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ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
2002
510 Dronsch Strecker Vogel
Heft 10 • 5. Jahrgang (2002) ZEITSCHRIFT l ,~ NEUES TESTAMENT Das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft Herausgegeben von Stefan Alkier, Kurt Erlemann, Roman Heiligenthal Laurence L. Welborn Vom Unterrichten der Bibel im »Ausnahmezustand«. Reflexionen über die hermeneutische Aufgabe eines neutestamentlichen Historikers nach dem 11. September 2001 Oda Wischmeyer Das Selbstverständnis der neutestamentlichen Wissenschaft in Deutschland. Bestandsaufnahme. Kritik. Perspektiven. Ein Bericht auf der Grundlage eines neutestamentlichen Oberseminars Dieter Georgi Aeneas und Abraham. Paulus unter dem Aspekt der Latinität? Michael Bachmann Zur Entstehung (und zur Überwindung) des christlichen Antijudaismus Uwe Böhm/ Gerd Buschmann The »Matrix« und Röm 6- Christliche Taufvorstellungen im popkulturellem Science-Fiction-Ambiente War das frühe Christentum eine Religion? Ulrich Berner vs. Wolfgang Stegemann Buchreport Impressum Herausgeber Stefan Alkier Kurt Erlemann Roman Heiligenthal · in Verbindung mit Klaus Berger Peter Busch Axel von Dobbeler Dirk Frickenschmidt Gabriele Faßbeck Marlis Gielen Matthias Klinghardt Günter Röhser Markus Sasse Holger Tiedemann Manuel Vog el Bernd Wander Jürgen Zangenberg Anschrift der Redaktion Prof. Dr. Stefan Alkier Johann Wolfgang Goethe-Universität Fachbereich Evangelische Theologie Biblische Theologie - Neues Testament z.H.: Kristina Dronsch Grüneburgplatz 1 D-60629 Frankfurt Manuskripte Zuschriften, Beiträge und Rezensionsexemplare werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Verpflichtung zur Besprechung unverlangt eingesandter Bücher besteht nicht. Anzeigen A. Francke Verlag, Tel.: (07071) 9797-0 Bezugsbedingungen Die ZNT erscheint halbjährlich (April bis Oktober) Einzelheft: € 12,-/ sFr 24,zuzügl. Versandkosten Bezugspreis jährlich: € 24,-/ sFr 46,- Vorzugspreis für Studenten jährlich: € 19,- / sFr 38,- (Immatrikulationsbescheinigung beifügen) © 2002 · A. Fra ncke Verlag Tübingen · Basel Alle Rechte vorbehalten ISSN 1435-2249 ISBN 3-7720-9909-2 Umschlagentwurf: Werner Rüb, Bietigheim -B issingen. Satz: Fotosatz Hack, Dußlingen. Druck: Guld e, Tübingen. Bindung: Nädele, Nehren. Neues Testament aktuell Zum Thema Kontroverse Hermeneutik und Vermittlung Buchreport Inhalt Heft 10 · 5. Jg. (2002) Laurence L. Welborn Vom Unterrichten der Bibel im »Ausnahmezustand«. Reflexionen über die hermeneutische Aufgabe eines neutestamentlichen Historikers nach dem 11. September 2001 ........................ 2 Oda Wischmeyer Das Selbstverständnis der neutestamentlichen Wissenschaft in Deutschland. Bestandsaufnahme. Kritik. Perspektiven. Ein Bericht auf der Grundlage eines neutestamentlichen Oberseminars ................ 13 Dieter Georgi Aeneas und Abraham. Paulus unter dem Aspekt der Latinität? ...................................... 37 Michael Bachmann Zur Entstehung (und zur Überwindung) des christlichen Antijudaismus ...................... 44 Einführung zur Kontroverse (K. Erlemann) .. 53 Ulrich Berner vs. Wolfgang Stegemann War das frühe Christentum eine Religion? .... 54 Uwe Böhm/ Gerd Buschmann The »Matrix« und Röm 6- Christliche Taufvorstellung im popkulturellem Science-Fiction -A mbiente .............................. 69 Stefan Alkier Eckart Reinmuth, Hermeneutik des Neuen Testaments .................................... 79 A. Francke Verlag Tübingen und Basel· Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Telefon (07071) 9797-0 · Telefax (07071) 752 88 Internet: http: / / www.francke.de · E-Mail: info@francke.de ZNT im Internet: http: / / www.znt-online.de ZNT 10 (5. Jg. 2002) 1 Editorial Liebe Leserinnen und Leser, wir freuen uns, Ihnen Heft 10 vorlegen zu können, ein Sammelheft, das sich in besonderer Weise um Aktualität, Originalität und Kontinuität bemüht. Dass die Ereignisse vom 11. September 2001 auch Konsequenzen für die Bibelwissenschaften und insbesondere für ihre hermeneutischen Aufgaben angesichts ihrer politisch-ethischen Verantwortung haben, zeigt in eindringlicher Weise der Originalbeitrag von Laurence Welborn auf, den Werner Kahl vom Amerikanischen ins Deutsche übersetzt hat. Die vorangestellte Erläuterung des Übersetzers soll das Verständnis der US-amerikanischen Perspektive der Ausführungen Welborns erleichtern. Es versteht sich - wie für alle Beiträge - von selbst, dass die Position Welborns nicht die Position der Redaktion darstellt. Wohl aber meinen wir, dass Welborns Beitrag eine Diskussion um die Ethik der Interpretation und ihre politischen und hermeneutischen Konsequenzen in der Bibelwissenschaft eröffnet, die für eine zeitgemäße Bewältigung ihrer Aufgaben dringend erforderlich erscheint. Einen aktuellen Überblick über den gegenwärti gen Stand des Faches Neues Testament im deutschsprachigen Raum bietet der informative Bericht eines Forschungsteams, das Oda Wischmeyer in ihrem Oberseminar versammelt hat. Dieter Georgi plädiert in origineller Weise mit seinem exemplarischen Beitrag »Abraham und Aeneas« für eine gebührende Berücksichtigung der lateinischen Textwelt für die Auslegung des Neuen Testaments. Eine durch Gerd Theißens Buch »Die Religion der ersten Christen« angestoßene Debatte greifen Wolfgang Stegemann und Ulrich Berner in der Kontroverse auf, die von Kurt Erlemann eingeleitet wird. War das frühe Christentum eine »Religion«? Kontinuität zu vorangegangenen Heften bringen die Beiträge von Michael Bachmann und Uwe Böhm / Gerd Buschmann ein. Bachmann greift die Kontroverse zwischen Hans-Friedrich Weiß und Axel von Dobbeler zum Thema »Wo liegen die Wurzeln des christlichen Antijudaismus? « aus ZNT 8 auf und bezieht dazu dezidiert Stellung. Böhm und Buschmann wenden sich unter der Rubrik »Hermeneutik und Vermittlung« der Rezeption des Neuen Testaments in Medien der Gegenwart zu, wie es schon in ZNT 1 und ZNT 6 erfolgte. Diesmal wird der Film »Matrix« und dessen Taufvorstellungen mit Röm 6 ins Gespräch gebracht. Stefan Alkier wirbt mit seiner Besprechung der Hermeneutik des Neuen Testaments von Eckart Reinmuth für dessen Anliegen, Hermeneutik als Theorie der Lektüre zu verstehen. Wir wünschen unseren Leserinnen und Lesern mit dem neuen Heft der ZNT Neues zu erfahren, das ihre Arbeit am Neuen Testament unter den Bedingungen unserer Gegenwart voranbringt. Stefan Alkier Kurt Erlemann Roman Heiligenthal In eigener Sache Als die ZNT vor nun mehr als 5 Jahren begründet wurde, beschloss der Gründerkreis, die geschäftsführende Herausgeberschaft Dreien aus ihrer Mitte anzuvertrauen und sie in gewissen Abständen rotieren zu lassen. Dieser Beschluss entstammte dem Vorsatz, in der ZNT die Breite neutestamentlicher Exegese der Gegenwart zu Wort kommen zu lassen und gleichermaßen über aktuelle Trends zu informieren wie auch interessanten Einzelpositionen Gehör zu verschaffen. Mit Heft 10 endet nun die erste Besetzung der geschäftsführenden Herausgeber. Für Kurt Erlemann und Roman Heiligenthal werden ab Heft 11 Axel von Dobbeler und Jürgen Zangenberg die geschäftsführende Herausgeberschaft übernehmen. Ich möchte auch im Namen der anderen Herausgeber und des Verlags ausdrücklich Kurt Erlemann und Roman Heiligenthal für ihr anhaltendes Engagement in der Aufbauphase der Zeitschrift und für die stets kollegiale und konstruktive Zusammenarbeit danken, die maßgeblich dazu beigetragen hat, dass die ZNT bereits nach fünf Jahren eine etablierte und geschätzte Zeitschrift ist. Wir freuen uns darüber, dass beide im erweiterten Herausgeberkreis verbleiben und so der ZNT auch weiterhin mit ihrem Engagement und ihren Anregungen erhalten bleiben. Stefan Alkier 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 1 2 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Neues Testament aktuell Zur Verortung des Beitrags von Laurence L. Welborn Wenige Tage nach dem 11. September sah ich in einer Nachrichtensendung der Deutschen Welle ein Live- Interview mit dem bekannten Psychologen H.E. Richter. Er sollte aus seiner Perspektive zu den Ereignissen Stellung nehmen. Richter warnte vor Schwarz-Weiß-Malerei, nach der wir die Guten und die anderen die Bösen seien. Weit kam der renommierte Friedensforscher mit seinen Ausführungen nicht: Mit barschem Ton brach der junge Moderator das Gespräch vor laufender Kamera ab. Ich wurde Zeuge dieses Vorfalls in großer Entfernung von Europa. Mit Entsetzen nahm ich den Unwillen des Moderators zur differenzierten Betrachtung zur Kenntnis. Solch eine Haltung hätte mich allerdings nicht überrascht, wäre sie von einem amerikanischen Interviewer eingenommen worden. Nun liegt uns ein wiederum überraschender Beitrag des amerikanischen Neutestamentlers Laurence L. Welborn vor. Es ist durchaus erstaunlich, hier eine klare Stimme zu vernehmen, die einen ernsthaften Dialog mit Vertretern des Islam einfordert, zur Versöhnung angesichts der durch Menschen hervorgerufenen Katastrophen aufruft und Schuld eingesteht. Die wahren Gegner von Frieden und Gerechtigkeit sieht Welborn in den christlichen Fundamentalisten unter seinen eigenen Landsleuten. Anders als etwa in Deutschland üben jene einen beträchtlichen kirchlichen und gesellschaftlichen Einfluss aus. Gegen diese Front hat sich historisch-kritische Forschung in den USA auch heute noch zur Wehr zu setzen. In den letzten Jahrzehnten kommen verstärkt die wesentlichen Impulse in den Bibelwissenschaften aus den USA. Der dort stark vorangetriebene interdisziplinäre Austausch zeitigt vielversprechende Ergebnisse in beinahe jedem Spezialgebiet neutestamentlicher Forschung. Bislang sicher geglaubte Erkenntnisse müssen neu überdacht werden. Sich hier vollziehende Paradigmenwechsel sind zumeist das Verdienst amerikanischer Forschung. Der 11. September ist an den Exegeten und Exegetinnen in den USA nicht spurlos vorbeigegangen. Welborns Beitrag stellt eine Antwort auf das unfassbare Geschehen dar. Er spricht sicher für viele, wenn auch nicht für die Mehrheit der amerikanischen Fachkollegen und -kolleginnen. Seine ethischen Reflexionen zur hermeneutischen Aufgabe von neutestamentlichen Historikern angesichts des 11. Septembers stellen eine Spielart von Befreiungstheologien US-amerikanischer Provenienzen dar, vgl. Black Theology, Womanist Theology, Feminist Theology, Post-Colonial Criticism, etc. Von Welborns Beitrag werden nicht nur Anregungen ausgehen. Er mag auch hier und da Unverständnis hervorrufen. Allerdings werden Europäer bei aller tiefen Betroffenheit das Ausmaß der bis ins Mark gehenden und anhaltenden existentiellen Erschütterung, der sich US-Bürger angesichts des 11. Septembers ausgeliefert sehen, kaum in Gänze erfassen. Welborn stellt die Frage nach der Ethik exegetischer Arbeit. Diese Frage ist im hiesigen Kontext höchstens ansatzweise bedacht worden. Sie harrt - diesseits und jenseits des Atlantiks - der Aufarbeitung. Werner Kahl 1. Am Morgen des 11. Septembers 2001 bereitete ich mich darauf vor, die Semestereröffnungsrede an dem Seminar, an dem ich im mittleren Westen der USA unterrichte, zu halten. Um 8.30 Uhr suchte ich die Bibliothek auf, um die Worte eines Zitats, das ich in meiner Rede unterbringen wollte, zu verifizieren. Als ich an den Regalen entlang ging, fiel mein Blick auf einen Band, dessen Titel mir förmlich ins Gesicht sprang: »Warum die Prophezeiungen der Johannesoffenbarung wahr sind«. Zu dem Zeitpunkt, als ich in mein Büro in der Kapelle zurückkehrte, war der erste der Zwillingstürme des World Trade Centers bereits getroffen. Jemand hatte einen Fernseher im Fakultätsbüro aufgestellt, und eine Gruppe Kolleginnen und Kollegen schaute schweigsam zu, wie sich das unheimliche Drama entfaltete. Als ich mich um 11.00 Uhr erhob, um die Eröffnungsrede zu halten, lagen die beiden riesigen Laurence L. Welborn Vom Unterrichten der Bibel im »Ausnahmezustand« Reflexionen über die hermeneutische Aufgabe eines neutestamentlichen Historikers nach dem 11. September 2001 1 Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der »Ausnahmezustand«, in dem wir leben, die Regel ist. Walter Benjamin Geschichtsphilosophische Thesen 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 2 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 3 Laurence L. Welborn Vom Unterrichten der Bibel im »Ausnahmezustand« Türme - stolze Symbole des amerikanischen Kapitalismus - in Trümmern. In jenem Moment, als ich die Versammlung versteinerter Gesichter überblickte - eine Gemeinde, die auf Grund der Krise stark angewachsen war - , fühlte ich mich mehr als jemals zuvor in meinem Leben unfähig, 2 mit einem prophetischen Wort - sei es mit einem Gerichts- oder Trostwort - aufzuwarten, um aus biblischer Perspektive in die gegenwärtige Situation hineinzusprechen. So fand ich mich als Exeget, der in der Tradition von Wredes Definition von neutestamentlicher Theologie als historische Wissenschaft, die sich selbst genug ist, 3 steht, unfähig zu sprechen. Wie hätte ich, dessen Kompetenz in der Erforschung des Lebens der ersten Christen und Christinnen in der griechischrömischen Welt liegt, mir herausnehmen können, einen Riesensprung in die Gegenwart zu wagen und als Prophet zu reden? Die von mir vorbereitete Rede basierte übrigens auf der paulinischen Abhandlung über das Evangelium als Torheit (1Kor 1-4) und nicht, wie ich mir das jetzt eher gewünscht hätte, auf der Klage in der Johannesoffenbarung, dass das große Babylon gefallen ist (Offb 18,2): ein Text, der dieser Situation angemessener wäre. So aber begnügte ich mich mit einer Einleitung zu meinen vorbereiteten Notizen. Hierin paraphrasierte ich das Zitat von Walter Benjamin, 4 das diesem Beitrag vorangestellt ist, wobei ich der Hoffnung Ausdruck verlieh, dass uns die gegenwärtige Krise aufweckt, auf dass wir der Realität gewahr werden, dass der »Ausnahmezustand«, in dem wir uns zur Zeit befinden, für Millionen unterdrückte Menschen in der ganzen Welt eben nicht die Ausnahme, sondern den Regelfall darstellt. In den Monaten, die seit dem 11. September vergangen sind, ist das Gefühl einer unmittelbaren Gefahr für die meisten Amerikaner und Amerikanerinnen gewichen, und zwar trotz des Interesses der Bush-Regierung an einer erhöhten Alarmbereitschaft als Mittel, politische Einheit und Zusammenarbeit mit damit einhergehenden Veränderungen in Gesetzesanwendungen und Steuergesetzgebung zu fördern. Aber die Überzeugung, dass das, was wir am 11. September erlebten, eine »Apokalypse« 5 im antiken Wortsinn war, hat überdauert. Wie auch andere 6 habe ich mir weiterhin darüber Gedanken gemacht, was eigentlich »offenbart« worden war. Der Wunsch danach, auf biblischer Grundlage »prophetisch« 7 zu reden, hat ebenfalls angehalten. Tatsächlich ist mir bewusst geworden, dass ich auf der Suche nach einer Hermeneutik bin, die den realen Ausnahmezustand, in dem die Unterdrückten leben, ernst nimmt, um in den Kampf für Gerechtigkeit und Frieden einzutreten. 8 Im Folgenden werde ich mich diesen zwei Fragen zuwenden und zwar aus der Perspektive eines neutestamentlichen Historikers: »Was wurde durch den 11. September offenbart? «, und »Wie kann ich angesichts dieser Krise authentisch reden? « 2. Zunächst offenbarte die Krise des 11. Septembers, dass der Exeget oder die Exegetin der frühchristlichen Literatur eine Gemeinschaft anzusprechen hat, die größer als die Kirche ist, d.h. die Laurence L. Welborn Laurence L. Welborn, Jahrgang 1954, wuchs in Mississippi (USA) zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung auf, Studium der Theologie an der Yale Divinity School, in Tübingen und der Vanderbilt University. Studium der Patristik an der Univerity of Chicago. Laurence L. Welborn ist Associate Professor im Fach Neues Testament am United Theological Seminary in Dayton/ Ohio. Seine Forschungsschwerpunkte: Das Römische Reich als Kontext für die Entstehung des Christentums. Derzeitiges Buch-Projekt: Eine Monographie mit dem Titel »The Fool of Christ. The Metaphor of Foolishness in 1 Corinthians 1-4«. 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 3 4 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Neues Testament aktuell Gesamtgesellschaft. Die Notwendigkeit solch einer interpretationsbezogenen Ausweitung ist selbstverständlich den kritischen Denkern seit mehr als einem Jahrhundert klar gewesen. 9 Aber die exegetische Disziplin ist so tief in der kirchlichen Tradition verwurzelt, dass allgemein davon ausgegangen wird, dass der historisch-kritischen Forschung am Neuen Testament ein Existenzrecht vornehmlich im Zusammenhang von Glaube und Kirchenleben zukomme. 10 Wie dem auch sei, die Tat vom 11. September macht deutlich, dass die Erhaltung des Weltfriedens von der Fähigkeit unterschiedlicher Religionen und Kulturen abhängt, in einen bedeutsamen Dialog einzutreten und ihn fortzuführen. Heute würde niemand mehr Hans Küngs tiefsichtiges Diktum von 1987 bestreiten: »kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden«. 11 Der Horizont der Interpretation der frühchristlichen Literatur ist heutzutage global und »ökumenisch« im ursprünglichen Wortsinn. 12 Unmittelbar nach dem 11. September traten die Presbyter der Kirche in Dayton, wo ich in der Erwachsenenbildung tätig war, mit der dringlichen Bitte an mich heran, einen Islamwissenschaftler zu einem Kurs einzuladen. Indem sie ihre Kirche für einen Repräsentanten aus einer anderen Religion öffneten, reagierten die Presbyter auf einen wesentlichen theologischen Impuls, den aufzugreifen Pastoren und Akademikern gut anstünde. Der Dialog, der sich mit Professor Yucel Demirer von der Ohio State University entwickelte, gehört zu den dynamischsten und erhellendsten meiner akademischen Karriere. Ich entdeckte, dass der Historiker des Frühchristentums einer wichtigen Aufgabe nachzukommen hat, nämlich Repräsentanten anderer religiöser Traditionen elementare Konzepte wie »Glaube« und »Rechtfertigung« zu erklären. 13 Denn diese Konzepte fahren fort, westliche Identität und Kultur in so verdeckter wie profunder Hinsicht zu definieren, egal wie weit weg sie sich von ihren Ursprüngen befinden. 14 Aber ich lernte auch, dass der Historiker eine noch wichtigere Verantwortung wahrzunehmen hat, indem er Schwächen und Begrenzungen neutestamentlicher Theologien für diejenigen aufdeckt, die die Erben und Anhänger der christlichen Tradition sind. 15 Denn auf Grund solcher nicht eingestandenen Vorurteile und unklaren Voraussetzungen entstehen Missverständnisse, Verurteilungen und letztlich Vergeltung. Mich überraschte z.B. wiederholt die Schwierigkeit, die wir Christen haben, die Intoleranz und Gewalttätigkeit im Neuen Testament zu erkennen (z.B. Mt 22,1-14; Lk 19,27) wie auch die Problematik der Aufwertung des Martyriums in der Frühen Kirche (z.B. 2Tim, Irenäus). Der Dialog mit Prof. Demirer erhellte wesentliche Elemente der Verschiedenheit zwischen Islam und Christentum, aber auch Gemeinsamkeiten der beiden Glaubenssysteme wurden deutlich, wie z.B. der Auftrag, Gerechtigkeit für die Armen zu schaffen. Ein Gespräch, welches in der gemeinsamen Trauer gründete, entwickelte sich zu einer Einübung von ökumenischem Verständnis. Neutestamentler und Neutestamentlerinnen könnten ein neues Ziel ihrer Beschäftigung entdecken, das darin liegen könnte mitzuhelfen, solche Dialoge mit Repräsentanten des Islam, des Judentums, des Hinduismus und Buddhismus einzuberufen und zu ermöglichen. Religionswissenschaftler und Religionswissenschaftlerinnen, die im ökumenischen Dialog in Bezug auf die gemeinsamen Wurzeln unserer verschiedenen Kulturen in Kirchen, Synagogen, Moscheen und Tempeln involviert sind, könnten zu »bedeutsamen Teilnehmern und Teilnehmerinnen in einem weltweiten Diskurs zur Erlangung von Gerechtigkeit und Wohlbefinden für alle« werden. 16 Als potentielle Teilnehmer am öffentlichen ökumenischen Diskurs müssen neutestamentliche Historiker die evangelikale Zielsetzung und apologetische Stellung aufgeben, die die Arbeitsweise in dieser Disziplin das Jahrhundert über motiviert und charakterisiert hat. 17 Die Geschichte der neutestamentlichen Forschung zeigt, dass eine kerygmatische Orientierung in Bezug auf die historische Arbeit kontinuierlich Karikaturen anderer Religionen produziert, selbst im Falle eines solch angesehenen Interpreten wie Rudolf Bultmann. 18 Nicht selten wurde das Judentum der neutestamentlichen Zeit als nicht-spirituelle und legalistische Religion dargestellt, gegenüber der die Universalität und Freiheitlichkeit des Evangeliums umso brillanter aufscheinen möge. 19 Nach dem Holocaust und im Gefolge des 11. Septembers wäre es unverantwortlich, sollten neutestamentliche Forscher ein evangelikales Ziel weiterhin verfolgen, denn es schafft gegenüber Juden und Muslimen eine Haltung der Respektlosigkeit für ihre 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 4 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 5 Laurence L. Welborn Vom Unterrichten der Bibel im »Ausnahmezustand« Religionen, was Anlass zu Verbitterung gibt. Auf einer tieferen Ebene müssen Neutestamentler dem naiven Glauben an die Superiorität und Einzigartigkeit der christlichen Botschaft entwachsen. 20 Dieser Glaube hat sich durch die Forschung der religionsgeschichtlichen Schule im letzten Jahrhundert und durch die Arbeit von Gelehrten des Judentums in unserer eigenen Generation als Illusion herausgestellt. 21 Die meisten der vermeintlichen Neuerungen, die für das Frühchristentum veranschlagt werden, wie z.B. radikale Eschatologie, Rettung auf Grund von Gnade oder die Gleichheit von Personen, sind ebenfalls im Judentum jener Zeit und selbst im Heidentum griechisch-römischer Provenienz zu finden. 22 Wie dem auch sei, Einzigartigkeit ist kein Garant für Superiorität oder Wahrheit. 23 Vergleiche zwischen dem Neuen Testament, der Mischnah, dem Koran und den Upanischaden können und sollten angestellt werden; aber sie sollten in einem Geist gegenseitigen Respekts erfolgen, 24 d.h., dass es jeder Tradition zugestanden werden muss, Wahrheit aus ihrer eigenen Perspektive zu definieren, 25 bevor wir uns daran machen, die Beiträge verschiedener Gruppen von Gläubigen für das kollektive soziale Bewusstsein auszuwerten. Exegeten, die im Schatten der tragischen Ereignisse vom 11. September weiterhin darauf insistieren, dass das Neue Testament und selbst die Hebräischen Schriften nach einer christlichen »Glaubensregel« 26 zu interpretieren seien, verzerren nicht nur den Sachverhalt; sie sind imperialistisch. Kirchliche Hermeneutik nährt den universalistischen Impuls auf Grund dessen das Christentum zum »mächtigsten hegemonialen kulturellen System in der Weltgeschichte« wurde. 27 Solche Exegeten riskieren einen hermeneutischen »Rückschlag«, indem sie ein Klima schaffen, in welchem extremistische Lektüren möglich werden. Für diejenigen, die Augen haben zu sehen, ist der stolze Turm kirchlicher Hermeneutik zusammengebrochen. Zum Zweiten hat die Krise des 11. Septembers offenbart, dass die Exegeten, die die Gesellschaft als ganze ansprechen, nicht durch die normativen Dokumente des Christentums, wie sie im Kanon vorliegen, beschränkt werden dürfen. Die Bedeutungslosigkeit der dogmatischen Kategorie des Kanons für die Erarbeitung einer Geschichte des Frühchristentums war schon von Wrede und den Mitgliedern der religionsgeschichtlichen Schule zu Beginn des 20. Jahrhunderts erkannt worden. 28 Aber in der Praxis haben die meisten Gelehrten seit Wrede die hermeneutische Aufgabe auf die kanonischen Schriften des Neuen Testaments beschränkt. 29 Tatsächlich können wir ein Wiedererstarken kanonischer Interpretation in dieser Generation wahrnehmen, 30 und zwar als konservative Aneignung kirchlicher Entscheidungen des 4. Jahrhunderts. 31 Allerdings ist der Kanon nicht nur ein historisches Konstrukt, welches der Forscher sich entscheiden mag zu erhalten. Die Schaffung des Kanons ist unlöslich verbunden mit dem Glauben an Inspiration. 32 Der Kanon ist die literarische Verkörperung des theologischen Anspruches, dass diese Offenbarung normativ sei - demgegenüber die Schriften anderer Religionen, wie z.B. Judentum und Islam, minderwertig seien. 33 Im Lichte der Ereignisse vom 11. September muss sich der Historiker der frühchristlichen Literatur fragen, ob die Erhaltung des Kanons ein moralisch zu rechtfertigender Akt ist. In den vergangenen 100 Jahren ist Neutestamentlern und Neutestamentlerinnen die ungeheure Vielfalt der frühchristlichen Literatur bewusst geworden, z.B. durch die Entdeckungen in Oxyrhynchus, Nag Hammadi, um nur zwei prominente Orte zu nennen. Wie wäre es, wenn sich herausstellen sollte, dass es sich bei den Texten, die für den Dialog zwischen Christen und Muslimen am produktivsten sind, nicht um die Schriften im Herzen des christlichen Kanons, d.h. das Evangelium des Johannes und die paulinischen Briefe handelt, sondern die Schriften von Judenchristen und christlichen Gnostikern, die tatsächlich die Mehrheit in der Kirche der ersten zwei Jahrhunderte ausmachten? In dem oben beschriebenen Dialog mit Prof. Demirer wurde deutlich, dass die jüdisch-christliche Homilie - besser bekannt unter dem Namen 2. Clemensbrief - sowie der Hirte des Hermas auf Grund ihrer Fokussierung von Fasten und Almosengeben bedeutsame Kontaktstellen zwischen den religiösen Traditionen darstellen. 34 In ähnlicher Weise war es kein Jesuswort der synoptischen Tradition, das in dem Dialog aufgegriffen wurde, sondern das dunkle, wunderschöne Gleichnis von der Dattelpalme im geheimen Jakobusbuch. 35 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 5 6 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Neues Testament aktuell Auf der anderen Seite besteht eine wichtige Rolle des Historikers der frühchristlichen Literatur darin, zentrale Figuren - wie etwa Paulus - von kanonischen Interpretationen zu befreien. In einem Kanon, der die Pastoralbriefe beinhaltet und in einer Rezeptionsgeschichte, die durch die Person des Bischofs Irenäus beherrscht worden ist, wurden die paulinischen Texte dazu benutzt, konservative kulturelle und politische Ziele zu verfolgen: Sie wurden benutzt, um Frauen zu unterdrücken und Sklaverei zu rechtfertigen, um das Judentum zu verdammen und »Häresien« zum Verstummen zu bringen. In solchen Fällen muss es der Historiker als seine Aufgabe betrachten, einen Beitrag zur Auflösung des Kanons zu leisten. 3. Wie kann ein Historiker der frühchristlichen Literatur authentisch in die gegenwärtige Krise hineinsprechen, da wir am hermeneutischen »ground-zero« stehen, inmitten der Ruinen kirchlicher und kanonischer Prinzipien? Ironischerweise ähnelt unsere Situation jener, in der das Christentum entstand: In einer Welt nach dem Holocaust und nach dem 11. September ist das Christentum wieder nur ein System von Überzeugungen unter anderen. 36 Ohne die Kirche oder den Kanon als regulative Prinzipien muss unsere Zugangsweise zu der Situation phänomenologisch und müssen unsere Schlussfolgerungen induktiv sein. Wo hören wir einen authentischen Zeugen? Und welche Kriterien definieren seine Authentizität? In jeder der Krisen des turbulenten Jahrhunderts, durch das wir gerade hindurch gegangen sind, gibt es Beispiele authentischer Interpretationswege, die eine kritische Konfrontation zwischen den Schriften des Frühchristentums und den Problemen der modernen Welt provozieren. Traurigerweise gibt es auch jeden Tag Beispiele eines manipulativen Gebrauchs der Bibel, um moderne Leser angesichts ihrer eigenen Aktualitäten erblinden zu lassen und um eine Übereinstimmung der Leser mit der politischen und ökonomischen Machtstruktur zu induzieren. In Bezug auf Ersteres möchte ich zwei Beispiele anführen. In der Zeit des Hitler-Regimes in Deutschland sprach ein Akademiker und Pastor mit Namen Walter Lüthi, einer der Zeugen der Bekennenden Kirche, ein warnendes Wort an die Christen in Deutschland, die nicht in der Lage zu sein schienen, die Zeichen der Zeit zu lesen. Lüthi erklärte, dass das »Tier« der Apokalypse in Hitler neu Gestalt angenommen hätte. Er bestand darauf, dass es die dringendste Pflicht der Kirche sei, das »Tier« als das zu erkennen, was es ist, und Widerstand zu leisten. Ähnlich schrieb Allen Boesak zur Zeit des Apartheit-Regimes im weißen, durch die Buren regierten Südafrika, dass eine Regierung, welche ihre Kinder dazu zwingt, frühzeitig zu sterben, weil sie Zeitungsfetzen, die mit Essensresten vermischt waren, von den Müllhalden in den Wiederbesiedlungscamps essen mussten, das »Tier« der Apokalypse sei. 37 Ungefähr zur selben Zeit konfrontierte der amerikanische Fernseh-Evangelist Pat Robertson die Mitglieder seines 700-Clubs mit einem Spezialbericht, nach dem es sich bei dem »Tier« in Offb 13 um die Sowjetunion handelt, welche dabei sei, sich auf einen Angriff Israels vorzubereiten, »um einen unbegrenzten Zugang zu den Ölvorkommen des Nahen Ostens sowie eine Landbrücke zu dem mineralischen Reichtum Afrikas zu erhalten«. Die Ökonomie des westlichen Europas würde der Vernichtung anheim fallen und die Welt den Aufstieg eines »Gegenmessias« sehen, d.h. eine satanische Figur, die »schlimmer sei als Adolf Hitler«, und welche 1980 »ungefähr 27 Jahre alt war« und für eine grausame Aufgabe vorbereitet würde. 38 Welche Kriterien sind anzulegen, mit Hilfe derer wir die Legitimität dieser verschiedenen Interpretationen beurteilen können? Wenn wir den Unterschied in Bezug auf soziale Stellung und politische Positionierung der Interpretierenden in den Blick nehmen, die wir als Beispiele genommen haben, ist es offenkundig, dass das erste Kriterium die Frage der Beziehung zur Gemeinschaft der Interpretierenden mit den Unterdrückten betrifft. Lüthi und Boesak haben sich am Kampf gegen Faschismus beteiligt und ihr Leben im Widerstand gegen unterdrückerische Systeme riskiert, während Robertson und Falwell die Fürsprecher einer Ideologie des rechten Flügels in der amerikanischen Politik sind. In Bezug auf dieses hermeneutische Kriterium hat Boesak in seinem Kommentar zur Johannes-Apokalypse aus süd- 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 6 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 7 Laurence L. Welborn Vom Unterrichten der Bibel im »Ausnahmezustand« Analogie zwischen der Vorstellungskraft eines Schizophrenen und der Vision der Johannes- Offenbarung« und kommt zu dem Ergebnis, dass das Werk als Ganzes Ausdruck eines »Versagens von Liebe« sei. 41 Wie ich an den Karrieren meiner eigenen Lehrer wahrgenommen habe, konnte ich allerdings beobachten, dass sie sich den Gemeinden der Unterdrückten annäherten, sobald sie das Problem der Ethik der Bibelinterpretation ernsthaft angingen. 42 In Nordamerika würden viele Neutestamentler den Gemeinschaftskontakt, den sie nötig hätten, unter Afro-Amerikanern finden, 43 und zwar auf Grund der Standhaftigkeit, Weisheit, des Humors und des Witzes, mit Hilfe derer Afro-Amerikaner seit Jahrhunderten gegen Rassismus und Ausbeutung gekämpft haben 44 sowie wegen des einzigartigen Beitrages, den die Schwarze Kirche in Bezug auf die amerikanische Religionsgeschichte geleistet hat. 45 Im Gefolge des 11. September mögen sich andere Akademiker dabei wiederfinden »Jesus in die Moschee zu folgen«, 46 um über den Islam zu lernen und Frieden zu schaffen. Andere mögen den Kampf für Menschenrechte durch Zusammenarbeit mit Amnesty International aufnehmen. Wieder andere mögen sich direkt in der Politik engagieren. Dieter Georgi hat Neutestamentler an das politische Engagement der Mitglieder der religionsgeschichtlichen Schule erinnert, die sich der Veröffentlichung von Pionierarbeiten für die allgemeine Öffentlichkeit widmeten 47 und die politische Ämter inne hatten. 48 Die tragischen Ereignisse des 11. Septembers fordern Neutestamentler dazu heraus, den Mut ihrer Vorgänger nachzuahmen und sich im politischen Kampf zu engagieren, nicht nur als einzelne Individuen sondern als Mitglieder der Berufsgruppe von Historikern und in Konsequenz ihrer Forschung. Das zweite Kriterium authentischer Interpretation ist in Bezug auf unser anhaltendes Bedürfnis für geschichtliches Wissen zu formulieren. Gerade angesichts der Tatsache, dass die Bibel im öffentlichen Diskurs der letzten Jahre in den USA dazu missbraucht wurde, die Todesstrafe zu stützen, Angriffe auf Abtreibungskliniken sowie die Praxis der Rassentrennung (an der Bob-Jones- Universität) zu rechtfertigen, brauchen wir noch immer die historische Kritik. Im Gefolge des 11. Septembers hat der amerikanische Fernseh-Evanafrikanischer Perspektive schon längst benannt, was von wesentlicher Bedeutung ist: »Der Schlüssel zum Verständnis der Offenbarung des Johannes - und zugleich die Antwort auf die Frage, warum so wenige Akademiker sie verstanden haben - liegt in Offenbarung 1,9: ›Ich, Johannes, euer Bruder, der zusammen mit euch in Jesus an der Verfolgung und dem Königreich und dem geduldigen Ausharren Anteil hat ...‹ Das ist der Schlüssel. Diejenigen, die dieses Leiden auf Grund von Unterdrückung nicht kennen, die nicht zusammen mit dem Volk Gottes um des Evangeliums willen kämpfen und die am eigenen Leib die Bedeutung von Unterdrückung und die Freiheit und Freude des Kampfes dagegen fühlen, werden große Schwierigkeiten haben, den Brief von Patmos zu verstehen. Sollten sie überhaupt an dieses Buch denken, werden sie sich sicherlich in eine Wüste von Mysterien, Zahlen und Symbolen flüchten. Der Kampf und das Leiden und das Hoffen zusammen mit Gottes unterdrücktem Volk eröffnet neue Perspektiven für die Verkündigung des Wortes Gottes anhand der Offenbarung des Johannes.« 39 Die Schlussfolgerung, dass die Gemeinschaft mit den Unterdrückten eine Bedingung von authentischer Interpretation der meisten frühchristlichen Schriften darstellt, wird wohl kaum eine willkommene Entdeckung für die meisten von uns Neutestamentlern darstellen, die wir komfortable Positionen in kirchlichen Hochschulen, Colleges und Universitäten einnehmen. Es ist vorstellbar, dass ein neutestamentlicher Theologe durch intensive Forschung und durch Einfühlungsvermögen vom Schreibtisch seines Büros aus zu einem Verständnis der literarischen Produkte der verfolgten Mitglieder der unteren Klasse im Römischen Reich gelangen könnte, denn genau darum handelt es sich bei den meisten frühchristlichen Schriften mit wenigen Ausnahmen, wie z.B. das lukanische Doppelwerk und der 1. Clemens-Brief. Aber die Beispiele für solche Bemühungen sind nicht gerade ermutigend. Um bei dem Fall der Offenbarung des Johannes zu bleiben: Robert Grant wirft Johannes von Patmos »Übertreibung, Träumerei und Hass« vor und urteilt, dass er zu Recht als Häretiker abgestempelt worden wäre, hätte die Leitung der Kirche im 1. Jahrhundert über eine bessere Organisation verfügt. 40 Adela Collins behauptet eine »gewisse 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 7 8 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Neues Testament aktuell gelist und Pastor Jerry Falwell erklärt, dass es sich bei dem Angriff auf das World-Trade-Center und das Pentagon um Gottes Gericht auf Grund der in Amerika verbreiteten Toleranz der Abtreibungspraxis handelte. 49 Dem Neutestamentler kommt die Verantwortung zu, den historischen Kontext zu klären - und zwar sowohl des antiken Textes als auch des modernen Interpreten -, so dass die Legitimität der Applikation der Schrift auf gegenwärtige politische Situationen beurteilt werden kann. Krister Stendahl hat für die neutestamentlichen Studenten meiner Generation das Prinzip, das die Interpretation leitet, formuliert: »Der erste und unaufgebbare Schritt jeglichen hermeneutischen Unternehmens besteht in einer klaren Unterscheidung zwischen dem, was ein Text in seiner ursprünglichen Intention bedeutete, und welche Bedeutungen er zu späteren Zeitpunkten in der Geschichte oder Zukunft annahm und annehmen könnte.« 50 Die Vorrangstellung, die nach Stendahl der Bedeutung zukommt, die die Schrift für ihre ersten Leser und Leserinnen hatte, ist nicht nur zeitlich begründet; sie ist wesentlich: Nur jene Interpretation ist legitim, die durch ein Verständnis dessen, was der Text für seine ersten Leser und Leserinnen bedeutete, geprägt ist; auf dieser Basis mag man verantwortungsvoll Bedeutungen für die Kirche und für die Gesellschaft der Gegenwart extrapolieren. Eine authentische Interpretation der frühchristlichen Literatur gründet in der Erkenntnis historischer Differenz. Was der Historiker der Welt bietet, ist bewusst »allegorisch«. Der Historiker weiß, dass ein Zeichen der Schrift und die gegenwärtige Bedeutung niemals in eins fallen, weil die Abfolge von Ereignissen ersteres gänzlich vorgänglich gemacht hat. Der fundamentalistische Interpret der Schrift versucht im Gegenteil die historische Differenz einzuebnen. Die Differenz zwischen der Hermeneutik des Historikers, der die Gemeinschaft der Unterdrückten begleitet, und der des Fundamentalisten, der sich auf die Seite der Herrschenden stellt, ist letztlich die Differenz zwischen einer Konzeption von Existenz aus der Perspektive ihrer authentischen Zeitlichkeit und einer defensiven Strategie, welche vor dieser Selbsterkenntnis in einen Wald von Symbolen flieht. 51 Es ist das Bewusstsein der historischen Differenz, welche die klarsichtige Allegorie des Historikers von den verschwommenen Fantasien des Fundamentalisten unterscheidet. Ich beziehe mich auf zeitgenössische Beispiele. Als Pat Robertson den Mitgliedern des 700-Clubs in einem 1980 vorgelegten Spezialreport erklärte, dass die Sowjetunion das Tier aus der Offb 13 sei, meinte er nicht, dass Gorbatschow an eine biblische Figur erinnerte; nein, es ging ihm vielmehr darum, die wesenhafte Identität des Schriftzeichens mit seiner kontemporären Bedeutung zu behaupten. Im Gegenteil dazu weiß das afroamerikanische Mädchen, das ein Bild von Martin Luther King auf ihrem Hausaufgabenbuch anbringt und drum herum die Worte »Schwarzer Moses« schreibt, dass Martin King nicht identisch mit Moses ist, aber dass er an diesen biblischen Helden denken lässt. 52 Pat Robertson entleert die Vergangenheit ihrer Bedeutung und verschleiert die gegenwärtige politische Situation. Das schwarze Kind begreift die Zusammenhänge seiner eigenen Zeit mit der vorangegangenen, und es gibt dieser Konfiguration einen Anstoß durch eine allegorische Interpretation. Es handelt sich dabei genau um das, was Walter Benjamin als revolutionären Interpretationsakt beschreibt, der das Kontinuum der Unterdrückung aufsprengt. 53 Im Hinblick auf die Sprengkraft des Konfliktes zwischen Christentum und Islam ist es von größter Bedeutung, dass der neutestamentliche Historiker versucht, die ursprünglichen Intentionen von Paulus - »des Begründers der christlichen Zivilisation« - 54 zu erhellen und zwar sowohl in Bezug auf Politik als auch auf Hermeneutik. Daniel Boyarin hat versucht zu zeigen, dass es sich bei den paulinischen Schriften um eine der wichtigsten Textquellen für einen universalistischen Impuls im Christentum handelt. 55 Aber Boyarin erkennt, dass es sich erst in der Rezeptionsgeschichte von Paulus ergab, dass seine Texte konservativen kulturellen und politischen Interessen wie sie »im Kampf gegen die Befreiung von Sklaven und Frauen als auch als Hauptstütze eines theologischen Antijudaismus hervorgetreten sind«, dienstbar gemacht wurden. 56 Wie die Paulus-Forschung der letzten Jahre gezeigt hat, bestand das hauptsächliche Ziel der paulinischen Mission darin, die Integration von Heiden in das Volk Gottes zu ermöglichen. 57 Der 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 8 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 9 Laurence L. Welborn Vom Unterrichten der Bibel im »Ausnahmezustand« neutestamentliche Historiker muss darauf bestehen, dass der paulinische Versuch, Gemeinden der Versöhnung zu schaffen, bei denen es »Juden und Griechen, Sklaven und Freie« (1Kor 12,13) gab, durch ein leidenschaftliches Engagement für menschliche Gleichheit und Befreiung motiviert war und nicht durch den Wunsch der Herstellung einer kulturellen und religiösen Uniformität. Wie der letzte Brief von Paulus zeigt, war er sich dessen bewusst, dass man sich dem Ideal einer versöhnten Menschheit nur in einer Gemeinschaft, die Toleranz praktiziert, annähern kann (Röm 14,1, 15,13). 58 Die allegorische Interpretation der israelitischen Schrift durch Paulus war ebenfalls motiviert durch den Wunsch, die Heiden zu Miterben mit den Juden am göttlichen Segen zu machen. Paulus lebte in der Hoffnung, dass letztlich die ganze Schöpfung an der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes teilhaben würde (Röm 8,21). Am Ende offenbart Paulus das Geheimnis von Israels Platz in der Heilsgeschichte: »Ganz Israel wird errettet werden« (Röm 11,26). Dieses Geheimnis umschließt die gesamte Welt in der klimaktischen Affirmation: »Gott hat alle ins Gefängnis des Ungehorsams eingeschlossen, um sich aller zu erbarmen. O welch eine Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Entscheidungen und wie unerforschlich seine Wege! « (Röm 11,32-33). Muss sich der Neutestamentler angesichts der gegenwärtigen Krise nicht fragen, ob das Geheimnis von Gottes Gnade nicht auch die nichtchristliche und nichtjüdische Welt umfasst? Muss nicht der Neutestamentler eine prophetische und allegorische Interpretation der paulinischen Affirmation wagen und Paulus' Segen auf ein Volk beziehen, dessen Existenz Paulus noch nicht vorhergesehen hat, und erklären: »Der ganze Islam wird gerettet werden! «? Insofern es der Neutestamentler vermag, muss er ebenfalls versuchen, die Aktualität seines eigenen historischen Kontextes abzuklären. Dieter Georgi hat zutreffend die Blindheit Bultmanns in Bezug auf die kollektiven Verbrechen des 1. Weltkrieges beschrieben sowie seinen nachfolgenden mutigen Protest gegen die Nazis. 59 Der Fall von Bultmann illustriert, dass die Herausforderung, die an den historischen Kritiker gestellt ist, nicht so sehr methodische Begrenzungen betrifft, sondern die Relevanz der Fragen, die aufkommen oder eben nicht aufkommen. Nur wenn sich Fragen aus der Aktualität der Situation ergeben, wird der Historiker zu neuen Einsichten kommen. Und wie sollen wir nun unsere historische Aktualität beschreiben? Selbstverständlich ist die Diagnose von Bischof John Shelby Spong, dass wir nämlich von einer weltweiten Hysterie ergriffen sind, zutreffend. 60 Ob diese Hysterie aus dem Tod des Theismus resultiert, wie Spong meint, oder aus dem Triumph des Kapitalismus, muss allerdings diskutiert und analysiert werden. Wir könnten diese beängstigende neue Realität wohl besser als Ausdruck von weltweiter Gesetzlosigkeit beschreiben. Der terroristische Angriff auf das World-Trade-Center in New York City ist nur Teil eines größeren mysterium iniquitatis, welches sich in der Manipulation globaler Märkte, einer weitverbreiteten Steuerhinterziehung, der Hintergehung demokratischer Wahlen, in Sex- und Drogenhandel sowie in Folter und anderen Missachtungen der Menschenrechte niederschlägt. Der Neutestamentler und die Neutestamentlerin mögen in ihren eigenen Traditionen Ressourcen ausfindig machen, um diese Gesetzlosigkeit zu verstehen und zu bekämpfen (2Thess 2,7 und Offb 17-19). 4. Um zum Schluss zu kommen und damit ich nicht versäume zu praktizieren, was ich predige, möchte ich zwei Motive der frühchristlichen Literatur hervorheben, die öffentlich diskutiert werden sollten. Zunächst ist es unwiderlegbar, dass es Jesus nicht um Vergeltung ging. Egal, ob der historische Jesus sagte »Liebet eure Feinde« (Mt 5,43-45; Lk 6,27-28) oder wie ein detaillierter synoptischer Vergleich nahe legt, »Betet für eure Feinde« (POxy 1224.2; Polykarp Phil. 12,3; Did 1,3), 61 ist es doch klar, dass Jesus eine Ethik der Vergeltungslosigkeit in Bezug auf das Böse lehrte und lebte. Unmittelbar nach dem 11. September hat der »United Methodist General Board of Church and Society« eine Verlautbarung veröffentlicht in Reaktion auf die terroristischen Angriffe und die Antwort der USA, in der es heißt: »Wir beziehen uns auf die Lehre des Friedensfürsten, der uns vorgibt, unsere Feinde 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 9 10 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Neues Testament aktuell zu lieben und für sie zu beten und uns jeglicher gewalttätiger Reaktion auf Gewalttätigkeit zu enthalten. Während wir mit Menschen auf der ganzen Welt darin eins sind, die Terroristen zu bestrafen, sind wir der Überzeugung, dass Krieg nicht das angemessene Mittel ist, um auf kriminelle Akte gegen die Menschheit zu reagieren.« 62 Diese Erklärung hatte umso größere Bedeutung, als sie von den Leitern von Präsident Bushs eigener Kirche verabschiedet worden war. Aber nach einiger Zeit, als der Krieg gegen die Taliban und Al Qaeda zu einem fait accompli wurde, verstummten die Stimmen der Kirchenleute und Theologen. Die Predigten zu Ostersonntag 2002 waren die schwächsten in der Erinnerung vieler Beobachter der amerikanischen Kirche. Sie zeitigten einen Mangel an prophetischer Übereinstimmung mit der Lehre Jesu. Zweitens gibt es wenig Zweifel, dass zu den Ursachen, die Hass und Gewalttätigkeit hervorrufen, der anwachsende globale Abstand zwischen den Reichen und Armen zu zählen ist. 63 Prof. Demirer teilte der Gemeinde der Christ Church in Dayton herzzerreißende Beschreibungen von Armut und Leid in der muslimischen Welt mit, und zwar in Antwort auf die Frage: »Was hat diese Aktionen des Hasses ausgelöst? « Angesichts dieser Krise besteht die Aufgabe des Neutestamentlers darin, die Kirche daran zu erinnern, dass es einer christlichen Ökonomie um ein »faires Gleichgewicht« (isotes) geht. 64 In Anbetracht ökonomischer Beziehungen zwischen den Reichen und den Armen in der frühen Kirche favorisiert der Apostel Paulus das Teilen, »auf dass es ein faires Gleichgewicht gibt« (2Kor 8,14). Im Anschluss daran zitiert Paulus den folgenden Text aus Ex 16,18: »Derjenige, der viel hatte, hatte nicht zu viel, und derjenige, der wenig hatte, hatte nicht zu wenig« (2Kor 8,15). Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich noch keine Predigt über diesen Text von einer amerikanischen Kanzel gehört. l Anmerkungen 1 Übersetzt und leicht bearbeitet von Werner Kahl. 2 Allerdings hatte es in dem letzten Jahrzehnt verschiedene Anlässe gegeben, als ich auf der Kanzel der Kapelle stand und den Drang verspürte, von der Beschreibung der Vergangenheit zu einer die Gegenwart ansprechenden Verkündigung vorzustoßen - z.B. während der Aufstände im Gefolge der Urteilsverkündigung im Fall der brutalen Übergriffe auf Rodney King durch die Polizei von Los Angeles (1992) oder, um es zuzugeben, nach den vielen Begegnungen mit den obdachlosen Armen auf den Straßen der amerikanischen Stadt, in der ich lebe. 3 W. Wrede, The Task and Method of so-called New Testament Theology, in: R. Morgan (Hrsg.) The Nature of New Testament Theology. The Contribution of William Wrede and Adolf Schlatter, London 1973, 68-116. Betreffs einer gegenwärtigen Wiederbelebung von Wredes Programm, vgl. H. Räisänen, Beyond New Testament Theology, Philadelphia 1990. 4 W. Benjamin, Theses on the Philosophy of History, in: Illuminations, ed. H. Arendt, trans. H. Zohn, Glasgow 1979, 259. 5 Die Ereignisse vom 11. September wurden so von der britischen Theologin Karen Amstrong in einem Interview des National Public Radio vom 12. September 2001 charakterisiert. 6 Vgl. z.B. R. Williams, Writing in the Dust: After September 11, Grand Rapids 2002. 7 Ich gebrauche diesen Begriff in dem Sinne, in dem er von den Autoren des Kairos Dokuments verwandt wurde (Ein theologischer Kommentar zur politischen Krise in Südafrika, in: Junge Kirche 47 (1986), 34-39, 95-100, 164-71. 8 Ich gestehe also ein, dass das Ziel der Hermeneutik, deren Entwicklung ich verfolge, »Befreiung« ist. Aber zur Befreiung gehört die rigorose historische Kritik, und zwar sowohl des antiken Textes als auch der Lebenswirklichkeit der Interpretierenden. Mit diesem Ziel und diesen Voraussetzungen stelle ich mich bewusst in die Tradition der religionsgeschichtlichen Schule, wie sie zur Zeit von solchen Historikern des Neuen Testaments wie Dieter Georgi und Luise Schottroff vertreten wird. Vgl z.B. D. Georgi, Rudolf Bultmann’s Theology of the New Testament Revisited, in: E.C. Hobbs (Hrsg.), Bultmann Retrospect and Prospect (HThS 35), Philadelphia 1985, 75-87, besonders: 87; L. Schottroff, How my Mind has changed oder: Neutestamentliche Wissenschaft im Dienst von Befreiung, in: EvTh 48 (1988), 247-61. 9 Schon Wrede (The Task and Method of so-called New Testament Theology, 69, 79, 84-86, 94) insistiert darauf, dass der exegetische Historiker die Ergebnisse seiner Forschung nicht unter der Fragestellung begrenzen darf, ob sie der Kirche dienlich sind; vgl. aus neuerer Zeit: G. Petzke, Exegese und Praxis. Die Funktion der neutestamentlichen Exegese in einer christlichen oder nachchristlichen Gesellschaft, in: ThPr 10 (1975), 2-19; G. Theissen, On Having a Critical Faith, Philadelphia 1979, 10-11; Räisänen, Beyond New Testament Theology, 93-97. 10 So z.B. Ernst Käsemann in seinem einflussreichen Aufsatz, The Problem of a New Testament Theology, in: NTS 19 (1972/ 73), 236: »The history and exegesis of the New Testament exercise a function in the life of the Church and relate to the community within Christians live... New Testament theology gives an overall direction to all specialist skill and puts this discipline of ours, whatever the tensions, in relation to the Church.« Ähnlich: G. Strecker / U. Schnelle, Einführung in die neutestamentliche Exegese, Göttingen 1983, 150: »Die 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 10 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 11 Laurence L. Welborn Vom Unterrichten der Bibel im »Ausnahmezustand« Anwendung der historisch-kritischen Methoden auf das Neue Testament will in ihrer letzten Zielsetzung zur glaubenden Aneignung und zur Aktualisierung in der Verkündigung der Kirche führen.« 11 H. Küng, Christianity and the World Religions. Paths of Dialogue with Islam, Hinduism, and Buddhism, New York 1987, 440-43. 12 Küng, Christianity and the World Religions, xiv. 13 So schon S.G. Wilson, Paul and Religion, in: Paul and Paulinism, FS C.K. Barret, London 1982, 347-349. 14 N. Frye, The Great Code. The Bible and Literature, London 1982, xviii. 15 So schon Georgi, Bultmann’s Theology Revisted, 87; Räisänen, Beyond New Testament Theology, 96.99. 16 Als Antwort auf Elisabeth Schüssler-Fiorenzas Herausforderung an die Bibelwissenschaftler, sich öffentlicher und politischer Verantwortung zu stellen, in: dies., The Ethics of Biblical Interpretation: Decentering Biblical Scholarship, in: JBL 107 (1988), 16f. 17 Petzke, Exegese in einer nachchristlichen Gesellschaft, 8; Räisänen, Beyond New Testament Theology, 97. 18 Petzke, Exegese in einer nachchristlichen Gesellschaft, 9-11; Georgi, Bultmann’s Theology Revisited, 80-81; Schottroff, Neutestamentliche Wissenschaft im Dienst von Befreiung, 248-49. 19 Georgi, Bultmann’s Theology Revisited, 85; Schottroff, Neutestamentliche Wissenschaft im Dienst von Befreiung, 248-49; Räisänen, Beyond New Testament Theology, 99. 20 J. Hick / P. Knitter, The Myth of Christian Uniqueness, London 1988. 21 Petzke, Exegese in einer nachchristlichen Gesellschaft, 12; Georgi, Bultmann’s Theology Revisited, 85. 22 Georgi, Bultmann’s Theology Revisited, 85-86. 23 P. Knitter, No Other Name? A Critical Survey of Christian Attitudes Toward World Religions, London 1985, 204. 24 Räisänen, Beyond New Testament Theology, 99, spricht von »fair play«, »empathy« und »the application of the philosophical Golden Rule« als Erfordernisse eines weltweiten Dialogs zwischen Vertretern unterschiedlicher religiöser Traditionen. 25 P. Berger, The Heretical Imperative. Contemporary Possibilities of Religious Affirmation, New York 1980, 34. 26 Vgl. F. Young, Biblical Exegesis and the Formation of Christian Culture, Cambridge 1997; E. Radner / G. Gumner (Hrsg.)., The Rule of Faith: Scripture, Canon, and Creed in a Critical Age, Harrisburg 1998; C. Seitz, Figured Out: Typology and Providence in Christian Scripture, Louisville 2001. 27 D. Boyarin, A Radical Jew: Paul and the Politics of Identity, Berkeley 1994, 9. 28 Wrede, The Task and Method of so-called New Testament Theology, 69. Wredes Programm ist letztlich von H. Koester eingelöst worden. In Koesters Buch: Introduction to the New Testament, Vol. 2: History and Literature of Early Christianity, Philadelphia 1982, analysiert dieser etwa sechzig nicht-kanonische und diverse hypothetische Quellen-Dokumente, wie z.B. die synoptische Redequelle »Q«. 29 Vgl. W.G. Kümmel, Theology of the New Testament according to its Major Witnesses. Jesus-Paul-John, Nashville 1974; H. Schlier, Über Sinn und Aufgabe einer Theologie des Neuen Testaments, in: G. Strecker (Hrsg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments, Darmstadt 1975, 323-44, besonders: 326; L.T. Johnson, The Writings of the New Testament. An Interpretation, Minneapolis 1999. 30 Vor allem angeregt von B. Childs, The New Testament as Canon: An Introduction, Philadelphia 1984; siehe auch seine jüngere Monographie dazu: Ders., Biblical Theology of the Old and New Testaments: Theological Reflections on the Christian Bible, Minneapolis 1992. Vgl. ebenso P. Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments. Eine Hermeneutik, Göttingen 1979; ders., Biblische Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 1999. 31 F. Young, The Mind of Scripture, in: Biblical Exegesis and the Formation of Christian Culture, 29-45. 32 So richtig Wrede, The Task and Method of so-called New Testament Theology, 69. 33 Georgi, Bultmann’s Theology Revisited, 81-82. 34 2Clem. 16,4; Hermas Sim. 5,1; vgl. auch den Barnabasbrief: Barn 3,3. 35 Apoc. Jas. 6: 9-10a. 36 Schon Petzke, Exegese in einer nachchristlichen Gesellschaft, 5-6 verweist darauf, dass darin unsere Situation besteht. R. Scroggs, Can New Testament Theology Be Saved? The Threat of Contextualisms, in: Union Seminary Quarterly Review 42 (1988), 26 möchte eine nachkirchliche Situation vermeiden, da er den Verlust jeglichen Wahrheitsanspruchs seitens des Christentums befürchtet. 37 A. Boesak, Comfort and Protest: The Apocalypse from a South African Perspective, Philadelphia 1987, 131. 38 P. Robertson, Special Report to the Members of the 700 Club: Pat Robertson’s Perspective (1980). 39 Boesak, Comfort and Protest, 44. W. Benjamin, Theses on the Philosophy of History, 262 gründet dieses Kriterium in der marxistischen Analyse: »Nicht die Menschheit oder Menschen (sic), sondern die kämpfende, unterdrückte Masse selbst ist die Bewahrerin des geschichtlichen Wissens«. 40 R.M. Grant, The Sword and the Cross, New York 1955. 41 A.Y. Collins, Crisis and Catharsis: The Power of Apocalypse, Philadelphia 1984, 154, 170, 172. 42 Z.B. Daniel Patte, dessen Engagement als Dozent in Südafrika und den Philippinen zeitlich zusammentraf mit der Erarbeitung seines Buches: Ethics of Biblical Interpretation: A Reevaluation, Louisville 1995. 43 Das ist meine eigene Erfahrung. Ich danke den Menschen der New Faith Church in Chicago, Omega Church, der Mt. Zion Church in Dayton und der Canaan Church in New York City für die freundliche Aufnahme und Fürsorge. 44 V. Harding, Hope and History. Why We Must Share the Story of the Movement, New York 1990. 45 S. DeWitt Proctor, The Substance of Things Hoped For, New York 1996; V.L. Wimbush (Hrsg.), African Americans and the Bible, New York 2000. 46 Following Jesus to the Mosque, in: Presbyterians Today 92/ 4 (2002), 10-15. 47 Georgi, Bultmann’s Theology Revisited, 84-85 verweist insbesondere auf die Religionsgeschichtlichen Volksbücher und die erste Auflage der RGG als Beispiele für die Teilnahme der religionsgeschichtlichen Schule an der »politisch ziemlich wichtigen internationalen Erwachsenenbildungsbewegung«. 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 11 12 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Neues Testament aktuell 48 Georgi, Bultmann’s Theology Revisited, 84-85 verweist auf Ernst Troeltsch, der die Position eines staatlichen Untersekretärs in einer sozialdemokratischen Regierung eingenommen hatte. 49 S.F. Harding, The Book of Jerry Falwell: Fundamentalist Language and Politics, Princeton 2002. 50 Vgl. zu dieser klassischen Einteilung in zwei »Bedeutungen«: K. Stendahl, Biblical Theology, in: Interpreter’s Dictionary of the Bible, Vol. 1, Nashville 1962. 51 Zur Unterscheidung von allegorischer and symbolischer Hermeneutik siehe: P. de Man, The Rhetoric of Temporality, in: ders., Blindness and Insight, Minneapolis 1983. 52 Diese Episode habe ich als Teenager im Süden der USA zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung miterlebt. Ein neunjähriges Mädchen war in das Büro des Schulleiters gebracht worden, weil sie ein Bild von Martin Luther King aus der Zeitung ausgeschnitten und auf ihrem Hausarbeitsheft angebracht hatte. Der Schulleiter in Gestalt eines christlichen Fundamentalisten erklärte die allegorische Interpretation des Kindes zur »Blasphemie« und verlangte, dass sie das Bild von ihrem Heft zu entfernen habe. Ich sah, wie das Kind lieber Schläge einsteckte als der Forderung des Schulleiters Folge zu leisten. Der mutige Akt des Mädchens, allegorisch zu lesen, hat für mich in der Rückschau eine paradigmatische Bedeutung erhalten. 53 Benjamin, Theses on the Philosophy of History, 264-65. 54 So lautet der Titel, der Adolf von Harnacks Bericht aus dem Jahre 1900 über die Leistung des Paulus in der Anthologie von W. Meeks, The Writings of St. Paul, New York 1972, 302-308 vorangestellt worden ist. 55 Boyarin, A Radical Jew, 9 und passim. 56 A.a.O., 9. 57 Vgl. besonders S.K. Stowers, A Rereading of Romans: Justice, Jews and Gentiles, New Haven 1994. 58 R. Jewett, Christian Tolerance: Paul’s Message to the Modern Church, Philadelphia 1982. 59 Georgi, Bultmann’s Theology Revisited, 82-84. 60 J.S. Spong, A New Christianity for a New World, San Francisco 2001, 21-35. 61 Vgl die Diskussion in: D. Lührmann, Liebet eure Feinde, in: ZThK 69 (1972), 412-38; J.D. Crossan, In Fragments. The Aphorisms of Jesus, San Francisco 1983, 332-333, 342. 62 Statement to the Church on the Terrorist Attacks and the U.S. Response, in: Christian Social Action 14/ 6 (November 2001), 16. 63 K. Melville, Coming to Terms with Terrorism, in: The Kettering Review 20/ 1 (2002), 23-50. 64 Vgl die Diskussion der Bedeutung von isotes in: D. Georgi, Remembering the Poor. The History of Paul’s Collection for Jerusalem, Nashville 1992, 84-92. Die alttestamentliche Lesung in der Messe - aktuelle Perspektiven Ansgar Franz Wortgottesdienst der Messe und Altes Testament Katholische und ökumenische Lektionarreform nach dem II. Vatikanum im Spiegel von Ordo Lectionum Missae, Revised Common Lectionary und Four Year Lectionary: Positionen, Probleme, Perspektiven Pietas Liturgica, Studia 14, 2002, X, 394 Seiten, geb. 54,-/ SFr 89,30 ISBN 3-7720-3273-7 Die nach dem Konzil entstandene Leseordnung der katholischen Kirche sieht wieder eine regelmäßige Verkündigung des ‚Alten‘ Testaments vor - dennoch ist der Ordo Lectionum Missae in den letzten Jahren in heftige Kritik geraten: die vom NT her gesteuerte Auswahl der alttestamentlichen Lesung werde dem ‚Eigenwert‘ des AT nicht gerecht. Die Studie nimmt diese Kritik auf und weitet den meist auf die katholische Leseordnung konzentrierten Blick aus, um die Diskussion auf eine breitere Basis stellen. Dazu werden der römische Ordo Lectionum Missae, das anglikanische Four Year Lectionary und das von der Mehrzahl protestantischer Kirchen Nordamerikas verwendete Revised Common Lectionary untersucht. Verglichen werden die jeweiligen Grundoptionen, denen die Lektionare bei der Auswahl der alttestamentlichen Lesung folgen. Es wird gezeigt, wie unterschiedliche hermeneutische Vorentscheidungen über die Bedeutung des AT zu einem unterschiedlichen Repertoire an alttestamentlichen Lesungen führen. A. Francke Verlag Tübingen und Basel 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 12 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 13 1. Einführung Das Selbstverständnis einer wissenschaftlichen Disziplin läßt sich schwer erheben. Trotzdem sind Wissenschaftler immer wieder aufgefordert, über den Stand ihrer Disziplin und ihren eigenen Platz in diesem Zusammenhang nachzudenken und Auskunft zu geben. Und zum »Stand« gehört das »Selbstverständnis«. Denn dies steuert die Forschung und führt zum jeweiligen »Stand der Wissenschaft«. Das gilt besonders im Hinblick auf zwei Größen: erstens die wissenschaftlichen Kontexte der eigenen Disziplin und zweitens die nächste Generation, die in die eigene Disziplin eingeführt und unter Umständen in ihr heimisch werden soll. Selbstwahrnehmung, Außenwahrnehmung, Neugier und natürliches Interesse an Überblick und Standortbestimmung treffen sich hier und ergeben insgesamt einen starken Impuls zu fragen: »Wie steht es mit der von mir mitbetriebenen Wissenschaft? « Ein ntl. Oberseminar der Erlanger Theologischen Fakultät hat sich diese Frage gestellt und im Sommersemester 2000 das Selbstverständnis der ntl. Wissenschaft thematisiert. Daraus gingen einzelne Beiträge hervor, die wir in einen zusammenhängenden Bericht gebracht haben. 1 Unser Ziel war folgendes: aktuell und punktuell zu erfassen, darzustellen und zu veröffentlichen, wie sich die ntl. Wissenschaft versteht - als theologische Teildisziplin, als philologisch-historische oder als religionsgeschichtliche Größe? Wo liegen die Interessen? Wo und wie wird wissenschaftlich gearbeitet? Welches sind die Kontexte, die Ziele, die Perspektiven? Wo sieht das Fach seine Relevanz? Was will ntl. Forschung bewirken? Will das Fach in gegenwärtige gesellschaftliche Debatten eingreifen? Um solche Fragen anzugehen, sind Ausschnitte und Parameter notwendig. Wir beziehen uns vornehmlich auf die protestantische deutschsprachige ntl. Wissenschaft der letzten zehn Jahre bzw. eines noch kürzeren Zeitabschnitts. An einigen Punkten erweitern wir die Perspektive. Als Parameter ergaben sich uns acht erschließende Fragestellungen, die vom Allgemeinen zum Besonderen und von konsensfähigen Ergebnissen bis zur neuesten Forschung reichen. Die neue RGG (2.) zieht das Fazit aus 40 Jahren Forschung und gibt Rechenschaft über den gegenwärtigen Stand und das gegenwärtige Selbstverständnis der ntl. Wissenschaft. Konsensergebnisse und Forschungsdiskussionen werden dargestellt. Auch die zahlreichen Methoden- und Arbeitsbücher (3.) - zehn deutsche Titel seit 1990 - sind sehr allgemeine und hoffentlich zuverlässige Zeugen für den Stand und das Selbstverständnis der Disziplin, und dies besonders im Hinblick auf die nächste Generation, die in diese Wissenschaft eingeführt werden und ihre Bedeutung erkennen soll. Einen aktuellen Ausschnitt aus der gegenwärtigen Lehre gibt das Lehrangebot (4.) im Fach Neues Testament der Ev.-Theol. Zum Thema Oda Wischmeyer und Mitglieder des neutestamentlichen Oberseminars der Theologischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg Das Selbstverständnis der neutestamentlichen Wissenschaft in Deutschland Bestandsaufnahme. Kritik. Perspektiven Ein Bericht auf der Grundlage eines neutestamentlichen Oberseminars »Unser Ziel war folgendes: aktuell und punktuell zu erfassen, darzustellen und zu veröffentlichen, wie sich die ntl. Wissenschaft versteht - als theologische Teildisziplin, als philologisch-historische oder als religionsgeschichtliche Größe? Wo liegen die Interessen? « 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 13 14 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Zum Thema Fakultäten im SoSe 2000. Das Lehrangebot macht deutlich, wie das Fach von den Studierenden wahrgenommen werden soll, was als Kernbestand ntl. Wissenschaft gilt und mit welchen Spezialfragen die Studierenden befaßt werden und die Lehrenden befaßt sind. In die gegenwärtige Forschung führen am leichtesten und am direktesten die Zeitschriften (5.) ein. Hier wird relativ schnell, kurzfristig und beweglich publiziert. Ein Überblick über Beiträge der klassischen ntl. deutschsprachigen Zeitschriften ZNW und BZ aus den letzten fünf Jahren bietet sich an, dazu ein Einblick in die neue ZNT, die mit ihrer Konzeption mehr Dynamik und Aktualität in die ntl. Beiträge bringt. Die ThLZ (6.) liefert in der Dichte ihrer ntl. Rezensionen ein solides Spektrum der internationalen Buchproduktion. Der Jahrgang 1999 wird hier vorgestellt. Im Gegensatz zu den Zeitschriften und Rezensionen, die sich mit schon publizierten Titeln beschäftigen, führt der Beitrag über die gegenwärtigen Forschungsprojekte (7.) in Deutschland in die Zukunft des Faches ein, auch gerade in die Themen, die als DFG-Projekte u. ä. bereits vorweggenommene allgemeine wissenschaftliche Resonanz und Anerkennung gefunden haben. Eine gewisse internationale Perspektive läßt sich am ehesten durch einen Blick auf die SNTS-Präsidentenreden (8.) der letzten zehn Jahre und auf die SNTS-Arbeitsgruppen (9.) herstellen. Nach einem vorläufigen Fazit (10.) werden abschließend einige der - eher rar gesäten - programmatischen Beiträge der jüngsten Vergangenheit herangezogen. Im Dialog mit diesen Beiträgen soll eine Perspektive für die ntl. Wissenschaft vorgeschlagen und zur Diskussion gestellt werden. 2. Die neue RGG Die RGG gibt nicht nur einen Überblick über die gesamte Theologie, ihre Disziplinen und Nachbardisziplinen, sie spiegelt gleichzeitig wider, welche Bedeutung und welches Selbstverständnis eine einzelne Disziplin, so die ntl. Wissenschaft, gegenwärtig hat. Vergleicht man RGG 3. Aufl. mit RGG 4. Aufl. in Hinsicht darauf, wie ntl. Wissenschaft vertreten ist und sich selbst präsentiert, so fallen Kontinuitäten, aber auch Differenzen auf. Im folgenden soll zweierlei untersucht werden: Welche Bedeutung kommt der ntl. Wissenschaft im Gesamtzusammenhang von Theologie und Religionswissenschaft zu? Welches Selbstverständnis ntl. Wissenschaft zeigt sich an der formalen und inhaltlichen Konzeption zentraler RGG-Artikel beider Auflagen? Mehr als 40 Jahre 2 liegen zwischen den beiden Auflagen von RGG 3. Aufl. und RGG 4. Aufl. In diesem Zeitraum hat sich das Profil der Theologie verändert und ausdifferenziert. Die 23 verschiedenen Fächer von RGG 3. Aufl. haben sich zu 31 Fächern in RGG 4. Aufl. vermehrt. 3 Dadurch werden auch signifikante inhaltliche Akzente gesetzt. Einzelne klassische Disziplinen werden unverändert geführt (z.B. Altes Testament, Neues Testament, Dogmatik, Kirchenmusik und Kirchenrecht), andere werden perspektivisch geweitet (der Ethik und der Praktischen Theologie werden die Sozialwissenschaften, die in RGG 3. Aufl. als eigenes Fach geführt wurden, beigegeben). Schließlich expandieren die Fächer, die die universalen und pluralen Aspekte von Theologie und Religion vertreten (die Kirchengeschichte dehnt sich auf alle außereuropäischen Kontinente aus, die Ökumene wird in konfessionsverschiedene Fächer unterteilt, und die in RGG 3. Aufl. geführten Fächer Religionswissenschaft und Religionsphilosophie werden in RGG 4. Aufl. zusätzlich um die Religionsgeschichte, die nochmals chronologisch und topographisch untergliedert ist, erweitert). Das Fach Neues Testament ist in RGG 4. Aufl. also zunächst in seiner Perspektive klassisch definiert und wird von dem katholischen Neutestamentler H.-J. Klauck (ehemals München, jetzt Chicago) verantwortet. In RGG 3. Aufl. war der evangelische Neutestamentler E. Dinkler (damals Bonn) Fachberater für Neues Testament. Auch im Blick auf den Herausgeberkreis ist die Präsenz des Faches Neues Testament konstant geblieben. 4 Die Differenzierungen und Veränderungen innerhalb von Theologie und Religion haben sich aber auch im Bereich der ntl. Wissenschaft niedergeschlagen. So haben die Sparten »Neues Testament« gemessen am Gesamtumfang der RGG an Umfang verloren. 5 In RGG 3. Aufl. Bd.1 bestreitet das Neue Testament ca. 8,4% des Umfangs, in RGG 3. Aufl. Bd.2 ca. 8,7%. Dagegen macht in RGG 4. Aufl. in Bd.1 das Neue Testament ca. 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 14 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 15 Oda Wischmeyer Das Selbstverständnis der neutestamentlichen Wissenschaft 7,3%, in Bd.2 lediglich ca. 5,2% des Gesamtumfangs aus. Gemessen an der Anzahl der Fächer ist allerdings der prozentuale Anteil des Neuen Testaments konstant geblieben. 6 Das Fachgebiet Neues Testament hat also absolut gesehen an Umfang verloren, zeigt sich aber relativ gesehen konstant. Beim konzeptionellen Aufriß der RGG werden moderne inhaltliche Akzente ntl. Wissenschaft evident. Die Artikel zu den ntl. Einzelschriften, z.B. der Artikel »Apostelgeschichte«, 7 ist kaum im Umfang, aber in der Gestaltung verändert. Die Gliederung des Artikels in RGG 4 ist präziser, 8 was dem fortentwickelten Standard ntl. Exegese entspricht. Das schließt den Aspekt von Rhetorik- und Narrativik-Forschung, der neu hinzugekommen ist, ein. Dadurch wird die Unterscheidung zwischen der methodischen und der inhaltlichen Erschließung einer ntl. Schrift gefördert. Der Artikel »Ethik« 9 gehört zu den umfangreichsten Artikeln in RGG 4 überhaupt und ist gegenüber RGG 3 deutlich ausgeweitet. Wird die Ethik in RGG 3 rein philosophisch und dogmatisch erschlossen, so ist in den Artikel in RGG 4 nach einer begrifflichen und religionswissenschaftlichen Bestimmung ein biblischer Abschnitt eingefügt, der einen im Blick auf die ntl. Schriften differenzierten Zugang zur Ethik zeigt. 10 In die Gestaltung dieses Artikels wirken die zwischenzeitlich entstandenen Arbeiten zu ntl. Ethik ein. 11 Ähnlich verhält es sich mit dem Artikel »Engel«, der in RGG 4 über die kirchen- und kunstgeschichtlichen Aspekte hinaus deutlich an Umfang gewonnen und u.a. einen eigenen ntl. Abschnitt erhalten hat. 12 Ebenso enthalten in RGG 4 die Artikel »Elia« und »Bischof« 13 einen eigenständigen ntl. Passus 14 - die RGG 4 ist im übrigen vielfach klarer strukturiert, was sich gerade am »Elia«-Artikel oder auch am Artikel »Chiliasmus« 15 nachweisen läßt. Der Begriff »Dualismus« erscheint in RGG 3 nicht nur unter religionswissenschaftlichem, sondern auch unter theologischem Aspekt, 16 der u.a. einen ntl. Passus beinhaltet. In RGG 4 dagegen wird Dualismus vor allem religionswissenschaftlich und kirchengeschichtlich, worunter lediglich ein ntl. Verweis subsumiert ist, bestimmt. 17 »Dualismus« als leitende Kategorie der Paulus- und Johannes-Exegese hat demnach an Brisanz verloren. 18 Diese Vergleichsbeispiele zeigen die Entwicklung und den Standard gegenwärtiger ntl. Exegese: Neue methodische Ansätze sind hinzugekommen, und spezifische ntl. Monographien ermöglichen die Bezugnahme auf das Neue Testament in allgemein-theologischen Zusammenhängen. Gleichzeitig ist aber auch ein Verlust an traditionellen Leitbegriffen ntl. Exegese ersichtlich. Veränderungen haben sich in der Auswahl und der Benennung der Schlagworte ergeben. Das Schlagwort »Eingeborener Sohn« 19 aus RGG 3 findet sich in RGG 4 nicht mehr. Dagegen sind in RGG 4 z.B. der Artikel »Brüder / Schwestern Jesu« 20 und der Artikel »Canonical Approach« 21 neu aufgenommen. Letzterer spiegelt den angelsächsischen Einfluß auf die ntl. Exegese wider. RGG 3 führt als Schlagwort »Evangelien«, das sich auf einen formgeschichtlichen und einen synoptischen, d.h. eher literarkritisch ausgerichteten Artikel aufteilt. 22 Der Artikel »Evangelium« in RGG 4 geht von einer Begriffsbestimmung aus und faßt dann unter einem gattungsspezifischen Abschnitt literaturgeschichtliche Aspekte. 23 Diese Modifikationen hinsichtlich der Auswahl und Strukturierung der Schlagworte zeigen das veränderte Interesse an ntl. Fragestellungen auf. Ntl. Idiomata treten zurück, und moderne exegetische Oda Wischmeyer Oda Wischmeyer studierte Ev. Theologie und Germanistik in Heidelberg und Göttingen. Promotion (1973) und Habilitation (1992) in Heidelberg, seit 1993 ist Frau Wischmeyer Professorin für Neues Testament an der Theol. Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg. Forschungsschwerpunkte: Neutestamentliche Hermeneutik, Theologie des Paulus und Frühjüdische Weisheitstheologie. 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 15 16 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Zum Thema termini technici werden zu feststehenden Begriffen. Methodisch gewichtig sind literaturwissenschaftliche Ansätze, in historischer Perspektive gewinnen pragmatische Fragen an Bedeutung. Ein theologisches Lexikon wie die RGG hat auch eine konservative Tendenz. Dies wird an einem für die ntl. Wissenschaft zentralen Artikel, dem Artikel »Bibel«, 24 deutlich. In RGG 4 ist der Gesamtumfang des ntl. Abschnitts gekürzt, 25 der Aufriß und die Proportionen der Unterabschnitte sind aber nahezu unverändert. 26 Inhaltliche Unterschiede zwischen beiden Artikeln bestehen insofern, als in RGG 4 beim Prozeß der Kanonisierung gattungsspezifisch zwischen den Paulusbriefen und den Evangelien unterschieden wird. Hier haben die zahlreichen epistolographischen Arbeiten zu den Paulusbriefen eine größere Sensibilität für das Genus »Brief« geschaffen. Das wird etwa auch an der Konzeption des Artikels »Brief« in RGG 4 evident. 27 Weiter stellt der Abschnitt über die Sprache des Neuen Testaments z.T. die neuere philologische Forschungsdiskussion dar. Während der Artikel »Bibelwissenschaft« des Neuen Testaments in RGG 4 deutlich gekürzt ist, 28 hat der Artikel »Bibelkritik« 29 an Umfang gewonnen. An der Aufteilung in verschiedene Abschnitte (historisch-kritisch, literaturwissenschaftlich u.a.) und an verschiedene Autoren wird hier zudem bereits optisch die Spezialisierung ntl. Exegese erkennbar. Auf welches Selbstverständnis des Faches Neues Testament als wissenschaftlicher Disziplin im Rahmen (evangelischer) Theologie läßt sich also aus der Neuauflage der RGG rückschließen? Der Stellenwert ntl. Wissenschaft im Kontext der Fragen zu Religion in Geschichte und Gegenwart nimmt - gemessen an der Ausweitung der Fachgebiete - insgesamt nicht ab. Das ergibt zumindest der Vergleich von RGG 3 und RGG 4 . Inzwischen präsentiert sich ntl. Wissenschaft zunehmend ökumenisch - das betrifft gleichermaßen die Autorenschaft, die Begriffsauswahl und die Sachinformationen sowie die methodische Disposition der Einzelartikel. Die Vielfalt methodischer Ansätze in der ntl. Exegese, die Zunahme begrifflicher und thematischer Spezial-Monographien im Bereich ntl. Theologie festigen die ntl. Wissenschaft als klassische theologische Disziplin. Die ntl. Wissenschaft partizipiert an den modernen Entwicklungen in Theologie und Religion. Die RGG präsentiert als Lexikon primär aber nicht den gegenwärtigen Stand etwa der ntl. Wissenschaft. Sie ist vielmehr begriffsbezogen bzw. definitorisch und zielt auf Information. So können Entwicklung, Bedeutung und Selbstverständnis des Faches Neues Testament nur implizit, und zwar in zweifacher Hinsicht erhoben werden: Evident ist eine Differenzierung und Präzision methodischer Zugänge sowie eine erhöhte Einflußnahme auf allgemein theologische Begriffsbestimmungen. Wissenschaftstheoretische Impulse dagegen gehen von den RGG-Artikeln kaum aus. So wird weder eine hermeneutische Diskussion über die Ansätze und Zugänge zum Verstehen des Neuen Testaments geführt, noch werden kritische Reflexionen oder weiterführende Perspektiven in bezug auf die ntl. Wissenschaft gewagt. 3. Methoden- und Arbeitsbücher Methodenbücher sind von Natur aus konservativ, weil sie sich nicht der Forschung widmen, sondern Lehrbuchcharakter haben: Sie richten sich vor allem an Studierende und wollen einen gewissen common sense der ntl. Wissenschaft vermitteln. Die verhältnismäßig große Menge und die hohen Auflagen dieser Bücher lassen auf gute Verkaufszahlen schließen. Gleichzeitig achten die Verlage auf aktuelle Neuauflagen, die von jungen Wissenschaftlern erarbeitet werden. Daher können wir hier Auskunft über das derzeitige Selbstverständnis der ntl. Wissenschaft erhalten sowie darüber, wie der »Stand der Technik« im Neuen Testament zur Zeit ist. Eine Durchsicht der wichtigsten deutschsprachigen Methodenbücher 30 ergibt folgendes Bild: Die vier »klassischen« Methoden Textkritik, Literarkritik, Formgeschichte und Redaktionsgeschichte 31 werden nach wie vor gelehrt. Auch linguistische Methoden gehören mittlerweile zum klassischen Methodenkanon. Forderte K. Kliesch in seinem Anhang zur Linguistik an H. Zimmermanns Methodenlehre eine Neuorientierung der ntl. Exegese aufgrund der modernen Sprachwissenschaft, 32 so hat 1987 als erster W. Egger eine ntl. Methodenlehre vorgelegt, die ganz von der Texttheorie ausgeht und die Lektüre unter synchronem Aspekt erschließt. 33 Die linguistische Fragestellung, in die er nach der Textkritik 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 16 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 17 Oda Wischmeyer Das Selbstverständnis der neutestamentlichen Wissenschaft einführt, erhält so breiten Raum, daß sie geradezu als Leitmethode erscheint. 34 Die klassischen ntl. Methoden bilden erst einen zweiten Textzugang. Die Rückfrage nach der Historie ist davon getrennt und erhält einen eigenen Abschnitt. 35 Dies grundsätzlich neue Modell hat sich bei keinem anderen Methodenbuch durchgesetzt, vielmehr haben die Autoren in ihrem Methodenensemble der Linguistik unterschiedliche Plätze angewiesen. J. Roloff hat ( 7 1999) die Literarkritik zur »literarischen Analyse« erweitert und dabei den Fragen nach Semantik, Grammatik, Stil und Textpragmatik Raum gegeben. 36 U. Schnelle behandelt diese Methoden unter der Überschrift »Textanalyse« nach der Text- und vor der Literarkritik. 37 K. Berger verbindet Linguistik und Formgeschichte. W. Fenske gliedert sein Arbeitsbuch in vier Hauptschritte »Text, Ursprung, Hintergrund, Auslegung«. 38 Synchrone und diachrone Zugänge werden hierdurch sachgerecht zugeordnet. Th. Söding stellt die Textdimensionen in einem gut verständlichen literarischen Textmodell dar. 39 Die vom Arbeitskreis für evangelikale Theologie geförderte Einführung in die Methoden der Exegese von H.W. Neudorfer und E.J. Schnabel nimmt »sprachwissenschaftliche Aspekte« mit sichtlicher Begeisterung auf. 40 Die ntl. Exegese hat also die Linguistik soweit integriert, wie sie sich auf die synchrone Analyse ntl. Texte sinnvoll anwenden läßt. 41 Ausnahmen bilden die Arbeitsbücher von M. Meiser und auch von Conzelmann / Lindemann (12. Auflage), die nur in die diachrone Textanalyse einführen. Überlegungen zur Hermeneutik finden sich in fast jedem Methodenbuch. Dabei wird der hermeneutische Zirkel immer öfter auch vom Aufbau des Buches her beachtet: Egger und Fenske etwa rahmen ihre Bücher mit hermeneutischen Überlegungen. 42 Die »Einführung« von Adam u.a. setzt mit fundierten Überlegungen zur Auslegung und zum Verstehen ein. 43 Auch Neudorfer / Schnabel 44 und Meiser 45 beginnen mit einem Kapitel zur Hermeneutik. Das Hermeneutikkapitel soll auch die Fragen der Anwendung ntl. Texte klären, hier wäre also auch der Ort, um das Verhältnis von nichtwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Zugängen zum Neuen Testament zu klären. Dies geschieht selten, Egger, 46 Meiser 47 und Söding 48 sind hervorzuhebende Ausnahmen. Wenn hier zwei katholische Autoren einem evangelischen gegenüberstehen, so kann man eine geringfügige konfessionelle Tendenz ausmachen, 49 im großen und ganzen aber fallen weder in bezug auf die exegetischen Methoden noch in bezug auf die Hermeneutik konfessionsbedingte Differenzen auf. Oft nicht als eigene Methodenschritte ausgewiesen, aber bereits dem Methodenkanon zugehörig sind Kompositionskritik, Traditionsgeschichte, Motivgeschichte, Religionsgeschichte und auch archäologische Überlegungen. Sie finden sich je nach Lehrbuch in der Formgeschichte, der Einzelexegese und der Redaktionsgeschichte. Die Themen außerhalb des breiten Stromes der allgemeinen Übereinstimmung können darauf hinweisen, wo zur Zeit geforscht wird. Bei Fenske etwa finden sich als zusätzliche Themen »Soziologie / Sozialgeschichte; Rezipient / Rezipientin; Wirkungsgeschichte«. Dies sind drei schon bewährte Fragestellungen, deren Aufnahme in den allgemeinen Methodenkanon wünschenswert wäre. 50 Die von M. Hengel 1993 geforderte Erweiterung der Textgrundlagen der ntl. Exegese nach hinten und vorne 51 nimmt keines der durchgesehenen Methodenbücher auf. Entsprechende Textsammlungen werden lediglich unter den Hilfsmitteln aufgeführt 52 . Nur drei Methodenbücher thematisieren die neuen Arbeitsmöglichkeiten, die sich im Zeitalter der PCs anbieten: Bei Schnelle finden sich Hinweise zur Texterstellung per Computer, 53 auf das Internet weisen Schnelle, 54 Adam 55 und Söding 56 hin, CD-Roms wie Accordance oder Bible Works sprechen Neudorfer / Schnabel, 57 Söding 58 und Adam 59 an. Darüber hinaus geben die Autoren allerdings keine weiteren Einschätzungen, Anregungen oder Hilfestellungen. Einen bunten Strauß neuer Methoden überreichen S. Alkier und R. Brucker. Ihr Buch will kein Methodenbuch sein, sondern die ntl. Exegese interdisziplinär voranbringen. Ntl. Wissenschaftlichkeit soll sich hier im Aufgreifen außertheologischer Disziplinen bewähren. (Manche dieser Anregungen werden sich als Luftballon davonmachen, anderen ist Beachtung zu wünschen.) Von den beiden Aufsätzen, die die Voraussetzungen von Methoden diskutieren, 60 könnten die Lehrbücher lernen: Die Reflexion des eigenen Tuns beschränkt sich in den Methodenbüchern auf Andeutungen im Vorwort. Eine Wissenschaftsdiskussion fehlt, die Methoden an sich werden als Garanten für die Wissenschaftlichkeit gehalten. 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 17 18 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Zum Thema Die durchgesehenen Methodenbücher leisten keine Einführung in das Fach »Neues Testament« und reflektieren auch nicht das Selbstverständnis des Faches als einer wissenschaftlichen Disziplin. Das Ziel ist die Anleitung zur Anfertigung einer Proseminararbeit. Dazu paßt es, daß Überlegungen zur Einordnung des Faches Neues Testament in die Theologie als Ganzes kaum geboten werden: Wenn es im Vorwort des Meiserschen Arbeitsbuches heißt, daß die Gemeinsamkeiten der Exegese zwischen AT und NT in der Erforschung von Situation und Aussage historischer Texte lägen, 61 deutet der Zerfall des ursprünglich einbändig geplanten Werkes in zwei Bände sinnfällig das nicht weiter reflektierte Nebeneinander der Disziplinen an. 62 Einzig Söding stellt in einem Schaubild die Verortung der Exegese in den theologischen Disziplinen dar, 63 und O. Kaiser 64 formuliert kurze Bemerkungen zur Stellung der exegetischen Fächer in der Theologie. Eine Verhältnisbestimmung von theologischer Wissenschaft zu Kirche und Gesellschaft bzw. Überlegungen zur Bedeutung der Exegese in diesen Bereichen fehlen in allen durchgesehenen Methodenbüchern. 65 4. Lehrangebot Das Selbstverständnis ntl. Wissenschaft spiegelt sich auch im Lehrangebot der insgesamt 26 evangelisch-theologischen Fakultäten in Österreich, der Schweiz und Deutschland wider. 66 Um diesem Selbstverständnis auf die Spur zu kommen, wurden daher sämtliche Lehrveranstaltungen 67 des SoSe 2000 zusammengetragen und anhand von vier Leitfragen ausgewertet. 68 Frage 1 lautete: Welche Themenbereiche wurden im SoSe 2000 häufig behandelt, welche wurden nur am Rande gestreift? Welche Arbeitsform (Vorlesung, Seminar, Übung) wurde jeweils bevorzugt? Eine Durchsicht ergibt folgende Ergebnisse: Die große Mehrheit der Lehrveranstaltungen befaßte sich mit ntl. Schriften / Texten (56 Veranstaltungen) und mit spezifisch ntl. Themen wie »Paulus« oder den »Gleichnissen« (ebenfalls 56 Veranstaltungen). Im Bereich der ntl. Schriften / Texte dominierte die Arbeitsform der Vorlesung, bei den ntl. Themen das (Pro-, Haupt-) Seminar. An nächster Stelle standen Lehrveranstaltungen, die sich mit dem antiken Judentum, der Judaistik oder dem Verhältnis Judentum - Christentum beschäftigten: Mit 29 Veranstaltungen lag dieser Themenkomplex noch vor der Beschäftigung mit Themen aus der sog. Umwelt des NT (wie z.B. »Palästina zur Zeit Jesu«) mit 22 Veranstaltungen. In den beiden Bereichen dominierten die Arbeitsformen des Seminars und der Übung. Es fanden weiterhin insgesamt 20 Veranstaltungen zu den verschiedensten Sonderthemen statt (z.B. »Religion und Ästhetik«). Bevorzugte Arbeitsform war auch hier das Seminar. Die Zahl der Veranstaltungen, die sich explizit und reflexiv mit der ntl. Wissenschaft selbst bzw. mit der Reflexion der Exegese und ihrer Methoden befaßten, belief sich auf neun. Zwei dieser Veranstaltungen beschäftigten sich mit der Hermeneutik des NT. Weiterhin fanden vier Übungen statt, die sich mit dem Hellenismus und / oder mit hellenistischen Quellen befaßten. Am wenigsten Veranstaltungen, nur drei Übungen, wurden zum Themenkomplex der Frauenforschung im NT angeboten. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß sich das Lehrangebot der ntl. Wissenschaft im SoSe 2000 v.a. auf das NT selbst und seine (sozio-historische) Umwelt konzentrierte. Zur Arbeitsform ergab sich: Im SoSe 2000 fanden 23% aller Veranstaltungen als Übung statt. Vorlesungen machten 29% aller Veranstaltungen aus. Die beliebteste Arbeitsform war das (Pro-, Haupt-) Seminar (48% aller Veranstaltungen). Diese Zahlen deuten darauf hin, daß in der ntl. Lehre eine intensive Mitarbeit der Studierenden erwartet wird und daß die meisten ntl. Themen als sehr umfangreich und arbeitsaufwendig erachtet werden. »Eine Verhältnisbestimmung von theologischer Wissenschaft zu Kirche und Gesellschaft bzw. Überlegungen zur Bedeutung der Exegese in diesen Bereichen fehlen in allen durchgesehenen Methodenbüchern.« 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 18 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 19 Oda Wischmeyer Das Selbstverständnis der neutestamentlichen Wissenschaft Frage 2 lautete: Wie oft wurden einzelne Veranstaltungen angeboten, wie oft wurde z.B. Röm gelesen? Von welchen Forschungsinteressen wurde das Lehrangebot am stärksten geprägt? Insgesamt wurden 23 Veranstaltungen zur Einführung in die exegetischen Methoden angeboten. Zur Bibelkunde des NT gab es dreizehn Veranstaltungen. 69 Ein wichtiger Schwerpunkt des Lehrangebotes war die Beschäftigung mit Joh mit insgesamt zwölf Veranstaltungen. An nächster Stelle standen Jesus und Paulus: Jeweils insgesamt zehn Veranstaltungen befaßten sich mit Leben, Tod und / oder Auferstehung Jesu und mit Leben und/ oder Denken des Paulus. Eine »Einführung ins NT« fand neunmal statt. Besonders beliebt war auch das Thema »Gleichnisse«, mit dem sich immerhin sieben Veranstaltungen beschäftigten. Insgesamt sechs Veranstaltungen befaßten sich im SoSe 2000 mit Themen, die traditionell dem dogmatischen Locus der Eschatologie zugeordnet werden: Sterben und Tod, ewiges Leben, Auferstehung, Eschatologie und Apokalyptik. Von den Synoptikern standen besonders Mt bzw. einzelne Kapitel daraus im Zentrum des Interesses (sechs Veranstaltungen). Eine »Theologie des NT« wurde ebenfalls sechsmal angeboten. Auch die echten Paulusbriefe fanden Beachtung: Es wurden v.a. Röm (fünfmal), 1Kor (viermal), Gal (dreimal) und Phil (zweimal) gelesen. Mit je vier Veranstaltungen wurden Mk, Lk und Apg, das Urchristentum und das (Früh-) Judentum bedacht. Der Jak wurde immerhin dreimal gelesen. Jeweils zwei Veranstaltungen gab es u.a. zu folgenden Themen: Q, Pastoralbriefe, Hebr, Wunder, Abendmahl und »Exegese und Homiletik«. Insgesamt läßt sich vermuten, daß das Lehrangebot v.a. von fünf Forschungsinteressen bestimmt wurde: Von der »johanneischen Frage«, der »neuen Jesusfrage«, der Beschäftigung mit Paulus - wobei nicht zu erkennen war, ob dies auch die »new perspective on Paul« umfaßte -, von der Auseinandersetzung mit dem Judentum und seinen Schriften und von der neueren Gleichnisforschung. Es schloß sich Frage 3 an: Wie verhielten sich ntl. Forschung und Lehre zueinander? Als Ergebnis läßt sich ausmachen: Die meisten Veranstaltungen befaßten sich mit der reinen Vermittlung des exegetisch-methodischen Instrumentariums und des inhaltlichen Wissens zum NT und seiner Umwelt. Andererseits gab es im SoSe 2000 fünf Oberseminare (2% aller Veranstaltungen), die wohl auch der Forschung dienten. Insgesamt läßt sich sagen, daß die ntl. Forschung zwar die im SoSe 2000 angebotenen Lehrveranstaltungen durchaus befruchtet haben dürfte, daß sie jedoch zum überwiegenden Teil nicht im Rahmen des universitären Lehrbetriebes stattfand. Es ist zu vermuten, daß die Studierenden zwar inhaltlich an den neuesten Forschungsstand herangeführt, aber nur selten mit dem Prozeß ntl.-wissenschaftlicher Forschung selbst vertraut gemacht bzw. darin einbezogen wurden. Die 4. Frage lautet: Gab es im Lehrangebot Bezüge zur aktuellen gesellschaftlichen Situation? Die meisten angebotenen Lehrveranstaltungen ließen in ihrer Ankündigung keinerlei Gegenwartsbezug erkennen. Nur 9% aller Lehrveranstaltungen explizierten ihren Gegenwartsbezug ausdrücklich, etwa die Vorlesung zum Nietzsche- Jahr »Nietzsche und das NT«. Bei weiteren 7% aller Veranstaltungen konnte ein Bezug zur aktuellen gesellschaftlichen Lage wenigstens vermutet werden, etwa bei den eschatologischen Themen i.w.S. der Bezug zum »Millennium« bzw. zum »Jahr 2000«. Die ntl. Wissenschaft scheint in ihrem Lehrangebot kein großes Interesse daran zu haben, auf die aktuelle Relevanz und gesellschaftliche Bedeutung ihres Forschungsgegenstandes, des NT, hinzuweisen - obwohl sie doch als universitäre Wissenschaft solche gesellschaftliche Relevanz für sich und ihr Thema beansprucht. Als Fazit ergibt sich: Die Universitätsdisziplin »Neues Testament« präsentierte sich in ihrem Lehrangebot im SoSe 2000 v.a. als text- und geschichtsorientierte, nur selten als gegenwartsbezogene Wissenschaft. Eine Selbstreflexion über ihre Wissenschaftlichkeit fand nur am Rande des Lehrbetriebes statt. Inhaltlich hat sich die Lehre der ntl. Wissenschaft vor allem für Joh, Jesus, Paulus, das Judentum und die Gleichnisse interessiert. Sie erwartete von den Studierenden intensive Mitarbeit und machte sie mit dem Forschungsstand vertraut, ohne sie jedoch in den Prozeß der Forschung direkt einzubeziehen. 5. Zeitschriften Fachzeitschriften stellen ein wichtiges Forum gegenwärtiger Forschung dar. Die Jahrgänge des 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 19 20 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Zum Thema Jahres 1999 und 2000 von drei repräsentativen deutschsprachigen Zeitschriften mit dem Schwerpunkt Neues Testament sollen hier näher betrachtet werden. Die »Zeitschrift für die Neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche« (ZNW) befindet sich im Jahr 2000 im 91. Jahrgang. Die Hauptherausgeberschaft ist 1998 von E. Gräßer - er war seit 1982 Herausgeber - auf M. Wolter übergegangen (beide Bonn). Mitherausgeber sind H.C. Brennecke, H. Lichtenberger, L.T. Stuckenbruck, unter Mitwirkung von J.D.G. Dunn, R.B. Hays, J.