ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
61
2001
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Dronsch Strecker VogelImpressum Herausgeber Stefan Alkier Kurt Erlemann Roman Heiligenthal in Verbindung mit Klaus Berger Peter Busch Axel von Dobbeler Dirk Frickenschmidt Gabriele Faßbeck Matthias Klinghardt Günter Röhser Markus Sasse Holger Tiedemann Manuel Vogel Bernd Wander Jürgen Zangenberg Anschrift der Redaktion Universität Koblenz-Landau Fachbereich 6: Philologie Institut für Ev. Theologie Prof. Dr. Roman Heiligenthal Im Fort 7 · D-76829 Landau Manuskripte Zuschriften, Beiträge und Rezensionsexemplare werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Verpflichtung zur Besprechung unverlangt eingesandter Bücher besteht nicht. Anzeigen Christiane Schiller, Tel.: 0 70 71 / 97 97-10 Bezugsbedingungen Die ZNT erscheint halbjährlich (April und Oktober) Einzelheft: DM 24,- / öS 175,- / sFr 24,- zuzügl. Versandkosten Bezugspreis jährlich: DM 48,- / öS 350,- / sFr 46,- Vorzugspreis für Studenten (Immatrikulationsbescheinigung beifügen) jährlich: DM 38,- / öS 277,- / sFr 38,- © 2001 · A. Francke Verlag Tübingen · Basel Alle Rechte vorbehalten ISSN 1435-2249 ISBN 3-7720-9906-8 Umschlagentwurf: Werner Rüb, Bietigheim-Bissingen. Satz: Martin Fischer, Reutlingen. Druck: Gulde, Tübingen. Bindung: Nädele, Nehren. Neues Testament Stefan Alkier aktuell Wen wundert was? Einblicke in die Wunderauslegung von der Aufklärung bis zur Gegenwart . . . . . 2 Zum Thema Melissa Aubin Beobachtungen zur Magie im Neuen Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Peter Busch War Jesus ein Magier? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Ralph Brucker Die Wunder der Apostel . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Kontroverse Roman Heiligenthal Wunder im frühen Christentum - Wirklichkeit oder Propaganda? Einleitung zur Kontroverse . . . . . . . . . . . . . . 46 Michael Wohlers Jesus, der Heiler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Rainer Riesner Jesus - Jüdischer Wundertäter und epiphaner Gottessohn . . . . . . . . . . . . . . 54 Hermeneutik Bernd Kollmann und Vermittlung Die Heilung des blinden Bartimäus (Mk 10,46-52) - ein Wunder für Grundschulkinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Buchreport Kurt Erlemann Werner Kahl, New Testament Miracle Stories in their Religious-Historical Setting. A Religionsgeschichtliche Comparison from a Structural Perspective (FRLANT 163) . . . 67 Kurt Erlemann Heike Bee-Schroedter, Neutestamentliche Wundergeschichten im Spiegel vergangener und gegenwärtiger Rezeptionen. Historischexegetische und empirisch-entwicklungspsychologische Studien (SBB 39) . . . . . . . . . . 69 Inhalt Heft 7 · 4. Jg. (2001) A. Francke Verlag Tübingen und Basel · Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Telefon: 0 70 71 / 97 97-0 · Fax: 0 70 71 / 7 52 88 Internet: http: / / www.francke.de · E-mail: narr-francke@t-online.de ZNT im Internet: http: / / www.uni-wuppertal.de/ FB2/ ev.theol/ ZNT Mit Heft 7 der ZNT bekommen Sie erneut ein Themenheft in die Hand. Die Wunder Jesu und der Apostel sind seit den Anfängen Gegenstand heftiger Dispute gewesen, ihr historischer Kern, ihr Aussageziel oder auch ihre didaktische Vermittelbarkeit sind bis heute umstritten. Hat Jesus tatsächlich Wunder gewirkt, und wenn ja, welche? Was ist überhaupt ein »Wunder«, und kann man heute noch an Wunder glauben? Welche Rolle spielten Wundererzählungen in den frühchristlichen Gemeinden? Ist es sinnvoll und verantwortbar, Schulkinder mit den Wundern Jesu zu konfrontieren? Das Themenheft nimmt einige Aspekte der Debatte unter die Lupe. In »NT aktuell« informiert Stefan Alkier unter dem Titel »Wen wundert was? Einblicke in die Wunderauslegung von der Aufklärung bis zur Gegenwart« über die Geschichte der Wunderforschung. Er spannt dabei einen weiten Bogen, von der rationalistischen Wundererklärung bis zu aktuellen Versuchen, die Wunder des Neuen Testaments zu deuten. Es wird deutlich, daß dabei die Frage des Wirklichkeitsverständnisses eine entscheidende Rolle spielt. Melissa Aubin (»Beobachtungen zur Magie im Neuen Testament«) und Peter Busch (»War Jesus ein Magier? «) stellen die Frage nach dem »Magischen« in der Wundertätigkeit Jesu bzw. danach, wie magisch anmutende Elemente der Wundererzählungen zu verstehen sind - gibt es einen qualitativen Unterschied zwischen Wunder und Magie? Ralph Brucker nimmt mit dem Artikel »Die Wunder der Apostel« einen vernachlässigten Aspekt der Wunderfrage auf. Daß es eine Wundertätigkeit auch nach Jesus in den frühen christlichen Gemeinden gab, wird besonders aus den Berichten der Apostelgeschichte und der Paulusbriefe deutlich. Das Verhältnis zwischen Jesus und seinen Jüngern rückt hier unter einer ganz eigenen Perspektive in den Blick. Die Kontroverse zwischen Michael Wohlers und Rainer Riesner steht unter der Überschrift »Wunder im frühen Christentum - Wirklichkeit oder Propaganda? « und fragt provokativ nach dem historischen Wirklichkeitsgehalt der Wunder. Gerade hier wird die Frage nach dem Wirklichkeitsverständnis virulent: Wieviel an »Wundern« kann man Jesus aus heutiger Sicht zutrauen? Für die religionspädagogische Arbeit bietet der Beitrag von Bernd Kollmann zur Heilung des blinden Bartimäus (Mk 10, 46-52) hilfreiche Anregungen. Gleich zwei Bücher zur Thematik werden im Buchreport besprochen: Die Bücher von Werner Kahl zu »New Testament Miracle Stories in their Religious-Historical Setting« und von Heike Bee- Schroedter zu »Neutestamentliche Wundergeschichten im Spiegel vergangener und gegenwärtiger Rezeptionen« sind Gegenstand des Buchreports. Gerade letzteres Buch verspricht in seinem Titel einen Gewinn für den religionspädagogischen Umgang mit Wundererzählungen. Weiterhin hoffen wir auf einen regen Gedankenaustausch über das Was? und das Wie? der Artikel in der ZNT. Über unsere Homepage und die Kontaktadresse (vgl. Impressum) sind wir für Sie ansprechbar. Hinweisen möchten wir auf die Werbeaktion in diesem Heft - interessante Preise sind bei der Werbung neuer Abonnenten der ZNT zu gewinnen! Wir wünschen Ihnen eine gute Lektüre und wertvolle Anregungen aus ZNT 7. Ihr Herausgeberteam Stefan Alkier Kurt Erlemann Roman Heiligenthal Editorial ZNT 7 (4. Jg. 2001) 1 1. Die Wunderdiskussion im Frühchristentum Der Streit um die in den Texten des Neuen Testaments angeführten Zeichen, Wunder und machtvollen Taten, also um die Aussagen, die für das Frühchristentum und seine Stifterfigur das Wirken menschliche Möglichkeiten übersteigender Kraft behaupten, begleitet das Christentum durch seine Geschichte und wird es auch weiterhin tun. Die Streitpunkte hingegen, die Anlaß zum Disput geben, wechseln mit den jeweiligen Diskussionsteilnehmern und ihren kulturell, historisch und individuell bedingten Plausibilitätsannahmen. Die in den neutestamentlichen Schriften angeführten jüdischen Kontrahenten bestreiten nicht die Möglichkeit und nicht einmal die Tatsächlichkeit der Wunder Jesu (vgl. Mk 3,22-27parr) und auch nicht die der Wunder der Apostel (vgl. z.B. Apg 4,7). Ihnen ist aus ihren Überlieferungen das machtvolle Wirken Gottes, sein Zeichen- und Wunderhandeln inmitten irdischer Zeiten und Räume bekannt, und sie wissen darum, daß seine Propheten mit dieser Wundermacht Gottes begabt werden können. Sie wissen aber auch darum, daß Satan über Wunderkraft verfügt und sie an die Seinen weitergeben kann, Zauberei verboten ist (vgl. Dtn 18,10-12) und Menschen mit einem Wahrsagegeist getötet werden sollen (vgl. Lev 20,27). Die jüdischen Gegner Jesu, wie sie in den neutestamentlichen Schriften dargestellt werden, streiten nicht ab, daß Jesus und seine Apostel Wunder wirken, sondern daß diese Wunder mit der Kraft Gottes zu erklären seien. Wäre die Kraft Gottes für die Wunder Jesu und seiner Anhänger verantwortlich, so wäre damit auch seine Botschaft von Gott her legitimiert. Die auf die Kraft Gottes zurückgeführten Wunder wären Zeichen für die göttliche Beauftragung Jesu und seiner Nachfolger. Der Botschaft Jesu und seiner Beauftragten wäre Folge zu leisten. Daher erklären die jüdischen Kontrahenten Jesu in den Evangelien diese Wunder mit dem Wirken der Kraft Satans. Jesus und seine Mitstreiter werden damit nicht lediglich als trickreiche Illusionäre gekennzeichnet, sondern sie stehen damit, gerade weil die Tatsächlichkeit der Wunder nicht bestritten wird, im Bund mit Satan und nicht - was die jüdischen Kontrahenten für sich selbst in Anspruch nehmen - im Bund mit Gott. Schärfer konnten Jesus und die ihm Nachfolgenden nicht attackiert werden. Sie stehen außerhalb des Abrahamsbundes. Sie haben diesen Bund mit dem Satansbund vertauscht (vgl. Mk 3,22- 27parr). Der in den Evangelien dargestellte Streit um die Wunder Jesu zwischen dem Juden Jesus und seinen jüdischen Anhängern auf der einen und seinen jüdischen Kontrahenten auf der anderen Seite ist ein innerjüdischer, theologischer Streit, der innerhalb ein und derselben historisch und kulturell bedingten Wirklichkeitsannahmen stattfindet. Es geht in diesem Streit nicht darum, ob Wunder möglich sind und wie sie naturkundlich zu erklären seien. Es geht nicht darum, welchen ontologischen Status sie haben. Es geht vielmehr darum, wessen Macht sich in ihnen zeigt, es geht also darum, welcher theo-logische Status ihnen zukommt. Sind sie Zeichen des Bundes Gottes oder Zeichen des Bundes mit Satan? Anders verhält es sich mit der Wunderdiskussion, die die Apologeten des Christentums seit seinen Anfängen und ihre Epigonen bis heute mit Bestreitern der Tatsächlichkeit der neutestamentlichen Wunderaussagen führen, die außerhalb jüdischchristlicher Wirklichkeitsannahmen argumentieren. Das berühmte Beispiel des Philosophen Kelsos von Alexandreia, mit dessen 178 n. Chr. verfaßter, das Christentum attackierender Schrift Alethes Logos sich Origenes auseinandersetzte, zeigt, daß auch hier zunächst nicht die grundsätzliche Möglichkeit des Wirkens menschliche Möglichkeiten übersteigender Kraft zur Diskussion stand, sondern die Frage, ob sie wirklich im Falle Jesu und seiner Anhänger und auch im Falle der in der hebräischen Bibel erzählten machtvollen Taten Gottes und seiner Propheten gewirkt habe (vgl. Origenes, Cels I,2.46) oder ob es sich dabei nicht lediglich um Zaubertricks, Ammenmärchen und Neues Testament aktuell Stefan Alkier Wen wundert was ? Einblicke in die Wunderauslegung von der Aufklärung bis zur Gegenwart 1 2 ZNT 7 (4. Jg. 2001) ZNT 7 (4. Jg. 2001) 3 Stefan Alkier Wen wundert was ? Stefan Alkier Dr. PD Stefan Alkier, Jahrgang 1961. Studium der Ev. Theologie in Münster, Bonn, Hamburg, Promotion 1993 in Bonn, Habilitation 1999 in Hamburg. 1993-1999 Wiss. Assistent für NT in Hamburg. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Hermeneutik und Methodologie, Forschungsgeschichte, Wunder, Paulus. Zur Zeit Vertretungsprofessur für den Lehrstuhl für Neues Testament an der Universität Gesamthochschule Kassel Lügengeschichten handelte (vgl. z.B. Origenes, Cels I,6.71). Auch hier steht nicht die Möglichkeit von Wundern auf dem Prüfstand, sondern die Frage, ob die jüdisch-christliche Tradition einem naiven Wunderglauben aufgesessen ist, der der ernsthaften philosophischen Kritik nicht standhält. Diese Diskussion zeigt aber deshalb auch, daß nicht schon die Annahme des Wirkens menschliche Möglichkeiten übersteigender Kräfte grundsätzlich als ›naiver Wunderglaube‹ bewertet wurde, sondern die intellektuelle Wunderdiskussion nach Kriterien suchte und mit ihnen argumentierte, um staunenererregende Ereignisse und/ oder Berichte von solchen Vorkommnissen sachgemäß und innerhalb damaliger Plausibilitätsannahmen kritisch bewerten zu können (vgl. Origenes, Cels I,42; II,51). Das intellektuelle Niveau und die begriffliche Differenzierung, 2 mit der dieser Streit geführt wurde, straft alle Pauschalisierungen Lügen, die für die Antike - und sei es auch nur für die Spätantike - einen realitätsfremden, irrationalen und daher freilich »volkstümliche[n] Wunder- und Aberglaube[n]« 3 , ja sogar eine Wundersucht 4 diagnostiziert haben und nicht nur das Phänomen des Wunderbaren, sondern eine ganze Epoche als ein pathologisches »Zeitalter der Angst« 5 markierten. Diese Fehldiagnose geht einher mit einer undifferenzierten Verfallstheorie, die in der Spätantike nur den Abfall einer idealisierten klassischen Antike zu sehen bereit ist. 6 2. Die Wunderdiskussion im Zeichen der Aufklärung Demgegenüber hat sich die Frage nach dem Wunder in der Neuzeit mehrfach verschoben. Im 18. Jahrhundert gerät das Wunder unter dem Eindruck naturwissenschaftlicher Begründungszusammenhänge auf die Anklagebank der Kritik. Galten die biblischen Wunder von jeher als Beweis des Geistes und der Kraft des Christentums, wie es noch für den bedeutenden Kirchenhistoriker Johann Lorenz von Mosheim (1693-1755) selbstverständlich war, so werden sie nun von kirchen- und theologiekritischen Denkern kategorisch angegriffen. Bereits 1670 führt der jüdische Philosoph Baruch de Spinoza (1632-1677) im sechsten, der Wunderproblematik gewidmeten Kapitel seines Tractatus Theologico-Politicus gegen die biblischen Wunder an, »daß alle wirklichen Geschehnisse, von denen die Schrift berichtet, sich wie überhaupt alles notwendig nach den Naturgesetzen zugetragen« (106) 7 habe. Da Gott selbst die ewigen Naturgesetze erlassen habe, liefe die Annahme ihrer Durchbrechung auf einen Selbstwiderspruch Gottes und letztlich auf »Atheismus« (100) hinaus. Mit einer dreifachen Strategie versucht Spinoza, die vermeintliche Faktizität der biblischen Wunder zu destruieren: metaphorisches Wunderverständnis, rationalistische Wundererklärung und Verfälschungstheorie. Bei den biblischen Wundergeschichten handele es sich teilweise um dichterische Ausmalungen, teilweise um stehende Metaphern, die aus der Vorstellungswelt der hebräischen Sprache zu erklären seien und die nur des Hebräischen Unkundige irrtümlicherweise als Wunder auffaßten. Neben diesem metaphorischen Wunderverständnis nimmt Spinoza auch schon die 100 Jahre später bei christlichen Theologen zu Ehren gekommene rationalistische Wundererklärung vorweg, wenn er die Wundergeschichten auf Wahrnehmungstäuschungen, auf die mangelhafte »Fassungskraft des Volkes« und das unzureichende naturwissenschaftliche Wissen der »Alten« (96) zurückführt, um dann mit Hilfe der »Nebenumstände der Wunder« die tatsächlichen »Ursachen« »auf natürlichem Weg« anzugeben: »[…] um den Knaben, der für tot gehalten wurde, wieder zu erwecken, mußte Elisa sich mehrere Male auf ihn legen, bis er warm wurde und endlich die Augen aufschlug« (104). Schließlich fügt Spinoza dann noch zu der metaphorischen und der rationalistischen Wundererklärung die Verfälschung der Schrift für alle Wundergeschichten an, die sich nicht metaphorisch oder rationalistisch erklären lassen. In jedem Fall gilt sein Grundsatz: »Wenn sich nun manches in der Heiligen Schrift findet, von dem wir die Ursachen nicht anzugeben wissen und das außerhalb der Naturordnung, ja ihr entgegen geschehen zu sein scheint, so darf uns das nicht stutzig machen; wir müssen vielmehr durchgängig annehmen, daß das, was wirklich geschehen ist, auf natürlichem Wege geschah.« (104) Daß es sich bei diesem Grundsatz um eine philosophische Prämisse handelt, die der Bibellektüre als unumstößliches Prinzip vorangestellt wird, ist Spinoza voll und ganz bewußt: »[…] bei den Wundern, ist das, was wir suchen (ob man nämlich zugeben kann, daß etwas in der Natur geschehe, was ihren Gesetzen widerstreitet oder sich nicht aus ihnen herleiten läßt), etwas rein Philosophisches.« (110) Es blieb den Aufklärern des 18. Jahrhunderts vorbehalten, der biblischen Wunderkritik zur gesellschaftlichen Akzeptanz zu verhelfen. Voltaire (1694-1778) etwa fällt in seinem einflußreichen Essais sur les mœurs et l’esprit des nations (1756) das kategorische Urteil: »les miracles sont incroyables.« 8 In seiner 1757 veröffentlichten Natural History of Religion rechnet David Hume (1711- 1776) Wunder zu den »religions principles, which have, in fact, prevailed in the world. You will scarcely be persuaded that they are anything but sick men’s dreams.« 9 Hume definiert in seinem Essay An Enquiry Concerning Human Understanding (1748/ 58): »Ein Wunder ist eine Verletzung der Naturgesetze, und da eine feststehende und unveränderliche Erfahrung diese Gesetze gegeben hat, so ist der Beweis gegen ein Wunder aus der Natur der Sache selbst so vollgültig, wie sich eine Begründung durch Erfahrung nur irgend denken läßt.« 10 Dieses Theorem der empirisch begründeten Undurchbrechbarkeit der Naturgesetze bildet zusammen mit einer bis in die Wunderexegese unserer Gegenwart hinein wirksamen Assoziationskette sowohl den Grundpfeiler der Argumentation des zehnten, On Miracles betitelten Abschnitts von Humes Enquiry als auch von Humes psychologisierendem Entwurf der Religionsgeschichte, wie er ihn in seiner Natural History of Religion vorlegt. Hume faßt den Wunderglauben als Aberglauben für Ungebildete auf und etabliert die Assoziationskette: Wunder (miracles) - Fiktion (fiction) - Aberglaube (superstition) - Angst (anxiety) - Unbildung (uneducated) - Soziale Unterschicht (social lower class). Hermann Samuel Reimarus (1694-1768) zufolge, dessen Schriften zum Teil Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) zwischen 1774 und 1778 als Fragmente eines Ungenannten herausgab, sind die biblischen Wunder nicht nur der Unwissenheit, der Leichtgläubigkeit und den Wahrnehmungsfehlern vergangener, niedrigerer Kulturstufen der Menschheit zu verdanken. Vielmehr beruhen die Wundererzählungen des Neuen Testaments und vor allem die der Auferstehung Jesu sogar auf absichtlicher Täuschung und vorsätzlichem Betrug. Die durch den Tod ihres Meisters um ihre politischen Hoffnungen auf die Restaurierung eines jüdischen Reiches betrogenen Jünger beschlossen, »den Körper Jesu bald wegzuschaffen, damit sie vorgeben konnten, er sey aufgestanden und gen Himmel gefahren, um von dannen nächstens mit großer Kraft und Herrlichkeit wieder zu kommen.« 11 Darauf bauten sie ihre die Verkündigung Jesu verfälschende Lehre, um materiell überleben zu können. Die Widerlegung des Fragmentisten wurde zum Motor der Leben-Jesu-Forschung des 19. Jahrhunderts. Im Zentrum dieser Debatte aber stand zunächst die Wunderfrage. Die Aufklärung reduziert die geltenden Weltstrukturen und damit die verschiedenen Möglichkeiten der Zuschreibung von Wahrheitswerten und der Urteile über die Annehmbarkeit von Welten. Sie erstellt eine neue Enzyklopädie des konventionell anerkannten gesellschaftlichen Wissens, demzufolge Wunder Fiktion und keine Fakten sind. Weder der Erzähler noch der Leser, der Stil oder irgendeine andere textliche Kategorie kann die Wahrheit einer Geschichte garantieren. Ausschließlich die Naturgesetze entscheiden darüber, was Faktum und was Fiktion ist. Die Rolle des Wundertäters, sei sie mit Heiligen, mit Jesus oder Gott besetzt, wird in die Welt der Phantasie verwiesen. Dabei zielt diese Wunderkritik nicht zuletzt auf die gesellschaftspolitische Macht der Kirche, die sich ideo- 4 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Neues Testament aktuell logisch auf die behauptete Wahrheit der Wunder (inklusive Auferstehung) und damit auf die so behauptete Wahrheit des Christentums stützte. Als mit einiger Verspätung die naturwissenschaftlichen Begründungszusammenhänge auch im theologischen Diskurs akzeptiert werden, etablieren sich die Akkomodationstheorie, die rationalistische Wundererklärung und die Entmythologisierungstheorie (die freilich nicht dem Begriff, aber der Sache nach um Einiges älter als Bultmanns Entmythologisierung ist). Nach der Akkomodationstheorie Johann Salomo Semlers (1725-1791) haben sich Jesus und die Evangelisten an die primitive Stufe der Menschheit, die noch an Wunder glaubte, angepaßt, um ihnen die ewigen Wahrheiten verständlich auszudrücken. Damit sollte ebenso wie mit der rationalistischen Wunderauslegung der Betrugsvorwurf des Fragmentisten entkräftet werden. Die rationalistische Wunderauslegung, als deren Exponent Heinrich Eberhard Gottlob Paulus (1761-1851) angeführt werden kann, erklärt die Wunder, wie Spinoza dahingehend, daß das Wunderbare durch eine kausale, naturwissenschaftliche Erklärung ersetzt wird. So werden Totenerwekkungen durch Scheintod, Jesu Seewandel durch eine optische Täuschung etc. erklärt. Die Entmythologisierung von Johann Gottfried Eichhorn (1752-1827) und Johann Philipp Gabler (1753-1826) über David Friedrich Strauß (1808-1874) bis zu Rudolf Bultmann (1884-1976) und seinen Schülern betrachtet Wundererzählungen als Teil eines primitiven, überwundenen mythologischen Weltbildes einer kindlichen Stufe der Menschheit. Allerdings sei »hinter« dieser abständigen Mythologie eine »tiefere Bedeutung enthalten, die unter der Decke der Mythologie verborgen ist.« 12 Die Entmythologisierung will »die mythologischen Vorstellungen weglassen, gerade weil wir ihre tiefe Bedeutung beibehalten wollen.« 13 Daher soll das Mirakelhafte der Wundergeschichten als mythische Form entfernt werden, um je nach zugrundeliegender Philosophie deren »Lehre« (Gabler) 14 , »Idee« (Strauß) 15 oder »Verständnis[.] der menschlichen Existenz«, bzw. »Selbstverständnis« (Bultmann) 16 als deren eigentliche Botschaft über die Zeiten hinweg für die Gegenwart freizulegen und zu verstehen. Dabei versteht sich dieses Verfahren auch schon im 19. Jahrhundert ausdrücklich als Übersetzungsarbeit. Strauß führt an: »Als Schriften aus einer unphilosophischen, kindlichen Zeit reden sie unbefangen von göttlicher Einwirkung nach altertümlicher Vorstellungs- und Ausdrucksweise: und so haben wir zwar keine Wunder anzustaunen, aber auch keinen Betrug zu entlarven, sondern nur die Sprache der Vorzeit in unsere heutige zu übersetzen«. 17 Diese Übersetzungsarbeit beruht nicht erst für Bultmann auf der Überzeugung: »Für den Menschen von heute« ist »das mythologische Weltbild […] erledigt.« (145) 18 Akkomodationstheorie, Rationalismus und Entmythologisierung treffen sich darin, die naturwissenschaftliche Frage nach der Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit von Wundern klar mit deren Unmöglichkeit zu beantworten. Gleichzeitig verschiebt sich die Frage von einem naturwissenschaftlichen in einen hermeneutischen Diskurs. Es geht um die Frage, wie man Wundererzählungen so verstehen kann, daß ihre Lektüre gleichzeitig der als wahr betrachteten naturwissenschaftlichphilosophischen Weltanschauung wie auch dem weiterhin für wahr gehaltenen christlichen Glauben, der auf biblischen Texten basiert, gerecht werden kann. Diese hermeneutische Frage wird mit der geschichtsphilosophischen Theorie von Entwicklung beantwortet: Menschen auf einer niedrigeren, kindlichen Entwicklungsstufe können noch nicht so abstrakt denken wie Menschen auf einer höheren. Wunderglaube gehört somit einem überholten Weltbild an, das Wundergeschichten mit unzutreffenden Wirklichkeitsannahmen belegt. Bultmann ist sich klar darüber, daß mit seinem Konzept der Entmythologisierung die Frage nach dem Wirklichkeitsverständnis gestellt ist. Allerdings verhindert seine reduktionistische Einteilung der Wirklichkeit in die existentialphilosophische Opposition »eigentlich oder uneigentlich« (130) in Kombination mit seinem pauschalen fortschrittsoptimistischen Vorurteil, »daß der Mythos zwar von einer Wirklichkeit redet, aber in einer nicht adäquaten Weise« (128), während die Naturwissenschaft einerseits und die Existenzialanalyse Martin Heideggers (1889-1976) andererseits »die angemessenen Vorstellungen entdeckt« (169) hätten, eine gründliche und unvoreingenommenere historisch-semiotische Erforschung des Zusammenhangs von Wunder- und Wirklichkeitswahrnehmungen in den neutestamentlichen Texten und ihrer intertextuellen Umgebung. Die Frage nach den Wundern war ein bedeutender, wenn nicht der zentrale Gegenstand der ZNT 7 (4. Jg. 2001) 5 Stefan Alkier Wen wundert was ? Schriftauslegung seit der Veröffentlichung der Reimarus-Fragmente bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts hinein. Erst die Akzeptanz der radikalen Wunderkritik der Aufklärung führte zu einer kritischen Geschichtsschreibung des frühen Christentums, 19 da es nun erlaubt war, Fiktion von Faktischem zu trennen und ›hinter‹ dem Fiktiven das Faktische aufzuspüren, wie es etwa Johann Philipp Gabler in seinem bedeutenden Aufsatz Ist es erlaubt, in der Bibel, und sogar im Neuen Testament Mythen anzunehmen ? 20 forderte. Die Frage, ob Lazarus tatsächlich von den Toten auferweckt wurde, wurde zum Schibboleth der konservativen Exegese um den seit 1828 als ordentlicher Professor für Bibelexegese in Berlin tätigen Ernst Wilhelm Hengstenberg (1802-1869). Ferdinand Christian Baur (1792-1860) sieht die radikale Konsequenz einer der Aufklärung verpflichteten Exegese und formulierte deshalb: »Auf keinem Gebiete der geschichtlichen Betrachtung hängt alles, was zum Inhalt einer bestimmten Reihe geschichtlicher Erscheinungen gehört, so sehr von dem Anfangspunkt ab, von welchem es ausgeht, wie in der Geschichte der christlichen Kirche […] Der Geschichtschreiber, welcher mit dem Glauben der Kirche zu dem Gegenstand seiner Darstellung hinantritt, steht gleich am ersten Anfang vor dem Wunder der Wunder, vor der Urthatsache des Christenthums, dass der eingeborene Sohn Gottes vom ewigen Throne der Gottheit auf die Erde herabgestiegen und im Leibe der Jungfrau Mensch geworden ist. Wer hierin nur ein schlechthinniges Wunder sieht, tritt eben damit aus allem geschichtlichen Zusammenhang heraus; das Wunder ist ein absoluter Anfang, und je bedingender ein solcher Anfang für alles Folgende ist, um so mehr muss auch die ganze Reihe der in das Gebiet des Christenthums gehörenden Erscheinungen denselben Charakter des Wunders an sich tragen: so gut auf dem Einen ersten Punkte der geschichtliche Zusammenhang zerrissen ist, ist auch auf jedem andern Punkte dieselbe Unterbrechung des geschichtlichen Verlaufs möglich.« 21 Die religionsgeschichtliche Schule macht sich im Gefolge Albrecht Ritschls und im Gegenzug zu Baur auf, durch den religionsgeschichtlichen Vergleich das Eigentümliche der christlichen Überlieferung gegenüber den religiösen Anschauungen vor allem des Hellenismus herauszustreichen. Jedoch findet man dermaßen viele Parallelen zur christlichen Überlieferung, daß die Masse der außerchristlichen Wunderberichte eher gegen die Historizität der christlichen Wundertraditionen gewendet wird, als sie zu untermauern. Um die J ahrhundertwende entscheidet sich die allgemeine theologische Stimmung weitgehend zu der Annahme des Fiktiven der Wundererzählungen. Die Ergebnisse der religionsgeschichtlichen Schule unmißverständlich zusammenfassend und systematischtheologisch auswertend erklärt Bultmann kategorisch: »Deshalb sind in der Diskussion die ›Wunder Jesu‹, sofern sie Ereignisse der Vergangenheit sind, restlos der Kritik preiszugeben, und es ist mit aller Schärfe zu betonen, daß schlechterdings kein Interesse für den christlichen Glauben besteht, die Möglichkeit oder Wirklichkeit der Wunder Jesu als Ereignisse der Vergangenheit nachzuweisen, daß im Gegenteil dies nur eine Verirrung wäre.« 22 »Der Gedanke des Mirakels ist also unvollziehbar geworden und muß preisgegeben werden.« 23 3. Die Reduktion der Fragestellung im Zuge der Form- und Redaktionsgeschichte Ein bedeutender Unterschied fällt zwischen der Wunderdiskussion im 19. Jahrhundert und der ab den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts ins Auge: Werden die Wundertexte über die formgeschichtlichen Merkmale einer Wundergeschichte definiert, so fällt ein Großteil der ehedem unter diesem Thema verhandelten Texte weg, wie ein Vergleich zwischen dem Artikel Wunder in Zedlers Universallexikon aus der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts mit Bultmanns Abschnitt über die Wunder in seiner Geschichte der synoptischen Tradition augenfällig macht. Die neutestamentliche Briefliteratur gerät durch die formgeschichtliche Verengung der Wunderexegese aus dem Blick. Ging es bei der Frage nach den Wundern im 19. Jahrhundert letztlich immer um die Frage der Auferstehung Jesu, so wird diese durch die Etablierung der Formgeschichte allmählich aus der Wunderdiskussion herausgelöst. Die Vorherrschaft der Formgeschichte in der Wunderexegese führt dann konsequenterweise dazu, daß nicht einmal die 1992 erschienene Dissertation von Stephanie M. Fischbach, die sich explizit den Totenerweckungen im Alten Testament, im Frühjudentum, in der griechisch-römi- 6 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Neues Testament aktuell schen Welt und im Neuen Testament widmet, der Auferstehung Jesu einen Abschnitt einräumt. Sie fragt zwar: »Hat Jesus ›Tote‹ erweckt? « 24 , nicht aber, ob Jesus von den Toten auferstanden bzw. erweckt worden ist. Und die Anführungszeichen machen deutlich, daß sie in formgeschichtlicher Manier die Frage nach der Historizität für nebensächlich und im Grunde für entschieden hält. Die Vertreter der klassischen Formgeschichte fußen hinsichtlich der historischen Beurteilung der Wundergeschichten auf dem negativen Urteil der religionsgeschichtlichen Schule. Mit deren Arbeiten sahen sie die historische Frage nach dem Phänomen des Wunders als »erledigt« an. Die Formgeschichte macht es sich nun zur Aufgabe, die theologische Funktion der Wundergeschichten als kerygmatischer Rede (Bultmann) bzw. als Topos urchristlicher Predigt (Dibelius) zu erforschen. Dabei werden die wiederkehrenden Formelemente und Motive als Bestätigung des religionsgeschichtlichen Negativurteils gewertet und damit die Sprachebene in unzulässiger Weise mit einem historischen Urteil vermengt. Gegen diese unsachgemäße Vermischung der Argumentationsebenen wenden sich bereits 1959 - aber mit wenig Erfolg - die Gebrüder Hengel in ihrem Aufsatz Die Heilungen Jesu und medizinisches Denken : »Der besonders von gewisser theologischer Seite gegen die Wundererzählungen vorgebrachte formgeschichtliche Einwand, daß sie durch ihre bestimmten, auch mit außerchristlichen Wundererzählungen übereinstimmenden, mehr oder weniger festgeprägten Stilelemente und Traditionsformen sich als weithin ungeschichtlich ausweisen würden, übersieht, daß diese festen Formen in der Regel durch die Sache und das Geschehen selbst bedingt sind. Wollte man diesen Einwand zu einem allgemeingültigen Gesetz erheben, so könnten z.B. konsequenterweise auch alle modernen medizinischen Krankengeschichten, die der Sache wegen ebenfalls stets eine bestimmte feste Form aufweisen müssen, für unverbindlich bzw. gar für ungeschichtlich erklärt werden.« 25 Die Gebrüder Hengel stellen hier deutlich heraus, daß es sich bei dem religionsgeschichtlich-formgeschichtlichen Verdikt gegen die Historizität der Wundergeschichten um ein theologisch motiviertes Urteil handelt. Bei aller Präzisierung, Differenzierung und Kritik an der klassischen Formgeschichte bleibt die Reduktion der zu verhandelnden Wundertexte auf die Evangelien und der funktionale Ansatz, nach den Wundergeschichten als einer Weise des frühchristlichen Redens zu fragen, ohne den Zusammenhang von Sprache und Wirklichkeit zu thematisieren, für alle formgeschichtlichen Ansätze konstitutiv. Dies gilt auch für Gerd Theißens einflußreiche formgeschichtliche Untersuchung Urchristliche Wundergeschichten. Theißen erreicht mit seiner Differenzierung der Fragestellung in eine synchrone, eine diachrone und eine funktionale Betrachtungsweise der Wundergeschichten einen faszinierenden Reichtum unterschiedlicher Perspektiven. Vor allem seine »funktionale Betrachtungsweise« enthält wichtige Anstöße, die eingefahrene formgeschichtliche Wunderbetrachtung mit Hilfe soziologischer Forschung zu erweitern. Insbesondere seine erhellenden Ausführungen über die heilende Funktion von Wundergeschichten, also über die energetische Kraft von Sprache, haben die Forschung bereichert. 26 Bei näherer Betrachtung bleibt aber Theißen hinsichtlich des Phänomens des Wunderbaren bei den Ergebnissen der religionsgeschichtlichen Schule, der klassischen Formgeschichte und der Religionsphänomenologie Rudolf Ottos stehen und fällt sogar mit seinen psychologistischen Rationalismen, die ich im nächsten Abschnitt darstellen möchte, hinter die Klarheit der Position Baurs und Bultmanns zurück. Das Problem des Zusammenhangs von Sprache, Wirklichkeitsverständnis und historischer Einschätzung des Phänomens des Wunderbaren wird deshalb in Theißens Konzeption der Wunderexegese nicht eigens thematisiert. Das trifft auch noch auf die die formgeschichtliche Problematik weiterführende Arbeit New Testament Miracle Stories von Werner Kahl zu. Kahls umsichtige, materialreiche und eigenständige Untersuchung zeigt das Problem der formgeschichtlichen Verengung der Frage nach dem Wunderbaren gerade wegen der Qualität seiner Arbeit auf. Kahl gelingt es, eine sich wiederholende Struktur antiker Heilungsgeschichten herauszuarbeiten. Aber das Kriterium der Klassifizierung der Heilungsgeschichten als Wundergeschichten liegt auch bei Kahl gerade nicht in der nach allen Regeln methodischer Kunst bestimmten Form dieser Erzählungen, sondern in dem semantischen Kriterium einer eingreifenden numinosen Macht. Kahl schreibt: »Die Morphologie dieses Erzähltyps ist bestimmt ZNT 7 (4. Jg. 2001) 7 Stefan Alkier Wen wundert was ? durch eine Bewegung von einem Mangel […] zu seiner Überwindung durch eine (mirakulöse) Handlung eines aktiven Subjekts, das für diese Aufgabe besonders vorbereitet ist.« 27 Das Problem dieser klaren und hilfreichen Formbeschreibung liegt darin, daß der Zusatz in Klammern - das eingeklammerte / mirakulös/ - einen semantischen Marker in die syntagmatische Formbestimmung einführt und einführen muß, um es von anderen Erzählungen, die dieselbe syntagmatische Struktur teilen, aber nicht als Wundergeschichten klassifiziert werden sollen, abzugrenzen. Bei allen methodischen Überlegungen zeigt auch Kahls Auswahlkriterium der analysierten Texte und seine zusammenfassende Strukturbeschreibung, wie sehr Dibelius mit dem Einwand recht hatte, die Gattung Wundergeschichte richte sich vornehmlich nach einem inhaltlichen Moment aus und sei nicht an der Form orientiert. Kahl behauptet: »The investigation of miracle healing stories focuses on narratives which share a common theme with respect to the initial lack (absence of health) as well as to the preparedness of an AS [Active subject, S.A.] (who is prepared through numinous power). All narratives which do not involve these two features have not been considered here.« 28 Dazu macht Kahl folgende Anmerkung: »For this reason the account of how Asclepiades, the famous physician from the first century B.C.E., raised a man considered dead is excluded.« 29 Obwohl die Asclepiades-Erzählung den von Kahl herausgearbeiteten strukturellen Eigenschaften eines Heilungswunders genügt, zählt er sie nicht dazu, weil der Handelnde nicht aufgrund von »numinous power« handelt. Dieses semantische Merkmal und nicht die Struktur der Erzählung ist letzlich das entscheidende definierende Merkmal eines Heilungswunders. Es ist aber typisch für die formgeschichtliche Gattungsbestimmung von Wundergeschichten, daß es über dieses Merkmal, über diese semantische Größe keine weiteren Reflexionen gibt oder si e - wie bei Theißen und auch hier bei Kahl - aus der Religionsphänomenologie Rudolf Ottos und nicht aus der Analyse der Texte selbst abgeleitet werden. Da die Frage nach dieser semantischen Größe nicht auf einer formgeschichtlichen Ebene liegt, führt die Dominanz formgeschichtlicher Arbeiten hinsichtlich der Wunderproblematik in eine Sackgasse. Ebenso wenig wie die formgeschichtlichen Arbeiten zum Thema Wunder auf das Phänomen des Wunderbaren eingehen, finden sich in den redaktionsgeschichtlichen Arbeiten von Dietrich-Alex Koch, Karl Kertelge, Ludger Schenke, Heinz Joachim Held, Ulrich Busse und Stefan Schreiber 30 methodische Überlegungen zur Frage nach dem Wunderbaren des Wunders und dem Verhältnis von Sprache und Wirklichkeitsauffassung. Die Frage nach dem extensionalen Geltungsbereich der Wundergeschichten wird in diesen Arbeiten zumeist statementartig in die Fußnoten verbannt und verkommt zu rein subjektiven Bekenntnissen, die je nach Weltanschauung der Autorinnen und Autoren Wunder ganz in den Bereich des Unwirklichen, Übertreibenden, Phantastischen abschieben oder lapidar bemerken, natürlich habe es Wunderheilungen in der frühen Christenheit gegeben - meistens mit dem Beisatz einer auf psychosomatischen Erkenntnissen beruhenden Rationalisierung des Wunderbaren. Die redaktionsgeschichtlichen Arbeiten bieten im Blick auf die Frage nach dem Phänomen des Wunderbaren daher keine neuen Einsichten. 4. ›Neue‹ Lösungen der Wunderexegese : Zwischen Rehistorisierung und Neorationalismus Als Gegenzug gegen die Marginalisierung des Wunderbaren kann die Rehistorisierung der Wundererzählungen angesehen werden. Hatte Bultmann »mit aller Schärfe« betont, »daß schlechterdings kein Interesse für den christlichen Glauben besteht, die Möglichkeit oder Wirklichkeit der Wunder Jesu als Ereignisse der Vergangenheit nachzuweisen, daß im Gegenteil dies nur eine Verirrung wäre«, 31 so versuchen ›neue‹ Lösungen der Wunderexegese, die sich vornehmlich zwischen Rehistorisierung und Neorationalismus bewegen, genau dies zu tun: die »Wirklichkeit der Wunder Jesu als Ereignisse der Vergangenheit nachzuweisen« 32 . Es ist dabei eine fundamentale Trendwende in der Beurteilung dessen, was historisch für möglich gehalten wird, festzustellen. 1957 hatte Ernst Käsemann in seinem Aufsatz Zum Thema der Nichtobjektivierbarkeit von einem Konsens der Exegese hinsichtlich des Problems des Wunders festgestellt: »Man darf wohl sagen, daß der Kampf […] auf dem Felde der theologischen Wissenschaft zu seinem Ende gekommen ist. Der traditionelle kirchliche Wunderbegriff wurde dabei zerschlagen.« 33 8 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Neues Testament aktuell Hat dieser Konsens jemals bestanden, so kann davon gegenwärtig keine Rede mehr sein. Vielmehr befindet sich gegenwärtig das kulturell konventionalisierte Wissen über Wunder, also die Geltungsannahmen hinsichtlich der Realität von Wundern in einem markanten Umbruch. Dieser enzyklopädische Umbruch wird in der neueren Wunderdiskussion offensichtlich, die 1989 gleich drei Themenhefte zum Problem Wunder hervorbrachte.34 So wird im Editorial der Internationalen katholischen Zeitschrift im Januarheft 1989 fröhlich festgestellt: »Man verlangt nach dem Wunderbaren und glaubt wieder an ›Wunder‹«. Auch in der breiten Öffentlichkeit wächst die Bereitschaft, Wunder für möglich zu halten, wie diverse Fernsehsendungen zuerst der Privatsender, seit spätestens 1995 aber auch die ARD samstagabends um 18.00 zeigten. Und sieht man über die engen Grenzen Westeuropas hinaus in die USA, nach Lateinamerika und Afrika, so wird man erst recht mit einer anwachsenden Tendenz, Wundergeschichten als Tatsachenberichte zu akzeptieren, konfrontiert. »Unglaubliche Geschichten« - so der Titel der in den USA produzierten und in der ARD ausgestrahlten Sendung - wie die Rückkehr Toter, Vorauswissen, Wunderheilungen und vieles mehr wurden hier im Stile eines dramatisierten Tatsachenberichtes dem Publikum als wahr und unbestreitbar präsentiert. Vorbereitet wurde diese Trendwende in der (Fernseh)Gesellschaft und in der neutestamentlichen Wissenschaft unter anderem durch einen Antirationalismus, der in kryptorationalistischer Weise mit Hilfe von psychosomatischen und parapsychologischen ›Beweisen‹ für die Möglichkeit der Faktizität der neutestamentlichen Wunder eintritt. So fordern Otto Betz und Werner Grimm in ihrer Arbeit Wesen und Wirklichkeit der Wunder Jesu: »Die bloß intellektuelle Frage ist zu suspendieren, nachdem in den Naturwissenschaften selbst die Erkenntnis der Unabgeschlossenheit der Welt Raum gewinnt und Grenzerfahrungen im Bereich der Parapsychologie, der Meditation und des Sterbeerlebens das Offensein der Welt gegenüber Einwirkungen einer Transzendenz anzeigen.