hg.), The Unity of Luke-Acts, (BEThL CXLII), Leuven 1999, 759-775. 14 F. Vouga, Geschichte des frühen Christentums, Tübingen 1994. 15 Cf. D. Ruelle, Zufall und Chaos, Berlin u.a. 1992. 16 H. Poincare, La science et l'hypothese, Bibliotheque de Philosophie scientifique, Paris 1902. 17 B.B. Mandelbrot, Die fraktale Geometrie der Natur, Basel u.a. 1991. 18 E. Ansermet u. J.-C. Piguet, Entretiens sur la musique, Langages, N euchatel 1963, 178. ZNT 6 (3. Jg. 2000) f,·a111: rois Vouga E: : ir1irn1t m"cl Vielfolt des frifüen Christentums Tübinger Bibelatlas Herausgegeben von Siegfried Mittmann und Götz Schmitt auf der Grundlage des »Tübinger Atlas des Vorderen Orients« (TAVO) 27,7 x 49,3 cm, 29 Kartenblätter, 96 Seiten Register, Fadenheftung, Gebunden ISBN 3-438-06022-1 DM 128,00/ öS 934,00/ € 65,44 (In Zusammenarbeit mit dem Reichert-Verlag) In 29 hochwertigen Landkarten und ausführlichen Registern dokumentiert der Tübinger Bibelatlas in einzigartiger Weise die historische Geographie der biblischen Länder. Der Atlas ist in erster Linie für den wissenschaftlichen Gebrauch konzipiert; er macht nicht zuletzt aufgrund des attraktiven Preises das wertvolle Studienmaterial zugleich auch für einen weiteren Kreis von Interessierten zugänglich. BB Deutsche Bibelgesellschaft Postfach 81 03 40 • 70520 Stuttgart www.bibelgesellschaft.de 53 Christina Urban Jesustypen im Film: Gibt es den typischen Jesusfilm? 1 Eine Problemanzeige Bereits der Titel lässt den Problemhorizont erahnen, den die Thematisierung von J esusfiguren im Film sowohl aus einer filmästhetischen als auch aus einer exegetisch-hermeneutischen Perspektive beinhaltet. Dass es nämlich den typischen Jesusfilm und die charakteristische J esusfigur im Film nicht gibt, zeigen bereits ein Blick auf die schillernde Geschichte der J esusfilme seit 1897 1 ebenso wie die in jüngster Zeit des öfteren unternommenen Versuche, des Genres durch Spezifizierungen der einzelnen Filme in verschiedenste Subgenres 2 habhaft zu werden. Nun benötigt man jedoch zur Erarbeitung der unterschiedlichen J esustypen im Film nicht nur Beurteilungskategorien für eine filmästhetische Sichtweise, sondern auch für einen exegetisch-hermeneutischen Umgang mit dem Phänomen. Denn das Spannungsverhältnis zwischen der Bearbeitung biblisch-christlicher Traditionen und der je konstruierten filmischen Wirklichkeit der Person Jesus Christus stellt den tragenden Grund eines jeden Jesusfilms dar. Dieser bietet sodann kirchlicher-, theologischer- und religionspädagogischerseits genügend Zündstoff für eine kritische Diskussion des Phänomens. Fragt man nun zunächst nach einer filmästhetisch-theologischen Vorgabe zur Feststellung unterschiedlicher Jesustypen innerhalb des vielschichtigen Jesusfilm-Stoffes, so ist man sicher am besten beraten, sog. filmische Makrogattungen einer Untersuchung zugrunde zu legen. Denn diese halten erstens die Vergleichbarkeit der Filme untereinander aufrecht, da die meisten der bisher produzierten Filme sich unter diese Großgattungen unterordnen lassen. Zweitens ist aufgrund ihrer Allgemeinheit zugleich die Möglichkeit gewahrt, das je Spezifische eines jeden Films anhand der für ihn typischen Formelemente und Motive herauszuarbeiten. Als solche Makrogattungen können nun aus einer ausschließlich filmästhetischen Perspektive die Fiktion, die Dokumentation und dokumentarisch-fiktionale Mischformen sowie Kino- 54 und Fernsehfilme und Fernsehspiele gelten. 3 Filmästhetisch-theologisch soll hier sodann einzig von expliziten / direkten und impliziten / indirekten J esusfilmen ausgegangen werden. 4 Explizite Jesusfilme lassen sich so definieren, dass a) die Person Jesus direkt in ihnen vorgeführt wird, b) die Jesushandlung die Haupthandlung ist und c) ein Gesamtentwurf des Lebens J esu verfolgt wird. Eine primäre Orientierung an den Texten der Evangelien als weiteres Kriterium wird hier bewusst ausgeklammert, da sich ansonsten Filme wie etwa M. Scorceses >Letzte Versuchung< in keinen der Klassifizierungsversuche eingliedern lassen. Die Gattung der explizitenJesusfilme lässt sich sodann in zwei weitere relativ breitflächige Subgenres unterteilen, nämlich in historisierende und aktualisierende J esusfilme: Die historisierenden Filme streben neben der Einhaltung der Kriterien a)-c) nach einer Rekonstruktion des Jesusereignisses in seinem originären zeitgeschichtlichen Kontext in bezug auf den Drehort, Kostüme und Ausstattung (vgl. z.B. G. Stevens, ,Die größte Geschichte aller Zeiten<; N. Ray, >König der Könige<). Aktualisierende Jesusfilme hingegen nehmen im Grundgerüst Handlung und Dialoge der Evangelien auf, projizieren jedoch die Jesushandlung in die Gegenwart (vgl. z.B. D. Green, >Godspell<). Implizite J esusfilme unterscheiden sich von dieser Definition dadurch, dass die Person Jesu nicht ihr direktes Thema ist. Vielmehr werden menschliche Schicksale gezeigt, die das LebenJesu oder Bilder und Motive aus diesem durch eine Übersetzung in eine andere Zeit, einen anderen Ort oder eine andere Kultur übertragen. Indem die Jesusfigur in diesen Filmen indirekt präsent ist, wird das Leben Jesu zur angenommenen Matrix. Auf diese Kategorie von Jesusfilmen lässt sich der aus der Literaturwissenschaft bekannte Begriff der Transfiguration übertragen (vgl. z.B. T. Gilliam, >König der Fischer< oder St. Spielberg, >E.T. - Der Außerirdische,).5 Mit der Anwendung dieses Definitionsvorschlages auf die verschiedenen J esusfilme hat man ein erstes eher formales Raster zur Klassifizierung ZNT 6 (3. Jg. 2000) Cl11·i 1 stin.: tfrl: u.m Jest.i's.tvr,en itn Farn· (iibt C! : t cl~]•n t~/ i1{iscJu: ? n Jesusfilm 7 Christina Urban . ''- .... .,: ,; ; ~: Christina Urban,Jahrgang 1969, Studium der Evangelischen Theologie in Kiel, 2000 Promotion zum Thema Anthropologie im Johannesevangelium, 1998-2000 Assistentin am Institut für neutestamentliche Wissenschaft und Judaistik der Theologischen Fakultät der CAD Kiel, zur Zeit Gastvikarin in der evangelischen Landeskirche Berlin-Brandenburg in Berlin / Schlachtensee. von Jesustypen im Film gewonnen. Schwieriger gestaltet sich jedoch nun die Frage nach einem exegetisch-hermeneutischen Umgang mit den Jesusfiguren. So wird zwar in der Regel der klassische Katalog der zentralen Themen zum historischen Jesus, also etwa Geburt, Taufe, Versuchung, Verhältnis zum Täufer, Verkündigung und Wunder, Herrenmahl, Passion und Auferstehung, als Untersuchungsparameter an die jeweilige J esusfigur angelegt, aber gerade mit diesem Katalog sind zwei nicht unerhebliche Probleme verbunden. Erstens geht mit ihm die Frage nach der prinzipiellen Darstellbarkeit der Person Jesus Christus im Film einher. Allerdings soll hier von der Diskussion des grundsätzlichen Für und Wider abgesehen werden, da bereits mehrere Untersuchungen vorliegen, die sich entschieden dafür aussprechen, das Genre J esusfilm als eine selbständige Form der narrativen Evangelienauslegung zu verstehen. 6 Denn wird schon der Jesus der Evangelien mit Hilfe einer narrativen Theologie dargestellt, die dramatische Elemente wie den Dialog und die Handlung umfasst, dann sind diese Elemente gleichermaßen auch im Film anwendbar. Werden die Jesusfilme sodann als eine mögliche Antwort auf die Frage ,Wer ist Jesus Christus? < in dem Sinn verstanden, dass sie nicht unbedingt den ganzen Jesus Christus ZNT 6 (3. Jg. 2000) zeigen (müssen), sondern nur ein für den jeweiligen Film charakteristisches Jesusbild entwickeln, dann scheint der Weg zu einer filmischen Bearbeitung der Person Jesus Christus auch kirchlicherseits geebnet zu sein, ohne gegen dogmatisch gesetzte Topoi zu verstoßen. Jedoch tritt mit dieser Ansicht nun das zweite Problem in Beziehung, wenn man an Jesusfilme ausschließlich den klassischen Fragenkatalog des Lebens Jesu anlegt. So mag zwar auf den ersten Blick durch die Betonung der Entwicklung unterschiedlicher Jesus bild er auch im Film die chalcedonensische Unmöglichkeit der Darstellung des wahren Menschen und des wahren Gottes umgangen sein. Denn diese Entwicklung ist bereits in den vier kanonischen Evangelien, aber auch in außerkanonischen Evangelien, und dann durch die Jahrhunderte hinweg in vielen weiteren theologisch-dogmatischen oder philosophisch-ideologischen Entwürfen angelegt. Wenn man aber davon ausgeht, dass Regisseure mit ihrer filmischen Bearbeitung der Person Jesus Christus immer auch Exegese und Theologie treiben wollen, dann darf man nicht nur nach der Übersetzung, Interpretation und Aufarbeitung der historisch-kritisch gesicherten Daten des Lebens Jesu fragen. Vielmehr muß auch eine mögliche christologische Konzeption des jeweiligen Films aufgespürt werden. Denn gerade bei einem Verständnis der Jesusfilme und Jesusfiguren als narrative Evangelienauslegung im Sinne der narrativen