-D. Kaestli, P. Lampe und D. Zeller. Der Herausgeberkreis bleibt überwiegend deutschsprachig und protestantisch, ist aber in den angelsächsischen Sprachbereich hinein ausgeweitet worden. 30 Prozent der Aufsätze und »Miszellen« sind in englischer Sprache, selten erscheint auch ein Aufsatz in französischer Sprache. Die Zeitschriftenschau informiert über die Titel der wichtigsten neuen Aufsätze zum Neuen Testament und seinem Umfeld. Außerdem wird eine Auswahl von Forschungsprojekten, Kongressen und Preisausschreiben angekündigt. Diskussionen werden innerhalb der Zeitschrift selten geführt. Auch das Fach Neues Testament als solches, neue exegetische Methoden oder Entwicklungen in der Hermeneutik werden in dieser Zeitschrift wenig diskutiert. Die meisten Autoren arbeiten an Fragen der Texte oder der Semantik. Hinweise auf den Stand der ntl. Wissenschaft oder hermeneutische Reflexionen werden - je nach Autor und Thema - nur versteckt gegeben. Es wird eingehende philologische Forschung betrieben. Die Neuansätze in der Forschung, z.B. die Anwendung der griechisch-römischen Rheto rik auf die ntl. Briefe, werden aufgenommen, doch methodische Neuansätze kommen wenig zur Sprache. Besonders häufig werden in den letzten Jahrgängen Aufsätze zum Johannesevangelium veröffentlicht, auch das Markusevangelium und der Galaterbrief werden wieder stärker berücksichtigt, die Logienquelle und die Apostelgeschichte werden in den letzten Jahrgängen nicht thematisiert. Werfen wir einen Blick auf die katholische Schwesterzeitschrift der ZNW, die »Biblische Zeitschrift». Die »Neue Folge« (BZ N.F.) befindet sich im Jahr 2000 im 44. Jahrgang. Sie wird von E. Zenger (AT; seit 1998) und H.-J. Klauck (NT; seit 1993) herausgegeben. Vorher waren J. Schreiner und R. Schnackenburg mit der Herausgabe der Biblischen Zeitschrift betraut. Die Zeitschrift deckt den gesamten biblischen Kanon der römisch-katholischen Kirche ab. Die Zeitschrift weiß sich »wissenschaftlicher und ökumenischer Offenheit« 70 verpflichtet. Neben Aufsätzen und kleineren Beiträgen führt die Zeitschrift unter »Umschau und Kritik« einen breiten Rezensionsteil, der fast ein Drittel der Zeitschrift umfaßt. Neue Entwicklungen in der ntl. Wissenschaft kommen vor allem in Kongreßberichten zur Sprache. Im Abstand von einigen Jahren weist die BZ N.F. auf bibelwissenschaftliche Dissertationen und Habilitationen hin, die den Herausgebern aus den Katholischen Fakultäten gemeldet wurden, zuletzt in BZ N.F. 39 (1995) 312-319 und BZ N.F. 42 (1998) 315-319. Der Blick könnte hier allerdings längst über die katholische Exegese hinausgehen und die ntl. Dissertationen evangelischer Fakultäten mit einbeziehen. Häufiger als in der ZNW wird über Entwicklungen in Teilbereichen des Faches Neues Testament berichtet. So zeigt R. Hoppe in einem überblicksartigen Aufsatz »Aufgabenstellung und Konzeption einer Einleitung in das Neue Testament« wesentliche neuere Entwicklungslinien auf. 71 Hat sich die klassische Einleitungswissenschaft von der Einleitung als Textgeschichte über die Kanonkritik bis hin zur Literaturgeschichte ausgeweitet, so haben die vier neuesten Einleitungen je eigene Schwerpunkte: U. Schnelle behandelt die ntl. Literatur in historischer Anordnung und beginnt mit den Paulusbriefen, I. Broer betont die Gattung Evangelium, R.E. Browns Einleitung enthält auch Kurzüberblicke über die literarische Anfertigung antiker Literatur, B.D. Ehrmann vertritt einen literaturhistorischen Ansatz, der auch über die Kanongrenzen hinausgeht. R. Hoppe hält den gegenwärtigen Stand fest: Ph. Vielhauer habe die Kanonüberschreitung bis zur patristischen Literatur abgesteckt. »Diese vorgegebene Linie bedarf nun der Zuordnung zur außerchristlichen Literatur.« 72 Entscheidend sei dabei die Frage, wie konstruktiv sich die frühe christliche Literatur auf die pagane Umwelt eingelassen hat. Dies habe man erst in Teilbereichen erforscht. Eine kritische Selbstreflexion des Faches findet statt, wenn man über bisher nicht hinterfragte Fachtermini nachdenkt. So kritisiert W. Reinbold den von Apg 6,1 abgeleiteten ntl. Fachbegriff »die 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 20 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 21 Oda Wischmeyer Das Selbstverständnis der neutestamentlichen Wissenschaft Hellenisten«. 73 Er sei von Lukas nicht als Parteienbegriff gemeint, werde aber in der ntl. Wissenschaft so gebraucht. Er schlägt vor, die Namen der griechischsprechenden adelphoi konkret zu nennen oder »die Sieben« (Apg 21,8) zu sagen. Auch hermeneutische Entwicklungen finden in der BZ Beachtung: Ausgehend von den literaturwissenschaftlichen Ansätzen von H.R. Jauß und W. Iser hebt E.V. McKnight 74 den Wert der Leserorientierung hervor: Die Leser werden dazu befreit, »dem Text einen Sinn zu entnehmen im Licht ihres eigenen Standortes und ihrer eigenen ›Sprache‹«. 75 »Es können durch die Einbeziehung des Lesers Ebenen von Sinn und Wissen erfahren werden, die mit dem Paradigma der Aufklärung verlorengegangen sind.« 76 Eine Ermutigung für die katholische ntl. Exegese stellt das letzte Dokument der Päpstlichen Bibelkommission dar, das von H.-J. Klauck 77 vorgestellt und kommentiert wird. Es erteilt dem Fundamentalismus eine Absage, stimmt der historisch-kritischen Arbeit zu und zählt einige Methoden auf. Unterbelichtet bleiben in dem Dokument allerdings die Sprechakttheorie und religionsgeschichtliche Zugänge. F. Hahn 78 nimmt in der Biblischen Zeitschrift zu Grundproblemen einer ntl. Theologie Stellung. Der Aufsatz führt in die Problematik ein und nennt wichtige Veröffentlichungen hierzu. Die »Zeitschrift für Neues Testament« (ZNT) wird überwiegend von jüngeren Neutestamentlern im deutschsprachigen Raum herausgegeben: S. Alkier, K. Erlemann und R. Heiligenthal. Im weiteren Kreis der Redaktion befinden sich K. Berger, P. Busch, A. von Dobbeler, D. Frickenschmidt, G. Faßbeck, M. Gielen, M. Klinghardt, G. Röhser, M. Sasse, H. Tiedemann, M. Vogel, B. Wander und J. Zangenberg. Die Zeitschrift befindet sich erst im fünften Jahrgang. Der Untertitel der ZNT spricht einen sehr viel breiteren Leserkreis an als die beiden erwähnten Zeitschriften: »Das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft«. Das Ziel ist, die Lücke zwischen akademischer, fachlich spezialisierter Forschung einerseits und medienwirksam vereinfachter theologischer Diskussion andererseits auszufüllen. 79 So soll eine Brücke zwischen wissenschaftlicher Textauslegung und kirchlich-schulischer Praxis geschlagen und über die aktuelle Diskussion informiert werden. Der von U. Luz und J. Schröter eingeforderte rational nachvollziehbare und öffentliche Dialog der ntl. Wissenschaft 80 wird in der ZNT vor allem mit fortbildungswilligen kirchlichen Mitarbeitern und Religionslehrern geführt. Anliegen des interkonfessionellen und interkulturellen Gesprächs kommen ebenso zur Sprache wie die neuen Ansätze der anglo-amerikanischen Exegese (z.B. »Cultural Studies«) oder der feministischen Exegese. Jede zweite - früher jede vierte - Ausgabe der ZNT ist einem Leitthema gewidmet, bisher den Themen »Jesus Christus«, 81 »Interreligiöser Dialog«, 82 »Wunder« 83 sowie »Gericht und Zorn Gottes«. 84 Dem Ziel der Vermittlung von Forschungsergebnissen dient auch die Aufteilung in fünf Rubriken: 1. »Neues Testament aktuell« 2. »Zum Thema« 3. »Kontroverse« 4. »Hermeneutik und Vermittlung« 5. »Buchreport«. Umfangreiche und schlecht erreichbare Dissertationen und Neuerscheinungen werden in der ZNT mutig auf die lesbare Größe eines Aufsatzes gebracht, ohne daß sie an wissenschaftlichem Niveau verlieren. Die Herausgeber wünschen sich eine kritische Begleitung der Zeitschrift durch die Leserinnen und Leser. 85 Im Heft 6/ 2000 werden auch zwei kritische Leserbriefe abgedruckt. Teilweise zeigen gerade auch die Schwächen der Zeitschrift Probleme der deutschsprachigen ntl. Forschung selbst auf. Die Kontroverse »Homosexualität im Neuen Testament. Ein kulturelles oder ein theologisches Problem? « 86 stellt kaum gegensätzliche Positionen dar. Die Debatte wird gegenwärtig auch nicht mehr als ein Streit um verschiedene Auslegungen der Bibel geführt. Auch bei den Kontroversen in anderen ZNT-Ausgaben ist erkennbar, daß die Kontrahenten nicht ausreichend aufeinander Bezug nehmen. Es fehlt nicht nur der öffentliche Dialog, sondern auch die Dialogfähigkeit innerhalb der ntl. Wissenschaft. 87 Das gilt auch für den interreligiösen Dialog, der in der ntl. Wissenschaft noch völlig in den Anfängen steckt. In dem mutigen Themenheft der ZNT »Interreligiöser Dialog« kommt als jüdischer Vertreter der Reformrabbiner T. Ben-Chorin zur Sprache. Er führt die Diskussion nur bis zum Jahr 1974. 88 Wurde seitdem das Neue Testament von Juden nicht mehr wahrgenommen? Gibt es auch aktuelle Stellungnahmen orthodoxer Vertreter des 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 21 22 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Zum Thema Judentums, die zur Wahrnehmung des NT im Judentum etwas beitragen könnten? Ein islamischer Wissenschaftler kommt in dem Themenheft gar nicht zur Sprache, auch wenn die Frage »Ist vom NT her ein christlich-islamischer Dialog möglich? « bejaht wird. 89 Insgesamt erwecken vor allem die beiden Flaggschiffe der ntl. Wissenschaft ZNW und BZ N.F. den Eindruck, daß das Neue Testament eine fest etablierte philologische und religionsgeschichtliche Wissenschaft ist, die ihre Ergebnisse allerdings kaum nach außen hin mitteilt. Die Brauchbarkeit der Ergebnisse für andere theologische Fächer ist nicht im Blick. Die interkonfessionelle Zusammenarbeit ist inzwischen auf der Basis historischer Textarbeit gelungen. Sonstige interdisziplinäre Wechselbeziehungen finden kaum statt. Der Aktualitätsbezug der vornehmlich als antike Religionswissenschaft betriebenen ntl. Wissenschaft bleibt insgesamt verborgen. Es bleibt weitgehend unklar, warum ein Problem gerade jetzt bearbeitet wird. Der exegetische Dialog nimmt in den Zeitschriften kaum die Fragestellungen der Öffentlichkeit auf. Die Daseinsberechtigung der Zeitschriften hängt jedoch letzten Endes davon ab, ob es ihren Autoren gelingt, die Relevanz und die Aktualität der Bibel für die heutige Gesellschaft und die christlichen Konfessionen aufzuzeigen. Der kürzlich formulierten Kritik von W. Stegemann, 90 die deutsche ntl. Exegese sei eine provinzielle Fachgelehrsamkeit geworden, weil sie weder an den internationalen Diskursen des Faches selbst noch an den über ihr Fach hinausgehenden relevanten sozial-, kultur- und literaturwissenschaftlichen Diskursen teilnehme, vermag die ZNT derzeit wohl am besten etwas entgegenzusetzen. Neue exegetische Zugänge werden in dieser Zeitschrift zur Debatte gestellt, und der Blick wird auf einen weiteren Leserkreis in Universität, Schule und Kirche ausgeweitet. Die Möglichkeiten des Internets für einen Dialog mit einer weiteren Öffentlichkeit werden von allen Zeitschriften noch zu wenig genutzt. 91 Eine derartige Öffnung der historisch-philologisch und religionsgeschichtlich betriebenen Wissenschaft würde interessante Vermittlungs- und Applikationsprobleme aufwerfen, die von den Kirchen, z.B. durch sorgfältig aufbereitete Bibelkurse, zu bewältigen wären. Hier liegen noch unerkannte Aufgaben und ungenutzte Potentiale. 6. Theologische Literaturzeitschrift Um einen Einblick in die Publikationslage im Fach Neues Testament zu erhalten, wurden die Rezensionen des Jahrgangs 1999 der ThLZ aus dem Bereich Neues Testament gesichtet und ausgewertet, z.T. auch Rezensionen aus den Bereichen Bibelwissenschaft / Hermeneutik (3) und Altes Testament (1), wenn es sich dabei um eine für die ntl. Wissenschaft wichtige Methodenreflexion handelt. Insgesamt wurden auf diese Weise 80 neuere theologische Veröffentlichungen in die kritische Sichtung einbezogen, die Tendenzen und Schwerpunkte der ntl. Forschung erkennen lassen. Mehr als ein Viertel der 1999 in der ThLZ rezensierten Veröffentlichungen waren Dissertationen (22), dazu zwei Habilitationen, d.h. die Nachwuchsforschergeneration ist gut vertreten. 16 Monographien und 14 Kommentare wurden rezensiert. Einige fallen durch einen großen Umfang auf - Ausdruck der zunehmenden Fülle des Sachwissens und der divergierenden Positionen im Fach Neues Testament. Von 11 Sammelbänden befassen sich fünf mit methodischen und / oder hermeneutischen Fragestellungen. Sieben Veröffentlichungen betreffen den Bereich der Einführung und Methodik. Kaum Neuerscheinungen gab es zur Theologie des Neuen Testaments: eine Theologiegeschichte mit einer lokalgeschichtlichen Darstellung 92 und eine Grundlegung zu einer ntl. Theologie. 93 Aus der Sicht der Rezensionen ist die ntl. Wissenschaft eine Domäne von Männern, denn insgesamt wurden nur sieben Werke von Frauen (mit-)verfaßt, davon drei Dissertationen, 94 zwei Monographien 95 und zwei Bücher zur Methodik. 96 Inhaltlich wird das klassische Spektrum der ntl. Schriften abgedeckt. Jeweils fast ein Viertel der rezensierten Werke befaßt sich mit den Synoptikern oder mit Paulus, danach kommen die johanneischen Schriften mit der Apokalypse, auch Kolosser-, Epheser- und Hebräerbrief wurden bearbeitet. Zu den Pastoralbriefen, dem 2.Thessalonicherbrief, 1./ 2.Petrus-, Judas- und Jakobusbrief sind keine Forschungsbeiträge rezensiert worden. Sechs Werke befassen sich mit übergeordneten und / oder historischen Fragestellungen: Jesus im Neuen Testament, 97 die rechtshistorische Untersuchung des Prozesses Jesu, 98 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 22 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 23 Oda Wischmeyer Das Selbstverständnis der neutestamentlichen Wissenschaft von Jesus zur Kirche, 99 die Deutung der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 n.Chr. in den ersten drei nachchristlichen Jahrhunderten. 100 Außerdem wird in einer Veröffentlichung der ntl. Forscher J.B. Lightfoot gewürdigt. 101 Ein sowohl ntl. als auch praktisch-theologisches Werk untersucht die Rezeption ntl. Wundergeschichten bei Schülern mit empirischen Methoden. 102 Während religionsgeschichtliche und historische Fragestellungen in einem großen Teil der Arbeiten von Bedeutung sind, spielt die hellenistisch-römische Umwelt nur eine untergeordnete Rolle. Das Judentum und das Alte Testament sind als Verständnishintergrund häufig im Blick. Jesus 103 und Paulus 104 können beinahe ausschließlich vom Judentum her verstanden werden. Auch in der Methodik zeigt sich dies aktuelle Forschungsinteresse: Allein sieben Arbeiten und ein Sammelband befassen sich mit der Rezeption alttestamentlicher Texte oder Traditionen in ntl. Schriften. Aus dem Bereich der Feministischen Exegese wurde nur ein Buch rezensiert, das sich mit der Haltung Jesu zu den Frauen befaßt. 105 Da die Verfasserin streng redaktionskritisch arbeitet, darf diese Arbeit bezüglich der Methodik und Ergebnisse nicht als repräsentativ für die feministische Forschung angesehen werden, die zur Zeit offensichtlich kaum mit neuen Impulsen in Erscheinung tritt. Betrachtet man die rezensierten Bücher unter dem Gesichtspunkt der Methodik, ergibt sich ein sehr uneinheitliches Bild. Von den 14 Kommentaren arbeiten 11 immer noch hauptsächlich nach dem konservativen Methodeninventar, wobei zum Teil rhetorische oder strukturanalytische Analysemethoden hinzugenommen werden. Bei zwei Kommentaren wird konsequent synchron gearbeitet. 106 Von den 22 Dissertationen und zwei Habilitationen greifen nur noch etwa ein Viertel auf die üblichen historischen oder historisch-kritischen Zugänge zum Thema zurück. Im übrigen werden einzelne oder mehrere neuere Methoden auf Texte angewandt: rhetorische, strukturanalytische, literaturwissenschaftliche, narrative und rezeptionsorientierte Analyse sowie Methoden aus den Bereichen der Symbol- oder Sprechakttheorie. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei den 16 Monographien. Diese neue und sehr freie Verwendung unterschiedlicher methodischer Ansätze hat noch nicht auf die spezifische Methodenliteratur durchgeschlagen. Von den erfaßten Büchern behandeln drei eher Themen aus dem methodischen Bereich und zwar zur antiken Briefliteratur, 107 zur Semiotik 108 und zum Erlernen der griechischen Sprache. 109 Zwei weitere Bücher befassen sich vertieft mit der Reflexion von Methoden der Jesusforschung 110 und mit der Untersuchung einer biblischen Rhetorik. 111 Die fünf Sammelbände zu methodischen und hermeneutischen Fragen sind zum großen Teil interdisziplinär erarbeitet worden und behandeln die klassische Rhetorik in hellenistischer Zeit, 112 die Intertextualität zwischen Altem und Neuem Testament, 113 das Problem von Schriftlichkeit und Mündlichkeit in Judentum und Christentum der Antike 114 sowie in zwei Sammelbänden explizit das Thema der Hermeneutik. 115 In ihren Veröffentlichungen stellt sich die ntl. Forschung vor allem als philologische und religionsgeschichtliche Disziplin dar. Besonders die Texte selbst stehen zur Zeit im Zentrum des Interesses und werden verstärkt mit unterschiedlichen literaturwissenschaftlichen Methoden untersucht. Angesichts der Vielfalt der angewandten Methoden läßt sich neben großer »In ihren Veröffentlichungen stellt sich die ntl. Forschung vor allem als philologische und religionsgeschichtliche Disziplin dar. Besonders die Texte selbst stehen zur Zeit im Zentrum des Interesses und werden verstärkt mit unterschiedlichen literaturwissenschaftlichen Methoden untersucht. Angesichts der Vielfalt der angewandten Methoden läßt sich neben großer Offenheit auch eine gewisse Unsicherheit feststellen.« 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 23 24 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Zum Thema Offenheit auch eine gewisse Unsicherheit feststellen. Eine Reflexion auf die allgemein-wissenschaftliche und theologische Problematik der benutzten Methoden und ihrer Ergebnisse findet noch nicht ausreichend statt. Weder die allgemein-theologische Relevanz der ntl. wissenschaftlichen Arbeit noch ihre weitere Bedeutung für gegenwärtige wissenschaftliche und gesellschaftliche Fragestellungen wird thematisiert. Dadurch bleibt auch die Stellung des Faches Neues Testament im Rahmen des theologischen Fächerkanons eher undeutlich. 7. Forschungsprojekte Ob eine Wissenschaft »auf der Höhe der Zeit« ist, zeigt sich heute auch an ihrer Präsenz im Internet. Gerade für laufende, noch nicht abgeschlossene Projekte bietet sich hier ein Umschlagplatz für aktuelle Information und ein Forum für Anregung und Diskussion. 116 Unter diesem Gesichtspunkt wurde das Internet intensiv auf ntl. Forschungsprojekte hin durchsucht, die Recherche allerdings durch die »traditionellen« Verfahren der Sichtung von Fachzeitschriften 117 und der Befragung von Kolleg(inn)en ergänzt. So ist eine Liste von insgesamt 24 Projekten entstanden, die vermutlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann. 118 Hatten im Sommer 2000 erst 15 der Forschungsprojekte eine eigene Internet-Adresse (bei zwei weiteren half immerhin die Homepage des Verlages weiter), so sind inzwischen zu fast allen gefundenen Projekten (mit einer einzigen Ausnahme) Informationen im Internet verfügbar. Freilich sind die spezifischen Möglichkeiten des »World Wide Web« 119 bislang noch kaum genutzt: Nicht einmal personell verflochtene Projekte weisen aufeinander hin, geschweige denn nur thematisch verwandte. Immerhin gibt sich das Münsteraner Philon-Projekt »als Hilfeleistung zu dem in Jena wieder aufgenommenen [sic! ] Projekt eines Corpus Judaeo-hellenisticum [sic! ] Novi Testamenti« zu verstehen, bietet aber keinen »Link« zu der nicht ganz leicht zu findenden Homepage des genannten Projekts. Besonders bedauerlich ist das Fehlen von Online-Querverweisen zwischen den beiden Projekten, die aus dem 1915 begründeten Corpus Hellenisticum Novi Testamenti hervorgegangen sind. 120 Ob sich in diesem Befund das Selbstverständnis der Disziplin spiegelt oder ob nur die Chancen der neuen Technik noch nicht ausreichend genutzt werden, sei dahingestellt. In jedem Fall wäre jedoch eine stärkere Vernetzung und größere Transparenz der Forschung im Interesse des universitären Miteinanders wünschenswert. Eine vergleichende Auswertung aller gefundenen Forschungsprojekte ergibt folgendes Bild: Die Grenzen des ntl. Kanons werden bei fast allen Projekten in mindestens eine Richtung überschritten. Rein ntl. ausgerichtet ist nur ein einziges Unternehmen, die Synoptische Konkordanz zu den ersten drei Evangelien (hier liegt die Beschränkung in der Natur der Sache); von den zwei innerbiblisch definierten Vorhaben bezieht eines explizit das antike Judentum mit ein (Die Tier- und Pflanzenwelt der Bibel), und das andere versteht unter dem Begriff »Altes Testament« in erster Linie die LXX (Vetus Testamentum in Novo). Überhaupt befassen sich insgesamt zwölf Projekte, also genau die Hälfte, mit dem antiken Judentum (einschließlich LXX), wodurch sich in diesem Bereich ein deutlicher Schwerpunkt zeigt. Demgegenüber sind der Beziehung des NT zur hellenistischen Umwelt lediglich zwei Projekte gewidmet (Neuer Wettstein; SAPERE). Das Unternehmen Neues Testament und Antike Kultur sucht die gängige Trennung dieser beiden Bereiche zu überwinden (Stichwort »Multikulturalität«). Zwei Vorhaben sind im Schnittfeld zwischen NT und frühem Christentum (Patristik) angesiedelt (Nag Hammadi Deutsch; Apokryphen), und eine Sonderstellung nimmt das forschungsgeschichtlich orientierte Archiv »Religionsgeschichtliche Schule« ein. Als deutlich interdisziplinäre Projekte (d.h. Beteiligung von mindestens drei Disziplinen) stellen sich elf dar, wobei eine steigende Tendenz zu beobachten ist: Von den dreizehn seit 1997 aufgenommenen Projekten sind neun ausdrücklich interdisziplinär angelegt. Bei zehn Unternehmungen, also fast der Hälfte, handelt es sich um Übersetzungsprojekte (z.T. in Verbindung mit Texteditionen). Damit stellt sich die Theologie zweifellos einer ihrer traditionellen Aufgaben: in vielfacher Weise Übersetzung zu leisten. In den ermittelten Projekten reicht die Bandbreite von der (z.T. erstmaligen) Erschließung antiker Texte, die das Verständnis des frühen Christentums in seinem zeitgeschichtlichen 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 24 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 25 Oda Wischmeyer Das Selbstverständnis der neutestamentlichen Wissenschaft Rahmen fördern sollen, bis hin zu einer Neuübersetzung der biblischen Texte »in gerechter Sprache«, die dem heutigen Sprachempfinden Rechnung tragen und v.a. die Einsichten des jüdisch-christlichen Gesprächs und der feministisch-theologischen Forschung berücksichtigen soll. Aus zwölf Projekten (wiederum der Hälfte) liegen bereits Publikationen vor. Dabei handelt es sich fast genau um die Projekte, die 1997 oder früher begonnen wurden, während die zwölf Projekte ohne bisherige Publikationen (mit einer Ausnahme) 1998 oder später begonnen worden sind. Damit bestätigt sich der übliche Richtwert von mindestens drei Jahren Laufzeit bis zur Publikationsreife. Ein besonderes Problem stellt naturgemäß die Finanzierung von Forschungsprojekten dar. Wie das bei den einzelnen Vorhaben gelöst ist, ließ sich nicht immer eindeutig ermitteln, aber insgesamt nimmt die DFG hier (erwartungsgemäß) deutlich die Hauptrolle ein (Förderung von mindestens elf Projekten). Mindestens zwei Projekte werden vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) gefördert, mehrere auch durch Mittel aus den Etats der Länder. Nicht zu unterschätzen ist die Initiative der Verlage. Im Hinblick auf das wissenschaftliche Selbstverständnis zeigt sich die ntl. Wissenschaft in ihren Forschungsprojekten weithin als Disziplin im Rahmen antiker Religionsgeschichte, die mit klassisch-philologischen Methoden arbeitet. Neuere methodische Ansätze kommen nur gelegentlich zum Zuge, und zwar dort, wo der Ausgangspunkt bei heutigen Fragestellungen liegt. Dies ist bei fünf der hier betrachteten Projekte der Fall (alle innerhalb der letzten sechs Jahre begonnen), bei denen feministische, kultur- und sozialgeschichtliche sowie befreiungstheologische Fragestellungen zum Tragen kommen. Eine Einbeziehung neuerer literaturwissenschaftlicher Ansätze ist - zumindest programmatisch - in keinem der Projekte zu erkennen. 8. SNTS-Präsidentenreden Mit den Präsidentenansprachen der SNTS-Kongresse weiten wir den Blick auf die internationale ntl. Wissenschaft aus. Folgende Vorträge wurden in den letzten zehn Jahren gehalten: Frans Neirynck: John 21 (1989); Birger Gerhardsson: If We do not cut the Parables out of their Frames (1990); Étienne Trocmé: Un Christianisme sans Jésus-Christ? (1991); Joseph A. Fitzmyer, SJ: The Consecutive Meaning of eph’ho (= in Romans 5,12) (1992); Martin Hengel: Aufgaben der neutestamentlichen Wissenschaft (1993); P. Pokorn´ y: From a Puppy to the Child, Problems of Contemporary Biblical Exegesis demonstrated from Mark 7,24-30/ Matt 15,21-28 (1994); Albert Vanhoye: La ›teleioisis‹ du Christ: point capital de la Christologie sacerdotale d’Hébreux (1995); Graham N. Stanton: The Fourfold Gospel (1996); U. Luz: Kann die Bibel heute noch Grundlage für die Kirche sein? Über die Aufgabe der Exegese in einer religiös-pluralistischen Gesellschaft (1997); Peder Borgen: Two Philonic Prayers and their Contexts: An Analysis of Who is the Heir of Divine Things (Her.) 24-29 and Against Flaccus (Flac.) 170-175 (1998). 121 Die Ansprachen zeigen in ihrer unterschiedlichen Thematik nicht nur Arbeitsfelder gegenwärtiger ntl. Wissenschaft auf, sondern sind mehrfach auch Positionsangaben und Perspektivbestimmungen. Daher sind sie von besonderem Interesse. Als Einstieg ins Thema eignet sich der Vortrag von M. Hengel. Er zieht einige Linien der exegetischen Arbeit aus, denen sich die anderen Vorträge thematisch zuordnen lassen. Hengels Vortrag ist ein Plädoyer für eine Ausweitung des Untersuchungsgebiets der ntl. Exegese unter Beibehaltung der bewährten philologisch-historischen Methoden. Die theologisch begründete Fixierung auf den kleinen Kreis der ntl. Schriften habe zu einer Bildung von Hypothesentürmen und einer Überinterpretation der Texte geführt, die außerhalb der exegetischen Zunft nur noch auf Kopfschütteln stoße. Begegnen möchte Hengel dieser Situation vor allem mit dem »Aufbruch aus unserem zu engen Fachgebiet« 122 und mit seiner Mahnung zu behutsameren Urteilen, die der Begrenztheit der eigenen Quellenbasis und dem Charakter der ntl. Wissenschaft als »Vermutungswissenschaft« 123 stärker Rechnung tragen. Das ntl. Arbeitsgebiet müsse sowohl die jüdische und hellenistische Vorgeschichte der kanonischen Schriften bis ins 4. Jh. v.Chr. berücksichtigen als auch deren Wirkungsgeschichte bis hinein in die Patristik. Überschneidungen mit anderen 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 25 26 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Zum Thema Fachgebieten wären dabei durchaus als heilsame Konkurrenz der Disziplinen beabsichtigt. Mitte der ntl. Arbeit blieben jedoch die kanonischen Schriften. Die Erweiterung des »Kon-Textes« fördere deren sachgemäße Auslegung. Voraussetzung für eine derartige Ausweitung der Quellenbasis und für eine weit gestreute Quellenlektüre sei die philologische Bildung. Konsequent daher Hengels massive Warnung vor einem »Rückfall in die Barbarei der Sprachlosigkeit«, denn »das Ende der Kenntnis der klassischen Sprachen bei den Theologen würde das Ende einer wissenschaftlichen Theologie bedeuten.« 124 Die Zusammenarbeit mit den Altertumswissenschaften ist für Hengel unabdingbar. Dem häufig geforderten Heilmittel methodischer Innovation steht Hengel eher skeptisch gegenüber. Er verteidigt das herkömmliche philologisch-historische Paradigma. Ansatzpunkt der Exegese müsse der frühchristliche Autor bleiben, trotz reader’s response und Dekonstruktivismus. Nur auf der Basis der Autorenintention stelle sich die Frage nach der Bedeutung für uns heute. Denn aufgrund der Frage nach »der bleibenden Wahrheit der urchristlichen Botschaft«, 125 die uns mit dem Kanon gestellt ist, wird die exegetische Aufgabe zuletzt notwendigerweise eine hermeneutische. Diese Aufgabe ist für die ntl. Wissenschaft nur im Verbund mit allen anderen theologischen Teildisziplinen und in der Weite des ökumenischen Gesprächs zu bewältigen. Der Beachtung der Auslegungsgeschichte soll dabei größere Bedeutung zukommen. Würde man diesen theologischen Horizont ausblenden und zu einer Teildisziplin einer rein deskriptiven Religionsgeschichte werden, verlöre nach Hengels Ansicht das Fach letztlich seine Daseinsberechtigung. So ist auch in dieser Perspektive Hengels Vortrag ein Plädoyer: ein Plädoyer für die ntl. Wissenschaft als Teildisziplin der Theologie. Die von Hengel geforderte Ausweitung des ntl. Arbeitsgebietes ist bereits in einigen der Vorträge zu beobachten, vor allem bei G.N. Stanton und P. Borgen, aber auch bei J.A. Fitzmyer und A. Vanhoye. Stanton bearbeitet ein wirkungsgeschichtliches Thema. Er untersucht die Entstehung des Vierer-Evangeliums anhand patristischer Quellen und der frühesten Textzeugen. Borgen widmet sich zwei philonischen Gebeten und leistet damit einen Beitrag zur Darstellung des antiken Judentums, des Wurzelbodens des frühen Christentums. Fitzmyer weist die konsekutive Bedeutung von eph’ho (= in Röm 5,12) durch einen Vergleich des Gebrauchs bei paganen griechischen Schriftstellern nach. Zuletzt sei in diesem Zusammenhang noch auf den Vortrag von Vanhoye hingewiesen, der sich mit der Christologie des Hebräerbriefes befaßt, der lange Zeit ein Schattendasein in der ntl. Wissenschaft führte. Etwas anders verhält es sich mit den beiden Vorträgen von F. Neirynck über Joh 21 und von B. Gerhardsson über die Gleichnisse. An ihnen kann man den blinden Flecken von Hengels größtenteils berechtigtem Plädoyer erkennen. Es zeigt sich hier nämlich die inhaltliche Relevanz methodischer Verschiebungen. Beide Vorträge wenden sich von der Formgeschichte ab, hin zu einem Versuch intertextuellen Verstehens und kommen so zu neuen Ergebnissen. Hier setzt der Vortrag von P. Pokorn´ y an. Er exegesiert exemplarisch Mk 7,24-30 unter diachroner und synchroner Perspektive und unterzieht seine methodischen Schritte in Exkursen einer hermeneutischen Reflexion. Damit wird das - auch bei Hengel zu beobachtende - Zwei-Stufen-Modell von methodischer Auslegung und Hermeneutik in Frage gestellt. Der methodische Zugang ist selbst Teil des hermeneutischen Prozesses. Pokorn´ y weist daher zu Recht auf die ideologische Potenz von Methoden hin, der er durch eine theologische Verortung der einzelnen Methodenschritte begegnen möchte. Die hermeneutische Frage und die Methodendiskussion werden also auch in Zukunft die ntl. Wissenschaft beschäftigen. Zwei Vorträge befassen sich - um mit Hengel zu sprechen - mit »der bleibenden Wahrheit der urchristlichen Verkündigung«. E. Trocmé geht in seinem Beitrag der Frage nach, welche Bedeutung Jesus Christus heute noch für das Christentum haben kann, und arbeitet die Unverzichtbarkeit des Christusbezuges für das Gottesbild und die Bedeutung der Inkarnationsvorstellung für die moderne Menschenrechtsdebatte heraus. U. Luz beleuchtet die Aufgabe der Exegese ausgehend vom »nordeuropäischen und postprotestantischen Erfahrungshorizont des Pluralismus«. 126 Sein vielbeachteter Vortrag bietet neben Hengel eine weitere und sehr andere Standortbestimmung ntl. Exegese. Luz spricht aus der Sicht der Exegese, geht aber weit darüber hinaus und beleuchtet die gesellschaftliche Lage der theolo- 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 26 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 27 Oda Wischmeyer Das Selbstverständnis der neutestamentlichen Wissenschaft gischen Wissenschaft. Zunächst entfaltet er als Situationsbeschreibung seine These, »dass unser postprotestantischer religiöser Pluralismus u.a. ein Ergebnis der Wirkungsgeschichte der Exegese ist«. 127 Der Umbruch des Wahrheits- und Wirklichkeitsverständnisses mit dem Aufkommen des historisch-kritischen Verstehens führte zur Ersetzung existenziell verpflichtender Wahrheit durch Hypothesen über historische Wahrscheinlichkeiten und Textsinn und zum Auseinandertreten von Exegese und Applikation. Dazu kam die »radikale Pluralisierung aller theologischen und exegetischen Aussagen« 128 infolge des linguistic turn. Fortan hat auch die Exegese es stets nur mit sprachlichen Konstruktionen der Wirklichkeit zu tun, nicht mit der Wirklichkeit selbst. Gegenstand theologischer Sätze sind versprachlichte Erfahrungen, aber nie Gott selbst. Das schließt die Erkenntnis der Partikularität des eigenen exegetischen Standpunktes in seiner kulturellen und religiösen Geprägtheit mit ein. Besonders deutlich wird dies am Studium der Wirkungsgeschichte biblischer Texte. Sie zeigt die eigene Herkunft ebenso wie die Vielfalt der bisherigen Textinterpretationen und nötigt den Einzelnen zu einer Stellungnahme. Unter diesen Bedingungen hat die Exegese ihre Aufgabe in unserer pluralistischen Gesellschaft wahrzunehmen, indem sie den Pluralismus grundsätzlich bejaht und die Sache ihrer Texte auf dem Markt der Religionen und Weltanschauungen in einen öffentlichen, rationalen und auf Konsens zielenden Diskurs einbringt. Sie weist auf die Fremdheit der Geschichte Jesu und den von den biblischen Texten bezeugten Gott hin. Nach Luz kann die Exegese dies jedoch nur unter dem ständigen Hinweis tun, »dass sie selbst über die Grenzen der menschlichen Geschichte und Sprache nicht hinauskann, und dass Gott vielleicht in menschlich-sprachlichen Wirklichkeitskonstruktionen die grosse Störung sein könnte. Aber ob es in Wirklichkeit so ist, weiss sie nicht«. 129 Luz’ innovativer Vortrag weist die Exegese in wichtige Aufgabenfelder ein. Wie Hengel hebt er die Bedeutung der Geschichtswissenschaft und Auslegungsgeschichte hervor. Darüber hinaus macht er zu Recht auf das notwendige Gespräch der Exegese mit den Sprachwissenschaften (Linguistik) und der Sprachphilosophie aufmerksam. In diesem Gespräch sollte der Pluralismus aber auch als Chance betrachtet werden, um vom eigenen Gegenstand ausgehend Kritik zu üben: Muß die Exegese aufgrund der ihr vorgegebenen Sprachmodi nicht auf den defizitären Charakter eines technisch-funktionalen Sprachverständnisses hinweisen, der in einem Verständnis der Sprache als Wirklichkeitskonstruktion zu Tage tritt? Wäre nicht z.B. statt ausschließlich in der Kategorie von »Wirklichkeit« auch in der von »Beziehung« zu denken, um dem beziehungskonstituierenden Charakter der Sprache (z.B. in einer Liebeserklärung oder im Vergebungszuspruch) gerecht zu werden? Die Exegese als theologische Disziplin wird ebenfalls diskutieren müssen, ob sie sich mit der abschließenden Relativierung von Luz im »könnte« zufriedengeben kann oder ob und wie sie um ihrer Identität willen die Frage nach der Wahrheitsgewißheit gerade angesichts des religiösen Pluralismus stellen muß. Bemerkenswert bleibt, daß nur die beiden deutschsprachigen Präsidenten M. Hengel und U. Luz allgemeine Vorträge über die Aufgaben der ntl. Wissenschaft hielten. Sollte das daran liegen, daß die deutschsprachige Exegese sich ihrer Schwierigkeiten eher bewußt ist oder daß sie tatsächlich größere Unsicherheiten hat? Hengels klassische Positionsbestimmung und Luz’ neue Perspektiven liegen nur vier Jahre auseinander. Exegeten anderer Länder tragen demgegenüber Ergebnisse aus ihren Spezialforschungsbereichen vor, ohne irgendwie verunsichert zu wirken. 9. SNTS-Arbeitsgruppen Ein herausragendes Forum der aktuellen Debatten und Themen der ntl. Wissenschaft bildet das Ensemble der Arbeitsgruppen der SNTS-Kongresse: jährlich, international, überkonfessionell, hauptsächlich englischsprachig. Wie stellt sich das Fach auf diesem Forum dar? Eine Durchsicht der Arbeitsgruppen seit 1995 ergibt ein wenig überraschendes Bild. Die Mehrzahl der jährlichen Arbeitsgruppen (zwischen 13 und 19 je nach Besuch des Kongreßortes) ist konstant denselben ntl. Themen gewidmet: Jesus, synoptisches Problem, lukanisches Doppelwerk, johanneische Schriften, Paulus und das Diasporajudentum, ntl. Theologie (deutschsprachig), ntl. Ethik, Matthäus- und Markusevangelium, Text- 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 27 28 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Zum Thema kritik (die vier letzten Gruppen nicht im Jahr 2000). Einige weitere Gruppen sind seit zwei Jahren ausgesetzt: die Thessalonicherkorrespondenz und die ntl. Apokalyptik. Neue, aber klassische Themen sind dafür eingetreten: der Römerbrief (seit 1998) und die Katholischen Briefe und die Aposteltraditionen (deutschsprachig seit 2000). Eine schmale Anzahl von Arbeitsgruppen beschäftigt sich mit ntl. Hermeneutik (1995, 1996, 1998, 1999) und mit neuen Methoden: mit Narrativität und Kommunikationsstrategien (französischsprachig, seit 1998) sowie mit soziorhetorischer Interpretation (2000). Lediglich 1996 fand sich eine Arbeitsgruppe zum Thema »Ntl. Archäologie« zusammen. Durchgängig stehen neben den ntl. Gruppen solche, die sich mit dem antiken Judentum beschäftigen. Drei große Themen sind ständig vertreten: Frühjüdische Schriften, Qumran und das Diasporajudentum. Diese Gruppen arbeiten an den historischen, literarischen und religionsgeschichtlichen Kontexten des Neuen Testaments. Seit 1998 tritt eine weitere Gruppe hinzu: Rabbinisches Judentum und Evangelien, seit 2000 die Gruppe Septuaginta und NT. Jetzt sind also fünf Arbeitsgruppen etabliert, die sich mit verschiedenen Aspekten des antiken Judentums und ihrer jeweiligen Beziehung zum NT beschäftigen. Eine weitere Gruppe: Jüdische Gemeinschaften und NT (französischsprachig), trat zum letzten Mal 1997 zusammen. Lediglich eine stehende Gruppe beschäftigt sich mit dem NT in seinem griechisch-römischen Kontextverhältnis. Das internationale, ganz überwiegend englischsprachige Forum der SNTS- Kongresse spiegelt in seinen Arbeitsgruppen vor allem Konstanz, Beharrlichkeit und Kontinuität bei der Bearbeitung der großen ntl. Themen. Hier dokumentiert sich ein ungebrochenes Vertrauen in das Fach und seine eigenen Fragen und wissenschaftlichen Debatten. Als die primäre, ja fast einzige Welt »hinter« und »neben« den ntl. Texten wird die Welt des antiken Judentums verstanden. Wirklich relevante andere wissenschaftliche Kontexte sind nicht in Sicht. Schon die hellenistischrömische Welt ist deutlich marginal. Das christliche zweite Jahrhundert fehlt. Hermeneutische Fragen stehen ganz am Rand. Einige neue Methoden aus dem literaturwissenschaftlichen Bereich werden in der Diskussion erprobt. Insgesamt ist die thematische Innovation gering. Wesentliche Anschlußbereiche wie Religionswissenschaft und Sozialwissenschaft bzw. Kulturanthropologie fehlen. Das wundert umso mehr, als eine deutliche Dominanz der Wissenschaftler aus den USA festzustellen ist. 130 Eine Anbindung an die allgemeine Theologie schließlich unterbleibt in auffallender Weise. 10. Fazit Ein Fazit läßt sich leichter ziehen, als man vermuten möchte. Die neue RGG erweist die Notwendigkeit und Stabilität ntl. Wissenschaft im Gesamtgefüge evangelischer und katholischer Theologie. Die letzte Generation hat neue Fragestellungen erschlossen, neue Methoden übernommen, neue Ergebnisse formuliert, ohne allerdings dabei an Bedeutung zu gewinnen. Das Fach stellt sich etabliert, nicht aber innovativ oder gar führend dar. So ist auch die Lehre durchaus konservativ im Sinne der Weitergabe und Präzisierung bewährter Untersuchungs- und Ergebnisensembles. Sie geht korrekt stoff- und lernbezogen im gegenwärtigen hochschuldidaktischen Kontext vor, indem sie breit, solide und konsensfähig informiert. Bei der Schwerpunktbildung im antiken Judentum zeigt sie sich ganz dem mainstream der allgemeinen und besonders der kirchlichen kulturpolitischen Landschaft verpflichtet. 131 Der zusätzliche verstärkte Brückenschlag zur antiken Philosophie- und Religionsgeschichte ist in keiner Weise neu, gilt aber ebenfalls immer noch und »Die letzte Generation hat neue Fragestellungen erschlossen, neue Methoden übernommen, neue Ergebnisse formuliert, ohne allerdings dabei an Bedeutung zu gewinnen. Das Fach stellt sich etabliert, nicht aber innovativ oder gar führend dar.« 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 28 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 29 Oda Wischmeyer Das Selbstverständnis der neutestamentlichen Wissenschaft wieder verstärkt als konsensfähig und relevant im Gesamtkonzept der geisteswissenschaftlichen Fächer der Universität und profitiert vielleicht auch von der deutlichen Schwächung früherer Leitfächer wie der Klassischen Philologie und der Alten Geschichte. So erleben wir bei den Forschungsprojekten so etwas wie eine Neuauflage der früheren religionsgeschichtlich dominierten Phasen ntl. Wissenschaft, allerdings durch die moderne Projektstruktur breiter und stärker interdisziplinär ausgelegt. Andererseits fehlt jede Brisanz der Ergebnisse, selbst wenn man sich gegenwärtigen kulturanthropologischen Fragestellungen anschließt. Das gilt auch für den Ausgriff der ntl. Disziplin ins zweite Jahrhundert n.Chr. Auch dieser Ausgriff bietet nichts Neues, sondern knüpft an die Situation um 1900 und an Forscher wie A.v. Harnack, Th.v. Zahn oder H. Lietzmann an, ohne deren Quellenkenntnis erreichen zu können. Das klassische philologisch-religionsgeschichtliche Profil des Faches bleibt bei alledem erhalten. Zugleich aber hat die alte Sprengkraft kritischer, d.h. Traditionen hinterfragender, Geschichtswissenschaften ihre Bedeutung verloren. Die feministische ntl. Exegese wurde schnell diszipliniert 132 und in die philologisch-religionsgeschichtliche Grundtendenz einbezogen, oder sie wanderte aus dem Fach aus. Dasselbe gilt für historisch radikale Beiträge wie die G. Lüdemanns. Die ntl. Wissenschaft versteht sich nämlich weiterhin als theologische Teildisziplin, wenn sie auch faktisch völlig selbständig als kleine philologisch-historische und religionsgeschichtliche Spezialdisziplin arbeitet, die personell - immer noch - sehr gut ausgestattet, z.T. hoch ambitioniert und in Forschung und Lehre aktiv ist. Als ihren sachlichen Kontext versteht die ntl. Wissenschaft die Welt der frühkaiserzeitlichen griechisch-römischen Religion und des zeitgenössischen Judentums. Das gilt gerade für die sog. Qualifikationsarbeiten, Dissertationen und Habilitationen, die das Selbstverständnis des Faches realistisch spiegeln. Wenn sich hier ein gemeinsames Ziel ausmachen ließe, so wäre es am ehesten die Vollständigkeit der Erfassung, Präsentation und Erschließung der für die ntl. Texte relevanten antiken Textwelt. 133 Das Fach scheint seine Relevanz in der Demonstration seiner Aufgeschlossenheit und Kontaktfreudigkeit im Zusammenhang der antiken Religionsgeschichte sowie seiner gelehrten Kompetenz in der Altphilologie und Judaistik zu sehen und von dorther seine feste und bleibende Rolle im Kontext geisteswissenschaftlicher Randfächer zu beanspruchen. Gesamttheologisch gesehen verhält sich die Disziplin unauffällig, anspruchslos und eher konservativ. Kirchliche oder gar gesellschaftliche Resonanz wird nicht beansprucht. Selbst wichtige Themen wie die jüngsten Jesus- und Paulusdebatten bleiben interne Fachdebatten, die umso weniger Aufmerksamkeit beanspruchen, als sie - da kontrovers geführt und im Ergebnis ganz offen - weder examensrelevant zu sein scheinen noch einer kirchlichen Diskussion zugemutet werden. Sowohl die Lehre als auch der - zwar eher subkutane, aber doch vorhandene - kirchliche Kontext ntl. Wissenschaft stellen konservative Regulative dar. So sehr die ntl. Wissenschaft sachlich religionsgeschichtlich und allgemein geisteswissenschaftlich im Verbund der altertumswissenschaftlichen Disziplinen zu Hause ist, so sehr weiß sie sich doch rechtlich und wissenschaftlich sowie in der Lehre kirchlich gebunden. Das zeigt sich in subtiler Weise in der ZNT, deren innovativer und sehr begrüßenswerter Ansatz wissenschaftlich von vornherein dadurch begrenzt ist, daß die Zeitschrift das ebenso sinnvolle wie einschränkende Konzept der schnellen Umsetzbarkeit und Anwendbarkeit von Fachdebatten und Forschungsergebnissen vertritt. Die pädagogische Verwertbarkeit für Kirche und Schule läßt nur begrenzte Freiheit zu. Von Anfang an regiert damit die Domestizierung möglicher Probleme. Nicht-Verwertbarkeit ist nicht vorgesehen. An eine nichttheologische oder grundlegend theologiekritische Leserschaft ist nicht gedacht. »Gesamttheologisch gesehen verhält sich die Disziplin unauffällig, anspruchslos und eher konservativ. Kirchliche oder gar gesellschaftliche Resonanz wird nicht beansprucht.« 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 29 30 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Zum Thema Welche Perspektiven sind von hier aus denkbar? Zu dieser Frage liegen zwei aktuelle Beiträge vor: W. Stegemann schrieb 1999 über »Amerika, du hast es besser! Exegetische Innovationen der neutestamentlichen Wissenschaft in den USA«, 134 und Jens Schröter hielt im gleichen Jahr seine Hamburger Antrittsvorlesung über das Thema: »Zum gegenwärtigen Stand der neutestamentlichen Wissenschaft: Methodologische Aspekte und theologische Perspektiven«. 