ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
2001
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Dronsch Strecker VogelImpressum Herausgeber Stefan Alkier Kurt Erlemann Roman Heiligenthal in Verbindung mit Klaus Berger Peter Busch Axel von Dobbeler Dirk Frickenschmidt Gabriele Faßbeck Matthias Klinghardt Günter Röhser Markus Sasse Holger Tiedemann Manuel Vogel Bernd Wander Jürgen Zangenberg Anschrift der Redaktion Universität Koblenz-Landau Fachbereich 6: Philologie Institut für Ev. Theologie Prof. Dr. Roman Heiligenthal Im Fort 7 · D-76829 Landau Manuskripte Zuschriften, Beiträge und Rezensionsexemplare werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Verpflichtung zur Besprechung unverlangt eingesandter Bücher besteht nicht. Anzeigen A. Francke Verlag, Tel.: 0 70 71 / 97 97-10 Bezugsbedingungen Die ZNT erscheint halbjährlich (April und Oktober) Einzelheft: DM 24,- / € 12,- / sFr 24,- zuzügl. Versandkosten Bezugspreis jährlich: DM 48,- / € 24,- / sFr 46,- Vorzugspreis für Studenten (Immatrikulationsbescheinigung beifügen) jährlich: DM 38,- / € 19,- / sFr 38,- © 2001 · A. Francke Verlag Tübingen · Basel Alle Rechte vorbehalten ISSN 1435-2249 ISBN 3-7720-9906-8 Umschlagentwurf: Werner Rüb, Bietigheim-Bissingen. Satz: Martin Fischer, Tübingen. Druck: Gulde, Tübingen. Bindung: Nädele, Nehren. Neues Testament Thomas Söding aktuell War Jesus wirklich Gottes Sohn? Die neue Debatte um Jesus und die Christologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Zum Thema Klaus Berger Die Bedeutung der zwischentestamentlichen Literatur für die Bibelauslegung . . . . . 14 Vincenzo Petracca Gott oder Mammon - Überlegungen zur neutestamentlichen Besitzethik . . . . . . . . . . . 18 Carsten Claußen Die Frage nach der »Unterscheidung der Geister« - Überlegungen auf dem Weg zu verantwortlichen Entscheidungen. . . . . . . 25 Kontroverse Kurt Erlemann Einleitung zur Kontroverse . . . . . . . . . . . . . . 35 Hans-Friedrich Weiß Noch einmal: Zur Frage eines Antijudaismus bzw. Antipharisaismus im Matthäusevangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Axel von Dobbeler Wo liegen die Wurzeln des christlichen Antijudaismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Hermeneutik Holger Tiedemann und Vermittlung Töpfe, Texte, Theorien - Archäologie und Neues Testament . . . . . . . . 48 Buchreport Gabriele Faßbeck P. Fiedler / G. Dautzenberg (Hrsg.), Studien zu einer neutestamentlichen Hermeneutik nach Auschwitz . . . . . . . . . . . . 59 Einem Teil der Auflage liegen Prospekte der Firmen: Katholisches Bibelwerk e.V. Stuttgart, W. Kohlhammer GmbH Stuttgart und A. Francke Verlag Tübingen/ Basel bei. Inhalt Heft 8 · 4. Jg. (2001) A. Francke Verlag Tübingen und Basel · Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Telefon: 0 70 71 / 97 97-0 · Fax: 0 70 71 / 7 52 88 Internet: http: / / www.francke.de · E-mail: info@francke.de ZNT im Internet: http: / / www.uni-wuppertal.de/ FB2/ ev.theol/ ZNT Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns sehr, Ihnen das mittlerweile achte Heft der ZNT vorlegen zu können, deren Beiträge aktuelle Themen der neutestamentlichen Wissenschaft sowie der kirchlichen, schulischen und gesellschaftlichen Gegenwart aufgreifen und sie bearbeiten wollen. Thomas Söding problematisiert in seinem Beitrag das Verhältnis der Frage nach dem historischen Jesus und der Erforschung der neutestamentlichen Christologie. Er warnt davor, beides gegeneinander auszuspielen, indem er einem aktuellen Trend der gegenwärtigen Exegese folgend den Begriff der Wirklichkeit für die hermeneutische Fragestellung ins Spiel bringt. Klaus Berger fordert in seinem Beitrag die Berücksichtigung der zwischentestamentlichen Literatur für die Bibelauslegung ein und stellt kanonkritisch fest: Für den Historiker ist »die Abtrennung des Kanons nichts weiter als ein willkürlicher Schnitt.« Vincenzo Petracca bearbeitet ein aktuelles Problemfeld, vor das sich Kirche, Schule und Gesellschaft unserer Zeit gleichermaßen gestellt sehen: Geld! Dabei will er nicht arglos dem Zeitgeist folgen. Vielmehr setzt er seinen Rat, »kritisch die Bibel zu befragen«, in die Tat um. Nicht nur für den Umgang mit Geld spielt die Frage nach der Unterscheidung der Geister eine gewichtige Rolle, wenn es gilt, in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft Entscheidungen zu fällen. Carsten Claußen sucht in seinem Beitrag nach Kriterien dafür und weiß diese auch wohltuend konkret zu formulieren. Die Frage nach den Wurzeln des christlichen Antijudaismus bleibt ein notwendiges Thema der Exegese und der christlichen Theologie nach Auschwitz. Hans-Friedrich Weiß und Axel von Dobbeler diskutieren darüber, inwieweit neutestamen tliche Schriften zum christlichen Antijudaismus beitragen bzw. beigetragen haben. Die neutestamentliche Wissenschaft ist zur Zeit dabei, die Archäologie als eine bedeutsame Aufgabenstellung für ihre historische Arbeit zu entdekken. Aber wie geht man mit ihren Ergebnissen um, wenn man nicht in das Pathos des ›Und die Bibel hat doch recht‹ abgleiten will? Holger Tiedemann stellt in klärender Weise die hermeneutische Frage nach dem Zusammenspiel von Töpfen, Texten und Theorien. Gabriele Faßbeck rundet mit ihrem Buchreport das Heft ab. Sie stellt den wichtigen Sammelband »Studien zu einer neutestamentlichen Hermeneutik« vor. Wir hoffen, die Lektüre der Beiträge macht Ihnen genauso viel Spaß wie uns und fördert Ihre exegetische und theologische Arbeit in Ihrem Wirkungsfeld. Für Rückmeldungen und Anregungen wären wir dankbar. Wir machen nochmals auf die Homepage der ZNT im Internet aufmerksam und freuen uns schon jetzt auf die nächste ZNT, die dann wieder ein Themenheft sein wird: Gericht und Zorn Gottes im Neuen Testament. Stefan Alkier Kurt Erlemann Roman Heiligenthal Editorial ZNT 8 (4. Jg. 2001) 1 Das Interesse am »historischen Jesus« ist ungebrochen. Selten sind in einem Jahrzehnt so viele Jesusbücher erschienen wie gerade jetzt: wissenschaftliche und populäre, kritische und meditative, jüdische und christliche, gläubige und ungläubige. 1 Jesus so zu sehen, »wie er wirklich war« - das ist die Erwartung nicht nur der Theologen und der meisten Christenmenschen, sondern auch vieler Zeitgenossen, für die das Neue Testament zwar nicht die Urkunde des Glaubens, aber doch ein bedeutendes Dokument der Kulturgeschichte ist. Die Erwartungen sind groß. Muss die Enttäuschung desto größer sein? Oder kann die Erfüllung die Erwartungen übersteigen? In der Gottessohnschaft Jesu spitzt sich die Frage zu. Denn »Sohn Gottes« ist in allen neutestamentlichen Schriften und für die gesamte Lehre der Kirche zu dem Hoheitstitel geworden. 2 Seine Attraktivität resultiert daraus, dass er sowohl die essentielle Verbundenheit Jesu mit Gott, dem Vater, als auch die essentielle Verbundenheit mit den Menschen, den Söhnen und Töchtern Gottes, auszudrücken vermag, sowohl die Theozentrik Jesu als auch die Christozentrik des neutestamentlichen Heilsgeschehens. Der Gottessohntitel verbindet sich schon vor Paulus und besonders betont bei Johannes mit der Präexistenz Jesu. Die Gottessohnschaft Jesu bildet den Ausgangspunkt der altkirchlichen Trinitätstheologie. An der Gottessohnschaft macht sich deshalb auch die kritische Diskussion des Verhältnisses zwischen dem geschichtlichen Jesus und der neutestamentlichen Christologie fest. 1. Welche Interessen sind im Spiel? Die Motive, der Geschichte Jesu auf den Grund zu gehen, sind sehr verschieden. Die einen misstrauen prinzipiell der Kirche, dem Kanon und den neutestamentlichen Evangelien. Gibt nicht allein die Tatsache, dass sich die immer noch mächtige Institution Kirche auf Jesus als Christus und Gottessohn beruft, allen Grund zum Misstrauen? Hat nicht die Bibelwissenschaft gezeigt, dass keineswegs die Unbestechlichkeit des Historikers das Jesusbild der Evangelien bestimmt, sondern die Gläubigkeit der Jünger? Verschwindet nicht der Mann aus Nazareth hinter einer Wolke von Hoheitstiteln, Christusbekenntnissen und Glaubenssymbolen? Selbst wo man den Evangelisten nicht (mehr) gezielte Fälschungen vorwirft, herrscht der Verdacht, naive Bewunderung sei an die Stelle objektiver Information getreten. Im Zentrum der Skepsis steht freilich nicht das eine oder andere Detail, sondern die zentrale These der neutestamentlichen Christologie, Jesus sei der menschgewordene Gottessohn, der um des Heiles der Welt willen gestorben und von den Toten auferstanden sei. In dieser Skepsis meldet sich nicht nur der alte und immer neue Vorbehalt, ob es denn wirklich wahr sein kann, dass einmal »alles gut« wird und dass dies nicht an einem selbst liegt, sondern am »ganz Anderen«; es meldet sich auch der moderne Instinkt, um Himmels willen nur ja nicht durch eine Ideologie vereinnahmt zu werden und sich nicht mit Haut und Haaren einer Sache oder einer Person zu verschreiben, sondern kritische Distanz zu wahren. Der »historische Jesus« soll aus den Klauen der Dogmatik befreien und befreit werden; er soll den kritischen Christen Freiräume des Denkens und Glaubens öffnen; er soll denen, die sich lieber im Vorhof der Heiden aufhalten, Anlass zu Neugier, vielleicht zur Zustimmung geben, aber nicht zum Bekenntnis und zur Nachfolge. Kann historische Jesusforschung diese Erwartung erfüllen? Dass es einen alles bestimmenden, immer gefährdeten und deshalb permanent hart zu erarbeitenden Primat der Christologie vor der Ekklesiologie gibt, haben alle guten Theologen aller Zeiten und Konfessionen immer gewusst. Aber wie »christologisch« war Jesus von Nazareth? Und wie »jesuanisch« ist die neutestamentliche Christologie? So sehr die einen versuchen, Jesus und die Christologie gegeneinander auszuspielen, so sehr gibt es die anderen, die Jesus selbst schon zum Christologen machen wollen. Seit einiger Zeit er- Neues Testament aktuell Thomas Söding War Jesus wirklich Gottes Sohn? Die neue Debatte um Jesus und die Christologie 2 ZNT 8 (4. Jg. 2001) ZNT 8 (4. Jg. 2001) 3 Thomas Söding War Jesus wirklich Gottes Sohn? Thomas Söding Thomas Söding, Jahrgang 1956, Professor für Biblische Theologie an der Bergischen Universität Wuppertal. Foschungsschwerpunkte: Markus, Paulus, Biblische Theologie scheinen in regelmäßigen Abständen »historische« Werke, die verheißen, die kritische Jesusforschung vom Kopf auf die Füße zu stellen. Mal wird behauptet, in Qumran sei ein Fragment des Markusevangeliums aufgetaucht, geschrieben Mitte der vierziger Jahre 3 ; mal wird gesagt, die apostolische Herkunft der Evangelien, von der historisch-kritischen Exegese geleugnet, sei nun doch erwiesen 4 ; mal heißt es, ein Papyrus des Matthäusevangeliums, den die Forschung an die Schwelle vom 2. zum 3. Jh. datiert, stamme aus der Zeit der Augenzeugen 5 ; jüngst soll sogar die Kreuzesreliquie in Santa Croce zu Rom »echt« sein 6 ; weitere »Sensationen« werden nicht auf sich warten lassen, zur Not gibt es immer noch das Grabtuch von Turin 7 . Man braucht nicht auf alles das Etikett des »Fundamentalismus« zu kleben; aber das Strickmuster ist klar und einfach: Die Christologie der Evangelien soll historisch abgestützt werden; je kürzer die Traditionswege erscheinen, desto zuverlässiger sollen die historischen Nachrichten sein. Archäologie und Papyrologie müssen beweisen: Die Bibel hat doch recht; die Evangelien sind wahr; alle Zweifel sind Ideologie; die wesentlichen Daten der Christologie sind schon bei Jesus von Nazareth zu finden. Kann eine historische Bibelwissenschaft diese Meinung bestätigen? Wieviel Christologie vermag die Historik zu schultern? Und auf welche Geschichte kommt es christologisch an? Die meisten lassen sich auf die extremen Alternativen nicht ein. Sie wollen nicht die Geschichte Jesu gegen den Glauben an seine Gottessohnschaft ausspielen oder das eine in das andere überführen. Sie wollen objektiv über das informiert werden, was man von der Geschichte Jesu sicher sagen kann. Sie erwarten von historischen Urteilen, die Theologen über Jesus treffen, dass ihnen - prinzipiell jedenfalls - jeder Geschichtswissenschaftler zustimmen könnte. Diesen Interessenten gegenüber hat die Exegese eine Bringschuld. Sie besteht darin, offen sowohl über den christologischen Stellenwert der Gottessohnschaft Jesu zu informieren als auch über die Möglichkeiten und Grenzen historischer Arbeit an den Evangelien, nicht zuletzt über das, was nach christologischem Verständnis von der Historie überhaupt erwartet werden kann und was nach historischem Verständnis Christologie genannt zu werden verdient. Vom Gottessohntitel auf andere, theologisch weniger aufgeladene Würdenamen auszuweichen, löst das Problem so wenig wie die Ablösung der neutestamentlichen Prädikate durch moderne Abstrakta wie »absoluter Heilsmittler«, »eschatologischer Offenbarer« oder »definitiver Repräsentant der Gottesherrschaft«. Im Kern geht es um die Frage, aus welchem Grund schon die frühesten Zeugnisse des Christusglaubens in eminenter Weise die Gottessohnschaft Jesu affirmieren und welche theologische Bedeutung diesem Titel innewohnt. 2. Welche Kritik ist angebracht? Der Vorstoß der Aufklärung im 18. Jh., der Durchbruch des geschichtlichen Denkens im 19. Jh. und die Etablierung der Hermeneutik im 20. Jh. haben der Theologie Möglichkeiten der Differenzierung zwischen Jesus von Nazareth und dem Christus des Glaubens verschafft, die zwar zu enormen Spannungen und in manche Zerreißprobe, aufs Ganze aber zu einer erheblichen Vitalisierung der Christologie geführt haben. Gleichwohl führt eine selbstkritische Betrachtung der Geschichte hist orisch-kritischer Jesusforschung zu einem ernüchternden Urteil. In großer Klarheit hat es Albert Schweitzer im Rückblick auf das 19. Jh. gefällt: »Die geschichtliche Erforschung des Lebens Jesu ging nicht von dem rein geschichtlichen Interesse aus, sondern sie suchte den Jesus der Geschichte als Helfer im Befreiungskampf vom Dogma. … So fand jede folgende Epoche der Theologie ihre Gedanken in Jesus, und anders konnte sie ihn nicht beleben. Und nicht nur die Epochen fanden sich in ihm wieder: jeder einzelne schuf ihn nach seiner eigenen Persönlichkeit.« 8 Dieses Urteil hat nichts an Aktualität verloren. Schaut man über die Grenzen der akademischen Theologie auf die Bestseller der Jesusliteratur, wähnt man sich bisweilen in einem Kuriositätenkabinett 9 : Auf jeweils »streng wissenschaftlicher Grundlage« ist Jesus mal ein Vorkämpfer für die Befreiung der Frauen und mal ein esoterischer Guru, mal ein sanfter Propagandist des ökologischen Gleichgewichts und mal ein Sympathisant politischer Gewalt gegen die Römer; nur eines ist er in keinem Fall: der Kyrios, als den ihn die syrophönizische Frau um die Heilung ihrer Tochter bittet (Mk 7,24-30), der Christus, als den ihn Petrus in Caesarea Philippi bekennt (Mk 8,27- 30), der Gottessohn, als den ihn der heidnische Hauptmann sterben sieht (Mk 15,39). Aber auch die wissenschaftliche Rückfrage nach Jesus hat im letzten Jahrhundert nicht nur Ruhmesblätter beschrieben. Es fehlt freilich ein Albert Schweitzer, der ihre Geschichte schreibt. Die meisten Belege für seine These würde ihm derzeit das in Amerika veranstaltete »Jesus-Seminary« liefern, das mit wissenschaftlichem Anspruch - auf der Basis von Mehrheitsentscheidungen - die Jesusworte je nach dem Grad ihrer vermuteten Authentizität in verschiedenen Farben drucken lässt: mit dem überraschenden Ergebnis, dass nicht nur alle christologisch geprägten Texte, sondern auch alle, die mit dem Reich Gottes als der künftigen Größe vollendeten Heiles rechnen, als »unecht« eingestuft werden 10 ; der Christusglaube der Evangelien wäre demnach nichts anderes als ein ideologisches Konstrukt, Jesus erscheint als palästinischer Kyniker, als wundertätiger Magier und militanter Tempelkritiker, als stiller Genießer, als kluger Ratgeber für ein vernünftiges Leben auf dem Lande, allenfalls als verständnisvoller Seelenarzt unglücklicher Menschen 11 : ein »Jesus light« mit einer Botschaft, die »mehr kalifornisches als galiläisches Lokalkolorit« 12 hat. Ist diese Theorie undogmatischer als die härteste Neuscholastik? Umgekehrt ist in den neofundamentalistischen Theorien der Evangelienentstehung nicht weniger der Wunsch der Vater des Gedankens. Schaut man in die seriösen Werke der Einleitungswissenschaft, zeigt sich, wie brüchig die Argumentationsbasis für die extremen Frühdatierungen der Evangelien und ihre apostolische Herkunft ist. Zum Jesus der Geschichte gelangt man von den Evangelien aus nicht durch einen großen Sprung oder ein schlichtes Kurzschlussverfahren, sondern nur auf den langen, verschlungenen, engen und steinigen Wegen der urchristlichen Traditionsbildung. Jeder synoptische Vergleich zeigt, dass die Evangelien das moderne Interesse an Originaltönen, an genauen Datierungen und Lokalisierungen nicht teilen. Nüchterne Historiker können, je nach Temperament, nur mit Stirnrunzeln oder amüsierter Heiterkeit beobachten, welche Anstrengungen von übereifrigen Theologen unternommen werden, den Glauben historisch-kritisch wasserdicht zu machen (und manchmal auch, wie schwer sich historisch-kritische Exegeten mit ihren Quellentexten tun können, um zu historischen Urteilen zu gelangen.) Ist die Alternative, auf die historische Rückfrage ganz zu verzichten? Das hieße, das Kind mit dem Bade ausschütten. Die Christologie hat ein inneres Verhältnis zur Geschichte, wenn anders Jesu Menschsein, sein Evangelium und seine Passion eschatologische Fakten sind. Unter den Bedingungen der Neuzeit ist historische Jesusforschung angezeigt - als notwendige Hilfswissenschaft der Christologie, die dem Mann aus Nazareth in der Geschichte seines Lebens und Sterbens gerecht werden muss, so wie es umgekehrt einer elaborierten Christologie angemessen ist, historisch-kritische Forschung als Ausdruck ihres ureigenen Interesses am Christus Jesus zu betrachten. Freilich ist eine radikale Neubesinnung auf die Methoden und Ziele geschichtlicher Jesusforschung angebracht. Sie ist im vollen Gange, aber auch noch in voller Gärung. Gefragt ist nicht nur eine ausgefeiltere Methodik oder eine differenziertere Handhabe der vorhandenen Instrumente. Gefragt ist vor allem eine Besinnung auf den theologischen Stellenwert der historischen Jesusforschung und auf die Erinnerungsarbeit, die zu den neutestamentlichen Jesusbüchern geführt hat. Sind die Evangelien Barrieren, die es aus dem Weg zu räumen gilt, wenn man zu Jesus vordringen will, oder sind sie Spiegel, die im Lichte des Auferstehungsglaubens und in den Brechungen menschlicher Perspektiven von unterschiedlichen Standpunkten aus verschiedene Ansichten Jesu von Nazareth liefern? 4 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Neues Testament aktuell 3. Welche Spannungen und Widersprüche prägen das Jesusbild der Evangelien? Nach Rudolf Bultmann ist die Verkündigung Jesu nicht Gegenstand, sondern Voraussetzung neutestamentlicher Theologie. 13 Die Gottessohnschaft Jesu gehört zum Kerygma; ihre historische Basis ist unsicher und unwesentlich. Joachim Jeremias hingegen hat in seiner »Theologie« nur den ersten Band herausgebracht: »Die Verkündigung Jesu« 14 . Für ihn ist entscheidend, dass Jesus Gott in singulärer Weise als seinen »Vater«, genauer: als Abba gesehen und dass er sich dezidiert als »Sohn« verstanden und zur Sprache gebracht hat; die entwickelte Christologie ist die Antwort, mit der die Jünger auf den Ruf Jesu reagieren. Zwischen diesen Extremen bewegt sich bis heute die Diskussion. 15 Sie kreist um die Bedeutung der Auferstehung für die Geschichte und der Geschichte für die Auferstehung Jesu. 16 Kennzeichnend für die Evangelien ist es, die Verkündigung, die Passion und die Auferstehung so aufeinander zu beziehen, dass sie als spannungsvolle Einheit, d.h. als radikaler Widerspruch und als dessen endgültige Auflösung erscheinen. Nach den Evangelien kann man die Geschichte, das Geschick und die Gestalt Jesu von Nazareth nicht verstehen, wenn man nicht auf seinen Tod sieht und an seine Auferstehung glaubt; umgekehrt kann man nicht an seinen Heilstod und seine Auferstehung glauben, wenn man sich nicht seine Worte und Taten vor Augen führt. Ihre Glaubensüberzeugung ist: Die Einheit zwischen Wirken, Leiden, Tod und Auferstehung Jesu, ist im Heilsplan und Heilshandeln Gottes vorgegeben; er hat Jesus zur Verkündigung der Gottesherrschaft gesendet (Mk 1,14f); er hat ihn in den Tod anstelle der »Vielen« hingegeben (Mk 10,45); er hat ihn von den Toten auferweckt und zu seiner Rechten erhöht (Mk 12,35ff); er wird ihn wiederkommen lassen (Mk 13,24-27), um Lebende und Tote zu richten (Mt 25,31-46). Die Spannung, von der diese Einheit lebt, könnte größer nicht sein. Es ist die Spannung zwischen Karfreitag und Ostern, Erniedrigung und Erhöhung, Leben und Tod und neuem Leben aus dem Tod. Diese Spannung darf gerade nicht aufgelöst, sie muss bis aufs äußerste aufgeladen werden; nur dann kann deutlich werden, dass und wie in Jesus alles Heil zu finden ist (Apg 4,12). Die Einheit, die aus dieser Spannung besteht, ist alles andere als Harmonie oder Uniformität, sie fußt auf der Eindeutigkeit der Liebe Gottes, die stärker ist als der Tod, und zeigt sich deshalb in einer Vielfalt von Aspekten, die so bunt ist wie das Leben selbst. Die Spannung zwischen der Geschichte Jesu, die mit seinem Kreuzestod endet, und seiner Auferweckung, die eine ganz neue Geschichte seines Wirkens aus dem Geheimnis Gottes heraus bis in alle Ewigkeit beginnen lässt, definiert das neutestamentliche Verhältnis zwischen Christologie und Geschichte. Die historische Rückfrage kann nicht alle wesentlichen Aussagen der Christologie verifizieren (wollen). Golgotha war ein Ende - und Ostern ist ein neuer Anfang. Die Christologie des Neuen Testaments, auch die der Evangelien, reagiert nicht nur auf die Worte und Werke des Irdischen, sondern auch auf seinen Kreuzestod und seine Auferweckung. Durch Ostern wird nicht nur die »Sache« Jesu definitiv bestätigt und die »Person« Jesu definitiv gerechtfertigt, sondern auch Jesus in uneingeschränkter Weise an Gottes Macht Anteil gegeben, um seine Herrschaft zu verwirklichen (Mt 28,16-20; 1Kor 15,20-28). Zu dieser Herrschaft gehört die Verkündigung des Evangeliums an Juden und Heiden samt der Konstituierung einer österlichen Nachfolgegemeinschaft, der Ekklesia, die wesentlich Erinnerungs- und Erzählgemeinschaft im Namen Jesu ist. Im Jesusbild der Evangelien spiegelt sich all dies wider. Das bestimmt die Theologie der Rückfrage. Die Widersprüche in den historischen Angaben und theologischen Deutungen der Evangelien, die den Alten so viel Kopfschmerzen bereitet haben und die in der Neuzeit viele an der Glaubwürdigkeit des Neuen Testaments haben irre werden lassen, lassen sich »historisch-kritisch« aus der Entstehungsgeschichte und der Theologie der Evangelien vergleichsweise leicht erklären. Entscheidend ist der Widerspruch zwischen Jesu Tod und Auferweckung. Er ist nicht ein Problem, dass es hermeneutisch zu lösen gilt, sondern seinerseits die Lösung des hermeneutischen Problems. Wer die ganze Christologie Jesus in den Mund legen will, muss sich fragen lassen, wie ernst er die Inkarnation und das Pascha Jesu nimmt. Es ist theologisch falsch, die Christologie der Gottessohnschaft Jesu umfassend durch die historische Rückfrage verifizieren zu wollen, wenn denn das neutestamentliche Bekenntnis zur Gottessohnschaft Jesu das Bekenntnis zu seiner Auferstehung von den Toten ZNT 8 (4. Jg. 2001) 5 Thomas Söding War Jesus wirklich Gottes Sohn? umschließt. Es ist ebenso theologisch falsch, die Geschichte Jesu, »angefangen von der Taufe durch Johannes bis zu dem Tage, an dem er … in den Himmel aufgenommen wurde« (Apg 1,22), von ihrer Wirkungsgeschichte in der Urkirche zu trennen, wenn denn Jesus selbst Jüngerinnen und Jünger berufen hat, um seine Botschaft zu verbreiten, und die Erscheinungen des Auferstandenen auf die Sammlung und Sendung der Apostel zielen (1Kor 15,1- 11). Es ist deshalb theologisch aufschlussreich, dass die Formgeschichte - in welchen Grenzen und mit welchen Verzerrungen auch immer - die Prägung der Jesustraditionen durch die vom Osterglauben bewegten Tradenten herausgearbeitet hat. 17 Dies eröffnet nicht nur eine Möglichkeit ökumenisch weitreichender Verständigungen im Grundverhältnis von Schrift und Tradition. 18 Es verweist auch auf den Kontext christologischer Rezeption, in den die historische Rückfrage durch ihre Quellentexte immer schon gestellt ist und den sie ihrerseits zur historischen Urteilsbildung nutzen muss. Wer umgekehrt die Christologie der Evangelien als historischen Betrug oder Selbstbetrug beurteilt, muss sich fragen lassen, welchen Dogmen er seinerseits folgt, wenn er - theoretisch oder praktisch, prinzipiell oder experimentell, permanent oder sporadisch - der Botschaft von der Auferstehung Jesu keinen Glauben schenkt. Das christologische Bekenntnis und die historische Glaubwürdigkeit der Evangelien wären nicht schon dann widerlegt, wenn man - mit hinreichender Sicherheit - erweisen könnte, Jesus selbst habe nicht so von sich gesprochen, wie es bei Johannes und den Synoptikern geschrieben steht, wenn denn das Neue Testament auf die hermeneutische Schlüsselfunktion des Ostergeschehens verweist. Andererseits ist es theologisch wichtig, den skeptischen Widerspruch nicht zu übertönen, weil er nicht nur die Skandalosität des Kreuzes und die Unglaublichkeit der Auferstehung widerspiegelt, die von den Evangelien stark herausgearbeitet werden (Mk 16,1-8), sondern auch das Glaubensbekenntnis von der historischen Urteilsbildung zu unterscheiden hilft und in aller Schärfe die Frage nach der intellektuellen Verantwortbarkeit des Christusglaubens stellt. Gottessohn im Vollsinn synoptischer und johanneischer Christologie ist Jesus als Irdischer und als Auferstandener, als Gekreuzigter und als Erhöhter. Ob Jesus »wirklich« Gottes Sohn war, entscheidet sich also vor allem daran, ob er wirklich Mensch gewesen und ob er wirklich am Kreuz gestorben ist - und ob Gott ihn dann wirklich von den Toten auferweckt hat. Die beiden ersten Bedingungen sind zweifelsfrei erfüllt. Kein ernsthafter Historiker käme heute noch (anders als vor 100 oder 200 Jahren) ernsthaft auf die Idee, die Existenz und den Kreuzestod Jesu »sub Pontio Pilato« zu bestreiten. Strittig sind allein das Wie, das Wozu und das Woher seines Leidens und Sterbens. Auf das Wie kann und muss sich historische Forschung im Interesse christologischer Wahrheitsfindung konzentrieren. Das Wozu und Woher ist letztlich nicht ohne Ostern zu bestimmen. Strittig ist freilich auch die Auferstehung Jesu von den Toten - nicht in dem Sinn, dass die Jünger nicht wirklich an sie geglaubt hätten (das in Abrede zu stellen, war ein Irrweg des Rationalismus), sondern in dem Sinn, ob wirklich passiert ist, was von den ersten Zeugen in Form des Bekenntnisses gesagt worden ist. Dies zu klären, ist nicht mit den Mitteln historischer Vernunft möglich - wiewohl ihr nicht unzugänglich bleibt, welche Bedeutung der Osterglaube für die Erinnerung Jesu gewonnen hat und in welchem Kontext seine Geschichte erscheint, wenn er wirklich auferweckt worden ist. 4. Von welchen theologischen Voraussetzungen gehen die Evangelien aus? Die Konsequenzen der Auferweckung für die Darstellung der Geschichte Jesu in den Evangelien sind gravierend. Das Wirken Jesu erscheint im Prisma seines Todes und seiner Auferstehung, seine Auferstehung im Prisma seines vollmächtigen Wirkens und ohnmächtigen Leidens, sein Kreuz im Prisma des Basileia-Evangeliums und der Osterbotschaft. Die Evangelisten versuchen, Jesus mit den Augen zu sehen, die er selbst seinen Jüngern - und allen, die seine Botschaft hören wollten - zu öffnen versucht hat und die ihnen erst nach Ostern aufgegangen sind. Um Jesus zu verstehen, bleibt wichtig, was er wirklich getan und gesagt hat - und was nicht. Aber was Jesus wirklich gesagt und getan hat, worin der Sinn seiner Worte und Taten lag, welche wichtig und welche unwichtig sind, welche im Zentrum und welche am Rande stehen - das zu entscheiden, setzt den Evangelien zufolge viererlei voraus. 19 6 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Neues Testament aktuell Erstens muss die Geschichte Jesu im Horizont der Verheißungsgeschichte Israels gesehen werden und diese neu im Licht der Geschichte Jesu. Die Grundlinien der alttestamentlichen Theologie von der Einzigkeit Gottes bis zur Erwartung eines Messias, von der Schöpfung bis zur Vollendung der Geschichte, von der Erwählung Israels bis zur Hoffnung für die Völker, von der Gabe des Gesetzes bis zur Hoffnung auf eine Gerechtigkeit, die reine Liebe ist, hat Jesus nicht nur vorausgesetzt, sondern geteilt und akzentuiert. Die Gottessohnschaft Jesu, von der die Evangelien reden, lässt sich nur im Horizont frühjüdischer Messianologie verstehen - und prägt sie doch entscheidend um: durch den Kreuzestod, den Jesus stirbt. Zweitens müssen die »ureigenen Worte und Taten« in der Perspektive der nahegekommenen Gottesherrschaft gesehen werden, die Jesus geöffnet hat; sonst verweigert man gerade den Blick auf das, was Jesus am wichtigsten gewesen ist: das Gottsein Gottes als Grund aller Hoffnung für die Menschen und seine Macht als Inbegriff des Heiles. Durch die Auswahl und Komposition der Texte vermitteln die Synoptiker den Eindruck, dass Jesus vor allem sein Ziel darin gesehen hat, die Gottesherrschaft nahezubringen. Prägend wurde, dass Markus die Proklamation der Basileia, als Programmwort Jesu gestaltet, an den Beginn der öffentlichen Wirksamkeit Jesu (Mk 1,14f) gestellt hat. Während Matthäus und Lukas dem im wesentlichen darin gefolgt sind, hat Johannes das Stichwort im Nikodemus-Gespräch fallengelassen (3,3.5), um von dort her sein Schlüsselwort Jesu einzuführen: ewiges Leben. Sowohl die synoptischen Evangelien als auch die johanneische Transposition erhellen, wie facettenreich das Thema Gottesherrschaft in ihren Augen ist: dass es nicht nur eschatologische, sondern auch theologische, christologische, soteriologische, ekklesiologische und anthropologische Aspekte hat und allein in diesem breiten Spektrum das Thema Jesu genannt zu werden verdient. Die Gottessohnschaft Jesu ist bei Markus - ähnlich bei Lukas und Matthäus, signifikant variiert bei Johannes - essentiell auf seine Verkündigung und Vermittlung der Gottesherrschaft bezogen. Jesus ist der Sohn Gottes um der Herrschaft Gottes willen, und dass Gottes Herrschaft nahekommt, um eschatologisch vollendet zu werden, hängt daran, dass ihr prophetischer Mittler der Gottessohn ist. Drittens darf das öffentliche Wirken nicht ohne die Leidensgeschichte Jesu betrachtet werden; sonst wird er auf seine Wunderkraft, sein Ethos, sein Charisma, seine Intelligenz und Sensibilität reduziert; er kann nicht der sein, der er am Kreuz gewesen ist. Als »Biographien« Jesu, wie sich die Evangelien in einem weiten Wortsinn verstehen lassen, verbinden sie die Berichte von seinen Worten und Taten mit der Leidensgeschichte. Durch ein eng geknüpftes Netz von Vor-, Rück- und Querverweisen vermitteln sie das Bild, es sei gerade das Wirken Jesu, das zu seinem Tode geführt hat, und es sei gerade sein Tod, der seinen Dienst für Gott und die Menschen endgültig verifiziert. Am sensiblen Beispiel der Wundergeschich ten wird in den Evangelien - auf recht verschiedene Weise - zweierlei deutlich: dass sie zum einen Machttaten des Gottessohnes und Zeichen des ewigen Lebens sind, dass sie aber zum anderen nicht vom gesamten Verkündigungsweg Jesu getrennt werden dürfen, der zum Schluss Leidensweg wird. Umgekehrt ist die synoptische wie die johanneische Passionsgeschichte (wenngleich sehr unterschiedlich) nicht nur ein Zeugnis der Niedrigkeit, sondern auch der Hoheit Jesu, der zwar um Verschonung bittet, aber durch die Annahme des Leidens eine Stärke gewinnt, die über seine psychische Kraft hinaus die unzerstörbare Zuwendung des Vaters inmitten aller Gottverlasssenheit widerspiegelt (Mk 15,34). Markus gibt die hermeneutische Leitlinie vor: Jesus, der von allem Anfang an Gottes Sohn ist und als solcher das Evangelium Gottes von der Herrschaft Gottes verkündet (Mk 1,9-15), kann von einem Menschen doch erst auf Golgotha als Gottessohn erkannt werden (Mk 15,39). Wo die anderen Evangelisten von dieser Linie abweichen (vgl. Mt 14,33; 16,16; Joh 1,49; 11,27), wollen sie die Verbindung zwischen Jesu Wirken und Leiden nicht auflösen, sondern noch enger knüpfen. Viertens erschließt sich die wahre Geschichte Jesu erst durch Ostern, weil (zum einen) für die Jünger erst zu diesem Zeitpunkt deutlich geworden ist, wie wahr das Evangelium Jesu ist, und weil (zum anderen) Gott durch die Auferstehung die irdische Geschichte Jesu nicht überblendet, sondern in ihrer eschatologischen Heilswahrheit erhellt. Markus hat nach der »Verklärung«, die bereits die Erhöhung des Gottessohnes antizipiert (Mk 9,2-8), die Auferstehung zum Kairos erklärt, von dem an öffentlich publiziert werden kann, was gesehen ZNT 8 (4. Jg. 2001) 7 Thomas Söding War Jesus wirklich Gottes Sohn? und gehört worden war - weil die Jünger erst noch verstehen müssen, was es heißt, dass der Menschensohn von den Toten aufersteht (Mk 9,9f); umgekehrt geht Jesus nach seiner Auferstehung den Seinen nach Galiläa voran, damit sie ihn dort sehen, wo er mit seiner Verkündigung begonnen hat (Mk 14,28; 16,7). Bei Matthäus ist an den Zweifel unter den elf Jüngern bei der Erscheinung des Jesu, des göttlichen Immanuel (vgl. 1,23) zu denken (Mt 28,16-20), bei Lukas an die ratlose Trauer der beiden Wanderer nach Emmaus (Lk 24,13-24); Johannes streut in sein Evangelium verschiedene Kommentar- und Herrenworte ein, die eigens herausstellen, dass erst von Ostern her die Heilsbedeutung der Geschichte wie des Todes Jesu verstanden werden kann (2,22; 7,39; vgl. 13,7) und klärt durch Jesu Abschiedsreden, dass gerade dies die Aufgabe des verheißenen Parakleten ist: die Wahrheit des Evangeliums im Sinn zu behalten (14,16f.26; vgl. 15,26; 16,7-14), um dann das Gottessohnbekenntnis (20,30f) des Thomas: »Mein Herr und mein Gott« (20,28) dadurch auslösen zu lassen, dass der Auferstandene seinem zweifelnden Jünger die Wundmale zeigt. Alle vier Voraussetzungen prägen die Jesusgeschichten der Evangelien. Sie drücken sich am klarsten in der »Form« des Evangeliums aus. Diese Form ist christologisch begründet und weist ihrerseits auf den Grund aller Christologie. 5. Sind die theologischen Voraussetzungen der Evangelien erfüllt? Markus, Matthäus, Lukas und Johannes hätten bestritten, dass die Optik eines neutralen, distanzierten Beobachters genauer, gerechter, wahrhaftiger wäre als die eines Jüngers, der sich auf den Weg der Nachfolge begibt. Sie verschweigen nicht, dass Jesus vielfach auf schlichtes Desinteresse gestoßen ist (Lk 14,15-24 par. Mt 22,1-10; Lk 1334) und dass der Eindruck, den Jesus auf interessierte Zeitgenossen gemacht hat, ambivalent geblieben ist (Mk 6,14ff parr.; 8,28 parr.; Joh 2,22ff; 6,14ff; 7,25-36 u.