Theologie der Evangelien selbst, darf die Frage nach Jesus als dem Christus nicht ausgeblendet werden. Denn jedes der vier kanonischen aber auch der nichtkanonischen - Evangelien bringt sein je spezifisches christologisches Konzept in der Darstellung der Person Jesus Christus zur Geltung. Damit befindet man sich nun im Zentrum der Problematik. Denn mit der Frage nach möglichen christologischen Aussagen über die J esusfiguren in den Filmen ist die letzte Bastion angegriffen, auf die sich kirchliche Medienvertreter mit ihrem vermeintlichen Monopolanspruch auf den Christus des Glaubens, also den vere deus des Chalcedonense, noch zurückziehen konnten. Doch was mit gutem Grund seit längerer Zeit an der sich seit Reimarus entfaltenden monographischen J esusliteratur kritisiert wird, dass nämlich zwischen dem historischen Jesus und dem Urchristentum ein Graben ohne Brücke liegt,7 man also den Grund zur 55 nachösterlichen Christologiebildung nicht beim historischen Jesus sucht, darf für die J esusfilme nicht übersehen oder gar ins Gegenteil verkehrt werden, nur damit die Möglichkeit einer filmischen Umsetzung der Person Jesus Christus gewahrt bleiben kann. Christologie im eigentlichen Sinn mag zwar nicht vor Ostern ihren Anfang nehmen8 und Jesu Selbsteinschätzung und die Anfänge der Christologie mögen voneinander zu trennen sein. 9 Auf der narrativen Ebene der Evangelien sind Christologie und Aussagen über den historischen Jesus jedoch so miteinander verwoben, dass sie eine erzählerische Einheit bilden, die auch in die J esusfilme versteht man sie als Literaturverfilmungen eingehen. Für die Suche nach Parametern zur Qualifizierung unterschiedlicher J esustypen bedeutet diese Einsicht, dass nicht nur der klassische Fragenkatalog zum Leben Jesu anzusetzen ist, sondern es muss auch diskutiert werden, wie in den Filmen christologische Aussagen auf die Jesusfigur übertragen oder neu entfaltet werden. 10 Hier nun stellt sich die Frage nach Einheit und Vielfalt in den vorhandenen christologischen Äußerungen, die bereits im Titel des Aufsatzes intendiert ist. Denn ebenso wie sich die urchristliche Christologie stürmisch entfaltet hat, 11 präsentieren auch die Jesusfilme immer neue christologische Varianten ihrer J esustypen. Nun haben für beide Bereiche, also für die Anfänge der Christologie überhaupt als auch für die Christologie in Jesusfilmen, folgende Fragen zu gelten: Enthalten sie »nur grenzenlose Vielfalt und konturenlose Fülle« 12 und sind sie durch Beliebigkeit und Zufälligkeit bestimmt? Oder gibt es für beide eine strukturierende Mitte, d.h. sind sie zwar vielfältig, aber sich in Basisaussagen einig? In den Anfängen der Christologie entstehtbedingt durch die innere Tendenz des Urchristentums selbst und durch seine Variatio aufgrund der soziokulturellen und religionsgeschichtlichen Einbindungen in seine Umwelt eine christologische Vielfalt, die sich kaum noch mit dem Stichwort Einheit beschreiben lässt. Wird hier dennoch von Einheit gesprochen, beinhaltet der Terminus oft Projektionen der Sprechenden, die sich nach einer Einheit im Sinne einer Eindeutigkeit sehnen, die aber unter geschichtlichen Bedingungen wohl kaum möglich ist, war oder je sein wird. Dennoch wird man ohne die Frage nach einer grundsätzlichen Einheit zur Qualifizierung für das sich konstituie- 56 rende Urchristentum als auch für die Jesustypen im Film nicht auskommen können. D.h. für diese beiden zunächst zeitlich, räumlich und inhaltlich völlig verschieden erscheinenden Themenfelder wird sich dennoch aufgrund der Fragestellung, nämlich wie diese Einheit auszusehen hat, eine große inhaltliche Nähe ergeben. Denn für beide steht ihr Selbstverständnis und damit verbunden die Wirklichkeitsauffassung der je handelnden Subjekte im Mittelpunkt insbesondere ihrer christologischen Aussagen. Für die Entwicklung der Christologie durch das Urchristentum hängt dieses Selbstverständnis ganz wesentlich mit dem Glaubensverständnis der ersten Gemeinden zusammen. Dieses Glaubensverständnis, begreift man es als menschlichen Kommunikationsakt, verfolgt nun das Ziel, dass gläubige Subjekte andere vom Evangelium überzeugen, so dass diese unter das Evangelium kommen (vgl. z.B. II Thess 1,2-10; Röm 1,8-16; Acta 15,7-11 ). Die grundlegende Erfahrung der urchristlichen Gemeinde, die ihren Anfang bei Jesus nahm, lässt sich nun als eine ganz spezifische Gotteserfahrung bestimmen, die zur Formulierung des eigenen Wirklichkeitsverständnisses führte. Für diese galt als Basisaussage, dass Gott in Christus war (II Kor 5,19). D.h. Gott gilt entweder als das durch Christus handelnde Subjekt oder Jesus ist der an Gottes Stelle Handelnde. Von diesem Einheitsgrund christlicher Wirklichkeitsdeutung entfaltet sich nun die Christologie. 13 Es gibt kein urchristliches Zeugnis, das sich nicht an diesem Dialog zur Formulierung der Christologie beteiligt. Dies hat man sich so vorzustellen, dass eine breitgefächerte Kommunikation über J esu Wirken und Geschick als endgültiger Selbstauslegung Gottes geschieht. Erstaunlicherweise findet nun im Rahmen der filmischen Auseinandersetzung mit der Person Jesus Christus ein ähnlicher dialogischer Vorgang statt bzw. liegt der Entwicklung der filmischen Christologie unter ganz anderen denkerischen, zeitlichen und räumlichen Verhältnissen eine ähnliche Basisaussage ihrer Diskussion zugrunde. Denn jede Jesusfigur im Film stellt den Versuch einer Lösung, einer Umsetzung bzw. einer Antwort auf das chalcedonensische Paradoxon von Jesus Christus als dem wahren Menschen und wahren Gott dar. 14 D.h. die Entwicklung der Christologie in den urchristlichen Gemeinden hin zur Aussage ZNT 6 (3. Jg. 2000) Christina Urban sic: : ,11rnt~11.um li: ·n Ffü,1: (! iföt es den i: ypisdum Jesusfilm? von Chalcedon wird auf unterschiedlichste Weisen in J esusfilme transponiert. Damit stellt sich nun allerdings die Frage, wie innerhalb dieser beiden chalcedonensischen Eckpfeiler von den Filmschaffenden Christologie verortet wird. Denn aufgrund der Einsicht in eine prinzipiell angelegte Subjektivität innerhalb des Religionsverständnisses und der Wirklichkeitsauffassung nicht nur des Urchristentums, sondern insbesondere auch der Jesusfilmschaffenden, gibt es ganz unterschiedliche Akzentuierungen in den Jesusdarstellungen der Filme. Von daher darf für die Filme ebenso wie für die J esusliteratur im allgemeinen sicher gelten, dass dieses Phänomen »u.a. auch als beglückende(r) Reichtum für unsere Weltorientierung zu begreifen« 15 ist. Allerdings muss hier eine letzte Einschränkung in bezug auf die filmische Umsetzung der Person Jesus Christus erfolgen, die zugleich auch als eine Entgegensetzung zum urchristlichen Umgang mit der Christologie und der Person Jesus Christus begriffen werden muss: Denn im Film geht es um die Aneignung und Exegesierung, d.h. um die Relecture 16 der in den urchristlichen Zeugnissen bereits vorliegenden Christologie. 17 Dies hat nun allerdings entscheidende Auswirkungen auf das Subjektverständnis der Filmschaffenden als handelnder Subjekte. Denn hier kommt es darauf an, ob die eigene Perspektive der Regisseure den Aussagegehalt der Texte dominiert, oder ob noch zwischen eigener Subjektivität und Relativität, d.h. zwischen der je eigenen Wirklichkeitssicht der Filmschaffenden und der der Texte unterschieden werden kann. Das bedeutet für die Filmschaffenden, dass sie sich methodisch und sachlich auf das Fremde und Andere der ntl. Texte einlassen müssen. Der dialogische Prozess, die Relecture von Jesus Christus in eine filmische J esusfigur scheint im Rahmen dieser Perspektive gelungen zu sein, wenn der Regisseur das ihm Fremde in seiner Figur transparent werden lassen konnte. Er misslingt jedoch immer dann, wenn die Filme gleichsam zufällig das vertreten, was bereits die Sicht des Filmschaffenden zur Person Jesus Christus immer schon war. Dies »zwingt zu der Nachfrage, ob der Interpret nicht gleichsam narzisstisch sein eigenes Spiegelbild liebt, und darum das, was er interpretiert, unter der Hand entsprechend gestaltet«. 18 Diese Beobachtungen nötigen zur Einführung eines letzten exegetisch-hermeneutischen Beurtei- ZNT 6 (3. Jg. 2000) lungsparameters im Hinblick sowohl auf die Christologie der Jesusfiguren als auch in bezug auf den Umgang mit historischen Daten des Wirkens und des Geschicks Jesu im Film. Für die Analyse der Jesusfiguren ist also auch nach solchen Deutemustern Ausschau zu halten, die den filmischen Jesustypus zur Richtschnur, zum Vorbild der eigenen Wirklichkeitssicht des Filmschaffenden stilisieren. Außerdem ist nach Deutemustern zu suchen, die über die historisch gesicherten Daten des Irdischen hinausgreifen (z.B. das zweite LebenJesu,JesuJugend oder Jesus als essenischer Geheimbündler) und nach ihren Auswirkungen auf die Jesusfigur insgesamt wie auf die durch sie implizierte christologische Übertragung und Relecture zu fragen. 