135 Stegemann geht vom Vorfindlichen aus. Er diagnostiziert die Provinzialität und die Fachgelehrsamkeit, die mangelnde interdisziplinäre Vernetzung und Aktualität der deutschen ntl. Wissenschaft. Er weist auf die neuen Fragestellungen der amerikanischen Forschung hin und rät, das philologischhistorisch-theologische Selbstverständnis des Faches zu verändern: Es ist »genauso möglich, Exegese im Kontext von Literatur-, Sozial- und Kulturwissenschaften (zu denen auch die Theologie gehört) zu verstehen« 136 und sich mit Themen zu beschäftigen, »die noch die Diskurse der Gegenwart bestimmen: Universalismus und Ethnizität, soziale Ungleichheit und geschlechtsspezifische Differenzen«. 137 Schröter setzt auf der theoretischen Ebene an. Er versteht die ntl. Wissenschaft als Textwissenschaft und als historische Wissenschaft. In beide Bereiche will er die hermeneutische Kategorie der Konstruktion eingeführt wissen: Es geht um die Einsicht in die »›Konstruktion‹ möglicher Textwelten« 138 und darum, »die Fiktionalität von Geschichtsdarstellungen als konstitutives Element für die Darstellung von Sinnzusammenhängen in die Betrachtung einzubeziehen«. 139 D.h. Sinn und Bedeutung von Texten werden vom Interpreten ebenso stets neu hergestellt wie die jeweilige Geschichtserzählung. Daraus ergeben sich für Schröter drei Folgerungen für die ntl. Wissenschaft als theologische Disziplin: (1.) »eine rezeptionsästhetisch orientierte Interpretationstheorie«, 140 (2.) die Teilnahme »am Gespräch um die Interpretation von Welt und Geschichte aus einer ihr eigenen Perspektive« 141 und (3.) die Stärkung des Pluralismus in der Gesamttheologie, so daß in der Theologie ein Wettstreit »um die bestmögliche Interpretation der Wahrheit« geführt werden könnte. 142 Stegemanns und Schröters Überlegungen liegen nahe bei den Ergebnissen unserer Analyse. 143 Die ntl. Wissenschaft braucht den Anschluß an die Methoden und das wissenschaftliche Selbstverständnis der Sprach- und Textwissenschaften und der neuen Geschichtswissenschaft ebenso wie der Kulturanthropologie. 144 Das alte philologisch arbeitende historisch-kritische Modell, das sich an der Kritik an den großen Traditionen und Institutionen abarbeitete, hat die Macht der Traditionen gebrochen, die Institutionen verändert, sich damit selbst weitgehend überflüssig gemacht und ist daher folgerichtig durch das neue Modell der »Konstruktion von Wirklichkeit« in Texten der Vergangenheit ersetzt worden. Diese Entwicklung hat zwei Folgen für die ntl. Wissenschaft. Erstens birgt eine historische Untersuchung kein wirklich kritisches Aufklärungs- und Befreiungspotential mehr. Dafür ist die fernere Vergangenheit zu ungefährlich und zu sehr und zu lange in der Hand der historischen Wissenschaft. Nur noch kolportagenhafte Sensationsberichte können kurzzeitig Bedeutung erlangen. 145 Davon ist Stegemanns Vorschlag, gegenwartsbezogene Diskurse mitzuführen, betroffen. Die Homosexualitätsdebatte in ZNT 146 liefert dafür ein Beispiel. Die gegenwärtige Gesellschaft ist stets moderner und befreiter als jede ntl. Position. Das Befreiungspotential ntl. Texte ist hier nicht primär, sondern wird sekundär apologetisch erhoben, um die Bedeutung des Neuen Testaments nicht weiter zu diskreditieren. Das »noch« in Stegemanns Satz: »die noch die Diskurse der Gegenwart bestimmen«, ist verräterisch. Seine Perspektive ist m. E. eine Scheinperspektive. Zweitens kann historische Forschung nicht mehr zu theologischer Wahrheit vorstoßen, son- »Die ntl. Wissenschaft braucht den Anschluß an die Methoden und das wissenschaftliche Selbstverständnis der Sprach- und Textwissenschaften und der neuen Geschichtswissenschaft ebenso wie der Kulturanthropologie.« 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 30 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 31 Oda Wischmeyer Das Selbstverständnis der neutestamentlichen Wissenschaft dern konstruiert mögliche vergangene Wirklichkeiten. Dieser Umstand entkräftet Hengels Aufruf, nach der Autorenintention als dem Träger der »bleibenden Wahrheit der urchristlichen Botschaft« zu suchen. 147 Dieser Aufruf verkürzt das Selbstverständnis der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft. Stattdessen ergeben sich andere wirkliche Perspektiven, und zwar solche der Textinterpretation, der Begründung von Theologie und der Theoriebildung. Sie seien abschließend skizziert. Die ntl. Wissenschaft bleibt Textwissenschaft. Sie hat die Aufgabe, Texte zu verstehen und auszulegen, die primär einen soteriologischen und sekundär einen kanonischen Anspruch erheben. 148 Die Interpretation erfolgt aber in einer Welt, in der erstens Wissenschaft nur beschreibt, nicht aber Zustimmung oder Ablehnung artikuliert und in der zweitens die Autorität kanonischer Größen in Rezeptionsgeschichte überführt wird. Es geht also um die Auslegung soteriologischer Texte im gegenwärtigen wissenschaftlichen Rahmen und kanonischer Texte in einer nachkanonischen Welt. Solche Auslegung stützt selbst nicht einmal verdeckt die kanonischen Ansprüche ihrer Texte, sondern muß die Texte so darstellen, daß sie für Christen wie für Nichtchristen sachlich transparent werden. Die Texte müssen sich selbst ihre Partner suchen. Verteidigung der Texte ist nicht sinnvoll. Damit steht die ntl. Wissenschaft neben vielen anderen Textwissenschaften, die ihre Texte weder verteidigen noch modernisieren, sondern sie stets dem Verstehen präsentieren. Diese Perspektive radikalisiert Schröters Vorschlag, die ntl. Wissenschaft habe nicht »die Aufgabe ..., für die Durchsetzung der Wahrheit Gottes Sorge zu tragen«, sondern stattdessen »die Vielfalt der frühchristlichen Texte als Bereicherung für die theologische Diskussion zu empfinden«. 149 Schröters Vorschlag greift aber zu kurz. Denn seine plurale Hermeneutik hat noch einen apologetischen Charakter, da sie die Pluralität als Selbstzweck versteht. Pluralität ist aber nicht erst Zweck, sondern bereits Voraussetzung jeder rezeptionsgeschichtlichen Interpretation. Zweck ist die Interpretation der Texte. Die Texte selbst stehen im Zentrum jeder Textwissenschaft. Die ntl. Textwissenschaft bleibt dabei Teildisziplin der Theologie, die die Gesamttheologie immer wieder in ihre Ursprungsschriften einführt. Im theologischen Kontext ist die ntl. Wissenschaft die Disziplin, die das ursprüngliche Reden vom euangelion theou in den ntl. Texten und Schriften immer neu erschließt und offen hält. Daneben steht die Theoriebildung, 150 die der Vermittlung der Texte in die außertheologische Wissenschaftswelt gilt. Ihre mögliche Leistung ist eine hermeneutische Außenleistung. Sie will die ntl. Texte und die hinter ihnen stehende urchristliche Welt für sozialwissenschaftliche, kulturwissenschaftliche und vor allem für religionswissenschaftliche Fragestellungen und Arbeitsweisen verständlich machen. Gerd Theißens »Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums« ist ein solcher Versuch eines Brückenschlags nicht zur antiken Religionsgeschichte, sondern zur Religionswissenschaft. 151 Der Theoriebegriff bedarf allerdings einer sorgfältigen Diskussion und der Abwägung einer möglichen Leistungsfähigkeit im Zusammenhang mit den ntl. Texten. Er läßt sich auf keinen Fall auf ein semiotisches Religionsverständnis 152 oder auf Religionswissenschaft überhaupt beschränken. 153 In der mangelnden Diskussion eines adäquaten Theoriebegriffs und der wissenschaftlichen Kontexte der ntl. Wissenschaft liegen grundsätzliche Defizite des Faches. Die ausufernde Methodenliteratur kann die Theoriediskussion nicht ersetzen, sondern verschleiert und verharmlost sie. Es ist daher zu hoffen, daß die Arbeit an der Interpretation der Texte im Fragehorizont von Textwissenschaften und Theologie weitergeht und die Theoriediskussion vertieft geführt wird. l Anmerkungen 1 Einzelbeiträge: 1. Oda Wischmeyer, Erlangen, Einführung; 2. Dr. Eve-Marie Becker, Erlangen, RGG 3/ 4 ; 3. Bianca Schnupp und Julia Arnold, Erlangen, Methodenbücher; 4. Harinke Fugmann, Göttingen, VL SoSe 2000; 5. Oliver Gußmann, Rothenburg o.d.T., ZNW / BZ / ZNT 1995-2000; 6. Anni Hentschel, Würzburg, Rez. ThLZ 1999; 7. Dr. Ralph Brucker, Hamburg, Forschungsprojekte; 8. Frank Weber, Marburg, SNTS 1990-2000; 9. O. Wischmeyer, SNTS-Gruppen; 10. O. Wischmeyer, Fazit und Perspektiven. -Für freundliche Hinweise danke ich besonders Dr. Ralph Brucker. 2 RGG 3 Bd. 1 und 2 erschienen 1957 bzw. 1958; RGG 4 Bd. 1 und 2 erschienen 1998 bzw. 1999. 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 31 32 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Zum Thema 3 Gemeint sind hier die jeweils in der Einleitung genannten Fächer, denen Fachberater zugeordnet sind, vgl. RGG 3 Bd.1, VIII, und RGG 4 Bd.1, VII. 4 In RGG 3 war E. Dinkler einer der fünf Mitherausgeber, in RGG 4 ist H. D. Betz einer der vier Mitherausgeber. 5 Hier werden Bd.1 und 2 von RGG 4 , die die Buchstaben A-E umfassen, mit Bd.1 sowie Bd.2, Sp.1-852, d.h. bis einschließlich Buchstaben E, verglichen. Es handelt sich um eine grobe Berechnung des Umfangs. 6 Die 23 Fächer in RGG 3 erlauben prozentual jedem Fach nur einen Anteil am Gesamtumfang von 4,3%, die 31 Fächer in RGG 4 dementsprechend nur 3,2%. Mit 8,4% bzw. 8,7% in RGG 3 und 7,3% bzw. 5,2% in RGG 4 hat das Neue Testament dementsprechend 100% mehr Umfang, als ihm als Einzelfach rechnerisch zusteht. 7 Vgl. E. Haenchen, Art. Apostelgeschichte: RGG 3 Bd.1, Sp. 501-507, und D.L. Balch, Art. Apostelgeschichte, RGG 4 Bd.1, Sp.642-648. 8 Es wird präzise unterschieden in I. Einleitungsfragen, II. Gattung, III. Aufbau und Ziel, IV. Inhalt und V. Rhetorik und Narrativik. 9 RGG 3 Bd.2, Sp.708-715, RGG 4 Bd.2, Sp.1598-1631. 10 F. W. Horn, Art. Ethik III. Biblisch 2. Neues Testament, RGG 4 Bd.2, Sp.1606-1610. 11 Vgl. E. Lohse, Theologische Ethik des Neuen Testaments, Stuttgart 1988; S. Schulz, Neutestamentliche Ethik, Zürich 1987, W. Schrage, Ethik des Neuen Testaments, Göttingen 1982 ( 2 1989). 12 Vgl. O. Wischmeyer, Art. Engel III. Neues Testament, RGG 4 Bd.2, Sp.1280-1281. 13 Vgl. G. Schöllgen, Art. Bischof I. Neues Testament, RGG 4 Bd.1, Sp.1614f. Ein Äquivalent hierzu findet sich im Artikel Bischof, RGG 3 Bd.1, Sp.1300-1311, nicht. 14 Hier wirken ebenso ntl. Monographien auf die Aspekte des Begriffs ein, vgl. etwa die bibliographischen Angaben bei O. Böcher, Art. Elia III. Neues Testament, RGG 4 Bd.2, Sp.1212. Der Art. Elia in RGG 3 Bd.2, Sp.424-427, von G. Fohrer verweist höchstens innerhalb der Nachwirkungen auf das NT. 15 Im Unterschied zum Artikel Chiliasmus in RGG 3 Bd.1, Sp.1651-1653, der lediglich einen ntl. Verweis enthält, ist der Artikel in RGG 4 Bd.2, Sp.136-144, klar strukturiert, u.a. in II. Neues Testament von D.E. Aune, Sp.136f. 16 Vgl. G. Gloege, Art. Dualismus II. Theologisch, RGG 3 Bd.2, Sp.274-276. 17 Vgl. den Art. Dualismus I. Religionswissenschaftlich, II. Kirchengeschichtlich, III. Philosophisch, IV. Religionsphilosophisch und dogmatisch, RGG 4 Bd.2, Sp. 1004- 1009. 18 Bestimmend waren hier sicherlich die Arbeiten zur Gnosis. Die Bibliographie von RGG 3 Bd.2, Sp.276, ist allerdings vorwiegend systematisch-theologisch ausgerichtet. 19 Vgl. R. Gyllenberg, Art. Eingeborener Sohn, RGG 3 Bd.2, Sp.376f. 20 Vgl. J.P. Meier, Art. Brüder / Schwestern Jesu, RGG 4 Bd.1, Sp.1780. 21 Vgl. RGG 4 Bd.2, 53-55, unterteilt in einen atl. (von C.R. Seitz) und einen ntl. Abschnitt von R.W. Wall. 22 Vgl. G. Bornkamm, Art. Evangelien, formgeschichtlich / synoptische, RGG 3 Bd.2, Sp.749-766. 23 Vgl. H. Koester, Art. Evangelium I. Begriff und II. Gattung, RGG 4 Bd.2, Sp.1735-1741. Darauf folgt der Abschnitt III. Dogmatisch von M. Beintker, Sp.1741f. 24 Der Gesamtumfang beträgt in RGG 3 Bd.1, Sp.1121- 1154, in RGG 4 Bd.1, Sp.1407-1446. 25 Vgl. W.G. Kümmel, Art. Bibel II. Neues Testament, RGG 3 Bd.1, Sp.1130-1141, und U. Schnelle / L. Rydbeck, Art. Bibel III. Neues Testament, RGG 4 Bd.1, Sp.1417-1426. 26 In RGG 4 : »Bestand und Zusammensetzung«, »Sammlung und Kanonisierung«, »Sprache des Neuen Testaments«. 27 RGG 3 Bd.1, Sp.1410-1415 enthielt die Artikel »Brief und Buch im Altertum« von K. Galling und »Briefliteratur, urchristliche, formgeschichtlich« von E. Fascher. RGG 4 Bd.1, Sp.1757-1762 enthält den Artikel »Brief« von der Neutestamentlerin M.M. Mitchell. Dieser Artikel ist in den Abschnitt I. Form und Gattung und II. Schrifttum unterteilt und spiegelt so die umfangreiche epistolographische Forschung - vor allem auch im Bereich der ntl. Exegese - wider. 28 Vgl. W.G. Kümmel, Art. Bibelwissenschaft des NT, RGG 3 Bd.1, Sp.1236-1251, und H. Weder, Art. Bibelwissenschaft II. Neues Testament, RGG 4 Bd.1, Sp.1529- 1538. 29 Vgl. E. Dinkler, Art. Bibelkritik II. NT, RGG 3 Bd.1, Sp.1188-1190, und U. Schnelle / D. Dormeyer u.a., Art. Bibelkritik II. Methoden der Bibelkritik im Neuen Testament, RGG 4 Bd.1, Sp.1480-1486. 30 Folgende Bücher wurden berücksichtigt: G. Adam / O. Kaiser / W.G. Kümmel / O. Merk, Einführung in die exegetischen Methoden, Gütersloh 2000. S. Alkier / R. Brucker (Hrsg.), Exegese und Methodendiskussion (TANZ 23), Tübingen 1998. K. Berger, Exegese des Neuen Testaments. Neue Wege vom Text zur Auslegung (UTB 658), Heidelberg 1975, ( 3 1991). H. Conzelmann / A. Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament (UTB 52), Tübingen ( 12 1998). W. Egger, Methodenlehre zum Neuen Testament. Einführung in die linguistische und historisch-kritische Methode, Freiburg u.a. 1987 ( 4 1996). W. Fenske, Arbeitsbuch zur Exegese des Neuen Testaments. Ein Proseminar, Gütersloh 1999. M. Meiser, Exegese des Neuen Testaments, in: M. Meiser u.a., Proseminar II: Neues Testament und Kirchengeschichte, Stuttgart 2000, 15-125. H.W. Neudorfer / E.J. Schnabel (Hrsg.), Das Studium des Neuen Testaments, Bd. 1: Eine Einführung in die Methoden der Exegese (BWM 5), Wuppertal u.a. 1999. J. Roloff, Neues Testament. Unter Mitarbeit von M. Müller. Neukirchener Arbeitsbücher, Neukirchen- Vluyn 1977, ( 7 1999). U. Schnelle, Einführung in die neutestamentliche Exegese( UTB 1253), Göttingen 1983 ( 5 2000). Th. Söding, Wege der Schriftauslegung. Methodenbuch zum Neuen Testament. Unter Mitarbeit von Ch. Münch, Freiburg u.a. 1998. H. Zimmermann, Neutestamentliche Methodenlehre. Darstellung der historisch-kritischen Methode. Neubearbeitet von K. Kliesch, Stuttgart 1967 ( 7 1982). 31 So die Bezeichnungen bei Zimmermann, Methodenlehre, 9-13. 32 Kliesch in Zimmermann, Methodenlehre, 267-307. 33 Egger, Methodenlehre, 74. 34 Egger, Methodenlehre, 5-8. 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 32 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 33 Oda Wischmeyer Das Selbstverständnis der neutestamentlichen Wissenschaft 35 Egger, Methodenlehre, 195ff. 36 Roloff, Neues Testament, 26-28. 37 Schnelle, Einführung, 7. 38 Fenske, Arbeitsbuch, 7-11 u.ö. 39 Söding, Wege, 27. 40 Neudorfer / Schnabel, Studium, 69-154. Dieser Methodenschritt wird - wie nur noch die Textkritik - auch keiner kritischen Betrachtung unterzogen. 41 Eine kritische Diskussion gerade der linguistischen Theorie fehlt allerdings. 42 Egger, Methodenlehre, 13-22 und 204-222, Fenske, Arbeitsbuch, 13-20; 64-70 und 164-172. 43 Adam, Einführung, 13-27. 44 Neudorfer / Schnabel, Studium, 13-38. Dabei nimmt die Auseinandersetzung mit der historisch-kritischen Methode leider zu breiten Raum gegenüber hermeneutischen Grundfragen ein. 45 Meiser, Proseminar, 26-30. Nur hier finden sich auch Fragen zur Erfassung des eigenen Vorverständnisses für die Studierenden, symptomatisch für die allgemeine Tendenz aber ist Schnelle, der für sein Kapitel »Hermeneutik« im Gegensatz zu den anderen Kapiteln kein Lernziel formuliert. 46 Egger, Methodenlehre, 212f. 47 Meiser, Proseminar, 26-30. 48 Söding, Wege, 299-302. 49 Nur Egger, Methodenlehre, 212ff. verweist dabei ausdrücklich auf die Kirche als Kontext für katholisches Lesen der Schrift, bezieht diesen Absatz aus dem abschließenden Hermeneutikkapitel allerdings nicht auf die Analyse der Texte, sondern nur auf ihre Applikation. 50 Wobei Überlegungen zu den Rezipienten auch zu anderen Methodenschritten gehören könnten (Hermeneutik, Linguistik; Formgeschichte). 51 M. Hengel, Aufgaben der neutestamentlichen Wissenschaft, in: NTS 40 (1994), 321-357; 329 u.ö. 52 Nur bei Neudorfer / Schnabel findet sich eine über die bibliographische Aufzählung hinausgehende Hinführung zu den entsprechenden Quellenschriften, ausführlich für die »jüdische Mitwelt«, 155-191 (R. Deines), (zu) knapp für die »griechisch-römische Umwelt«, 193-230 (V. Gäckle). Die ntl. Apokryphen werden auch in diesem Buch nicht erwähnt. 53 Schnelle, Einführung, 209-214. 54 Ebd., 29-31. 55 Adam, Einführung, 144-147. 56 Söding, Wege, 312-315. 57 Neudorfer / Schnabel, Studium, 150. 58 Am ausführlichsten: Söding, Einführung, 310-312. 59 Adam, Einführung, 144-146. 60 E. Reinmuth, Historik und Exegese - zum Streit um die Auferstehung Jesu nach der Moderne, in: Alkier / Brucker, Exegese, 1-20; P. Lampe, Die urchristliche Rede von der »Neuschöpfung des Menschen« im Lichte konstruktivistischer Wissenssoziologie, in: ebd., 21-39. 61 Meiser, Proseminar, 5. 62 Der kirchengeschichtliche Teil des Buches steht leider auch unverbunden neben dem neutestamentlichen. Roloff, Arbeitsbuch, 329-351 behandelt immerhin die Frage nach der biblischen Theologie auch unter Aufnahme von Anregungen aus dem angelsächsischen Sprachraum. 63 Söding, Wege, 303. 64 Kaiser in Adam u.a., Einführung, 13-15 und 20-26. 65 Kurz immerhin im Blick auf die Kirche, Kaiser, ebd., 13-15. Neudorfer / Schnabel, die immer wieder die Frage nach dem Ziel einer Exegese stellen und dieses Ziel gerade auch in der Predigt sehen, thematisieren die Anwendung einer Auslegung, aber nicht das Verhältnis von ntl. Wissenschaft und Kirche oder gar Gesellschaft. 66 Bezugsorte: Basel, Berlin, Bern, Bethel, Bochum, Bonn, Erlangen, Frankfurt, Gießen, Göttingen, Greifswald, Halle, Hamburg, Heidelberg, Jena, Kiel, Leipzig, Mainz, Marburg, Münster, Neuendettelsau, Rostock, Tübingen, Wuppertal, Wien und Zürich. 67 Die meisten Lehrangebote wurden dem Internet entnommen. Lehrangebote wurden dann mehrfach gezählt, wenn sie sich verschiedenen Themenkomplexen zuordnen ließen. Bei der Auswertung wurden nicht berücksichtigt: Griechisch-Sprachkurse, reine Lektürekurse zu ntl. Büchern, Veranstaltungen zur Examensvorbereitung, Sozietäten und Doktorandenkolloquien ohne spezifische Themenangaben und alle Lehrveranstaltungen nur für LehramtskandidatInnen. 68 Bei der Beantwortung dieser Fragen muß beachtet werden, daß das erstellte Datenkorpus zwar einen Blick auf den Stand der Lehre der ntl. Wissenschaft im SoSe 2000 ermöglicht, daß jedoch aufgrund des geringen Datenumfangs weder statistisch sichere Angaben gemacht noch belegbare Überlegungen zu den Gründen oder weiteren Entwicklungen angestellt werden können. Alle Angaben in Prozent geben daher lediglich Tendenzen an. 69 Im ganzen gab es 51 Veranstaltungen, die besonders auf StudienanfängerInnen ausgerichtet waren (mehrheitlich als Proseminare veranstaltet). 70 E. Zenger, in: BZ N.F. 42 (1998), 5. 71 In: BZ N.F. 43 (1999), 204-211. 72 A.a.O. 210. 73 W. Reinbold, »Die Hellenisten«. Kritische Anmerkungen zu einem Fachbegriff der neutestamentlichen Wissenschaft, in: BZ N.F. 42 (1998), 96-102. 74 E.V. McKnight, Der hermeneutische Gewinn der neueren literarischen Zugänge in der neutestamentlichen Bibelinterpretation, in: BZ N.F. 41 (1997), 161-173. 75 A.a.O. 172. 76 A.a.O. 173. 77 H.-J. Klauck, Alle Jubeljahre. Zum neuen Dokument der Päpstlichen Bibelkommission, in: BZ N.F. 39 (1995), 1-27, auf deutsch zugänglich in: L. Ruppert / A. Schenker, VApS 115, Bonn 1994. 78 F. Hahn, Vielfalt und Einheit des Neuen Testaments. Zum Problem einer neutestamentlichen Theologie, in: BZ N.F. 38 (1994), 161-173. 79 ZNT 1 (1998), 1. 80 U. Luz, Kann die Bibel heute noch Grundlage für die Kirche sein? , in: NTS 44 (1998), 335, und J. Schröter, Zum gegenwärtigen Stand der ntl. Wissenschaft: Methodologische Aspekte und theologische Perspektiven, in: NTS 46 (2000), 282. 81 ZNT 1 (1998). 82 ZNT 5 (2000). 83 ZNT 7 (2001). 84 ZNT 9 (2002). 85 ZNT 2 (1998), 1. 86 M. Hasitschka, Homosexualität - eine Frage der Schöpfungsordnung, in: ZNT 2 (1998), 54-60 und W. Stege- 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 33 34 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Zum Thema mann, Homosexualität - ein modernes Konzept, in: ZNT 2 (1998), 61-68. 87 Eine echte Kontroverse wird eher durch die Form des Interviews oder einer Diskussion erreicht als durch das Nebeneinanderstellen zweier Aufsätze. 88 T. Ben-Chorin, Warum lesen Juden das Neue Testament? , in: ZNT 5 (2000), 11-20. 89 H.-C. Goßmann, Ist vom Neuen Testament her ein christlich-islamischer Dialog möglich? , in: ZNT 5 (2000), 21-26. 90 W. Stegemann, Amerika, du hast es besser! Exegetische Innovationen der neutestamentlichen Wissenschaft in den USA, in: R. Anselm, u.a. (Hrsg.), Die Kunst des Auslegens. Zur Hermeneutik des Christentums in der Kultur der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1999, 102. 91 Die genannten Zeitschriften präsentieren sich sehr unterschiedlich im Internet: Die ZNW hat die Adresse: http: / / www.degruyter.de/ journals/ znw/ index.html. Veröffentlicht sind hier nur die Inhaltsverzeichnisse seit 1997. Die BZ N.F. hat keine Internetadresse. Die ZNT hat die Adresse: http: / / www.znt-online.de. Neu sind auf der Internetseite der ZNT Buchbesprechungen, die in der Zeitschrift keinen Platz gefunden haben, und Links zu den Homepages der Herausgeber. Auf den Internetseiten selbst wäre die Möglichkeit einer weitergehenden Diskussion über die in den Aufsätzen angeschnittenen Themen bedenkenswert. 92 K. Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen u.a. 1995. 93 W. Thüsing, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus, Münster 1998. 94 H. Bee-Schrödter, Neutestamentliche Wundergeschichten im Spiegel vergangener und gegenwärtiger Rezeptionen, Stuttgart 1998; H. Melzer-Keller, Jesus und die Frauen, Freiburg u.a. 1997; M. Neubrand, Abraham - Vater von Juden und Nichtjuden, Würzburg 1997. 95 R. Denova, The Things Accomplished Among Us, Sheffield 1997; S.R. Garrett, The Temptations of Jesus in Mark’s Gospel, Cambridge 1998. 96 D. Ellul / O. Flichy, Le Grec du Nouveau Testament par les textes, Lausanne 1998; G. Theißen / D. Winter, Die Kriterienfrage in der Jesusforschung, Göttingen 1997. 97 M. Karrer, Jesus Christus im Neuen Testament, Göttingen 1998. 98 P. Egger, »Crucifixus sub Pontio Pilato«, Münster 1997. 99 R. Aguirre, Del movimiento de Jesús a la Iglesia cristiana: Ensayo de exégesis sociológica del cristianismo primitivo, Estella 1998. 100 H.-M. Döpp, Die Deutung der Zerstörung Jerusalems und des Zweiten Tempels im Jahre 70 in den ersten drei Jahrhunderten n.Chr., Tübingen u.a. 1998. 101 G.R. Treloar, Lightfoot the Historian, Tübingen 1998. 102 Bee-Schrödter, Neutestamentliche Wundergeschichten. 103 B. Chilton / C.A. Evans, Jesus in Context, Leiden u.a. 1997. 104 M. Neubrand, Abraham - Vater von Juden und Nichtjuden, Würzburg 1997. 105 H. Melzer-Keller, Jesus und die Frauen, Freiburg u.a. 1997. 106 H. Frankemölle, Matthäus. Kommentar, Düsseldorf 1997; L. Schenke, Johannes. Kommentar, Düsseldorf 1998. 107 H.-J. Klauck, Die antike Briefliteratur und das Neue Testament, Paderborn u.a. 1998. 108 G. Aichele, Sign, Text, Scripture, Sheffield 1997. 109 Ellul / Flichy, Le Grec. 110 Theißen / Winter, Die Kriterienfrage. 111 R. Meynet, Rhetorical Analysis, Sheffield 1998. 112 S.E. Porter, A Handbook of Classical Rhetoric in the Hellenistic Period, Leiden u.a. 1997. 113 C.M. Tuckett (Ed), The Scriptures in the Gospels, Leuven 1997. 114 G. Sellin / F. Vouga (Hrsg.), Logos und Buchstabe, Tübingen - Basel 1997. 115 C. Landmesser / H.J. Eckstein / H. Lichtenberger (Hrsg.), Jesus Christus als die Mitte der Schrift, Berlin / New York 1997; R. Lundin (Ed.), Disciplining Hermeneutics, Eerdmans 1997. 116 Eine recht instruktive »praxisorientierte Einführung« bieten W. Nethöfel / P.Tiedemann, Internet für Theologen, Darmstadt (WBG) 1999. Allerdings ist hier nur ein einziges neutestamentliches Forschungsprojekt zu finden - das »schon lange im Internet präsente« »Archiv ›Religionsgeschichtliche Schule‹« (S.77, unter 6.2, leider mit fehlerhafter Internet-Adresse). 117 In den letzten 10 Jahrgängen der ZNW wurden folgende Projekte offiziell vorgestellt und beschrieben: ZNW 83 (1992), 245-252: Neuer Wettstein; ZNW 86 (1995), 287: Tier- und Pflanzenwelt der Bibel; ZNW 87 (1996), 294f: Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit, Erschließungsprojekt; ZNW 89 (1998), 296f: Synoptische Konkordanz zu den ersten drei Evangelien; ZNW 90 (1999), 297: Die griechische Bibel deutsch - Übersetzung der Septuaginta. 118 Die Projekte werden im folgenden in ungefährer chronologischer Reihenfolge (der genaue Projektbeginn war nicht in jedem Fall eindeutig zu ermitteln) aufgelistet; es folgen die Namen der jeweiligen Federführenden sowie Hinweise auf Projektbeschreibungen. Bei den Internet- Adressenangaben (URLs) ist durchgängig der übliche Anfang »http: / / « weggelassen, der von den neueren Browser-Versionen automatisch ergänzt wird. Ansonsten ist jedoch auf zeichengetreue Eingabe zu achten, auch wenn der URL einen offensichtlichen Schreibfehler enthält; diese Fälle sind hier vorsichtshalber durch »[sic! ]« gekennzeichnet. - Ich danke an dieser Stelle allen, die mich mit Hinweisen und Informationen versorgt haben. »Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit« (Publikation von zahlreichen Einzellieferungen seit 1973; Erschließungsprojekt seit 1996), Federführung: Hermann Lichtenberger, Tübingen / Friedrich Wilhelm Horn, Mainz (begr. v. Werner Georg Kümmel †); siehe www.evtheol.uni-mainz.de/ jshrz (vgl. auch oben Anm.117). »Nag Hammadi Deutsch. Eingeleitet und übersetzt von Mitgliedern des Berliner Arbeitskreises für Koptisch- Gnostische Schriften« (Einzelveröffentlichungen seit 1973 in der ThLZ), Federführung: Hans-Martin Schenke, Hans-Gebhard Bethge und Ursula Ulrike Kaiser; siehe www.degruyter.de/ highlights/ naghammadi.html. »Vetus Testamentum in Novo« (seit ca. 1983), Federführung: Hans Hübner, Göttingen; siehe vorläufig das Vorwort in Bd. 2, Göttingen 1997, XI-XIV. »Neuer Wettstein. Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus« (seit 1986), Federführung: Udo Schnelle, Halle (begr. v. Georg Strecker †); siehe 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 34 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 35 Oda Wischmeyer Das Selbstverständnis der neutestamentlichen Wissenschaft www.uni-halle.de/ theologie/ inst/ bibel/ ntsem/ wettstein (vgl. auch oben Anm. 117). »Archiv ›Religionsgeschichtliche Schule‹« (seit 1987), Federführung: Gerd Lüdemann, Göttingen; siehe www.gwdg.de/ ~aoezen/ Archiv_RGS (bei Nethöfel / Tiedemann, Internet, 77, unter 6.2, fehlerhaft angegeben). »Übersetzung des Talmud Yerushalmi« (seit 1995 von der DFG gefördert), Federführung: Hans-Jürgen Becker, Göttingen (in Zusammenarbeit mit Martin Hengel, Tübingen, u. Peter Schäfer, Princeton / Berlin); siehe www.gwdg.de/ ~utvt/ ger/ 3mtalmudverushalmi.htm [sic! ]. »SAPERE (Scripta Antiquitatis Posterioris ad Ethicam Religionemque pertinentia)« [Schriften der späteren Antike zu ethischen und religiösen Fragen] (seit 1995), Federführung (derzeitiger Sprecher des Herausgebergremiums): Heinz-Günther Nesselrath, Göttingen (davor: Reinhard Feldmeier, Bayreuth); siehe www.unibayreuth.de/ departments/ ev_theologie3/ SAPERE.htm. »Die Tier- und Pflanzenwelt der Bibel« (seit 1995), Federführung: Bernd Janowski, Tübingen; siehe bibfutheol.uibk.ac.at/ bildi/ news/ tiere.html (vgl. auch oben Anm.117). »Synoptische Konkordanz zu den ersten drei Evangelien« (seit 1996; inzwischen abgeschlossen), Federführung: Paul Hoffmann, Bamberg; siehe www.unibamberg.de/ ktheo/ nt/ forschung (vgl. auch oben Anm. 117). »Josephus-Projekt (Edition, Übersetzung, Bibliographie)« (seit 1996), Federführung: Folker Siegert, Münster; siehe www.uni-muenster.de/ Judaicum. »Heil und Heilung« (seit 1996), Federführung: Reinhard Feldmeier, Bayreuth, inzwischen Göttingen / Uwe Wegner, S-o Leopoldo (Brasilien); siehe www.uni-bayreuth.de/ departments/ ev_theologie3. »Die Bibel - ihre Entstehung und ihre Wirkung« (seit 1997, DFG-Graduiertenkolleg), Federführung: Bernd Janowski, Tübingen; siehe www.uni-tuebingen.de/ gkbibel. »Edition und redaktionskritische Analyse unveröffentlichter Geniza-Fragmente zu Avot de-Rabbi Natan als Beitrag zur Erforschung der literarischen Genese der frühen rabbinischen Literatur« (seit 1998), Federführung: Hans-Jürgen Becker, Göttingen; siehe www.gwdg.de/ ~utvt/ ger/ 3mavotnatan.htm. »Wahrnehmung der Geschlechterdifferenz in religiösen Symbolsystemen« (seit 1998, DFG-Graduiertenkolleg), Federführung: Elmar Klinger u. Stephanie Böhm, Würzburg; siehe www.theologie.uni-wuerzburg.de/ kolleg. »Apokryphen: ›Die Bibel neben der Bibel‹« (seit 1997, Neubearbeitung von Hennecke / Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen), Federführung: Christoph Markschies, Heidelberg; siehe; idw-online.de/ public/ pmid-1608/ zeige_pm.html (vgl. auch Apocrypha. Revue International des Littératures Apocryphes 9 (1998), 97-132). »Übersetzung der nur armenisch überlieferten Schriften Philons von Alexandrien« (seit 1999), Federführung: Folker Siegert, Münster; siehe www.uni-muenster.de/ Judaicum. »Die Vielfalt des Kanons und die Einheit der Schrift / The Plurality of Canon and the Unity of Scripture« (seit 1999), Federführung: Michael Wolter u.a., Bonn / John Barton u.a., Oxford; siehe www.uni-bonn.de/ EvTheol/ forsch.html. »Der weibliche Christus« (seit 1999, Teilprojekt IV des Projekts »Soziale Rollen von Frauen in Religionsgemeinschaften« der LAG Theologische Frauenforschung/ Feministische Theologie, Bochum), Federführung: Martin Leutzsch, Paderborn; siehe www.ruhruni-bochum.de/ lag-fem-theol/ Teilprojektbschreibung_ IV.html [sic! ]. »Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in Übersetzung (LXX.D)« (seit 1999), Federführung: Martin Karrer, Wuppertal / Wolfgang Kraus, Koblenz; siehe www.septuaginta-deutsch.de (vgl. auch oben Anm.117). »Das christliche Gebet und sein jüdischer Ursprung - untersucht auf der Grundlage des antiken jüdischen Quellenmaterials« (seit 2000), Federführung: Niclas Förster, Göttingen; siehe www.gwdg.de/ ~utvt/ ger/ 3mgebet.htm. »Ethos und Identität im frühen Christentum und seiner Umwelt« (seit 2000, Teilprojekt A3 im DFG-Sonderforschungsbereich 534: »Judentum - Christentum«), Federführung: Michael Wolter, Bonn; siehe www.unibonn.de/ EvTheol/ forsch.html. »Neues Testament und Antike Kultur (NTAK)« (seit 2000), Federführung: Kurt Erlemann, Wuppertal, u.a.; siehe www.ntak.uni-wuppertal.de. »Corpus Iudaeo-Hellenisticum Novi Testamenti« (seit 2000), Federführung: Karl-Wilhelm Niebuhr, Jena; siehe www.uni-jena.de/ theologie/ Fachgebiete/ Neues Testament/ f_niebuhr2.htm. »Bibel für das neue Jahrtausend - die Testamente in gerechter Sprache« (seit 2001, Folgeprojekt des 1997 begonnenen, inzwischen abgeschlossenen Übersetzungswerks »der gottesdienst. Liturgische Texte in gerechter Sprache - Bd. 4: Die Lesungen«), Federführung: Erhard Domay und Hanne Köhler; siehe www.evangelische-akademie.de/ presse2.html. 119 Dazu Nethöfel / Tiedemann, Internet, 123: »Eines der wichtigsten Elemente von Web-Seiten ist die Verknüpfung mit anderen Seiten, Dateien oder Internet-Adressen. [...] Es gehört zum guten Ton, bzw. zum ureigenen Wesen des WWW, daß jeder Autor auf seiner Homepage auch Links zu Seiten anderer Autoren aufführt.« Das Fehlen solcher »Forschungsvernetzungen« sei allerdings »ein typischer deutscher Befund« (a.a.O. 77, unter 6.2). 120 Nämlich »Neuer Wettstein« und »Corpus Iudaeo- Hellenisticum Novi Testamenti«. Zum »Corpus Hellenisticum Novi Testamenti« siehe die Darstellungen von G. Delling, in: ZNW 54 (1963), 1-15, und W.C. van Unnik, in: JBL 83 (1964), 17-33. 121 Die Ansprachen erschienen in NTS 36 (1990), und den folgenden Bänden. 122 Hengel, in: NTS 40 (1994), 352. 123 Ebd., 334. 124 Ebd., 339. 125 Ebd., 349. 126 Luz, in: NTS 44 (1998), 320. 127 Ebd., 322. 128 Ebd., 327. 129 Ebd., 339 (Hervorhebung im Original). 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 35 Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie A. Francke Verlag Tübingen und Basel Theologische und philologische Lösungsvorschläge zum Problem des Textbegriffs Oda Wischmeyer/ Eve-Marie Becker (Hrsg.) Was ist ein Text? Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 1, 2001, 240 Seiten, 43,-/ SFr 71,- ISBN 3-7720-3151-X Eine Frage verbindet alle Textwissenschaftler: Was ist überhaupt ein Text? Dieser Frage sind die Beiträge aus dem Ersten Erlanger Textkolloquium gewidmet: Neben profilierten Vertretern aus der Klassischen Philologie sowie der Sprach- und Literaturwissenschaften haben Professoren aus den theologischen Disziplinen Altes Testament, Neues Testament, Kirchengeschichte und Systematische Theologie einen “Text” aus ihrer Disziplin interpretiert und dazu eine “Text”-Definition aus ihrer Sicht vorgeschlagen. 36 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Zum Thema 130 Wolfgang Stegemanns Bild von der ntl. Wissenschaft in den USA setzt sehr andere Schwerpunkte (s. Nr.10 dieses Beitrages). 131 Daß man die Bedeutung der Option für die Erforschung des antiken Judentums in ihrer allgemeinen Akzeptanz nicht überschätzen sollte, zeigt ein Vorfall wie die Streichung der C3-Professur für NT und Antikes Judentum an der Theol. Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg - der einzigen Professur für Antikes Judentum an einer Ev. Theol. Fakultät in Bayern. 132 Ein Beispiel solcher Kanalisierung ist die Stiftungsdozentur für Feministische Bibelauslegung an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau, die die Bayerische Landeskirche finanziert. 133 Das gilt für die überwiegende Mehrzahl der von R. Brucker dargestellten Forschungsprojekte. Ausnahmen - wenigstens der Fragestellung nach - bilden die Projekte zu Geschlechterdifferenz, Kanon, weiblichem Christus und Heil (s.o. Brucker). 134 Erschienen in: Anselm / Schleissing / Tanner (Hrsg.), Kunst, 99-114. 135 In: NTS 46 (2000), 262-283. 136 Stegemann, Amerika, 114. 137 Ebd. 138 NTS 46 (2000), 274. 139 Ebd., 281. 140 282. 141 283. 142 Ebd. 143 Das jeweilige Theologieverständnis von Stegemann und Schröter ist unterschiedlicher Art. Stegemann versteht die ntl. Schriften konsequent als Aspekt urchristlicher Kultur, und zwar als religiöse Schriften. Er müßte deutlich machen, wieweit dies kulturanthropologische Modell der Religion als eines Aspekts von Kultur auf die urchristlichen Religion angewandt werden kann, die im Gefolge des antiken Judentums mit ihrer Kultur zusammenfiel (vgl. G. Theißen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, 225f.) Schröters Ansatz bei der theologischen Wissenschaft als Gesprächsteilnehmerin am »Geflecht konkurrierender Entwürfe von Wirklichkeitsdeutung« (283) ist offener. 144 Die Begriffe Kulturanthropologie bzw. Kulturwissenschaften sollten allerdings nicht ohne sorgfältige Definition verwendet werden, da sie keineswegs eindeutig sind. Vgl. z.B. die Einführung in die Thematik im Art. »Kulturwissenschaft«, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, 1998, 299-302 (A. Nünning). 145 Aber selbst hier erschöpft sich das Bedeutungspotential: vgl. die populäre Qumran-Jesus-Debatte. Über Jesus ist allerspätestens seit Crossan nichts Kritisches mehr zu sagen, das noch Interesse erregen könnte. 146 Siehe oben den Beitrag von O. Gußmann. 147 NTS 40 (1994), 349. 148 Vgl. Theißen, Religion, 233: »Die Evangelien sind von vornherein mit kanonischem Anspruch geschrieben« (vgl. die Differenzierung ebd. in Anm. 8). 149 NTS 46 (2000), 283. 150 Art. »Theorie«, in: Enzyklopädie für Philosophie und Wissenschaftstheorie 4, 1996, 260-270 (Chr. Thiel). Hier liegt ein entscheidendes Defizit ntl. Wissenschaft, in der noch nicht ausführlich über Theoriebildung diskutiert worden ist. 151 Konsequenterweise fordert Theißen am Ende seines Buches weiterführende Werke zur Psychologie und Soziologie sowie zur Philosophie der urchristlichen Religion (409f.). Hier fehlt der Hinweis auf die Textwissenschaften. 152 Theißen, Religion, 19f. - Vgl. dazu die sehr kritischen Überlegungen von W.A. Meeks, in: Interpretation 55 (2001), 77-79: »What one misses is argument, a wrestling with the positive and negative features of each system« (78). 153 Vgl. allg. Art.»Theorie«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 10, 1998, 1128-1153 (G. König / H. Pulte) und Art. »Theorie«, in: Enzyklopädie für Philosophie und Wissenschaftstheorie 4, 1996, 260-270 (Chr. Thiel). 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 36 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 37 1. Voraussetzungen Die folgenden Überlegungen werden die phänomenologischen und die typologischen Möglichkeiten der Gestalt des Aeneas in ihrer Vergleichbarkeit mit Abraham darstellen und ihre Verwendbarkeit für die Paulusexegese darlegen. Dies wird im Zusammenhang der hellenistisch-römischen Kultur geschehen. Wenn eine solche Vergleichbarkeit denkbar wird, dann konnte auch sie für die hellenistisch-jüdische Synagoge relevant sein und damit für einen ihrer bedeutendsten Söhne, Paulus. Mit ihm käme dann auch sein Publikum in den Gesichtskreis der Bedeutsamkeit dieses Vergleichs, denn Hörerinnen und Hörer, Leserinnen und Leser von Wort und Schrift des Paulus waren wesentlich durch die hellenistische Diasporasynagoge bestimmt, und dieser Einfluß schloß auch die heidnische Öffentlichkeit des Paulus mit ein. Paulus und die auf ihn Hörenden und ihn Lesenden haben dann unter dem Eindruck solcher Intertextualität gestanden und der Verfasser ebenso wie Adressatinnen und Adressaten von Gal 3 and Röm 3 könnten die in diesen Texten zu verhandelnden Themen unter Perspektiven betrachtet haben, die in der gegenwärtigen Exegese normaler Weise nicht in Betracht gezogen werden. Die Möglichkeit, Aeneas in den geschichtlichen Horizont der paulinischen Exegese einzubeziehen, resultiert aus folgenden Beobachtungen: Die Diasporasynagoge zur Zeit des Paulus war durch den durchaus gegenseitigen Kontakt und Dialog mit römischer Politik, Wirtschaft und Kultur bestimmt. Beide Seiten in diesem Dialog waren durch Religion und Ideologie geprägt. Die Erfahrungen, die man mit der hellenistischen Umwelt gemacht hatte, setzte man mit der römischen fort, die über weite Strecken bewußt die hellenistische Tradition fortsetzen und vollenden wollte. Die beiden bedeutsamsten Zeugnisse für diesen engen und fruchtbaren Kontakt sind einmal die Privilegien, die den Juden von den Römern garantiert wurden. Wir wissen darum vor allem durch Josephus. Dazu kommt als zweites sprechendes Zeugnis die positive, stellenweise sogar euphorische Wertschätzung, die die Caesaren vor Caligula aus jüdischem Munde bzw. aus jüdischer Federn durch Philo erhielten. Abraham und die drei Engel. Gemälde von Lucas van Leyden (1513). Rom, der Ort, an den der letzte uns erhaltene Brief des Paulus adressiert wurde, war nicht nur die Hauptstadt des römischen Imperiums und damit der Mittelmeerwelt und ihrer Randgebiete, sondern war auch zur Zeit des Paulus als Sitz der Caesarenreligion fest etabliert. Diese war um die Mitte des ersten Jahrhunderts, der Zeit der Wirksamkeit des Paulus, nicht länger nur der offizielle Kult, von den gemeinen Leuten in den Städten und Provinzen außerhalb Roms weit entfernt, sondern - nicht zuletzt als Konsequenz erfolgreicher Manipulation - Objekt allgemeiner Faszination der Menschen des Imperiums insgesamt, in Zum Thema Dieter Georgi Aeneas und Abraham. Paulus unter dem Aspekt der Latinität? 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 37 38 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Zum Thema der Tat eine praktizierte Religion von einiger Popularität, die sogar Spuren einer Mysterienreligion entwickelt hatte, wie es der Verfasser der Johannesapokalypse widerwillig konzediert. In der Provinz Galatien waren die Errichtung von Augustustempeln und die Etablierung ihrer Priester die offenkundigste Demonstration des römischen Willens, die Caesarenreligion dort als Mittelpunkt eines grandiosen soziopolitischen und soziopsychologischen Experiments einzurichten, eines Experiments, das Augustus in dieser so merkwürdig zusammengesetzten Provinz begonnen hatte. Der Erfolg dieses Experiments in der Provinz war gemischt. Kleinasien insgesamt, besonders sein westlicher Teil, war tatsächlich besonders eifrig in seinem Interesse an der Caesarenreligion und ihrer Ausübung. Das findet so gut wie keine Beachtung in der Diskussion der missionarischen Aktivität des Paulus in dieser Halbinsel und in der Interpretation seines Briefs an die Galater. Überhaupt hat neutestamentliche Auslegung bislang nicht ausreichende Notiz von der Tatsache genommen, daß das Evangelium des Augustus, die ›Res Gestae Augusti‹, ein nicht nur politisches, sondern eindeutig auch theologisches Dokument, von Paulus in solchen kleinasiatischen Städten angetroffen und gelesen wurde, die einen Augustustempel besaßen, und deren gab es eine ganze Anzahl. Dieses Evangelium des Augustus war ja nicht nur in seiner lateinischen Fassung im Innern der Tempel inschriftlich verewigt, sondern es fand sich auch eine griechische Übersetzung auf der Außenseite der jeweiligen Tempelbauten, für Paulus also deutlich lesbar und verstehbar, unmöglich zu übersehen. Paulus, ebenso wie die Adressatinnen und Adressaten seiner Briefe und seine Gemeinden, ebenso wie die Juden in der mediterranen Diaspora mußten die Details dieses bedeutenden theologischen Dokuments kennen. Die Paulusexegese muß diese Bedingungen der wirklichen Leserinnen und Leser des Paulus und ihre möglichen Assoziationen und Reaktionen als Bewohner und Bewohnerinnen des ›Imperium Romanum‹ mit seiner aktiven, geradezu aggressiven Ideologie stärker beachten. Die ›Res Gestae Augusti‹ und ihr traditionsgeschichtlicher Kontext wollen in den engeren Bereich neutestamentlicher Intertextualität mit einbezogen werden. Die Bedeutung dieses allgegenwärtigen »kaiserlichen« Texts für die Paulusbriefe ist schon allein deshalb offenkundig, weil in ihrer von Paulus und seinem Publikum sicher überall wahrzunehmenden griechischen Übersetzung an den Außenwänden der Augustustempel die Begriffe dikaiosynee und pistis mehrfach vorkommen, Begriffe, die auch für die Pauluskorrespondenz bedeutsam sind. Auch epieikeia (Schicklichkeit), aretee und eireenee, dem Paulus gleichfalls nicht unvertraute Termini, finden sich in den ›Res Gestae‹. »Friede« und »Frieden schaffen / stiften« sind von wesentlicher Bedeutung für das Evangelium des Augustus. Wenngleich der Begriff »Friede« bei Paulus nicht häufig ist, so taucht er doch an prominenten Stellen auf, nicht zuletzt in den Briefen an die Galater und die Römer. Es ist weiter von großer Wichtigkeit für unsere Überlegungen, daß Troas im Nordwesten von Kleinasien, eine der Brückenköpfe der missionarischen Aktivität des Paulus, wie Philippi und Korinth eine Kolonie römischer Veteranen war. Troas und Korinth waren in besonderer Weise mit Julius Caesar verbunden, während Philippi mit »Überhaupt hat neutestamentliche Auslegung bislang nicht ausreichende Notiz von der Tatsache genommen, dass das Evangelium des Augustus, die ›Res Gestae Augusti‹, einem nicht nur politischen, sondern eindeutig auch theologischen Dokument, von Paulus in solchen kleinasiatischen Städten angetroffen und gelesen wurde, die einen Augustustempel besaßen, und deren gab es eine ganze Anzahl.« 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 38 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 39 Dieter Georgi Aeneas und Abraham. Paulus unter dem Aspekt der Latinität? Octavius Augustus verknüpft war. Der hatte aber auch viel für Troas getan. Troas und Philippi hatten andererseits aber auch eine enge Beziehung zur Alexandertradition und Alexanderideologie, von Julius Caesar ebenso wie von Augustus sehr geschätzt, geradezu verehrt, und nicht ohne Einfluß auf ihre Propaganda und ihre politische Praxis. Nicht nur die Stadt (Alexandria) Troas, sondern auch das ganze Gebiet, ebenfalls Troas genannt, war seit homerischen Zeit voller Gedenkstücke an Aeneas, den Sohn des Anchises und Vater des Ascanius. Aeneas war der Mittelpunkt einer Sagentradition gewesen, die über die Jahrhunderte nicht nur in Etrurien, Rom und Italien sondern auch an der kleinasiatischen Küste gewachsen war. Von dort hatte sie ihren Ausgang genommen, und dort wurde sie durch die neuen römischen Herren, besonders seit Julius Caesar und Octavius Augustus, wiederbelebt und vorangetrieben. Beide Repräsentanten des julischen Hauses hatten ihre Familie zurück verfolgt bis auf Julus, ein anderer Name für Ascanius, den Sohn des Aeneas. Die beiden ersten Caesaren liierten sich also genealogisch mit Aeneas. Julius Caesar hatte geplant, entweder Alexandria Troas oder das benachbarte Ilion, den Ort des alten Troia, zu seiner neuen Hauptstadt zu machen. Als Alexander über zweihundert Jahre zuvor die homerische Tradition über Troia durch einen Besuch dieses berühmten Ortes wieder belebte, betonte er die gloriose griechische Seite der Geschichte. Die Römer betonten statt dessen mehr die trojanische Tragödie selbst, die Erfahrung der Unterlegenen und die Rettung des Aeneas und eines Teils der Familie aus der brennenden Stadt. Ursprünglich hatte Augustus, als er die Nachfolge Julius Caesars antrat, die Absicht, die Hauptstadtpläne seines ermordeten Adoptivvaters weiter zu verfolgen. Dann aber begrenzte er seine Absichten darauf, Troas in eine römische Kolonie zu verwandeln. Augustus machte die ursprünglich mit der Troas verknüpfte aber dann auch in Italien lebendige Aeneastradition zu einem wesentlichen Teil des von ihm geformten Caesarenkults und der aus diesem herauswachsenden Caesarenreligion. Teil dieser Überlieferung von Aeneas war die Verheißung des Poseidon, daß Aeneas Herrschaft gewinnen würde, zuerst über Troas, dann über Rom, das ›Imperium Romanum‹ und schließlich über die ganze Welt. Diese Tradition wanderte von Troas aus ins Ausland. Seit Augustus gewann die Aeneassage kanonischen Charakter und fungierte als offizielle Gründungsideologie der Stadt Rom. Sie überschattete sogar die Sage von Romulus und Remus, die bereits viel früher den gleichen Zweck hatte, nämlich als Gründungssage zu wirken. Diese Entwicklung war nicht nur der Vermittlung des Vergil zu verdanken. Bereits das ›Carmen Saeculare‹ des Horaz demonstrierte, daß Aeneas nicht nur ein wesentliches Symbol des Caesarenkults geworden war, sondern auch zu seiner Form als Religion gehörte, die die Massen ansprechen sollte und tatsächlich auch bewegte. Die Aeneis des Vergil erhielt in den Lehrplänen der Schulen schnell einen der Ilias und der Odyssee des Homer gleichen Rang. Sie wurde so etwas wie das Dieter Georgi Dieter Georgi, Jahrgang 1929, promovierte und habilitierte sich in Heidelberg. 