ö.). Aber sie kritisieren selbst die sehr positiv gemeinten Einschätzungen Jesu als auferstandener Täufer, wiedergekommener Elias und einer der Propheten, indem sie sagen: nach Gottes Wahl und Willen ist Jesus von Nazareth in Wahrheit der Sohn Gottes. Die entscheidende Frage dreht sich um den Begriff der Wirklichkeit. Die Exegese kann in ihrem Verständnis geschichtlicher Realität nicht mehr Theologie voraussetzen als die Texte, die sie zu analysieren, zu interpretieren und auf ihren historischen Quellenwert zu prüfen hat. Kann sie es aber vor der Vernunft verantworten, das theologische Wirklichkeitsverständnis Jesu und seiner Jünger, ihre Schöpfungs- und Geschichtstheologie (zumindest heuristisch) zu bejahen? Damit ist nicht gemeint, dass auch für heutige Menschen Gott im Himmel und die Toten in der Unterwelt sein müssen, dass die Sonne sich um die Erde dreht und dass unweit des Mittelmeeres die Welt zuende ist. Der Anspruch ist erheblich größer: Gott ist weder der unbewegte Beweger noch der Deus ex machina, sondern der Gott der Geschichte und der eschatologischen Vollendung, der sich durch Menschen auf menschliche Weise und durch seine Schöpfung auf natürliche Weise offenbart; damit ist er der alles entscheidende »Faktor« nicht nur für das Verstehen, sondern auch für das Entstehen der Wirklichkeit; er ist der Schöpfer, der die Welt jeden Tag neu erschafft, und der Erlöser, der seine Herrschaft vollendet und sie schon gegenwärtig verwirklicht. Diese Frage stellt sich nicht nur beim Blick auf Karfreitag und Ostern, sondern auch beim Blick auf das Leben Jesu. So anstößig die Rede vom stellvertretenden Sühnetod Jesu und seiner Auferstehung von den Toten ist - wäre Jesu Prophetie, die Gottesherrschaft sei nahegekommen, weniger skandalös? Die Evangelien erwecken diesen Eindruck ganz und gar nicht. Sie zeigen im Gegenteil, wie schwer es den Jüngern gefallen ist, zu verstehen und zu bejahen, was Jesus verkündet hat. Zum Schibboleth wird die Frage an Petrus, ob er den Mann aus Nazareth kenne; in keinem Evangelium wird die unrühmliche Rolle des Apostels verschwiegen. Bei Lichte besehen, zeigt sich aber, dass die urchristliche Vorstellung, Gott habe Jesus, den Gekreuzigten von den Toten auferweckt, damit er der Erstgeborene vieler Brüder und Schwestern sei (Röm 8; 1Kor 15), exakt dieselben Prämissen des Gottesglaubens macht wie Jesus, wenn er die Armen seligpreist (Lk 6,20f par.), die Ehebrecherin vor dem Tode rettet (Joh 8,1-11) und das Gleichnis vom verlorenen Sohn erzählt (Lk 15,11-32). Jesus selbst hat - mit den Pharisäern und gegen den Widerspruch der Sadduzäer - an die Auferstehung 8 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Neues Testament aktuell der Toten geglaubt (Mk 12,18-27); Jesus selbst hat gehofft, dass die Herrschaft Gottes eine Zukunft jenseits seines Todes haben wird (Mk 14,25); Jesus selbst ist in den Tod gegangen, damit Gott ihn zum Mittel machen möge, den Menschen das ewige Leben zu schenken (Mk 14,22ff). Ist es vernünftig, sich dieser Hoffnung und diesem Realitätssinn Jesu zu öffnen? Eine Hermeneutik geschichtlichen Verstehens fordert, mindestens gedanklich sich in die Glaubenswelt Jesu und seiner Jünger hineinzuversetzen. Nur dann können die Evangelientexte so verstanden werden, wie sie selbst sich verstanden haben. Sicher ist es - für einen Christen nicht anders als für einen Juden oder einen Agnostiker - nur annäherungsweise, nicht ohne erhebliche Abstriche und nicht ohne die Anerkenntnis einer letztlichen Fremdheit möglich, die Begegnung mit der Kultur Jesu und des frühen Christentums zu suchen. Aber man wird den Zugang zu den Gleichnissen und den Streitgesprächen, den Nachfolgeworten und den »Antithesen« jedenfalls dann sicher verfehlen, wenn man ausschließt, dass Gottes Herrschaft nahegekommen ist und in Zukunft vollendet sein wird, wie Jesus es gesagt hat. Nur wer - gläubig oder nicht - ins Kalkül zu ziehen bereit ist, dass Jesus jedes Wort des Vaterunser ganz und gar ernst genommen hat und dass es ein authentischer Ausdruck biblischen Glaubens ist, wird die Möglichkeit haben, annäherungsweise zu verstehen, was der Sinn dieses Gebetes ist. Nur wer nicht um jeden Preis darauf beharrt, das leere Grab als Legende und die Erscheinungen des Auferstandenen als Autosuggestionen zu »erklären«, kann sich die Chance verschaffen, das Osterevangelium zu hören. Der theologische Anspruch historischer Jesusforschung geht aber weiter. Er zielt nicht nur auf hermeneutische Empathie, sondern auf die Wahrnehmung des Bezeugten als Wirklichkeit. Die Realität, die das Evangelium beansprucht, ist eschatologische Heilswirklichkeit: Heilswirklichkeit, weil nicht irgendwelche physikalischen, biologischen, soziologischen, psychologischen, historischen Fakten geschaffen werden, die nur für den Glaubenden gälten, sondern dass menschliches und kosmisches Leben vor dem sicheren Untergang, den das Böse bewirkt, gerettet wird; Heilswirklichkeit, weil nicht fromme Wünsche geweckt, schöne Illusionen gemacht und reine Behauptungen aufgestellt werden, sondern Befreiung vom Bösen als Grundbestimmung geschöpflichen Daseins geschieht; eschatologische Heilswirklichkeit, weil nicht momentane Glückserlebnisse ins Unendliche extrapoliert werden, sondern die Heilsvollendung des zukünftig-jenseitigen Gottesreiches antizipiert wird. Wenn Jesus selbst von dieser Wahrheit seiner Worte und Taten überzeugt war - ist es einem Mitglied der scientific community und der aufgeklärten Bürgergesellschaft möglich, diesen Glauben zu teilen? Glaube bleibt Glaube und lässt sich nicht in Wissenschaft und Sozialethik überführen. Aber die Zeit des Rationalismus, da es vielen schien, der Glaube sei ein sacrificium intellectus, ist vorbei. Die ethische Orientierungskraft der Basileia-Botschaft Jesu und des Osterevangeliums lässt sich kaum bezweifeln, wie die Bergpredigt zeigt. Dass der Glaube an Gott die Natur- und Humanwie die Sozial- und Geisteswissenschaften zwar kritisieren muss, wenn sie - häufig genug - ideologisch ihren Geltungsanspruch überziehen, um sich als Heilslehre anzupreisen, aber sie als Wissenschaften gerade nicht behindern darf, sondern im Verein mit der Philosophie - nicht zuletzt durch die Markierung ethischer Standards und die Kritik unwissenschaftlicher Geltungsansprüche - in ihrer Wissenschaftlichkeit fordern und fördern muss, ist eine Lektion, die zu lernen der Theologie offensichtlich sehr schwergefallen ist, die aber inzwischen doch vielleicht angekommen ist. Ob Jesus »wirklich« Gottes Sohn war, entscheidet sich nicht nur am Dass, sondern auch am Wie seines Lebens, seines Sterbens und seiner Auferstehung; es entscheidet sich aber an genau den Kriterien, die nicht erst durch die spätere Dogmenentwicklung oder gar moderne Christologien, sondern durch die Form des Evangeliums definiert werden. Die geschichtliche Jesusforschung trägt - in einem breiten Spektrum von Forschungskontroversen - entscheidend zur fundamentaltheologischen Verantwortung des Glaubens an die Gottessohnschaft Jesu bei, der grundlegend durch die Evangelien definiert wird. Zwar hängt die Legitimität der Christologie nicht daran, was heutige Historik über die Psychologie Jesu in Erfahrung bringen kann. Aber es spricht nicht sehr viel dagegen, dass Jesus tatsächlich in der Proklamation der Gottesherrschaft die Mitte seiner Botschaft gesehen hat (ohne dass er sie permanent thematisiert zu haben braucht) 20 ZNT 8 (4. Jg. 2001) 9 Thomas Söding War Jesus wirklich Gottes Sohn? und dass er seine »Sache« und seine »Person« als (differenzierte) Einheit gesehen hat. Es spricht einiges dafür, dass Jesus weder blind in sein Unglück gerannt noch den Tod gesucht, sondern das Kreuz, nachdem es ihm auferlegt worden war, notgedrungen und leidend aus Treue zu seiner Sendung auf sich genommen hat (vgl. Mk 8,34 und 14,36). Es gibt auch genügend Hinweise, dass die (männlichen, anders als die weiblichen) Jünger tatsächlich Jesus während seiner Passion verlassen haben und erst durch die Erscheinungen des Auferstandenen wieder in die Nachfolge gerufen worden sind. Es ist deutlich genug nachzuweisen, dass es in den Predigten und Katechesen schwerlich nur um den Tod und die Auferstehung gegangen ist, sondern auch um den Basileia-Dienst Jesu; der »Sitz im Leben« der synoptischen und der johanneischen Traditionen sind die Aktivitäten der urchristlichen Missionare und die Grundvollzüge der sich herausbildenden Gemeinden. (Paulus hat weit mehr von Jesus gewusst und verkündet, als seine Briefe erkennen lassen.) Freilich stößt die historische Forschung auf unübersteigbare Grenzen: Zu urteilen, Jesus habe nicht im Namen des Teufels, sondern im Namen Gottes Dämonen ausgetrieben (vgl. Mk 3,22-30) und er habe sein Leben weder zur Demonstration seines moralischen Heroismus und noch als Konsequenz religiöser Verblendung, sondern aus Liebe zu Gott und den Menschen hingegeben, gibt es sehr gute Gründe, die aus dem Ethos Jesu resultieren, aber keinen unumstößlichen Beweis, der den Glauben ersetzen könnte. Historisches Wissen kann den Glauben an die Gottessohnschaft Jesu nicht verifizieren; aber es kann wesentlich dazu beitragen, dass geklärt wird, was der Glaube glaubt. 6. Welche Ziele kann sich die Rückfrage nach Jesus stecken? Jesus ist für die Evangelisten (und ihre Gemeinden) nicht nur eine Gestalt der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart und der Zukunft: als Gottessohn, der sich als Kyrios der Seinen offenbart, und als Menschensohn, der am Ende der Zeit wiederkommen wird. Einzelne Episoden aus dem Leben Jesu werden nicht schon um ihrer selbst, sondern immer auch um ihrer Signifikanz und Paradigmatik willen in die Evangelien aufgenommen und damit ins kollektive Gedächtnis der Ekklesia eingeschrieben - als Erinnerung an eine normativ gewordene und insofern lebendige Vergangenheit, mithin zugleich als aktuelle Orientierung an Jesus und (wenigstens intentional) als sachgerechte Übertragung in eine neue Situation. Memoria und applicatio sind die Motive, Sammlung und Komposition, Selektion und Stilisierung, Fortschreibung und Relecture, Konzentration und Transposition die Gesetze der synoptischen (Lk 1,1-4) und johanneischen (Joh 20,30f) Tradition. Sie stellen die historische Rückfrage vor erhebliche Schwierigkeiten und verschaffen ihr großartige Chancen. 21 Es war die große Hoffnung (und ein wesentlicher Antrieb) der Literarkritik, durch die Unterscheidung zwischen Tradition und Redaktion den jesuanischen Urbestand von späteren Ergänzungen, Erweiterungen und Neubildungen unterscheiden zu können. Die Methode hat auf dem Felde der Evangelienexegese zu wesentlichen Klärungen geführt; vor allem hat sie die Priorität des Markus herausgearbeitet und die Zwei-Quellen-Theorie (mit mancherlei Variationen) aufgestellt. Aber wiewohl noch neueste Arbeiten große Stücke auf die Literarkritik halten, ist die Skepsis gewachsen. Welchen Grad an Wahrscheinlichkeit kann eine Rekonstruktion beanspruchen, die nacheinander mehrere Wachstumsschichten abzutragen verspricht? Dass eine diachronische Analyse bei Evangelien, die qua Gattung Traditionsliteratur sind, legitim ist und fruchtbar wird, sollte - gegen einige neuere Tendenzen - nicht in Abrede gestellt werden. Aber was ist gewonnen, wenn man Hypothese auf Hypothese türmt? Welche Vorstellung antiker Traditionspflege herrscht, wenn »kleine Einheiten« geradezu umstandslos kombiniert und modifiziert worden sein sollten? Welche Ästhetik herrscht, wenn Spannungsfreiheit zum Leitkriterium für Ursprünglichkeit wird? Führt nicht die Suche nach den jeweils »ältesten« zur offenen oder sublimen Abwertung der »sekundären« Texte? Der Ehrgeiz der Literarkritik, später durch die Traditionsgeschichte forciert, besteht darin, ipsissima verba Jesu zu rekonstruieren. Im Bereich der Wunder und prophetischen Zeichenhandlungen Jesu kommt es dann auf ipsissima facta an. In beiden Fällen geht es nicht nur darum, zu erkennen, was Jesus eigentlich gesagt und getan hat, sondern immer auch darum »unechtes« Überlieferungsgut, 10 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Neues Testament aktuell also nachösterliche Traditionen, auszuscheiden. Dieses Projekt ist zum Scheitern verurteilt. Die Sprachgrenze zwischen dem Aramäischen Jesu und dem Griechischen der Evangelien lässt sich nicht mehr überwinden. (Selbstverständlich kann man »rückübersetzen«; aber das Ergebnis ist methodisch kaum anders einzuschätzen als das einer Übersetzung in andere Sprachen, seien sie antike oder moderne.) Vor allem jedoch scheint es kaum möglich, Originalworte klar von Gemeindebildungen zu unterscheiden. Kennzeichnend für die synoptische und die johanneische Traditionsbildung scheint viel eher zu sein, ein überliefertes Jesuswort nicht nur zu konservieren, sondern immer zugleich zu interpretieren: sei es durch eine Kombination mit anderen Worten, sei es durch eine aktualisierende Variation, sei es durch eine Fortschreibung unter Verwendung anderer als jesuanisch geltender Motive, und von einer Tat Jesu so zu berichten, dass ihre Typik hervortritt. Wer kennt die mündlichen Traditionswege, die allemal weitläufiger und engmaschiger sind als die schriftlichen, die sich rekonstruieren lassen? Wer sagt im übrigen, dass Jesus einen guten Gedanken nur einmal geäußert, ein gutes Gleichnis nur einmal erzählt, einen guten Handlungsimpuls nur einmal gegeben hat? Welche Kritierien taugen, der Rückfrage sicheren Halt zu geben? 22 Aussichtsreicher ist es, sich ein wesentliches bescheideneres Ziel zu stecken: Statt der ipsissima verba et facta gilt als Ziel der Suche die ipsissima intentio Jesu. 23 Gemeint ist nicht nur eine vage Vorstellung von dem, was Jesus »wirklich« wollte, sondern eine präzise Rekonstruktion der Besonderheiten wie der Gemeinsamkeiten, der Querverbindungen wie der Differenzen, der Konsonanzen wie der Dissonanzen der zahlreichen und verschiedenen Überlieferungen. Ziel ist, dass aus zahlreichen Einzelbeobachtungen ein facettenreiches Mosaik aus vielen Steinchen entsteht, das ohne Zweifel fragmentarisch bleibt, dessen Themen, Farben und Konturen aber erkennbar sind und wiederum Rückschlüsse erlauben auf den Ort, das Aussehen und die Ansichten jedes einzelnen Steinchens und jeder einzelnen Motivgruppe. In dieser Richtung zu suchen, heißt nicht, auf diachronische Analysen, auf Literarkritik und Traditionsgeschichte zu verzichten, hat aber erhebliche Konsequenzen für die Antwort auf die Frage, ob Jesus wirklich Gottes Sohn war. Wo man ipsissima verba et facta Jesu herausschälen will, bleibt man auf Texte fixiert, in denen Jesus ausdrücklich von sich selbst als Gottessohn, als Menschensohn und Messias spricht oder klare messianische Zeichen setzt. Wo man hofft, durch ein literarkritisches Subtraktionsverfahren zum eigentlichen Kern der Botschaft Jesu vorzustoßen, bleiben diese ausdrücklichen Christusworte und Christustaten meist auf der Strecke - sei es aus Gründen methodischer Vorsicht, sei es aus der (letztlich nicht begründeten) Überzeugung, Jesus habe ein unmessianisches Leben geführt und sei erst durch seine Jünger (nach Ostern) zum Messias gemacht worden. 24 Wo man die ipsissima intentio Jesu zu rekonstruieren versucht, bleibt die Frage nach der Historizität der Christusworte und der Christustaten wichtig, aber sie weitet sich. Einerseits wird die »implizite Christologie« wichtig: das, was zwischen den Zeilen gesagt ist und was erst deutlich wird, wenn man den Sprecher der Worte und das Subjekt der Taten Jesu ins Spiel bringt; andererseits wird danach gesucht, was die christologische Rede von der Gottessohnschaft Jesu, die entscheidend durch die Auferstehung geprägt ist, elementar auszeichnet und überhaupt schon vorösterlich erwartet werden kann: die radikale Theozentrik und Proexistenz Jesu, die untrennbare Zusammengehörigkeit von Person und Sache. 7. Zu welchen Antworten kann die Rückfrage führen? Die synoptischen Evangelien erwecken keineswegs den Eindruck, Jesus habe dauernd und mit größtem Nachdruck von seiner Gottessohnschaft gesprochen. Dies ist weder ein christologisches Manko, das durch verstärkte historische Anstrengungen ausgeglichen werden müsste, noch ein Indikator für die historische Substanzlosigkeit der Christologie, sondern spiegelt sowohl die christologische und hermeneutische Bedeutung des Ostergeschehens wider als auch die herausragende Bedeutung des Titels. Ein einziges Mal bekennt Jesus sich zu seiner Gottessohnschaft: vor dem Hohen Rat, der ihn deshalb prompt zum Tode verurteilt (Mk 14,62f parr.). Auch Johannes überliefert ein einziges ausdrückliches Selbstbekenntnis Jesu (10,36), das freilich, auf eine Fülle einschlägiger Aussagen über den Gottessohn zurückbezogen ZNT 8 (4. Jg. 2001) 11 Thomas Söding War Jesus wirklich Gottes Sohn? (3,17f.35; 5,19-27; 14,13), schon während seines öffentlichen Wirkens platziert ist, aber dazu dient, den Widerspruch gegen Jesus zu provozieren, der schließlich zu seinem heilstiftenden Kreuzestod führt. Für alle Evangelien ist kennzeichnend, dass Jesu Gottessohnschaft einerseits auf der Seite menschlicher Bekenntnisse steht (Mk 15,39 parr.; Mt 14,33; 16,16; Joh 1,34.49; 11,27, vgl. 1,18), und andererseits auf der Seite göttlicher Offenbarung (Mk 1,9ff parr.; 9,2-9 parr.; Joh 1,34). Beides ist aufeinander bezogen: Jesus kann nicht von einem neutralen Beobachterstandpunkt aus als Gottessohn erkannt werden, sondern nur in dem hermeneutischen Horizont, den Gottes Offenbarung definiert und in den das christliche Bekenntnis hineinführt. Das historische Problem ist damit noch nicht neutralisiert. Das Verhör durch den Hohenpriester ist ein ernsthaft zu erwägender Ort für ein messianisches Selbstbekenntnis Jesu. Der Kreuzestitulus verweist darauf, dass die - vermutete, unterstellte oder proklamierte und verzerrte - Messianität Jesu eine entscheidende Rolle beim Tod Jesu gespielt hat. Gleichwohl hat unverkennbar christliche Bekenntnissprache den dramatischen Dialog vor dem Hohen Rat geprägt, so dass bei den Synoptikern wie bei Johannes auf unterschiedliche Weise hervortritt, was erst post factum erkannt werden konnte: Worin immer die genauen Motive der Hohenpriester, Jesus den Prozess zu machen, bestanden haben - letztlich ging es, was vielleicht den Beteiligten noch gar nicht klar war, um die Gottessohnschaft Jesu. Doch steht die Szene vor dem Hohen Rat nicht allein. Dass die johanneische, aber auch die synoptische Tradition zu einer eminenten Explikation der Christologie im Munde Jesu geführt hat, ist mehr als wahrscheinlich. Um so interessanter sind die weniger exponierten, aber starken Anknüpfungspunkte für die spätere Entwicklung. Dass die Gleichnisse wirklich vom Reich Gottes handeln, die Seligpreisungen nicht nur Illusionen machen, die Bergpredigt Gehorsam heischt, die Streitgespräche richtig geführt sind, die Wunder Zeichen der Gottesherrschaft sind, hängt an der Person des Sprechers und Täters Jesus. Ihm muss man abnehmen, was er in Wort und Tat verkündet; er tritt mit seiner Person für die Wahrheit seines Wortes ein; das Evangelium bedarf eines Predigers - auf ihn, der nicht selten prononciert »Ich« sagen kann, fällt das Licht der Basileia. Dass Jesu Basileia-Verkündigung nicht die Frage aufgeworfen hätte, ob er vielleicht der Messias sei, wäre verwunderlich. Der Hoheitstitel »Menschensohn« fällt so oft in den Evangelien, dass es erstaunlich wäre, sollte es keinen anderen Anhaltspunkt geben, als dass Jesus die Hoffnungen Daniels auf den Richter am Jüngsten Tage geteilt hätte (Dan 7.12). Nach Mk 12,35ff hat Jesus sich mit Verweis auf Ps 110 einschlägig und kritisch zur populären Erwartung eines davidischen Messiaskönigs geäußert; die Aussage ist durchaus gegenläufig zu einem Hauptstrom neutestamentlicher Christologie und deshalb im Kern wohl doch vorösterlich. Das Stichwort »Gottessohn« fällt nicht, steht aber unausgesprochen im Raum. Im Gleichnis von den bösen Winzern (Mk 12,1-12) ist der letzte Gesandte der »geliebte Sohn« Gottes, - nicht unmittelbar auf den Gleichniserzähler Jesus zu deuten, aber doch auch nicht unabhängig von ihm. Die Evangelien differenzieren in Jesu Worten durchweg zwischen »mein« und »euer Vater«; die Gebetsanrede »Abba«, die ihre frühjüdischen Parallelen hat, erscheint in den Evangelien primär als Ausdruck der Gottesbeziehung Jesu. Nach Mt 11,27 par. Lk 10,22 beruht das prophetische Wissen Jesu um die Gottesherrschaft auf einer Offenbarung, die Gott, der »Vater«, ihm, »dem Sohn« gegeben hat, damit er sie anderen bekanntmache. Die Vision Jesu bei seiner Taufe im Jordan (Mk 1,9ff), mit der vermutlich seine öffentliche Wirksamkeit begonnen hat, hat seine Gottessohnschaft zum Inhalt. Jeder einzelne dieser Texte ist in der exegetischen Literatur historisch sehr umstritten. Jeder ist erkennbar nachösterlich geformt und christologisch interpretiert. Dennoch: Es gibt zu viele Anhaltspunkte, als dass sie »historisch-kritisch« wegdiskutiert werden könnten; der Anspruch Jesu war zu skandalös, sein Vertrauen auf die Gottesherrschaft zu groß, als dass er ohne eine geklärte Beziehung der Gottunmittelbarkeit vorstellbar wäre. Historisch am wahrscheinlichsten ist, dass Jesus sich seit der Taufe im Jordan als Gottessohn zur Verkündigung der Herrschaft Gottes gesandt wusste. Dass er »Sohn« ist, hebt ihn nicht schon aus der Schar der Söhne und Töchter Israels heraus, sondern meint ihn als Mitglied des erwählten Gottesvolkes der Juden. Aber seine Sohnschaft ist insofern von ihren geschichtlichen Anfängen her singulär, als der Dienst, den er zu leisten hat, einmalig ist. Die Got- 12 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Neues Testament aktuell tesherrschaft definiert die Gottessohnschaft Jesu, und der Gottessohn ist es, der die Gottesherrschaft definiert. Der Hoheitstitel Gottessohn nimmt diese Impulse positiv auf und füllt sie durch das Grundgeschehen der Auferweckung des Gekreuzigten mit neuem Inhalt, der die vorösterlichen Wurzeln nicht ausreißt, sondern wachsen lässt. War Jesus wirklich Gottes Sohn? Die Antwort kann nur bejahen, wer glaubt, dass er Gottes Herrschaft nahebringt, »für die Vielen« den Tod am Kreuz erlitten hat und von den Toten auferstanden ist. Aber wer glaubt, was Jesus selbst verkündet hat, wofür er gestorben ist und was er für seine Auferstehung womöglich selbst nicht zu hoffen wagte, der kann auch im Blick auf seine Geschichte Jesus als den Christus und Gottessohn erkennen (Joh 20,30f). Anmerkungen 1 Genannt seien nur einige Bücher mit wissenschaftlichem Anspruch und repräsentativer Bedeutung: J. Gnilka, Jesus von Nazaret. Botschaft und Geschichte, Freiburg u.a. 6 2000 (1990); J.P. Meier, A Marginal Jew. Rethinking the Historical Jesus, bisl. 2 Bde., New York 1991.1994; G. Theißen/ A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996; J. Becker, Jesus von Nazaret, Berlin 1995; E.P. Sanders, Sohn Gottes. Eine historische Biographie Jesu (engl. 1993), Stuttgart 1996, 226-233; D. Marguerat, Jésus de Nazareth, in: Histoire du Christianisme I, Paris 2001, 7-58. Ihnen gesellen sich gute Bücher zu, die auf wissenschaftlicher Basis einen breiteren Leserkreis erreichen wollen: G. Vermes, Jesus der Jude. Ein Historiker liest die Evangelien, Neukirchen-Vluyn 1993; K. Berger, Wer war Jesus wirklich? , Stuttgart 1995; R. Hoppe, Jesus. Von der Krippe an den Galgen, Stuttgart 1996; E. Schweizer, Jesus, das Gleichnis Gottes. Was wissen wir wirklich vom Leben Jesu? , Göttingen 1996; J. Roloff, Jesus, München 2000. 2 Vgl. M. Karrer, Jesus Christus im Neuen Testament (NTD.E 11), Göttingen 1998. 3 So C.P. Thiede, Die älteste Evangelienhandschrift? Das Markusfragment von Qumran und die Anfänge der schriftlichen Überlieferung des Neuen Testaments, Wuppertal 2 1990 ( 1 1988). 4 So H.-J. Schulz, Die apostolische Herkunft der Evangelien (QD 145), Freiburg u.a. 3 1997 (1993). 5 So C.P. Thiede/ M. d‹Ancona, Der Jesus-Papyrus. Die Entdeckung einer Evangelien-Handschrift aus der Zeit der Augenzeugen, München 1996. 6 So M. Hesemann, Die Jesus-Tafel. Die Entdeckung der Kreuz-Inschrift, Freiburg u.a. 1999. 7 So M.G. Silato, Und das Grabtuch ist doch echt, Augsburg 1998. 8 Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 1913 (1906), 4. 9 Als kundig-ironischer Führer eignet sich R. Heiligenthal, Der verfälschte Jesus. Eine Kritik moderner Jesusbilder, Darmstadt 1997. 10 Vgl. R.W. Funk/ R.W. Hoover/ Jesus Seminary (Hgg.), The Five Gospels, The Search for the Authentic Words of Jesus, New York 1993. 11 So die Tendenz von J.D. Crossan, Der historische Jesus (engl. 1991), München 1995. 12 G. Theißen/ A. Merz, Jesus 29. 13 Theologie des Neuen Testaments (1958), hg. v. O. Merk, Tübingen 9 1984, 1. 14 Neutestamentliche Theologie I: Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 2 1973 ( 1 1971). 15 Wie konstruktiv sie über die Alternative hinausgeführt werden kann, zeigt jedoch P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments. 2 Bde., Göttingen 1992.1999, I 40-161. 16 Die differenzierteste Position finde ich bei W. Thüsing, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus. Grundlegung einer Theologie des Neuen Testaments. (bisl. 3 Bde.), Münster 1996-1999. 17 So eine Pointe der harschen Kritik durch J. Ratzinger, Schriftauslegung im Widerstreit. Zur Frage nach Grundlagen und Wert der Exegese heute, in: ders. (Hg.), Schriftauslegung im Widerstreit (QD 117), Freiburg u.a. 1989, 15-44. 18 Vgl. W. Pannenberg/ Th. Schneider (Hgg.), Verbindliches Zeugnis. 3 Bde. (DiKi 7.9.10), Freiburg/ Göttingen 1995-1998. 19 Vgl. Th. Söding, Ein Jesus - Vier Evangelien. Vielseitigkeit und Eindeutigkeit der neutestamentlichen Jesustradition, in: Theologie und Glaube 91 (2001), 413-447. 20 Vgl. H. Merklein, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft, Eine Skizze (SBS 111), Stuttgart 3 1989. 21 Zu den Schwierigkeiten und Möglichkeiten vgl. F. Hahn, Methodologische Überlegungen zur Rückfrage nach Jesus, in: K. Kertelge (Hg.), Rückfrage nach Jesus. Zur Methodik und Bedeutung der Frage nach dem historischen Jesus (QD 63), Freiburg u.a. 1974, 11-77. 22 Das Problem der Kriteriologie kann hier aus Raumgründen nicht diskutiert werden; vgl. aber Th. Söding, Wege der Schriftauslegung. Methodenbuch zum Neuen Testament. Unter Mitarbeit von C. Münch, Freiburg u.a. 1998, 286-294. Die Kriterien-Diskussion darf freilich nicht, wie dies meist geschieht, auf die geläufigen Parameter beschränkt, sie muss auf eine kritische Reflexion der Voraussetzungen historischer Urteilsbildung ausgeweitet werden. 23 Vgl. W. Thüsing, Theologien I 57ff. 24 Das meinte bekanntlich W. Wrede, Das Messiasgeheimnis in den Evangelien, Göttingen 1901. ZNT 8 (4. Jg. 2001) 13 Thomas Söding War Jesus wirklich Gottes Sohn? Abgrenzung des Diskussionsfeldes Noch im Jahre 1854 erschien im Verlag C.H. Beck aus der Hand von F.K. Wild ein Büchlein mit dem Titel »Es ist noch ein Bann unter dir, Israel«, in dem massiv vor apokryphen Schriften gewarnt wird. Der Verfasser beruft sich dafür auf die Synode von Dordrecht 1618 und betont, schon die bloße Lektüre nicht-kanonischer Schriften bedeute Verführung, Verwirrung und Sünde. »Keiner darf ungestraft kommen mit der vermengenden Gleichstellung des Apokryphischen (S. 57), denn das bedeute einen »Bund mit Kanaan« zu schließen. - Aber auch wenn man nicht konfessionell, sondern liberal urteilte wie Wilhelm Bousset, dann konnte doch die sogenannte »Propheten-Anschluß-Theorie« 1 den Geschmack an der zwischentestamentlichen Literatur gründlich verderben. Denn wenn die geistige Höhe erst wieder durch Jesus erreicht war, der über den Graben des »Spätjudentums« an die Propheten anschloß, dann mußte die zwischentestamentliche Literatur versinken im Dunkel des Unoriginellen und des gärend Chaotischen. Dabei ist für den Historiker die Abtrennung des Kanons nichts weiter als ein willkürlicher Schnitt. Bestens illustriert wird dieses Urteil dadurch, daß man unter den apokryphen Psalmen aus den Höhlen von Qumran drei gefunden hat, die ihre Entsprechung innerhalb der sog. fünf apokryphen Psalmen haben, die seit jeher in der syrischen Kirche gelten und deren Herkunft bis jetzt unbekannt war. Nun aber ist klar, daß die syrische Kirche einfach auf einen anderen Umfang des Kanons bezug genommen hat. So ist Sinn und Berechtigung der Kanonsgrenze hier erneut zur Diskussion gestellt. Hinzukommt, daß etliche außerkanonische Schriften älter sind als die jüngeren Schriften des Kanons. Vor allem die zeitliche Untergrenze bleibt umstritten, da auch wichtige Zeugnisse der zwischentestamentlichen Literatur nicht früher als um 200 n.Chr. entstanden sein können. So können wir nur vorsichtig und ohne scharfe Grenzen das Feld abstecken, um das es hier geht. Unsere »Definition« der zwischentestamentlichen Literatur (ZTL) lautet: Das ist die nicht-kanonische (auch nicht in der Septuaginta [LXX] enthaltene) religiöse Primärliteratur (also nicht gelehrte Sekundärliteratur wie Philo und Josephus) des Judentums bis hin zur Fixierung der altbzw. neutestamentlichen Canones. - Wir fragen nach deren Bedeutung dieser Texte für die Auslegung beider Testamente. Die Bedeutung für die Auslegung des Alten Testaments 1. Mehr als einmal präsentieren Texte der ZTL mutmaßlich frühere Traditionen, denen gegenüber der Kanon Späteres bietet. Jedenfalls ist diese Annahme eine hilfreiche heuristische Fragestellung. Beispiele: Das Buch Daniel und 4QpNabonid, ferner Gen 5,24 und zumindest Teile der Henochliteratur mit Erörterungen zum Sonnenkalender, denn die Zahl 364 in Gen 5,24 entspricht der Zahl der Tage im solaren Kalenderjahr und setzt wohl eine breitere Tradition oder Diskussion voraus. 2. Texte der ZTL sind oft die organische Fortsetzung alttestamentlicher Gattungen und Traditionen. Darauf weist vor allem der bemerkenswerte Umstand, daß in der Regel (außer bei Philo, im Neuen Testament und in exegetischen Qumrantexten) die »Schrift« in der ZTL regelmäßig nicht zitiert wird. So ist das Jubiläenbuch so etwas wie die letzte - im Unterschied zu P (Priesterschrift) nicht mehr ein den Pentateuch eingearbeitete - Pentateuchschicht. So sind die Psalmen aus Qumran hebräische Dichtung und »aus demselben Holz geschnitzt« wie die klassischen Psalmen. 3. Manche »Gattungen«, die im Kanon schon angelegt sind, kommen erst in der ZTL zur Entfaltung. Beispiel: Die Gattung der Geschichtsapokalypse in Daniel 7 und demgegenüber in 4Esra. 4. In der ZTL werden Texte in weitaus größerem Umfang, als es in der LXX schon geschah, nunmehr in griechischer Sprache und in größerem Maße, als es im Masoretischen Text belegt ist, in Zum Thema Klaus Berger Die Bedeutung der zwischentestamentlichen Literatur für die Bibelauslegung 14 ZNT 8 (4. Jg. 2001) ZNT 8 (4. Jg. 2001) 15 Klaus Berger Die Bedeutung der zwischentestamentlichen Literatur für die Bibelauslegung Klaus Berger Klaus Berger, geb. 25.11.1940 in Hildesheim, Promotion Dr. theol. 1965 in München, Habil. im Fach Neues Testament 1971 in Hamburg, 1970-1974 Dozent in Leiden NL, seit 1974 Prof. f. Neues Testament in Heidelberg, 36 promov. SchülerInnen, 1999 Sexauer Gemeindepreis aramäischer Sprache im Original produziert. Damit kommt die außerpalästinische Diaspora stärker zur Geltung. So darf man zum Beispiel für die griechische Schrift »Joseph und Aseneth« und für die »Leben der Propheten«, zumindest aber für das »Leben des Jeremia« Ägypten als Ursprungsland annehmen. Es gibt mithin von dieser Zeit an drei heilige Sprachen: Hebräisch, Aramäisch und Griechisch. Und wohlwollende frühere Versuche, Jesu Worte unbedingt in die hebräische oder aramäische angebliche Urfassung zurückzuübersetzen, krankten a limine daran, daß solche Gelehrten die zur Zeit Jesu schon 200 Jahre währende Anerkennung des Griechischen als gültiger Sakralsprache (in der LXX) noch nicht recht realisiert hatten. 5. Die Liste der zur ZTL gehörenden Schriften ist prinzipiell unabgeschlosen. Das bedeutet exegetisch: a) Damit ist auch der Inhalt dessen, das »jüdisch« ist, weitgehend offen. Man kann daher kaum zwischen »mehr oder weniger jüdischen« Jesusworten unterscheiden. Jüdisch ist wohl vielmehr alles, was ein Jude in den Mund nehmen kann, ohne sich die Zunge zu brechen oder sich das Herz zu verletzen. b) Der Horizont für die traditionsgeschichtliche Einordnung, die Rezeption oder Wirkung der kanonischen Schriften bleibt beweglich. Gerade aus dem Bestand der koptischen Kirche sind bezüglich apokrypher Texte aus der ZTL noch viele Überraschungen zu erwarten (ähnliches gilt für syrische, armenische und georgische Klöster). 6. Die schwierige Frage nach der Datierbarkeit aller dieser Schriften darf nicht als letzte Bastion der Ablehnung der religionsgeschichtlichen Methode zur Erforschung insbesondere des Neuen Testaments herhalten. Beispiel: In der jüdischen koptischen Elia-Apokalypse wird mit Martyrium und Auferstehung von Einzelfiguren vor der allgemeinen Totenauferstehung gerechnet. Daß diese Apoka lypse zwischen dem 2. Jh. vor Christus und dem 3. Jh. nach Christus datierbar ist, darf nicht zu der leicht durchschaubaren apologetischen Schlußfolgerung verleiten, also sei das Zeugnis dieser Schrift für die religionsgeschichtliche Einordnung der frühchristlichen Formulierungen über Tod und Auferstehung Jesu völlig unerheblich, da anzunehmen sei, diese Schrift sei »sowieso christlich beeinflußt«. - Die Datierung dieser Schriften ist auch deshalb schwierig, weil manches Mal in Texten jüngerer Entstehung gerade die Anfangs- und Schlußkapitel älteres Gut enthalten, wie man z.B. an der nur äthiopisch erhaltenen äthiopischen Esra - Apokalypse (zugänglich bei Isaac Halévy) zeigen kann. Die Bedeutung für das Neue Testament 1. Die ZTL ermöglicht eine religionsgeschichtliche Einordnung des Neuen Testaments, die das alte Schema »Neues Testament versus Rabbinica« ablöst. In der Tat: Gegen »Strack-Billerbeck« ließ sich Jesus leicht als religiöses Genie profilieren. Man konnte stets das dürre juristische Gestrüpp gegen die herzergreifende schlichte Botschaft noch dazu des liberalen Jesusbildes absetzen. Mit der ZTL (inklusive natürlich der Texte von Qumran) kommt eine Literatur ins Spiel, die dem Neuen Testament zeitlich und sachlich ungleich näher steht und die entsprechend das apologetische Geschäft, wenn man denn meint, nicht darauf verzichten zu können, wesentlich erschwert. 