19 2 Metamorphosen des biblischen Jesus Christus? Nun könnte man den Versuch unternehmen, die verschiedenen Jesusfiguren der ca. 150 bisher produzierten J esusfilme zunächst nach stereo typischen J esuscharakteren zu systematisieren, also etwa in J esusfiguren zu spezifizieren, die Jesus z.B. als den Juden, Jesus als Mann mit dem Schwerpunkt auf seiner Sexualität oder Jesus als Sozialisten, als Anwalt der Armen und sozial Benachteiligten betonen. 20 Jedoch würde man hier sehr schnell der Problematik einer zu grob verallgemeinernden Typisierung unterliegen und Nuancierungen der einzelnen je voneinander erheblich divergierenden Jesusfiguren nicht eindeutig genug herausarbeiten können. Auch die generelle Einsatzmöglichkeit der Filme und Figuren in Katechese und Unterricht stellt eine nicht zu vernachlässigende Einschränkung in der Filmauswahl dar, da aus ganz verschiedenen Gründen (wie z.B. der (Über-)Länge der Filme oder ihrer Nichtverfügbarkeit bei den entsprechenden Leihstellen) sich nicht alle Filme zur Vorführung im Religions- oder Konfirmandenunterricht eignen. Unter Berücksichtigung dieser und der im ersten Teil extrahierten exegetisch-hermeneutischen Beurteilungskriterien der J esusfiguren und den filmästhetisch-exegetischen Klassifizierungen der Jesusfilme bietet sich nun in einem zweiten Schritt insbesondere im Blick auf ihren Einsatz in Katechese und Religionsunterricht die Diskussion dreier voneinander divergierender J esustypen, nämlich 57 dem Pasolinis, dem Arcands und dem Scorseses, auf der Grundlage folgender Kriterien an: Es ist an jede Jesusfigur die Frage nach dem Ob und dem Wie der Aufnahme des klassischen Katalogs zum Leben Jesu zu stellen. Sodann ist nach der Transponierung und Relecture von christologischen Aussagen, d.h. nach dem jeweiligen Versuch einer Antwort auf das chalcedonensische Paradoxon unter folgenden Bedingungen zu suchen: 1. Gibt es Deutemuster, die den filmischen Jesus zur Norm der eigenen Wirklichkeitssicht des Regisseurs machen, oder belässt er der Jesusfigur ihr je Eigenes und Fremdes? 2. Wie wird durch diese Raster und durch Deutemuster, die über historisch gesicherte Daten des Lebens Jesu hinausgreifen, der christologischen Relecture Rechnung getragen? Vor der Analyse der Jesustypen muss jedoch um des Verständnisses willen mit einer knappen Inhaltsangabe des jeweiligen Films eingesetzt werden. 2.1 Jesus von Montreal Zum Inhalt: Jesus von Montreal, Canada 1989, Regie: D. Arcand. In der kanadischen Hauptstadt Montreal wird einem jungen talentierten Schauspieler von einem katholischen Priester die Modernisierung des traditionellen Passionsspieles seiner Kirche angetragen. Gemeinsam mit vier bisher wenig erfolgreichen Schauspielerkollegen beginnt er das schwierige Unterfangen. Mit Hilfe geschichtlicher, archäologischer und kunstgeschichtlicher Forschungen wird auf der Grundlage der Markuspassion eine völlig neue und andersartige Inszenierung entworfen. Das Passionsspiel wird zum Erfolg, der Schauspieler der neue Liebling der kulturellen Schickeria Montreals; aber wegen der unorthodoxen Züge des Jesusbildes wird das Passionsspiel von den kirchlichen Behörden verboten. Die Schauspieler widersetzen sich dem Verbot, da sie zunehmend von dem Passionsspiel in ihrer eigenen Wirklichkeit in Bann gezogen worden sind. So kommt es bei einem polizeilichen Abbruch der letzten Aufführung zu Tumulten. Der Jesusdarsteller stürzt mitsamt dem Kreuz zu Boden und erleidet eine schwere Kopfverletzung. In einem katholischen Krankenhaus wird er abgewiesen. Doch noch einmal steht er auf und warnt die Menschen mit apokalyptischen Visionen in einer Metrostation. Schließlich stirbt er in einem jüdischen Krankenhaus. Mit den ihm entnommenen Organen ver- 58 hilft er einem Mann zu einem neuen Herz, eine Frau kann wieder sehen. Arcand läßt in seinem Film den Protagonisten Daniel Colombe eine J esusfigur für das Passionsspiel zeichnen, die aus den Resultaten der Jesus- Qumran-Debatte dieser Zeit, nämlich der achtziger Jahre, entwickelt wird, so dass auf der Filmebene sich Kritik seitens der Kirche an dem J esustypus von Colombes Passionsinszenierung zwangsläufig einstellen muss. D.h. neben dem klassischen Fragenkatalog zum Leben Jesu unter besonderer Berücksichtigung des mk und des joh Berichtes werden talmudische und qumranische Forschungsergebnisse in die filmische Transponierung der Jesusfigur einbezogen. Wie auf der Filmebene Pater Leclerc als Repräsentant der Institution der Kirche mit Unmut und unüberwindbaren Vorbehalten auf die exegetisch inspirierte Passionsinszenierung Colombes reagiert: »Die Ärmsten der Armen wollen nicht über Erkenntnisse der historisch-kritischen Forschung informiert werden, sondern die Gewißheit erhalten, daß der Sohn Gottes sie liebt«, so ist auf der filmischen Metaebene Arcand von Misstrauen gegen die Kirche geprägt: »Wenn man sich dem Neuen Testament zuwendet, es genau studiert, der Darstellung des Lebens J esu auf der Spur ist, so wird man folgendes herausfinden: Das ist doch der genaue Gegensatz zur Geschichte der katholischen Kirche. Hier taucht für mich ein ungeheurer Widerspruch im Vergleich des Evangeliums zur katholischen Kirche auf (... ). Dieser Abgrund zwischen den Propheten und der katholischen Kirche und ihrer Geschichte ist für mich so fundamental, daß ich darüber schreiben wollte«. 21 Liest man nun diese Ansicht mit einer zweiten Äusserung Arcands zusammen, dann gibt er mit seiner Bemerkung zugleich eine Lese- oder besser Sehanweisung vor allem für seine J esusfigur an die Hand: »Von allen weisen Worten, die im Verlauf der Geschichte gesagt und geschrieben worden sind( ... ), sind die Worte Jesu für mich die wichtigsten ( ... ). Sie sind für mich die bedeutendsten der Menschheitsgeschichte. Heißt das nun gläubig oder nicht gläubig sein? Ich weiß es nicht. Diese Worte sind für mich jedenfalls wesentlich und werden mich bis zu meinem Tod begleiten. Nicht weil sie ,göttlich< sind ich verstehe zwar sehr gut, daß man sie dafür halten kann. Mich als praktizierenden Katholiken zu bezeichnen, möchte ich aber ZNT 6 (3. Jg. 2000) Christina Urban .fosustypen 11,i Film: Gibt es den typischen Jesusfilm? lieber doch nicht. Für mich ist wichtig, daß ich in meinen Filmen von mir selbst spreche, von meinen Problemen, meinen Passionen, von meinem Verhältnis zur Religion, von meinen Konflikten«. 22 Für Arcands Jesustypus ergibt diese Aussage folgendes: Er geht auf Distanz zum vere deus und Jesu übernatürlicher Geburt und zeichnet ihn im Film nach talmudischer Tradition vielmehr als jüdischen Propheten J oschua Ben Pantera. Damit greift er auf die auch bei Origenes schriftlich fixierte Tradition des westlichen Diasporajudentums zurück, die Jesu Geburt als Fehltritt Marias mit einem römischen Soldaten erklärt. Hierbei handelt es sich um frühe talmudische Traditionen, die auch die >ToledotJesu< beeinflussten. 23 Auch die Auferstehung erhält eine spezifische Lesart von Arcand: Jesus ist nicht am dritten Tage auferstanden von den Toten, sondern »er war schon lange tot; fünf, zehn Jahre oder mehr. Seine Jünger hatten sich zerstreut, waren enttäuscht, verbittert und ohne Hoffnung«. Für die filmische Umsetzung bedeutet Arcands Äusserung, dass er, um sich einerseits der PersonJesu nach der biblischen, talmudischen und qumranischen Überlieferung nähern und andererseits gleichzeitig seine Konflikte und Passionen und sein Verhältnis zur Religion auch zum Ausdruck bringen zu können, permanent die Ebenen im Film wechselt. D.h. er greift auf nichtbiblische Deutemuster zurück und gelangt auf der Ebene der historischen Kritik durch die Inszenierung der Passion zu einer ernstzunehmenden, wenn auch eher distanzierten Auseinandersetzung mit dem Jesus von Nazareth des NT. Hier wird eine Figur gezeichnet, die vor allem das vere homo sehr stark in den Vordergrund der Relecture der Evangelien rückt. Im Gegensatz zu den bisher in Montreal supranaturalistisch aufgeführten Mysterienspielen von Jesu Passion gelangt Arcand durch seine bewusst subjektive Näherung auf der Ebene der Transfiguration innerhalb der unterschiedlichen filmischen Ebenen mit Hilfe der Figur Daniele Colombes zu einem hohen Reflexionsniveau der Person Jesu. Auf der inneren Ebene des Films verweist er so z.T. gleichsam durch eine fast platte Direktheit auf die auch gegenwärtige Relevanz der Person Jesu. Obwohl diese naturgemäß auf die Medienwelt bezogen wird, wird Arcands Wirklichkeitssicht dennoch nicht zur deutenden Maßgabe seines Jesustypus, da er sich auch bei der Inszenierung des Passionsspiels ZNT 6 (3. Jg. 2000) die reflektierende Distanz zum Thema bewahrt. »Nie verfällt es in direkten Abbildrealismus, sondern wird zur selbstreflektiven Annäherung an den Text der Evangelien«. 