« 35 Die kurzschlußartige Logik, die der immer lauter werdenden Forderung von Heilungsgottesdiensten zugrundeliegt, besteht in einer suggestiven Umkehrung des historischen Analogieschlusses. So sind die Protagonisten der Heilungsgottesdienst e der Auffassung, daß Wunder deshalb auch »heute noch möglich und realisierbar« seien, weil sie ja von der ersten Christenheit bezeugt sind. 36 Dabei bemerken sie nicht, wie sehr sie einer zeitgenössischen, kapitalistischen Theologie der Machbarkeit verpflichtet sind, wenn ihnen das Fürbittengebet des Sonntagsgottesdienstes nicht ausreicht und sie sich selbstüberheblich und mit den Hoffnungen verzweifelter Menschen spielend zu göttlichen Heilern ausrufen. Behutsamer fordert Hans Weder in seinem Forschungsbericht über die Wunderexegese, die historische Frage bezüglich neutestamentlicher Wundergeschichten nicht außer acht zu lassen. Er vertritt die Auffassung, »daß die Wundertätigkeit Jesu im Sinne von wunderbaren Heilungen und Exorzismen (möglicherweise auch von Wiederbelebungen von Toten) historisch nicht bestreitbar ist (Légasse 128, Theissen 274).« 37 Die Stelle aus Gerd Theißens Monographie Urchristliche Wundergeschichten, auf die sich Weder hier bezieht, bedarf in diesem Zusammenhang der Diskussion. Theißen schreibt: »Zweifellos hat Jesus Wunder getan, Kranke geheilt und Dämonen ausgetrieben. Die Wundergeschichten geben diese historischen Ereignisse jedoch in einer gesteigerten Gestalt wieder.« 38 Löst das Statement von Hans Weder hinsichtlich der Historizität von Totenerweckungen Jesu bei kritischen Historikerinnen und Historikern nur Kopfschütteln aus, so verfolgt Theißens Argumentation eine Doppelstrategie. Behauptet der erste Satz eine historische Aussage im Sinne der Faktizität von Wundern, wie auch Weder sie einklagt, so nimmt der zweite Satz diese Position wieder zurück und fügt sich ganz in eine sozialpsychologische, psychosomatische und letztlich neorationalistische Wundererklärung ein, die auf eine lange exegetische Tradition zurückblicken kann. Schon in der rationalistischen Wundererklärung eines H.E.G.Paulus waren es gerade die Heilungen und Exorzismen, denen ein historischer Haftpunkt eingeräumt wurde. H.E.G.Paulus und Gerd Theißen stimmen darin überein, daß es sich bei den Dämonenaustreibungen Jesu nicht um Dämonenaustreibungen gehandelt hat, sondern um die Heilung psychischer Erkrankungen, die sich Theißen vornehmlich als sozio-kulturell erzeugte Massendepressionen erklärt: »Innerhalb einer Gesellschaft, die ihre Probleme und Intentionen in mythischer ZNT 7 (4. Jg. 2001) 9 Stefan Alkier Wen wundert was ? Sprache zum Ausdruck bringen kann, kann sozialer und politischer Druck als Herrschaft von Dämonen interpretiert werden. Oder vorsichtiger ausgedrückt: Politische Fremdherrschaft und der damit gegebene sozio-kulturelle Druck kann die im Dämonenglauben zum Ausdruck kommende Erfahrung verschärfen und zu jener massenhaften Verbreitung von Besessenheitsphänomenen führen, die in der Welt des Urchristentums vorauszusetzen ist.« 39 Für Theißen gibt es ebensowenig wie für H.E.G.Paulus / / Dämonen / / 40 , sondern nur einen überholten »Glauben an Dämonen und Teufel«, die Theißen entmythologisierend versteht als »eine sehr menschliche Interpretation negativer Erscheinungen« 41 . Deshalb fahren auch bei Theißen keine / / Dämonen / / in die Schweineherde (vgl. Mk 5,13), vielmehr werden die Römer vom »aggressiven Wunsch« der politisch Besetzten - nicht zu verwechseln mit dämonisch Besessenen - »wie Schweine ins Meer« 42 geschickt. Wenn es aber keine / / Dämonen / / gibt, dann können sie auch nicht ausgetrieben werden. Selbst David Friedrich Strauß, der mit seiner Weise der Entmythologisierung die meisten neutestamentlichen Wundergeschichten als unhistorische Mythen betrachtet, die traditionsgeschichtlich vor allem durch die Übertragung von Motiven und Themen der Elia-Elisa-Tradition und der messianischen Rezeption von Jes 35,5f. produziert worden seien, 43 rechnet bei den neutestamentlichen Heilungsgeschichten, die ein psychosomatisches Krankheitsbild aufzeigen, und insbesondere bei den Exorzismen in rationalistischer Manier - die er ansonsten heftig kritisiert - mit einem historischen Haftpunkt. So ist Strauß der Auffassung, »daß Jesus manche an vermeintlich dämonischer Verrückung oder Nervenstörung leidende Personen auf psychische Weise durch die Übermacht seines Ansehens und Wortes geheilt habe«. 44 Es ließen sich noch viele andere, z.B. Theißens Gewährsmann Rudolf Otto, in diese rationalistische Erklärungstradition der sogenannten ›Wunder‹-Heilungen und ›Dämonen‹-Austreibungen einreihen. Es ist geradezu ein Erkennungsmerkmal für rationalistische und kryptorationalistische Wundererklärungen, daß unter den Wundern Jesu lediglich Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen mit dem Urteil »zweifellos« bedacht werden, »also wiederum jene paranormalen Phänomene, die sich heute relativ unproblematisch in unser Weltverständnis einfügen«, wie ein Blick in heutige Schulbücher zum Thema Wunder zeigt. 45 Rudolf Mack gibt den Schülerinnen und Schülern in dem gemeinsam mit Dieter Volpert erstellten Materialheft Der Mann aus Nazareth - Jesus Christus, Oberstufe Religion daher die Auskunft: »Kein Bibelwissenschaftler bestreitet heute mehr, daß Jesus außergewöhnliche Taten vollbracht hat, die man landläufig ›Wunder‹ nennt.« Diese ›Wunder‹ werden dann in neorationalistischer Manier damit erklärt, daß Jesus »paranormale Kräfte besessen und bei seinem Wirken angewendet hat.« 46 Mack argumentiert damit ganz auf der Linie Theißens, der es für ein »Argument[.] für einen kritischen Glauben« - so der Titel einer seiner Abhandlungen - hielt zu behaupten: »Der historische Jesus besaß paranormale Fähigkeiten und stellte sie in den Dienst seiner Sache.« 47 In derselben Abhandlung bekennt sich Theißen mit aller wünschenswerten Klarheit zum naturwissenschaftlich geprägten Weltbild der Aufklärung, wenn er schreibt: »Empirisches Wahrheitsbewußtsein verlangt, daß man auf Aussagen verzichtet, die keine Basis in intersubjektiv zugänglicher Erfahrung haben« und wendet sich mit diesem Argument strikt gegen Theologien, die »auf dem unbegründbaren Wunder der Offenbarung Gottes« 48 basieren. Beide Aussagen zusammengesehen ergeben keinen Widerspruch, wenn man die rationalistische Argumentationsfigur Theißens erkennt. Nur un-begründbare Wunder stehen dem empirischen Wahrheitsbewußtsein entgegen. Will man weiterhin von Wundern sprechen, bedarf es lediglich einer rationalen Erklärung. Diese Erklärung stellen empirisch belegte Analogien paranormaler Fähigkeiten dar. Jesu Wunder waren nicht wunderbar, sondern bestenfalls paranormal und sind letztlich medizinisch-psychologisch auch dem »empirische[n] Wahrheitsbewußtsein« über gegenwärtige Analogien »intersubjektiv zugänglicher Erfahrung« erklärbar. Bei den Wundern, die Theißen für unbezweifelbar hält, handelt es sich konsequent um solche ›Wunder‹, die mit der neorationalistischen Argumentationsfigur des Paranormalen erklärt werden können: »Exorzismen und Therapien«. Jesu Seewandel, die Brotvermehrung, die Erweckung des Lazarus 49 sind ihm alles andere als zweifellos. Jesu Seewandel erklärt Theißen in seinem Buch Der Schatten des Galiläers, das den Anspruch erhebt, Historische Jesusforschung in erzählender Form - so 10 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Neues Testament aktuell der Untertitel des Buches - zu präsentieren, in bester rationalistischer Manier: »Wenn man den Gerüchten über seinen jeweiligen Aufenthaltsort glaubte, hätte man annehmen können, er bewege sich unglaublich schnell von Ort zu Ort. Kein Wunder, daß uns jemand erzählt, er könne über Wasser laufen.« 50 Theißen hat Recht: »Kein Wunder«, sondern rationalistische Wunderwegerklärung. Die »Geschenkwunder«, zu denen Theißen die Speisungsgeschichten zählt, sind seiner Auffassung nach »sehr viel unwahrscheinlicher als Exorzismen und Therapien« 51 . »Uns ist nichts bekannt von Leuten, die sich anboten, Brot zu vermehren, Wasser in Wein zu verwandeln. […] Den Geschenkwundern fehlt als Hintergrund die Lebenspraxis, die anderen Wundern Anschaulichkeit verleiht. Keine Gattung der Wundergeschichten ist so sehr der Phantasie entsprungen wie diese, keine hat so sehr den Charakter der Schwerelosigkeit, des Wunsches, der unbefangenen Märchenhaftigkeit.« 52 Auch hier gibt Theißens Schatten des Galiläers weiteren Aufschluß, wie die Geschichten von der Brotvermehrung zu erklären seien: »Wenn die Leute erst einmal glauben, daß genügend Brot für alle da ist, verlieren sie die Angst vor dem Hunger. Dann holen sie die Brotreserven heraus, die sie versteckt hielten, um nicht mit anderen teilen zu müssen. Sie geben von ihrem Brot ab.« 53 Neben diese sozialpsychologische Erklärung trägt Theißen in die Speisungsgeschichten dann noch eine sozialgeschichtliche Erklärung ein: »Die Leute erleben immer wieder bei Jesus, daß er in überraschender Weise Unterstützung findet, ohne zu arbeiten, zu betteln oder zu organisieren.« 54 Im Klartext: Nicht Gottes Wundermacht, sondern das Geld reicher Jesussympathisantinnen bewirkte das ›Wunder‹ der Speisungsgeschichten. Es paßt ins Bild, daß sich zu der »Märchenhaftigkeit« einiger Wundergeschichten dann auch noch das die oben beschriebene Assoziationskette David Humes aufrufende entwicklungsgeschichtliche Theorem einer »kindlichen Menschheit« gesellt. So erklärt Theißen, »daß die urchristlichen Wundergeschichten aus dem archaischen Stoff einer kindlichen Erfahrung gestaltet sind. Sie sind Ausdruck einer ›kindlichen‹ Menschheit.« 55 Mit Blick auf das ökumenische Gespräch der Gegenwart hieße das aber, weite Teile der evangelischen Kirchen Ostafrikas als ›kindliche Menschheit‹ zu begreifen, 56 um nur ein Beispiel anzuführen. Ähnliches ließe sich dann von vielen christlichen Religionsgemeinschaften in den USA und Lateinamerika, aber auch in Europa sagen. Dabei handelt es sich übrigens nicht einfach um »weniger gebildete Schichten«, denen Theißen in der Manier eines David Hume die Hinneigung zu »Wunder- und Aberglauben« 57 (sic! ) unterstellt. Theißen hält keineswegs die neutestamentlichen Wundergeschichten als Wunder für reale Ereignisse, denn selbst die ›unbezweifelbaren‹ »Exorzismen und Therapien« erzählt das Neue Testament nach ihm »in einer gesteigerten Gestalt«. Auf Theißen trifft zu, was er zusammen mit Annette Merz hinsichtlich der rationalistischen Wundererklärung schrieb: Er versucht, »die Wunder dem modernen Verstand plausibel zu machen, indem« er »das eigentlich Wunderbare aus ihnen herausinterpretiert[.]« 58 »Urchristliche Wundergeschichten sind durch den historischen Jesus provozierte symbolische Handlungen, in denen die historische Gestalt über alle Maßen hinaus gesteigert wird.« 59 Die Definition der Wundergeschichten als symbolische Handlungen reiht Theißen in die lange Tradition der Entmythologisierung ein. Die Wundergeschichten sind auch bei Theißen nichts anderes als Sprachereignisse, die vom historischen Jesus provoziert, aber gerade nicht vollbracht wurden. Konkret heißt das: Jesus heilte tatsächlich - was sich Theißen sozialpsychologisch und psychosomatisch erklären kann - aber: »Die Fama vom Wundertäter Jesus machte sich schon zu seinen Lebzeiten gegenüber der Realität selbständig, wenn man z.B. von wunderbaren Brotvermehrungen erzählte.« 60 Wenn Theißen immer wieder vom Wunderwirken Jesu spricht, ohne seine Kombination aus Neorationalismus und Entmythologisierung erläuternd hinzuzusetzen, so ist das eine - sicherlich nicht intendierte - Irreführung der Leserschaft, die dadurch entsteht, daß Theißen Objektsprache und Metasprache vermischt. Jesus hat in der Konzeption Theißens keine Wunder vollbracht. Die urchristlichen Wundergeschichten sind für Theißen ein Produkt der »erzählende[n] Phantasie« 61, denen bestenfalls ein historischer Haftpunkt zugestanden wird, der aber gerade nicht als Wunder klassifiziert werden kann. Auch die in ihrem religionsgeschichtlichen Teil informative Arbeit Jesus und die Christen als Wundertäter von Bernd Kollmann trägt deutliche neora- ZNT 7 (4. Jg. 2001) 11 Stefan Alkier Wen wundert was ? tionalistische Züge. Wie bei H.E.G.Paulus und G.Theißen 62 werden bei Kollmann unter der Hand Tote zu Scheintoten, wie das folgende Beispiel zeigt: »Empedokles […], Asklepiades […], und wahrscheinlich auch Alexander von Abonuteichos (Luc, Alex 24) haben totgeglaubte Personen mit medizinischen Mitteln wiederbelebt. Daß Scheintote sogar bei der Beerdigung wieder zu sich kamen, ist offenbar nicht selten vorgekommen […] Speziell für das Christentum berichtet Iren, Haer II 31,2; 32,4, von Totenerweckungen auf Gebet und Fasten hin. Von daher besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß christliche Wundercharismatiker neben Dämonenaustreibungen oder Heilungen auch Wiederbelebungen scheintoter Personen bewirkten« 63 . Auf einer unausgewogenen und teilweise widersprüchlichen Mischung neorationalistischer und entmythologisierender Gedankengänge beruhen auch Eugen Drewermanns tiefenpsychologische Wundererklärungen. Auch Drewermann versteht die Wundertexte nicht wörtlich, sondern faßt sie als Vehikel ›tieferer‹ Wahrheiten auf und sucht im Jargon der Entmythologisierung nach deren ›eigentlicher‹ Botschaft, die er mittels der Tiefenpsychologie meint aussagen zu können. Auch bei Drewermann sind die Wunder als Wunder ›erledigt‹: »Ein Gott, der Wunder wirken kann und dies vor 2000 Jahren zur Beglaubigung des von ihm gesandten Messias auch getan hat, sich dann aber hinter den Wolken zurückzieht und die Menschen jammern und leiden läßt, ist nicht mehr glaubhaft.« 64 »Das Geschenk der Nähe Gottes ist das eigentliche Wunder unseres Lebens.« 65 Andererseits hält er die Krankenheilungen Jesu in Analogie zu »Heilungen der Schamanen« 66 für historisch. Sich nahtlos in die rationalistische Exegese einreihend, erklärt Drewermann die Krankheiten und ihre Heilungen durch Jesus als psychische bzw. psychosomatische Vorgänge. 67 5. Die Wunderdiskussion und die neuere Problematisierung des Wirklichkeitsbegriffs Während Walter Wink in seiner Programmschrift Bibelauslegung als Interaktion (1973; dt. 1976) sich noch der Entmythologisierung verpflichtet zeigt, wendet er sich von ihr in seiner Arbeit Naming the Powers (1984) ab. Winks Anliegen ist es aber nicht, die Weltsicht des Neuen Testaments vorkritisch für seine Kultur als gültig zu deklarieren. Er stimmt auch nicht in das Klagelied der Säkularisierung ein. Vielmehr möchte er der Weltsicht der neutestamentlichen Texte nachspüren, um an ihrer Sicht der Dinge heutigen Menschen Fremderfahrungen zu ermöglichen, die heutige Weltsichten und Lebensvollzüge kritisch bereichern können. Hinsichtlich dieser historisch-semiotischen Aufgabe ist Wink dann weniger an psychonalytischen Modellen orientiert als an der Archäologie Michel Foucaults. Auch Klaus Bergers Kritik an der formgeschichtlichen Gattungsbezeichnung Wundererzählung zielt auf die angemessene Berücksichtigung der Differenz heutiger und antiker Wirklichkeitsverständnisse: »Wunder/ Wundererzählung ist kein Gattungsbegriff, sondern moderne Beschreibung eines antiken Wirklichkeitsverständnisses.« 68 Auch wenn man nicht so weit gehen möchte, die Gattung Wundererzählungen grundsätzlich zu bestreiten, ist Berger darin zuzustimmen, daß das Phänomen des Wunderbaren nicht auf die unter der Gattung Wundererzählung verhandelten Texte einzuschränken ist. Berger hat auch damit recht, daß die formgeschichtlich bestimmten Wundererzählungen recht disparaten Stoff bieten und kein einheitliches Verständnis dessen nahelegen, was denn das ›Wunderbare‹ sei. Vor allem aber ist ihm darin zuzustimmen, daß insbesondere den Fremdheitsphänomenen antiker Texte nur unter Thematisierung der jeweiligen Wirklichkeitsverständnisse auf die Spur zu kommen ist. Auf je unterschiedliche Weise und mit verschiedenen Theoriehintergründen haben auch Gerd Petzke, Howard Clark Kee, Susan Garrett und Heike Bee-Schroedter 69 dafür plädiert, das Wunderverständnis frühchristlicher Texte nicht auf dem Hintergrund eines unthematisierten modernen Wirklichkeitsverständnisses zu untersuchen, sondern die Konstruktion der Wirklichkeit in der Antike selbst zu bearbeiten. In der neuesten exegetischen Theoriediskussion wird darauf verwiesen, daß grundlegende Begriffe, mit denen die neutestamentliche Exegese operiert, neu geklärt werden müssen. Es ist eine wichtige Aufgabe heutiger neutestamentlicher Wissenschaft, »danach zu fragen, was Geschichte, was Wirklichkeit, was Sprache, was ein Text ist, bzw. wie wir sie heute unter den Bedingungen unserer Lebenswelt auffassen können.« 70 Eckart Reinmuth zufolge zeigt der Streit 12 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Neues Testament aktuell um Gerd Lüdemanns Buch Die Auferstehung Jesu »nicht nur, daß über manche Grundlagenfragen unserer theologischen Arbeit keineswegs hinreichende Einigkeit besteht, sondern daß zugleich nicht klar genug ist, was für einen Begriff von Geschichte wir voraussetzen.« 71 Wird bereits bei Reinmuths Frage nach dem Geschichtsbegriff und seiner Relevanz für die Frage der Auferstehung Jesu deutlich, daß damit zugleich die umfassende Frage nach dem Konzept von Wirklichkeit gestellt ist, rückt Peter Lampe die Frage nach dem Wirklichkeitsbegriff in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Er fragt: »Welchen Realitätsbegriff haben Theologen und Exegetinnen, wenn sie von ›Wirklichkeit Gottes‹, ›Auferstehungswirklichkeit‹ oder ›eschatologischer Wirklichkeit‹ reden? «. 72 Lampe insistiert darauf, daß die diesbezügliche notwendige »Selbstverständigung im theologischen Lager« angemessen nur unter Einbeziehung der »gegenwärtigen interdisziplinären Diskussion um den Realitätsbegriff« 73 geführt werden kann. Mit Blick auf die Kontroverse um die Wirklichkeit der Auferstehung Jesu forderte Erhardt Güttgemanns bereits 1972 in seinem grundlegenden Aufsatz ›Text‹ und ›Geschichte‹ als Grundkategorien der Generativen Poetik. Thesen zur aktuellen Diskussion um die ›Wirklichkeit‹ der Auferstehungstexte, das Verhältnis von Text und Wirklichkeit bzw. von Text und Geschichte semiotisch zu problematisieren. Er gibt zu bedenken, daß Wirklichkeit/ Geschichte nur erfahren werden kann, wenn sie mit »Bedeutsamkeit« 74 ausgestattet ist. Das, was als Wirklichkeit erlebt wird, ist daher abhängig von dem Bedeutungszusammenhang, dem Text, in dem es verortet wird: »›Text‹ und ›Geschichte‹ sind keine statischen Gegebenheiten, sondern relationale Faktoren eines semiotischen Systems. Sie lassen sich daher nur in ihrer semiotischen Relationalität adäquat analysieren.« 75 In meiner Habilitationsschrift Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus habe ich versucht, dieser semiotischen Einsicht folgend, den Ort des Wunderdiskurses der paulinischen Briefe in ihrer jeweiligen Wirklichkeitskonstruktion zu untersuchen. Bei dem Streit um die rechte Wunderinterpretation geht es immer auch um die Frage nach dem zumeist unausgesprochenen Verständnis dessen, was Wirklichkeit ist. Es scheint daher vielversprechend zu sein, die bei Güttgemanns, Wink und anderen aufgezeigte Möglichkeit, die Frage nach dem Wunder jenseits von Metaphorisierung und Rehistorisierung zu stellen, auszuarbeiten, wobei man aber die berechtigten Anliegen metaphorischer und rehistorisierender Wunderauffassungen als kritische Gesprächspartner ernst zu nehmen hat. Anmerkungen 1 Au sfüh rlicher und mit mehr Quellenbelegen habe ich die Forschungsgeschichte dargestellt in meiner Habilitationsschrift, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus. Ein Beitrag zu einem Wunderverständnis jenseits von Entmythologisierung und Rehistorisierung, WUNT 1.Reihe, Tübingen 2001. Vgl. zur Forschungsgeschichte auch E. u. M.-L. Keller, Der Streit um die Wunder. Kritik und Auslegung des Übernatürlichen in der Neuzeit, Gütersloh 1968; B. Bron, Das Wunder. Das theologische Wunderverständnis im Horizont des neuzeitlichen Natur- und Geschichtsbegriffs (GTA 2), Göttingen 1975; H. Weder, Wunder Jesu und Wundergeschichten, VuF 29 (1984), 25-49; B. Kollmann, Jesus und die Christen als Wundertäter. Studien zu Magie, Medizin und Schamanismus in Antike und Christentum (FRLANT 170), Göttingen 1996, 18-41; H. Bee-Schroedter, Neutestamentliche Wundergeschichten im Spiegel vergangener und gegenwärtiger Rezeptionen. Historisch-exegetische und empirisch-entwicklungspsychologische Studien (SBB 39), Stuttgart 1998, 63-110. 2 Vgl. P. Brown, Die Heiligenverehrung. Ihre Entstehung und Funktion in der lateinischen Christenheit, Leipzig 1991, 79; ders., Die letzten Heiden. Eine kleine Geschichte der Spätantike, Berlin 1986, 54.71.89.92f. 3 G. Theißen, Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien (StNT 8), Gütersloh 1974, 266. 4 J. Becker, Paulus: Der Apostel der Völker, Tübingen 1989, 253, stellt bereits für die Zeit des Paulus fest: »Die Zeit war insgesamt recht wundersüchtig«. 5 E.R. Dodds, Heiden und Christen in einem Zeitalter der Angst. Aspekte religiöser Erfahrung von Marc Aurel bis Konstantin, Frankfurt/ Main 1985. 6 Gegen eine Auffassung der Spätantike als eine Verfallsepoche hat sich dezidiert ausgesprochen P. Brown, Heiden, 19-22. 7 Die in Klammern stehende Seitenzahlen beziehen sich auf B. de Spinoza, Sämtliche Werke 3. Theologisch-politischer Traktat, auf der Grundlage der Übers. v. C. Gebhardt neu bearb., eingel. u. hg. v. G. Gawlick, (PhB 93), Hamburg 1994. 8 Voltaire, Essais sur les mœurs et l’esprit des nations, introduction et notes par J. Marchand, Paris 1962, 147. 9 D. Hume, The Natural History of Religion, in: ders., The Philosophical Works 4. Essays. Moral, Political and ZNT 7 (4. Jg. 2001) 13 Stefan Alkier Wen wundert was ? Literary II, ed. by T.H. Green and T.H. Grose, Reprint of the New Edition London 1882, Aalen 1964, 362. 10 D. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, J. Kulenkampff (Hg.), (PhB 35), Hamburg 12 1993, 134. 11 H.S. Reimarus, Vom Zwecke Jesu und seiner Jünger, in: G.E. Lessing, Sämtliche Schriften 13, K. Lachmann (Hg.), Leipzig 3 1897, 314. 12 Ebd., 146. 13 Ebd. 14 Vgl. zu Gabler O. Merk, Biblische Theologie des Neuen Testaments in ihrer Anfangszeit. Ihre methodischen Probleme bei Johann Philipp Gabler und Georg Lorenz Bauer und deren Nachwirkungen (MThSt 9), Marburg 1972, 29-140, insbes. 52-81. 15 D.F. Strauß, Das Leben Jesu I, Tübingen 1835, 75. 16 Vgl. R. Bultmann, Glauben und Verstehen IV. Gesammelte Aufsätze, Tübingen 1965, 130.146. 17 D.F. Strauß, Leben Jesu, 18. 18 Hervorhebung durch mich. Die eingeklammerten Seitenzahlen beziehen sich auf R. Bultmann, GuV IV. 19 Vgl. dazu S. Alkier, Urchristentum. Zur Geschichte und Theologie einer exegetischen Disziplin (BHTh 83), Tübingen 1993. 20 In: J.P. Gabler, Kleinere Theologische Schriften I, Ulm 1831, 179-198. 21 Wieder abgedruckt in F.C. Baur, Ausgewählte Werke in Einzelausgaben III, K. Scholder (Hg.), Stuttgart/ Bad Cannstatt 1966, 1. 22 R. Bultmann, GuV I, 227. 23 Ebd., 216. 24 S.M. Fischbach, Totenerweckungen. Zur Geschichte einer Gattung (FzB 69), Würzburg 1992, 302. 25 R. u. M. Hengel, Die Heilungen Jesu und medizinisches Denken, in: Medicus Viator. Fragen und Gedanken am Wege Richard Siebecks (wieder abgedr. in: A. Suhl (Hg.), Der Wunderbegriff im Neuen Testament, 338- 373), Tübingen/ Stuttgart 1959, 331-361, hier: 357. 26 Diesen Gedanken hat Theißen theoretisch vertieft in seinem Aufsatz »Synoptische Wundergeschichten im Lichte unseres Sprachverhältnisses«, WPKG 65 (1976), 289-308. 27 W. Kahl, New Testament Miracle Stories in their Religious-Historical Setting. A Religionsgeschichtliche Comparison from a Structural Perspective (FRLANT 163), Göttingen 1994, 238. 28 Ebd., 153. 29 Ebd., 153, Anm. 1. 30 Vgl. D.-A. Koch, Die Bedeutung der Wundererzählungen für die Christologie des Markusevangeliums (BZNW 42), Berlin/ New York 1975; K. Kertelge, Die Wunder Jesu im Markusevangelium. Eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung (StANT 23), München 1970; L. Schenke, Die Wundererzählungen des Markusevangeliums (SBB 33), Stuttgart 1974; H.J. Held, Matthäus als Interpret der Wundergeschichten, in: G. Bornkamm/ G. Barth/ H.J. Held, Überlieferung und Auslegung im Matthäusevangelium (WMANT 1), Neukirchen 1960, 155-287; U. Busse, Die Wunder des Propheten Jesu. Die Rezeption, Komposition und Integration der Wundertradition im Evangelium des Lukas (FzB 24), Stuttgart 1977; S. Schreiber, Paulus als Wundertäter. Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zur Apostelgeschichte und den authentischen Paulusbriefen (BZNW 79), Berlin/ New York 1996. 31 R. Bultmann, GuV I, 227. 32 Ebd. 33 In: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 6 1970, 224. 34 Theologia Practica 24 (1989), Internationale katholische Zeitschrift 18 (1989), Katechetische Blätter 114 (1989). 35 O. Betz/ W. Grimm, Wesen und Wirklichkeit der Wunder Jesu. Heilungen - Rettungen - Zeichen - Aufleuchtungen (ANTI 2), Frankfurt/ Main, 1977, 5f. Auf dieser Welle schwimmt auch K. Bergers Schrift Darf man an Wunder glauben? Stuttgart 1996. 36 R. Gerloff, Historische Aspekte von Heilung, ThPr 24 (1989), 20-28, hier: 26, berichtet von Gruppen, »die darauf bestanden, daß neutestamentliche Wunder heute noch möglich und realisierbar sind. Gegen die rein akademische Theologie und die verfaßte Kirche […] setzen sie ein leibliches und korporatives Verständnis der christlichen Gemeinschaft und erweckten so ›apostolische‹ Kräfte.« 37 H. Weder, Wunder Jesu, 28. 38 Theißen, Urchristliche Wundergeschichten, 274. 39 Ebd., 253. Vgl. dagegen die Arbeiten zur Spätantike von P. Brown. 40 U. Eco, Semiotik. Entwurf einer Theorie der Zeichen, Supplemente 5, München 1987, 19: »Einfache Schrägstriche bezeichnen etwas, das als Ausdruck oder Signifikat gemeint ist, während doppelte Winkelklammern etwas als Inhalt Gemeintes kennzeichnen. / xxxx/ signifiziert, drückt aus oder bezieht sich also auf »xxxx«. […] Um etwa den Gegenstand Auto vom Wort Auto zu unterscheiden, wird im ersten Fall das Wort zwischen Doppelschrägstriche gesetzt und kursiv geschrieben. / / Auto / / ist also der dem verbalen Ausdruck / Auto/ korrespondierende Gegenstand, und beide beziehen sich auf die Inhaltseinheit »Auto«.« 41 G. Theißen, Argumente für einen kritischen Glauben oder: Was hält der Religionskritik stand? (TEH 202), München 1978, 14, vgl. ebd., 45.48f.90f.103. 42 Theißen, Urchristliche Wundergeschichten, 253. 43 Vgl. Kollmann, Jesus und die Christen, 22. 44 D.F. Strauß, Leben Jesu II, Tübingen 1836, 49f. 45 S. Alkier/ B. Dressler, Wundergeschichten als fremde Welten lesen lernen. Didaktische Überlegungen zu Mk 4,35-41, in: B. Dressler/ M. Meyer-Blanck (Hgg.), Religion zeigen. Religionspädagogik und Semiotik (Grundlegungen 4), Münster 1998, 163-187, hier: 173. 46 R. Mack, Die Wunder Jesu im Urteil der Bibelwissenschaft, in: ders/ D. Volpert, Der Mann aus Nazareth - Jesus Christus. Oberstufe Religion Materialheft 7, Stuttgart 1993, 28. 47 Theißen, Argumente, 115. 14 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Neues Testament aktuell 48 Ebd., 15. 49 Vgl. dazu S. Alkier, Lazarus - Fact, Fiction, Friction, Loccumer Pelikan 4/ 1996, 153-159. 50 G. Theißen, Der Schatten des Galiläers. Historische Jesusforschung in erzählender Form, Gütersloh 13 1993, 167. 51 Theißen, Urchristliche Wundergeschichten, 112. 52 Ebd., 113. 53 Theißen, Schatten des Galiläers, 168. 54 Ebd., 168f. 55 Theißen, Urchristliche Wundergeschichten, 284f. 56 Vgl. R. Veller, Zeichen und Wunder - die charismatische Bewegung erfaßt die evangelischen Kirchen Ostafrikas, ThBeitr 23 (1992), 139-150. Neutestamentliche Wunderauslegung muß das ökumenische Gespräch im Blick haben! 57 Theißen, Urchristliche Wundergeschichten, 229. 58 G. Theißen/ A. Merz, Der historische Jesus, Ein Lehrbuch, Göttingen 21997, 260. 59 Theißen, Urchristliche Wundergeschichten, 279, Hervorhebung von mir. 60 Theißen/ Merz, Historische Jesus, 494. Hervorhebung von mir. 61 Theißen, Urchristliche Wundergeschichten, 90. 62 Vgl. ebd., 98, Anm. 25. 63 B. Kollmann, Jesus und die Christen, 265 (Hervorhebung von mir). Vgl. auch Theißen, Urchristliche Wundergeschichten, 98, Anm. 25: »Totenerweckungen gehören zu den Therapien: Einmal können fast alle antiken Totenerweckungen durch Wundertäter als Wiedererweckung Scheintoter verstanden werden«. 64 E. Drewermann, Mißverständnisse und Irrwege der Wunderauslegung, KatBl 114 (1989), 408-413, hier: 408. 65 Ebd., 410. Hervorhebung von mir. 66 E. Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese II, Freiburg/ Breisgau 1985, 125. 67 Vgl. ebd., 98f. 68 K. Berger, Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984, 305. 69 Vgl. G. Petzke, Historizität und Bedeutsamkeit von Wunderberichten. Möglichkeiten und Grenzen des religionsgeschichtlichen Vergleichs, in: H.D. Betz/ L. Schottroff (Hgg.), Neues Testament und christliche Existenz, FS Herbert Braun zum 70.Geburtstag, 1973, 367- -385; H.C. Kee, Miracle in the Early Christian World. A Study in Sociohistorical Method, New Haven/ London 1983; ders., Medicine, Miracle and Magic in New Testament Times (SNTS Monograph Series 55), Cambridge 1986; S. Garrett, The Demise of the Devil: Magic and the Demonic in Luke’s Writings, Minneapolis 1989; H. Bee- Schroedter, Wundergeschichten. 70 S. Alkier/ R. Brucker, Neutestamentliche Exegesen interdisziplinär - ein Plädoyer, in: dies. (Hgg.), Exegese und Methodendiskussion (TANZ 23), Tübingen/ Basel 1998, XIII. 71 E. Reinmuth, Historik und Exegese - zum Streit um die Auferstehung Jesu nach der Moderne, in: S. Alkier/ R. Brucker (Hgg.), Exegese und Methodendiskussion (TANZ 23), Tübingen/ Basel 1998, 1-20, hier: 1. 72 P. Lampe, Die urchristliche Rede von der ›Neuschöpfung des Menschen‹ im Lichte konstruktivistischer Wissenssoziologie, in: Alkier/ Brucker (Hgg.), Exegese, 21- 32, hier: 21. 73 Ebd. 74 E. Güttgemanns, ›Text‹ und ›Geschichte‹ als Grundkategorien der Generativen Poetik. Thesen zur aktuellen Diskussion um die ›Wirklichkeit‹ der Auferstehungstexte, LingBib 11 (1972), 1-12, hier: 8. 75 Ebd., 10. ZNT 7 (4. Jg. 2001) 15 Stefan Alkier Wen wundert was ? Die neutestamentliche Forschung hat sich, vielleicht um nicht theologisch in Verlegenheit zu geraten angesichts der Stigmatisierung von Magie in der modernen westlichen Kultur, erst vor kurzer Zeit den Texten der Evangelien und Briefe kritisch zugewandt, in denen Magie vorkommt. Das Fehlen kritischer Beachtung in der Forschung ist durchaus bemerkenswert, denn die neutestamentlichen Autoren waren sich sehr wohl im Klaren über den weitverbreiteten Gebrauch von Magie in der antiken Gesellschaft, und sie scheuten eine Diskussion über dieses Phänomen nicht. Morton Smith und Susan Garrett haben im Anschluß an breitere theoretische Überlegungen zur Bedeutung von Magie zwei in den USA weit beachtete Analysen zum Problem der Magie im NT vorgelegt, die mittlerweile zu den einschlägigen Standardwerken gezählt werden. Der vorliegende Beitrag untersucht den Wandel von Smiths eher inhaltsbezogenem Blickwinkel zu Garretts funktionalistischer Position und diskutiert die veränderten Grundlagen und Voraussetzungen bezüglich Magie und die daraus resultierenden unterschiedlichen Interpretationen. Der Beitrag weist dann nach vorn auf neue, durch Garretts Untersuchungen eröffnete Deutungsmöglichkeiten von Magie auf dem Hintergrund einiger Beispiele aus neutestamentlicher Zeit. 1. Magie im Neuen Testament: Stufen eines Deutungswandels 1.1. Inhaltsbezogene Definitionen und das Werk Morton Smiths Morton Smiths Buch »Jesus the Magician« aus dem Jahr 1971 führt ältere Untersuchungen durch Deißmann und Samain weiter, die bereits sachliche und sprachliche Übereinstimmungen zwischen Erzählungen in den Evangelien und Texten über magische Praxis in griechisch-römischer Literatur herausgearbeitet haben. 2 Smith geht jedoch über die Feststellung bloßer »Parallelen« hinaus und behauptet, der historische Jesus selbst sei ein Magier gewese. Smith verläßt sich bei seiner Suche nach historischen Anhaltspunkten in erster Linie auf formkritische Beobachtungen und konzentriert sich auf solche Traditionen, in denen Jesus Dinge tut, die antike Magier nach dem Ausweis griechisch römischer literarischer und papyrologischer Zeugnisse ebenfalls getan hätten. Smith behauptet gleichzeitig, die Evangelisten hätten immer wieder Spuren magischer Qualität bei den Darstellungen der Taten Jesu zu tilgen versucht, doch hätten solche Traditionen, angefüllt mit magischen Elementen auf allen Ebenen, nicht in Gänze rehabilitiert werden können. Ein oft zitiertes Beispiel ist die offensichtliche Eliminierung des Gebrauchs von Speichel oder der Berührung bei Heilungen in der markinischen Vorlage durch Matthäus. Matthäus und Lukas lassen ferner die Erzählungen von der Heilung des Taubstummen (Mk 7,31-37) und des Blinden bei Betsaida (Mk 8,22-26) aus, beides Geschichten, deren körperbetonte Heilungsmittel stark an Riten erinnern, die Smith in den griechischen magischen Papyri (PGM) gefunden hatte. Selbst die Erzählungen, in denen Jesus sich weigerte, magische Handlungen vorzunehmen, waren für Smith Beweise für seine These. Solche Texte seien rein apologetisch und dienten als Waffe gegen Zeitgenossen, die sich noch an den »Magier Jesus« erinnerten, um sie vom Gegenteil zu überzeugen. Die Erzählung von der Versuchung Jesu in der Wüste (Mk 1,12f.; Mt 4,1-11; Lk 4,1-13), in der sich Jesus weigert, durch die Luft zu fliegen oder Steine in Brot zu verwandeln (beides nach Smith magische Praktiken), gehört in Smiths Augen in diese Kategorie. Freilich kollidiert Smiths These von der fortschreitenden Eliminierung magischer Züge im Jesusbild mit den reichhaltigen Belegstellen, die er für seinen »magischen Jesus« anführen kann, denn die Brotvermehrung, Sturmstillung und andere »magische« Praktiken wurden von den Evangelisten in den Erzählungen belassen. Matthäus fügte sogar eine Erzählung über Magier hinzu (Mt 2,1-12), und Lukas berichtet, daß die Zum Thema Melissa Aubin Beobachtungen zur Magie im Neuen Testament 1 16 ZNT 7 (4. Jg. 2001) ZNT 7 (4. Jg. 2001) 17 Melissa Aubin Beobachtungen zur Magie im Neuen Testament Melissa Aubin Melissa Aubin ist Associate Professor für Religionsgeschichte des Mittelmeerraums an der Theologischen Fakultät der Florida State University. maubin@mailer.fsu.edu Jünger Magier ihrer Zeit überboten. Zentrale Elemente der Überlieferung wie Jesu Taufe, Verklärung und Abschiedsmahl, sind aufgrund Smiths zum Teil recht gewaltsamer Parallelisierungen mit Texten der griechischen magischen Papyri (PGM) und der Kritik früher Opponenten wie Celsus als derart magisch anzusehen, daß das magische Grundsubstrat nicht übergangen werden darf, ohne die Essenz der entstehenden Jesusbewegung zu zersetzen. Für Smith steht fest, daß Jesus letztlich wegen seiner aufsehenerregenden Taten als Magier (und nicht als Lehrer, Gesetzesgelehrter oder Prophet) am Kreuz hingerichtet wurde (vgl. Joh 11,47-50). Daher, so Smith, hatte das frühe Christentum auch nach dem Tod Jesu weiterhin auf berechtigte Magievorwürfe zu reagieren, wie man ihnen in Kelsos’ »Wahrer Geschichte« und mancher rabbinischer Haggada begegnet. Obwohl Smith auf eine eigene Definition von Magie verzichtet, bietet seine Methode doch einen Einblick in sein Magieverständnis. Magie ist, was andere als Magie bezeichnet haben. Der zentrale Bezugspunkt bei Smiths Bemühungen, einzelne Züge im Evangelienmaterial als »magisch« zu erweisen, sind Erzählungen und Riten der zeitgenössischen griechisch-römischen Umwelt, die in der Fachliteratur als magisch firmieren. Solche Zeugnisse reichen für Smith aus, um die Existenz einer »Kaste« von Magiern in der spätantiken Gesellschaft zu postulieren, die auch »Gottessöhne«, Magoi, oder »göttliche Männer« heißen. Je nach Aktivität oder sozialem Status hätte jeder »Magier« (auch Jesus) einer dieser drei, bei Smith freilich nicht deutlich unterschiedenen Gruppen zugewiesen werden können. Wichtig ist für Smith, daß in der Literatur immer ein gewisses Spektrum an Handlungen mit dem Titel »Magier« verbunden ist, die beschreibbar sind und es zulassen, daß der Titel auch auf andere Personen anwendbar ist. Das Publikum, das jemanden mittels einer dieser Bezeichnungen als »Magier« benennt, berichtet also eher auf der Basis einer phänomenologischen Definition seiner Aktivität, als daß es subjektiv benennt. Smiths Magiebegriff ist somit inhaltlich geprägt. Smiths inhaltsbezogene, »substantialistische« Sicht von Magie ist zu einem guten Teil von Erwin Ramsdell Goodenoughs (1892-1965) monumentaler Untersuchung jüdischer Symbole in der griechisch-römischen Welt beeinflußt. 3 Goodenough sah enge Bezüge zwischen den Hymnen und Beschwörungen der griechischen magischen Papyri zum volkstümlichen Judentum und späthellenistischen Synkretismus und unterschied dieses »magische« Judentum strikt vom orthodoxen Judentum der religiösen Antike. Letztlich geht die vom Inhalt des Begriffs »Magie« geprägte wissenschaftliche Tradition jedoch auf das epochale Werk The Golden Bough von Sir James George Frazer (1854-1941) zurück, das die ethnologische Forschung vor und nach dem Zweiten Weltkrieg dominierte und auch heute noch außerhalb akademischer Studien eine gewisse Rolle spielt. 4 Frazers dreiteilige Unterscheidung zwischen Magie, Religion und Wissenschaft, zusammen mit späteren Ausarbeitungen durch Goode, 5 der Religion und Magie in eine sukzessive Abfolge brachte, beförderten die Ansicht, daß »Magie« leicht von »echter Religion« zu trennen sei und letztlich ein Phänomen kultureller und religiöser Dekadenz darstelle. Oft wird dabei behauptet, daß Magie dazu diene, konkrete Ziele für Einzelpersonen zu erreichen, während Religion langfristige, gemeinschaftsbezogene Absichten verfolge; daß Magie gewaltsam-zwingend und manipulativ sei, während Religion auf ernsthaft bittenden Gebeten beruhe; daß Magie professionelle Fähigkeiten erfordere, während Religion nicht institutionell vermittelt sei; daß Magie a-sozial sei, während Religion positive Auswirkungen auf die Gesellschaft besitze. Diese Unterscheidungen lassen sich heute jedoch nicht mehr aufrechterhalten. Verschiedene neuere Untersuchungen zur antiken Religion und Magie haben gezeigt, daß oft genug typisch »mechanische« Verrichtungen (ex opere operato), die traditionellerweiser nur der Magie zugewiesen wurden, in gleichem Maße auch im Zentrum eigentlich als »religiös« angesehener Zeremonien (ex opere operantis) stehen. Auch bezüglich der Ausdrucksformen läßt sich beobachten, daß sich die Terminologie magischer Papyri oft nicht unterscheiden läßt von Bekenntnissen »religiöser« Art. Ferner hat sich herausgestellt, daß sich auch Magie kollektive soziale Ziele zu eigen machen kann, die man bisher nur im Bereich der Religion vermutet hat. So hat beispielsweise Harold Remus in seiner Kritik der inhaltsbezogenen Definition von Magie betont, daß es keine durchweg gültige Unterscheidung zwischen Zauberspruch und Gebet gebe (euche / epode), da beide in ähnlichen Umständen ähnliche Formeln und Zwecke beinhalten. 