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ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
2003
612 Dronsch Strecker Vogel
0 a, lt! ..r stN N~ ., III LI,(') III st , ... ,iZ .-111 QI>! ! ! Heft 12 · 6. Jahrgang (2003) ZEITSCHRIFT ,~ NEUES TESTAMENT Das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft Herausgegeben von Stefan Alkier, Axel von Dobbeler, Jürgen Zangenberg Hans Hübner Kanon - Geschichte - Gott Hermut Löhr Der Kanon in der Bibliothek Ruhen Zimmermann Unecht - und doch wahr? Pseudepigraphie im Neuen Testament als theologisches Problem Martina J anßen Kanon und Gnosis - Überlegungen zur »Bibel der Häretiker« Thomas Hieke Neue Horizonte. Biblische Auslegung als Weg zu ungewöhnlichen Perspektiven Die Entstehung des Kanons: Geschichtlicher Prozess oder gezielte Publizistik? Manfred Oeming vs. Matthias Klinghardt Buchreport Herausgeber Stefan Alkier Axel von Dobbeler Jürgen Zangenberg in Verbindung mit Klaus Berger Peter Busch Kurt Erlemann Gabriele Faßbeck Dirk Frickenschmidt Marlis Gielen Roman Heiligenthal Matthias Klinghardt Günter Röhser Markus Sasse Manuel Vogel Bernd Wander Anschrift der Redaktion Prof. Dr. Stefan Alkier Johann Wolfgang Goethe-Universität Fachbereich Evangelische Theologie Neues Testament - Geschichte der Alten Kirche z.H.: Kristina Dronsch Grüneburgplatz 1 D-60629 Frankfurt Manuskripte Zuschriften, Beiträge und Rezensionsexemplare werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Verpflichtung zur Besprechung unverlangt eingesandter Bücher besteht nicht. Anzeigen A. Francke Verlag, Tel.: (0 7071) 9797-0 Bezugsbedingungen Die ZNT erscheint halbjährlich (April bis Oktober) Einzelheft: € 14,-/ sFr 24,50 zuzügl. Versandkosten Bezugspreis jährlich: € 26,-/ sFr 43,80 Vorzugspreis für Studenten jährlich: € 20,-/ sFr 33,80 (Immatrikulationsbescheinigung beifügen) © 2003 · A. Francke Verlag Tübingen· Basel Alle Rechte vorbehalten ISSN 1435-2249 Umschlagentwurf: Werner Rüb, Bietigheim-Bissingen. Satz: Fotosatz Hack, Dußlingen. Druck: Gulde, Tübingen. Bindung: Nädele, Nehren. Editorial Neues Testament aktuell Zum Thema Kontroverse Hermeneutik und Vermittlung Buchreport Editorial ... .. . .. ..... .. .. .. .. . .. .. .. . .. .. .. . .. .. . .. . .. ... .. . .. .. .. 1 Hans Hübner Kanon - Geschichte - Gott............................ 3 Hermut Löhr Der Kanon in der Bibliothek ........................ 18 Ruben Zimmermann Unecht - und doch wahr? Pseudepigraphie im Neuen Testament als theologisches Problem .............................. 27 Martina Janßen Kanon und Gnosis - Überlegungen zur »Bibel der Häretiker« .................................... 39 Einführung zur Kontroverse (Stefan Alkier) .. 51 Manfred Oeming Das Hervorwachsen des Verbindlichen aus der Geschichte des Gottesvolkes. Grundzüge einer prozessualsoziologischen Kanon-Theorie ...................... 52 Matthias Klinghardt Die Veröffentlichung der christlichen Bibel und der Kanon ...................................... 59 Thomas Hieke Neue Horizonte. Biblische Auslegung als Weg zu ungewöhnlichen Perspektiven.... 65 Günter Röhser Theo K. Heckel, Vom Evangelium des Markus zum viergestaltigen Evangelium...... 77 Günter Röhser Heikki Räisänen, Neutestamentliche Theologie? Eine religionswissenschaftliche Alternative ...................................................... 79 Einern Teil der Auflage liegen Prospekte der Firmen W. Kohlhammer Verlag, Stuttgart und A. Francke Verlag Tübingen/ Basel bei. A. Francke Verlag Tübingen und Basel· Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Telefon (07071) 9797-0 · Telefax (07071) 75288 Internet: http: / / www.francke.de · E-Mail: info@francke.de ZNT im Internet: http: / / www.znt-online.de Liebe Leserinnen und Leser, » Über die Entstehung und Geschichte des neutestamentlichen Kanons sind wir vortrefflich informiert. Seine theologische Relevanz ist dagegen heftiger denn je zuvor umstritten. Die Diskussion darüber wird heute nicht nur in der gelehrten Zunft, sondern auch in der Gemeinde leidenschaftlich, und zwar in allen Konfessionen und Denominationen und infolgedessen auch ökumenisch, geführt«. So lauten die ersten Sätze einer grundlegenden Aufsatzsammlung zur Geschichte und Bedeutung des neutestamentlichen Kanon, die der Tübinger Neutestamentler Ernst Käsemann vor über 30 Jahren herausgegeben hat (E.Käsemann [Hg.], Das Neue Testament als Kanon. Dokumentation und kritische Analyse zur gegenwärtigen Diskussion, Göttingen 1970, 9). Das Thema »Kanon« hat an Aktualität wahrlich nichts eingebüßt. In einer Zeit, in der nicht nur in einer renommierten deutschen Wochenzeitung immer wieder nach dem kulturellen und literarischen »Kanon« gefragt wird und man sich auf die Suche nach den Konturen und Fundamenten unserer westlichen Kultur macht, steht der Kirche eine Vergewisserung über ihre eigenen biblischen Grundlagen sicher gut an. Welches inhaltliche Fundament ist ihr mit dem zweiteiligen Kanon aus Altern und Neuem Testament gegeben und wie gehen wir damit heute um? Dass es sich bei der Rezeption des Kanons nach wie vor um eine eminent praktische und kontroverse Angelegenheit handelt, hat der gerade vergangene Kirchentag mit dem Streit um das Abendmahl gezeigt. Man sieht, dass hinter aller Beanspruchung »des« Kanons eine mehr oder minder ausgesprochene Reihe weiterer »impliziter Kanones« unser Denken und Handeln bestimmt. In welchem Verhältnis stehen diese »Axiome« zum biblischen Kanon, des »kodifizierten kollektiven Gedächtnisses des christlichen Gottesvolkes« (H. Löhr)? ZNT 12 greift das Thema »Kanon« daher in gewohnt ökumenischer Weite auf und ist sich dabei sowohl der historischen Probleme der Entstehung ZNT 12 (6. Jg. 2003) des biblischen Kanons als auch der letztlich theologisch und ethisch zu reflektierenden Aufgabe seiner Rezeption bewusst. Hans Hübners grundlegender Beitrag in der Rubrik »NT Aktuell« umreißt den Horizont jeglichen christlichen Nachdenkens über den Kanon: Wie kann die Zweiheit des Kanons gedacht werden, ohne dass die Teile ihre eigene Kontur verlieren oder das Neue, das das NT aussagt, einfach nivelliert wird? Inwiefern ist der Kanon überhaupt »verbindlich«? Hübners These, wonach »Kanon« weniger »Schrift« ist als »Wort«, also Anrede des lebendigen Gottes an den Menschen, hilft, die theologische Dimension des Kanons deutlicher zu fassen. Die drei Beiträge »Zum Thema« greifen Aspekte auf, die in der weiteren Diskussion zu beachten sein werden. Hermut Löhr geht der nur augenscheinlich allein praktischen Frage nach, wo autoritative Sammlungen von Schriften eigentlich gesammelt und aufbewahrt wurden. Dass dabei Bibliotheken sowohl im paganen Alexandria als auch am J erusalemer Tempel und in christlich-schriftgelehrten Kreisen eine entscheidende Rolle gespielt haben, verbindet die drei geistigen Welten der Antike nicht nur miteinander, sondern unterstreicht, dass kulturelles Gedächtnis auch heute nicht ohne reale Orte der geistigen Bewahrung und des Austauschs leben kann. Wie »wahr« kann der Geltungsanspruch einer neutestamentlichen Schrift aber sein, deren Verfasserangabe nachweislich »falsch« ist? Ruben Zimmermann diskutiert das seit der Alten Kirche bekannte Phänomen und zeigt, dass die Problematik nicht nur unser historisches Erkenntnisvermögen, sondern genauso unser Wahrheitsverständnis herausfordert. Martina Janßens Beitrag zur Bibel der christlichen Gnostiker liefert eine wichtige Ergänzung zur meist auf die »Mehrheitskirche« beschränkten Sichtweise. Trotz aller quellenmäßigen Unsicherheiten und Eigenheiten der einzelnen Gruppen kann J anßen zeigen, dass sich die Gnostiker nicht so sehr durch einen eigenen Kanon, sondern vielmehr durch einen eigenwilligen Schriftgebrauch von der Großkirche unterschieden. In die lebendige Kontroverse zwischen Matthias Klinghardt und Manfred Oeming über die Entstehung und Bedeutung des Kanons führt Stefan Alkier eigens ein. Abschließend orientiert Thomas Hieke in der Rubrik »Hermeneutik und Vermittlung« über heutige Möglichkeiten, die Bibel als interpretatorischen Leitfaden einzusetzen. Günter Röhsers Besprechung zweier in Thema und Tendenz recht unterschiedlicher Neuerscheinungen rundet ZNT 12 ab. Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre des neuen Heftes, die Ihren eigenen Umgang mit der Schrift inspirieren möge! Stefan Alkier Axel von Dobbeler Jürgen Zangenberg 2 UTB Theologie Eve-Marie Becker (Hrsg.) Neutestamentliche Wissenschaft Autobiographische Essays aus der evangelischen Theologie UTE 2475 M, 2003, XVII, 394 Seiten,€ 24,90/ SFr 42,- UTB-ISBN 3-8252-2475-9 Die neutestamentliche Wissenschaft gehörte in der Mitte des 20. Jahrhunderts zu den geisteswissenschaftlichen Leitdisziplinen. Die wissenschaftliche Spezialisierung einerseits sowie Säkularisierung und allgemein schwindende Erwartungen gegenüber den Geisteswissenschaften andererseits haben das außertheologische Interesse an den Fragen und Aufgaben der neutestamentlichen Wissenschaft zurückgehen lassen. Zugleich hat die Wissenschaft vom Neuen Testament in den letzten Jahrzehnten ein großes Potential an Fragen und Themen, Forschungsrichtungen und Methoden, Verstehenszugängen und hermeneutischen Konzeptionen entwickelt, die das Terrain facettenreich gestalten. Die in diesem Band publizierten 36 autobiographischen Essays informieren über den gegenwärtigen Stand der neutestamentlichen Wissenschaft und führen in die Vielfalt ihrer Teilbereiche ein: Die Wissenschaftler berichten von ihren Erfahrungen mit der Auslegung neutestamentlicher Texte und von ihren Erwartungen an die neutestamentliche Wissenschaft. A. Francke ZNT 12 (6.Jg. 2003) Hans Hübner Kanon - Geschichte - Gott* 0. Vorbemerkung Die Thematik des biblischen Kanons ist eine recht komplexe und zugleich theologisch grundlegende. Sie ist für alle theologischen Einzeldisziplinen konstitutiv, angefangen von der alttestamentlichen Wissenschaft bis hin zur Praktischen Theologie. Insofern kann ein Aufsatz wie der hier gebotene nicht diese so fundamentale Problematik auch nur annähernd darstellen. Ich verfolge daher in meinen Überlegungen nur eine ganz bestimmte Argumentationssequenz und verweise zur Kompensierung des genannten Defizits auf einige Standardwerke, die zur notwendigen Komplettierung dienen können. Zunächst sei auf die einschlägigen Artikel in den theologischen und exegetischen Lexika und Wörterbüchern verwiesen. Dann darf die Anthologie wichtigster von ERNST KÄSEMANN herausgegebener Aufsätze »Das Neue Testa- 1. Hinführung zur Thematik: Das Alte Testament im Neuen Die Frage nach dem biblischen Kanon ist nicht nur eine theoretische Frage, sie ist auch eine Frage, die mit Emotionen zu tun hat.' Natürlich ist die Kanonfrage auch ein theologisch-theoretisches Problem. Aber eine theologische Theorie des Kanons ist zumeist aus dem lebendigen Umgang mit der Autorität biblischer Schriften und somit aus einer existentiellen Begegnung mit ihnen erwachsen; eine solche Theorie ist also zumeist auch Reflexion aus dem lebendigen Glauben über den Glauben. Nun ist die Kanonfrage im Bereich der christlichen Theologie deshalb so schwierig, deshalb mehrdimensional, weil der Kanon der christlichen Kirche (wer will, mag sagen: der christlichen Kirchen) bekanntlich aus zwei Teilen besteht, dem Alten und dem Neuen Testament. Damit ment als Kanon« (Göttingen 1970) nicht fehlen, ebenso nicht CHRISTOPH DOHMEN / MANFRED ÜEMING, Biblischer Kanon. Warum und wozu? (Freiburg 1992), und CHRISTOPH DOHMEN / THO- MAS SÖDING, Eine Bibel - »Es wird sich zeigen, ist aber schon das Grundproblem angesprochen. Der Kanon des Alten Testaments hat sich aus der Torah (dem Gesetz des Mose bzw. dem Pentateuch), den Prophetendaß die hermeneutische Frage die für unsere Thematik zentrale und unerläßliche Frage ist.« zwei Testamente (UTB 1893, Paderborn 1995 ). Die hermeneutische Frage spielt in diesen Werken z.T. eine erhebliche Rolle. Unter diesem Gesichtspunkt ist vor allem zu nennen: CHRISTOPH DOHMEN / GÜNTER STEMBERGER, Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments (StTh 1,2, Stuttgart/ Berlin/ Köln 1996). Es wird sich zeigen, daß die hermeneutische Frage die für unsere Thematik zentrale und unerläßliche Frage ist. Von CHRISTOPH DOHMEN stammt auch die nützliche Sammelrezension »Der Biblische Kanon in der Diskussion« (ThRev 91 [1995], 451-460). Der Kanonfrage ist im »Jahrbuch für Biblische Theologie« der Band 3 (1988) gewidmet: Zum Problem des biblischen Kanons. 1 ZNT 12 (6. Jg. 2003) Büchern und den sogenannten »Schriften« sukzessive gebildet. Als das Christentum geschichtliche Wirklichkeit wurde, fand es bereits diesen dreiteiligen Kanon vor. Es selbst machte zunächst keine Anstalten, diesem Kanon, also dem, was seine Theologen später Altes Testament nannten, christliche Schriften mit kanonischer Autorität hinzuzufügen. Vielmehr wurden solche Schriften, die erst erheblich später kanonische Autorität gewannen, indem sie als kanonische Schriften zum Neuen Testament zusammengefügt wurden, nicht in Konkurrenz zu den heiligen Schriften Israels geschrieben. Paulus schrieb seinen Römerbrief eben als Brief! nur für die Römer. Allerdings - und das ist für unsere Problematik von erheblicher Bedeutung als 3 Brief mit apostolischer Autorität! Markus schrieb sein Evangelium nicht in erster Linie als Biographie Jesu, sondern als Evangelium, dessen Verlesung Verkündigungscharakter zukam. Die nach heutiger Terminologie neutestamentlichen Schriften waren somit zwar nicht mit kanonischer Autorität geschrieben, wohl aber mit kerygmatischer Autorität! Und wenn Kerygma so viel wie Verkündigung bedeutet, nämlich die Verkündigung des Christus Gottes als eschatologischer Heilsgestalt und Verwirklichung des Heilsgeschehens, wenn ferner gerade diese Verkündigung zum Wesen kirchlichen Daseins gehört, dann ist dem Verkündigungsanspruch des Röm oder des Mk eine analoge Autorität zuzumessen wie etwa der Verkündigung des Jesaja oder des Buches Genesis. Zu der Zeit, als es noch kein Neues Testament gab, wohl aber christliche Schriften mit einer Autorität, die das Gewicht ihrer Autorität von der Autorität Gottes erhielten und deshalb Schriften göttlicher Autorität waren, gab es also den Verkündigungsanspruch der Kirche J esu Christi. Es ist der im gepredigten Kerygma gegründete Anspruch der kerygmatischen Schriften, die dann später zum Neuen Testament neutestamentliche Schrift, der 1Thess, verfaßt worden sein) keine einzige Schrift gab, die später eine Schrift des Neuen Testaments und somit Bestandteil der Schrift der Kirche wurde, war Israels Schrift in den ersten Jahrzehnten des Christentums die Schrift der Kirche. Sie war das, was erst in späterer dogmatischer Terminologie der erste Teil des Kanons der Kirche war. Gab es auch in der Frühzeit der christlichen Kirche noch nicht den Begriff des Kanons, so war doch Israels Bibel für die Kirche die Bibel in eben dem formalen Sinn wie auch für Israel. Eine christliche Diskussion über das Wesen des Kanons gab es damals in diesem formalen Sinn noch nicht. Und doch war diese Bibel für die Kirche in materialer Hinsicht etwas entschieden anderes als für Israel. Denn die Kirche hatte in ihrer christologischen Perspektive, also in materialer Hinsicht, Israels Heilige Schrift als eine genuin christliche Schrift rezipiert. Somit hatte sich die Grundperspektive verändert. Unbestreitbar ist nämlich Israels Schrift in ihrer Genese lediglich in partieller Weise eine futurisch-messianische Schrift. Jetzt aber wird sie originär als Schrift auf den christlichen Messias hin gelesen, zusammengefügt wurden. Ist doch alle kirchliche Autorität in der soteriologischen Predigt vom gekreuzigten und auferweckten Christus fundiert. Der Seins-Grund aller » Kirche ist von ihrem Anfang und Ursprung her Kirche des Wortes, des verkündigten, des wird als so verstandene Schrift verstanden und verkündigt. Christliche Verkündigung, die sich auf die Schrift Israels beruft, auf die zugesprochenen Wortes.« kirchlichen Autorität ist also ihr göttliches Wort. Kirche ist von ihrem Anfang und Ursprung her Kirche des Wortes, des verkündigten, des zugesprochenen Wortes. Kirche des Wortes zu sein ist aber ein Wesenszug der Kirche, bekanntlich in der heutigen ökumenisch-theologischen Situation kein evangelisches Spezifikum mehr. Dafür ist vor allem die Constitutio dogmatica De divina Revelatione, die Dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung beredtes Zeugnis. 3 Der geschichtliche Weg ist also zunächst folgender: Der Verkündigungsanspruch der Kirche J esu Christi artikuliert sich zunächst im gepredigten Kerygma und dann in kerygmatischen Schriften, außerdem in der Heiligen Schrift Israels, deren Aussagen jedoch vom christlichen Kerygma her gelesen und folglich als Zeugen des messianischen Heils verstanden wurden. Nachdem es etwa bis zum Jahre 50 n.Chr. (um diese Zeit dürfte die älteste 4 (in griechischer Sprache) graphe, beruft sich auf eine Schrift, die nicht mehr in ihrem Literalsinn gelesen wird. Es ist daher methodisch und hermeneutisch unerläßlich, zwischen Literalsinn und Rezeptionssinn der Schrift Israels bzw. des Alten Testaments zu unterscheiden, nämlich zwischen Vetus Testamentum und Vetus Testamentum in Nova receptum. 4 Daß im Neuen Testament auch alttestamentliche Zitate zu finden sind, die den Literalsinn weitgehend oder doch zumindest in der Substanz erhalten haben, ist für diese Unterscheidung zwar unerheblich, sollte aber hier erwähnt werden.' Es ist ein unverzichtbarer Akt der Fairneß gegenüber der heutigen jüdischen Exegese und überhaupt gegenüber dem Judentum, daß wir als christliche Exegeten und christliche Kirche eingestehen, die jüdische Bibel unter einer Hermeneutik zu lesen, die mit ihrer Genese nichts zu tun hat. Wenn wir als christliche Exegeten nun feststellen, daß die neu- ZNT 12 (6. Jg. 2003) Hans Hübner Prof. ·Dr. HansHübneri, Jahrgang 193(); .NfJmO~ tiont963, Habilitatio.n 197L 197.1Dazent,.ab J974 Professor fur biblische Wissenschaften und· Efermen: eutik am Fa~hbereich R: eligionspädagogik un,.JTheologie der Evangelischen / ! ac; hhoch~ · schule Rheinland-Westfalen-Lippe, Düsseldorf. lY75 apl. Professor an der E'vangelisch-Theologischen Fakultät Bochum, 1982 Professor fü'Y Biblische Theologie an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen, 1-,eiter der Abteilung für Biblische Theologie, dort Leiter des Projektes Wtus Testamentum in Nova. Von den. zahlreichen Veröffentlichungen seie.n nur.drei genannt: Das Gesetz bei Paulus (FRLANT 119), Göttingen 1978, 3. Aufl. 1992 (auch engl. und itaL); Biblische Theologie des Neuen Testaments, 3 Bände, Göttingen 1990- 1995 (auch ital.); Go.ethes Faust und das Neue Testament, Göttingen 2003. Seit 1995 im Ruhestand, aber weiterhin Leiter des genannten Projektes. Forschungsschwerpunkte: neben der Biblischen Theologie sind zu nennen Paulus, neutestamentliche Hermeneutik, das Verhältnis von Theologie und Philosophie. testamentlichen Autoren das des Alten Testaments zumeist nicht der Intention der alttestamentlichen Autoren entspricht, ist ein Eingeständnis, das offen ausgesprochen werden sollte. Angesichts dieser Auslegungsdifferenz sollte in der biblischen Wissenschaft die Beachtung der Differenz von Vetus Testamentum und Vetus Testamentum in N ovo schon um des Verhältnisses von Christentum und Judentum sehr ernst genommen werden. Gleichzeitig sei auch gesagt, daß diese Terminologie eine abgekürzte ist. Denn ganz korrekt müßte es heißen: Biblia populi Israel - Vetus Testamentum in Nova. Ist doch das Alte Testament für das Judentum gerade kein Altes Testament! So, wie ich soeben die Differenz zwischen jüdischem und christlichem Verstehen der Bibel Israels bzw. des Altes Testaments betont habe, dürfte dies auf der Linie liegen, die CHRISTOPH DoH- MEN herausgestellt hat. In seinem zusammen mit GÜNTER STEMBERGER verfaßten Standardwerk »Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments« 6 geht es, wie der Titel sagt, um Hermeneutik, also um jene Dimension der Theologie, die für sie zentral ist. Denn Theologie ohne Hermeneutik ist keine Theologie! Dohmen spricht mit einer m.E. glücklichen Formulierung von der Notwendigkeit einer »doppelten Hermeneutik«, nämlich der jüdischen und der christlichen. 7 Er fragt, welche Bedeutung die jüdische Auslegung der Bibel für das christliche Verstehen des Alten Testaments habe und insofern auch das der gesamten zweigeteilten Bibel des Christentums. Dohmen stimmt mir zu, daß mein Ansatz der Unterscheidung von Vetus Testamentum und Vetus Testamentum in Nova receptum etwas Entscheidendes für die Biblische Theologie aufgedeckt habe. Ich sei »dem Alte Testament in der Regel in einem christlichen - und somit den Literalsinn weithin ignorierenden! - Verständnis lesen, so gestehen wir dem Judentum zu, daß seine Bibelinterpretation dem, was die alttestamentliche Autoren wirklich sagen wollten, wesentlich näher kommt, als es zumeist in der neutestamentlichen Wissenschaft geschieht. Daß » Es ist daher methodisch und hermeneutisch· unerläßlich, zwisch~n Literalsinn und Rezeptionssinnder Schrift Israels bzw. des Alten Ansatz des Augustinus 8 voll und ganz« insofern gefolgt, als es um »die offenbare Anwesenheit des Alten im Neuen Testament« geht. Ich hätte allerdings noch offengelassen, wie ich »die nicht christianisierte Bibel Israels als Altes Testament in der christlichen Bibel, also sein Vetus Testamentum per se,« verstehe. 9 Testaments zu unterscheiden, nämlich zwischen Vetus Testamentum und Vetus Testamentum in Novo receptum« das nahezu durchgängige christliche Verständnis Diese Frage habe ich in der Tat noch zu beantworten (s.u.). ZNT 12 (6. Jg. 2003) 5 2. Vom kanonischen Wort zum Kanon der Kirche Doch jetzt zum Begriff Kanon! Das griechische Wort kanon wird im theologischen Sprachgebrauch im Blick auf seine Bedeutungskomponenten Maßstab oder Richtschnur verwendet. Maßstab, Richtschnur das ist etwas Festes, etwas Maßgebendes, das zu beachten ist, etwas, das Halt gibt und an das man sich dementsprechend, um eben diesen Halt zu haben, zu halten hat. Hat also etwas Geschriebenes kanonischen Charakter, so ist es verbindlich. Und geht es im theologischen Kontext um Kanonisches, so kommt diesem Geschehen von Gott her letztgültige Verbindlichkeit zu: Ihm eignet seine Autorität von Gott her, es partizipiert an der Autorität Gottes: Die Autorität des Kanons ist die Autorität Gottes. Von Autorität war ja bereits die Rede. Doch in welcher Weise? Haben wir es mit Geschriebenem, also mit Texten zu tun, so stellt sich notwendig die Frage: Ist das Geschriebene die Verobjektivierung des von Gott Gesagten? Verhält es sich demnach mit dem Geschriebenen so, als habe Gott persönlich geschrieben? So liest man es zuweilen in frommen Traktaten, in der sogenannten Erbauungsliteratur. Gott als Briefschreiber an die Menschheit, an den einzelnen Menschen? Hier hilft wieder der Blick auf die frühe Geschichte der Kirche. Daß Gottes Autorität mit Texten in Anspruch genommen wurde, geht z.B. aus den paulinischen Briefen hervor. Bezeichnend ist 1Kor 5,3-5, ein freilich zunächst negatives Beispiel, dann aber doch mit soteriologischen Ausgang. Mit apostolischer Autorität übergibt Paulus als der, der nicht persönlich anwesend sein kann, einen Unzüchtigen dem Satan: »Ich aber, der ich nicht leiblich bei euch bin, doch mit dem Geist, habe schon, als wäre ich bei euch, beschlossen über den, der solches getan hat: wenn ihr in dem Namen unseres Herrn Jesus versammelt seid und mein Geist samt der Kraft unseres Herrn Jesus bei euch ist (synechthenton hymon kai tou emou pneumatos syn te dynamei tou kyriou hemon Iesou), soll dieser Mensch dem Satan übergeben werden zum Verderben des Fleisches, damit der Geist gerettet werde am Tage des Herrn.