2. Insbesondere die Nähe des Neuen Testaments zum Judentum wird erst jetzt richtig brisant. Das betrifft zum Beispiel die Übereinstimmungen paulinischer Gnadenlehre mit den Aussagen der Hymnen von Qumran. In diesen Texten wird gebetet, was Paulus dann mit Jesus Christus verbindet und zur Theorie entfaltet. Aber daß der Mensch ganz und gar sündig, ja nichts als Staub und Wasser ist, daß Gottes Gnade alles ist und seine Barmherzigkeit der einzige Grund zur Hoffnung, das finden wir eben ganz oft in den Psalmen von Qumran. Und es hilft auch nichts, diese Texte als Produkte einer abseitigen »Sekte« zu disqualifizieren, um dadurch um so kräftiger den Hauptstrom des Judentums als angebliche Leistungsreligion Jesus und Paulus entgegenzustellen. Wenn dieser methodische Zugriff rechtens ist, dann kann das kennzeichnend Christliche klarer bestimmt werden. Das »kennzeichnend Christliche« ist nicht in jedem Fall das absolut Neue oder gar Bessere, aber es ist eben oft das neue Zentrum, von dem her alles Jüdische angesichts des mit Jesus erschienenen Messias und Gottessohnes neu geordnet wird und eine neue Mitte bekommt. Um Nivellierung oder Verrat des Besonderen geht es übrigens dabei überhaupt nicht. Es geht um neue Schwerpunkte und Gewichtungen. 3. Diese veränderten Rahmenbedingungen bedeuten etwas für die religionsgeschichtliche Methode des Vergleichens mit dem Neuen Testament überhaupt. Denn jeder religionsgeschichtliche Vergleich, insbesondere der mit der ZTL, ebnet jeden möglichen Absolutheitsanspruch ein und macht jedweden Anspruch historisch gesehen relativ. Jeder Anspruch muß sich vielmehr im Konkurrenzkampf neu bewähren - ein Sachverhalt, dem sich auch das Christentum unserer Tage je und je ausgesetzt sieht. Es leuchtet so auch ein, warum jede Art konfessioneller Orthodoxie immer ein gespaltenes Verhältnis zum religionsgeschichtlichen Vergleichen gehabt hat. Doch die älteren apologetischen Tricks dürften ausgedient haben. Der eine Trick bestand darin, alle anderen Religionen als Menschenwerk und als Versuch menschlicher Leistung zu disqualifizieren und sie so dem rechten Glauben und der reinen Offenbarung entgegenzusetzen. - (Übrigens gehört der Offenbarungsbegriff zu den großen weißen Flecken auf den Landkarten systematischer Theologie.) - Ein anderer Trick bestand darin, zu sagen, in den anderen Religionen gehe es nur um Mythen und diffuse Hoffnungen, während im Christentum alles historisch wahr, echt und beweisbar sei. Nein, die Besonderheit des Christentums muß nicht angestrengt und auf Kosten anderer Religionen erwiesen werden. Sie ergibt sich für den Historiker zwangsläufig, wenn er irgendeinen Sinn für Gestalt und Individualität in der Geschichte hat. So nimmt hier die exegetische Methodenreflexion etwas vorweg, das im interreligiösen Dialog unserer Tage auch die Gesamtposition des Christentums betrifft. 4. Die ZTL hat die Funktion eines ergänzenden Rahmens (im Sinne einer subsidiären Quelle) für alle diejenigen Elemente, die uns das Neue Testament nicht oder nicht explizit mitteilt. Man kann nicht oft genug betonen, daß uns das Neue Testament nur einen minimalen Ausschnitt aus christlicher Alltagswirklichkeit des 1. Jh. n.Chr. bietet. Zum Beispiel wissen wir einfach nicht, wie Christen das Herrenmahl gefeiert haben, ob und wann sie täglich gebetet haben, wieweit heilige Schriften verbreitet waren, usw. Vieles kann von der ZTL her verständlich gemacht werden oder es ist von hier aus zu rekonstruieren. 5. Insbesondere aufgrund der Texte von Qumran, aber aus der in den letzten Jahrzehnten fast vollständig neu edierten und in Indices erfaßten ZTL kann man klären: Fragen des Vokabulars (z.B. den umstrittenen Ausdruck »Menschen des göttlichen Wohlgefallens« in Lk 2,14), den oft kühnen Schriftgebrauch (z.B. Heranziehen der Aussage »männlich und weiblich schuf er sie« zur Begründung von Eheregelungen), der Ekklesiologie (Gemeinde als Tempel und Bund, der Zwölferkreis) und schließlich Fragen der Messianologie (z.B. der neu aufgetauchte Begriff »Gesalbter des Geistes«). 6. In der ZTL werden für Christologie und in der Pneumatologie wichtige Weichen gestellt. In der Christologie betrifft das die bekannte Schaffung von Mittlerwesen zwischen Gott und Mensch (Weisheit, Logos, Memra, Menschensohn) oder Präexistenz als Würdeattribut. - Was den Heiligen Geist betrifft, so sind die Targume besonders wichtig, da sie den Heiligen Geist an hunderten von Stellen besonders bei Propheten neu einfügen und inhaltlich füllen. 7. Das politische Schicksal Israels eröffnet in der Zeit der ZTL zusammen mit der beginnenden Diskussion über Auferstehung eine neue Dimension der Theodizeefrage. Die Philosophie beharrt freilich für die Theodizeefrage auf »Hiob« und hat 16 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Zum Thema diese Wendung zur Zeit der ZTL bis heute noch nicht wahrgenommen. 8. Die Grenzen Israels werden innerhalb der ZTL brüchig, da zum Beispiel in der Henochliteratur »gerecht« und »ungerecht« neue allein entscheidende Kriterien für das Verhältnis zwischen Gott und Mensch werden. Für das Neue Testament ist das eine elementare Voraussetzung für die Begründung der Heidenmission. 9. In einigen Qumrantexten wird eine neue religiöse Dimension erschlossen, die in der Folge wichtig wurde, die Mystik als gegenwärtige Erfahrung von »Personen« der unsichtbaren (himmlischen oder infernalischen) Welt und damit verbunden die Verknüpfung von Meditation und Askese. Anmerkung 1 Dazu maßgeblich: H. Kahlert, Der Held und seine Gemeinde. Untersuchungen zum Verhältnis von Stifterpersönlichkeit und Verehrergemeinschaft in der Theologie des freien Protestantismus (EHS.T 238), Frankfurt u.a. 1984. ZNT 8 (4. Jg. 2001) 17 Klaus Berger Die Bedeutung der zwischentestamentlichen Literatur für die Bibelauslegung Kulturwissenschaft Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen · Fax (07071) 7 52 88 Heinz Hofmann (Hrsg.) Antike Mythen in der europäischen Tradition 1999, 303 Seiten, mit zahlr. Abbildungen, DM 46,-/ 23,-/ SFr 44,- ISBN 3-89308-298-0 Die großen Gestalten des antiken Mythos - wie Odysseus, Ödipus, Orpheus, Achilles, Pandora, die Atriden - bestimmen seit beinahe drei Jahrtausenden unser Denken. Die stets veränderte oder neue Darstellung ihrer Personen und Schicksale bilden eines der Fundamente unserer kulturellen und geistigen Identität. Der Band gibt einen Eindruck von den vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten, von der Bedeutung und von der immensen Wirkungsgeschichte der antiken Stoffe bis in unsere Gegenwart. Mit Beiträgen von: Walter Burkert - Karl-Heinz Stanzel - Ernst A. Schmidt - Richard Kannicht - Heinz Hof-mann - Thomas Alexander Szlezák - Lutz Käppel - Maria Moog-Grünewald - Helmut G. Walther - Renate Schlesier 1098 zogen sich die Benediktiner, die aus der Abtei Molesme stammten, nach Cîteaux zurück, um hier ein neues monastisches Leben zu beginnen. Ihr Kloster wurde zur Keimzelle des neuen Ordens der Zisterzienser. Geprägt von der Gestalt des Hl. Bernhard von Clairvaux, trat der Orden einen Siegeszug durch die monastische Welt an. Am Ende des Mittelalters verfügte er allein im deutschen Sprachraum über 141 Niederlassungen, unter ihnen Bebenhausen im Schönbuch. Mit Beiträgen von: Reinhard Schneider - Ulrich Köpf - Christoph Auffahrt - Matthias Untermann - Ulrich Knapp - Werner Rösener - Elke Goez - Barbara Scholkmann - Mathias Köhler - Sönke Lorenz Barbara Scholkmann / Sönke Lorenz (Hrsg.) Von Cîteaux nach Bebenhausen Welt und Wirken der Zisterzienser 2000, VIII, 235 Seiten, mit zahlr. z.T. farb. Abb., geb., DM 49,80 24,90/ SFr 47,- ISBN 3-89308-305-7 Das Geld gewinnt in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens an Bedeutung. Angesichts knapper Geldmittel sind auch die Kirchen in den Sog der Ökonomisierung geraten. Da aber das Thema »Religion und Geld« sehr sensibel ist, ist es ratsam, nicht arglos dem Zeitgeist zu folgen, sondern kritisch die Bibel zu befragen. Dieser Artikel will einen Beitrag zur Diskussion des Verhältnisses von Geld und Glauben leisten. 1 Neutestamentliche Aussagen zum Wesen des Geldes werden dabei auf dem Hintergrund ihrer Umwelt interpretiert. Ein hermeneutischer Ausblick rundet den Artikel ab. 1. Die traditions- und religionsgeschichtlichen Einflüsse auf das Neue Testament Der Idealstaat des Platon wird von Philosophen regiert und von sogenannten »Wächtern«, die in Gütergemeinschaft zusammenleben, beschützt. Den Wächtern ist nicht nur der Privatbesitz von Gold und Silber verboten, sondern bereits die Berührung ist ihnen untersagt (Pol 417a). 2 Das Geldberührungsverbot wird folgendermaßen begründet (Pol 416d-417a): Die Wächter besitzen in ihrer Seele »göttliches Gold und Silber«, womit die Tugend gemeint ist. Diese göttlichen Güter dürfen sie nicht mit materiellen Münzen vermischen, denn letztere sind unheilig, da mit ihnen Ungerechtigkeiten verübt wurden. Nach platonischer Denkweise würde eine Vermischung von göttlichen und irdischen Gütern die göttlichen Güter verunreinigen. 3 Charakteristisch ist hierbei der Antagonismus von himmlischen und irdischen Gütern. Dieser Gegensatz wurde im hellenistisch geprägten Judentum rezipiert 4 und hat auch auf das Neue Testament gewirkt, wie im Folgenden gezeigt wird. In der kynischen Tradition wurde vor Geldgier gewarnt, denn nach Diogenes von Sinope ist die Habgier »die Mutterstadt alles Übels« (DiogLaert 6,50). Das Geld wurde als versklavende Macht verstanden. 5 Hinter dieser Kritik verbirgt sich ein Freiheitsstreben, das Freiheit in der Unabhängigkeit von weltlichen Dingen sucht. Das kynische Ideal ist dementsprechend ein genügsames und naturgemäßes Leben. In der hellenistisch-römischen Kultur stand man in gebildeten Kreisen dem Geld meist grundsätzlich distanziert gegenüber. In der strengen Richtung des Kynismus führte die Ablehnung des Geldes dazu, daß man nach dem Vorbild des Diogenes als bettelnder Philosoph durch die Gegend zog und äußerste Bedürfnislosigkeit predigte. Genügsamkeit war das Ideal der herrschenden Philosophenschulen. Oft jedoch war die Verachtung des Geldes nur ein philosophischer Lehrsatz, den man propagierte, ohne ihm auch Taten folgen zu lassen: »Seneca schreibt Briefe über die Habsucht als Ursünde und treibt zugleich Wuchergeschäfte.« 6 Im Alten Testament gibt es eine ausgeprägte Reichtumskritik. Die Propheten werfen den Reichen soziale Unterdrückung und Entrechtung der Armen vor, wobei ihre Sozialkritik häufig mit Kultkritik vermischt ist. 7 Theologisch begründet die prophetische Tradition ihre Option für die Armen damit, daß Gott in seiner Gerechtigkeit die Schreie der Unterdrückten hört und für die Armen Partei ergreift (Am 5,21ff.; Jes 1,10ff. u.a.). Die jüdische Apokalyptik führt diese Tradition fort, indem sie die eschatologische Erhöhung der Armen und Erniedrigung der Reichen ankündigt. 8 Die Tora kennt eine Sozialgesetzgebung mit ausgeprägten Schutzbestimmungen, die ein Lebensrecht der Armen sicherstellen sollen. 9 Notleidende sollen durch Almosen in Form von Naturalien oder durch Darlehen unterstützt werden. 10 Das Neue Testament greift an vielen Stellen auf die soziale Tradition der Tora und der Propheten zurück (vgl. Lk 16,19ff.). Die Weisheit indes entwickelte eine ambivalente Sicht des Reichtums. Einerseits kritisiert sie Habgier und mahnt zu Almosen, 11 andererseits versteht sie Armut als Unheil und Reichtum als Ausdruck von göttlichem Segen und Frömmigkeit. 12 Letztere Anschauung wirkte vor allem auf rabbinische Schriften ein, 13 wird im Neuen Testament hingegen nicht rezipiert. Der kynische Abscheu vor Geldgier wirkte nicht nur auf andere philosophische Schulen, son- Zum Thema Vincenzo Petracca Gott oder Mammon - Überlegungen zur neutestamentlichen Besitzethik 18 ZNT 8 (4. Jg. 2001) ZNT 8 (4. Jg. 2001) 19 Vincenzo Petracca Gott oder Mammon Vincenzo Petracca Vincenzo Petracca, Jahrgang 1964, studierte in Heidelberg Mathematik und Volkswirtschaft (Abschluß als Diplom-Mathematiker), anschließend dort Theologie. Er arbeitet als Wiss. Angestellter im Neuen Testament an der BUGHS Wuppertal. Zur Zeit stellt er eine Dissertation zur Besitzethik des Lukasevangeliums fertig. dern auch auf das hellenistische Judentum, dort vermischt mit alttestamentlichen Einflüssen. Geldgier wurde als das Urübel (PsPhok 42; Philo, Virt 100) und als eine Form des Götzendienstes aufgefasst. 14 Diese Ansicht teilen die Deuteropaulinen : In Eph 5,5 und Kol 3,5 werden Habgier als Götzendienst gebrandmarkt. 1Tim 6,9f. versteht die Geldgier als gefährliche Versuchung, die den Menschen ins Verderben stürzen will, denn sie ist die »Wurzel alles Bösen« (V 10). 15 Die Kritik an Geld- und Habgier findet sich auch in den echten Paulusbriefen und war im gesamten Urchristentum verbreitet. 16 Synoptisch wird außer im Lasterkatalog in Mk 7,22 besonders im Lukasevangelium vor materieller Gier gewarnt: Die Reaktion der Pharisäer auf die Worte Jesu über den Mammon ist Spott, denn die Pharisäer sind geldgierig (Lk 16,14). Geldgier führt hier zur Verstockung und zur Ablehnung der Botschaft Jesu. Positiv setzt Lukas dem Streben nach Besitz das Streben nach einem gesegneten Leben entgegen: »Seht zu und hütet euch vor jeglicher Habgier, denn selbst wenn einer Überfluß hat, hängt der Wert seines Lebens nicht von seinem Besitz ab« (Lk 12,15). Um diesen Satz zu veranschaulichen, schließt Lukas die Beispielerzählung vom reichen Kornbauern an: Ein Reicher glaubt, im Horten von Gütern bestehe der Lebensinhalt, doch im Tod haben seine Güter keinen Bestand und er steht vor dem Nichts (Lk 12,16-21). Für den dritten Evangelisten markiert der Tod das definitive Ende des Besitzes und manifestiert die Torheit des Strebens nach Geld. 17 Der fatalen Lebenseinstellung des Kornbauern stellt er das Vorbild der Raben und Lilien entgegen, die - statt zu horten und sich zu sorgen - vom himmlischen Vater versorgt werden (Lk 12,22- 32). Lukas will von Habgier befreien und zu Gottvertrauen und Teilen motivieren (Lk 12,33f.). Seine ekklesiologische Utopie entfaltet er in der Apostelgeschichte : Die Gemeinden sollen sich dem Idealbild der Jerusalemer Urgemeinde soweit wie möglich annähern. Nach Apg 2-5 verkauften dort Besitzer von Grundstücken und Häusern diese freiwillig zugunsten von Bedürftigen. Lukas versteht eine Gemeinde als solidarische Gemeinschaft, wobei er nicht ein Streben nach Gütergleichheit propagiert, sondern eine Beseitigung von materieller Not (Apg 4,34; vgl. Dtn 15,4). Seine Darstellung der Gütergemeinschaft in Jerusalem greift dabei auf pythagoreisch-platonische Ideale zurück. 18 Zusammenfassend kann man feststellen, daß vielfältige hellenistische, alttestamentliche und frühjüdische Einflüsse auf die neutestamentliche Sicht des Geldes eingewirkt haben. 2. Der Mammon im Matthäusevangelium Das aramäische Wort »Mammon« ist eine allgemeine Bezeichnung für Geld und jegliche Vermögenswerte. Der ursprüngliche Wortsinn von »das, worauf jemand vertraut« oder »das, was zuverlässig ist« schwingt als Konnotation mit. Das Wort begegnet uns noch nicht im Alten Testament, sondern findet sich zum erstenmal in Sir 31,8 (hebräisch). Es wird davor gewarnt, sich auf materiellen Besitz zu verlassen, denn damit löst man sich vom Vertrauen auf Gott (Sir 31,6-8) 19 : Es gibt viele, die an Gold gebunden sind, und andere vertrauen auf Perlen, aber sie finden keine Rettung vor dem Übel und auch keine Hilfe am Tage des Zorns. Wahrlich, ein Stellholz ist dies alles für den Toren, und jeder Einfältige wird damit gefangen werden. Glücklich der Mann, der als untadelig erfunden wird und wegen des Mammons nicht vom rechten Wege abwich. Der Mammon ist eine Falle für den Menschen: Er verheißt ihm trügerische Sicherheit, doch am Tag des Gerichts kann er nicht retten. 20 Der Gegensatz von Mammon und Weg Gottes (bzw. geglücktem Leben) ist auch für das Neue Testament grundlegend. In rabbinischen Schriften indes wird - anders als im Neuen Testament - das Wort »Mammon« auch wertfrei verwendet, ExR 31 (92d) kann den Mammon positiv als »Mammon der Redlichkeit« bezeichnen. Über einen Mann, der Geld verwendet, um Arme zu bedrücken, heißt es dort 21 : Gott hat ihm Mammon der Redlichkeit gegeben, und er hat ihn zu Unredlichkeit gemacht. Das Geld wird als Gabe Gottes verstanden, der es den Menschen zum Gebrauch überläßt. An der Verwendungsmöglichkeit entscheidet sich, ob der Mammon redlich oder ungerecht ist. Das Wort »Mammon« kommt im Matthäusevangelium nur in Mt 6,24 vor und ist dort aus Q übernommen (vgl. Lk 16,13). Im Kontext geht es um falsche und rechte Sorge und um die Frage, ob man sein Herz an vergängliche Schätze hängt, die von Motten zerfressen und von Dieben gestohlen werden können, oder an unvergängliche, himmlische Schätze (Mt 6,19-34). Auf dem Hintergrund dieses Antagonismus von himmlischen und irdischen Gütern, den wir bereits bei Platon, Ben Sira und im hellenistischen Judentum fanden, ist das Mammonwort in V 24 zu verstehen. Der Vers ist kunstvoll aufgebaut. V 24a wird ähnlich in V 24c wiederaufgenommen, so daß ein symmetrischer Rahmen um einen antithetischen Chiasmus entsteht: V 24a Bildwort von Doppeldienst (niemand kann zwei Herren dienen) V 24b Antithetischer Chiasmus als Begründung (hassen - lieben - anhängen - verachten) V 24c Applikation des Bildwortes (nicht könnt ihr Gott dienen und dem Mammon) Wie im Kynismus wird Geld als versklavende Macht verstanden. Gegenüber Gott und dem Mammon ist der Mensch ein Sklave (V 24a). Der Doppeldienst eines Sklaven ist jedoch eine Absurdität. Im Blick ist nicht die juristische Unmöglichkeit des Doppeldienstes, denn dieser ist im Sklavenrecht vorgesehen und in Apg 16,16-19 belegt, sondern der Loyalitätskonflikt, der aus einem solchen Doppeldienst erwächst. Im anschließenden Chiasmus wird der Mammon als Herr (Kyrios) Gott gegenübergestellt und damit personifiziert. Da »Mammon« wie der Eigenname einer Gottheit verwendet wird, gewinnt der Mammon den Charakter eines dualistischen Kontrahenten Gottes. Er erscheint als Götze oder Dämon. Der Widerstreit zwischen Gott und dem Mammon gründet im ersten Dekaloggebot (Ex 20,3ff.; Dtn 5,7ff.): Der Alleinverehrungsanspruch Gottes tritt in Konkurrenz zum Streben nach dem Mammon. Ist der Dienst an Gott Ausdruck der menschlichen Freiheit (Ex 20,2; Dtn 5,6), so versklavt dagegen der Mammon den Menschen. Er ist nur scheinbar eine Sache, die man besitzt, in Wirklichkeit ist er ein Götze, der von einem Besitz ergreift. Die Applikation des Bildwortes stellt die Leserschaft schließlich vor die exklusive Wahl zwischen einem Dienst an Gott oder am Mammon. Es wird unterstellt, daß man sich für Gott entscheidet. 3. Der Mammon im Lukasevangelium Die Mammonworte im Lukasevangelium sind abgesehen von Lk 16,13 lukanisches Sondergut und finden sich in Lk 16,9-13 als Anwendung der Parabel vom klugen Verwalter (Lk 16,1-8). 22 Auf der Bildebene der Parabel (VV 1b-8a) wird erzählt, wie ein Großgrundbesitzer seinen Verwalter entlassen will. Um für die Zukunft zu sorgen, macht sich der Verwalter mit krimineller Raffinesse Freunde, indem er die Schuldner seines Herrn zu sich ruft und ihre Schulden reduziert. Er setzt darauf, daß diese ihn aus Dankbarkeit später bei sich aufnehmen werden. Die Parabel endet paradox: Der Verwalter wird von seinem übervorteilten Herrn für seine Klugheit gelobt. Zu beachten ist, daß der Herr nicht die betrügerische Tat lobt, denn der Verwalter wird als »ungerecht« bezeichnet (V 8a). Vielmehr gilt das Lob in V 8a explizit der Klugheit, nicht dem ungerechten Handeln. 23 In der engen Verschränkung von Bild- und Sachebene in V 9 liegt der Schlüssel zum Verständnis der Parabel: »Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, damit man euch, wenn es zu Ende geht, in die ewigen Wohnungen aufnimmt.« 24 In der Parabel geht es somit um den Umgang mit dem Mammon im Hinblick auf die 20 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Zum Thema Vergänglichkeit. Der kriminelle Verwalter ist ein provokatives Musterbeispiel für den von Lukas geforderten Umgang mit Besitz 25 : Er ist zwar ein »Sohn dieses Äons«, ist aber den »Söhnen des Lichtes« an Klugheit überlegen (V 8b). Gerissen nutzt er die verbleibende Zeit bis zur Abrechnung, um seine Zukunft zu sichern. Die Abrechnung (V 2) ist hierbei eine traditionelle Metapher für die Rechenschaftspflicht im Endgericht 26 . Auf der Sachebene zielt die Parabel daher auf die Aussage: Wer im Wissen um die Vergänglichkeit so klug ist, sich mit dem Mammon Freunde zu machen, sorgt zu Lebzeiten für seine Zukunft und sichert sich das ewige Heil. Wie man sich Freunde machen soll, wird zunächst nicht näher expliziert, denn der Betrug des Verwalters ist nicht vorbildhaft, sondern nur seine Klugheit. In VV 14-31 wird dies indes ergänzt: VV 14-18 betont, daß der göttliche Wille in der Tora offenbart ist und diese auch für die christlichen Gemeinden Gültigkeit besitzt. Die anschließende Beispielerzählung vom armen Lazarus (VV 19-31) illustriert, daß die Tora von den Reichen Besitzverzicht zugunsten der Armen verlangt. Wer diesen verweigert, stürzt ins Verderben, während die ausgleichende Gerechtigkeit Gottes die Armen erhöht. In Lk 16 wird demnach auf zwei unterschiedlichen Ebenen argumentiert: In VV 1-13 wird Besitzverzicht als Gebot der Klugheit dargestellt, in VV 14-31 als Gebot der Tora. Die Mammonworte in Lk 16,8-13 stehen im dualistischen Traditionsstrom der christlich-jüdischen Apokalyptik. Der Mammon gehört in die Sphäre »dieses Äons« (V 8). Er ist gering (V 10), fremd (V 12) und steht im Gegensatz zum wahren Gut (V 11). 27 Im dritten Evangelium wird der Mammon anders als im ersten als Mammon der Ungerechtigkeit bezeichnet (V 9; vgl. V 11). 28 Dies trägt dem Rechnung, daß Besitz bei Lukas grundsätzlich kritisch gesehen wird (Lk 6,24ff.; 8,14; 14,33 u.a.). Dennoch ist der Mammon nicht an sich ungerecht, sondern verführt zu Ungerechtigkeit in Erwerb und Verwendung. Man muß drei Arten von Äonen-Dualismen unterscheiden: i. In Qumran wurde der Dualismus zwischen Licht und Finsternis kosmisch verstanden (1QS 1,9f.; 2,16; 4,5f. u.a.). ii. In Joh 12,36 und 1Thess 5,5ff. entscheidet sich die Zugehörigkeit zur Sphäre des Lichtes oder der Finsternis am Glauben. iii. In äthHen 41,8 und 108,13f. ist das Unterscheidungskriterium die Gerechtigkeit, ähnlich ist es in Eph 5,6f. das tugendhafte Verhalten. In Lk 16,8ff. handelt es sich wie im äthHen und im Eph um ethisch-moralische Kategorien. Am Umgang mit Geld entscheidet sich letztlich die Zugehörigkeit zur Sphäre des Lichts oder der Finsternis. 29 Aus diesem Grund fordert Lukas in VV 10- 12 auf, im Umgang mit dem fremden Mammon zuverlässig zu sein. Wer sich im Geringen als zuverlässig erweist, dem wird das wahre, himmlische Gut anvertraut werden. Das Geld ist gering und nichtig, erfüllt aber eine wichtige Funktion: Seine Besitzer werden damit auf die Probe gestellt, denn der Mammon ist ein Mittel zur Bewährung (vgl. Sir 31,8-11). Lukas denkt sich nach frühjüdischer Anschauung, den Besitz als Leihgabe Gottes, die im Endgericht rechenschaftspflichtig ist (vgl. Lk 12,20; 19,11ff.). 30 Die »Söhne des Lichtes« haben nur Verfügungsgewalt über den ihnen fremden Mammon, wie auf der Bildebene der Verwalter über die Güter seines Herrn (Lk 16,1-8). Sie sind aber nicht die letztlichen Eigentümer. Der Evangelist verdammt das Geld nicht, besetzt das Wort »Mammon« aber mit einem negativen Klang. Er will damit vor der dämonischen Gefahr des Geldes warnen, das nicht nur zu Ungerechtigkeit verleitet, sondern zugleich Anspruch auf die völlige Hingabe des Menschen erhebt (V 13). 31 Zwar rezipiert Lukas V 13 aus Q, doch nutzt er die übernommene direkte Anrede als eindringlichen Schlußappell an seine Leserschaft: »Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon! « Das Wesen des Geldes läßt sich nach Lukas somit folgendermaßen charakterisieren: Geld ist… i. Leihgabe Gottes, letztlicher Eigentümer bleibt Gott ii. Mittel zur Bewährung, göttliche Bewährungsprobe für die kommende Welt iii. im Vergleich zu den unvergänglichen, göttlichen Gütern gering und nichtig iv. an sich nicht ungerecht, verführt aber zu Ungerechtigkeit v. eine versklavende Macht vi. ein Götze, der den Alleinverehrungsanspruch Gottes bestreitet vii. nach dem in der Tora offenbarten Willen Gottes an Notleidende weiterzugeben. ZNT 8 (4. Jg. 2001) 21 Vincenzo Petracca Gott oder Mammon 4. Geld und Verkündigung Eine eigene Betrachtung verlangt die Thematik »Geld und Verkündigung« im Neuen Testament. In der synoptischen Tradition gibt es eine Reihe von Texten, die über die Armut um der Verkündigung willen handeln. In der Erzählung vom reichen Jüngling (Mk 10,17-31 parr) steht der Reichtum dem Reich Gottes antagonistisch gegenüber: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in das Reich Gottes. 32 Was der reiche Jüngling verweigert, erfüllen die ersten Jünger: In der Nachfolge Jesu verlassen sie alles (Mk 10,28ff. parr; 1,16ff. parr). Besonders in den Aussendungsreden (Mk 6,7-13 parr) wird die Funktion dieser Armut deutlich: Um der Glaubwürdigkeit der Verkündigung willen soll auf Geld und Vorräte verzichtet werden. Wird dabei in Mk 6,8 der Besitz einer Tasche untersagt, so wird in Mt 10,10 und Lk 9,3 zudem ein Wanderstab verboten. Die Zwölf sollen die kynischen Bettelphilosophen an Armut übertreffen, indem sie deren Minimalausstattung unterbieten: eine Tasche, ein Wanderstab und ein Mantel. 33 Obgleich es zur Zeit der Synoptiker längst keine Polarität von armen Wandermissionaren und seßhaften Ortsgemeinden mehr gab, 34 hielten die Synoptiker an den ihnen überlieferten radikalen Traditionen fest oder verschärften sie noch. 35 In Blick nahmen sie das Verkündigungsamt ihrer Zeit und schärften ihm - im Gegensatz zum Multimillionär Seneca beispielsweise - die Einheit von Reden und Tun ein. Das Zeugnis von der Unvereinbarkeit von Gottesreich und Mammonliebe sollte glaubhaft sein. Konsens ist im Neuen Testament die Forderung eines Besitzverzichts um der Verkündigung willen, die Höhe des Verzichts hingegen variiert und scheint im Urchristentum freiwillig gewesen und flexibel gehandhabt worden zu sein: Petrus und die ersten Jünger verließen um Jesu willen alles und ließen sich später von den Gemeinden unterhalten. Dagegen verzichteten Paulus und Barnabas aus freien Stücken auf dieses apostolische Unterhaltsrecht (1Kor 9,4ff.). Paulus arbeitete mit eigenen Händen für seinen Unterhalt (Apg 18,3, 20,33f.), zuweilen nahm er aber auch finanzielle Unterstützung von der Gemeinde in Philippi an (Phil 4,15f.). Galt zunächst generell der Grundsatz, Missionare und Propheten durch Naturalien und Unterkunft zu unterstützen (Mt 10,10; Lk 10,7; Did 11,3ff.), scheinen die Pastoralbriefe an eine Bezahlung für die Verkündigung zu denken (1Tim 5,17f.; vgl. 1Kor 9,9ff.). Die Evangeliumsverkündigung galt in der Alten Kirche jedoch nicht als Erwerbsberuf, daher war die Höhe der Entlohnung an der Armenunterstützung orientiert. 36 5. Hermeneutische Schlaglichter Stellt man den historischen Graben von 2000 Jahren in Rechnung, so enthält das Neue Testament auch für die heutige Kirche trotz gewandelter Wirtschafts- und Sozialformen normative Aussagen zum Umgang mit Geld. Die neutestamentlichen Schriften sind sich einig, daß die Glaubwürdigkeit der Verkündigung untrennbar mit dem Umgang mit Geld zusammenhängt. Dieser wird nicht verworfen oder gar verteufelt, sondern es wird im Gegenteil ein treuer Umgang mit Geld gefordert, der Besitz als Leihgabe versteht, die gegenüber dem Schöpfergott rechenschaftspflichtig ist. Es ist daher zu begrüßen, daß Kirchenleitungen verstärkt ihr Geld in ethische Anlagefonds investieren und sich so, mit den Worten des Lukas, Freunde machen. 37 Aber ein treuer Umgang mit Geld darf sich nicht darin erschöpfen. Nach Barmen III hat die Kirche mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung zu bezeugen, daß sie allein Gottes Eigentum ist. Aufgrund des engen neutestamentlichen Zusammenhangs von Verkündigung und Besitzverzicht, muß die Kirche auch in ihrer Finanzordnung die Unvereinbarkeit der Liebe zu Gott mit der Liebe zum Geld bezeugen. Ethisch ist der Umgang mit Geld auf dem Hintergrund des Doppelgebots (Mk 12,30f. parr) zu diskutieren. Angesichts Milliarden von Menschen, die weltweit unter dem Existenzminimum leben, ist das Gebot der Nächstenliebe im internationalen Kontext auszulegen und als drängende Anfrage an die reichen Nationen zu verstehen. Auch in Deutschland selbst geht die Armut-Reichtum- Schere immer weiter auseinander. Zwar nimmt die neuere Ethik die wichtige Frage der (strukturellen) Armut in den Blick, versäumt aber die Frage des Reichtums zu erörtern. Hinter dem Antagonismus von himmlischen und irdischen Gütern in neutestamentlichen Schriften steht die Frage nach dem Wert des Lebens: Wie finde ich ein erfülltes Leben? Wonach muß ich mich orientieren, damit mein Le- 22 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Zum Thema ben Bestand hat? Die übereinstimmende Antwort des Neuen Testaments lautet: nach dem Unvergänglichen. Ein am Materiellen orientierter Lebensentwurf steht demnach im Widerspruch zum Gebot der Gottesliebe. Luther hat dies gesehen und im Großen Katechismus das Geld im Rahmen seiner Auslegung des 1. Gebots behandelt. Geld hat in der heutigen Zeit unter anderem deshalb einen solch hohen Stellenwert, weil es immer mehr zum Inbegriff von Sicherheit und Lebensmöglichkeiten wird. Individualethisch muß der richtige Umgang mit Geld daher im Zusammenhang mit der Sinnsuche des Menschen entfaltet werden. Das Doppelgebot gibt Antwort auf wichtige Fragen unserer Zeit. Anmerkungen 1 H i erzu vgl. meine demnächst erscheinende Dissertation zur Besitzethik im Lukasevangelium. 2 Der Stoiker Zenon entwirft unter platonischem Einfluß einen Idealstaat, der völlig ohne Geld auskommt (Diog- Laert 7,33). 3 Auch in (der in Qumran gefundenen Schrift) 1QS darf der Besitz der Gemeinschaft nicht durch eine Vermögensvermischung mit Außenstehenden verunreinigt werden, denn sie werden als Frevler und »Männer des Unrechts« angesehen (1QS 5,10-20). Durch kultische Reinheit und durch die Erfüllung der Tora will man sich für die Endzeit heiligen (1QS 4,14-26). Eine Mischung aus politischen und religiösen Beweggründen führt hingegen in Apk 13,17 dazu, ein Verbot römischer Münzen zu propagieren: Es wird das »Zeichen zum Kaufen und Verkaufen« abgelehnt, was das Sakralbild des römischen Kaisers auf Münzen meint. Die Absage gründet ähnlich wie bei den Zeloten in einem rigorosen Verständnis des Bilderverbotes, gegen welches das kaiserliche Sakralbild verstoße. 4 Siehe vor allem Philo (SpecLeg 1,22ff.; Imm 151ff.; Sacr 1,2; Cher 124; VitMos 1,152ff.; Plant 71f.; Praem 104f.; Fragment aus Sacra Parallel. des Joh. v. Damaskus u.a.); aber auch TestJud 17-19; JosAs 12,15; Josephus, Ant 1,2,1. 5 Vgl. Briefe des Diogenes 9; Dio Chrysostomus, Or 10,14f.; Epictet, Diss 3,24,67f.; 4,1,152f.; Apuleius, Florida 14; Simplicius, In Epicteti enchiridion commentarium 5. 6 Zitat: F. Hauck, Die Stellung des Urchristentums zu Arbeit und Geld; Gütersloh 1921, 62. Nach Tacitus (Ann 13,42) hinterließ Seneca bei seinem Tod 300 Millionen Sesterzen. Dennoch entfaltet Seneca in Ep. 90 den Mythos, wonach das Privateigentum im Urfall entstanden sei. Zur Rezeption dieses kirchengeschichtlich folgenreichen Mythos vgl. M. Hengel, Eigentum und Reichtum in der frühen Kirche - Aspekte einer frühchristlichen Sozialgeschichte, Stuttgart 1973, 9-19. 7 Am, Jes und Mi werfen der Oberschicht die Versklavung von freien Bauern vor (Am 8,4ff.; Jes 5,8ff.; Mi 2,1ff. u.a.). Jes 1,17 prangert die Unterdrückung von Witwen und Waisen an; vgl. ferner: Mi 3,9ff.; Hos 6,6; Jer 7,1ff.; Jes 58,1ff.; Ez 22,1ff. u.a.m. 8 Siehe: äthHen 92-105; 4 Esr 14,13; ähnlich in der christlichen Apokalyptik: Offb 7,16; 18,1ff.; Herm vis 3,6,5ff.; Herm sim 9,30,4f.; ApkPetr 30; vgl. im NT: Lk 1,52f.; 6,20-26; 16,19-31. 9 Es wird verboten, Zinsen zu nehmen, die Pfändung wird eingeschränkt, und periodische Schuldenerlasse verbunden mit einer Freilassung der Schuldsklaven werden angeordnet: Ex 22,24ff.; Lev 25,8ff.; Dtn 15,1ff.; 23,20f.; 24,6ff.; vgl. Ex 23,10f.; Neh 5,1ff.; Jer 34,8ff. 10 Siehe: Lev 19,9f.; 25,35; Dtn 14,28f.; 15,7ff.; 23,25f.; 24,19ff.; 26,12ff. 11 Siehe: Koh 4,8; Spr 10,2; 11,4; 18,11; 19,17; 22,16; 23,6; 28,6; Dan 4,24; vgl. Tob 4,9f.; 12,9; Sir 3,30; 17,22; 29,9ff. 12 Siehe: Spr 10,4; 10,15; 15,15; 19,4ff.; 19,15; 22,4; u.a. 13 Vgl. b Ned 64b; b San 100b; 101a; b Ket 110b; NuR 11 (163 d). 14 Siehe: Philo, Spec 1,25f.; TestJud 19,1; vgl. B.S. Rosner, Habsucht - Eine vergessene Sünde, ThBeitr 31 (2000/ 2), 75-81. 15 Vgl. 1Tim 3,8; 2Tim 3,2; Tit 1,7; 1,11; Polyk 4,1; 11,2. 16 Paulus: Röm 1,29; 1Kor 5,11; 6,10; 2Kor 7,2; 9,5; 1Thess 2,5; im NT noch: Hebr 13,5; 2 Petr 2,3.14; Jud 11; ansonsten: Did 3,5; Barn 20,1; 1Clem 35,5; 2Clem 6,4; Herm sim 6,5,5; OrSib 8,17; PsClem, Epistula Clementis 10,2; ActThom 12; Iren, adv haer 4,30,1 u.v.m. 17 Seine Anschauung über die Vergänglichkeit des Besitzes knüpft an die alttestamentliche Weisheit an (Hi 1,21; Koh 2,18-26; 3,9-15; 5,14; 6,1f.; 9,5-7; Ps 39,5-8; 49,11- 21; 90,12; vgl. auch Sir 11,18f.; äthHen 97,8-10), berührt sich aber auch mit dem Kynismus (Lukian, Totengespräche 1; vgl. für den hellenistisch-jüdischen Bereich PsPhok 109-113). 18 Vgl. für Platon: Pol 416d-417a; 424a; 449c; 464b-d; 543b; Leg 739b-e; Kritias 110d; Tim 18b; für Pythagoras: DiogLaert 8,10.23; Iamblichos, VitPyth 72f.; 80f.; 167f. 19 Übersetzung und Auslegung vgl. G. Sauer, Jesus Sirach/ Ben Sira (ATDA 1), Göttingen 2000, 218-221. 20 Vgl. in äthHen 63,10 die Rede der Herrschenden beim Gericht, die auf ihre Macht vertrauten: »Unsere Seele ist vom ungerechten Mammon gesättigt, aber das hindert nicht, daß wir hinabfahren in die Flamme der höllischen Pein« (zitiert nach Strack/ Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch [Bill], Bd.II, 220). 21 Zitat: Bill II, 220; weitere Belege für einen neutralen Gebrauch des Begriffs siehe Bill I, 434f. 22 Im Folgenden wird eine Auslegung vertreten, die Lk 16,1-13 als Einheit versteht, ein Bruch zwischen der Parabel und den Versen 9-13 (so beispielsweise G. Schnei- ZNT 8 (4. Jg. 2001) 23 Vincenzo Petracca Gott oder Mammon der, Das Evangelium nach Lukas II (ÖTK 3/ 2), Gütersloh u.a. 2 1984, 334ff.) muß nicht unterstellt werden. 23 V 8 ist die Übergangsebene zwischen dem Bild und der intendierten Sache. Der lobende »Herr« ist doppeldeutig. Er meint zunächst den Großgrundbesitzer aus der Parabel, ist aber zugleich transparent auf Jesus hin, den Gleichniserzähler. Zur Übergangsebene als Verbindung zwischen Bild und Anwendung siehe K. Erlemann, Gleichnisauslegung, Tübingen u.a. 1999, 203f. 24 V 9b lautet wörtlich: »damit, wenn es (oder er) ausgeht, sie euch aufnehmen in die ewigen Wohnungen«. Vermutlich meint Lukas, daß das Leben zu Ende geht, will man das Ende indes wie Luther auf den Mammon beziehen, so ist die Bedeutungsverschiebung gering: Für Lukas ist der Todeszeitpunkt zugleich das Ende des Besitzes (Lk 12,20). Der Plural dagegen dient der Verhüllung des Gottesnamens und meint Gott als handelndes Subjekt (so auch Lk 6,38; 12,20). 