1966 Professor für Neues Testament am San Francisco Theological Seminary in San Anselmo und an der Graduate Theological Union in Berkeley/ Kalifornien. 1969 Frothingham Professor of Biblical Studies an der Harvard University/ Divinty School. Seit 1983 bis zu seiner Emeritierung 1996 Professor für Neues Testament an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt/ Main. 1987 Gründungsdekan des Fachbereichs Evangelische Theologie an der Frankfurter Universität. Zahlreiche Veröffentlichungen, aufgelistet in: L. Bormann, u.a. (Hrsg.), Religious Propaganda and Missionary Competition in the New Testament World. Essays Honoring Dieter Georgi (Supplements to Novum Testamentum 74), Leiden u.a. 1994. 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 39 40 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Zum Thema Neue Testament im Verhältnis zu den homerischen Epen, die gleichsam die Rolle eines Alten Testaments für die Caesarenreligion einnahmen. Schließlich ersetzte die Aeneis sogar das doppelte Epos des Homer, die Bibel des Hellenismus. 2. Vergleich von Abraham- und Aeneastraditionen Es ist bemerkenswert, wie sehr Abraham und Aeneas vergleichbar sind, besonders, wenn man sich nicht auf die ausgesprochen kanonischen Texte beschränkt, das Buch Genesis und die Aeneis, sondern die hellenistisch-römischen und die hellenistisch-jüdischen Traditionen mit einbezieht. Beide, Aeneas und Abraham, sind Patriarchen, Gründungsväter ihrer Völker, der Israeliten bzw. der Juden auf der einen Seite, der Römer auf der anderen Seite. Es ist ebenfalls beachtenswürdig, daß die Behauptung der Beziehung beider Männer zu »ihren« Völkern in gewisser Hinsicht ungenau ist, denn Abraham war anfänglich genauso wenig ein Israelit wie Aeneas zu Anfang ein Römer. Der erstere war ursprünglich ein Chaldäer, der zweite ein Trojaner. Beide, Abraham und Aeneas, waren also in bezug auf die sie beerbenden Völker Ausländer, in gewisser Hinsicht sogar nicht von dem gleichen Glauben. Abraham ebenso wie Aeneas repräsentieren das Motiv des Wanderns, aber auch das Phänomen der Fremde und der Fremdheit und zwar als konstitutive Elemente, nicht nur als anthropologisches sondern vor allem auch als gesellschaftliches Konstituens. Sie teilen das nicht nur mit Herakles und Odysseus, sondern auch mit anderen Heroen der mediterranen und auch der vorderasiatischen Sagen, nicht zuletzt dem Gilgamesch, was belegt, daß es sich dabei um fundamentale Faktoren im kulturellen Selbstverständnis der mediterranen und der vorderorientalischen Welt handelte. Aeneas spiegelt aber in der Überlieferung nicht einfach nur die odysseischen Züge des Wanderers, sondern er ist noch stärker als Odysseus und auch als Abraham bedroht durch Gefahr und Katastrophe. Andererseits zeigen sich in der Geschichte des Aeneas auch weit mehr als in der des Odysseus die positiven Zeichen von Rettung und Heil. Die Aeneassage belegt auch noch mehr als die Abrahamssage 1 die gegenseitige Beziehung von Fremdheit, Prophetie und Unsterblichkeit - auf dem Hintergrund solcher echten Bedrohung und Entfremdung, ja Katastrophenerfahrungen. Das Thema der Überwindung des Todes wird im Aeneaszyklus weiter entwickelt in Richtung auf Unsterblichkeit und Aufstieg / Himmelfahrt unter anderem unter dem Begriff des ›Aeneas Indiges‹. Aeneas und Abraham teilen verschiedene bedeutsame Charakteristika und Funktionen mit anderen Gründerpersönlichkeiten, die in der hellenistischen Welt sagenhafte Bedeutung gewonnen hatten. Solche Gestalten waren für die gesellschaftliche, kulturelle und religiöse Verfassung in hellenistisch-römischer Kultur und die in ihr vertretene und gepflegte politische Identität von wesentlicher Tragweite. Das Judentum der damaligen Zeit, nicht nur das der Diaspora, wurde ebenfalls durch solche Interessen bestimmt. Diese Gründergestalten repräsentierten oft in heroischer Form das Vertrauen in die Mission und die Verheißung ihrer Nachfahren, Nachfolger und Nachahmer, kurz gesagt: ihrer Erben. In ihrer Funktion als Beispiele symbolisierten Aeneas und Abraham ebenso gut wie andere Gründerpersönlichkeiten der mediterranen Subkulturen die Beauftragung und die Vision des religiösen und politischen Erbes der Kultur, auf die sie sich bezogen, demonstrierten deren Potential. Was die jeweilige Subkultur vertrat und vermochte, wurde durch diese antiken Gestalten typisiert, und zwar auf eine ebenso faszinierende wie engagierende und herausfordernde Weise. Hinterlassenschaft wurde hier nicht nur in dem Sinn von Gegebenem verstanden, sondern auch im Sinn von Ausstrahlung und Forderung, eine vergrößerte Form von Inklusivität also, geradezu mit Werbecharakter. Mit dieser Form von Konzentration wurde die ganze Welt in den Blick genommen. Universale Repräsentation gehörte zu diesem Verständnis von Erbe in den hellenistischrömischen Subkulturen, das Judentum mit eingeschlossen. Abraham und Aeneas wurden beide für ihre Mission von der Gottheit ausgewählt. Beide wurden unter eine Verheißung gestellt, die sich über alle Zeiten hinaus erstreckte. Sie versprach nicht nur persönlichen Schutz für sie selbst, ihre unmittelbaren Familien und ihre direkten Nachkom- 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 40 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 41 Dieter Georgi Aeneas und Abraham. Paulus unter dem Aspekt der Latinität? men, sondern sie verhieß auch ihren späteren Erben Größe, nicht nur in Zahlen sondern auch an Bedeutung. In beiden Fällen erstreckte sich die Bedeutung der Gründerväter zusammen mit ihren Erben, die sehr viel späteren eingeschlossen, auf die ganze Welt. Die durch sie begründeten Völker und Religionen erhielten Heilsbedeutung für die Menschheit. In den Texten werden beide, Abraham und Aeneas, durch Gottesfurcht, Gehorsam, Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit ausgezeichnet, durch Glaubwürdigkeit und Gerechtigkeit, kurz gesagt: sie sind fromm. Die Frömmigkeit des Abraham ist beinahe sprichwörtlich, besonders in der Diasporasynagoge. Geradezu schlagwortartig wird sie im Fall von Aeneas. Seine Überlieferung ist des Lobes voll von seiner ›pietas‹ / eusebeia. Er ist eben ›pius Aeneas‹. 2 Bei Philo von Alexandrien zeigt sich wie sehr die Gestalt des frommen Abraham in dem Licht des Themas »Wanderung unter der Verheißung« gesehen werden kann. Dasselbe trifft auf die Schilderung des Aeneas zu, vor allem in der Darstellung des Vergil. Aeneas erreicht schließlich wie Abraham das verheißene Land. Aeneas ebenso wie Abraham bringt seine Familie in die neue Heimat. Im Fall von Aeneas ist das sein Vater zusammen mit Ascanius / Julus, seinem Sohn, dem Gründer einer Dynastie auf fremdem Boden. Die Erzählung beider Heroen ist voll der Beweise der Frömmigkeit beider, erprobt und bewiesen in mannigfachen Versuchungsszenen, die sie auf ihren Wanderungen bzw. Irrfahrten zu überstehen haben. Nie sind sie völlig zuhause, Aeneas noch weniger als Abraham. In diesem Wanderleben erfahren sie nicht nur Versuchung sondern auch ständigen Schutz durch die Gottheit. Aber auch Gefährdung durch die Gottheit ist Teil ihrer Mühen. Im Falle Abrahams ist das zwar nicht so ausgebreitet wie bei Aeneas. Aber das Motiv der Bedrohung findet sich auch bei ihm, nämlich indirekt bei der Zerstörung von Sodom und Gomorrha und bei der Gefährdung der Ahnfrau Sarah in Ägypten, vor allem aber unmittelbar in der ›Aqeda‹ des Isaak. Im Fall des Aeneas haben wir dessen Erfahrung des andauernden Fluchs der Hera. Dieser wirkt sich nicht nur an ihm selbst aus sondern auch indirekt an anderen und durch andere, Natur wie Menschen. Ein wesentlicher Faktor beim Bewahren solchen Erbes und Durchführung solcher Mission ist in beiden Gründertraditionen das Festhalten an der durch die Tradition vermittelten Aufgabe. In solchem Festhalten treffen sich göttliche und menschliche Loyalität - für hellenistisches und noch mehr für römisches Bewußtsein eine Realisierung von pistis bzw. ›fides‹ als einer Mischung von Vertrauen und Loyalität, jeweils bilateral and gegenseitig, sowohl von der Seite der Gottheit her wie auch von der des Heros. Es ist auch nicht unwichtig, daß das lateinische Synonym für pistis, ›fides‹, in seiner absoluten Form ein bedeutender Begriff in augusteischer und nachaugusteischer Latinität geworden war. ›Fides‹ war eben eine Gottheit und Augustus hatte ihren Kultus wieder an vielen Orten eingeführt und Tempel für sie bauen lassen. Er hatte ›fides‹ auch zu einem wesentlichen Element der Caesarenreligion gemacht. Der lateinische Begriff ›fides‹ entsprach fast durchweg der Bedeutungsbreite seines griechischen Synonyms, jedoch mit starker Betonung seiner rechtlichen Dimensionen. Die Leserinnen und Leser des Paulus mußten an die vielen Verweise auf und Darstellungen von ›fides‹ / pistis im Rom und in den römischen Provinzen denken, wenn sie die Predigt des Paulus hörten und seine Briefe lasen, wo der griechische Begriff so häufig und wichtig ist. Aber diese Umwelt mit ihren Assoziationen erinnerte das Publikum ganz selbstverständlich an die Perspektive des Rechts, sowohl in seinen privat- und vertragsrechtlichen wie auch in seinen staatsrechtlichen und religionsrechtlichen Aspekten. Gerade auch in ihrer rechtlichen Bedeutung stand die pistis / ›fides‹ unter göttlichem Schutz, in ihrem Verhältnis zu der Gotttheit ebenso wie in »In den Texten werden beide, Abraham und Aeneas, durch Gottesfurcht, Gehorsam, Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit ausgezeichnet, durch Glaubwürdigkeit und Gerechtigkeit, kurz gesagt: sie sind fromm.« 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 41 42 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Zum Thema dem Verhältnis zu den Menschen. Und - das ist für das Paulusverständnis sehr wichtig - pistis / ›fides‹ beruhte auf göttlichem Vorbild. 3 Die Aeneas- und Abrahamüberlieferungen erzählen auch, wie die beiden Helden der Vorzeit in ihren vielfältigen Erfahrungen des göttlichen Schutzes, in Versuchungen und Kämpfen ebenso wie in ihren Siegen ihre königlichen Charakter beweisen, ihre königliche Berufung und Rolle. Bei Aeneas ist das ganz offenkundig. Aber auch im Fall der Abrahamssage liegt das Königsmotiv nicht weit. Die Melchisedekepisode in Gen 14 ist nur das prominenteste Beispiel. Diese Vorstellung von Abraham als königlichem Menschen ist der jüdischen Missionstheologie wichtig. Sie hat dieses Motiv weiter ausgebaut. Sie macht Abraham beispielsweise zum König von Damaskus. Abraham- und Aeneasüberlieferungen haben die beiden auch nicht ganz ohne Spuren prophetischer Fähigkeiten gelassen, durchaus in Übereinstimmung mit hellenistisch-römischer Königsideologie. Diese römische Münze zeigt auf der Vorderseits Venus, die Mutter von Aeneas, und auf der Rückseite Aeneas sowie die Inschrift »Caesar«. Diaspora-Judentum und das Römertum des ersten Jahrhunderts machten Abraham und Aeneas nicht nur zu ihren Gründervätern sondern auch zu Ecksteinen der jüdischen ebenso wie der römischen Religion als Weltreligionen, mit der LXX und der Aeneis als ihren kanonischen Ausdrucksformen. Beide, Abraham und Aeneas, wurden aber verstanden und repräsentiert als Menschen, die in diese jeweilige Religion, die jüdische und die römische, erst in ihren Mannesjahren hineingekommen waren, in die Religion, die ihre späteren Erben verbreiten sollten. Das trifft nicht nur auf Abraham in Gen 12 zu, sondern auch Vergil macht eindeutig den Aeneas zum Anhänger und Verbreiter der Caesarenreligion in seiner augusteischen Form. Beide waren je sozusagen die ersten Konvertiten dieser zukünftigen Religionen. Damit wurde ausgesagt, daß diese beiden Religionen von ihren Anfängen her als Missionsreligionen verstanden werden wollten. Abraham und Aeneas repräsentieren ebenso wie andere Vorväter der hellenistischen Welt jeder für seine Kultur bzw. genauer gesagt: Subkultur, die wesentlichen Voraussetzungen, unter denen Menschen leben und handeln sollen. Im Falle Abrahams ist diese Wirklichkeit eine des Herzens, nämlich die des Vertrauens. Um Vertrauen geht es auch im Fall des Aeneas. In der von ihm repräsentierten Welt richtet sich dieses Vertrauen aber mehr auf Stärke und Macht. Damit sind wesentliche Unterschiede zwischen beiden Gestalten und denen durch sie symbolisierten Subkulturen angezeigt und damit auch wesentliche Unterschiede hinsichtlich des sich in ihnen spiegelnden Verständnisses der für wirklich gehaltenen Basis von Religion, Kultur und Politik, oder auch im Sinne dessen, was man unter einem die Menschheit wirklich einigenden Band verstand. l Anmerkungen 1 Und tut dies repräsentativ besonders für römische, aber auch bis zu einem gewissen Grade für hellenistische Kultur. 2 Für die römische Kultur avisierte ›pietas‹ eine wesentlich patriarchalische Funktion, patriarchalisch im ursprünglichen Sinn, nämlich auf den oder die Vorväter »Diaspora-Judentum und das Römertum des ersten Jahrhunderts machten Abraham und Aeneas nicht nur zu ihren Gründervätern sondern auch zu Ecksteinen der jüdischen ebenso wie der römischen Religion als Weltreligionen, mit der LXX und der Aeneis als ihren kanonischen Ausdrucksformen.« 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 15 Uhr Seite 42 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 43 Dieter Georgi Aeneas und Abraham. Paulus unter dem Aspekt der Latinität? bezogen. Die pietas meinte im Römischen das pflichtgerechte Verhalten gegenüber Gott und Welt, wie es sich in nicht nur dem pflichtgerechten Verhalten gegenüber den Göttern, sondern auch gegenüber verstorbenen, lebenden und noch ungeborenen Verwandten äußert, natürlich auch gegenüber der Gesellschaft, der ›res publica / patria‹. ›Pietas‹ wird so auch neben ›fides‹ und ›virtus‹ kultisch verehrt. Sie gehört mit diesen beiden Größen zusammen zu den wesentlichen Programmpunkten der Caesarenreligion. 3 Zweitausend Jahre christlicher Sozialisierung haben glaubende und nichtglaubende Leserinnen und Leser des Neuen Testaments gegen viele Optionen des Verstehens immunisiert, die für Schreib- und Leseseite der neutestamentlichen Zeit selbstverständlich waren. Wir können uns heute kaum noch vorstellen, daß Paulus etwas anderes als »Glaube« im Sinn gehabt kann, wenn er von pistis redete oder schrieb. MAINZER HYMNOLOGISCHE STUDIEN A. Francke Verlag Tübingen und Basel Ansgar Franz (Hrsg.) Kirchenlied im Kirchenjahr Fünfzig neue und alte Lieder zu den christlichen Festen Mainzer Hymnologische Studien 8, 2002, XIV, 579 Seiten + CD, geb. 48,-/ SFr 79,30 ISBN 3-7720-2918-3 Worüber man sprechen kann, darüber soll man singen ... Der Band “Kirchenlied im Kirchenjahr” präsentiert 50 Lieder aus 16 Jahrhunderten in Text und Melodie und mit erschließendem Kommentar. Kristallisationspunkte sind die christlichen Feste und ihre Vorbereitungszeiten. Indem der Band die Zeiten des Kirchenjahres abschreitet, erschließt er zugleich den christlichen Glaubenskosmos in seiner poetischen Dimension. 53 Kommentatorinnen und Kommentatoren konnten für die musikalische, philologische, theologische und kulturgeschichtliche Erschließung gewonnen werden. Der Band verbindet Wissenschaft und Praxis: Die Leser finden fundierte Informationen und eine Fülle von Anregungen, gerade im Bereich des modernen Kirchenliedes. So ist der Band - nicht zuletzt durch die beigefügte CD, auf der ausgewählte Lieder zum Klingen kommen - ein Gewinn für alle, die sich wissenschaftlich und praktisch mit dem Kirchenlied beschäftigen, und eine Empfehlung an jene, die Musik und Dichtung lieben. Johannes Block Verstehen durch Musik: Das gesungene Wort in der Theologie Ein hermeneutischer Beitrag zur Hymnologie am Beispiel Martin Luthers Mainzer Hymnologische Studien 6, 2002, X, 246 Seiten, 48,-/ SFr 79,30 ISBN 3-7720-2916-7 Der Titel “Verstehen durch Musik” bringt die Summe des Buches auf eine kurze Formel: das gesungene Wort der Kirche wird als eine Schule des Verstehens in Erinnerung gerufen. Die Grundfrage lautet, inwiefern im gesungenen Wort theologisches Verstehen als ein personales Ergehen lebendig und leibhaftig wird. Vornehmlich am Schrift- und Musiktheologen Martin Luther wird gezeigt, daß der Gesang und Klang des Wortes sinnerschließende Kraft hat und demnach von hermeneutischem Rang ist. Das Buch arbeitet an der für geistliches Verstehen fruchtbaren Schnittstelle von Theologie, Hymnologie, Liturgie und Kirchenmusik. Es öffnet den Sinn für die Frage, inwiefern das theologische Verstehen auf dem Spiel der Musik steht, und mündet in dem Forschungsfeld einer neuartigen “hermeneutischen Hymnologie”. Die Arbeit wurde mit dem Preis der Hans-Werner-Surkau-Stiftung, Marburg, ausgezeichnet. 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 43 44 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 1. Teil Die Kontroverse zwischen H.-F. Weiß und A. von Dobbeler in ZNT 8 hinsichtlich matthäischer und, allgemeiner, frühchristlicher Ermöglichung von christlichem Antijudaismus 1 bringt wichtige Momente zur Sprache. Auffälliger als die Differenzen zwischen diesen Voten 2 scheint mir, dass beide Autoren jedenfalls in einem zentralen Punkt ähnlich urteilen: Christlicher Antijudaismus knüpft nach ihnen früher oder später an innerjüdische Kontroversen an, in welche das älteste Christentum als eine zunächst rein jüdische Gruppe in seiner Auseinandersetzung mit anderen jüdischen Gemeinschaften - und Institutionen - involviert war. 3 Obwohl ich diesem partiellen Konsens der Sache nach weithin zustimmen kann, meine ich doch einer - in unterschiedlicher Akzentuierung vertretenen - weiteren Gemeinsamkeit dieser Exegeten gegenüber Skepsis äußern zu sollen, nämlich gegenüber beider Redeweise von den »Wurzeln« des oder eines christlichen Antijudaismus. 4 Derartige Formulierungen sind m.E. der hermeneutischen Klärung nicht sonderlich zuträglich. Die Metapher suggeriert ja die Zugehörigkeit solcher »Wurzeln« zu dem, was da entsteht oder schon dasteht, d.h. zur »Pflanze« oder zum »Baum« Antijudaismus. Dementsprechend betont Weiß so etwas wie eine Kontinuität zwischen matthäischen »Ansätzen« und späteren, noch stärker verallgemeinernden Aussagen - z.B. über die »Heuchelei« der Pharisäer (vgl. nur Mt 23,27f.). 5 Und von Dobbeler, der den hermeneutischen Aspekten mehr Raum gibt, zitiert nicht nur zustimmend I. Broers Aussage: »Nach dem Holocaust kann niemand mehr ausschließlich aus wissenschaftlicher Distanz heraus über antijüdische Texte oder Tendenzen sprechen, erst recht nicht in Deutschland. Auch ist eine rein synchrone Betrachtung der alten antijüdischen Texte des Neuen Testaments nicht mehr erlaubt - wir können bei der Betrachtung dieser Texte von ihrer Wirkungsgeschichte nicht absehen.« 6 Von Dobbeler, dem bei diesem Zitat wohl weniger an der Wendung von den »alten antijüdischen Texten des Neuen Testaments« gelegen ist als eben an der hermeneutischen Intention, formuliert im Zusammenhang damit überdies sein »methodisches Prinzip: Bei der Frage nach den Wurzeln des christlichen Antijudaismus ist stets der lectio difficilior der Vorrang zu geben«. 7 Es wird sodann 8 gerade auch auf O. Michels These bezogen: »Der Weg zum ›christlichen Antisimitismus (sic)‹, der so verhängnisvoll für viele Kreise des deutschen Volkes wurde, arbeitet mit einem Mißverständnis der urchristlichen Polemik und ist eine Schuld vor allem am Evangelium selbst.« 9 Das Prinzip von der lectio difficilior »verbietet« nämlich, so von Dobbeler, diesen »von allzu durchsichtigen apologetischen Motiven getragene[n] Verweis darauf, ... dass die Anfänge [des Christentums] ... ›rein‹, d.h. nicht antijudaistisch waren« 10 - und das, obwohl historisch gelte: »Hinter letzterer [nämlich Michels] These steht ... die durchaus zutreffende Einschätzung, dass sich im Zuge des Prozesses, der schließlich zum ›Auseinandergehen der Wege‹ führte, qualitativ die entscheidende Wende vollzogen haben muss: nämlich von einer ... innerjüdischen Auseinandersetzung, die in traditioneller Weise mit harten Bandagen geführt wurde, zu einer ›von außen‹ an das Judentum bzw. die Juden gerichteten Polemik, die sich ... nicht nur zur schroffen Verurteilung des ›alten‹ Gottesvolkes, sondern auch zu dessen Enterbung legitimiert sah.« 11 Es sei trotz dieser Wende indes - angesichts der »Falle einer vorschnellen Apologetik« 12 - im Sinne einer gewissen Kontinuität »mindestens ebenso bedeutsam festzuhalten, dass sich der christliche Antijudaismus aus Texten und Thesen ›genährt‹ hat, die ursprünglich nicht antijudaistisch gemeint waren.« 13 2. Teil Freilich, bei dieser mit der Wurzel-Metapher verbundenen Auffassung von einer nicht unerhebli- Zum Thema Michael Bachmann Zur Entstehung (und zur Überwindung) des christlichen Antijudaismus 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 44 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 45 Michael Bachmann Zur Entstehung (und zur Überwindung) des christlichen Antijudaismus chen Kontinuität zwischen urchristlicher - innerjüdischer - Polemik und christlichem Antijudaismus kommen, zumindest bei von Dobbeler, 14 historisches Urteil und wertende (theologische) Einschätzung (»Apologetik«) in recht problematischer Weise zusammen, und mag der Apologetik-Verdacht in vielen Fällen auch nicht unbegründet sein, so trifft er doch schwerlich jeden Versuch, neutestamentliche Aussagen als nicht-antijudaistisch zu beschreiben. 15 1. Das zitierte Wort O. Michels zeigt ja, sofern es - gerade im Blick auf »viele Kreise des deutschen Volkes« - von »Schuld ... am Evangelium« spricht, 16 dass die angesprochene Unterscheidung zwischen früheren und späteren christlichen Aussagen nicht nur zu einer (teilweisen) »Freisprechung« des Neuen Testaments, sondern durchaus auch zu einer (weitgehenden) Kritik späterer Christentümer führen kann - bei der dann selbstverständlich nicht allein von »Schuld ... am Evangelium«, sondern auch von Schuld an Millionen von Menschen zu sprechen ist. Eine solche - für viele christliche Erneuerungsbewegungen und natürlich nicht zuletzt für den Protestantismus des 16. Jh.s mit seinem Schriftprinzip (sola scriptura) charakteristische - kritische Funktion wird Bibelauslegung indes nur dann ausüben können, wenn sie die hermeneutische Einsicht, dass die Situation der Leser und Hörer die Interpretation notwendig beeinflusst, nicht zur Immunisierung gegenüber den Textgegebenheiten missbraucht (»Vorurteil«), sondern als Aufforderung zur Unterscheidung versteht, nämlich zwischen diesen Gegebenheiten und der sie bestimmenden Kommunikationssituation einerseits und der Rezeption und den in sie eingehenden Umständen andererseits. Das hat im Übrigen den Vorzug, dass der m.E. zu postulierende Anspruch von Texten und hinter ihnen stehenden Gruppen und Autoren auf gewissenhafte Würdigung hochgehalten wird - und insofern »die Redlichkeit des Historikers«. 17 Und im Blick auf die Rezeption ist zwar kaum zu leugnen, was eine antike Sentenz (Terentianus Maurus) behauptet: Pro captu lectoris habent sua fata libelli (Gemäß der Auffassung / Fassungskraft des Lesers haben Büchlein / Schriftstücke ihre Schicksale); es sollte aber doch zugleich wohl auch als möglich erachtet werden, was die Mediziner- und Apotheker-Regel sagt: Abusus non tollit usum (Missbrauch hebt den [rechten / förderlichen] Gebrauch nicht auf). Noch einmal anders ausgedrückt: Auch und gerade gegenüber ursprünglich nicht-antijudaistischen Texten sollte das Prinzip von einer Priorität der Synchronie geltend gemacht werden - und das a fortiori nach dem Holocaust. 18 2. Was die »Situationen« angeht, in denen derartige des Antijudaismus verdächtige neutestamentliche Texte innerhalb christlicher Gemeinschaften zu verstehen waren und sind, wird man - Michael Bachmann Michael Bachmann, Jahrgang 1946, studierte Evangelische Theologie und Mathematik in Münster. Promotion 1978, ebenfalls in Münster, und Habilitation 1990 in Basel. 1975ff. Assistent am Institutum Judaicum Delitzschianum in Münster, 1978ff. Gymnasiallehrer. Seit 1980 Hochschullehrer an der Pädagogischen Hochschule in Freiburg und seit 1995 Universitätsprofessor in Siegen. 2000 Ablehnung eines Rufs auf den Neutestamentlichen Lehrstuhl an der Universität Aarhus. »Noch einmal anders ausgedrückt: Auch und gerade gegenüber ursprünglich nicht-antijudaistischen Texten sollte das Prinzip von einer Priorität der Synchronie geltend gemacht werden - und das a fortiori nach dem Holocaust.« 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 45 46 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Zum Thema das dürfte einleuchtend sein - idealtypisch zumindest drei Phasen unterscheiden können, deren soziologisches Profil »mengentheoretisch« mit den folgenden Diagrammen grob umrissen sei (siehe Grafik). 19 Die nicht als Ganze, nicht durchgehend - also: die nur partiell - grau hinterlegten Kreisflächen sollen dabei das (in sich mehr oder weniger vielgestaltige) Judentum symbolisieren, die dunklen Zonen entsprechend die Gemeinschaft(en) der Christen (Judenwie Heidenchristen). Gehörten die Christusgläubigen zunächst sämtlich oder doch nahezu ausschließlich zum Judentum (i), galt das bald nicht mehr, ja, die Judenchristen befanden sich ziemlich schnell weithin gegenüber den Heidenchristen in einer recht isolierten Position (ii). Der Holocaust veränderte die Situation insofern radikal, als Millionen von Juden ermordet wurden und der Kreis der Judenschaft so erheblich dezimiert wurde (iii) - und die Christenheit stellte bei der Shoah den Großteil der Täter, von denen, die (insgeheim) zustimmten oder nicht protestierten, ganz zu schweigen. Es kann nicht anders sein, als dass derartig gravierende soziologische Veränderungen, wie sie zwischen den »Situationen« (i) und (ii) sowie entsprechend zwischen (ii) und (iii) zustande kamen, das Verständnis früherer Aussagen betreffen müssen, sofern diese es irgendwie mit Gruppenmerkmalen von Juden, Judenchristen und Heidenchristen zu tun haben. Bei von Dobbeler heißt es in diesem Sinne zu Recht: »Es steht außer Frage, dass es für die Entscheidung, ob ein Text als ›antijudaistisch‹ zu kennzeichnen ist oder nicht, von einiger Bedeutung ist zu klären, von welcher Position aus gegen Juden oder das Judentum polemisiert wird, ob der Standort eines Textes bzw. seines Autors noch intra muros des Judentums liegt oder bereits extra muros.« 20 Es ist indes hinzuzufügen: Auch derart soziologisch relevante polemische Aussagen, die - und das wurde beim ersten Diagramm schon berücksichtigt - gegenüber einem aus Juden- und Heidenchristen gemischten Publikum oder gegenüber einem dominant oder ausschließlich heidenchristlichen Adressatenkreis gemacht werden, können, falls dabei, wie im Römer- und Galaterbrief (s. nur Röm 1,16; Gal 2,15f.), die Verbindung mit der jüdischen Mutter-Gruppe noch selbstverständliche Voraussetzung ist, dann zu erheblichen Missverständnissen führen, wenn mittlerweile die Verschiebung zu »Situation« (ii) erfolgt und dabei jene Selbstverständlichkeit verloren gegangen ist. 21 Mit anderen Worten: Es könnte - jedenfalls hier und da - angemessen sein, eine in »Situation« (i) formulierte polemische Aussage nicht unbesehen den »Wurzeln« des oder eines christlichen Antijudaismus zuzurechnen, vielmehr den soziologischen Wechsel zu »Situation« (ii) und die damit notwendigerweise veränderten Verstehensvoraussetzungen als entscheidend für die antijudaistische Lektüre einzuschätzen. Insofern scheint es - auch wenn Weiß diesen Faktor (bei seinen Bezugnahmen auf Formulierungen von M. Gielen) nicht unberücksichtigt lässt 22 und von Dobbeler das »Hinzukommen von Menschen aus den Völ kern« eigens zu den »Wurzeln des christlichen Antijudaismus« zählt 23 - klug zu sein, vorsichtiger zu verfahren. So meidet B. Schaller eine Redeweise, bei der die angesprochenen polemischen Äußerungen den neutestamentlichen »Wurzeln« des christlichen Antijudaismus zugewiesen werden. Er formuliert stattdessen zurückhaltender: »Antijudaistische Potenz haben Texte des NT ... wirkungsgesch.[ichtlich] entwickelt« 24 - obwohl sie ursprünglich »durchweg binnenjüd.[isch] bedingte Zwistigkeiten und Abgrenzungen« 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 46 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 47 Michael Bachmann Zur Entstehung (und zur Überwindung) des christlichen Antijudaismus reflektierten, »antipharisäisch bzw. antisadduzäisch gemünzt, z.T. auch gegen konkurrierende christl.[liche] Gruppen (›Judaisten‹ ...) gerichtet« waren. 25 Verursacht worden sei diese - offenkundig als ein Zweites, als etwas Sekundäres beurteilte - Entwicklung antijudaistischer Potenz durch eine »sich durchsetzende personelle, institutionelle und ideelle Abtrennung bzw. Ablösung der christl.[ichen] Gemeinden von der jüd.[ischen] Umwelt«. 26 Lässt man die christliche Exegese der letzten Jahrzehnte und der vergangenen Jahrhunderte an seinem inneren Auge vorbeistreichen, wird man wohl urteilen müssen, dass mit und nach dem Geschehen der Shoah, dass - so makaber das ist - erst mit dem neuen Aufmerken auf das jüngste Gegen- und Miteinander von Christentum und Judentum, dass also erst mit »Situation« (iii) langsam deutlicher geworden ist, wie wenig die zuvor, nämlich in »Situation« (ii), bestimmende Perspektive jenen polemischen Äußerungen des frühen Christentums - aus »Situation« (i) - gerecht werden konnte. 27 Es handelt sich auch in der Gegenwart natürlich um einen von Irrungen und Wirrungen nicht freien Prozess der Wieder- Entdeckungen, und zu Hochmut gegenüber den exegetischen Vorfahren besteht kein Anlass, zumal sie trotz ihrer, wenn man so sagen darf, hermeneutisch ungünstigeren Situation, verschiedentlich Spuren aufgewiesen haben, die auf ein angemessenes Verständnis deut(et)en. 3. Teil Dass es sich um einen zwar in den Einzelergebnissen noch durchaus umstrittenen, in der Tendenz indes recht klaren Prozess der Wieder-Entdeckungen handelt, der in den »heidenchristlichen Jahrhunderten« vor dem Holocaust so kaum möglich gewesen ist, sei mit Hinweisen auf einige jüngere Thesen ins Gedächtnis gerufen. 1. A. von Dobbeler plädierte vor kurzem - das hat die Kontroverse, auf die ich hier Bezug nehme, ja ausgelöst 28 - dafür, den »Missionsbefehl« Mt 28,18b-20 und die dortige Erwähnung der »Völker« (V. 19a) so zu begreifen, dass da allein die nicht-jüdischen »Völker«, die gojim, im Blick seien. Den Juden falle, sozusagen in alttestamentlicher Perspektive (s. nur Jes 49,6; Mi 4,1-5), eine besondere Rolle zu, wie die »komplementäre« Formulierung Mt 10,5b.6 (vgl. Mt 15,24) erkennen lasse 29 - in welcher die Negationen »Gehet nicht auf den Weg zu den ›Völkern‹, und betretet nicht eine Stadt der Samariter« dann wie Abgrenzungen gegenüber einer Auffassung wirken, die Juden und Nicht-Juden auf eine Stufe stellt 30 . In einer Zeit, in der man bei »Heiden«, bei gentes, an Nicht-Christen zu denken gewohnt war, wird es nicht leicht gewesen sein, auf eine solche Auslegung zu verfallen. 2. Ähnlich wie »Matthäi am Letzten« wurde in den vergangenen Jahren auch der Abschluss des lukanischen Werks neu interpretiert. So fragten M. Karrer und M. Vahrenhorst, ob das dort, in Apg 28,25b.26f., begegnende Zitat von Jes 6,9f.LXX, mit dem hier fraglos Erfahrungen der Ablehnung der christlichen Botschaft durch Juden (s. nur Apg 28,24.25a) - und Missionserfolge unter Nicht-Juden (s. nur V. 28) - polemisch verarbeitet werden, wirklich, wie herkömmlicherweise ausgelegt wird, die bleibende »Verstockung« Israels belegen solle. Dagegen könne sprechen, dass die Bedeutung des Prophetenworts im zeitgenössischen Judentum nicht auf völlige und bleibende »Verstockung« hin festgelegt worden ist (vgl. bes. 4Q 177 IX,3) und Lukas - der noch in V. 20 Paulus von der ihn bestimmenden »Hoffnung Israels« reden ließ - es nicht mit dem »Es handelt sich auch in der Gegenwart natürlich um einen von Irrungen und Wirrungen nicht freien Prozess der Wieder-Entdeckungen, und zu Hochmut gegenüber den exegetischen Vorfahren besteht kein Anlass, zumal sie trotz ihrer, wenn man so sagen darf, hermeneutisch ungünstigeren Situation, verschiedentlich Spuren aufgewiesen haben, die auf ein angemessenes Verständnis deut(et)en.« 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 47 48 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Zum Thema zuvor mehrfach verwandten Konjunktiv beendet. Er hält sich vielmehr an die futurische Formulierung der Septuaginta: »und ich [Gott] werde sie [die Angehörigen des Volkes der Juden] heilen.« 31 In den Jahrhunderten, in denen Juden von Christen als »Ungläubige« verstanden wurden und im christlichen Raum als »Gottesmörder« und als deshalb heimatlos herumziehend (»ewiger Jude«) galten, lag eine derartige Interpretation schwerlich nahe. 3. G. Schrenk, P. Richardson und ich gaben bzw. geben zu bedenken, dass entsprechend auch gegen Schluss des so polemischen Galaterbriefs 32 das dem »Israel Gottes« Frieden und göttliches Erbarmen wünschende Paulus-Wort (Gal 6,16) nicht, wie in der Regel gedeutet worden ist (und wird), die »Enterbung« des Judentums meine oder doch die Übertragung der Israel-Begrifflichkeit auf Nicht-Juden dokumentiere. Die Formulierung bringe vielmehr (ähnlich wie Röm 11,26) Hoffnung für das jüdische Gemeinwesen - oder doch für bestimmte Juden - zum Ausdruck, 33 dem sich die »Gemeinde Gottes« (Gal 1,13) trotz mancher Verfolgungserfahrung (vgl. Gal 1,13; 4,29; 5,11) verdankt. 34 In einer weithin heidenchristlichen Kirche, welche die entsprechenden jüdischen Friedenswünsche (insbesondere die 19. Benediktion des Achtzehngebets) kaum noch oder gar nicht mehr betend sprach und das Alte Testament typologisch wie christologisch zu lesen gewohnt war, überdies seit Justin, dem Märtyrer, den Israel-Terminus auf sich bezog (Dial 123,7 u.ö.), musste es schwer halten, 35 bei dem auf die Zukunft bezogenen Satz an das »alte« Gottesvolk zu denken. 4. Nachdem schon vor dem Holocaust gelegentlich die Besonderheiten des zuerst im Galaterbrief (Gal 2,16 u.ö.) begegnenden paulinischen Ausdrucks »Werke des Gesetzes« zu der Vermutung geführt hatten, es gehe bei der Wendung um bestimmte Vorschriften, 36 hat vor allem J.D.G. Dunn dafür plädiert, hier nicht mit der abendländischen und besonders der reformatorischen Tradition an »jüdische Werkgerechtigkeit« und an »gute Werke« (oder an deren Gegenteil) zu denken, sondern primär an solche Identitäts- und Grenzmarkierungen des Judentums wie Beschneidung (s. Gal 5,2f.; 6,12f.) und Essensregeln (s. Gal 2,11-14). 37 Während dieser Gelehrte dabei sowohl die betreffenden Vorschriften als auch deren Befolgung im Blick hatte, 38 wurde die These von anderen Autoren, so von J.A. Fitzmyer (1993) und mir (1992), danach etwa auch von R. Bergmeier (2000), (modifiziert und) präzisiert, nämlich eben auf solche Regelungen bezogen, 39 und das nicht zuletzt deshalb, weil die (erst 1994 edierte) Parallele in 4QMMT C27 »precepts of the torah« meinen dürfte. 40 Dann ginge es bei Paulus, sozusagen entgegengesetzt zur Argumentationsrichtung dieses Qumran-Schreibens - möglicherweise ist es ein Brief des »Lehrers der Gerechtigkeit« -, 41 um Polemik gegenüber einer Auffassung, nach der die Hochschätzung gewisser »Halakhot« von erheblicher Relevanz, von Heilsrelevanz ist. Zur Zeit der pelagianischen Streitigkeiten oder der evangelisch-katholischen Auseinandersetzungen über Gnade und »gute Werke«, als jeweils »the introspective conscience of the West« 42 die Auslegung dominierte, wäre eine derartige, primär soziologische Kategorien berücksichtigende Interpretation kaum möglich gewesen. 43 So scheint »Situation« (iii) es zu ermöglichen, bestimmte antijudaistische Auslegungsgewohnheiten, zu denen es mit »Situation« (ii) gekommen ist, zu überwinden und die betreffenden Texte als nicht-antijudaistisch - aber polemisch - neu zu Gesicht zu bekommen. 44 Nicht sie selbst sind dann den »Wurzeln« des oder eines christlichen Antijudaismus zuzurechnen. Dafür ist man eher an die soziologische Wende zwischen den »Situationen« (i) und (ii) gewiesen. »Und für die Überwindung des abendländischen Antijudaismus und Antisemitismus dürfte es hilfreich sein, sich der Kritik durch (sozusagen wieder-entdeckte) frühchristliche Aussagen nicht zu entziehen - ungewollt zu entziehen -, die einen solchen Antijudaismus gerade nicht praktizieren und auch nicht tolerieren.« 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 48 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 49 Michael Bachmann Zur Entstehung (und zur Überwindung) des christlichen Antijudaismus Zusammengefasst: Die lectio difficilior von Dobbelers ist, was die Frage eines frühen christlichen Antijudaismus angeht, bedenkenswert, aber doch wohl zu simpel. Und für die Überwindung des abendländischen Antijudaismus und Antisemitismus dürfte es hilfreich sein, sich der Kritik durch (sozusagen wieder-entdeckte) frühchristliche Aussagen nicht zu entziehen - ungewollt zu entziehen -, die einen solchen Antijudaismus gerade nicht praktizieren und auch nicht tolerieren. l Anmerkungen 1 H.-F. Weiß, Noch einmal: Zur Frage eines Antijudaismus bzw. Antipharisäismus im Matthäusevangelium, in: ZNT 8 ( 2001), 37-41 (vgl. ders., Kirche und Judentum im Matthäusevangelium. Zur Frage des ›Antipharisäismus‹ im ersten Evangelium, in: ANRW II,26,3 [1996], 2038-2098); A. von Dobbeler, Wo liegen die Wurzeln des christlichen Antijudaismus? , in: ZNT 8 (2001), 42- 47 (vgl. ders., Die Restitution Israels und die Bekehrung der Heiden. Das Verhältnis von Mt 10,5b.6 und Mt 28,18-20 unter dem Aspekt der Komplementarität. Erwägungen zum Standort des Matthäusevangeliums, in: ZNW 91 [2000], 18-44). 2 Vgl. dazu K. Erlemann, Einleitung [zur Kontroverse zwischen H.-F. Weiß und A. von Dobbeler], in: ZNT 8 (2001), 35f. 3 S. dazu bes. Weiß, Antijudaismus, 37, und von Dobbeler, Wurzeln, 43f. 4 S. dazu bes. Weiß, Antijudaismus, 37, und von Dobbeler, Wurzeln, 42. 5 S. dazu bes. Weiß, Antijudaismus, 38. 6 Von Dobbeler, Wurzeln, 42, wo zurückgegriffen wird auf I. Broer, Antijudaismus im Neuen Testament? Versuch einer Annäherung anhand von zwei Texten (1Thess 2,14-16 und Mt 27,24f.), in: L. Oberlinner / P. Fiedler (Hg.), Salz der Erde - Licht der Welt. Exegetische Studien zum Matthäusevangelium. FS A. Vögtle, Stuttgart 1991, 321-355, 326. 7 Von Dobbeler, Wurzeln, 42. 8 Ebd., 43. Vgl. u. (bei) Anm. 16. 9 O. Michel, Polemik und Scheidung. Eine biblische und religionsgeschichtliche Studie, in: Jud. 15 (1959), 193- 212, 204. Ähnlich ist in dem unter Kardinal Edward Idris Cassidy von der »Päpstlichen Kommission für die religiösen Beziehungen zu den Juden« erarbeiteten und am 16. März 1998 vorgelegten Dokument »Wir erinnern: Eine Reflexion über die Shoah« (http: / / www.stjosef.at/ dokumente/ shoah-reflexion.htm) mit Worten von Papst Johannes Paul II. davon die Rede, »Antisemitismus und Rassismus« seien »mit den Grundsätzen des Christentums unvereinbar« (bei Anm. 19 [Ansprache an die Jüdische Gemeinde in Straßburg vom 8. Oktober 1988]), auch seien »irrige und ungerechte Interpretationen des Neuen Testaments bezüglich des jüdischen Volkes ... allzu lange Zeit im Umlauf« gewesen (bei Anm. 8 [Ansprache an das Kolloquium über »Die Wurzeln des Antijudaismus im christlichen Bereich« vom 31. Oktober 1997]). Die Wurzel-Metapher wird in diesem Papier hingegen - unter Anspielung auf Röm 11,17f. - an anderer Stelle benutzt, nämlich in dem Aufruf »an unsere katholischen Brüder und Schwestern, sich der hebräischen Wurzel ihres Glaubens wieder bewußt zu werden« (bei Anm. 21). 10 Von Dobbeler, Wurzeln, 42f. 11 Ebd., 43. 12 Ebd., 42. In sie könne man gerade »als christlicher Forscher ... tappen«, also leicht hineingeraten. Vgl. ebd., 44, wo davor gewarnt wird, es könne »der bereits 1978 von David Flusser empfundene Eindruck bestätigt werden, bei den christlichen Bemühungen um eine Auseinandersetzung mit der ureigenen antijudaistischen Tradition handele es sich fast durchweg um Versuche, ›zu beweisen, dass es im Neuen Testament keinen Antijudaismus gibt‹« (Rückgriff auf D. Flusser, Bemerkungen eines Juden zur christlichen Theologie des Judentums, in: C. Thoma, Christliche Theologie des Judentums [CiW V, 4a/ b], Aschaffenburg 1978, 6-32, 28). In der Tat wird man diese Gefahr sehen müssen »dieser Frage nicht ausweichen können« (Flusser, Theologie, 28). Aber die Gefahr darf andererseits nicht den Blick für Indizien trüben, die gegen das Vorliegen von Antijudaismus sprechen. Auch »politische Korrektheit« ist nicht ohne Risiken. Vgl. u. (bei) Anm. 15.44. 13 Von Dobbeler, Wurzeln, 43. 14 S. bes. ebd., 42-44. Vgl. Weiß, Antijudaismus, 38f. 15 Vgl. o. Anm. 12. 16 Beides wird bei von Dobbeler, Wurzeln, 43, nicht mit aufgegriffen (vgl. o. [bei] Anm. 8f.). Übrigens versteht sich (auch) das o. in Anm. 9 genannte katholische Dokument als »ein Akt der Umkehr und Reue« angesichts christlichen Fehlverhaltens (»Sünden«) gegenüber Juden und zudem als »verbindliche Verpflichtung«, »eine neue Zukunft aufzubauen, in der es keinen Anti- Judaismus unter Christen ... mehr geben wird« (bei Anm. 22). 17 Von Dobbeler, Wurzeln, 43. 18 Vgl. zum vorangehenden Absatz etwa M. Bachmann, Vom Lesen des Neuen Testaments, in: K.-W. Niebuhr (Hg.), Grundinformation Neues Testament. Eine bibelkundlich-theologische Einführung (UTB 2108), Göttingen 2000, 32-43, bes. 35f.41f.44. 19 Solche Diagramme scheinen mir die Verständigung zu erleichtern. Mit einer etwas anders aussehenden Fassung des sogleich voranstehenden arbeite ich an einem in diesen Tagen erscheinenden Beitrag: M. Bachmann, Verus Israel. Ein Vorschlag zu einer ›mengentheoretischen‹ Neubeschreibung der betreffenden paulinischen Terminologie, in : NTS 48 (2002) 500-512 (vgl. ders., Antijudaismus im Galaterbrief? Exegetische Studien zu einem polemischen Schreiben und zur Theologie des Apostels Paulus, Freiburg [Schweiz] / Göttingen 1999, 146f.189 [Anm. 136 zu 188], ferner etwa M. Theobald, Der Römerbrief [EdF 294], Darmstadt 2000, 271). 20 Von Dobbeler, Wurzeln, 43 (doch vgl. ebd., 46 [Anm. 2 zu 42]), wo das dann an einem Beispiel erläutert wird: »pauschalisierende Wendungen wie die Rede von ›den Juden‹ gewinnen erst dort antijudaistischen Charakter im Sinne der Diffamierung der Gesamtheit der Juden aufgrund ihres Judeseins, wo sie von außen auf das Judentum zielen; eine intra muros geäußerte, gegen ›die 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 49 50 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Zum Thema Juden‹ gerichtete Polemik hat dagegen einen ganz anderen Charakter«. Vgl. zu der analogen Diskussion über die - irgendwie - das Judentum und »die Juden« betreffenden Aussagen des lukanischen Werks zumal W. Stegemann, Zur neueren exegetischen Diskussion um die Apostelgeschichte, in: EvErz 46 (1994), 198-219, 215-219 (wo insbesondere Bezug genommen wird auf: M. Salmon, Insider or Outsider? Luke’s Relationship with Judaism, in: J.B. Tyson [Hg.], Luke-Acts and the Jewish People. Eight Critical Perspectives, Minneapolis, Minnesota, 1988, 76-82 [samt 149f.]; vgl. zumal V.A. Lehnert, Die Provokation Israels. Die paradoxe Funktion von Jes 6,9-10 bei Markus und Lukas. Ein textpragmatischer Versuch im Kontext gegenwärtiger Rezeptionsästhetik und Lesetheorie [Neukirchener Theologische Dissertationen und Habilitationen 25], Neukirchen-Vluyn 1999, bes. 214-224.284f.293-296, ferner: M. Rese, The Jews in Luke-Acts. Some Second Thoughts, in: J. Verheyden [Hg.], The Unity of Luke- Acts [BEThL 142], Leuven 1999, 185-201; M. Bachmann, Die Stephanusepisode (Apg 6,1-8,3). Ihre Bedeutung für die lukanische Sicht des jerusalemischen Tempels und des Judentums, ebd., 545-562; Ch. Kurth, »Die Stimmen der Propheten erfüllt«. Jesu Geschick und »die« Juden nach der Darstellung des Lukas [BWANT 148], Stuttgart / Berlin / Köln 2000, bes. 19-36.217-220), und u. (bei) Anm. 31. 