24 2.2 Pasolinis]esus Zum Inhalt: Das Erste Evangelium - Matthäus, Italien 1964, Regie: P.P. Pasolini. Pasolinis Jesusfilm steht im krassen Gegensatz zu dem Arcands insbesondere was die Ausstattung, Schauspieler und Technik, hier insbesondere die Mise en Scene, d.h. was gefilmt und wie es gefilmt werden soll, anbelangt. In der aufblühenden Farbfilmepoche wird ein Jesusfilm in schwarz-weiß einzig mit Laienschauspielern entlegener Dörfer der Abruzzen gedreht. Besonders bei der Suche nach seinem Jesus hat Pasolini sich schwergetan. Er fordert ein Antlitz, das Kraft und Entschlossenheit ausdrücken soll wie das der mittelalterlichen Christusdarstellungen, er will keinen Christus mit weichen Zügen und sanftem Blick wie in der Ikonographie der Renaissance. Auch die Wahl des Drehorts ist nicht einfach: Sowohl in Israel als auch in Jordanien ist immer etwas zu modern und industriell, denn da sind die Kibbuzim, die moderne Landwirtschaft, die Leichtindustrie, der Krieg in Israel. Das Heilige Land ist anderswo zu suchen, z.B. in Süditalien, das außer der veränderten Landschaft auch die unveränderten und ebenso einfachen wie schlichten Menschen bieten kann. Pasolinis Idee ist folgende: »Das Evangelium nach Matthäus Punkt für Punkt verfolgen, ohne daraus ein Drehbuch oder eine Umarbeitung zu machen. Es getreu in Bilder umsetzen, indem man ohne Auslassung oder Hinzufügung der Erzählung folgt (... ). Denn kein eingefügtes Bild könnte auf gleicher poetischer Höhe mit dem Text sein«. 25 Pasolini will weder nach den Ergebnissen der historisch-kritischen Methode noch nach eigenen ideologisch-hermeneutischen Vorstellungen die Matthäus-Geschichte rekonstruieren. Als Ziel seines Filmes möchte Pasolini »ein Leben vorführen, das ein wenn auch unerreichbares - Vorbild für alle ist«. 26 Grundlage des Films ist das Matthäusevangelium, wobei Pasolini von der Engelserscheinung bis zum Tod am Kreuz dessen Ablauf folgt. Auslassungen von Stoffen sind minimal. Diese sind jedoch nicht ungerechtfertigt (man vgl. z.B. das Fehlen einiger Wunder wie etwa die Stillung des 59 Sturms), da ihnen ähnliche Szenen entsprechen und sie so nicht den Duktus des gesamten Evangeliums verändern. Neben dem klassischen Fragenkatalog zum Leben Jesu in der mt Fassung nutzt Pasolini keine weiteren Legenden oder Quellen zur Darstellung seiner Jesusfigur. Diese ist vielmehr von Anfang an durch den Kreuzestod geprägt. So ist schon die Geburtsszene mit dem Schlusschor aus J.S. Bachs Matthäus-Passion (>Wir setzen uns mit Tränen nieder<) untermalt. Allerdings geht es Pasolini keineswegs um eine Interpretation des Evangeliums als verlängerter Passionsgeschichte, wie sie einst Kähler für Mk propagierte. Ganz im Gegenteil steht für Pasolini die Lehre J esu im Mittelpunkt, wobei es seine eigenen marxistischen Wertvorstellungen sind, die ihn in eine Beziehung zu dieser Lehre des mtJesus treten lassen: Insbesondere die eschatologische Forderung nach der Wiederherstellung eines durch den Lauf der Geschichte verlorenen Urzustandes ließ neben der Volkstümlichkeit und Unversöhnlichkeit sowie neben den ausgeprägten sozialen Zügen und der Betonung des Liebesgebotes als Gesetzeserfüllung den mtJesus zur Vorlage der Jesusfigur in Pasolinis Film werden. Nun darf man aus dieser Tatsache keineswegs vorschnell den Schluss ziehen, dass deshalb Pasolinis eigene Wirklichkeitssicht zu seinem Deutemuster des Jesustypus wurde. Denn er folgt mit dem Film getreu dem mt Text, wobei seine Relecture auf eine sehr narrative, indirekte Weise geschieht. Oft ist sie nur an der Art der Darstellerführung (Großaufnahmen, der Akzent liegt auf Gestik und Mimik und der Sprechweise) sowie der Schnitttechnik zu erkennen. Dies gilt auch für seine Jesusfigur: Der Jesus des Films ist weder mild noch gütig, er kennt kein Entweder-Oder. Sein erstes öffentliches Auftreten setzt diese Typisierung wirkungsvoll in Szene. Er tritt in einer Großaufnahme nach einem harten Schnitt ins Bild, um seine Tenne zu säubern. Pasolini entwirft das Bild eines kämpferischen Jesus, der vor allem Gerechtigkeit und soziales Engagement predigt. Diese Relecture des mt Jesus hat nun entscheidende Konsequenzen auch für die christologische Vorstellung der Jesusfigur resp. die Umsetzung des vere deus. Pasolini selbst gibt einen Leitfaden für sein Verständnis: »Ich glaube, daß Christus göttlich ist. Das heißt, (... ) daß die Menschlichkeit in ihm eine so hohe und ideale Form angenommen 60 hat, daß sie über die gewöhnlichen Begriffe von Menschlichkeit hinausgeht«. 27 Dennoch oder vielleicht gerade deshalb war das vere deus für Pasolini am schwersten filmisch umzusetzen. Mit Recht mag man fragen, ob er die Sequenz einer schwierigen Darstellung wie Jesu Wandeln auf dem See nicht hätte auslassen können. »Es gibt einige schreckliche Momente, für die ich mich schäme, (... ): die Wunder. Das Wunder der Brote und der Fische und Christus auf dem Wasser gehend: das ist ekelhafter Pietismus. Der Sprung von dieser Art Heiligen-Bilder-Szenen zu der leidenschaftlichen Gewalt und Politik seiner Predigten ist so groß, daß die Christus Figur des Films dem Publikum ein großes Gefühl des Unbehagens verbreitet( ... ) Christus (... ) ist in Wirklichkeit nicht schlecht, er ist nur voller Widersprüche«. 28 Ohne dass Pasolini einer blinden Aktualisierung oder Historisierung verfällt, gelingt es ihm gerade r; 1it dieser Darstellung des mt Jesus, die sich eingesteht, den ganzen Jesus Christus eben nicht auf Filmrollen binden zu können, das Paradoxon des vere homo et vere deus, seine eigene Auffassung von Christologie in Form einer filmischen Narratio zu präsentieren. 2.3 Die letzte Versuchung Christi Zum Inhalt: Die letzte Versuchung Christi, USA 1988, Regie: M. Scorcese. Im Unterschied zu den beiden ersten Filmen handelt es sich bei Scorceses Werk nicht unmittelbar um die Übertragung des biblischen Stoffes, sondern um den Versuch, sich durch die Verfilmung des Romans von N. Kazantzakis aus dem Jahr 1952 mit der Person Jesus von Nazareth, seiner Verkündigung und seinem Kampf bis zum Kreuz auseinanderzusetzen. Kazantzakis zeichnet einen von Gott Erwählten bzw. aus der Sicht J esu einen von Gott Heimgesuchten, der um seine Sendung ringt. Er arbeitet für die Römer, indem er für sie als Zimmermann die Kreuze für die Hinrichtungen herstellt. Als er sich über seinen Auftrag klar geworden ist, bricht er auf, lässt sich von Johannes taufen, sammelt Jünger um sich und kommt schließlich nach Jerusalem, um dort gekreuzigt zu werden. In einer letzten >Traumsequenz< erscheint ihm die durch einen dämonischen Engel verursachte >letzte Versuchung<, dass er nämlich eigentlich gar nicht am Kreuz sterben müsse. Er könne heiraten, zuerst Maria Magdale- ZNT 6 (3. Jg. 2000) Christina lJr·ban Jesusty1len im Film: Gibt es den typischen Jesusfihn? na, dann Maria und Martha, Sex und Kinder haben und schließlich als alter Mann in Frieden sterben. Judas, der in diesem ,Traum< auch auftaucht, führt Jesus dann zu seiner ursprünglichen Sendung zurück, zum Tod am Kreuz. Auch in diesem Film findet sich biblisches Traditionsgut. Daneben lassen sich aber auch gnostische und apokryphe >Versatzstücke< sowie ein Verschnitt östlicher und westlicher Geistes- und Kulturgeschichte ausmachen. Warum wird nun abschließend ein Jesustypus diskutiert, der nicht einmal ein biblisches oder wenigstens apokryphes Jesusbild transponiert? Ein Film, der zudem auch gerade im Vergleich zu Pasolinis und Arcands Jesusfiguren viel gescholten ist, der religiöse Gefühle beleidigt, der Leben und Sterben J esu missachtet, der alle kränkt, die ihre Hoffnung auf den Erlösungstod des menschgewordenen Gottessohnes gründen (H.W. Dannowski). Die Begründung mag nun insbesondere die, die dem Film und seinem Jesustyp ablehnend gegenüberstehen, in Erstaunen versetzen: Dieser Film samt seiner J esusfigur wurde zur Analyse ausgewählt, weil vielleicht gerade Scorcese mit seinem Jesus am meisten um das vere deus et vere homo und um seine Transponierung ringt. Bereits der aus der englischen Fassung übernommene Vorspann zum Film verdeutlicht, dass Scorcese vor allem daran interessiert ist, wie es zum Bewusstsein der Messianität Jesu kommen konnte: »Das doppelte Wesen Christi, die Sehnsucht des Menschen, so menschlich, so übermenschlich zu Gott zu gelangen, blieben mir stets ein tiefes, unergründliches Geheimnis«. Scorcese äußert sich zu seiner J esusfigur in ähnlicher Weise: »Gewöhnlich ist Jesus ausschließlich als Gott dargestellt worden. Er betrat einen Raum, und schon erstrahlte dieser( ... ). Und doch stellt ihn das Evangelium anders dar. (... ) Wegen der zwei Seelen in ihm, der menschlichen und der göttlichen, ist jeder Augenblick seines Lebens Konflikt und Sieg«. 