« Es ist der Geist des Apostels, der sich mit der Kraft J esu zusammenfindet, um so das Urteil Gottes, zunächst das des Gerichts, dann aber das der eschatologischen Rettung, wirkkräftig auszuspre- 6 Frau, die in einen Kodex schreibt. Wandmalerei aus dem 3. Jh., Quweilbeh, Jordanien chen. Weil stellvertretend mit göttlicher Autorität handelnd, sagt der Apostel in der Gemeinschaft mit seinem göttlichen Herrn das, was Gottes Wort ist, was es wirkt. Er, der den Geist Christi hat (1Kor 2,16: noun Christou), spricht mit göttlicher Autorität das Urteil Gottes, urteilt also mit göttlicher Autorität! Er ist also in-spir-iert. Inspiration meint hier das, was Gottes und Christi Geist dem Apostel zu sagen eingibt. Inspiration, das ist die dem Apostel vom Geiste Gottes eingegebene Wahrheit Gottes. Sie ist somit das vom göttlichen Geiste vollzogene Geschehen. Kirchliches Geschehen ist Geistgeschehen, ist Geschehen des Spiritus Sanctus. Dieses Inspirationsgeschehen wirkt als sprachliches Geschehen, als Wort- Geschehen, es ist Wort-Ereignis, Sprach-Ereignis. Das Wort kann sich aber auch des Geschriebenen bedienen. Ein solches sit venia verbal - »Schreib- Geschehen« bleibt aber originär Wort-Geschehen. Es partizipiert an der Macht des gesprochenen Wortes. Und vielleicht nicht nur am Rande gesagt: Paulus schreibt seine Briefe nicht, er diktiert sie. Es ist also das gesprochene Wort des Apostels, das das Wort Gottes geschichtliche Wirklichkeit werden läßt. Das geschriebene Wort ist aber somit, was seine Macht, seine Dynamik angeht, der Würde des gesprochenen Wortesteilhaft. ZNT 12 (6. Jg. 2003) Scheiber mit seinem Werkzeug. Evangelist Matthäus, aus: Innicher Evangeliar beginnendes 10. Jd., Universitätsbibliothek Innsbruck Es ist theologisch und kerygmatisch kein allzu großer Sprung, wenn wir von lKor 5,3-5 zu dem theologisch noch wichtigeren Text Röm 1, 16/ übergehen. Ich zitiere Paulus in interpretierendparaphrasierender Weise: »Ich bekenne mit meiner ganzen Person das Evangelium. Denn es ist die Macht Gottes (dynamis theou) also der machtvolle Gott selbst! -, der im Evangelium als Seinem Wort machtvoll zugegen ist zum Heil für jeden, der glaubt zuerst für den Juden, dann aber für alle Menschen. Denn die Gerechtigkeit Gottes (dikaiosyne theou) also der gerechtmachende Gott selbst! offenbart sich in diesem sich selbst vergegenwärtigenden Gott, wenn im Glaubenden die Kraft des Glauben immer wirksamer wird. So nämlich steht es beim Propheten Habakuk also in der Schrift! als Wort Gottes geschrieben: ,Nur wer aus dem Glauben gerecht geworden ist, nur der wird leben! «< Der entscheidende Punkt meiner Paraphrase ist die Interpretation der beiden »Eigenschaften« Gottes durch das Gottesprädikat: Die Macht Gottes als der mächtige Gott, die Gerechtigkeit Gottes als der gerechte, d.h. gerechtmachende Gott. Diese Interpretation ist theo-logisch begründet. Denn es gibt ja keine von Gott separierbaren Eigenschaften! Vielmehr ZNT 12 (6. Jg. 2003) Hans Hübner Kanon - Geschichte - Gott gehört es zum Wesen des sich in der Geschichte des Alten und des Neuen Bundes offenbarenden Gottes, daß er mächtig und gerecht ist. Sind aber Macht und Gerechtigkeit Wesens-Eigenschaften Gottes, sind sie also das, was Gott in seiner Göttlichkeit ausmacht, so ist die Macht Gottes der mächtige Gott, und so ist die Gerechtigkeit Gottes der gerechte Gott! Dann aber ist das Evangelium als der sich in seinem Wort aussprechende Gott identisch mit dem mächtigen und gerechten Gott. Dann ist es auch kein theologisches Wagnis mehr zu formulieren: Paulus bekennt das Evangelium als den sich im Evangelienwort aussprechenden Gott. Im Wort des zu-gesprochenen Evangeliums ist also der sich dem glaubenden Menschen zu-sprechende Gott präsent. Im Wort des Evangeliums ist der sich aus-sprechende Gott als der den Menschen an-sprechende Gott gegenwärtig. Schon vom Alten Testament her ist das Verhältnis von Gott und Mensch das Verhältnis von Sprechen und Hören. Gott spricht zum Menschen, z.B. Gen 22,1: »Abraham! «, und Abraham erwidert: »Hier bin ich! « Und der Mensch spricht zu Gott, z.B. Ps 27,7f.: »Herr, höre meine Stimme, wenn ich rufe; / sei mir gnädig und erhöre mich! « Der Psalmist beruft sich auf Gottes Wort: »Mein Herz hält dir vor dein Wort: ,Ihr sollt mein Antlitz suchen.< Darum suche ich auch, Herr, dein Antlitz.« Gott spricht sein Ich und sein Du. Und Gott hat den Menschen nach seinem Bilde geschaffen, der deshalb sein Ich und sein Du sagen kann und sagen soll. Es ist, fundamentaltheologisch gesprochen, diese bereits im Alten Testament fundamentale Dimension des Personalen, 10 die das reziproke Verhältnis von Gott und Mensch bestimmt und die das christologisch-soteriologische und zugleich das anthropologische Fundament des kerygmatischen Geschehens ausmacht, wie es z.B. in Röm 1,16f. programmatisch zum Ausdruck kommt. Das von Paulus verkündigte Evangelium versteht sich von demjenigen Gott her, der den Menschen auf seine Rettung hin anspricht. Ist in Röm l,16f. vom Glauben die Rede, also von dem, was im Gefüge des soteriologischen Geschehens Sache des Menschen ist, dann kann von solchem Glauben nur innerhalb des personalen Parameters gesprochen werden: Gott in seinem personalen Charakter hat den Menschen als personales Wesen erschaffen. Gott gibt sich in diesem Kontext zu 7 verstehen. Gott erschließt sich als der fordernde und der begnadende Gott. Gott offenbart sich selbst. Der personhafte Gott offenbart sich dem von ihm personhaft geschaffenen Menschen. Persona ad personam loquitur! Nur die Person spricht zur Person! Gott ist also in seinem Wesen der Deus hermeneuticus, 11 der hermeneutische Gott. Zur christologischen Vertiefung noch ein Blick auf den Prolog des Johannes-Evangeliums! 12 Da ist vom Logos auf deutsch: vom Wort die Rede. Dieser Logos existiert bereits »im Anfang«, nämlich dort bei dem Gott (mit Artikel: ho the6s). »Anfang« meint aber gar nicht so sehr den chronologischen Anfang, sondern diejenige Wirklichkeit, die jenseits aller Zeit besteht, nämlich die Ewigkeit. Aus dieser jenseitigen, nämlich göttlichen Ewigkeit wird der Logos Mensch. Gott begibt sich im Logos also in dem die Menschen ansprechenden göttlichen Wort in die Zeit und die Geschichte hinein. Gott wird so trotz seiner jenseitigen, göttlichen Seinsweise ein geschichtliches Wesen. Gott hat die Zeit und die Geschichte erschaffen, und er hat die zeitlich-geschichtlichen Menschen erschaffen. Gottes Ewigkeit wurde Zeit, ohne seine Ewigkeit preiszugeben. Der göttliche Logos ist also, obwohl wesenhaft Gott (ohne Artikel in Joh 1,1: »Und Gott, the6s war der Logos«), ein zeitlich personales Wesen geworden. Mit terminologischer Anleihe an den Römerbrief formuliert: Gerade als dieser Gott ist er das menschgewordene Evangelium. Die soteriologische Evangeliums-Theologie des Paulus entspricht also in ihrer ureigenen theologischen Intention der christologischen Logos-Theologie des Johannes. Kommen wir wieder auf die Frage nach dem Kanon zurück! Er ist das Feste, das theologisch Normgebende, das den Menschen theologisch Behaftende. Der Kanon ist somit für den glaubenden Menschen verbindlich. Was ist nun aber nach Röm 1 und Joh 1 für den Menschen kanonisch? Nicht in erster Linie eine Schrift, obwohl Paulus und Johannes aus grundsätzlichem theologischem Denken an der Schrift Israels als Schrift! festhalten. Für beide neutestamentlichen Autoren ist ja die Bibel Israels auch die verbindliche Schrift der Kirche. Aber in erster Linie geht es ihnen theologisch um den in Christus sprechenden Gott, christologisch um den menschgewordenen Logos, soteriologisch-kerygmatisch um den im 8 Evangelium präsenten Gott. Dann aber können wir sagen, daß sowohl der göttliche Logos als auch das göttliche Evangelium der für den Glaubenden verbindliche Kanon ist: Der Logos ist der christologische Kanon. Das Evangelium ist der kerygmatische Kanon, wobei theologisch der Logos und das Evangelium die eine göttliche Wirklichkeit im Wort-Ereignis ausmachen. Und die kanonische Schrift, von Israel her als Kanon empfangen und von den neutestamentlichen Autoren als Autorität des sprechenden Gottes angesehen, bleibt zunächst der einzige schriftliche Kanon, der aber im Lichte des Logos und des Evangeliums gelesen und verstanden wird. Für Paulus und für Johannes steht somit auch wenn sie es nicht expressis verbis sagen und es auch nicht expressis verbis so zugäben der mündliche Kanon des Logos und des Evangeliums über dem schriftlichen Kanon. Von ihrem Anfang her, ihrem Ur-Sprung her, ist die Kirche Kirche des Wortes, nicht aber Kirche der Schrift! Kerygmatisch ist also der in seinem Ursprungssinn verstandene Kanon des Christen der in seinem Worte sich aussprechende Gott. Wir kommen zum nächsten Schritt: Das mündliche Evangelium und der Logos, der mündlich gesprochen hat, sind uns jedoch nur schriftlich überliefert. Also gerade das, was wir eben den mündlichen Kanon genannt haben, ist uns nur schriftlich zugängig! Paradox formuliert: Der mündliche Kanon in schriftlicher Gestalt! Paulus hat seinen Brief an die Römer geschrieben. Er wurde in der römischen Gemeinde (den römischen Gemeinden? ) vorgelesen, also mündlich verkündet. Der dem Sekretär diktierte, also aus der Mündlichkeit entstandene Brief wird in Rom aus seiner schriftlichen Gestalt wieder in mündliche Rede zurückübersetzt. Der Brief spricht in Kap. 1 sicher »über« das Evangelium, er ist ja seiner Intention nach die Verkündigung des Evangeliums. Der Brief bleibt erhalten. Als erhaltenes Schreiben wirkt der Brief in die Jahrhunderte, in die Jahrtausende. Der Brief als zunächst mündlich intendierter Kanon wird nun zum schriftlich verfaßten Kanon. Zwar zunächst ohne den Begriff »Kanon«, aber, aus der Perspektive unserer theologischen Terminologie gesehen, wurde er kraft der in ihm ausgesprochenen apostolischen Autorität ein »Stück« dessen, was wir heute als den Kanon des Neuen Testaments besitzen. Und ZNT 12 (6. Jg. 2003) heute heißt es auf der Kanzel: »Häret das Wort Gottes, wie es aufgezeichnet ist im Brief des Apostels Paulus an die Römer im ersten Kapitel! « Und dann »hört« die Gemeinde das Evangelium vorausgesetzt, der Prediger sagt mit theologischer Kompetenz und Verantwortung das, was Paulus vor zwei Jahrtausenden sagen wollte. Der schriftliche Kanon ist wieder zum mündlichen Kanon geworden! Der schriftliche Kanon hat wieder sein Ziel erreicht. 3. Der christliche Kanon und die Biblische Theologie Wir haben soeben das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit bedacht und dabei die Priorität des mündlichen Wortes herausgestellt. Dieses zu sprechende und dann auch gesprochene Wort ist, vom genuinen Kanongedanken her gesehen, der eigentliche theologische Kanon, die eigentliche Norm und Verbindlichkeit des christlichen Glaubens. Alle biblische Schriftlichkeit will sich ja in der Mündlichkeit, im Wort also, verwirklichen. Nun wird allerdings, geradezu im Gegenzug zu diesem Aspekt, immer wieder zur Begründung des mündlichen Wortes das schriftliche Wort der Schrift angeführt, Schrift nämlich im Sinne der später Altes Testament genannten Schrift Israels. Da heißt es z.B. »Wie geschrieben steht« oder »Wie die Schrift sagt«. Wird damit aber nicht all das, was wir eben überlegt haben, widerlegt? Ist das Christus-Geschehen wirklich deshalb Heilsrealität, weil eine Schrift dieses Geschehen legitimiert? Und selbst wenn wir nicht von der Schrift als Schrift ausgehen und uns z.B. einen Gottesdienst der ersten Gemeinden vor Augen stellen, geschieht nicht da erst recht die Umkehrung unserer oben angestellten Überlegungen? Da wird die Schrift verlesen, vielleicht aus dem ]es-Buch das Kap. 53, und dann diese Schrift-Stelle zur Voraussetzung, zum Fundament der Predigt gemacht! Lautet also das hermeneutische Grundprinzip vom Alten Testament her Scriptura fundamentum, lautet es: die Schrift ist das Fundament der Christuspredigt? Wollte man dem zustimmen, so wäre die Schrift Israels der primäre Kanon, der die Christus- Verkündigung zum sekundären Kanon abwertete! Formal trifft unbestreitbar zu, was ich gerade ZNT 12 (6.Jg. 2003) gesagt habe aber eben: nur formal! Das Problem als solches ist nämlich wesentlich schwieriger. Berufung auf die Schrift ist schließlich nicht gleich Berufung auf die Schrift. Es kommt ganz und gar auf das Wie dieser Berufung an. Warum sollte die Bibel Israels die theologische Voraussetzung für die Christusbotschaft sein? Weil sie zeitlich der kirchlichen Verkündigung vorausging? Etwa weil die Offenbarung des Logos in den alttestamentlichen Offenbarungen ihren theologischen Seins-Grund hat? Weil Israel als das ekklesiologische Fundament der Kirche J esu Christi anzusehen wäre? Ist also die Geschichte des Alten Bundes zwischen Gott und seinem auserwählten Volk Israel der theologische Grund der Geschichte des Neuen Bundes, und zwar in dem Sinne, daß Alter und Neuer Bund als uneingeschränkte Kontinuität zu sehen wären? Immerhin gilt theologisch, daß der sich im Alten Bund offenbarende Gott, nämlich J ahwäh als der sich Israel offenbarende Gott, der autoritativ in der Heiligen Schrift Israels spricht, von den neutestamentlichen Autoren als derjenige in Anspruch genommen wird, der in der gegenwärtigen eschatologischen Heilszeit die an Christus Glaubenden anspricht. Der im Alten Testament sprechende Gott Israels spricht ja im Verständnis vieler neutestamentlichen Autoren sogar noch entschiedener zu den Glaubenden des Neuen Bundes als in alttestamentlicher Zeit zu den Israeliten. Nur ein Beispiel: In Hebr 3,7ff. zitiert der Autor Ps 95,7-11. Das Zitat beginnt mit den bezeichnenden Worten: »Heute, wenn ihr seine Stimme hören werdet, so verstockt eure Herzen nicht, wie es geschah bei der Verbitterung am Tage der Versuchung in der Wüste, wo mich eure Väter versuchten! « Dieses Heute bezieht der Verfasser des Hebr auf seine christliche Gegenwart. Er sieht in diesen Worten die Adressaten seines Briefs angesprochen, Hebr 4,2: »Denn es ist auch uns verkündigt wie jenen.« Und dann in V.7: »Gott bestimmt abermals einen Tag, ein >Heute<, und spricht nach so langer Zeit durch David, wie eben gesagt: >Heute, wenn ihr seine Stimme hören werdet, so verstockt eure Herzen nicht! «< Damit ist aber eine rein chronologische Sicht abgetan. Denn die Vergangenheit ist in Hebr 4 in die Gegenwart hineingenommen. David spricht heute zu Christen. Und durch David spricht heute der Gott Israels, der damals gesprochen hat, 9 zu ihnen. Vergangenheit und Gegenwart koinzidieren. Das ist übrigens ein Zeitdenken, das bereits alttestamentlich verifizierbar ist. So spricht Mose zu den Israeliten, nachdem sie längst den Sinai, den Berg der Gesetzgebung, verlassen hatten, Dtn 5,1-3: »Und Mose rief ganz Israel zusammen und sprach zu ihnen: >Höre, Israel, die Gebote und Rechte, die ich heute vor euren Ohren rede, und lernet sie und bewahrt sie, daß ihr danach tut! Der Herr, unser Gott, hat am Horeb einen Bund mit uns geschlossen. Er hat nicht mit unsern Vätern diesen Bund geschlossen, sondern mit uns, die wir heute hier sind und alle leben.«< Wieder also das bezeichnende »Heute«! Was vor vierzig Jahren am Horeb geschehen war, das geschieht »heute« am Ende der Wüstenwanderung. Die Überwindung des rein chronologischen Denkens ist also offenkundig bereits im Alten Testament begründet. Dieses Alte Testament kennt unbestreitbar die Chronologie, kennt sie sogar sehr gut. Aber sie ist keinesfalls sein eigentliches Zeitdenken. Weil der ewige, also zeitüberlegene Gott damals und heute handelt, ist seine Ewigkeit als seine Zeittranszendenz der eigentliche Parameter seines Handelns. Von Gott her, der wesen-haft über allen Zeiten steht (Ps 90,4! ), fallen Vergangenheit und Gegenwart in eins. In Gott gibt es kein Nacheinander, in Gott ist alle Zeit zugleich. Wir nehmen dieses biblische Zeugnis zur Kenntnis; was jedoch diese Ewigkeit in ihrem transzendenten Sein besagt, das bleibt uns, weil wir nun einmal in unserem immanenten Sein zeitliche Existenzen sind, in fundamentaler Weise verschlossen. Diese biblische Koinzidenz der Zeiten muß aber zusammengesehen werden mit einer eigentümlichen Verschränkung von M ündlichkeit und Schriftlichkeit. Es ist nicht nur auffällig, sondern vor allem interpretationsrelevant, daß damit, daß auf früher Geschriebenes verwiesen wird, zugleich auf früher Gesagtes verwiesen wird. Greifen wir auf das bereits genannte Zitat von Ps 95 in Hebr 3 und 4 zurück. Die Einführungsformel lautet: »Darum, wie der Heilige Geist spricht: « Hier geht es um das Sprechen des in diesem Brief zitierten alttestamentlichen Textes. Zitate des geschriebenen Alten Testaments werden um des Hörens willen gebracht. Im zitierten Psalm findet sich der markante Imperativ »Hört! «. Das Schriftliche wird durch die Implikation des 10 Mündlichen relativiert, das Mündliche aber durch die Faktizität des Schriftlichen. Nicht nur Zeiten fließen ineinander, auch die beiden Modi des Schreiben und Redens, des Lesen und Hören werden zu einer Einheit. Und noch in einer weiteren Hinsicht wird das Vetus Testamentum in Nova receptum zum Problem. Denn auf der einen Seite gilt das ganze Alte Testament als Autorität. Auf der anderen Seite werden aber wichtige, sogar zentrale alttestamentliche Inhalte außer Kraft gesetzt. Auf der einen Seite wird im Neuen Testament die Schrift als letztgültige Autorität angeführt. Auf der anderen Seite werden in ihm aber inhaltliche Aussagen der Schrift als erledigt hingestellt. Auf der einen Seite heißt es, daß kein Jota und kein Häkchen vergeht (Mt 5,18), auf der anderen Seite fallen nicht nur Jota und Häkchen hin, sondern ganze Passagen. Wie verträgt sich das? Fügt man einmal die alttestamentlichen Zitate und Anspielungen im Neuen Testament wie Mosaiksteinchen zusammen, so bietet das auf diese Weise zusammengesetzte Alte Testament gerade kein Spiegelbild des ganzen Alten Testaments! Man mag zunächst einwenden, daß in neutestamentlicher Zeit in der mündlichen Verkündigung und Katechese ein größerer Teil des Alten Testaments zur Sprache gekommen sein könnte, als sich aus dem Neuen Testament erheben läßt. Ob allerdings dieses »Mehr«, wenn es überhaupt gegeben wäre, quantitativ und qualitativ erheblich wäre, ist äußerst unwahrscheinlich, da sich im Neuen Testament gerade diejenigen Aussagen des Alten Testaments finden, die für die neutestamentliche Christologie und Soteriologie bedeutsam sind. Von welcher Seite man auch immer die Problemlage sieht, es bleibt der Tatbestand: Das ganze Alte Testament läßt sich nicht als Fundament der neutestamentlichen Grundaussage anführen. Es bleiben Differenzen zwischen Altern und Neuem Testament, die sich nicht mit einigen raffinierten Kunstgriffen beseitigen lassen. Wenn z.B. die Speisegesetzgebung (Lev 11; Dtn 14), die immerhin massiv die Praxis des jüdischen Lebens verbindlich regelt, im Pentateuch als unbedingt gebietender Wille J ahwähs ausgesprochen ist, in Apg 10,9-16, vor allem in 10,15, aber vom Himmel her mit göttlicher Autorität außer Kraft gesetzt ist, dann sind in der neuen, der christlichen Heilsordnung Lev 11 und Dtn 14 aufgehoben und gehören nicht ZNT 12 (6. Jg. 2003) mehr zu den Teilen des Alten Testaments, die den Christen, sei er Judenchrist oder Heidenchrist, bindet. Theologisch erheblich ist vor allem die Differenz in der Soteriologie, wie sie z.B. in aller Offenheit im Hebräerbrief ausgesprochen ist: Der alttestamentliche Opferkult des Tempels wird in der Argumentation sogar vom Alten Testament her! als unwirksam hingestellt (Hebr 7-10). Das Alte Testament selbst behauptet also nach einer theologisch besonders wichtigen Schrift des Neuen Testaments seine eigene theo- Blick auf die Frage nach der Rezeption der ganzen Bibel Israels. Meine Unterscheidung dürfe »nicht verkennen lassen, daß die neutestamentlichen Autoren [...] allesamt die heiligen Schriften Israels [...] als eine Ganzheit gesehen und in dieser Ganzheit als Heilige Schrift weiterhin akzeptiert haben«. 14 An dieser Stelle besteht noch Diskussionsbedarf zwischen uns. 15 Der wichtigste Gesprächspartner für die Frage, ob das ganze Alte Testament für das theologische Verständnis der neutestalogische Aufhebung! Das unumgängliche Fazit: Wer das Neue Testament als ihn bindende Offenbarungsurkunde des Neuen Bundes anerkennt, kann zentrale Aussagen des Alten Testaments nicht anders als abrogiert verstehen. Sind somit vom Alten Testa- » Wer das Neue Testament als ihn bindende Offenbarungsurkunde des Neuen Bundes mentlichen Autoren unverzichtbar sei, ist BREVARD S. CHILDS mit seiner »Biblical Theology of the Old und New Testaments«. 16 Die Grundvoraussetzung seiner Biblischen Theologie ist die Konzeption vom canonical anerkennt, kann zentrale. Aussagen des Alten Testaments nicht anders als abrogiert verstehen.« ment her zentrale theologische Aussagen rezipiert und in die Geltung des Neuen Bundes hineingenommen, jedoch andere gerade nicht rezipiert, sondern ausdrücklich abrogiert, so besagt das, daß einerseits das Neue Testament als theologisches Kriterium des Alten fungiert, andererseits aber theologische Grundaussagen des Neuen Testaments im Alten fundiert sind. THOMAS SÖDING sieht klar, daß im Horizont Biblischer Theologie dadurch für die christliche Exegese des Alten Testaments ein Problem entsteht, daß im Neuen Testament Texte und Themen der »alttestamentlichen« Schrift zwar höchst unterschiedlich intensiv rezipiert werden, dies aber durchweg in einer christologischen Hermeneutik geschieht. Aus dieser Sicht begrüßt er meine Unterscheidung von Vetus Testamentum in se und Vetus Testamentum in Nova Testamento receptum als hermeneutisch höchst aufschlußreich.13 Damit trifft er sich in der Sache mit DoH- MENS These von der »doppelten Hermeneutik« im Blick auf die Bibel Israels als Glaubensurkunde des Judentums und als Altes Testament. Diese Unterscheidung habe ich ja als konvergent mit meiner Sicht bejaht (s.o.). Ich bin also mit Söding und Dohmen einig, daß diese Unterscheidung eine hermeneutisch relevante Unterscheidung ist. Und ich begrüße vor allem, daß beide der Hermeneutik einen so hohen Stellenwert beimessen. Different urteilen allerdings Söding und ich im ZNT 12 (6. Jg. 2003) approach, Kanon dabei verstanden als die verbindliche formale Einheit beider Testamente in ihrer geschriebenen Ganzheit. Aufgrund dieser Konzeption verlangt Childs die Anerkennung der göttlichen Autorität aller Teile des Alten und des Neuen Testaments. Wäre aber die uneingeschränkte göttliche Autorität für alle biblischen Bücher in all ihren Teilen kraft der Setzung dieses Kanonprinzips gefordert, dann gälte für das Alte Testament die gleiche Dignität wie für das Neue, dann wären per definitionem Abstriche oder Relativierungen theologisch unzulässig, wie sie in meiner Unterscheidung von Vetus Testamentum und Vetus Testamentum in Nova receptum impliziert sind. Wenn ich Childs richtig verstanden habe, dann ist der Kanon in seiner schriftlichen Zweiteilung ich sage es einmal mit meinen Worten die schriftliche Verobjektivierung des Wortes Gottes; er ist das mit Gottes Autorität Gegebene, das aufgrund seiner primären Geltung als schriftlich Gegebenes nicht hinterfragt werden darf. Gott hat sozusagen das Buch der Bibel mit seiner Autorität gegeben. Allerdings sei ausdrücklich gesagt: Auch Childs bemüht sich methodisch um die alttestamentlichen Zitate und Anspielungen im Neuen Testament. Auch er will es nicht bei diesen Zitaten und Anspielungen bewenden lassen, da ja die Zitate oft nur dann in ihrem Rezeptionssinn voll erfaßt werden können, wenn ihr jeweiliger Kontext bedacht wird. Hierin bin ich im Grundsatz mit Childs einig. 11 Methodologisch geht also Childs in wichtigen Fragen in die richtige Richtung. Aber daß sein canonical approach theologisch und hermeneutisch hinsichtlich der Bezobe des schriftlichen Corpus als Kanon zurechtfinden. Der oben beschriebene Weg vom verkündigten, gepredigten Wort des Evangeliums zur genheit beider Testamente aufeinander zu Unklarheiten führt, scheint mir auch nach seinem Aufsatz in der ThZ, in dem er sich ausführlich mit meiner Unterscheidung auseinandersetzt, nicht beseitigt.17 Es ist hier, schon allein aus Platzgründen, nicht der » Worum es aber geht, ist, daß im Neuen Testament sowohl schriftlichen Fassung 23 ist, wenn ich die Inkarnation des Logos und in deren Folge die Geschichte der Kirche - und das besagt auch: die Kirche in ihrer Geschichtlichkeit wirklich ernst nehme, konstitutiv für den Kanon-Begriff. Und was neutestamentlich in das Alte Testament in seinem Originalsinn als auch in einem mit dem Originalsinn nicht identischen Rezeptionssirm zitiert wurde.« Ort zu einem erneuten Dialog mit Childs; leider konnte die briefliche Diskussion nach der Publikation des 3. Bandes meiner »Biblischen Theologie des Neuen Testaments« 1' wegen einer damaligen Erkrankung von Childs nicht weitergeführt werden. Soviel sollte ich allerdings noch sagen: Sein Einwand gegen meinen hermeneutischen Ansatz basiert auf der inhaltlichen Totalität der hebräischen Bibel. Er selbst gibt aber zu, daß die beiden Testamente »nicht eine harmonische, bruchlose Einheit [formen], sondern [...] oft in störender Spannung« stehen. 19 Dennoch erklärt er: »Das Argument schließlich, das Alte Testament in seiner ursprünglichen Intention habe niemals Autorität besessen für die frühe Kirche, bedeutet, die hermeneutische Frage anachronistisch von einer nach-aufklärerischen Position her aufzuwerfen. Die frühe Christenheit sah keine Polarität zwischen einer rekonstruierten ursprünglichen Intention eines Textes und einer nachfolgenden Applikation.« 20 Daß die frühe Christenheit eine solche Polarität nicht sah, ist zwischen Childs und mir unbestritten. Ich habe selbst mehrfach darauf verwiesen, daß meine Unterscheidung von Vetus Testamentum und Vetus Testamentum in Nova receptum nicht die der neutestamentlichen Autoren war, ja gar nicht deren Intention sein konnte, sondern aus unserer heutigen Sicht getroffen wurde von mir aus »nach-aufklärerischen Position«. Worum es aber geht, ist, daß im Neuen Testament sowohl das Alte Testament in seinem Originalsinn 21 als auch in einem mit dem Originalsinn nicht identischen Rezeptionssinn zitiert wurde. Und eine Lösung für diese doch nicht von mir geschaffenen Schwierigkeit finde ich bei Childs nicht. 