6 Auch Swartz hat zeigen können, wie Begriffe und Symbole der »traditionellen« rabbinischen Religiosität und Kultur, wie etwa kurze Anekdoten (historiola) für magische Praktiken eingesetzt werden konnten, und wie bestimmte Ziele von Magie (wie etwa Zaubersprüche zum Auswendiglernen) kanonisiert und im Zusammenhang von rabbinscher Gelehrsamkeit eingesetzt werden konnten. 7 Derartige Untersuchungen verdeutlichen eine wachsende Tendenz, die traditionelle, an Abgrenzung interessierte, inhaltsbezogene Definition von Magi e zu hinterfragen. 1.2. Magie als gesellschaftlich konstruierte Kategorie Im Zuge der neueren Forschung haben sich funktionale Modelle aus dem Bereich soziologischer und anthropologischer Theorien als fruchtbarer erwiesen, in denen Etiketten wie »Magie« als wichtige Elemente gesellschaftlicher Identitätsbestimmung und Kontrolle verstanden und nicht mehr vom Inhalt her definiert werden. In der Perspektive dieser Forschungsrichtung ist es nunmehr unmöglich, Magie und Religion in unterschiedliche sozio-kulturelle Kategorien einzuteilen. Vielmehr ist »Magie« ein situationsspezifischer Terminus zur Bezeichnung sozialer Abweichung, der stets abhängig vom gesellschaftlichen Kontext ist und vielfältige qualitative Bedeutungen besitzen kann. Peter Brown, David Aune, Susan Garrett und Jonathan Z. Smith haben solche Modelle aufgegriffen und zeigen dementsprechend, wie »Magie« und »Religion« in ganz ähnlicher Weise wie die Begriffe »Häresie« und »Orthodoxie« verwendet werden. 8 Sie vertreten eine universelle Definition von Magie im Sinne einer Form religiös abweichenden Verhaltens, bei denen individuelle oder gesellschaftliche Ziele erreicht werden sollen, die normalerweise durch die dominante religiöse Institution nicht gedeckt werden. Sieht man genauer hin, dann zeigt sich nämlich, daß bereits die einschlägige, im Zusammenhang mit Magie begegnende Terminologie in positiver und negativer Schattierung verwendet werden kann und allein schon daher einen funktionalistischen und keinen substantialistischen Zugang erfordert, zumal ja hinzukommt, daß bereits die Wahl des Begriffs »Magie« ein Resultat des gesellschaftlichen Kontextes dessen sein kann, der ihn verwendet bzw. auf den er angewandt wird. So hat etwa Kolenkow betont, daß Magievorwürfe in der Antike oft in feindseligen Kontexten auftreten, wie z.B. Vorwürfe politischer Subversion, Hexerei und Neid, um Magievorwürfe gegen Wundertäter wie Apollonius von Tyana oder Apuleius von Madaura zu untermauern. 9 Ähnlich hat auch Ricks herausgearbeitet, daß in rabbinischen Texten stets das als »magisch« gebrandmarkt wird, was von der rabbinischen Interpretation der israelitischen Gesellschaft und ihrer Werte und Handlungen abweicht. 10 Freilich bleiben noch einige wichtige Fragen offen. Wenn wir Magie als eine verortende und relationale Kategorie verstehen, wie verändert diese Erkenntnis unsere akademische Sprache? Nicht ohne Grund befaßten sich daher viele Autoren mit der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit des heutigen Gebrauch des Begriffs »Magie«, dessen Voreingenommenheit und Vorurteilslastigkeit in den Quellen belegt ist. Die Untersuchung der antiken Begriffe, die wir mit »Magie« übersetzen, führte also nicht zuletzt auch zur willkommenen Besinnung über den Einsatz analytischer Termini, die in dieser Studie verwendet werden. Doch zurück zu den Texten. Wenn man sich die semantische Breite spätantiker Begriffe betrachtet, die üblicherweise mit »Magie« übersetzt werden, 18 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Zum Thema wird rasch deutlich, daß deren philologische Bedeutungsnuancen nicht von den sozialen Kontexten geschieden werden können, in denen sie verwendet werden. Indem sie das Verhältnis zwischen Benennendem und Benanntem beschreiben, verdeutlichen Magievorwürfe den Umgang von Gruppen untereinander und bringen die Tatsache zu Bewußtsein, daß man im Prozeß der Benennung sowohl sich selbst als auch den anderen definiert. In den griechisch und lateinisch sprechenden Teilen der Mittelmeerwelt wurden die Wörter magos / magus mit einer Vielzahl von Konnotationen verwendet, um eine ganze Schar an Dingen von der »ehrbaren« persischen Religion über offensichtliche Scharlatanerie hin zur skandalbeladenen Hexerei zu bezeichnen. In etymologischer Hinsicht stammen der Begriff magos / magus und ihre Derivate magikos / magicus und mageia / magia vom Eigennamen Magos / Magus, der einen medischen Stamm 11 bzw. seine persischen Priester, 12 Traumdeuter und Zeremonienmeister bezeichnet. Vermutlich wurden Magoi um 540 v. Chr. in der griechischen Welt bekannt, als griechische Städte in Kleinasien an Kyros fielen, obwohl unser erster literarischer Beleg mindestens ein Jahrhundert später anzusetzen ist. 13 Politische Vorurteile und ein sich entwickelnder Rationalismus prägten freilich später den Begriff in nicht unerheblicher Weise. Magoi/ magi wurden von griechischen und römischen Autoren, die sich in der geistigen Distanz gegen die Kulturen am östlichen Rand des Reiches einig waren, fälschlicherweise als Scharlatane abgewertet. 14 Besonders Persien blieb Roms mächtigster Gegner während der gesamten Kaiserzeit, und daher unterlagen Magi der tiefsitzenden Abneigung spätantiker Autoren, die auf früheren griechischen Kritikern aufbauten, 15 vor allem Herodot. 16 Noch Plinius und Plutarch, um ihre schärfsten Kritiker zu nennen, verleumdeten die Magi als betrügerisch. 17 Im Laufe der Zeit prägten diese Wertungen den Bedeutungsgehalt der Termini magos / magus und ihrer Verwandten derart, daß die ursprünglich neutrale Bezeichnung persischer Priester zugleich für religiöse outsider und sogar ausgesprochene Gauner verwendet werden konnte. 18 Einige beanspruchten (oder bekamen gegen ihren Willen) das Etikett magos / magus beigelegt, obwohl sie keine wirkliche Verbindung zu Persien besaßen. 19 In der griechischen Literatur bezeichnete man solche Personen auch gern als goetai, ihre Praxis als goeteia, ein wenig schmeichelhafter Begriff, der soviel bedeutet wie Schwindler oder Zauberer. Obwohl Platon der goeteia im Symposion (202e) ein bestimmtes Maß an Glaubwürdigkeit zuzugestehen bereit ist, sind doch fast alle übrigen Verwendungen des Begriffs abwertend. 20 Der zweifelhafte Tenor von magos / magus ist unmittelbar, 21 in rechtlichen Texten fast immer negativ. 22 Immer wieder mußten Personen, die von ihren Anhängern als »göttlicher Mensch« (theios aner) verehrt wurden (wie etwa Apollonios von Tyana oder Apuleius von Madaura), ihre zahlreichen Kritiker und Neider davon überzeugen, daß sie weder magi noch goeteis waren. 23 Philostratus beeilt sich sicher nicht ohne Grund zu zeigen, daß Apollonius als kompetenter Philosoph selbstverständlich nicht davor zurückschreckte, sein okkultes Wissen zu vermehren, ohne aber je Magie parktiziert zu haben. 24 Interessanterweise verteidigt auch Eusebius Jesus gegen den Vorwurf des Betrugs und der Magie. 25 Letztendlich scheint also die Verbindung mit den verdächtigen östlichen Rändern der römischen Welt die Bedeutung von magos / magus in negativer Weise eingefärbt und ein geographisches Moment in die distanzierende Klassifikation eingebracht zu haben. Zum Teil ist daher die griechische und lateinische Terminologie (wie letztlich auch die englische und deutsche) verknüpft mit dem ideologisch motivierten Versuch, westlich-mediterrane Kultur von denen des suspekten (oder romantisierten) Orients zu distanzieren. In diesem Sinne kann man mit Jonathan Z. Smith sagen: Magie verortet religiöse Abweichung gleichzeitig an die territoriale als auch die ideologische Peripherie des herrschenden Weltbildes. Durch den Stempel »geographischer« Distanz werden nicht nur die realiter geographisch »Anderen« zu Fremden, sondern auch die »Eingeborenen« mit religiös abweichenden Verhalten zu Fremden in der eigenen Heimat. 1.3. Gesellschaftlich konstruierte Magie und das Neue Testament : das Werk von Susan Garrett Susan Garretts Buch »The Demise of the Devil« machte erstmals die funktionalistische Definition von Magie für die Interpretation des Neuen Testaments fruchtbar, vor allem hinsichtlich der Apostelgeschichte. Im Gegensatz zu eher objektivierenden ZNT 7 (4. Jg. 2001) 19 Melissa Aubin Beobachtungen zur Magie im Neuen Testament Fragen wie »Waren Christen Magier? « oder »Praktizierte Jesus Magie? «, wie sie etwa Smiths formkritische Studien beinhalten, bemühte sich Garrett zu verstehen, wie Magie in der lukanischen Erzählung als kulturspezifische Bezeichnung für religiöse Abweichung fungierte und wie die Verwendung des Begriffs durch den Erzähler die Wahrnehmung und Erfahrung derer formte, die die Erzählung lasen. Garrett vermutete, daß die »magischen« Handlungen, die Lukas auf der irdischen Ebene der Jesusgeschichte in Szene setzte, in die übergreifende Story des Konfliktes zwischen kosmischen Mächten auf einer übernatürlichen Ebene eingebunden sind. Entscheidend für Garretts Argumentation ist, daß die Begrifflichkeit des Satanischen, Dämonischen und Magischen in der Gedankenwelt der lukanischen Leserschaft grundsätzlich austauschbar ist. Garrett zufolge hätten die christlichen Leser der Apostelgeschichte aufgrund ihrer Verwurzelung in der Bildwelt des zeitgenössischen Judentums jegliche magische Handlung von Gruppenfremden automatisch mit dem Satanischen und Bösen assoziiert. Lukas setzt diese Interpretationstrategie auf Seiten seiner Leser bewußt ein, um den Unterschied zwischen den augenscheinlich »magischen« Handlungen von Gruppenfremden und -zugehörigen auf der Basis ihrer jeweils bösen oder guten Herkunft zu bewerten. Garrett begründet ihre Sicht in detaillierten Analysen von Texten aus dem Lukasevangelium (Lk 4,1-13; 11,14-23; 10,17-20) und der Apostelgeschichte (Apg 8,4-25; 13,4-12; 19,8-20). In der Evangelientradition wird Jesu Kampf gegen die magischen bzw. satanischen Mächte zuerst in der Versuchung in der Wüste thematisiert (Lk 4,1-13), wo sich Jesus und der Heilige Geist weigern, sich der Autorität Satans zu unterwerfen. Jesu großer Erfolg beim Austreiben unreiner Geister und in der Lehre bestätigen nur die Wirkungslosigkeit der Macht Satans. Die lukanische Version der Beelzebul-Kontroverse (Lk 11,14-23) beantwortet die Frage nach der Herkunft der Kraft, mit der Jesus über die unreinen Geister gebietet. Im Licht von Jes 53,12 gelesen mag die Episode nach Garrett auch auf Jesu Passion hinweisen, wenn »der Starke« endgültig bezwungen wird. Der dritte von Garrett behandelte Text ist Lk 10,17-20, in dem die Siebzig von ihrer Mission zurückkehren und von Jesu Vision des »Falls Satans aus dem Himmel« erfahren (Lk 10,18). Auch dieser Text, behauptet Garrett, stellt wieder eine Verbindung zwischen der Niederlage des Teufels und Jesu Tod bzw. seiner Auferstehung und Himmelfahrt dar. Jesu Verheißung, auf Schlangen und Skorpione zu treten und Macht über die Gegner zu besitzen, ist nichts anderes als das Versprechen »magischer« Kraft: die Siebzig erhalten die Macht über die Macht des Bösen, die erst Magie möglich macht. Weil die Macht Satans sich in Magie auswirkt, bringt die Entmachtung Satans das Ende der Magie, sobald er durch Jesus gebunden ist. Besonders deutlich wird dieser Grundsatz in der Apostelgeschichte, der sich Garrett im zweiten Teil ihres Buches widmet. Lukas demonstriert die Machtlosigkeit des Teufels und der Magie in der Ära nach der Auferstehung vor allem dadurch, daß die Apostel gegen Magie von Außenstehenden ankämpfen und sie überwinden. In der ersten Episode werden Philippus’ Zeichen (semeia) den Zaubertricks (mageiai) Simons gegenübergestellt (Apg 8,4- 24). Simon selbst sieht die christlichen Zeichen als Magie und konvertiert, doch zeigt sich Simons Unverständnis darin, daß er dafür zu zahlen bereit ist, die christlichen Zeichen zu erlernen. Lukas zeichnet die Techniken des Magiers und des Evangelisten bewußt in ähnlicher Weise, um zu akzentuieren, daß der magischen Kraft des Scharlatans Simon die überlegene Macht fehlt, die von Gott stammt. Die zweite Episode zielt in eine ähnliche Richtung (Apg 13,4-12). Hier versucht der Magier und Falschprophet Bar-Jesus, die Konversion des Prokonsuls durch Paulus zu verhindern. Der offensichtlich »magische« Gegenfluch des Paulus blendet und entmachtet Bar-Jesus und beweist dadurch, daß es nicht auf die blanke Magie ankommt, sondern allein auf die Autorität hinter ihr. Indem Paulus mit seiner von Gott stammenden Macht die Machtlosigkeit Bar-Jesu entlarvt, unterstreicht auch diese Geschichte das erzählerische Anliegen des Lukas, wonach die Niederlage Satans auch die Niederlage der »Magie« nach sich zieht, die er sanktioniert. In der dritten Geschichte (Apg 19,8-20: Paulus und die sieben Söhne des Skeuas), erscheint Paulus in Morton Smiths Sinne als am »magischsten«, indem er Wunder vollbringt und sogar Fetzen seines Gewandes hergibt, um andere zu heilen und Geister zu bezwingen. Die sieben Söhne des Skeuas versuchen selbst, im Namen Jesu zu heilen, scheitern aber kläglich. Vielmehr überwältigt der böse Geist 20 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Zum Thema ihres Klienten die Wanderexorzisten und erklärt, er kenne zwar Jesus und Paulus, sie jedoch seien ihm unbekannt. Wiederum schlägt Lukas Kapital aus der äußeren Ähnlichkeit zwischen christlichen Zeichen und den übernatürlichen Handlungen anderer und wendet sie pointiert ins Gegenteil: wenn auch eine äußere Ähnlichkeit besteht, so ist die Quelle der jeweiligen Krafttaten doch eine ganz verschiedene. In der Frage der Herkunft der Kraft gibt es für Lukas auch nicht die geringste Entsprechung. So ist das Ende der Geschichte nur konsequent: Aufgrund des Scheitern der Söhne des Skeuas tragen die Einwohner von Ephesus ihre magischen Utensilien zusammen und verbrennen sie öffentlich. So wird die Machtlosigkeit der satanischen Mächte auch öffentlich negiert, und das Wort des Herrn wuchs »mit Macht«. Für Garrett fungiert »Magie« also ganz im Sinne der neueren Forschung als verortende, relationale Kategorie, die der Unterscheidung zwischen der mit diesem Begriff bezeichneten Gruppe und dem Bezeichner dient. Insofern ist der Magievorwurf also stets eine »Erfindung« des Autors der Geschichte, in der er vorkommt. Garretts Definition ist jedoch nicht allein ein bloßes Werturteil, da sie immer noch Umstände und Verhaltensweisen erkennt, die auch sie als »typisch« für spätantike Magier anführt (wie z.B. daß Simon Magus für Handlungen bezahlen will), die die Kategorie »Magie« über die rein relationale Ebene hinausheben. Dennoch unterscheidet sich Garretts Bewertung signifikant von der Morton Smiths, weil sie verständlich machen kann, warum christliche Autoren der zweiten und dritten Generation ihrerseits den Vorwurf der Magie aktiv gegen andere erheben und nicht nur lediglich auf das antworten, was andere zu Recht oder zu Unrecht gegen sie richteten, wie Smith uns glauben machen wollte. Ein letzter Gedanke sei noch angefügt. 2. Das Verorten von Magie in zeitgenössischen jüdischen Quellen Die Auseinandersetzung mit Magie im Alten Testament und der rabbinischen Literatur ist durch eine ebensolche Unterscheidung zwischen dem Selbst und dem Anderen geprägt, wie wir sie gerade kennengelernt haben. 26 Ausnahmslos wird Magie auf fremde und verunreinigende Einflüsse von außen zurückgeführt, während sich die Orthodoxen selbst als »Israel« definieren. So greift die Weisheit Salomos (2. Jh. v. Chr., aus Ägypten) ein altes deuteronomistisches Thema neu auf: »Darum bestrafst du die Sünder nach und nach; du mahnst sie und erinnerst sie an ihre Sünden, damit sie sich von ihrer Schlechtigkeit abwenden und an dich glauben, Herr.« (Weish 12,2-3). Traditionen über die nordöstlichen Feldzüge des Judas Makkabäus gegen die griechischen Seleukiden unter Gorgias (II Makk 12,32-45) sehen die Ursache des Todes der gefallenen Juden darin, daß sie der ausländischen Sitte gefolgt seien, Amulette zu tragen (»die heiligen Zeichen der Götzen von Jamnia«, II Makk 12,40). Dies aber, fügt der Autor explizit hinzu, »verbietet das Gesetz«. Auch in rabbinischen Texten wird Magie weithin als charakteristisches Verhalten von Außenstehenden wahrgenommen, sie wird verdammt als ein Überbleibsel der untergegangenen Kulturen des Landes und böswilliger Fremder, die noch jetzt das Land bewohnen. Trotz dieser Sicht, wonach Magie die Praxis der Fremden ist, konnte man Vorwürfe der Magie gegen Angehörige des eigenen Volkes richten, wenn man ihr Verhalten als Abweichung von rabbinischer Orthodoxie wahrnahm. Insofern wurden die der Magie Bezichtigten aus dem Zentrum rabbinischer Tradition gleichzeitig entlang zweier Linien ausgeschlossen: Sie wurden sozusagen »horizontal« in geographischer Hinsicht aus dem Gebiet des Judentums in die Welt außerhalb Israels ausgestoßen und zugleich »vertikal« marginalisiert, indem man sie aus der Beziehung zu Gott ausschloß, deren Gestaltung rabbinisch-orthodoxen Maximen folgte. Zwei Texte, die für die neutestamentliche Zeit von Belang sind, sollen dies zum Abschluß verdeutlichen. Einige Passagen der Mischna befassen sich mit der Person des Hexers (makhshef) und unterschieden, um dieses offensichtlich beunruhigende Phänomen zumindest unter begriffliche Kontrolle zu bekommen, zwischen Verhaltensweisen, die als unbedenklich galten, und anderen, denen ein strenges Verbot auferlegt war. Im Traktat Sanhedrin ist zu lesen, daß die Praxis der Hexerei (kishuf) das Überschreiten der Grenze zwischen Menschlichem und Göttlichem impliziert, die durch rabbinische Bestimmungen markiert war. In mSanh 7,7 werden Wahrsagerei und der Besitz ZNT 7 (4. Jg. 2001) 21 Melissa Aubin Beobachtungen zur Magie im Neuen Testament eines »Hausgeistes« (Handlungen, die bereits in Dtn 18,10f. untersagt sind) mit dem götzendienerischen Kult des Fremdgottes Moloch identifiziert: »Wer seine Nachkommen dem Moloch gibt (Lev 20,2), verdient Strafe nur, wenn er sie dem Moloch gegeben hat und sie durchs Feuer hat gehen lassen. […] Wer einen Hausgeist hat (Lev 20,27) - dies ist einer, der die Toten sprechen läßt aus den Achselhöhlen - und wer ein Wahrsager ist - dies ist einer, dessen Geist durch seinen Mund spricht - siehe, diese werden getötet durch Steinigen. Und der, der ihre Fälle untersucht, sei gewarnt (Lev 19,31; Dtn 18,10f.).« Die Passage greift in lebendiger Form biblische Bezüge zwischen Fremdheit/ Idolatrie und Magie auf, die noch Jahrhunderte später in talmudischen Auslegungen auftauchen. 27 Der Ausdruck »seine Nachkommen dem Moloch geben« setzt im übertragenen Sinn die Fremdheirat mit den Ammonitern mit dem Fremdkult des ammonitischen Gottes gleich und verdeutlicht die doppelte Sünde sozialer und religiöser Apostasie. Religiöses Abweichlertum wird illustriert durch die Vorstellung, seine Nachkommen durchs Feuer gehen zu lassen (Lev 18,21), eine Form der Verehrung Molochs, die regelmäßig in biblischen Texten begegnet (II Kön 16,3; 21,6; Jer 7,31; 19,5; 32,35). Durch den Bezug auf diese unglücklichen Vorläufer verortet die Mischna das Vergehen des Schuldigen in der biblischen Geschichte und grenzt ihn so aus. In einer rabbinischen Liste von rituell fragwürdigen Grenzfällen religiösen Verhaltens finden sich folgende Bestimmungen (sog. »Amoritischen Kapitel«): Dies sind die Wege des Amoriters (…): die, die ihr Kind zwischen den Gräbern umherzieht, der, der ein Polster unter seinen Schenkel bindet und einen roten Faden um seinen Finger, der, der Kiesel zählt und in das Meer oder einen Fluß wirft, der, der klatscht und schlägt und tanzt vor einer Flamme (…), der, der ein Stück Brot fallen läßt und dann sagt: »Gib es mir zurück, damit ich meinen Segen nicht verliere«. der, der ein Fenster mit Dornen zustopft, der, der ein Stück Eisen an das Bein eines Bettes mit einer Frau in Wehen bindet, der, der einen Tisch vor ihr deckt - aber es ist erlaubt, das Fenster mit Decken zuzustopfen oder mit Garben, und einen Becher mit Wasser vor sie hin zu stellen und eine Henne anzubinden, um ihr Gesellschaft zu leisten. 28 Auch hier fällt sofort die »Historisierung« der aufgezählten Verhaltensweisen auf. Im Alten Testament bezeichnet der Begriff »Amoriter« kanaanäische Stämme, die Mose und Josua besiegte. 29 Sie galten bereits im Alten Testament als typische Götzendiener. 30 Die Rabbinen beziehen dieses Siglum freilich nicht auf solche Praktiken, die von Nichtjuden ausgeführt werden, sondern auf Handlungen, die bekannt und ortsüblich waren. Seidel schlägt darüber hinaus vor, daß der Begriff »amoräisch« eine geschickte Anspielung auf das hebräische Wort für »römisch« sei (amori/ romai) 31 und fügt so ein weiteres Beispiel dafür hinzu, daß der Vorwurf der Magie bestimmte Handlungen mit geographischen Mitteln als fremd konstruiert. Das Gegenstück dieser Konstruktion ist das in spätantik-rabbinischer Literatur oft wiederkehrende Thema der Zusammengehörigkeit Israels, nachdrücklich verdeutlicht in Polarisierungen, die Israel als rechtschaffen, einig, einzigartig, engelsgleich und überlegen abgrenzen von den frevlerischen, uneinigen, tiergleichen und tieferstehenden Fremdvölkern. 32 Derartige Charakterisierungen dienten dazu, die jüdische Identität auf dem Hintergrund der multikulturellen spätantiken Gesellschaft zu konsolidieren. Indem die Rabbinen Israels Identität als vereinte, »subjective collectivity« porträtierten, entfernten sie die oft verwirrende Vielfalt an Lebensformen von ihren Grenzen, die sie den Römern, Nichtjuden, rituell Zweideutigen und Abtrünnigen (minim) zuschrieben. 3. Zusammenfassung Daher kann Magie sowohl im Neuen Testament als auch in der zeitgenössischen Literatur mit Recht bestimmt werden als Instrument zur Etikettierung (labeling device), durch das sozio-kulturelle Unterscheidungen angezeigt werden, und weniger als exakte Bezeichnung bestimmter, inhaltlich zu definierender Handlungen sui generis. Jesus kann durchaus Taten vollbracht haben, die die einen als Magie, die anderen als Wunder bezeichnet haben, doch reichen die wenigen quellenkritisch zudem umstrittenen Traditionen sicher nicht aus, um Jesus im Sinne Smiths vollends zum »Magier« zu erklären. Maßgeblich ist der Standpunkt des Betrachters. Da den kanonischen Evan- 22 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Zum Thema gelien auch stets daran gelegen war, die frühen Gemeinden vor Verleumdung zu schützen und ihre Lehre als glaubwürdig darzustellen, werden (wie etwa bei Markus) dementsprechende Handlungen Jesu natürlich als ernstzunehmende Wunder dargestellt. Kaum ist das Christentum fester etabliert, verstärkt sich diese vorsichtig apologetische Haltung noch, so etwa in der Apostelgeschichte, wo prominente Vertreter frühchristlicher Gemeinden den Vorwurf der Magie ihrerseits gegen antichristliche Kritiker vorbringen und damit unter Beweis stellen, daß die beste Verteidigung gegen die Anklagen anderer immer noch ein beherzter Angriff auf die Gegner ist. Anders als ihre Rivalen diagnostizieren die Christen der Apostelgeschichte Magie stets bei anderen und beanspruchen sie nie für Ihresgleichen. Dadurch ziehen sie eine deutlich wahrnehmbare Grenze zwischen sich und den anderen in einer Welt, in der keine allgemein akzeptierten oder konsistenten Regeln existieren, mit denen man die Magie des einen vom Wunder des anderen unterscheiden kann. Anmerkungen 1 Übersetzt und leicht bearbeitet von Jürgen Zangenberg. 2 San Francisco 1971; A. Deißmann, Licht vom Osten. Das Neue Testament und die neuentdeckten Texte der hellenistisch-römischen Welt, Tübingen 2 1923; J. Samain, L’accusation de magie contre le Christ dans les Evangiles, EThL 15 (1938), 449-490. 3 E.R. Goodenough, Jewish Symbols of the Greco-Roman Period, New York 1953-1986. 4 J.G. Frazer, The Golden Bough. A Study in Magic and Religion, London 3 1980 (Nachdruck der Ausgabe von 1913). 5 W.J. Goode, Magic and Religion. A Continuum, Ethnos 14 (1949), 172-182. 6 H. Remus, »Magic or Miracle«? Some Second Century Instances, The Second Century 2 (1982), 127-156. 7 M. Swartz, Scholastic Magic, Princeton 1996, 65f. 215f. 8 P. Brown, Sorcery, Demons, and the Rise of Christianity, in: M. Douglas (Hg.), Witchcraft. Confessions and Accusations, London 1970, 17-45; D.E. Aune, Magic in Early Christianity, ANRW II 23/ 2 (1980), 1510-1557; S. Garrett, The Demise of the Devil. Magic and the Demonic in Luke’s Writings, Minneapolis 1989; J.Z. Smith, Towards Interpreting Demonic Powers in Hellenistic and Roman Antiquity, ANRW II 16/ 1 (1978), 425-439. 9 A.B. Kolenkow, A Problem of Power. How Miracle Workers Counter Charges of Magic in the Hellenistic World, SBL.Seminar Papers 1 (1975), 105-110. 10 S.D. Ricks, The Magician as Outsider in the Hebrew Bible and New Testament, in: M. Meyer/ P. Mirecki (Hgg.), Ancient Magic and Ritual Power, Leiden 1995 (RGRW 129), 131-143. 11 Herodot, 1,101; Strabo, 15,3,1. 12 In der Mitte des 5. Jh. v.Chr. erzählt Herodot, daß magoi als Traum- und Vorzeichendeuter fungierten und öffentliche und private Opfer als Mittler darbrachten (1,132). Herodots Skepsis gegenüber der Wirksamkeit der Riten der Magier (7,191) trug zu dem oft sarkastischen Ton bei, der dem Begriff magos seit dieser Zeit anhaftete. 13 Herodot, 1,101; Aristoteles, Fragmenta 36. 14 Zahlreiche Beispiele dieser Vorbehalte und ihrer Wirkung auf die Darstellung des Ostens bietet C. Edwards, The Politics of Immorality in Ancient Rome, New York 1993. 15 Vorbehalte gegen den »Osten« wurden in der republikanischen und kaiserzeitlichen Politik oft instrumentalisiert: Cornelius Hispallus verbannte die chaldäischen Astrologen aus Rom im Jahre 139 v. Chr. - offensichtlich auf der Grundlage, daß sie Magier waren (vgl. E. Tavenner, Studies in Magic from Latin Literature, New York 1916; J.E. Lowe, Magic in Greek and Latin Literature, Oxford 1929). Beide Autoren verzeichnen eine Serie staatlicher Zwangsmaßnahmen gegen Magier: im Jahre 33 v. Chr. werden Magier und Astrologen aus Rom vertrieben, zwanzig Jahre später ordnete Augustus an, alle Bücher okkulten Inhalts zu verbrennen. Im Jahr 16 n. Chr. wurden Magier und Astrologen aus Italien verbannt, was mit Edikten anderer Kaiser 69 und 89 n. Chr. erneuert wird. 16 Herodot, 1,140 beschuldigt Magoi der Inzucht, was wohl eine Übertreibung ist und eher auf die Hochschätzung der Arkandisziplin zurückgeht als auf tatsächliche Zustände. 17 Plinius d.Ä., Naturgeschichte, - 14-17; Plutarch, De Iside et Osiride 46f. 18 Heraklit 14; Sophokles, Oedipus tyrannus 3; Euripides, Orestes 1498; Platon, Rep 372e; Vettius Valens, Astrologus 74,14. 19 Apg 13,6-12; Josephus, Antiquitates 20,142; Philo von Byblos in Eusebius, Praeparatio Evangelica 1,10,52 (PG 21,90). 20 Josephus qualifiziert in Bellum 2,262f.; Antiquitates 20,92; 20,167f. Wundertäter mit diesem Begriff ab; vgl. auch Platon, Symposion 203d; Menon 80b; Gesetze 909a-e.932e; Aeschines 3,137; Kelsos in Origenes, Contra Celsum 1,71; 2,32.49; 8,41. 21 Origenes, In Numeri homilia 13,5 (PG 12, 672); Lukian, Menippus, 3-10; Tacitus, Annalen 2,27. 22 Das Zwölftafelgesetz (451/ 50 v.Chr.) verbot jedem ausdrücklich, die Früchte des Nachbarn durch Magie auf die eigenen Felder zu locken. Ein tatsächlicher Prozeß wegen Verletzung dieser Gesetze wurde vor Spurius Albinus im Jahre 157 v.Chr. gehalten (Plinius d.Ä., Naturgeschichte 18,41-43). Tacitus erwähnt einen Mann, der sich gegen Anschuldigungen zu Wehr setzen mußte, er ZNT 7 (4. Jg. 2001) 23 Melissa Aubin Beobachtungen zur Magie im Neuen Testament betreibe die »Riten der Magi« (Annalen 6,29). Kaiser Konstantin untersagt Rituale, die anderen schaden, erlaubt aber solche, die die Ernte bewahren (Codex Theodosianus 9,16,3); Gaius macht ähnliche Unterscheidungen (Digesten 50,16,232). Sogar »konstruktive« Magie wurde letztendlich verboten, und der Theurg, dessen Rituale weitgehend akzeptiert waren, behielt ein »wachsames Auge für die entgegegesetzten Meinungen der Kaiser« (Eunapius, Vitae 471). 23 Philostratus, Vita Apollonii 8,7,2f. 24 Vgl. Kolenkow, Problem. 25 Demonstratio Evangelica 3,103-134 (PG 22, 188-236). 26 Zusätzlich zu »Magiern« bringt die rabbinische Literatur die Idee der geographischen Fremdheit ins Blickfeld, wenn sie von Samaritanern spricht. Sie wurden viel öfter als »Kuthäer«, d.h. Nachkommen der fremdstämmigen Einwanderer aus dem östlichen Kutha, bezeichnet (vgl. yGit 1,4; bQid 75b; yQid 4,1; bYeb 24b; tTer 4,12; bHul 6a u.a) als mit ihrer biblischen Bezeichnung Shomronim (nur in GenR 81,3) (zu den Texten vgl. J. Zangenberg, S AMAPEIA. Antike Quellen zur Geschichte der Samaritaner in deutscher Übersetzung, Tübingen 1994 [TANZ 15], 96-106). Dies zeigt die Vorliebe der Rabbinen, sie als fernstehend zu kategorisieren. Siehe L. Schiffman, The Samaritans in Tannaitic Halakha, JQR 75 (1985), 323-350. 27 Nach bSanh 53a verdienen die, die »ihre Nachkommen dem Moloch« geben, die Todesstrafe und ihre Tat gilt als Hexerei. 28 TShab 6,1-5. 29 Amoriter als Volk aus der Frühzeit Israels werden erwähnt in tBM 2,12 (yBM 2,4; bBM 25b); bBer 54a; bKet 112a. 30 Vgl. Gen 15,16 (und entsprechend GenR 97,6), Ri 6,10; Jos 24,15; 1Kön 21,26; 2Kön 21,11). 31 J. Seidel, Charming Criminals. Classification of Magic in the Babylonian Talmud, in: Meyer, Magic, 161. 32 Vgl. MSanh 10,1; ExR 42,9; ySot 1,10; bShab 67a; yShab 6,9; LevR 4,6; PesRabbati 11,2; yNed 9,4; bQid 70a; ExR 15,6; Sifre Num 119; bHag 16a; bSanh 39ab; bMen 53ab; Sifre Dtn 97,344; yBer 7,18 im Gegensatz zu bQid 49b; mYeb 8,3 u.a; mToh 7,6; tToh 6,11; mKel 1,8; mPes 8,8; Pesiqta Rab Kahana 15,10. Die Völker werden als Hunde bezeichnet in MidTehillim 4,8 und 4,11; als Bären in bMeg 11a; bQid 72a; bAZ 2b; als Esel in bBer 25b. 24 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Zum Thema 1. Jesus unter Magieverdacht In der antiken christlichen Literatur stoßen wir vereinzelt auf Hinweise, daß Außenstehende Jesus explizit einen Magier nannten. Beispielsweise referiert Justin in seinem »Dialog mit dem Juden Trypho« 79,7 spezielle polemische Stimmen: »Sie wagten es sogar, Jesus einen Magier (magos) und Volksverführer (laoplanos) zu nennen.« In den apokryphen Pilatusakten wird Jesus unter anderem bei Pilatus mit den Worten angeklagt: »Er ist ein Magier! «. Kein Zweifel - Jesus stand seit Alters unter Magieverdacht. Wie ist dies zu beurteilen? Das Verhältnis Jesu zu antiken Magiern soll Thema der folgenden Ausführungen sein. Dabei soll es - und darauf sei zu Beginn hingewiesen - nicht darum gehen, ob einzelne Handlungen Jesu (etwa die Heilungen nach Mk 5 oder die Einsetzung des Abendmahls) bzw. einzelne Worte (»Hefata«) auch magisch zu verstehen wären, sondern das Thema sei von den oben zitierten Quellen vorgegeben: War Jesus ein Magier? 2. Die These von M. Smith : Jesus war ein Magier Mit der These vom Magiertum Jesu ist in der neueren Forschung der Name des Althistorikers Morton Smith verbunden, dessen detaillierte und materialreiche Studie »Jesus der Magier« 1 mit folgenden Spitzenaussagen resümiert werden kann: Der historische Jesus war ein Magier, dessen religionsgeschichtlicher Rahmen weniger durch das zeitgenössische Judentum (vgl. S. 253f.) als vielmehr durch die antiken Wandermagier beschreibbar ist. 2 Diese These und die nachfolgende Diskussion stützen sich v.a. auf zwei Themenbereiche, die eine Schaltstelle zur Magie bieten: 2.1. Die jesusfeindliche Polemik Die beiden oben widergegebenen Stimmen zu Jesus als Magier sind Beispiele einer Jesus- und christenfeindlichen Polemik, die spätestens seit dem 2. nachchristlichen Jahrhundert im »Wahren Wort« des Kelsos und bei der oben durch Justin kolportierten Aussagen greifbar ist. Smiths Argumentation verfolgt in diesem Zusammenhang eine Doppelstrategie: Erstens wertet er den antiken Magieverdacht gegen Jesus als Indiz für eine historische Tatsache: Jesus war tatsächlich ein Magier, und dies hat ein Echo in der gegnerischen Magiepolemik. 3 Zum anderen versucht er, diese schon lange vor dem 2. Jahrhundert, in der Zeit der synoptischen Tradition und sogar für die Lebenszeit Jesu nachzuweisen: Smith spielt hier immer wieder auf den Beelzebub-Vorwurf in Mk 3,20ff. an, dies treffe sich mit dem Magievorwurf der frühen antichristlichen Angriffe von jüdischer und heidnischer Seite. Die sorgfältige Rekonstruktion des durch die christliche Tradition angeblich unterdrückten Magieverdachts gegen Jesus macht nun den modernen Rekonstruktor selbst verdächtig, in einem geschlossenen hermeneutischen Zirkel zu argumentieren. Wenn Jesus beispielsweise nach dem Bericht der Evangelien - wie in Mk 5,13ff. - nicht so magisch wie erwartet reagiert, so liegt es nach Smith am Evangelisten, der die eigentliche magische Tradition herunterspielt (S. 191f.). Der methodische Ansatz, Nichtmagisches durch antimagische Korrektur oder durch Unterdrückung älterer Traditionen zu erklären, schafft hier ein selbstimmunisierendes System für die eigene Position. In diesem Zusammenhang erscheint auch die Trennung von »primären« und »sekundären« Traditionen als willkürlich; primär sind nach Smith diejenigen Traditionen, die eine Nähe zur Magie aufweisen, sekundär bzw. »Gemeindebildung« sind die nichtmagischen Traditionen (beispielsweise die Lehre Jesu) (S. 222f.). 2.2. Die Wunder- und Exorzistentätigkeit Jesu Zentral für Smiths Argumentation ist die Beobachtung, daß die Hauptlinien in allen vier Evangelien Zum Thema Peter Busch War Jesus ein Magier ? ZNT 7 (4. Jg. 2001) 25 Jesus als Wundertäter darstellen (S. 30); darum liegt nach Smith der Vergleich mit zeitgenössischen Wundertätern nahe, zuvörderst Apollonios von Tyana, der in der Überlieferung als Magier dargestellt wurde (S. 154). Jesus wird also in Zusammenhang mit »Wundertätern« gebracht, und diese Diskussion war in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, zur Zeit der Entstehung von Smiths Thesen, heftig im Fluß. Nach den weiter zurückliegenden Überlegungen zum »göttlichen Menschen« seit L. Bieler, 4 wurde damals einerseits vorgeschlagen, Jesu Wunder- und Exorzistentätigkeit in ein allgemeines, gemeinantikes Denkmuster einzuordnen (hier ist insbesondere O. Böcher zu nennen 5 ), andererseits, Jesus zu speziellen Wundertätern in Verbindung zu setzen. In letzterem Zusammenhang ist parallel zur Zuordnung Jesu zu jüdischen Charismatikern eines speziellen nordgaliläischen Typs durch G. Vermes 6 Smiths Vorschlag zur Einordnung Jesu in die Reihe gesamtantiker Magier zu werten. Damit ist Smiths These vom »Magier« Jesus - rein forschungsgeschichtlich gesehen - nichts anderes als ein ausführlich begründeter Vorschlag für einen speziellen religionsgeschichtlichen Hintergrund der Wunder und Exorzismen Jesu, der sich bewußt an der antiken Zauberliteratur orientiert. Nun hat sich knapp ein viertel Jahrhundert nach Smiths Thesen die poinierte und oftmals auch als skandalös aufgefaßte Spitzenaussage, Jesus sei tatsächlich Magier gewesen, in der Forschung nicht durchsetzen können. 7 Doch auch ohne diese Pointe Smiths bleibt die Frage nach der Nähe Jesu zur antiken Magie, die Smith materialreich zu belegen versuchte. Bei neueren Arbeiten zu den Wundern und Exorzismen Jesu ist eine ambivalente Haltung der Exegeten zur Verhältnisbestimmung Jesu zur antiken Magie erkennbar: Trotz einzelnen Tendenzen zur Distanzierung Jesu von magischen Praktiken 8 wird dennoch in neueren Arbeiten auf die Zauberpapyri, auf Amulettinschriften oder auf die Beschwörungspraxis verwiesen. Damit ist die bleibende Bedeutung von Smiths Studie darin zu sehen, daß er für die selbstverständliche Rezeption antiker magischer Texte bei der Jesusforschung einen entscheidenden Beitrag leistete, wenn auch seine Identifikation Jesu mit einem Magier heute so nicht allgemein akzeptiert wird. Damit ist die neutestamentliche Zunft nach wie vor zu einer Verhältnisbestimmung angehalten: Was hat denn nun Jesus mit einem antiken Magier gemeinsam? Wenn er auch nicht mit einem identisch ist - wo wären die Vergleichspunkte? Zur Beantwortung dieser Fragen sollen die folgenden Überlegungen einen Beitrag leisten. 3. Methodische Vorgaben für die Diskussion nach M. Smith Dringend für die oben gestellten Fragen notwendig ist eine religionsgeschichtlich abgesicherte Skizze zu antiken Magiern, und hier ist das religionsgeschichtliche Material seit Smiths Studie schon deutlich besser aufbereitet, was sich besonders an der Edition neuer magischer Textsammlungen und Hilfsmittel festmachen läßt, die Smith noch nicht kennen konnte. 9 Doch außerdem sind es zwei Punkte, die wir aufgrund der aktuellen Diskussion über Smiths Ausführungen zu antiken Magiern (insbesondere S. 143-163 der deutschen Ausgabe) hinaus bedenken müssen: Erstens skizziert Smith einen Magier als Wundertäter in Analogie zu einem »göttlichen Menschen«, wie er in den Schriften Lukians und Philostrats erscheint. Obwohl er dabei schon in verschiedene Magier«typen« differenziert, 10 bleibt es doch bei der Rekonstruktion eines bestimmten »Typen«, wie es auch seinerzeit L. Bieler für die Gestalt des »typischen theios aner«, des göttlichen Menschen, geleistet hatte. Diese Typisierung der theios-aner-Gestalt wird in der neueren Forschung zugunsten einer historischen Entwicklung der entsprechenden Vorstellung abgelehnt. 11 Man geht nicht mehr davon aus, daß die unterschiedlichen Aussagen der antiken Quellen über Wundertäter sich wie Mosaiksteine zu einem »Typus« des Wundertäters zusammensetzen lassen; vielmehr nimmt man sie heutzutage als unterschiedliche Aussagen zu unterschiedlichen Zeiten wahr, die in ihrer historischen Entwicklung darstellbar wären. Zweitens ist es in der neueren Magierdiskussion Konsens, die Außensicht (wie stellen sich Griechen und Römer einen Magier vor? ) und die Innensicht (wie wird und was ist ein wirklicher Magier? ) streng zu unterscheiden. Hier ist besonders F. Grafs 12 neuere Studie über Magie und Schadenszauber zu nennen, der diese Differenzie- 26 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Zum Thema ZNT 7 (4. Jg. 2001) 27 Peter Busch War Jesus ein Magier ? Peter Busch Dr. Peter Busch, M.A., Jahrgang 1965, studierte in Tübingen und Heidelberg Theologie und Linguistik. Er arbeitet als Schulpfarrer an einem Gymnasium in Germersheim. rung methodisch betrieb. Es ist eben etwas anderes, ob jemand als Magier bezeichnet wird - und damit diffamiert oder gar angeklagt wird 13 -, oder ob jemand sich selbst als Magier bezeichnet. Eine derartige Unterscheidung hat Smith methodisch nicht betrieben. Seine Rekonstruktion eines antiken Magiers besteht mehrheitlich aus Fremdaussagen über Magier, und von der magischen Literatur werden hauptsächlich die magischen Zauberpapyri der Preisendanz’schen Sammlung erwähnt, dagegen spielen Amulette, Zaubertäfelchen und die archäologisch nachweisbaren Spuren der antiken Zauberkunst eine deutlich untergeordnete Rolle. Damit ist es eine ernstzunehmende Anfrage, ob Smith dem Bild eines Magiers - aus der Innensicht - gerecht geworden ist. Damit ist für die Frage nach dem Verhältnis Jesu zu antiken Magiern in der Diskussion nach Smith konstitutiv: 1. die magischen Primärquellen werden als verstreute Hinweise zu Tätigkeiten verschiedener Magier gelesen, auf die Rekonstruktion eines »Typs« wird verzichtet, 2. Auf der Rezeption der magischen Primärquellen durch Smith aufbauend werden v.a. auf Selbstäußerungen von Magiern Wert gelegt, weniger auf Äußerungen Dritter über vermeintliche »Magier«. 