25 Weitere provokative Musterbeispiele in lukanischen Gleichnissen sind der barmherzige Samariter (Lk 10,25ff.), die ausgestoßenen Zweitgeladenen (Lk 14,15ff.), der verlorene Sohn (Lk 15,11ff.) und der reuige Zöllner (Lk 18,9ff.). 26 Siehe: Lk 19,11ff. par; Mt 18,23ff.; 4Esr 7,78ff.; ApkMos 31f. 27 Das »wahre Gut« meint entsprechend dem hellenistischen Sprachgebrauch die göttlichen Güter als die wahrhaft Seienden im Gegensatz zur Nichtigkeit der irdischen Güter (vgl. Hebr 8,2; Joh 8,44; und besonders Philo, Imm 172-180 u.a.). 28 Ähnlich meint der Ausdruck »Fessel der Ungerechtigkeit« in Apg 8,23 (vgl. Jes 58,6 LXX) die Verstrickung in Geld, die Simon Magus in seine vorchristliche Denkweise und in die typische antike Verbindung von Magie und Gelderwerb zurückfallen läßt. Die dämonische Seite des Geldes wird in Apg 8,20 dadurch betont, daß das Geld mit Simon Magus ins Verderben stürzen soll. 29 Mit J.-W. Taeger, Der Mensch und sein Heil, Studien zum Bild des Menschen und zur Sicht der Bekehrung bei Lukas (StNT 14), Gütersloh 1982, 50ff.; vgl. auch ExR 31 (92d), wo sich an der Verwendung des Mammon entscheidet, ob er gerecht oder ungerecht ist. 30 Siehe: M Av 3,17; Philo, Cher 109-118; Heres 103-106; ExR 31 (92d), vgl. auch Koh 12,7 und das altisraelitische Bodenrecht, wonach Gott der letztliche Eigentümer des Landes Israel ist (Lev 25,23). 31 Lk 16,13 entspricht wörtlich Mt 6,24 bis auf die Erweiterung »Sklave«, die Lukas vermutlich hinzugefügt hat, um seinen Ausspruch an die vorherige Parabel und ihre Anwendung anzupassen (Lk 16,1-12). Durch die Hinzufügung betont er stärker als Matthäus, daß es immer einen Herren gibt, dem der Mensch dient: entweder Gott oder dem Mammon. 32 Die Synoptiker legen jeweils unterschiedliche Akzente: Nach Markus ist der Reichtum eines unter weiteren Hindernissen, die den Eingang in das Reich Gottes versperren, nach Lukas ist er das Haupthindernis, nach Matthäus ist der völlige Besitzverzicht entweder ein vollkommenes Gebot, das nur die Zwölf erfüllten (so K. Berger, Die Gesetzesauslegung Jesu I, Neukirchen 1972, 444ff.) oder ein »Appell an alle, auf diesem Weg soweit wie möglich zu gehen« (U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, EKK 1/ 3, Neukirchen u.a. 1997, 126). Zur Auslegung von Mk 10,17-31 parr siehe ausführlich: Berger, Gesetzesauslegung, 396-460. 33 Siehe z.B. Briefe des Diogenes 26. Nach L. Schottroff/ W. Stegemann, Jesus von Nazareth, Hoffnung der Armen, Stuttgart u.a. 1978, 62-65.105, erübrigt sich das Verbot eines Mantels, denn dieser war für einen jüdischen Fischer oder Handwerker zur Zeit Jesu unbezahlbar. Sein Wert betrug etwa die Hälfte des Jahresverdienstes eines Tagelöhners. 34 Gegen G. Theißen, Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19), Tübingen 3 1989; 79-197; zur Kritik an Theißen siehe: F. Vouga, Geschichte des frühen Christentums, Tübingen u.a. 1994, 29-33.62-64.88f. 35 Lukas unterstreicht die Totalität der Besitzverzichtsforderung, indem er - gegen Markus - in Lk 5,11.28 und 18,22 ein »alles« ergänzt. 36 Zur Zeit des Origenes wurde aus 1Kor 9,14, wonach die Verkündiger des Evangeliums vom Evangelium leben sollten, ein Unterhaltsrecht abgeleitet. Origenes will dies wieder einschränken, indem er mahnt, die Verkündiger sollten vom Evangelium nur »ihr Leben fristen« können (Origenes, Matthäuskommentar 16,21 zu Mt 21,12f.); vgl. U. Luz, Ekklesiologie und Gelder der Kirche - Neutestamentliche Perspektiven für heute, EvTh 61 (2001), 10. 37 Vgl. den Finanzreferenten der Evangelischen Landeskirche in Baden: B. Fischer, Der Umgang mit Geld - zwischen Anspruch und Wirklichkeit; Deutsches Pfarrerblatt 4/ 2001, 171-173. 24 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Zum Thema Problemanzeige Als wäre die paulinische Anweisung: »Strebt aber nach den Geistesgaben, vor allem aber nach der prophetischen Rede! « plötzlich in einem neugefundenen Brief des Apostels entdeckt worden, so sind seit Mitte der 70er Jahre immer wieder exegetische Studien zum Thema der frühchristlichen Prophetie erschienen. 1 War das Interesse ursprünglich durch die formgeschichtliche Frage veranlaßt, wie der »Sitz im Leben« der prophetischen Texte in den frühchristlichen Gemeinden wohl ausgesehen haben mochte, so drängte sich jetzt unter dem Einfluß der Literatursoziologie die Frage nach den Bedingungen der die neutestamentlichen Texte prägenden Verhaltensweisen und Lebensbedingungen und damit die Erforschung des Wanderradikalismus in den Vordergrund. 2 Einige neuere Beiträge versuchen zudem, eine besondere Verbindung von Prophetie und Theologie zu beleuchten. So wagt Helmut Merklein die These: »Die Prophetie ist nicht nur Erkenntnismittel, sondern zugleich das Medium, das Theologie relevant sein läßt.« 3 Im Kontext der verschiedensten Untersuchungen stellt sich regelmäßig die Frage nach der Beurteilung prophetischer Rede. 4 Dies gilt in gewisser Weise bereits für die klassische Formgeschichte, deren Vertreter einen eher unkritischen Umgang der frühen Christen mit prophetischen Äußerungen annehmen. Rudolf Bultmann betont in seiner Darstellung der »Geschichte der synoptischen Tradition« die Rolle frühchristlicher Propheten. Die frühen Gemeinden hätten nicht historische Jesusworte und Worte der Propheten unterschieden, die sie dem auferstandenen Christus zuschrieben. 5 Nach Ernst Käsemann seien »zahllose Ichworte des durch Prophetenmund sich offenbarenden Christus in die synoptische Tradition als Sprüche Jesu eingegangen.« 6 Konsequenterweise ergeben sich aus dieser Sicht der Dinge bis in die Gegenwart die bekannten Probleme bei der Echtheitsprüfung der Jesuslogien. Daß die frühen Christen alle prophetischen Äußerungen im Gewande von Worten des auferstandenen Christus unkritisch in ihre Schriften aufgenommen hätten, ist in neueren Forschungbeiträgen mit Recht in Frage gestellt worden. 7 So ist der Nachweis einer sekundären Zuschreibung eines solchen prophetischen Wortes an den irdischen Jesus »bisher weder im Einzelfall noch gar generell gelungen.« 8 Die Fragestellung ist dabei sehr viel aktueller als sie vielleicht auf den ersten Blick erscheinen mag: Solange Christen und Christinnen in Theologie und Kirche meinen, von Gott und seinem sich ausbreitenden Reich reden zu wollen, stellt sich die Frage nach verantwortlicher Gottesrede. Darum erscheint es unverzichtbar, die Suche nach den eventuellen Kriterien zur Beurteilung der Rede von Gott aufzunehmen und entsprechende Kritikfähigkeit zu erwerben. Untrennbar mit dem Phänomen prophetischer Äußerungen ist die Frage nach deren Wahrheitsgehalt, deren Gültigkeit und Relevanz verbunden. Handelt es sich wirklich um Gottes Wort, bzw. um Worte des auferstandenen Christus oder tritt etwa ein Scharlatan mit vollmundigen Worten vor das Volk? Der Apostel Paulus nennt diese Prüfung diakrisis pneumato¯ n - »Unterscheidung der Geister.« 9 Doch wie vollzieht sich eine solche Beurteilung tatsächlich oder angeblich geistgewirkter Äußerungen? Alttestamentliche Perspektiven Das AT kennt keinen festgeprägten Begriff einer »Unterscheidung der Geister«. Die zugrunde liegende Problematik ist jedoch wohlbekannt. Richtige und falsche Propheten treten auf und sind oft nur schwer zu unterscheiden: Zidkija und Micha ben Jimla geraten nicht nur verbal aneinander (1Kön 22,24). Micha hatte im Gegensatz zu vierhundert anderen Propheten dem König Ahab davon abgeraten, in den Krieg zu ziehen - und bekommt schließlich doch Recht. Der Wahrheitsgehalt prophetischer Äußerungen erweist sich nicht als Mehrheitsentscheidung und der König fällt in der Schlacht. Zum Thema Carsten Claußen Die Frage nach der »Unterscheidung der Geister« - Überlegungen auf dem Weg zu verantwortlichen Entscheidungen ZNT 8 (4. Jg. 2001) 25 Jeremia widersteht der Heilsprophetie des Hananja: »Höre, Hananja! Der Herr hat dich nicht gesandt und du hast dieses Volk dazu verführt, auf Lügen zu vertrauen« (Jer 28,15b). Schließlich kündigt Jeremia sogar den Tod Hananjas als Strafe des Herrn an (Jer 28,16f.). Auffällig ist die Freiheit, mit der alttestamentliche Propheten den Mächtigen und den Mehrheiten ihrer Zeit gegenübertreten. Ohne Schmeichelei und falsche Rücksichten verkünden sie ihre Botschaft und binden sich auch persönlich an ihre Verkündigung. Die Konsequenzen folgen oft auf dem Fuße: Micha wird zunächst ins Gefängnis geworfen (1Kön 22,26f.); Jeremia landet in einer Zisterne (Jer 38,6); Sacharja bezahlt mit seinem Leben (2Chr 24,21). Im prophetischen Wettstreit erweisen sich wahre und falsche Prophetie. Erfüllung und Nichterfüllung, 10 Übereinstimmung mit den Überlieferungen Israels oder Verkündigung fremder Götter, 11 aber auch der Lebenswandel des Propheten 12 und dessen Machttaten 13 werden als Kriterien angewandt. Frühchristliche Prophetie und die Ausweitung der Problematik Als sei das Seufzen des Mose - »Ach wollte Gott, daß alle im Volk des Herrn Propheten wären und der Herr seinen Geist über sie kommen ließe! « (Num 11,29) - erhört worden, so erlebt die frühe Christenheit prophetische Rede in ungeheurem Ausmaß. 14 Doch damit sind die altbekannten Probleme verbunden: Die Warnung: »Seht euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe« (Mt 7,15), spiegelt nicht zuletzt die Erfahrung der matthäischen Gemeinde. 15 Lukas überliefert einen Weheruf gegen jene die auf allgemeine Zustimmung aus sind wie die falschen Propheten (Lk 6,26). Frühchristliche Missionsversuche treffen schon bald auf falsche Geister wie Simon in Samaria (Apg 8,9ff.) und Barjesus auf der Insel Zypern (Apg 13,6). In diesen Schriften aus dem späteren 1. Jh. n.Chr. zeigt die Darstellung eine deutliche Distanzierung vom Phänomen der Falschprophetie. Jedoch so klar, wie diese radikale Verwerfung falscher Propheten, sah die Realität vor Ort kaum aus. In den ältesten Zeugnissen des Neuen Testaments, den Briefen des Apostels Paulus, begegnet uns die Problematik in der Mitte der korinthischen Gemeinde. Paulus verbindet die Charismen der Prophetie und der »Unterscheidung der Geister« (1Kor 12,10; vgl. 14,29). Beides gehört für ihn untrennbar zusammen. Das legt außer dem paradigmatischen Kontext von 1Kor 14, 29 die Struktur von 1Kor 12,10 sehr nahe: Prophetische Rede und »die Fähigkeit, die Geister zu unterscheiden« gehören demnach ebenso zusammen wie »verschiedene Arten von Zugenrede« und »die Gabe, sie zu deuten.« 16 Inspirierte Rede wird nicht schon durch den Selbstanspruch des Propheten autorisiert, sondern bedarf der Evaluation. Der Spitzensatz der paulinischen Argumentation lautet: »Die Geister der Propheten sind den Propheten untertan« (1Kor 14,32). Christliche Prophetie ist damit in gewisser Hinsicht beherrschbar. 17 Sie ist nicht qua ihrer selbst absolut gesetzt, wie ein ekstatisch hervorquellendes Orakel, das der Interpretation bedarf, sondern setzt sich in Klarheit der Beurteilung in der Gemeinde aus. Die Prüfung prophetischer Rede Wie sieht dieser »Test« konkret aus? 1Kor 14 gestattet ausführliche Einblicke in den Gottesdienst der paulinischen Gemeinde. Neben vielen anderen Charismen kommen dort auch Propheten zu Wort. Die Korinther sind mit vielen Gnadengaben gesegnet (1Kor 1,7; 14,26). Sie erleben den Einbruch des göttlichen Geistes in ihren ganz irdischen Gottesdiensten - und erscheinen damit überfordert: Sie wissen weder, wie die vielen Beiträge der Gemeindeglieder im einzelnen zu beurteilen noch in ihrer übergroßen Fülle zu beschränken sind. Der Apostel versucht Ordnung in den Gottesdienst zu bringen: »Propheten sollen nur zwei oder drei zu Worte kommen, und die anderen sollen kritisch bedenken! Wird aber einem andern, der dabeisitzt, Offenbarung geschenkt, soll der erste schweigen! Denn der Reihe nach könnt ihr alle prophezeien. So werden alle lernen und ermahnt werden. Untertan sind der Propheten Geister den Propheten. Denn nicht für Unordnung ist Gott, sondern er ist für den Frieden« (1Kor 14,29-33a). Ernst Käsemann, von dem diese pointierte Übersetzung der Verse stammt, hat 1Kor 14,14-20.29- 33 als wegweisenden Text für die »Unterscheidung der Geister« ausgelegt. 18 Er ist geneigt, in Analogie 26 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Zum Thema ZNT 8 (4. Jg. 2001) 27 Carsten Claußen Die Frage nach der »Unterscheidung der Geister« Carsten Claußen Carsten Claußen, Jahrgang 1966, studierte Evangelische Theologie in Bethel/ Bielefeld, Tübingen, Durham (UK) und Heidelberg, 1999 Promotion mit einer Arbeit über antike Synagogen und frühchristliche Ekklesiologie, seit 1994 Wiss. Mitarbeiter, seit 2000 Assistent an der Abteilung für Neutestamentliche Theologie der Evangelisch- Theologischen Fakultät der Universität München, ab September 2001 visiting scholar am Princeton Theological Seminary, Princeton NJ. zum Hohelied der Liebe in 1Kor 13 hier von einem hohen Liede der Vernunft zu reden. 19 Entsprechend leidenschaftlich ist seine Einschätzung des Textes: »Im Neuen Testament ist Recht und Würde und Notwendigkeit der Vernunft nirgends eindrücklicher verteidigt worden.« 20 Damit ist die Richtung für seine Deutung des Charismas der »Unterscheidung der Geister« vorgegeben: Es geht um vernünftige Überlegungen, die eine Beurteilung ermöglichen sollen. Und tatsächlich lassen sich in den Ausführungen des Paulus einige Kriterien ausmachen, die zu solcher Beurteilung anleiten. Sehr bewußt schaltet der Apostel zwischen grundsätzliche und konkrete Überlegungen zu den Charismen in 1Kor 12 und 14 in Kapitel 13 das Hohelied der Liebe ein. In deutlicher Polemik legt er dabei fest: »Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke. Und wenn ich prophetisch reden könnte und alle Geheimnisse wüßte und alle Erkenntnis hätte; wenn ich alle Glaubenskraft besäße und Berge damit versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts« (1Kor 13,1f.). Stichworte wie Ungeduld, Unfreundlichkeit, Ereiferung, Prahlerei, sich Aufblähen, ungehöriges Verhalten, Selbstsucht, Arroganz, Zorn und so weiter lassen den Mißbrauch charismatischer Beiträge in Korinth erahnen und zeigen, daß die Lieblosigkeit solcher Verhaltensweisen mit dem Anspruch der Gnadengaben, die Gnade Christi zu verkörpern, nicht vereinbar ist. Wer lieblos seine Geistesgaben ausübt, mißbraucht diese und raubt ihnen damit den Charakter der Gnadengaben. Prophetie ohne Liebe ist für Paulus gnadenlos. Konkreter definiert der Apostel die Funktion der prophetischen Rede mit der Trias, daß sie zur Erbauung, Ermahnung und zur Tröstung diene (1Kor 14,3). Es geht also nicht um destruktive Kritik, einschüchternde Ankündigung zukünftiger Widerfahrnisse oder die Verkündigung trostloser Orakelsprüche. Besonders betont Paulus das Kriterium der »Erbauung«. Sein missionarischer Dienst läßt sich als das Bauen von Gemeinden definieren (1Kor 3,9f.). Prophetische oder glossolalische Phänomene, die Gemeinden eher »abreißen« als (er-) bauen, haben in diesem Kontext keinen Platz. Ein inhaltliches Kriterium bietet 1Kor 12,3: »Keiner, der aus dem Geist Gottes redet, sagt: Jesus sei verflucht! Und keiner kann sagen: Jesus ist der Herr! , wenn er nicht aus dem Heiligen Geist redet.« Damit wird die Pneumatologie christologisch eingebunden und an der kerygmatischen Tradition gemessen. Sie muß mit dem frühchristlichen Bekenntnis, daß Jesus Herr ist (vgl. Röm 10,9; 1Kor 8,6; 2Kor 4,5) in Einklang stehen. Andere »Offenbarungen« werden nicht auf den Geist Gottes zurückgeführt und sind damit abzulehnen (Gal 1,8; 2Kor 11,4). Schließlich spielt wie in der alttestamentlichen Prophetie das Eintreffen, vielleicht muß man hier eher vom »Be-« oder vom »Zutreffen« sprechen, eine entscheidende Rolle. Fällt ein ungläubiger oder unkundiger Gemeindebesucher im Gottesdienst zu Boden, weil er sich und sein Leben von prophetischen Äußerungen getroffen sieht (1Kor 14,24f.), so wird niemand die Authentizität solcher Gottesrede in Abrede stellen. Mit diesen formalen und, was die christologische Verankerung anbetrifft, auch inhaltlichen Kriterien, sind Grundlinien der »Unterscheidung der Geister« festgelegt. Eine einfache Messlatte ist jedoch nicht erkennbar. Von einem Charisma der Rationalität kann gerade keine Rede sein. 21 So wenig einerseits im kommunikativen Prozeß der Beurteilung prophetischer Rede die Vernunft völlig auszublenden ist, 22 so falsch wäre es andererseits das Charisma in der Vernunft aufgehen zu lassen. 23 Beide, Menschengeist und Gottesgeist, wirken im Prozeß der Beurteilung inspirierter Äußerungen mit, gewiß auch in dialektischer Auseinandersetzung im Ringen um die Wahrheit. Die Prüfung prophetischer Äußerungen war in den frühchristlichen Gemeinden alles andere als ein streng formalisierter Prozeß. Die obigen Kriterien werden nur in den wenigsten Fällen zu sofortiger Klarheit für alle Beteiligten geführt haben. Zunächst stellt sich jedoch die Frage: Wer ist für die »Unterscheidung der Geister« zuständig? Wer beurteilt prophetische Rede? Zugespitzt auf die korinthische Gemeinde lautet die Frage: Wer sind »die anderen« in 1Kor 14,29, die »kritisch bedenken« sollen? Sind hier die anderen Propheten angesprochen? Oder ist hier jedes Gemeindeglied gefordert? Einige Blicke in die Auslegungsgeschichte dieser Frage offenbaren ihre Brisanz. Auf katholischer Seite hat das Zweite Vaticanum die Frage nach den Charismen neu auf die Tagesordnung gesetzt. Ausdrücklich betont wird in der »Dogmatischen Konstitution über die Kirche«, nach ihren Anfangsworten auch lumen gentium genannt, die Teilnahme des »heiligen Gottesvolkes« an dem »prophetischen Amt Christi« und die wichtige Bedeutung der verschiedenen Gnadengaben für die Kirche. Die Beurteilung der Charismen erfolgt jedoch streng an das Amt gebunden. Als wegweisend für die »Unterscheidung der Geister« gilt die zweite Hälfte von § 12. Dort heißt es zur Beurteilung der Gnadengaben: »Das Urteil über die Echtheit und ihren geordneten Gebrauch steht bei jenen, die in der Kirche die Leitung haben und denen es in besonderer Weise zukommt, den Geist nicht auszulöschen, sondern alles zu prüfen und das Gute zu behalten (vgl. 1Thess 5,12.10-21).« Damit ist der Ausweitung der Gnadengaben auf alle Gläubigen (1Kor 12,7) an einem wichtigen Punkt die Spitze gebrochen. Das Charisma der Beurteilung prophetischer Äußerungen wird institutionalisiert und an die leitenden Ämter der Kirche gebunden. Damit schrecken die Ausführungen in lumen gentium vor dem Anspruch einer mündigen Gemeinde zurück. Es wird grundsätzlich festgelegt, daß die Amtsträger der Kirche für die Beurteilung aller Dinge zuständig sind. Von recht zweifelhaftem Gewicht ist dabei die Berufung auf 1Thess 5,12.19ff.: »(12) Wir bitten euch, Brüder: Erkennt die unter euch an, die sich solche Mühe geben, euch im Namen des Herrn zu leiten und zum Rechten anzuhalten. (…) (19) Löscht den Geist nicht aus! (20) Verachtet prophetisches Reden nicht! (21) Prüft alles, und behaltet das Gute! (22) Meidet das Böse in jeder Gestalt! « Kaum wird man die Würdigung der leitenden und darum zu ehrenden Gemeindeglieder in 1Thess 5,12 als frühen Vorläufer eines hierarchisierenden Ämterstruktur ansehen können. Als exegetisch verfehlt erscheint es darum auch, als Adressaten der Verse 19-22 eben solche leitenden Personen ausmachen zu wollen. Die Anrede in Vers 12 mit »Brüder« richtet sich hier an die gesamte Gemeinde. Jedes Gemeindeglied soll prophetische Rede achten, diese beurteilen und generell das Böse meiden. Eine Einengung der Beurteilung prophetischer Äußerungen auf wenige »Amtsträger« ist hier keinesfalls intendiert. So muß der katholische Versuch, die »Unterscheidung der Geister« von Aussagen des 1Thess her einschränken zu wollen, als nicht überzeugend bewertet werden. Unterstützung für ein »weites Verständnis« findet sich im 1Kor selbst. Richtungweisend sind zunächst die pneumatologischen Ausführungen in 1Kor 2,12-16, zunächst in der Wiedergabe der Einheitsübersetzung die Verse 12f.: »(12) Wir aber haben nicht den Geist der Welt empfangen, sondern den Geist, der aus Gott stammt, damit wir das erkennen, was uns von Gott geschenkt worden ist. (13) Davon reden wir auch, nicht mit Worten, wie menschliche Weisheit sie lehrt, sondern wie der Geist sie lehrt, indem wir den Geisterfüllten das Wirken des Geistes deuten.« In einer an lumen gentium erinnernden Weise deutet die Einheitsübersetzung eine Unterscheidung zwischen dem »wir« der Deutenden als Subjekt und den Geisterfüllten als Empfänger des deutenden Dienstes an. Diese Übersetzung ist zwar grammatikalisch möglich, jedoch kaum wahrscheinlich. 24 So ist 1Kor 2,13 sinnvoller mit »Geistliches mit Geistlichem prüfen« zu übersetzen. 25 28 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Zum Thema Noch deutlicher läßt sich die Frage nach den Prüfern der Prophetie durch den Duktus von 1Kor 14 selbst beantworten. Hier geht es Paulus ja gerade darum, alle Gemeindeglieder dazu zu ermutigen, das Charisma der Prophetie auszuüben. So wie alle Gemeindeglieder den Geist Gottes besitzen (1Kor 12,1-13), ist entsprechend davon auszugehen, daß sie auch alle zum »kritischen Bedenken« und Beurteilen aufgerufen sind. Die begrenzte Zahl einer korinthischen Hausgemeinde bietet dafür den persönlichen Rahmen. Das trotz 1Kor 14,34 an diesem Miteinander von Prophetie und Beurteilung derselben natürlich auch die Frauen teilhatten, muß heutzutage wohl kaum noch ausdrücklich gesagt werden. 26 Ist damit festzuhalten, daß grundsätzlich alle Christen und Christinnen zur Ausübung der Prophetie ermutigt und zur Beurteilung prophetischer Äußerungen aufgerufen sind, so ist in der Praxis sicherlich kaum von einem gleichmäßigen Prophetentum aller Gläubigen auszugehen. Bereits in Korinth zeigen sich erste Ansätze zu differenzierter geregelten Gemeindediensten. Bestimmte Personen können bereits als Apostel, Propheten und Lehrer (1Kor 12,28f.) benannt werden. Aus der Vielzahl der Charismen wird einem jeden (1Kor 12,7) zugeteilt, aber eben in Vielfalt und nicht in Einförmigkeit. Auch für die »Unterscheidung der Geister« ist es nicht anzunehmen, daß allen Christen automatisch die gleiche Autorität zukam. Das Selbstbewußtsein des Apostels Paulus ist dafür der eindrücklichste Beweis (1Kor 14,37f.). So geht die Entwicklung der Prophetie zunächst nicht vorrangig in Richtung einer Beteiligung aller, sondern hin zu konkreten Diensten und Ämtern. Vom Niedergang der Propheten Lassen die Anfänge des Christentums also lebhafte Auseinandersetzungen um rechte Lehre und Praxis erkennen, zu denen jedes Gemeindeglied Zugang hatte, so ist im zweiten Jahrhundert die Ausbildung teilweise sehr konkreter Maßstäbe zu beobachten. Die Didache, eine christliche Gemeindeordnung um den Wechsel vom ersten zum zweiten Jahrhundert n.Chr., versucht genaue Verhaltensregeln für die Propheten zu formulieren: »Aber hinsichtlich der Apostel und Propheten verfahrt nach der Weisung des Evangeliums so: Jeder Apostel, der zu euch kommt, soll aufgenommen werden wie der Herr. Er soll aber nur einen Tag lang bleiben; wenn aber eine Notwendigkeit besteht, auch den zweiten. Wenn er aber drei bleibt, ist er ein Pseudoprophet. Wenn aber der Apostel weggeht, soll er nichts mitnehmen außer Brot, bis er übernachtet; wenn er aber um Geld bittet, ist er ein Pseudoprophet. Und jeden Propheten, der im Geiste redet, stellt nicht auf die Probe und fällt kein Urteil über ihn (diakrino¯ ); denn jede Sünde wird vergeben werden, diese Sünde aber wird nicht vergeben werden. Nicht jeder, der im Geist redet, ist ein Prophet; sondern wenn er die dem Herrn entsprechenden Verhaltensweisen hat. An den Verhaltensweisen also werden der Pseudoprophet und der Prophet erkannt werden«(Did 11,3-8). 27 (…) »Jeder aber, der kommt im Namen des Herrn, soll aufgenommen werden; dann aber werdet ihr, wenn ihr prüft (dokimaz o¯ ), ihn erkennen, denn ihr habt Einsicht nach rechts und links. Wenn der Ankömmling ein Durchreisender ist, helft ihm, so viel ihr könnt; er soll aber bei euch nur zwei oder drei Tage bleiben, wenn es nötig ist. Wenn er sich aber bei euch niederlassen will, etwa als Handwerker, soll er arbeiten und essen. Wenn er aber kein Handwerk versteht, dann trefft nach eurer Einsicht Vorsorge, damit er als Christ ganz gewiß nicht müßig bei euch lebe. Wenn er aber nicht so handeln will, dann ist er einer, der mit Christus Schacher treibt; vor solchen hütet euch« (Did 12,1-5). Lassen sich schon bei Paulus deutliche Versuche der Kriterienbildung zur Beurteilung prophetischer Dienste finden, so verstärkt sich diese Tendenz im zweiten Jahrhundert erheblich. Eine kritische Würdigung der jeweiligen Verhaltensweisen der Gäste soll die Gemeinden in die Lage versetzten, mit Problemen im Zusammenhang zugereister Propheten (und Apostel) Urteilsfähigkeit zu erlangen und Konsequenzen daraus zu ziehen. Wo lagen die Probleme? Einige »wandernde« Propheten war man offensichtlich nicht wieder losgeworden. Gemeindeglieder hatten ihnen Kost und Logis geboten. Das war ein Akt selbstverständlicher Gastfreundschaft. Aber selbst nach einigen Tagen machten die Gäste keine Anstalten, sich wieder auf den Weg zu machen. Sie entpuppten sich als Schnorrer und vermutlich hatte es keine ZNT 8 (4. Jg. 2001) 29 Carsten Claußen Die Frage nach der »Unterscheidung der Geister« Alternative gegeben, als sie irgendwann vor die Tür zu setzen. Falls ein solcher Wandercharismatiker sich jedoch niederlassen wollte, so war auch das natürlich nicht zu verwehren, - aber nicht auf Kosten und zu Lasten der anderen Gemeindeglieder. Er sollte mit seinem erlernten Handwerk oder sonst irgendwie seinen Unterhalt bestreiten. War ihm das nicht zu vermitteln, so war auch das ein deutlicher Hinweis auf seine unchristliche Gesinnung. Auffällig ist, daß die prophetischen Äußerungen selbst nicht mehr Gegenstand der Beurteilung sind, sondern nur noch die Person des Propheten. In einer Mischung aus tremendum und fascinosum traut man sich ihrer Botschaft gegenüber kein Urteil mehr zu. Wer die Äußerungen des Propheten beurteilt, hat Angst, die sogenannte »Sünde wider den Heiligen Geist« zu begehen: »Wer aber etwas gegen den Heiligen Geist sagt, dem wird nicht vergeben, weder in dieser noch in der zukünftigen Welt« (Mt 12,32b; vgl. Lk 12,10). Die Prophetie trifft damit in der Gemeinde auf Kritiklosigkeit. Niemand traut sich, den Worten der Propheten zu widersprechen. Wen wundert es da, daß wandernde Propheten zwar einerseits den faszinierenden Nimbus der Gottunmittelbarkeit ausstrahlten, die es den Gemeindegliedern verwehrte, sie gar nicht erst aufzunehmen. Andererseits läßt der mangelnde Mut zum kritischen Widerspruch auch etwas von der Ehrfurcht oder gar den Ängsten erahnen, die der Dienst dieser Wandercharismatiker ausgelöst haben mag. Bereits bei Paulus (vgl. 1Kor 13) hatten wir festgestellt, daß die persönlichen Faktoren auf Seiten des Charismatikers für dessen Glaubwürdigkeit durchaus von erheblicher Bedeutung sind. So rät der Autor der Didache grundsätzlich: »Jeder Prophet aber, der die Wahrheit lehrt, ist, wenn er nicht tut, was er lehrt, ein Pseudoprophet« (Did 11,10). Geht es dem Propheten dagegen erkennbar um sein eigenes Wohl in Form von Versorgung mit Unterkunft (11,5; 12,2-5), Nahrungsmitteln (11,6) oder gar Geld (Did 11,12), dann kann man ihn getrost als Falschpropheten davonjagen. In die gleiche Richtung gehen auch die Anweisungen des »Hirt des Hermas«, einer Bußschrift aus der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts. »Vor allem überhebt der Mensch, der sich einbildet den Geist zu haben, sich selbst und will immer den ersten Platz haben und ist gleich keck und unverschämt, schwatzt viel und lebt in lauter Schwelgerei und anderen trügerischen Dingen, und nimmt Bezahlung für seine Prophetie; wenn er aber keine bekommt, prophezeit er nicht« (Herm Mand 11,12). Das Urteil ist darum eindeutig: »Kann ein göttlicher Geist gegen Bezahlung prophezeien? Unmöglich kann das ein Prophet Gottes tun. Vielmehr ist der Geist solcher Propheten irdisch« (Herm Mand 11,12). Und noch weitere Beobachtungen hat der Autor über den falschen Propheten zu berichten: »Ferner geht er in eine Versammlung gerechter Männer überhaupt nicht, sondern meidet sie; er macht sich vielmehr an die Zweifler und leeren Menschen heran, prophezeit ihnen heimlicherweise und betrügt sie, indem er leeres Zeug redet, wie sie es begehren; es sind ja auch leere Menschen, denen er Antwort gibt. (…) Wenn er aber in eine Versammlung gerechter Männer kommt, die den Geist der Gottheit haben und ihr Gebet anhebt, dann entsteht in jenem Menschen eine große Leere, und der irdische Geist macht sich ängstlich davon; und so muß jener Mensch verstummen, bricht völlig zusammen und kann gar nichts mehr reden.« Schon aus diesen negativen Eigenschaften ließe sich ohne Schwierigkeiten rekonstruieren, wie sich der Autor des Herm den echten Propheten vorstellt, und er stellt dieses auch ausführlich dar: »Vor allem, wer den Geist von oben hat, sanft ruhig, demütig, er hält sich frei von aller Bosheit und jeder eitlen Begier nach dieser Welt, er erniedrigt sich allen Menschen gegenüber, er antwortet niemandem etwas, der ihn ausfragt, und er spricht auch nicht im Geheimen; auch spricht der heilige Geist nicht, wenn der Mensch ihn sprechen lassen will, sondern er redet dann, wenn Gott will, daß er spricht« (Herm Mand 11,8). Es versteht sich von selbst, daß dieser echte Prophet in der Gemeindeversammlung zur Gemeinde redet. Klar formuliert der Hirt des Hermas sein Kriterium: »An seinem Leben erkenne den Menschen, der den göttlichen Geist hat.« Nicht die Prophetie wird hier geprüft, sondern es gilt: »Nun prüfe nach Werken und Leben den Menschen, der sich einen Geistträger nennt« (Herm Mand 11,16). In dieser Bewegung, weg von der kritischen Auseinandersetzung mit den prophetischen Äußerungen und hin zu Einschätzung des Propheten, 30 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Zum Thema vollzieht sich eine bedeutsame Akzentverschiebung, die letztlich mit zum Verschwinden der Wanderprophetie erheblich beigetragen hat. Mit der allgemeinen Zurückhaltung gegenüber der Gabe der diakrisis pneumato¯ n verliert auch die Prophetie an Einfluß. Die Dialektik von und der Dialog zwischen kritischem Bewußtsein und inspirierender Gottesrede (theopneustos; 2Tim 3,16) werden zu Gunsten des Amtes kanalisiert. Kann man die erste Epoche der jungen Kirche als das »Jahrhundert der Prophetie« bezeichnen, so folgt dieser Zeit in der Mitte des 2. Jh.s n.Chr. mit dem Rückgang der Naherwartung und der Ausbildung des Episkopats der Niedergang der Prophetie. 28 Mit der Entstehung des Montanismus, der sich selbst »die Prophetie« nannte, kam es schließlich zu einer regelrechten Kirchenspaltung. Man trennte sich von diesem Zusammenschluß prophetischer Gemeinden. Die Gemeindeprophetie scheint somit in der Kirche mit der zweiten Generation im wesentlichen erloschen zu sein. Zu stark waren wohl äußerer und innerer Druck in Richtung der Institutionalisierung, als daß dieses dynamische Miteinander auf Dauer eine Überlebenschance gehabt hätte. Hatten Montanismus und auch gnostische Strömungen die Propheten in Mißkredit gebracht, so wurden jetzt gelegentlich Amtsträger zu Repräsentanten eines prophetischen Christentums. Von dem Märtyrerbischof Ignatius (gest. nach 110) ist überliefert, daß er in Philadelphia inspirierte Rede nach Art der Propheten verkündigte. 29 Resümee Zusammenfassend könnte man sagen, daß die Beurteilung geistlicher Phänomene wie der Prophetie einer dreifachen Dialektik unterliegt. a. Vernunft und Geist Gottes Wir haben gesehen, daß bereits in den paulinischen Ausführungen an die Gemeinde in Korinth Kriterien zur »Unterscheidung der Geister« formuliert werden. Prophetie muß sich an der Liebe messen lassen, die Gemeinde aufbauen, sich den Propheten unterordnen und sich an der Realität messen lassen. Sie muß an die kerygmatische Tradition gebunden sein und darf dieser nicht widersprechen. Diese Kriterien sind vernunftgemäß anwendbar. Und doch sind sie so allgemein, daß es oft zu einem schwierigen und zeitraubenden Prozeß der Urteilsbildung gekommen sein mag, 30 für die die Gemeindeglieder sich die Leitung des Geistes Gottes im Charisma der Unterscheidung erhofften. b. Charisma und Amt Paulus stellt eindrucksvoll die Dienste der Gemeinde vom Gedanken der Gnadengaben (1Kor 12) aus dar. Gottes Geist ist damit grundlegend für die Ordnung der christlichen Gemeinde. Die Charismen ordnen sich jedoch nicht selbst. Sie bedürfen der Wahrnehmung sich bildender Autorität. Bestimmte Gemeindeglieder gewinnen durch ihre Beiträge zum Gemeindeleben mehr Ansehen als andere. Wer häufiger und eindrücklicher prophetische Rede ausübt, wird allmählich zum Propheten. Solche regelmäßigeren Dienste ordnen das Miteinander. Eine Balance von Charisma und Amt entsteht auf natürlichem Wege. Problematisch wird die Entwicklung erst, wenn sich die eine oder andere Seite dieser Dichotomie verabsolutiert und so chaotischen oder erstarrten Verhältnissen Vorschub leistet. Wo Prophetie und »Unterscheidung der Geister« ihren Ort nur noch in der Predigt ordinierter Amtsträger haben dürfen, ist die Balance von Charisma und Amt erheblich gestört. Unterliegen Charismen und Amtsträger nicht mehr dem kritischen Bedenken im Gesamtgefüge der christlichen Gemeinde, so drohen Chaos und Willkür. c. Tradition und Aktualisierung Die christliche Gemeinde kann nicht darauf verzichten, sich selbst immer wieder von der Heiligen Schrift und den Glaubensbekenntnissen der Mütter und Väter her zu definieren, und Prophetie ist an diesen Zeugnissen des Glaubens zu messen. Das darf jedoch nicht dazu führen, daß man »aus zweiter Hand und gleichsam von Konserven der Vergangenheit lebt.« 31 Prophetie meint jene Verkündigung, die das Evangelium in die gegenwärtige Situation hineinträgt. In der Anleitung zur verantwortlichen Reflexion der gemeindlichen Aktualisierung christlichen Lebens und der Herausforderung zum stets neuen, kritischen Bedenken der christlichen Tradition gewinnt nicht zuletzt Theologie ihre Relevanz. ZNT 8 (4. Jg. 2001) 31 Carsten Claußen Die Frage nach der »Unterscheidung der Geister« Anmerkungen 1 U.B. Müller, Prophetie und Predigt im Neuen Testament (StNT 10), Gütersloh 1975; G. Dautzenberg, Urchristliche Prophetie. Ihre Erforschung, ihre Voraussetzungen im Judentum und ihre Struktur im ersten Korintherbrief (BWANT 104), Stuttgart 1975; J. Panagopoulos (Hg.), Prophetic Vocation in the New Testament and Today (NT.S 45), Leiden 1975; D. Hill, New Testament Prophecy, Atlanta 1979; W.A. Grudem, The Gift of Prophecy in 1 Corinthians, Washington D.C. 1982; D.E. Aune, Prophecy in Early Christianity and the Ancient Mediterranean World, Grand Rapids 1983; T.W. Gillespie, The First Theologians. A Study in Early Christian Prophecy, Grand Rapids 1994; C. Forbes, Prophecy and Inspired Speech in Early Christianity and its Hellenistic Environment (WUNT II 75), Tübingen 1995. 