22 Ich kann mich einfach nicht mit der thetischen Vorga- 12 dieser Hinsicht zu sagen ist, hat auch Relevanz für die Sicht des Alten Testaments. Natürlich war die Bibel Israels der werdenden Kirche als »Schrift« vorgegeben. Aber gerade in der Diskussion der für die neutestamentlichen Autoren mit göttlicher Autorität sprechenden Schrift (z.B. Gal 5,30; Röm 10,19-21) muß bedacht werden, daß sie sich vom Inhalt des mit seiner göttlichen Autorität sprechenden Gottes her, nicht aber wegen eines von ihnen nicht reflektierten formalen Schriftprinzips auf diese Schrift beriefen. Es dürfte also zu wenig sein, wenn Childs den in Anm. 8 schon zitierten Satz Augustins anführt. 3.1 Anmerkungen zur Intertextualität Betrachten wir das Ganze einmal aus der Perspektive einer Methodik, die erst in jüngster Zeit, aus der literaturtheoretischen Diskussion entlehnt, in der biblische Exegese eine Rolle spielt. Ich meine die Intertextualität. 1989 erschien RICHARD B. HAYS' Monographie »Echoes of Scripture in the Letters of Paul«. 24 Man mag an diesem Werk Kritik üben, weil es die philosophischen Implikationen der Intertextualität nicht hinreichend bedacht habe. Aber eine solche Kritik ist eine bloß marginale Kritik, da dieses Buch beanspruchen darf, eine methodologisch bahnbrechende und in entscheidender Weise weiterführende Arbeit zu sein. 25 Es geht in der Intertextualität26 um die Beziehungen von Texten zueinander, geradezu um den Dialog von Texten. In dem von ihr herausgegebenen Sammelwerk über Dialogizität" unterscheidet RENATE LACHMANN hilfreich zwischen dem textontologischen und textdeskriptiven Aspekt in Untersuchungen zur Intertextualität. M.E. können beide Aspekte nicht ZNT 12 (6. Jg. 2003) getrennt werden, will man nicht den Sinn dieses methodologischen Vorgehens verkürzen. Es war kein Geringerer als UMBERT0 Eco, der in seinem Roman »Der Name der Rose« in den Erinnerungen des Adson von Melk, des Begleiters Williams von Baskerville, den dialogischen Charakter der Bücher sehr konkret vor Augen stellt. Adson wird von William belehrt, daß Bücher oft von Büchern sprechen. In der Erinnerung an seinen Lehrmeister sagt Adson im Rückblick auf sein Leben: »Nun ging mir plötzlich auf, daß die Bücher nicht selten von anderen Büchern sprechen, ja, daß es mitunter so ist, als sprächen sie miteinander. Und im Licht dieser neuen Erkenntnis erschien mir die Bibliothek noch unheimlicher. War sie womöglich der Ort eines langen und säkularen Gewispers, eines unhörbaren Dialogs zwischen Pergament und Pergament? Also etwas Lebendiges, ein Raum voller Kräfte, die durch keinen menschlichen Geist gezähmt werden können, ein Schatzhaus voller Geheimnisse, die aus zahllosen Gehirnen entsprungen sind und weiterleben nach dem Tod ihrer Erzeuger? « 2 ' Adson läßt also seine Phantasie arbeiten. Auch Phantasie steht im Dienste der Erkenntnis und des Verstehens. Wissenschaft auch Theologie! wäre ohne Phantasie ziemlich arm! Also erlaube man mir, daß ich an der Stelle weiter phantasiere, wo Adson geendet hat. Ich komme dabei auf eines meiner Spezialgebiete zu sprechen, nämlich auf das Verhältnis der beiden biblischen Testamente zueinander. Also auf unser Thema: der doppelte Kanon als Musterfall von Intertextualität! Da geht es um das Verhältnis des neutestamentlichen Galaterbriefs zur alttestamentlichen Genesis, um das Verhältnis des neutestamentlichen Römerbriefs zum Buche des Propheten Jesaja, um das Verhältnis des Hebräerbriefs zu den fünf Büchern des Mose u.s.w. Der auf dem Gebiet der Biblischen(== gesamtbiblischen) Theologie Arbeitende kann sich hier so richtig intertextuell tummeln! Also: Ich phantasiere! Ich lausche dem Dialog der biblischen Bücher. Da ist der Römerbrief. Er befindet sich sogar im Gespräch mit recht vielen Büchern des Alten Testaments. Aber mehr noch: Er befindet sich im Dialog mit denjenigen alttestamentlichen Büchern, die er in die Diskussion miteinander bringt, und zwar so, daß er sich auch selbst an ihr engagiert beteiligt. Da berichtet er in den Kapiteln 9-11 über das Verhältnis von Syna- ZNT 12 (6. Jg. 2003) goge und Kirche. In genau diesem Zusammenhang hetzt er mit einer gewissen Raffinesse zwei Bücher des Mose aufeinander. Er läßt zuerst das Buch Leviticus sprechen (Lev 18,5): »Wer sie [die Gebote des Mose] tut, der wird kraft ihrer leben! « Und er selbst, dieser Brief des Paulus, führt dieses Diktum mit folgenden theologisch brisanten Worten ein: »Denn Mose schreibt [Präsens! ] über die Gerechtigkeit aus dem Gesetz: « Doch der Römerbrief läßt das Buch Leviticus nur deshalb seine Überzeugung äußern, um ihm sofort durch das Buch Deuteronomium widersprechen zu lassen, und zwar so, daß er es in seinen theologischen Dienst stellt. Er führt nämlich das Dtn- Zitat mit den Worten ein »Die Gerechtigkeit aus dem Glauben sagt aber: « und läßt dieses Buch zunächst Dtn 9,4 sprechen: »Du sollst in deinem Herzen nicht sagen: Wer wird in den Himmel auffahren? «, um dann dieses Buch auch noch erklären zu lassen (Dtn 30, 14): »Nahe ist dir das Wort, in deinem Munde und in deinem Herzen.« Und er selbst, der Römerbrief, sekundiert dem Buch Deuteronomium, indem er das nahe Wort als dasjenige Wort bezeichnet, das der Apostel Paulus als Wort des Glaubens verkündet (Röm 10,8)." Röm 10,5-8 ist demnach ein theologisches Streitgespräch von drei biblischen Büchern. Ob der Mönch Adson von Melk es in seinem schönen Kloster oberhalb der Donau gemerkt hat, als auch er einmal wieder den Römerbrief las in seiner Erinnerung an sein Gespräch mit William von Baskerville: »Nun ging mir plötzlich auf, ... als sprächen die Bücher miteinander«? Röm 10,5ff. verdiente schon die Überschrift: Biblische Intertextualität! Das war also ein intertextuelles Spiel, allerdings ein sehr ernstes, so amüsant es auch vielleicht klingen mag, wenn vom theologischen Spiel die Rede ist. Es sei noch bei diesem intertextuellen Spiel darauf aufmerksam gemacht, daß in V. 5 nicht vom redenden, sondern vom schreibenden Mose die Rede ist. Doch die im Buche Deuteronomium geschriebene Gerechtigkeit aus dem Glauben bezeichnenderweise wird hier Mose nicht genannt! spricht. Also: Die sprechende Gerechtigkeit aus dem Glauben gegen die nicht mehr geltende! geschriebene Schrift des Mosel Was gesprochen wird, gilt; was geschrieben ist, gilt nicht. Ausgerechnet im inter-text-uellen Dialog die Abwertung des Textes! Die Gerechtigkeit 13 aus dem Glauben spricht vom Wort, betont als Wort im Munde undmehr noch! im Herzen. Das Herz aber ist bekanntlich in der biblischen Sprache das eigentliche Ich des Menschen, hier also das eigentliche Ich der intertextuell personifizierten Glaubensgerechtigkeit. Und so zielt das Ganze auf das Ende von V. 8: Dieses Wort des Glaubens ist das, was der Apostel verkündet, was er verkündend spricht - und sei es auch durch das Medium des Textes eines Briefes. Wir stellen fest, daß die hier diskutierte intertextuelle Beziehung wir blieben, um mit Renate Lachmann zu sprechen, im Bereich der textdeskriptiven lntertextualität die Texte im Ganzen von Schrift und Wort bedenkt. lntertextualität zielt über den Text hinaus. Es würde mich reizen, gerade an dieser Stelle auch die philosophische Diskussion über den textontologischen Aspekt zu führen, doch führte das zu weit über die hier abzuhandelnde Thematik hinaus. (Ende 3.1) Kommen wir wieder auf das zurück, was zum Kanon und Kanonischen zu sagen ist. Kanonisch ist, was das theologisch »Feste« und das den existentiellen Halt Gebende ist. Kanonisch ist nach Röm 10, was die Glaubensgerechtigkeit und was in ihrem Auftrag der Apostel einen Be-griff eingezwängt werden! intersubjektiv zur vermitteln vermag. Aber er hat nicht verstanden, was Paulus mit dem rechtfertigenden Gott sagen wollte, weil er nicht verstanden hat, daß der biblische Gott der Deus pro nobis ist, »der Gott für uns«. Er hat die Wirklichkeit nicht verstanden, die mit dem Wort »Gott« ausgesagt ist, auch nicht und gerade nicht die Wirklichkeit des von Gott erlösten Menschen. Er hat ohne Selbstverständnis verstanden also nicht verstanden! Das ist der hermeneutisch springende Punkt! Ein kurzer Blick noch in die Religionsgeschichte: Der katholische indische Theologe RAYMOND PANIKKAR, engagiert im Dialog zwischen Christentum und Hinduismus, hat in seinem Aufsatz »Die Ummythologisierung in der Begegnung des Christentums mit dem Hinduismus«, einem Beitrag zur Buhmann-Debatte, darauf hingewiesen, daß die geschriebenen! - Veden für den Hinduismus nicht »Heilige Schrift«, sondern sruti, d.h. das Gehörte, sind. Sie seien »nicht Schrift sondern Wort und als Wort mächtig, gebieterisch, seinshaft, selbstruhend«. 30 Und kurz danach: »Das Wort ist Symbol kat' exochen ... Das Symbol ist nicht eine andere Wirklichkeit, das Wort Gottes ist nicht etwas anderes als Gott durch den Text und das Gespräch der Texte miteinander sagen, was Paulus im Kon- Text der »sprechenden« Texte sagt. Kanonisch ist, mehr »Kanonisch ist, mehr noch: selbst, es ist der geoffenbarte Gott, es ist Gott, insofern er für uns Gott ist.« 31 Eine interessante Parallele zu unserer Kanon ist die Verkündigung des Glaubenswortes.« noch: Kanon ist die Verkündigung des Glaubenswortes. Wem dieses gesagt ist und wer so das Gesagte verstehend hört (Röm 10, 17), der aber nur der! hat dieses Wort als den ihm geltenden Kanon verstanden. Wer jedoch gegenüber einem Nichtglaubenden vom Kanon spricht, kann ihm nicht vermitteln, was Kanon in seiner Eigentlichkeit bedeutet. Er mag damit etwas Formales durchaus zutreffend zum Ausdruck gebracht haben, nämlich den Kanon einer fixierten Anzahl von Büchern. Aber sein Gesprächspartner hat nicht begriffen und konnte auch nicht begreifen, was Kanon im tiefsten wirklich meint, weil er das mit Kanon wirklich Gesagte, nämlich das theologisch mit Kanon Gemeinte, nicht existentiell aufgefaßt hat. Er hat vielleicht erkannt, daß der theologische Kanonsbegriff mit Gott zu tun hat. Er hat vielleicht erfaßt, was ein Gottes-Begriff- Gott ist aber kein Begriff! Gott kann nicht in 14 Auffassung, daß der Kanon primär Wort und nicht Schrift ist! Auch in anderen Religionen finden wir also die Priorität des gesprochenen kanonischen Wortes, also des Wortes des sich offenbarenden Gottes. 4. Kanon - Geschichte - Gott Die Kapitelüberschrift ist dieselbe wie die Überschrift über dem ganzen Aufsatz. In ihr ist vom Kanon die Rede, ebenso von der Geschichte und von Gott. Bisher haben wir zwar ausführlich über den gegenseitigen Bezug von Kanon, Geschichte und Gott nachgedacht. Dennoch dürfte es angebracht sein, im Rückblick zusammenfassend das Gesamte als theologisches Geflecht transparent zu machen. Absicht der ganzen Darlegungen war, das, was zum Thema »Kanon« zu sagen ist, als streng theo-logischen Topos herauszuarbeiten. ZNT 12 (6. Jg. 2003) Zunächst programmatisch formuliert: Wer vom Kanon spricht, spricht implizit oder explizit von der Geschichte; wer vom Kanon spricht, spricht implizit oder explizit von Gott. Alle drei Termini machen eine theologische Trias aus. 32 - In Parenthese gesagt: Ich spreche bewußt von Termini, weil es sich schon allein wegen des Wortes »Gott« verbietet, von drei Begriffen zu sprechen. Denn es wäre ja ein blasphemischer Akt, Gott als Begriff, nämlich als be-griff-enen Gott (s.o.), zu minimieren und zu depotenzieren. - Alle drei Termini machen also eine theologische Trias aus, in der die Begriffe »Kanon« und »Geschichte« jetzt ist es freilich erlaubt, von »Begriffen« zu sprechen von der Wirklichkeit Gottes her ihren eigentlichen theologischen Sinn erhalten. Was Kanon in unserer Thematik meint, wird erst von Gott selbst aus deutlich. Gott ist ja, wie wir sahen, von der Bibel beider Testamente her der sich den Menschen Offenbarende, der sich ihnen Erschließende, also der Deus hermeneuticus. Gott spricht sein »Ich«. In diesem Sinne haben wir den theologischen Kanon als worthafte Realpräsenz Gottes verstehen können, der denen, die sich diesem Kanon gegenüber verpflichtet sehen, den letztgültigen existentiellen Halt gibt. Indem sich Gott selbst in seinem kanonischen Wort dem Menschen gibt - Gott gibt nicht »etwas«, Gott gibt sich selbst in seinem Worte - und ihn so damit behaftet und in seinen Dienst nimmt, beschenkt und begnadet er ihn. Nun ist der Mensch aber auch ein soziales Wesen. Dieser Aspekt gehört wesenhaft zum Dasein als Geschöpf Gottes. Als von Gott angesprochenes und als soziales Wesen ist er aber auch ein sprachliches Wesen. Als dieses sprachliche Wesen trägt ihn die Sprache in seiner Existenz. Bei aller möglichen Kritik an Martin Heidegger wird man ihm vielleicht doch abnehmen, daß die Sprache das »Haus des Seins« ist. 33 In diesem Hause wohnt der Mensch. Und so und theologischen Sphäre seiner Existenz. Die kirchliche Gemeinschaft ist auf die religiöse und theologische Sprache angewiesen, sie benötigt gerade zur Sicherung der eigenen Identität eine verbindliche Sprache. Es ist genau dieser Aspekt der Sprachlichkeit des Menschen, der nicht nur des kanonischen gesprochenen Wortes bedarf, sondern auch des kanonischen geschriebenen Wortes. Es gehört zur Geschichtlichkeit des Menschen, daß die Kirche von ihrer Entstehung an bis hin zu ihrer geschichtlichen Existenz in den heutigen Kulturkreisen mit deren weithin schriftlicher Verfaßtheit auf den schriftlichen Kanon ihrer Glaubensurkunden angewiesen ist. Kurz: Die Kirche bedarf des Kanons der Heiligen Schrift. Der schriftliche Kanon ist also eine ekklesiologische Notwendigkeit, angefangen vom Damals des Erbes des Alten Testaments und vom Damals der Entstehung des Neuen Testaments bis zum heutigen Tage. Aber - und an diesem Aber hängt sehr viel! dieser schriftliche Kanon, in dem Gott als der seine Wahrheit Aussprechende latent oder aktuell präsent ist, ist die geschichtliche Konsequenz des eigentlichen Kanons, nämlich des in seinem Evangeliumswort, d.h. in seinem Offenbarungswort präsenten Gottes, wie es bereits im Kapitel über den Weg vom kanonischen Wort zum Kanon der Kirche dargestellt wurde. In dieser Formulierung ist aber die Geschichte in mehrfacher Weise impliziert. Gott selbst wurde in einem Menschen geschichtliche Existenz, nach J oh 1, 14 wurde die Ewigkeit Zeit und Geschichte. Geschichte ist aber seit zweitausend Jahren ebenso die Zeit der Kirche, nämlich eine Geschichte des sich immer wieder in seinem Evangeliums- und Verkündigungswort vergegenwärtigenden Gottes. Gott ist Geschichte geworden, indem er als Kanon seines mündlichen und schriftlichen Wortes das Leben seiner Kirche gnadenhaft bestimmt. Das also ist die göttlich-kanonische Trias: Gott ist Geschichte ist er darauf angewiesen, daß er als soziales Wesen innerhalb seiner Mitmenschen kraft der Sprache nicht nur Alltäglichkeiten regelt, sondern auch in seinen Existenzfragen ansprechen und ange- »Gott ist Geschichte geworden, indem er als Wort, theologisch präziser.: als Kanon seines Wortes Geschichte geworden, indem er als Wort, theologisch präziser: als Kanon seines Wortes Geschichte geworden ist. Diese Geschichte begann jedoch schon vor der Inkarnation, nämlich im Kanon des Alten Testageworden ist.« sprochen werden kann. Es bedarf also auch einer sprachlichen Kommunikation in der religiösen ZNT 12 (6. Jg. 2003) ments, das uns von seiner Geschichte her mit seinem Bleibenden - Gott sagt sich in seinem richtenden und rettenden Ich aus - 15 und seinem überwundenen -Tempelkult, Reinheitsgesetz u. dgl. als göttliches und geschichtliches Buch gegeben ist, und zwar als alttestamentliches Erbe, von dem wir heute noch zehren! Anmerkungen In memoriam Professor Udo Borse. 1 Darin auch mein Aufsatz »Vetus Testamentum und Vetus Testamentum in Novo receptum. Die Frage nach dem Kanon aus neutestamentlicher Sicht« 135-146; jetzt in: H. Hübner, Biblische Theologie als Hermeneutik. Gesammelte Aufsätze, hg. von A. und M. Labahn, Göttingen 1995, 252-271. Darin ist in programmatischer Weise vorweggenommen, was ich später ausführlich dargelegt habe in: ders., Biblische Theologie des Neuen Testaments, 3 Bände, Göttingen 1990.1993.1995, vor allem in Bd. 1, 37-76. 2 Dies hat der Schreiber dieser Zeilen selbst erfahren. Seine Theologie wurde wegen der Kanonauffassung, die in seiner Konzeption der Biblischen Theologie begründet ist, aus Emotion als »blanker Markionismus« diffamiert; dabei wurde Markion unterstellt, er habe die Kirche »judenfrei« machen wollen (wir Älteren haben noch das nationalsozialistische »judenfrei« in grauenvoller Erinnerung! ); s. Hübner, Biblische Theologie, Bd. 3,283. 3 Text in 2 LThK, Das Zweite Vatikanische Konzil, Teil II, Freiburg/ Basel/ Wien 1967, 497-583, s. vor allem Caput I, De ipsa revelatione, Die Offenbarung. 4 H. Hübner, Vetus Testamentum. 5 Dazu ders., Eine moderne Variante der mittelalterlichen Lehre vom vierfachen Schriftsinn, in: Schrift Sinne. Exegese, Interpretation, Dekonstruktion, hg. von P. Chiarini und H.P. Zimmermann, Schriftenreihe des Forum Guardini 3, Berlin 1994, 54-64; jetzt in: ders., Biblische Theologie als Hermeneutik, 286-293. 6 Ch. Dohmen/ G. Stemberger, Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments (KStTh 1,2), Stuttgart/ Berlin/ Köln 1996. 7 So z.B. im zusammenfassenden Schlußkapitel »Das Konzept der doppelten Hermeneutik«, ebd. 211-213. 8 Augustinus, CSEL 28,2, 141: »quamquam et in vetere novum lateat et in novo vetus pateat«. (»Das Neue Testament ist im Alten verborgen und das Alte im Neuen offenbar.«) ' Dohmen/ Stemberger, Hermeneutik 190f. 10 M. Buber, Das dialogische Prinzip, Heidelberg 3 1973. 11 H. Hübner, Deus hermeneuticus, in: Th. Söding (Hg.), Der lebendige Gott. Studien zur Theologie des Neuen Testaments, FS W. Thüsing (NTA 31 ), Münster 1996, 50-58. 12 S. meinen in Kürze erscheinenden Aufsatz H. Hübner, en arche egß eimi; s. auch ders., Zuspruch des Seyns und Zuspruch Gottes. Die Spätphilosophie Martin Heideggers und die Hermeneutik des Neuen Testaments, in: P. Pokorny/ J. Roscovec (Hgg.), Philosophical Hermeneutics and Biblical Exegesis (WUNT 153), Tübingen 2002, 144-175. 13 Th. Söding, Probleme und Chancen Biblischer Theologie aus neutestamentlicher Sicht, in: Dohmen / Söding, Eine Bibel-zwei Testamente, 159-177; hier: 172. 16 14 Söding, Probleme, 172, Kursive durch mich. Dohmen lehnte 1993 in »Nur die halbe Wahrheit? «, 4 lf., meine aus der Differenzierung von Vetus Testamentum und Vetus Testamentum in Nova receptum erschlossene Folgerung, daß für das theologische Verhältnis der beiden Testamente das Vetus Testamentum receptum entscheidend sei, entschieden ab. Da er aber 1996 in »Hermeneutik der Jüdischen Bibel und des Alten Testaments« (s.o.) wesentlichen Punkten meines Ansatzes zustimmte, nehme ich an, daß darin zumindest eine partielle Zurücknahme seiner Kritik von 1993 zum Ausdruck kommt. 15 Eine ältere Differenz, die wir bis jetzt noch nicht ausräumen konnten. 16 B.S. Childs, Biblical Theology of the Old and New Testaments. Theological Reflections on the Christian Bible, Minneapolis, MN 1993, deutsche Übersetzung: Die Theologie der einen Bibel, Bd. 1: Grundstrukturen, Freiburg/ Basel/ Wien 1994; Bd. 2: Hauptthemen, 1996; s. auch ders., Biblische Theologie und christlicher Kanon, JBTh 3 (1988): Zum Problem des biblischen Kanons, 13-27; zur Kritik: M. Oeming, Text - Kontext - Kanon: Ein neuer Weg alttestamentlicher Theologie? Zu einem Buch von Brevard S. Childs, ib. 241- 251. 17 Ders., Die Bedeutung der hebräischen Bibel für die biblische Theologie, ThZ 48 (1992), 392-390. 18 Dort Antwort auf ThZ 48 auf S. 278-281. 1' Childs, ThZ 48, 388. 2 ° Childs, ThZ 48, 386. 21 S. z.B. H. Hübner, Eine moderne Variante der mittelalterlichen Lehre vom vierfachen Schriftsinn: Vetus Testamentum und Vetus Testamentum receptum, in: ders., Biblische Theologie als Hermeneutik, 286-293. 22 Ich verstehe einfach nicht, was er mit folgendem Satz meint, Childs, ThZ 48, 387: »In der unabweisbaren Tatsache, daß alttestamentliche Töne oft dissonant zum Neuen Testament klingen [! ], zeigt sich die Kraft des Alten Testaments, nicht seine Schwäche.« 23 Childs selbst nimmt doch auch diesen Weg zur Kenntnis, vgl. nur z.B. ders., Biblical Theology, 219ff., das Kapitel »The Church's Earliest Proclamation«. 24 R.B. Hays, Echoes of Scripture on the Letter of Paul, New Haven & London, 1989. 25 S. dazu meine Rezension, die ich wegen der Wichtigkeit dieses Werkes zu einem größeren Aufsatz ausgebaut habe: H. Hübner, Intertextualität die hermeneutische Strategie des Paulus? Zu einem neuen Versuch der theologischen Rezeption des Alten Testaments im Neuen, ThLZ 116 (1991), 881-898; jetzt in: ders., Biblische Theologie als Hermeneutik, 252-271. 26 Ich nenne hier nur ein (aus anglistischer Intention geschriebenes) Werk: U. Broich/ M. Pfister (Hgg.), unter Mitarbeit von B. Schulte-Middelich, Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985; erst ab 243 anglistischer Teil. 27 R. Lachmann (Hg.), Dialogizität, Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste, Reihe A, Bd. 1, München 1982, 8. 28 U. Eco, Der Name der Rose, München/ Wien 1982, 365f.; ausführlicher habe ich diesen Text meinem Aufsatz in ThLZ 116 vorangestellt. Zur Intertextualität s. auch U. Eco, Nachschrift zum »Namen der Rose« (dtv 580), München/ Wien 1986, vor allem 13.28.31-37. ZNT 12 (6. Jg. 2003) 29 Zur Textfrage: H. Hübner, Vetus Testamentum in Novo, Bd. 2, Göttingen 1997, 168-172; zum theologischen Problem: ders., Biblische Theologie, Bd. 2, 313- 315. Das dort vor etwa zehn Jahren Gesagte habe ich hier schon wieder in einigen Details etwas weitergedacht. 32 Wer angesichts des Wortes » Trias« die Trinität assoziiert, mag vielleicht etwas Richtiges sehen. Darf man sagen: Gott als Vater, der Kanon als der sich als Logos aussagende Sohn, Geschichte als Wirkort des Heiligen Geistes (Apg! )? 30 R. Panikkar, Die Ummythologisierung in der Begegnung des Christentums mit dem Hinduismus, in: Kerygma und Mythos VI-1: Entmythologisierung und existentiale Interpretation (ThF 30), Hamburg-Bergstedt 1963, 211-235; hier: 220. 33 M. Heidegger, Unterwegs zur Sprache, Pfullingen '1971, 166; dazu Hübner, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1, 203-239: Systematisch-theologische Erwägungen zur Offenbarung in der Heiligen Schrift [Diskussion mit Karl Rahner und Martin Heidegger], besonders 222.224. 31 Panikkar, Die Ummythologisierung, 221; Kursive der deutschen Worte durch mich. Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie Oda Wischmeyer (Hrsg.) Herkunft und Zukunft der neutestamentlichen Wissenschaft Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 6, 2003, X, 279 Seiten, € 48,-/ SFr 79,30 ISBN 3-7720-8016-2 Die neutestamentliche Forschung der letzten Generation hat sich religionsgeschichtlich und methodisch exponenziell ausgeweitet. Das Fach Neues Testament wurde zu einer kaum noch überschaubaren und nach außen wenig kommunizierenden Eigenwelt. Eine Analyse von "Herkunft und Zukunft der neutestamentlichen Wissenschaft" ist ein Desiderat. Das 2. Erlanger Neutestamentliche Kolloquium ist dem Thema in elf Beiträgen inländischer und ausländischer Neutestamentlerinnen und Neutestamentler nachgegangen. Die neutestamentliche Wissenschaft braucht neben dem Bewusstsein ihrer eigenen Geschichte und der kritischen Auseinandersetzung mit ihren Methoden einen Modernisierungsschub, der sie in produktiven Austausch mit Religionswissenschaft, Sprachwissenschaft, Sprachphilosophie, Hermeneutik und Kulturwissenschaft bringt. Dieses Buch versteht sich als programmatischer Schritt in diese Richtung. A. Francke Verlag Tübingen und Basel ZNT 12 (6. Jg. 2003) 17 Hermut Löhr Der Kanon in der Bibliothek Der bedeutende Leidener Gelehrte David Ruhnken schreibt im Jahre 1768 in der » Historia critica oratorum Graecorum«, die seiner Ausgabe des römischen Rhetors P. Rutilius Lupus (1. Jh. n.Chr.) vorangestellt ist: ltaque ex magna oratorum copia tanquam in canonem decem duntaxat retullerunt. 1 Mit dieser Formulierung wird, zunächst noch zögerlich tanquam! -, in Ruhnkens späteren Schriften entschiedener,2 der aus der kirchlichen Tradition seit Euseb' für die Altes und Neues Testament umfassende heilige Schrift des Christentums geläufige Begriff des Kanons auf die pagane antike Literatur übertragen. Der Begriff des Kanons wird von seinem traditionellen christlichreligiösen Kontext gelöst und zu einer literarischkulturellen Größe, zur Bezeichnung dessen, was als »klassisch« und kulturell prägend gelten darf. Der profan-literarische Kanon-Begriff ist wiedergeboren,4 ein Kanon-Begriff, der, so will es scheinen, sich gegenwärtig und im Kontext einer neu aufgeflammten Bildungsdebatte im Gegensatz zum kirchlichen Kanon wachsender Akzeptanz erfreut. Natürlich werden die Inhalte eines solchen Kanons der Literatur, der Bildung oder des Wissens höchst unterschiedlich bestimmt.' Handelt es sich hierbei um ein typisches Phänomen der Säkularisation? Wird eine ursprünglich religiös verankerte Idee profaniert, ihrer sakralen Dimension und Funktion beraubt? Oder haben wir es bei dem (alt)kirchlichen Kanon- Begriff gerade umgekehrt mit einer religiösen Aufladung eigentlich unreligiöser, profaner Inhalte zu tun? Wer so fragt, identifiziert die Unterscheidung von jüdisch-christlichem und paganem Kanon mit derjenigen von religiösem und profanem Kanon ein Fehler, wie zu zeigen sein wird. In der Besinnung auf einen besonderen Aspekt der jüdischen und christlichen Kanonsgeschichte wollen die folgenden Überlegungen dazu beitragen, dass die theologische wie die literarisch-philosophische Kanonsdiskussion auch systematisch wieder enger zusammengeführt werden und dass 18 die gemeinsamen Wurzeln beider canones wieder stärker wahrgenommen werden. Wenn im Begriff des Kanons die Unterscheidung von profaner und religiöser Sphäre überholt werden kann zugunsten der Beschreibung des »kulturellen Gedächtnisses« einer Epoche, eines Kulturkreises o.