4. Magier als Tradenten und Nutzer magischer Fachliteratur Die griechischen Begriffe magos oder goetes haben mannigfache Bedeutungsnuancen und können Marktschreier ebenso wie Weise bedeuten. Im folgenden sollen »Magier« allerdings nicht als Fremdbezeichnung verstanden werden. »Magier« sind also nicht Menschen, die von anderen als »Magier« bezeichnet, oftmals sogar beschimpft und diffamiert werden. Die Magier, mit denen in den folgenden Ausführungen Jesus ins Verhältnis gesetzt werden soll, sind andere: Es geht um Menschen, die sich selbst als »magos« bezeichnen würden oder sich in die Tradition solcher »magoi« einreihen. Da diese Traditionen für uns zuvörderst in der antiken Zauberliteratur, den Amuletten, Fluchtäfelchen und magischen Inschriften greifbar sind, nennen wir »Magier« in den weiteren Ausführungen Tradenten und Nutzer der antiken magischen Fachliteratur. Bislang ist eine historische Skizze dieser antiken Magier, trotz Myriaden von Untersuchungen zur antiken Magie, noch ein Desiderat. Dies dürfte auch an der Quellenlage selbst liegen, denn erstens sind die Originalstimmen antiker Magier überlagert von vielfältiger (oft polemischer) Fremdbezeichnung. Zweitens - und so geht es aus den Zauberpapyri an mehreren Stellen hervor - wird die magische Literatur oft als Geheimliteratur verstanden, so daß die Überlieferung durch mangelnde Abschriften als sehr lückenhaft angenommen werden muß. 5. Jesus und die Tradenten und Nutzer der magischen Fachliteratur Doch gehen wir von dem aus, was wir an magischen Überlieferungen haben und stellen salopp die Frage: Wäre den Tradenten und Nutzern der magischen Literatur Jesus als Kollege plausibel? 14 Die Blickrichtung der folgenden Ausführungen ist also diametral zu der von M. Smith: Während Smith von der Jesusüberlieferung ausging und Ausflüge in das Thema Magie unternahm, wird in den folgenden Zeilen die magische Tradition als Ausgangspunkt genommen und von dort aus in die Jesusüberlieferung geschaut. Von dieser Perspektive erscheint zunächst vieles fremd und unvereinbar: 5.1. Eingang in den Traditionskreis Wie wird man Teil dieses Kreises der Benutzer und Tradenten magischer Literatur? F. Graf 15 hatte in seiner Studie auf die besondere Initiation des Magiers hingewiesen. Schon A. Dieterich, der womöglich einflußreichste Initiator der deutschsprachigen Magieforschung, hatte im »großen Pariser Zauberpapyrus« in PGM 4,475-829 eine magische Initiation zu rekonstruieren versucht, die an die Mysterienpraxis erinnert. 16 Demnach ist es möglich, daß einige Magier ihre Zugehörigkeit zur magischen Tradition durch eine Initiation bzw. eine magische Lehrzeit begründet haben könnten. Für die Jesustradition bildeten diese außerbiblischen Hinweise auf den Eintritt in die magische Traditionskette schon früh ein Einfallstor für magische Diffamierungen von außen, wie es aus den bei Origenes überlieferten Fragmenten des Kelsos zu ersehen ist. 17 Der matthäische Kindheitsbericht von der Flucht nach Ägypten wird dann als hauptsächliche Nahtstelle dafür angenommen, daß Jesus in Ägypten Glied der magischen Traditionskette wurde. Doch ist die »Flucht nach Ägypten« wie auch die Taufe Jesu nur mit weitreichenden Zusatzannahmen als Einführung Jesu in die Tradition der Magie deutbar. 5.2. Die magische Gelehrsamkeit Schon ein erstes Durchblättern der magischen Texte zeigt, daß die Tradenten der magischen Texte oftmals große Kenntnisse in der einschlägigen Fachliteratur besaßen. Magie zeigt sich hier als Buchwissenschaft, wie es sich auch im NT in Acta 19,19 mit der Verbrennung der »Zauberbücher« niederschlägt. Diese Bücher werden vom Tradentenkreis gelesen, es werden Hinweise zur (oft göttlichen) Entstehungsgeschichte der Texte weiter tradiert, wie in PGM 7,863: »Dieses Buch, zwölf Göttern eigen, wurde in Aphroditopolis gefunden, bei der größten Göttin Aphrodite Urania«, und man zitierte ausführlich aus anderen Werken, wie es aus PGM 13,24ff. deutlich wird: 18 Wie der Gotteskünder (theologos) Orpheus überliefert hat in seiner »Parastichis«: (Zauberworte), Erotylos in den »Orphica«: (Zauberworte), Hieros aber folgendermaßen: (Zauberworte), wie aber der heilige Name in der Schrift an König Ochos von Thphe, dem Hieroglyphenschreiber ausgesprochen wird: (Zauberworte), in den Erinnerungen des Euenos heißt es, der Name klinge bei den Ägyptern und Syrern (Zauberworte), nach Zoroaster dem Perser: (Zauberworte), in den Schriften des Purros aber: (Zauberworte), nach Mose aber in der »Archangelike« 19 : (Zauberworte), wie es aber im »Gesetz« auf hebräisch gelöst wird: Abraam, Isak, Iakob, aeo, eoa, oae, Ieu iee, ieo, Iao ia, ie,ao,ee,oe,eo, wie es aber im fünften Buch der Ptolemaika »eins ist auch das Ganze«, in diesem vortrefflichen Buch lautet (es beinhaltet die Entstehung des Geistes von Feuer und Finsternis): Herr der Ewigkeit, der Allschöpfer, alleiniger Gott, Unaussprechlicher (Zauberworte), und der große Name in Jerusalem, mit dem man das Wasser herauslockt, wenn sich keines in der Zisterne findet: (Zauberworte). Wie man sieht, wird hier eifrig aus der früheren magischen Literatur zitiert. Die Tradenten müssen demnach Auszüge dieser Literatur bzw. eine Fachbibliothek zur Verfügung gehabt haben, sonst wäre eine derartige Kompilation magischen Materials nicht leistbar. Es werden Auszüge aus früheren Büchern angefertigt (vgl. PGM 3,424ff: »Abschrift aus den Heiligen Büchern«), es werden zu einem speziellen Thema aus mehreren Büchern Variantenkataloge zusammengestellt (beispielsweise in PGM 2,44ff) - kurz, magische Literatur wird eifrig gelesen und weiter fortgeschrieben. Darum ist es methodisch auch legitim, die (gemessen an der Jesusüberlieferung) zumeist späteren magischen Texte als religionsgeschichtlichen Hintergrund für das NT heranzuziehen: Der Traditionsprozess dieser Literatur dürfte zeitlich sogar noch vor die Entstehung des NT zurückreichen. Durch diese knappen Beispiele wird angerissen, daß antike Magie etwas mit literarischer Gelehrsamkeit zu tun hat und sich antike Magier als Experten einer einschlägigen Fachliteratur erweisen. Dies alles ist nun bei der Jesusüberlieferung nicht zu erkennen. Nirgends wird angedeutet, daß Jesus spezielle magische Bücher rezipiert oder an der magischen Gelehrsamkeit teil hatte. 5.3. Die magische Fachsprache Bei intensiver Lektüre der magischen Literatur wird deutlich, daß sich in der Tradition dieser Texte eine regelrechte Fachsprache herausgebildet hat. Eine magische Handlung ist eine »praxis«, ein Zauberspruch ein »logos«, eine Dämonen- oder Götterbeschwörung ein »exorkismos«, ein Liebeszauber ein »philtron«, die Herbeiführung eines 28 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Zum Thema Dämons eine »agoge«. Eine fundierte Darstellung dieser Fachterminologie - letztendlich eine »Formgeschichte der Magie« - ist ein dringendes Desiderat und bislang noch nicht erarbeitet. Nur soviel zeichnet sich ab, daß sich diese Fachterminologie - wenn überhaupt - nur in Spuren in der Jesusüberlieferung niederschlägt. Das Wort »exorkismos« beispielsweise als theoretischer Fachbegriff kommt in der ntl. Jesusüberlieferung nicht vor, ebensowenig »philtron« oder »agoge« (und außerhalb der Jesusüberlieferung in II Tim 3,10 keinesfalls als magischer Fachterminus). Obwohl Jesu Exorzismusbefehl (horkizo …) oder auch die Verwendung etwa von »desmos« in Mk 7,35 durchaus in magischem Kontext gelesen werden könnten, so ist eine breite Verwendung der magischen Fachsprache in der Jesusüberlieferung nicht belegbar. 5.4. Die professionelle Anwendung der magischen Texte Magische Literatur und magische Gelehrsamkeit sind kein Selbstzweck, sondern zielgerichtet: In den zahlreichen Anweisungen zur Anwendung wird deutlich, daß das Theoretische auch professionell in die Tat umgesetzt werden soll. Besonders J. Gagers 20 Buch stellt eine Auswahl der Anwendungsgebiete für Magie zusammen: unglücklich Verliebte versprechen sie durch magische Praxis eine innige Beziehung mit den Angebeteten, Circusbesucher einen günstigen Ausgang der Spiele und reichen Wettgewinn, Kranke ersehnen Heilung, Prozeßgegner ein günstiges Urteil, und privat Verfehdete schicken sich gegenseitig Tod und Teufel auf den Hals. So gesehen könnte man die vielen verschiedenartigen Begriffsbestimmungen der antiken Magie in eine teleologische Definition kanalisieren: Magie erweist sich aufgrund der Wahrnehmung der magischen Literatur als Problemlösesystem für den Alltag. Man könnte sich durchaus vorstellen, daß Menschen in der Antike zur Lösung ihrer Alltagsprobleme - vielleicht analog zur modernen Konsultation eines Therapeuten, Seelsorgers oder eines Börsenberaters - einen Magier aufsuchten, der ihnen per Auftragsarbeit Hilfe versprach. 21 Der Magier konnte in seiner Bibliothek die entsprechende »praxis« leicht nachschlagen - schließlich sind in der erhaltenen Zauberliteratur die Handlungsanweisungen per Überschriften so deklariert, daß sie ein schnelles Finden ermöglichten: Beispielsweise gliedern folgende Überschriften den oben schon zitierten »großen Pariser Zauberpapyrus« (PGM 4) von Zeile 286-469: »Pflanzenhebung« - »Wunderbarer Liebeszwang« - »Groll bannen«. Der Magier konnte so schnell die gewünschte »praxis« heraussuchen, setzte in die Namensleerstellen (die im Griechischen mit »to deina« bezeichnet sind, was unserem »N.N.« = »Nomen Nominandum« entspricht) die aktuellen Namen ein und führte das Ritual aus. Ein Liebhaber konnte somit per Auftragsarbeit seine Nebenbuhler ausschalten, gleichzeitig konnten allerdings auch seine Konkurrenten gegen ihn Magie in Auftrag geben. Diese kuriose Szenerie ist übrigens archäologisch gut bezeugt: Auf der Athener Agora wurden zwei Verfluchungstäfelchen gefunden, die beide mit der gleichen geübten Handschrift beschrieben waren und die mit dem gleichen Verfluchungsformular einmal die Zuneigung zweier Männer zu einer Frau, dann die ebendieser Frau zu ihrem eigentlichen Geliebten unterbinden sollen. 22 Hier konnte wohl ein und derselbe Magier zwei direkte Konkurrenten gleichzeitig bedienen. Nun geht aus der Jesusüberlieferung mitnichten hervor, daß Jesus in seiner Eigenschaft als Wundertäter auf magische Formeln oder die magische Fachliteratur zurückgriff. Es ist - gerade bei Mk - die »Vollmacht Jesu« oder auch der »Geist«, der hier als Konzept an der Stelle der magischen Gelehrsamkeit steht. 6. Resümee Berührungspunkte zwischen den »Magiern« im oben bezeichneten Sinne und Jesus bestehen sicherlich in den Handlungsfeldern Krankenheilungen, Exorzismen, Sättigung von Menschen. Dies sind Alltagsprobleme, die nach der Jesusüberlieferung durch Jesus und nach der Zauberliteratur durch Magie gelöst werden konnten. Doch dies ist - aus der Perspektive der Zaubertexte - nur eine kleine Schnittmenge. Wir erfahren nichts davon, daß Jesus einen Liebeszauber für einen anderen Menschen ausübt, daß er eine Wunderhandlung für einen günstigen Wettausgang einleitet oder daß er durch entsprechende Praktiken einen Gerichtsprozeß manipuliert. Das Segment, das Jesus als ZNT 7 (4. Jg. 2001) 29 Peter Busch War Jesus ein Magier ? Wundertäter aus der Sicht der magischen Literatur bestreicht, ist nicht sehr groß. Vielleicht könnte man es mit dem Begriff »direkte Leiblichkeit« 23 abgrenzen: Jesus handelt überall dort, wo der Leib des Menschen direkt affiziert ist durch Krankheit, Unreinheit, Besessenheit, Hunger und Durst. In diesem Aktionsfeld spielen sich dann seine Wunderhandlungen ab. Hätten sich dann Jesus und die »Magier« in oben bezeichnetem Sinne über ihre Tagesgeschäfte ausgetauscht, so wären sie nach den obigen Ausführungen wahrscheinlich einander fremd gewesen: Eventuelle magische Lehrjahre, die magische Literatur, die magische Fachsprache und die magische Gelehrsamkeit als Grundlage für Exorzismen und Wunderhandlungen wären jedenfalls keine verbindenden Elemente gewesen. Aus diesem Grund hätten die Tradenten und Nutzer der antiken magischen Literatur (dieselben mögen dem Autor die ungeschützte Steilheit seiner Schlußthese nachsehen) Jesus kaum als Kollegen akzeptieren können. Anmerkungen 1 Smiths Buch Jesus the Magician, New York 1978, erschien deutsch unter dem Titel Jesus der Magier, München 1981 (im folgenden wird die deutsche Ausgabe zitiert). Als zusammenfassende Besprechung ist besonders die Rezension von J. Bühner, Jesus und die antike Magie. Bemerkungen zu M. Smith, Jesus der Magier, in: EvT 43, 1983, 156-175 zu empfehlen. 2 Vgl. die zusammenfassende Rekonstruktion vom Leben des Magiers Jesus bei Smith, 235ff. 3 Freilich ist an dieser Stelle auf andere Möglichkeiten zur Deutung des antiken Magieverdachts gegen Jesus hinzuweisen, nämlich als reine unhistorische Polemik, beispielsweise als späte Legitimation der Kreuzigung Jesu im Rahmen des römischen Prozeßrechts. Jesus ist dann also keinesfalls Magier gewesen, die postulierte Nähe zur Magie ist gegnerische Unterstellung, vgl. hierzu E. Bammel, Jesus der Zauberer, in: E. Bammel, Judaica et Paulina. Kleine Schriften II (WUNT 91), Tübingen 1997, 3-14. 4 L. Bieler, Theios Aner. Das Bild des ›göttlichen Menschen‹ in Spätantike und Frühchristentum I/ II, Wien 1935/ 36 (ND Darmstadt 1976). 5 O. Böcher geht in den beiden eigenständig veröffentlichten Teilen seiner Habilitationsschrift Dämonenfurcht und Dämonenabwehr. Ein Beitrag zur Vorgeschichte der christlichen Taufe (BWANT 90), Stuttgart/ Berlin 1970 und Christus Exorcista. Dämonismus und Taufe in Neuen Testament, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1972 von der allgemeinen Präsenz dämonischen Denkens in der antiken Weltsicht aus. Die Furcht vor Dämonen und die Entwicklung von Praktiken zu deren Abwehr seien gemeinantik und in jüdischer Ausprägung in die neutestamentliche Literatur eingegangen. 6 G. Vermes, Jesus the Jew: A Historian’s Reading of the Gospel, London 1973 (deutsch 1993). 7 Vgl. M.A. Powell, Jesus as a Figure in History. How Modern Historians View the Man from Galilee, Louisville 1998, 57: »Smith’s study has not found wide acceptance among historical Jesus scholars«. 8 Zu einer Distanz Jesu zur antiken Magie tendieren in jüngerer Zeit G. Twelftree, Jesus the Exorcist (WUNT II/ 54), Tübingen 1993, der Jesus primär im Rahmen des zeitgenössischen Exorzismus ansiedelt (vgl. ebd., 141- 156), ihn aber dennoch von der Magie distanziert, indem er betont, daß Jesus einige magische Techniken nicht anwendete, beispielsweise Zaubergeräte (ebd., 157ff.), Beschwörung höherer Mächte, (ebd., 159ff.), Beweis für den Erfolg (aaO., 164f.). Weiterhin stellt D. Trunk, Der Messianische Heiler. Eine redaktions- und religionsgeschichtliche Studie zu den Exorzismen im Matthäusevangelium, Freiburg, Basel, Wien 1994 (bes. 236) heraus, daß Jesus eher aufgrund seiner unmittelbaren charismatischen Autorität wirke und weniger durch (magische) Rituale und Beschwörungen. Dagegen läßt die differenzierte und ausführliche Studie von B. Kollmann, Jesus und die Christen als Wundertäter. Studien zu Magie, Medizin und Schamanismus in Antike und Christentum, Göttingen 1996 (bes. 312ff.) Jesus in einigen Aspekten und mit Abstrichen als Magier gelten. Als besondere Stimme ist in diesem Zusammenhang J.D. Crossan, The Historical Jesus: The Life of a Mediterranean Jewish Peasant, San Francisco 1991 (deutsch 1994) zu nennen, der G. Vermes’ Thesen aufgriff, dabei allerdings die Eingrenzung eines speziell nordgaliläischen Charismatikertyps nicht gelten ließ, sondern diesen Typ als Vertreter einer gemeinantiken jüdischen Volksreligion sah und Jesu dort einordnete. 9 Was die Kenntnisse magischer Zeugnisse anbetrifft, so konnte Smith auf mannigfache Vorarbeiten zurückgreifen, beispielsweise auf folgende Zusammenstellungen magischen Materials: die klassischen Sammlungen der Fluchtäfelchen (Defixionen) von R. Wünsch, Inscriptiones Atticae Aetatis Romanae, Defixionum Tabellae (IG III,3, Appendix), Berlin 1897 und von A. Audollent, Defixionum Tabellae, Paris 1904. An umfangreichen Anthologien der Zauberpapyri waren u.a. benutzbar: F.L.I. Griffiths/ H. Thompson, The Demotic Magical Papyri of London and Leiden I-III, London 1904-1921, die unersetzliche Zusammenstellung der Zauberpapyri (PGM = Papyri Graecae Magicae, Bände I-III) von K. Preisendanz, Leipzig/ Berlin, 1928-41 und die Sammlung mandäischer Beschwörungen von E.M. Yamauchi, Mandaic Incantation Texts. American Oriental Series 49, New Haven 1967. Doch schon ein Blick in die Ausgaben der ZPE seit 1978 30 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Zum Thema zeigt, wie zahlreich magische Texte seitdem veröffentlicht wurden. Unter den hilfreichen und leicht zugänglichen magischen Textsammlungen, die Smith noch nicht benutzen konnte, seien genannt: Die um koptisches Material erweiterte englische Fassung der PGM von H.D. Betz, The Greek Magical Papyri in Translation, including the demotic spells, Chicago/ London, 1986; das Repertorium von D. Jordan, A Survey of Greek Defixiones not Included in the Special Corpora, in: Greek, Roman and Byzantine Studies 16, 1985, 151- 197; die drei Bände von R. Merkelbach/ M. Totti (Hgg.), Abrasax. Ausgewählte Papyri religiösen und magischen Inhalts, 1990-1992, die Sammlung koptisch-christlicher magischer Texte von M. Meyer/ R. Smith, Ancient Christian Magic. Coptic Texts of Ritual Power, New York, 1994, die beiden Bände zu aramäischen Zauberformeln von J. Naveh/ S. Shaked, Amulets and Magic Bowls. Aramaic Incantations of Late Antiquity, Jerusalem 1985 und Magic Spells and Formulae. Aramaic Incantations of Late Antiquity, Jerusalem 1993, die wichtigen Studien zur jüdischen Magie von P. Schäfer/ S. Shaked, Magische Texte aus der Kairoer Geniza, Bde. 1-2, Tübingen 1995/ 1996; die hilfreiche Sammlung magischer Texte von J. Gager, Curse Tablets and Binding Spells from the Ancient World, Oxford 1992 - um nur eine Auswahl zu nennen. 10 Vgl. Smiths Ausführungen S. 147 über den Straßengaukler bei Orig, Cels 1,68: »Das Bild ist jedoch Karrikatur. Es stellt nur den untersten Typus des antiken Magiers dar. Wir haben andere Typen gesehen; die Bezeichnung erfaßt ein soziales Spektrum, das von Straßenjungen bis zu den Lehrern Neros reicht.« 11 Vgl. den neueren zusammenfassenden Überblick von E. Koskenniemi, Apollonius of Tyana: A typical theios aner? , in: JBL 117/ 3, 1998, 455-467. 12 F. Graf, Gottesnähe und Schadenzauber. Die Magie in der griechisch-römischen Antike, München 1996. Vgl. hierzu auch die Panel Discussion: F. Graf, Magic in the Ancient World, in: Numen 46/ 3, 1999, 291-325 von S. Johnston. 13 Magischer Schadenzauber war schon seit dem Zwölftafelgesetz Kapitaldelikt. Zur juristischen Seite der Magie und den beiden bekannten Magieprozessen der lateinischen Literatur vgl. Graf, Gottesnähe, 58ff. 14 Die hier geforderte Plausibilität unterscheidet sich m.E. von dem »historischen Plausibilitätskriterium«, das in der ausführlichen Studie von G. Theißen/ G. Winter, Die Kriterienfrage in der Jesusforschung. Vom Differenzkriterium zum Plausibilitätskriterium, Göttingen 1997, skizziert wird, da eine Verortung Jesu im Judentum / Christentum von vorn herein axiomatisch anerkannt werden kann, in der »Magie« allerdings nicht. Somit können bei den folgenden Ausführungen zum Unterschied zwischen der magischen Tradition und der Jesusüberlieferung die beiden von Theißen/ Winter aufgestellten Aspekte des Differenzkriteriums DKJ (Differenz zum Judentum) und DKC (Differenz zum nachösterlichen Christentum) nicht einfach um ein »DKM« (Differenz zur Magie) ergänzt werden, weil die Verortung Jesu in der magischen Tradition der Zauberpapyri nicht von vorne herein angenommen werden kann. 15 F. Graf, 1996, Gottesnähe, 83ff. 16 A. Dieterich, Eine Mithrasliturgie, Leipzig 1903; in der weiteren Diskussion wurde von H.D. Betz, Secrecy in the Greek Magical Papyri, in: Kippenberg/ Stroumsa (Hgg.), Secrecy and Concealment: Studies in the History of Mediterranean and Near Eastern Religions, Leiden 1995, 153-175 als Vergleich die oft zitierte Initiation des Apuleius in den Isiskult in Apul Met 11 herangezogen (bes. S. 169ff.). Vgl. zum Text Merkelbach/ Totti, Abrasax 3, 155-183 (Pschai-Aion-Liturgie). 17 Vgl. Orig, Cels 1,28: Jesus hat seinen Lebensunterhalt in Ägypten bestreiten müssen und dort auch Magie gelernt. Zur Rezeption bei M. Smith, Magier, 104ff. 18 Knappe Kommentierung bei Betz, 1986, a.a.O. (Anm 9), 193f. 19 Die »Archangelike« des Mose, die wirkmächtige Zaubernamen enthält, ist auch in der »Titellosen Schrift« in den »Nag-Hammadi-Codices« (NHC) 2,5,102,8f. erwähnt. Auch hier geht es um die Wirkmacht von Namen. Reitzenstein, Poimandres. Studien zur griechischägyptischen und frühchristlichen Literatur, Leipzig 1904, 292f. wies schon vor der Entdeckung der Nag- Hammadi-Codices auf eine mögliche mittelalterliche Zitierung dieser Schrift hin. Zum Ganzen vgl. J. Gager, Mose in Greco-Roman Paganism (JBL Monograph Series XVI) Nashville/ New York 1972, 150. 20 J. Gager, 1992, Curse Tablets. Dieser teilte inhaltlich ein in: Defixionen zu Wettspielen, zum Bereich der Erotik, zum Gerichtswesen, zu Geschäft, Handel und Ausschank, für Gerechtigkeit und Rache; neben Tafeln gemischten Inhalts zählt er Tafeln mit Gegenzaubertexten als eigene Kategorie. 21 Ebd., 118, hat hier eine Szenerie entworfen, nach der ein Magier seinem Kunden für dessen Bedürfnisse mehrere Optionen - gestuft nach der Höhe der Vergütung - zur Auswahl anbot und nach der Wahl des Kunden den Text auf einem Metallplättchen niederlegte bzw. in einen schon vorher ausgearbeiteten Text die notwendigen Namen und einige Details zum vorliegenden Fall eintrug. Daraufhin sorgte der Magier dafür, daß das Täfelchen an einen wirkmächtigen Platz deponiert wurde. 22 Es handelt sich um Tafel 8 und 9 der 17 in »well V« der Athener Agora gefundenen Bleitafeln, vgl. D. Jordan, Defixiones from a Well Near the Southwest Corner of the Athenian Agora, in: Hesperia 54 (1985) 198-252. 23 Bei diesem Vorschlag ist »Leib« verstanden mit Berger, Historische Psychologie des Neuen Testaments (SBS 146/ 147), Stuttgart 1991, 83ff. als dem Menschen zugehöriger »Herrschaftsbereich Gottes oder der Sünde«. ZNT 7 (4. Jg. 2001) 31 Peter Busch War Jesus ein Magier ? Die Welt der Apostel ist voller Wunder. Dies gilt nicht nur für die neutestamentliche »Apostelgeschichte«, die von den Anfängen des Christentums erzählt und dabei bereits mit den Erscheinungen des von den Toten auferstandenen Jesus bei seinen Jüngern und seiner Himmelfahrt einsetzt. Es gilt bei genauer Lektüre auch von den Briefen des Paulus, der großen Wert auf die Bezeichnung als Apostel legt. Dabei begegnen uns die Apostel in diesen Schriften einerseits selbst als Wundertäter, andererseits als Zeugen und als Objekte der Wundertätigkeit Gottes. Für heutige Leserinnen und Leser - mindestens für sie - ist die Welt der Apostel mit all ihren Wundern eine fremde Welt. Die folgenden Seiten gehen von der Grundannahme aus, daß eine fremde Welt nicht verstanden werden kann, wenn man sie stillschweigend den eigenen Vorstellungen von Wirklichkeit anpaßt, sondern nur, wenn man bereit ist, sie als fremde Welt wahr- und ernstzunehmen, und sich bemüht, sie in ihren eigenen kulturellen Bezugsrahmen einzuzeichnen. Mit Stefan Alkier will ich zwischen dem »Diskursuniversum« des einzelnen Textes und der »Enzyklopädie« als dem übergeordneten kulturellen Bezugsrahmen unterscheiden. 1 In diesem Sinne sollen im folgenden zuerst kurz die Wunderaussagen in den paulinischen Briefen betrachtet werden, zu denen soeben eine Spezialuntersuchung erschienen ist, um dann etwas ausführlicher auf die Wunder in der Apg einzugehen. Wunder bei Paulus Stefan Alkier befragt in seiner Untersuchung »Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus« 2 zunächst jeden einzelnen Paulusbrief als eigenes »Diskursuniversum« auf die Wunderthematik hin; in einem (vorläufig) abschließenden Schritt werden dann die Ergebnisse als »Einträge in die Enzyklopädie des paulinischen Christentums« gebündelt. Alkier betont, daß damit nur ein Ausschnitt aus der Enzyklopädie des frühen Christentums erfaßt ist; ähnliche semiotische Untersuchungen für Mk, Mt, Lk, Apg, Joh usw. wären nötig, um diesen weiterführenden Schritt gehen zu können. 3 Gegenüber einer Reduktion der Fragestellung, wie sie sich im Zuge der Form- und Redaktionsgeschichte eingebürgert hat 4 , weitet Alkier den Horizont zu einer umfassenden Wahrnehmung des Phänomens »Wunder« in der Welt des Paulus aus. Das beginnt bereits beim semantischen Feld des Wunders 5 , zu dem eben nicht nur geläufige Wendungen und Begriffe wie etwa »Zeichen, Wunder und machtvolle Taten« gehören, sondern auch die verschiedenen Ausdrücke für die wunderwirkende Kraft, für die dem Wundertäter geschenkte Fähigkeit oder für das, was Wunder bewirken; neben Substantiven sind v. a. auch Verben zu berücksichtigen. Als Wundertäter gilt im paulinischen Christentum hauptsächlich Gott, in geringerem Umfang auch Christus, sporadisch der Satan (als Vollstrecker göttlicher Strafe). Menschliche Wundertäter werden eher am Rande erwähnt (I Kor 12), wobei es sich konkret um eine von Gott gegebene Begabung (charisma) zum Heilen handeln dürfte. Die Wunder im Zusammenhang seiner Verkündigungstätigkeit reklamiert Paulus ausdrücklich nicht für sich, sondern schreibt sie Gott bzw. Christus zu. Die Themen bzw. »Topics« von Wundern, die Alkier in den Paulusbriefen findet 6 , sind: Schöpfungswunder, Berufungswunder, Rettungswunder, Heilungswunder, Empfängniswunder, Speisungs- und Trankwunder, Strafwunder, Wunder in pädagogischer Absicht, Entrückungen, Metamorphosen und eschatologische Totenerweckungen. Bei Paulus fehlen gegenüber den synoptischen Evangelien und der Apg Dämonenaustreibungen (Exorzismen) sowie »Wiederbelebungen von Toten, die dann unverwandt ihre sarkische Existenz fortführen«. Andererseits »spielen Strafwunder in den paulinischen Briefen eine weit größere Rolle als in den Evangelien und der Apostelgeschichte« (vgl. nur I Kor 11,27-32 oder II Kor 12,7, die dort kein Gegenstück haben; zu den Strafwundern in der Apg s. u.). Zum Thema Ralph Brucker Die Wunder der Apostel 32 ZNT 7 (4. Jg. 2001) ZNT 7 (4. Jg. 2001) 33 Ralph Brucker Die Wunder der Apostel Ralph Brucker Dr. Ralph Brucker, Jahrgang 1961, Studium der Evangelischen Theologie in Hamburg, Promotion 1996 über die sogenannten »Christushymnen« im Neuen Testament und das Phänomen des Stilwechsels in der antiken Literatur. Zur Zeit Arbeit an einem Habilitationsprojekt zum »Retter«-Begriff im frühen Christentum (1998-2000 Habilitationsstipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft). Seit 1993 regelmäßiger Lehrbeauftragter für Neues Testament am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg. Mitherausgeber (gemeinsam mit Stefan Alkier) des Sammelbandes »Exegese und Methodendiskussion« (TANZ 23), Tübingen/ Basel 1998. Mitarbeiter im interdisziplinären Übersetzungsprojekt »Septuaginta deutsch«. »Situationen, bei denen Wunder in bevorzugter Weise geschehen« 7 , sind: Gemeindegründungen, Gefahrensituationen, Krankheiten und das (eschatologische) Gericht. Die Referenz für die Beglaubigung der Wunder ist bei Paulus häufig die Schrift (zumeist in ihrer griechischen Fassung, der Septuaginta = LXX), die eine gemeinsame Basis der von ihm und seinen Gemeinden geteilten Enzyklopädie darstellt und auf die er daher immer wieder intertextuell verweisen kann. Die Wunder der Schöpfung, des Exodus oder der Empfängnis Isaaks sind Bestandteil der Enzyklopädie des paulinischen Christentums. In einigen Fällen, vor allem im Zusammenhang von Gemeindegründungen, kann sich Paulus auf das von ihm und seinen Gemeinden geteilte »kollektive Gedächtnis« berufen. Dabei beläßt er es allerdings meist bei Anspielungen, die sich für (uns) Außenstehende nicht entschlüsseln lassen. Dies gilt besonders für die Redewendung vom »Beweis des Geistes und der Kraft« in I Kor 2,4 - einem Vers, der in seiner lebhaften Auslegungsgeschichte seit der Alten Kirche immer wieder die Frage nach der Wundertätigkeit des Paulus aufgeworfen hat. 8 Unklar bleibt auch, welche »Zeichen und Wunder und Machttaten« es sind, auf die sich Paulus als »Zeichen des Apostels« in II Kor 12,12 beruft. 9 Geradezu heiß umstritten ist es in der Forschung, ob mit der Aussage, das Evangelium habe sich bei den Thessalonichern »nicht nur im Wort, sondern auch in Kraft und im heiligen Geist und in großer Fülle« ereignet (I Thess 1,5), auf die Wundertätigkeit des Paulus bei seiner missionarischen Verkündigung angespielt sei. 10 Und auch Röm 15,19 läßt lediglich erkennen, daß »Zeichen und Wunder« für ihn zur apostolischen Evangeliumsverkündigung gehören, nicht aber, welche Taten konkret darunter zu verstehen sind. 11 Besonders interessant sind die autobiographisch beglaubigten Wundererzählungen: Gal 1,13-24 stellt (auch formgeschichtlich betrachtet) eine regelrechte Wundergeschichte dar, in der die wunderbare Verwandlung des Paulus vom Verfolger zum Verkündiger des Evangeliums geschildert wird. 12 II Kor 1,8- 11 enthält eine autobiographische Rettungswundererzählung in Kurzform; ebenso Phil 2,27 (Gottes Heilung des todkranken Epaphroditus). 13 Auf Gottes wunderbares Rettungshandeln an seinem Apostel beziehen sich auch die Leidenslisten (»Peristasenkataloge«), besonders konkret II Kor 11,23-33. 14 Das eher angedeutete als erzählte Entrückungswunder, das Paulus am eigenen Leib erfahren hat (II Kor 12,1-6), wird verknüpft mit seinen chronischen Schmerzen, die er als pädagogische Maßnahme Gottes (durch Satan) deutet, »damit ich mich nicht überhebe« (II Kor 12,7-9). 15 Wunder in der Apg 16 : Zum Sprachgebrauch Der Standardbegriff für ›Wunder‹ in den summarischen Aussagen der Apg ist »Zeichen und Wunder« (semeia kai terata). Dieser steht fast immer als Paarbegriff (4,30; 5,12; 14,3; 15,12; in umgekehrter Reihenfolge 2,43; 6,8; 7,36; vgl. 2,19); nur »Zeichen« steht gelegentlich auch allein (4,16.22; 8,6) oder mit »Krafttaten« gepaart (8,13), »Wunder« dagegen nie (der LXX-Begriff ta thaumasia, ›wunderbare Taten‹, fehlt in Lk/ Apg ganz). Dabei stellt die Wendung »Zeichen und Wunder« ein biblisches Erbe dar - sie ist dort immer mit Gott als Subjekt und besonders häufig mit dem Exodusgeschehen verbunden (vgl. Ex 7,3; 11,9f.; Ps 105,27 u.ö.). 17 Der Begriff »Krafttaten« (allein: 19,11) ist eigentlich nur die Pluralform von »Kraft« (dynamis) und bedeutet soviel wie ›Erweise oder Auswirkungen der zugrundeliegenden Kraft‹. So wird von Jesus gesagt, er sei von Gott gesalbt worden »mit heiligem Geist und Kraft« (10,38). In dieser Kontinuität ist es zu verstehen, wenn den Jüngern vom Auferstandenen »die Kraft des heiligen Geistes« verheißen wird (1,8) und Stephanus »voll Gnade und Kraft« seine »großen Wunder und Zeichen« wirkt (6,8). Damit ist es auch für die Leser der Apg keine Frage mehr, »aus welcher Kraft« die Wunder der Apostel geschehen (3,12; 4,7). Die Volksmenge in Samarien läßt sich von der Zauberei des Magiers Simon blenden und hält ihn für »die Kraft Gottes, die man die Große nennt« (8,10) - freilich nur, bis sie die Predigt des Philippus hört und seine »großen Zeichen und Krafttaten« sieht (8,12f.). Die überbietende Dreierkombination »Krafttaten und Wunder und Zeichen« ist nur in bezug auf Jesus einmal gebraucht (2,22; Rückbezug auf 2,19: Gottes verheißene »Wunder« und »Zeichen« in den letzten Tagen), hebt ihn also gegenüber den Aposteln deutlich ab. Im Unterschied zu Paulus verwendet die Apg auch das Verb ›sich wundern‹ (thaumazo) meistens im Wunderzusammenhang (2,7; 3,12; 7,31; 13,41; vgl. 3,10.11 als Substantiv bzw. Adjektiv), einmal aber auch bezogen auf die freimütige Predigt der Apostel Petrus und Johannes (4,13: obwohl sie »ungelehrte und einfache Leute waren«). Noch häufiger wird aber das Erstaunen der bei einem Wunder Anwesenden mit dem stärkeren Verb existemi bezeichnet, das meist mit ›außer sich geraten‹ oder ›staunen‹ übersetzt wird und eine Spur von Entsetzen zum Ausdruck bringt (2,7; 2,12; 10,45; 12,16); auch dieses wird einmal auf die Predigt (des Paulus) bezogen, allerdings auf deren Inhalt (9,21). Eine besondere Rolle spielt dieses Wort in der Episode über den Magier Simon, von dem zweimal gesagt wird, er habe das Volk von Samaria mit seiner Zauberei »in Erstaunen versetzt« (8,9.11), und der angesichts der »großen Zeichen und Krafttaten« durch Philippus selber »außer sich vor Staunen« gerät (8,13). Wunder sind also in der Welt der Apg durchaus kein selbstverständliches Geschehen, sondern rufen heftige Reaktionen hervor, deren Spanne von großer Freude (8,8) und Gotteslob (3,8f.; falsch verstanden 14,11ff.) über Sprachlosigkeit (9,7) bis hin zu großer Furcht (5,11) reicht. Dreimal steht die Wendung »durch die Hände«, und zwar bezogen auf die Apostel (5,12), auf Barnabas und Paulus (14,3) und auf Paulus allein (19,11). In diesem Zusammenhang ist festzustellen, daß das Auflegen der Hände nicht nur der Heilung (so 6,6; 9,12.17; 28,8), sondern vor allem der Vermittlung des heiligen Geistes (8,17ff.; 9,17; 13,3; 19,6) dient. Von den griechischen Wörtern für ›heilen‹ wird iaomai in bezug auf Jesus (9,34; 10,38), Paulus (28,8) und Gott (28,27 im Schriftzitat aus Jes 6,9f.) gebraucht; das verwandte Substantiv iasis (›Heilung‹) steht 4,22.30. Nur im Passiv wird therapeuo verwendet (›geheilt werden‹: 4,14; 5,16; 8,7; 28,9; im LkEv auch im Aktiv, s. bes. Lk 9,1.6; 10,9). Auffällig ist der Befund, daß das Wort ›hinaustreiben‹ (ekballo) in der Apg nicht in bezug auf Dämonen verwendet wird (vgl. dagegen Lk 9,40.49; 11,14ff.). Das Ausfahren der unreinen Geister 8,7 und des Wahrsagegeistes 16,18f. wird eher unspektakulär mit einem Allerweltswort bezeichnet, das einfach ›hinausgehen‹ oder ›ausziehen‹ bedeutet und in der Apg insgesamt 28mal vorkommt. Auch die Bezeichnung daimonion für Dämonen, die von Menschen Besitz ergreifen (im LkEv 23mal! ) fehlt in der Apg. 18 Sie werden unter dem Begriff pneuma (»Geist«) subsumiert (»unreine Geister« 5,16; 8,7; »böse Geister« 19,12.13.15.16; »ein Wahrsagegeist« 19 16,16). Dieser Sprachgebrauch nimmt den Dämonen das Besondere - sie sind Geister unter anderen Geistern: Jeder Mensch hat ein pneuma (7,59; 17,16; 18,25 [zweideutig 19,21; 20,22]), und das am häufigsten erwähnte, allen anderen überlegene pneuma ist der »heilige Geist« (ca. 40mal). Die Wundertäter in der Apg Scheinbar im Unterschied zu den Paulusbriefen treten in der Apg mehrere menschliche Wundertäter auf. Neben Petrus und Paulus allein, die in jeder Hinsicht als Hauptakteure des Buches erscheinen, werden genannt: »die Apostel« - was Petrus mit einschließt! - (2,43; 5,12.16); Stephanus (6,8); Philippus (8,6f.13); Hananias in Damaskus (9,17) sowie Paulus und Barnabas (14,3; vgl. 14,27; 15,4.12). In der Stephanusrede wird außerdem an Mose als Wundertäter erinnert (7,36). Allerdings verhält es sich bei näherem Hinsehen auch in der Apg ganz ähnlich wie bei Paulus, nämlich daß Gott als der eigentliche Wundertäter zu verstehen ist. So wird direkt ausgesagt, daß Gott durch Paulus und Barnabas (14,27; 15,4.12) bzw. »durch die Hand des Paulus« (19,11; vgl. 21,19) Wunder getan habe. Von solchen Aussagen her ist es zu lesen, wenn Wundertaten »durch die Apo- 34 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Zum Thema stel« (2,43) bzw. »durch die Hände der Apostel« (5,12) konstatiert werden. Der von Petrus wunderbar geheilte Gelähmte reagiert auf das Wunder mit einem Lob Gottes (3,8; vgl. auch 4,21) - offenbar angemessen, denn auch der Apostel selbst wehrt sich gegen die Annahme, er habe die Heilung »aus eigener Kraft oder Frömmigkeit« bewirkt (3,12; vgl. 5,38f). Vielmehr geschieht die Heilung durch die Berufung auf den »Namen Jesu Christi« (3,6; 4,10; 9,34), auf den sich später auch Paulus bezieht (16,18; vgl. auch 19,13-20). Jesus als »der Herr« ist auch das Subjekt der Wiederherstellung des erblindeten Paulus durch Hananias (9,17) sowie der Wunder »durch die Hände« von Barnabas und Paulus (14,3). Paulus wird generell als »auserwähltes Werkzeug« des Herrn (9,15) berufen, so daß alle seine Taten und Worte auf diesen zurückgeführt werden können. 20 Das oben erwähnte Auflegen der Hände (zur Heilung oder Geistverleihung) dürfte denselben instrumentalen Charakter aufweisen: Die Apostel übermitteln eine Kraft, die lediglich durch sie hindurchgeht, aber ihren Ursprung bei Gott bzw. dem Herrn hat. In die gleiche Richtung weist auch die häufige Erwähnung von Gebeten im Zusammenhang mit wunderbaren Ereignissen (bes. 4,30f.; 12,5.12; 9,40; ferner 6,6; 8,15; 10,4.9.30f.; 11,5; 16,25; 22,17f.; 28,8). Darüber hinaus wird die Rolle des Wundertäters auch von Wesen besetzt, die von vornherein der göttlichen Sphäre angehören: vom »Engel des Herrn« (5,19f.; 12,7-11.23) und vom »Geist des Herrn« (8,39). Auf einer deutlich anderen Stufe stehen die nicht von Gott bzw. vom Herrn legitimierten Figuren, die sich die Wundertäter-Rolle anmaßen wollen: Simon in Samaria kann zwar das Volk »in Erstaunen versetzen« (8,9.11) und läßt sich als »die Kraft Gottes, die man die große nennt«, feiern (8,10), wird jedoch durch seine Begegnungen mit Philippus (8,12f.) und Petrus (8,14-24) in die Schranken gewiesen. Seine Taten werden vom Erzähler als »Zauberei« (8,9.11: mageuo / mageia) charakterisiert und sein Auftreten mit Geld in Verbindung gebracht (8,18-20). Als »Zauberer« (magos) wird auch Barjesus/ Elymas auf Zypern (13,6.8) eingeführt, den der Erzähler außerdem als »Lügenprophet« (13,6) kennzeichnet; er wird von Paulus mit weiteren Schmähbegriffen belegt (13,10) und zum Objekt eines Strafwunders: vorübergehende Blindheit (13,11; wie vorher [9,8f.] Paulus selbst! ). Die verunglückte Dämonenaustreibung der Skeuas-Söhne in Ephesus (nur sie werden in der Apg als »Exorzisten« [»Beschwörer«] bezeichnet: 19,13) zieht eine freiwillige öffentliche Verbrennung von Zauberbüchern nach sich, wobei ausdrücklich der immense Marktwert dieser Bücher beziffert wird (19,19). Die Wahrsagerei der Sklavin in Philippi wird als »Mantik« gekennzeichnet und ist für »ihre Herren« nur wegen des wirtschaftlichen »Gewinns« interessant; deshalb verklagen sie Paulus nach seiner Austreibung des Wahrsagegeistes unter Vorspiegelung religiöser Motive (16,16.19f.). 21 Die Wunder-Themen in der Apg Folgende Themen (»Topics«) oder Gattungen von Wundern kommen in der Apg vor 22 : Heilungswunder 23 : Explizit ausgeführt sind Heilungen von Lähmung (3,1-10; 8,7; 9,32-35; 14,8-11) und Fieber (28,7f.) sowie die Heilung der vorübergehenden (als pädagogische Strafaktion verhängten, s. u.) Blindheit des Paulus (9,17f.); allgemein von Heilungen Kranker ist 5,15f.; 19,12; 28,9 die Rede (vgl. auch den Gebetswunsch 4,30). Spektakuläre Sonderfälle sind in diesem Zusammenhang die ›indirekten‹ Heilungen durch den Schatten des Petrus und die Schweißtücher des Paulus (5,15; 19,11f.). Dämonenaustreibungen (Exorzismen) 24 : Zu den summarisch erwähnten »Zeichen« des Philippus gehört auch, daß »unreine Geister« aus den Besessenen ausfahren (8,6f.). Ausführlich erzählt ist die Austreibung eines Wahrsagegeistes durch Paulus (16,16-24). Selbst die von ihm am Leib getragenen Tücher bewirken, daß »die bösen Geister« entweichen (19,12). Dagegen schlägt der Versuch der »sieben Söhne eines gewissen Skeuas, eines jüdischen Hohenpriesters«, einen »bösen Geist« auszutreiben, fehl - obwohl sie sich auf »den Jesus, den Paulus verkündet«, berufen (19,13-17). Totenerweckungen 25 : Von Petrus (9,36-43) und Paulus (20,7-12) wird jeweils eine Totenerweckung erzählt. Rettungswunder 26 : Mehrmals kommt es zu einer wunderbaren Befreiung von Aposteln im Gefängnis (5,17-26; 12,4-11; 16,23-40) 27 . Ferner sind hier die Stellen zu nennen, an denen Paulus Situationen unbeschadet übersteht, die eigentlich zum Tod führen müßten: eine Steinigung (14,19f; vgl. dagegen 7,59ff.! ) 28 und den Biß einer Natter (28,3-6). Man könnte hier von »Immunitätswundern« sprechen. 29 Wunderhafte Züge trägt auch die Erzählung von der Rettung des Paulus aus Seenot (27,6-44; bes. V. 21-26). ZNT 7 (4. Jg. 2001) 35 Ralph Brucker Die Wunder der Apostel Strafwunder 30 : Einige Menschen, die sich gegenüber Gott vergehen, werden durch ein Wunder bestraft. Zu Tode kommen auf diese Weise Hananias und Sapphira (5,1-11) und Herodes Agrippa (12,20-23); vielleicht soll auch der Tod des Judas (1,18f.) als Strafwunder verstanden werden. 