2 G. Theißen, Wanderradikalismus. Literatursoziologische Aspekte der Überlieferung von Worten Jesu im Urchristentum, ZThK 70 (1973), 245-271 = in: ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19), Tübingen 3 1989, 79-105; für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema »Wanderradikalismus« vgl. Th. Schmeller, Brechungen. Urchristliche Wandercharismatiker im Prisma soziologisch orientierter Exegese (SBS 136), Stuttgart 1989. 3 H. Merklein, Der Theologe als Prophet. Zur Funktion prophetischen Redens im theologischen Diskurs des Paulus, NTS 38 (1992), 402-429: 402. 4 Separate Studien zur »Unterscheidung der Geister« sind u.a.: K. Maly, Mündige Gemeinde (SBM 2), Stuttgart 1967; J.D.G. Dunn, Discernment of Spirits - A Neglected Gift (1979), in: ders., The Christ and The Spirit. Bd. 2: Pneumatology, Edinburgh 1998, 311-328; und die breiter angelegte Studie: O. Föller, Charisma und Unterscheidung, Systematische und pastorale Aspekte der Einordnung und Beurteilung enthusiastisch-charismatischer Frömmigkeit im katholischen und evangelischen Bereich, Wuppertal/ Zürich 1994. 5 R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition. Mit einem Nachwort von Gerd Theißen, Göttingen 10 1995, 135. 6 E. Käsemann, Zum Thema der Nichtobjektivierbarkeit, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen 6 1970, 224-236: 234. 7 So u.a. K. Berger, Zu den sogenannten Sätzen heiligen Rechts, NTS 17 (1970/ 71), 10-40; J.D.G. Dunn, Prophetic »I«-Sayings and the Jesus Tradition. The Importance of Testing Prophetic Utterances within Early Christianity, NTS 24 (1977/ 78), 175-198; E. Rau, Wie entstehen unechte Jesusworte? , in: Gemeinschaft am Evangelium, FS W. Popkes, Leipzig 1996, 159-186. 8 So das zusammenfassende Urteil von: Rau, Jesusworte, 161. 9 Daß dabei an eine Beurteilung und nicht vorrangig an eine Deutung gedacht ist, wird angesichts des intelligiblen und in der Applikation eindeutigen Charakters der frühchristlichen Prophetie im Gegensatz zur Glossolalie (vgl. 1Kor 14,13-19; 27-29) deutlich. Gg. Dautzenberg, Prophetie, 122-148, der diakrisis mit »Deutung« und »Auslegung« wiedergibt. Zur Auseinandersetzung mit Dautzenberg: W. Grudem, A Response to Gerhard Dautzenberg on 1 Cor 12,10, BZ 22 (1978), 253-270; ders., Gift, 263- 288. J.H. Vos, Het probleem van de onderscheiding der geesten bij Paulus, NedThT 52 (1998), 194-205. Im Vergleich mit der griechischen Deuteterminologie ist die Problematik jedoch noch kurz differenzierter anzugehen: Klassisch war in diesem Kontext die Deutung von Prophezeiungen sicher eine Interpretation, selbst wenn die Äußerung verständlich und darum keine Übersetzung nötig war. Konnte ein delphisches Orakel z.B. ein semantisch verständliches Rätsel sein, so stellte sich trotzdem die Frage der Interpretation. Folgt man dem in 1Kor 14,23-25 beschriebenen Beispiel christlicher Prophetie, so erscheinen hier weder Interpretation noch Übersetzung nötig zu sein, sicherlich jedoch die Beurteilung (1Kor 14,29). 10 1Sam 3,19; 1Kön 8,56; Dtn 18,22; Jer 28,9; Ez 33,33. 11 Dtn 13,2-6; 18,20; Jer 2,8; 23,13.27; Ez 14,9. 12 Mi 3,5.11; Ez 13,19; Jes 28,7; Jer 23,11.14; 29,23. 13 1Sam 2,34; 10,7f; 2Kön 19,29; 20,9; Jer 28,16f; 44,29f; Ez 24,27; 33,22. 14 Vgl. Apg 2,17f. 15 Vgl. Mk 13,22 par. Mt 24,24; Mt 24,11. 16 Die diakrisis pneumato¯ n ist jedoch sicher nicht ganz ausschließlich auf die Prophetie zu beziehen. Sicherlich bedarf auch eine »übersetzte glossolalische Äußerung« der kritischen Beurteilung. 17 So mit Recht: Maly, Gemeinde, 219f. 18 E. Käsemann, Der Ruf zur Vernunft. 1. Korinther 14,14- 20.29-33, in: ders., Kirchliche Konflikte, Bd. 1, Göttingen 1982, 116-127. Übersetzung des Textes auf 116. 19 Ebd., 120. 20 Ebd., 120. 21 Vgl. U. Kern, Zum Charisma der Rationalität. Eine Problemanzeige, ThLZ 12 (1987), 865-882. Eine eindrückliche soziologische Analyse bietet: S. Breuer, Das Charisma der Vernunft, in: W. Gebhardt/ A. Zingerle/ M.N. Ebertz (Hgg.), Charisma. Theorie - Religion - Politik (Materiale Soziologie TB 3), Berlin/ New York 1993, 159-184. 22 Gg. W. Rebell, Zum neuen Leben berufen. Kommunikative Gemeindepraxis im frühen Christentum (KT 88), München 1990, 118f., der die Anwendung von den Kriterien für eine spätere Enwicklung hält und die Geistesgabe der diakrisis pneumato¯ n im Sinne einer Ausstattung mit einem »übernatürlichen ›Witterungsvermögen‹« deutet. Damit wird die Bedeutung der Vernunft für die Beurteilung prophetischer Rede nicht ernst genommen. 23 W. Schrage, Der Erste Brief an die Korinther (1Kor 1,1- 6,11) (EKK VII/ 1), Neukirchen-Vluyn u.a. 1991, 262f., bemerkt zu 1Kor 2,13: »Nicht daß das Geoffenbarte nur vom latent immer schon pneumatisch Begabten zu verstehen wäre (…). Wohl aber heißt es, daß Kerygma und Prophetie, Weisheit und Gnosis nicht für die Welt ausweisbar, nicht mit einem sozusagen objektiven Krite- 32 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Zum Thema rium nachzurechnen sind. Sogenannte Objektivität verbleibt hier in der Ignoranz.« G. Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. 1, Tübingen 1979, 145, beschreibt diese falschen Alternativen sehr treffend: »Man hat (…) den Eindruck, das Vernunftpathos lebe geradezu von der Abgrenzung gegen den Glauben und das Glaubenspathos von der Abgrenzung gegen die Vernunft.« 24 Zur Diskussion, ob pneumatikois personal bzw. personal oder eher neutrisch und instrumental zu begreifen ist vgl. Schrage, Brief, 261f. 25 So mit Recht: Schrage, Brief, 239.261f. Schrage weist auch auf die Verbindung von 1Kor 12,10 zur Unterscheidung der Geister hin (262). Anders: Dautzenberg, Prophetie, 138. 26 Zur Diskussion und Auslegung der Interpolation von 1Kor 14,34f. vgl. Schrage, Brief, 479-501. 27 Die Übersetzung von Did und Herm folgt der Ausgabe: Die apostolischen Väter. Griechisch-deutsche Parallelausgabe / auf der Grundlage der Ausg. von Franz Xaver Funk, Karl Bihlmeyer und Molly Whittaker. Mit Übers. von M. Dibelius und D.-A. Koch neu übers. und hg. von Andreas Lindemann und Henning Paulsen, Tübingen 1992. 28 Vgl. H. Kraft, Das Ende der urchristlichen Prophetie, in: Panagopoulos, Vocation, 162-185. 29 Ign Phil 7,1. 30 So Dunn, Discernment, 323. 31 Käsemann, Ruf, 218. ZNT 8 (4. Jg. 2001) 33 Carsten Claußen Die Frage nach der »Unterscheidung der Geister« Band 1 der Reihe MAINZER HYMNOLOGISCHE STUDIEN: Christian Möller (Hrsg.) Kirchenlied und Gesangbuch Quellen zu ihrer Geschichte Ein hymnologisches Arbeitsbuch Band 1, 2000, 400 Seiten, zahlr. Abb., geb. DM 98,-/ 49,-/ SFr 88,- ISBN 3-7720-3001-7 kart. DM 75,-/ 37,50/ SFr 71,- ISBN 3-7720-2911-6 Dieser Band behebt ein wesentliches Desiderat der Hymnologie: daß es nämlich bisher kein umfassendes Quellenbuch gab, mit dem die 2000jährige Geschichte von Kirchenlied und Gesangbuch gelehrt und studiert werden kann. Nun ist es einem Team von erfahrenen Hymnologen gelungen, die verzweigten und vielschichtigen Quellen zu sichten, die wichtigsten auszuwählen, kurze Lesehilfen zu verfassen und in die einzelnen Epochen der Hymnologiegeschichte einzuführen. Das Ergebnis: ein hymnologisches Arbeitsbuch, das zugleich eine “Kirchengeschichte des Singens” erzählt. Geschichte wird beim Studium dieses Quellenbuches lebendig, gewinnt in vielen Notenbeispielen Klang und wird in einzigartiger Weise anschaulich. Mit diesem Arbeitsbuch kann Hymnologie nun intensiver studiert und gelehrt werden. Inhaltsübersicht: Die Alte Kirche (Ansgar Franz) · Das Mittelalter (Franz-Karl Praßl) · Das 16. Jahrhundert (Christian Möller) · Das 17. Jahrhundert (Martin Rößler) · Das 18. Jahrhundert (Martin Rößler) · Das 19. Jahrhundert (Ulrich Wüstenberg) · Das 20. Jahrhundert (Heinrich Riehm) · Aus Liedtraditionen der fremdsprachigen Ökumene (Jürgen Henkys) Die erste umfassende Quellensammlung zur Hymnologie A. Francke Verlag Tübingen und Basel 34 ZNT 8 (4. Jg. 2001) THEOLOGIE Zur Aktualität der Bergpredigt in Studium, Gemeinde und Schule Welche Relevanz hat das Evangelium für die heutigen Zuhörerinnen und Zuhörer? Und in welcher Gestalt kann es eine aktuelle Bedeutung haben? Diese Fragen werden anhand des zentralen Textes der Bergpredigt (Mt 5-7) aufgenommen: Inwiefern kann die Bergpredigt als die programmatische Zusammenfassung einer befreienden und sinnvollen Nachricht gelesen werden? Wie ist die Bergpredigt in der Theologiegeschichte gelesen worden, um als der wesentliche Kern des Evangeliums verstanden zu werden? Die Antwort der Autoren folgt aus einem kontinuierlichen Dialog zwischen der exegetisch-theologischen Auslegung der Rede des matthäischen Jesus und einer Untersuchung der klassischen Texte, die sich mit der Bedeutung der Bergpredigt auseinandergesetzt haben. Damit die wichtigsten Quellen für Studium, Gemeinde und Schule zur Verfügung stehen, sind sie in Auszügen wiedergegeben. Martin Stiewe/ François Vouga Die Bergpredigt und ihre Rezeption als kurze Darstellung des Christentums Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 2, 2001, XII, 294 Seiten, DM 58,-/ € 29,-/ SFr 55,- ISBN 3-7720-3152-8 THEOLOGIE Theologische und philologische Lösungsvorschläge zum Problem des Textbegriffs Neutestamentler sind Textwissenschaftler. Sie arbeiten daher mit allen zusammen, die mit Texten umgehen - seien es Literaturwissenschaftler, Linguisten oder Vertreter anderer theologischer Disziplinen. Eine Frage verbindet alle Textwissenschaftler: Was ist überhaupt ein Text? Dieser Frage sind die Beiträge aus dem Ersten Erlanger Textkolloquium gewidmet: Neben profilierten Vertretern aus der Klassischen Philologie sowie der Sprach- und Literaturwissenschaften haben Professoren aus den theologischen Disziplinen Altes Testament (L. Schmidt), Neues Testament (O. Wischmeyer, F. Vouga), Kirchengeschichte (H. Chr. Brennecke, W. Wischmeyer) und Systematische Theologie (O. Bayer) einen „Text“ aus ihrer Disziplin interpretiert und dazu eine „Text“-Definition aus ihrer Sicht vorgeschlagen. Dieser Band versteht sich als Appell zu einer Öffnung der Neutestamentlichen Textexegese für die transdisziplinäre Arbeit an Texten. Oda Wischmeyer/ Eve-Marie Becker (Hrsg.) Was ist ein Text? Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 1, 2001, 190 Seiten, DM 86,-/ € 43,-/ SFr 77,- ISBN 3-7720-3151-X Eine neue Reihe zur Relevanz des Neuen Testaments: Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie Herausgegeben von François Vouga, Oda Wischmeyer und Hanna Zapp NET steht für Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie. Die Reihe ist ein Forum für Entwürfe, die die Wissenschaft vom Neuen Testament in eine allgemeine theologische Perspektive stellen. NET knüpft dabei an die großen theologischen Diskussionen der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts an und möchte den Dialog der neutestamentlichen Wissenschaft mit der Kirche und der Kultur wiederbeleben. Wir Herausgeberinnen und Herausgeber denken, dass das Neue Testament für das Gespräch über die Bedeutung des Christentums in der Gesellschaft, über die zukünftigen Aufgaben der Kirchen und über die ethische Verantwortung in der europäischen Kultur auch in Zukunft von unbedingter Wichtigkeit ist. NET versteht sich daher als eine Reihe wissenschaftlicher Arbeiten zum Neuen Testament mit folgendem Profil: • Wir suchen von der neutestamentlichen Wissenschaft aus den Brückenschlag zur theologischen Dogmatik und Ethik und zur Praktischen Theologie. • Wir legen ferner Wert darauf, in unseren Beiträgen die Relevanz neutestamentlichtheologischer Arbeit für Kirche, Gemeinde und Schule deutlich zu machen. • Wir wollen in der neutestamentlichen Forschung Impulse aus den anderen Text-, Literatur- und Sprachwissenschaften aufnehmen und unsererseits in diese Disziplinen zurückwirken. • Wir wollen die neutestamentliche Wissenschaft darüber hinaus in die Kulturwissenschaften und in den gesellschaftlichen Diskurs hineinstellen. Wir sind der Meinung, wissenschaftliche Exegese sei eine theologische Kunst, wesentliche Aussagen neutestamentlicher Texte und Themen mit gegenwärtigen Fragen des Glaubens und Lebens ins Gespräch zu bringen. A . F R A N C K E V E R L A G · T Ü B I N G E N U N D B A S E L Im Zusammenhang der Frage nach den historischen und theologischen Wurzeln des christlichen Antijudaismus sind die Texte des Neuen Testaments als Dokumente der Konsolidierung christlicher Identität zu lesen, als literarische Produkte einer Zeit also, in der sich in unterschiedlicher Intensität der Ablösungs- und Verselbständigungsprozess des Christentums vom Judentum vollzog. Dabei ist in den vergangenen Jahren neben dem Johannesevangelium zunehmend auch das Matthäusevangelium ins Blickfeld geraten - nicht zuletzt wegen seiner massiven antipharisäischen Polemik. Die folgende Kontroverse bedarf einiger einführender und klärender Sätze, denn sie ist, streng genommen, keine »Kontroverse«. Vielmehr handelt es sich um zwei Perspektiven auf dieselbe Thematik, in denen unterschiedliche Nuancierungen erkennbar sind, was die Lösung der im Titel angesprochenen Frage anbelangt. Beide Geprächspartner haben sich in jüngerer Zeit mit dem Matthäusevangelium unter dem Aspekt des Trennungsprozesses zwischen Judentum und Christentum beschäftigt. 1 Von der Entstehung der Kontroverse her ist zu sagen, dass für Hans-Friedrich Weiß ein in ZNW 91 veröffentlichter Artikel von Axel von Dobbeler (vgl. Anm. 1) die Vorlage abgibt, dass Letzterer aber für die Kontroverse einen Schritt weiter in Richtung auf eine grundsätzlichere Art der Betrachtung gegangen ist. Als ein Ergebnis der Kontroverse lässt sich festhalten, dass die Autoren den Beginn des christlichen Antijudaismus unterschiedlich definieren: Während Hans-Friedrich Weiß im MtEv selbst schon eine dominante antipharisäische Grundlinie erkennt, die die Rezeptionsgeschichte des MtEv maßgeblich vorgeprägt hat, erkennt von Dobbeler eine gewichtige, Israel positiv gegenüber stehende Grundlinie im MtEv, die erst später, und gegen die Intention des Evangelisten, der pharisäerbzw. israelkritischen Linie unterlegen sei. Einig sind sich beide Autoren in der Einschätzung, dass zwischen dem historischen Textbefund, seiner Rezeptions- und Wirkungsgeschichte sowie der bleibenden hermeneutischen Aufgabe in der Zeit nach Auschwitz zu unterscheiden sei. Da sich Hans-Friedrich Weiß im folgenden Beitrag vor allem mit dem in ZNW 91 erschienenen Auf satz Axel von Dobbelers kritisch auseinandersetzt, sollen zum besseren Verständnis die These und die Grundlinien der Argumentation jenes Aufsatzes kurz nachgezeichnet werden: Ausgangspunkt der Untersuchung von Dobbelers ist die Frage nach dem Verhältnis der beiden scheinbar widersprüchlichen Sendungsaufträge in Mt 10,5b.6 und Mt 28,18-20. Während die Jünger nach Mt 28 bekanntlich durch den Auferstandenen ausdrücklich zu allen Völkern gesandt werden, ist ihnen das nach Mt 10,5b.6 ausdrücklich untersagt: »Nicht auf eine Straße der Heiden und nicht in eine Stadt der Samaritaner geht, sondern geht vielmehr zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel«. Wie ist das Verhältnis von exklusivem Partikularismus der Israel-Sendung (vgl. auch Mt 15,24) und universaler Sendung zu den Völkern zu fassen? Die frühere Forschung war sich weitgehend darüber einig, dass zwischen Mt 10,5b.6 und Mt 28,19f eine Spannung, ein Bruch oder gar ein Widerspruch besteht, und sah dementsprechend die Sendung zu Israel entweder durch den Missionsbefehl Mt 28 ersetzt oder aber zu diesem hin ausgeweitet. Demgegenüber vertritt von Dobbeler die These, dass sich die beiden Sendungsaufträge keineswegs ausschließen, sondern im Verhältnis der Komplementarität stehen und dass das komplementäre Nebeneinander von Israel-Sendung und Sendung zu den Völkern als ein Indiz dafür gewertet werden kann, »dass es sich bei den mt Christen um eine Gemeinschaft gehandelt haben könnte, die ihrem Selbstverständnis nach eine Gruppe innerhalb der Erneuerungsbewegung des Judentums nach 70 darstellte, die sich zwar einer starken innerjüdischen Opposition gegenübersah, aber weit davon entfernt war, die eigene Identität ›extra muros‹ des Judentums zu sehen« 2 . Entscheidend für von Dobbeler ist die Beobachtung, dass es sich in Mt 10 und Mt 28 um jeweils anders akzentuierte Sendungen handelt, die unter d em Stichwort »Mission« zusammenzufassen geradezu irreführend ist. Die beiden Sendungsaufträge haben nicht nur unterschiedliche Zielgruppen im Kontroverse Einleitung ZNT 8 (4. Jg. 2001) 35 Auge (die verlorenen Schafe des Hauses Israel / die Völker), sondern verfolgen auch unterschiedliche Ziele: In Mt 10 geht es keinesfalls um Mission in unserem Sinne, also um eine Form der Bekehrung; davon ist hier überhaupt nicht die Rede - auch nicht von der Anerkennung der besonderen Bedeutung Jesu o.ä. Im Blick ist hier vielmehr die Wiederherstellung des am Boden liegenden, verschmachtenden Volkes Israel, das durch die heilvollen »Werke des Christus« (Mt 11,2) aufgerichtet und für die Herrschaft seines Gottes bereitet werden soll. Dagegen ist Zielvorstellung von Mt 28 nun in der Tat die Bekehrung : Die Heiden sollen unter die Herrschaft des einen Gottes gebracht, mithin von den toten Götzen zu dem lebendigen Gott bekehrt werden. Beide Aufträge stehen also keineswegs in Widerspruch zueinander; sie stehen aber auch nicht einfach nur nebeneinander, sondern sind aufeinander bezogen: Restitution Israels und Bekehrung der Heiden sind als komplementäre Wirkungen des Messias Jesus und der in seiner Nachfolge messianisch wirkenden Jünger zu verstehen. Da nach dieser Interpretation die besondere Sendung zu Israel aus mt Sicht weder aufgehoben noch durch die Völkermission ersetzt ist, sondern nach wie vor Gültigkeit besitzt, folgert von Dobbeler für den Standort des ersten Evangelisten und seiner Adressaten, dass es sich dabei um Juden handelte, »die sich in der Nachfolge der messianischen Sendung Jesu zur Restitution Israels und zur Bekehrung der Heiden beauftragt sahen, ihre Identität selbstverständlich im Judentum sahen und dies gegenüber innerjüdischer Kritik zu verteidigen hatten« 3 . Anmerkungen 1 H-F. Weiß, Kirche und Judentum im Matthäusevangelium. Zur Frage des ›Antipharisäismus‹ im ersten Evangelium, ANRW II 26.3, Berlin / New York 1996, 2038- 2098; A. von Dobbeler, Die Restitution Israels und die Bekehrung der Heiden. Das Verhältnis von Mt 10,5b.6 und Mt 28,18-20 unter dem Aspekt der Komplementarität. Erwägungen zum Standort des Matthäusevangeliums, ZNW 91 (2000), 18-44. 2 von Dobbeler, Restitution, 21. 3 von Dobbeler, 43. 36 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Kontroverse Die Hauptvertreter der Praktischen Theologie in Selbstportraits Selbstportraits maßgeblicher Vertreterinnen und Vertreter gegenwärtiger Praktischer Theologie geben Studierenden, in der kirchlichen Praxis Tätigen und den Kolleginnen und Kollegen anderer theologischer Disziplinen Einblick in die Vielfalt der Ansätze und vermitteln einen Überblick über die Praktische Theologie am Beginn des 3. Jahrtausends. Der Paradigmenwechsel von der empirischen zu einer lebensweltlich, ästhetisch und semiotisch orientierten Reflexionsperspektive zeichnet sich im Rahmen der wissenschaftlichen Biographien eindrücklich ab. Im Blick auf das Gesamtverständnis wie auch auf die Unterdisziplinen des Faches kommt so ein instruktives Resümee zustande, in dem sich Zukunftsperspektiven für die religiöse Strukturierung kirchlicher Handlungsfelder und lebensweltlicher Vollzüge abzeichnen. Georg Lämmlin/ Stefan Scholpp (Hrsg.) Praktische Theologie der Gegenwart in Selbstdarstellungen UTB 2213 S, 2001, XII, 427 Seiten, 20 Abb., DM 39,80 19,90/ SFr 37,- UTB-ISBN 3-8252-2213-6 A. Francke Wer selbst einen Beitrag zum Thema »Kirche und Judentum im Matthäusevangelium« (mit dem Untertitel: »Zur Frage des ›Antipharisäismus im ersten Evangelium‹) publiziert hat, 1 muß sich nicht wundern, wenn er sich - obschon gegen seine eigene Absicht - bald auf der Seite derjenigen wiederfindet, die, so Axel von Dobbeler, 2 das 1. Evangelium »ins Fadenkreuz des Antijudaismus-Verdikts« geraten ließen. Nun ist Antipharisäismus noch nicht gleich Antijudaismus im Sinne einer generellen wie auch prinzipiellen ›Judenfeindschaft‹. Aber bereits von der Begriffsbildung her (»Anti-…-ismus«) scheint der Weg in diese Richtung nicht mehr allzu weit zu sein: Der Antipharisäismus als die abgemilderte Version des Antijudaismus ? Nun könnte man, um der ganzen Debatte von vornherein ihre Schärfe zu nehmen, darauf hinweisen, daß z.B. Bernd Schaller geltend gemacht hat, daß die sogenannten ›antijüdischen‹ Aussagen und Ausfälle in den meisten Schriften des Neuen Testaments »durchweg binnenjüdisch bedingte Zwistigkeiten und Abgrenzungen« widerspiegeln. Von daher wäre es ein Anachronismus, hier bereits von »Judenfeindschaft, Antijudaismus oder gar Antisemitismus« 3 zu sprechen. Das anstehende Problem, und damit auch die Frage nach den Wurzeln eines (›christlich‹ begründeten) Antijudaismus, ist damit jedoch noch keineswegs aus der Welt geschafft. Das zeigt nicht nur die andauernde Diskussion um diese Fragestellung, für die ich hier nur auf die umfangreiche Monographie von Marlies Gielen 4 sowie auf die eingehende Analyse durch B. Repschinski 5 hinweisen möchte. Das zeigt auch die Tatsache, daß es bei diesem Thema nicht um Festlegungen auf einen bestimmten »Stand« oder bestimmte »Daten« gehen kann; denn es hat in der Geschichte des frühen Christentums - zumal in den für das MtEv relevanten letzten Jahrzehnten des 1. Jahrhunderts (also nach dem für das Judentum zunächst katastrophalen Ausgang des 1. Jüdischen Krieges) - bestimmte Entwicklungen und Übergänge gegeben, die sich nicht in jedem Falle auf ein bestimmtes Datum festlegen lassen. Das gilt ganz allgemein für das Verhältnis zwischen Judentum und Christentum, aber auch speziell für das Verhältnis der (offensichtlich ursprünglich judenchristlichen) Gemeinde des Matthäus zu einem Judentum pharisäischer Prägung. Auch wenn man heutzutage geneigt ist, das MtEv nach dem »kommunikationstheoretischen Modell der Erzähltextanalyse« als die »schriftliche Fixierung einer sprachlichen Äußerung« zu verstehen, die - als solche - »der Kommunikation zwischen dem Urheber dieser sprachlichen Äußerung und ihren Adressaten dient«, 6 so ändert das nichts an jenem älteren Grundverständnis des MtEv als Dokument eines Dialogs zwischen dem Autor dieser Evangelienschrift und seinen Adressaten in Gestalt der »Gemeinde des Matthäus«. Das heißt: Mithilfe seiner Schrift will der Autor seinen Adressaten bzw. seiner Gemeinde unter Rückblick auf die vergangene Geschichte Jesu (und damit auch autorisiert durch diesen Rückblick) zugleich Einblick und Ausrichtung für ihre gegenwärtige Situation vermitteln. So gesehen ist die Jesusgeschichte des Matthäus - um mit Ulrich Luz zu formulieren - »eine Geschichte mit zwei Ebenen«: Sie erzählt »auf der Erzähloberfläche - die vergangene Geschichte Jesu in Israel, sein Wirken und seine Ablehnung bis zu seiner Hinrichtung […]. Diese Geschichte schließt aber zugleich die Geschichte der matthäischen Gemeinde ein.« 7 Diese befand sich - in ihrer Entstehungszeit zunächst noch gänzlich intra muros des Judentums - in einer offensichtlich sehr scharf geführten Auseinandersetzung mit einem pharisäisch dominierten Judentum, das sich seinerseits, in den Jahren nach der politisch-religiösen Katastrophe des 1. Jüdischen Krieges, in einer Phase der Neukonsolidierung befand und einen Führungsanspruch über das gesamte jüdische Volk erhob. Kennzeichnend für diese Situation ist die wiederholte Bezeichnung speziell der Pharisäer Hans-Friedrich Weiß Noch einmal: Zur Frage eines Antijudaismus bzw. Antipharisäismus im Matthäusevangelium ZNT 8 (4. Jg. 2001) 37 als (ihrerseits ›blinde‹) »Blindenführer« (Mt 15,14; 23,16 .24); auch die mehrfache Rede von »ihren« bzw. »euren«, d.h. der Juden bzw. der Pharisäer, »Syn agogen« (Mt 9,35; 10,17; 12,9; 13,54; 23,34) weist deutlich darauf hin, daß der historische Ort der mt. Gemeinde intra oder doch schon extra muros jener »Synagogen« nicht mehr so eindeutig zu bestimmen ist. Hier gibt es offenbar bereits »Übergänge«, Anzeichen für einen Prozeß der Ablösung einer christlichen Gemeinde von einem Judentum, das sich - im Anschluß an Jacob Neusner formuliert - auf dem Wege zu einem Formative Judaism befand. Dieser Ablösungsprozeß schließt eher ein als aus, daß der Stil dieser Auseinandersetzung gerade auch auf Seiten der Gemeinde des Matthäus durchaus in der Kontinuität von ursprünglich innerjüdischen Kontroversen steht; zumal das die große antipharisäische Rede in Mt 23 dominierende Stichwort der »Heuchelei« ist aus einer zunächst innerjüdischen Kontroverse und Polemik herübergenommen! In diesem Sinne hat Marlies Gielen mit Recht darauf hingewiesen, »daß die Polemik gegen die religiösen und politischen Autoritäten Israels« im MtEv »nicht verstanden werden darf als Polemik gegen das Volk oder das Judentum« 8 und daß, was die Kritik an den Pharisäern als den Trägern der Hauptlast der mt. Gegnerschaft betrifft, sie nicht im Sinne eines generellen Antipharisäismus zu verstehen ist. 9 Nur ist hier sogleich hinzuzufügen: eine Richtung hin zu solcher Verallgemeinerung ist im MtEv unübersehbar, und mußte dort, wo die Jesusgeschichte des Matthäus im Prozeß der ntl. Kanonbildung »aus dem ursprünglichen Kommunikationszusammenhang zwischen Mt als realem Autor und seinen Erstrezipienten herausgelöst wurde und von heidenchristlichen Gemeinden rezipiert wurde« 10 , zu den entsprechenden Konsequenzen führen. Von da aus ist es schließlich dazu gekommen, daß die »Heuchelei« über Jahrhunderte hinweg zu einer Art Identitätsmerkmal der Pharisäer geworden ist. Die ursprünglich historisch bedingte bzw. zeitgeschichtlich verständliche (und von daher auch zu relativierende) Frontstellung gegenüber dem Pharisäismus wurde so für künftige Zeiten festgeschrieben. So gesehen gehört das MtEv in den Zusammenhang der Frage nach den Wurzeln des Antijudaismus hinein - ganz abgesehen davon, daß die Ansätze zu einer solchen verallgemeinernden Sichtweise und Beurteilung des Pharisäismus bereits im MtEv selbst gegeben sind. 11 Von daher gesehen ist es naheliegend - auch um den eben aufgewiesenen Konsequenzen in der Auslegungs- und Wirkungsgeschichte des MtEv nach Möglichkeit zu entgehen -, nach Indizien im MtEv selbst Ausschau zu halten, die die hier angelegte Konfliktgeschichte mit dem Pharisäismus zu relativieren vermögen. In diese Richtung geht auch das Votum von Marlies Gielen, »daß die Polemik gegen die religiösen und politischen Autoritäten in der mt Jesusgeschichte nicht verstanden werden darf als Polemik gegen das Volk Israel oder das Judentum«. In der Arbeit von Marlies Gielen geht es also nicht lediglich um das spezielle Problem der Darstellung und Beurteilung des Pharisäismus, sondern um die dieses Problem in sich schließende Frage nach dem Volk Israel. Auf derselben Linie liegen auch die von Axel v. Dobbeler in seiner Habilitationsvorlesung vorgelegten »Erwägungen zum Standort des Matthäusevangeliums« unter der Überschrift »Die Restitution Israels und die Bekehrung der Heiden« 12 . Dem Stichwort Israel bzw. Volk Israel kommt hier ein hoher theologischer Stellenwert zu, ganz im Unterschied zu dem primär historisch akzentuierten, nur für eine bestimmte Epoche der Geschichte des Judentums relevanten Stichwort Pharisäer bzw. Pharisäismus. Sollte es - so lautet nunmehr die Frage - möglich sein, das Problem des Antipharisäismus im MtEv in einen umfassenden theologischen Horizont einzufügen, gegebenenfalls mit der Konsequenz, die scharfe Kritik am historischen Erscheinungsbild des Pharisäismus am Ausgang des 1. Jahrhunderts nicht mehr als grundsätzlichen Antipharisäismus zu betrachten? Deutlich ist von vornherein, daß bei solcher Betrachtungsweise zwei unterschiedliche Ebenen zu unterscheiden sind: a) Die historische Ebene der Gemeindesituation in den letzten Jahrzehnten des 1. Jahrhunderts, geprägt durch den Ablösungsprozeß vom und die Auseinandersetzung mit dem Führungsanspruch der »Pharisäer und Schriftgelehrten«; b) Die theologische Ebene als Versuch, die in jener konkreten historischen Situation anstehenden Probleme auf eine biblischtheologische Weise einer Lösung zuzuführen. Ein Ansatz, beide Ebenen in eine genuine Beziehung zueinander zu setzen, könnte die Version des Gleichnisses von den »bösen Weingärtnern« in Mt 21,33-43 sein: Die entscheidende Aussage in V.43, der »Auswertung« der Gleichnisrede durch Jesus, ist keineswegs im Sinne einer Substitutions- 38 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Kontroverse ZNT 8 (4. Jg. 2001) 39 Hans-Friedrich Weiß Zur Frage eines Antijudaismus bzw. Antipharisäismus im Matthäusevangelium Hans- Friedrich Weiß Jahrgang 1929, Studium der Theologie 1949-1953 in Jena (und Leipzig: Koptologie), Promotion 1957; Habilitation 1962 nach Assistentur (im Fach Altes Testament - Judaistik); Dozentur für Neues Testament 1965 in Jena; 1972-1995 Professur für Neues Testament in Rostock; 1995 emeritiert. Veröffentlichungen (u.a.): Untersuchtungen zur Kosmologie des palästinischen und hellenistischen Judentums (Habil.-Schrift) sowie zuletzt (1991) »Der Brief an die Hebräer« (KEK 13). Schwerpunkt der Arbeiten seitdem: Judaistik (Pharisäismus etc.) sowie »Urchristentum und Gnosis«. theorie zu verstehen, als ob im Blick auf die »Königsherrschaft Gottes« ein neues Gottesvolk, die »Heidenvölker« nämlich, an die Stelle des alten Gottesvolkes trete. Abgesehen von der Frage der Adressaten dieser Rede Jesu - nach Mt 21,33 sind es »die Hohenpriester und die Ältesten des Volkes« -, ist die Aussage von V.43 in einer bemerkenswerten Offenheit gehalten: Entscheidend für den »Empfang der Königsherrschaft Gottes« ist allein, daß das hier in Frage stehende »Volk« die dieser »Königsherrschaft« gemäßen »Früchte« bringt. Ganz im Sinne einer das MtEv insgesamt auszeichnenden Grundtendenz kommt es am Ende allein auf die »Früchte« an, also auf das Tun und Verhalten derjenigen, die zum »Volk Gottes« gehören, und zwar unabhängig davon, ob man hier überhaupt von einem alten und/ oder einem neuen Gottesvolk sprechen will - mit anderen Worten: Das alte Gottesvolk ist hier (noch) keineswegs aus dem Blick geraten! An dieser Stelle hat der Beitrag von Dobbelers zur »Standortbestimmung« des MtEv seinen Ort, genauer: im Zusammenhang einer (am Stichwort der Restitution Israels orientierten) Israel-Theologie - und damit im Gegenzug zu einer primär an der Pharisäer-Polemik des MtEv orientierten Betrachtungsweise. Seiner von Mt 10,5b.6, der Sendung Jesu »zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel« ausgehenden Argumentation kann man folgen, da in Mt 10,5b.6 nicht mehr nur von den Führungskreisen des »Hauses Israel« die Rede ist, sondern eher von dessen »Randsiedlern« in religiöser und sozialer Hinsicht. Es geht also um fortdauernde Sendung an das ganze, auch und gerade jene »Randsiedler« einschließende »Haus Israel« - und erst am Ende, in Mt 28,18-20 und »komplementär« zu Mt 10, um die universale, also »alle Völker« einschließende Sendung der Jünger Jesu, dies freilich unter der Voraussetzung von Lehre und Taufe (Mt 28,19). Soweit vermag ich dem Argumentationsgang von Dobbelers gut zu folgen - nur an dem Punkt nicht mehr, wo diese Art von »Israel-Theologie« des MtEv am Ende um den Preis erkauft wird, daß die Gemeinde des Matthäus ganz in das Judentum ihrer Zeit zurückgenommen wird! Denn, so von Dobbeler, »Das komplementäre Nebeneinander von Mt 10 und Mt 28 kann als Indiz dafür gewertet werden, daß es sich bei den mt Christen um eine Gemeinschaft gehandelt hat, die ihrem Selbstverständnis nach eine Gruppe innerhalb der Erneuerungsbewegung des Judentums nach 70 darstellte, die sich zwar einer innerjüdischen Opposition gegenübersah, aber weit davon entfernt war, die eigene Identität ›extra muros‹ des Judentums zu suchen.« 13 Das ist eine These zur historischen Begründung eines theologischen Sachverhalts, die zudem in einer Spannung, wenn nicht sogar in einem Widerspruch zu dem Befund steht, wonach sich die Gemeinde des Matthäus in einem Prozeß des Übergangs (vom »Judentum« zum »Christentum«), der Ablösung vom Judentum befindet. Zugleich würde ein solch »komplementäres« Verständnis von Mt 10 und Mt 28 bedeuten, daß trotz der programmatischen Öffnung zu den »Heidenvölkern« am Ende des MtEv die Mission der mt. Gemeinde an »Israel« bzw. den »verlorenen Schafen Israels« weitergeht. 