29 Natürlich wurde im ersten Teil bereits deutlich herausgestellt, dass es für eine Antwort auf die Frage nach Jesu Selbstbewusstsein aus exegetischer Perspektive keine Antwort geben kann. Und so sind auch nicht nur aufgrund dieser Einsicht die Sequenzen des Films, die die MenschheitJesu psychologisierend nachzeichnen, als problematisch, ja bedenklich zu bezeichnen. So mag zwar auch die letzte Traumsequenz aus der Sicht Scorceses als eine Allegorie verstanden werden, die die Angst des ZNT 6 (3. Jg. 2000) Menschen vor seinem eigenen Sterben und die Drangst, im Leben die falsche Richtung eingeschlagen zu haben, herausarbeitet. Dennoch bleibt sie aus einer exegetischen Perspektive ebenso wie die Darstellung von Jesu Leiblichkeit im Stil eines magischen Realismus (insbesondere sei hier auf den Einsatz des Blutes Jesu hingewiesen) bedenklich. Auch die Widersprüchlichkeit der Person Jesus in sich selbst verleitet zum Kopfschütteln: So begegnet man einerseits dem barmherzigen, die Liebe predigenden Jesus, der andererseits im nächsten Moment axtschwingend zum fanatischen Eiferer wird. Obwohl sich Scorcese des Öfteren an überkommenen J esusklischees vergreifen mag, darf man auch ihm keineswegs den Verlust an Wahrhaftigkeit in bezug auf seine Jesusfigur unterstellen. Er versucht mit seiner spezifisch amerikanischen, an Hollywood erinnernden Transponierung den Beginn der Entwicklung der Christologie bereits beim Irdischen darzustellen. Endlich bleibt die Frage zu beantworten, ob es sich bei diesen drei J esusfiguren um Metamorphosen des biblischen Jesus Christus handelt. Versteht man den Begriff Metamorphose als völlige Umwandlung einer Person, so muss die Frage verneint werden. Bei allen drei Jesustypen handelt es sich um Transponierungen von Teileinblicken in die Person Jesus, wie sie nach der Schrift bezeugt wird. Anspruch auf eine vollständige Relecture bzw. Adaption der Person Jesus Christus erhebt keiner der drei Filme. Vielmehr bietet sich uns auf drei verschiedene Weisen das Ringen um das Paradoxon des vere deus et vere homo, wie es seit dem Beginn des altkirchlichen Bilderstreites belegt ist. Anmerkungen 1 Vgl. z.B. R. Zwick., Evangelienrezeption im Jesusfilm. Ein Beitrag zur intermedialen Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments, StThPS 25, 1997, 56ff.; G. Albrecht, Jesus eine Filmkarriere. Entwicklungslinien des Jesus- Films und seiner Rezeption, in: Jesus in der Hauptrolle. Zur Geschichte und Ästhetik der Jesus-Filme, filmdienst extra (1992), 9-14; C. Urban,Jesus Christ Moviestar - Fiktion und Wirklichkeit, in: zB 2000, 27-39: 30ff. 2 Vgl. z.B. Zwick, Evangelienrezeption, 36ff. (Anm. 1); Urban, Jesus, 32ff. (Anm. 1); G. Langenhorst,Jesus ging nach Hollywood. Die WiederentdeckungJesu in Literatur und Film der Gegenwart, 1998, 36ff.; 54ff.; 199ff. 3 Für eine erste Annäherung an filmische Gattungen und 61 Programmformen vgl. K. Hickethier, Film- und Fernsehanalyse, Stuttgart 2 1996. Zur grundlegenden Einführung in die Filmanalyse vgl. das Standardwerk von J. Monaco, Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Medien. NA Reinbek 1997. Für Medientheorien der Gegenwart bietet F. Hartmann, Medienphilosophie, 2000, einen philosophisch-hermeneutischen Überblick, beginnend mit Descartes. 4 Problematisch erweisen sich andere Typisierungsversuche wie z.B. der Zwicks, Evangelienrezeption, 36ff. (Anm. 1 ), der die Vergleichbarkeit und allgemeine Merkmale von Jesusfilmen und -figuren insofern einschränkt, als er z.T. nur einen Vertreter pro konstruiertem Subgenre benennen kann. Zur ausführlicheren Kritik an diesem Ansatz Urban, Jesus, 32ff. (Anm. 1). 5 Zu den Möglichkeiten filmischer Transfiguration und dem Figurenpotential von Jesustypen vgl. M. Graff, Christus Inkognito. Eine theologische Spurensicherung im Film, in: Jesus in der Hauptrolle, 48-57. 6 Vgl. z.B. Zwick, Evangelienrezeption, 122H. (Anm. l); S. Alkier, Wunder Punkt Jesusfilm, in: PastTheol 86 (1997), 167-182; ders., Die Wunderwelt des Kino -Typen der Wunderdarstellung in Jesusfilmen, in: Braunschweiger Beiträge 88 (2 / 1999); Urban, Jesus, 27ff (Anm. 1). 7 Vgl. hierzu z.B.J. Becker,Jesus von Nazareth-ein Stoff, aus dem man Bestseller macht, in: zB 1999, 1-8. 8 Vgl. hierzu z.B. J. Becker, Das Urchristentum als gegliederte Epoche (SES 155), Stuttgart 1993, 38ff. 9 Einen systematisierten Überblick und Einstieg in die Problematik, ob die christologischen Hoheitstitel einen Anhalt im Leben und Selbstverständnis Jesu haben, oder ob sie nachösterliche Deutungen sind und somit die Entfaltung der Christologie erst nachösterlich beginnt, bieten G. Theißen / A. Merz, Der historische Jesus. 2 1997, 447ff. Sodann F. Hahn, Methodenproblem einer Christologie des Neuen Testaments, VuF 15 / 2 (1970), 3-41; P. Pokorny, Die Entstehung der Christologie, 1985. 10 Die exegetische Perspektive Zwicks, Evangelienrezeption, 122 (Anm. 1), zur Untersuchung der Jesusfilme, nämlich 1) nach dem Rezeptionsverfahren der Filme, 2) der Berücksichtigung der Eigenart der ntl. Schriften und 3) die Aufnahme der elementarsten Erkenntnisse der Jesusforschung zu fragen, muss um einen Punkt erweitert werden. Es muss 4) auch die christologische Darstellung der jeweiligen J esusfigur eruiert werden. 11 Vgl. z.B. Becker, Urchristentum, 39 (Anm. 8). 12 Ebd., 39. 13 Diese christologische Grundlinie kann man zuerst bei Paulus studieren, der vor allem auf Jesu Geschick von Kreuz und Auferstehung abhebt, während die Evangelien im Gegensatz zu Paulus aufgrund ihrer narrativen Perspektive viel ausführlicher Jesus als handelndes Subjekt, also sein Wirken, schildern. Zur Einführung in die Entfaltung und die verschiedenen Ausformungen der nachösterlichen Christologie (z.B. Christusprädikatio- 62 nen, Christus als Endzeitherrscher, Christi Präexistenz und Schöpfungsmittlerschaft) vgl. z.B. Becker, Urchristentum, 44ff. (Anm. 8). 14 Stellvertretend vergleiche man nicht nur die intensive filmische, sondern auch literarische Auseinandersetzung Pasolinis mit der Problematik des vere homo et vere deus (vgl. die Tagebuchzitate aus den sog. Roten Heften bei N. Naldini, Pier Paolo Pasolini. Eine Biographie, 1991, 227-254). 15 Becker, Stoff, 8 (Anm. 7). 16 Bei der sog. Relecture handelt es sich um einen Ansatz, dem es in erster Linie um intertextuelle Phänomene geht. Im Vordergrund steht die Beziehung zweier Einheiten zueinander, wobei das, was von der einen Einheit rezipiert wird, das in der Bezugseinheit Entwickelte als grundsätzlich gültig voraussetzt. Dabei wird die Relecture in einer doppelten Bewegung vollzogen: Erstens ist sie innovative und erklärende Rezeption. Zweitens verlagert sie hierbei zugleich den thematischen Schwerpunkt aufgrund ihrer eigenen Bedürfnisse und zeitgeschichtlichen Situation durch eine weitere Entfaltung des tradierten Sachverhalts. 17 Insofern kann z.B. nicht grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass der Kommunikationsakt der Regisseure mit den Rezipienten darin besteht, dass die Rezipienten zum Glauben an einen biblisch-dogmatisch bezeugten Christus durch den jeweiligen Film kommen. Vielmehr geschieht hier oftmals eine kritische Aneignung der christologischen Aussagen des NT und der Ergebnisse der historisch-kritischen Forschung. Pasolini konstatiert in bezug auf die Person Jesus Christus: »Obgleich meine Sicht der Welt religiös ist, glaube ich nicht an die Göttlichkeit von Christus« (zit. nach Naldini, Pasolini, 244 (Anm. 14. Zur Einführung in Pasolinis Beurteilung seiner Jesusfigur vgl. ebd.). Dennoch wurden auch Filme wie z.B. ,Jesus< von J. Heyman produziert, die die filmische Transponierung der ntl. Zeugnisse ausschließlich als Medium der Mission begreifen: »Der Film geht davon aus, daß die historisch-kritische Forschung ihrem Ende entgegen geht( ... ). Es geht mir bei diesen Filmen nicht darum, was meine Phantasie mir sagen möchte, sondern es geht mir darum, was Gott mir zu sagen hat( ... ). Die biblische Botschaft muß ja in meinem Leben eine Veränderung vollbringen« (Die Botschaft: Authentizität versus Interpretation. Interview zum ,Genesis-Projekt< mit R. Hänssler, in: mP 2 / 81, 10ff.). Gegen eine solche filmische Adaption ntl. Texte erheben sich nun aber gerade seitens der Exegeten kritische Einwände: »Die größten Versager sind( ... ) diejenigen, die bewußt fromm sein wollen. Es ist eben schwer Frömmigkeit glaubhaft darzustellen. Diejenigen, die sich fragend oder kritisch mit Jesus auseinandersetzten( ... ), wie etwa Pasolini, wirken für mein Empfinden überzeugender. Sie kommen auch dem, was die Evangelien über Jesus berichten, näher. Demnach können Jesusfilme sinnvoll sein, wenn sie von vornherein darauf verzichten, ein komplettes Bild der vita Jesu zu liefern, das es (... ) gar nicht gibt, sondern wenn sie sich der Aufgabe stellen, mit ZNT 6 (3. Jg. 2000) Chr'istina Urban Jesustvpen im film: Gibt es den typischen Jesusfilm? Hilfe des Mediums Film auf irgendeine Weise intensiv und kritisch mit dem, was uns von Jesus überliefert ist, oder auch was uns besonders an dieser Gestalt fasziniert, auseinandersetzen CT- Blank, Jesus-Filme aus exegetischer Sicht, in: Zur Debatte, 1978, 15). 