ä.,' so stellt sich notwendig auch die Frage nach dem Ort der Kodifizierung und Aufbewahrung eines solchen Kanons, eines solchen Gedächtnisses. Im Raum der Schriftkulturen, denen das Judentum des Zweiten Tempels und das frühe Christentum angehören, kommt dabei der Bibliothek eine herausragende Bedeu- 1 tung zu. Bibliotheken in Ägypten Das bedeutendste Archiv des kulturellen Gedächtnisses der Antike war ohne Zweifel die Bibliothek von Alexandrien, die von Ptolemäus 1. Soter (367/ 366-283/ 283 v.Chr.) gegründet wurde. Die dort geleistete Arbeit sukzessive Sammlung, Edition, Klassifikation und Kommentierung der großen Schriftsteller der griechischen Antike veranschaulicht nicht nur in prägnanter Weise den endgültigen Sieg der Buchkultur im hellenistisch geprägten Mittelmeerraum, sondern gebiert auch die Idee des Klassiker- Kanons, die bis in die Gegenwart lebendig ist. An ihrem Anfang steht die Sicherung des griechischen Gründungsmythos, der Werke des Homer.' Die Bedeutung dieser Arbeit erschöpft sich nicht in Philologie und Literaturwissenschaft, mit Homer wird vielmehr der Beginn der griechischen Kultur, ihr gleichsam göttlicher Ursprung, ihre religiöse Fun dierung ein für allemal sichergestellt. Philologisch-kulturelles und religiöses Interesse sind nicht voneinander zu trennen eine Einsicht, die sich durch die ganze Geschichte der literarischen Kanonsidee belegen ließe.9 Ob der jüdische Kanon des Zweiten Tempels oder Teile davon in der antiken Bibliothek von Alexandrien präsent waren, ist nicht zweifelsfrei ZNT 12 (6. Jg. 2003) Hermt,tt Löhr PD Dr. Hermutlöhr,Jahrgang 1963, Studium der Evangelischen Theologie und Geschichte in Bann, Tübingen, Heidelberg und Straßburg, Promotion 1993, Habilitation 2001, lehrt als Privatdozent für Neues Testament in Bonn. Er arbeitet derzeit an einer Geschichte der Tora in frühjüdischer und frühchristlicher Zeit. erwiesen. Ein direkter Beleg hierfür, etwa in Form eines Katalogeintrags, 10 ist nicht erhalten. Für die Tora, den Pentateuch, sind wir auf die Zeugnisse der Septuaginta-Tradition verwiesen, welche uns das antike Judentum überliefert. So berichtet der Aristeas-Brief, auf Initiative des königlichen Bibliothekars Demetrios von Phaleron habe der König Ptolemäus II. Philadelphos (285-246 v.Chr.) eine griechische Übersetzung der jüdischen Tora veranlasst. 11 Ziel ist ausdrücklich die Komplettierung der königlichen Bibliothek in Alexandrien. 12 Diese Angaben bestätigt auch der jüdische Philosoph Aristobul (bei Euseb, Praeparatio Evangelica 13,12,1-2), wohingegen der Bericht Philos in De Vita Mosis 2,25-44 die Rolle des Demetrios und damit zugleich den Bezug auf das Museion unterschlägt. Wird so zunächst die historische Unmöglichkeit beseitigt, dass Demetrios Bibliothekar unter Ptolemaios II. Philadelphos war (der den Gelehrten in Wirklichkeit gefangen nehmen und umbringen ließ), könnte hinter der Gestaltung des philonischen Berichts auch der Wunsch oder das Wissen stehen, dass die jüdische Tora in griechischer Sprache in Alexandrien eine größere und andere Bedeutung hatte als die einer bibliothekarischen Kuriosität. Wenn aber, was die Geschichtswissenschaft heute mehrheitlich annimmt, die Übersetzung der Tora ins Griechische in Alexandrien tatsächlich auf königliche Initiative zurückging, ist auch ihre Aufbe- ZNT 12 (6.Jg. 2003) wahrung in der Bibliothek wahrscheinlich historisch.11 Allerdings ist keine dieser griechischen Tora- Rollen erhalten. Der wohl früheste Textzeuge der Septuaginta, der Papyrus Rylands 458 stammt aus dem zweiten Jahrhundert v.Chr., vermutlich aus dem Faijum. Durch Punktierungen und Spatien ist der Text gegliedert,14 so dass an eine Verwendung für den Vortrag gedacht werden kann. Auch drei Septuaginta-Manuskripte aus Qumran, der vermutlich aus dem ersten Jahrhundert v.Chr. stammende Papyrus 4QLXXLev6, 4QLXXNum und 4QLXXDeut (2. Jh. v.Chr.) enthalten, wenngleich weniger deutlich, solche Lese- und Vortragshilfen.15 Besonders ist in diesem Zusammenhang die griechische Zwölfpropheten- Rolle aus Nahal Hever zu erwähnen, die um die Zeitenwende entstanden sein dürfte. 16 Durch Philo von Alexandrien haben wir Nachrichten über die religiöse, wahrscheinlich jüdische Gemeinschaft der Therapeuten, welche ihr Zentrum, freilich nicht ihren einzigen Aufenthaltsort,17 am Mareotis-See südlich von Alexandrien hatten. In der den Therapeuten gewidmeten Schrift De Vita Contemplativa 24f. beschreibt Philo die Behausungen der Mitglieder dieser Gemeinschaft, die sich im Gegensatz zu den Essenern nicht dem aktiven, sondern dem betrachtenden Leben gewidmet haben: »Die Häuser derer, die (dort) zusammengekommen sind, sind sehr einfach; sie gewähren Schutz für die zwei größten Notwendigkeiten, gegen die feurige Hitze aus der Sonne und gegen die Kälte aus der Luft. Weder sind sie (einander) nahe, wie die (Häuser) in den Städten störend nämlich und unangenehm sind denen, welche nach Einsamkeit eifern und streben, die Nachbarschaften -, noch weit voneinander entfernt, weil sie die Gemeinschaft begrüßen und damit sie, wenn von Räubern ein Angriff geschieht, einander helfen können. In jedem (Haus) ist ein heiliger Raum, der semneion und monasterion genannt wird, in welchem sie für sich allein die Mysterien des heiligen Lebens vollenden, und nichts tragen sie hinein, weder Getränk noch Speise noch etwas von den anderen Dingen, welche für die Bedürfnisse des Leibes nötig sind, sondern Gesetze und Orakelworte durch Propheten und Hymnen und anderes," wodurch Wissen und Frömmigkeit vermehrt und vollendet werden.« Es wäre gewiss übertrieben, in Bezug auf diese Andachtsräume der Therapeuten von regelrech- 19 ten Privatbibliotheken zu sprechen, denn der Bestand der Schriften scheint recht begrenzt gewesen sein, wenn er sich nicht ganz auf die dreiteilige heilige Schrift Israels beschränkt. Doch ist die Beschreibung des Philo ein Indiz dafür, dass im ersten Jahrhundert in aufgrund seines Schriftstudiums zum Verfassen der vorliegenden, nunmehr übersetzten Schrift motiviert worden sei (Vers 3). Es fällt auf, dass die Bezeichnung der beiden ersten Kanonsteile feststeht, während diejenige des dritten schwankt. Dieser Befund lässt die Alexandrien der Zusammenhang von Kanon, den heiligen Schriften der Therapeuten, und Bibliothek bedacht wurde. Dies kann festgestellt werden auch unabhängig von einem Urteil über die Histo- »Die Bibliothek ist fürPhilo Konkretion des kulturellen Vermutung zu, dass auch die Abgrenzung der »Schriften« noch nicht feststeht. 20 Der Enkel brachte diese Vorstellung eines dreigeteilten Kanon aus seinem Mutterland und religiösen Gedächtnisses einer Gemeinschaft.« rizität der Nachrichten Philos. Die Bibliothek ist für Philo Konkretion des kulturellen und religiösen Gedächtnisses einer Gemeinschaft. Bibliotheken in Israel Die Brücke von Alexandrien nach Israel schlägt das bislang älteste erhaltene Zeugnis für den dreigeteilten Kanon der hebräischen Bibel, das Vorwort zum Buch Jesus Sirach, das der Enkel des Verfassers aus Anlass seiner Übersetzung des Werkes aus dem Hebräischen ins Griechische voranstellte. Dieser Text, der sowohl die Entstehung des ursprünglichen Buches wie der Übersetzung beleuchtet, kann aufgrund der Angabe in Vers 8 19 in die Zeit nach 133/ 132 v.Chr. datiert werden. Dreimal erwähnt der Enkel die heilige Schrift Israels, er spricht vom »Gesetz und den Propheten und den anderen nach diesen folgenden [Schriften]« (Vers 1), vom »Gesetz und den Propheten und den anderen Büchern der Väter« (Vers 3) bzw. vom »Gesetz und den Propheten und den übrigen der Bücher« mit, ein Beleg für einen eigenen »alexandrinischen Kanon« der Schriften Israels ist der Prolog also nicht. Aus dem Prolog erfahren wir auch nichts über die genaueren Umstände der vorausgesetzten (privaten) Lektüre der heiligen Schriften, und nichts über den Ort ihrer Aufbewahrung, die Art ihrer Publikation und ihre materiale Gestalt. In der Handschrift Baus der Alt-Kairoer Genizah, die den hebräischen Text von Jesus Sirach überliefert, finden wir jedoch in Sir 51,23 den Ausdruck bet midrasch zum ersten Mal in der jüdischen Literatur bezeugt. 21 Genaueres lässt der Text nicht erkennen, doch kann immerhin vermutet werden, dass in der hier erwähnten Schule auch die heilige Schrift, die Sirach kennt und die er interpretiert, Gegenstand der Unterweisung war. Man kann also davon ausgehen, dass der Kanon im Rahmen der schulischen Unterweisung in Israel vorkam und auch material gegenwärtig war. Die Quellenlage erlaubt uns leider keine präziseren Angaben. 22 Vermutlich wird man sich die Vermittlung literarischer und kanonischer Bildung im Kontext der Synagoge vorzustellen (Vers 7). Die so bezeichnete heilige Schrift ist Gegenstand der privaten Lektüre und des individuellen Studiums. Allerdings mahnt der Enkel: »Darum sollen diejenigen, die sie lesen, nicht nur selbst verständig werden, sondern die » Vermutlich wird man sich. die haben. Die Quellenlage rät zu vorsichtigen Vermutungen. Immerhin wird in der griechischen Synagogen- Inschrift des Theodotos aus Jerusalem," die in das erste Jahrhundert n.Chr. zu datieren Vermittlung literarischer und kanonischer Bildung im Kontext der Synagoge vorzustellen haben.« sich um Erkenntnis bemühen, sollen auch denen draußen nützlich werden, indem sie lesen und schreiben« (Vers 2). Als ein Vorbild solcher Haltung verantwortlicher und sozial orientierter Bildung stellt der Enkel seinen Großvater vor, der 20 sein dürfte, als Bestimmung der Synagoge u.a. die »Verlesung der Schrift« und die »Lehre der Gebote« genannt, was doch wohl das Vorhandensein zumindest eines Exemplars des Kanons heiliger Schriften, mindestens aber der Tora, voraussetzt. Frühe literarische, mehr ZNT 12 (6.Jg. 2003) oder minder direkte Belege für die Aufbewahrung von Tora-Rollen in der Synagoge finden sich bei Josephus und im Neuen Testament. 24 Auch über die heilige Schrift hinaus könnte die Synagoge als Aufbewahrungsort für Dokumente gedient haben.25 Andere Nachrichten über die Schriftlesung in der Frühzeit der Synagoge bestätigen dieses Bild. 26 Die Erwähnung von Schriftgelehrten im Zusammenhang mit Synagogen, die sich wiederholt in der synoptischen Tradition findet," ist ein weiteres Indiz für die Funktion schon der frühen Synagoge in Palästina. Vielleicht hat sich in der Synagoge von Gamla mit dem locus 1010 sogar eine Art Schulraum erhalten. 28 Der wichtigste Ort im Lande Israel für die Aufbewahrung der heiligen Schriften war jedoch ohne Zweifel der Tempel in Jerusalem. Die früheste erhaltene Nachricht hierüber findet sich in 2Makk 2,13-15, im wohl unechten Brief der Jerusalemer und judäischen Juden an die Juden Ägyptens: »Dasselbe wurde auch in den Schriften und Protokollen nach Nehemia dargelegt, und wie er eine Bibliothek gründete und die Bücher über die Könige und Propheten und was von David stammt und Briefe der Könige über Weihegeschenke sammelte. Ebenso hat auch Judas dasjenige, was durch den geschehenen Krieg zerstreut war, für uns gesammelt, und es ist bei uns. Wenn ihr nun Bedarf an diesen Schriften habt, so sendet Leute, die sie euch bringen.« Die Tradition der Jerusalemer Bibliothek, die nicht näher lokalisiert wird, die man sich wohl aber als mit dem Tempel in Zusammenhang stehend vorstellen darf, wird auf N ehemia zurückgeführt. Judas Makkabi hat, so bestätigt dieses Schreiben, diese Tradition wieder aufgenommen. Die genannten Schriften lassen sich zum Teil mit den kanonischen Texten identifizieren,29 ohne dass der ganze hebräische Kanon deutlich genannt würde. 30 Dass die Schriftensammlung Eine typische Schriftrolle ZNT 12 (6. Jg. 2003) In Gefäße wie diese waren die Rollen aus Qumran eingeschlossen etwas anderes als ein Geschichts- und Verwaltungsarchiv war, dürfte jedoch durch die Erwähnung der Propheten und Davids (doch wohl als des exemplarischen Psalmdichters) unzweifelhaft erwiesen sein. Die Funktion der Bibliothek, so wie sie in diesem fiktiven, das Lokalkolorit seiner tatsächlichen Entstehungszeit (1. Jh. v.Chr. ? ) verratenden Schreiben gekennzeichnet wird, geht über diejenige eines Archivs oder auch einer Institution für Privatstudien hinaus; offenbar haben die Schriftexemplare, die aufbewahrt wurden, normierende Funktion gehabt und dienten als kulturelles Gedächtnis, vielleicht sogar als eine Art »Urtext«, nicht nur im Mutterland, sondern auch für die Diaspora. Mehrfach erwähnt auch Flavius Josephus die Aufbewahrung von heiligen Schriften im Tempel, so in Antiquitates judaicae 3,38; 4,303 und 5,61. Allerdings ist aus diesen Angaben nicht zu belegen, dass der ganze Kanon im Tempel aufbewahrt wurde; vielmehr spricht Josephus an den genannten Stellen von Texten, die sich auf einzelne biblische Szenen (Ex 17,6; Dtn 31,24-32,43; Jos 10,12- 14) beziehen. Doch wird unter den Beutestücken aus dem Jerusalemer Tempel, die nach dem Bericht von Josephus in Bellum Judaicum 7 beim Triumphzug in Rom zur Schau gestellt werden, auch an letzter Stelle gewissermaßen als Höhepunkt ein Exemplar des jüdischen Gesetzes genannt (Bell 7,150). 21 Interessant, allerdings historisch fragwürdig ist die Notiz in Ant 11,337, die von einem Exemplar des Daniel-Buches zur Zeit Alexanders d. Großen im Tempel zu berichten weiß. Aus Ant 10,273 mit der Aufnahme von Dan 8,21 wird deutlich, dass Josephus auch diesen visionären Teil des Daniel- Buches für authentisch hält, so dass in Ant 11,337 die Vorhersage des Daniel ihre Bestätigung findet. Allerdings ist für die Bewertung der Aussagen des Josephus zu beachten, dass er in seiner Daniel- Paraphrase Kap. 7 übergeht und nach Ant 10,267 von mehreren Büchern des Daniel weiß. Vielleicht schimmert hier ein Wissen über die sukzessive Entstehung des Daniel-Bu- Schreiben erwähnt, das der Bischof lgnatius von Antiochien an die Gemeinde in Philadelphia richtet. 34 In Phil 8,2 schreibt lgnatius: »Ich ermahne euch, nicht aus Streitsucht zu handeln, sondern nach der Lehre Christi. Als ich welche hörte, die sagten: ,Wenn ich es nicht in den Akten [oder: Archiven] finde, glaube ich nicht an das Evangelium" und ich ihnen sagte: ,Es steht geschrieben" antworteten sie mir: ,Das ist die Frage<.« Kann das in diesem Abschnitt verwendete griechische Lexem archeion sowohl mit »Urkunde« als auch mit »Archiv« übersetzt werden, also ein Schriftstück oder ein Gebäude bzw. eine Institution meiches durch, welches durch die historisch-kritische Forschung zur Gewissheit gemacht und präzisiert wurde. Für Josephus steht jedenfalls der kanonische Charakter des »Dass die Textfunde vom Toten Meer ursprünglich eine Bibliothek gebildet haben, ist eine plausible Annahme.« nen, so ist der Textausschnitt nicht sicher als Bezeichnung eines christliches Archives oder einer Bibliothek zu bestimmen. Doch wird aus Buches Daniel außer Frage (explizit zu den »heiligen Schriften« gerechnet in Ant 10,210), und dies mag seine Gestaltung der Alexander-Szene mit geprägt haben. 31 Einen Sonderfall im Land Israel stellt die Gruppe dar, die uns in den Höhlen von Qumran zahlreiche Handschriften hinterlassen hat. Dass die Textfunde vom Toten Meer ursprünglich eine Bibliothek gebildet haben, ist eine plausible Annahme. Allerdings ist es uns nicht möglich, die Räumlichkeiten dieser Bibliothek zu lokalisieren, auch die berühmte Höhle 4(a), welche die meisten unterschiedlichen Texte enthielt, kommt als Bibliotheksraum nicht in Frage, vielleicht jedoch als Notversteck. 32 Wenn die Textfunde in den Höhlen mit der Siedlung in direktem Zusammenhang stehen was freilich dem Fortgang der Passage deutlich, dass in dem geschilderten Streit den Diskussionspartnern des lgnatius die einfache Behauptung der Schriftgemäßheit des (verkündigten) Evangeliums nicht ausreicht, sondern sie eine Bestätigung an den schriftlichen Quellen - und das heißt doch auch: in einem diese Quellen enthaltenden Archiv oder einer Bibliothek einfordern. Diese Quellen sollen der Bestätigung der Evangeliumsbotschaft dienen; man könnte also konkret an Evangelienschriften denken. 35 Aus dem ersten Jahrhundert sind uns keine direkten Nachrichten erhalten, die auf christliche Privat- oder Gemeindebibliotheken schließen lassen. Doch müssen die christlichen Gemeinden schon recht früh Archive oder Bibliotheken nicht völlig unumstritten ist könnte man in den Ausgrabungen nach entsprechenden Räumlichkeiten suchen. Am ehesten kommen hierfür die loci 1, 2 und 4 der Siedlung in Betracht. 33 »Aus dem ersten Jahrhundert sind uns keine direkten Nachbesessen haben, die nicht nur Teile oder das Ganze der heiligen Schriften Israels enthielten, sondern auch frühchristliche Schriften. Bekannt ist schon aus unseren ältesten Zeugnissen, dem paulinischen Schrifttum, dass frühchristlirichten erhalten, die auf christliche Privat- oder Gemeindebibliotheken schließen lassen.« che Schriften zirkulierten und so darf man annehmen, auch kopiert wurden. 36 Der Kanon in frühchristlichen Bibliotheken So richtet sich der Galater-Brief an die verschiedenen Gemeinden Galatiens, was doch wohl Vielleicht wird eine christliche Bibliothek schon Zirkulation oder Kopie des paulinischen Textes zu Beginn des zweiten Jahrhunderts in dem voraussetzt. Der Brief an die römischen Christen 22 ZNT 12 (6. Jg. 2003) (Röm 1,7, bezeichnenderweise nicht an die ekklesia in Rom! ) dürfte in den verschiedenen Hausgemeinden der Großstadt umgelaufen sein. Ein solcher Austausch von Schriften ist direkt belegt in dem (allerdings pseudo-paulinischen) Kolosser- Brief (Kol 4,16). 37 Auch in der Asia, in Makedonien und Achaia dürften die paulinischen Briefe über die genannten Primäradressaten hinaus gelesen worden sein. Dass die so umlaufenden Briefexemplare mehrfach benutzt und aufbewahrt wurden, kann schon für die frühe Zeit angenommen werden. Einen direkten Beleg für diese Praxis der urchristlichen Korrespondenz besitzen wir aus der Rezeptionsgeschichte eines Briefes der römischen Gemeinde nach Korinth vom Ende des ersten Jahrhunderts, dem ersten Clemensbrief, der noch ca. 100 Jahre später in Korinth im Gottesdienst verlesen wurde. 38 Die Aufbewahrung wich- Hermut löhr Der Kanon in der Bibliothek »Den Hirten aber hat ganz vor kurzem zu unseren Zeiten in der Stadt Rom Hermas verfasst, als auf dem Thron der Kirche der Stadt Rom der Bischof Pius, sein Bruder, saß. Und deshalb soll er zwar gelesen werden, aber öffentlich in der Kirche dem Volke verlesen werden kann er weder unter den Propheten, deren Zahl abgeschlossen ist, noch unter den Aposteln am Ende der Zeiten.« 49 Mit dieser Bemerkung unterscheidet der Text klar zwischen (privater erbaulicher) Lektüre und gottesdienstlicher Verlesung. Neben dem abgeschlossenen alttestamentlichen Kanon können nur die zur gottesdienstlichen Verlesung der Apostel zugelassenen Schriften als kanonisch im späteren Sinne gelten. 50 Apostolizität und gottesdienstliche Benutzung sind als »Kanonsprinzip« deutlich erkennbar; nicht jede bedeutsame und erhaltene frühchristliche Schrift findet Aufnahme in das kodifizierte kulturelle Gedächtnis des christlichen tiger frühchristlicher Schriften in Archiven oder Gemeindebibliotheken wird also verbreiteter Brauch gewesen sein und dürfte bei der Entstehung des neutestamentlichen Kanons eine entscheidende Rolle gespielt haben. 39 •'>»JYie,~'#foewahr/ i#g\{pich~i&ei. .Jtibl: qiisttir: her: Sclmften; Jnt•· · ,Archi,µ~n oder GßrrJt: in.äe~ ·•· · ... : h#>i,th(~enwir~: ~ls°'··~~rkreit 1 • ,1; e.ie: r8"'a~ gewe~,s~n.: Mnd• : Gottesvolkes. Der Kanon wird zur Idee, die unabhängig von den materiellen Bedingungen seiner Existenz überliefert werden kann. Dass der Kanon auf ein Archiv, eine Bibliothek angewiesen ist, ja selber eine solche Bibliothek darstellt, tritt demgegenüber in den Hintergrund. Dass der Kanon Teil einer umfassenderen Buchkultur ist und mit Während wir für die früheste Zeit nicht damit rechnen können, dass diese Bibliotheken sehr umfangreich waren und etwa den ganzen alttesta- <lfi_ffeefbi: i~e,-Bntsli; .n. . ~iJft¼mentliche~ .. .· .... ~f j ,., : em.e: entsc~eid.ewd~ R: olle, ·• 1 \: e. ieltliiilli: il.r. .. . .i.ifl! : .. ... n,<, ". mentlichen Kanon enthielten,4° konnten dann Justin 41 und Irenäus 42 in Rom, Tertullian in Karthago 43 sowie Clemens in Alexandrien 44 auf größere Buchbestände zurückgreifen, die den alttestamentlichen Kanon und bedeutende frühchristliche Schriften nicht nur die später kanonischen enthielten. 45 Die Jerusalemer Bibliothek, aus der Melito von Sardes vielleicht das älteste erhaltene christliche Kanonsverzeichnis des Alten Testaments erarbeitete,46 wurde nach 212 n.Chr. durch Bischof Alexander von Jerusalem angelegt. 47 Kanon und Bibliothek Das älteste erhaltene Verzeichnis des christlichen Kanons stammt vermutlich aus Rom, aus der Zeit um 200 n.Chr. 48 Dieses Verzeichnis, der sogenannte Canon Muratori schreibt über den Hirten des Hermas: ZNT 12 (6.Jg. 2003) ihr zusammen entstanden ist, ist für das im Canon Muratori formulierte Selbstverständnis des christlichen Kanons nicht entscheidend. Blickt man auf die Geschichte des alt- und neutestamentlichen Kanons, so muss man das sich so etablierende Kanonsverständnis als teilweise unaufgeklärt über sich selbst bezeichnen und kritisieren. Eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung der Entstehung des Kanons, die Existenz von Bibliothek und Buchkultur, spricht sich nicht mehr aus. Die Trennung von kirchlichem und kulturellem Kanon bahnt sich an, eine Trennung, die im kollektiven Bewusstsein bis heute fortdauert. Demgegenüber muss gegenwärtige theologische Reflexion auf den kirchlichen Kanon auf die kulturellen Implikationen und Bedingungen seiner Entstehung ebenso hinweisen wie auf die religiös motivierten Ursprünge der kulturellen Kanonsidee. 23 Anmerkungen 1 »Daher nahmen sie [gemeint sind die alexandrinischen Philologen Aristarch und Aristophanes von Byzanz; H.L.J aus der großen Menge der Redner gleichsam wie in einen Kanon nur zehn auf«, so Ruhnken, Historia Critica Oratorum Graecorum, in: P. Rutilii Lupi De Figuris Sententiarum et Elocutionis Libri Duo, Leiden 1768, XXXV-C: XCV. 2 Vgl. R. Pfeiffer, Geschichte der klassischen Philologie. Von den Anfängen bis zum Ende des Hellenismus, München 2 1978, 255. 3 Vgl. Euseb, Kirchengeschichte 6,25,3: »Diese Schriften zählt Origenes in den erwähnten Kommentaren auf. In dem ersten Buche seines Matthäuskommentares bezeugt er in Übereinstimmung mit dem kirchlichen Kanon, dass er nur vier Evangelien kenne« (Übersetzung von H. Kraft, München 2 1981, 299). 4 Schon Quintilian (Inst 10, 1) bezieht den Begriff Kanon auf die in Alexandrien erarbeiteten Zusammenstellungen »klassischer« Autoren der verschiedenen Literaturbereiche. 5 Zur aktuellen Reflexion auf den Kanon in den Geistes- und Kulturwissenschaften vgl. nur H.L. Arnold (Hrsg.), Literarische Kanonbildung, Sonderband von Text und Kritik IX, 02, München 2002; Kaiser, G.R./ Matuschek, S. (Hrsg.), Begründungen und Funktionen des Kanons, Heidelberg 2001. • Einschlägig zur Konzeption des »kulturellen Gedächtnisses« ist die anregende Studie von J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. Assmann greift dabei u.a. auf Ideen von Maurice Halbwachs zurück; vgl. z.B. Halbwachs, La memoire collective, Paris 1950. Den Zusammenhang von griechischer und jüdischer Kanon-Bildung betont auch Assmann, Gedächtnis, 164, allerdings unter dem mir anachronistisch scheinenden Aspekt der »Sicherung nationaler Identität«. 7 Merkwürdigerweise gehen die wichtigen neueren Untersuchungen zur Kanonsgeschichte von Th.K. Hecke! , Vom Evangelium des Markus zum viergestaltigen Evangelium (WUNT 120), Tübingen 1999; D. Trobisch, Die Entstehung der Paulusbriefsammlung (NTOA 10), Fribourg / Göttingen 1989; ders., Die Endredaktion des Neuen Testaments. Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel (NTO A 31 ), Fribourg / Göttingen 1996 nicht auf die Frage nach der Aufbewahru,ng der urchristlichen Literatur ein. Vgl. dagegen die Uberlegungen von C.-J. Thornton, Der Zeuge des Zeugen. Lukas als Historiker der Paulusreisen (WUNT 56), Tübingen 1991, 48-53. ' Der vermutlich erste Bibliothekar der Bibliothek von Alexandrien, Zenodotos von Ephesus, ist bekannt geworden für seine Arbeit an zuverlässigen Texten des Homer und des Pindar. 9 Eine eindringliche Würdigung der Bedeutung der alexandrinischen Hermeneutik findet sich in dem im deutschen Sprachraum zu wenig beachteten Buch von G. Gusdorf, Les origines de l'hermeneutique, Paris 1988. Vgl. ferner Pfeiffer, Geschichte, 114ff. mit Diskussion der verschiedenen Überlieferungsprobleme. 