14 Die entscheidende Frage in diesem Zusammenhang ist, in welchem Verhältnis diese Israel-theologische Grundlinie des MtEv, ihrerseits Ausdruck eines ungebrochen positiven Verhältnisses zu einem »Israel« repräsentierenden Judentum, zu jener pharisäerkritischen - um nicht zu sagen: antipharisäischen - Grundlinie steht, die eine entschiedene Absage an ein Judentum pharisäischer Prägung signalisiert. Man darf wohl sagen: Ein wirksames Gegengewicht oder Korrektiv zu ihr stellt sie nicht dar; und dementsprechend hat sie es auch nicht vermocht, der Pharisäer-Kritik des MtEv ihre situationsbedingte, aggressive Schärfe zu nehmen. In einer kirchengeschichtlichen Situation, in der gerade das MtEv »zu dem Evangelium schlechthin einer heidenchristlichen Kirche wurde« 15 , wäre ein solches Gegengewicht bzw. Korrektiv gewiß von besonderer Bedeutung gewesen. Und so stellt sich schließlich die kritische Frage: Liegt die faktische Unwirksamkeit der durch von Dobbeler herausgearbeiteten Israel-Theologie des MtEv am Ende daran, daß sie in den »Niederungen« des konkreten Gemeindelebens vor Ort gar nicht mehr wahrgenommen wurde? Es ist nicht nur ein Zufall, daß in der Wirkungsgeschichte des MtEv faktisch nur die eine Grundlinie wirksam geblieben ist, besonders da, wo sie im Zuge der weiteren Entwicklung bis zur ntl. Kanonbildung aus ihrem ursprünglichen historischen Ort herausgelöst und damit faktisch verabsolutiert wurde. Hat hier, so möchte man fragen, die irdische Wirklichkeit der mt. Gemeinde in ihrer Auseinandersetzung mit einem pharisäisch geprägten Judentum die Idee von einer auch im Sinne des MtEv notwendigen bleibenden Verbundenheit mit dem »Haus Israels« verdrängt? Eine Spannung also, ja vielleicht ein Widerspruch zwischen Idee und Wirklichkeit auch hier? Ein Dilemma in jedem Fall, dem nicht anders zu entgehen ist als durch die (in jener konkreten historischen Situation freilich aus nachvollziehbaren Gründen ausbleibenden) Differenzierung. Mußte es so kommen, daß die von von Dobbeler für das MtEv herausgearbeitete Israel-Theologie im Verlauf der Auslegungs- und Wirkungsgeschichte zu einer unverbindlichen Israel-Ideologie verkommen ist? Das Wort Jesu von Mt 7,16 »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen« würde auf diese Weise noch einmal eine ganz andere als die ursprüngliche Adressatenschaft erhalten, damit zugleich aber auch eine andere und neue Aktualität gewinnen… So gesehen stellt das MtEv, das im Verlauf seiner Rezeptionsgeschichte »zu dem Evangelium schlechthin einer heidenchristlichen Kirche wurde…, eine bleibende Herausforderung« dar, und dies nicht nur »für weitere Forschungen zur Geschichte des Urchristentums«, sondern auch im Blick auf seine Rezeption in einer heidenchristlichen Kirche, die sich von ihren Wurzeln im Judentum bereits weitgehend gelöst hat. Eine »bleibende Herausforderung« 16 aber auch in dem Sinn, die in diesem Evangelium so auffällige Stellungnahme gegen den Pharisäismus dort zu belassen, wo sie ursprünglich hingehört: An den Ort des Ablösungsprozesses des frühen Christentums von einem Judentum, das sich im ausgehenden 1. Jahrhundert in der Verantwortung pharisäischer Kreise neu konsolidierte. Zum Abschluß der knappen Überlegungen zur Frage eines Antipharisäismus bzw. Antijudaismus im MtEv sei noch die Frage erlaubt, wo - ganz abgesehen von terminologischen Fragen nach der Angemessenheit der Termini »Antipharisäismus« und »Antijudaismus« - der Differenzpunkt in dieser »Kontroverse« liegt? Im Terminus Antipharisäismus allein liegt er wohl nicht, auch wenn er zunächst eine grundsätzlich feindliche Einstellung assoziieren mag. Abgesehen von solchen, eher vordergründigen Differenzierungen scheint mir der eigentliche Differenzpunkt in der unterschiedlichen Gewichtung zweier unterschiedlicher (um nicht zu sagen: gegenläufiger) Grundlinien im MtEv zu liegen: Einmal der antipharisäischen Grundlinie, zum anderen der Israel-theologischen Grundlinie, mit der sich ein bleibender Anspruch der Gemeinde des Matthäus auf die Sendung an das Haus Israel (Mt 10,5b.6) verbindet. Gegen das komplementäre Verständnis von Mt 10 und Mt 28 spricht eindeutig, daß das vo n von Dobbeler vorausgesetzte Motiv einer bleibenden Sendung an das Haus Israels jene antipharisäische Grundlinie nicht zu relativieren, geschweige denn zu absorbieren vermochte. Von daher stellt sich für die künftige Auslegung des MtEv, zumal im Rahmen und Zusammenhang eines christlich-jüdischen Dialogs, die dringliche Aufgabe, gegen den vordergründigen, weil zeitgeschichtlich bedingten Antipharisäismus des MtEv deutlich der bislang unterschätzten Israel-theologischen Grundlinie dieses Evangeliums die ihr gemäße Geltung zu verschaffen. 17 Anmerkungen 1 H.-F. Weiß, Kirche und Judentum im Matthäusevangelium, Zur Frage des ›Antipharisäismus‹ im ersten Evangelium, ANRW II/ 26.3 (1996), 2038-2098. 40 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Kontroverse 2 A. v. Dobbeler im Buchreport über Marlies Gielen, Der Konflikt Jesu mit den religiösen und politischen Autoritäten seines Volkes im Spiegel der matthäischen Jesusgeschichte (BBB 115) Bodenheim 1998, ZNT 4 (1999), 66b. 3 Antisemitismus/ Antijudaismus (B. Schaller), RGG I, Tübingen 4 1998, 558f. 4 M. Gielen, Der Konflikt Jesu mit den religiösen und politischen Autoritäten seines Volkes im Spiegel der matthäischen Jesusgeschichte (BBB 115), Bodenheim 1998. 5 B. Repschinski, The Controversy Stories in the Gospel of Matthew. Their Redaction, Form and Relevance for the Relationship Between the Matthean Community and Formative Judaism (FRLANT 189), Göttingen 2000. 6 So v. Dobbeler, Gielen, 67a, im Anschluß an Gielen, Konflikt, 17. 7 U. Luz, Der Antijudaismus im Matthäusevangelium als historisches und theologisches Problem. Eine Skizze, EvTh 53 (1993), 310-327: 310f. 8 Gielen, Konflikt, 472. 9 Ebd., 413f. 10 Ebd. 473. 11 Man vgl. in diesem Zusammenhang die Rede von den Pharisäern (und Schriftgelehrten) als »Negativtypen« bzw. »negativen Stereotypen« (im Anschluß an Mt 23) bei U. Luz, Die Jesusgeschichte des Matthäus, Neukirchen-Vluyn 1993, 139. 12 A. v. Dobbeler, Erwägungen zum Standort des Matthäusevangeliums, Die Restitution Israels und die Bekehrung der Heiden, Das Verhältnis von Mt 10,5b.6 und Mt 28,18-20 unter dem Aspekt der Komplementarität, ZNW 91 (2000), 18-44. 13 Vgl. in diesem Sinne auch Repschinski, Stories, 343ff.: 344f., auch hier unter der Voraussetzung, daß die Gemeinde des Mt sich noch innerhalb des Judentums befindet und daß der Evangelist jedenfalls noch die Hoffnung »for a final conversion of Israel« habe (345). 14 Vgl. in diesem Zusammenhang noch einmal Luz, Antijudaismus, 141: »Von der matthäischen Christologie her [! ] ist eine schroffe, eine dramatische, eine absolute und damit pauschalisierende Reaktion auf das Nein Israels gleichsam vorprogrammiert [sic]«. 15 v. Dobbeler, Erwägungen, 43f. 16 Vgl. ebd., 44. 17 Im übrigen sei an dieser Stelle wenigstens noch auf die in jeder Hinsicht ausgewogene Analyse der »reasons for the extraordinary and tragic tension between Christianity and Judaism« hingewiesen; Christianity (R. Zwi Werblowsky, Encyclopaedia Iudaica 5, Jerusalem 1974, 505- 515: 507f.). ZNT 8 (4. Jg. 2001) 41 Hans-Friedrich Weiß Zur Frage eines Antijudaismus bzw. Antipharisäismus im Matthäusevangelium Vorschau auf das nächste Heft Neues Testament aktuell Christian Riniker Hat Jesus das Gericht gepredigt? - Neue Aspekte zur Gerichtsverkündigung Jesu Zum Thema Voker A. Lehnert Wenn der liebe Gott »böse« wird - Überlegungen zum Zorn Gottes im Neuen Testament. Günter Röhser Hat Jesus die Hölle gepredigt? Karl-Heinrich Ostmeyer Passa und Satan in 1 Kor 5 Kontroverse Das »letzte Gericht« - ein abständiges Mythologumenon ? Kurt Erlemann versus Lukas Bormann Hermeneutik und Vermittlung Ingrid Schoberth Nicht bloß ein »lieber Gott«. Die Verharmlosung der Gottesrede als Problem der Praktischen Theologie Buchreport Heft 9 erscheint im April 2002 1. Der Berliner Philosoph und Pfarrerssohn Herbert Schnädelbach hat in seinem vielbeachteten Pamphlet »Der Fluch des Christentums« 1 unter die sieben »Geburtsfehler«, durch die er das Christentum unheilbar belastet sieht, auch den christlichen Antijudaismus 2 gerechnet. Mit der Metapher des »Geburtsfehlers« möchte Schnädelbach jede Rückzugsmöglichkeit auf das Argument späterer Fehlentwicklungen verstellen. Ist der Antijudaismus in diesem Sinne ein »Geburtsfehler« des Christentums, also nicht heilbar, ohne dass das Christentum sich selbst aufgibt? Handelt es sich beim Antijudaismus mithin um die »Essenz« des Christentums oder schließt das Christentum umgekehrt in seiner Essenz Antijudaismus geradezu aus? 3 Bedarf das Christentum um seiner selbst willen der Ablehnung und Zurückweisung Israels, wie Samuel Sandmel 4 vermutet hat, weil die Christologie als Kernstück des Christentums nach Rosemary Ruethers Einschätzung in sich schon antijudaistische Züge trägt? 5 Mussten die Christen also zu Antijudaisten werden, eben weil sie Christen waren? 6 Diese Fragen sind für die »Theologie nach Auschwitz« von schlechthin zentraler Bedeutung, denn die hier maßgebliche Einsicht in die Mitverantwortung christlicher Theologie für den millionenfachen Mord an jüdischen Menschen bedeutete in erster Linie, sich theologisch dem jahrhundertealten Erbe des christlich motivierten Antijudaismus zu stellen und nach den Wurzeln der christlichen Judenfeindschaft zu fragen. Der Frage nach den Wurzeln ist dabei sowohl in historischer als auch in sachlich-theologischer Perspektive nachzugehen; zu prüfen ist, ob es sich a) beim christlichen Antijudaismus um eine gegenüber den Anfängen sekundäre und diese mithin auch fehlinterpretierende Entwicklung handelt oder bereits die frühesten Zeugnisse des Christentums als Dokumente eines ausgeprägten Antijudaismus zu kennzeichnen sind und ob b) Antijudaismus zum »Wesen« oder nur zur geschichtlichen Gestalt des Christentums gehört, es sich dabei also um ein essentielles oder nur um ein akzidentielles Element des Christentums handelt. Die Gefahr, als christlicher Forscher in die Falle einer vorschnellen Apologetik zu tappen, ist dabei immer mit zu bedenken; sie ist grundsätzlich wohl nicht zu beseitigen. Ebenso wird die Theologie sich nicht auf eine wissenschaftlich-distanzierte Betrachtungsweise, die von unserem geschichtlichen Standort (»nach Auschwitz«) abzusehen versucht, zurückziehen können. Ich schließe mich hier dem Urteil Ingo Broers an: »Nach dem Holocaust kann niemand mehr ausschließlich aus wissenschaftlicher Distanz heraus über antijüdische Texte oder Tendenzen sprechen, erst recht nicht in Deutschland. Auch ist eine rein synchrone Betrachtung der alten antijüdischen Texte des Neuen Testaments nicht mehr erlaubt - wir können bei der Betrachtung dieser Texte von ihrer Wirkungsgeschichte nicht absehen.« 7 2. Daraus folgt als methodisches Prinzip: Bei der Frage nach den Wurzeln des christlichen Antijudaismus ist stets der lectio difficilior der Vorrang zu geben. Damit verbietet sich a) die Beseitigung von Problemen oder als problematisch empfundenen Texten durch literarkritische Operationen, die ihren markantesten Ausdruck wohl in der Interpolationshypothese zu 1Thess 2,13-16 gefunden hat, wonach es sich bei der vehementen antijüdischen Polemik dieses Abschnitts, der zudem Elemente des paganen Judenhasses aufnimmt, 8 um eine nachpaulinische Glosse handelt, 9 b) die Abmilderung von antijudaistischen Äußerungen durch psychologisierende Auslegung oder durch den Hinweise auf das sog. Konvertiten- Syndrom, 10 c) die Relativierung frühchristlicher antijudaistischer Positionen durch den Hinweis auf die »Gesetzmäßigkeiten«, denen Abspaltungen / Ablösungen einer neuen Religion von ihrer Mutterreligion unterliegen; die Entstehung des christlichen Axel von Dobbeler Wo liegen die Wurzeln des christlichen Antijudaismus? 42 ZNT 8 (4. Jg. 2001) ZNT 8 (4. Jg. 2001) 43 Axel von Dobbeler Wo liegen die Wurzeln des christlichen Antijudaismus? Axel von Dobbeler PD Dr. Axel von Dobbeler, Jahrgang 1953, Studium der Evangelischen Theologie in Bonn, Promotion 1984 in Heidelberg, Habilitation 1998 ebenfalls in Heidelberg, seit 2000 Privatdozent an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Im Sommersemster 2001 Vertretungsprofessur für den Lehrstuhl für Neues Testament an der Gerhard- Mercator-Universität Duisburg. Veröffentlichungen zur paulinischen Theologie, zur Apostelgeschichte, zum Matthäusevangelium, zur frühchristlichen Mission sowie prosopographische Studien. Antijudaismus erscheint in dieser Perspektive als ein quasi natürlicher Prozess und als »unvermeidlich« 11 ; hierher gehört auch die m.E. fragwürdige Anwendung der Kategorie der »historischen Notwendigkeit« auf die christliche Abgrenzung gegenüber dem Judentum, 12 d) der von allzu durchsichtigen apologetischen Motiven getragene Verweis darauf, dass der Weg zum christlichen Antijudaismus auf einem »Missverständnis der urchristlichen Polemik« basiere, 13 dass die Anfänge mithin »rein«, d.h. nicht antijudaistisch waren. Hinter letzterer These steht zwar die durchaus zutreffende Einschätzung, dass sich im Zuge des Prozesses, der schließlich zum »Auseinandergehen der Wege« führte, qualitativ die entscheidende Wende vollzogen haben muss: nämlich von einer - gerne mit der Metapher des »Familienzwists« belegten - innerjüdischen Auseinandersetzung, die in traditioneller Weise mit harten Bandagen geführt wurde, zu einer »von außen« an das Judentum bzw. die Juden gerichteten Polemik, die sich aufgrund der mehrheitlich ablehnenden Haltung Israels gegenüber dem Messias Jesus nicht nur zur schroffen Verurteilung des »alten« Gottesvolkes, sondern auch zu dessen Enterbung und zur Inanspruchnahme zentraler, für jüdische Identität essentieller Glaubensinhalte für die eigene religiöse Identitätsbildung legitimiert sah. Es steht außer Frage, dass es für die Entscheidung, ob ein Text als »antijudaistisch« zu kennzeichnen ist oder nicht, von einiger Bedeutung ist zu klären, von welcher Position aus gegen Juden oder das Judentum polemisiert wird, ob der Standort eines Textes bzw. seines Autors noch intra muros des Judentums liegt oder bereits extra muros. Denn gerade pauschalisierende Wendungen wie die Rede von »den Juden« gewinnen erst dort antijudaistischen Charakter im Sinne der Diffamierung der Gesamtheit der Juden aufgrund ihres Judeseins, wo sie von außen auf das Judentum zielen; eine intra muros geäußerte, gegen »die Juden« gerichtete Polemik hat dagegen einen ganz anderen Charakter. 14 Dies haben die Arbeiten von James Dunn und anderen überzeugend belegt, und man wird den ntl. Schriften, in denen sich die meisten Invektiven gegen »die Juden« finden (Joh, Apg) daher auch nicht gerecht, wenn man sie pauschal als »antijudaistisch« qualifiziert. Nichtsdestotrotz bleibt es für die Frage nach den Wurzeln mindestens ebenso bedeutsam festzuhalten, dass sich der christliche Antijudaismus aus Texten und Thesen »genährt« hat, die ursprünglich nicht antijudaistisch gemeint waren. Ähnliches gilt auch für die an sich völlig zutreffende Beobachtung, dass dem MtEv kein Antijudaismus, sondern ein »Antipharisäismus« zu attestieren ist. 15 Da es uns nicht genügen kann, unser Augenmerk nur auf die Ursprungssituation der Texte zu richten und ihre Wirkungsgeschichte auszublenden, scheint es mir unmöglich, Texte schon aufgrund ihrer Verortung intra muros des Judentums aus der Frage nach den Wurzeln des christlichen Antijudaismus auszuklammern. So sehr es die Redlichkeit des Historikers gebietet, die Texte in ihrer historischer Eigenart, die zumeist eben noch keine antijudaistische in unserem Sinne war, zu würdigen, so sehr gebietet es eben diese Redlichkeit, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass der spätere christliche Antijudaismus seine Kraft aus eben diesen Texten sog und dass es dabei überhaupt keine Rolle spielte, ob sich die Texte nur aufgrund eines kardinalen Missverständnisses ihrer Aussageintention als Kraftquelle des Antijudaismus erwiesen. Dass sie zur Legitimierung christlichen Judenhasses tauglich erschienen und auch faktisch dazu benutzt wurden, kann gerade im Blick auf das MtEv nicht bezweifelt werden und kann nicht durch den Hinweis, dass es sich dabei nur um ein schreckliches Missverständnis handelt, vom Tisch gewischt werden, soll nicht der bereits 1978 von David Flusser empfundene Eindruck bestätigt werden, bei den christlichen Bemühungen um eine Auseinandersetzung mit der ureigenen antijudaistischen Tradition handele es sich fast durchweg um Versuche, »zu beweisen, dass es im Neuen Testament keinen Antijudaismus gibt.« 16 3. Die Jesusbewegung ist als eine »innerjüdische Erneuerungsbewegung« 17 zu betrachten, die im Rahmen der Pluralität jüdischer Gruppen zu verorten ist, in vielfältiger Weise Berührungspunkte mit anderen jüdischen Strömungen aufweist, sich aber auch deutlich von diesen unterscheidet und damit ein eigenes Profil entwickelt, 18 das mit der Kennzeichnung des frühen Christentums als »sectarian movement« 19 oder »jüdische Devianzbewegung« 20 zu umreißen bereits eine m.E. unzutreffende Wertung beinhaltet, da hier die Existenz eines normativen Judentums schon für die Zeit vor 70 n.Chr. vorausgesetzt wird. 21 Man wird die Jesusbewegung und das frühe Christentum vielmehr in den breiten Strom unterschiedlicher Lebensäußerungen jüdischer Religiosität vor 70 n.Chr. einzuordnen haben. 22 Es genügt daher m.E. nicht, von einer »offensichtliche(n) Nähe der Position Jesu selbst und der ursprünglichen Jesusbewegung zum Judentum« zu sprechen, 23 denn das setzt ja voraus, dass sie - obzwar ihm sehr nahe - eben doch nicht zum Judentum gehörten - sie standen ihm lediglich nahe. Aber weder gab es »das« Judentum noch lässt sich die Stellung Jesu, der Jesusbewegung oder der frühen Christen als eine außerhalb des Judentums glaubhaft beschreiben. Ein wichtiges Kennzeichen der jüdischen Messias-Jesus-Bekenner wird dabei ihr ausgeprägtes messianisch-eschatologisches Selbstbewusstsein gewesen sein. Dadurch bekam die Auseinandersetzung mit anderen zeitgenössischen Varianten des Judentums eine ähnliche Schärfe wie die der Qumran-Essener. Das Bewusstsein der »letzten Zeit« und die Selbstsicht als »heiliger Rest« bedingen hier wie dort die harsche Form der Abgrenzung. Was die frühen Christen betrifft, so gewinnt die Abgrenzung gegenüber anderen jüdischen Gruppen zudem an Schärfe durch das gewaltsame Geschick Jesu, das in enge Beziehung zur Ablehnung des Nazareners und zum Widerspruch gegenüber dem für ihn erhobenen messianischen Anspruch durch große Teile Israels gesetzt wird. Es mag sein, dass diese frühe Form judenchristlicher Abgrenzung ihren polemischen Ausdruck in zwei vielleicht sehr alten Formeln gefunden hat, die Günter Haufe 24 als traditionsgeschichtlichen Hintergrund von 1Thess 2,15a vermutet hat: Dabei handelt es sich zum einen um eine »alte vorsynoptische Tradition« 25 , die die deuteronomistische Tradition vom gewaltsamen Geschick der Propheten 26 auf die nicht christusgläubigen Juden anwandte und die sich neben 1Thess 2,15a auch in Mt 23,31-36; Lk 11,47-51 und Lk 13,34 niedergeschlagen hat. Zum anderen um eine »wohl ähnlich alte, in die Missionsreden der Apg und in Joh aufgenommene kerygmatische Formulierung, die in polemischer Zuspitzung von der Tötung Jesu durch Juden sprach« 27 (Apg 2,23.36; 3,15; 4,10; Joh 5,18; 7,19f.25; 8,37.40; 11,53; vgl. auch das Gleichnis von den bösen Weingärtnern Mk 12,1-9par). Beide Traditionen könnten vor dem Hintergrund der weitgehenden Erfolglosigkeit der Israelmission von judenchristlichen Missionaren verknüpft sowie um die Aussage über die Verfolgung der Jesusboten durch Juden erweitert worden sein und in dieser Form dann Eingang in 1Thess 2,15a gefunden haben. Das stark eschatologisch geprägte Selbstbewusstsein der frühen Christen ist zugleich aber auch der sachliche Grund für eine besondere Entwicklung innerhalb dieser Gruppe gewesen: die Öffnung gegenüber den Menschen aus den Völkern, deren Herbeiströmen und Bekehrung zum traditionellen Repertoire jüdisch-eschatologischer Erwartungen gehörte. Dies bedeutete eine Weichenstellung, die sich in der weiteren Geschichte als besonders folgenschwer erwiesen hat, und es hat wohl kaum eine andere Frage die Gruppe der Jesus-Bekenner im ersten Jahrhundert in solcher Weise umgetrieben wie die der Hinzunahme von Menschen aus den Völkern. Interessant ist dabei zweierlei: a) Das gesamte Spektrum der unterschiedlichen Haltungen, mit denen jüdische Gruppen auf den Hellenisierungsdruck reagiert hatten - zwischen Assimilation und Abgrenzung - finden wir auch unter den frühen Jesus-Bekennern im Blick auf die Frage der Heidenmission, wenn man die paulinische Missionstheologie auf der einen und die Ein- 44 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Kontroverse stellung christlicher Pharisäer (Apg 15, 5) auf der anderen Seite als Eckpunkte betrachtet. b) Kennzeichnend für die Öffnung gegenüber den Heiden ist zunächst, dass sie konzeptionell so gefasst wird, dass sie im Rahmen der »impliziten Axiome« des Judentums begründet werden kann. Unter »impliziten Axiomen« verstehe ich im Anschluss an Dietrich Ritschl 28 und Gerd Theißen 29 regulative Sätze, die ein religiöses System steuern und die auch dort, wo sie nicht explizit genannt sind, grundlegenden Charakter für dieses religiöse System haben. Das Aufrechterhalten bzw. Verändern solcher für das Judentum impliziter Axiome ist ein wesentlicher Indikator für den Grad der Ausdifferenzierung des frühen Christentums aus dem Judentum. Es gab im frühen Christentum durchaus unterschiedliche Versuche, das Hinzukommen von Menschen aus den Völkern so zu beschreiben, dass die impliziten Axiome des Judentums davon unberührt blieben. Von diesen Versuchen waren die im sog. »Aposteldekret« genannten »Jakobusklauseln« (Apg 15,20.29) sicherlich historisch von besonderer Bedeutung. Daneben gab es aber auch andere Versuche, die Öffnung gegenüber Heiden bzw. das missionarische Überschreiten der Grenzen Israels im Rahmen jüdischer Traditionen zu begründen. So die hinter Gal 2,9 sichtbar werdende Ekklesiologie der getrennten Bereiche, der aus der Sicht des Jakobus offensichtlich die Vorstellung zugrunde lag, »Gott habe neben dem eschatologisch gesammelten und restaurierten Israel sich ein (assoziiertes) Volk aus den Heiden erwählt«, 30 eine Sichtweise, deren ekklesiologische Konsequenz eine Trennung von judenchristlichen und heidenchristlichen Gemeinden bedeutete. Oder die Berufung auf die tritojesajanische Verheißung Jes 56,3ff, die bei den Hellenisten, die eine Vorreiterrolle bei der Heidenmission gespielt haben dürften, und insbesondere in der Missionspraxis des Philippus von Bedeutung war. Denn sie ließ die Einbeziehung von »Verschnittenen« und »Fremden« als Erfüllung prophetischer Verheißungen verstehen und lieferte damit die heilsgeschichtliche Legitimation für die Samaritaner- und Heidenmission. 31 Nicht zuletzt ist auf das MtEv zu verweisen, das in 10,5b.6 und 28,19f zwei einander scheinbar widersprechende Sendungsaufträge (zu Israel, zu den Völkern) bietet, die m.E. jedoch im Sinne der Komplementarität aufeinander zu beziehen sind. 32 Demnach bilden die Restitution Israels und die Bekehrung der Heiden die komplementären Aspekte der einen messianischen Sendung Jesu und seiner Jünger. Wenn wir als ein implizites Axiom des Judentums die besondere Stellung Israels im Gegenüber zur Völkerwelt annehmen dürfen, so wird dieses Axiom durch keine der genannten Konzeptionen infrage gestellt; vielmehr bleibt die Unterscheidung zwischen Israel und den Völkern hier durchgängig konstitutiv. Dies änderte sich erst dort, wo durch die Praxis gemeinschaftlichen Lebens, speziell durch die Tischgemeinschaft von Juden- und Heidenchristen (Kommensalität) 33 eine neue Situation geschaffen war, die nicht mehr mit den Kategorien jüdischen Selbstverständnisses zu fassen war. Als wie problematisch eine solche Praxis empfunden wurde, zeigt mit aller Deutlichkeit der sog. Antiochenische Konflikt (Gal 2,11-16). Die mit dieser Lebenspraxis verbundene Veränderung eines für das Judentum maßgeblichen impliziten Axioms machte die Konstituierung einer neuen, gegenüber Juden wie Heiden unterschiedenen, religiösen Identität notwendig. Ekkehard Stegemann hat vermutet, dass der Versuch einer solchen Identitätsfindung in 1Kor 10,32 sichtbar wird, 34 wo Paulus die »Gemeinde Gottes« als eine dritte Größe Juden und Heiden gegenüberstellt. Gekennzeichnet sei diese neue Identität der ekklesia aus Juden und Heiden durch die eschatologische Gabe des Geistes, der die Differenz von Beschneidung und Unbeschnittenheit zwar nicht grundsätzlich, wohl aber in ihrer soteriologischen Relevanz aufhebt. In ähnlicher Weise ist auch die ekklesiologische Funktion der paulinischen Rede vom Glauben zu begreifen 35 : Der Glaube (pistis) ist für Paulus das zentrale Kennzeichen der christlichen Gemeinden, das Abgrenzung und Unterscheidung sowohl gegenüber Heiden (2Kor 6,14 - 7,1; 1Kor 5,9 - 6,11) 36 als auch gegenüber nicht christusgläubigen Juden (Röm 11,17-24) 37 ermöglicht, aufgrund seiner integrativen Funktion die Gruppenidentität frühchristlicher Gemeinden konstituiert und einen wesentlichen Faktor ihrer Stabilität darstellt. Hierin ist die »soziologische Spitze« der paulinischen Rede von der Rechtfertigung aus Glauben zu sehen. In seinem Abrahams-Midrasch in Röm 4 tritt deutlich zutage, dass Paulus sein Verständnis von Glaubensgerechtigkeit mit dem Ziel darlegt, zur Integration der traditionell verfeindeten Gruppen der Juden und Heiden in der christlichen Ge- ZNT 8 (4. Jg. 2001) 45 Axel von Dobbeler Wo liegen die Wurzeln des christlichen Antijudaismus? meinde beizutragen. 38 Er reagiert damit auf ein zentrales Problem der Mission und des Gemeindeaufbaus und argumentiert daher nicht nur grundsätzlich-theologisch, sondern mit einer deutlich gemeindesoziologischen Ausrichtung. Die für die paulinische Rechtfertigungslehre zentrale Auseinandersetzung mit Gen 15,6 in Röm 4 macht deutlich, welch konkrete soziologische Bedeutung die Konzeption der Glaubensgerechtigkeit für Paulus hatte: Durch die Kennzeichnung Abrahams als »Vater aller« gewinnt er einen historischen Bezugspunkt für Juden und Heiden, die damit in die Erwählungsgeschichte Israels einbezogen werden. Ausschlaggebend ist dafür freilich, dass er die pistis zum alleinigen Kriterium einer legitimen Berufung auf Abraham als Vater erhebt und damit auch zur entscheidenden Voraussetzung der Partizipation an den Heilsverheißungen. Die gemeindesoziologische Bedeutung einer solchen These kann im Blick auf das problematische Zusammenleben von Juden und Heiden gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Insofern ist - neben der Pneumatologie - auch das paulinische Glaubensverständnis u.a. von dem Bemühen her zu verstehen, die »Gemeinde Gottes« als eine gegenüber Juden und Heiden dritte Größe zu etablieren und zu legitimieren. 39 4. Für die Frage nach den Wurzeln des christlichen Antijudaismus ist der Plural »Wurzeln« von entscheidender Bedeutung. Jeder monokausale Erklärungsversuch geht hier ins Leere. Vielmehr scheint mir die Entstehung des christlichen Antijudaismus ihren Grund in dem Zusammentreffen und der Verflochtenheit verschiedener Elemente zu haben: a) der innerjüdischen Polemik des »Geschwisterstreits« einer jüdischen Erneuerungsbewegung, b) dem eschatologischen Selbstbewusstsein dieser Bewegung und der Ablehnung des messianischen Anspruchs für Jesus von Nazareth durch die überwiegende Mehrheit der Menschen in Israel, c) dem Hinzukommen von Menschen aus den Völkern und der darauf aufbauenden Praxis der Kommensalität zwischen Juden und Heiden in der christlichen Gemeinde und schließlich d) dem nach der Katastrophe der Zerstörung Jerusalems, des Tempels und der nationalen Identität immens wachsenden Konsolidierungsdruck innerhalb des Judentums und der damit einhergehenden, heterodoxe Gruppen ausgrenzenden Einschränkung der innerjüdischen Pluralität. Anmerkungen 1 DIE ZEIT Nr. 20/ 2000 vom 11.Mai 2000 (= ZEITdokument 2.2000, 6-12). 2 Zur Begriffsdiskussion vgl. J.D.G. Dunn, The Question of Anti-semitism in the New Testament, in: ders. (Hg.), Jews and Christians. The Parting of the Ways A.D. 70 to 135 (WUNT 66), Tübingen 1992, 177-211: 179-182. »Antisemitismus« ist als eine Begriffsbildung des späten 19. Jahrhunderts und durch seine rassenideologische Prägung sicherlich ein ungeeigneter Terminus zur Beschreibung des christlichen Judenhasses. Dunn weist aber zurecht darauf hin, dass auch die Begriffe »Antijudaismus« / »antijüdisch« nicht unproblematisch sind, weil sie eine fest umrissene Größe »Judentum« voraussetzen. Douglas Hares Unterteilung in einen prophetischen, einen judenchristlichen und einen heidenchristlichen Antisemtismus trägt mehr zur Verwirrung als zur Klärung bei; vgl. D.R.A. Hare, The Rejection of the Jews in the Synoptics and Acts, in: A.T. Davies (Hg.), Anti-Semitism and the Foundations of Christianity, New York 1979, 27-47: 28-32. 3 Zu einem solchen Urteil kamen übrigens keineswegs nur christliche Forscher, sondern auch jüdische Gelehrte wie der franzöische Historker Jules Isaac, L’Antisémitisme at-il des racines chrétiennes? , Paris 1960, 21. 4 S. Sandmel, Anti-Semitism in the New Testament, Philadelphia 1978, 163. 5 So R.R. Ruether, Faith and Fratricide. The Theological Roots of Anti-Semitism, New York 1974, 246. 6 Wie R.L. Wilken, The Myth of Christian Beginnings, New York 1979, 197, behauptet. 7 I. Broer, Antijudaismus im Neuen Testament? Versuch einer Annäherung anhand von zwei Texten (1 Thess 2,14-16 und Mt 27,24f), in: L. Oberlinner/ P. Fiedler (Hgg.), Salz der Erde - Licht der Welt, FS A.Vögtle, Stuttgart 1991, 321-355: 326. 8 Vgl. zu der den Juden in 1Thess 2,15 attestierten Menschenfeindlichkeit Tacitus, Hist. V 5: »adversus omnes alios hostile odium«. 9 Die Vertreter der Interpolationshypothese berufen sich zumeist auf die Untersuchung von Birger A. Pearson, 1 Thessalonians 2,13-16. A Deutero-Pauline Interpolation, HThR 64 (1971), 79-94; das Hauptargument für die Annahme einer Interpolation ist, dass V.16c sich nur auf die Zerstörung Jerusalems beziehen könne; demgegenüber hat Robert Jewett zurecht darauf hingewiesen, dass Pearsons Argumentation »an unmistakable quality of retrospection« enthalte (The Thessalonian Correspondence. Pauline Rhetoric and Millenarian Piety, Philadelphia, 1986,37). Nur wer schon um die Katastrophe von 70 wisse, halte den Bezug von 1Thess 2,16c darauf für unausweichlich. Zur Kritik an der Interpolationshypothese vgl. auch Broer, Antijudaismus, 327f; G. Haufe, Der erste Brief des Paulus an die Thessalonicher (ThHK 12/ 1), Leipzig 1999, 4f.42ff 10 So »weiß« z.B. G. Baumbach, Antijudaismus im Neuen 46 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Kontroverse Testament - Fragestellung und Lösungsmöglichkeit, KAIROS 25 (1983), 68-85: 70, nicht nur, dass der einstige Verfolger der Christen, Paulus, Hass auf seine eigene Vergangenheit hegte, sondern sieht sich darüber hinaus noch dort zur psychoanalytischen Diagnose einer »Übertragung« befähigt, wo Paulus sich antijüdisch äußert: in 1Thess 2,14-16 und Phil 3,3ff handele es sich um biographisch gefärbte Aussagen in der Sprache des Konvertiten, die - jedenfalls was 1Thess 2,14ff betrifft - als Projektion des paulinischen Selbsthasses auf die Christus ablehnenden Juden zu beschreiben sind, die er mit seinem »Trauma« belastet; vgl. auch S. Ben-Chorin, Antijüdische Elemente im Neuen Testament, EvTh 40 (1980), 203-214, der davon ausgeht, dass in 1Thess 2,14ff »ein ganz individueller Selbsthass« des Paulus mitspricht (205). 11 Vgl. M.J. Cook, The New Testament and Judaism: An Historical Perspective on the Theme, RExp 84 (1987), 183-199, hält es für »more constructive« die Entstehung des christlichen Antijudaismus zu verstehen »as more in the realm of the natural than the demonic, more in the realm of the inevitable than the unexpected« (188). 12 Vgl. H-F. Weiss, Kirche und Judentum im Matthäusevangelium. Zur Frage des ›Antipharisäismus‹ im ersten Evangelium, ANRW II 26.3, Berlin/ New York 1996, 2038-2098: 2094. 13 O. Michel, Polemik und Scheidung. Eine biblische und religionsgeschichtliche Studie, Jud. 15 (1959), 193-213: 204. 14 Dunn, Question, 184 A.27, schildert zur Illustration als eine »modern parallel« die Heftigkeit mit der z.B. ein Schotte auf »die Schotten« schimpfen kann, die sich während eines Fußballspiels auf eine Prügelei einlassen, ohne dass er damit alle schottischen Zuschauer geschweige denn die Schotten als Nation meint oder sich von den Schotten als seinen Landleuten grundsätzlich distanziert. Man könnte auch auf die in fast schon stereotyper Manier von Deutschen geäußerte Invektive gegen das dummdreiste Auftreten »der Deutschen« im Auslandsurlaub verweisen. 15 Vgl. Weiss, Kirche. 16 D. Flusser, Bemerkungen eines Juden zur christlichen Theologie des Judentums, in: C. Thoma, Christliche Theologie des Judentums, Aschaffenburg 1978, 6-32: 28. 17 Vgl. E.P. Sanders, Jesus and Judaism, Philadelphia 1985/ 3 1991. 18 Vgl. G. Theißen, Jesus im Judentum. Drei Versuche einer Ortsbestimmung, KuI 14 (1999), 93-109. 19 Vgl. R. Scroggs, The Earliest Christian Communities as Sectarian Movement, in: J. Neusner (Hg.), Christianity, Judaism and other Greco-Roman Cults. Studies for Morton Smith at Sixty II: Early Christianity, 1975, 1-23; A.J. Saldarini, Matthew’s Christian-Jewish Community (CSHJ), Chicago, 1994, 107-116; D. C. Sim, The Gospel of Matthew and Christian Judaism. The History and Social Setting of the Matthean Community, Edinburgh 1998. 20 E. Stegemann, Zwischen Juden und Heiden, aber »mehr« als Juden und Heiden? Neutestamentliche Anmerkungen zur Identitätsproblematik des frühen Christentums, KuI 9 (1994), 53-69: 54. 21 Demgegenüber spricht Jacob Neusner zutreffend von »varieties of Judaism« bzw. von »Judaisms« (Varieties of Judaism in the Formative Age, in: Formative Hudaism. Second Series, BJS 41 (1983) 59-89). 22 Nach Dunn, Question, 181, war »Judaism« »a word or concept whose reference was in some dispute, whose range was shifting, whose identity was developing«. 23 Weiss, Kirche, 2041. 24 Haufe, Thessalonicher, 46. 25 Ebd. 26 Vgl. dazu O.H. Steck, Israel und das gewaltsame Geschick der Propheten (WMANT 23), Neukirchen 1967. 27 Haufe, Thessalonicher, 46. 28 D. Ritschl, Der Erfahrung der Wahrheit. Die Steuerung von Denken und Handeln durch implizite Axiome, in: ders., Konzepte, München 1986, 147-166. 29 G. Theißen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, 24f. 30 R. Pesch, Die Apostelgeschichte (Apg 13-28) (EKK V/ 2), Zürich u.a. 1986, 87. 31 Vgl. A. von Dobbeler, Der Evangelist Philippus in der Geschichte des Urchristentums. Eine prosopographische Skizze (TANZ 30), Tübingen 2000, 114ff.306. 32 Vgl. A. von Dobbeler, Die Restitution Israels und die Bekehrung der Heiden. Das Verhältnis von Mt 10,5b.6 und Mt 28,18-20 unter dem Aspekt der Komplementarität. Erwägungen zum Standort des Matthäusevangeliums, ZNW 91 (2000), 18-44. 33 Vgl. Stegemann, Juden, 56 u.ö. 34 Ebd., 58ff. 35 Vgl. A. von Dobbeler, Glaube als Teilhabe. Historische und semantische Grundlagen der paulinischen Theologie und Ekklesiologie des Glaubens (WUNT 2/ 22), Tübingen 1987. 36 Vgl. ebd., 244-248. 37 Vgl. ebd., 248-251; anders als das Verhältnis zu den Heiden bestimmt Paulus freilich die Beziehung zu Israel nicht allein durch Abgrenzung, sondern im Sinne einer differenzierten Identität. 38 Vgl. ebd., 133ff. 166-170. 39 Einen besonderen Akzent gewinnt die gemeindesoziologische Bedeutung von pistis bei Paulus noch dadurch, dass die Rede von den »Hausgenossen des Glaubens« in Gal 6,10 darauf zu deuten scheint, dass Paulus pistis sowohl in vertikaler (als Ausdruck eines neuen Gottesverhältnisses) als auch in horizontaler Hinsicht (als Ausdruck eines die Gemeindeglieder verbindenden Treueverhältnisses) für das wesentliche Identifikationsmerkmal christlicher Gemeinden verstehen konnte; vgl. von Dobbeler, Glaube, 251-273. ZNT 8 (4. Jg. 2001) 47 Axel von Dobbeler Wo liegen die Wurzeln des christlichen Antijudaismus? »Wie wundervoll sind diese Wesen, Die, was nicht deutbar, dennoch deuten, Was nie geschrieben wurde, lesen, Verworrenes beherrschend binden, Und Wege noch im Ewig-Dunkeln finden.