21 Vgl. dazu z.B. Theobald, Der Römerbrief, bes. 263-285, und Th. Söding, Der Skopos der paulinischen Rechtfertigungslehre. Exegetische Interpretationen in ökumenischer Absicht, in: ZThK 47 (2000), 404-433, bes. 407f.411-415.426-428, sowie meinen Beitrag: M. Bachmann, Die Botschaft für alle und der Antijudaismus: Nachdenken über Paulus und die Folgen, in: M. Hofheinz / G. Plasger (Hg.) Ernstfall Frieden. Biblischtheologische Perspektiven, Wuppertal 2002, 57-54, 63- 69. 72f. 22 Vgl. Weiß, Antijudaismus, 38 (sowie ebd., 40), wo zurückgegriffen wird auf M. Gielen, Der Konflikt Jesu mit den religiösen und politischen Autoritäten seines Volkes im Spiegel der matthäischen Jesusgeschichte (BBB 115), Bodenheim 1998, 467-476, bes. 472f. 23 Von Dobbeler, Wurzeln, 46 (vgl. ebd., 44f.). 24 B. Schaller, Art. Antisemitismus / Antijudaismus III: Neues Testament (Ur- und Frühchristentum), in: RGG 4 I (1998), 558f., 559. Zuvor heißt es (u.a. bezüglich der johanneischen Redeweise, welche »die Juden« negativ beleuchtet): »selbst in diesen Fällen kann von Antijudaismus als Ausdruck prinzipieller Gegnerschaft gegen das Judentum noch nicht die Rede sein«. 25 Jeweils: ebd., 558. Etwas weniger vorsichtig meint M. Weinrich, Art. Antisemitismus, in: NHThG 2 I (1991), 32-50, dass es aufgrund der Entscheidung (des Apostelkonzils) für die Beschneidungsfreiheit der Heidenmission schon früh zu »prinzipiellen Abweisungs-, Verwerfungs- und Diffamierungsversuchen« zwischen Christen und Juden gekommen sei (34) und dass »in diesem situativ polemischen Sinne ... auch bereits im Blick auf das Neue Testament von Antijudaismus« geredet werden könne (35). Vgl. u. (bei) Anm. 32. 26 Schaller, Antisemitismus, 559. Vgl. u. (bei) Anm. 44. 27 Vgl. dazu etwa Bachmann, Botschaft, 67. 74. 28 S. nochmals Erlemann, Einleitung, 35 (samt Anm. 1). 29 Von Dobbeler, Restitution, bes. 36-41. 30 Vgl. (indes) ebd., 41-44. 31 M. Karrer, »Und ich werde sie heilen«. Das Verstockungsmotiv aus Jes 6,9f. in Apg 28,26f., in: ders. / W. Kraus / O. Merk (Hg.), Kirche und Volk Gottes. FS J. Roloff, Neukirchen-Vluyn 2000, 255-271, bes. 270f. (vgl. M. Karrer, Zuwendung zu den Völkern - lohnt eine religionstheologische Entdeckung des Neuen Testaments? , in: A. Th. Khoury / G. Vanoni, »Geglaubt habe ich, deshalb habe ich geredet«. FS A. Bsteh, Würzburg / Altenberge 1998, 152-178, 175 samt Anm. 90); M. Vahrenhorst, Gift oder Arznei? Perspektiven für das neutestamentliche Verständnis von Jes 6,9f. im Rahmen der jüdischen Rezeptionsgeschichte, in: ZNW 92 (2001), 145-167, bes. 147. 165. Vgl. Bachmann, Stephanusepisode, 561f., ferner Lehnert, Provokation, bes. 203- 272, und vgl. o. (bei) Anm. 20. 32 Zur Frage von Galaterbrief und Antijudaismus (s. bes. Gal 2,11-21; 3,19f.; 4,21-5,1; 6,16) s. meine Aufsatzsammlung: Bachmann, Galaterbrief. Mir scheint, dass auch noch S. Vollenweider, Antijudaismus im Neuen Testament. Der Anfang einer unseligen Tradition, in: W. Dietrich / M. George / U. Luz (Hg.), Antijudaismus - christliche Erblast, Stuttgart 1999, 40-55, und P. Fiedler, Antijudaismus als Argumentationsfigur. Gegen die Verabsolutierung von Kampfesäußerungen des Paulus im Galaterbrief, in: R. Kampling (Hg.), »Nun steht aber diese Sache im Evangelium...«. Zur Frage nach den Anfängen des christlichen Antijudaismus, Paderborn / München / Wien / Zürich 1999, 251-279, zu sehr der traditionellen, antijudaistischen Lektüre dieses Schreibens verhaftet sind. Nach Vollenweider soll nicht nur allgemein gelten: »Deutliche Zeichen des Antijudaismus tauchen nicht erst in der nachapostolischen Kirche, sondern in der Heiligen Schrift selbst auf« (Anfang, 41); es soll auch die Veränderung, welche »die Selbstabgrenzung jüdischer Gruppen untereinander, zu denen ursprünglich auch die Gemeinschaft der Jesusanhänger zählte, ... schon früh zur viel weiterreichenden Abgrenzung der Kirche aus Juden und Heiden von Israel« transformierte, im Besonderen »bereits bei Paulus ... in vollem Gang« gewesen sein (ebd., 48). Obwohl der Schweizer Exeget einräumt. »Der Galaterbrief nimmt in keiner Weise direkt Stellung gegen die Juden, sondern bezeugt eine heftige innerchristliche Kontroverse« (ebd.), tendiert dieser Interpret, verstehe ich ihn recht, doch dazu, das Schreiben sogar in die Nähe des Antisemitismus zu rücken (ebd., 48f.): Es bietet »ausgesprochen negative Aussagen über das gegenwärtige Jerusalem, also über das Judentum. Darf man hier noch von Antijudaismus sprechen? « Bei der sich in dieser Formulierung niederschlagenden Auslegung von Gal 4,21-31 (bes. von V. 25f.29) bezieht sich Vollenweider nicht zuletzt auf Gal 6,16, auf »den Segen über das ›Israel Gottes‹ ..., nämlich ... die Kirche« (ebd., 48). Indes: Das »also« und das »nämlich« suggerieren Zwangsläufigkeit, wo sie schwerlich gegeben ist (s. dazu nur Bachmann, Galaterbrief, 127-158, bes. 150f., und G. Sellin, Hagar und Sara. Religionsgeschichtliche Hintergründe der Schriftallegorese Gal 4,21-31, in: U. Mell / U.B. Müller [Hg.], Das Urchristentum in seiner literarischen Geschichte. FS J. Becker [BZNW 100], Berlin / New York 1999, 59-84, bes. 72f., sowie das sogleich o. im Text Anzusprechende). Ähnlich wie Vollenweider meint Fiedler im Blick auf den Galaterbrief von einem 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 50 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 51 Michael Bachmann Zur Entstehung (und zur Überwindung) des christlichen Antijudaismus »Gestrüpp von ‘objektiv’ antijüdischen Behauptungen« sprechen zu sollen (Antijudaismus, 275), bei dem freilich »eine situationsbedingte ›Argumentationsfigur‹« gegeben sei (ebd., 276) - die denn auch im Römerbrief überwunden worden sei (s. ebd., 272-275). Wenn - beispielsweise - für Gal 4,29-31 die Auffassung vertreten wird, »dass Paulus ad hoc Schriftauslegung betreibt und dabei vor keiner Gewaltsamkeit zurückschreckt« (ebd., 270) und dass das aus Gen 21,10 zitierte Wort vom Herauswerfen der Sklavin und ihres Sohnes zu begreifen sei als »implizite Aufforderung an die Galater, mit den Widersachern des Paulus entsprechend zu verfahren«, ja, als »sozusagen von Gott angeordnete Verstoßung der an der Tora vom Sinai festhaltenden Landsleute« (ebd., 271), so kann man freilich auch bei solch exegetischer Rezeption den Eindruck von »Gewaltsamkeit« gewinnen. Denn, das deutet Fiedler (ebd., 271) selbst an, nicht erst Paulus dürfte das »Scherzen« Ismaels (mit Isaak) von Gen 21,9 pejorativ verstanden haben (s. nur Josephus, Ant 1,215; vgl., was zumal die Targumim angeht, Bachmann, Galaterbrief, 139f. samt Anm. 32, und ferner M. Grohmann, Aneignung der Schrift. Wege einer christlichen Rezeption jüdischer Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn 2000, 205-230, bes. 219 [»Hier stehen rabbinische Traditionen wie ... BerR 53,11 ... im Hintergrund«]), und der Apostel deutet Gen 21,9 gerade nicht im Sinne einer Vertreibung und Verstoßung von Juden, sondern im Sinne einer Ortsbestimmung der Adressaten (s. Bachmann, Galaterbrief, 136-143; vgl. Grohmann, Aneignung, 225 samt Anm. 172). In V. 31 formuliert er ja folgernd: »Deshalb, Brüder, sind wir nicht Kinder der Sklavin, sondern der Freien! « Vgl. o. Anm. 25 und u. (bei) Anm. 44. 33 G. Schrenk, Was bedeutet »Israel Gottes«? , in: Jud. 5 (1949), 81-94, bes. 93f. (vgl. ders., Der Segenswunsch nach der Kampfepistel, in: Jud. 6 [1950], 170-190); P. Richardson, Israel in the Apostolic Church (MSSNTS 10), Cambridge 1969, bes. 74-84; Bachmann, Galaterbrief, 159-189 (vgl. ders., Verus Israel, bes. 11f.). Vgl. etwa J.G. Gager, The Origins of Anti-Semitism. Attitudes Toward Judaism in Pagan and Christian Antiquity, New York / Oxford 1983, 228f. 34 Von Dobbeler, Wurzeln, 45 (samt Anm. 34), greift auf E. Stegemann, Zwischen Juden und Heiden, aber »mehr« als Juden und Heiden? Neutestamentliche Anmerkungen zu Identitätsproblematik des frühen Christentums, in: KuI 9 (1994), 53-69, und dessen im Blick auf 1Kor 10,32 gewählte Formulierung zurück, dass da »die ›Gemeinde Gottes‹ als Drittes neben Juden und Griechen« trete (ebd., 59 [bei S. weithin kursiv]). Das korrespondiert der o. (bei Anm. 19) »mengentheoretisch« skizzierten »Situation« (i). Aber Stegemann betont zu Recht, dass dabei nicht etwa »die Gründung einer neuen Religion« (H.D. Betz, Der Galaterbrief. Ein Kommentar zum Brief des Apostels Paulus an die Gemeinden in Galatien [Hermeneia], München 1988 [zuerst englisch, und zwar 1979], 543) im Blick sei, vielmehr dem »eschatologischen Anspruch« (Stegemann, Juden, 59) Ausdruck gegeben werde, und das so, dass zugleich »auch die heilsgeschichtliche Kontinuität« betont werde (ebd., 60 [bei S. teils kursiv]). Vgl. J. Roloff, Die Kirche im Neuen Testament (GNT 10), Göttingen 1993, bes. 83-85.96-99, ferner etwa Bachmann, Galaterbrief, 186. 35 Unmöglich war es indes keineswegs. S. dazu nur die Hinweise bei Schrenk, »Israel Gottes«, 93f. samt Anm. 29, und Bachmann, Galaterbrief, 162 samt Anm. 17. 36 S. zumal: F. Sieffert, Der Brief an die Galater (KEK VII, 9. Aufl.), neu bearb., Göttingen 1899, 143 (Hinweis von F.W. Horn), und E. Lohmeyer, »Gesetzeswerke«, in: ders., Probleme paulinischer Theologie, Darmstadt 1954, 31-74 (zuerst 1929), bes. 64. 37 S. zumal: J.D.G. Dunn, The New Perspective on Paul, in: ders., Jesus, Paul, and the Law. Studies in Mark und Galatians, Westminster / Louisville, Kentucky, 1990, 183-205 (zuerst 1982), 191-200, bes. 191-193. 38 S. bes. ders., A Response to Peter Stuhlmacher, in: F. Avemarie / H. Lichtenberger (Hg.), Auferstehung - Resurrection. The Fourth Durham-Tübingen Research Symposion (WUNT 135), Tübingen 2001, 363-368, 367 (samt Anm. 14f.). Vgl. W. Reinbold, Gal 3,6-14 und das Problem der Erfüllbarkeit des Gesetzes bei Paulus, in: ZNW 91 (2000), 91-106, 96f. samt Anm. 16. 39 J.A. Fitzmyer, Paul’s Jewish Background and the Deeds of the Law, in: ders., According to Paul. Studies in the Theology of the Apostle, New York / Mahwah, New Jersey, 1993, 18-35 (samt 125-130), 20-24, bes. 20; M. Bachmann, Sünder oder Übertreter. Studien zur Argumentation in Gal 2,15ff. (WUNT 59), Tübingen 1992, 91-100, bes. 99f. (vgl. ders., Rechtfertigung und Gesetzeswerke bei Paulus, in: ders., Galaterbrief, 1-31 [zuerst 1993], bes. 14; 4QMMT und Galaterbrief, ma’ase hatorah und erga nomou, ebd., 33-56 [zuerst 1998], bes. 47-55); R. Bergmeier, Das Gesetz im Römerbrief, in: ders., Das Gesetz im Römerbrief und andere Studien zum Neuen Testament (WUNT 121), Tübingen 2000, 31-102, 37-43, bes. 41. Vgl. K. Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer (ThHKNT 6), Leipzig 1999, 83f., und M. Theobald, Der Kanon von der Rechtfertigung (Gal 2,16; Röm 3,28). Eigentum des Paulus oder Gemeingut der Kirche? , in: ders., Studien zum Römerbrief (WUNT 136), Tübingen 2001, 164-225 (zuerst 1999), bes. 190 (samt) Anm. 117 (sowie ferner F. Hahn, Gerechtigkeit Gottes und Rechtfertigung des Menschen nach dem Zeugnis des Neuen Testaments, in: EvTh 59 (1999), 335-346, 340). Wer etwa die lexikalischen Ausführungen bei Haacker und Bergmeier (oder auch bei mir) zur Kenntnis genommen hat, wird sich fragen, wie J. Schröter, Die Universalisierung des Gesetzes im Galaterbrief. Ein Beitrag zum Gesetzesverständnis bei Paulus, in: U. Kern (Hg.), Das Verständnis des Gesetzes bei Juden, Christen und im Islam (Rostocker Theologische Studien 5), München / Hamburg / London 2000, 27-63, 34 Anm. 19, zu der apodiktischen Aussage kommen mag: Das Verständnis der erga nomou im Sinne von Regelungen, nicht von Erfüllungen des Gesetzes »wird ... vom lexikalischen Befund zu ergon nicht gedeckt.« (Ganz anders I. Maisch, Rez. von: Bachmann, Galaterbrief, in: FrRu NF 8 [2001], 59-61, 59: »Dieses Verständnis ist sowohl vom Profangriechischen (Werk als Aufgabe) als auch von der Septuaginta (Werk als Gebot, Vorschrift) gedeckt und wird auch von dem Qumran- Dokument 4 QMMT gestützt«.) Natürlich gibt es im Blick auf die These auch argumentative Anfragen (s. bes. J.C.R. de Roo, The Concept of ›Works of the Law‹ in Jewish and Christian Literature, in: S.E. Porter / B.W.R. Pearson [Hg.], Christian-Jewish Relations through the Centuries [JSNT.S 192], Sheffield 2000, 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 51 52 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Zum Thema 116-147; F. Avemarie, Die Werke des Gesetzes im Spiegel des Jakobusbriefs. A Very Old Perspective on Paul, in: ZThK 98 [2001], 282-309; J.D.G. Dunn, Noch einmal »Works of the Law«: The Dialogue Continues, in: I. Dunderberg / C.M. Tuckett / K. Syreeni [Hg.], Fair Play: Diversity and Conflicts in Early Christianity. FS H. Räisänen [NT.S 103], Leiden / Boston / Köln 2002, 273- 290, 279-284, bes. 284 [wo Dunn sich übrigens ausdrücklich davon absetzt, es sei »the regulations of the law« »an inadmissable sense for the term« erga nomou: »Not at all«]; vgl. J. Woyke, ›Einst‹ und ›Jetzt‹ in Röm 1-3? Zur Bedeutung von nuni de in Röm 3,21, in: ZNW 92 [2001], 185-206, 197 samt Anm. 44). Auf sie eingehend zu reagieren, ist hier nicht der Ort. Immerhin sei daran erinnert (vgl. dazu o. [bei] Anm. 36): Indizien, erga nomou in einem eher technischen Sinne zu verstehen, bieten bereits die paulinischen Belege selbst (z.B.: das durchgängige Fehlen von Personalpronomina und qualifizierenden Adjektiva; der Kontext von Gal 2,16; die Spannung zwischen Röm 2,13 und Röm 3,20.28 [vgl. Avemarie, Werke, 207]). Und jeder technische Sprachgebrauch ist der Gefahr des - frühen - Missverständnisses ausgesetzt (vgl. u. [bei] Anm. 43). 40 E. Qimron / J. Strugnell, Qumran Cave 4. Bd. V: Miqsat Ma‘ase Ha-Torah (Discoveries of the Judaean Desert X), Oxford 1994, 43-63, (62-)63. Ganz unumstritten ist die Übersetzung der hebräischen Wendung, die ihrerseits in den Zusammenhang der Rezeptionsgeschichte von Ex 18,20 (LXX: erga) gehört (s. dazu nur Bachmann, Galaterbrief, 28f.45-49 [sowie VI Anm. 3]), freilich nicht (s. dazu nur Bachmann, ebd., 41f. samt Anm. 38f.). Bei 4QMMT C27 handelt es sich im Übrigen bislang um die einzige enge antike Entsprechung zum paulinischen Ausdruck erga nomou, die nicht auf den Apostel zurückgeht. 41 S. dazu nur Bachmann, ebd., 33-40 - samt Anm. 9 -. 42 Diese Formulierung verwendet K. Stendahl (in einem solchen Sinne) bekanntlich im Titel eines für die Geschichte der »Neuen Paulusperspektive« (s. dazu nur o. Anm. 37) wichtigen Beitrags (von 1960 bzw. 1961/ 63), der seit einigen Jahren auch auf Deutsch vorliegt: Der Apostel Paulus und das ›introspektive‹ Gewissen des Westens, in: KuI 11 (1996), 1-11. 43 Nicht einmal für eine deutlich frühere Zeit, z.B. bei der Formulierung von Eph 2,10 (»gute Werke«) oder von Jak 2,18 (»meine Werke«), scheint gesichert zu sein, dass der technisch wirkende Ausdruck erga nomou als solcher noch adäquat aufgegriffen wurde und aufgegriffen werden konnte (vgl. dazu o. Anm. 39, ferner Bachmann, Galaterbrief, 54f. samt Anm. 105). 44 Vgl. (o. [bei] Anm. 23-26 und) Grohmann, Aneignung, 229 (»Es ist sinnvoll, die von der christlichen Wirkungsgeschichte geprägte Brille, die manche polemische Schriftauslegung des Paulus auf das christliche Verhältnis zum Judentum auslegt, abzulegen und die Texte in ihren historischen Kontext innerjüdischer Auseinandersetzungen einzuordnen«). Insofern scheint eine gewisse Vorsicht gegenüber solchen Positionen angebracht, die den Antijudaismus als sogleich mit frühchristlicher Christologie oder mit den dann in das Neue Testament eingegangenen Schriften gegeben einschätzen (s. dazu nur von Dobbeler, Wurzeln, 42 [samt Anm. 1-6], wo für eine solche antijudaistische Lektüre auf R. [R.] Ruether, S. Sandmel, R.L. Wilken und H. Schnädelbach verwiesen und die Gegenposition von J. Isaac [vgl. ferner etwa Gager, Anti-Semitism, bes. 268] erwähnt wird [vgl. noch o. Anm. 12.32]). Gager spricht recht umsichtig davon, dass es für das frühe Christentum keine »evidence for a consistently negative understanding of Judaism« gebe (Anti-Semitism, 268), dass aber nachfolgende Entwicklungen und »the formation of the New Testament« gerade auch »our perception of earlier Christianity« geprägt hätten, nämlich im anti-jüdischen Sinne (ebd., 269 [Hervorhebung durch mich]). TANZ - Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter Michael Labahn/ Jürgen Zangenberg (Hrsg.) Zwischen den Reichen: Neues Testament und Römische Herrschaft Vorträge auf der Ersten Konferenz der European Association for Biblical Studies TANZ 36, 2002, VIII, 286 Seiten, 48,-/ SFr 79,30 ISBN 3-7720-2828-4 Das Interesse eines international und kompetent besetzten Seminars der European Association for Biblical Studies galt der Frage, wie die römische Herrschaft das Denken und die Lebenswelt frühchristlicher Gemeinden beeinflußt hat. Die hier vorgelegten 13 Studien geben einen exemplarischen Einblick in das komplexe Zusammenspiel von Neuem Testament und römischer Herrschaft. Zu den Themen gehören Fragen der Epigraphik und Papyrologie Palästinas im 1. Jh.n.Chr., der römischen Baupolitik (Korinth), des römischen Vereinswesens, der synoptischen und johanneischen Christologie, der Wahrnehmung des römischen Staates in der Apostelgeschichte, im 1. Petrusbrief und der Johannesapokalypse. Ergänzt wird der Band durch Studien zur Musik in paulinischen Gemeinden und zu Vorstellungen vom Leben nach dem Tod im Lichte zeitgenössischer Parallelen. A. Francke Verlag Tübingen und Basel 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 52 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 53 Kontroverse War das frühe Christentum eine Religion? Eine Einführung zur Kontroverse Ulrich Berner vs. Wolfgang Stegemann War das frühe Christentum eine Religion? Die Frage klingt banal, im besten Falle etwas für akademischen Theologen. Aber ganz so banal und ohne Bedeutung für unsere Sicht auf das frühe Christentum - und vergleichsweise auch das Judentum und andere »Religionen« - ist die Frage nicht. Das zeigen in der folgenden Kontroverse der Religionswissenschaftler Ulrich Berner (Bayreuth) und der Neutestamentler Wolfgang Stegemann (Neuendettelsau). Der Ansatzpunkt ist die Überlegung, dass unser Begriff von »Religion« aus einem neuzeitlichen, christlich geprägten Diskurs des europäischen Abendlandes stammt. Und es ist, wie bei anderen Begriffen dieser Art auch (vgl. die Begriffe »Kultur« oder »Person«), nicht davon auszugehen, dass die frühen Christinnen und Christen dasselbe unter »religio« bzw. »eusebeia« verstanden haben wie wir Menschen des beginnenden 21. Jahrhunderts. Da es eine Kernaufgabe wissenschaftlich arbeitender Theologie und Religionswissenschaft ist, eine präzise Sprache zu entwickeln und gegebenenfalls Unterschiede zwischen heutigem und antikem Denken offen zu legen, hat die Klärung solcher Schlüsselbegriffe eine hohe Priorität. Zumal sie in aller Regel unreflektiert in die Diskussion eingebracht werden. War also das frühe Christentum eine »Religion« in unserm Sinne? Möglicherweise mit einem festen Begriff von Glauben verbunden, einem dogmatischen Lehrgerüst und der Vorstellung eines klar abgrenzbaren, privaten Bereiches religiösen Glaubensleben? Gab es so etwas wie die »römische Religion«? Oder was meinten die Menschen, wenn sie von »religio« und »eusebeia« sprachen? Die Antwort auf diese Fragen ist wesentlich mitbestimmt durch die methodische Herangehensweise. Und so ist es interessant, zu welchen Ergebnissen ein religionswissenschaftlicher, ein sozialgeschichtlicher bzw. ein kulturanthropologischer Ansatz führen. Die Kontroverse, soviel sei zur Entstehung gesagt, hatte ihren ursprünglichen Ort in der Vorbereitung eines dreibändigen Studienbuches, das 2003 / 2004 im Neukirchener Verlag unter dem Titel »Neues Testament und Antike Kultur« (NTAK) erscheinen wird. Das Studienbuch soll nicht nur eine Hilfe sein, den kulturellen Hintergrund neutestamentlicher Aussagen zu erfassen, sondern soll auch das Neue Testament als Teil einer antiken »Kultur« neu verstehen lehren. Die auf einer kürzlich stattgefundenen Vorbereitungstagung gehaltenen Referate werden Ihnen in leicht verkürzter und überarbeiteter Form präsentiert. Kurt Erlemann Ulrich Willers (Hrsg.) Beten: Sprache des Glaubens - Seele des Gottesdienstes Fundamentaltheologische und liturgiewissenschaftliche Aspekte Pietas Liturgica 15, 2000, X, 508 Seiten, 7 Farbabb., geb. 60,-/ SFr 108,- ISBN 3-7720-3031-9 “Der vorliegende Sammelband ist eine reiche Fundgrube für den Gläubigen, der sich Gedanken über das Beten macht, er wird dankbar sein für die vielen Anregungen für eine zeitgemäße Gebetspraxis.” Anzeiger für die Seelsorge “Das Buch ist eine großartige und in dieser Art vielleicht erste Sammlung von Fachbeiträgen zum Thema ‚Beten‘.” Pastoraltheologie Beten ist einer der grundlegendsten menschlichen Akte überhaupt. Der Band stellt interdisziplinär angelegte, Wissenschaft wie Praxis befruchtende Reflexionen auf dieses Phänomen und Ereignis vor, das aus dem menschlichen Leben nur um den Preis des Verlustes eben dieses Lebens wegzudenken wäre. Er zeichnet sich durch eine Mischung von Wissenschaft und Praxis, diskursivem Anspruch und konkreter Erfahrung, von Systematik und Praktik aus; philosophisch-theologisch verantwortete Aufarbeitung der Gebetsproblematik und praxisgesättigte Darstellung neuer und alter Gestalten des Betens sind in Anlage und Aufbau des Bandes aufeinander bezogen. A. Francke Verlag Tübingen und Basel 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 53 54 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 1. Zur Problematik des Religionsbegriffes Auf den ersten Blick erscheint die Frage vielleicht ganz sinnlos - der Blick in ein religionswissenschaftliches Handbuch zeigt sofort, dass das Christentum als eine der großen Religionen dargestellt wird, ohne dass irgendeine Einschränkung im Hinblick auf seine (Früh)Geschichte vorgenommen würde. Wenn noch dazu festgestellt wird, die Geschichte des Christentums beginne im Judentum und wenn das Judentum selbst wiederum als Religion dargestellt wird, dann scheint es ganz selbstverständlich zu sein, dass die im Thema gestellte Frage mit »Ja« zu beantworten ist. 1 Der Herausgeber des zitierten Handbuches, der Religionswissenschaftler Peter Antes, hat in der Einleitung allerdings darauf hingewiesen, dass es keine verbindliche Definition des Religionsbegriffes gibt - so sei es z.B. eine bloße Konvention, den Konfuzianismus, der eigentlich eine Art Staatsphilosophie sei, als chinesische Religion einzuordnen; die Religionswissenschaft könne auch dann nicht weiterhelfen, wenn es um die aktuelle Frage geht, ob eine Bewegung wie die Scientology Church als Religion anzuerkennen sei. 2 Damit wird eine Problematik des Religionsbegriffes angedeutet, die es auf den zweiten Blick doch sinnvoll erscheinen lässt, die vorgegebene Frage zu erörtern. Als ein Vergleichsbeispiel könnte der frühe Buddhismus herangezogen werden: der Buddhismus wird ebenfalls in jedem Handbuch als eine der großen Religionen dargestellt, und doch hat der Religionshistoriker Geo Widengren es für nötig gehalten, die Auffassung zu begründen, dass auch der ältere Buddhismus als Religion betrachtet werden kann. 3 In diesem Falle liegt die Problematik darin, dass die Gleichsetzung von Religion und Gottesglauben, wie sie sich in der christlich-abendländischen Tradition herausgebildet hat, nicht anwendbar ist - zumindest nicht auf den frühen Buddhismus. Emile Durkheim hatte dies zum Anlass genommen, den Religionsbegriff neu zu definieren: die Unterscheidung zwischen Heilig und Profan, meinte er, sei auch im Buddhismus gegeben. 4 Die Antwort auf die im Thema gestellte Frage hängt also vor allem davon ab, was unter Religion verstanden wird, so dass es eigentlich gar nicht wichtig ist, ob ein »Ja« oder »Nein« am Ende der Überlegungen steht. Die entscheidende Frage ist, ob eine Reflexion über die Problematik des Religionsbegriffes neue Perspektiven auf das frühe Christentum und seine Umwelt eröffnen kann. Für eine solche Reflexion bieten sich mehrere Ansatzpunkte an. Zunächst könnte daran gedacht werden, dass eine religiöse Bewegung erst in einem Prozess der Institutionalisierung zu einer Religion wird - nach diesem Verständnis des Religionsbegriffes wäre die Institution das zentrale Element. Ein solcher Prozess der Institutionalisierung kann auch im frühen Christentum beobachtet werden, z.B. durch den Vergleich der Gemeindeordnungen, von der »Didache« bis zur »Traditio Apostolica«. 5 Der Begriff »New Religious Movement«, der in der Erforschung des afrikanischen Christentums eine große Rolle spielt, soll eben auch der Tatsache Rechnung tragen, dass die religiöse Dynamik, die durch eine charismatische Gestalt ausgelöst wird, erst in einem längeren Prozess der Routinisierung Ulrich Berner War das frühe Christentum eine Religion? »Die entscheidende Frage ist, ob eine Reflexion über die Problematik des Religionsbegriffes neue Perspektiven auf das frühe Christentum und seine Umwelt eröffnen kann.« 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 54 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 55 Ulrich Berner War das frühe Christentum eine Religion? zu einer religiösen Institution wird - in diesem Fall als »Kirche« bezeichnet. 6 Sodann könnte daran gedacht werden, dass es eine einheitliche Dogmatik geben muss, wenn von einer Religion gesprochen werden soll - nach diesem Verständnis des Religionsbegriffes wäre der Glaube das zentrale Element. Ein solcher Prozess der Dogmatisierung, der eine Vereinheitlichung des Glaubenssystems intendiert, kann ebenfalls im frühen Christentum beobachtet werden, spätestens seit dem ersten ökumenischen Konzil. 7 Wenn die Einheit des Glaubens als Kriterium genommen wird, dann erscheint es allerdings nicht mehr sinnvoll, den Hinduismus als eine Religion zu bezeichnen. Der Indologe Heinrich von Stietencron hat deshalb vorgeschlagen, die sogenannten Sekten des Hinduismus jeweils als eigene Religionen zu betrachten. 8 In seiner neuen Darstellung des Hinduismus spricht er denn auch von mehreren »Hindu-Religionen«. 9 Dieses Verständnis des Religionsbegriffes könnte noch in der Weise zugespitzt werden, dass Glaubensinhalte, wie z.B. die Eigenschaften, die einem Gott zugeschrieben werden, als Konstitutionsmerkmale einer Religion genommen werden: so könnte z.B. von der Religion des Fundamentalismus gesprochen werden, wenn an einen Gott geglaubt wird, der von seinen Anhängern verlangt, jede Blasphemie zu rächen - in welcher Tradition auch immer diese Art des Gottesglaubens auftritt. 10 Schließlich könnte überlegt werden, dass der Religionsbegriff möglichst weit gefasst als ein Gattungsbegriff gebraucht werden sollte, um das frühe Christentum in seine Umwelt einzuordnen und darüber hinaus eine Vergleichbarkeit mit anderen Kulturen herzustellen. Das frühe Christentum ist dann eben eine Religion wie viele andere auch, von den anderen Religionen in seiner Umwelt nur in einzelnen Inhalten unterschieden, z.B. als monotheistisch gegenüber polytheistischen, als missionierend gegenüber nichtmissionierenden oder auch als universal gegenüber ethnisch gebundenen Religionen. In der älteren Forschung scheint dies als selbstverständlich vorausgesetzt worden zu sein, wie es noch im Titel eines klassischen Werkes von Rudolf Bultmann zu erkennen ist: »Das Urchristentum im Rahmen der antiken Religionen«. In der zweiten Hälfte des 20. Jh.s, also in der Zeit nach dem Erscheinen jenes Werkes, ist der Religionsbegriff jedoch immer stärker problematisiert worden. Es erscheint deshalb sinnvoll, im Folgenden die Frage zu erörtern, ob der Begriff der Religion überhaupt dazu geeignet ist, als Gattungsbegriff zu dienen, der das frühe Christentum ebenso wie andere kulturelle Phänomene seiner Umwelt bezeichnet. In den 60er Jahren machte der Religionshistoriker Wilfred Cantwell Smith den überraschenden Vorschlag, den Begriff »Religion« fallen zu lassen und durch das Begriffspaar »faith« und »(cumulative) tradition« zu ersetzen; auch die Bezeichnungen der einzelnen Religionen, wie z.B. »das Christentum« oder »der Buddhismus«, sollten eliminiert werden. 11 Dieser Vorschlag hat sich in der Religionswissenschaft nicht durchsetzen können, was sicherlich auch darin begründet war, dass Smith mit seinen religionshistorischen Untersuchungen ein theologisches (Dialog)Interesse verbunden hatte. In den 70er Jahren sprach Peter Antes »einmal anders« über Religion und richtete den Blick auf jene Begriffe, die in den außereuropäischen Sprachen, vom Arabischen bis zum Japanischen, als Äquivalente für den europäischen Religionsbegriff in Frage kommen. Eine »Liste Ulrich Berner Ulrich Berner, Jahrgang 1948, studierte Theologie, Philosophie, Indologie und Allgemeine Religionsgeschichte in Göttingen. Promotion 1974, Habilitation für Allgemeine Religionsgeschichte 1980 an der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen. Seit 1986 Professor für Religionswissenschaft an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität in Bayreuth. 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 55 56 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Kontroverse solcher Termini und Wortfelder«, meinte er, könnte »eine Art Katalog ethnozentrischer Prioritäten liefern«. 12 Im Jahre 1990 war der Kongress der IAHR (International Association for the History of Religions) ganz diesem Thema gewidmet. Im Mittelpunkt stand das Problem der eurozentrischen Fixierung des Religionsbegriffes - die Frage, ob die außereuropäischen Kulturen damit überhaupt verstanden werden können. 13 Für Theologen wird sich vor allem die Frage stellen, ob der Religionsbegriff durch seine spezifisch christliche Prägung den Blick auf die Umwelt des frühen Christentums verzerrt. Ein erster Ansatzpunkt zur Reflexion wäre die Feststellung, dass der Religionsbegriff, wie er durch die christlich-abendländische Tradition geprägt ist, meistens die Vorstellung impliziert, ein Individuum könne nur einer und nicht mehreren Religionen angehören, also z.B. nicht zugleich Christ und Hindu sein. 14 Ein solches Verständnis würde es aber schon unmöglich machen, von den Mysterienreligionen in der Umwelt des frühen Christentums zu sprechen: diese erhoben ja keine Exklusivansprüche, so dass eine Mitgliedschaft in mehreren Mysterienreligionen möglich war - eben deshalb wäre es vielleicht besser, nur von Mysterienkulten zu sprechen. 15 Ein zweiter Ansatzpunkt ist die Frage, wie das frühe Christentum aus der Sicht der Römer eingeordnet wurde. Der Abstand zwischen »religio« im (vorchristlichen) römischen Sprachgebrauch und »Religion« im modernen Sprachgebrauch, wie er durch die christliche Tradition geprägt ist, könnte durch diese Betrachtung deutlich hervortreten. 2. Das frühe Christentum aus der Sicht der Anderen Einer der ersten Römer, die über einen Christen- Prozess berichten, ist Plinius d. J., in dem bekannten Brief an den Kaiser Trajan. Einige der Angeklagten haben diesem Bericht zufolge ausgesagt, sie seien früher Christen gewesen, hätten sich aber vom Christentum abgewandt und »ihre ganze Schuld oder ihr Irrtum habe in folgendem bestanden: Gewöhnlich seien sie an einem bestimmten Tag vor Sonnenaufgang zusammengekommen und hätten Christus als ihrem Gott einen Wechselgesang gesungen. Durch einen feierlichen Eid hätten sie sich nicht etwa zu Verbrechen verpflichtet, sondern dazu, keinen Diebstahl, keinen Raub und keinen Ehebruch zu begehen, ... Danach seien sie ihrer Gewohnheit gemäß auseinandergegangen und dann wieder zusammengekommen, um Speise zu sich zu nehmen, jedoch ganz gewöhnliche und harmlose.» 16 Was in diesem Bericht des Plinius andeutungsweise zu erkennen ist, entspricht durchaus einem modernen Religionsbegriff: es handelt sich um einen (Gottes)Glauben, der mit einer Ethik und einem Kult verbunden ist, und dieser Kult als Ort religiöser Erfahrung ist anscheinend nicht in die sozialen Institutionen der Familie und / oder des Staates eingebettet. 17 Für den modernen Leser des Briefes ist es deshalb klar, daß die Christen wegen ihrer Religion angeklagt, verhört und - soweit sie nicht widerrufen haben - verurteilt worden sind. Festzuhalten ist allerdings, dass Plinius in diesem Zusammenhang eben nicht von »religio« spricht, sondern von »superstitio« - Aberglauben. Was sich auf den ersten Blick nur als Polemik darstellt, wird verständlich, wenn die bekannte Definition Ciceros in Erinnerung gerufen wird: superstitio ist demnach eine falsche religiöse Einstellung, die das Interesse des Individuums bzw. der Familie über das des Staates stellt, im Unterschied zu religio als der sorgfältigen Beachtung kultischer Pflichten gegenüber den Göttern. 18 Festzuhalten ist ebenfalls, dass Plinius an dem Inhalt jenes neuen Glaubens gar nicht interessiert ist - was er bei seiner Befragung herausgefunden hat, bezeichnet er zusammenfassend als »maßlosen und verworrenen Aberglauben«, und er hält »Es erscheint deshalb sinnvoll, im Folgenden die Frage zu erörtern, ob der Begriff der Religion überhaupt dazu geeignet ist, als Gattungsbegriff zu dienen, der das frühe Christentum ebenso wie andere kulturelle Phänomene seiner Umwelt bezeichnet.« 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 56 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 57 Ulrich Berner War das frühe Christentum eine Religion? es offenbar nicht für nötig, den Kaiser über den Inhalt zu informieren. Sein Interesse geht vielmehr dahin, herauszufinden, ob die Personen, die als Christen angezeigt worden sind, gegenüber Kaiser und Staat loyal eingestellt sind. Die Aufforderung, die Götter anzurufen und der Kaiserstatue Weihrauch und Wein zu opfern, dient dieser Prüfung der Loyalität. Was Plinius nicht duldet und wohl auch nicht versteht, ist das exklusive Kult-Verständnis, das die Christen vertreten. Es geht ihm nicht darum, die Christen dazu zu bringen, an die Göttlichkeit des Kaisers zu glauben - Plinius selbst sagt in seiner Lobrede auf den Kaiser Trajan: »Laßt uns an keiner Stelle ihm schmeicheln wie einem Gott, wie einem höheren Wesen ...“. 19 Er fordert nur die Teilnahme an einer rituellen Handlung, in der die Loyalität gegenüber dem römischen Staat symbolisch zum Ausdruck gebracht wird. Auch die Forderung, den Namen Christi zu verfluchen, ist auf dieser Ebene zu sehen - bestraft wird nur der Ungehorsam, nicht der Glaube der Christen. Diese Asymmetrie könnte verdeckt werden, wenn die Begegnung als Konflikt zwischen römischer und christlicher Religion beschrieben wird, ohne dass die Problematik des Religionsbegriffes reflektiert wird. Eine solche Asymmetrie zeigt sich z.B. auch in den Akten der Märtyrer von Scilly. Wieder ist der römische Beamte, der das Verhör führt, nicht an dem Inhalt des christlichen Glaubens interessiert - er zeigt kein Interesse an den Schriften und Briefen des Paulus, die einer der Angeklagten bei sich hat. Es geht ihm nur darum, die angeklagten Christen zu einer vernünftigen Gesinnung (bona mens) zurückzuführen, einer Einstellung, die es ihnen erlauben würde, sich in die kulturellen Traditionen ihrer Gesellschaft (Romanorum mos) einzuordnen. 20 Aus der Sicht des römischen Beamten erscheint die Einstellung der Christen, die sich dieser Einordnung verweigern, als Verrücktheit (dementia). Für den modernen Leser ist es plausibel, das als Religion zu bezeichnen, wofür die angeklagten Christen zu sterben bereit sind - nicht aber das, was jener Römer als »religio nostra« bezeichnet. Die Frage erscheint deshalb berechtigt, ob im Hinblick auf diese Anderen überhaupt von einer Religion in diesem Sinne gesprochen werden kann, als von einem eigenen Erfahrungsbereich, der nicht »eingebettet« ist in die zentralen Institutionen der antiken Gesellschaften. Für eine Erörterung dieser Frage ist es aber nötig, andere Vergleichsbeispiele zu wählen. Plinius ist ja kein religiöser oder philosophischer Schriftsteller, der auf dieser Ebene mit einem christlichen Kirchenvater verglichen werden könnte. Als Vergleichsbeispiel bietet sich sein Zeitgenosse Plutarch von Chaironeia an, ebenso Apuleius von Madaura, beide bekannt als philosophische Schriftsteller. 3. Die Religion nichtchristlicher Philosophen in der späteren Antike Plutarch ist nicht nur als Philosoph bekannt, sondern auch als Verfasser einer Reihe von Lebensbeschreibungen, in denen berühmte Griechen und Römer gegenübergestellt werden. Beide Bereiche, Philosophie und Biographie, könnten bereits zur Religion im weiteren Sinne gerechnet werden. Als amtierender Priester in Delphi sowie als Verfasser einiger Schriften, die sich mit dem Orakel von Delphi beschäftigen, gehört er aber unzweifelhaft in die Religionsgeschichte der Antike. 21 In der Schrift »De superstitione« wendet Plutarch sich gegen zwei verfehlte Weltanschauungen: gegen den Aberglauben (deisidaimonia) auf der einen und gegen den Atheismus auf der anderen Seite. Der Aberglaube gilt ihm in diesem Zusammenhang sogar als die schlechtere Alternative. Zwischen diesen beiden falschen Extremen steht die wahre, richtige Art der Religiosität (eusebeia). Dazu gehört vor allem der Glaube an eine göttliche Vorsehung: ein Glaube, der keine Furcht vor göttlicher Willkür und Launenhaftigkeit aufkommen lässt - solche Furcht wäre eben Aberglaube als eine verfehlte Religiosität. 22 Plutarch verteidigt seinen Gottesglauben oft und besonders heftig gegen den Epikureismus. Einer seiner Vorwürfe gegen die Epikuräer ist, dass sie Heuchler sind, wenn sie am Kult teilnehmen, ohne daß sie mit einer Antwort der Götter rechnen. 23 Der Kult ist für Plutarch unzweifelhaft ein Ort religiöser Erfahrung. 24 Im Hinblick darauf, dass Plutarch ein priesterliches Amt in einem alten griechischen Heiligtum innegehabt hat, scheint die Annahme nahezuliegen, dass seine Religion »eingebettet« ist, nicht ein eigener Erfahrungsbereich, wie es einem modernen Religionsbegriff entsprechen würde. Es ist aber zu bedenken, dass Plutarch 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 57 58 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Kontroverse nicht nur die öffentlichen Kulte als Ort religiöser Erfahrung kennt, sondern auch die Mysterienkulte, also einen Bereich der persönlichen Religion. 25 Er war selbst in den Dionysos-Kult eingeweiht, wie es aus dem »Trostbrief« hervorgeht, den er an seine Frau geschrieben hat, anlässlich des Todes der Tochter. 26 Dieser Text lässt zugleich den religiösen Charakter seiner Philosophie deutlich werden: Philosophie als »Lebenskunst« umfasst auch und gerade die Vorbereitung auf das Sterben. 27 Der Trost der Philosophie, wie er z.B. auch von Cicero nach dem Tod seiner Tochter gesucht wurde, verbindet sich bei Plutarch mit der Erinnerung an die Einweihung in einen Mysterienkult. 28 Die Religion Plutarchs, die mit dem Christentum verglichen werden könnte, ist also ein komplexes Gebilde, das zumindest drei Komponenten umfasst: eine philosophische Tradition, zu der auch die Interpretation mythischer Überlieferungen gehört, einen öffentlichen Kult und einen Mysterienkult. Es handelt sich um ein offenes System, insofern als die Auswahl der philosophischen Tradition und der zu interpretierenden Mythen sowie die Einweihung in einen Mysterienkult auf einer persönlichen Entscheidung beruhen, die mit vielen anderen individuellen Entscheidungen kompatibel wäre. Apuleius ist ebenfalls ein platonischer Philosoph, bekannt aber in erster Linie als Anhänger und Verkünder der Isis-Mysterien, die er in seinem Roman „Metamorphosen“ - vielleicht besser bekannt als »Der goldene Esel« - dargestellt hat. Es scheint deshalb nahezuliegen, die Isis-Mysterien als die Religion des Apuleius zu betrachten und diese mit dem Christentum zu vergleichen. Dies würde aber dem Fall des Apuleius nicht ganz gerecht werden. Aus der weniger bekannten »Apologie« des Apuleius, seiner Verteidigung gegen den Vorwurf der Zauberei, geht nämlich hervor, dass er in mehrere Mysterienkulte eingeweiht war. 29 Außerdem war die in seinem Besitz befindliche Götterstatue, die er im Prozess vorzeigt, eine Darstellung des Merkur, nicht der Isis. 30 Schließlich hat er später auch ein Amt im öffentlichen Kult übernommen. 31 Sein Selbstverständnis war das eines Philosophen, der wissenschaftliche Neugier mit Ehrfurcht vor den Göttern verbindet. Auch in diesem Fall würde gelten, dass ein moderner Religionsbegriff anwendbar ist und dass es sich wiederum um ein offenes System handelt: eine individuelle Verbindung von Philosophie, Mysterienkulten und öffentlichem Kult. Angesichts dieser Beispiele erscheint es durchaus sinnvoll, den Religionsbegriff als Gattungsbegriff zu verwenden, der nicht nur auf das frühe Christentum, sondern auch auf das spätantike Heidentum angewendet werden kann. Allerdings müssten dann andere begriffliche Differenzierungen eingeführt werden, vor allem die Unterscheidung zwischen exklusivistischer und pluralistischer Religiosität. 32 Der pluralistische Ansatz, wie er der Religion Plutarchs zugrunde liegt, ist in der Spätantike sogar zu einer Theorie des religiösen Pluralismus ausgebaut worden. Bekannt ist der Ausspruch des Symmachus, der den christlichen Kaiser Gratian (vergeblich) um die Wiederherstellung des Victoria-Altars gebeten hat: »Warum ist es so wichtig, nach welcher Lehre jeder die Wahrheit sucht? Man kann nicht nur auf einem einzigen Weg zu einem so erhabenen Geheimnis finden.« 33 Ebenso hatte Themistios vor dem Kaiser Jovian die Auffassung vertreten, »dass zwar der große und wahre Richter ein einziger ist, dass aber nicht ein einziger Weg zu ihm hinführt«. 34 Dem pluralistischen Ansatz ist auf christlicher Seite heftig widersprochen worden: die »wahre Religion« (religio) ist Augustin zufolge »weder im Wirrwar des Heidentums noch im Unflat der Ketzer, weder bei der Krankhaftigkeit der Sektierer noch »Das von ihm als Ersatz vorgeschlagene Begriffspaar ›faith‹ und ›(cumulative) tradition‹ lenkt den Blick von den Religionen auf die Menschen, die ihren Glauben zumeist im Rahmen der Tradition(en) entfalten, in die sie sich hineingestellt finden, und in seltenen Fällen durch ihre Auslegung eine neue Tradition begründen.« 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 58 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 59 Ulrich Berner War das frühe Christentum eine Religion? bei der Blindheit des Judentums zu suchen, sondern allein bei denen, die Christen, Katholiken und Rechtgläubige genannt werden ...«. 35 Ein anderes religionstheologisches Modell, das keine Absage an den Pluralismus enthält, findet sich bei Synesios von Kyrene, einem weniger bekannten Kirchenvater und Zeitgenossen Augustins. 36 Auch wenn der Religionsbegriff weiterhin verwendet wird, kann der Vorschlag von W.C. Smith doch zumindest als Anregung aufgenommen werden. Das von ihm als Ersatz vorgeschlagene Begriffspaar »faith« und »(cumulative) tradition« lenkt den Blick von den Religionen auf die Menschen, die ihren Glauben zumeist im Rahmen der Tradition(en) entfalten, in die sie sich hineingestellt finden, und in seltenen Fällen durch ihre Auslegung eine neue Tradition begründen. Diese Betrachtungsweise könnte auch und gerade im Hinblick auf das frühe Christentum und das Verhältnis zum Judentum von Interesse sein. 37 l Anmerkungen 1 Siehe P. Antes, Christentum, in: ders. (Hg.), Die Religionen der Gegenwart. Geschichte und Glauben, München 1996, 44-65, hier: 45. 2 Ebd., 10f. 3 Siehe G. Widengren, Religionsphänomenologie, Berlin 1969, 4. Der Indologe Klaus Mylius hat dagegen die Auffassung vertreten, der originäre Buddhismus sei keine Religion gewesen, und die Entwicklung zur Religion habe erst später eingesetzt (Die vier edlen Wahrheiten. Texte des ursprünglichen Buddhismus, München 1985, 34f). 4 Siehe E. Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, 2. Aufl., Frankfurt 1984, 54-57; 63. 5 Vgl. dazu Chr. Markschies, Zwischen den Welten wandern. Strukturen des antiken Christentums, Frankfurt a.M. 1997, 208-225. 6 Vgl. dazu U. Berner, Reflections upon the Concept of »New Religious Movement«, in: Method and Theory in the Study of Religion 12 (2000), 267-276. 7 Vgl. dazu Markschies, Zwischen den Welten wandern, 199f. 8 Siehe H. v. Stietencron, Der Begriff der Religion in der Religionswissenschaft, in: W. Kerber (Hg.), Der Begriff der Religion, München 1993, 111-137; hier: 133f. 9 H. v. Stietencron, Der Hinduismus, München 2001, 7. Axel Michaels spricht zwar auch von mehreren »Hindu-Religionen«, gibt aber eine ganz andere Einteilung, da er sich sich nicht an der Dogmatik, sondern am Ritual orientiert (Der Hinduismus, München 1998, 37- 39). 10 Vgl. dazu G. Wießner, Fundamentalismus in der Religionsgeschichte, in: D. Lange (Hg.), Religionen. Fundamentalismus. Politik, Frankfurt u.a. 1996, 47-64. 11 Siehe W.C. Smith, The Meaning and End of Religion, New York u.a. 1978, 194f; vgl. ders., Faith and Belief, Princeton 1979, 4f. 12 P. Antes, »Religion« einmal anders, in: Temenos 14 (1978), 183-197, hier: 197. 13 Siehe dazu: K. Rudolph, Inwieweit ist der Begriff »Religion« eurozentrisch? , in: U. Bianchi (Hg.), The Notion of Religion in Comparative Research, Roma 1994 (Storia delle religioni 8), 131-139. Vgl. auch: H. Zinser, Der Begriff der Religion, in: ders., Der Markt der Religionen, München 1997, 149-169, hier: 164; 168. 