10 Die berühmten und viel zitierten pinakes (»Tafeln«) des 24 alexandrinischen Bibliothekars Kallimachos sind keine Bibliothekskataloge, wie man leider immer noch hier und da liest, sondern stellen eine Art Bio-Bibliographie monumentalen Ausmaßes dar, die auf Vorarbeiten in der Bibliothek und wohl mit den vorhandenen Bibliothekskatalogen zurückgeht; vgl. Christas Fakas, Art. Pinax, Der Neue Pauly 9, 1029; Otto Regenbogen, Art. Pinax, PW 20, 1420. 11 Josephus, Ant 12,12-118 bietet eine Paraphrase des Aristeas-Briefes. 12 Vgl. Arist l0f.29-32. 13 Vgl. M. Harl/ G. Dorival/ O. Munnich, La bible grecque des septante. Du judai'sme hellenistique au christianisme ancien (Initiations au christianisme ancien), Paris 1988, 39-78; N.F. Marcos, The Septuagint in Context. Introduction to the Greek Versions of the Bible, Boston / Leiden 2001, 35-66; vgl. das Fazit S. 63: »Accordingly, an historical nucleus has to be accepted in the traditions included in this letter [i.e. Arist; H.L.J«. Möglicherweise gibt noch das erste sichere pagane Zitat der Septuaginta bei Pseudo-Longin (1. Hälfte 1. Jh. n.Chr.) einen Hinweis auf den alexandrinischen Bibliothekar Kallimachos und seine pinakes; vgl. Harl/ Dorival/ Munnich, La bible, 76f. NachJustin (Mitte 2. Jh. n.Chr.), Apol 1,31,5 sind die übersetzten Schriften »bis heute« in der Bibliothek vorhanden. 14 Vgl. die knappe Beschreibung bei K. Aland, Repertorium der griechischen christlichen Papyri. I. Biblische Papyri (PTS 18), Berlin/ New York 1976, 96. 15 Vgl. P.W. Skehan u.a., Qumran Cave 4. IV. Paleo-Hebrew and Greek Biblical Manuscripts (DJD 9), Oxford 1992, 168.188.194. 16 Edition: E. Tov, The Greek Minor Prophets Serail from Nahal Hever (8HevXIIgr) (DJD 8), Oxford 1990, 9. Als Spezialstudie zu diesem Themenkomplex ist zu nennen: E.J. Revell, Biblical Punctuation and Chant in the Second Temple Period, JSJ 7 (1957), 181-198. Auch in einer der ältesten erhaltenen neutestamentlichen Handschriften, P 46 aus dem Faijum, finden sich Spatien vor Sinnabschnitten; vgl. Aland, Repertorium, 275. 11 Vgl. VitCont 21. 18 Möglicherweise ist an die in VitCont 29 genannten Schriften gedacht. Oder »anderes« meint zusammen mit den »Hymnen« den dritten Teil der heiligen Schriften Israels. 19 »Im achtunddreißigsten Jahr nämlich unter dem König Euergetes kam ich nach Ägypten und blieb dort während seiner [Lebens-] Zeit, und ich fand ein Beispiel nicht geringer Bildung ... « ' 0 Vgl. zur Frage der bei Jesus Sirach vorauszusetzenden biblischen Schriften M. Hengel, Die Septuaginta als »christliche Schriftensammlung«, ihre Vorgeschichte und das Problem ihres Kanons, in: ders. / A.M. Schwemer (Hrsg.), Die Septuaginta zwischen Judentum und Christentum (WUNT 72), Tübingen 1994, 182-284; 257: »Eine Durchsicht des Werks, und hier vor allem der im Lob der Väter Sir 44-50,24 verwendeten Schriften zeigt, daß der Großvater alle Bücher des hebräischen Kanons außer Ruth, Hoheslied, Esther und Daniel kannte bzw. zitierte ... «; H.P. Rüger, Le Siracide: un livre a 1a frontiere du Canon, in: J.-D. Kaestli/ O. Wermelinger (Hrsg.), Le canon de l'Ancien Testament, Genf 1984, 47-69: 60-66. ZNT 12 (6. Jg. 2003) 21 Die Weisheit spricht von »meinem Haus des Lehrens«. Die griechische Textüberlieferung bietet oikos paideias, die syrische bet yulpano. Dies entspräche dem hebräischen bet musar (»Haus der Erziehung«). In der Vulgata fehlt der Vers. Vgl. F. Vattioni, Ecclesiastico. Testo ebraico con apparato critico e versioni greca, latina e siriaca (Testi 1), Neapel 1968, 280f. 22 C. Hezser, Jewish Literacy in Roman Palestine (TSAJ 81), Tübingen 2001, 40-68 kritisiert das klassische, wesentlich von Wilhelm Bacher (1903) wissenschaftlich fundierte, sich besonders auf yKet 8,11 (32c) und bBB 21a berufende Bild einer jüdischen Elementarschulerziehung schon in der Zeit des Zweiten Tempels. Dass es zu dieser Zeit in Qumran schon eine Art Schulwesen gab (lQSa 1,6-8), in dessen Rahmen Tara unterrichtet wurde, muss die Autorin (S. 47f.) allerdings zugestehen. Ist die jüdische Elementarschule also in Qumran erfunden worden? Kaum! Den Beleg aus Sir übersieht Hezser. Weiter Nachrichten über (Schul-? ) Bildung und Lesefähigkeit von Juden bei Philo, Leg 115.210; SpecLeg 2,233; Lk 4,16; Josephus, Ap 2,204. Auf eine schulische Funktion der Synagoge deutet auch die Bezeichnung didaskaleion (nur) bei Philo, Mos 2,216; Dec 40; SpecLeg 62; Praem 66; Leg 312. 23 Vgl. A. Deissmann, Die Synagogen-Inschrift des Theodotos zu Jerusalem, in: ders., Licht vom Osten. Das Neue Testament und die neuentdeckten Texte der hellenistisch-römischen Welt, Tübingen 4 1923, 378-380 (Abb. S. 379). 24 Vgl. Josephus, Bell 2,291 (Cäsaraea); Lk 4,16-20. 25 Vgl. D.D. Binder, Into the Temple Courts. The Place of the Synagogues in Second Temple Period (SBL.DS 169), Atlanta (GA) 1999, 433. 2• Vgl. Philo, Hypoth 7,11-14; Apg 13,15; 17,2f.; ferner Josephus, Ap 2,175; Philo, Op 128; Apg 15,21. 2' Vgl. Mt 23,6; Mk 1,22f.; 12,29; Lk 11,43; 20,46. 28 Vgl. Binder, Temple Courts, 434 (mit Abbildung). Die frühen Synagogen in Palästina (neben Gamla auf Masada, dem Herodeion, in Qumran sowie in Kafarnaum) lassen keinen festen Tara-Schrein erkennen. 29 Vgl. F.-M. Abel, Les livres des Maccabees (EtB), Paris 2 1948, 308. 30 Gerade diese Tatsache spricht für die Historizität der Notiz, vgl. M. Hengel, Judentum und Hellenismus (WUNT 10), Tübingen 2 1973, 207 Anm. 42. M. Kellermann, » Wenn ihr nun eines von diesen Büchern braucht, so laßt es euch holen.« (2Makk. 2,15). Eine antike Aufforderung zur Fernleihe, ZDPV 98 (1982), 104-109: 107ff. spielt Tendenz und historischen Hintergrund in problematischer Weise gegeneinander aus. 31 Nach dem späten, außerkanonischen Traktat Soferim 6,4 (R. Simon b. Laqisch, ein Amoräer der zweiten Generation) gab es im Tempel drei Tara-Exemplare. Vgl. ferner mMQ 3,4; mKel 15,6; tKel BM 5,8 (Buch Esras); ySheq 4,2 (48a) sowie den Aufsatz von S. Talmon, The Three Serails of the Law that were found in the Temple Court, Textus 2 (1962), 14-27. Im Brief des Julius Africanus an Aristides (Anf. 3. Jh. n.Chr.) wird erwähnt, dass die jüdischen Geschlechtsregister in den (wohl Jerusalemer) Archiven durch Herodes verbrannt wurden; bei Euseb, Kirchengeschichte 1,7,13. 32 H.Y. Gamble versucht in seinem viel beachteten Buch: Books and Readers in the Early Church. A History of ZNT 12 (6. Jg. 2003) Early Christian Texts, New Haven/ London 1995, 193f. nachzuweisen, dass die Höhle 4(a) in der Mergelterasse von Qumran die reguläre Bibliothek der Siedlung gewesen sei. Doch ist Gambles Argumentation ungenau bis fehlerhaft. So stimmt es nicht, dass in Höhle 4 keine Gefäße (pithoi) gefunden wurden, in denen Manuskripte aufbewahrt werden konnten; vielmehr gibt der Ausgräber de Vaux die Reste von vier pithoi an; keiner allerdings mit Manuskripten gefüllt. Ein fünfter pithos war beschriftet und enthielt ursprünglich offenbar Lebensmittel. Vgl. de Vaux, Qumran Grotte 4. I. Archeologie (DJD 6, 1-29), Oxford 1977, 15-19; ders., Die Ausgrabungen von Qumran und En Feschcha. IA. Die Grabungstagebücher. Deutsche Übersetzung und Informationsaufbereitung durch F. Rohrhirsch und B. Hofmeir (NTOA.SA 1A), Fribourg/ Göttingen 1996, 86. Ferner finde ich keine Bestätigung für Gambles Angabe, in den Wänden der Höhle seien von Menschenhand gearbeitete Löcher gefunden worden, die zur Verankerung von hölzernen Regalen hätten dienen können. Zur Archäologie der vierten Höhle vgl. R. de Vaux, Qumran Grotte 4, 21f. Aufgrund des Fundzustandes der Rollen versucht H. Stegemann, Die Essener, Qumran, Johannes der Täufer und Jesus, Freiburg u.a. 4 1994, 89-93 die Geschichte der Rollen beim Herannahen der Römer zu rekonstruieren. Der vierten Höhle kommt dabei die Rolle eines letzten Notversteckes für die noch nicht gesicherten Reste der Bibliothek zu. Zu bedenken ist bei solchen Vermutungen allerdings, dass der Zustand von Höhle 4, der sich den Forschern darbot, keineswegs der ursprüngliche Zustand gewesen sein muss. Vor allem kann Gamble nicht erklären, wieso die Bibliothek nicht ursprünglich als Gebäude in die Siedlung, zu der sie gehören soll, integriert wurde. 33 Vgl. R. de Vaux, Archaeology and the Dead Sea Serails. The Schweich Lectures of the British Academy 1959, London 2 1973, 32f.; Stegemann, Essener, 59-63. 34 Mehrheitlich wird die Korrespondenz des Ignatius für echt gehalten und in die Zeit Trajans datiert; anders jedoch R. J oly, Le dossier d'Ignace d'Antioche, Brüssel 1979, passim. 35 Vgl. Joly, Le dossier, 66. Meist wird der Begriff jedoch auf alttestamentliche Schriften gedeutet, vgl. nur neben Gamble, Books, 152f. und H. Koester, Synoptische Überlieferung bei den Apostolischen Vätern (TU 65), Berlin 1957, 8f. besonders W.R. Schoedel, Ignatius of Antioch. A Commentary on the Letters of Ignatius of Antioch, Philadelphia 1985, 207-209, dessen Übersetzung des Textes jedoch schon eine problematische Ergänzung enthält. 36 Deutlich fungierte der in PastHerm vis 2,4 (8,3) erwähnte Sekretär der Gemeinde Clemens als Kopist frühchristlicher Briefe. Vgl. auch die Ausarbeitung dieser Nachricht im Liber Pontificalis (6. Jh. n.Chr.), in der Ausgabe von L. Duchesne, Bd. I, Paris 1955, 53. Den Hinweis entnehme ich H. Leclerq, Art. Bibliotheques, DACL II/ I, 842-904: 854. 37 Vgl. auch den Brief des Bischofs Polykarp von Smyrna an die Gemeinde in Philippi, Kap. 13,2. 38 Vgl. Bischof Dionysios von Korinth an Bischof Soter von Rom, bei Euseb, Kirchengeschichte 4,23,11. Eindrücklich belegt ist die Kopierpraxis des frühen Christentums auch durch den Schluss des Polykarpmartyriums, vgl. MartPol 22,2f. 25 39 Für Martin Hengel sind auch die Evangelienüberschriften ein Beleg für die Gemeindebibliotheken im frühen 2. Jh.; vgl. ders., Die Evangelienüberschriften, SHAW.PH 1984,3, Heidelberg 1984. 46 Bei Euseb, Kirchengeschichte 4,26,13f. Offenbar war Melito das Wissen um den Umfang dieses Kanons nicht einfach durch die jüdisch-christliche Tradition gegeben, es bedurfte der Erforschung. 40 Immerhin scheint die Gemeinde Roms noch im ersten Jahrhundert über die Bücher Judit und Ester verfügt zu haben; vgl. 1Clem 55,4-6. Vgl. im Übrigen die Überlegungen von Hengel, Septuaginta, 269. 47 Vgl. Euseb, Kirchengeschichte 6,20. 48 Anders jedoch A.C. Sundberg, Canon Murtori: a fourth century ! ist, HThR 66 (1973), 1-41. 49 Canon Muratori, Z. 73-80; Übersetzung nach W. 41 Vgl. Hengel, Septuaginta, 190f. Schneemelcher (Hrsg.), Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung. I. Band. Evangelien, Tübingen 1990, 29. 42 Zu Irenäus vgl. Thornton, Zeuge, 52. 43 Vgl. Gamble, Books, 152 mit Anm. 19. 44 Zur Bibliothek in Alexandrien vgl. Hengel, Septuaginta, 272. 50 Zur gottesdienstlichen Verlesung der »Schriften der Propheten« und der»Denkwürdigkeiten der Apostel« vergleiche auch die erste ausführliche Schilderung eines christlichen Gottesdienstes durch Justin, Apologie 1,67,3. 45 Zur Bibliothek von Cäsaraea, die auf Origenes zurückgehen wird, vgl. R. Cadiou, La bibliotheque de Cesaree et la formation des chaines, RSR 16 (1936), 474-483. 26 TANZ - Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter Claudia Lose kam Die Sünde der Engel Die Engelfalltradition in frühjüdischen und gnostischen Texten Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter 41, 2003, ca. 320 Seiten, ca.€ 58,-/ SFr 95,80 ISBN 3-7720-8001-4 (erscheint November 2003) Die in Gen 6, 1-4 geschilderte Verbindung zwischen den vom Himmel herabsteigenden "Söhnen Gottes" mit den Töchtern der Menschen bildet den Urstoff facettenreicher Ausgestaltungen in Texten der jüdischen Apokalyptik und in gnostischen Schriften. In detaillierten Textanalysen arbeitet Losekam Verbindungslinien zwischen frühjüdischen und gnostischen Texten heraus. Innerhalb der gnostischen Literatur ist dabei eine Tendenz der Remythologisierung biblischer Überlieferungen unübersehbar. Die mythische Ausstattung des biblischen Textes wird in der gnostischen Exegese erneuert und verstärkt, um so das Wirken des Bösen in der Welt zu erklären. Die gängige Umschreibung gnostischer Bibelexegese mit den Stichworten "Protestexegese" und "Revolte" greift angesichts der Varianz der mythologischen Erzählungen zu kurz. Vielmehr handelt es sich um eine Vermittlung biblischer Positionen mit Interessen eines hellenistisch gebildeten Publikums. A. Francke Verlag Tübingen und Basel ZNT 12 (6.Jg. 2003) Ruben Zimmermann Unecht - und doch wahr? Pseudepigraphie im Neuen Testament als theologisches Problem Hätte wie die Wahrheit auch die Lüge nur ein Gesicht, wären wir besser dran: Wir würden dann einfach das Gegenteil von dem, was der Lügner sagt, für gewiss halten. Die Kehrseite der Wahrheit hat jedoch hunderttausend Erscheinungsformen und verfügt über einen unbegrenzten Spielraum. 1 1. Das Problem Die Veröffentlichung von Schriften unter Pseudonymen, d.h. nicht zutreffenden Verfasserangaben, begegnet in der gesamten Literaturgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart.' Auch in der theologischen Literatur ist der Gebrauch von Pseudonymen bekannt und wird weiters nicht problematisiert, sofern ihr Einsatz forschungsgeschichtlich legitimiert (so etwa bei Reimarus), symbolisch gedeutet (so bei Kierkegaard) oder literarisch gewürdigt werden kann (so z.B. bei Jan Rohls). 3 Ganz anders jedoch im Bereich religiöser Primärschriften. In aller Schärfe verurteilten schon altkirchliche >Echtheitskritiker<, wenn späte Texte mit apostolischen Namen versehen wurden: So wurde der >entlarvte< Verfasser der Paulusakten nach der Überlieferung durch Tertullian aus seinem Amt entfernt; 4 drastischer noch das Urteil von Ambrosiaster (4. Jh.) in seinem Kommentar zu 2Thess: » Wie der Teufel die Maske des Erlösers annimmt, um die Gläubigen zu täuschen, so die Häretiker die Namen heiliger Schriftsteller.«' Ausgeschlossen war entsprechend, wie etwa das Zeugnis des Canon Muratori (ca. 200 n.Chr.) nahe legt,' dass die als Fälschung erkannten Schriften in den Kanon der Bibel aufgenommen worden wären. Doch die einfache Überzeugung, dass in der Bibel nur >echte<, apostolische Schriften versammelt seien, wurde seit Beginn der modernen kritischen Bibelwissenschaft immer mehr in Zweifel gezogen. Selbst konservative Forscher anerkennen heute, dass auch Schriften der Bibel als >Pseudepigraphen<, d.h. als Schriften mit >falschen Ver- ZNT 12 (6. Jg. 2003) fasserangaben<, eingeschätzt werden müssen. Kaum ein Bibelwissenschaftler würde heute noch bezweifeln, dass z.B. die Pastoralbriefe aus stilistischen, theologischen und zeitgeschichtlichen Gründen nicht von Paulus geschrieben sein können,' obwohl sie das nicht nur im Präskript expressis verbis behaupten,' sondern durch die vorgestellte Briefsituation im Leben von Paulus (z.B. 1Tim 1,3), durch biografische Notizen (z.B. 1Tim 1,12-17) und Personennamen (z.B. 2Tim 1, 15-18) offenbar nachdrücklich suggerieren wollen. Doch bei den Pastoralbriefen handelt es sich nicht um Einzelfälle. Die neuere Forschung anerkennt, dass »ein großer Teil des kanonischen Schrifttums aus Pseudepigraphen,/ besteht. Allein bei den neutestamentlichen Schriften, die überhaupt einen Verfasser nennen,1° sind die Hälfte >unecht< in dem Sinn, dass sie nach heutigem Ermessen nicht von dem Autor geschrieben wurden, den sie angeben. Neben den genannten Pastoralbriefen sind hier weitere Paulus briefe zu nennen, wobei die Pseudepigraphie von 2Thess und Kol umstritten ist,1 1 bei Eph allerdings allgemein anerkannt wird. Ferner geht man davon aus, dass die katholischen Briefe (1Petr, 2Petr, Jak, Jud) nicht von den genannten Aposteln verfasst sein können. Dieser Befund ist gleich in mehrfacher Hinsicht theologisch brisant. Einerseits stellt sich die ethische Frage, ob die >Unechtheit< der Verfasserangaben mit dem Wahrheitsanspruch der Bibel zu vereinbaren ist. Legitimiert die biblische Pseudepigraphie etwa die pia fraus, den frommen Betrug, der in bestimmten Fällen als notwendiges Mittel einem heiligen Zweck dienen kann? Würde die Bibel somit einer konsequentialistischen Ethik das Wort reden, nach der nur das Ziel einer Handlung deren moralischen Wert bestimmt? Oder stehen die falschen Verfasserangaben auf einer Stufe mit jeder Lüge, die nach dem neunten Dekalog-Gebot (Ex 20,16) ausdrücklich - und ohne Ausnahme -verboten wird? Wenn aber die Bibel dem Anspruch, den sie in den zehn Geboten fordert, selbst nicht gerecht werden kann, ist sie dann noch glaubwürdig? Wenn um Klartext zu 27 reden in der Bibel gelogen wird, ist dann nicht der Wahrheitsanspruch der >Heiligen Schrift, Fälschungen entlarvten Schriften bei der Suche eines >Kanons im Kanon, abzuwerten oder sie soüberhaupt in Frage gestellt? Hat dann paradoxerweise ausgerechnet die moderne Bibelwissenschaft die Bibel als norma normans und unbedingte Moralinstanz gleichsam selbst diskreditiert? »Wenn aber die Bibel dem Angar gänzlich aus dem Kanon auszuschließen, so wie die Alte Kirche es getan hätte. 14 spruch, den sie in den zehn Geboten fordert, selbst nicht gertcht werden kann, ist sie dann.noch.glaubwürdig"? Die hier simplifizierend skizzierten Positionen werden jedoch dem Problem in seinem historischen Kontext und seiner sachlichen Komplexität keineswegs gerecht. Im Folgenden möchte ich deshalb versuchen, die am Phänomen der kanonischen Andererseits wirft das Phänomen der Pseudepigraphie die Frage nach der Gültigkeit des Kanons in verschärfter Weise auf. Hatte nicht gerade die Apostolizität einer Schrift Wenn umKlartext zu reden in der Bibel gelogen wird, ist.dann nicht der Wahrheitsanspruch der >Heiligen Schrift< überhaupt in Frage gestellt? « als maßgebliches Auswahlkriterium gegolten? Sind etwa die Kanonväter in vielen Fällen in Unkenntnis der Fälschung einem plumpen Betrug erlegen? Welche Konsequenzen würde eine solche Einschätzung für die Anerkennung der Kanonsgrenzen mit sich bringen? Wer in verzweifelter Aufrechterhaltung orthodoxer Schriftprinzipien nicht zum (vorbzw. unkritischen) Bekenntnis der Echtheit der Verfasserangaben zurückkehren möchte, 12 steht scheinbar vor zwei extremen Alternativen, wie sie in der Exegese immer wieder vertreten wurden: Die einen Forscher nivellieren das Problem: Pseudepigraphie sei ein allgemein anerkanntes stilistisches Verfahren gewesen, dessen sich auch neutestamentliche Autoren bedient hätten. Eine Täuschungsabsicht habe weder von Seiten der Verfasser bestanden, noch wäre sie von den Rezipienten als solche empfunden worden. Entsprechend werde der Wert des Kanons an der theologischen Tiefe und wirkungsgeschichtlichen Bedeutung seiner Schriften und nicht an der Echtheit der Verfasserangaben bemessen. 13 Andere, insbesondere Vertreter einer evangelikalen Theologie, dramatisieren das Problem: Durch die Existenz von pseudepigraphen Schriften im Kanon sei in der Tat der Wahrheits- und Offenbarungsanspruch der Bibel gefährdet. Die Pseudepigraphen, aus welcher Motivation und scheinbaren Notwendigkeit auch immer sie entstanden sein mögen, seien von ihren Verfassern als bewusste Fälschungen in Umlauf gebracht worden. Nur weil die Kanonväter ihre Unechtheit nicht erkannt haben, seien sie überhaupt in die Bibel gelangt. Es sei deshalb geboten, die heute als 28 Pseudepigraphen entzündete theologische Problematik differenziert zu bearbeiten, wobei jeweils unterschiedliche Perspektiven eingenommen werden, die auf je eigene Weise zum besseren Verständnis beitragen können. 2. Lösungsbzw. Erklärungsangebote 2.1. Eine terminologische Annäherung >Unechtheit" >Fälschung" >Lüge< sind in hohem Maß wertende Begriffe, die bereits bestimmte moralische Vorentscheidungen der jeweiligen Autoren anzeigen. Es ist deshalb hilfreich, zunächst begrifflich differenziert und möglichst wertfrei das Phänomen >falscher Verfasserangaben< zu beschreiben. Richtet man den Blick auf die Autorenangabe einer Schrift, gibt es drei Möglichkeiten: Die Schrift ist >anonym, überliefert, d.h. es fehlt jede Verfasserangabe. >Ürthonym, können Schriften genannt werden, deren Verfasserangaben mit den tatsächlichen Autoren übereinstimmen. Schließlich nennen >pseudonyme, bzw. >allonyme, 1' Schriften statt dem tatsächlichen Autor einen anderen Namen. Innerhalb der zuletzt genannten Gruppe sind dann weitere begriffliche Differenzierungen je nach Entstehungszusammenhang und Motivation des Einsatzes von Pseudonymen hilfreich: 16 >Fiktionale Pseudonyme<, d.h. frei erfundene Personennamen innerhalb einer Erzählung oder eines Romans, finden sich als stilistische Kunstgriffe in der gesamten abendländischen Literaturgeschichte. Eine Zuspitzung dieses Stilmittels liegt dann vor, wenn ein Autor bestimmte histori- ZNT 12 (6. Jg. 2003) Ruberi Zimmermann PD Dr. Ruben Zimmermann, Jahrgang ·1968, promovierte 1999 in Heidelberg mit einer Arbeit zur »Geschlechtermetaphorik« in der jüdisch-christlichen Tradition. Habilitation: 2003 in München mit einer Arbeit zur »Christopoetik des Johannesevap_geliums«. Dr: Ruhen Zimmermann unterrichtet an der Päd. Hoch~ schule Heidelberg sowie an der Universität München. Derzeitige Forschungsschwerpunkte: N euere. exegetische Methoden, Hermeneutik und Ethik des Neuen Testaments. sehe Personen im Roman oder der Novelle wiederbelebt, wie dies etwa bei dem jüdischhellenistischen Roman Joseph und Aseneth in Anknüpfung an Genesis 41,45 oder in neuerer Zeit bei Georg Büchners Lenz oder Thomas Manns Dr. Faustus der Fall ist. Obgleich die Identifikation der Personen vielschichtig sein kann, 17 bleiben doch die Zuordnungen transparent: Auch wenn die literarischen Personen im Geist den historischen Vorbildern nahe stehen, bleibt für den Leser sichtbar, dass sie vorrangig mit den Worten ihrer Erfinder sprechen. Von einer >literarischen Pseudonymität, im engeren Sinn kann man erst sprechen, wenn ein Autor seinen tatsächlichen Namen hinter einer erfundenen oder gewählten Verfasserangabe für eine Ganzschrift verbirgt. Eine abgemilderte Form dieser Pseudonymität kann in der frühneuzeitlichen Mode gesehen werden, den eigenen Namen zu latinisieren oder zu gräzisieren (z.B. >Melanchthon, für >Schwarzerdt,; >Gryphius< für >Greif,). Die Verwendung eines Pseudonyms konnte aus ästhetischen, insbesondere auch rezeptionsästhetischen Gründen erfolgen, um das Interesse der Leserschaft zu wecken (z.B. die Pseudonyme Moliere, Novalis, Jean Paul etc.); manchmal diente sie auch dem Schutz des Autors ZNT 12 (6.Jg. 2003) (z.B. beim Spiritualisten C. Hoburg oder Altkatholiken I. v. Döllinger). Während diese im Blick auf den realen Autor verhüllende oder symbolische Pseudonymität vorrangig seit der Neuzeit begegnet, sollte durch eine fiktive Verfasserangabe in der Antike meist die Autorität eines Textes durch seine bewusste Rückbindung an eine bedeutende Persönlichkeit hervorgehoben werden. Es erscheint mir deshalb sinnvoll, die autorenzentrierte neuzeitliche >Pseudonymität, und die textzentrierte antike >Pseudepigraphie, (gr. >mit falscher Überschrift,) auch begrifflich auseinander zuhalten. Obgleich die Übergänge der unter dem Begriff >Pseudepigraphie< subsumierten Formen oft fließend sind, ist es hilfreich das antike Phänomen in heuristischer Absicht weiter auszudifferenzieren: Einige Autoren sprechen von einer »echten religiösen bzw. offenbarungstheologischen Pseudepigraphie«,18 wenn ein Text als Spruch einer Gottheit ausgewiesen ist. Durch spirituelle Erlebnisse bzw. mystische Identifizierung wie z.B. Inspiration, Diktat oder Vision sei die Botschaft eines Gottes empfangen worden (z.B. JHWH- Sprüche der Propheten; Orakel an gr. Heiligtümern), so dass die Angabe des Urhebers gerechtfertigt erscheint, auch wenn ein Spruch in den Worten des jeweiligen Offenbarungempfängers formuliert werde. Allerdings wurde m.E. zu Recht angefragt, ob sich eine solche Klassifikation auf schriftlich fixierte Texte überhaupt anwenden lasse, da diese auch visionäre Erlebnisse immer literarisch und unter Einbeziehung traditioneller Deuteschemata verarbeiten. 19 Eine überlieferungsgeschichtliche Pseudepigraphie liegt vor, wenn im Lauf der Tradierung (ursprünglich anonyme) Schriften an einen bestimmten Personennamen gebunden wurden (z.B. in der griech. Tradition: medizinische Texte an Hippokrates; in der jüdischen Tradition: Psalmen an David, Weisheitstexte an Salomo). In der Regel wurde die Namenszuschreibung bewusst vollzogen, daneben konnte es aber auch durch Zufälle zu den >falschen, Autorennamen kommen, wenn die Verfasserangabe durch irrtümliche Zuschreibungen (z.B. aufgrund von Namensgleichheit20) erfolgte, auf Missverständnissen beruhte (z.B. wenn Stilübungen als >echt, eingestuft wurden) oder durch besondere Umstände der Entstehung einer Schrift (z.B. Sekretärsarbeit; 29 Stellvertretung wegen Gefangenschaft des genannten Autors) verursacht war. In diesen Fällen ist der Begriff zufällige bzw. technisch bedingte Pseudepigraphie gerechtfertigt. Bei einigen Texten ist die Verfasserangabe eng mit der literarischen Gestaltung der Schrift verbunden. So wurden z.B. in der jüdischen Tradition Apokalypsen als Visionsberichte (z.B. Hen; ApkMos; 4Esr) oder Testamente als Vermächtnisschriften (z.B. TestXII) einer biblischen Gestalt stilisiert. Entsprechend kann man hier von einer literarischen bzw. gattungsbedingten Pseudepigraphie sprechen. Bei der imitativen Pseudepigraphie wurden Schriften inhaltlich und/ oder stilistisch eng an normative Werke anerkannter Autoritäten angelehnt. 