« Hugo von Hofmannsthal, Der Tor und der Tod Am Anfang der christlichen Archäologie steht der Legende nach eine Frau: die Mutter des römischen Kaisers Konstantin, Helena (ca. 250-329). Das Finderglück der Kaisermutter schien keine Grenzen zu kennen. Als Mark Twain 1867 in das Heilige Land reiste, hielt er in seinem Reisetagebuch anerkennend-süffisant über die ›heilige Helene‹ fest: »Sie bereiste ganz Palästina und hatte stets Glück. Wann immer die gute alte Enthusiastin einen Gegenstand in ihrer Bibel, Altes oder Neues Testament, erwähnt fand, zog sie los, suchte nach dem Gegenstand und machte nicht halt, bis sie ihn gefunden hatte. Wenn es Adam war, fand sie Adam; wenn es die Arche war, fand sie diese; wenn es Goliath oder Josua war, fand sie diese.« 1 Berühmtheit erlangte ›die gute alte Enthusiastin‹ vor allem durch die Auffindung des Kreuzes Christi. Die gegen Ende des vierten Jahrhunderts wuchernde Helena-Legende gibt ihre durchaus Bedenken erweckende ›archäologische Methode‹ wie folgt wieder: Eine Version läßt sie das Kreuz finden aufgrund mysteriöser Träume. Eine andere berichtet davon, wie sie durch die energische Befragung eines Juden das ›Versteck‹ des Kreuzes in Erfahrung bringt. Doch die Grabung an der angegebenen Stelle fördert nicht ein, sondern drei Kreuze zu Tage. Um nun das wahre Kreuz Christi zu identifizieren, läßt Helena einen Leichnam herbeischaffen. Nacheinander werden die Kreuze auf den Toten gelegt. Bei Kreuz Nummer 1 und 2 - offensichtlich die Kreuze der ›Schächer‹ - tut sich nichts. Bei dritten Kreuz jedoch erwacht der Tote zum Leben. Kein Zweifel: Dieses muß das Kreuz Christi sein. Die moderne Archäologie hat derartige Praktiken weit hinter sich gelassen. Gleichwohl hat sie ein Element der Helena-Legende nie ganz abgestreift: Die ans Magische grenzende Zuversicht, es sei möglich mit Hilfe archäologischer Funde Vergangenes für die Gegenwart wieder ›auferstehen‹ zu lassen. Gerade die Biblische Archäologie bietet eine Fülle von Beispielen für Hals-über-Kopf- Sprünge über den ›garstigen Graben der Geschichte‹ (Lessing). Legitimerweise kann man Knochen, Scherben und Krüge etc. benutzen, um Vergangenheit anschaulich werden zu lassen. Etwas anderes ist es, mit Hilfe ihrer Ansprüche der Gegenwart zu formulieren. Dann tritt Archäologie in die Dienste gegenwärtiger (Symbol-)Politik. Dies tut der Interpretation von Knochen, Krügen und Scherben meistens nicht gut - und der Politik auch nicht. Überflüssig zu sagen, daß es der Interpretation biblischer Schriften ebenfalls nicht förderlich ist. Selbst höchst versierten Archäologen fällt es gelegentlich schwer, beide Gebrauchsweisen der Archäologie voneinander zu unterscheiden. Nur ein Beispiel 2 : Als Yigael Yadin, einer der großen Archäologen dieses Jahrhunderts, in der Judäischen Wüste die Höhlen der Rebellen um Bar Kochba sowie ihre Papyri entdeckte, lud er die gesamte israelische Regierung ein, sich in der Residenz des Präsidenten Ben Zvi einzufinden. Niemand der Geladenen kannte den Grund der Zusammenkunft. Schließlich ergriff Yadin das Wort: »Exzellenz, Herr Präsident des Staates Israel. Ich habe die Ehre, ihnen Briefe zu präsentieren, die der letzte Präsident des Staates Israel verschickte: Bar Kochba.« Der garstige Graben der Geschichte war übersprungen. Ben Zvi und Bar Kochba waren vom Archäologen mit großer rhetorischer Geste zusammengeschweißt zu einer überzeitlichen ›Schicksalsgemeinschaft‹. Dabei spielte es keine Rolle, daß der eine - Bar Kochba - weder ›Präsident‹ war, noch einem ›Staat Israel‹ hätte vorstehen können. Den gab es zu Bar Kochbas Zeiten bereits seit Jahrhunderten nicht mehr. Der andere - Ben Zvi - wird sich vielleicht mit Stolz an seinen ›Amtsvorgänger‹ erinnern lassen haben. Doch ob er sich auch gerne als Repräsentant einer Gruppe von Rebellen verstanden hat? Hermeneutik und Vermittlung Holger Tiedemann Töpfe, Texte, Theorien - Archäologie und Neues Testament 48 ZNT 8 (4. Jg. 2001) ZNT 8 (4. Jg. 2001) 49 Holger Tiedemann Töpfe, Texte, Theorien - Archäologie und Neues Testament Holger Tiedemann Dr. Holger Tiedemann, Jahrgang 1966. Studium der Evangelischen Theologie und Pädagogik in Hamburg. 1998 Promotion im Neuen Testament mit einer Arbeit zum paulinischen Sexualverständnis (Die Erfahrung des Fleisches. Paulus und die Last der Lust, Stuttgart 1998). Zahlreiche Veröffentlichungen in den Bereichen neutestamentliche Geschlechtergeschichte und Kulturanthropologie. Zur Zeit Referent für Grundsatzfragen von Studium und Lehre der Behörde für Wissenschaft und Forschung Hamburg. tiedemann.h@t-online.de Die Beispiele für einen solchen ideologischen Gebrauch von Archäologie ließen sich beliebig vermehren, egal ob es sich bei den Ausgräbern um Juden, Christen, Muslime oder Atheisten handelte. Obwohl Archäologen gerne stolz sind auf die ›harten Arte-Fakte‹, die sie in den Händen halten, und sich nicht selten mokieren über die subjektive Interpretenwillkür von Text-Wissenschaftlern - das interesselose Wohlgefallen, welches sie gelegentlich aufs Panier hoben, war oft so uninteressiert nicht. ›Biblische Archäologie‹? Die letzten zwanzig Jahre haben der archäologischen Forschung zum Neuen Testament eine neue Blüte beschert. Stand sie zuvor nicht selten (und nicht ganz ohne eigene Schuld 3 ) unter Konservativismus- oder gar Fundamentalismusverdacht, so scheint es ihr nun gelungen zu sein, dieses Image abzustreifen. An erster Stelle zu nennen sind hier natürlich Arbeiten, die im Rahmen der (regionalen) ›Galiläa-Archäologie‹ 4 entstanden sind. Doch auch die ›Metropolen-Archäologie‹ außerhalb Palästinas 5 hat unser Verständnis der Welt des Neuen Testaments erheblich erweitert. Etwas überraschend ist daher vielleicht, wenn ich demgegenüber feststelle: Eine ›Archäologie des Neuen Testaments‹ als wissenschaftliche Disziplin hat sich dennoch bisher nicht konstituiert. Es fehlt an theoretischen Grundlegungen ebenso wie an Institutionen und Journalen, die sich der systematisierenden Konstituierung der Disziplin zuwenden würden. Woran liegt das? Blickt man zurück auf die archäologische Erforschung der Welt von Altem und Neuem Testament in diesem Jahrhundert, ergibt sich ein seltsames Mißverhältnis: Viel unbefangener machten Alttestamentler, Orientalisten und Judaisten von der Archäologie Gebrauch als Neutestamentler. Zwar nannte sich die Disziplin, die Archäologie und Textwissenschaft miteinander ins Gespräch zu bringen versuchte, ›Biblische Archäologie‹ (Biblical Archaeology) - doch obwohl diese Fachwissenschaft dem Namen nach das Neue Testament umfaßte, kam es de facto allenfalls am Rande vor. In William Devers Lexikon-Artikel ›Biblical Archaeology‹ heißt es lapidar gegen Schluß: »In diesem Zusammenhang ist wenig zu sagen über Archäologie und neutestamentliche Studien. Biblische Archäologie war fast ausschließlich die Domäne von Forschern, die sich der Hebräischen Bibel zugewandt haben.« 6 Die langandauernde ›archäologische Abstinenz‹ der Neutestamentler - insbesondere in Deutschland - ist erklärungsbedürftig. 7 Ein Grund ist sicher, daß der von ihnen zu betrachtende Zeitabschnitt vergleichsweise klein ist. Doch dieser Hinweis erklärt nicht alles, denn dem kleinen Zeitabschnitt steht immerhin eine beträchtliche geographische Ausweitung gegenüber: Neutestamentler können sich nicht nur auf Syrien und Palästina beschränken - sie müßten auch nach Rom, Korinth, Philippi etc. schauen, um ihrer Textbasis zu entsprechen. Entscheidender jedoch scheint mir zu sein, daß die neutestamentliche Forschung viel stärker ereignis- und ideengeschichtlichen Paradigmen verhaftet blieb, als dies bei der alttestamentlichen der Fall war. 8 Was sich über archäologische Funde erschließen läßt, fällt zumeist in den Bereich des Alltags. Auch alltägliche Gepflogenheiten unterliegen ›Moden‹, einem historischen Wandel. Doch dieser vollzieht sich meistens sehr viel langsamer und unauffälliger als Veränderungen im Bereich der Ereignis- und Ideengeschichte. Kaiser, Prokuratoren, Hohepriester kommen und gehen - zäher hingegen ist das Leben von Öllämpchen, Weinpressen und Wasserkrügen. Christen und Christinnen haben erst sehr spät angefangen, diesen Dingen ihren ›Stempel‹ (das Kreuz, einen Fisch, einen Anker etc.) aufzudrükken. Mit den Mitteln der Archäologie eine christliche Kultur in der Anfangszeit der neuen Religion zu bestimmen, gelingt nicht. 9 Das Christentum verschwindet in dieser Hinsicht im Gesamt einer mediterranen, jüdisch-hellenistisch-römischen Welt. Daraus hat man lange den Schluß gezogen: Dann bräuchte sich neutestamentliche Exegese auch nicht um die Archäologie zu kümmern. Neutestamentler interessierte, was die frühen Christen und Christinnen vom Rest der Welt unterschied. Erst in jüngerer Zeit wird deutlich, daß es zum Verstehen des Neuen Testaments mindestens so hilfreich ist, zu sehen, was sie mit ihren Zeitgenossen verband. Daß die ›Biblische Archäologie‹ das Neue Testament - wenn überhaupt - eher am Rande verhandelte, ist das eine Problem, was sich mit dieser Disziplin aus neutestamentlicher Sicht verbindet. Das andere ist, daß sie sich mit einem bestimmten theologischen Programm verband, welches den Angehörigen der Zunft heute eher Stirnrunzeln bereitet. Die Biblische Archäologie konstituiert sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Es ist die Gründungszeit der archäologischen Gesellschaften in Europa und den USA, die sich die Erforschung des ›Heiligen Landes‹ zur Aufgabe gemacht haben. Eine von ihnen - die 1870 in New York gegründete Palestine Exploration Society - wußte bereits ehe der Spaten zur Hand genommen wurde, was am Ende einer Grabung herauszukommen hatte: »Was immer die biblische Geschichte in bezug auf Zeit, Ort und Umstände als tatsächlich erweist, ist eine Zurückweisung des Unglaubens.« 10 In diesem Programm spiegelt sich eine ganz neue Konstellation in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung wider: Theologie und Kirche machen nun via ›Biblischer Archäologie‹ Gebrauch von Prinzipien und Ansätzen, denen sie zuvor ausgesprochen kritisch gegenüberstanden. Fortan will man kirchlicherseits die ›atheistischen Geistesströmungen‹ Positivismus und Materialismus mit ihren eigenen Mitteln schlagen. Die ›Unwahrheit des Unglaubens‹ zeigt sich nicht mehr, weil sich dem Christen ›im Glauben‹ Wahrheiten erschlossen haben. Sondern: Der Ungläubige zeigt sich uniformiert in bezug auf das, was Biblische Archäologen herausgefunden haben. Die vermeintlich positivistische Wissenschaft Archäologie zeigt, was gewesen ist. Die Zielsetzung der Palestine Exploration Society wirkt heute naiv. Wesentlich verfeinert wurde das Programm der Biblischen Archäologie durch den amerikanischen Orientalisten William F. Albright, der sie in vielerlei Hinsicht revolutioniert und bereichert hat. Seither gehören Datierungen aufgrund der Analyse von Siedlungsschichten (Stratigraphie) und der Beschaffenheit von Keramikfunden zum täglichen Handwerkszeug der Biblischen Archäologen. Doch auch Albrights archäologische Forschung stand weitgehend im Dienste seiner theologischen Anschauungen. Pointiert formuliert: Er grub, um zu zeigen, daß die alttestamentlichen Autoren im wesentlichen zuverlässig berichteten über die Erzväter, den Exodus und die Landnahme (die Welt des Neuen Testaments kommt auch bei ihm nur am Rande vor). Sein Schüler G.E. Wright brachte das Programm auf den Punkt: »Der biblische Glaube hängt vollkommen davon ab, ob die zentralen Ereignisse (z.B. die Berufung Abrahams, die Verheißung des Landes Kanaans, die Eroberung durch Josua etc.) tatsächlich stattgefunden haben.« 11 Mit einem solchen Credo wird es sehr schwierig, Biblische Archäologie als das zu betreiben, was sie sein möchte: eine kritische Wissenschaft. Hier ist immer schon vorentschieden über das, was im Idealfall erst am Ende einer Untersuchung herauskommen soll: historische Erkenntnis. Die Biblische Archäologie geriet in den siebziger Jahren in eine schwere Krise. William Dever u.a. machten daher den Vorschlag, Namen, Aufgaben und Methoden der Disziplin neu zu bestimmen. Es entstand die ›syro-palästinische Archäologie‹. Diese legte nicht nur das theologische Programm der Albright-Schule ad acta, sie intensivierte auch den interdisziplinären Dialog. Fortan hatten Anthropologen, Soziologen und Klimaforscher etc. ein gewichtiges Wort bei der archäologischen Urteilsfindung mitzureden. Gleichwohl: Neutestamentler werden sich nur zögerlich unter das Dach der neuen Disziplin ›syro-palästinische Archäologie‹ begeben können. Aus einem einfachen Grund: Was ist mit Rom? Korinth? Philippi? 50 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Hermeneutik und Vermittlung Der Vorschlag, aus der Biblischen Archäologie eine ›syro-palästinische‹ zu machen, konnte nur Alttestamentlern in den Sinn kommen. Die Neutestamentler gingen bei der von Dever u.a initiierten Reform weitgehend leer aus. Abhilfe könnte der Begriff der ›frühchristlichen Archäologie‹ versprechen. Doch auch hier gibt es Probleme. Das erste Problem ist, daß die Kunsthistoriker schneller waren als die Neutestamentler. Sie haben den Begriff bereits belegt und zwar für die Zeit vom 3. bis zum 7. Jhdt., 12 also eine Zeit, die viel später anhebt als die Zeit der neutestamentlichen Autoren. Das zweite Problem hängt mit dem ersten zusammen: Begeben wir uns auf die Spurensuche nach den archäologischen Relikten der Christinnen und Christen des neutestamentlichen Zeitalters, 13 fragt sich zunächst: Woran könnten wir sie gegebenenfalls erkennen? Um jüdische Siedlungen, Gebäude, Friedhöfe etc. in der Zeit, die hier interessiert, zu identifizieren verfügen wir über sogenannte ›Ethnizitäts-Marker‹. Werden sie nicht zu mechanisch gehandhabt, erlauben sie halbwegs zuverlässige Aussagen. Hierzu zählen größere Vorkommen von Steingefäßen, 14 die Abwesenheit von Schweineknochen an einem Fundort, Ritualbäder (miqwaoth) und Gebeinkästen (Ossuarien), in welchen die Knochen von Toten zur Zweitbestattung niedergelegt wurden. Kommen dann noch bestimmte graphische Zeichen hinzu (hebräischaramäische Inschriften, der siebenarmige Leuchter [Menorah] etc.) können wir halbwegs begründet davon ausgehen: Hier wohnten Jüdinnen und Juden. Über solche ›Marker‹ und Zeichen verfügen Christinnen und Christen erst seit dem 3. Jhdt. Zwar erzählt Henryk Sienkiewicz in seinem Roman ›Quo Vadis? ‹ davon, wie die Christin Lydia zur Zeit Neros einen Fisch in den Sand malt, um sich als Christin zu erkennen zu geben. Doch der Wind hat solche real oder literarisch in den Sand gemalten Fische verweht. Das Bemühen, anhand materieller Relikte eine ›christliche Alltagswelt‹ der Zeit von 4 vor - 150 nach Chr. zu profilieren, war vergeblich. Das heißt natürlich nicht, es hätte eine solche Alltagswelt nicht gegeben. Nur dies: Ihre Ausdruckformen werden für den Archäologen in dieser frühen Zeit nicht clare et distincte greifbar. Erinnerungslandschaften Wer schon einmal nach Israel gereist ist, wird sich möglicherweise zum Widerspruch gereizt fühlen. Wurde ihm oder ihr denn nicht der Abendmahlssaal gezeigt, in welchem Jesus und die Jünger ›in der Nacht da er verraten ward‹ speisten? Waren nicht unter dem Dach der Grabeskirche gleich mehrere christlich höchstbedeutsame Stätten versammelt - der Salbungsstein, der Ort der Kreuzigung sowie das Grab Christi? Was ist mit der Geburtsgrotte in Bethlehem und dem ›Haus des Petrus‹ in Kapernaum? Haben hier nicht Christen und Christinnen ihre Spuren hinterlassen? Das schon. Doch diese Spuren führen kaum weiter zurück als in die Zeit Konstantins. Dem Kaiser, seiner Mutter und seinen Nachfolgern verdanken wir es, daß aus Palästina das ›Heilige Land‹ wurde. Nun, 300 Jahre nach dem Tode Jesu, verwandelt sich die römische Provinz in eine christliche ›Erinnerungslandschaft‹ 15 , in der verehrungswürdige Orte wie Pilze aus dem Boden schießen. Literaturgeschichtlich geht damit ein Novum einher: Ab jetzt verfügen wir über PilgerInnen-Tagebücher, die ausführlich über das, was den Reisenden vor Ort gezeigt wurde, Auskunft geben. Auch vor dem 4. Jhdt. reisten Christen nach Palästina - doch nicht, um ›auf den Spuren Jesu zu wandeln‹. Es ging nicht darum, sich in frommer Versenkung der Magie von Räumen und Ruinen hinzugeben, sondern um angesichts mancher Ungereimtheit in den biblischen Schriften Erkundigungen vor Ort einzuholen, um sich Handschriften biblischer Texte zu besorgen (so z.B. Origenes). Eine offene Frage ist es, wie sich die Erinnerungslandschaft des 4. Jhdts. zu der ›Landschaft Jesu‹ im 1. Jhdts. verhält. Sehr folgenreich wurden in diesem Zusammenhang die Thesen der franziskanischen Archäologen Bellarmino Bagatti und Emmanuele Testa. Sie meinten zeigen zu können, daß sich in der Erinnerungslandschaft des 4. Jhdts. viele Räume, Gebäude und Relikte aufspüren ließen, die tatsächlich in Zusammenhang mit Jesu Weg und Wirken gestanden hätten. Noch heute prägen ihre Thesen (fast alle) Israel-Reiseführer. Ihre Thesen sind allerdings mit einer schweren Hypothek belastet: Sie setzen voraus, es habe in Palästina vom 1. bis zum 4. Jhdt. kontinuierlich Judenchristen gegeben, die die Erinnerung an die Orte und Wege Jesu im wesentlichen zutreffend bewahrt hätten. ZNT 8 (4. Jg. 2001) 51 Holger Tiedemann Töpfe, Texte, Theorien - Archäologie und Neues Testament Das Problem ist, daß wir über solche sich der Denkmalspflege hingebenden Judenchristen nichts wissen. Alles, was Bagatti und Testa als Relikte dieser Judenchristen meinten identifizieren zu können, ließ sich auf weniger gewagte Weise auch anders interpretieren. 16 Insbesondere für Jerusalem stellt sich das Problem, daß es nach der Niederschlagung des Bar-Kochba-Aufstandes (135) durch die Römer Juden - und mit ihnen Judenchristen - verboten ist, Jerusalem bzw. Aelia Capitolina, wie die Stadt nun heißt, zu betreten. Sollte es tatsächlich die von Bagatti und Testa postulierten Judenchristen gegeben haben - nach 135 wird ihnen die Pflege Jerusalemer Ortstraditionen verunmöglicht. Bis auf weiteres wird man sagen müssen: Das kulturelle Gedächtnis der Christinnen und Christen der ersten beiden Jahrhunderte war im Wesentlichen ein ortloses Gedächtnis. Etwas dogmatisch gesprochen: Es konzentrierte sich auf einen Ort, der sich archäologischer Verifizierung entzieht und der im Abendmahl vergegenwärtigt wurde: den Leib Christi. Erst im 4. Jhdt. entdeckten Christinnen und Christen »den Wert des Steins wieder.« 17 Die Wirklichkeit der Töpfe - die Wirklichkeit der Texte Als 1994 die Tel-Dan-Inschrift entdeckt wurde, war dies der Auslöser für eine (noch andauernde) Kontroverse innerhalb der alttestamentlichen Forschung von ungewöhnlicher Schärfe. Die Brisanz des Fundes ergab sich dadurch, daß auf der Inschrift ein ›Haus Davids‹ erwähnt wird. Wenige Jahre zuvor hatten Alttestamentler im Umkreis der ›Kopenhagener Schule‹ bestritten, daß es jemals einen König David gegeben habe. War die Tel-Dan- Inschrift der Beweis, daß es sich bei dem biblischen Monarchen doch um eine reale Person gehandelt haben muß? Handelt es sich bei dem ›Haus Davids‹ aus Tel Dan wirklich um die gleiche Institution, wie sie in den Samuel- und Königsbüchern erkennbar wird? Oder war die Tel-Dan-Inschrift schlicht eine Fälschung? Die heftige Debatte 18 müßte an dieser Stelle nicht weiter interessieren, wenn sie nicht ein Grundsatzproblem berühren würde, das sich gleichermaßen auch für die neutestamentliche Forschung stellt: Ist es möglich, die Welt der Steine, Töpfe und Knochen in Beziehung zu setzen zu den biblischen Schriften? Oder handelt es sich bei den Welten, die von Archäologen und Textwissenschaftlern ›ergraben‹ werden, um grundsätzlich verschiedene? Ansätze, in denen beide Disziplinen strikt getrennt gehalten werden, hat Christian Frevel ›Distinktionsmodelle‹ genannt. 19 Für Distinktionsmodelle wird gegenwärtig vor allem aus drei Gründen plädiert: aus ideologiekritischen sowie aus literatur- und wissenschaftstheoretischen. Das Argument der Ideologiekritik verbindet sich häufig mit literaturtheoretischen Überlegungen. Verwiesen wird darauf, daß die biblischen Texte gar nicht intendieren, historische Berichte zu sein. »Die Texte spiegeln überhaupt nicht Religion wider. Sie sind vielmehr geordnete und interpretierte Sammlungen einer verlorenen Vergangenheit.« 20 Wenn also nach der realen Geschichte hinter einem biblischen Text gefragt wird, überfrachtet man ihn mit einer Fragestellung, die nicht die seine ist. Wir befragen ›Predigten‹ (Thompson) auf die Lebensumstände eines ›Predigers‹ hin und verfehlen damit zwangsläufig ihre Intention. Ideologiekritisch gewendet lautet das Argument: Biblische Texte arbeiten an der Konstituierung eines kollektiven bzw. kulturellen Gedächtnisses, das nicht festhält, ›was gewesen ist‹, sondern: Hier wird über eine fingierte Vergangenheit einschärft, wie sich eine Gemeinschaft verstehen soll. Konsequenz dieser Position: Wer eine Geschichte Israels oder Palästinas schreiben will, muß dafür die Bibel aus der Hand legen und sich auf die Interpretation archäologischer Befunde beschränken. In anderer Weise hat Ferdinand Rohrhirsch 21 für eine strikte Trennung von Textwissenschaft und Archäologie plädiert. Sein Argument entstammt einer von Heidegger und Popper inspirierten Wissenschaftstheorie: Archäologie und Textwissenschaft kommen jeweils aufgrund eigener Methoden und Gegenstandsbereiche zu Geltungsbegründungen. Werden beide Disziplinen verknüpft, fehlt ein übergeordnetes theoretisches Gerüst, das diese archäologisch-textwissenschaftlichen Mischaussagen zustimmungsfähig machen könnte. Radikale Konsequenz dieser Position: Ergebnisse einer Fachwissenschaft sind nicht in eine andere übertragbar, denn: »Die Prämisse der ›einen‹ Wirklichkeit kann von den Fachwissenschaften nicht 52 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Hermeneutik und Vermittlung vorausgesetzt werden (im Sinne methodisch verfügbarer Erkenntnis und Erkenntniskorrektur), weil Aspekte der Wirklichkeit von den Fachwissenschaften zuerst erarbeitet werden. Der Rekurs auf die ›eine‹ Wirklichkeit ist der Rekurs auf eine Hypothese, die sich erfahrungswissenschaftlicher Prüfbarkeit entzieht.« 22 Beide Einwände weisen auf Probleme hin, die eine Archäologie des Neuen Testaments sehr ernstnehmen muß. Gleichwohl möchte ich ihnen nicht in letzter Konsequenz folgen. Archäologie und Textwissenschaft müssen in der Tat sehr lange getrennte Wege gehen - das gilt für die Homer- Forschung ebenso wie für das Alte oder Neue Testament. Sie werden sogar für die jeweils andere Disziplin interessanter, gelingt es ihnen, wirklich getrennte Wege zu gehen! Erst dann fängt die eine Disziplin an etwas zu sagen, was für die andere wirklich neu und stimulierend ist. Doch können wir m.E. nicht von vornherein ausschließen, daß sich ihre Wege gelegentlich auch kreuzen. In der archäologischen und textwissenschaftlichen Praxis haben sich vielfältige Möglichkeiten der Bezugnahme ergeben, die vom Ergebnis her dagegen sprechen, einem radikalen Distinktionsmodell zu folgen. Ich möchte im folgenden drei Möglichkeiten einer solchen Bezugnahme unterscheiden: a) Personal-identifizierende Bezugnahme Vergleichweise selten stoßen Archäologen auf Funde, die sich identifizierend in Beziehung setzen lassen zum Personal des Neuen Testaments. Sieht man einmal von den römischen Kaisern und den Herodianern ab, gibt es - bisher - nur zwei Fälle, wo dies gelungen ist. 23 Der erste hier zu nennende Fund ist die ›Gallio- Inschrift‹ 24 , gefunden zwischen 1885 und 1910 in Delphi. In Apg 18,12ff. ist zu lesen, wie Paulus in Korinth von Juden angezeigt wird und sich vor dem Prokonsul Gallio verantworten muß. Der Fund aus Delphi, ein Brief des Kaiser Claudius an eben jenen Prokonsul (oder seinen Vorgänger), berechtigt nicht nur zu der Annahme, daß es sich bei dem in der Apg erwähnten Gallio um eine historische Person handelt, er zeigt auch, daß der Autor der Apg hier zutreffende historische Informationen besitzt (Gallio war Prokonsul in Achaia). Mehr noch: Die Inschrift könnte auch eine Datierung der Korinth-Aufenthaltes des Paulus ermöglichen: Sie gibt zu verstehen, daß Claudius inzwischen zum 26. Mal zum Imperator ausgerufen ist und zum fünften Mal im Range eines Konsuls steht. Das führt in die Zeit zwischen ca. 50-52. Vorsichtiger formuliert: Die Inschrift erlaubt eine Datierung, wie sie sich der Autor der Apg gedacht hat. Denn daß der Autor der Apg zutreffend über den Namen des Prokonsuls der Achaia in der Zeit zwischen 50 und 52 informiert ist, muß noch nicht heißen, daß er ebenso richtig den Aufenthalt des Paulus in Korinth mit diesem Prokonsul in Verbindung bringt. Die aus der Apg und der Gallio- Inschrift zu gewinnende Vermutung paßt allerdings zu dem, was wir aus den Paulus-Briefen erhellen können, so daß wir den Zweifel hier nicht zu weit treiben brauchen: Paulus wird zwischen ca. 50-52 in Korinth gewesen sein. Der zweite hier zu nennende Fund wurde 1961 in Cäsaräa entdeckt: die Pilatus-Inschrift 25 . Hierbei handelt es sich um die Weihinschrift eines Theaters zu Ehren des Kaisers Tiberius, gestiftet von ›Pontius Pilatus, Praefekt von Judäa‹. Datiert wird diese Inschrift meist in die Zeit zwischen 26 und 37 nach Chr. Der Stifter ist nicht nur aus dem Neuen Testament bekannt, sondern wird auch bei Tacitus (Ann. 15,44), Josephus (Bell Jud. 2,177.169) und Philo (Ad Gaium 299) erwähnt. Zwar nennen Philo, Josephus und Tacitus Pilatus einen ›Prokurator‹, Matthäus bezeichnet ihn als ›Hegemon‹ (Mt 27,11.14) und die Inschrift aus Cäsaräa gibt sein Amt als das eines ›Praefekten‹ wieder. Doch man kann nicht ernsthaft daran zweifeln, daß es sich um die gleiche Person handelt. Gleichwohl, und hierin ist den Distinktionsmodellen recht zu geben: Mit dem ›inschriftlichen Gallio bzw. Pilatus‹ verbinden sich andere lebensweltliche Bezüge als mit ihren Pendants aus dem Neuen Testament. Ihre Funktionen, die Intentionen mit denen sie jeweils charakterisiert werden, sind verschiedene. Doch die ›Hypothese der einen historischen Wirklichkeit‹ (Rohrhirsch), die das eine Mal von einem Inschriften-Meißler, das andere Mal von den Evangelisten beleuchtet würde, hat in diesen Fällen enorm viel Plausibilität für sich. b) Illustrierende Bezugnahme Die meisten archäologischen Funde aus dem neutestamentlichen Zeitalter lassen sich illustrierend in Beziehung setzen zu der im Text aufscheinenden ZNT 8 (4. Jg. 2001) 53 Holger Tiedemann Töpfe, Texte, Theorien - Archäologie und Neues Testament Welt. Das heißt: Sie lassen sich nicht direkt in Verbindung bringen mit bestimmten Personen, Gruppen oder Ereignissen, über die wir aus dem Neuen Testament wissen, wohl aber informieren sie über Alltagsgepflogenheiten, Berufsleben, Praktiken gesellschaftlicher Interaktion oder Konfrontation. Zwei prominente Beispiele: Aus dem Neuen Testament wissen wir, daß Jesu Wirken sich zunächst auf die Gegend um den See Genezareth konzentrierte. Das Neue Testament berichtet von seinen Seefahrten und daß einige seiner Jünger Fischer waren. 26 Bis 1986 wußte man nicht, wie ein Fischerboot in der Zeit des 1. Jhdts. aussah. Alle Darstellungen des ›wunderbaren Fischfangs‹ etc. stammen aus viel späteren Zeiten. Eine Trockenperiode in Israel ließ den Wasserpegel des See Genezareths soweit absinken, daß im Schlamm die Umrisse eine Bootes sichtbar wurden. Mit großem konservatorischen Aufwand wurde der Fund gehoben. Das Boot mißt 8,2 m in der Länge und 2,3 m in der Breite: Platz genug für ca. 15 Personen. Die Radio-Carbon-14-Methode erlaubte eine Datierung zwischen 100 vor und 70 nach Chr. Auch wenn das Boot schon bald das ›Jesus-Boot‹ getauft wurde - der Fund gestattet keine personalidentifizierende Bezugnahme. Er illustriert lediglich, wie die im Neuen Testament erwähnten Boote ausgesehen haben könnten. Das zweite hier zu nennende Beispiel ist ähnlicher Natur: Aus dem Neuen Testament und anderen Schriften wissen wir von einem grausamen Phänomen, von dem lange nur viel spätere bildliche Darstellungen existierten, ohne daß bekannt war, wie es tatsächlich im 1. Jhdt. praktiziert wurde: die Kreuzigung. 27 1968 wurde in einem Vorort von Jerusalem (Giv’at ha Mivtar) ein Grab entdeckt. In ihm ein Ossuar mit der Aufschrift ›Jehohanan bar HGQWL‹. In dem Ossuar befanden sich die Knochen eines Mannes, dessen rechter Hackenknochen noch von einem 11,5 cm langen Nagel durchbohrt war. Eine anatomische Untersuchung des Skelettes ließ Rückschlüsse zu auf die Position des Gekreuzigten, der vermutlich mit ausgebreiteten (durchnagelten) Armen an einem T- Balken hing, die Hüfte verdreht und die Beine angewinkelt. Möglicherweise saß er auf einem Brett (sedecula), durch welches seine Peiniger versuchten, Jehohanans Leidenszeit zu verlängern. Der Fund erlaubt nicht den Rückschluß, auf diese Weise sei Jesus gekreuzigt worden. Er führt nur grausig vor Augen, welcher Techniken man sich bei dieser Folterung bedienen konnte. Auch wenn die archäologisch erschlossene und die textwissenschaftlich rekonstruierte Kreuzigung nicht identifizierend in Beziehung zu setzen sind, so lassen sich doch beide Kreuzigungen als Ausdruck einer - brutalen - gesellschaftlichen Praktik verstehen. c) Kontrastierende Bezugnahme In der Welt der Literatur werden nicht selten normative Welten oder Gegenwelten entworfen. Normative Welten beschreiben, was nach Ansicht einer Majorität idealer Weise der Fall zu sein hat. Entspricht eine Wirklichkeit dieser literarischen Welt nicht, folgt in den Texten oft die Strafe auf den Fuß. Der Entwurf von Gegenwelten basiert auf einem etwas anderen Prinzip: Hier entwirft eine Minorität eine ›andere Welt‹ gegenüber herrschenden Prinzipien: In der Welt ist es so - doch bei JHWH , im ›Königreich Gottes‹ oder ›in Christus‹ ist es anders. Eine heillose Verwirrung entsteht, wenn man diese literarischen Welten als Abbild eines Alltags nimmt, wie er tagtäglich gelebt wird. Dann wird die Archäologie - zu Recht - Einspruch erheben. Der klassische Fall einer solchen Verwechslung liegt vor, wenn etwa aus dem 2. Gebot abgeleitet wird: ›Ein Jude ist, wer keine (Gottes-)Bilder macht‹ (vgl. Ex 20,4 und Dtn 5,8). Dieser normativen Behauptung im Gewand einer empirischen Beobachtung setzt die Archäologie eine Fülle von Funden entgegen, die sich durch den schlichten Satz zusammenfassen läßt: »In Israel gab es Bilder.« 28 Hinzuzufügen ist: Nicht nur in Israel gab es Bilder, sondern auch in den römischen Provinzen Judaea und Syria Palaestina. Die figürlichen Darstellungen auf Mosaiken in Synagogen des 4.-6. Jhdts. legen ein beredtes Zeugnis dafür ab, daß unser aus normativen Textwelten gewonnenes Bild vom Judentum kaum die ganze Lebenswirklichkeit dieser Religion widerspiegelt. Ein anderes Beispiel, diesmal aus dem Bereich der Galiläa-Archäologie: Würden wir Josephus Glauben schenken, hätte selbst das kleinste Dorf in Galiläa im 1. Jhdt. 15.000 Einwohner besessen (Bell. Jud. 3,43). Die Lebenswelt Jesu wäre damit eine der bevölkerungsreichsten Gegenden des römischen Reiches! Die Archäologie hat der Glaubhaftigkeit dieser Angaben des Josephus jeden Bo- 54 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Hermeneutik und Vermittlung den entzogen. Nach sorgfältigen topographischen und ethnoarchäologischen Berechnungen kommt etwa Jonathan Reed 29 für die größten Städte Galiläas - Sepphoris und Tiberias - auf ca. 8-12.000 Einwohner; für Kapernaum setzt er höchstens 1.700 und für Nazareth etwa 400 Einwohner an. Die Angaben des Josephus sind also nichts anderes als eine maßloses Übertreibung. Abermals gilt: Das Galiläa des Josephus ist nicht das der Archäologen - beide intendieren mit ihren Darlegungen Verschiedenes. Doch gäbe es keinen gemeinsamen Bezugspunkt (hier: die geographische Größe ›Galiläa‹), müßte es uns verwehrt bleiben, beide Darstellungen kontrastierend (das heißt hier auch: korrigierend) in Beziehung zu setzen. Der (über-) kritische Anspruch des radikalen Distinktionsmodell würde auf diese Weise implizit zur unkritischen Akzeptanz von Textwelten führen. Ein Distinktionsmodell mit der Option der Kooperation Eben habe ich von archäologischer und textwissenschaftlicher Praxis her (also von bereits erzielten Erkenntnisgewinnen) dafür argumentiert, von radikalen Distinktionsmodellen besser Abstand zu nehmen. Folgt man Humescher Erkenntnistheorie (»From Is there is no Ought« / »Vom Sein gibt es keinen Weg zum Sollen«), ist das kein sehr starkes Argument. Daher möchte ich ihm ein zweites, quasi semiotisches Argument an die Seite stellen. Das radikale Distinktionsmodell lebt von Vorannahmen, die problematischer sind, als es zunächst den Anschein hat. Ihm zugrunde liegt die Annahme von der Eigenständigkeit archäologischer und textwissenschaftlicher Methoden und Gegenstandsbereiche. Doch es fragt sich: Worin unterscheiden sich eigentlich Textwissenschaft und Archäologie? Natürlich durch die Techniken, derer sie sich bei der Interpretation von Vergangenheit bedienen. Radio-Carbon 14 etwa nützt dem Neutestamentler wenig, wenn er die literarischen Schichten z.B. des Johannesevangeliums bestimmen will. Und die 2-Quellen-Theorie wird der aufgeschlossene Archäologe interessiert zur Kenntnis nehmen, bei seiner Arbeit jedoch kaum als hilfreich empfinden. Abseits dieser technischen Aspekte werden vor allem drei Kriterien zur Unterscheidung der Disziplinen ins Feld geführt: a) Archäologie habe sich am Paradigma der Naturwissenschaft zu orientieren, Textwissenschaft an dem einer Geisteswissenschaft; b) die Methode impliziert zugleich eine Aussage über den Gegenstandsbereich: Archäologie habe es mit ›Realien‹ zu tun, Textwissenschaft hingegen mit ›Geistesphänomenen‹; c) der Gegenstandsbereich führt zugleich zu Thesen über den jeweils erhellten Aspekte von Wirklichkeit: Textwissenschaft analysiere die Deutungen von Wirklichkeit, welche schreibende Eliten produziert hätten (und von solchen Eliten tradiert wurden), Archäologie hingegen entdecke Alltagswelten, Praktiken, die oftmals den elitären Weltdeutungen widerstreben (›Volksfrömmigkeit‹). a) Naturwissenschaft versus Geisteswissenschaft Die Biblische Archäologie wandelte sich in den siebziger Jahren zur syro-palästinischen unter dem Einfluß der prozessualen Archäologie. 