18 Becker, Stoff, 9 (Anm. 7). 19 Hier wird bewusst auf eine weitere Klassifizierung des christologischen Konzepts in die für die J esusfilme beliebte Differenzierung einer ,Christologie von oben< und einer ,Christologie von unten< verzichtet, wobei die sog. ,Christologie von oben< filmisch beiJesu göttlichem Ursprung, der Jungfrauengeburt, Tod und Auferstehung einsetzt, während die ,Christologie von unten< bei der Geschichte Jesu in Raum und Zeit, also bei seinen Worten und Taten, seinem Glauben, Leiden, Sterben und Auferstehen, beginnt (vgl. hierzu z.B. M. Tiemann, bibel im film, 1995). Denn ein Film kann durchaus bei der Transponierung der Jungfrauengeburt nach Mt anfangen, ohne dass der Regisseur selbst in einer traditionell dogmatischen Formulierungwie z.B. Pasolinian der Göttlichkeit Jesu festhält, die die sog. ,Christologie von oben< mit ihrem Topos der Jungfrauengeburt jedoch einzig für sich reklamieren will. 20 So hat z.B. R. Heiligenthal, Der verfälschte Jesus. Eine Kritik moderner Jesusbilder, 1997, die Diskussion der neuerenJesusliteratur mit Hilfe dieser Raster geführt. 21 H.J. Schilde, sprach mit Arcand, in: Sie spielten Jesus. Eine Rolle hinterläßt Spuren, WDR vom 21.12.1991. 22 Ulrich, F., Interview mit Denys Arcand am Rande des Film-Festivals von Cannes 1989, Zoom Nr. 16 / 1989. 23 Vgl. hierzu aus jüdischer Sicht ausführlich, S. Ben-Chorin, Jesus im Judentum, 1970, 9f. 24 K.-E. Hagmann, in: Jesus in der Hauptrolle, 71. Eine vorzügliche didaktische Aufarbeitung und eine umfassende Materialsammlung zum Film bieten: R. Mack. / C. Ramsperger u.a. (Hgg.), Jesus - Neue Aspekte der Christologie. Der Spielfilm ,Jesus von Montreal, im Unterricht, calwer materialien, 1995. 25 Zit. nach: Tiemann, bibel, 147 (Anm. 19). 26 Ebd., 147. 27 zit. nach. E. Sciliano, Pasolini, 1985, 346. 28 0. Stack, Pasolini on Pasolini, 1969, 87ff., zitiert nach: Reihe Film 12, 123. 29 M. Scorcese, Zum Film ,Die letzte Versuchung ... < Interview, Pressemappe zum Film, Sept. 1988, in: epd-Dokumentation 7 / 89, 66f. In dieser epd-Dokumentation findet sich auch umfangreiches Material zur didaktischen Verwendung. ZNT 6 (3. Jg. 2000) MAINZER HYMNOLOGISCHE STUDIEN Herausgegeben von Hermann Kurzke in Verbindung mit dem Interdisziplinären Arbeitskreis Gesangbuchforschung der Johannes- Gutenberg-Universität Mainz und der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Hymnologie Elke Axmacher Johann Arndt und Paul Gerhardt Studien zur Theologie, Frömmigkeit und geistlichen Dichtung im 17. Jahrhundert Mainzer Hymnologische Studien 3, 2000, ca. 300 Seiten, ca. DM 86,-/ ÖS 628,-/ SFr 77,- ISBN 3-7720-2913-2 Die Studien belegen die enge Beziehung zwischen Erbauungsliteratur (J. Arndt) und Lieddichtung (P. Gerhardt) sowie deren Zusammenhang mit der Theologie der lutherischen Orthodoxie. Auf dem Hintergrund der hier erstmals untersuchten nachreformatorischen Freundschaftstheologie werden Gemeinsamkeit und Eigenart des Freundschaftsverständnisses in Gebet und Lied aufgezeigt. A. Francke Verlag Tübingen und Basel 63 ZNT 4 (1999) Es ist erfreulich, daß sich die ZNT in ihrer Rubrik Kontroverse (in Heft 4/ 1999) des Themas »Feministische Exegese« angenommen hat. Die Art und Weise, in der dies geschehen ist, gibt jedoch Anlaß zu kritischen Bemerkungen und Anfragen. Es erscheint uns einigermaßen gesucht, daß das Thema »Feministische Exegese« ausgerechnet unter dem Stichwort »Methodenmord« verhandelt wird. Die Herausgeber prädisponieren so die Lektüre bereits einseitig, indem sie die Fragestellung Feministischer Exegese unter einer solchen gewalttätigen Metapher präsentieren. Sie verweisen für dieses Stichwort auf ein kürzlich erschienenes Buch der katholischen feministischen Exegetin Helga Melzer- Keller (Jesus und die Frauen. Eine Verhältnisbestimmung nach den synoptischen Überlieferungen, Freiburg u.a. 1997), die Feststellung jedoch, daß die Verfasserin» Teilen der feministischen Exegese einen ,Methodenmord< vorwirft«, verkennt den Kontext, in dem Melzer- Keller diese Metapher in der Einleitung des genannten Buches verwendet, vollkommen. Die Herausgeber inszenieren damit eine Debatte, die unserer Wahrnehmung nach nicht existiert und mit reißerischen Polans1erungen arbeitet, die unsachgemäß sind. Dr. Sabine Bieberstein, Prof Dr. Bernadette Brooten, Anja Cornils, Dr. Ute E. Eisen, Dr. Christine Gerber, Dr. ]udith Hartenstein, Dr. Claudia Janssen, Stefanie Kämpf, Dr. Renate Kirchhoff, Annette Merz, Dr. Silke Petersen, Susanne Pramann, Dagmar Reumke, Ulrike Sals, Prof 64 Dr. Luise Schottroff, PD Dr. Angela Standhartinger, Dr. Angelika Strotmann, Dr. Elke Tönges, Beate Wehn, Edith Zingg ZNT 4 (1999) Im Kontext der Kontroverse zum Thema »Begeht die feministische Exegese einen >Methodenmord,? « werde ich in Heft 4/ 1999 der ZNT zweimal zitiert: Dem Editorial (S. 1) ist zu entnehmen, ich hätte in meiner Arbeit Jesus und die Frauen. Eine Verhältnisbestimmung nach den synoptischen Überlieferungen (HBS 14), Freiburg i.Br. 1997, »Teilen der feministischen Exegese einen ,Methodenmord«< vorgeworfen. Sodann wird in der Einleitung der Kontroverse (S. 41) die Formulierung des Themas auf mein »Verdikt« zurückgeführt. In beiden Fällen empfinde ich mich als nicht sachgemäß wiedergegeben. Daher möchte ich folgende Stellungnahme abgeben: Auf S. 7 meiner Arbeit Jesus und die Frauen (s.o.) bekenne ich mich methodisch zur historischen Kritik und zur vergleichenden Religions- und Kulturgeschichte. Dabei betone ich, daß ich die Wahl nicht als »Huldigung >männlicher< Hermeneutik« betrachte, auch wenn ich damit rechne, daß »manche Feministin« meine diesbezügliche Entscheidung nicht gutheißen mag. Um meine Wahl zu begründen, erwähne ich in aller Kürze, warum ich mich von der Etablierung »einer neuen, erfahrungsbezogenen Hermeneutik« und einem damit verbundenen »Methodenmord« abgrenze. Mit diesem Schlagwort beziehe ich mich laut Anm. 18 auf Susanne Heine, Frauen der frühen Christenheit, Göttingen 3. Aufl. 1990, S. 12f. Heine wiederum beruft sich mit ihrer Rede vom »Methodenmord« innerhalb feministischer Theologie auf ein Bekenntnis von Mary Daly, Gyn / Ökologie, 1981, S. 45. Das Schlagwort vom »Methodenmord« m feministisch-theologischen Schriften habe daher weder ich erfunden noch erstmals ins Spiel gebracht, ich greife es lediglich im Dienste meiner eigenen hermeneutischen Standortbestimmung auf, ohne dabei explizit bestimmten »Teilen der feministischen Exegese« oder gar der feministischen Exegese insgesamt einen »Methodenmord« vorzuwerfen. Zwar gibt es durchaus feministischtheologische Arbeiten, deren Hermeneutik ich entschieden ablehne (z.B. Christa Mulack, Jesus der Gesalbte der Frauen, Stuttgart 1987). Doch ich bin durchaus der Meinung, daß die Mehrzahl feministisch-exegetisch arbeitender Frauen sich durch eine verantwortbare Hermeneutik auszeichnet, die die »traditionellen« Methoden positiv aufgreift und zugleich erfolgreich unter feministischer Perspektive weiterführt. Dr. Helga Melzer-Keller Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe nicht oder in gekürzter Fassung abzudrucken. ZNT 6 (3. Jg. 2000) Gerd Theißen Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums. Gütersloh 2000, 455 S. Schon der Titel des Buches ist mit Bedacht gewählt. Theißen möchte den vielen gerade in jüngster Zeit erschienenen deskriptiven oder konfessorischen »Theologien des NT« nicht noch eine weitere Variante zur Seite stellen, will nicht nur beschreiben, was einmal in der frühchristlichen Literatur gedacht wurde oder ko~statieren, was heute noch daran wahr sein soll. Stattdessen versucht er mit geradezu faustischer Energie zu erkennen, »was die ersten Christen in ihrem Innersten bewegte« und sieht die »Dynamik des urchristlichen Glaubens (... ) in der Dynamik des Lebens verwurzelt« (S. 17). So ist es nur konsequent, wenn Theißen mit solch einer programmatischen Entschränkung frühchristlicher Religion ins »Leben« hinein zugleich die Brücke schlägt zu denen, die außerhalb kirchlicher Denkformen stehen, denn Leben, ZNT 6 (3. Jg. 2000) Denken und Religion gibt es ja nicht nur im Christentum oder in Bezug zu diesem. Würde eine »Theorie des Urchristentums« nur nach Innen in die binnenkirchliche Diskussion vermittelbar sein (wie so viele Unternehmungen der letzten Jahre), dann würde sie in Theißens Augen