21 Besonders in den antiken Philosophen- und Ärzteschulen war es üblich, dass Schüler nicht nur Schriften des Lehrers herausgegeben, sondern auch eigene Arbeiten in Anerkennung und Ehrerbietung des Lehrers unter dessen Namen veröffentlicht haben (z.B. Ps- Pythagoras; Ps-Heraklit; ps-platon. Briefe etc.). Noch Tertullian schreibt, dass »als Werk des Lehrers angesehen werden (darf), was seine Schüler publiziert haben.« 22 Schließlich kann die literarische Fälschung als Sonderfall der Pseudepigraphie betrachtet werlischer Autoritäten verbunden wurden (Evv.; Hebr; lJoh). Von einer literarischen Pseudepigraphie könnte man beim joh Schrifttum sprechen, denn auch wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich die Verfasserangaben wie »der Jünger, den Jesus liebte« (Joh 21,24), »der Alte« (2Joh l; 3Joh 1) oder »Johannes von Patmos« (Offb 1,4.9) auf historische Personen beziehen, kann man hier doch aus rezeptionsästhetischer Sicht Pseudonyme erkennen, die eine bestimmte literarische Funktion erfüllen sollten (z.B. der Lieblingsjünger als idealer Jünger). Die größte Bedeutung haben zweifellos Formen der imitativen Pseudepigraphie, wie sie in der ntl. Briefliteratur, insbesondere bei einigen Ps-Paulusbriefen im Vergleich mit authentischen Paulusbriefen nachzuweisen ist. Literarische Fälschungen werden hingegen in 2Thess 2,2 ausdrücklich verurteilt. 2.2. Eine religionsgeschichtliche Annäherung Im Alten Orient wurden religiöse Schriften überwiegend anonym überliefert. Entsprechend sind auch die meisten Schriften der hebräischen Bibel ohne Verfasserangabe überkommen. Innerhalb der jüdischen Überlieferung war vor allem die Botschaft maßgeblich, hinter der die Person des den, bei der ein Autor in bewusster Täuschungsabsicht der Rezipienten 23 und in der Regel aus eigennützigen (z.B. politischen oder finanziellen) Interessen die falsche Verfasserangabe einführt. So hat z.B. Anaximenes v. Lampsakos nach dem Zeugnis von Pausanias (VI 18,5) eme Schmähschrift unter dem Namen seines Feindes Theopompus veröffentlicht, um dessen Ruf zu schädigen. »Die Hervorhebung der Person des Autors bzw. die Autors ganz zurücktreten konnte. Insofern die Individualität und Autorität z.B. des Propheten oder Lehrers in den Blick kam, wurde sie durch seine mündliche Lehre begründet und auch zunächst dadurch festgehalten. Die Verschriftlichung vollzog sich dann in einem längeren Überlieferungsprozess von unterschiedlichen Autoren bzw. Redaktoren, die die älteren Traditionen bearbeitet, erwei- Idee des >geistigen Eigentums< wurde von Anfang an auch durch das Phänomen der Pseudepigraphie und Fälschung begleitet, wie zahlreiche pseudepigraphe Schriften sowie die Ausbildung einer antiken >Echtheitskritik< belegen.« Versucht man die ntl. Texte mit unzutreffenden Verfasserangaben innerhalb dieses begrifflichen Koordinatennetzes einzutragen, können drei Formen wahrgenommen werden: Einerseits finden sich Formen einer überlieferungsgeschichtlichen Pseudepigraphie, sei es, dass einzelne Logien bzw. Reden Jesus in den Mund gelegt wurden, sei es, dass anonyme Schriften zumindest im Laufe ihrer Wirkungsgeschichte mit dem Namen apostotert und verändert haben bis sie schließlich die uns heute vorliegende Gestalt gewonnen hatten. Die hebr.-jüdischen Schriften (bis hin zu den Rabbinica) können entsprechend als »Traditionsliteratur« bezeichnet werden. 30 Ganz anders jedoch in der griechischen Kultur. Hier setzte so etwa ab dem 7./ 6. Jh. ein Bewusstwerdungsprozess für die individuelle geistige bzw. schöpferische Leistung ein, so dass Autoren ZNT 12 (6. Jg. 2003) ihren Namen innerhalb der Schrift nannten (z.B. der Spruchdichter Theognis v. Megara), ebenso wie Vasenmaler ihre Keramiken oder Bildhauer ihre Plastiken signierten. Die etwa seit dem 5. Jh. zu beobachtende Entwicklung des ,Buchhandels< in Athen, durch den Schriften publiziert und verbreitet wurden, förderte die Vorstellung einer individuellen Verfasserschaft. 24 Die Hervorhebung der Person des Autors bzw. die Idee des >geistigen Eigentums< wurde von Anfang an auch durch das Phänomen der Pseudepigraphie und Fälschung begleitet, wie zahlreiche pseudepigraphe Schriften sowie die Ausbildung einer antiken »Echtheitskritik« belegen. 25 In der griechischen Literatur dominieren dabei vor allem Formen der literarischen oder imitativen Pseudepigraphie sowie Fälschungen mit unterschiedlicher Motivation wie z.B. Gewinnstreben, Machtzuwachs, Rechtsvorteile oder Befriedigung von Emotionen wie z.B. Rache und Neid. Erst im Zusammenfließen von orientalischer und griechischer Schriftkultur, wird das Phänomen der Pseudepigraphie für einen bestimmten Namen verbürgt, so geht es doch gerade auch hierbei um die Hervorhebung der überzeitlichen und überindividuellen Dimension dieser Literatur. Die überlieferungsgeschichtliche Pseudepigraphie bleibt im Kern Traditionsliteratur. Daneben begegnet in hellenistischer Zeit aber auch Autorenliteratur, d.h. Werke, die auf einen Verfasser zurückgehen." Mit Jesus Sirach haben wir die erste (deutero-)kanonische Schrift, bei der ein Autor explizit mit seinem eigenen Namen unterschreibt (Sir 50,27). In ähnlicher Weise demonstriert das apokryphe jüdisch-hellenistische Schrifttum die Hervorhebung des individuellen Verfassers, wie bereits die Sammlung des Alexander Polyhistor (1. Jh. v.Chr.) Über die Juden beweist. 29 Offenbar um die Anerkennung in der griech.-römischen Welt zu erlangen, finden sich in dieser Zeit auch vermehrt pseudepigraphe Schriften, wie z.B. Fälschungen von Klassikertexten (z.B. Ps-Aeschylos; Ps- Sophokles) oder die Pseudophykilidea. 30 Ein interessantes Beispiel einer pseudepigraphen jüdisch-hellenistischen Schrift die jüdisch-christliche Tradition relevant. Entsprechend begegnen pseudepigraphe Schriften auch erst in jüdischhellenistischer und dann vor allem urchristlicher Zeit, denn hier berührte sich das innerhalb der jüdischen Kultur maßgebliche Bemühen »Erst im Zusammenfließen von orientalischer und griechischer Schriftkultur, wird das Phänomen der Pseudepigraphie für die jüdisch-christliche Tradition relevant.t ist der so genannte Aristeasbrief. Der Verfasser gibt sich als hochgestellter Beamter am Hof des Ptolemaios II. Philadelphos (283-246 v.Chr.) aus, der im Auftrag des ptolemäischen Königs um die griech. Übersetzung der hebr. Bibel um Traditionskontinuität mit der griech. Vorstellung individueller Verfasserschaft. 26 Wie sehr der Rekurs auf personale Autoritäten auch innerhalb der jüdischen Tradition an Bedeutung gewonnen hatte, wurde in dieser Zeit daran ablesbar, dass die sonst anonym überlieferten religiösen Schriften nun zum Teil einem bestimmten Personennamen zugewiesen wurden: So wurden Gesetzestexte zu Mose, Psalmen zu David oder Weisheitstexte zu Salomo zugeordnet. Selbst Prophetentexte wurden retrospektiv mit anerkannten Prophetennamen verbunden, wie die Sammlungen des Jesajabzw. Sacharjabuches zeigen. Ganz ähnlich gruppierten sich auch apokalyptische Textsammlungen um bestimmte Namen, wie die Henoch- oder Esra-Literatur belegt. 27 Wird die Bedeutung der Tradition bei diesen Formen der »überlieferungsgeschichtlichen Pseudepigraphie« zwar durch ZNT 12 (6. Jg. 2003) bittet. Der Brief ist somit nicht nur eine Werbeschrift für die LXX, sondern bringt auch die Bitte um philanthrope Toleranz der Ptolemäer zum Ausdruck. Aus inhaltlichen Erwägungen muss für den Text jedoch eine Entstehungszeit zwischen 127 und 118 v.Chr. angenommen werden. Fazit: Die Schriften des NT fügen sich bruchlos in diese >interkulturelle< literarische Landschaft ihres religionsgeschichtlichen Vor- und Umfeldes ein. Einerseits wurde die Tradition anonymer Schriftüberlieferung weitergeführt (z.B. Evv; Hebr). Zugleich wurde aber auch die aus der griech. Schriftkultur übliche Zeichnung einer Schrift mit dem Verfassernamen praktiziert. Personale Autorität hat vor allem Paulus als der erste Autor des Neuen Testaments in seinen Briefen beansprucht. In gewisser Weise mag die konsequente Nennung seines Namens zwar durch die 31 Anlehnung an das zeitgenössische Briefformular bedingt sein. Die anonymen Briefe 1J oh oder 1Clem (vgl. Hebr) zeigen jedoch, dass dies nicht bindend war. Neben den anonymen und orthonymen Schriften finden sich im NT auch die Pseudepigraphen, die gewissermaßen die Schnittstelle zwischen orientalisch-jüdischer und griechischhellenistischer Schriftkultur markieren und unmittelbar an jüdisch-hellenistische Prägungen des Phänomens anknüpfen. Hier zeigt sich das Bemühen um personal verbürgte Kontinuität anerkannter Traditionen. 2.3. Eine sozialgeschichtliche Annäherung Die Analyse der Verfasserangaben der als authentisch anerkannten ,Paulusbriefe< zeigt einen signifikanten Befund: Abgesehen von Röm sind alle orthonymen Briefe des Apostels als Kollektivwerke ausgewiesen. Häufig wird Timotheus als Mitautor im Präskript genannt (2Kor 1,1; Phil 1,1; Phlm 1), in 1Thess 1, 1 sind sogar drei Autoren (Paulus, Silvanus, Timotheus) angegeben, 1 Kor 1,1 erwähnt Sosthenes als Koautor; nach Gal 1,2 verfasst Paulus den Brief zusammen mit den »Brüdern, die bei (ihm) sind«, ohne deren Namen explizit aufzulisten. Diesem Befund entspricht auch die Missionspraxis des Paulus und des Urchristentums überhaupt. Statt eines Einzelkämpfertums begegnen Missionsteams, die eine enge Zusammenarbeit verschiedener Mitarbeiter er- (1Kor 4,17; 16,10). Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass diese Kooperation im paulinischen Missionsteam auch in den Briefen ihren Niederschlag zeitigte. Eine Variante der kollektiven Zusammenarbeit stellt die Einbeziehung von Sekretären und Schreibern dar. In der Antike war es üblich, dass auch Autoren, die selbst schreiben konnten, Schreibern den Brief diktierten oder diese sogar selbstständig mit dem Schreiben beauftragten. 31 Auch Paulus hat seine Briefe offenbar von Sekretären schreiben lassen, wie aus einigen Bemerkungen zu schließen ist. 32 So wird in Röm 16,22 Tertius als Schreiber des Römerbriefes namentlich genannt, ferner wird in 1Kor 16,21, Gal 6,11 und Phlm 19 erwähnt, dass Paulus den Briefschluss »mit eigener Hand« schrieb, was darauf schließen lässt, dass er zuvor diktiert hatte. Der selbstständige Gruß des Tertius in Röm 16,22 (in 1. Pers.) zeigt ferner an, dass dieser nicht ein beliebiger Schreibsklave war, sondern selbst als Christ eigenständig Grüße an die Gemeinde sendet, wie dies zuvor die anderen Mitarbeiter des Paulus getan hatten (vgl. Röm 16,21: Timotheus, Luzius, Jason und Sosipater). Möglicherweise handelt es sich bei dem in 1Kor 1,1 erwähnten Sosthenes auch um einen zum Ko-Autor aufgewerteten Schreiber. E.E. Ellis hat sogar für die (für ihn authentischen) Pastoralbriefe eine modifizierte Sekretärshypothese entwickelt." War es bereits in antiken Schulbetrieben üblich, kennen lassen. Auch wenn die prinzipielle Vorrangstellung des Paulus als Gemeindegründer und -berater nicht angezweifelt wird, spielen seine Mitarbeitern eine wichtige Rolle. Neben Titus (2Kor 8,16) und Epaphroditus (Phil 2,25) ist hier besonders an Timotheus zu denken, der mehrfach als Mitarbeiter (synergos) hervorgehoben wird (1Thess 3,2; Phil 2,19- 23; Röm 16,21). Wie kein an- » War es bereits in antiken Schulbetrieben ublich, dass Schüler in Ehrerbietung und Anerkennung des. dass Schüler in Ehrerbietung und Anerkennung des Schuloberhaupts Schriften unter dessen Namen verfassten, so hatte die kollektive Zusammenarbeit und Verfasserschaft im paulinischen Missionsteam die Pseudepigraphie zusätzlich gefördert. Wenn Paulus bereits selbst seine Mitarbeiter als Koautoren benannt hat und sie in der Missionsarbeit Botschafter oder gar Stellvertreter des Apostels waren, sahen sich Schuloberhaupts Schriften unter dessen Namen verfassten, so hatte die kollektive Zusammenarbeit und Verfasserschaft im pauJinischen Missionsteam.die Pseudepigraphie zusätzlich gefördert.« derer wurde er als mitverantwortlich für das Wohl der Gemeinde beschrieben (Phil 2,20). Er überbrachte die Worte des Paulus, galt als sein Botschafter (Phil 2,23) oder sogar Stellvertreter die Mitarbeiter des Paulus nach dem Tod des Apostels dazu ermächtigt, nun die Briefkorrespondenz im Namen des Apostels eigenständig weiterzuführen. Gerade das Stellvertretungs- 32 ZNT 12 (6.Jg. 2003) bewusstsein befähigte sie nach G. Theißen dazu, »ohne Fälschungsbewusstsein unechte Briefe zu schreiben und zu verbreiten.« 34 Die bewusste Anlehnung an Stil und Theologie (vgl. 2Thess; Kol; Eph) oder gar an konkrete Lebenssituationen des Apostels können im Rahmen einer solchen, ,imitativen Pseudepigraphie< gut erklärt werden. Der Lebendigkeit einer so genannten »Paulusschule« 35 verdanken wir dann die Fülle an pseudepigraphen Paulusbriefen. Durch den Hinweis auf eine kollektive Verfasserschaft der Paulus briefe wird das Problem der Pseudepigraphie jedoch nicht vollständig gelöst. Die Autorenangaben in Kol 1,1 (Paulus und Timotheus) oder 2Thess 1, 1 (Paulus, Silvanus und Timotheus) könnten zwar als Hinweis auf den eigentlichen Verfasser gedeutet werden. In beiden, wohl kaum einen Verlust an Anerkennung, sondern eher eine Konzentration an (kirchenpolitischer) Macht gegeben, wie etwa die Clemensbriefe beweisen. Nicht der Mangel an Führungspersönlichkeiten, sondern eher ein bestimmtes Geschichtsbild, das die apostolische Zeit retrospektiv als Norm setzte, hat dazu beigetragen, dass die Pseudepigraphie in der zweiten und dritten Generation so bedeutsam wurde. 2.4. Eine literarisch-rezeptionsästhetische Annäherung Wie eng die pseudonyme Verfasserschaft mit der literarischen Gestaltung einer Schrift zusammenhängt, wurde bereits im Blick auf die gattungsspezifische Pseudepigraphie im Frühjudentum angemeist als pseudepigraph eingestuften Schriften wird jedoch zugleich die paulinische Verfasserschaft durch Erwähnung des ,eigenhändigen Grußes< (Kol 4, 18; 2Thess 3,17) explizit hervorgehoben. Noch auffälliger ist die Beobachtung, dass bei den Past gerade keine weiteren Mitarbeiter bzw. Ko-autoren genannt werden. Während sich die eigentlichen Autoren »Nicht der Mangel an Führungspersönlichkeiten, sondern eher ein bestimmtes Geschichtsbild, das die apostolische Zeit retrospektiv sprochen. Die Patriarchentestamente oder Apokalypsen sind aus der Perspektive einer biblischen Gestalt geschrieben. An verschiedenen Elementen dieser Schriften lässt sich jedoch aufzeigen, dass dabei nicht an eine tatsächliche Verfasserschaft im modernen Sinn gedacht wurde, stattdessen liegt hier eine Form literarisch-fiktionaler als Norm setzte, hat .dazu ·beigetragen,. dass die Pseud, epigraphie in.der zweiten und dritten Generation so bedeutsam wurde.« aufgrund des Usus der kollektiven Verfasserangaben unverdächtig hätten mitnennen können, wird in 1Tim, 2Tim und Tit nur Paulus als alleiniger Autor angegeben. Problematisch erscheint mir auch der Hinweis auf ein »Autoritätsvakuum« der zweiten und dritten Generation im Urchristentum, das die Pseudepigraphie evoziert habe: »Weil es keine Persönlichkeiten mehr gab, die eine gesamtkirchliche Autorität besaßen, griffen die Verfasser pseudepigraphischer Schreiben auf die Autoritäten der Vergangenheit zurück, um ihren jeweiligen Zielen (... ) einen adäquaten Ausdruck zu verleihen.« 36 Gab es denn je zu einer Frühphase des Christentums diese »gesamtkirchlichen Autoritäten«? Zeigen nicht die diversen aus den Schriften rekonstruierbaren Streitigkeiten (vgl. Apg 6f.; 15; 1/ 2Kor; Gal; J oh 6,62H. ), dass es das Idealbild einer harmonischen, von Aposteln geleiteten Urchristenheit nie gegeben hat? Mit wachsender Zeit hat es ZNT 12 (6.Jg. 2003) Pseudepigraphie vor, die theologischen Zwecken diente. Dazu ein Beispiel: Der Verfasser der Apokalypse 4Esra datiert seine Schrift auf das »30. Jahr nach dem Untergang der Stadt« (4Esr 3,1). Da mit dem Untergang der Stadt im Kontext die babylonische Zerstörung Jerusalems im Jahr 587 v.Chr. gemeint ist, wird als Entstehungszeit somit das Jahr 557 v.Chr. angegeben. Der biblische Esra (vgl. Esr 7-1 O; N eh 8) als der angegebene Verfasser dieser Apokalypse (4Esr 6,10; 7,2.25 u.a.) hat jedoch erst in der Perserzeit, d.h. ca. 100 Jahre nach diesem Zeitraum gelebt." Dieser Anachronismus gewinnt jedoch einen prägnanten Sinn, wenn man annimmt, dass die Aufmerksamkeit der eigentlichen Adressaten mit der Zeitangabe auf die tatsächliche Entstehungszeit der Schrift, d.h. auf das 30. Jahr nach der Zerstörung des zweiten Tempels, also 100 n.Chr. gelenkt werden soll. Die erste Zerstörung J erusalems wird hier also lediglich als fiktives Anschauungsszenario benutzt, um die theologischen 33 Grundsatzfragen angesichts der zweiten Zerstörung der Stadt und des Tempels im Jahr 70 n.Chr. zu bearbeiten. Damit wird jedoch ein genereller Grundsatz für die Abfassung pseudepigrapher Schriften erkennbar. Eine Schrift wurde in eine fingierte Kommunikationssituation gestellt, um somit auf subtile und literarisch-kunstvolle Weise die eigene Situation zu thematisieren. Auch wenn in der Schrift selbst Autor und Adressaten einer ganz anderen geschichtlichen Zeit angehören, wollen die Texte doch eigentlich die Gegenwart der von ihnen intendierten Rezipienten erreichen. Der kommunikative >Umweg, über eine fingierte geschichtliche Situation soll letztlich zu einer gelungeneren Verständigung führen, die bei einer direkten Auseinandersetzung zu schwierig oder heikel gewesen wäre. Um die Verfasserangabe dieser literarischrezeptionsästhetischen Pseudepigraphie sachgemäß erfassen zu können, ist es hilfreich, zwischen dem realen und fiktiven Autor sowie zwischen realen und fiktiven Lesern zu unterscheiden. Da die >realen, Kommunikationsteilnehmer in der Regel wiederum nur aus den Texten selbst erschlossen werden können, sollte man mit der Begrifflichkeit der literarischen Rezeptionsästhetik besser vom >impliziten Leser< bzw. Autor sprechen, dem fiktiver Autor und fiktive Adressaten gegenüberstehen. 38 Auch die ntl. Pseudepigraphie lässt sich in dieser Perspektive einer fingierten Kommunikationssituation besser verstehen. Während bei frühjüdischen Schriften auf Autoritäten der ferneren Geschichte zurückgegriffen wird (z.B. Abraham; Henoch; Mose), rekurrieren die ntl. Pseudepigraphen auf Personen der jüngsten Vergangenheit, was als Niederschlag eines eschatologischen Geschichtsbewusstseins der frühen Christenheit gewertet werden kann. So galt z.B. der Apostel Paulus als Offenbarungsträger der neuen Heilszeit, so dass seine Briefkommunikation mit einzelnen Gemeinden zur theologischen und auch literarischen Norm (vgl. die frühe Sammlung seiner Briefe) erhoben werden konnte. Deshalb können z.B. die impliziten Leser des 2Thess von einem unbekannten Autor dazu aufgefordert werden, ihre eigene Situation vor der Folie der im Brief fingierten Kommunikationssituation zwischen Paulus und den Thessalonichern (vgl. 1Thess) zu reflektieren. Besonders deutlich tritt dieser spannungsvolle 34 Zusammenhang zwischen fiktiver und realer Briefkommunikation bei den Pastoralbriefen zu Tage. Einerseits zeigen diese Briefe reichlich Elemente, die eine paulinische Urheberschaft suggerieren wollen (z.B. 2Tim 1,12; 4,13). Andererseits werden im Horizont dieser fiktiven Situation gerade gegenwärtige Fragen von Kirche und Gemeindeleitung thematisiert, denn die in den Past vorausgesetzten Gemeindestrukturen lassen sich nicht mit der Zeit des Paulus vereinbaren. Die Pastoralbriefe benutzen also eine fiktive Kommunikationssituation (zwischen Paulus und Timotheus bzw. Titus), um gegenwärtige Fragen im Horizont paulinischer Tradition zu bearbeiten. Bezogen auf die Rolle des Verfassers (vgl. 1 Tim 1, 11-17) könnte man mit A. Merz von einer »fiktiven Selbstauslegung des Paulus durch eine fingierte Selbstreferenz« sprechen. 39 Eine interessante Deutevariante einer literarisch verstandenen Pseudepigraphie hat ferner M. Frenschkowski zu den Pastoralbriefen entworfen, der eine Bemerkung von R. Bauckham aufnehmend40 davon ausgeht, dass »die vorgeblichen Adressaten in Wahrheit die Verfasser gewesen (sind).« 41 Der fiktive Adressat fällt hierbei mit dem realen Verfasser zusammen. Damit ließe sich nicht nur die Reduktion auf einen Verfasser, sondern auch die vielen biographischen Notizen und Namen oder der griech.-hellenistische Charakter der Briefe erklären. Es wäre auch gut denkbar, wie der pseudepigraphe Brief Jahre nach dem Tod des Apostels unbemerkt in Umlauf kommen konnte: Timotheus hätte ihn »etwa am Ende seines Lebens, als sein eigenes Vermächtnis, unter dem Mantel eines von Hause aus persönlichen Briefes des Apostels an ihn selbst, der Kirche (übergeben).,/ ' Die auffällige Autorisierung des Adressaten (2Tim 3,10f.; 4,1-8), die jenseits der in den Briefen genannten kirchlichen Ämter liegt, könnte so letztlich der Selbstlegitimation des eigentlichen Verfassers dienen, der als Stellvertreter des Paulus beauftragt wurde und sich als solcher verstand. Die Pseudepigraphie könnte somit gerade als eine literarische Erfüllung dieses Stellvertretungsauftrags erklärt werden. Betrachten wir die Pseudepigraphie in literarisch-rezeptionsästhetischer Perspektive, kann Folgendes festgehalten werden: Die pseudonyme Verfasserangabe darf nicht als Aussage über die tatsächliche Urheberschaft der Schrift im moder- ZNT 12 (6. Jg. 2003) nen Sinn missverstanden werden, da sie als Aspekt eines literarischen, d.h. aber immer auch fiktionalen Textes betrachtet werden kann. Fiktiv ist dabei aber nicht nur die Autorenschaft, sondern die gesamte Kommunikationssituation, einschließlich der Adressaten. Die fiktive Verfasserangabe erfolgte nicht mit Täuschungsabsichten, vielmehr stand eine theoons- und religionsgeschichtlicher Vergleich lässt zugleich die Formenvielfalt und Komplexität des Phänomens sichtbar werden, die eine differenzierte Zugangsweise und Begrifflichkeit erforderlich machen. So kann man terminologisch festhalten, dass bewusste literarische Fälschungen nur einen (eher seltenen) Sonderfall der antiken Pseudepigraphie darstellen. Auch logische Intention, eine bestimmte Rezeptionsabsicht im Vordergrund, bei der die gegenwärtige Gültigkeit der Botschaft zum Ausdruck ge- »Die Verfasserangabe sollte nicht hinters Licht führen, sondern zum Licht hin.« wenn den eigentlichen Autoren pseudepigrapher Schriften im NT die ,falsche Verfasserangabe, bewusst war, handelbracht werden sollte. In einer durch das dynamische Wechselspiel von traditio und innovatio geprägten Überlieferungssituation diente eine fingierte geschichtliche Situation gerade der Vergegenwärtigung der Botschaft unter gewandelten Bedingungen. In welchem Maße die Adressaten diese fingierte Kommunikation durchschauten, wird unerheblich, sofern sie die Relevanz eines traditionellen Textes für ihre gegenwärtige Situation anerkannten. Da die fingierte und die reale Kommunikationssituation in pseudepigraphen Schriften jedoch nicht vollständig zur Deckung gelangen, kommt es zu Spannungen wie z.B. Anachronismen oder inhaltlichen Widersprüchen, die auch vom antiken Leser wahrgenommen werden konnten, so dass man die Wahrscheinlichkeit einer bewussten Lektüre auf unterschiedlichen Ebenen nicht zu gering ansetzen darf. 3. Pseudepigraphie zwischen Echtheitskritik und Wahrheitsfrage ten sie nicht mit Täuschungsabsicht im Sinne einer bewussten Irreführung der Adressaten. Im Gegenteil. Die Verfasserangabe sollte nicht hinters Licht führen, sondern zum Licht hin. Sie sollte bei den Rezipienten die Gültigkeit der vermittelten Inhalte unterstreichen und wurde deshalb an eine Autorität zurückgebunden, die von allen Kommunikationsteilnehmern als Bürge der wahren Lehre anerkannt wurde. Literarisch-rezeptionsästhetisch betrachtet benutzten die Verfasser pseudepigrapher Werke somit eine fingierte Kommunikationssituation, um möglichst große Zustimmung für die Botschaft des Glaubens in ihrer veränderten Situation zu erwirken. Sie sahen sich zu einem solchen Verhalten ermächtigt, weil z.B. Paulus bereits selbst seine orthonomen Briefe als Kollektivwerke ausgewiesen hatte. In sozialgeschichtlicher Hinsicht können deshalb die pseudepigraphen Briefe des NT auch als Ausdruck und Folge einer gemeinschaftlichen Missionspraxis und Schultradition gedeutet werden. Bei allen diesen Annäherungen wurde freilich nicht bestritten, dass die Verfasserangabe im Widerspruch zum tatsächlichen Welche Konsequenzen ergeben sich nun aus den verschiedenen Annäherungen zum Phänomen der ntl. Pseudepigraphie im Blick auf die eingangs skizzierte theologische Problematik? Religionsgeschichtlich betrachtet fügt sich das Phänomen urchristlicher Pseudepigraphie problemlos in das zeitgeschichtliche Vor- und »Biblische Texte sind trotz ihrer Bezogenheit auf konkrete geschichtliche Ereignisse keine objektsprachlichen Aussagen im Sinne propositionaler Sätze, sondern poetische, mythische oder allgemein: fiktionale Texte.« Autor einer Schrift steht. Bleibt dann jedoch die Ausgangsfrage nach dem Wahrheitsanspruch der biblischen Texte angesichts der Pseudepigraphie nicht unbeantwortet? Muss die »unechte« Verfasserangabe selbst wenn sie terminologisch differenziert, religionsgeschichtlich relativiert, sozialgeschichtlich er- Umfeld des NT ein, da hier pseudepigraphe Schriften weite Verbreitung fanden. Ein traditi- ZNT 12 (6.Jg. 2003) klärt oder literarisch interpretiert werden kann nicht doch den Wahrheitsanspruch der Bibel radikal in Frage stellen? 