14 So hat z.B. auch der indische Theologe S.J. Samartha, selbst ein Vertreter des religiösen Pluralismus, eine begriffliche Differenzierung vorgenommen, wenn er von sich sagt: »I am a Christian by faith and a Hindu by culture« (Gespräch in Bangalore, Oktober 1988). Zum theologischen Ansatz Samarthas siehe z.B.: The Cross and the Rainbow: Christ in a Multi-Religious Culture, in: S. Das (Ed.), Christian Faith and Multiform Culture in India, Bangalore 1987, 15-47. Vgl. dazu auch: U. Berner, Zur Hermeneutik religiöser Symbole. Das Kreuzsymbol in der frühchristlichen und in der modernen indischen Theologie, in: Th. Sundermeier (Hg.), Die Begegnung mit dem Anderen, Gütersloh 1991 (Studien zum Verstehen fremder Religionen 2), 94-108, hier: 97f. 15 So auch W. Burkert, Ancient Mystery Cults, Cambridge Ma. 1987, 3f. 16 Plinius, ep. X,96,7 (Übersetzung: M.Giebel, Stuttgart 1985). 17 Zum Begriff der »eingebetteten« Religion in Gegenüberstellung zum modernen Begriff der Religion, vgl. W. Stegemann, Christentum als universalisiertes Judentum? Anfragen an G. Theissens »Theorie des Urchristentums«, in: Kirche und Israel 16 (2001), 130- 151, hier: 144-146. 18 Siehe Cicero, De natura deorum II,72. Vgl. dazu: U. Berner, Religio und superstitio. Betrachtungen zur römischen Religionsgeschichte, in: Th. Sundermeier (Hg.), Den Fremden wahrnehmen, Gütersloh 1992 (Studien zum Verstehen fremder Religionen 5), 45-64. Vgl. dazu auch J. Irmscher, der allerdings nicht auf diese Definition Ciceros eingeht: Der Terminus religio und seine antiken Entsprechungen im philologischen und religionsgeschichtlichen Vergleich, in: U. Bianchi (Hg.), The Notion of Religion, 63-73. 19 Siehe Plinius, Panegyricus 2,3. Vgl. dazu: P. Herz, Der römische Kaiser und der Kaiserkult. Gott oder primus inter pares? , in: D. Zeller (Hg.), Menschwerdung Gottes - Vergöttlichung von Menschen, Göttingen u.a. 1988, 115-140, hier: 137-139; dagegen: M. Clauss, Kaiser und Gott. Herrscherkult im Römischen Reich, Stuttgart u.a. 1999, 30f. Die Stellung des Kaisers zwischen Göttern und Menschen wird besonders deutlich formuliert in Panegyrikos 67,5. Diese Stelle wird in der Monographie von Clauss nicht berücksichtigt. Zur Problematik des Religionsbegriffes in der Deutung des Herrscherkultes vgl. G. Löhr, Religiöse und philosophische Legitimation politischer Macht im antiken Herrscherkult, in: J. Mehlhausen (Hg.), Recht. Macht. Gerechtigkeit, Gütersloh 2000, 745-758. 20 Siehe Passio Sanctorum Scillitanorum 1; 8; 14. 21 Vgl. dazu R. Feldmeier, Philosoph und Priester: Plutarch als Theologe, in: M. Baumbach u.a. (Hg.), Mousopolos Stephanos, FS H. Görgemanns, Heidelberg 1998, 412-425. 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 59 60 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Kontroverse 22 Siehe Plutarch, De superstitione 170E; 171F. 23 Siehe Plutarch, Non posse suaviter vivi secundum Epicurum 1102B/ C. Vgl. dazu: U. Berner, Plutarch und Epikur, in: Plutarch, Ist »Lebe im Verborgenen« eine gute Lebensregel? , Eingeleitet, übersetzt und mit interpretierenden Essays versehen von U. Berner, R. Feldmeier, B. Heininger, R. Hirsch-Luipold (SAPERE 1), Darmstadt 2000, 117-139, hier: 130f. 24 Siehe Plutarch, De superstitione 169D; Non posse suaviter vivi secundum Epicurum 1101E. 25 Zum Begriff »personal religion« vgl. Burkert, Ancient Mystery Cults, 10f. Auch J. Rüpke stellt fest, daß sich »die religiösen Aktivitäten des einzelnen nicht in der Verbindung von familiärem Hauskult und öffentlichen Festen erschöpfen« (Die Religion der Römer, München 2001, 199). 26 Siehe Plutarch, Consolatio ad uxorem 611D. 27 Dies wird besonders deutlich im pseudoplatonischen Dialog »Axiochus«. Vgl. auch A. Dihle, Philosophie als Lebenskunst, Opladen 1990 (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Vorträge G 304). 28 Siehe Cicero, Briefe an Atticus XII, 14f. 29 Siehe Apuleius, Apologie 55,8-10. 30 Siehe Apuleius, Apologie 63. 31 Vgl. dazu: J. Hammerstaedt, Apuleius: Leben und Werk, in: Apuleius, De magia, Darmstadt (SAPERE 5) (im Druck). 32 Der Religionssoziologe R. Stark unterscheidet »zwei sehr unterschiedliche Arten religiöser Unternehmen«: die Religionsfirma des einen Typs verlangt »exklusive Zugehörigkeit«, die Firmen des anderen Typs »akzeptieren, dass ihre Mitglieder anderweitig religiöse Bindungen haben« (Der Aufstieg des Christentums, Weinheim 1997, 237). Vgl. dazu: R. Stark / R. Finke, Acts of Faith. Explaining the Human Side of Religion, Berkeley u.a. 2000, 193-217: »A Theoretical Model of Religious Economies«. 33 Symmachus, Relatio III, 10 (Übersetzung: R. Klein, Darmstadt 1972). 34 Themistios, 5. Rede, 69a (Übersetzung: H. Leppin / W. Portmann, Stuttgart 1998). 35 Augustin, de vera religione V.9 (Übersetzung: W. Thimme, Stuttgart 1983). 36 Vgl. dazu: U. Berner, Die antiken Religionen und ihre Relevanz für Religionswissenschaft und Theologie, in: G. Löhr (Hg.), Die Identität der Religionswissenschaft, Frankfurt 2001, 13-32, hier: 20-22. 37 Zur Problematik konventioneller Beschreibungen des Verhältnisses zwischen Judentum und frühem Christentum (insbesondere die Metapher von Mutter und Tochter) vgl. Stegemann, Christentum als universalisiertes Judentum? , 139-144. In wichtigen Situationen und an entscheidenden Wendepunkten seines Lebens hat Dostojewskij sich grundsätzlich zum Wesen und Werk und zur Bedeutung Jesu Christi geäußert, und in jedem seiner fünf großen Romane ist dessen Gestalt in zentralen Szenen und in jeweils wechselnder Problematik gegenwärtig. Der emeritierte Tübinger Slawist und Theologe Ludolf Müller stellt in diesem Buch alle wichtigen Äußerungen Dostojewskijs über Christus zusammen, gibt die entscheidenden Stellen in eigener Übersetzung wieder und interpretiert sie nach ihrer philosophischen und theologischen Aussage. In einem abschließenden Kapitel über die Religion Dostojewskijs stellt er dessen Auffassung von der Gestalt Christi in den Gesamtzusammenhang seiner religiösen Weltanschauung. Dabei wird deutlich, daß Dostojewskij einer der leidenschaftlichsten religiösen Sucher und aktuellsten religiösen Denker der Moderne war. Aus dem Inhalt: Der junge Dostojewskij; »An Maschas Bahre«; Die Auferweckung des Lazarus (»Schuld und Sühne«); Der tote Christus im Grabe (»Der Idiot«); »Die bösen Geister«; Christus und der Tod Gottes (»Der Jüngling«); Der Kampf Christi mit dem Geist der Wüste (»Der Großinquisitor«); »Die Brüder Karamasow«; Die Religion Dostojewsjijs. Ludolf Müller Die Gestalt Jesu Christi im Leben und Werk Dostojewskijs 2002, ca. 160 Seiten, ca. 19,-/ SFr 32,30 ISBN 3-89308-351-0 Attempto Verlag · Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 60 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 61 Die grundlegendsten Fragen sind vermutlich die schwierigsten. Sie bringen uns nicht selten in Verlegenheit, weil wir durch sie dazu herausgefordert werden, bisherige Selbstverständlichkeiten, Überzeugungen und Meinungen in Frage zu stellen. Als eine solche fundamentale Frage verstehe ich auch die hier gestellte, ob das frühe Christentum eine Religion war. Vor einigen Jahren noch hätte ich sie allenfalls für eine rhetorische Frage gehalten; inzwischen bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass es notwendig ist, diese Frage zu thematisieren. Auch Ulrich Berner hat in seinem Beitrag deutlich gemacht, dass er die Erörterung dieser Frage für sinnvoll hält, ganz unabhängig davon, zu welcher Antwort wir kommen. Sie nötigt uns darüber nachzudenken, ob der Begriff Religion bzw. das mit ihm verbundene Konzept jenem antiken Phänomen, das wir frühes Christentum (manchmal auch noch Urchristentum) nennen, angemessen ist. Angemessen, das soll heißen, dass der Begriff den »Gegenstand«, auf den er sich bezieht, korrekt repräsentiert. Das Gegenteil wäre fatal. Denn wenn wir mit einem Begriff bestimmte »Gegenstände« bezeichnen oder belegen, dann ordnen wir sie ein, legen sie fest und schränken unsere Wahrnehmungsmöglichkeiten auf den Erkenntnisspielraum ein, den uns das jeweilige Begriffskonzept vorgibt. Eine Überprüfung unserer Begriffe ist in jedem Fall im Zusammenhang des Verstehens fremder Kulturen angebracht, um Ethnozentrismus zu vermeiden, der das Fremde immer schon in das Prokrustesbett des Eigenen zwängt. Dieser Fehler wird im Kontext der historischen Forschung meistens Anachronismus genannt. Und Lucien Febvre, einer der berühmten Vertreter der französischen Annales-Schule, war bekanntlich der Ansicht, dass die größte Sünde, die ein Historiker begehen könnte, die des Anachronismus sei. Erst jüngst ist in deutscher Übersetzung Febvres bahnbrechende Arbeit zur Frage des »Atheismus« von Rabelais erschienen, in der er dem Herausgeber der Gesamtausgabe der Werke von Rabelais, Lefranc, eben diesen Vorwurf des Anachronismus macht. 1 Denn der hatte Rabelais »Atheismus« unterstellt, wohingegen Febvre in seiner Studie davon überzeugen kann, dass der Atheismus-Begriff der Moderne keineswegs geeignet ist, die am Humanismus eines Erasmus orientierte Position von Rabelais angemessen zu bezeichnen. Febvre zeigt darüber hinaus, wie sehr das, was wir Religion nennen und als einen separaten Bereich menschlicher Erfahrung verstehen, der Welterfahrung des 16. Jahrhunderts umfassend eingeprägt war, und zwar in einer sozusagen ausschließlichen Form, nämlich der des Christentums: Heutzutage ist das Christentum eine Glaubensgemeinschaft unter anderen: nach der Ansicht von uns Abendländern die wichtigste - aber nur nach unserer Ansicht. Wir definieren es gern als Gefüge festumrissener Dogmen und Glaubenssätze im Verein mit althergebrachten Andachtsübungen und Riten, was jedoch nicht ganz zutrifft. Denn ob wir es nun wahrhaben wollen oder nicht, in unseren abendländischen Gesellschaften herrscht noch immer ein von Grund auf christliches Klima. Das gilt in noch weit stärkerem Maß für das 16. Jahrhundert. Das Christentum kam damals in dem von uns heute als Europa bezeichneten Raum, der sich mit der Christenheit deckte, der Luft gleich, die man atmete; es war die Atmosphäre, in der der Mensch sein Leben, sein ganzes Leben, zubrachte - nicht nur sein geistiges Leben, sondern auch sein Privatleben mit all seinen vielfältigen Aktivitäten, sein öffentliches Leben mit seinen verschiedenen Funktionen und sein Berufsleben, ganz gleich, in welchem Rahmen es sich abspielte. Und das alles gewissermaßen automatisch, zwangsläufig, ohne den ausdrücklichen Willen, gläubig zu sein, Katholik zu sein, seinen Glauben zu bejahen oder zu praktizieren … 2 Damit sind wir beim Thema. Wie immer man zu den einzelnen, von Febvre genannten definitorischen Elementen von Christentum als Religion steht - im Unterschied zum 16. Jahrhundert handelt es sich bei dem, was wir heutzutage darunter Wolfgang Stegemann War das frühe Christentum eine Religion? 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 61 62 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Kontroverse verstehen, offenkundig um einen begrenzten Bereich des Lebens. Die christliche Religion ist nicht mehr wie die Luft, die wir atmen, sie prägt nicht unser ganzes Leben, sei es im privaten Raum der Familie, sei es in der Öffentlichkeit oder gar im Beruf. Unsere Gegenwart - jedenfalls in Mitteleuropa - scheint vielmehr (mit Th. Luckmann zu sprechen) durch die »Privatisierung« oder Individualisierung von Religion geprägt zu sein. 3 Unsere gegenwärtige Erfahrung zeigt damit auch, dass etwa die »Institutionalisierung« (wie Ulrich Berner erwägt) keineswegs einer Religion eigen sein muss. Dies ist ja gerade ein Problem der hoch spezialisierten religiösen Institutionen unserer Gesellschaft, die wir Kirchen nennen, dass immer mehr Menschen religiöse Bedürfnisse außerhalb dieser Institution suchen, nicht mehr zu bestimmten »heiligen« Zeiten und an bestimmten »heiligen« Orten. Religiöse Erfahrung bedarf in unserer Gegenwart auch nicht mehr einer »einheitlichen Dogmatik«. Vielmehr scheint auch hier »patchwork« das Stichwort zu sein, d.h. eine individuelle Komposition verschiedener Glaubensüberzeugungen, die zum Teil aus unterschiedlichen Religionen stammen können. Nimmt man alles in allem, so ist nach meiner Meinung in unserer Gesellschaft Religion ein Begriff, der je länger je mehr eine eigenständige, separate, ja private Erfahrung von Menschen kennzeichnet, einen eigenen Bereich des Lebens bezeichnet. Damit ist aber nach meiner Meinung nicht nur eine fundamentale Differenz zum 16. Jahrhundert angesprochen. Vielmehr unterscheiden sich der moderne Religionsbegriff und die mit ihm verbundenen Vorstellungen auch grundlegend von den Erfahrungen jener Menschen der mediterranen Welt des 1. Jahrhunderts, denen wir begegnen, wenn wir das Neue Testament lesen oder Plutarch oder Cicero. Ich halte darum den Religionsbegriff für anachronistisch und werde dieses Urteil zunächst begründen (1.). Danach will ich kurz darstellen, zu welchen problematischen Konsequenzen der Religionsbegriff in seiner Anwendung auf die antiken Kulturen führen kann (2.). 1. Religion - ein moderner Begriff 1.1. Religion als Kontingenzbewältigungs-Praxis Unter Religion, so sage ich einmal abgekürzt, verstehen wir ein System von Glaubens-Überzeugungen, das verbunden ist mit nicht-diskursiven Praktiken (Ritualen). Durch deren divergierende Inhalte und Gestaltungen unterscheiden sich die jeweiligen Religionsgemeinschaften voneinander. Als Repräsentanten von Religion nennen wir meistens (etwa) Judentum und Christentum, Islam und Hinduismus. Und wir unterscheiden Religion von anderen Bereichen menschlicher Erfahrung zum Beispiel durch ihre Transzendenzbeziehung, 4 weisen ihr die Funktion zu, Kontingenzerfahrungen zu bewältigen bzw. überhaupt Antworten zu geben auf letzte Sinn-Fragen. Gerd Theißen, um ein Beispiel zu nennen, definiert in seinem kürzlich veröffentlichten interessanten Entwurf zur Entstehung der christlichen Religion in Nähe zu diesen Überlegungen Religion folgendermaßen: »Religion ist ein kulturelles Zeichensystem, das Lebensgewinn durch Entsprechung zu einer letzten Wirklichkeit verheißt.« 5 Vergleichbar ist auch die »beschreibende« Definition von Religion, die einige Jahre vorher schon Hans-Josef Klauck in seinem hilfreichen Studienbuch zur »religiösen Umwelt des Urchristentums« vorgeschlagen hat. Er versteht Religion »als ein soziales Zeichensystem mit ganz bestimmten Funktionen innerhalb der Gesellschaft, die nur sie erbringen kann«. Und zu diesen Funktionen zählt für ihn vor allem auch, dass Religion einen »unverzichtbaren Beitrag bei der Bewältigung von Kontingenzerfahrungen« leistet, also im Umgang mit Tod, Not, Leiden usw. Für Klauck ist die Kontingenzbewältigungsfunktion nachgerade das universale Merkmal von Religion. Die einzelnen Religionen haben nach seinem Dafürhalten zwar je »kulturspezifischen Charakter, können sich also von Kultur zu Kultur in der Ausführung sehr unterscheiden«. Doch alle religiösen Symbolwelten haben »das eine gemeinsam, dass sie zur Kommunikation über sogenannte ›letzte Fragen‹ des Lebens eingesetzt werden«. Auf dem Hintergrund dieses gemeinsamen Nenners aller Religionen sieht sich Klauck berechtigt, das (hier nur skizzierte) »Raster« seiner Religionsanalyse »an die antike Welt an(zu)legen«. Sein Religions-Modell hält er im Übrigen zum Verständnis der antiken Religion für wissenschaftlich brauchbar, da es wertneutral sei, denn es mache mit seiner »systemtheoretisch« orientierten »Beschreibung« religiöser Phänomene »keine Aussagen über Wahrheits- und Absolutheitsansprüche«. 6 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 62 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 63 Wolfgang Stegemann War das frühe Christentum eine Religion? Wolfgang Stegemann Wolfgang Stegemann, Jahrgang 1945, studierte in Heidelberg Ev. Theologie. Promovierte zum Dr. theol. mit einer Arbeit über die Hermeneutik Rudolf Bultmanns. 1983 Habilitation zum Thema der historisch-sozialen Situation des lukanischen Doppelwerkes. Seit 1984 Professor für Neues Testament an der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau. Forschungsschwerpunkte: Sozialgeschichte des Urchristentums und Kulturanthropologie des Neuen Testaments, historische Jesusforschung, Lukasevangelium und Apostelgeschichte sowie christlich-jüdischer Dialog in seiner Bedeutung für die Exegese des Neuen Testaments und die Geschichte und Theologie des antiken Judentums. Bei Klauck kommt später noch eine erkleckliche Anzahl zusätzlicher Bestimmungen von Religion zusammen (Glaube, Frömmigkeit, Gotteserfahrung, Transzendierung innerweltlicher Horizonte), die beim besten Willen ihre Herkunft aus einer bestimmten Religion, nämlich der christlichen, nicht verleugnen können. Doch scheint mir für unsere Zwecke zunächst ausreichend, dass gerade auch die der Religion zugewiesene Aufgabe der Kontingenzbewältigung Inbegriff eines ziemlich modernen, mitteleuropäischen oder euro-amerikanischen, jedenfalls nach-aufklärerischen Religionsverständnisses ist. Hermann Lübbe, der ausführlich darlegt, inwiefern er Religion als »Kontingenz-Bewältigungspraxis« versteht (und auch ein Gewährsmann für Klaucks Religions-Modell ist), überschreibt sein Buch mit gutem Grund: Religion nach (! ) der Aufklärung! 7 Die Aufgaben der Kontingenzbewältigung und überhaupt der Sinnstiftung gehören inzwischen zur Standarddefinition von Religion, dürfen in keinem einschlägigen Lexikon-Artikel zum Lexem mehr fehlen. Und das ist auch gut so! Jedenfalls, wenn es um die Paraphrase von Religion in unserer Gegenwart geht. Doch lässt sich dieser Religionsbegriff auf das frühe Christentum anwenden? Oder auf dessen sog. »religiöse Umwelt«? 1.2. Religion als eigenständiger Erfahrungsbereich Die mir gestellte Frage, ob das frühe Christentum eine Religion war, impliziert (u.a.), dass Religion eine objektivierbare Größe ist, eine separate, abgrenzbare Entität (zum Beispiel im Sinne eines eigenen Bereiches menschlicher Erfahrung). Allein unter dieser Voraussetzung erweist sich die Frage freilich schon als Teil eines modernen Diskurses, der Religion als einen separaten Bereich menschlicher Erfahrung versteht und damit rechnet, dass diesem Bereich bestimmte Überzeugungssysteme und (rituelle) Praktiken, Normen, Institutionen und Reflexionsmuster zugeordnet werden können, die sich dann je nach konkreter Religion (Christentum, Judentum oder Islam usw.) unterscheiden. Diese Möglichkeit, von Religion als einem eigenständigen Bereich menschlicher oder sozialer Erfahrung zu sprechen, gab es, wenn wir Febvre folgen, im 16. Jahrhundert noch nicht. Sie scheint sich erst - folgt man etwa der grundlegenden Analyse von W. Cantwell Smith in seinem Standardwerk The Meaning and End of Religion (New York 1978) - seit dem 17./ 18. Jahrhundert ausgebildet zu haben. Auch Ulrich Berner hat in seinem Beitrag auf diese grundlegende Studie verwiesen. Und seitdem gab und gibt es die verschiedensten Versuche, den separaten Bereich der »Religion« zu verorten, etwa im Reich der Vernunft oder im Bereich der Empfindungen und Gefühle. Diese Verortung war übrigens viel erfolgreicher und hat seit Schleiermacher eine Karriere gemacht, die über R. Otto bis hin zum bedeutenden Züricher Altertumswissenschaftler Walter Burkert führt, der Religion in biologisch-anthropologischen Kategorien weiterdenkt. 8 Wenn man einem der letzten SPIEGEL-Leitartikel folgt (Ausgabe des SPIEGEL Pfingsten 2002), wird Religion inzwischen von Neurologen und Gehirnforschern im menschlichen Gehirn, genauer, im 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 63 64 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Kontroverse Bereich der Schläfenlappen geortet und evolutionstheoretisch hergeleitet. In einem wiederum völlig anderen Bereich, nämlich dem der sozialen Welt, verankert dagegen die Religionssoziologie die Religion, während einer der bedeutendsten Kulturanthropologen der Gegenwart, Clifford Geertz, Religion als kulturelles System definiert hat. 9 Nach Meinung von Dario Sabbatucci spricht der Gang der Forschungsgeschichte gar dafür, den Religionsbegriff im Kulturbegriff aufzulösen. 10 Wir sollten uns daran erinnern: Von Religion als einem eigenständigen Erfahrungsbereich zu sprechen - von »religious experience«, religiöser Erfahrung - haben wir erst seit W. James gelernt. 11 Auch dies ist ein Hinweis darauf, dass es sich um ein noch relativ junges Konzept handelt, das bei weitem nicht so alt ist, wie der Term selbst nahe legt, der ja auf das lateinische Wort religio zurückgeht. Die Identität der Signifikanten vermittelt allerdings den Anschein, als ob sich mit ihrem ersten Auftauchen im Lateinischen bis zum gegenwärtigen Gebrauch ein - wenigstens im Prinzip - identisches Signifikat verbindet. Auf diesem Hintergrund sind auch die Versuche verständlich, über die Etymologie des Begriffes zu einem Kernbestand eines die Zeiten überdauernden Konzeptes von Religion zu gelangen. Doch ist weder die etymologische Spurensuche verheißungsvoll, noch die implizite Voraussetzung einer wenigstens im semantischen Kern bestehenden Bedeutungsidentität der Signifikanten religio(n) tragfähig. Vielmehr gilt gerade auch im Falle des Wortes Religion: Der Kontinuität der Signifikanten entspricht nicht zwingend eine solche des Signifizierten. Der lateinische Begriff religio, der uns in zeitliche und kulturelle Nähe zum Frühchristentum bringen könnte, steht ganz offenkundig für einen anderen Diskurs, der von dem der Moderne unterschieden werden sollte. 12 Manfred Clauss deutet solche Unterschiede an, wenn er zum Beispiel formuliert: »Herrscherkult ist nach antiken Kriterien Religion, ›aber antike Religion ist nicht Religion im christlichen Sinn‹«: Antike Religion ist Handlung, nicht Haltung. Diese Handlung schließt eine bestimmte Haltung nicht aus, sie benötigt sie aber auch nicht. Der Begriff Glaube hat für die außerchristliche - und außerjüdische - antike Religiosität keine Bedeutung und sollte daher in der Forschung allenfalls in Formulierungen auftauchen wie: Ich glaube, dass der Kollege Recht hat. 13 Ich bin mir darum nicht sicher, ob Ulrich Berners Deutung etwa des Plinius-Briefes (oder der Acta Scilitanorum) mit dem Begriff »religiöse Erfahrung« durchführbar ist. Bemerkenswert ist in jedem Fall, dass die Beschreibung der »christlichen« Praktiken im Pliniusbrief (Versammlung vor Sonnenaufgang, Wechselgesang auf Christus, feierlicher Eid zu tugendhaftem Leben, gemeinsame Mahlzeit) in einer Gruppe stattfindet, die nicht mit der Familie oder mit der Polis-Gemeinschaft identisch ist. Doch woher wissen wir, dass die Christiani bei ihren Zusammenkünften »religiöse Erfahrungen« gemacht haben? Plinius ordnet ihre Praktiken als »superstitio« ein, also als eine - nach seiner Meinung - ungemessene, vielleicht exzessive, jedenfalls nicht angemessene Performanz von religio, d.h. der Gottesverehrung. Es geht also vielleicht gar nicht um die Frage der falschen oder richtigen »religiösen Einstellung«, sondern um die der falschen oder richtigen Praktik. Dabei will ich gar nicht in Abrede stellen, dass die Christiani bestimmte Überzeugungen besaßen (die in der Tat weder Plinius noch andere römische Beamte interessiert haben). Diese Überzeugungen und etwa ihre Vorstellungen von einem tugendhaften Leben rückte die Gruppe der Christiani in deutliche Nähe zu dem, was die antiken Menschen unter Philosophie bzw. Philosophenschulen verstanden, und zwar im Sinne von »Philosophie als Lebenskunst«, wie auch U. Berner bemerkt. Diese Sicht der antiken Philosophie hat bekanntlich Pierre Hadot herausgearbeitet. 14 Was ich sagen will: Eher als die Begriffe »Religion« oder »religiöse Erfahrung« könnte vielleicht der Begriff der »Philosophie« (im antiken Verständnis als Lebenskunst) kennzeichnen, was die »Christen« gedacht bzw. »geglaubt« haben und wie sie zu »Der lateinische Begriff religio, der uns in zeitliche und kulturelle Nähe zum Frühchristentum bringen könnte, steht ganz offenkundig für einen anderen Diskurs, der von dem der Moderne unterschieden werden sollte.« 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 64 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 65 Wolfgang Stegemann War das frühe Christentum eine Religion? normativen Entscheidungen für ihr Leben gekommen sind. Gleichwohl sind sie wohl nicht einfach mit den Philosophenschulen gleichzusetzen, auch wenn sie dazu Ähnlichkeiten aufwiesen. 1.3. Religion als Diskursbegriff Ich will noch einen Schritt weitergehen. Wenn der Religionsdiskurs selbst sich historisch-kulturell einer euro-amerikanischen christlichen Genealogie verdankt, dann formuliert sich darin eine (historisch-kulturell spezifische) Diskursformation, die eben gerade nicht einfach hin auf andere Kulturen und historische Gegebenheiten übertragen oder angewendet werden kann. D.h., Religion ist kein wissenschaftlicher (neutraler) Metabegriff oder Gattungsbegriff, das mit diesem Begriff verbundene Konzept ist nicht über-kulturell und über-zeitlich, der Begriff Religion meint also kein Master-Konzept. Vielmehr bringt dieser Begriff eine ganz bestimmte kulturelle und historisch gewordene Erfahrung zur Sprache, die zwar auf andere kulturelle Phänomene angewendet werden kann und angewendet worden ist, diese freilich zu Bedingungen des euro-amerikanischen Religionskonzeptes interpretiert, also der Ordnung des eigenen, partikularen Diskurses unterwirft. Ich vertrete hier also die These, dass es nicht um den Begriff Religion geht, letztlich auch nicht um die mit diesem Begriff verbundenen Konzepte, sondern um Religion als Diskurs(begriff) - sprechen wir also einfach vom Religionsdiskurs -, durch den die Gegenstände, die ihm unterworfen werden, immer schon so behandelt werden, als wären sie Analogien zum (euro-amerikanischen, im Zuge der Aufklärung sich selbst als Religion identifizierenden) Christentum. Entsprechend werden sie in Analogie zum Christentum - als dem Inbegriff und »Prototyp« von Religion (! ) 15 - analysiert und interpre tiert. Insofern also - so lautet meine zentrale These - das antike Christentum wie auch das antike Judentum und die sog. paganen Kulturen bzw. bestimmte Aspekte davon als Religion verstanden und im christlich konstruierten Religionsdiskurs analysiert und interpretiert werden, werden sie auch der »Ordnung« dieses Diskurses unterworfen. Das heißt aber auch, dass die Praktiken des Religionsdiskurses mit einer gewissen Zwangsläufigkeit (und meistens undurchschaut) bestimmten Regeln folgen, durch die dessen Gegenstände »kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert« werden. 16 In Aufnahme von Überlegungen Michel Foucaults möchte ich davon sprechen, dass im Falle des Religionsdiskurses dessen diskursive Praktiken den Gegenstand bzw. die Gegenstände des Wissens formieren. Anders gesagt: Mit der Entstehung des Religionsdiskurses als eines Spezial-Diskurses (im 18./ 19. Jahrhundert) formierte sich ein Wissenssystem, in dessen Folge wissenschaftliche Disziplinen das neue Religions- Wissen ordnen und klassifizieren, alles andere aber, was sie nicht klassifizieren können, abweisen bzw. gar nicht erst in den Blick nehmen oder bekommen. Und mehr noch: Mit der Etablierung des Religionsdiskurses bzw. von Religion als Wissenssystem trat allererst so etwas wie Religion als eigenständiger Bereich menschlicher Erfahrung ins Bewusstsein, nachdem sie zuvor »eingebettet« war in andere soziale Institutionen. 2. Einige missliche Konsequenzen des Religionsbegriffs in seiner Anwendung auf antike Kulturen Warum die ganze »Begriffshuberei«? Ich meine, dass sie dazu helfen kann, Missverständnisse und »Insofern also - so lautet meine zentrale These - das antike Christentum wie auch das antike Judentum und die sog. paganen Kulturen bzw. bestimmte Aspekte davon als Religion verstanden und im christlich konstruierten Religionsdiskurs analysiert und interpretiert werden, werden sie auch der ›Ordnung‹ dieses Diskurses unterworfen.« 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 65 66 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Kontroverse Fehlinterpretationen zu vermeiden. Einige Beispiele sollen das kurz illustrieren. Ich argumentiere hier sehr plakativ und thetisch: a) Indem wir von antikem »Christentum«, »Judentum« und »Heidentum« sprechen, also Phänomene der antiken mediterranen Kulturen und Gesellschaften unter dem Aspekt der Religionsgeschichte betrachten, rücken wir ein Teilphänomen der antiken Kulturen, den Kult, ins Zentrum und interpretieren mediterrane Kulturen von ihren Formen der Verehrung ihrer Gottheiten her. In dieser Hinsicht sind in der Tat die Unterschiede zwischen dem jüdischen Volk und vielen anderen antiken Ethnien besonders krass. So war es zum Beispiel nicht möglich, Adonai, den Gott Israels, in das römische Pantheon oder das der griechischen Polis-Kulte zu integrieren. Das hängt unter anderem an der Monolatrie Israels, aber es hängt auch damit zusammen, dass das jüdische Volk nur an einem einzigen Ort seine Gottheit im echten Sinne kultisch, d.h. mit Opfern, verehren konnte, nämlich in Jerusalem, während römische und griechische Kultorte dezentralisiert waren. Zudem gab es innerhalb der nicht-jüdischen Völker in den Familien (privat würden wir heute sagen) Formen der kultischen Verehrung, die dem jüdischen Volk fehlten. Diese Einschränkungen treffen dann später auch auf das frühe Christentum zu, dessen Gottesverehrung fundamental der des jüdischen Volkes folgt. 17 b) Die religionsgeschichtliche Perspektive »theologisiert« oder, wie man auch sagen könnte, »christianisiert« kulturelle Phänomene. Dies gilt zum Beispiel für die Tora Israels, die in diesem Konzept zu einem religiösen Gesetz werden musste, bis hin zu der Konsequenz, dass sie - immer noch - als (falscher) Heilsweg verstanden wird. Von hierher kommen wir zu der irrigen Behauptung, dass man im Judentum der Meinung gewesen wäre, durch Einhaltung der Tora selig zu werden. Ich spreche mit dieser Bemerkung nur mit einem Stichwort das ganze Problem der christlichen Konstruktion des antiken Judentums als Religion der »Werkgerechtigkeit« an, der wir gewöhnlicherweise dann das Christentum als »Gnadenreligion« gegenüberstellen. c) Eine weitere Konsequenz: Wir konstruieren nicht nur die Kultur Israels nach dem Bilde der euro-amerikanischen christlichen Religion, wir gehen in gleicher Weise mit den Kulturen nicht-jüdischer antiker Völker um. Dieser Zugang kulminiert in der Kennzeichnung der griechisch-römischen Kulturen als »Heidentum« oder, was grundsätzlich nicht viel besser ist, Paganismus. Denn diese Begriffe beinhalten nicht nur eine Wertung (das heißt eine Betrachtung am Maßstab des christlichen Prototyps von Religion), sondern auch eine zwangsweise Vereinheitlichung von - zum Teil - nur regionalen Polis-Kulten. Die antike Mittelmeerwelt wird so freilich übersichtlich geordnet: Christentum, Judentum und Heidentum. d) Die religiöse Interpretation der mediterranen Kulturen hat nach meiner Einschätzung schließlich auch zu der längst als misslich erkannten Gegenüberstellung von Judentum und Hellenismus geführt. In der Tat, wenn wir von den unterschiedlichen Formen der jeweiligen Kulte des Judentums einerseits und vieler griechisch-römischer Kulte andererseits ausgehen, müssen wir eher zwangsläufig tiefe Gräben, ja Gegensätze zwischen Judentum und Hellenismus sehen. Verstehen wir dagegen die Kulte als ein Teilphänomen von Kultur und nehmen wahr, in welchem Maße sich in der Tat seit Alexander dem Großen die kulturellen Bedeutungssysteme der Völker rings um das Mittelmeer angeglichen haben, so ist ein solch massiver Gegensatz nicht mehr zu erkennen. Vielmehr: Die Kultur des jüdischen Volkes im ersten Jahrhundert und zunehmend danach ließe sich eher als eine Spielart des Hellenismus bezeichnen. 18 Innerhalb der erstaunlich ähnlichen und weithin vergleichbaren mediterranen Kulturen nimmt die jüdische Kultur hinsichtlich ihrer Gottesverehrung freilich eine besondere Stellung ein, an der später auch das frühe Christentum partizipiert. »Wir konstruieren nicht nur die Kultur Israels nach dem Bilde der euro-amerikanischen christlichen Religion, wir gehen in gleicher Weise mit den Kulturen nicht-jüdischer antiker Völker um.« 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 66 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 67 Wolfgang Stegemann War das frühe Christentum eine Religion? e) Eine spezielle Konsequenz des Religions- Konzeptes für die Frage der Entstehung des frühen Christentums liegt m.E. darin, dass wir die sog. religiösen Unterschiede, mit der sich die christliche Selbstreflexion eine Identität jenseits von Judentum und Paganismus gibt, in den Vordergrund rücken und darüber breite, tief reichende Gemeinsamkeiten der mediterranen Völker übersehen oder unterbetonen. Ich stimme D. Boyarin darin zu, 19 dass die relativ strikt sich gebende Differenzierung in »Jude« hier und »Christin« dort ein Konstrukt ist, das einerseits aus der nachträglichen Perspektive (also nach Entstehung des Christentums als Reichsreligion) auf die ersten Jahrhunderte projiziert worden ist, andererseits in den ersten zwei / drei Jahrhunderten eher in den Köpfen und Verlautbarungen der um Orthodoxie bemühten Personen innerhalb der beiden Gruppen zu finden ist. Die Grenzen zwischen Juden, Christen, Nichtjuden waren ansonsten wohl eher fließend oder verschwommen. Dass ein und dieselbe Person sog. jüdische, christliche und pagane Praktiken und Überzeugungen nebeneinander durchführen konnten, scheint mir ernsthafter Vermutung wert. Ist es ein Zufall, dass Kirchenväter wie etwa noch Chrysosthomus in Antiochia sich damit konfrontiert sahen, dass Mitglieder der christlichen Gemeinschaften in die Synagogen gingen? Und ist nicht diese Problematik ansatzweise schon im Neuen Testament erkennbar, etwa im Johannesevangelium und dem 1. Johannesbrief, aber auch bei Paulus? f) Vielleicht, so eine weitere Konsequenz, standen sich die sog. Christen und Juden der ersten zwei / drei Jahrhunderte viel näher als die kontroversen Diskurse der neutestamentlichen Texte bzw. der sog. Kirchenväter und ansatzweise der Rabbinen vermuten lassen? Könnte es nicht sein, dass wir unter dem Eindruck des modernen Bewusstseins von der Trennung und Separierung von Judentum und Christentum als Religionen die Unterschiede in den beliefsystems zum Interpretationsmaßstab machen? Sind diese schon im Neuen Testament selbst zu finden oder werden sie in es hineingelesen? »Könnte es nicht sein, dass wir unter dem Eindruck des modernen Bewusstseins von der Trennung und Separierung von Judentum und Christentum als Religionen die Unterschiede in den belief-systems zum Interpretationsmaßstab machen? « l Anmerkungen 1 L. Febvre, Das Problem des Unglaubens im 16. Jahrhundert. Die Religion des Rabelais, Stuttgart 2002. 2 A.a.O., 296. 3 Th. Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt a.M. 1991, vgl. v.a. das Nachwort, bes. 178-182. 4 Vgl. dazu insbesondere das erwähnte Buch von Th. Luckmann. 5 G. Theißen, Die Religion der ersten Christen, Gütersloh 2000, 19. 6 Alle Zitate bei H.-J. Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums, Bd. 1, Stuttgart 1995, 22-24. 7 H. Lübbe, Religion nach der Aufklärung, Graz 1986. 8 W. Burkert, Kulte des Altertums. Biologische Grundlagen der Religion, München 1998. 9 C. Geertz, Religion als kulturelles System, in: C. Geertz, Dichte Beschreibung, Frankfurt a.M. 1987, 44-95. Seine Definition hat eine nachhaltige Diskussion in der Anthropologie ausgelöst und damit das »Ende des religionssoziologischen Funktionalismus« besiegelt, wie Hans G. Kippenberg, Art. Religionssoziologie, TRE XXIX (1998) 20-33: 27, feststellt. 10 D. Sabbatucci, Artikel: Kultur und Religion, in: HRWG 1 (1988), 43-58: 57f. 11 W. James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Olten 1979 (englisches Original als Vorlesung 1902! ). 12 Äußerst anregend bezüglich der Alterität römischer religio empfand ich die Lektüre des Buches von J. Rüpke, Die Religion der Römer, München 2001. 13 M. Clauss, Kaiser und Gott. Herrscherkult im römischen Reich, Darmstadt 2001, 23. 14 Ich verweise hier nur auf P. Hadot, Wege zur Weisheit oder Was lehrt uns die antike Philosophie? , Berlin 1999, 314: »Zum Verständnis der antiken Werke wird man die besonderen Bedingungen des Philosophenlebens in dieser Zeit beachten, die tiefe Absicht des Philosophen entschlüsseln müssen, die nicht darin besteht, einen Diskurs zu entwickeln, der seinen Zweck in sich selbst hätte, sondern darin, auf die Seelen einzuwirken. Es muß in der Tat jegliche Aussage im Hinblick auf die Wirkung verstanden werden, die sie in der Seele des Zuhörers oder Lesers hervorzubringen beabsichtigt. Manchmal geht es darum, zu bekehren oder zu trösten, zu heilen oder zu ermahnen, immer aber und vor allem geht es darum, nicht ein vorgefertigtes Wissen zu über- 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 67 68 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Kontroverse mitteln, sondern zu formen, d.h. ein Können zu lehren, einen habitus, ein neues Urteils- und Kritikvermögen zu entwickeln, und zu transformieren, d.h. die Art zu ändern, wie man lebt und die Welt betrachtet.« 15 Der Begriff des Prototyps stammt von F. Stolz. 16 M. Foucault, Ordnung des Diskurses, 7. Aufl., Frankfurt a.M. 2000, 9. 17 Vgl. dazu die interessante Arbeit von P. Wick, Die urchristlichen Gottesdienste. Entstehung und Entwicklung im Rahmen der frühjüdischen Tempel-, Synagogen- und Hausfrömmigkeit, Stuttgart 2002. 18 So D. Stern, Midrash and Theory. Ancient Jewish Exegesis and Contemporary Literary Studies, Evanston 1996, 16. Zum Problem s. zuletzt die Monographie von L.I. Levine, Judaism and Hellenism. Conflict or Confluence, Seattle / London 1998. 19 D. Boyarin, Dying for God. Martyrdom and the Making of Christianity and Judaism, Stanford 1999. Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie A. Francke Verlag Tübingen und Basel Eve-Marie Becker Schreiben und Verstehen Paulinische Briefhermeneutik im Zweiten Korintherbrief Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 4, 2002, XII, 319 Seiten, 48,-/ SFr 79,30 ISBN 3-7720-3154-4 Im 2. Korintherbrief äußert sich Paulus am umfassendsten zum Thema “Kommunikation des Apostels mit einer Gemeinde”. In Briefform entwirft er eine eigene briefhermeneutische Konzeption. Er wählt dabei eine metakommunikative Sprachebene. Dies führt zu Fragen, die schon die antiken Autoren kannten und die heute Exegeten und Sprachwie Literaturwissenschaftler bewegen: Überlegungen zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, zur Briefproduktion und -rezeption und zu einer Brieftypologie. Die Studie untersucht weiterhin mit Hilfe von Philologie, Papyrologie und Sprach- und Literaturwissenschaften die allgemein-antiken Produktions- und Rezeptionsbedingungen des 2. Korintherbriefes. Sie entwickelt ein eigenständiges literarhistorisches Modell, das den 2. Korintherbrief als eine nachträgliche Brief-Sammlung erklärt, die aus ursprünglich vier bis fünf Einzelbriefen bestand. Jörn-Michael Schröder Das eschatologische Israel im Johannesevangelium Eine Untersuchung der johanneischen Israel-Konzeption in Joh 2-4 und Joh 6 Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 3, 2002, XVI, 382 Seiten, 58,-/ SFr 95,80 ISBN 3-7720-3153-6 Welche Funktion hat die jüdisch-alttestamentliche Ursprungstradition für die Selbstdefinition des Christentums? Eine Bestimmung der impliziten Lesergemeinde als “eschatologisches Israel” ist die Anwort, die Jörn-Michael Schröders Studie für das Johannesevangelium aufzeigt. Joh 2-4 und Joh 6 werden dabei als metaphorischer Entwurf der johanneischen Israel-Konzeption entfaltet. Daraus ergeben sich neue Perspektiven sowohl für die johanneische Selbstwahrnehmung des Christentums in Bezug auf die jüdisch-alttestamentliche Tradition als auch für die kontrovers diskutierte Rolle der “Juden” im Johannesevangelium. Die johanneische Leserlenkung und Strategie wird dabei durch Erwägungen zur historischen Kontextualisierung seiner Israel-Konzeption deutlich profiliert. In einem Ausblick wird der Ertrag der Untersuchung für das gegenwärtige jüdisch-christliche Gespräch festgehalten. 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 68 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 69 Paulinische Kreuzes-Theologie als Crux der Religionspädagogik Paulinische Theologie ist, - gemessen an ihrer christentumsgeschichtlichen Bedeutung - , in der Religionspädagogik de facto »beträchtlich unterrepräsentiert«, 1 - das gilt, selbst wenn Paulus in Lehrplänen und Schulbüchern einen unbestreitbaren Platz einnimmt. 2 Wenn das Thema »Paulus« überhaupt begegnet, dann häufig auf biographische Aspekte verkürzt; 3 stellvertretend für viele andere Materialien sei hier auf »Stationen 9: Paulus - Apostel der Völker« 4 verwiesen mit den entsprechenden Kapiteln: »Wer war Paulus? «, »Vom Verfolger zum Christusnachfolger«, »Stationen und Stützpunkte« und »Gefangener Jesu Christi«. So erscheint »Paulus im Religionsunterricht vernachlässigt«, 5 seine Theologie ist eine Crux der Religionspädagogik, sie kommt kaum vor, nirgends - durch alle Schulstufen hin - werden die Paulusbriefe zum Thema erhoben. 6 Das hat sich auch nach der Überwindung eines oft problematischen problemorientierten Religionsunterrichts nicht sonderlich verändert, wo Bibeltexte oft verdrängt oder ahistorisch und unvermittelt zur Lösung gegenwärtiger Probleme herangezogen wurden (wozu paulinische Briefe ja ursprünglich in der Tat dienten). Im Zentrum der Religionspädagogik stehen nach wie vor Person und Botschaft Jesu und damit die Dominanz der Evangelien. Ob Paulus nun für die Religionspädagogik zu sehr im Kontrast zu Jesus steht, zu »veraltet« ist, zu »dogmatisch« oder »ganz einfach zu schwierig«, 7 - es kommt jedenfalls darauf an, neue Zugänge zu finden und zu wagen, wenn das paulinische Kreuz nicht weiter Crux der Religionspädagogik bleiben soll! Die Symboldidaktik in ihrer neugefassten, semiotisch, massenmedial und popkulturell erweiterten Form 8 könnte dazu einen hilfreichen Beitrag leisten, wie er hier gewagt werden soll. Religion - Kino - Mythos Das Medium Film darf als die Kunstform des 20. Jahrhunderts gelten. Zugleich wird Medienkompetenz im 21. Jahrhundert wahrscheinlich das Problem Alphabetismus ablösen (Peter Weibel). In einer zunehmend medial bestimmten Lebenswirklichkeit verlagert sich auch die religiöse Dimension in Kino, Clips, 9 Fernsehen, 10 Comics 11 und Cyberwelt. Theologisch und religionspädagogisch wurden besonders in den vergangenen 10 Jahren religiöse Elemente in Kino und populärem Film vielfältig entdeckt. 12 Kino als Ersatzkirche läßt Erlösung durch den dreiteiligen »Standardmythos« 13 miterleben: Verlust - Kampf - Erlösung. Die Grundstruktur der meisten Kino-Erzählungen bildet ein dreiaktiges Drama, an dessen Anfang Verlust, Entzweiung, Schuld oder Abschied steht, gefolgt von einer Phase der Bewältigung, der Konflikte und Prüfungen, in deren Zentrum zumeist ein stellvertretendes Opfer steht, das endlich die Erlösung, die Versöhnung oder Wiedergewinnung der Unschuld mit sich bringt. 14 »Religiös gesprochen ist es der Dreischritt von Schuld, Sühne und Erlösung, den wir als Betrachtende miterleben und in den wir durch das Betrachten des Films mit hineingezogen und miterlöst werden.« 15 Hermeneutik und Vermittlung Uwe Böhm / Gerd Buschmann The »Matrix« und Röm 6 - Christliche Taufvorstellung in popkulturellem Science-Fiction-Ambiente* »Ob Paulus nun für die Religionspädagogik zu sehr im Kontrast zu Jesus steht, zu ›veraltet‹ ist, zu ›dogmatisch‹ oder ›ganz einfach zu schwierig‹, - es kommt jedenfalls darauf an, neue Zugänge zu finden und zu wagen, wenn das paulinische Kreuz nicht weiter Crux der Religionspädagogik bleiben soll! « 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 69 70 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Hermeneutik und Vermittlung Warum funktionieren ausgerechnet mythische Textformen (der Antike) in postmodernen 16 Zeiten? »Eine Welt, die keine allgemeinen Fixpunkte und keine transzendental legitimierten Gewissheiten hat, weil die Individuen ihren Alltag und ihre Lebenslauf selber gestalten müssen, braucht in besonderem Maße kommunikative Formen, die zu intersubjektiver Gewissheit verhelfen. Diese Gewissheit kann nur in der Spannung von fassbarem Alltag und eigenem Lebenslauf ... sowie tradierten Denkgewohnheiten ... entstehen.« 17 D.h. insbesondere postmoderne Individualisierung und Fragmentierung machen neue Formen eines gemeinsamen symbolischen Bezugsrahmens notwendig. Der Sciencefiction-Film »Matrix« Nach »Nirvana« (Gabriele Salvatore, Italien / Frankreich / England 1997) und der »Truman Show« (Peter Weir, USA 1998) greift auch der Oskar-prämierte Film »Matrix« (Larry und Andy Wachowski, USA 1999) 18 die Erfahrungsdifferenz von Wirklichkeit und Fiktion auf. 19 »Hattest Du schon einmal einen Traum, Neo, von dem Du glaubtest, er sei real? Und was wäre, wenn Du aus diesem Traum nicht mehr aufwachst? Woher wüsstest Du, was Traum ist und was Realität? « Der ausgewählte Film ist synkretistisch angefüllt mit Symbolen und Anspielungen der Religions- und Theologiegeschichte. 20 »In dem Herausarbeiten von Anspielungen und Zitaten nicht nur aus dem jüdisch-christlichen Symbolbereich (vgl. Anlage 1) besteht die Chance, dass die Schüler quasi durch einen Verfremdungseffekt zu einem vertieften Verständnis der jeweiligen religiösen Inhalte gelangen können.