31 Eine vorübergehende Erblindung trifft den Christenverfolger Saulus/ Paulus (9,8f.) und den Zauberer Barjesus/ Elymas (13,11f.); die zeitliche Befristung macht deutlich, daß diese Strafwunder in pädagogischer Absicht geschehen. Berufungswunder : Wunder geschehen bei der Berufung des Paulus (9,1-19; vgl. 22,3-21; 26,12- 18) und der Bekehrung des Cornelius (10,1-11,18). Aber auch das unglaublich rasche Wachstum der Gemeinde übersteigt das Menschenmögliche und kann letztlich nur auf Gottes Wunderhandeln zurückgeführt werden (bes. 2,41.47; 4,4; 5,14; 9,31[35]; 11,21; 16,5; 19,20). Epiphanien 32 : Die Erzählung setzt mit der Erscheinung des auferstandenen Jesus bei seinen Jüngern ein (1,3-11); dieser erscheint im weiteren Verlauf der Handlung auch Paulus (9,3-8; vgl. 9,27; 22,6-10; 26,13-19) und Hananias (9,10-16), um Paulus für das Evangelium zu gewinnen, und dann noch mehrmals dem Paulus (18,9f; 22,17-21; 23,11). Das einmütige Gebet der Gemeinde in Jerusalem wird damit beantwortet, daß der Ort, an dem sie versammelt sind, erbebt (4,31). Stephanus erinnert in seiner Rede daran, daß dem Mose ein Engel und die Stimme des Herrn begegnet sind (7,30-34.38); er selber sieht die »Herrlichkeit Gottes« und Jesus als »Menschensohn« zu seiner Rechten (7,55f.). Ein »Engel Gottes« erscheint dem Cornelius (10,1-33; vgl. 11,4-18), während Petrus gleichzeitig eine Himmelsstimme hört, die seine Vision kommentiert (10,9-17; vgl. 11,5-10). 33 Ein »Engel des Herrn« erscheint sowohl bei den Aposteln als auch bei Petrus allein im Gefängnis (5,19f; 12,7-11); bei Paulus und Silas ist es ein Erdbeben, das die Grundmauern ihres Gefängnisses erschüttert (16,26). In der Seenot erscheint dem Paulus ein »Engel des Gottes, dem ich gehöre und diene« (27,23f.). Daß schon die »zwei Männer in weißen Gewändern«, die bei der Himmelfahrt Jesu zugegen sind und den Jüngern seine Wiederkunft vorhersagen (1,10f.), als Engel aufzufassen sind, wird zwar nicht ausdrücklich gesagt, ergibt sich aber aus der zugrundeliegenden Enzyklopädie. 34 Schließlich erscheint dem Paulus in einer nächtlichen Vision, die als Handlungsanweisung Gottes gedeutet wird, »ein makedonischer Mann« und veranlaßt ihn und seine Gefährten, nach Makedonien zu fahren (16,9f.). Es gibt in der Apg auch Stellen, an denen sozusagen ›mißverstandene Epiphanien‹ stattfinden: Wenn den Angehörigen des Hohen Rates das Angesicht des Stephanus »wie das Angesicht eines Engels« erscheint (6,15), könnte das noch als feierlicher Vergleich gelesen werden. Aber daß das Erscheinen eines Engels durchaus zum Erwartungshorizont der Figuren der Apg, ja sogar der Jünger im Haus der Maria (Mutter des Johannes Markus) gehört, zeigt sich, als der aus dem Gefängnis befreite Petrus vor dem Tor steht: Die Jünger halten es für wahrscheinlicher, daß »sein Engel« draußen steht, als daß er aus dem Gefängnis entkommen sein könnte (12,12-16). 35 Selbst ein Herabsteigen von Göttern in Menschengestalt wird für möglich gehalten - von dem Volk und dem Zeuspriester in Lystra, die Paulus und Barnabas für Hermes und Zeus halten und trotz ausdrücklicher gegenteiliger Bekundungen kaum davon abzubringen sind, ihnen zu opfern (14,11-18) 36 . Auf Malta wird Paulus noch einmal für einen Gott gehalten, weil er den Schlangenbiß überlebt (28,6). 37 Zum Bereich der Epiphanien kann auch das Motiv der Geistausgießung bzw. -erfüllung gezählt werden, das vor allem die erste Hälfte der Apg durchzieht (1,8; 2,4.17f.33; [4,8; ] 4,31; 7,55; 8,15.17-19; 10,44ff.; 11,15; 13,52; 15,8; 19,6). Der Geist wird fast als Person dargestellt, wenn er zu den Aposteln spricht (8,29; 10,19; 11,12; 13,2; 21,4.11; 23,9), ihren Weg lenkt (8,39; 13,4; 16,6f.; vgl. 20,22f.) und sogar an ihren Entscheidungen beteiligt ist (15,28). In ähnlicher Weise redet der »Engel des Herrn« zu den Aposteln (8,26; 12,7-11; 23,9), kommt zu ihnen in Gefahren (5,19; 12,7ff.; 27,23) und kehrt sogar in das Haus eines gottesfürchtigen Heiden ein (10,3-7.22; 11,13). Aber auch der »böse Geist« von 19,15 spricht wie eine eigenständige Person zu den Exorzisten, die ihn »beschwören« wollen (erst als es ums Austeilen von Prügel geht, kommt sein menschlicher ›Wirt‹ ins Spiel, 19,16). Im Zusammenhang der ersten Geistausgießung geschieht ein (Fremd-)Sprachbzw. Hörwunder (2,1-13): Menschen ganz verschiedener sprachlicher Herkunft hören die Apostel jeweils in ihrer eigenen Sprache von den »großen Taten Gottes« reden (2,11) - das Wunder verweist also auf weitere Wunder. 38 Wahrsagephänomene - wunderbares Wissen von Dingen, die ein Mensch eigentlich nicht wissen 36 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Zum Thema kann - werden von sehr unterschiedlichen Personen berichtet: Petrus kennt die Herzen von Hananias und Sapphira und sieht bei der Frau auch den Tod voraus (5,3f.9). Der Jerusalemer Prophet Agabus kann die Zukunft vorhersagen (11,28 eine Hungersnot; 21,10f. die Gefangenschaft des Paulus; diese war Paulus laut 20,23 vorher schon in mehreren Städten durch den »heiligen Geist« prophezeit worden). Prophetische Begabung wird auch den vier Töchtern des Evangelisten Philippus zugeschrieben (21,8). Eine geistbesessene Sklavin in Philippi bezeichnet Paulus und seine Begleiter orakelhaft-unpräzise als »Knechte des höchsten Gottes«, die den bzw. einen »Weg des Heils« verkündigen (16,16-19). 39 Paulus weiß sein eigenes Schicksal im voraus (20,25-30) und sieht den Schiffbruch wie auch die Rettung der Besatzung vorher (27,9f.21-26). Entrückungen : Nach der Himmelfahrt Jesu, die als Entrückung auf einer Wolke geschildert wird (1,9-11), gibt es noch eine Entrückung des Apostels Philippus zwecks Ortswechsel (8,39). Gegenüber den oben aufgelisteten Wunder-Themen aus den Paulusbriefen fehlen bzw. treten zurück: Schöpfungswunder (vgl. aber die Hinweise auf Gott als Schöpfer 4,24; 7,49f.; 14,15; 17,24); Empfängniswunder (vgl. aber Lk 1-2! ); Speisungs- und Trankwunder (vgl. aber Lk 9,10-17; implizit auch Apg 7,36! ); Metamorphosen (vgl. aber 2,20: Verwandlung der Sonne in Finsternis und des Mondes in Blut als Zeichen der Endzeit nach Joel 3,1-5) sowie eschatologische Totenerweckungen (jedenfalls keine Schilderung; vgl. aber 23,6; 24,15.21; 26,8.23). Wunder - Glaube - Wirklichkeit An einigen Stellen wird im Zusammenhang von Heilungswundern ausdrücklich der Glaube des Geheilten als Voraussetzung herausgestellt (3,16; 5,14f.; 14,9). Dies ist aber schon bei den Heilungen nicht überall durchgeführt und kann im Blick auf die Wundertaten insgesamt keineswegs als konstitutiv gelten - gibt es doch auch Wunder, denen Unglaube oder Skepsis vorangehen (9,1-9; 12,4-19; 12,23; 27,11; vgl. auch 13,41; zu Skepsis selbst bei Gläubigen vgl. 10,45). Wichtiger scheint der Glaube der Wundertäter zu sein, der stets vorausgesetzt werden muß (siehe bes. 3,16; ferner 9,40; 28,8, wo dem Wunder ein Gebet des Wundertäters vorausgeht). Umgekehrt gibt es auch Stellen, an denen das Wundergeschehen Glauben hervorruft (5,14; 9,35.42; 13,12; evtl. 8,6; 16,31.34). 40 Aber auch dies ist kein Automatismus; vielmehr führt die grundsätzliche Zweideutigkeit des Wunders oft zu gespaltenen Reaktionen (2,12f.; 4,5-22; 14,4; vgl. auch 17,32; 23,6ff.). An unerwünschten Wirkungen sind einerseits unverhohlene Feindschaft (16,19f.), andererseits die göttliche Verehrung des Wundertäters (14,11-18; 28,6) zu verzeichnen. Wie wichtig die richtige Deutung des Wundergeschehens ist, zeigen die Stellen, an denen sich demselben eine Apostelrede anschließt (2,14-36; 3,12-26; 4,8-12; 14,14-17; 16,28-34) - aber selbst dann ist noch ein Beharren auf der falschen Deutung möglich, wie 14,11-18 eindrücklich zeigt. Unabhängig von der Frage nach dem Glauben oder der rechten Deutung wird immer wieder betont, daß es sich bei den berichteten Wundern um tatsächliches Geschehen, nicht etwa um rein subjektive Einbildung oder rational erklärbare Vorgänge handelt. Auf der Ebene der wörtlichen Rede wird teils die unbestreitbare Tatsächlichkeit konstatiert (4,16 sogar durch Gegner; 12,9.11 nach anfänglichen Zweifeln durch Petrus; vgl. 10,34), teils treffen auch zwei konträre Meinungen aufeinander, indem der Vorwurf, »verrückt« zu sein (griech. maino / mania), durch Beharren auf den Wahrheitsanspruch beantwortet wird (12,15; 26,24f.). Auf der Erzählebene ist zu beachten, daß die Gleichzeitigkeit der Visionen von Cornelius und Petrus (Kap. 10-11) auch eine gegenseitige Beglaubigung bedeutet. Und die bei vielen Wundern ausdrücklich geschilderte Reaktion der Volksmenge hat u. a. die Funktion, die Glaubwürdigkeit des Wunders durch Berufung auf Zeugen zu bekräftigen. 41 Parallelität von Petrus und Paulus Ein auffälliger Befund in der Apg ist die Parallelität der beiden Hauptgestalten Petrus und Paulus. Dies gilt zum einen für ihre ausführlichen Missionsreden, zum anderen eben für die Wunder, die durch sie und an ihnen geschehen: Beide heilen Lahme (3,1-10; 9,32-35 bzw. 14,8-11), erwecken Tote (9,36-42 bzw. 20,7-12), wirken Strafwunder (5,1- 11 bzw. 13,4-12) und ›indirekte‹ Heilungen (5,15 durch den Schatten des Petrus; 19,11f. durch die Schweißtücher des Paulus). Beide werden im Gefängnis befreit (5,17-26; 12,4-11 bzw. 16,23-40) ZNT 7 (4. Jg. 2001) 37 Ralph Brucker Die Wunder der Apostel und durch eine Vision zu einem entscheidenden neuen Schritt ihrer Mission angestoßen (10,1-33 bzw. 16,9f.). Beide werden auch mit Magiern konfrontiert, denen die Legitimation durch den heiligen Geist fehlt (8,9-24 bzw. 13,4-12; vgl. 19,13- 20); und beide treten durch übernatürliches Wissen hervor (5,3f.9 bzw. 20,25-30; 27,9f.21-26), was allerdings auch von anderen verzeichnet wird. Nur von Paulus werden ein Exorzismus (16,16-40; vgl. aber Philippus nach 8,6f.) und die Heilung eines Fieberkranken (28,7f.) erzählt, und nur in bezug auf ihn werden »Immunitätswunder« berichtet (14,19f.; 28,3-6). Dadurch ergibt sich ein leichtes Übergewicht der Paulus-Wunder gegenüber den Petrus-Wundern. Für beide ist aber wiederum die Rückbindung an die Wunder Jesu festzustellen, auf die im nächsten Abschnitt einzugehen sein wird. Intertextuelle Bezüge zum Lukasevangelium Das Werk, dessen Kenntnis die Apg ausdrücklich voraussetzt (1,1f.), ist das Evangelium desselben Verfassers. Auf sein zentrales und größtes Wunder, Jesu Auferweckung durch Gott (Lk 24), wird in der Apg immer wieder zurückverwiesen (explizit 1,21f.; 2,24.31f.; 3,15; 4,2.10.33; 5,30; 10,40f.; 17,3.18; 26,23; implizit in der Chiffre »das Evangelium bzw. Jesus Christus verkündigen«). Auch die Wunder der Apostel nehmen schon im Lukasevangelium ihren Anfang: Nach Lk 9,1f. werden die »Zwölf«, die bei ihrer Einsetzung Lk 6,13-16 auch als »Apostel« definiert wurden 42 , von Jesus mit »Kraft und Vollmacht« - auch über Dämonen - ausgestattet und ausgesandt, das Reich Gottes zu verkünden und die Kranken zu heilen. Sie können auch schon von ersten Heilungserfolgen berichten (Lk 9,6.10), sind aber mit der Austreibung eines Dämons noch überfordert (Lk 9,40). Später (Lk 10,1ff.) sendet Jesus 72 Jünger aus, die ebenfalls Kranke heilen und die Nähe des Gottesreiches verkünden sollen (10,9); und diese kommen voller Freude zurück und berichten, daß ihnen »sogar die Dämonen sich unterwerfen«, weil sie sich auf Jesu »Namen« berufen hätten (10,17). Allerdings wird ihre Freude durch Jesu Antwort etwas gedämpft: Sie sollen sich nicht darüber freuen, daß ihnen »die Geister sich unterwerfen«, sondern daß ihre (eigenen) Namen im Himmel »eingeschrieben« seien. Die von den Jüngern gebrauchte Wendung »in/ mit deinem Namen« 43 ist bereits in 9,49 in bezug auf einen fremden Exorzisten gefallen; in der Apg wird sie im Zusammenhang eines Heilungswunders durch Petrus (3,3; 4,10) und eines Exorzismus durch Paulus (16,18) ausdrücklich gebraucht (»in/ mit dem Namen Jesu Christi«), und auch in der Erzählung des mißlungenen Exorzismus durch die Söhne des Skeuas (19,13-20) spielt »der Name des Herrn Jesus« eine wichtige Rolle. 44 Den 72 Jüngern gibt Jesus die Verheißung: »Siehe, ich habe euch die Vollmacht gegeben, zu treten auf Schlangen und Skorpione, und über alle Kraft des Feindes, und nichts wird euch irgendeinen Schaden zufügen.« (Lk 10,19). Als Erfüllung des zweiten Punktes dieser Verheißung kann man die wunderbaren Befreiungen der Apostel aus dem Gefängnis (Apg 5,17-26; 12,4-11) ansehen. Aber vollständig erfüllt sie sich nur an Paulus, der nicht nur im Gefängnis wunderbar befreit wird (16,23- 40), sondern auch einen Schlangenbiß und eine Steinigung unbeschadet übersteht (28,3-6; 14,19f.) - und das, obwohl er gar nicht zum Kreis der Jünger Jesu (geschweige denn zu den zwölf Aposteln) gehörte. Dies zeigt, daß die Heilszusage Jesu in der Zeit der Kirche nicht auf den Kreis der Jünger beschränkt bleibt, sondern für alle gilt, die zur Gemeinde gehören. Dazu lassen sich auch die Jüngerin Tabitha in Joppe (9,36-42) und der junge Mann Eutychus in Troas (20,7-12) zählen, die sogar vom Tod erweckt werden. 45 Ein Naturwunder, wie Jesus es den Jüngern nach Lk 17,5f. zutraut (Versetzung eines Maulbeerbaums ins Meer nur durch die Kraft des Glaubens), wird in der Apg nicht berichtet. Aber die buchstäblich »erschütternde« Wirkung des Gebetes in Apg 4,30f. und besonders 16,25f. (Wanken der Gefängnismauern und Türöffnung) könnte von dieser Prophezeiung her gelesen werden. Nicht nur die durch die Apostel gewirkten Wunder, sondern auch und noch stärker die Wunder Jesu selbst stellen eine intertextuelle Verknüpfung zwischen den beiden Büchern des lukanischen Doppelwerks dar. Ausdrücklich verweist Petrus in Apg 2,22 auf Jesus und die »Krafttaten und Wunder und Zeichen, die Gott durch ihn in eurer Mitte getan hat«, und in 10,38 darauf, »wie Gott Jesus von Nazareth gesalbt hat mit heiligem Geist und Kraft; der ist umhergezogen und hat Gutes getan und alle geheilt, die in der Gewalt des Teufels waren, denn Gott war mit ihm«. 38 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Zum Thema Alle Wundertaten der Apostel haben Vorbilder im Wirken Jesu, wie es im Lukasevangelium geschildert worden ist: Die Heilungen von Gelähmten durch Petrus, Philippus und Paulus (Apg 3,1-10; 8,7; 9,32-35; 14,8-11) sind bei Jesus vorgeprägt in Lk 5,17-26. 46 Die Heilung des fieberkranken Vaters des Publius durch Paulus (Apg 28,7f.) hat ihr Gegenstück in der Heilung der Schwiegermutter des Petrus (Lk 4,38f.), womit zugleich ein großer Bogen vom letzten Heilungswunder des Doppelwerkes zurück zum ersten gezogen wird. 47 Die allgemeine Erwähnung von Heilungen Kranker in summarischen Abschnitten (Apg 5,15f.; 19,12; 28,9) ist ebenfalls bereits im Evangelium anzutreffen (Lk 4,40; 6,17-19; 7,21; 8,2f.; 9,11). Auch die ›indirekten‹ Heilungen durch den Schatten des Petrus und die Schweißtücher des Paulus (Apg 5,15; 19,11f.) haben ihr Vorbild bei Jesus: in der Heilung durch den Saum seines Gewandes (Lk 8,43-48). 48 Bei den Dämonenaustreibungen (Exorzismen) können die nur summarisch kurz erwähnte durch Stephanus (8,6f.) und die ausführlich erzählte durch Paulus (16,16-24) unterschieden werden. Beides ist bei Jesus öfter bezeugt (summarisch: Lk 4,41; 6,18; 7,21; 8,2f.; 13,32; ausgeführt: Lk 4,33- 37; 8,26-39; 9,37-43; 11,14f.). 49 Für die Totenerweckungen durch Petrus und Paulus (9,36-43 und 20,7-12) ist auf die Totenerweckungen durch Jesus in Lk 7,11-17 und 8,40- 42.49-56 hinzuweisen. Die Wahrsagephänomene lassen sich unterscheiden in Aussprechen verborgener Wahrheiten - mit den Sonderfällen »Herzenskenntnis«, d.h. Kenntnis der inneren Geheimnisse (5,3f.) 50 , und Erkennen der wahren Bedeutung von Menschen (16,16-19; orakelhaft gebrochen) - und Weissagung der Zukunft (5,9; 11,28; 20,23-30; 21,10f.; 27,9f.21-26). Nach dem LkEv kennt auch Jesus die geheimen Gedanken (Lk 5,22; 6,8; 7,39; 9,47); er selbst wird in seiner wahren Bedeutung von einem Besessenen erkannt und als »Sohn des höchsten Gottes« angesprochen (8,28). 51 Von seinen mehrmaligen Weissagungen zukünftiger Dinge sei hier nur auf die dreimalige Ankündigung seiner Passion und Auferstehung hingewiesen (Lk 9,21f.43f,; 18,31- 33), die sich innerhalb der erzählten Welt des Evangeliums erfüllt. Neben den Taten der Apostel selbst lassen auch die an ihnen geschehenden wunderbaren Ereignisse feine Verknüpfungen zum Evangelium sichtbar werden: Die Rettung des Paulus aus Seenot (Apg 27) ist - bei allen Unterschieden im einzelnen - mit der Rettung der Jünger vor dem Seesturm (Lk 8,22-25) zu vergleichen. Bei Paulus’ unbeschadetem Überstehen der Lynchjustiz (Apg 14,19f.) kann man sich an die Unantastbarkeit Jesu in Nazareth (Lk 4,28-30) erinnert fühlen. Die wunderbare Vermehrung der Gemeinde mit ihren riesig großen Zahlen (bes. Apg 2,41.47; 4,4) läßt an den wunderbaren Fischfang von Lk 5,1-11 denken, dessen Pointe die Prophezeiung Jesu an Petrus ist: »Von nun an wirst du Menschen fangen.« Aber auch das Speisungswunder von Lk 9,10-17 klingt an - zumal die Zahl 5000 nur hier und Apg 4,4 im lukanischen Doppelwerk vorkommt. 52 Die oben aufgezählten Epiphanien der Apg sollen hier nicht wiederholt werden; sie haben jedoch ebenfalls ihre Gegenstücke im Evangelium: Auch hier treten Engel auf (Lk 1,11-25.26-38; 2,8-15; 24,1-8); die Stimme Gottes ertönt aus einer Wolke (3,21f.; 9,35); die Jünger sehen Jesus in Verklärung mit Mose und Elia (9,28-36); Jesus sieht den Satan vom Himmel fallen (10,18) und weissagt das Kommen des Menschensohns (21,25-28); bei seinem Tod gibt es eine Sonnenfinsternis und zerreißt der Tempelvorhang (23,44f.); als Auferstandener erscheint er seinen Jüngern (24,30f.36-43). Schließlich ist auch die Himmelfahrt Jesu als Entrückungswunder (Apg 1,9-11) im Lukasevangelium schon einmal berichtet worden (24,50f.). Im Vergleich läßt sich feststellen, daß in der Apg gegenüber der Jesus-Geschichte des Lukasevangeliums einige Wundermotive fehlen. Dies wird z.B. deutlich, wenn man den programmatischen, das Auftreten Jesu charakterisierenden Satz aus Lk 7,22 heranzieht: »Er antwortete den beiden: Geht und berichtet Johannes, was ihr gesehen und gehört habt: Blinde sehen wieder, Lahme gehen, und Aussätzige werden rein; Taube hören, Tote stehen auf, und den Armen wird das Evangelium verkündet.« Blinde kommen in der Apg nur als Objekte eines zeitlich befristeten Strafwunders vor, Aussatz, Taubheit und Stummheit fehlen ganz. Auch andere Krankheiten, die Jesus heilt (Blutfluß, Wassersucht), fehlen in der Apg - ganz zu schweigen von der Heilung eines abgeschnittenen Ohres. Jesu Herrschaft über Naturgewalten (Stillung des Seesturms) sowie seine wunderbare Vermehrung eines Fischfangs und Speisung von 5000 Menschen mit fünf Broten und zwei Fischen haben im Wirken der Apostel ebenfalls kein Gegenstück. Sie bleiben ihrem »Herrn« deutlich untergeordnet. ZNT 7 (4. Jg. 2001) 39 Ralph Brucker Die Wunder der Apostel Auf der anderen Seite haben die für die Apg so charakteristischen Befreiungs- und Strafwunder im Evangelium keine Entsprechung. Sie gehören offenbar in die Zeit der Kirche, die als eine Zeit von Bedrängnis und Entscheidung geschildert wird. Intertextuelle Bezüge zu den Wundern des Alten Testaments Zahlreiche ausführliche Zitate, aber auch Nacherzählungen machen unmißverständlich deutlich, daß die »Schriften« des Volkes Israel in Gestalt der LXX einen wichtigen Bezugsrahmen für die Apg (wie auch schon für das LkEv) darstellen, also Bestandteil ihrer Enzyklopädie sind. Was die Wunderthematik betrifft, so wird in der Stephanusrede explizit auf die Wunder des Mose Bezug genommen (Apg 7,36); diese werden jedoch nicht konkretisiert oder gar einzeln aufgezählt, sondern müssen von den Hörern aufgrund ihrer Kenntnis der Exoduserzählungen (vgl. bes. Ex 7- 11; 14,21-31; 15,22-17,16; Ps 105,26f.) ›ergänzt‹ werden. Das gleiche gilt für die »großen Taten« Gottes, auf die sich schon die wunderbar verstandene erste öffentliche Äußerung der Apostel bezieht (2,11). 53 Noch mehr ist die »Mitarbeit« der Lesenden gefordert bei den bloß impliziten Anklängen an die großen Gestalten aus Israels Geschichte. So läßt die Unterschlagung von Gottes Eigentum durch Hananias und Sapphira und ihre Aufdeckung durch Petrus (5,1-11) Assoziationen aufkommen an eine Episode aus der Josua-Überlieferung (Jos 7,1-26); während hier allerdings das Gottesurteil noch von Menschen vollstreckt wird, haben die Apostel es nicht nötig, selbst Hand anzulegen. Die meisten Anklänge weisen auf die Erzählungen über die Gottesmänner Elia und Elisa. Hier sind auch mehrere Strafwunder geschildert, die teils tödlich enden (I Kön 13,11-32; II Kön 2,23- 25) und teils eher pädagogischer Natur sind (I Kön 13,1-6 gegen König Jerobeam; dazu vgl. neben Apg 12,20-23 [König] eher 9,8f. und 13,11f.). Die Totenerweckung durch Petrus (9,36-43) und insbesondere die durch Paulus (20,7-12) sind mit denen durch Elia (I Kön 17,17-24) und Elisa (II Kön 4,8-37) zu vergleichen; besonders der Zug, daß der Wundertäter sich auf den Toten legt, findet sich in I Kön 17,21; II Kön 4,34f. und Apg 20,10. Die Entrückung Jesu (Apg 1,9-11) hat ein berühmtes ›Vorbild‹ in der Entrückung des Elia (II Kön 2,1-18). Eine Entrückung an einen anderen Ort, wie sie die Apg von Philippus erzählt (8,39f.), wird schon bei Elia für möglich gehalten (I Kön 18,12; II Kön 2,16) und von dem Propheten Ezechiel ausdrücklich berichtet (Ez 3,12ff.; 8,3; 11,1.24; 37,1; 40,1f.; 43,5; vgl. apokryph Dan 14,36 von Habakuk). Gegenüber dem Elia-Elisa-Zyklus fehlen in der Apg Speisungswunder wie der nicht leer werdende Mehlkrug und der nicht versiegende Ölkrug (I Kön 17,8-16; II Kön 4,1-7) oder die Brotvermehrung (II Kön 4,42-44), das Genießbarmachen von ungesunden Lebensmitteln (II Kön 2,19-25 Wasser; 4,38-41 Gemüsegericht), die Heilung von Aussatz (II Kön 5) sowie Naturwunder wie das Feuer- und Regenwunder beim Gottesurteil auf dem Karmel (I Kön 18) oder das Schwimmenlassen einer Beilklinge auf dem Wasser (II Kön 6,1-7), die aber zum größten Teil ihre Entsprechungen in der Jesus- Geschichte des LkEv finden. Seenot und wunderbare Rettung des Paulus, der Rom erreichen muß (Apg 27), lassen an den Propheten Jona denken, der nach Ninive soll und ebenfalls von Gott aus der Seenot gerettet wird (bes. Jona 1-2). Nicht von großen Gestalten der Frühzeit, aber doch von Gottes fortgesetztem mächtigen Eingreifen zugunsten seines Volkes erzählt das zweite Makkabäerbuch, dessen Strafwunder in 3,23-30 (wunderbare »Züchtigung« des Tempelräubers Heliodor, der anschließend, 3,31-40, zum Verkündiger der Kraft Gottes wird) und 9,5-10 (Tod des gottlosen Königs Antiochus Epiphanes durch Wurmfraß) denen der Apg (bes. 9,1-19 und 12,20- 23) vielleicht am nächsten kommen. Durch alle diese Bezüge wird in der Apg eine »heilsgeschichtliche Kontinuität« von der Zeit des Exodus Israels bis zur Zeit der Kirche Christi zum Ausdruck gebracht. 54 Wunder und Historiographie Durch weitere intertextuelle Vergleiche könnte das lukanische Doppelwerk nun noch in die frühchristliche Enzyklopädie eingezeichnet werden - insbesondere die explizite Erwähnung von »vielen« Vorgängern (Lk 1,1) lädt zu einem Vergleich mit den jeweiligen ›Diskursuniversen‹ des MkEv 40 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Zum Thema und der hypothetisch erschlossenen Spruchquelle »Q« ein. Auf der nächsten Stufe wären Bezüge zu außerbiblischen - jüdischen und nichtjüdischen - Texten zu verfolgen, um die Enzyklopädie des lukanischen Christentums im gesamtantiken Rahmen zu verorten. 55 Das kann hier aus Raumgründen nicht geleistet werden. 56 Aber auf einen Bereich ist hier noch kurz einzugehen, nämlich auf den Charakter der Apg als historisches Werk. Steht die massive Präsenz wunderhaften Geschehens nicht im Widerspruch zu dem, was wir von einem Geschichtswerk erwarten, nämlich nüchterne Darstellung der Fakten? Sollten wir demnach das Werk des Lukas doch eher als ›historischen Roman‹ ansehen? Oder können wir die Wunder als ›Übertreibungen‹ abstreichen bzw. auf einen ›rationalen Kern‹ zurückführen, den (wie auch immer zu bestimmenden) ›Rest‹ aber für historisch zuverlässig halten? Oder sollen wir glauben, daß damals alles (einschließlich der Wunder) ›wirklich so gewesen‹ ist? 57 Das hermeneutische Problem ergibt sich zum einen aufgrund unserer eigenen modernen europäischen (und nordamerikanischen) Enzyklopädie. 58 Nun ist aber schon diese keineswegs einheitlich; neuere geschichtswissenschaftliche und erkenntnistheoretische Ansätze haben die Möglichk eit der objektivierbaren Wahrnehmung dessen, was ›wirklich‹ war bzw. ist, grundsätzlich in Frage gestellt. 59 Somit ist für jede Leserin und jeden Leser, die/ der mit einem Text in Kommunikation treten will, die Klärung des eigenen Standpunktes nötig: Was meine ich, wenn ich von ›Geschichte‹ oder ›Wirklichkeit‹ rede? Zum anderen folgt aus der eingangs formulierten Grundentscheidung, den Text als fremde Welt zu akzeptieren, auch eine Verschiebung der Fragestellung: Nicht mehr nach der Realität ›hinter‹ dem Text ist zu fragen, sondern danach, wie im Text selbst Realität konstituiert wird. Der übergeordnete kulturelle Bezugsrahmen, in den die Apg als Geschichtswerk einzuzeichnen wäre, ist die antike Geschichtsschreibung. Innerhalb dieser Enzyklopädie war es durchaus umstritten, ob bzw. in welchem Maß Wunder, Unwahrscheinliches und Fiktives im Werk eines Historikers Einzug halten dürften, ohne daß die Glaubwürdigkeit des Ganzen erschüttert wäre. Der ›puristischen‹ Richtung, die ausschließlich das ›tatsächlich Geschehene‹ und rational Nachvollziehbare gelten läßt (wie z.B. Polybios und Lukian), steht auf der anderen Seite die »mimetische« oder »sensationalistische« Geschichtsschreibung gegenüber, die ihre Leser bzw. Hörer durch dramatische Darstellung und unbekümmerte Einbeziehung spektakulärer Elemente in den Bann ziehen will. Dazwischen gibt es zahlreiche Historiker, die mirakulöse und unglaubliche Dinge aufgreifen, sich aber - gleichzeitig zur Distanzierung und Beglaubigung - ausdrücklich auf Augenzeugen o.ä. berufen (z.B. Josephus, Plutarch und Tacitus). Auf dieser Skala läßt sich die Apg näher am zweiten Pol einordnen, fällt damit aber gerade nicht aus dem Rahmen antiker Historiographie heraus. 60 Dieser Rahmen dürfte erst in den apokryphen Apostelakten in Richtung auf romanhafte Literatur verlassen sein - etwa wenn sich Petrus in seinem dramatischen Kampf gegen Simon Magus eines sprechenden Hundes bedient oder zur Beglaubigung seiner Predigt einen geräucherten Fisch stundenlang munter im Teich schwimmen läßt. 61 Aber das ist wieder ein ganz anderes Diskursuniversum . . . Anmerkungen 1 Vgl. S. Alkier, Fremde Welten verstehen lernen. Semiotische Bausteine einer interkulturellen Hermeneutik für die religionsgeschichtliche und religionsdialogische Arbeit, ZNT 5 (2000), 49-55. Für die Anwendung dieses Modells im Schulunterricht siehe auch S. Alkier/ B. Dressler, Wundergeschichten als fremde Welten lesen lernen. Didaktische Überlegungen zu Mk 4,35-41, in: B. Dressler/ M. Meyer-Blanck (Hgg.), Religion zeigen. Religionspädagogik und Semiotik (Grundlegungen 4), Münster 1998, 163-187. - Alkier entnimmt den Begriff »Diskursuniversum« der Semiotik von C. S. Peirce und den Begriff »Enzyklopädie« der Semiotik von U. Eco (hier v. a. Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München/ Wien 1987; zur »Enzyklopädie« bes. 94-106). 2 S. Alkier, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus. Ein Beitrag zu einem Wunderverständnis jenseits von Entmythologisierung und Rehistorisierung (Habilitationsschrift Hamburg 1999), erscheint in der Reihe WUNT, Tübingen 2001. Da die endgültigen Seitenzahlen zum Zeitpunkt der Abfassung meines Beitrags noch nicht feststanden, ist im folgenden auf die Kapitelzählung verwiesen. 3 Vgl. den Vorspann von Kap. X der genannten Studie. 4 Siehe als eines der jüngsten Beispiele die Arbeit von S. Schreiber, Paulus als Wundertäter. Redaktionsgeschicht- ZNT 7 (4. Jg. 2001) 41 Ralph Brucker Die Wunder der Apostel liche Untersuchungen zur Apostelgeschichte und den authentischen Paulusbriefen (BZNW 79), Berlin/ New York 1996. Aufgrund der sehr engen Fragestellung (und der impliziten Einstellung: ›Im Zweifelsfall geht es nicht um Wunder‹) bleibt als »Textbasis« für den zusammenfassenden Abschnitt zwar »reichhaltiges Wundermaterial« aus der Apg, aber nur ein Minimalbestand aus den Paulusbriefen (»Röm 15,19a und 2 Kor 12,12«) übrig (285). 5 Zu diesem und zum folgenden Absatz siehe Alkier, Wunder und Wirklichkeit, Kap. X. 2. Vorgeschaltet ist eine Skizzierung der »Grundlegende[n] Wirklichkeitsannahmen des paulinischen Christentums« (Kap. X. 1). 6 Wunder und Wirklichkeit, Kap. X. 3. Kriterium für die Auflistung der oben im Text gebotenen »Topics« (zum Begriff siehe Eco, Lector in fabula 108-114) war die Leitfrage: »Handelt es sich um ein durch die Kraft Gottes vollzogenes, menschliche Möglichkeiten überschreitendes Geschehen? « Da eine Reihe von paulinischen Aussagen über Wunder offenlassen, was genau darunter zu verstehen ist, sieht Alkier seine Zusammenstellung ausdrücklich nicht als »geschlossene Liste möglicher Topics von Wundern« in der paulinischen Enzyklopädie. 7 Zu diesem und dem folgenden Absatz siehe Alkier, Wunder und Wirklichkeit, Kap. X. 4. 8 Am berühmtesten ist wohl die kleine Schrift von G. E. Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft (1777), die in dem Satz gipfelt: »zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden.« (ders., Werke, hg. v. H.G. Göpfert, Bd. VIII, München 1979 = Darmstadt 1996, 12). - Siehe dazu ausführlich Alkier, Wunder und Wirklichkeit, Kap. VI. 3. 9 Dazu Alkier, Wunder und Wirklichkeit, Kap. VII. 3. 10 Zu dieser Stelle siehe Alkier, Wunder und Wirklichkeit, Kap. IV. 2.2.1. 11 Das arbeitet Alkier, Wunder und Wirklichkeit, Kap. IX. 4, heraus. 12 Die Entdeckung der formgeschichtlichen Merkmale der Gattung »Wundergeschichte« in diesem Abschnitt des Gal gehört zu den spannendsten Erkenntnissen der Arbeit von Alkier (Wunder und Wirklichkeit, Kap. V. 2.3). 13 Siehe Alkier, Wunder und Wirklichkeit, Kap. VII. 2.1; VIII. 3. 14 Dazu Alkier, Wunder und Wirklichkeit, Kap. VII. 2.2. 15 So Alkier, Wunder und Wirklichkeit, Kap. VII. 3 (vgl. oben bei Anm. 9). 16 Für einen ersten Überblick über das Thema eignen sich die Exkurse in den Kommentaren zur Apg von G. Schneider, HThK V/ 1, Freiburg 1980, 304-310; R. Pesch, EKK V/ 1, Neukirchen-Vluyn 1986, 141-148; J. Zmijewski, RNT, Regensburg 1994, 177-180; dort ist jeweils weitere Literatur angegeben. Sehr informativ (bes. zur Forschungsgeschichte) ist auch der einführende Aufsatz von F. Neirynck, The Miracle Stories in the Acts of the Apostles, in: Les Actes des Apôtres, hg. v. J. Kremer (BEThL 48), Leuven 1979, 169-213. - Neirynck, Schneider und Pesch bieten auch katalogartige Übersichten mit den einschlägigen Textstellen. Im vorliegenden Beitrag werden aufgrund der Fragerichtung (vgl. oben Anm. 6) noch einige Stellen darüber hinaus berücksichtigt; die vollständigste Zusammenstellung bietet unten der Abschnitt »Die Wunder-Themen in der Apg«. - Da ich im folgenden verschiedene Aspekte der Wunder-Thematik in Längsschnitten behandle, weise ich ausdrücklich auf die fortlaufende Lektüre hin, wie sie in den Kommentaren geboten wird (hervorgehoben sei hier nur der neueste mir bekannt gewordene von W. Eckey, Die Apostelgeschichte. Der Weg des Evangeliums von Jerusalem nach Rom, 2 Bde., Neukirchen-Vluyn 2000); eine knappe semiotische Lektüre von Apg 12 (einem stark wunderhaltigen Kapitel) bietet S. Alkier, Hinrichtungen und Befreiungen: Wahn - Vision - Wirklichkeit in Apg 12. Skizzen eines semiotischen Lektüreverfahrens und seiner theoretischen Grundlagen, in: S. Alkier/ R. Brucker (Hgg.), Exegese und Methodendiskussion (TANZ 23), Tübingen/ Basel 1998, 111-133. 17 Vgl. dazu W. Weiß, »Zeichen und Wunder«. Eine Studie zu der Sprachtradition und ihrer Verwendung im Neuen Testament (WMANT 67), Neukirchen-Vluyn 1995. 18 Das einzige Vorkommen von daimonion in 17,18 hat eine andere Konnotation (»fremde Götter« - hier liegt eine Anspielung an die berühmte Anklage gegen Sokrates vor). 19 Wörtlich »ein Python-Geist«; ursprünglich auf das Orakel von Delphi (die Pythia) bezogen, kann python in neutestamentlicher Zeit für jede Art von Wahrsagerei oder Bauchrednerei stehen. 20 Zu den in 7,36 erwähnten Wundertaten des Mose vgl. die Einrahmung durch V. 25.34f.37, wo Gott als Handelnder und Sendender deutlich wird; intertextuell ist auf Stellen wie Ps 104,26f. LXX zu verweisen (in Ps 78 [77 LXX] und 106 [105 LXX] werden die Wundertaten der Exodustradition sogar ausschließlich Gott zugeschrieben). 21 Vgl. dazu auch den Aufruhr der Silberschmiede in Ephesus (19,23-40), für den die Erzählung ebenfalls Geschäftsinteressen als eigentliches Motiv unterstellt. - Zum ganzen Komplex vgl. die sehr anregende und spannend zu lesende Studie von H.-J. Klauck, Magie und Heidentum in der Apostelgeschichte des Lukas (SBS 167), Stuttgart 1996. 22 Im folgenden wird öfter auf das Standardwerk von G. Theißen, Urchristliche Wundergeschichten (StNT 8), Gütersloh 1974 ( 6 1990) verwiesen, auch wenn hier (entgegen dem etwas irreführenden Titel) fast nur die synoptischen Wundergeschichten im Brennpunkt des Interesses stehen; Joh und Apg sind nur am Rande, die Briefe überhaupt nicht berücksichtigt. Theißen vermeidet es, die Wundergeschichten in genau abgegrenzte »Gattungen« oder »Untergattungen« einzuteilen, und spricht stattdessen lieber von - insgesamt sechs - »Themen«, bei denen auch mit Überschneidungen zu rechnen ist (90; das »Inventar der Themen« 94-120). - Zu vergleichen ist die Auflistung der Begebenheiten, die in den paulinischen Briefen als Wunder gelten (elf »Topics«), bei 42 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Zum Thema Alkier, Wunder und Wirklichkeit, Kap. X. 3 (s.o. bei Anm. 6). 23 Vgl. Theißen, Wundergeschichten 98-102 (»Therapien«), der allerdings aus der Apg nur 19,11f kurz erwähnt. 24 Hierzu vgl. Theißen, Wundergeschichten 94-98; aus der Apg ist hier 19,13-18 berücksichtigt (97). Unter dem Stichwort »soziale Intention« sind 16,16ff. und 19,13-18 auch a. a. O. 257f. angeführt. 25 Bei Theißen, Wundergeschichten, werden Totenerweckungen nicht als eigene Gattung aufgeführt, sondern lediglich in einer lapidaren Fußnote (98 Anm. 25) zu den »Therapien« gerechnet, weil »fast alle antiken Totenerweckungen durch Wundertäter als Wiedererweckung Scheintoter verstanden werden [können]« und »die typischen Motive dieselben« seien (Kraftübertragung durch Berührung). Die hier zutage tretende Rationalisierung des Wunderbaren hatte eine erste Blüte um 1800 bei dem Aufklärungstheologen H.E.G. Paulus, ist aber auch heute immer noch verbreitet; vgl. nur S.M. Fischbach, Totenerweckungen. Zur Geschichte einer Gattung (fzb 69), Würzburg 1992, 302f.; B. Kollmann, Jesus und die Christen als Wundertäter. Studien zu Magie, Medizin und Schamanismus in Antike und Christentum (FRLANT 170), Göttingen 1996, 264f. (der sich übrigens, anders als der Titel erwarten läßt, fast gar nicht mit den Wundern der Apg beschäftigt und, wie im Untertitel angedeutet, nur einen stark reduzierten Bereich von Wundertaten zur Kenntnis nimmt). Zur Kritik siehe ausführlich Alkier, Wunder und Wirklichkeit, Kap. II (»Die exegetische Problemlage«). 26 Zu Rettungswundern (mit den Unterthemen »Rettung aus Seenot« und »Gefangenenbefreiung«) vgl. Theißen, Wundergeschichten 107-111. Hier sind die Stellen aus der Apg fast alle berücksichtigt. 27 Nach R. Kratz, Rettungswunder (EHS XXIII/ 123), Frankfurt a. M. 1979, 446-492, gehören diese Stellen zur Untergattung »Türöffnungs- und Befreiungswundergeschichten«. In bezug auf 16,23-40 weist Kratz nachdrücklich auf die doppelte Rettung des Gefängniswärters (Lebensrettung und Bekehrung) hin, in der er das »eigentliche Rettungswunder« der Geschichte sieht (484). 28 Vgl. Klauck, Magie 75: »So wie Lukas es schildert, grenzt es schon fast an ein Wunder, daß Paulus einfach wieder aufsteht, in die Stadt hineingeht und sie am nächsten Morgen in Richtung Derbe verläßt [. . .]. Hier geschieht fast so etwas wie Auferstehung im Alltag der Welt«. Ohne das einschränkende »fast« konstatiert J. Becker, Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen 1989, 184: »Wenn die Apg in 14,20 berichtet, Paulus sei gleich danach aufgestanden und wieder in die Stadt gegangen, so muß Lk sich das wohl als Wunder vorgestellt haben. In der Regel überlebt niemand die Steinigung, man soll es ja auch nicht.« Den unmittelbaren Zusammenhang von »Leiden und wunderbarer Rettung« betont Schreiber, Paulus 82. - Zu den entsprechenden Aussagen in den Paulusbriefen (II Kor 11,25 im Kontext; vgl. aber auch 1,8-11) siehe bes. Alkier, Wunder und Wirklichkeit, Kap. VII. 2. 29 Theißen, Wundergeschichten 115, rechnet die »Immunität gegen Schlangenbiß« thematisch nicht zu den Rettungswundern, sondern zu den (in diesem Fall »belohnenden«) »Normenwundern«; es liege hier »die Situation eines Gottesurteils zugrunde«: »Wer [die gültige Norm] befolgt, wird wunderbar gerettet und beschützt.« Die überlebte Steinigung wird von Theißen nicht erwähnt, ließe sich aber ebenfalls als »Gottesurteil« verstehen (zumal Paulus zuvor der Versuchung widerstanden hat, sich selbst als Gott anbeten zu lassen; siehe 14,11-18 im Kontrast zu 12,22f.! ). - Problematisch ist der Terminus »Normenwunder« neben und in Abgrenzung zu den anderen Oberbegriffen, weil er auf einer anderen Ebene liegt: Die Belohnung für »normentsprechendes Verhalten« (ebd. 114) könnte im Einzelfall außer Immunität bzw. Rettung aus Todesgefahr auch plötzlicher Reichtum (das wäre nach Theißen 111-114 ein »Geschenkwunder«), Heilung von Krankheit, Erweckung vom Tod oder Entrückung in den Himmel sein. 30 Die Strafwunder stellen nach Theißen, Wundergeschichten 117, die negative Form der »Normenwunder« (vgl. die vorige Anm.) dar. Unzutreffend ist seine Behauptung, »daß im NT Strafwunder fast völlig fehlen« - er nennt lediglich Apg 5,1-11 und erwägt, daß Mk 11,12-14.20ff. dazu gerechnet werden könnte (»auch wenn rätselhaft bleibt, gegen welche Norm der Feigenbaum verstoßen haben sollte«). Damit sind mindestens drei Stellen aus der Apg (s.o. im Text) völlig ausgeblendet - ganz zu schweigen von den Paulusbriefen. 31 Vgl. hierzu auch die Reaktion der Einwohner auf Malta, als der gerade dem Meer entkommene Paulus von einer Giftschlange gebissen wird (28,4): Sie halten ihn für einen Mörder und den Schlangenbiß für die Strafe der Rachegöttin (Dike), die niemanden entkommen läßt. 32 Zu Epiphanien als Wunder-Thema siehe Theißen, Wundergeschichten 102-107. Auch im Blick auf die Apg gilt, daß man die Epiphanien (je nach der auftretenden ›Person‹) in »Theo-, Christo-, Angelo- und Pneumatophanien« einteilen kann. Als typische Motive nennt Theißen »die wunderbare optische und akustische Erscheinung« (»Türen springen von selbst auf, die Erde bebt«), die »erschrockene Reaktion« der Menschen, das »Offenbarungswort« und das plötzliche Verschwinden des Erschienenen; häufig sei eine »Verbindung der Epiphanie mit Kult, Auftrag und Rettung« (ebd., 103f.). 33 Die Gleichzeitigkeit der beiden Visionen von Apg 10 verstärkt noch den wunderbaren Charakter der Epiphanie; dieses Motiv ist in der antiken Literatur recht beliebt und schwingt wohl auch in Apg 9,10 mit. Vgl. dazu A. Wikenhauser, Doppelträume, Biblica 29 (1948), 100-111. 