35 Die Beantwortung dieser Frage hängt von dem Wahrheitsverständnis ab, das an die biblischen Texte herangetragen wird: Nur wer einer engen Korrespondenztheorie zur Wahrheit 43 verpflichtet bleibt (adaequatio rei et intellectus ), wird in der nicht vorhandenen Übereinstimmung der Verfasserangabe (intellectus) und des tatsächlichen Autors (res) einen Widerspruch zum Wahrheitsanspruch der Bibel sehen. Die Wahrheit der biblischen Texte muss jedoch umfassender beschrieben werden, was hier nicht mehr entfaltet werden kann. 44 Weiterführend ist im Blick auf die Ausgangsfrage aber der literarisch-rezeptionsästhetische Ansatz, der den fiktionalen Charakter pseudepigrapher Texte hervorgehoben hat. Dabei lässt sich erkennen, dass sich am Phänomen der neutestamentlichen Pseudepigraphie nur verschärft darstellt, was für die Wahrheitsfähigkeit biblischer Texte generell gilt, angefangen von den Schöpfungsberichten, den Vätergeschichten bis zu den ntl. Wundererzählungen und Auferstehungszeugnissen. Biblische Texte sind trotz ihrer Bezogenheit auf konkrete geschichtliche Ereignisse keine objektsprachlichen Aussagen im Sinne propositionaler Sätze, sondern poetische, mythische oder allgemein: fiktionale Texte. Das heißt jedoch nicht, dass sie damit dem Reich der ungezügelten Fantasie angehören, das jeder Wahrheitsfähigkeit entzogen ist. Fiktive Texte zielen gerade nicht im ontologischen Sinn auf das Nicht-Wirkliche, sondern können so etwa nach dem funktionsgeschichtlichen Textmodell von W. Iser als Reflexions- und Rekonstruktionsformen der Wirklichkeit begriffen werden. »Dadurch löst sich( ... ) die polare Entgegensetzung von Fiktion und Wirklichkeit auf: Statt deren bloßes Gegenteil zu sein, teilt Fiktion uns etwas über Wirklichkeit mit. (... ) Als Kommunikationsstruktur schließt die Fiktion Wirklichkeit mit einem Subjekt zusammen, das durch die Fiktion mit einer Realität vermittelt wird.« 45 Entsprechend kann auch die Wahrheit der biblischen Texte weder an der >Historizität< ihrer Aussagen, noch an der >Echtheit< ihrer Verfasserangaben gemessen werden. Biblische Wahrheit ist um ihrer Lebendigkeit willen keine >objektive< Wahrheit, sondern immer zutiefst subjektbezogene, existentiale Wahrheit. Sie ist nicht im Text bereits vorgegeben, sondern ereignet sich gerade im Akt des Lesens je und je neu.4 6 Pseudepigraphe 36 Schriften sind besonders auf diesen Akt des Lesens, auf die Wirksamkeit der Botschaft bei den Rezipienten ausgerichtet. In diesem Sinn können sich die pseudepigraphen Schriften des Neuen Testaments zwar als »unecht« aber dennoch als »wahr« erweisen! Anmerkungen 1 M. de Montaigne, Über die Lüge, in: ders., Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von H. Stilett, Frankfurt a. M. 1998, 20-24, hier: 23. 2 Vgl. dazu M. Walter, Art. Pseudony~ität II. Kirchengeschichtlich, TRE 27 (1997), 662-670. 3 Lessing gab die Untersuchungen von Reimarus als »Fragmente eines Unbekannten« heraus; Kierkegaard veröffentlichte seine Werke aus den Jahren 1843-46 mit Pseudonymen wie »Viktor Eremita«, »Frater Taciturnus« oder »Constantin Constantius«; Jan Rohls gab seinen ironischen Abriss neuzeitlicher Theologiegeschichte »Des Theologen Faust« (1989) unter dem Pseudonym Gustav »Molbtiez« (= Palindrom von Dr. Serenus »Zeitblom«, dem fiktiven Erzähler von Thomas Manns Doktor Faustus) heraus. 4 Tertullian, de bapt 17,5 (CChr I, 292): »Der Presbyter, welcher sie (die ActPaulThecl) verfasste, ... wurde aus seinem Amt entfernt, nachdem er die Sache zugegeben hatte als etwas, was er aus Liebe zu Paulus getan habe.« Tertullian benutzt das Beispiel freilich, um die in den Thecla-Akten vertretene Selbstständigkeit der Frau bei Lehre und Taufe zurückzuweisen. 5 Ambrosiaster, Ad Thess 2,4,1/ 3 (CSEL 81,3,239). ' Canon Muratori, Z. 63-68: »Es läuft auch (ein Brief) an die Laodicener, ein anderer an die Alexandriner um, auf des Paulus Namen gefälscht für die Sekte des Marcion, und anderes mehr, was nicht in die katholische Kirche aufgenommen werden kann; denn Galle mit Honig zu mischen, geht nicht an.« (Übers. nach W. Schneemelcher Ntl. Apokryphen Bd. I, Tübingen "1990, 29). 7 Vgl. die Begründung im Einzelnen z.B. bei J. Zmijewski, Die Pastoralbriefe als pseudepigraphische Schriften - Beschreibung, Erklärung, Bewertung, in: ders., Das Neue Testament - Quelle christlicher Theologie und Glaubenspraxis. Aufsätze zum Neuen Testament und seiner Auslegung, Stuttgart 1986, 197-220; L. Oberlinner, Erster Timotheusbrief / Zweiter Timotheusbrief (HThK 11,2), Freiburg i. Br. 1994, XXXIII-XLV; ders., ,Paulus< versus Paulus? Zum Problem des ,Paulinismus, der Pastoral briefe, in: J. Eckert / M. Schmid! / H. Steichele (Hrsg.), Pneuma und Gemeinde. Christsein in der Tradition des Paulus und Johannes, FS J. Hainz, Düsseldorf 2001, 170-199. Einzelne Exegeter halten bei postulierter Frühdatierung an der Orthonymität der Past fest, so zuletzt etwa L.T. Johnson, The First and Second Letters to Timothy (The Anchor Bible 35A), New York 2001. 8 Vgl. lTim l,lf.: »Paulus, Apostel Christi Jesu nach Befehl Gottes, unseres Heilandes, und Christi J esu, unserer Hoffnung, an Timotheus, meinen rechten Sohn im Glauben.« Entsprechend auch 2Tim 1,1; Tit 1,1.4. ZNT 12 (6. Jg. 2003) 9 P. Pokorny, Art. Pseudepigraphie I, TRE 27 (1997), 645-655, hier: 645. Vgl. die einschlägige Lit. zur ntl. Pseudepigraphie: W. Speyer, Art. Fälschung, lit., RAC 7 (1969), 236-277; ders., Die lit. Fälschung im heidnischen und christl. Altertum (HAW I/ 2), München 1971; M. Hengel, Anonymität, Pseudepigraphie und literarische Fälschung in der jüd.-hellenistischen Literatur, in: K. v. Fritz (Hrsg.), Pseudepigrapha I (EnAC 18), Genf 1972, 231-308 (wieder erweitert in: ders., Judaica et Hellenistica (WUNT 90), Tübingen 1996, 196-251 ); N. Brox, Falsche Verfasserangaben (SBS 79), Stuttgart 1975; ders. (Hrsg.), Pseudepigraphie in der heidnischen und jüd.christl. Antike (WdF 484), Darmstadt 1977; D.G. Meade, Pseudonymity and Canon. An Investigation into the Relationship of Authorship and Authority in Jewish and Earliest Christian Tradition (WUNT 39), Tübingen 1986; A.D. Baum, Pseudepigraphie und lit. Fälschung, in: H.-W. Neudorfer / E.J. Schnabel (Hrsg.), Das Studium des Neuen Testaments, Bd. 2: Spezialprobleme, Wuppertal 2000, 179-206, sowie ders., Pseudepigraphie und lit. Fälschung im frühen Christentum (WUNT II/ 138), Tübingen 2001 (mit Anhang von Quellentexten und umfangreicher Lit.). 10 Die Evangelien, die Apostelgeschichte sowie Hebr und 1Joh nennen keinen Autorennamen in den ältesten Handschriften. 11 Vgl. die Diskussion zum Kol in R. Zimmermann, Lügen für die Wahrheit? Das Phänomen ntl. Pseudepigrafie am Beispiel des Kolosserbriefs, in: 0. Hochadel/ U. Kocher (Hrsg.), Lügen und Betrügen. Das Falsche in der Geschichte von der Antike bis zur Moderne, Köln 2000, 257-272, hier: 262-268. 12 Dieser Weg wird von fundamentalistischer Seite gegangen: Weil die Bibel wahr und widerspruchsfrei ist, müssen die Verfasserangaben echt sein. 13 So etwa Meade, Pseudonymity; ferner U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 3 1999, 293- 297, hier: 296: »Die ntl. Pseudepigraphie (... ) muß als gelungener Versuch der Bewältigung zentraler Probleme der dritten urchristlichen Generation gesehen werden.«; K. Berger, Art. Pseudepigraphie II. Biblisch, 'LThK 8 (1999), 707: »Nur für einen kryptomodern argumentierenden Fundamentalismus ergeben sich hier Probleme.« Ferner Pokorny, Pseudepigraphie, 654: im Blick auf die Kanonzugehörigkeit: »Gott hat sich auch zu den fiktiven Pseudepigraphen bekannt, ähnlich wie er sich zu Jakob in Bethel bekannte«(nach dessen Betrug). 14 So bereits F.C. Baur; neuerdings E.J. Schnabel, Der biblische Kanon und das Phänomen der Pseudonymität, JETh 3 (1989), 59-96, hier: 89; S.E. Porter, Pauline Authorship and the Pastoral Epist! es: Implications for Canon, Bulletin for Biblical Research 5 (1995), 105-123; 6 (1996), 133-138, hier: 138; gemäßigter Baum, Pseudepigraphie, 181-191; ferner E.E. Ellis, Pseudonymity and Canonicity of New Testaments Documents, in: ders., History and Interpretation in New Testament Perspective (BIS 54), Leiden 2001, 17-29. 15 Um die durch die Vorsilbe ,pseud,enthaltene negative Konnotation zu vermeiden, hat I.H. Marshall mit Blick auf die Pastoralbriefe die Begriffe »allonymity« oder »allepigraphy« vorgeschlagen, vgl. I.H. Marshall, A Critical and Exegetical Commentary on the Pastoral Epist! es (ICC), Edinburgh 1999, 84. 16 Vgl. zum Folgenden bereits meine Ausführungen in ZNT 12 (6.Jg. 2003) Zimmermann, Lügen, 259-261; ders., Art. Pseudepigraphie/ Pseudonymität, RGG 4. Aufl. Bd. 6 (im Erscheinen). 17 Büchner stützt sich etwa in Oberlins Tagebuch auf eine historische Quelle, während im Faustroman von Thomas Mann der erfundene Musiker Adrian Leverkühn den Faust der Sage und der literarischen Tradition verkörpert, aber durch seine charakteristischen Züge an bestimmte zeitgenössische Personen erinnert. 18 So vor allem Speyer, Lit. Fälschung, 35-37, sowie ders., Religiöse Pseudepigraphie und literarische Fälschung im Altertum, in: Brox, Pseudepigraphie, 195-263, hier 197f.: »Religiöse Pseudepigraphie: Ein Gott, ein Engel, ein Heros oder eine Gestalt des Mythos hat eine bestimmte Schrift eigenhändig verfaßt oder ihren Inhalt einem Menschen durch Diktat oder Inspiration mitgeteilt.«; ähnlich Pokorny, Pseudepigraphie, 647. 19 So etwa Hengel, Anonymität, 277f.; H.R. Balz, Anonymität und Pseudepigraphie im Urchristentum. Überlegungen zum literarischen und theologischen Problem der urchristlichen und gemeinantiken Pseudepigraphie, ZThK 66 (1969), 403-436, hier: 412f. 20 Vgl. dazu bereits der Neuplatoniker Olympiodorus (6. Jh. n.Chr.), Prolegomena (CAG XII/ 1 13,4ff.): »Die Falschzuschreibung aufgrund von Gleichnamigkeit geschah auf dreifache Weise, entweder wegen der Gleichnamigkeit der Schriftsteller oder der Schriften oder der Kommentare.« (Text und Übers. bei Baum, Pseudepigraphie, 238-241 ). 21 In der Literatur wird hier zum Teil auch der missverständliche Begriff> Tendenzfälschung, verwendet, der m.E. aufgrund der impliziten Wertungen besser vermieden werden sollte. 22 Tert. Adv. Marc. IV 5,4 (CCL I, 551, ed. Kroymann): »Capit autem magistrorum uideri quae discipuli promulgarint.« Er bezieht sich dabei freilich auf die Zuschreibung des Mk-Ev an Petrus und des Lk-Ev an Paulus. 23 Vgl. etwa die Abgrenzungen zwischen Lüge, Täuschung und Betrug bei Hochadel/ Kocher, Lügen und Betrügen, 3: » Täuschung: Eine Person täuscht eine andere, wenn es ihr gelingt, in der anderen einen falschen Glauben zu erzeugen.« 24 Vgl. dazu Speyer, Fälschung, 15ff. 25 Baum nennt vier Kriterien der antiken ,Echtheitskritik,: Stil- und Inhaltsvergleiche sowie die Überprüfung der Entstehungssituation und externen Bezeugung (vgl. Baum, Pseudepigraphie, 21-30; ferner Speyer, Fälschung, 112-127). Ein sprachgeschicht! icher Niederschlag dieses Phänomens zeigt sich in den mannigfaltigen Begriffen, die sich im Griechischen und Lateinischen für »falschen« ausgebildet haben. Speyer zählt 26 griechische und 15 lateinische Verben auf, vgl. Speyer, Fälschung, 16. 26 N. Walter, Kann man als Jude auch Grieche sein? Erwägungen zur jüdisch-hellenistischen Pseudepigraphie, in: ders., Praeparatio Evangelica. Studien zur Umwelt, Exegese und Hermeneutik des Neuen Testaments, hrsg. v. W. Kraus und F. Wilk (WUNT 98), Tübingen 1997, 370-3 82; ders., Jüdisch-hellenistische Pseudepigraphie als Index interkulturellen Austauschwillens, in: J. Irmscher (Hrsg.), Die Literatur der Spätantike polyglottisch betrachtet, Amsterdam 1997, 13-22. 27 Vgl. dazu K. Müller, die Pseudegraphie im Schrifttum der frühjüdischen Apokalyptik, in: ders., Studien zur frühjüdischen Apokalyptik (SBA 11), Stuttgart 1991, 195-228. 37 28 Darunter fallen 1/ 2Chr, Hiob, Koh, Cant und Esther, nach H.-P. Mathys, Das Alte Testament ein hellenistisches Buch, in: U. Hübner/ E.A. Knauf (Hrsg.), Kein Land für sich allein (OBO 186), Göttingen 2002, 278- 293, hier: 286. 29 Vgl. zum Text die Fragmente unter FGrH 722-727; sowie A.-M. Denis, Fragmenta pseudepigraphorum quae supersunt graeca, Leiden 1970, 175-198 sowie 203-216. 30 Vgl. dazu immer noch den besten Überblick bei Hengel, Anonymität, 196-251. 31 E.R. Richards hat diese Sekretäre in vier Kategorien unterteilt: Er unterscheidet ,Schreiber< (»recorder«), die nur den diktierten Text im Wortlaut (z.B. syllabatim oder viva voce) niederschrieben; ferner konnten Sekretäre auch als ,Herausgeber< (»editor«) fungieren, indem sie aus Redemitschriften einen Brief verfassten; wenn der Autor nur noch einige inhaltlichen Leitlinien oder Stichworte lieferte und die Sekretäre daraus selbstständig einen Brief verfassten, kann man von Mitautoren (»co-author«) sprechen; schließlich wurden Sekretäre auch selbst zu ,Autoren< (»composer«), die in eigener Regie und Verantwortung die Briefkorrespondenz ihrer Auftraggeber erledigten. Vgl. E.R. Richards, The Secretary in the Letters of Paul (WUNT II/ 42), Tübingen 1991, 15-127. Einblick in das antike Sekretärswesen verschafft uns z.B. die Selbstreflexion Ciccros, der zum Teil seinen Sekretär Atticus aufforderte, unter seinem Namen Briefe zu verfassen (Att. III 15,8; XI 6,5,3). 32 In den späten Subscriptiones zum Corpus Paulinum werden weitere Sekretäre genannt: Tychikus zu Eph; Onesimus zu Kol; Titus und Lukas zu 2Kor; Epaphroditus zu Phil. Ein historischer Erkenntnisgewinn kann aus diesen Angaben freilich nicht bezogen werden. 33 Vgl. E.E. Ellis, The Origin and Composition of the Pastoral Epistles, in: ders., History and Interpretation in New Testament Perspective (BIS 54), Leiden 2001, 65-83, hier: 79. 34 G. Theißen, Die Entstehung der urchristlichen Pseudepigraphie, in: ders., Das Neue Testament, München 2002, 82-85. 35 Vgl. dazu M. Frenschkowski, Pseudepigraphie und Paulusschule. Gedanken zur Verfasserschaft der Deuteropaulinen, insbesondere der Pastoralbriefe, in: F.W. Horn (Hrsg.), Das Ende des Paulus (BZNW 106), Berlin 2001, 239-272, hier: 253ff. Horst Dietrich Preuß / Klaus Berger 36 Schnelle Einleitung, 296. K.M. Fischer hat die zweite Hälfte des 1. Jh. n.Chr. als »Zeit der neutestamentlichen Pseudepigraphie« charakterisiert, vgl. K.M. Fischer, Anmerkungen zur Pseudepigraphie im Neuen Testament, NTS 23 (1977), 76-81, hier: 79; ferner Theißen, Pseudepigraphie, 85 u.v.a. 37 Das in Esr 7,7 genannte Datum (siebtes Regierungsjahr des Perserkönigs Artaxerxes) führt bei Artaxerxes I. auf das Jahr 458 v.Chr.; bei Artaxerxes II. zum Jahr 398 v.Chr. 38 Vgl. zu diesem Ansatz den Exkurs von E. Reinmuth, Zur neutestamentlichen Paulus-Pseudepigraphie (NTD 8/ 2), Göttingen 1998, 190-202; Reinmuth unterscheidet zwischen »realem, abstraktem und fiktivem Autor« bzw. »realen, intendierten und fiktiven Lesern« (ebd., l 93f.). 39 Vgl. A. Merz, Die fiktive Selbstauslegung des Paulus. Pseudepigraphie in den Pastoralbriefen und ihrer frühesten Rezeption (NTOA 52), Göttingen 2003. Merz hat vor allem die Methoden literaturwissenschaftlicher Intertextualität auf die paulinische Pseudepigraphie angewandt. 40 R. Bauckham, Pseudo-Apostolic Letters, JBL 107 (1988), 469-494, hier 494: »most probably they were written by Timothy himself.« 41 Vgl. Frenschkowski, Pseudepigraphie, 263ff. 42 Vgl. Frenschkowski, Pseudepigraphie, 265. 43 Vgl. dazu L.B. Purrte! , Wahrheitstheorien in der neueren Philosophie. Eine kritisch-systematische Darstellung (EdF 83), Darmstadt 2 1983; P. Janich, Was ist Wahrheit? Eine philosophische Einführung, München 2 2000. 44 Vgl. dazu die unterschiedlichen Ansätze bei Ch. Landmesser, Wahrheit als Grundbegriff ntl. Wissenschaft (WUNT 113 ), Tübingen 1999 oder K. Berger, Sind die Berichte des Neuen Testaments wahr? Ein Weg zum Verstehen der Bibel, Gütersloh 2002. 45 W. Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 4 1994, 88. 46 Vgl. dazu U.H.J. Körtner, Die Wahrheit der Schrift, in: ders., Theologie des Wortes Gottes, Göttingen 2001, 370-373, hier 373: »Die Wahrheit der Schrift besteht darin, daß durch sie Gott, Welt und Mensch neu erschlossen werden, wo immer (... ) sich im Akt des Bibellesens aktuelle Offenbarung ereignet.« Ferner die didaktische Umsetzung dieses hermeneutischen Prinzips in M. und R. Zimmermann, Die Bibel vom Textsinn zum Lebenssinn, Göttingen 2003 (im Erscheinen). Bibelkunde des Alten und Neuen Testaments 1 Erster Teil: Altes Testament 38 UTE 887 M, 7. Auflage, 2003, X, 200 Seiten, € 17, 90/ SFr 30, 50 UTE-ISBN 3-8252-0887-7 Horst Dietrich Preuß / Klaus Berger Bibelkunde des Alten und Neuen Testaments 2 zweiter Teil: Neues Testament. Register der biblischen Gattungen und Themen. Arbeitsfragen und Antworten UTE 972 M, 6. Auflage, 2003, VIII, 250 Seiten, € 17, 90/ SFr 30, 50 UTE-ISBN 3-8252-0972-5 A. Francke Verlag · Tübingen und Basel ZNT 12 (6. Jg. 2003) Martina Janßen Kanon und Gnosis - Überlegungen zur »Bibel der Häretiker« »Wie die Bücher des Neuen Testaments heilige Schrift wurden«,1 ist eine der kompliziertesten Fragen der Theologie- und Kirchengeschichte. Da es »einen gemeinsamen christlichen Kanon nie gegeben hat«,2 muss die Erforschung der Kanonbildung Umfang und Bedeutung der biblischen Schriften nach geographischen Räumen, lokalen und regionalen Traditionen, Epochen, christlichen Gruppierungen sowie institutionellen Kontexten gesondert betrachten. Eine Facette im Formierungs- und Differenzierungsprozess der alten Kirche sind die christlichen Gnostiker. 3 Ihr koptischer Sprache, die in der Regel auf nicht mehr vorhandene griechische Originale zurückgehen. Die Nag-Hammadi-Bibliothek bietet indes keine orthonyme Literatur bekannter gnostischer Lehrer wie Valentin oder Basilides. Fast alle Schriften sind anonym bzw. pseudonym und laufen unter den Namen von biblischen und mythologischen Offenbarern. 6 Ein großer Teil der N ag-Hammadi-Texte ist dabei den Aposteln zugeschrieben und gehört somit zu den neutestamentlichen Apokryphen.' Es finden sich unter den Schriften aus N ag Hammadi ein Gebet des Umgang mit den biblischen Schriften ist Gegenstand der folgenden Überlegungen. 4 Die christlich-gnostischen Originaltexte setzen bereits einen Großteil der biblischen Schriften voraus. Obgleich ihre Datierung im Einzelfall schwierig und oft auf die Argumentation mit inneren Gründen angewiesen ist, dürften die gnostischen Zeugnisse bis auf wenige mögliche ältere Ausnahmen (z.B. Ev- »Da es >einen gemeinsamen christlichen Kanon nie gegeben hat<, muss die Erforschung der Kanonbildung Umfang und Bed,: utung der biblischen Apostels Paulus (PrecPl), pseudapostolische Briefe (EpJac, EpPetr) und Apokalypsen (ApokPl, lApokJk, 2ApokJk, ApokPetr) sowie Apostelgeschichten (ActPt; auch EpPetr ist an Apg 1-12 orientiert). Weiter existieren unterschiedliche Schriften, die den Titel »Evangelium« tragen (EvThom; EvPhil; EvÄg). Zudem ist eine anonyme Homilie überliefert, Schriften nach geographischen Räumen, lokalen und regionalen Traditionen, Epochen, christlichen Gruppierungen sowie institutionellenKontexten gesondert betrachten.« Thom; EpJac) weitgehend aus dem späten zweiten oder dritten Jahrhundert stammen. Zu dieser Zeit waren wesentliche Bestandteile des christlichen Kanons bereits vorhanden, auch wenn dieser sich erst im vierten Jahrhundert zu etablieren begann (39. Osterfestbrief des Athanasius). Damit gehören auch die gnostischen Texte zur Auslegungsgeschichte des Alten und des Neuen Testaments. 1. »Bibel der Häretiker«? Der Fund der Nag-Hammadi-Schriften (Ende 1945) bereicherte unsere Kenntnis über authentische Zeugnisse der Gnostiker in vielerlei Hinsicht.5 Die aus dem vierten Jahrhundert stammenden 13 Codices enthalten über 50 Schriften in ZNT 12 (6. Jg. 2003) die unter dem Namen »Evangelium Veritatis« bekannt geworden ist. Diese titellose Schrift beginnt mit den Worten: »Das Evangelium der Wahrheit ist Frohlocken für die, die vom Vater der Wahrheit die Gnade empfangen haben, ihn zu erkennen (... ).« 8 Schließlich gibt es Apokryphen, die als Gespräche Jesu konzipiert sind (SJC, Dial, LibThom, AJ); Elemente dieser Textsorte erscheinen auch in den oben genannten Briefen und Apokalypsen sowie außerhalb der Nag-Hammadi-Bibliothek (PistSoph, Jeu, EvMar). Ein kurzer Blick auf die relevanten Texte aus Nag Hammadi zeigt, dass sich den neutestamentlichen Schriften vergleichbare literarische Formen bzw. Benennungen finden (»Evangelium«, Brief, Apostelgeschichte und Apokalypse). Angesichts der »kanonischen Gattungen« mit ihren pseudapostolischen Verfasserfiktionen stellt sich die 39 Frage, ob die Nag-Hammadi-Dokumente »Heilige Schriften« der Gnostiker sind und dabei bewusst als »Ersatzbibel« mit Größen wie Hermes Trismegistos, Melchisedek, Adam, Seem, Seth, Norea, Dositheus und Zostrianos erscheinen als Offenden neutestamentlichen Texten konkurrieren wollen. Solche Vermutungen legen sich nicht zuletzt durch den »Kanon« der Mani-Schriften nahe. 9 »Angesichts der>kanonischen Gattungen« mit ihren pseud~ barer, Offenbarungsempfänger und literarische Figuren. Auch die gnostischen Systeme differieren stark; die Spannbreite reicht von hermetischen über valentinianisch-gnostische bis hin zu den sogenannten »sethianischen«12 Texten. Die Deutung all dieser verschiedenartigen Zeugnisse als »heilige, kano- Erwägungen über den Sitz im Leben der Nag-Hammadi- Schriften sind prinzipiell hypothetischer Natur und müssen viele ungeklärte Aspekte berücksichtigen; hier apostolischen Verfasserfiktionen stellt sich die Frage, ob dieNag-Hammadi.: .Dokumente »Heilige Schriften< der Gnostiker sind und dabei bewusst als >Ersatzbibel< mit den neutestamentlichen Texten konkurrieren wollen.« sei nur an die doppelte Überlieferung e1mger Texte (z.B. EvVer, AJ, EvÄg), die Unterschiede der einzelnen Codices hinsichtlich Einband, Format und koptischem Dialekt, die Anordnung der Schriften sowie die Existenz einer Schreibernotiz in Codex VI (65,8-14 ) 10 erinnert. Letztlich bleibt unklar, ob die Sammlung aus Nag Hammadi als Kompendium von Ketzerbestreitern fungierte, oder ob Gnostiker selbst diese Quellen zusammengestellt haben. Entscheidet man sich für die letzte Möglichkeit, so fällt Folgendes auf: Die N ag- Hammadi-Codices enthalten keine alttestamentlichen oder neutestamentlichen Schriften, obwohl viele Nag-Hammadi-Texte biblische Traditionen rezipieren. Dies könnte auf eine unterschiedliche Bedeutung von biblischen und apokryphen Schriften hinweisen. Für eine hervorgehobene Stellung der biblischen Zeugnisse spricht weiter, dass abgesehen von wenigen Ausnahmen die oben genannten Apostelschriften aus Nag Hammadi im Gegensatz zu den biblischen Quellen weniger bzw. gar nicht in gnostischen Werken explizit zitiert werden. 11 Etliche Nag- Hammadi-Schriften waren bis zu ihrer Entdeckung 1945/ 46 gänzlich unbekannt. Ein fest etablierter gnostischer Schriftenkanon hätte wohl mehr Spuren hinterlassen. Schließlich sind die Nag-Hammadi-Dokumente als Corpus inhomogen. Die oben erwähnten apostolischen Apokryphen machen nur einen Teil dieser »Bibliothek« aus. Viele Texte darunter Offenbarungsschriften, hymnische und liturgische Dokumente, Briefe, Sentenzensammlungen und Traktate sind nicht-christlich und einige nicht-gnostisch, wieder andere weisheitlich. 40 nische Schrift« einer Gruppe ist schwer vorstellbar. 2. »Evangelien aus dem Nilsand? « 13 Kann man die Nag-Hammadi-Schriften in ihrer Gesamtheit also kaum als »Ersatzbibel« bezeichnen, so ist doch nach dem Anspruch der einzelnen gnostischen Apokryphen zu fragen. Im Gegensatz zu Apokalypsen und Briefen, die relativ unspezifische Formen im Kontext antiker Literatur sind, rekurriert ein mit »Evangelium« betitelter Text auf eine >neue<, typisch christliche Gattung. Blicken wir deswegen kurz auf die sogenannten gnostischen Evangelien. Abgesehen von den Nag- Hammadi-Schriften existieren zahlreiche weitere Apokryphen mit dem Titel »Evangelium«, die zum Teil nur dem Namen nach bekannt sind. Aus dem Codex Berolinensis ist den gnostischen Evangelien aus Nag Hammadi vor allem das »Evangelium nach Maria« hinzuzufügen, das in Fragmenten auch in griechischen Papyri (PapOxy 3525; PapRyl 463) bezeugt ist. 14 Abgesehen von dem nur oberflächlich christianisierten EvÄg werden die Titel am Ende der gnostischen Evangelien mit kata gebildet (vgl. z.B. EvThom; EvPhil; EvMar [BG 1]). Dieses Verfahren setzt bereits die Existenz der »kanonischen« Evangelien samt ihrer Überschriften voraus. 15 Wollen sich die apokryphen Evangelien durch Nachahmung der kanonischen Vorbilder selbst der Gattung »Evangelium« zuordnen, die vier neutestamentlichen Evangelien ergänzen (lren.haer.1,20, 1; 1,31,1; 3,11,9) oder gar ersetzen? Fordern sie kanonische Geltung? ZNT 12 (6. Jg. 2003) Martina]anßen Di: , .Manina Janßen, Jahrgang .1971, Studium der Evangelischen Theologie und Germanistik in Oldenburg und.Göttingen, Promotion zumDr. theol. 