für andere Gebildete einschließlich den »Verächtern der Religion« unter ihnen unverständlich, hätte daher zwangsläufig ihren Sinn verfehlt. »Das Neue Testament und das Urchristentum sind( ...) zu wichtig, um sie nicht in einer wissenschaftlichen Weise möglichst allein (sie! stattdessen wohl allen) zugänglich zu machen. Seine Texte und Überzeugungen gehören zur kulturellen Grundinformation der menschlichen Geschichte (... ). Es ist weder für die Gesellschaft noch für die Kirche gut, wenn sie dem allgemeinen Diskurs entzogen werden« (S. 13). Die Wertschätzung der eigenen Tradition ist für Theißen nicht ohne einen ehrlich gemeinten Dialog denkbar. »Niemand kann heute an eine Tradition anknüpfen, ohne in einen Dialog mit anderen einzutreten« (14). In der Tat! Freilich besteht die Schwierigkeit darin, wie man den gleichermaßen so konturlos globalen und zugleich auch hoffnungslos konkreten Begriff des »Lebens« methodisch handhabbar machen kann. In gut liberaler Tradition greift Theißen hierbei zurück auf Erkenntnisse und Modelle der allgemeinen Religionswissenschaft, macht Anleihen bei William Wrede und Heikki Räisänen, George A. Lindbeck und Clifford Geertz und im Sinne eines inner- Heidelberger Dialogs auch bei Dietrich Ritschl, um das »ganze Leben« der Urchristen zu untersuchen »und ihre theologischen Aussagen in semiotische, soziale, psychische und historische Zusammenhänge hinein(zu)stellen, die nicht unmittelbar ,theologisch< sind« (S. 17). Wer freilich der Meinung ist, die Sache des Christentums könne nur mit aus diesem selbst gewonnenen Denkstrukturen ausgedrückt werden (und Plausibilität oft mit innerer Kohärenz verwechselt), den mag ein leises Schaudern ergreifen, wenn er liest: »Religion ist ein kulturelles Zeichensystem, das Lebensgewinn durch Entsprechung zu einer letzten Wirklichkeit verheißt« (S. 19). Die oft überragende Bedeutung traditioneller Begriffe wie Rechtfertigung, Gericht, Wahrheit und Sünde wird er hingegen schmerzlich vermissen. Dennoch denke ich nicht, daß Theißens Versuch, diese Inhalte in eine kommunikable und an der Dynamik soziologisch beschreibbarer Prozesse ausgerichtete Begrifflichkeit zu übersetzen, von vorn herein verkürzend und unsachgemäß ist. Wer Biblisches aus der »Sprache Kanaans« in unsere postmoderne Polyphonie übersetzt, geht in jedem Fall ein Wagnis ein. Man muß wie Theißen nur erkennen, daß kaum jemand mehr fließend die »Sprache Kanaans« spricht, dann wir man dieses Wagnis gern eingehen und nicht aufhören, »an die Leser zu denken«. Es wird freilich nicht zuletzt an der Reaktion von Leserinnen und Lesern außerhalb des kirchlichen Spektrums zu ersehen sein, ob Theißen wirklich eine kommunikable Sprache getroffen hat und sein Vorhaben gelingt. Es versteht sich von selbst, daß die Darstellung des Stoffes auf einem derartigen Hintergrund weder streng 65 chronologisch noch nach Autoren oder Begriffen bzw. Wortfeldern erfolgen kann. In fünf oft mit überraschenden, aber stets nachdenkenswerten Beobachtungen angefüllten Kapiteln führt er die Leser auf einem Mittelweg. Der erste Teil mit dem bezeichnenden Titel »Mythos und Geschichte im Urchristentum« (S. 47-98) behandelt die »Bedeutung des historischen Jesus für die Entstehung der urchristlichen Religion« und die »Transformation der jüdischen Religion durch den nachösterlichen Christusglauben«. Im zweiten Teil geht es um »Das Ethos des Urchristentums« (S. 99-167), zunächst um die beiden »Grundwerte urchristlichen Ethos: Nächstenliebe und Statusverzicht«, dann um zwei Gruppen konkreter Forderungen im Licht der beiden Grundwerte: den Umgang mit Macht und Besitz im Urchristentum, dann um das Verhältnis zu Heiligkeit, Weisheit und Reinheit. Unter dem Titel »Die rituelle Zeichensprache des Urchristentums« (S. 169-222) untersucht Theißen im dritten Teil die »Entstehung der urchristlichen Sakramente aus symbolischen Handlungen« und die »Opferbedeutung des Todes Jesu und das Ende der Opfer«. Der vierte Teil »Die urchristliche Religion als autonome Zeichenwelt« (S. 223-280) zeichnet den» Weg der urchristlichen Religion zu einer autonomen Zeichenwelt: Von Paulus zu den synoptischen Evangelien« nach. Daß der vierte Teil in der Darstellung des Johannesevangeliums als dem »Bewusstwerden der inneren Autonomie der urchristlichen Zeichenwelt« kulminiert, ist doch etwas seltsam und kann nur mit einer latenten Tendenz auf Seiten des Autors erklärt werden, wonach das JohEv »geistiger« und »grundsätzlicher« sei als seine synoptischen Verwandten. Dies mutet doch recht traditionell im Sinne einer Baur'scher Synthese an und leuchtet mir nicht ganz ein. Im fünften Teil »Krisen und 66 Konsolidierung des Urchristentums« (S. 281-411) wird eindringlich dargelegt, daß das Werden urchristlicher Religion nicht ohne interne und externe Konflikte verstanden werden kann. Insofern bildet dieser Teil eine Klammer auch für das Verständnis der vorangehenden Ausführungen. Konkret zeigt Theißen die konfliktbezogene Natur frühchristlichen Denkens auf an der Bewältigung der »judaistischen Krise«, in der die paulinische Theologie ihre Konturen gewinnt (und wo auch die Rechtfertigungslehre ihren Platz hat! ) sowie an der Auseinandersetzung mit der Gnosis und den »prophetischen Krisen im ersten und zweiten Jahrhundert«. Hier werden überall Grundentscheidungen getroffen, die das Gesicht des Christentums letztlich bis heute prägten. Angesichts solcher Weichenstellungen kann Theißen in bezug auf die erste Phase christlicher Geschichte zu Recht auch von »Urchristentum« sprechen (i.U. zu Wander). Theißen macht jedoch immer wieder klar, daß diese formativen Entscheidungen nicht zur Uniformität frühchristlicher Religion führten, sondern zur Pluralität konvergierender und divergierender »Entwürfe«, deren theologisches und hermeneutisches Potential den folgenden Generationen durch den Kanon zur stetigen Bewältigung anvertraut wurde. Dieser Teil sei allen zur Lektüre empfohlen, die in Gemeinde und Ökumene tätig sind für mich zweifellos einer der Höhepunkte des Buches! Die Schlußbetrachtung widmet sich noch einmal zusammenfassend der »Grammatik« des urchristlichen Glaubens, ihren Axiomen und der Plausibilität der »Poesie des Heiligen« (S. 392) auf evolutiver Sicht. Man braucht keinesfalls bei allen Detailergebnissen einer Meinung mit Theißen sein (so etwa in der Frage, ob der doch recht traditionelle Begriff eines »frühkatholischen Gemeindechristentums« sachgemäß und religionswissenschaftlich vermittelbar ist), um das Buch mit Gewinn zu lesen. Auch mag man zweifeln, ob der Autor tatsächlich »das ganze Leben« frühchristlichen Glaubens in den Blick genommen hat. Theißen weist selbst darauf hin, daß vor allem die Lebenswelt der ersten Christen eine vertiefte Behandlung verlangt (S. 409; wie steht es etwa mit der Bestattung, der Gestaltung des häuslichen Lebens etc.? ). All dies wiegt jedoch nicht schwer im Vergleich zur Tatsache, daß Theißen das frühe Christentum konsequent als Phänomen der Kultur (im Sinne einer strukturierten und reflektierten Form des »Lebens«) versteht und so den Blick für dessen kulturbedingte, kulturbezogene und kulturprägende Facetten bis heute öffnet. Theißens Beschreibung der urchristlichen Religion »als wunderbare(r) Kathedrale aus Zeichen« (S. 410) besticht vor allem dadurch, daß er weiterführende Studien anregt und konzeptionell integrieren kann. Gerd Theißens religionswissenschaftliche Analyse des urchristlichen Glaubens mag für kulturwissenschaftlich Ungeübte zwar mitunter etwas gewöhnungsbedürftig und spröde sein (die ZNT hat hier freilich schon einiges an Einführungsarbeit geleistet! ), sie ist aber im besten Sinne verständlich geschrieben, Fremdwörter und fachspezifische Termini werden erklärt, konvergierende oder divergierende Meinungen aufgewiesen. Theißen weiß, daß wer in einen Dialog mit Innen- und Außenstehenden treten will, Klartext reden und Position beziehen, sich auch angreifbar machen und zum Widerspruch einladen muß. Doch kommt diese Transparenz der Darstellung des schwierigen Stoffes sehr zugute. Im Vorwort schreibt der Autor: »Ich meine, dass wir die Dinge, die wir lieben, so darstellen können, dass sie für alle verständlich und zu- ZNT 6 (3. Jg. 2000) gänglich sind auch für die, die ganz andere Einstellungen zu ihnen haben als wir« (S. 13). Theißens Buch ist ein veritabler Beweis, daß dies möglich ist. Es bleibt zu hoffen, daß vor allem die von Theißen angesprochene letztere Gruppe auf das Gesprächsangebot eingeht und in einen Dialog eintritt. Diejenigen, die aus binnentheologischen Gründen nicht Theißens Meinung sind, werden sich ohnehin recht bald zu Wort melden. Jürgen Zangenberg ZNT 6 (3. Jg. 2000) Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie Anton van Harskamp Theologie: Text im Kontext