34 Eine explizite Gleichsetzung folgt aus Apg 10,30 nach 10,3. Für Apg 1,10f. ist innerhalb des lukanischen Doppelwerks auf die Ähnlichkeit zu Lk 24,4f. hinzuweisen (vgl. auch 9,29). Vgl. außer den Parallelstellen in den anderen Evangelien auch II Makk 3,26.33; 11,8. ZNT 7 (4. Jg. 2001) 43 Ralph Brucker Die Wunder der Apostel 35 Apg 23,7-9 zeichnet ein nach Parteien differenziertes (historisch freilich stark vereinfachtes) Bild im Hohen Rat: Während die Sadduzäer grundsätzlich behaupten, »es gebe weder Auferstehung noch Engel noch Geist«, können einige pharisäische Schriftgelehrte in bezug auf den angeklagten Paulus durchaus einräumen: »Wir finden nichts Böses an diesem Menschen; vielleicht hat ja ein Geist oder ein Engel mit ihm geredet.« 36 Vgl. dazu den Kniefall (Proskynese) des Cornelius vor Petrus und dessen abwehrende Reaktion (10,25f.). 37 Dieser zweiten Zuschreibung wird zwar an Ort und Stelle nicht ausdrücklich widersprochen, aber für den aufmerksamen Leser dürfte das Mißverständnis aufgrund von 14,11-18 klar sein. Einen weiteren Hinweis liefert die ungewöhnliche Erwähnung des Betens neben der Handauflegung bei der folgenden Heilung durch Paulus (28,8; vgl. Klauck, Magie 131f.). Der Text läßt hier einen Freiraum für die »Mitarbeit« der Lesenden. 38 Gottes souveränes und wunderbares Handeln wird schon in der LXX mit dem Begriff »große Taten« (ta megaleia bzw. ta megala) bezeichnet (z. B. Ps 71[70],19; 106[105],21; Hiob 5,9; 9,10; Sir 50,22); im lukanischen Werk ist bereits Lk 1,49 darauf Bezug genommen. 39 Als »Höchster« (gr. hypsistos) wird einerseits der biblische Gott Israels bezeichnet (über 100mal in der LXX), was aufgrund von Apg 7,48 sowie Lk 1,32.35.76; 6,35 auch zur Enzyklopädie des lukanischen Christentums gehört. Andererseits ist dieser Beiname in der griechischen Welt außerhalb des Judentums recht verbreitet und wird v.a. Zeus, aber inschriftlich auch verschiedenen lokalen Gottheiten beigelegt. Somit ist der Satz aus dem Mund einer ›heidnischen‹ Sklavin mehrdeutig (ähnlich sieht es mit dem ›Bekenntnis‹ des Dämons in Lk 8,28 par Mk 5,7 aus). Vgl. dazu Klauck, Magie 81ff., der sich dem Aufsatz von P. R. Trebilco, Paul and Silas - »Servants of the Most High God« (Acts 16,16-18), JSNT 36 (1989), 51-73, anschließt. 40 Hier sei daran erinnert, daß das griechische Wort für den Glauben - pistis - in der rhetorischen Tradition auch der Fachausdruck für die Beweisführung (als Teil der Rede) bzw. für den einzelnen Beweis ist (vgl. z. B. Aristoteles, Rhet. III 13, 1414a31ff., bzw. III 17, 1417b21ff.). An diese Bedeutung knüpft besonders deutlich Apg 17,31 (im Schlußsatz der Areopagrede des Paulus) an. 41 Dem widerspricht es nicht, daß dieses Motiv (oft nach M. Dibelius als »Chorschluß« bezeichnet) für die Wundergeschichten gattungstypisch ist. Vgl. dazu R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition (FRLANT.NF 12), Göttingen 2 1931 (= 9 1979), 241 (sowohl Betonung des Außergewöhnlichen als auch Beglaubigung des Wunders); Theißen, Wundergeschichten 78ff.80f., unterscheidet »Admiration« und »Akklamation« und diskutiert für letztere ebd. 156ff. auch verschiedene »funktionale Gesichtspunkte«. 42 Zur Namensliste vgl. Apg 1,13. 43 Die griechische Formulierung läßt verschiedene Übersetzungen zu, etwa auch »unter Anrufung deines Namens«. 44 Vgl. noch die ähnlichen Wendungen Apg 3,16; 4,7.12.17f.30. - »Im Namen Jesu« geschehen freilich auch die Predigt (9,27f.; vgl. 5,40) und die Taufe (10,48; sonst »auf den Namen«: 2,38 bzw. 8,16; 19,5), und »für den Namen des Herrn Jesus« sind Paulus und andere bereit zu sterben (21,13; vgl. 15,26). 45 Der gewaltsame Tod einiger Jünger (7,54-8,1; 12,1f.; 15,26) könnte dazu als Widerspruch aufgefaßt werden, soll aber wohl im Licht von Lk 12,4-9 gelesen werden (bes. V.4: »Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten und danach nichts mehr tun können«; V.8: »Wer mich bekennt vor den Menschen, den wird auch der Menschensohn bekennen vor den Engeln Gottes«). Dafür spricht besonders die Schilderung vom Tod des Stephanus, der den Himmel offen und Jesus als Menschensohn zur Rechten Gottes stehen sieht und den »Herrn Jesus« um Aufnahme seines Geistes bittet (7,54- 8,1). - Nur anmerkungsweise sei noch auf die Zusage von Lk 12,11f. verwiesen, daß den Jüngern vor Gericht der heilige Geist die Worte der Verteidigung eingibt; sie wird in den entsprechenden Situationen Apg 4,1-12 (bes. V.8! ); 5,27-32 (bes. V.32); 6,12-8,1 (bes. 7,55); 22,1- 23,11 (bes. 23,9.11); 24,10-21; 25,6-12; 26,1-29 (bes. V.22); 28,17-28 als erfüllt dargestellt. - Zu beiden Motiven vgl. auch Lk 21,12-19 (Ankündigung kommender Verfolgungen). 46 Schneider, HThK V/ 1, 307f., zeigt in einer synoptischen Übersicht am Beispiel von Lk 5,17-26; Apg 3,1-10; 14,8-11 auf, daß die Parallelen bis in wörtliche Formulierungen reichen. 47 An beide Heilungen schließen sich jeweils weitere an. Ein synoptischer Vergleich von Lk 4,38-41 und Apg 28,7-10 würde die (z.T. wieder wörtlichen) Übereinstimmungen, aber auch die Unterschiede deutlich machen; so fehlen bei Paulus die Exorzismen, und seinem Wunderhandeln geht ein Gebet zu Gott voraus - er vermag eben »nicht aus eigener Kraft und Vollmacht zu heilen« (J. Roloff, NTD 5, Göttingen 1981, 367). Vgl. ausführlich W. Kirchschläger, Fieberheilung in Apg 28 und Lk 4, in: Les Actes des Apôtres (BEThL 48), Leuven 1979, 509-521. 48 Vgl. auch die Fernheilung Lk 7,1-10. 49 Den mißglückten Exorzismus durch die Söhne des Skeuas (Apg 19,13-19) könnte man auf den entsprechenden mißglückten Versuch der Jünger (Lk 9,40) rückbeziehen. Allerdings gibt es hier eine Reihe von Unterschieden, vor allem in der Ausführlichkeit der Erzählung, der Frage der Legitimation (vgl. Lk 9,1! ) und den Konsequenzen für die unfähigen Exorzisten selbst. 50 Vgl. die Bezeichnung Gottes als »Herzenskenner« Apg 1,24; 15,8; Lk 16,15. 51 Zur Vieldeutigkeit dieser Akklamation vgl. oben Anm. 39. - Legitimiertere Zeugen im Sinne der lukanischen Christologie treten in Lk 1,26-38.41-45; 2,9-12[17- 20].25-35.36-38 auf. 52 Die Frage nach der möglichen Historizität der Zahlenangaben (zur Einwohnerzahl Jerusalems, die wohl in der früheren Forschung zu niedrig angesetzt worden ist, 44 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Zum Thema siehe W. Reinhardt, The Population Size of Jerusalem and the Numerical Growth of the Jerusalem Church, in: The Book of Acts in Its First Century Setting, vol. 4, Grand Rapids 1995, 237-265) ist von solchen Beobachtungen der literarischen Gestaltung unberührt. Für unseren Zusammenhang ist aber zu beachten, daß das unaufhaltsame, menschliche Möglichkeiten übersteigende Wachstum der Gemeinde in der Darstellung der Apg durch den Herrn selbst bewirkt wird (2,47: »Der Herr aber fügte täglich zur Gemeinde hinzu, die gerettet wurden«; vgl. das passivum divinum »wurden hinzugefügt« 2,41; 5,14 [ähnlich auch 16,5] sowie in den Wachstumsnotizen 11,21 »die Hand des Herrn«; 19,20 »durch die Kraft des Herrn«; 9,31 »durch den Beistand des heiligen Geistes«) und somit deutlich Züge des Wunderbaren aufweist. 53 Siehe dazu oben Anm. 38. 54 So bes. J. Eckert, Zeichen und Wunder in der Sicht des Paulus und der Apostelgeschichte, TThZ 88 (1979), 19- 33: 30. Dort heißt es weiter: »Gottes Heilshandeln, wie es Israel in seiner Glanzzeit erfuhr (Apg 7,36), ist nicht beendet, sondern erreicht in der Geschichte Jesu und in der nachösterlichen Geschichte des Geistes und der Kraft in der Kirche seine Fortsetzung und Erfüllung.« 55 Besonders der Aufbau der Wundergeschichten, ihre Themen sowie einzelne Motive (z.B. die Handauflegung zwecks Heilung oder die Blendung als Strafwunder; ferner die Gefangenenbefreiung durch Türöffnungswunder) sind in Texten der hellenistischen Antike verbreitet. Dazu findet sich reiches Material in den klassischen Studien von O. Weinreich: Antike Heilungswunder (RVV VIII/ 1), Gießen 1909 (= Berlin 1969); Türöffnung im Wunder-, Prodigien- und Zauberglauben der Antike, des Judentums und Christentums [1929], in: ders., Religionsgeschichtliche Studien, Darmstadt 1968, 200-290. 56 Für einzelne Stellen ist nochmals auf die Kommentare zu verweisen; von den bisher nicht angeführten seien hier v. a. die von E. Haenchen, KEK III 16(7) , Göttingen 1977, und H. Conzelmann, HNT 7, Tübingen 2 1972, genannt, die besonders viel antikes Vergleichsmaterial heranziehen. 57 Zu der Spanne von möglichen Strategien zum Umgang mit dem »problem of miracle« in der Apg vgl. auch den diesbezüglichen Exkurs bei C. J. Hemer, The Book of Acts in the Setting of Hellenistic History (WUNT 49), Tübingen 1989, 428-443. 58 In anderen Kulturen der Gegenwart kann sich dies durchaus anders darstellen; vgl. etwa die »Affinitäten zum antiken Weltbild«, die W. Kahl für die westafrikanische Kultur konstatiert: Zur Interpretation des Neuen Testaments im sozio-kulturellen Kontext Westafrikas, ZNT 5 (2000), 27-35 (beachte aber die Warnung von S. Alkier in seinem Beitrag im selben Heft, 54 Anm. 1! ). 59 Vgl. dazu die beiden einführenden Aufsätze von E. Reinmuth, Historik und Exegese - zum Streit um die Auferstehung Jesu nach der Moderne, in: S. Alkier/ R. Brucker (Hgg.), Exegese und Methodendiskussion (TANZ 23), Tübingen/ Basel 1998, 1-20, und P. Lampe, Die urchristliche Rede von der »Neuschöpfung des Menschen« im Lichte konstruktivistischer Wissenssoziologie, ebd. 21-32 (dort jeweils weitere Literatur). 60 Siehe dazu ausführlich E. Plümacher, TEPATEIA. Fiktion und Wunder in der hellenistisch-römischen Geschichtsschreibung und in der Apostelgeschichte, ZNW 89 (1998), 66-90. 61 So in den Petrusakten 9-13 (vgl. die deutsche Übersetzung in: W. Schneemelcher [Hg.], Neutestamentliche Apokryphen II, Tübingen 5 1989, 267-270). ZNT 7 (4. Jg. 2001) 45 Ralph Brucker Die Wunder der Apostel Vorschau auf das nächste Heft Neues Testament aktuell Thomas Söding War Jesus wirklich Gottes Sohn? Neue Debatten um Jesus und die Christologie Einzelbeiträge Klaus Berger Früchte aus einem reichen Garten. Die Bedeutung der zwischentestamentlichen Literatur für das Studium der Bibel Vincenzo Petracca Gott und Mammon. Gedanken zur neutestamentlichen Besitzethik Carsten Claußen Zur Frage der Unterscheidung der Geister Kontroverse Wo liegen die Wurzeln des christlichen Antijudaismus? Axel von Dobbeler versus Hans-Friedrich Weiß Hermeneutik und Vermittlung Holger Tiedemann Töpfe, Texte, Theorien. Das Neue Testament und die Archäologie Heft 8 erscheint im Oktober 2001 Seit der Aufklärung wurde die Realität der neutestamentlichen Wundergeschichten mit rationalistischen Argumenten und mythologischen Deutungsversuchen in Frage gestellt. Die rationalistischen Erklärungsversuche sahen in den Wundergeschichten meist Inszenierungen der Jünger, um das einfache Volk von der Lehre Jesu zu überzeugen oder sie rekurrierten auf besondere Fähigkeiten Jesu im Grenzbereich von Medizin und Parapsychologie. Der mythologische Deutungsversuch bestritt radikal die Geschichtlichkeit der Wunder überhaupt. Seine Vertreter sahen in ihnen Äußerungen eines voraufklärerischen Verständnisses von Wirklichkeit und bereiteten damit den Boden für ein kerygmatisches Wunderverständnis, das in den Wundern vornehmlich Glaubenszeugnisse antiker Menschen sah. Forschungsgeschichtlich wirksam wurde diese Debatte ab Ende der vierziger Jahre im Streit um die Entmythologisierung des Neuen Testaments, der untrennbar mit dem Namen Rudolf Bultmanns und seiner Schüler verbunden ist. Dieser Streit wurde innerhalb der Kirche äußerst heftig und teils mit verletzender bis ins Persönliche gehender Schärfe geführt. Er hatte aber auch in den fünfziger und frühen sechziger Jahre über den innerkirchlichen und innertheologischen Diskurs hinaus große Aufmerksamkeit in der Gesellschaft erregt. Für eine ganze Generation historisch-kritisch orientierter Theologen und Theologinnen schien die Frage nach der Historizität der neutestamentlichen Wundergeschichten mit Rudolf Bultmanns Entmythologisierungsprogramm endgültig erledigt. Hart und die aufgeklärte Moderne ernst nehmend formulierte er 1941: »Die Wunder des Neuen Testaments sind … als Wunder erledigt, und wer ihre Historizität durch Rekurs auf Nervenstörungen, auf hypnotische Einflüsse, auf Suggestion und dergl. retten will, der bestätigt das nur … Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.« 1 Für Bultmann und seine Anhänger war damit sowohl die supranaturalistische als auch die rationalistische Wundererklärung in all ihren Varianten für den modernen Menschen ein in eine historische und theologische Sackgasse führender Weg. Die Wundergeschichte des Neuen Testaments dienten einzig dazu, Glaubenswahrheiten zu veranschaulichen. Hierin liege ihr eigentlicher Wert. Heute stehen wir in der nur auf den ersten Blick erstaunlichen Situation, dass die Frage nach einer rechten Interpretation der neutestamentlichen Wundergeschichten mitnichten der Vergangenheit angehört, sondern wieder in den Focus der wissenschaftlichen Diskussion gerückt ist. Ihre Realität wird wieder ernsthaft auch unter dem Gesichtspunkt der Historizität diskutiert. Diese Trendwende ist nicht unumstritten. Stefan Alkier schreibt hierzu in seiner Habilitationsschrift, in der er für eine Interpretation der Wunder jenseits von Entmythologisierung und Rehistorisierung plädiert: »Vorbereitet wurde diese Trendwende in der (Fernseh)Gesellschaft und in der neutestamentlichen Wissenschaft unter anderem durch einen Antirationalismus, der in kryptorationalistischer Weise mit Hilfe von psychosomatischen und parapsychologischen ›Beweisen‹ für die Möglichkeit der Faktizität der neutestamentlichen Wunder eintritt.« 2 Sowohl Michael Wohlers als auch Rainer Riesner bejahen in der nachfolgenden Kontroverse grundsätzlich die Möglichkeit der Faktizität neutestamentlicher Wunder. Michael Wohlers schränkt dies allerdings auf Krankenheilungen und Exorzismen ein, die durchaus von Jesus und den frühen Gemeinden praktiziert worden wären. Andere Wundergeschichten seien Spiegelungen des Osterglaubens. Wohlers steht damit dem Ansatz Gerd Theißens nahe, der mit der Argumentationsfigur des »Paranormalen« Exorzismen und Therapien für historisch unbezweifelbar hält. Rainer Riesner streitet für die Wirklichkeit der Wunder Jesu, die als Kontingenzerfahrungen den Einbruch göttlicher Wirklichkeit in die beschränkte Realität des Menschenmöglichen beschreiben. Die wohltuend Kontroverse Roman Heiligenthal Wunder im frühen Christentum - Wirklichkeit oder Propaganda ? Einleitung zur Kontroverse 46 ZNT 7 (4. Jg. 2001) sachlich geführte Kontroverse zeigt, dass es sich bei den Wundergeschichten beileibe nicht um einen Nebenkrater neutestamentlicher Theologie handelt. Wie schreibt Klaus Berger in seinem Wunderbuch: »Da auch die Auferstehung zu den Wundern gehört, gilt der Satz: Der Verzicht darauf würde das Christentums verwechselbar machen.« 3 Anmerkungen 1 R. Bultmann, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, in: H.W. Bartsch, Kerygma und Mythos I, Hamburg 1948, 18. 2 S. Alkier, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus. Ein Beitrag zu einem Wunderverständnis jenseits von Entmythologisierung und Rehistorisierung, Habil. masch. Hamburg 1999, 42. 3 K. Berger, Darf man an Wunder glauben? , Stuttgart 1996, 11. ZNT 7 (4. Jg. 2001) 47 Roman Heiligenthal Einleitung zur Kontroverse Hat der historische Jesus Dämonen ausgetrieben und Kranke geheilt? Herrmann Samuel Reimarus (1694-1768), Professsor für Hebräisch und orientalische Sprachen, hatte in der Neuzeit diese Frage erstmals vehement verneint. In seiner von Gotthold Ephraim Lessing anonym veröffentlichten »Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes« erklärte er: »Ich will … zeigen, dass [in den Wundergeschichten] alles auf leere Einbildung und eitles Vorgeben hinauslaufe.« 1 Die Jünger, so Reimarus, nutzten die Wundersucht und Leichtgläubigkeit des Volkes aus, um Jesus mit erfundenen Wundern als Messias Israels zu erweisen. Reimarus’ Thesen rüttelten an den Grundfesten der damaligen Theologie. Die Diskussion über den historischen Wert der neutestamentlichen Wunderüberlieferung ist seit Reimarus nicht mehr verstummt. 1. Jesus und die Christen als Wundertäter 2 Hat der historische Jesus Wunder getan? In der neutestamentlichen Exegese urteilte man in dieser Frage lange Zeit sehr zurückhaltend. Die Wundergeschichten galten als Bildungen der nachösterlichen Gemeinde, um Jesus als Theios-Aner (göttlichen Menschen) darzustellen. Über das Leben des historischen Jesus besagten sie, so ein weit verbreitetes Urteil, dagegen wenig. Dieter Georgi hatte diese These am Beispiel der Gegner des Paulus im 2. Korintherbrief profiliert: 3 In der Antike, so Georgi, gab es zahlreiche Geschichten von übermenschlichen Wundertätern, den Theioi Andres (göttliche Menschen). Um diese Erzählungen zu übertreffen, erzählte man im frühen Christentum auch von Jesus Wundergeschichten. Diese Wundergeschichten dienten der Missionspropaganda, und lassen damit kaum Rückschlüsse auf den historischen Jesus zu. Die hier skizzierte Einschätzung hat eine Prämisse, die sich an den antiken Quellen nur schwer belegen lässt: Geschichten von übermenschlichen Wundertätern waren bereits vor der Entstehung der neutestamentlichen Literatur weit verbreitet. In dieser Form trifft das nicht zu. Fast alle einschlägigen Berichte über übermenschliche Wundertäter stammen aus dem 2. oder 3. Jh. n. Chr. (Josephus, Lukian, Philostrat, rabbinische Wundercharismatiker) und damit aus der Zeit nach der urchristlichen Literatur. Sie besagen nichts über Wundergeschichten zur Zeit des historischen Jesus. Eine Ausnahme bilden die epidaurischen Inschriften (4. Jh. v. Chr.) über Heilungen durch den griechischen Gott Asklepios. Auch diese Quellen begründen jedoch keinen hellenistischen Typos des übermenschlichen Wundertäters: Wenn Asklepios Kranke heilt, tut er genau das, was man von einem Heilgott erwartet. Ein Heilgott ist aber kein übermenschlich wirkender Wundercharismatiker, kein Theios Aner. Die These, dass urchristliche Wundergeschichten auf umherlaufende Theios- Aner-Propaganda reagierten, hält letztlich einer Überprüfung an den Quellen nicht stand. Sie setzt die Existenz eines vorchristlichen Typs übermenschlicher Wundertäter voraus, kann sie jedoch nicht wirklich schlüssig belegen. Statt dessen gibt es wichtige Gründe für die Annahme, der neutestamentlichen Wunderüberlieferung einen beträchtlichen Wert für das Wirken des historischen Jesus zuzumessen. Dies gilt, so wird sich zeigen, nicht für alle Wundergeschichten des Neuen Testaments, sondern nur für die aus heutiger Perspektive recht anstößigen Exorzis men, Krankenheilungen und Normenwunder (z.B. Immunität gegen Schlangenbiss: Apg 28,1-6). Dieser Teil der Wundergeschichten hat einen historischen Anhalt: Es ist sehr wahrscheinlich, dass der historische Jesus tatsächlich Dämonen ausgetrieben und Kranke geheilt hat. Drei Argumente sprechen für diese These: Michael Wohlers Jesus, der Heiler 48 ZNT 7 (4. Jg. 2001) ZNT 7 (4. Jg. 2001) 49 Michael Wohlers Jesus, der Heiler Michael Wohlers Michael Wohlers, Jahrgang 1966, promovierte im NT an der Philipps-Universität Marburg/ Lahn mit einer Arbeit über neutestamentliche Wundergeschichten und antike Medizin. Zur Zeit leitet er in Hannover »Kirche im Blick-Wiedereintrittsstelle«, eine Servicestelle der Hannoverschen Landeskirche. Veröffentlichungen zu Krankheit im Neuen Testament, antiker Medizin und Astrologie. (1) Sowohl Heilungen als auch Exorzismen werden in unterschiedlichen Quellen und Traditionszusammenhängen bezeugt. Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen werden nicht nur in der Logienquelle Q, sondern auch im Markusevangelium, im matthäischen und lukanischen Sondergut, im Johannesevangelium und in der Briefliteratur, also in voneinander unabhängigen Quellen, Jesus bzw. seinen Jüngern zugeschrieben. 4 Beide Wunderarten werden auch außerhalb der eigentlichen Wundergeschichten, nämlich in Spruchüberlieferung und Heilungssummarien erwähnt. (2) Im Neuen Testament werden vergebliche Exorzismen und gegnerische Polemik zu den Dämonenaustreibungen berichtet. Die Synoptiker wissen von misslungenen Wundern und reflektieren, warum Jesus bzw. seine Jünger in bestimmten Situationen nicht heilen konnten (Mk 6,1-6 par; Mk 9,28f.). Ein gutes Beispiel dafür ist die Nazarethperikope Mk 6,1-6: Jesus konnte in seiner Heimatstadt keine Wunder tun, weil er dort auf keinen Glauben stieß. Bereits das Markusevangelium relativiert die Episode durch den Einschub »außer dass er wenigen Kranken die Hände auflegte und sie heilte« (Mk 6,5), da sie seinem erzählerischen Interesse widerspricht. In eine ähnliche Richtung weist die Beelzebul-Kontroverse Mk 3,22ff.: Jesu Gegner bestreiten nicht, dass er Dämonen austreibt, aber bringen dies mit dem Teufel in Verbindung. Diese Anschuldigung wurde kaum von den Christen selbst erfunden, sondern ist ein Reflex tatsächlicher Diskussionen. Beide Beobachtungen - misslungene Wunder und die Anschuldigung, mit dem Teufel im Bunde zu stehen - widersprechen urchristlichen Jesusbildern. Sie lassen sich daher gut als Reminiszenzen tatsächlicher Ereignisse interpretieren. Es ist wahrscheinlich, dass der historische Jesus Dämonen ausgetrieben und Kranke geheilt hat. (3) In der Alten Kirche gibt es zahlreiche Notizen über christliche Wundercharismatiker. 5 Auch der griechische Philosoph Kelsos (2. Jh. n. Chr.), ansonsten profilierter Gegner des Christentums, bestreitet nicht die Existenz christlicher Dämonenbeschwörer. 6 Selbst die im unechten Markusschluss erwähnte Fähigkeit, gefahrlos Giftschlangen berühren zu können (vgl. Mk 16,18), findet in der altkirchlichen Literatur einen historischen Anhalt: Epiphanios, Bischof auf Cypern (4. Jh. n. Chr.), berichtet von einem christlich-gnostischen Schlangengottesdienst, in dem während des Abendmahls eine Giftschlange in die Brote kriecht und von den Gläubigen geküsst wird. 7 Die mehrfache Bezeugung von Heilungen und Exorzismen, die Überlieferung misslungener Wunder und gegnerischer Unterstellungen sowie altkirchliche Notizen über christliche Wundertäter machen es plausibel, dass der historische Jesus und seine Jünger in der Tat Dämonen ausgetrieben und Kranke geheilt haben. Auch wenn es aus heutiger Perspektive schwierig und anstößig wirkt: Es ist historisch wahrscheinlich, dass das frühe Christentum, den historischen Jesus eingeschlossen, eine Bewegung von Exorzisten und Krankenheilern war. 2. Wundergeschichten und urchristliche Praxis Es gibt gute Gründe für die Annahme, dass sich in den neutestamentlichen Exorzismen und Krankenheilungen urchristliche Praxis widerspiegelt. Trotzdem sind die synoptischen Wundergeschichten keine historischen Berichte von Einzelereignissen. Bereits die klassische Formgeschichte, vertreten durch Rudolf Bultmann und Martin Dibelius, hat gezeigt, dass in den Wundergeschichten die einzelnen Motive zu typischen Kompositionen verarbeitet sind. 8 Gerd Theißen hat die Motive, die in immer neuen Variationen vorkommen, nach ihrer Funktion innerhalb der einzelnen Wundergeschichte geordnet: Auf das Auftreten des Wundertäters und anderer am Geschehen beteiligter Personen folgen expositionelle Motive, z.B. eine Schilderung der Not. In der Mitte der Geschichte steht die Wunderhandlung, an ihrem Ende oft eine Demonstration des Wunders, eine Akklamation der Menge oder ein Schweigegebot. 9 In einer einzelnen Wundergeschichte werden so sehr typische Motive verwandt, dass man sie nicht als historischen Bericht über eine bestimmte Krankenheilung oder Dämonenaustreibung lesen kann. Um ein Beispiel zu nennen: Ob Jesus im Rahmen seines Wirkens irgendwann einen epileptischen Knaben geheilt hat oder nicht (vgl. Mk 9,14-29par.), lässt sich aus den Quellen nicht mehr erheben. In der vorliegenden Form sind synoptische Wundergeschichten zudem durch redaktionelles Interesse geprägt: Sie weisen auf die Personenwürde Jesu hin (Mk 4,41), zeigen das angebrochene Reich Gottes (Lk 11,20) oder beweisen die Vollmacht seiner Lehre (Mk 1,27). Trotzdem erlauben neutestamentliche Wundergeschichten wichtige Schlüsse auf die urchristliche Praxis. Drei Aspekte lassen sich besonders herausarbeiten: (1) Zahlreiche Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen zeigen ein besonderes Interesse an einem bestimmten Heilwort. 10 So werden in voneinander unabhängigen Perikopen Lähmungen durch die Formel »Steh auf, nimm deine Bahre und geh umher« oder ähnliche Formulierungen (vgl. Joh 5,8; Mk 2,9; Apg 3,6) therapiert. Andere Heilworte sind »Strecke die Hand aus« (Mk 3,5), »Du bist frei von deiner Krankheit« (Lk 13,12), »NN, es heilt dich Jesus Christus, steh auf« (Apg 9,34), »Stell dich aufrecht auf deine Füße« (Apg 14,10) oder »Ich will, sei rein« (Mk 1,41par). Im Fall von Taubstummheit hat das für griechische Ohren unverständliche semitische Wort effata therapeutische Wirkung (vgl. Mk 7,34). Diese Formulierungen sind wahrscheinlich keine ad hoc gebildeten Ermutigungen des Kranken, sondern Besprechungsformeln, die sich durch wiederholten Gebrauch durch christliche Heiler bewährt haben. Zwei Überlegungen sprechen für diese Einschätzung: Einerseits werden zumindest Lähmungen in voneinander unabhängigen Perikopen durch ähnliche Formulierungen therapiert. Andererseits wissen wir, dass in der Alten Kirche Erkrankungen unter anderem durch Rezitation neutestamentlicher Wundergeschichten behandelt wurden. 11 Es ist daher gut möglich, dass Perikopen, in denen Jesus oder einem prominenten Vertreter der christlichen Gemeinde die erfolgreiche Anwendung heilender Worte zugeschrieben werden, auf urchristliche Krankenbehandlung zielen. Einerseits dienen sie der Anleitung, wie in einem solchen Fall zu verfahren ist. Andererseits legitimieren sie von urchristlichen Heilern verwendete Besprechungsformeln, indem sie sie Jesus oder einer profilierten Gestalt aus den Anfängen der Kirche in den Mund legen. Eine weitere Beobachtung erhärtet diese Vermutung: Urchristliche Heilpraktiken, die uns heute sehr fremd sind, wurden offenbar nicht nur im frühen Christentum angewandt. Die Erzählungen vom fremden Exorzisten (Mk 9,38-41) und den Skeuassöhnen (Apg 19,13-17) setzen sich auf unterschiedliche Weise damit auseinander, dass urchristliche Heiler auch außerhalb der Gemeinde stehende Nachahmer fanden. Die Perikope vom fremden Exorzisten spiegelt die Auseinandersetzung der markinischen Gemeinde mit Beschwörern, die unter Verwendung des Jesusnamens, d.h. mit einer urchristlichen Heilformel, Dämonen austreiben, obwohl sie nicht der markinischen Gemeinde angehören. Dies wird nach einem auf Jesus zurückgeführten Regelsatz gebilligt (vgl. Mk 9,40). Nach der Erzählung Apg 19,13- 17 gilt dagegen eine therapeutische Verwendung des Jesusnamens durch jüdische Exorzisten nicht als legitim. Nicht ohne eine gewisse Häme wird erzählt, wie der Versuch der Söhne des Hohepriesters Skeuas, durch die Formel »Ich beschwöre euch bei Jesus, den Paulus predigt« (Apg 19, 13) kläglich scheitern muss. Offenbar gab es im frühen Christentum keinen Konsens, ob christliche Heilformeln auch von außerhalb der Gemeinde Stehenden benutzt werden dürfen oder nicht. Zahlreiche Wundergeschichten legen daher besonderes Gewicht auf Geheimhaltung des Heilwortes: 12 Auf einer vorliterarischen Ebene sollte dadurch verhindert werden, dass die betreffenden Formeln durch Unberufene verwendet werden. Mit der Entstehung schriftlicher Evangelien wurde diese Intention der Schweigegebote selbstver- 50 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Kontroverse ständlich hinfällig; der Verfasser des Markusevangeliums hat sie daher als auf die Personwürde Jesu bezogene Anweisungen uminterpretiert. Zusammengefasst, spricht viel für die Annahme, dass im frühen Christentum bestimmte Heilworte verwendet wurden, die sich durch wiederholten Gebrauch bewährt hatten und deshalb Jesus bzw. einem prominenten Vertreter der frühen Christen in den Mund gelegt wurden. Einige Wundergeschichten in der neutestamentlichen Literatur lassen somit wichtige Rückschlüsse auf urchristliche Praxis zu. (2) Dies gilt auch für Wundergeschichten, in denen kein Heilwort überliefert wird. Zwei Beispiele sollen hier genannt werden: In der Blindenheilung Mk 8,22-26 wird Jesus der Gebrauch von Speichel, einem volksmedizinischen Heilmittel, zugeschrieben. Nach der Erzählung vom Blindgeborenen (Joh 9,1-7) verarbeitet Jesus zu therapeutischen Zwecken Speichel mit Erde zu einer Art Augensalbe. In beiden Erzählungen spiegelt sich volksmedizinische Krankenbehandlung mit Speichel, die ähnlich der volksmedizinischen Verwendung von Öl (vgl. Mk 6,13; Jak 5,14) im frühen Christentum offenbar verbreitet war. (3) Eine wichtige Rolle spielte schließlich die bereits in der Krankenheilungsanweisung Jak 5,14 erwähnte Anwendung von therapeutischen Gebeten. In der markinischen Perikope vom epileptischen Knaben wird beispielsweise das Jüngerversagen bei der Dämonenaustreibung mit der Anwendung des falschen Verfahrens erklärt: Die Jünger hätten, so die Pointe der gemeindliche Praxis reflektierenden Verse Mk 9,28-29, bei diesem Krankheitsbild nicht einen Ausfahrbefehl, sondern ein dämonenbannendes Gebet sprechen sollen. Urchristliche Geschichten von Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen sind damit zwar keine Berichte von historischen Einzelereignissen. Dennoch erweitern sie unser Wissen, wie im frühen Christentum Kranke geheilt und Dämonen ausgetrieben wurden. Eine wichtige Rolle spielten offenbar bestimmte Heilworte, volksmedizinische Speichelbehandlung oder therapeutische Gebete. Die Wundergeschichten spiegeln diese Praxis, indem sie die entsprechenden Formeln und Praktiken Jesus in den Mund legen, und damit urchristlichen Wundertätern als Anleitung dienen. 3. Seewandel und Sturmstillung Im Mittelpunkt der bisherigen Überlegungen standen Geschichten von Krankenheilungen und Exorzismen. Dass dem historischen Jesus Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen zuzuschreiben sind, besagt aber noch nichts über andere Wundergeschichten im Neuen Testament. Die neutestamentliche Überlieferung berichtet von Jesus auch wunderbare Speisungen (vgl. Mk 6,32-44par), plötzliche Erscheinungen auf See (vgl. Mk 6,45-52) und eine Sturmstillung (Mk 4,35-41par). Spiegelt sich auch in diesen Szenen eine entsprechende Praxis Jesu und der frühen Christen wider? Um diese Frage nicht auf der Ebene zu bearbeiten, ob wir heute an Wunder glauben oder nicht, ist es hilfreich, eine formgeschichtliche Einteilung von Gerd Theißen heranzuziehen. Theißen unterscheidet Therapien (Krankenheilungen), Exorzismen, Normenwunder, Epiphanien (z.B. Verklärung), Rettungswunder (z.B. Sturmstillung) und Geschenkwunder (z.B. Speisung der 5000). 13 Überlieferungsgeschichtlich lassen sich in dieser Einteilung zwei unterschiedliche Gruppen erkennen: Therapien, Exorzismen und Normenwunder sind in Summarien, Logien- und Erzählüberlieferung bezeugt (vgl. Mk 16,17f.! ); Epiphanien, Rettungswunder und Geschenkwunder spielen dagegen nur in der Erzählüberlieferung eine Rolle. Es gibt im Neuen Testament misslungene Krankenheilungen und einen missverstandenen Exorzismus; Berichte von vergeblichen Epiphanien, Rettungs- oder Geschenkwundern fehlen dagegen vollkommen. Auch formgeschichtlich unterscheiden sich beide Gruppen von Wundergeschichten: Epiphanien, Rettungs- und Geschenkwunder setzen in Motiv- und Themeninventar schon auf der erzählerischen Ebene die Ostererfahrung voraus; Krankenheilungen, Dämonenaustreibungen und Normenwunder tun dies nicht. In der Perikope Apg 12,1-11 (Befreiung des Petrus) wird das Schicksal des Petrus beispielsweise in deutlicher Entsprechung zu Jesu Passion und Auferstehung gestaltet. Die Speisungsgeschichten setzen die Abendmahlsparadosis voraus; Seewandel und wunderbarer Fischzug sind nur im Licht der Ostererfahrung verständlich. 14 Der historische Anhalt dieser Geschichten dürfte sich darauf beschränken, dass der historische Jesus mit seinen Jüngern gegessen, in einem Boot gefahren und ZNT 7 (4. Jg. 2001) 51 Michael Wohlers Jesus, der Heiler Fische gefangen hat. In der vorliegenden Form sind es Ostergeschichten, die in das Leben des historischen Jesus zurückprojiziert wurden. Historisch gefragt, muss man daher zwischen Epiphanien, Rettungs- und Geschenkwundern einerseits und Dämonenaustreibungen, Krankenheilungen und Normenwundern andererseits unterscheiden. Erstere sind Früchte des Osterglaubens und durch keine soziale Praxis des historischen Jesus oder seiner Jünger abgedeckt. Letztere sind im Licht des Osterglaubens überliefert, haben ihren Sitz im Leben aber in einer entsprechenden Praxis Jesu und der frühen Christen. 4. Wunder und Glaube Als Gotthold Ephraim Lessing einige Auszüge aus Reimarus’ Schrift unter dem Titel »Fragmente eines Ungenannten« herausgab, beurteilte er selbst die Berichte über Jesu Wunder als historisch zuverlässig. Trotzdem war aus seiner Sicht das Problem des Wunders nicht gelöst: »ich leugne gar nicht, daß Christus Wunder getan: sondern ich leugne, daß diese Wunder, seitdem ihre Wahrheit völlig aufgehöret hat, durch noch gegenwärtig gangbare Wunder erwiesen zu werden, … mich zu dem geringsten Glauben an Christi anderweitige Lehren verbinden können und dürfen. … Zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden.« 15 Lessing spricht damit an, dass aus der Historizität von Jesu Wundern nicht notwendig der Glaube an seine Person und Lehre folgt. Das war in der Antike nicht anders. Der griechische Arzt Galen (2. Jh. n. Chr.) kritisiert den christlichen Hang zum Wunder, 16 obwohl oder gerade weil zu seinen Lebzeiten christliche Wunderpraxis ungebrochen in Geltung steht. Bei Galen wie bei vielen anderen Zeitgenossen führten Wunder im frühen Christentum nicht zum Glauben an Jesus Christus, sondern zu Verwunderung und Kopfschütteln. In der neutestamentlichen Forschung wurde oft vermutet, dass in der griechisch-römischen Antike Wundergeschichten weit verbreitet waren. »… [B]is heute läßt sich ein allgemein akzeptierter Konsens in etwa auf den Nenner bringen: in der Antike waren Wunder bzw. Wundergeschichten gang und gäbe, in der Neuzeit gibt es die Medizin.« 17 Dieser Konsens beruht jedoch auf falschen Voraussetzungen. 18 In der griechisch-römischen Antike und dem hellenistischen Judentum (vgl. Sir 38,1-15) gab es philosophisch gebildete Ärzte, die nicht nur Gebildete und Wohlhabende, sondern auch sozial schlechter gestellte Patienten behandelten. Daneben spielten Heilkulte, Astrologie und Volksmedizin für den Umgang mit Krankheit eine wichtige Rolle. Heilungen durch Wundertäter waren demgegenüber eine seltene Ausnahme, die erst im frühen Christentum in vorher unbekanntem Ausmaß zur Regel gemacht wurde. Ein besonderer Stein des Anstoßes waren für antikes Denken die Exorzismen, in denen Krankheit auf einen Dämon zurückgeführt wird. Nach diesem Krankheitskonzept nimmt ein böser Geist im Körper seines Opfers Wohnung und tritt an die Stelle von dessen Persönlichkeit. Unreine Geister oder Dämonen können Geistesstörungen (Mk 5,1- 20), Stummheit (Mt 9,32f.; Mt 12,22), Blindheit (Mt 12,22), Verkrümmung (Lk 13,10ff.), Epilepsie (Mk 9,14-29par) und andere, nicht näher bezeichnete Erkrankungen (Mk 1,23ff.par; Mk 7,24ff.par; Mk 16,9) verursachen, indem sie einzeln oder in einer Gruppe (Mk 5,9par; Lk 8,2; Lk 11,24ff.par) ihren Aufenthalt im Körper des Kranken nehmen und von dort nur durch einen Ausfahrbefehl oder ein dämonenbannendes Gebet (Mk 9,29) wieder vertrieben werden können. Die Wurzel dieser für antikes wie modernes Denken gleichermaßen befremdlichen Vorstellung liegt in der zwischentestamentlichen Literatur; 19 sie gewann jedoch erst im frühen Christentum großen Einfluss. 20 Mit der Tätigkeit urchristlicher Exorzisten verbreitetete sich auch die Vorstellung, dass Kranke von einem Dämon besessen sind. Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen sind damit bereits im Kontext der griechischrömischen Antike anstößig. Noch Lessing hatte beklagt, dass zwischen historisch zur Kenntnis genommener Wundergeschichte und daraus folgendem Glauben an den Wundertäter ein »garstige[r] breite[r] Graben« 21 bestehe. Dies, so Lessing, sei ein besonderes Problem der Moderne: Im Unterschied zur Antike fehle in der Gegenwart die überzeugende Anschauungskraft gegenwärtiger Wunderheilungen. Der von Lessing angesprochene »garstige breite Graben« bestand jedoch bereits in der Antike: Urchristliche Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen waren auch für griechisch- 52 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Kontroverse römisches Denken schwierig, da sie in dieser Form vorher nicht geläufig waren. Wundergeschichten waren eine Ausnahme, Dämonenaustreibungen außerhalb des jüdisch-christlichen Milieus nicht verbreitet. Beides wurde von urchristlichen Wundertätern in vorher nie gekanntem Ausmaß praktiziert. Urchristliche Wundergeschichten thematisieren daher in besonderer Weise das Verhältnis von Glaube und Unglaube (Mk 2,5par; Mk 5,34par; Mk 6,6par; Mk 9,19ff.par. u.ö.). In der Perikope vom epileptischen Knaben ist in zweifacher Hinsicht vom Glauben die Rede: Einerseits ist Glaube das schlichte Vertrauen des Vaters, dass Jesus den Knaben heilen kann und will (Mk 9,24). Andererseits ist Glaube eine notwendige Qualität Jesu bzw. seiner Jünger, um erfolgreich Dämonen austreiben zu können (Mk 9,19.23). Dieser Glaube der Jünger ist, der paulinischen Charismenkonzeption in I Kor 12,9 vergleichbar, eine besondere Gabe, ein festes Vertrauen in die helfende und rettende Macht Gottes. Weder der Glaube des Kranken bzw. seines Stellvertreters noch der Glaube Jesu bzw. seiner Jünger sind jedoch christologisch gefüllt: In beiden Fällen ist Glaube die schlichte Zuversicht, dass die anstehende Krankenbehandlung erfolgreich sein wird. Wunder im frühen Christentum bewegen sich damit nicht im Rahmen des zu ihrer Zeit Üblichen: Sie propagieren eine neue Praxis, bringen ein neues Verständnis von Krankheit und Heilung mit sich und setzen Glauben voraus. Mit diesen Zumutungen stoßen sie bereits in ihrem antiken Kontext auf Unverständnis. 5. Jesus, der Heiler Hat der historische Jesus Dämonen ausgetrieben und Kranke geheilt? Historisch gesehen, lässt sich diese Frage bejahen. Es spricht viel für die Annahme, dass das frühe Christentum, den historischen Jesus eingeschlossen, eine Bewegung von Exorzisten und Heilern war. Dies spiegelt sich in einigen neutestamentlichen Wundergeschichten, die urchristliche Praktiken Jesus und seinen Jüngern zuschreiben. Andere Wundergeschichten, nämlich die Epiphanien, Rettungs- und Geschenkwunder sind in die Geschichte Jesu zurückverlegte Ostergeschichten. Sie setzen die Ostererfahrung voraus und werben für sie, haben aber keinen Anhalt am Leben des historischen Jesus. Aus heutiger Perspektive wirkt dieses Jesusbild recht befremdlich: Dämonenaustreibungen und Krankenheilungen sind für modernes Denken schwierig. Das war in der Antike jedoch nicht anders: Auch innerhalb ihres antiken Kontextes lösten urchristliche Dämonenaustreibungen und Krankenheilungen großes Befremden aus, da sie eine neue Praxis propagieren und neue Deutungen von Krankheit und Heilung mit sich bringen. Anmerkungen 1 H.S. Reimarus, Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes, G. Alexander (Hg.), Frankfurt a. Main 1972, 2 Bde., 371. 2 So der Titel der Habilitationsschrift von B. Kollmann (FRLANT 170), Göttingen 1996. 3 Vgl. D. Georgi, Die Gegner des Paulus im 2. Korintherbrief (WMANT 11), Neukirchen-Vluyn 1964. 4 Vgl. Mt 11,2-6par; Mk 6,7-13par; Lk 10,1-12.17-19; Lk 13,31-33; Mk 1,21-28par; Mk 1,29-31par; Apg 8,5-8; I Kor 12,28ff.; II Kor 12,12. 5 Vgl. Iren, haer II 31,2; 32,4; Tert, apol 23,15. 6 Vgl. Orig, Cels I, 6.22.25.46.67; III 24. 7 Vgl. Epiph., haer 37,5. 8 Vgl. M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 4 1961 (1919), 34ff., 66ff.; R. Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 9 1979 (1921), 8ff.; 223ff. 9 Vgl. G. Theißen, Urchristliche Wundergeschichten, Gütersloh 6 1990 (1972), 57ff. 10 Vgl. Mk 2,9; Apg 3,6; Joh 5,8; Mk 3,5; Lk 13,12; Apg 9,34; 14,10; Mk 1,41; Mk 10,52. 11 Vgl. Orig, Cels I,6. III 24; PGM 18; PGM.S 31. 12 Vgl. Mk 1,44par; 5,43; 7,36. 13 Vgl. Theißen, Wundergeschichten, 90ff. u. G. Theißen/ A. Merz, Der historische Jesus, Göttingen 1996, 265ff. 14 Vgl. Theißen/ Merz, Jesus, 273f. 15 G.E. Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, in: G.E. Lessing, Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 8, Frankfurt/ Main 1989, 441f. 16 Vgl. R. Walzer, Galen on Jews and Christians, London 1949. 17 Vgl. D. Lührmann, Neutestamentliche Wundergeschichten und antike Medizin, in: Religious Propaganda and Missionary Competition in the New Testament World, FS D. Georgi, NT.S 74, Leiden 1994, 196f. 18 Vgl. zum Folgenden M. Wohlers, Heilige Krankheit. Epilepsie in antiker Medizin, Astrologie und Religion, MThSt 57, Marburg 1999, 24ff. 19 Vgl. TestSal 18,1. 20 Vgl. Wohlers, Krankheit, 126ff. 21 Lessing, Beweis, 443. ZNT 7 (4. Jg. 2001) 53 Michael Wohlers Jesus, der Heiler Konsens und Kontroverse Bei der Frage nach den Wundern Jesu beginnen Exegeten aus verschiedenen Lagern aufeinander zuzugehen. Das ist erfreulich und im Blick auf die Vergangenheit keineswegs selbstverständlich. 1970 saß ich in Heidelberg im neutestamentlichen Seminar von Günther Bornkamm. Damals gehörte der Glaube an den theios aner zu den ehernen Grundüberzeugungen protestantischer Exegese, die kritisch sein wollte. Wer vom Zweifel konservativer Forscher wie Otto Betz angesteckt war, 1 wurde ob seiner wissenschaftlichen Rückständigkeit mehr oder weniger milde belächelt. Wenn nun auch Michael Wohlers die Anwendung des Konzeptes vom »göttlichen Menschen« auf das Neue Testament als historisch unhaltbar verwirft, so ist das ein hoffnungsvolles Zeichen: Die Quellen können sich gegen religionsgeschichtliche Konstruktionen und theologisches Wunschdenken durchsetzen. Mit Recht wendet sich Wohlers auch dagegen, die Menschen der neutestamentlichen Zeit als durchweg wundersüchtig und kritiklos zu karikieren. Nicht hinter jedem mediterranen Ölbaum hat damals ein Wundertäter gelauert. Offenbar trifft der generelle Eindruck zu, den die Evangelien vermitteln. Über die Wunder Jesu haben sich Zuschauer und Zuschauerinnen »gewundert« oder auch »entsetzt« (Mk 1,27; 5,15 usw.). Manche sollen sogar in den Ruf ausgebrochen sein: »So etwas haben wir noch nie gesehen« (Mk 2,12). Eine Annäherung in der gegenwärtigen Diskussion gibt es auch von der anderen Seite. Dass nur Matthäus (14,28-31) von einem Seewandel des Petrus erzählt, ist ein offensichtliches historisches Problem. Es kann nicht mit dem generellen Glauben an Wunder aus der Welt geschafft werden. Hier erwägen selbst evangelikale Forscher die Möglichkeit einer haggadischen Weiterbildung. 2 Ob die Speisung der Viertausend (Mk 8,1-10) eine Dublette zur Speisung der Fünftausend (Mk 6,35- 44) darstellt, ist ebenfalls nicht zuerst eine weltanschauliche, sondern eine literarkritische Frage. Es gibt noch andere Zeichen der Annäherung. Obwohl der philologische Befund schon immer dagegen sprach, folgten viele dem Urteil von Rudolf Bultmann und wiesen die meisten evangelischen Wundergeschichten den hellenistischen Gemeinden zu. Da ist es erfrischend zu lesen, wenn Michael Wohlers auf die Frage »Hat der historische Jesus Dämonen ausgetrieben und Kranke geheilt? « die Antwort gibt »Historisch gesehen, läßt sich diese Frage bejahen«. Wohlers bestätigt auch, was u. a. mein Lehrer Otto Betz immer wieder betont hat: Jesus war ein jüdischer Wundertäter. 3 Die von ihm erzählten Machttaten können nur auf dem Hintergrund des Alten Testaments und der frühjüdischen Tradition verstanden werden. Der Gesprächsbeitrag von Wohlers zeigt aber auch, dass nicht nur Konsens festgestellt werden kann, sondern dass die Kontroverse weitergehen muss. Ich konzentriere mich auf drei Probleme, nämlich ein kollektivistisches Verständnis von Formgeschichte, den Wunder- und Wirklichkeitsbegriff sowie die Frage epiphanieartiger Evangelien- Erzählungen. Kollektivistische Formgeschichte Es ist ein Verdienst von Gerd Theißen, auf manche Engführungen des formgeschichtlichen Entwurfs von Rudolf Bultmann hinzuweisen. 4 Problematisch bleibt aber eine kollektivistische Auffassung des Überlieferungsprozesses, wie sie auch hinter den Ausführungen von Michael Wohlers steht. Den bei Bultmann fast unüberwindbaren Graben zwischen vor- und nachösterlicher Zeit sieht man durch das Überlieferungskollektiv des Jüngerkreises überbrückt. Hier hat sich die konservative Kritik von Heinz Schürmann weitgehend durchgesetzt. 5 Immer noch zu wenig ernst genommen Rainer Riesner Jesus - Jüdischer Wundertäter und epiphaner Gottessohn 54 ZNT 7 (4. Jg. 2001) ZNT 7 (4. Jg. 2001) 55 Rainer Riesner Jesus - Jüdischer Wundertäter und epiphaner Gottessohn wird aber die einzigartige Position, die Jesus in der Evangelien-Überlieferung einnimmt. Hier verschränken sich die christologische und die überlieferungsgeschichtliche Fragestellung. Mit Forschern wie Franz Mußner sehe ich in der Zumutung, der »einzige Lehrer« zu sein (Mt 23,8), schon ein Charakteristikum des vorösterlichen Jesus. 6 Es hing mit seinem messianischen Anspruch zusammen, der ihn aus der Menge der anderen jüdischen Lehrer heraushob. Die Konzentration auf den einen Lehrer führte zu einer Isolierung der Überlieferung von Jesus. Darin unterscheidet sie sich von Anfang an von der vielstimmigen rabbinischen Tradition trotz mancher Verwandtschaft bei Überlieferungstechniken. 7 Es ist wohl kein Zufall, dass gerade Franz Mußner ein kleines, aber gewichtiges Buch über die Wunder Jesu geschrieben hat und darin einige für Jesus typische Merkmale herausarbeitet, die in Übereinstimmung mit der Logientradition stehen. 8 Das »für griechische Ohren unverständliche Wort effata« hält Wohlers für eine der urchristlichen Besprechungsformeln, die Wundererzählungen weitergeben sollten, aber gerade dieses Wort wird übersetzt (Mk 7,34). Viel eher wollte Markus auf diese Weise Hörern und Hörerinnen den »Klang« von Jesu Stimme vermitteln. Deshalb hat Markus auch den letzten Schrei Jesu am Kreuz, der nun wirklich kein Heilwort ist, auf Aramäisch wiedergegeben (Mk 15,34). Nicht nur die Gestalt Jesu droht in einem anonymen »Gruppenmessianismus« zu verblassen, auch die ersten Überlieferungsträger verschwimmen im Schatten des Kollektivs. Die von Paulus an seine Gemeinden weitergegebene Überlieferung in I Kor 15,3-5 wird weithin als ältestes Gut anerkannt. Das Traditionsstück lässt nun aber bei aller Kürze keinen Zweifel daran, dass zur ersten Erinnerung und Überlieferung der Jesus-Geschichte auch namentlich identifizierbare Zeugen wie Petrus oder der Herrenbruder Jakobus gehörten. Dieser Aspekt wird auf dem Hintergrund der antiken Oral History jetzt von Samuel Byrskog mit Recht wieder stark betont. 9 Einsicht in das Phänomen der Personenkontinuität gaben gelegentlich auch frühe Formgeschichtler zu erkennen. Für Martin Dibelius war die namentliche Erwähnung des Simon von Kyrene sowie seiner Söhne Rufus und Alexander (Mk 15,21) nur verständlich als »Bemerkungen«, die auf »Augenzeugen der Geschehnisse« verweisen. 10 Unter Berufung auf Theodor Zahn 11 nahm Karl Ludwig Schmidt bei seiner Aufgliederung der Synoptiker in Einzelüberlieferungen den Zusammenhang Markus 1,21-38 ausdrücklich aus und rechnete hier mit einer in die dritte Person umgesetzten Petrus-Erinnerung. 12 Darin enthalten sind ein Exorzismus in der Synagoge von Kafarnaum (Mk 1,23-28) und die Heilung der Schwiegermutter des Petrus (Mk 1,29-31). Deshalb kann man durchaus der pauschalen Behauptung von Wohlers widersprechen, »die synoptischen Wundergeschichten« seien »keine historischen Berichte von Einzelereignissen« im Leben Jesu. Wunder und Wirklichkeit Michael Wohlers gesteht zwar zu, dass bei Jesus und in den ersten Gemeinden Heilungen und Exorzismen vorkamen. Welche Wirklichkeit diese Art von »Wundern« besaßen, bleibt dagegen unklar. Bilden den Grund der Überlieferung ein paar zufällige Spontanheilungen, wie sie auch die Schulmedizin kennt? Handelte es sich um kurz andauernde Suggestivwirkungen wie bei den meisten modernen Heilungsversammlungen? Verdanken sich die Exorzismen dem beruhigenden Einfluss einer überlegenen Persönlichkeit auf hysterische Patienten, also einer Art Überwältigungstherapie? Die Unklarheit über die Wirklichkeit der neutestamentlichen Wunder kann mit dem begrenzten Rainer Riesner, Jahrgang 1950, Promotion 1980 und Habilitation 1990 in Tübingen, 1997/ 98 Lehrstuhlvertretung in Dresden, seit 1998 Professor für Evangelische Theologie und ihre Didaktik / Neues Testament an der Universität Dortmund. Rainer Riesner Raum für die Erörterungen zusammenhängen. Allerdings geht Wohlers auch in seiner in vieler Hinsicht material- und lehrreichen Dissertation nicht eigentlich auf dieses Thema ein. 13 Vielleicht ist solches Schweigen eher typisch für unsere aktuelle Gesprächssituation. Heilungen und Exorzismen werden Jesus oft mit Blick auf das antike Wirklichkeitsverständnis zugestanden, ohne es in ein Verhältnis zur modernen Weltsicht zu setzen. Kann man aber Wirklichkeitsverständnisse einfach additiv nebeneinander stellen und über ihre Wahrheit schweigen? Aber selbst, wo man das Problem nicht umgeht, dienen Antworten nicht immer der Klärung wie folgende: »Von dem Vorurteil befreit, zwangsläufig degenerierte Form von Religion oder Aberglaube zu sein, können Magie und Schamanismus mit ihrem ganzheitlich orientierten Welt- und Menschenbild in Rückbesinnung auf die Heilungswunder bei Jesus und den frühen Christen befruchtend auf die seelsorgerlich-therapeutische Praxis wirken«. 14 Viele Gegner, aber insgeheim auch manche Befürworter Rudolf Bultmanns, fühlten sich durch die Sprache seines Entmythologisierungsvortrag von 1941 indigniert: »Die Wunder des Neuen Testaments sind … als Wunder erledigt, und wer ihre Historizität durch Rekurs auf Nervenstörungen, auf hypnotische Einflüsse, auf Suggestion und dergl. retten will, der bestätigt das nur… Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben«. 15 Diese Sprache mag kirchlich nicht besonders rücksichtsvoll gewesen sein, ehrlich und verständlich war sie allemal. Es ist interessant, wie sich ein zu Unrecht vergessener Pionier der Formgeschichte zum Problem geäußert hat. Bultmanns »Mythos-Begriff [ist] geprägt von der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts; David Friedrich Strauß ist in ihm noch nicht zur Ruhe gekommen, und der schwere Ernst, mit dem Bultmann seine Frage stellt, zeigt, wie er mit dem Einsatz seiner Existenz um eine Lösung bemüht ist, die es ihm sichern soll, daß er zugleich Wahrheitsforscher und Christ sein kann … Die Frage [nach der Entstehung des Neuen Testaments] kann nicht gelöst werden ohne Kritik von der Wahrheit her, wie sie sich dem, der die Wahrheit liebt, aufdrängt. Nun ist es das Besondere dieser Geschichte, daß die Botschaft des Neuen Testaments, die in ihren Schriften zum Ausdruck kommt, sich zurückführt auf den Gott, der Wunder tut und seine Boten Wunder erleben und verkünden läßt. Das Maß des Menschenmöglichen und des Wahrscheinlichen wird hier also immer wieder überboten, ja zerbrochen«. 16 Dass der formgeschichtliche Entwurf von Martin Albertz weitgehend ignoriert wurde, hängt auch damit zusammen, dass sein Manuskript in Nazi-Gefängnissen entstand und schon von daher nicht ins Gespräch mit der Sekundärliteratur eintreten konnte. Die Worte eines profilierten Theologen der Bekennenden Kirche können aber das Bewusstsein dafür wach halten, dass die Wirklichkeit der biblischen Wunder nicht bloß ein theologisches Steckenpferd von solchen ist, die als pietistische, charismatische oder römisch-katholische Fundamentalisten gelten. Mit der Wunderfrage stellt sich die Gottesfrage. Ist Gott deistisch die erste Ursache, existenzialistisch die Tiefe menschlichen Seins oder pantheistisch der anonyme Urgrund aller Dinge? Oder steht Gott seiner Schöpfung souverän gegenüber und macht sich selbst in der Geschichte durch seine schöpferischen Machterweise bekannt? Eine Theologie, die für die Wirklichkeit der Wunder Jesu eintritt, leistet einen wichtigen Beitrag zur Erkenntnistheorie. Es geht um einen unzensierten Blick auf die Realität. Dabei muss die Theologie selbst heute nicht ohne Bundesgenossen bleiben. Der in England sehr angesehene Philosoph Richard Swinburne setzt sich in bemerkenswerter Weise für einen offenen Umgang mit dem Außergewöhnlichen ein. 17 Er schreckt nicht einmal davor zurück, glaubwürdig bezeugte Wunder für einen Hinweis auf die Existenz Gottes zu halten. Auch ein moderner Physiker wie der frühere Bochumer Ordinarius Günter Ewald plädiert für eine Naturphilosophie, die eine Brücke zum christlichen Glauben (Nicaenum! ) an die unseren Augen noch verborgene Welt Gottes bildet. 18 Die offene Wahrnehmung kann natürlich nicht auf biblische Überlieferung oder christliche Religion beschränkt bleiben. Kein Phänomen darf deswegen verboten werden, weil es bisheriger Erfahrung widerspricht. 19 Allerdings wird in der deutschen Exegese meist nicht einmal gefragt, welchen Beitrag zweitausend Jahre Kirchengeschichte zur 56 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Kontroverse Problematik der neutestamentlichen Wunder leisten könnten. 20 Wichtig für den eigenen Fragehorizont ist auch wahrzunehmen, wie heutige Menschen, etwa Schüler, über Wunder denken. 21 Mit Recht unterstreicht Wohlers das Glaubensmotiv bei den evangelischen Wundern. Aber gegen ihn wurde bei frühchristlichen Wundern Glaube nicht immer nur vorausgesetzt, sondern oft auch bewirkt, 22 gerade weil sie ungewöhnlich waren. Totenerweckungen und Epiphanien Eine Gruppe von Wundern erwähnt Michael Wohlers nicht eigens, weil er sich offensichtlich dem Urteil von Gerd Theißen anschließt: »Totenerweckungen gehören zu den Therapien: Einmal können fast alle antiken Totenerweckungen durch Wundertäter als Wiedererweckung Scheintoter verstanden werden…, ferner sind die typischen Motive dieselben: Die Kraftübertragung geht hier wie dort durch Berührung vor sich«. 23 Es ist bemerkenswert, dass gleich zwei der nur drei evangelischen Totenerweckungen aus diesem formgeschichtlichen Schema fallen. Was immer man von der Geschichtlichkeit der Auferweckung des Lazarus halten mag, die Erweckung eines Scheintoten ist sie jedenfalls nicht (Joh 11,39). Und wenn Jesus beim Jüngling von Nain an die Totenbahre greift, dann nicht, um Kraft zu übertragen, sondern um den Trauerzug aufzuhalten (Lk 7,14). Zur dritten Erzählung bemerkte der nicht unbedingt als kritiklos verdächtige Werner Georg Kümmel, er glaube »zu erkennen …, daß der Bericht von der Auferweckung der Tochter des Jairus (Mk 5,21ff. par.) trotz seines weltanschaulichen Anstoßes Anspruch auf Anerkennung als ein zuverlässiger Bericht hat«. 24 Totenerweckungen durch Jesus sind unabhängig von den Evangelien um 125 n. Chr. beim ältesten uns bekannten Apologeten Quadratus bezeugt (Eusebius, HE IV 3,2). Vor allem aber begegnet der Hinweis auf diese Art von Wundern auch als Logienstoff in einem von Jesus selbst formulierten Summarium seiner Tätigkeit (Mt 11,4-6 / Lk 7,22-23). Gerade ein Vergleich mit dem spät veröffentlichten Qumran-Text 4Q521 zeigt, wie Jesus hier beansprucht, dass in seinem Wirken die Erfüllung der messianischen Weissagung geschieht. 25 Nun bekennen das Neue Testament (Phil 2,6- 11) und die großen altkirchlichen Bekenntnisse Jesus aber nicht nur als den Messias Israels, sondern auch als den Mensch gewordenen Gottessohn. Der Anstoß zu dieser sich ausbildenden Erkenntnis war ohne Zweifel das Osterereignis (vgl. Joh 20,28). Michael Wohlers rechnet die Epiphanien in den Evangelien zu den »in die Geschichte Jesu zurückverlegten Ostergeschichten«. Aber es ist auch denkbar, dass man sich nach Ostern an bis dahin rätselhafte Ereignisse im Leben Jesu zurück erinnerte und sie nun in diesem neuen Licht sah. Als Beispiel sei kurz auf die sogenannte Verklärung Jesu eingegangen. Klaus Berger hat in beeindrukkender Weise die bestürzende Rätselhaftigkeit dieser Geschichte deutlich gemacht. 26 Die Verklärung wurde nicht nur in einer markinischen Form erzählt (Mk 9,2-8), sondern auch als davon unabhängige lukanische Sonderüberlieferung (Lk 9,28-36). 27 Dass kein derartiges Ereignis in Summarien erscheint, ist so lange kein Einwand, als man die Auskunft des Textes gelten lässt, das Ereignis gehöre in die letzte Zeit des nichtöffentlichen Wirkens Jesu und habe im engsten Jüngerkreis geheim gehalten werden sollen (Mk 9,9-10). Bei einem in seiner Art als einmalig dargestellten Geschehen scheint auch das Kriterium des mehrfach überlieferten Fehlversuchs nicht recht zu greifen. Die Überlieferung von der Verklärung dürfte bei der Herausbildung des Bekenntnisses zur Göttlichkeit Jesu eine größere Rolle gespielt haben als angenommen wird. Über II Petr 1,16-18 hinaus legen das mehrere neutestamentliche Texte nahe. 28 Auch fünfzig Jahre nach der großen Entmythologisierungsdebatte bin ich der Überzeugung, dass sich philosophisch und theologisch rechtfertigen lässt, 29 was Julius Schniewind damals gegen Rudolf Bultmann einwandte: »Das Skandalon liegt eben darin, daß ein Mensch, der der historischen Forschung mit ihren Zweifeln und Analogieschlüssen ausgeliefert ist, dennoch die einmalige Epiphanie Gottes ist. Es wäre zu behaupten, daß sorgfältige historische Forschung den Spuren dieser Epiphanie begegnen muß; daß, wo deren Spuren verschwinden, auch die historische Arbeit nicht stimmt«. 30 In modifizierter Weise gebe ich Michael Wohlers recht, die epiphanieartigen Evangelien-Erzählungen gewinnen ihr Gewicht erst von der Auferstehung Jesu her. Dabei ist allerdings entscheidend, ob es sich bei ihr nur um ein theologisches Interpretament handelt oder um einen neuschaffenden Eingriff Gottes in unsere raum- ZNT 7 (4. Jg. 2001) 57 Rainer Riesner Jesus - Jüdischer Wundertäter und epiphaner Gottessohn zeitliche Wirklichkeit. Leider sind wir hier in der evangelischen Theologie von einem Konsens weit entfernt und so gäbe es Anlass zu einer weiteren Kontroverse. Anmerkungen 1 Vorausgehende Kritik zusammengefasst in »The Concept of the So-Called ›Divine Man‹ in Mark’s Christology«, in: Studies in New Testament and Early Christian Literature. Essays in Honour of Allen P. Wikgren (NTSuppl 33), Leiden 1972, 229-240 (Neudruck in O. Betz, Jesus, der Messias Israels. Aufsätze zur Biblischen Theologie (WUNT 42), Tübingen 1987, 273-284). 2 Vgl. R. H. Gundry, Matthew. A Commentary on His Literary and Theological Art, Grand Rapids 1982, 299f. 3 Z.B. »Jesu Heiliger Krieg« (1957), in: Jesus, der Messias Israels, 77-98. 4 Nachwort zu R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition (FRLANT 12), Göttingen 10 1995, 409-452. Vgl. dazu R. Riesner, Rückfrage nach Jesus, ThBeitr 30 (1999) 329-333. 5 Die vorösterlichen Anfänge der Logientradition. Versuch eines formgeschichtlichen Zugangs zum Leben Jesu, in H. Ristow/ K. Matthiae, Der historische Jesus und der kerygmatische Christus, Berlin/ Ost 1960, 432- 370 (jüngster überarbeiteter Nachdruck in H. Schürmann, Jesus - Gestalt und Geheimnis, Paderborn 1994, 380-397. 85-104). 6 »Die Beschränkung auf einen einzigen Lehrer. Zu einer wenig beachteten differentia specifica zwischen Judentum und Christentum« (1978), in F. Mussner, Jesus von Nazaret im Umfeld Israels und der Urkirche (WUNT 111), Tübingen 1999, 212-222.. 7 Vgl. R. Riesner, Jesus als Lehrer. Eine Untersuchung zum Ursprung der Evangelien-Überlieferung (WUNT II/ 7), Tübingen 3 1988. 8 Die Wunder Jesu. Eine Hinführung (Schriften zur Katechetik X), München 1967. Eine Neuauflage wäre gerade im Blick auf den Religionsunterricht lohnend. 9 Story as History - History as Story. The Gospel Tradition in the Context of Ancient Oral History (WUNT 123), Tübingen 2000. 10 Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 2 1933, 183. 11 Einleitung in das Neue Testament II, Leipzig 3 1906/ 07 (Nachdruck Wuppertal 1994), 251f. 12 Der Rahmen der Geschichte Jesu. Literarkritische Untersuchungen zur ältesten Jesusüberlieferung, Berlin 1919, 48-59. 13 Heilige Krankheit. Epilepsie in antiker Medizin, Astrologie und Religion (MThSt 57), Marburg 1999. 14 B. Kollmann, Jesus und die Christen als Wundertäter. Studien zu Magie, Medizin und Schamanismus in Antike und Christentum (FRLANT 170), Göttingen 1996, 380. 15 Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, in H.W. Bartsch, Kerygma und Mythos I, Hamburg 1948, 15-53; 18. 16 M. Albertz, Die Botschaft des Neuen Testaments I/ 1: Die Entstehung der Botschaft, Zollikon - Zürich 1947, 10.13. 17 Die Existenz Gottes, Stuttgart 1987, 309-335. 18 Die Physik und das Jenseits. Spurensuche zwischen Philosophie und Naturwissenschaft, Aschaffenburg 1998. 19 Vorbildlich wird Offenheit für das Übersinnliche und historisch-kritische Nachfrage verbunden bei G. Wied, Prophetie im Spektrum von Theologie, Psychiatrie und Parapsychologie, Münster 1998. 20 Vgl. dagegen R.A.N. Kydd, Healing through the Centuries. Models for Understanding, Peabody 1998. 21 Interessantes Material bei G. Büttner, Warum erzählen wir heute neutestamentliche Wundergeschichten? , Lebendige Katechese 1 (2000) 39-42. 22 Vgl. K. Holl, Die Missionsmethode der alten und die der mittelalterlichen Kirche (1928), in H. Frohnes/ U.W. Knorr, Kirchengeschichte als Missionsgeschichte I: Die Alte Kirche, München 1974, 3-17; 7. 23 Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien (SUNT 8), Gütersloh 1974, 98 Anm. 25. 24 Jesu Antwort an Johannes den Täufer. Ein Beispiel zum Methodenproblem in der Jesusforschung (SbWGF XI/ 4), Wiesbaden 1974, 34. 25 Vgl. O. Betz/ R. Riesner, Verschwörung um Qumran. Jesus, die Schriftrollen und der Vatikan, Rastatt 1999, 111-115. 26 Wer war Jesus wirklich? , Stuttgart 1995, 10-13. 27 Vgl. B.E. Reid, The Transfiguration. A Sourceand Redaction-Critical Study of Luke 9: 28-36 (CRB 32), Paris 1993. 28 Das versuche ich in einer in Vorbereitung befindlichen Arbeit zu zeigen. 29 Vgl. auch R. Glöckner, Biblischer Glaube ohne Wunder? , Einsiedeln 1979. 30 »Antwort an Rudolf Bultmann. Thesen zum Problem der Entmythologisierung«, in: Kerygma und Mythos I, 85-134 (119). 58 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Kontroverse I. Kommen Wunder für Grundschulkinder zu früh ? Wundergeschichten im Religionsunterricht aller Schulstufen, also auch der Primarstufe, zu behandeln, galt lange Zeit als eine gleichermaßen selbstverständliche wie unproblematische Angelegenheit. Dies änderte sich in den späten 60er Jahren des 20. Jhdt. schlagartig. »Wundergeschichten der Bibel in der Grundschule? « fragte Klaus Wegenast in einem erstmals 1966 publizierten, 1970 nochmals leicht revidierten Aufsatz, um sogleich mit einem entschiedenen »Nein« zu antworten. 1 Eine Vielzahl von Religionspädagoginnen und Religionspädagogen pflichtete ihm bei und wollte Wunder frühestens in der Sekundarstufe I, am besten nicht vor dem siebten Schuljahr im Religionsunterricht behandelt wissen. Vereinzelt glaubte man im mißlungenen, weil zu frühen Thematisieren von Wundern gar eine der entscheidenden Ursachen für die Krise des Religionsunterrichts überhaupt erkennen zu können. Gegen eine Behandlung von Wundergeschichten im Grundschulalter werden schwerwiegende theologische, aber auch entwicklungspsychologische Argumente ins Feld geführt, 2 wobei die Schülerfrage nach der Wirklichkeit des Erzählten das Hauptproblem darstellt: - Die neutestamentlichen Wundererzählungen sind Glaubens- oder Bekenntnisgeschichten und keine Tatsachenberichte, werden von Grundschulkindern aber als solche behandelt, da ihnen der Unterschied intellektuell noch nicht vermittelbar ist. Eine Behandlung von Wundergeschichten in theologisch-hermeneutisch angemessener Form scheint damit in der Primarstufe nicht gewährleistet. - Wundergeschichten vermitteln ein verzerrtes Bild von Jesus als großem Zauberer und fördern die Tendenz, Jesus als ein in der Sphäre des Übernatürlichen anzusiedelndes Gottwesen mißzuverstehen, das bei genauerer Betrachtung für die eigene Existenz bedeutungslos erscheint. Es besteht die Gefahr, daß Kinder von Jesu Zuwendung damals hören und beeindruckt sind, sie in ihrem eigenen Leben aber nicht erfahren, obwohl auch sie Bedrohung und Not leiden. - Wundergeschichten legen das Mißverständnis nahe, christlicher Glaube bestehe im unkritischen Fürwahrhalten rational nicht erklärbarer Geschehnisse. Kinder stehen dann schnell vor der falschen Alternative, entweder die biblischen Wunder wider alle Vernunft für bare Münze zu nehmen oder aber sie als märchenhaft-unglaubwürdig abzulehnen und damit am biblischen Glauben überhaupt zu zweifeln. Bei der Überwindung mirakulösen Denkens in späteren Entwicklungsphasen wird mit den Wundern oftmals die biblische Tradition in ihrer Gesamtheit dem Bereich des Unwirklichen zugewiesen und über Bord geworfen. Trotz dieser unbestrittenen Problematik zeichnet sich in der jüngeren Vergangenheit eine Trendwende ab, indem namhafte Exegeten und Religionspädagogen die Verwendung von Wundergeschichten im Religionsunterricht der Grundschule wieder eindeutig bejahen. Im wesentlichen werden folgende Gründe dafür geltend gemacht: 3 - Als Erzähltexte sind Wundergeschichten besonders lebendig, nehmen die Hörer in das Geschehen hinein und bergen vielfältige didaktische Möglichkeiten in sich. Das Christentum war ursprünglich eine Erzählgemeinschaft und sollte sich auf seine »narrative Unschuld« 4 zurückbesinnen, die es durch die Dominanz des wissenschaftlichen Diskurses in der Theologie verloren hat. - Die historische Frage nach der Wirklichkeit des Erzählten läßt sich nicht dadurch umgehen, daß man Wundergeschichten im Religionsunterricht verschweigt. Die Kinder kommen in anderen Kontexten (Elternhaus, Kindergarten, Vorschule, Kindergottesdienst) mit ihnen in Berührung und suchen von sich aus nach einer Antwort. Hermeneutik und Vermittlung Bernd Kollmann Die Heilung des blinden Bartimäus (Mk 10,46-52) - ein Wunder für Grundschulkinder ZNT 7 (4. Jg. 2001) 59 - Theologisch bedeutet es eine unzulässige Verkürzung, wenn die Wunder unterschlagen werden. In ihnen spiegelt sich eine den Körper miteinbeziehende Ganzheitlichkeit christlicher Religion, und sie sind wesentlicher Bestandteil des Wirkens Jesu. Wundergeschichten machten den Menschen damals Hoffnung und können dies auch heute noch tun. - Als entwicklungspsychologisches Argument kommt hinzu, daß Kinder im Grundschulalter übermenschliche Phantasiegestalten brauchen, um ihre eigenen vielfältigen Begrenzungen und Einengungen symbolisch oder traumhaft zu überwinden. Wird ihnen Jesus als Wundertäter vorenthalten, dann drängt man sie zum uneingeschränkten Rückgriff auf säkulare Heilsgestalten aus der Comicwelt. Die Einbeziehung von Wundergeschichten in den Religionsunterricht der Grundschule hat also gewichtige Argumente für sich, muß aber gefährliche Klippen umschiffen, wenn sie gelingen soll. Während besonders spektakuläre Erzählungen wie der Seewandel Jesu oder das Weinwunder von Kana dabei wegen ihrer Mißverständlichkeit von vornherein ausgeklammert bleiben sollten, sieht dies bei der Bartimäusgeschichte anders aus, da sie Reißerisches vermeidet und in der Figur des Bartimäus gute Identifikationspunkte für Kinder bereit hält. Nicht ohne Grund ist sie die in Lehrplänen, Schulbüchern wie Unterrichtsentwürfen zur Primarstufe am häufigsten anzutreffende Wundergeschichte und verdient daher unsere Aufmerksamkeit. II. Die Heilung des blinden Bartimäus Bei der Bartimäuserzählung handelt es sich um eine alte Lokalüberlieferung aus Jericho, die um 70 n. Chr. in das Markusevangelium gelangte und kaum aus einem Guß ist. Zwischen dem eigentlichen Geschehen zu Lebzeiten Jesu und seiner Wiedergabe durch Markus liegen etwa vierzig Jahre mündlicher Überlieferung, in denen die Bartimäusgeschichte Veränderungen erfahren hat. Die Konkurrenz zwischen dem christologischen Hoheitstitel Davidssohn und dem archaischer wirkenden Rabbuni, aber auch Spannungen im Handlungsablauf deuten auf ein schrittweises Wachstum hin. 5 Der ursprüngliche Kern (Mk 10,46b.47.51- 52ab) erzählte wohl in deutlich kürzerer Form davon, wie Jesus die Stadt Jericho besucht, der blind am Wegesrand sitzende Bettler Bartimäus schreiend auf sich aufmerksam macht, Jesus ihn nach seinem Anliegen fragt, dieser die Worte »Rabbuni, daß ich wieder sehe« ausruft und aufgrund seines Glaubens an die Vollmacht Jesu sogleich von seiner Blindheit geheilt wird. Im Laufe der mündlichen Überlieferung richtete sich das Interesse zunehmend auf die Figur des Bartimäus. Es wurde ausgemalt, wie schwer er es hatte, Zugang zum Wundertäter Jesus zu finden (Mk 10,48-50). Ebenfalls neu hinzu kam die Anrede Jesu als Davidssohn, im antiken Judentum ein Titel für den erwarteten Messias (PsSal 17,21). Auch Markus selber hat am Anfang und am Ende in die Geschichte eingegriffen. Die Exposition »und sie kamen nach Jericho« (10,46b) und die Wendung »er folgte ihm nach auf dem Wege« (10,52c) stammen aller Voraussicht nach erst von ihm. In ihrem ältesten Kern geht die Bartimäusgeschichte auf das geschichtliche Wirken Jesu zurück. Sowohl die Ortsbezeichnung Jericho als auch die namentliche Nennung des Geheilten, letzteres in neutestamentlichen Wundergeschichten eine absolute Ausnahme, spiegeln geschichtliche Erinnerung und deuten auf ein Ereignis hin, das im wesentlichen tatsächlich so stattgefunden hat. Über den Heilungsvorgang wird nichts mitgeteilt. Offenbar hat allein das charismatische Wort Jesu dem blinden Bartimäus zu seiner Sehkraft zurückverholfen, während Jesus sich bei anderen Blindenheilungen (Mk 8,22-26; Joh 9,1-7) auch pharmakologischer Praktiken bedient. Sehstörungen bis hin zu vollständiger Blindheit waren damals ungleich verbreiteter als heute, die für die breiten Bevölkerungsschichten ohnehin unerschwingliche Augenheilkunde steckte in den Kinderschuhen. Wundercharismatiker konnten in vielen Fällen Heilung bringen, nicht zuletzt dann, wenn die Blindheit psychogener Natur war, wie es bei Bartimäus der Fall gewesen zu sein scheint. 6 Jesus ist allerdings als Blindenheiler keine Ausnahme, und das führt zugleich in die Zwiespältigkeit solcher Geschichten hinein. Aus der Antike ist eine Vielzahl von Blindenheilungen unterschiedlicher Gottheiten oder Wundercharismatiker überliefert. 7 Die Heilung des Bartimäus, so aufsehenerregend sie gewesen sein mag, begründet also in 60 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Hermeneutik und Vermittlung ZNT 7 (4. Jg. 2001) 61 Bernd Kollmann Die Heilung des blinden Bartimäus Bernd Kollmann Bernd Kollmann, geb. 1959 in Bebra. 1989 Promotion in Göttingen, 1992-1993 Visiting Scholar an der University of Chicago, 1995 Habilitation in Göttingen. 1994-1996 Vikariat in Wolfsburg, danach Vertretungsprofessuren in Aachen und Siegen. Seit 2000 Professor für Exegese und Theologie des Neuen Testaments an der Universität Siegen. Forschungsschwerpunkte: Wundergeschichten, Bergpredigt, Geschichte des frühen Christentums. keiner Weise die Besonderheit Jesu und stellt keinen Beweis für seine Gottessohnschaft dar. Sie birgt im Gegenteil die Gefahr in sich, Jesus als einen von vielen Wunderheilern der Antike zu betrachten und damit den Blick auf seine wirkliche Bedeutung zu verbauen. Das haben bereits diejenigen Christen so empfunden, die beim Weitererzählen zweimal den bekenntnishaften Hilfeschrei »Du Sohn Davids« (Mk 10,46.47) einfließen ließen. Sie wollten klarstellen, daß es sich bei dem Blindenheiler Jesus um den erwarteten Messias aus dem Stamm Davids handelt. Das allerdings ist eine historisch nicht mehr verifizierbare Glaubensaussage. Aus dem Wunderbericht ist eine christologische Bekenntnisgeschichte geworden. Warum haben Christen in den ersten Jahrzehnten nach Jesu Tod diese Wundergeschichte weitererzählt? Ursprünglich wollten sie wohl einfach die geschichtliche Erinnerung an die Heilung des Bartimäus bewahren oder mit dem Wundertäter Jesus missionarische Werbung betreiben. In ihrer um das Bekenntnis zum Davidssohn erweiterten Gestalt bietet die Bartimäusgeschichte dann eine Art narrativer Glaubenskatechese. Sie will verdeutlichen, wie eine unbeugsam hoffende Haltung allen Zurückweisungen und Widrigkeiten zum Trotz zur Begegnung mit Jesus und somit zur Gabe des Heils führen kann. 8 Dies erschöpft sich nicht in Belehrung, sondern schließt Ermutigung mit ein. Wundergeschichten sind Hoffnungsgeschichten der kleinen Leute, indem sie als symbolische Handlungen ein neues Daseinsverständnis erschließen. 9 In Wundern wird die leidvolle, aussichtslos erscheinende Wirklichkeit exemplarisch durchbrochen. Sie haben grenzüberschreitenden Charakter mit mutmachender Funktion. Die Bartimäusgeschichte ist allerdings mit ihrem historischen Kern kein Phantasieprodukt aus der Welt der Mythen, sondern an das tatsächliche Handeln Jesu zurückgebunden und bietet so eine auf geschichtlicher Erfahrung beruhende Vision der Hoffnung. Dabei brauchte man nicht wirklich krank zu sein, um aus der Heilung des blind am Boden liegenden Bartimäus Hoffnung und Lebensmut schöpfen zu können. Bereits in der Logienquelle werden die Wunder Jesu im Horizont alttestamentlicher Prophetie als Heilung auch der im symbolischen Sinne Blinden und der an der Seele Gelähmten gedeutet (Mt 11,5/ Lk 7,22). 10 Die Art und Weise, wie schließlich Markus in die Bartimäuserzählung eingreift und sie in sein Evangelium einbaut, ist eines von vielen Beispielen neutestamentlicher Wunderkritik. Zunächst einmal hat Markus durch Einfügung der Wendung »… und er folgte ihm auf dem Weg« (Mk 10,46) der Wundergeschichte ein Achtergewicht gegeben und sie zu einer Nachfolgegeschichte gemacht. Nicht mehr auf dem Wunder selber und dem Bekenntnis zum Davidssohn, sondern auf der Nachfolge des gläubigen Bartimäus liegt nun der Hauptakzent. Verstärkt wird diese wunderkritische Tendenz durch den Kontext, in den Markus die Bartimäusgeschichte stellt. Der gesamte Abschnitt Mk 8,27- 10,52 ist thematisch durch die Leidensankündigungen Jesu und die Leidensnachfolge der Jünger geprägt. Direkt nach der Heilung des Bartimäus beginnt mit dem Einzug in Jerusalem der Weg zum Kreuz. Durch diese Kontextstellung wird das Wunder kreuzestheologisch eingefärbt, die schon vormarkinisch eingeschränkte Herrlichkeitschristologie des Heilungswunders noch stärker relativiert und die tiefere, unverwechselbare Bedeutung des Wundertäters Jesus erschlossen. Der Blindenheiler Jesus ist kein Wundermann wie viele andere, sondern der dem Kreuz entgegengehende Messias, der Menschen die Augen öffnet und sie in die Leidensnachfolge ruft. Indem der von seiner Blindheit geheilte Bartimäus auf der Ebene der markinischen Redaktion seinen sehenden Zeitgenossen zum Paradigma einer rundum gelungenen Jesusbeziehung wird, ist vollends der Weg für ein bildhaftes Verständnis des Wunders gebahnt. Wer den Davidssohn Jesus nicht als leidenden Messias erkennt und sich dem Ruf in die Nachfolge verschließt, bleibt blind - wie gut auch immer die physische Sehkraft sein mag. III. Erzählerische und spielerische Zugänge zur Bartimäusgeschichte im Grundschulalter Für die inhaltliche Vermittlung der Bartimäusgeschichte im Unterricht ist »Biblisches Erzählen« ungleich lebendiger und gewinnbringender als einfaches Verlesen des Bibeltextes. Das Hören von Geschichten hat trotz zunehmender Prägung des Schüleralltags durch visuelle Medien nichts an Attraktivität eingebüßt und nimmt die Adressaten unmittelbar in das biblische Geschehen hinein. Dadurch in Gang gesetzte Identifikationsprozesse überbrücken die Distanz zum Text und wecken die Hoffnung auf eine der biblischen Situation vergleichbare Gotteserfahrung im eigenen Leben. Zudem kann auf diese Weise bereits die Erstbegegnung mit dem biblischen Text interpretativ gesteuert werden. Bibelwissenschaftlich verantwortetes Nacherzählen entzieht Kinder dem autoritativen Druck der Tradition und bahnt ihnen den We g zu einer eigenständigen Deutung der Wunder Jesu. Die zwei großen Schulrichtungen »Biblischen Erzählens«, die sich gegenüberstehen, werden durch Dietrich Steinwede einerseits, Walter Neidhart andererseits repräsentiert. Beide Theologen bieten Erzählversionen der Bartimäusgeschichte für Grundschulkinder und legen über ihren Weg von der Exegese bis zur freien Nacherzählung des Textes genauestens Rechenschaft ab. 11 Die Erzähltechnik D. Steinwedes ist durch die Maximen »Texttreue« und »Elementarisierung« gekennzeichnet, während bei W. Neidhart das Motto »Phantasiearbeit« dominiert und Subjektivität wie gefühlsmäßige Parteinahme bewußt beabsichtigt sind. An den Erzählentwürfen zu Mk 10,46-52 kann man das gut beobachten. D. Steinwede bleibt recht eng am Text und bedient sich einfachster Sätze. W. Neidhart hingegen erfindet phantasievoll viel hinzu, wovon im Bibeltext nichts steht. Namentlich die gesamte Vorgeschichte des Bartimäus, der als Teppichknüpfer Augenlicht und Arbeit verliert, wird in schillernden Farben lebendig ausgemalt. Eingangs hat sich gezeigt, daß die Schülerfrage nach dem historischen Geschehen das zentrale didaktische Problem bei Wundergeschichten im Grundschulunterricht darstellt. Beide Entwürfe bieten anschauliche Beispiele dafür, wie dieser neuralgische Punkt durch theologisch reflektiertes Erzählen entschärft und bewältigt werden kann. D. Steinwede geht von dem Axiom aus, daß das sinnbildliche Sehen Jesu als des rettenden Messias die unumschränkte theologische Mitte der Bartimäusgeschichte ausmacht, und interpretiert daher das Wunder von vornherein in übertragenem Sinne. »Bartimäus hebt seine Hände: Lieber Herr, Rabbuni, ich möchte sehen. Jesus sagt zu ihm: Bartimäus, du kannst ja sehen. Du hast ja das Wichtigste gesehen. Mit deinem - Herzen. … Du glaubst ja an mich. Dein Glaube hat dich gerettet. Du bist nicht mehr ›blind‹. Du hast mich ›gesehen‹.« 12 In erheblicher Spannung zum ursprünglichen Aussagegehalt der Bartimäusgeschichte wird die in der Wiederherstellung der organischen Sehkraft bestehende Heilung rein symbolisch als Ende der Herzensblindheit präsentiert. Der Mehrdimensionalität des Textes angemessener erscheint die Absicht W. Neidharts, die Heilung als subjektives Erleben des Bartimäus zu veranschaulichen und damit in ihrer Tatsächlichkeit bewußt in der Schwebe zu halten. »Da ist es ihm wie einem, der nach einem langen bösen Traum die Augen öffnet und den hellen Tag vor sich sieht. Er kann es gar nicht fassen, daß der böse Traum schon vorüber ist. Er sieht Jesus vor sich stehen und die vielen Menschen um ihn herum. Ihre Gesichter blicken aufmerksam auf ihn. Alles leuchtet in bunten Farben, die Gewänder, die Straße, die Palmen, die Stadtmauer, der blaue Himmel. Bartimäus sieht so hell und klar wie damals, als er noch bei Meister Matthias Teppiche knüpfte. In seinem Innern fühlt er einen gewaltigen Strom von heiliger Freude.« 13 Den Hörern bleibt in dieser Erzählkonzeption ein Stück weit selber die Entscheidung überlassen, inwieweit sie die Geschichte wunderhaft deuten wollen. Der physikalische Vorgang der Heilung wird durch eine »Wie«-Formulierung relativiert 62 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Hermeneutik und Vermittlung und verliert zusätzlich dadurch an Bedeutung, daß sich der Focus gezielt auf die emotionale Befindlichkeit des Bartimäus richtet. Nicht was andere gesehen haben wird erzählt, sondern was Bartimäus erlebt und gefühlt hat. Während sich »Biblisches Erzählen« gut zur Erstvermittlung der Bartimäusgeschichte eignet, setzt die »Hermeneutik der Verfremdung« Bekanntschaft mit dem biblischen Text voraus und zielt darauf ab, bereits eingespielte Wahrnehmungsmuster zwischen Text und Hörer aufzubrechen. Durch verfremdete Wiedergabe vertrauter biblischer Tradition wird bei Kindern Staunen und Neugierde geweckt, ein Nachdenken über die eigene Einstellung zum Text angeregt und vielleicht auch produktiver Widerspruch hervorgerufen. Neben einer Darbietung der Bartimäusgeschichte in veränderter literarischer Form, etwa als Gedicht, 14 kommen auch visuelle Verfremdungen unter Rückgriff auf den Bereich der bildenden Kunst in Betracht. 