« 21 Da das Sujet die Computerwelt ist, entspricht der Film der Weltanschauung und der Alltagswelt sowie den Interessenlagen Jugendlicher. Er kann in beinahe jeder Kreisbildstelle kostenlos ausgeliehen werden und ist in Videotheken auch auf DVD erhältlich. Der Inhalt des Films: »Die Erde ist zerstört, und der Rohstoff Mensch liegt embryonal eingebettet in künstlichen Fruchtblasen, durch Computerstöpsel wird ihnen eine Welt vorgegaukelt, die Ergebnis des Computerprogrammes Matrix ist. Die erlebte Wirklichkeit findet also ausschließlich in den Köpfen statt, in einer verinnerlichten platonischen Höhle.« 22 In diesem Kontext entwickelt sich die Initiationsgeschichte des Programmierers Thomas Anderson ( = Neo) zum Erlöser: »Der Computerexperte Neo erfährt durch Morpheus, einem Rebellenanführer, dass die Welt nur eine Illusion in den computermanipulierten Gehirnen der Menschen ist, die ›Matrix‹ genannt wird. In Wirklichkeit werden die Menschen von Maschinen mit künstlicher Intelligenz als Batterien gehalten. Morpheus, Trinity und die Crew des Rebellenschiffes Nebukadnezar befreien Neo aus der Matrix, weil sie ihn für den Auserwählten halten, der die Welt retten soll. Neo nimmt den Kampf gegen die Wächter der Matrix, die sogenannten Agenten, auf und erweist sich letztendlich als der Erlöser, auf den alle gewartet haben.« 23 »Matrix« als »Sciencefictionfilm über Wirklichkeitsverständnis, Glauben und einen Erlöser« ist »eine Zukunftsvision als Brennspiegel von Gegenwartsfragen«, 24 ist Spiegelung philosophischer Trends der Gegenwart (Gnosis, 25 s.u. / Konstruktivismus 26 ) und Ausdruck von »Religion im Alltag«. 27 Hier warten aktuelle Ängste angesichts zunehmender Vermischung realer und virtueller Welten auf mediale Erlösung: »Im Zeichen des neuen Jahrtausends hat sich im Kino die Sorge ausgebreitet, angesichts einer von rasanten technischen Fortschritten geprägten Welt zunehmend die Kontrolle über die eigene Wahrnehmung und damit ihre Verlässlichkeit als Orientierungspunkt zu verlieren.«. 28 »Zukunftsszenarien im Kino dienen ... dazu, gesellschaftliche Entwicklungen durch überspitzte Projektion kritisch zu hinterfragen und können in dieser Funktion die Rezeption und Diskussion dieser Entwicklungen stark beeinflussen.« 29 In »Matrix« wird der Zuschauerschaft in Anknüpfung an Platos Höhlengleichnis 30 suggeriert, »dass die Menschen eigentlich in einer virtuellen Welt leben, die von intelligenten Maschinen beherrscht wird. Der auserwählte messianische Held ist Neo (Anagramm von »one«), der mit einer Gruppe von Hackern nach atemberaubenden Kämpfen, der Befreiung aus fast aussichtslosen Situationen, dem Verrat von Cypher (»Null«) das Ende der Matrix einläutet«, 31 die als computergenerierte Scheinwelt nicht länger die Menschheit versklaven soll. Neben der Mitspielerin Trinity (Betonung der Weiblichkeit in der Trinität) ist Morpheus (altgriechischer Gott 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 70 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 71 Uwe Böhm / Gerd Buschmann The »Matrix« und Röm 6 der Träume, Sohn des Hypnos) 32 als dem Kopf der wirklich befreiten Menschen in der geheimen Stadt Zion (! ) bedeutsam. Er »wird im Film als eine Figur gestaltet, die Züge Johannes des Täufers, aber auch eines Gott-Vaters trägt: Er erkennt in Neo den prophezeiten Auserwählten und bereitet ihn auf seine zukünftige Erlösungstat vor«. 33 Damit Neo, der Eine, der Neue, der Erlöser und Befreier aus der virtuellen Welt, in die Matrix eindringen kann, muss er verwandelt werden. Hierzu leitet Morpheus den Neuen in tibetanisch-kämpfender Manier an. Filmszene und biblischer Befund - Die paulinische Vorstellung von der Taufe, antike Mysterienkulte und die Wiedergeburtsszene in »Matrix« Die Filmszene: Neos Einweihung / »Taufe« Die hier näher zu behandelnden Filmszenen 6 (Minute 24-28) und 7 (Minute 28-33) können als Tauf-, Wiedergeburts-, Initiations- und Einweihungs- oder Erkenntnis (Gnosis-) 34 und Entscheidungs-Szene überschrieben werden. Dabei fällt auf: »In Matrix spielt sich die ›Initiation‹ der Hauptfigur in die Geheimnisse der Matrix in einem Raum ab, der bis auf einen Fernseher leer ist: Selbst die Erkenntnis der Wahrheit wird medial vermittelt, der Fernseher ist weit mehr als das ›Schaufenster zur Welt‹: Seine Bilder bestimmen die Rezeption von Wirklichkeit.« 35 Der Inhalt: »In einem alten Haus trifft Neo auf Morpheus, der ihm erklärt, die Matrix sei eine illusorische, die Menschen gefangen haltende Welt. Er stellt Neo vor die Wahl, die Matrix und ihre Hintergründe kennen zu lernen oder unwissend zu bleiben. ›Schluckst du die blaue Kapsel, ist alles aus. Du wachst in deinem Bett auf und glaubst, woran du glauben willst. Schluckst du die rote Kapsel, bleibst du im Wunderland und ich führe dich in die tiefsten Tiefen des Kaninchenbaus. - Bedenke, alles was ich dir anbiete ist die Wahrheit, mehr nicht.‹ Neo nimmt die rote Kapsel. Neo wird an ein Suchprogramm angekoppelt, das den Standort seines betäubten und in ein Energiekraftwerk eingegliederten Körpers ermittelt. Er findet sich außerhalb der Matrix in der ›realen‹ Welt wieder, in der Maschinen mit künstlicher Intelligenz sich Menschen als Energiespender halten. Die Maschinen nutzen die virtuelle Welt der Matrix, um den menschlichen Gehirnen ein zivilisatorisches Leben vorzugaukeln und sie so ruhig zu stellen. Aus dem künstlichen Schlaf Uwe Böhm Dr. paed., Jahrgang 1963, Lehramtsstudium (Mathematik, Musik, Ev. Religionslehre), Lehrbeauftragter an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Promotion über »Ökumenische Didaktik«, Referent für Schulentwicklung und RU beim Ev. Oberkirchenrat in Stuttgart, PTZ Haus Birkach. Weitere Informationen im Internet unter: http: / / www.ph-ludwigsburg.de/ insphiltheo/ hpg_evth/ boehm/ boehm.htm Gerd Buschmann Dr. theol., Jahrgang 1958, Studium der Ev. Theologie, NT-Promotion über »Martyrium Polycarpi«, 1987-1996 Berufsschulpfarrer, seit 1996 Akad. Rat bzw. Oberrat am Institut für Philosophie und Theologie der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg/ Württ. Weitere Informationen im Internet unter: http: / / www.ph-ludwigsburg.de/ insphiltheo/ hpg_evth/ buschmann/ buschmann.htm 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 71 72 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Hermeneutik und Vermittlung geweckt und also nutzlos für die Maschinen, wird Neos Körper abgestoßen. Morpheus’ Piratenboot (Nebukadnezar) birgt ihn aus dem Abwasser.« 36 Neo entscheidet sich also für die Metamorphose, die Umgestaltung und Einbettung in die Nährlösung, die ihn aus der Matrix herausführen wird, ihn in ein Neues Sein verwandeln wird durch ein Tauf- und Tauchbad, ein Bad der Wiedergeburt durch eine Art Geburtskanal hindurch, in dem das »Einbohren des Neuen Seins« geschieht und an dessen Ende Morpheus zu Neo sagen kann: »Willkommen in der wirklichen Welt«. Die gesamte Szene weist deutliche Nähen zu religiösen Initiationsriten, Vorstellungen von Wieder- oder Neu(Neo-! )geburt und christlicher Taufvorstellung auf, - verbunden mit der für den Täufling bzw. Mysten notwendigen Entscheidungssituation: Neo, allein mit (Gott) Morpheus, wird vor die Entscheidung gestellt, die blaue oder die rote Kapsel einzunehmen; aber nur die rote Kapsel verheißt das neue Sein, den Ausstieg aus der versklavenden Matrix. Während der gesamten Szene blitzt und donnert es, Zeichen von Theophanie 37 (vgl. z.B. Ex 19,16ff.). Nachdem sich Neo für die rote Kapsel (der Erkenntnis) entschieden hat, spricht Morpheus: »Folge mir! « Nach dem Betreten eines anderen Raums wird Neo »angekoppelt« an die Verwandlungsgeräte. In Bildern, die an eine Operation, an ein apokalyptisches Tauch- und Taufbad und an einen überdimensionalen Geburtskanal erinnern, wird der verwandelte Neo schließlich aus dem nackten Ganzkörpertauchbad senkrecht empor ins Licht gehoben: »Willkommen in der wirklichen Welt! « »Wir haben es geschafft, Trinity! « »Bin ich tot? « fragt Neo. »Weit davon entfernt! «, antwortet Morpheus. »Warum tun meine Augen so weh? « (Neo) »Weil Du sie noch nie benutzt hast.« (Morpheus). Paulinische Taufvorstellung Hier begegnet vielfältige Symbolik wie sie nicht nur aus der biblischen Sündenfallerzählung (Wahl zwischen Erkenntnis und Unwissenheit / rote Pille - roter Apfel / Pille schlucken - Apfel essen), sondern auch aus frühchristlicher Tauftradition vertraut ist, vgl. z.B. Röm 6,3f.: »Oder wisst ihr nicht, dass wir alle, die wir auf Christus Jesus getauft wurden, auf seinen Tod getauft worden sind? Wir sind also durch die Taufe auf seinen Tod mit ihm begraben worden, damit, wie Christus durch die Herrlichkeit des Vaters von den Toten auferweckt worden ist, so auch wir in einem neuen Leben wandeln«. Das griechische Verb für »taufen« ist das Intensivum baptizein, das »eintauchen, untertauchen, versinken« bedeutet. Insofern ist Taufe reinigendes und veränderndes Bad. Taufe bedeutet: • Absterben des alten Menschen (Röm 6,3f.11) • Verwandlung und neues Leben (Röm 6,4; Gal 3,26-28; 1Kor 6,11) • Entscheidung (für Jesus Christus) (Gal 3,27) • Bad der Wiedergeburt • Verherrlichung und Auferweckung (Röm 6,4; Kol 2,12) • Befreiung von versklavenden Mächten • Erkenntnis • Leben für Gott (und das Gute) (1Kor 10,1-13). In Röm 6 geht es nicht eigentlich um die Entfaltung paulinischer Tauftheologie; »Paulus exemplifiziert in Röm 6 nur an Hand der Taufe ... ,was für ihn christliche Existenz heißt«. 38 Genau darum geht es auch in der »Taufe« des Thomas Anderson: er gelangt als Neo zu einer neuen Existenz, die sich gebunden weiß an den Kampf gegen die Matrix. Wenn für Paulus Christus das Ende des Gesetzes / der Tora bedeutet (Röm 10,4) und wenn mit Christus die Zeit der Tora vorüber ist (Gal 3,23ff.), dann ist mit Neos Taufe die Zeit der versklavenden Matrix zu Ende. Taufe bedeutet neues Leben, mithin kann das Leben nicht der Sünde bzw. der Matrix überlassen werden. In der christlichen Taufe geht es (nach Röm 6) immer um Mitgekreuzigtsein, Mitgestorbensein, Mitbegrabensein (mit Christus) und damit um den Anfang einer neuen Existenz, um Auferstehung (Röm 6,8; Phil 3,10f.). Die Lebenden leben nicht mehr für sich selbst (2Kor 5,14f.). Antike Mysterienreligionen Das Christentum ist nach Auffassung der sog. religionsgeschichtlichen Schule zu Beginn unseres Jahrhunderts eine von anderen Religionen stark beeinflusste synkretistische Religion. 39 Insofern bedarf es zum einen keiner besonderen Empörung über einen Film wie »Matrix« aus christlicher Perspektive. Zum anderen ist speziell die christliche Taufe und insbesondere Röm 6 40 schon früh als religionsgeschichtlich durch die antiken Mysterienreligionen beeinflusst gesehen 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 72 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 73 Uwe Böhm / Gerd Buschmann The »Matrix« und Röm 6 worden. Das ganze Leben des Christen erweist sich durch die Taufe als Mysterium. Antike Mysterientexte und Röm 6 stimmen in der Vorstellung einer Identifikation des Mysten mit dem Schicksal der Gottheit grundsätzlich überein, 41 der Myste wird vergottet. Die Mysterien waren Geheimkulte, die vom 7. Jahrhundert v.Chr. bis ins 3. Jahrhundert n.Chr. praktiziert wurden. Das Heil besteht in der Befreiung von der Herrschaft des Schicksals und der kosmischen Mächte und des Todes sowie in der Fähigkeit, den Hades ohne Vernichtung zu durchschreiten. Der Myste nimmt Teil am zunächst leidvollen und dann doch siegreichen Schicksal des Gottes, das auf den Mysten übertragen wird und ihn endlich über Schicksal und Tod triumphieren lässt. Auch die Relevanz der Gnosis für das Neue Testament ist früh gesehen worden. Beide für das Neue Testament relevanten religionsgeschichtlichen Phänomene (Mysterien 42 und Gnosis) sind auch für »Matrix« von Bedeutung; denn Gnosis ist »ein Produkt des skeptischen spätantiken Zeitgeistes, der seinen Ausdruck in einem radikalen Dualismus, der Verwerfung des Irdischen und Sichtbaren sowie einer großen Sehnsucht nach jenseitiger Erlösung fand«. 43 Der Sinn der Mysterienreligionen liegt darin, dass der Myste das Ende des Lebens und den von Zeus geschenkten neuen Anfang kennt. Die Mysten erhalten durch ihre Einweihung / Initiation, deren Kult in abgeschlossenen, von Nichteingeweihten nicht zugänglichen Räumen vollzogen wird und in denen der Novize sich unter strikter Geheimhaltung bestimmter Reinigungsriten unterzieht, Anteil am Geschick der Gottheit und überwinden so Schicksal und Tod. Mit den Mysterienreligionen 44 haben christliche Taufe und der Film »Matrix« folgendes gemein: • (geheimer) Initiationsritus • vorausgehende Belehrung des Mysten • Entscheidung des Einzelnen • Verheißung der Zugehörigkeit zur Gottheit / jenseitigen Welt • Symbolik von Tod und Wiedergeburt; der Initiand teilt den Tod der Gottheit im eigenen Sterben; Wiedergeburt als Erneuerung irdischen Lebens • Reinigungszeremonien • Überwindung von Todesfurcht • Gewissheit: »Ich bin dem Unheil entflohen, habe Besseres gefunden«. • Die Initianden müssen sich harten Prüfungen unterziehen. Unabhängig von der umstrittenen Frage, ob die christliche Taufe einen religionsgeschichtlichen Zusammenhang mit den antiken Mysterienreligionen aufweist oder nicht, 45 Waschungen und Wasserriten aller Art gehören zu den Grundphänomenen der Religionsgeschichte und Wasser ist ein elementares Symbol auch im popkulturellen Kontext von »Matrix«; Wasser kann Reinheit und Erneuerung symbolisieren, Fruchtbarkeit und Leben, aber auch Chaos, Gericht und Tod (vgl. Gen 7,11). Die christliche Taufe steht von Anbeginn im Zusammenhang der prophetisch-eschatologischen Umkehr (vgl. Johannes d. Täufer) und der Aufnahme in die endzeitliche Gemeinschaft (der Heiligen). Der Täufling wird der alten Existenz entnommen und erfährt eine Geburt zu neuem göttlichen Leben. »Dass die Taufe Herrschaftswechsel sei, ist der Skopus der Taufinterpretation des Paulus, wie er sie in Röm 6,1-14 entfaltet«, 46 indem er sie in den Kontext der Ethik stellt. Taufe bedeutet Freiheit von der Sündenmacht - und damit ist der Christ zum Gehorsam gegenüber dem Herrn Jesus Christus befreit. Das alles gilt auch für die »Taufszene« in »Matrix«. Wie der antike Myste (ein)geweiht wird und mit anderen »Geweihten« eine heilige Gemeinschaft bildet oder der christliche Täufling mit den anderen Christen den Auszug / Exodus in eine neue Existenz erlebt und ein messianisches Gottesvolk bildet, so erlebt auch Neo die eigentliche Weihe als Fahrt in die Welt des Todes und als Aufstieg zu den Göttern des Lichts als Wiedergeburt zu neuem Leben. Zu vergleichen ist nicht nur Röm 6,1-14, sondern auch ein Mysterientext aus dem Isis-Kult: Apu- »Wenn für Paulus Christus das Ende des Gesetzes / der Tora bedeutet (Röm 10,4) und wenn mit Christus die Zeit der Tora vorüber ist (Gal 3,23ff.), dann ist mit Neos Taufe die Zeit der versklavenden Matrix zu Ende.« 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 73 74 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Hermeneutik und Vermittlung leius, metamorphoses XI 23,1b-24,6a, lässt seinen Romanhelden Lucius seine Einweihung in den Isis-Kult in Korinth schildern. Dabei erlebt Lucius eine rituell festgelegte Reise durch die untere und die obere Welt, die einige Parallelen zu Neos Erlebnissen aufweist. 47 Erschließung des Symbolischen im Religionsunterricht Die jüngere Symboldidaktik öffnet sich auch den massenmedialen Symbolen. Massenwirksame Filme thematisieren oftmals drängende gesellschaftliche Lebensprobleme. Gleichwohl ist die Einschränkung zu beachten: »Was populärkulturelle Inszenierungen zu dem macht, was sie sind: dass sie funktionieren, dass sie hier und jetzt das Lebensgefühl der Leute erreichen, ist im schulischen Unterricht nicht zu schaffen.« 48 Es kann hier nur um die Begleitung der Rezeption von Popkultur gehen: »Weil immer mehr SchülerInnen dem kirchlichen Lebensvollzug der christlichen Religion fremd gegenüberstehen, müssen im symboldidaktischen Unterricht zur populären Kultur beide pädagogischen Haltungen gleichberechtigt vorkommen: Das Entdecken und das Zeigen. Wer beispielsweise christologische dogmatische Entscheidungen und die neutestamentliche Passionsgeschichte nicht kennt, wird den Erlösermythos im Kinofilm Matrix (1999) nicht entdecken (er / sie wird übrigens in diesem Film auch die Erzählvorlage des Platon’schen Höhlengleichnisses nicht entdecken, wenn kein Schimmer aufleuchtet, worum es sich da handelt). Deshalb ist symboldidaktischer Unterricht zur populären Kultur verhältnismäßig aufwendig: Es muss in der Regel immer auch gezeigt werden, was entdeckt werden soll; und beides muss in einer guten Gestalt miteinander vermittelt werden, so dass der Unterricht nicht langweilig wird (wieso - das hatten wir doch gestern schon! ).« 49 Die Um- und Verwandlung Neos weist Entsprechungen zur paulinischen Vorstellung von der Taufe auf, wie sie sich in Röm 6 darstellt. Durch diese Szene (ca. 28. - 34. Film-Minute) erfahren die Jugendlichen in postmodernem Gewand das Neuwerden durch Christus. Es handelt sich hierbei um eine ästhetische Wahrnehmung und Erschließung symbolischer Präsentation. Sym- Szenen aus dem Film »Matrix« 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 74 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 75 Uwe Böhm / Gerd Buschmann The »Matrix« und Röm 6 bole haben wirklichkeitserschließende Wirkung. Peter Biehl unterscheidet vor allem in seinem jüngsten phänomenologisch-ästhetischen Ansatz drei Symbolebenen: 50 1. Lebensweltliche Symbole: Biehl spricht von Phänomenen. 2. Religiöse Symbole: Hier handelt es sich nach Biehl um Symbole, die Sehnsucht zum Ausdruck bringen, die durch nichts Endliches zu stillen ist. 3. Christliche Symbole: Für Biehl sind dies eher Symbolkomplexe, da verschiedene Symbole zu Symbolhandlungen und Ritualen verschmelzen. Die Symboldidaktik hat nach Biehl »die Aufgabe, die lebensgeschichtliche Verankerung eines Symbols wahrzunehmen, es in seiner religiösen Dimension zu erschließen und das in seinem anthropologischen wie religiösen Sinn erschlossene Symbol zu deuten«. 51 Diesen didaktischen Weg geht die religionspädagogische Bearbeitung des Films »Matrix«. Taufe als Symbolhandlung tritt rituell in unterschiedlichen Religionen auf. Zudem ist das Phänomen der Verwandlung die Voraussetzung für die notwendige Aufgabe eines Auserwählten. Somit können die Schülerinnen und Schüler aus eigener Wahrnehmung Beispiele von Verwandlungs- und Veränderungsprozessen für eine bestimmte Aufgabenbewältigung entdecken. Durch diesen didaktischen Ansatz finden im Unterricht Gesprächsanlässe statt, die die Wahrnehmung fördern und die religiös-christliche Spurensuche inszenieren. War für Biehl der didaktische Leitsatz »Symbole geben zu lernen« in seinen früheren Büchern zur Symboldidaktik grundlegend, so vollzieht er in der Auseinandersetzung mit der Semiotik (Umberto Eco) einen Paradigmawechsel: »Symbolische Kommunikation gibt zu lernen«. 52 Die Rezipienten erschließen die Symbole im wechselseitigen kommunikativen Prozess und bearbeiten durch subjektive Wahrnehmung das Dargebotene. Die Frage nach der Wahrheit wird durch die »Wahrnehmung der Spuren Gottes« 53 nicht suspendiert. Im Gegenteil, durch die Kommunikation über die symbolische Handlung nehmen die Beteiligten das Unsichtbare im Sichtbaren, das Unfassbare im Fassbaren wahr. Die Schülerinnen und Schüler sowie die Lehrerinnen und Lehrer nehmen am Prozess des »Wahrnehmens, Deutens und Verstehens, Handelns und Gestaltens« 54 teil. Für die unterrichtliche Konkretion der Bearbeitung der Taufszene des Films »Matrix« ergeben sich somit vier Ziele in Anlehnung an die neuere Symboldidaktik nach Biehl: a) Wahrnehmen einzelner Phänomene, Symbole und Symbol-Ebenen im Film, b) Kommunikation über die subjektive Wahrnehmung, c) Entdecken der religiösen Dimension, d) Herausarbeiten der biblisch-christlichen Dimension. »Wichtiger als die Actionszenen war den Schülern und Schülerinnen die Haltung und das Lebensgefühl, das der Film vermittelt ... ›Sich mit der Welt nicht abfinden, darüber hinaus fragen‹. Dass jemand zur Wahrheit vordringen will, dem Schein nicht traut ... scheint das Lebensgefühl der Jugendlichen zu treffen.« 55 Der Film formuliert Fragen und Ängste um die Wirklichkeit in einem virtuellen Computerkid-Zeitalter, er fragt nach Selbstverwirklichung und Glauben an die Wahrheit und den (Mit-)Menschen und formuliert den Wunsch nach Erlösung und Eindeutigkeit. Der Film bietet vielfältige didaktische Perspektiven, religionspädagogisch inhaltlich z.B.: Problematisierung des Wirklichkeitsverständnisses, Sehnsucht als Wegweiser und Hoffnung, die Menschheit - bedrohend und bedroht, 56 Wunsch nach Authentizität und Wahrheit, Liebe als Ermöglichung von Erlösung, Humanum contra Technologie etc. Hier soll nicht primär auf die methodische (Filmanalyse, Medienkompetenz etc.) oder die kommunikative Kompetenz (authentische und offene Kommunikation) abgeho- »Der Film formuliert Fragen und Ängste um die Wirklichkeit in einem virtuellen Computerkid- Zeitalter, er fragt nach Selbstverwirklichung und Glauben an die Wahrheit und den (Mit-)Menschen und formuliert den Wunsch nach Erlösung und Eindeutigkeit.« 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 75 76 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Hermeneutik und Vermittlung ben werden als vielmehr auf die theologische Kompetenz, die aber immer noch vielfältige Aspekte (Lernziele) umfassen kann: • Populäre Filme können thematisieren, was Menschen »unbedingt angeht« (Paul Tillich). • Symbol und Mythos begegnen in Religion und Kinofilm. • In »Matrix« begegnen vielfältig religiöse und spezifisch jüdisch-christliche Anspielungen; einzelne Filmszenen können analysiert werden, u.a. »Verräterszene / Cypher«, »Orakelszene«, Schluss- und Kuss-Szene: Auferweckung Neos durch Trinity. • Der Erlösungsmythos von »Matrix« weist Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur Erlösungsvorstellung in Gnosis einerseits und Christentum andererseits auf, insbesondere kann die Erlösergestalt »Neo« mit Jesus Christus als Erlöser verglichen werden. Neben den vielfältigen Parallelen zwischen Jesus und Neo (vgl. Anlage 1) kann hinsichtlich der Erlösung in Christentum, Gnosis und »Matrix« z.B. aufgelistet werden: Wissen die Menschen um ihre Unfreiheit? Wollen Sie erlöst werden? Wovon werden sie erlöst? Und was verändert sich dadurch? In unserem Beitrag steht die theologische Kompetenz im Mittelpunkt; mit Hilfe des Films soll spezifisch und exemplarisch (Taufe) ein für Jugendliche relevanter Bezug zwischen Bibeltext, antiker Religiosität und heutiger Zeit hergestellt werden. Hinweis! : Das vollständige Unterrichtsmaterial sowie die Bilder finden Sie als Download im Internet unter: www.znt-online.de. l Anmerkungen * Der Tochter Anna Buschmann, geb. 11.10.2000, gewidmet zur Taufe. 1 E. Quinten, Paulus für die Schule? Die traditionellen Schwierigkeiten des Religionsunterrichts mit Paulus und ein Vorschlag zur Lösung, in: KatBl 103 (1978), 753-763. 2 Vgl. Chr. Machalet, Paulus im Schulbuch. Eine Untersuchung zum Thema Paulus in Religionsbüchern der Sekundarstufe I, in: EvErz 37(1985), 503-510. 3 Vgl. H. Fischer, Stundenblätter Paulus. Sekundarstufe I, Stuttgart / Dresden 1993, 6f. 4 R. Kühne / G. Neumüller / U. Pasedach, Paulus - Apostel der Völker, Stationen 9, Materialien für den Religionsunterricht in der Sekundarstufe I, Speyer (Ev. Presseverlag) 2 1995. 5 J. Heinrich / B. Rech, Paulus im Religionsunterricht - vernachlässigt? , in: KatBl 103 (1978), 747-752. 6 A.a.O., 747. 7 Quinten, Paulus für die Schule? , 753. 8 Vgl. dazu: G. Buschmann, Rezension: Peter Biehl, Festsymbole. Zum Beispiel: Ostern. Kreative Wahrnehmung als Ort der Symboldidaktik, Neukirchen-Vluyn 1999, in: PrakTh 35 (2000), 306-308. 9 Vgl. A. Mertin, Videoclips im Religionsunterricht. Eine praktische Anleitung zur Arbeit mit Musikvideos, Göttingen 1999; U. Böhm / G. Buschmann, Popmusik - Religion - Unterricht. Modelle und Materialien zur Didaktik von Popularkultur (Symbol - Mythos - Medien 5), Münster 2000; M. Everding, Land unter! ? Populäre Musik und Religionsunterricht, Münster 2000. 10 Vgl. G. Thomas, Medien - Ritual - Religion. Zur religiösen Funktion des Fernsehens, Frankfurt / M. 1998; M.L. Pirner, Fernsehmythen und religiöse Bildung. Überlegungen zur einer lebensweltorientierten und medienpädagogisch sensibilisierten Religionspädagogik am Beispiel fiktionaler Fernsehunterhaltung, Habilitationsschrift Bamberg 1999. 11 Vgl. F.Th. Brinkmann, Comics und Religion: das Medium der »Neunten Kunst« in der gegenwärtigen Deutungskultur (Praktische Theologie heute 44), Stuttgart 1999. 12 Vgl. u.a. I. Kirsner, Erlösung im Film. Praktisch-theologische Analysen und Interpretationen (Praktische Theologie heute 26), Stuttgart 1996; I. Kirsner, / M. Wermke (Hrsg.), Religion im Kino. Religionspädagogisches Arbeiten mit Filmen, Göttingen 2000; M. Ammon / E. Gottwald (Hrsg.), Kino und Kirche im Dialog, Göttingen 1996; P. Hasenberg (Hrsg.), Spuren des Religiösen im Film. Meilensteine aus 100 Jahren Filmgeschichte, Mainz / Köln 1995; M. Tiemann, Bibel im Film. Ein Handbuch für Religionsunterricht, Gemeindearbeit und Erwachsenenbildung, Stuttgart 1995; W. Roth / B. Thienhaus (Hrsg.), Film und Theologie. Diskussionen, Kontroversen, Analysen (epd-Texte 20), Frankfurt / M. 1989; G. Seeßlen, König der Juden oder König der Löwen. Religiöse Zitate und Muster im populären Film (EZW-Texte 134), Berlin 1996. 13 Vgl. E. Gottwald, Die widerständige Sehnsucht nach dem Mythos. Erlösermythen in der täglichen Unterhaltung, in: EvErz 44 (1992), 585-599; R. Sistermann, Symboldidaktik und gebrochener Mythos, in: EvErz 42 (1990), 321-341. 14 Vgl. G. Seeßlen, Das Kino und der Mythos, in: EvErz 44 (1992), 537-554. 15 I. Kirsner, Religion im Kino, in: M. Wermke (Hrsg.), Jugend & Kultur & Religion. Theologische und religionspädagogische Annäherungen an die Alltagskultur Jugendlicher (Schwerpunkte), Rehburg-Loccum 2000, 67-75, hier: 72. 16 Zur Postmoderne vgl. G. Buschmann, Postmoderne als Herausforderung. Christentum in der Erlebnis- und Optionsgesellschaft, in: DtPfrBl 101 (2001), 19-22. 17 B. Bachmair, Telemythen. Eine Aktualisierung mythischer Weltauslegung, in: G. Thomas (Hg.), Religiöse Funktionen des Fernsehens? Medien-, kultur- und religionswissenschaftliche Perspektiven, Wiesbaden 2000, 161-177, hier: 165. 18 Produktion: Warner Bros. Film GmbH, Tel.: 040/ 22650390, Joel Silver, Länge 136 Min., deutscher 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 76 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 77 Uwe Böhm / Gerd Buschmann The »Matrix« und Röm 6 Kino-Start 17.6.1999, FSK: Freigabe ab 16 Jahre, Hauptdarsteller: Neo - Keanu Reeves, Morpheus - Laurence Fishburne, Trinity - Carrie-Ann Moss, Agent Smith - Hugo Weaving, Cypher - Joe Pantoliano. / Filmbesprechungen u.a.: S. Fina, The Matrix, in: ZOOM 1999, Heft 6/ 7, 54; O. Rahayel, Matrix, in: filmdienst 52 (1999), 28f. 19 Vgl. Kirsner / Wermke (Hrsg.), Religion im Kino, 33. 20 Vgl. http: / / awesomehouse.com/ matrix/ parallels.html (Lesedatum: 29.12.2000). 21 B. Brinkop / W. Nitz, Erlösung aus der feindlichen Scheinwelt. Der Film »Matrix« als Beispiel für Religion in der populären Kultur, online-Beitrag: http: / / www.rpi-loccum.de/ matrix.html (Lesedatum: 29.12.2000). 22 Kirsner, Religion im Kino, in: Wermke, Jugend, 71f. 23 P. Burkhart, »... in die tiefsten Tiefen des Kaninchenbaus«. »Matrix« - ein Sciencefictionfilm über Wirklichkeitsverständnis, Glauben und einen Erlöser als Grundlage für ein Unterrichtsprojekt in der gymnasialen Oberstufe, in: rhs 43 (2000), 249. 24 Burkhart, Tiefen, 242-254, hier: 242. 25 »Kein geringerer als Peter Sloterdijk bezeichnete jüngst den Film MATRIX als ›den einzigen philosophisch relevanten Film dieses Kinojahrgangs‹«. F.G. Weyrich, Virtual theology? Medienkritik und die Frage nach Gott im Medium Film, in: Informationen für ReligionslehrerInnen im Bistum Limburg 2/ 2000, 21-25, hier: 24. 26 Vgl. I. Reuter, Matrix - oder über den Sinn einer an sich bedeutungslosen Frage, in: PrakTh 35 (2000), 263-274, der aber auch den Unterschied von »Matrix« zum Konstruktivismus benennt: » ... die Realität erscheint als Konstruktion, nicht aber als Konstruktion des agierenden Subjekts, sondern vielmehr als von außen hergestellte Fiktion, in der das manipulierte Subjekt zur Marionette fremder Interessen gerät.« (264). Zum Konstruktivismus in religionspädagogischer Perspektive vgl.: M.L. Pirner, Religion als medial konstruierte Wirklichkeit? Anmerkungen zum Verhältnis von Medienerfahrungen und religiöser Bildung aus einer konstruktivistischen Perspektive, in: EvErz 51 (1999), 280-288. 27 Vgl. H. Rupp, Religion im Alltag, in: GlLern 15(2000), 106-118, hier: 115. 28 M. Hollstein, Das Leben ein Computerspiel. Zukunftsvisionen im Kino, in: Medien praktisch 24 (2000), 23-26, hier: 23. 29 Hollstein, Leben, 26. 30 Vgl. Platon, resp. 514A-521B11, in: Werke in acht Bänden, Vierter Band: Politeia / Der Staat, hg. v. Gunther Eigler, Darmstadt 1990. 31 Vgl. Rupp, Religion, 115. »Cypher« (Null) ist in der Computerlogik das Gegenteil / der Gegenspieler zu »Neo« (One / Eins). 32 Aber auch »Orpheus« kann assoziiert werden: dieser berühmteste Künstler der griechischen Sagenwelt wollte kühn in die Unterwelt hinabsteigen, um Hades zur Rückgabe seiner Gattin zu bewegen. 33 Burkhart, Tiefen, 243. 34 Wie sehr die Gnosis als religions-hermeneutischer Schlüssel zum Verständnis postmoderner Popkultur herangezogen werden kann, darauf hat (in Anlehnung an Peter Sloterdijk) besonders hingewiesen: B. Schwarze, Die Religion der Rock- und Popmusik. Analysen und Interpretationen (Praktische Theologe heute 28), Stuttgart 1997. Hinsichtlich »Matrix« arbeiten besonders Brinkop / Nitz, Erlösung, hermeneutisch und religionspädagogisch mit dem Schlüssel »Gnosis«, unter Verwendung von H. Jonas, Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes, Frankfurt / Leipzig 1999, 56ff. 35 Hollstein, Leben, 24. »Das macht auch das ›Janus- Gesicht‹ des Films aus: Er warnt vor den Gefahren einer technischen Entwicklung in einem Medium, das ohne jene aber nicht auskommt.« (Weyrich, Virtual theology? , 24). 36 Burkhart, Tiefen, 250. 37 Zum Motiv der Theophanie in popkulturellem Kontext vgl. z.B. Michael Jackson’s »Earth Song«-Video, vgl. U. Böhm / G. Buschmann, Michael Jackson - der Erlöser als synthetisches Medienprodukt, in: dies., Popmusik - Religion - Unterricht, 113-125. 38 G. Eichholz, Die Theologie des Paulus im Umriss, Neukirchen-Vluyn 7 1991, 203. 39 Vgl. H. Gunkel, Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments, 1903, 35f. 40 Vgl. kritisch gegenüber Einfluß durch die Mysterienreligionen: G. Wagner, Das religionsgeschichtliche Problem von Röm 6,1-11 (AThANT 39), Zürich / Stuttgart 1962; A.J.M. Wedderburn, Baptism and Resurrection. Studies in Pauline Theology against its Graeco-Roman Background (WUNT 44), Tübingen 1987. 41 Vgl. U. Schnelle, Einführung in die neutestamentliche Exegese (UTB 1253), Göttingen 5 2000, 139. 42 Vgl. D. Zeller, Art. Mysterien / Mysterienreligionen, in: TRE 23, Berlin / New York 1994, 504-526. 43 Schnelle, Einführung, 140. 44 Vgl. G. Haufe, Die Mysterien, in: J. Leipoldt / W. Grundmann (Hrsg.), Umwelt des Urchristentums, Bd. 1: Darstellung des neutestamentlichen Zeitalters, (Ost-) Berlin 7 1985, 101-126; G. Haufe, Die Mysterien, in: J. Leipoldt / W. Grundmann (Hrsg.), Umwelt des Urchristentums, Bd. 2: Texte zum neutestamentlichen Zeitalter, (Ost-)Berlin 3 1972, 81-101. 45 Vgl. O. Michel, Der Brief an die Römer (KEK 4), Göttingen 5 1978, 202-204: »Exkurs - Die religionsgeschichtliche Fragestellung in Röm 6«. 46 J. Roloff, Neues Testament, Neukirchen-Vluyn 6 1995, 238. 47 Textabdruck in: Haufe, Mysterien, in: Leipoldt / Grundmann (Hrsg.), Umwelt , 94-96. 48 H.-M. Gutmann, Populäre Kultur im Religionsunterricht, in: P. Biehl / K. Wegenast, Religionspädagogik und Kultur. Beiträge zu einer religionspädagogischen Theorie kulturell vermittelter Praxis in Kirche und Gesellschaft, Neukirchen-Vluyn 2000, 179-200, hier: 197. 49 Gutmann, Kultur, 199. 50 Vgl. P. Biehl, Festsymbole, Neukirchen-Vluyn 1999, 95ff. 51 Biehl, Festsymbole, 99. 52 Biehl, Festsymbole, 15. 53 Biehl, Festsymbole, 75ff. 54 Biehl, Festsymbole, 105. 55 Burkhart, Tiefen, 243. 56 Vgl. Burkhart, Tiefen. 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 77 78 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Hermeneutik und Vermittlung Neues Testanent aktuell: Werner Zager, Ethik des Neuen Testaments heute Zum Thema: Klaus Wengst, Frieden stiften. Impulse des Neuen Testaments Daniel Krochmalnik, Gesetz und Moral im Judentum Renate Kirchhoff, Die Relevanz des historischen Jesus für eine Ethik des NT Kontroverse: Einleitung in die Kontroverse: Marlis Gielen Ulrich Luz versus Reinhard Feldmeier, Die Bergpredigt - politisches Programm oder lebensferne Utopie? Hermeneutik und Vermittling: Stefan Alkier, Fremdes verstehen wollen - Überlegungen auf dem Weg zu einer Ethik der Lektüre biblischer Schriften Buchreport: N.N. Vorschau auf Heft 11 (Themenheft »Ethik«) www.znt-online.de - Die ZNT im Internet Liebe Leserin, lieber Leser, seit April ist die neue Internetpräsenz der ZNT weltweit unter www.znt-online.de erreichbar. Erfreulicherweise konnten wir schon für den Monat Mai über 4000 Seitenaufrufe verzeichnen. Als Ergänzung zur Druckausgabe soll dieses Angebot in den nächsten Monaten noch ausgebaut werden. Dazu sind wir vor allem auf Anregungen unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Im Moment findet man auf der Homepage bereits Inhaltsübersichten der bisher erschienenen Hefte, mehrere ZNT-Artikel als Leseprobe sowie eine Vorschau auf die nächste ZNT-Ausgabe. Die Rubrik »Hintergrund« bietet Informationen zum Konzept der Zeitschrift für Neues Testament sowie zu ihren Herausgeberinnen und Herausgebern. Über die Homepage der ZNT können Sie natürlich auch Einzelhefte nachbestellen oder die Zeitschrift abonnieren. Dazu stellen wir sowohl ein Bestellformular zum Ausdrucken als auch einen Link zum Online-Bestellsystem des Francke-Verlags zur Verfügung. Einen wesentlichen Platz in der Konzeption der ZNT-Internetpräsenz nehmen die Angebote in der Rubrik »interaktiv« ein. Vor allem dieser Bereich soll in nächster Zeit noch erweitert werden. Neben Buchbesprechungen und Hinweisen auf weitere interessante Internet-Seiten stellen wir ab Heft 10 - zum Artikel von Uwe Böhm / Gerd Buschmann, »The Matrix und Röm 6« - auch zusätzliche Materialien zum Download bereit. Das Diskussions- Forum soll als Möglichkeit zum Austausch über aktuelle Themen und zur Stellungnahme zu verschiedenen ZNT-Artikeln dienen. Weiterhin bietet die ZNT-Homepage die Möglichkeit, entweder direkt mit den Herausgebern Kontakt aufzunehmen oder allgemeine Anfragen zur ZNT und ihrer Internetpräsenz zu stellen. Wir freuen uns, wenn Sie von dieser Möglichkeit Gebrauch machen und uns per Kontaktformular oder Email (anfrage@znt-online.de) Fragen und Anregungen senden. Michael Schneider Webmaster www.znt-online.de Johannes Krug Die Kraft des Schwachen Ein Beitrag zur paulinischen Apostolatstheologie Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter 37, 2001, 350 Seiten, 64,-/ SFr 115,- ISBN 3-7720-2829-2 Kraft und Schwachheit sind für den Apostel Paulus Grundbedingungen seines missionarischen Wirkens. Die Legitimationskrise seines Apostolats zwingt ihn allerdings, die beiden Dimensionen direkt aufeinander zu beziehen: “Die Kraft wird in Schwachheit vollendet” (2 Kor 12,9). Die Studie bietet erstmals eine religionsgeschichtliche Fundierung der Begriffskombination in Profangräzität, Judentum und frühem Christentum. In Auseinandersetzung mit der Kreuzestheologie Luthers leistet sie ferner einen Beitrag zu einer entkonfessionalisierten Exegese. A. Francke Verlag Tübingen und Basel 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 78 ZNT 10 (5. Jg. 2002) 79 Eckart Reinmuth Hermeneutik des Neuen Testaments. Eine Einführung in die Lektüre des Neuen Testaments UTB 2310 Göttingen 2002, 118 S., ISBN 3-8252-2310-8 Um es gleich zu Beginn zu sagen: dieses Buch sollten Sie lesen! »Es richtet sich an Studienanfänger in Religionspädagogik und Theologie, an interessierte Nichtfachleute, aber auch an Menschen, die beruflich mit der öffentlichen Rechenschaft darüber, was das Neue Testament heute zu sagen hat, betraut sind.« (10) Dieses Buch sollten Sie lesen, wenn Sie daran interessiert sind, in grundlegende Fragen des Verstehens auf der Höhe gegenwärtiger Methoden- und Theoriediskussion eingeführt zu werden, denn es gelingt Reinmuth, auf nur 118 Seiten in einer nicht nur verständlichen, sondern sehr ansprechenden Weise schwierige Theorie- und Methodenkomplexe elementarisiert darzustellen, ohne sie der Sache nach zu verkürzen oder zu verplätten. Schon allein deshalb gebührt Reinmuth hier Lob und Anerkennung, denn mit diesem Buch ermöglicht er es, grundlegende Probleme und neue Denkansätze neutestamentlicher Wissenschaft einer breiten Öffentlichkeit darzulegen. Seine Hermeneutik wird gerade auch als akademisches Lehrbuch in der Lage sein, Studierende aller theologischen Studiengänge in ihrer »Lesekunst« (5) nachdrücklich zu fördern. Aber auch meine Kritik an dem Buch möchte ich vorwegschicken: Reinmuth verzichtet vollständig auf die Möglichkeiten eines Anmerkungsapparates und zwar zum Schaden seines Anliegens. Er nimmt damit gerade den mit der Theorie nicht oder nur wenig vertrauten Leserinnen und Leser die Möglichkeit, an den Stellen selbstständig weiterzuarbeiten, die sie für besonders relevant oder überprüfenswert halten. Mit gezielten Literaturhinweisen und sparsamen Erläuterungen hätte dieses Buch auch zum weiteren Selbststudium anleiten können. Dies kann die Literaturliste nicht auffangen, da der überwiegende Teil der angesprochenen Leserschaft nicht über die Zeit verfügen wird, erst einmal alle angegebenen Titel auf die sie interessierenden Probleme hin durchzusehen. Zudem handelt es sich bei der Literaturliste nur um eine allzu knappe Auswahl an relevanten Titeln. Beides sollte in einer zweiten Auflage, die ich diesem Buch wünsche, unbedingt verbessert werden. Zur Sache: Gerade auf dem Gebiet der Hermeneutik befindet sich die neutestamentliche Wissenschaft in einem radikalen Umbruch. Die einäugige produktionsorientierte Hermeneutik, die den Sinn eines Textes allein in der Rekonstruktion seiner Genese aufzuspüren meinte, ging davon aus, ein Text habe einen Sinn, den es zu rekonstruieren gelte. Die Vermittlung des rekonstruierten Sinnes wurde dann als der Exegese nachgeordnete Aufgabe der Religionspädagogik bzw. der Praktischen Theologie deklariert. Nachdem diese Fächer sich von dieser Überheblichkeit und Bevormundung der einsinnig historisch ausgerichteten neutestamentlichen Wissenschaft durch die Etablierung einer eigenen Praktisch-Theologischen Hermeneutik 1 emanzipiert haben, wächst auch in der neutestamentlichen Wissenschaft die Bereitschaft, die »offenenen Fragen« 2 , die von einzelnen Fachvertretern bereits Anfang der 1970er Jahre gestellt worden waren und in der anglo- und frankophonen Welt bereits zu einer anhaltenden Diskussion um die grundlegenden Paradigmen neutestamentlicher Wissenschaft führten, aufzugreifen und zu diskutieren. 3 Diese offenen Fragen betreffen maßgeblich die Hermeneutik als diejenige Theorie, die Grundfragen des Verstehens erörtert: Was heißt es, einen Text zu verstehen? Welche Bedingungen des Verstehens gilt es zu berücksichtigen? In welchem Verhältnis stehen Text und Geschichte? Wie entsteht Sinn? Gibt es nur einen Textsinn oder gibt der Text mehrere Sinne zu verstehen? Was ist ein Text? Wie funktioniert Lesen? Darf man mit einem Text alles machen? Bedarf es einer Ethik der Interpretation? Die wohl wichtigste Einsicht einer zeitgemäßen Hermeneutik besteht in dem Wissen um die Notwendigkeit einer interdisziplinären Theoriebildung. Ohne literaturwissenschaftliche, textlinguistische, rezeptionsästhetische, geschichtstheoretische und semiotische Grundkenntnisse kann eine Hermeneutik des Neuen Testaments nicht mehr geschrieben werden. Die Einbindung der neutestamentlichen Hermeneutik in diese interdisziplinäre Landschaft führt zu drei grundlegenden Anforderungen: 1. Eine informierte und sachgemäße Hermeneutik bedarf einer Texttheorie. 2. Eine informierte und sachgemäße Hermeneutik darf nicht mehr einäugig produktionsorientiert sein, sondern muß die Rezeptionsvorgänge in ihre Theorie integrieren, damit die Funktion des Leseres / der Leserin für die Sinnkonstitution des Textes in den Blick kommt. 3. Eine informierte und sachgemäße Hermeneutik bedarf einer Theorie über das Verhältnis von Text und Geschichte. Diese Theorieanforderungen erfüllt Reinmuths Hermeneutik in beeindruckender Weise. Ohne sich in den Netzen endloser Theoriedebatten zu verfangen, führt Reinmuth seine Leserinnen und Leser durch die vier Kapitel seines Buches. Im ersten Kapitel »Eine Geschichte verstehen« (11-38) führt Reinmuth sein Paradigma der Jesus-Christus-Geschichte ein, das er rezeptionsästhetisch, geschichtstheoretisch und theologisch in überzeugender Abgrenzung zur Leben-Jesu-Forschung entfaltet. Es dient zudem als Kriterium einer sachgemäßen Auseinandersetzung mit Buchreport 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 79 80 ZNT 10 (5. Jg. 2002) Buchreport den Texten des Neuen Testaments. Das zweite Kapitel (39-64) trägt die Überschrift »In Bildern sprechen«, in dem das Problem der Übersetzung, Jesu zeichenhaftes Handeln und die Entdeckung der Metaphorizität der Sprache thematisiert werden. Gesetztes Ziel des dritten Kapitels (65-90) ist es, »die Frage nach der Wahrheit des Neuen Testaments neu zu stellen« (88), um im letzten Kapitel (91-111) die pragmatische Dimension einer Hermeneutik des Neuen Testament unter der Überschrift »Mit Texten handeln« in den Blick zu bekommen. Dabei benennt der Untertitel von Reinmuths Buch bereits die Position des Autors: Er versteht Hermeneutik dezidiert als eine Theorie der Lektüre. Damit vollzieht er nicht weniger als einen Paradigmenwechsel neutestamentlicher Wissenschaft nämlich den von der zu rekonstruierenden Historie hin zum zu lesenden Text. Der biblische Text und seine Lektüre unter den Rezeptionsbedingungen der Gegenwart ist der Leitfaden der Hermeneutik Reinmuths. Gekonnt umgeht er den Fehler einiger Reader-Response Theorien, die Einseitigkeit autorzentrierter Hermeneutik durch die Einseitigkeit leserorientierter Hermeneutik lediglich abzulösen. Auch die irreführende Alternative zwischen »Diachronie« und »Synchronie« vermeidet er terminologisch und der Sache nach konsequent. Dies gelingt ihm auf der Theorieebene durch seine explizite Texttheorie (vgl. 91f.) und die eingebrachten geschichtstheoretischen Einsichten (vgl. 23ff.). Die Überzeugungskraft seines Ansatzes besteht dann aber darin, dass er diese theoretischen Aspekte direkt für die Auslegung des Neuen Testaments fruchtbar macht, wofür sein Terminus »Jesus- Christus-Geschichte« steht: »Die Jesus-Christus-Geschichte ist etwas im Kern anderes als eine historischkritische Konstruktion des Lebens Jesu von Nazareth. Sie ist ein Sammelbegriff für die Geschichten und Erinnerungen, die sich dem Angesprochensein von diesem Menschen und seiner Geschichte verdanken, den Wahrheitserfahrungen, die Menschen mit dieser Geschichte machten und mit ihren Erinnerungen teilten.« (21) Damit versteht er die neutestamentlichen Schriften als verschiedene Erinnerungen der Jesus-Christus- Geschichte und leistet damit dreierlei: 1. Die reale Vorgegebenheit der Jesus- Christus-Geschichte bleibt gewahrt und schützt vor Beliebigkeit und Willkür der Rezeption. 2. Die Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit der Erinnerungsbilder bleibt gewahrt und wird für die Rezeption der Gegenwart fruchtbar gemacht 3. Die Frage nach der Wahrheit der Jesus-Christus-Geschichte wird zur Frage der Lebenswahrheit ihrer jeweiligen Rezipienten. Die Hermeneutik Reinmuths erfüllt nicht nur die theoretischen Grundanforderungen zeit- und sachgemäßer Hermeneutik, sondern sie bietet auf eindringliche und weiterführende Weise auch einen Beitrag zur theologischen Relevanz neutestamentlicher Wissenschaft. Durch das Paradigma des gelesenen Textes wird die theoretische Frage des Verstehens eines Textes zur lebenspraktischen Frage nach der Relevanz der Weise des Lesens. Reinmuths Ermutigung und Anleitung zu einer hermeneutisch begründeten Lesekunst eröffnet auch Perspektiven für eine theologisch begründete Lebenskunst. Stefan Alkier l Anmerkungen 1 Vgl. Henning Schröer, Art. Hermeneutik. Praktisch-Theologisch, in: TRE XV, 150-156, sowie die ihm gewidmete Festschrift: Praktisch-Theologische Hermeneutik. Ansätze-Anregungen-Aufgaben, hg.v. D.Zilleßen u.a., Rheinbach- Merzbach 1991. 2 Erhardt Güttgemanns, Offene Fragen zur Formgeschichte des Evangeliums. Eine methodologische Skizze der Grundlagenproblematik der Form- und Redaktionsgeschichte, 2.Aufl., München 1971; ders., ›Text‹ und ›Geschichte‹ als Grundkategorien der Generativen Poetik. Thesen zur aktuellen Diskussion um die ›Wirklichkeit‹ der Auferstehungstexte, in: Linguistica Biblica 11 (1972), 1-12; ders., fragmenta semiotico-hermeneutica. Eine Texthermeneutik für den Umgang mit der Heiligen Schrift (FThL 9), Bonn 1983. 3 Vgl. George Aichele (Hg.), The Postmodern Bible. The Bible and Culture Collective, Yale 1995; Stefan Alkier / Ralph Brucker (Hg.), Exegese und Methodendiskussion (TANZ 23), Tübingen / Basel 1998. 070302 ZNT 10 - Inhalt 26.09.2002 17: 16 Uhr Seite 80