30 Deren grundlegende Einsicht war es, daß archäologische Funde keinen unmittelbaren Zugang zur Vergangenheit eröffnen, sondern: Ihre gegenwärtige Gestalt ist das Resultat von verformenden Prozessen verschiedenster Natur (Aussortieren, Recyceln, Wegwerfen, Erosion, chemische Prozesse etc.), welche es zu analysieren gilt. Mit diesem Neuansatz ging der Versuch einher, aus einer interpretierenden Wissenschaft eine erklärende zu machen. Was die Archäologen nun ergruben, wurde immer seltener erklärt durch den Einfluß ›großer Persönlichkeiten‹ (die z.B. Reiche gründeten oder imposante Bauwerke errichteten) oder durch die Prägekraft suggestiver ›Ideen‹. Mit Hilfe von Statistik, Geographie, Klimaforschung etc. versuchte man, prinzipiell wiederholbare Reaktionen des Menschen auf eine sich wandelnde Umwelt, Gesetzmäßigkeiten des historischen Wandels zu beschreiben. Abseits des ›hermeneutischen Zirkels‹ sollte ein Verständnis der Vergangenheit eröffnet werden. Nicht das ›Vorverständnis‹ des Archäologen sollte diesen Zugang ermöglichen, sondern eine naturwissenschaftlich inspirierte Datenerhebung. Das Versprechen ließ sich nicht einhalten. Zu hoch war der Preis für den Versuch der prozessualen Archäologie, das interpretierte und interpretierende Subjekt an den Rand des Prozesses historischen Verstehens zu drängen. An diesem Punkt setzt die sogenannte postprozessuale Archäologie ZNT 8 (4. Jg. 2001) 55 Holger Tiedemann Töpfe, Texte, Theorien - Archäologie und Neues Testament an. Programmatisch betitelt ihr Begründer Ian Hodder seine Einführung in die Archäologie »Reading the Past.« 31 Eingezogen ist damit die Demarkationslinie von ›materieller Welt‹ und ›Text‹, denn beide, so Hodder, sind letztlich nichts anderes als Zeichen oder Symbole, 32 die nur lesend interpretiert oder interpretiert gelesen werden können. Zwar kann sich Archäologie in größerem Ausmaß natur- und sozialwissenschaflicher Techniken bedienen als eine Textwissenschaft. Doch sofern sie eine historische Wissenschaft ist, entkommt sie den Fallstricken des (Miß-)Verstehens nicht. b) Realien versus Ideen Die Konsequenz dieses Neuansatzes wird deutlich, wenn man dem gegenüberstellt, was Hans Jörg Nissen in seinem RGG-Artikel ›Archäologie‹ lapidar konstatiert: »Für Perioden, aus denen schriftliche Zeugnisse vorliegen, ergänzt die A(rchäologie) deren Aussagen, wobei sie häufig objektivere Angaben liefert, da Texte meist mit einer bestimmten Absicht verfasst sind.« 33 Die von Nissen angesinnte Unterscheidung - hier, in der materiellen Welt, interesseloses Produzieren, da, in der Textwelt, absichtsvolles Verfassen - läßt sich aus postprozessualer Perspektive nicht aufrechterhalten. Gerade die Palästina-Archäologie zeigt, daß nicht nur Inschriften und Monumente, sondern selbst Steingefäße höchst absichtsvoll verfertigt werden - nämlich um es ihren jüdischen Benutzern zu ermöglichen, der Reinheits-Halacha zu entsprechen. Hier wie auch andernorts ist die materielle Welt Trägerin von ›Ideen‹, die der Archäologe nur um den Preis, seinen Gegenstand zu verfehlen, ausblenden kann. Wenn es häufig heißt, Archäologen würden sich ›stummen‹ 34 Gegenständen zuwenden, Textwissenschaftler hingegen ›sprechenden‹, so ist auch diese Entgegensetzung zu problematisieren, denn z.B. das erwähnte Steingefäß ist Träger einer Botschaft, die etwa für eine jüdische Frau im ersten Jahrhundert klar verständlich ist. Sie weiß, daß sie mit dem Gefäß auch während ihrer Menstruationsphase hantieren kann, ohne daß es zu einer rituellen Verunreinigung kommt. Das Steingefäß ›spricht‹ zu ihr wie die Anweisung eines literarisch fixierten Imperativs. 35 c) Eliten versus Volk Unser Wissen um die Träger literarischer Traditionsprozesse (oder auch um die von ihnen ausgeübten Zensurpraktiken) verführt leicht dazu, den ›Text‹ der Welt der Bildung, des Geistes und der Orthodoxie zuzuschlagen, materielle Relikte jedoch - vor allem, wenn sie in Spannung zu den Texten stehen - unteren Schichten (der ›Volksfrömmigkeit‹). Doch solche Zuweisungen erweisen sich ebenfalls als problematisch, wenn man sich etwa die mythologischen Motive und Tierkreiszeichen, die auf Mosaiken in sechs Synagogen der byzantinischen Zeit entdeckt wurden, vergegenwärtigt. 36 Nichts berechtigt zu dem Schluß, die Nutzer dieser Gebäude seien den Unterschichten zuzurechnen. Auch können wir sie kaum ohne weiteres als Synkretisten oder Heterodoxe ansprechen. In literarischen Texten aufscheinende Maßstäbe späterer Orthodoxie dürfen nicht in frühere Zeiten hineinprojiziert werden - so wie auch die ›Normen‹ materieller Artefakte des 4.-6. Jhdts. eben nur für ihre Zeit aussagekräftig sind. Materielle Relikte vermögen ebenso Produkte von Unter- oder Oberschichten, Orthodoxie oder Heterodoxie zu sein wie Texte. Selbst das aus dem Bereich der Literatur bekannte Phänomen der Zensur findet sich im materiellen Bereich: Nicht selten sind die figürlichen Teile der Mosaike später zerstört worden. Mit anderen Worten: Auch soziographische Entgegensetzungen erlauben es nicht, Archäologie und Textwissenschaft auseinanderzureißen. Archäologie des Neuen Testaments? Eine Archäologie des Neuen Testaments wird bis auf weiteres nichts anderes sein können als eine Archäologie antik-mediterraner Gesellschaften, fokussiert auf die im Neuen Testament erzählte Zeit, den hier erzählten Raum sowie auf die Zeit und den Raum der Erzähler. Ihr Fokus impliziert gegenwärtig nicht, sie sei in der Lage, eine christliche Lebenswelt zu konturieren. Bis auf weiteres und gegenwärtig, denn: Es ist natürlich nicht auszuschließen, daß sich eines Tages anhand neuer archäologischer Funde ›Marker‹ bestimmen lassen, die plausibel als ›christlich‹ zu interpretieren sind. Einhergeht mit der Fokussierung, daß eine Ar- 56 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Hermeneutik und Vermittlung chäologie des Neuen Testaments der Versuchung zu widerstehen hat, Fundlücken der ersten beiden Jahrhunderte durch Funde späterer Zeit beheben zu lassen. Die Eigenständigkeit der Disziplin ›Archäologie des neuen Testaments‹ besteht nicht darin, daß sie der ›interpretierten Welt‹ des Neuen Testaments eine ›reale‹ entgegensetzt, sondern darin, daß sie der mit Hilfe von graphischen Zeichen interpretierten Welt des Neuen Testaments ergänzend, illustrierend und korrigierend die Analyse einer durch materielle Artefakte interpretierten Welt an die Seite stellt. Über eine mögliche Koinzidenz ist dabei so wenig vorentschieden wie über die prinzipielle Unvereinbarkeit der jeweils gewonnenen Einsichten. Die ›Hypothese der einen Welt‹ - so uneinholbar sie für eine jede Wissenschaft ist - muß dabei sowohl von Textwissenschaft wie auch der Archäologie vorausgesetzt werden. Das heißt nicht, dieser interdisziplinäre Dialog sei dazu verpflichtet, zu gleichen Aussagen zu kommen. Nur dies: Ohne die Hypothese der ›einen Welt‹ bliebe unerfindlich, warum sich Aussagen über textlich entworfene und tagtäglich gelebte Welten korrigieren können sollten. Besser, man enträt dieser Möglichkeit nicht zu schnell. Anmerkungen 1 M. Twain, Die Arglosen im Ausland, Frankfurt a.M./ Leipzig 1997, 612. 2 Vgl. A. Elon, Politics and Archaeology, in: N.A. Silberman/ D.B. Small (Hgg.), The Archaeology of Israel. Constructing the Past - Interpreting the Present, Sheffield 1997, 34-47: 40. 3 Vgl. die Beispiele bei R.E. Oster, Use, Misuse and Neglect of Archaeological Evidence in Some Modern Works on 1 Corinthians, ZNW 83 (1983), 52-73; H. Koester, Archäologie und Paulus in Thessalonike, in: L. Bormann u.a. (Hgg.), Religious Propaganda and Missionary Competition in the New Testament (= FS D. Georgi), Leiden 1994, 393-404. 4 Vgl. die Beiträge von E. Meyers (z.B. Jesus und seine galiläische Lebenswelt, ZNT 1 (1998), 27-39), J. Strange, S. Freyne und R. Horsley. - Seinen Blick auf die Nachbarschaft Galiläas - nämlich Samarien - hat J. Zangenberg gerichtet (Samareia. Antike Quellen zur Geschichte und Kultur der Samaritaner in deutscher Übersetzung, Tübingen 1994; ders., Frühes Christentum in Samarien, Tübingen 1998). 5 Zu Rom: P. Lampe, Die stadtrömischen Christen in den ersten beiden Jahrhunderten, Tübingen 2 1989; zu Philippi: P. Pilhofer, Philippi, Bde. 1-2, Tübingen 1995/ 1998. 6 W. Dever, Art. Biblical Archaeology, in: E.M. Meyers (Hg.), The Oxford Encyclopedia of Archaeology in the Near East Vol. 1, New York/ Oxford 1997, 315-319: 319 (meine Übersetzung). - Die Beispiele ließen sich vermehren: Unter dem Stichwort ›Bibelwissenschaft‹ gibt es in der TRE (Bd 6, Berlin/ New York 1980, 316-345) zwar einen 30 Seiten langen Unterabschnitt ›Altes Testament. Archäologie‹. Mit Blick auf das Neue Testament scheinen die Herausgeber gemeint zu haben, auf einen solchen verzichten zu können. - J. Laughlins Einführung Archaeology and the Bible (London/ New York 2000) bricht bereits - anders als es der Titel verspricht - im Jahre 550 vor Chr. ab. 7 Vergl. W. Klaiber, Archäologie und Neues Testament, ZNW 72 (1981), 195-215; P. Pilhofer/ T. Witulski, Archäologie und Neues Testament: Von der Palästinawissenschaft zur lokalgeschichtlichen Methode, in: S. Alkier/ R. Brucker (Hgg.), Exegese und Methodendiskussion, Tübingen 1998, 237-255: 240: »Verglichen mit der benachbarten Disziplinen Altes Testament und Kirchengeschichte erscheint das Neue Testament mithin geradezu als archäologiefreie Zone (…): mehr als 2.000 Jahre Archäologie und Altes Testament, beinahe 2.000 Jahre Archäologie und Kirchengeschichte - dazwischen 100 Jahre archäologiefreie Zone, das Neue Testament …« Vgl. hier auch die Hinweise auf die Ausnahmen von der Regel: Gustaf Dalman, Adolf Deissmann und Joachim Jeremias (ebd., 383-242). 8 Vgl. G. Theißen, Zur forschungsgeschichtlichen Einordnung der soziologischen Fragestellung, in: ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums, Tübingen 2 1983, 3-34. 9 Vgl. A. Effenberger, Frühchristliche Kunst und Kultur. Von den Anfängen bis zum 7. Jahrhundert, Leipzig 1986, 11. 10 Zitiert nach O. Keel u.a., Orte und Landschaften der Bibel, Bd. 1, Zürich/ Göttingen 1984, 367. Hinzuweisen ist darauf, daß sich dieses Programm keineswegs alle archäologischen Gesellschaften zu eigen machten. 11 G.W. Wright, God Who Acts: Biblical Theology as Recital, London 1952, 126. 12 Vgl. neben der in Anm. 9 genannten Arbeit von Effenberger: J. Engemann, Deutung und Bedeutung frühchristlicher Bildwerke, Darmstadt 1997; G. Koch, Christliche Archäologie, in: ders./ W.A. Bienert, Kirchengeschichte I/ Christliche Archäologie, Stuttgart 1989, 79-124. Auch die Forschungsgeschichte von W.H.C. Frend, The Archaeology of Early Christianity, Minneapolis 1998, führt nicht in frühere Zeiten. 13 Der Begriff ›neutestamentliches Zeitalter‹ ist nicht sehr glücklich. Er lädt zu der irrigen Vorstellung ein, eine religiöse Minorität hätte stante pede einen epochalen Umbruch bewerkstelligt. Gemeint ist hier schlicht die ›Zeit der neutestamentlichen Erzähler‹ (also etwa 50-150 n.Chr.) plus die von ihnen ›erzählte Zeit‹ (also etwa 4 v. Chr.-70 n. Chr.). Aus pragmatischen Gründen ausgeklammert bleiben Stammbäume und apokalyptische Visionen. ZNT 8 (4. Jg. 2001) 57 Holger Tiedemann Töpfe, Texte, Theorien - Archäologie und Neues Testament 14 Steingefäße sind nach jüdischen Reinheitsgeboten - anders als andere Gefäße - gegen rituelle ›Unreinheit‹ (wie sie z.B. durch einen Kontakt mit Frauen in ihrer Menstruationsphase entstehen könnte) immun. Sie sind daher im Alltagsleben bequemer zu nutzen. Vgl. R. Deines, Jüdische Steingefäße und pharisäische Frömmigkeit, Tübingen 1993. 15 Vgl. M. Halbwachs, La Topographie légendaire des évangiles en Terre Sainte, Paris 1941. 16 Zu einer ausführlichen Widerlegung der Thesen von Bagatti und Testa vgl. J. Taylor, Christians and the Holy Places. The Myth of Jewish-Christian Origins, Oxford 1993. 17 R. Sennett, Fleisch und Stein. Berlin 1995, 185. - Früher als in Palästina scheint man in Rom dazu übergegangen sein, bestimmte Orte mit der Erinnerung an neutestamentliche Personen zu verbinden: Seit der Mitte des 3. Jahrhunderts wird in einer Anlage unter San Sebastiano an der Via Appia der Apostel Petrus und Paulus gedacht. - Eine christliche Formensprache in der Architektur begegnet erstmals mit der Kirche von Dura Europos am Euphrat (ca. 233-256). Epigraphisch wird das Christentum möglicherweise zum ersten Mal in der Aberkios- Inschrift (ca. 190-216 n. Chr.) greifbar (vgl. L.H. Kant, Earliest Christian Inscription, BR 2001, Heft 1). 18 Heißt es auf der einen Seite, die Kopenhagener Schule propagiere mit ihrem radikalen Ausblendung textlicher Überlieferung nichts anderes als ›postmodernen Hokuspokus‹ (W.G. Dever, Save Us from Postmodern Malarkey, BAR 26/ 2 (2000), 28-35; 68), so revanchiert man sich aus Kopenhagen mit Sätzen wie: »Historisch-kritische Wissenschaft basiert auf einer falschen Methodologie und führt zu falschen Schlußfolgerungen. Wir können daher 200 Jahre biblischer Wissenschaft ignorieren und sie dem Mülleimer übergeben« (N.P. Lemche, On the Problems of Reconstructing Pre-Hellenistic Israelite (Palestinian) History, The Journal of Hebrew Scriptures 3 (2000), 1-14: 6 [meine Übersetzung]). 19 C. Frevel, »Dies ist der Ort, von dem geschrieben steht …«. Zum Verhältnis von Bibelwissenschaft und Palästinaarchäologie, BN 47 (1989), 35-90: 43. Vom Distinktionsmodell unterscheidet Frevel das Affirmationsmodell (Archäologie wird eingesetzt, um den Bibeltext zu bestätigen), das Ancilla-Modell (Archäologie wird als ›Magd‹ der Bibelwissenschaft verstanden) und das Kooperationsmodell (Archäologie und Exegese sind jeweils eigenständige Wissenschaften, die sich gleichwohl durch Einzelanalysen korrelieren lassen). 20 T.L. Thompson, Das Alte Testament als theologische Disziplin, JBTh 10 (1995), 157-173: 164. 21 F. Rohrhirsch, Wissenschaftstheorie und Qumran, Freiburg/ Göttingen 1996. 22 Ebd., 88. 23 Ein dritter Fall könnte vorliegen bei dem 1990 in Jerusalem gefundenen ›Grab des Caiphas‹, Hoherpriester zur Zeit Jesu, im Neuen Testament und den rabbinischen Schriften häufig erwähnt. Ein Ossuar in der Höhle trägt die Aufschrift ›Joseph bar Caiaphas‹ - hierbei könnte es sich um einen Verwandten des Hohenpriesters handeln, der in der Passionsgeschichte eine so große Rolle spielt. 24 Vgl. G. Lüdemann, Paulus, der Heidenapostel, Bd. 1: Studien zur Chronologie, Göttingen 1980, 181ff. 25 Vgl. H.K. Bond, Pontius Pilatus in History and Interpretation, Cambridge 1998. 26 Die sozialgeschichtliche Bedeutsamkeit dieser Notizen wird in Erinnerung gerufen von K.C. Hanson, The Galilean Fishing Economy and the Jesus Tradition, Biblical Theology Bulletin 27 (1997), 99-111. Zum ›Galiläa- Boot‹ vgl. S. Wachsmann, The Sea of Galilee Boat, New York 2000. 27 Vgl. M. Hengel, Crucifixion in the Ancient World and the Folly of the Message of the Cross, Philadelphia 1977; J. Zias/ E. Sekels, The Crucified Man from Givat ha- Mivtar: A Reappraisel, IEJ 45 (1985), 22-27. 28 Vgl. S. Schroer, In Israel gab es Bilder, Göttingen 1987. 29 J.L. Reed, Archaeology and the Galilean Jesus, Harrisburg 2000, 62-99. 30 Zu den Konzeptionen von prozessualer und postprozessualer Archäologie vgl. die ausgezeichnete Darstellung von R. Bernbeck, Theorien in der Archäologie, Tübingen 1997, 35-84; 271-294. 31 Ian Hodder, Reading the Past, Cambridge 2 1991. 32 Ebd., 153f. 33 Archäologie (H.J. Nissen), RGG 1, Tübingen 4 1998, Sp. 708. 34 So z.B. R. de Vaux, On Right and Wrong Uses of Archaeology, in: J.A: Sanders (Hg.), Near Eastern Archaeology in the Twentieth Century, New York 1970, 64-80: 65. 35 Vgl. auch E.A. Knauf, From History to Interpretation, in: D. Edelman (Hg.), The Fabric of History, Sheffield 1991, 26-64: 41: »Tatsächlich schweigt das archäologische Zeugnis nicht mehr als die Torah für jemanden, der kein Hebräisch lesen kann« (meine Übersetzung). 36 Vgl. Z. Weiss, The Sepphoris Synagogue Mosaic, BAR 26/ 5,48-61 (2000); L.A. Roussin, Helios in the Synagogue. Did Some Ancient Jews Worship the Sun God? , BAR 27/ 2 (2001), 52-56. 58 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Hermeneutik und Vermittlung Buchreport ZNT 8 (4. Jg. 2001) 59 P. Fiedler / G. Dautzenberg (Hrsg.) Studien zu einer neutestamentlichen Hermeneutik nach Auschwitz Stuttgarter Biblische Aufsatzbände 27, Stuttgart 1999. In einer Zeit, in der sich der Herrenrassenglaube wieder mordend und brandschatzend in das Bewußtsein der Zeitgenossen schiebt, feierte der Zentralrat der Juden in Deutschland sein 50jähriges Bestehen. Die Ausgabe der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung vom 19.7.2000 widmete diesem Anlaß ein großes Dossier. Darin wurde viel über das deutsch-jüdische Verhältnis der vergangenen 50 Jahre »nach Auschwitz« nachgedacht. Aus jüdischer Perspektive stellte man zwar Fortschritte auf dem Weg zu einer Annäherung fest, doch kaum auf der ganzen Linie. Rückschläge gibt es allerorten in, wie Henryk M. Broder titelte, »Deutschland einig Walserland« - diesen Titel immerhin noch mit einem Fragezeichen versehend. Doch schloß der Autor seine kritische Auswertung deutscher Erinnerungsbereitschaft und also des Verhältnisses zwischen Deutschen und Juden mit der wenig hoffnungsvollen Feststellung: »Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen«. Immer noch wird mangelnde Bereitschaft der Deutschen zur konsequenten Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit konstatiert. Doch auch das, was wie ein Fortschritt in der Annäherung wirken mag, stößt oft nicht auf Gegenliebe von der anderen Seite. So trug die Journalistin Sylke Tempel in ihrem Dossierbeitrag allerlei Stilblüten neuer plüschäugiger Judentumsbegeisterung zusammen. Ob es die Allgegenwärtigkeit der Klezmerhörigkeit unter den Gojim ist oder die Tatsache, daß zwischen »Flensburg und Garmisch-Partenkirchen, Chemnitz und Wanne-Eickel … deutsche Hausfrauen ihre Rezepte für Semmelknödel oder Matjesfilet weg[packen], um sich in koscheren Kochkursen ihrer örtlichen Volkshochschule der Herstellung von Gefillte Fisch und Mazzeknödel zu widmen.« Solches konnte die Autorin nur als Kompensationsverhalten werten, das auf seine Art deutlich macht, ein wie weiter Weg uns vom »Normalzustand« trennt. Dialog in ökumenischer Perspektive Seit jeher stehen Christen in einem besonderen Dialogverhältnis mit Juden über die Fragen des jeweiligen Glaubens. Spätestens »seit Auschwitz« stehen Christen in Deutschland in ganz besonderer Verantwortung, einerseits die an Antijudaismus reiche Geschichte der Kirche kritisch zu sichten, andererseits neue Gesprächsansätze theologisch zu bedenken. Ein Buch in dieser Linie will der nun von den Herausgebern Peter Fiedler und Gerhard Dautzenberg vorgelegte Aufsatzband »Studien zu einer neutestamentlichen Hermeneutik nach Auschwitz« sein. Dieser Band ist vorzugsweise für Leser gedacht, die selbst in der kirchlichen Verkündigung stehen und Auskunft über die neutestamentlichen Schriften und ihr Verhältnis zum Judentum ihrer Zeit zu geben haben und dabei auch deren judentumskritische Aussagen erklären müssen. Am Anfang der Lektüre steht die Überraschung. Der Band bietet, seinem Titel zum Trotz, nicht Reflexionen deutscher Exegeten. Stattdessen haben sich die Herausgeber zur Veröffentlichung ursprünglich englischsprachiger Beiträge in deutscher Übersetzung entschlossen. Allen diesen ist freilich gemeinsam, daß sie die für Deutsche und also auch für deutsche Theologen relevante Perspektive des »nach Auschwitz« so nicht teilen. Von der Schwierigkeit, vergleichbar unvoreingenommene Beiträge von deutschen Exegeten einzuwerben, berichten die Herausgeber in ihrem Vorwort. Den von offizieller kirchlicher Seite (hier wären neben die im Vorwort erwähnte Erklärung der deutschen Bischöfe auch etwa die Studien des Rates der EKD zu stellen) bereits deklarierten Paradigmenwechsel im »Verzicht auf eine judenfeindliche Auslegung Jesu und der urkirchlichen Verkündigung« (VIII) sehen die Herausgeber weder von deutscher exegetischer Seite noch in den praktischen Unterrichts- und Verkündigungshilfen für Schulen und Gemeinden eingelöst. Daher greifen Fiedler und Dautzenberg auf die Arbeiten der eng- 60 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Buchreport lischsprachigen Forschung zurück, um zu demonstrieren, wie die »kirchliche Neuorientierung im Verhältnis zum Judentum als hermeneutisches Prinzip wirksam werden« kann (IX). Fiedler und Dautzenberg wollen mit ihrem Band zugleich den »ökumenischen Horizont« der Aufgabe eröffnen. Das ist erfreulich, entbindet aber letztlich nicht von der dringenden Frage, wie ein Band zur »neutestamentlichen Hermeneutik nach Auschwitz« von deutscher Seite auszusehen hätte. Die Bemühungen darum sind allerdings auch in der deutschen Exegese längst angelaufen, wie allein die von Fiedler/ Dautzenberg selbst genannten Veröffentlichungen R. Kamplings und H. Frankemölles 1 für die katholische Seite zeigen. Dem sind evangelischerseits grundlegend z.B. die Arbeiten von P. von der Osten-Sacken und R. Rendtorff an die Seite zu stellen. Der exegetische Beitrag zum Dialog Die Herausgeber haben die Beiträge gewichtiger Autoren (A.J. Saldarini, B.D. Chilton, P.A. Cunningham, U.C. van der Wahlde, J.D.G. Dunn, F.C. Holmgren, P. Borgen, M.C. Boys) entlang den kanonischen Grenzen des Neuen Testaments geordnet. Dabei haben sie sich dankenswerter Weise nicht mit einer einfachen Übersetzung der Artikel begnügt, sondern sich auch der Mühe unterzogen, die Anmerkungen so zu bearbeiten, daß sich nun neben Hinweisen auf die englische Diskussion auch solche auf vergleichbare deutschsprachige Literatur finden. Die Aufsätze berücksichtigen die »Welt Jesu«, die synoptischen Evangelien, das Johannesevangelium, das paulinische Korpus und die Johannesoffenbarung und lassen die je besonderen schriftstellerischen Profile und kontextgebundenen Haltungen der antiken Autoren deutlich werden. Die Beiträge von Holmgren und Boys zeigen Perspektiven für die praktisch-theologische Diskussion auf. Im Vordergrund aller Beiträge steht das Bemühen, Texte des Neuen Testaments, die in der Kirchengeschichte gerne antijudaistisch interpretiert wurden, auf ihrem historischen Hintergrund als Zeugnisse der Auseinandersetzung zwischen verschiedenen jüdischen Gruppierungen verständlich zu machen: zwischen solchen, die Jesus als ihren Messias anerkannten und solchen, die eben das nicht taten. Wird die historische Perspektive ernst genommen, ist schließlich nicht erklärungsbedürftig, wie es angesichts des Christenums noch Juden geben kann, sondern vielmehr umgekehrt, wie es überhaupt zu einem vom Judentum getrennten Christentum kommen konnte. Alle in diesem Buch versammelten Beiträge wollen mehr sein, als liebenswerte Produkte des exegetischen Schreibstübchens. Alle haben den Anspruch, die exegetischen Einsichten unmittelbar für den Dialog zwischen Christentum und Judentum fruchtbar zu machen. Man kann den Ertrag dieses Bandes und zugleich den besonderen Beitrag exegetischer Arbeiten zu diesem Dialog unter den beiden Stichwörtern »Differenzierung« und »Kontextualisierung« gut zusammenfassen. 1. Differenzierung Die Exegetenzunft kann darum in besonderer Weise die Bemühungen um den christlich-jüdischen Dialog informiert halten, weil sie von historischer Seite das Bewußtsein für die Diversität des Frühjudentums zu schärfen in der Lage ist, aus der heraus sich das Christentum entwickelte. Dadurch ist auch für eine heutige differenzierte Verhältnisbestimmung viel gewonnen. Denn damals wie heute gilt: »Das Judentum hat viele Gesichter« 2 , nicht anders als auch das Christentum. Jeder Dialog vertritt nur ausschnitthaft die Religionen und tut gut daran, sich dieser Tatsache bewußt zu bleiben. In den vergangenen Jahrzehnten ist von der historischen, judaistischen und neutestamentlichen Forschung klarer das Profil des Judentums in hellenistisch-römischer Zeit herausgearbeitet und seine Eigenständigkeit insbesondere gegenüber dem späteren rabbinischen Judentum deutlich geworden. In dem Maße, in dem das Judentum differenzierter beschrieben werden konnte, war es auch möglich, die Entstehungsgeschichte frühchristlicher Schriften und die Entwicklung christlicher Gruppierungen genauer in dieses Bild einzuzeichnen. Die verschiedenen Profile neutestamentlicher Autoren konnten dadurch wesentlich besser erfaßt werden. Diesen Erkenntnisgewinn bieten die von Fiedler und Dautzenberg zusammengetragenen Aufsätze in guten Überblicken dar. Die Autoren zeigen je für die von ihnen behandelten Schriften auf, wie sich die Abgrenzung von der jüdischen Umwelt vollzog, und welche Rolle die antijüdische Polemik dabei für die eigene Identitätsfindung der frühchristlichen Gruppen übernahm. Der zunehmende heidenchristliche Einfluß auf diesen Trennungsprozeß wird von Fall zu Fall deutlich. Schwierig erscheint allerdings die in den Beiträgen von Chilton zu Jesus und von Cunningham zu den synoptischen Evangelien vertretene These, daß bereits in der Generation der Evangelisten der entscheidende Trennungsstrich gezogen war und zu dieser Zeit die ursprünglich innerjüdische Polemik bereits ihre volle antijüdische Kraft entfaltete hätte. Dagegen sind allerdings die von J.D.G. Dunn im selben Band zum paulinischen Schrifttum ausgeführten Sachverhalte zu bedenken. Mit Recht weist er auf die große Nähe hin, die Christen bis in die Spätantike hinein zum Judentum aufwiesen, und die besonders für den kleinasiatischen Raum durch die Quellenlage gut bezeugt ist, in- ZNT 8 (4. Jg. 2001) 61 Buchreport sofern die beständigen Aufrufe kirchlicher Autoritäten an ihre Gläubigen, sich von jüdischen Gebräuchen fern zu halten, einen Anhalt in den realen Verhältnissen gehabt haben müssen. In dieser Perspektive scheint der Trennungsprozeß zwischen beiden Religionen wesentlich längere Zeit in Anspruch genommen zu haben, und erscheinen die durch die religiösen Autoritäten beider Seiten vorgenommenen polemischen Abgrenzungserklärungen in einem anderen Licht. Besonders der Blick auf die jüdische Diaspora, der sich natürlich in der Paulusexegese besonders nahe legt, läßt auch den Aspekt geographisch wohl unterschiedlich verlaufener Differenzierungsprozesse hervortreten. Daher sollte man auch das von Cunningham für das Lukasevangelium ins Spiel gebrachte Datum 70 n. Chr. zwar beachten, aber doch nicht überbewerten. Wenn, wie Cunningham herausarbeitet, Lukas angesichts des Ausgangs des jüdischen Krieges die Unschuld und Nichtbeteiligung der Christen durch eine besonders römerfreundliche Darstellung nahezulegen versucht, so muß das noch nicht entfremdende Wirkung zwischen Juden und Christen entfaltet haben. Flavius Josephus hat in seinem Geschichtswerk schließlich gar nichts anderes getan und konnte dabei doch ganz jüdisch bleiben. 2. Kontextualisierung Mit Flavius Josephus ist bereits der zweite Aspekt der »Kontextualisierung« angesprochen. Die frühchristlichen Schriften stehen nicht einfach »zwischen« Altem Testament und rabbinischem Schrifttum, sondern sie stehen vor allem in einem Kontext zeitgleicher jüdischer Schriften, mit denen gemeinsam sie das frühere und bald kanonisierte hebräische Schrifttum beerben. Auch teilen sie mit ihnen theologische und literarische Eigenheiten, die die spätere rabbinische Literatur nicht aufweist. Diese Tatsache ist im Bewußtsein der neutestamentlichen Forschung ebenfalls erst in den letzten Jahrzehnten zum Tragen gekommen, hat sich jedoch noch kaum ihren Weg in die kirchliche Verkündigung gebahnt. Auch in den Beiträgen bei Fiedler / Dautzenberg fin den sich hierzu nur kurze Hinweise, die deutlich machen, daß sich die Autoren der Beiträge dieses Sachverhalts selbstverständlich bewußt sind. Doch ist mehr Aufklärung für den geneigten Leser notwendig. Insbesondere die Dar legungen von U.C. von Wahlde zum Johannesevangelium in seinem jüdischen Kontext hätten gewinnen können, wären hier die hellenistisch-jüdischen Hintergründe der exklusiven johanneischen Christologie ausführlicher dargestellt worden. Selbstverständlich können Überblicksartikel nicht allen Aspekten gerecht werden. Doch liegt in der Vermittlung des frühjüdischen literarischen Umfelds des NT eine zentrale Aufgabe für Neutestamentler im christlichjüdischen Dialog. Sehr klug hat wiederum Dunn in seinen Überlegungen zu Paulus die Sammelbegriffe »Christentum« und »Judentum« in ihrem hermeneutischen Wert sowohl für die Erfassung der historischen Phänomene der ersten Jahrhunderte als auch für den heutigen Dialog in Frage gestellt. Dagegen weist er darauf hin, daß sich die eigentliche Auseinandersetzung der antiken Autoren um die Selbstbezeichnung »Israel« drehte, die je nach dem für die eigene Gruppe reklamiert und den anderen abgesprochen wurde. In diesem Begriff, so Dunn, kristallisiere sich ungleich genauer die damalige konfliktgeladene Wirklichkeit, in der verwandte Gruppierungen um ein gemeinsames Erbe stritten. Dunn folgert: »Genau in seinem Anspruch, an Israels Erbe teilzuhaben, Israel zu sein, tut dieses früheste Christentum am deutlichsten seinen jüdischen Charakter und seine Anfänge im Judentum des Zweiten Tempels kund. Und wenn ›Israel‹ wirklich auch für das rabbinische Judentum ein Potential für Inklusivität hat, das in dem Ausdruck ›Judentum‹ fehlt, dann lohnt e s sich sicherlich mehr, die Implikationen für den jüdisch-christlichen Dialog zu erforschen, als die Diskussion auf die unumgehbar eher auf Konfrontation hinauslaufenden Ausdrücke ›Judentum‹ und ›Christentum‹ zu beschränken.« [138] Es is t der durch das Qualitätsbegriff »Israel« bezeichnete Kontext, den wiederum die neutestamentliche Exegese sinnvoll zum heutigen Gespräch beizutragen hat. Zur Situation in Deutschland Welches nun ist der moderne, deutsche Gesprächskontext? Diese Frage stellt sich angesichts der von Fiedler / Dautzenberg zusammengetragenen englischsprachigen Beiträge umso nachhaltiger. Wie hätte ein diesem Buch entsprechendes deutsches Pendant auszusehen? Ein deutscher Beitrag wird sich kaum darauf beschränken können, die gleichen Fragen nur intensiver zu stellen 3 . Welche Aspekte haben Exegeten hier prononciert aufzugreifen, wenn sie die Debatte im deutschen Kontext erfolgreich begleiten und informieren wollen? Welches sind Themen einer Perspektive im engen Sinne »nach Auschwitz«? Dazu an dieser Stelle nur zwei Hinweise, die wiederum mit den genannten Aspekten der Differenzierung und der Kontextualisierung zusammenhängen. Stichwort Differenzierung: Die Situation für den Dialog in Deutschland hat sich seit etwa zehn Jahren erheblich verändert. Die jüdischen Gemeinden haben nicht nur stark an Mitgliedern gewonnen, sondern auch an Diversität. Neue kulturelle Impulse, Traditionen und Lebenseinstellungen, die sich der Herkunft neuer Gemeindeglieder aus anderen Ländern verdanken, stehen neben 62 ZNT 8 (4. Jg. 2001) Buchreport dem Wiederaufleben sehr spezifisch deutscher liberal-jüdischer Tradition. War die Antwort auf die Frage, mit wem genau auf jüdischer Seite wir eigentlich unseren Dialog führen, schon länger ein wenig diffus, so ist der Blick jetzt zusätzlich zu schärfen. Aber natürlich ist genau dies der erste Schritt auf dem Weg zu einem gelingenden Gespräch: die Wahrnehmung der Gesprächspartner in all ihrer Unterschiedlichkeit, und umgekehrt die Beachtung der eigenen differenzierten Interessenlage. Gerade die Neubelebung der liberalen Traditionen des deutschen Judentums des 19. Jh.s birgt die Möglichkeit in sich, daß Christen und Juden gemeinsame moderne Wurzeln (nicht zuletzt in bibelwissenschaftlicher Hinsicht) neu sichten und weiterentwickeln. Schließlich wäre es auch hierzulande wünschenswert, daß es zu dem »intensiven Austausch mit jüdischen Bibelwissenschaftlern« kommt, den Fiedler / Dautzenberg in ihrem Vorwort (IX) an Amerika rühmen. Im Hinblick auf solche gemeinsamen Wurzeln wäre die heutige Situation der der Antike gar im weitesten Sinne vergleichbar. Insofern sind auch deutsche Exegeten ganz im Sinne der von Fiedler / Dautzenberg berücksichtigten Beiträge in der Pflicht, Beiträge zur modernen Identitätssuche zu leisten, indem sie präzise Gemeinsamkeit und Unterschiedenheit in den Anfängen der Religionen klären. Stichwort Kontextualisierung: Ein für den deutschen Zusammenhang virulenter Begriff, den Dunn mit seinen Verweisen auf »Israel« als identitätsstiftender Größe angesprochen hat, ist der des Volkes. Die Rede vom »Volk Israel« (als Übersetzung des hebräischen « am Jisrael) hat nicht nur einen theologischen Gehalt, den es im Verhältnis zum Christentum zu eruieren gilt. Im deutschen Kontext kann man den durch die nachhaltige »völkische« und rassistische Mißinterpretation bedingten Klang dieses Terminus wohl kaum ignorieren. Zumal er für theologisch ungeschulte Hörer eine scheinbar natürliche Parallele in der Rede vom »deutschen Volk« haben dürfte, und da sicher die Äquivalenz »Volk Israel« / »Gottesvolk« nicht im Vordergrund steht. Daher scheint es besonders für deutsche neutestamentliche Exegese, die dem Dialog dienen will, geraten, Dunns Überlegungen sehr ernst zu nehmen und auf die hiesigen Bedingungen hin zu entwickeln. Solcherart Klärungen auf historisch-theologischer Basis sind für den Dialog in Deutschland wichtig. Dem von Fiedler und Dautzenberg herausgegebenen Band sind viele ebenso informierte Nachfolger zu wünschen, die - um auf die eingangs zitierten Artikel aus der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung zurückzukommen - dazu beitragen, daß die im interkulturellen Bemühen hergestellten Mazzeknödel auch schmecken. Gabriele Faßbeck Anmerkungen 1 R. Kampling (Hg., »Nun steht aber diese Sache im Evangelium …«. Zur Frage nach den Anfängen des christlichen Antijudaismus, Paderborn u.a. 1999; H. Frankemölle, Jüdische Wurzeln christlicher Theologie, Bodenheim 1998. 2 Vgl. G.S. Rosenthal/ W. Homolka, Das Judentum hat viele Gesichter, Darmstadt 1999. 3 Der von Kampling herausgegebene Band füllt diese Lücke insofern nicht, als er sich zum einen an das exegetische Fachpublikum wendet, zum anderen der deutschen Perspektive nur insoweit gerecht wird, als ausschließlich deutsche Autoren zu Wort kommen. Doch wird der deutsche Gesprächskontext kaum ausdrücklich zum Ausgangspunkt der Betrachtungen gemacht, sondern der christliche Antijudaismus insgesamt. Analyse und Erarbeitung von Predigten: Theorie, Methoden, Praxis Wilfried Engemann Einführung in die Homiletik Theologische Grundlagen - Methodische Ansätze - Analytische Zugänge UTB 2128, 2001, XVI, 502 Seiten, DM 39,80/ 19,90/ SFr 37,- UTB-ISBN 3-8252-2128-8 Das Profil der vorliegenden Einführung in die Homiletik umfaßt alle Themen der Predigtlehre. Eine Besonderheit stellt die einleitende Dokumentation der Probleme der Predigt auf der Basis der Auswertung von Predigten dar. Das Buch enthält außerdem einen eigenen, der Theologie der Predigt gewidmeten Teil, in dem die Aufgabe, das Ziel und die Dimensionen der Predigt erörtert werden. Im Hauptteil des Werkes werden verschiedene Ansätze der Homiletik vorgestellt, und im Hinblick auf ihre Konsequenzen bedacht. Ein Kapitel über die Predigtanalyse stellt in gut verständlicher Weise die wichtigsten Verfahren vor und entwikkelt Fragestellungen, nach denen die Leser auch ihre eigenen Predigten kritisch untersuchen können. Im letzten Teil des Buches wird ein Modell zur Erarbeitung einer Predigt vorgestellt. Ein umfangreiches Register und eine thematisch gegliederte Bibliographie schließen das Buch ab. A. Francke