15 Ergänzend zu freier Nacherzählung oder verfremdeter Wiedergabe von Mk 10,46-52 eröffnen schließlich Methoden aus dem Umfeld des Rollenspiels oder Bibliodramas die Möglichkeit einer spielerischen, in noch höherem Maße gefühlsbetonten und nicht zuletzt auch körperbezogenen Auseinandersetzung mit der Bartimäusgeschichte. 16 Durch Rollenübernahme und darstellendes Spiel werden besonders intensive Identifikationsprozesse und tiefgehende emotionale Beteiligung gefördert, als deren Folge Kinder den im biblischen Geschehen enthaltenen Zuspruch oder Anspruch Gottes in ihrer eigenen Lebensgeschichte neu erfahren lernen. IV. Möglichkeiten der didaktischen Umsetzung der Bartimäusgeschichte Die Bartimäusgeschichte eröffnet in ihrer exegetischen Vielfalt unterschiedliche didaktische Ansatzpunkte und Möglichkeiten. Als globales Leitziel muß das Bemühen im Vordergrund stehen, Kindern eine Beziehung zwischen der Wundergeschichte und ihrem eigenen Leben zu eröffnen. In diesem Rahmen kann die Bartimäusgeschichte im Religionsunterricht der Grundschule schwerpunktmäßig als Glaubenserzählung, Handlungsanweisung oder Hoffnungsgeschichte vermittelt werden. Diese drei Wege, die sich stellenweise kreuzen, sollen mit ihren Chancen und Hindernissen ein Stück weit ausgeleuchtet werden. Der Versuch, Kindern Mk 10,46-52 als exemplarische Glaubenserzählung oder Vertrauensgeschichte nahezubringen, knüpft an das Bekenntnis des Bartimäus zum Davidssohn und die darauf bezogenen Worte Jesu »Dein Glaube hat dich gerettet« an. Vorausgesetzt ist ein bildhaftes Verständnis des Wunders. Als Lernziel bietet sich an, am Geschick des Bartimäus die existentielle Bedeutung wahren »Sehens« und uneingeschränkten Vertrauens auf Christus zu veranschaulichen. 17 Bartimäus wird den Schülerinnen und Schülern zum Paradebeispiel dafür, wie innere Blindheit durch Glauben überwunden werden kann und dies zur Rettung führt. Unabdingbar ist eine vorausgehende Sensibilisierung für symbolische Formen von Blindheit, wobei allerdings vielen Kindern im Grundschulalter aus den eingangs erwähnten entwicklungspsychologischen Gründen ein übertragenes Verständnis der Blindenheilung verschlossen bleiben dürfte. Ein weiteres Problem entsteht, wenn beim Hören der Bartimäusgeschichte ein Zusammenhang zwischen der Intensität des Glaubens und dem Grad der Rettung hergestellt wird. Von einem Tun-Ergehen-Denken her liegt es im Grundschulalter nahe, den Glauben des Bartimäus als Vorbedingung der Heilung, die Heilung selbst als Gegenleistung für den Glauben mißzuverstehen. Empirische Untersuchungen bestätigen die Gefahr solch einer Fehlinterpretation von Mk 10,46-52, 18 die zwangsläufig ein Verharren im Leid als Folge unzureichenden Glaubens betrachten muß. Eine Alternative stellt das Konzept dar, die Bartimäuserzählung als auch heute noch aktuelle Handlungsanweisung zu vermitteln, die in Nachahmung Jesu auf solidarische, kommunikative Praxis mit ausgegrenzten Gruppen und Menschen zielt. 19 Gut eignen sich dafür Unterrichtseinheiten wie »Miteinander Leben« oder »Gesunde und Behinderte«. In Anknüpfung an das vorbildliche Sozialverhalten Jesu läßt sich Mk 10,46-52 als eine Mitgefühlsgeschichte zu Gehör bringen, die bei Kindern Verständnis für den blinden Bartimäus weckt und ihnen die soziale Kompetenz vermittelt, wie Jesus den Wert eines jeden Menschen in seiner Eigenart anzuerkennen. Sehr gut eignen sich dazu Blindenspiele, wie sie in praktisch allen Unterrichtsentwürfen zu Mk 10,46-52 ZNT 7 (4. Jg. 2001) 63 Bernd Kollmann Die Heilung des blinden Bartimäus vorkommen, denn sie vermitteln zumindest vorübergehend die Erfahrung des Blindseins mit all seinen Schattenseiten und rufen Solidarität mit Bartimäus hervor. Das eigentliche Wunder tritt bei diesem didaktischen Ansatz in den Hintergrund und erscheint austauschbar. Entscheidend ist die »wunderbare« Zuwendung Jesu gegenüber einer ausgegrenzten Person, wie sie in gleicher Weise außerhalb der Wundertradition, etwa in der Zachäusgeschichte (Lk 19,1-10), zum Tragen kommt. Die Gefahr solch einer ethisierenden Anwendung der Bartimäusgeschichte besteht darin, daß den Kindern Gesetz statt Evangelium vermittelt wird und sie sich durch das Vorbild Jesu überfordert fühlen könnten. Befragungen von Kindern und Jugendlichen zeigen, daß der im vorbildhaften Verhalten Jesu sichtbare moralische Anspruch der Bartimäuserzählung sie schnell in Resignation treibt und ihnen den Blick auf die entlastende, hoffnungsstiftende Dimension des Wunders verstellt. 20 Diese theologische Schieflage wird vermieden, wenn nicht Jesus in seiner Unerreichbarkeit, sondern vielmehr der geheilte Bartimäus die Vorbildfunktion einnimmt, die Handlungsanweisung also aus dem markinischen Nachfolgegedanken (Mk 10,52) abgeleitet wird. 21 Der Anspruch erwächst dann aus dem zuvor erfahrenen Zuspruch, und Vorbild ist ein Mensch mit all seinen Fehlern und Schwächen. Einen dritten, nicht ohne Grund als »Qualitätssprung, was die Grundschule angeht« 22 bezeichneten Weg geht der Versuch, die Bart imäusgeschichte als Hoffnungsgeschichte nahezubringen. 23 Weder der vorbildliche Glaube des blinden Bartimäus noch das beispielhafte Sozialverhalten Jesu oder die nachahmenswerte Nachfolge des geheilten Bartimäus werden in den Vordergrund gerückt, sondern es geht darum, Kinder die Heilung des Bartimäus ganz unmittelbar als Schlüssel oder Verheißung für ihr Leben in Betracht ziehen zu lassen. Sie sollen nicht nur von Jesu Zuwendung damals hören, sondern sie auch am eigenen Leib erfahren lernen. Dieses Modell kann daran anknüpfen, daß die Bartimäuserzählung für die ersten Christen nicht zuletzt auch eine Geschichte war, die kranken, verzweifelten oder niedergeschlagenen Menschen die geschichtlich fundierte Zuversicht gab, genau wie der blinde Bartimäus wieder aufgerichtet zu werden. Dieser vormarkinische »Sitz im Leben« ermöglicht einen Brückenschlag zur Situation der Schülerinnen und Schüler, die miterleben und nachvollziehen können, wie Menschen damals Jesus erfahren haben, und auf diese Weise die Heilung des Bartimäus gleichsam zu ihrer eigenen Geschichte werden lassen. Die Person des Bartimäus bietet dazu vielfältige Identifikationspunkte. Wenn Bartimäus im biblischen Text angefahren wird, still zu sein, deckt sich dies mit der Erfahrung, die Kinder in unserer Gesellschaft tagtäglich machen. Ingo Baldermann ließ Schülerinnen und Schüler mit Worten aus den Psalmen die innere Befindlichkeit des blinden Bartimäus ausleuchten. 24 Sie legten dem verloren am Wegesrand sitzenden Bartimäus, den die Leute zum Schweigen bringen wollten, biblische Worte der Verzweiflung und der Hoffnung in den Mund, die zugleich ihre eigenen Ängste und Hoffnungen widerspiegelten. Erstaunlicherweise fragte dabei kein Kind danach, ob das geschilderte Wunder denn tatsächlich so geschehen sein könne. Die unmittelbare Begegnung mit dem Text hatte die historische Frage völlig in den Hintergrund gedrängt. Kinder können so im blinden Bartimäus Anteile ihrer eigenen Person wiedererkennen, wie dieser gegen Zwänge aufbegehren und aus seiner Heilung Zuversicht für ihr Leben gewinnen. Wenn dies geschieht, dann ist die Wundererzählung, wie sie es schon bei den ersten Christen war, erneut zur grenzüberwindenden Hoffnungsgeschichte der kleinen Leute geworden. Ob als Glaubensbeispiel, Handlungsvorbild oder aber Hoffnungsfigur - in allen Fällen hat der von seiner Blindheit geheilte Bartimäus auch bereits Grundschulkindern Wichtiges zu sagen und weist ihnen Wege zu einem gelingenden Leben auf. Anmerkungen 1 K. Wegenast, Wundergeschichten der Bibel in der Grundschule? , in: ders., Glaube - Schule - Wirklichkeit, Gütersloh 1970, 156-160. Vgl. - nach wie vor von Skepsis geprägt - ders., Wundergeschichten im Unterricht - ein religionspädagogisches Doppelproblem, in: ZPT. EvErz 51 (1999) 32-46. 2 Vgl. über Wegenast hinaus die kritischen Stimmen von K. Heinemeyer, Wunder im Unterricht. Synoptische Wunder als Problem der Religionspädagogik in Konzeptionen und Rezeptionen, Hannover 1987, 91- 94; M. Kwiran, Theologische und didaktische Anmerkungen zur Behandlung von Wundergeschichten im Religionsunterricht, ru 17 (1987) 66-69, zur Gesamtproblematik auch G. Otto, Handbuch des Religionsun- 64 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Hermeneutik und Vermittlung terrichts, Hamburg 1964, 279-283; W. Neidhart/ H. Eggensberger (Hgg.), Erzählbuch zur Bibel. Theorie und Beispiele, Bd. I, Lahr u.a. 6 1990, 85-103. 3 Vgl. W. Bösen, »Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist«. Exegetische und religionspädagogische Überlegungen, ru 17 (1987) 50-56; I. Baldermann, Gottes Reich - Hoffnung für Kinder. Entdeckungen mit Kindern in den Evangelien (WdL 8), Neukirchen-Vluyn 2 1993, 33- 51; ders., Einführung in die biblische Didaktik, Darmstadt 1996, 76-81; G. Scholz, Didaktik neutestamentlicher Wundergeschichten (ARPäd 10), Göttingen 1994, 146-176, speziell zum entwicklungspsychologischen Aspekt W.H. Ritter, Wundergeschichten für Grundschulkinder? Aspekte einer religionspädagogischen Kontroverse und weiterführende religionsdidaktische Überlegungen, in: F. Harz/ M. Schreiner (Hgg.), Glauben im Lebenszyklus, München 1994, 139-159; ders., Kommen Wunder für Kinder zu früh? Wundergeschichten im Religionsunterricht der Grundschule, in: KatBl 120 (1995) 832-842. 4 Der Begriff stammt von H. Weinrich, Narrative Theologie, Concilium 9 (1973) 329-334, bes. 331. 5 Vgl. zur Analyse J. Roloff, Das Kerygma und der irdische Jesus. Historische Motive in den Jesus-Erzählungen der Evangelien, Göttingen 1970, 121-123; ähnlich C. Burger, Jesus als Davidssohn. Eine traditionsgeschichtliche Untersuchung (FRLANT 98), Göttingen 1970, 42-46. 6 Vgl. E. Drewermann, Das Markusevangelium Bd. II, Olten 3 1990, 148-165, der »hysterische Blindheit« vermutet. 7 Neben den zahlreichen Berichten von Blindenheilungswundern aus dem Asklepios- und Isiskult ist insbesondere die Blindenheilung Vespasians in Alexandria (Tacitus, Hist. IV 81,1-3) zu nennen, vgl. B. Kollmann, Jesus und die Christen als Wundertäter. Studien zu Magie, Medizin und Schamanismus in Antike und Christentum (FRLANT 170), Göttingen 1996, 73- 83.106-109 (Lit.). 8 Vgl. W. Kirchschläger, Bartimäus - Paradigma einer Wundererzählung (Mk 10,46-52par), in: F. van Segbroeck u.a. (Hgg.), The Four Gospels 1992, Bd. 2, FS F. Neirynck (BEThL 100), Leuven 1992, 1105-1123, bes. 1119. 9 Vgl. G. Theißen, Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien (StNT 8), Gütersloh 5 1987, 35- 51.229-261.283-297. 10 Vgl. zu Blindheit als Symbol P. Trummer, Daß meine Augen sich öffnen. Kleine biblische Erkenntnislehre am Beispiel der Blindenheilungen Jesu, Stuttgart 2 1999, 28- 35. 11 In: G. Urbach (Hg.), Biblische Geschichten Kindern erzählen. Anleitungen, Modelle und Beispiele, Gütersloh 2 1981, 35-70; vgl. ergänzend K. Wegenast, Religionsdidaktik Grundschule. Voraussetzungen, Grundlagen, Materialien, Stuttgart 1983, 96-106. Beide Autoren haben ihre Nacherzählung von Mk 10,46-52 auch anderenorts veröffentlicht (D. Steinwede, Biblisches Erzählen. Beispiele aus Grundschule und Kindergarten für Aus- und Fortbildung, Göttingen 1981, 20f.; W. Neidhart, Erzählbuch zur Bibel Bd. II, Lahr u.a. 1989, 143-146). 12 Steinwede, in: Urbach (Hg.), Biblische Geschichten 52. Vgl. dazu Steinwedes Kommentar, ebd., 41: »Die theologische Mitte wird nachhaltig entfaltet: Jesus als den Herrn, den kyrios, ›sehen‹, heißt, Gott ›sehen‹. Das ist entscheidend. Dahinter tritt das organische Sehenkönnen zurück.« 13 Neidhart, Erzählbuch II 146. Vgl. die grundsätzlichen Erwägungen zum Erzählen des Wundervorgangs in: Neidhart/ Eggensberger (Hgg.), Erzählbuch I 94-103. 14 Beispielsweise R.O. Wiemer, Bartimäus (»Ich bin der, welchen er / sehend machte. / / Was sah ich? Am Kreuz / ihn, hingerichtet, / / ihn, hilfloser als ich war, / ihn, den Helfer, gequält. / / Ich frage: Mußte ich meine / Blindheit verlieren, um das / zu sehn? «), in: K.-J. Kuschel (Hg.), Der andere Jesus. Ein Lesebuch moderner literarischer Texte, Zürich u.a. 1983, 388; K. Arndt/ M. Kwiran, Gott sitzt nicht auf einer Wolke. Religion im 3. Schuljahr, Stuttgart u.a. 1995, 10 (siehe unten, Anm. 21). Vgl. grundsätzlich zur Bibelauslegung durch Verfremdung H.K. Berg, Ein Wort wie Feuer. Wege lebendiger Bibelauslegung, München/ Stuttgart 1991, 366-385. 15 Bekannt sind die Werke »Streichholzhändler I« (1920) und »Streichholzhändler« (1921) von Otto Dix, die freilich Mk 10,46-52 sogleich zu einer Mitleidsgeschichte werden lassen (U. Baltz u.a., Kinder fragen nach dem Leben. Religionsbuch 3./ 4. Schuljahr, Frankfurt a.M. 1976, 43). Vgl. zu anderen Bildern oder Karikaturen mit Blinden(heilungs)thematik T. Eggers, Wenn das Wunder Schule macht. Ein Beitrag zur Bibeldidaktik und zum Religionsunterricht, Düsseldorf 1991, 57-66; P. Hennig, Wenn Blinden die Augen aufgehen - Zugänge zu einer biblischen Heilungsgeschichte (Mk 10,46-52), in: ZPT. EvErz 51 (1999) 56-63, bes. 62f. 16 Ein Rollenspiel zu Mk 10,46-52 enthält H. Multhaupt, Zachäus, komm vom Baum herunter! Biblische Spiele für Gottesdienst, Schule und Gruppe, Mainz 1994, 17- 19. Auch aus den für die Sekundarstufe I gedachten spielerischen Zugängen zur Bartimäusgeschichte von Hennig, Wenn Blinden die Augen aufgehen 56-63, und dem Bibliodramaentwurf von H. Langer, Vielleicht sogar Wunder. Heilungsgeschichten im Bibliodrama, Stuttgart 1991, 97-106, dürften sich einzelne Bausteine bereits im ausgehenden Grundschulalter verwenden lassen. 17 Heinemeyer, Wunder, 153, formuliert als Globalziel für die 4./ 5. Klasse: »Die Schüler sollen lernen, daß die Wundergeschichte (Christuslegende) ›Der Blinde von Jericho‹ (Mk 10,46-52) bildhaft, wie ein Gleichnis, zu verstehen gibt, daß der Mensch, der Jesus vertraut, nicht mehr ›blind‹ ist, sondern sehend, erkennend wird, d.h. in Jesus den Heiland, das Licht der Welt erkennt und ihm nachfolgt.« Vgl. zu Mk 10,46-52 als Glaubensgeschichte für die Primarstufe ferner R. Vandré, Wundergeschichten im Religionsunterricht, Göttingen 1975, 43-53. ZNT 7 (4. Jg. 2001) 65 Bernd Kollmann Die Heilung des blinden Bartimäus 18 Vgl. H.-J. Blum, Biblische Wunder - heute. Eine Anfrage an die Religionspädagogik (SBTB 23) Stuttgart 1997, 148, und bes. H. Bee-Schroedter, Neutestamentliche Wundergeschichten im Spiegel vergangener und gegenwärtiger Rezeptionen. Historisch-exegetische und empirisch-entwicklungspsychologische Studien (SBB 39), Stuttgart 1998, 279-284, mit dem Nachweis, daß im ausgehenden Grundschulalter die Bartimäusgeschichte in »do-ut-des«-Kategorien gemäß Stufe 2 des Entwicklungsmodells von Oser/ Gmünder verstanden wird. 19 Vgl. grundsätzlich H. Frankemölle, Christlich glauben in ambivalenter Wirklichkeit. Handlungsanweisungen durch Wundergeschichten (am Beispiel von Mt 8-9), KatBl 114 (1989) 419-425, speziell zur Bartimäusgeschichte G. Lange, Die Blindenheilung von Jericho (Mk 10,46-52). Didaktische Überlegungen - Anregungen für den Unterricht im 2., 4. und 8. Schuljahr, KatBl 97 (1972) MD 19, 1-15, bes. 9-12, und Scholz, Wundergeschichten 218-225, der die Grundschüler für die Nöte eines Blinden sensibilisieren und das positive Sozialverhalten Jesu hervorheben möchte, der durch wahrhaft menschliche Begegnung Not wendet. 20 Blum, Wunder 148. 21 Vgl. ebd., 220-223, der zudem eine »universal-solidarische Erweiterung« mit dem Resümee bietet, »daß das Reich Gottes sich in dieser Welt immer dann realisiert, wenn es uns gelingt, ein Stück unserer Blindheit handelnd zu überwinden«. Auch Arndt/ Kwiran, Gott 10, entfalten in Gedichtform die Nachfolge des Bartimäus in diese Richtung: »Und wirklich: Hell ist nun der Blick, / er sieht die Menschenscharen, / er sieht Not, Elend Leid, Unglück, / wie’s andere erfahren. / / Da kann er nur, wie Jesus sagt, / die Nachfolge antreten. / Er geht als Bruder unverzagt / zu Menschen, die in Nöten. / / Ein neues Leben nun beginnt: / Er hilft den Ärmsten, Schwächsten, / denn weil sie Gottes Kinder sind, / sind sie auch seine Nächsten.« 22 Wegenast, Wundergeschichten im Unterricht 44. 23 Baldermann, Didaktik 76-80; vgl. ders., Reich Gottes 33-42; F. Albrecht, Blindheit und Lähmung. Heilungserzählungen als Schlüsseltexte für Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen, Münster 1999, 111- 162. 24 Baldermann, Didaktik 79f. 66 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Hermeneutik und Vermittlung Buchreport ZNT 7 (4. Jg. 2001) 67 Werner Kahl New Testament Miracle Stories in their Religious-Historical Setting. A Religionsgeschichtliche Comparison from a Structural Perspective (FRLANT 163). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1994, 259 S., DM 88,- ISBN 3-525-53845-6 Ein im deutschen Sprachraum leider zu wenig beachtetes Wunderbuch ist die Monographie von Werner Kahl, »New Testament Miracle Stories in their Religious Historical Setting«. Die an der Emory University, Atlanta, geschriebene Dissertation stellt einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der ntl. Wundergeschichten dar. Denn sie unterzieht die formgeschichtliche Diskussion, namentlich repräsentiert von Martin Dibelius, Rudolf Bultmann oder Gerd Theißen, einer kritischen Revision. Kahl moniert vor allem einen »Mangel an methodischer Klarheit hinsichtlich des religionsgeschichtlichen Vergleichs« (238) und damit der formkritisch exakten Klassifizierung der Wundererzählungen. Die Kriterien der Stoffaufteilung seien nicht stringent, sie bezögen sich teilweise auf das Thema der Erzählung, auf die Art der Notlage, das Ziel der Erzählung oder auf formale Kriterien (174). Auch eine rein thematische Unterteilung der Wunderstoffe, wie sie Gerd Theißen unternimmt, hat ihre Schwächen, so Kahl, der dies u.a. am Beispiel der »Fernheilungswunder« deutlich macht. 1 Es ist das Hauptanliegen Kahls, die Frage der Klassifizierung und der religionsgeschichtlichen Vergleichbarkeit der Texte auf eine solide strukturalistische und semiotische Basis zu stellen. Anders gesagt, Kahl fragt nach der Tiefenstruktur (Morphologie) der (Heilungs-)Wunder als methodischer Basis der genannten Fragestellungen. Die Beschränkung auf die Berichte über Heilungs- und Erweckungswunder ist dabei arbeitsökonomisch bedingt. Vom strukturalistisch-semiotischen Ansatz von Propp, Dundes und Greimas herkommend untersucht Kahl die narrative Tiefenstruktur der Heilungswundererzählungen und erkennt in der Bewegung von einem anfänglichen, vorgegebenen Mangel (»initial lack«) zu dessen Überwindung (»liquidation of lack«) vermittels eines dafür befähigten Trägers göttlicher Macht (»bearer of numinous power«) die all diesen Erzählungen zugrunde liegende Struktur. Der »Mangel« bezieht sich dabei auf jedwede Form von (fehlender) Gesundheit. Die »Bausteine« (Motifeme) der narrativen Tiefenstruktur kann Kahl auf die Beschreibung des Mangels (lack), der Bereitschaft des Wundertäters (preparedness), der Durchführung des Wunders (performance) und dessen Feststellung am Ende (sanction) beschränken (160). Die Reihenfolge der vier Motifeme liege fest, nicht aber die Art ihrer jeweiligen sprachlich-narrativen Realisation in Form von »Motifen« und »Allomotifen«. So könnten die Identifikation des Wundertäters, die Art der Heilung, die Art der Reaktion etc. vielfältig variieren. Einzelne Motifeme könnten sogar ganz entfallen (vgl. Lk 22,49-51; Mk 6,5a als rudimentäre Wundergeschichte). 2 Ursache der Variationen sei zum einen die Kreativität des Autors, zum anderen seine Einbindung in einen bestimmten kulturellen Kontext. Aufgrund der Variationen kommt Kahl zur Unterscheidung zweier Grundtypen: Der eine Typ fokussiere die Bereitschaft de Wundertäters, der andere die Aktivität der Bittsteller. Um nicht die Mängel der klassischen Formgeschichte zu wiederholen, vergleicht Kahl nicht einzelne Motive (Allomotife) ntl. Wunderberichte mit solchen des außerntl. Bereichs. Statt dessen betrachtet Kahl die »innernarrative« Funktion der einzelnen Grundbausteine (Motifeme) als angemessenes und kontollierbares Kriterium formkritischer Klassifikation und religionsgeschichtlichen Vergleichens. Die methodische Leitfrage lautet: »What happens with respect to the innernarrative function of a miracle story when the focus is on this or that motifeme? « (181). Die Beobachtung, welches Motifem besonders ausgeführt wird und welches nicht sowie die Frage, wie die Motifeme in Gestalt von »Allomotifen« realisiert werden, lässt nach Kahl auf die Autorintention bzw. die Funktion der 68 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Buchreport Erzählung schließen. »The function of a miracle story can usually be identified by noting on which motifeme a story is focused« (173). Was die Analyse freilich verkompliziert, ist das häufige Ineinander mehrerer Motifem-Sequenzen (z.B. in Mk 9,14-29), was eine Hierarchisi erung der einzelnen Funktionen und Sequenzen impliziert (vgl. die gängige formkritische Bezeichnung »Apoph thegma« als Beispiel für ein solches Ineinander; 207ff.). Als Textbasis für den religionsgeschichtlichen Vergleich wählt Kahl ca. 150 antike Wundergeschichten, die im Palästina des 1. Jh. bekannt gewesen sein könnten (vgl. die Auflistung auf S. 57ff.). In all diesen Texten erkennt Kahl dieselbe narrative Grundbewegung von »initial lack« zu »liquidation of lack«, evoziert durch den Träger numinoser Macht. Kahl unterzieht seine Textbasis einer ausführlichen Analyse, um die Bandbreite möglicher Realisationen auszuloten und um zu Aussagen über die Funktion der Erzählungen zu kommen. Außerdem entwickelt Kahl auf diesem methodischen Weg ein (kultur-)spezifisches Profil jüdischer, heidnischer und frühchristlicher Wundergeschichten (216ff.). So zeichnen sich nach Kahl atl.-jüdische Wundergeschichten dadurch aus, dass regelmäßig der Wundertäter Gott um ein wunderhaftes Eingreifen bittet bzw. bitten muss. Menschliche Wundertäter gebe es keine, was mit einem in dieser Beziehung exklusiven Gottesbild zusammenhänge. Im Mittelpunkt der Erzählungen stehe die Wundervorbereitung, während der eigentliche Wundervollzug, wenn überhaupt, nur kurz erwähnt wird. »Only th e success of the unstated main performance is stated.« (217) Ein direkter Kontakt zwischen Gott und Patienten sei im atl. Bereich nicht erkennbar, in der Regel seien Mittlerwesen aktiv. Erst im nachatl. hellenistischen Judentum würden besonders Fromme wie Mose in direktem Kontakt mit Gott gesehen. - Pagane Wundergeschichten wiederum zeichnet nach Kahl aus, dass der göttliche Wundertäter ungebeten, aus eigenem Antrieb, erscheint, und zwar häufig in Traumvisionen. Menschliche Wundertäter wie Apollonius von Tyana seien die Ausnahme. - Als Spezifikum der ntl. Wundergeschichten arbeitet Kahl heraus: [Jesus] »does not need to come before his god as a suppliant, or refer to a BNP [i.e. Träger numinoser Macht, K.E.] mightier than himself.« Das heißt, der Mensch Jesus handelt eigenständig aus göttlicher Vollmacht heraus. - Der religionsgeschichtliche Vergleich führt nach Kahl zu einer Neubewertung der Frage, ob Jesus als hellenistischer »göttlicher Mensch« (theios aner) anzusehen sei. Jesus sei der idealtypische theios aner, da er als menschliches Wesen die Qualität eines göttlichen Wundertäters, der viele Wunder tut, habe. In dieser Hinsicht sei er (mit Ausnahme des später zu datierenden Apollonius von Tyana) ohne echte religionsgeschichtliche Analogie. Was Jesus darüber hinaus anders als andere Wundertäter kontrovers erscheinen lasse, sei die teilweise zurückweisende Reaktion auf seine Taten. Auch für die Frage, welche Funktion die Wundergeschichten bei den verschiedenen Evangelisten haben, lässt sich nach Kahl aus der strukturalistisch-semiotischen Analyse Gewinn ziehen. Unter anderem am Beispiel der Perikope vom Hauptmann von Kapernaum Mt 8,5-13par Lk 7,1-10 sei zu zeigen, dass bei gleichem Fokus (Bereitschaft des Akteurs, den Wundertäter anzusprechen) unterschiedliche Aspekte betont werden. So sei bei Mt ein verstärktes Interesse am Glauben des Bittstellers, bei Lukas ein Interesse an dessen Würdigkeit erkennbar. Wieder anders stehe in der joh. Parallele Joh 4,46-53 die göttliche Vollmacht des Wundertäters im Vordergrund. Das Motiv des Glaubens werde an je unterschiedlichen Motifemen festgemacht. - Über das Einzelbeispiel hinaus werden nach Kahl folgende Differenzierungen möglich: Während Q stark in atl.-jüdischer Tradition verwurzelt sei, sammelten sich bei Mk jüdische und pagane Traditionslinien. Mk Spezifikum sei das Schweigegebot, das die Realisation des Motifems »Feststellung des Wunders« bestimmt. 3 Mt wiederum sei stark am Glauben des Bittstellers als Vorbedingung der Hilfe interessiert, die anderen Motifeme erschienen demgegenüber verkürzt. Lk betone dagegen mehr die Heilungsmethoden und das Gotteslob als Reaktion der Augenzeugen. Jesus sei hier »lediglich« der Vollstrecker des göttlichen Werkes, was ihn in die Nähe der atl. Propheten rückt. Ziel der lk. Wundergeschichten ist nach Kahl die Erneuerung des Glaubens an Gott. Die joh. »Zeichen« (semeia) schließlich erwiesen die göttliche Natur Jesu; der Aspekt des Glaubens als Voraussetzung des Wunderhandelns trete dagegen zurück. Im Sinne einer kritischen Würdigung seien noch einige Schlussbemerkungen angefügt: Positiv bleibt stehen, dass Kahl in konsequenter Weise eine methodische Präzisierung einfordert und sie umsetzt, so wie das wünschenswert ist. Die Relevanz strukturalistisch-semiotischer Arbeit wird unmittelbar deutlich, betrachtet man die Ergebnisse des religionsgeschichtlichen Vergleichs. Nüchtern ist die Bilanz im Blick auf bislang konstatierte Untertypen von Heilungswundergeschichten: Es gibt aus strukturalistisch-semiotischer Sicht keine! (176) - Kritik ist an anderen Punkten zu üben: Es ist aus deutschsprachiger Sicht natürlich misslich, dass die Arbeit bislang nur auf Englisch erschienen ist. Immerhin kann sich der eilige Leser in einer deutschen Kurzzusammenfassung am Schluss einen Überblick ZNT 7 (4. Jg. 2001) 69 Buchreport über die Hauptgedanken des Buches machen. Was die Lektüre zusätzlich erschwert, sind die im strukturalistisch-semiotischen Bereich üblichen Kürzel, selbst wenn sie in einem eigenen Abkürzungsverzeichnis erläutert werden. Inhaltlich ist zu sagen, dass im Hinblick auf die Differenzierung zwischen den einzelnen Evangelisten die Ergebnisse nicht schlechthin innovativ sind. Für die Frage nach dem »göttlichen Menschen« (theios aner) indes eröffnen sich neue Perspektiven. In seiner religionsgeschichtlich einzigartigen Verbindung von menschlicher Natur und göttlicher Macht erscheint für Kahl Jesus als idealtypischer theios aner (231). - Systemimmanent zu beurteilen ist die fast völlige Ausblendung der Frage nach der Historizität der Wunder oder des sie tragenden Wirklichkeitsverständnisses. Auch die sozialhistorische Verortung der Wundergeschichten in ihren Trägergruppen (»Sitz im Leben«) gerät weitgehend aus dem Blick. Fokus sind für Kahl die kulturelle Umgebung und das Glaubenssystem der Erzähler, nicht die historischen Vorgänge um Jesus von Nazareth (11). Gleichwohl - wen methodische Fragen zur Wunderauslegung interessieren und wer dazu noch ausgiebiges religionsgeschichtliches Material sucht, dem ist das Buch von Werner Kahl warm zu empfehlen! Anmerkungen 1 Die exakte Abgrenzung dieses Typus sei letztlich unmöglich. »This makes it clear that classification based on the method of the main performance [ … ] are not helpful means.« (173, kursiv im Original) 2 Die Person des Wundertäters wird über den Forschungsstand hinaus in ihrer jeweiligen Funktion als Träger, Vermittler oder Bittsteller der göttllichen Macht differenziert. 3 Kahl interpretiert das mk. Schweigegebot in dem Sinne, dass die Geheilten als lebende Demonstrationen der göttlichen Kompetenz Jesu fungieren. Zweck sei die unvermeidliche Enthüllung der Identität Jesu. Kurt Erlemann Heike Bee-Schroedter Neutestamentliche Wundergeschichten im Spiegel vergangener und gegenwärtiger Rezeptionen. Historisch-exegetische und empirisch-entwicklungspsychologische Studien (SBB 39). Stuttgart: Katholisches Bibelwerk GmbH 1998, 482 S., DM 89,- ISBN 3-460-00391-X Die 1997 in Paderborn als Dissertation angenommene Studie von Heike B ee-Schroedter kreist um die Kernfrage »Wie rezipieren Heranwachsende neutestamentliche Wundergeschichten? « (4). Das Ziel der Arbeit ist ein ausgesprochen religionsdidaktisches, sie soll zu einer schülergerechten Vermittlung der Gattung Wundergeschichten anleiten. Den Anlass für dieses Unterfangen sieht Bee-Schroedter im Fehlen entwicklungspsychologischer Erkenntnisse in den gängigen Religionsbüchern mit der Folge eines Religionsunterrichts, der am Entwicklungsstand der Schülerinnen und Schüler vorbeigehe. Darüber hinausgehend formuliert die Autorin den »Anspruch der Studie, nicht nur religionspädagogisch, sondern auch hermeneutisch und damit auch für die biblische Exegese selbst relevant zu sein.« (1) Die weit gefasste Leitfrage lautet demnach: »Wie sind neutestamentliche Wundergeschichten überhaupt angemessen zu verstehen? « (6) Ein Buch also, das in seiner interdisziplinären Ausrichtung und Zielvorgabe weitreichende Erwartungen weckt. Methodologisch fußt das Buch besonders auf religionsdidaktischen und entwicklungspsychologischen Überlegungen und orientiert sich an der »qualitativen Sozialforschung«. Anstatt vom Text und seiner Auslegung zu Unterrichtsentwürfen zu kommen, geht Bee- Schroedter den umgekehrten Weg: In bewusster Distanzierung von historisch-kritischer Arbeit, deren Geltungsanspruch sie deutlich herabmindert, 1 stellt die Autorin die Lesarten bzw. Rezeptionen von ausgewählten Schülerinnen und Schülern (»Probanden«) in den Mittelpunkt, um von hier aus Erkenntnisse über die Verstehensmöglichkeiten und das Weltbild dieser Klientel zu schöpfen. 2 Texttheoretischer Hintergrund dieser Vorgehensweise ist die von der Semiotik (Eco) und der Rezeptionsästhetik (Iser, Warning, Jauß) hervorgehobene Rolle des Lesers bei der Konstituierung von Sinn. Die Möglichkeit eines »objektiven«, via historisch-kritischer Analyse zu erhebenden Textsinns, wird nach dieser Theorie kategorisch bestritten und dem Text eine grundsätzliche Offenheit für verschiedenste, gleichermaßen legitime Leseformen, bescheinigt. Von daher liegt es nahe, die Leseformen »moderner« Jugendlicher zum Maßstab einer angemessenen Hermeneutik der Wundergeschichten zu machen. 3 Für die 70 ZNT 7 (4. Jg. 2001) Buchreport notwendige altersspezifische Differenzierung sorgen von Piaget herkommende kognitiv-strukturelle Entwicklungstheorien. Ihre Validität kann mithilfe der empirischen Untersuchung zugleich geprüft werden. Zur Illustration ihrer rezeptionsästhetischen Sichtweise stellt Bee- Schroedter in einem ersten Durchgang (Teil III, S. 63-110) die Rezeption neutestamentlicher Wundergeschichten in der exegetischen Literatur dar. 200 Jahre Forschungsgeschichte, vom Rationalismus bis zu den neuesten Tendenzen, werden auf ihren jeweiligen geistesgeschichtlichen Hintergrund hin untersucht. Leitend ist dabei nicht die Frage nach einem objektiven Erkenntnisfortschritt, sondern nach der je eigenen Legitimität der exegetischen Fragestellungen und Ergebnisse. 4 Den eigentlichen Durchbruch in der exegetischen Forschung formuliert Bee- Schroedter folgendermaßen (110): »Erst das hermeneutische Selbstverständnis, diese Texte [scil. die Wundergeschichten, K.E.] nicht nach naturwissenschaftlichen oder historischen Maßstäben beurteilen zu müssen, ermöglicht es, oder vorsichtiger formuliert: erleichtert es, sie als Angebote zur Deutung von (gegenwärtiger) Wirklichkeit im Lichte der beschriebenen Handlungen Jesu zu interpretieren. Erst das Bewusstsein, eine solche Glaubensperspektive gleichberechtigt neben den auch vom eigenen Anspruch her relativierten geschichts- und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen einordnen zu können, ermöglicht m.E. die hier zu beobachtende positive Wertschätzung dieser so lange in der Neuzeit umstrittenen Wundergeschichten.« Vollends weise die Aufnahme der genannten rezeptionsästhetischen Fragestellungen, die die historische Dimension zugunsten der pragmatischen Dimension der Texte ins Spiel bringe und dadurch den Lebensbezug der Texte betone, in eine neue, heilsame Richtung. 5 Äußerst konsequent verfolgt Bee- Schroedter im Hauptteil der Studie (Teil IV, S.115-455) das Ziel, eine von jeglichen theoretischen Vorgaben freie, empirische Erhebung »jugendlicher« Leseformen der Wundergeschichten zu leisten. Die Leitfrage lautet: »Wie rezipieren Kinder und Jugendliche heute biblische Wundergeschichten? « Das methodische Vorgehen ist rein induktiv, auf eine Definition der Gattung »Wundergeschichte« und auf gängige exegetische Fragemuster wird verzichtet. Die theoretische Begründung des induktiven Vorgehens findet Bee-Schroedter in der qualitativen Sozialforschung, die zwar menschliches Verhalten erklären will, dabei aber nicht von den eigenen erkenntnisleitenden Interessen und der persönlichen Vorstellung über die soziale Wirklichkeit des Forschers absieht. (126) Die mit der Erhebung verbundene Leitvorstellung ist entsprechend bescheiden formuliert: »Die vermutlich unters chiedlichen Rezeptionen neutestamentlicher Wundergeschichten sollen dokumentiert und mit Hilfe entwicklungspsychologischer Theorien erklärt werden.« (145) Praktisch erfolgt die empirische Untersuchung durch eine Querschnittsstudie: Über 20 Jugendliche zwischen 9 und 20 Jahren werden zu verschiedenen Wundergeschichten in Form halbstandardisierter Interviews befragt, die Interviews anschließend ausgewertet und die Ergebnisse zuletzt noch methodologisch reflektiert. Konkret wurden die Kinder und Jugendlichen zur Blindenheilung Lk 18,35-43, zum Seewandel Mt 14,22- 33 und zum Speisungswunder Mt 15,32-39 befragt. Der Fragenkatalog bezieht sich auf die Historizität des Erzählten, die Identität des Wundertäters, die Absicht der Erzählung, auf das subjektive Gefallen an der Erzählung, auf ein mögliches Interesse, die Erzählung im Bekanntenkreis weiterzuerzählen sowie ggf. auf eine erkennbare Entwicklung der Probanden im Verständnis der Erzählung. Die Kriterien für die Auswahl der Probanden sind das Alter (in der Studie werden Interviews mit Jugendlichen im Alter von 9, 13 und 20 Jahren ausführlich besprochen), kommunikative Kompetenz und eine minimale religiöse Sozialisation. Die Auswertung der Interviews bezieht Fragestellungen von vier unterschiedlichen entwicklungspsychologischen Theorien ein; diese werden in einem ausführlichen Kapitel (S. 175-253) eigens besprochen und diskutiert (Oser/ Gmünder, Entwicklung des religiösen Urteils; Reich/ Valentin, Entwicklung des Weltbildes; Selman, Entwicklung des sozialen Verstehens; Fetz, Fowler, Entwicklung der Wahrnehmung von Symbolen). Die interessierten Leser, die sich bis zu diesem Punkt tapfer durch alle Methoden- und Theoriedarstellungen gekämpft haben, sind natürlich höchst gespannt auf das Ergebnis der empirischen Erhebung. Doch spätestens hier macht sich Enttäuschung breit: Ein griffiges Ergebnis, das seine Auswirkungen auf die Gestaltung von Lehrplänen oder des konkreten Religionsunterrichts haben könnte, sucht man vergeblich. Spuren eines solchen Ergebnisses sind mühsam aus den reflektierenden Abschnitten am Ende einer jeden Intervieweinheit herauszudestillieren. Und so drängt sich die Frage auf, was der immense Aufwand an Reflexionsarbeit, an hermeneutischen, exegetischen, erkenntnistheoretischen und entwicklungspsychologischen Überlegungen am Ende erbringt. Die Studie ist ein Beispiel für vorbildliche, wenn auch zuweilen überzogen wirkende methodologische Reflexion. Aber ist es enttäuschend, wenn lediglich Feststellungen wie: »Die Phasen des Übergangs zwischen entwicklungspsychologischen Stufen sind erheblich länger anzusetzen als die Stufen selbst« (385) oder: »Die ZNT 7 (4. Jg. 2001) 71 Buchreport ko gnitive Entwicklung eines Jugendlichen ist in der gymnasialen Oberstufe längst nicht abgeschlossen, sondern weist durchaus noch unfertige Weltbilder auf« (454) als Ergebnis konstatiert werden. Es bleibt am Ende bei der Modifizierung der entwicklungspsychologischen Theorien. Dazu kommt die - von der Autorin selbst konzedierte - Begrenztheit des Ergebnisses im Blick auf die relativ kleine Zahl an Probanden. Zudem fällt der antiexegetische Affekt der Studie auf, der der historisch-kritisch arbeitenden Exegese unterstellt, sie sehe tendenziell von der eigenen Lebenssituation ab, reflektiere zu wenig über die eigenen Verstehensvoraussetzungen und verabsolutiere in der Folge ihre Ergebnisse als »objektive« Erkenntnisse. Dies ist seit der neueren Hermeneutik (vgl. Gadamer und noch mehr die Frankfurter Schule) so nicht mehr zu behaupten, und es wäre zu fragen, ob das Zusammenspiel der Disziplinen nicht anders gestaltet werden kann als in der in Bee-Schroedters Buch erfolgenden programmatischen Absage an exegetisch-historische Arbeit. Das Anliegen der Studie ist durchaus berechtigt und spannend, leider bleiben die Ergebnisse stark hinter den Erwartungen zurück. Kurt Erlemann Anmerkungen 1 Die »Bibelwissenschaft« hat nach Bee-Schroedter lediglich die Funktion, eine bestimmte Glaubenspraxis als christlich bzw. nichtchristlich zu erweisen (19) und dafür zu sorgen, dass nicht willkürlich Erfahrungen in den Text eingetragen werden. (54) 2 Das Manko bei herkömmlichen Elementarisierungskonzepten in der Religionsdidaktik (Baldermann, Nipkow) sieht die Autorin in einer zu schnellen Identifizierung biblischer Didaktik mit exegetischer Theologie. (32) Das Vorbild für die eigene Studie sieht Bee-Schroedter in der Studie von A. Bucher, Gleichnisse verstehen lernen. Strukturgenetische Untersuchungen zur Rezeption synoptischer Parabeln, Freiburg (Schweiz) 1990, der konkret nach der Rezeption von Gleichnistexten durch Schüler fragt, der allerdings, so ihre Kritik, dabei noch zu sehr von exegetischer Theorie geleitet sei und die Schülervoten letztlich nicht eigenständig genug bewerte. (33) - Die Arbeit von W. Ritter, Wundergeschichten für Grundschulkinder? Aspekte einer religionspädagogischen Kontroverse und weiterführende religionsdidaktische Überlegungen, in: F. Harz/ M. Schreiner (Hgg.), Glauben im Lebenszyklus, München 1994, 139-159, weist nach Bee- Schroedter in die richtige Richtung, bleibe allerdings, was sein Bild von den Kinder betrifft, in vorgefaßten Theorien stecken, die empirisch nicht überprüft würden. (35f.) 3 Laien werden ausdrücklich als gleichwertige Leser bezeichnet. (61) 4 Begründet wird dies erkenntnistheoretisch unter Hinweis auf die immer perspektivisch erfolgende Sicht auf Wirklichkeit, wobei sich die verschiedenen Arten der Wahrnehmung komplementär zueinander verhalten. (100) 5 Als Beispiele für diese textpragmatische »Wende« nennt Bee- Schroedter ihren Doktorvater Hubert Frankemölle, Biblische Handlungsanweisungen. Beispiele pragmatischer Exegese, Mainz 1983, sowie den Matthäuskommentar von Ulrich Luz (EKK I, Neukirchen/ Vluyn 1985ff.). Von religionspädagogischer Seite wird besonders auf H. Berg, Ein Wort wie Feuer, München 1991, verwiesen.