Auf der Suche nach der Methode ideologiekritischer Analyse der Theologie, illustriert an Werken von Drey, Mähler und Staudenmaier Aus dem Niederländischen von Hedwig Meyer-Wilmes Band 13, 2000, 571 Seiten, DM 140,-/ ÖS 1022,-/ SFr 126,- ISBN 3-7720-2581-1 Theologie kann ideologisch sein: Manchmal dient sie nur beschränkten Gruppeninteressen. Aber wie kann man den ideologischen Aspekten auf die Spur kommen? Mittels einer Analyse der Verhältnisse zwischen (Kirchen)Politik und Theologie bei einigen Theologen im Umfeld der sogenannten katholischen 'Tübinger Schule' beantwortet der Autor diese Frage. Damit ist diese Studie auch eine überraschende Neuinterpretation dieser Schule aus dem neunzehnten Jahrhundert. Sigrid Müller Handeln in einer kontingenten Welt Zu Begriff und Bedeutung der rechten Vernunft (recta ratio) bei Wilhelm von Ockham Band 18, 2000, X, 249 Seiten, DM 78,-/ ÖS 569,-/ SFr 74,- ISBN 3-7720-2586-2 In diesem Buch wird Wilhelm von Ockham (ca. 1285- 1347/ 48) der Platz in der Geschichte der Ethik zugewiesen, der ihm gebührt. In dieser steht Ockham bislang für eine einseitige Hervorhebung des willkürlichen göttlichen Willens als Norm für das sittlich Gute. In Auseinandersetzung mit dem theologischen Werk Ockhams stellt die Autorin die Bedeutung einer eigenständigen Vernunft des Menschen bei Ockham heraus. Die Untersuchung legt Probleme frei, die in zugespitzter Form erst heute in der ethischen Diskussion präsent sind. Gegenüber der neueren philosophischen Ockham-Forschung zeigt die Arbeit, daß der eigenständige Vernunftgebrauch des Menschen nicht gegen eine religiöse Hermeneutik des sittlichen Handelns ausgespielt werden kann. A. Francke Verlag Tübingen und Basel 67 M it der ZNThaben theologisch interessierte Leserinnen und Leser eine neugegründete Zeitschrift mit eigenem Profil und Anspruch in Händen: Nicht exegetische Spezialfragen sind Gegenstand der Betrachtung, sondern zentrale theologische Themen des Neuen Testaments und der gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskussion. Die Herausgeber versuchen damit einen Brückenschlag zwischen universitär betriebener Forschung am Neuen Testament und den Erfordernissen kirchlich-schulischer Praxis. ZNT informiert über die aktuelle Diskussion wichtiger theologischer Themen und führt sie weiter. Präsentiert werden die Beiträge von Fachtheologinnen und Fachtheologen in einer zugleich exegetisch anspruchsvollen und sprachlich nachvollziehbaren Art und Weise. Als Dankeschön erhalten Sie eines dieser Bücher: Prämie 1 Prämie2 Ja, ich möchte die ZNT zum Preis von DM 48,- (zzgl. Porto) jährlich bestellen. Bitte schicken Sie mir D Prämie 1, □ Prämie 2, D Prämie 3 als Dankeschön. Ich begrenze das Abo □ bis auf Widerruf (mind. 1 J aRr), □ auf __ Ausgaben beginnend mit Heft 7/ 2001. Rechnungsadresse bitte ankreuzen. D Meine Anschrift Name, Vorname Straße, Nr. PLZ/ Wohnort Telefon (für eventuelle Rückfragen) Unterschrift D Empfänger des Abonnements Name, Vorname Straße, Nr. PLZ/ Wohnort Telefon (für eventuelle Rückfragen) Prämie3 Widerrufsbelehrung Der Abonnementvertrag wird erst wirksam, wenn ich die Bestellung der Zeitschrift nicht binnen einer Woche schriftlich widerrufe. Zur Wahrung der Frist genügt die rechtzeitige Absendung des Widerrufs (Datum des Poststempels) an den Verlag. Die ZNT erscheint halbjährlich (April und Oktober) mit je 64 Seiten Bezugspreis jährlich DM 48,- / ÖS 350,- / SFr 46,zzgl. Versandkosten ISSN 1435-2249 A. Francke Verlag Tübingen und Basel Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Fon (0 70 71) 9797-0 · Fax (0 70 71) 7 52 88 Internet: http: / / www.francke.de E-Mail: narr-francke@t-online.de Die neue Reihe von Kohlhammer für Sie jetzt zum Subskriptionspreis: TI1eologischer Komn,1entar ztnn Neuen Testan1ent Herausgegeben von Ekkehard W. Stegemann, Peter Fledler, Luise Schottroff, Klaus Wengst Der Theologische Kommentar zum Neuen Testament Im Oktober 2000 erscheint Band 4, 1: steht in der Tradition klassischer historisch-kritischer Kommentarkultur der neutestamentlichen Wissenschaft. Er nimmt jedoch erstmals die im christlich-jüdischen Gespräch behandelten Themen, den feministisch-theologischen Diskurs sowie sozialgeschichtliche Fragestellungen auf. Die biblischen Bücher/ die Bearbeiterinnen: Band 1: Das Matthäusevangelium (Peter Fiedler) • Band 2: Das Markusevangelium (N.N.) • Band 3: Das Lukasevangelium (Wolfgang Stegemann) • Band 4, 1: Das Johannesevangelium I (Klaus Wengst) • Band 4,2: Das Johannesevangelium II [Klaus Wengst) • Band 5: Die Apostelgeschichte (Klaus Haacker) • Band 6: Der Brief an die Gemeinde in Rom (Ekkehard W. Stegemann) • Band 7: Der erste Brief an die Gemeinde in Korinth (Luise Schottroff) • Band 8: Der zweite Brief an die Gemeinde in Korinth (Kristlieb Adloff) • Band 9: Der Brief an die Gemeinden in Galatien (Peter von der Osten-Sacken) • Band 10: Der Brief an die Gemeinde in Ephesus (Hildegard Gollinger) • Band 11: Der Brief an die Gemeinde in Philippi (Berndt Schaller) • Band 12: Der Brief an die Gemeinde in Kolossä (Ingrid Maisch) • Band 13: Der erste Brief an die Gemeinde in Thessalonich (Marlene Crüsemann) • Band 14: Der zweite Brief an die Gemeinde in Thessalonich (Marlene Crüsemann) • Band 15: Die Pastoralbriefe (Angela Standhartinger) • Band 16: Der Brief an Philemon (N.N.) • Band 17: Der Brief an die Hebräerlnnen (Nikolaus Walter) • Band 18: Der Brief des Jakobus (Peter Wiek) • Band 19: Der erste Brief des Petrus (N.N.) • Band 20: Der zweite Brief des Petrus (N.N.) • Band 21: Die Johannesbriefe (N.N.) • Band 22: Der Brief des Judas (N.N.) • Band 23: Die Apokalypse (Hermann Lichtenberger) Klaus Wengst Das Johannesevangelium 1. Teilband: Kapitel 1 - 10 400 Seiten. Kart./ Fadenheftung ISBN 3-17-016696-4 Subskriptionspreis (bei Vorbestellung des Gesamtkommentars bis zum Erscheinen des letzten Bandes): DM 48,90/ öS 357,-/ sFr 45,- Einzelpreis: DM 59,85/ öS 437,-/ sFr 54,- Für 2001 sind in Vorbereitung: Klaus Wengst Das Johannesevangelium 2. Teilband: Kapitel 11 - 21 Luise Schottroff Der erste Brief an die Gemeinde in Korinth Hermann Lichtenberger Die Apokalypse Für ausführlichere Informationen fordern Sie bitte unseren Prospekt (Nr. 90457) an! Kohlhammer W. Kohlhammer GmbH · 70549 Stuttgart• Tel. 0711/ 78 63 - 430 Heiner Ganser-Kerperin Das Zeugnis des Tempels Studien zur Bedeutung des Tempelmotivs im lukanischen Doppelwerk Jerusalem und vor allem sein Tempel spielen im lukanischen Doppelwerk im Vergleich zu den drei anderen Evangelien und der paulinischen Theologie eine zentrale Rolle. Gegenüber einer verbreiteten Lukas-Exegese, die den Tempel und seine vorausgesagte Zerstörung in eine heilsgeschichtliche Substitutionstheorie einspannt, zeigt die vorliegende Arbeit in detaillierten narratologischen Textanalysen auf, dass dem Tempel in der Erzählung andere Funktionen zukommen. Im lukanischen Werk erscheint der Tempel als ein Offenbarungsort, als Ausgangspunkt und Ziel der Sendung Jesu, als H einer G anser•Kerperin Das Zeugnis d es Temp els Studien zur Bedeutung des Tempelmotivs im lukanischen Dop pelwe rk NEUTESTAM ENTLIC HE ABHANDLUNG EN n Ne u e Folie 36 ü. ASCHENOORFF "' ~ Ausgangsbasis des weltweiten Zeugnisses der Apostel und als idealer Ort der Begegnung Gottes mit seinem Volk. Diese verschiedenen Funktionen, die dem Tempel zuwachsen, zeigen an, dass auch für die heidenchristlichen Leserinnen und Leser des lukanischen Werkes der jüdische Tempel in Jerusalem ein wesentliches Element der Konstitution ihrer Identität bildet. 2000, 412 Seiten, kart., 102,- DM. ISBN 3-402-04784-5. Neutestamentliche Abhandlungen. Neue Folge, Band 36 Ba rbara Fuß " Di es ist die Zeit, von der geschrieben ist ..." D ie exp lizite n Zitate aus dem Buch Hosea in den Handschrif1en von Qumran und im r-.: cucn Tes tament NEUTESTA..\.fENTLI CH E ABHANDLUNGEN • Ne u1tF0l 1e37 11 ü. ASCI-Efl()()RFF ~ Barbara Fuß » Dies ist die Zeit, von der geschrieben ist ... « Die expliziten Zitate aus dem Buch Hosea in den Handschriften von Qumran und im Neuen Testament Die Verwendung biblischer Schriften bei der Abfassung eigener Literatur ist eine Gemeinsamkeit aller Gruppierungen des Judentums zur Zeit des Zweiten Tempels. Am Beispiel der expliziten Zitate aus dem Buch Hosea führt die Autorin detailliert vor, wie sich die Schriftverwendung der qumranischen Autoren und diejenige des Paulus und des Matthäus-Evangelisten bei aller Übereinstimmung in der formalen Vorgehensweise in der inhaltlichen Anwendung grundsätzlich voneinander unterscheiden. 2000, 311 Seiten, kart., 88,- DM. ISBN 3-402-04785-3. Neutestamentliche Abhandlungen. Neue Folge, Band 37 Verlag Aschendorff Münster Bezug durch jede Buchhandlung Besuchen Sie uns im Internet: http: / / www .aschendorff. de/ buch ASCHEN0ORFF VERLAG~