2000. Seit 2001 wissenschaftliche Assistentin an den Vereinigten Theologischen: Seminaren der Universität Göttingen im Fach Neues Testament. Ihr Habilitationsprojekt befasst sich mit Problemen der Pseudon: ymität, Anonymität und korrekt benannter Verfasserschaft der Schriften des Neuen.Testaments und der frühen christlichen Literatur. Hier ist aus mehreren Gründen Skepsis angebracht. Zunächst trugen die gnostischen Apokryphen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht ursprünglich den Titel »Evangelium«; dieser ist in den meisten Fällen nur als Subscriptio oder im Kolophon vorhanden und sonst nicht mit dem Text verbunden. Vermutungen über den sekundären Charakter des Titels hat man z.B. für das EvPhil weiter aus inhaltlichen und formalen Gründen ausgesprochen. 16 Hinzu kommt, dass einige der betreffenden Schriften zwei Titel aufweisen, von denen »Evangelium« jeweils sekundär bzw. ein Zusatztitel zu sein scheint. 17 Damit ist die Behauptung, ein »Evangelium« zu schreiben, nicht auf die anonymen Verfasser der Schriften selbst zurückzuführen. Etwas anders verhält es sich mit dem EvVer; dieses trägt zwar keinen Titel,1' aber das vermehrte Vorkommen des Terminus »Evangelium« (16,31; 18,1 lf.) sowie seines koptischen Äquivalents smnoufe (34,35) weist auf einen besonderen Anspruch hin. »Evangelium« wird hier im strengen Sinne des Wortes gebraucht. Die Schrift dient der Auslegung der »Frohen Botschaft« (vgl. Röm 1,16; Eph 1,13), imitiert jedoch dabei nicht die Gattung der kanonischen Evangelien. Mit dieser Beobachtung deutet sich ein wichtiger Gesichtspunkt an. ZNT 12 (6.Jg. 2003) Die Form der gnostischen »Evangelien« gleicht in keinem Fall den neutestamentlichen Evangelien. Die apokryphen Schriften sind Homilien (EvVer), Spruchsammlungen (EvThom), Florilegien (EvPhil), Dialoge (EvMar) oder mythologisch-liturgische Offenbarungsschriften (EvÄg). Allein die in der Gnosis mit dem Titel »Evangelium« verbundene Formenvielfalt weist darauf hin, dass man keine neue »Geschichte Jesu« kein neues Evangelium schreiben will. Weiter greifen die meisten apokryphen Evangelien in vielerlei Hinsicht auf die kanonischen zurück und rezipieren sie als autoritative Schriften positiv. Neben ungekennzeichneten Bezugnahmen wie im Fall des EvVer und des EvMar 19 sind die Entlehnungen mitunter durch Zitationsformeln direkt markiert (vgl. z.B. EvPhil 57,3ff.). Die Insertionsformel »Jesus sagt« ist im Fall des EvThom, das eine Spruchsammlung darstellt, konstitutiv für die Form des Textes selbst. Insofern ist der Zitatcharakter hier nicht eindeutig. Die gnostischen »Evangelien« unterscheiden in der Regel nicht zwischen den einzelnen Teilen des Tetraevangeliums, sondern leiten die Zitate mit »der Erlöser« bzw. »der Herr sagt« ein. Dies muss kein Indiz für eine freie oder vorkanonische Logienüberlieferung sein. 20 Die Einführung der Evangelienzitate als »Herrenworte« entspricht den zeitgenössischen Zitiergewohnheiten. Es dienen jedoch nicht allein die kanonischen Aussprüche Jesu als Referenzmaterial; man führt neben anderen biblischen Schriften auch außerkanonische Logien J esu mit derselben Zitationsformel an. Ein Teil dieser Agrapha ist identifizierbar und kann frühchristlichen Schriften zugeordnet werden. 21 All diese genannten Aspekte lassen den Schluss zu, dass die gnostischen Evangelien trotz ihres Offenbarungscharakters nicht an die Stelle der kanonischen treten wollen, sondern diese gerade als Basis für ihre exegetisch-theologische Innovation betrachten. Damit ist ein wesentliches Moment hinsichtlich der »Heiligen Schriften« der Gnostiker angesprochen. 3. »Wie es geschrieben steht... « Der Rückgriff auf biblische Traditionen und Schriften ist ein Merkmal der gesamten christlich- 41 gnostischen Literatur. 22 Im alttestamentlichen Bereich sind unter anderem die Bücher Genesis, Exodus und Deuteronomium, Jesaja und insgesamt die Propheten sowie die Psalmen Gegenstand der (oft umkehrenden und polemischen) Rezeption. In Hinsicht auf das Neue Testament ist in der Regel 23 verstärkt ein Rekurs auf Paulus, den haereticorum apostolus (Tert.Marc. 3,5,4), und die Evangelien (Iren.haer. 3,11,7) zu verzeichnen. Hier spielen wiederum das »pneumatische Evangelium« (Eus.h.e. 6,14,7) des Johannes und das Matthäusevangelium eine besondere Rolle. 20 Nicht alle biblischen Schriften werden dabei in gleicher Weise in Anspruch genommen. Auch die Ablehnung bestimmter Texte (vgl. für Apg Tert.praesc. 22) oder Textteile (vgl. für Lk Iren.haer. 3, 14,4) ist bezeugt. Die biblischen Schriften haben allerdings in den meisten Fällen keine exklusive Bedeutung; es herrscht in weiten Bereichen der christlichen Gnosis eine Vielfalt von autoritativen Offenbarungsschriften. So kommt z.B. den Oden Salomos in PistSoph eine gleiche Funktion wie den alttestamentlichen Psalmen zu. 25 Ein besonders ausgeprägtes Beispiel für die Verwendung apokrypher Quellen neben biblischen Schriften stellt zweifelsohne das Referat lichkeiten zustimmender und ablehnender, bewusster und unb.ewusster intertextueller Bezugnahme aus." Gelegentlich sind die Formen der Intertextualität referentiell und der Übernahmeprozess ist durch Einleitungsformeln transparent gemacht. Bei der Zitation der biblischen Schriften erscheinen freie Paraphrasen, genaue Zitate und regelrecht wortgetreue Wiedergaben. Es gibt ferner Gemeinsamkeiten im Sprachgebrauch. Weiter liegen Verweise, Stichwortassoziationen,28 Nacherzählungen, Kommentierungen, Fortschreibungen, Neuakzentuierungen und Interpretationen biblischer Abschnitte vor. Letzt genanntes Phänomen betrifft vor allem die gnostische Rezeption bestimmter Passagen aus der Genesis: So wird die Paradieserzählung durch die Brille des gnostischen Mythos unter Heranziehung diverser exegetischer Strategien neu erzählt (vgl. z.B. AJ, HA, UW). 29 Ferner knüpfen die Gnostiker an theologische Vorstellungen an, die in den neutestamentlichen Schriften wurzeln. 10 Besonders Joh 1,1-18 hat im gnostischen Schrifttum zahlreiche Spuren hinterlassen. 31 Weiter baut die »Interpretation der Erkenntnis« die paulinische (lKor 12; Röm 12) und deuteropaulinische (Eph 4) Leib-Christi-Ekklesiologie aus. Der Brief Hippolyts über die Naassener dar (Hipp.haer. 5,6,3-11,1). Allgemein existieren in der gnostischen Literatur Reminiszenzen an antike Dichtung (z.B. Homer), jüdische Traditionen, pagane Mythologie und apokryphe Schriften unterschiedlichster Provenienz. Die zahlreichen Hinweise auf »Die biblischen Schriften haben allerdings in den meisten Fällen keine exklusive Bedeutung; es herrscht in weiten Bereichen der an Rheginus führt paulinische Aussagen über die Auferstehung weiter, wobei sich der Verfasser explizit auf den Apostel Paulus beruft (Rheg 45,23ff.: »Dann aber, wie der Apostel gesagt hat, [Röm 8,17; Eph 2,5-6; Kol 3,3f; 2Tim 2,llf].«). Neben derbekannten gnostischen Rezeptichristlichen Gnosis eine Vielfalt von autoritativen Offenbarungsschriften. « Quellen oder Geheimtraditionen in der gnostischen Originalliteratur und in den Referaten der Kirchenväter sprechen für sich. 26 Auch die Nag- Hammadi-Schriften nehmen in unterschiedlicher Weise aufeinander Bezug; mitunter liegt eine literarische Abhängigkeit vor (SJC; Eug). Weiter ziehen die Gnostiker wissenschaftliche und philosophische Traditionen heran. So findet sich in Nag-Hammadi-Codex VI z.B. ein auch im Neuplatonismus oft rezipierter Abschnitt aus Platon's »Staat« (588A-589B). Formen und Technik der Rezeption autoritativer Schriften sind vielfältig und reizen alle Mög- 42 on von Mt 18,12-14par; Joh 10 in EvThom Log. 107; EvVer 31,35ff.; Iren.haer 1,16,lf.; 1,23,2f. ist auf die interpretierende Aufnahme von Phil 2,6-11 in gnostischen Schriften zu verweisen (vgl. hier die hymnischen Passagen in Inter 10,27-38[? ]; Silv [110,14-19a] 110,196- 111,20; EvVer 20,26ff.; ActThom 39). Unter eher formalem Aspekt rekurrieren die Gespräche J esu auf die kanonischen Erscheinungen des Auferstandenen und auf Apg 1,3. Der Schriftgebrauch ist indes nicht einheitlich: Grundsätzlich gilt, dass jedes gnostische Dokument einzelnen in Bezug auf Umfang und Art der Rezeption der biblischen Schriften befragt wer- ZNT 12 (6. Jg. 2003) Kodizes, die in Nag Hammadi gefunden wurden den muss. Vor allem folgende Gesichtspunkte sollten dabei leitend sein: Welche Teile des Kanons und welche in ihnen niedergelegten Theologoumena werden in welcher Funktion herangezogen und interpretiert? Welche Textversionen liegen zugrunde? Wie genau wird zitiert? Sind die Formen der Bezugnahme bewusst und intendiert? Haben die rezipierten biblischen Schriften kanonischen, autoritativen Rang, oder stellen sie lediglich angesehene Zeugnisse neben anderen Dokumenten dar? Greifen die Gnostiker auf einzelne biblische Schriften zurück, oder rekurrieren sie auf eine Sammlung kanonischbiblischer Schriften? 4. »Über die Unzucht der Seele prophezeit der Heilige Geist an vielen Stellen... « Besonders ausgeprägt ist der Gebrauch von biblischen Zitaten in der »Exegese über die Seele« (NHC Il,6). 32 Dieser vermutlich aus dem späten zweiten oder frühen dritten Jahrhundert stammende Text schildert den gnostischen Seelenmythos unter Verwendung des Bildes einer gefallenen und geretteten Jungfrau: Die Seele verlässt den himmlischen Vater, fällt in den Körper hinab und gibt sich der Prostitution hin. Sie bereut, kehrt um und erfährt Erneuerung in der Hochzeit mit ihrem wahren Bräutigam. Biblische Zitate und paränetische Abschnitte unterbrechen die mythische Erzählung, was jedoch nicht zwingend auf eine redaktionelle Bearbeitung hinweisen muss. ExAn wird gerade in jüngster Zeit mit Recht eine »biblisch fundierte Theologie« 33 unterstellt. Allein an der Benennung der Schrift zeigt sich die Bedeutsamkeit der herangezogenen Traditionen. Der am Anfang (127,18) und am Ende (137,27) des Textes überlieferte Titel teksegesis etbe tpsukhe ZNT 12 (6. Jg. 2003) Martina Janßen Kanon und Gnosis (ins Griechische rückübersetzt: he exegesis peri tes psyches) zeugt von philologischem Sprachgebrauch und meint »Exegese der (heiligen Schriften) über die Seele«. 34 Die Schriftstellen dienen in ExAn nicht als Zusatzbelege oder Ornament, sondern bilden zusammen mit der mythischen Erzählung und der paränetischen Anrede eine kohärente, kompositorische Einheit. Der anonyme Verfasser greift über weite Strecken auf die alttestamentlichen Propheten Jesaja, Jeremia, Hosea, Ezechiel, die Genesis und den Psalter zurück. Die alttestamentlichen Zitate, die auf dem Septuagintatext basieren und vermutlich unbeeinflusst von der klassischen koptischen Bibelübersetzung sind, 35 übertreffen die neutestamentlichen Entlehnungen an Anzahl und Umfang. Im Gegensatz zu der in gnostischen Kreisen verbreiteten polemisch-umkehrenden Textinterpretation des Alten Testaments werden die alttestamentlichen Schriften hier positiv rezipiert. Damit dokumentiert ExAn ähnlich wie PistSoph die Geltung des Alten Testaments auch in gnostischen Gruppen. Hinsichtlich der neutestamentlichen Schriften finden sich Zitate aus den kanonischen Evangelien nach Johannes, Matthäus, Lukas, weiter aus dem ersten Korintherbrief und dem Epheserbrief. Vermutlich liegen auch Anspielungen an die Apostelgeschichte vor (130,30: Apg 15,29; 21,25; 135,22ff.: Apg 13,24). Darüber hinaus bringt der anonyme Verfasser ein unbekanntes Prophetenzitat an (135,31-136,4). Dieser Passus ist bei 1Clem 8,3 im Anschluss die Wiedergabe von Ez 33,11; 18,23 überliefert; auch in Clem.paed. 1,10,91 wird ein Teil dieses Textes (135,35-136,4) zitiert und explizit auf Ezechiel zurückgeführt. 36 Neben den biblischen Zitaten erscheint auch die Odyssee des Homer als Referenztext. 37 Der gnostische Rückgriff auf Homer ist dabei nicht auf ExAn beschränkt (vgl. z.B. Hipp.haer. 5,7,30ff). In ExAn unterscheiden sich die Auszüge aus der Odyssee allerdings von den Zitaten aus den biblischen Quellen. Die Zitierung der alttestamentlichen und neutestamentlichen Schriften zeugt in den meisten Fällen von einer relativ engen Wiedergabe,3' während die Homerreferenzen freie Paraphrasen der Odyssee sind, die auch die Ilias im Blick haben und im Grunde eine Vertrautheit mit dem homerischen Gesamtopus erfordern. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, 43 dass die homerischen und biblischen Schriften in Bedeutung, Dignität und Gebrauch nicht auf einer Stufe stehen. Abgesehen von ungekennzeichneten Zitaten bzw. Anspielungen (vgl.136,23f.: Jer 11,20; 17,10; Ps 7,10) werden die Entlehnungen aus den biblischen Schriften durch Zitationsformeln eingeleitet. Die meisten Eingangsformeln geben die Verfasser und mitunter auch die Quelle des folgenden Zitates an. Die Entlehnungen aus den Prophetenbüchern werden in der Regel mit dem Namen des entsprechenden Propheten eingeführt; vgl. z.B. 129,22ff.: »Wiederum steht beim Propheten Hosea geschrieben: (Hos 2,4-9)«. Sie können jedoch auch ohne Angabe des Verfassers erfolgen; vgl. z.B. 136,4ff. (Jes 30,15). Die Anführung von Stellen aus dem prophetisch verstandenen Psalter ist dagegen uneinheitlich; vgl. 137, 15f.: »Wiederum steht in den Psalmen geschrieben: (Ps 6,7-10)«; vgl. 133,15ff.: »Der Prophet sagt nun in den Psalist vermutlich » Wiederum sagt auch [Helena]« zu lesen. Die Zitationsformeln und die relativ genaue Wiedergabe der biblischen Texte deuten eher auf einen Gebrauch schriftlicher Quellen als auf Gedächtniszitate hin und legen einen fortgeschrittenen Kanonisierungsgrad der herangezogenen biblischen Schriften nahe. Der Verfasser zitiert aus Geschichtsbüchern, Propheten und Psalmen sowie aus Evangelien, Briefen und vermutlich aus der Apostelgeschichte. Diese breite Basis der Zitate hinsichtlich beider Teile des biblischen Kanons lässt die Vermutung zu, dass Altes und Neues Testament bereits als Einheit zu gelten begannen und dem Verfasser von ExAn als Sammlung vorlagen. Die Zitate und Zitatennester (vgl. z.B. 129,5ff.; 135,29ff.) dienen zum großen Teil der Erläuterung und Begründung des zuvor dargelegten gnostischen Seelenmythos. 40 Dies erfolgt nicht allein men: (Ps 44,1 lf.)«; in 134,15ff. wird Ps 102,1-5 mit »Deswegen spricht der Prophet« eingeleitet. Die Stellen aus der Genesis sind nicht explizit auf Moses zurückgeführt, sondern gelten als prophetische Rede; vgl. 133,lff.: »Deswegen spricht der Prophet hinsichtlich des ersten Mannes und der ersten Frau: (Gen 2,246).« 39 Die Worte Jesu erscheinen ohne »Stellenanga- »Die Zitaüonsformeln und die relativ genaue Wiedergabe der biblischen Texte deuten eher auf.einen Gebrauch schriftlicher Quellen als·auf Gedächtniszitate hin und legen einen fortgeschrittenen Kanonisierungsgrad der herangezogenen.biblischen ... Schriften nahe; « durch Textzitate, sondern ebenso durch den Rekurs auf in den biblischen Schriften bezeugte Ereignisse (vgl. 135,23ff.: Johannes der Täufer; 137,1 lff.: Israel in Ägypten). Auch die paränetischen Ausführungen werden durch Schriftbezüge unterstrichen, wobei hier oft die Wahl auf neutestamentliche Stellen fällt (130,28ff.; 135,15ff.).' 1 Mitunbe« als Herrenworte; vgl. 134,34ff.: »Deswegen ruft der Erlöser aus: (Joh 6,44)«; vgl. auch 135,15ff. (Mt 5,4.6); 135,19ff. (Lk 14,26). Die vermutlich an Apg 15,29; 21,25 anspielende Entlehnung in 130,30 gilt als Wort der Gesamtheit der Apostel; vgl. 130,28ff.: »Hinsichtlich der Unzucht haben die Apostel des Erlösers angeordnet«. Zitate aus den paulinischen Schriften sind mit genauen Quellenangaben versehen; vgl. 131,2ff.: »Deshalb schreibt Paulus an die Korinther und spricht: (1Kor 5,9-10).« Das Zitat aus Pseudo-Ezechiel (? ) wird in 135,29ff. mit »Deswegen spricht er durch den Geist des Propheten« eingeführt. Homer-Anspielungen laufen unter der im hellenistisch-griechischen Raum typischen Bezeichnung Homers als »der Dichter« (poietes); vgl. 136,27ff.: »Deswegen steht beim Dichter geschrieben«; in 136,35f. 44 ter schließt sich an das Zitat eine allegorische Textauslegung an wie etwa zu Ez 16,23-26 (130,20ff.). Es kann ferner eine Schlussfolgerung aus den angeführten Traditionen gezogen werden; so geschieht es im Anschluss an die Odyssee-Reminiszenzen (137,5-11). Der Rückgriff auf alttestamentliche und neutestamentliche Zitate verankert Fall und Erlösung der Seele in den biblischen Schriften. Die einzelnen Stadien des Seelenmythos werden dabei durch das biblische Explikationsmaterial illustriert und gleichzeitig als schriftgemäß ausgegeben. Gnostischer Mythos und biblischer Text werden zueinander in Beziehung gesetzt. Es erfolgt eine Transformation der biblischen Traditionen, die im Licht des gnostischen Mythos neu gelesen werden. Dabei deutet der anonyme Verfasser zum Beispiel das Verhältnis Jahwes zu ZNT 12 (6. Jg. 2003) Israel auf die Beziehung der Seele zu ihrem himmlischen Vater. Die Anklagen der Propheten an das durch den Götzendienst Jahwe untreu gewordene Volk sind nun an die sich in ihrem irdischen Dasein prostituierende Seele gerichtet (z.B. Jer 3,1-4; Hos 2,4-9; Ez 16,23-26). Da in der Hochzeit mit dem Bräutigam nach dem Willen des Vaters die Rettung der Seele liegt, werden z.B. die Schriftstellen, die das Verhältnis von Mann und Frau in den Blick nehmen, auf die Umkehr und Rettung der Seele bezogen (Gen 2,24b; 3, 16b ). Die Freude der erneuerten Seele findet ihren Ausdruck in den Worten des 102. Psalms (ähnlich in PistSoph 73/ 74). Parallel zu den biblischen Schriften illustrieren die Bezugnahmen auf die Odyssee das Schicksal der Seele (136,27- 137,11). Der in diesem Zusammenhang geleistete Rückgriff auf Gestalt und Schicksal Helenas ist in der Gnosis auch andernorts bezeugt (vgl. nur Iren. haer. 1,23,2f.).4 2 Diese Deutung der biblischen Zeugnisse als Seelenallegorese impliziert ein spezifisches Schriftverständnis. Die Eingangsformel des ersten Zitates (129,5ff.) ist dafür aufschlussreich. »Über die Unzucht der Seele nun prophezeit der Heilige Geist an vielen Stellen. Denn er spricht durch den Propheten Jeremia: (Jer 3,1-4)«. Teile der biblischen Schriften gelten als Weissagungen des heiligen Geistes; die einzelnen Propheten sind dabei lediglich Instrumente (so ähnlich auch in Pist- Soph; Iren. haer.1,7,3). Der prophetische Charakter der biblischen Schriften spiegelt sich auch in den Zitationsformeln zum Psalter und zur Genesis wider (siehe oben). Den pneumatischen Tiefensinn dieser biblischen Weissagungen gilt es unter Einsatz der exegetischen Strategien zu erkennen; vgl. 131,8ff.: »So in Mt 7,7 unsachgemäß zur Legitimation für ihre Grübeleien zu beanspruchen (Tert.praesc. 8). In der Tat berufen sich die gnostischen Christen verstärkt auf dieses Logion (vgl. z.B. EvThom Log. 2; 92; 94; Dial 129,14ff.; TestVer 69,lff.; PistSoph 83; 100; 133). 43 Vollkommenes Verstehen ist nur durch eine vertiefende Auslegung und Erforschung der biblischen Schriften im Sinne des gnostisches Weltverständnisses möglich. 44 Diese »Exegese« fällt jedoch nicht immer mit methodisch unkontrollierter Willkür zusammen," sondern ereignet sich oft im Rahmen einer systematischen Hermeneutik. 46 Die Formen gnostischer Exegese sind nicht prinzipiell von denen altkirchlicher Schriftauslegung unterschieden und wenden die in der alten Kirche übliche allegorische Interpretation des Alten Testaments auch auf die neutestamentlichen Schriften an. Es werden jüdisch-hellenistische Interpretationstechniken bemüht, um die hermeneutische Synthese aus Tradition und Innovation im Rahmen der interpretatio gnostica zu leisten. Allegorese, exegetische Bemühung um anstößige Bibelstellen, »Lesen gegen den Strich« und Strategien der Umkehrung, Polemik und Korrektur machen die zumindest formale Loyalität gegenüber den biblischen Schriften deutlich. 47 Eine besonders auffällige Form ist die sogenannte Protestexegese, die biblische Traditionen in aggressiv-polemischer Weise aufnimmt (vgl. AJ [NHC II 1] 22,22ff.). Dies zeigt sich besonders an der gnostischen Rezeption alttestamentlicher Stellen: Hier ist vor allem auf Jes 45,5 LXX im Kontext der gnostischen Karikierung des Schöpfergottes hinzuweisen (z.B. Iren.haer.1,30,6; AJ [NHC II 1] 11,19ff.; HA 86,27ff.; UW 103,8ff.; 2LogSeth 53,27ff.; Protennoia spricht er (sc. der Apostel Paulus) pneumatisch (pneumatikös): (es folgt Eph 6,12).« Damit ist ein Grundanliegen gnostischen Bibelgebrauchs angesprochen. » Die f armen gnostischer Exegese sin: d nichtpriniipiell · von dene.n altkirchlicher Schriftauslegung unterschieden .. · und wenden die in der alten Kirche übliche alle: gorische Interpretation des Alten Yi: stamertts auch auf die neu._ testamentliJhen ·Schriften.an ..«. 43,35ff.). Aber auch christliche Theologoumena wie die Kreuzigung Jesu (vgl. Apok- Petr 81,3ff.; 2LogSeth 56,4ff.) oder biblische Gestalten (Kain und Judas als positive Größen) werden umgedeutet. Gerade der durch die Protestexegese zum Ausdruck gebrachte Widerspruch entzündet sich an der Geltung der 5. »Suchet und ihr werdet finden ... « Der Kirchenvater Tertullian überlieferten Traditionen. wirft den Gnostikern vor, die Aufforderung Jesu Der gnostische Mythos ist verhüllt im bibli- ZNT 12 (6. Jg. 2003) 45 sehen Text vorhanden, er muss nur aufgedeckt werden. Erst die produktive Aneignung biblischer Texte führt zu wahrer Erkenntnis und Erlösung (EvThom Log. lf.). Die damit verbundene und in etlichen Schriften (vgl. z.B. AuthLog) thematisierte Sucherreligiosität hat eine ekklesiologische Konsequenz. Viele gnostische Gruppierungen verstehen sich als die höhere, vollkommene Form des Christentums, die nicht wie die Mehrheitskirche auf einer unteren Stufe der Erkenntnis stehen geblieben ist (TestVer 45,l 9ff.).4 8 Wirkliches Wissen um die tiefe Bedeu- Die Einheit von biblischer Tradition und auslegendem Lehrgespräch Jesu erschließt den vollen Sinn der Offenbarung. Die in den biblischen Dokumenten niedergelegte Offenbarung ist interpretationsbedürftig; die »evangelische Geschichte mitsammt ihren Sprüchen ist verhüllte Wahrheit«51 und wird erst vom Auferstandenen in ihrer wahren Bedeutung offengelegt. »Freut euch und jubelt von dieser Stunde an; denn ich bin zu den Orten gegangen, von denen ich gekommen war: Von heute ab werde ich mit euch in Offenheit (parresia) vom Anfang der tung der biblischen Offenbarung haben nur die Eingeweihten (vgl. auch Mt 13,l0ff.; Mk 4,33f.). Die be- »Die Bibel der Häretiker ist die Bibel der christlichen Kirche.« Wahrheit bis zu ihrer Vollendung sprechen, und ich werde mit euch von Angesicht zu reits im Neuen Testament (z.B. Joh 16,25) bezeugte Vorstellung einer mehrstufigen Offenbarung ist in der Gnosis verbreitet (vgl. z.B. Exc.Theodoto 66; Iren.haer. 2,27,2) und findet in einer spezifischen literarischen Form ihren Ausdruck. 6. »Von heute ab werde ich mit euch in Offenheit sprechen ... « Der Kirchenvater Irenäus überliefert uns folgendes Jesusbild einer gnostischen Gruppe: »Er ist aber nach der Auferstehung noch 18 Monate geblieben. Und da die Aisthesis auf ihn herabstieg, hat er die reine Wahrheit gelernt. Und von seinen Jüngern hat er nur die wenigen, von denen er wusste, dass sie so große Mysterien begreifen konnten, das gelehrt.( ... ).« (Iren.haer. 1,30,14). 49 Bereits in Apg 1,3 ist von einer weiterführenden Offenbarung Jesu berichtet. Dieses Sujet zieht sich seitdem durch die christliche Literatur und wird für die Verortung von Offenbarungen unterschiedlichster Provenienz geradezu Standard. 50 Auch viele gnostische Apokryphen stellen formal ein Gespräch zwischen Jesus und seinen Jüngern dar, das häufig, aber nicht immer (vgl. Dial), in die Zeit nach der Auferstehung Jesu verortet wird. Diese literarische Fiktion macht Jesus selbst zum paradigmatischen Exegeten der biblischen Offenbarung und zum Ausleger seiner eigenen Worte. So wird etwa in Dial 144,Sff. das Gleichnis vom Senfkorn (Mk 4, 30-32; Mt 13,31f.; Lk 13,18f.; Ev- Thom 20) von Jesus im Sinn gnostischer Schöpfungstheologie ausgedeutet. 46 Angesicht ohne Gleichnis (parabole) sprechen.« (PistSoph 6). 52 Diese »zweite Lehrthätigkeit« 53 setzt die erste Lehre J esu nicht außer Kraft, sondern setzt sie gerade voraus und baut überbietend darauf auf (vgl. z.B. EpJac 7,lff.; 13,35ff.; EpPetr 135,Sff.). Das Konzept der mehrstufigen Lehre entwickelt dabei eine Eigendynamik. Bei weitem nicht alle Gespräche Jesu aktualisieren den biblischen Text. Auch von biblischen Traditionen unabhängige mythologische Inhalte werden als Offenbarung J esu ausgegeben, wie allein an der sekundären Rahmung des Eug als Gespräch J esu (SJC) deutlich wird. 7. Noch einmal: Zur »Bibel der Häretiker« Christliche Gnosis drückt sich nicht in einem neuen Schriftenkanon aus, sondern in der spezifischen Interpretation alttestamentlicher und neutestamentlicher Quellen. Kurz: Die Bibel der Häretiker ist die Bibel der christlichen Kirche. Die biblischen Schriften werden von den Gnostikern als heilige Schriften akzeptiert, aber auf die eigenen religiösen Vorstellungen appliziert. Der traditionelle Text entwickelt durch die Einbettung in den gnostischen Mythenkontext eine neue, ja seine eigentliche Bedeutung. Die durch Allegorese, Kommentierung, Typologie, Paraphrasierung und weitere exegetische Strategien geleistete Synthese aus biblischem Text und gnostischem Mythos wurzelt dabei letztlich in dem »Selbstbewusstsein des Pneumatikers« 54 • Vieles bleibt nach diesen Bemerkungen offen; eine weitere Präzisierung der Fragen ist nötig, um ZNT 12 (6. Jg. 2003) Licht in das Verhältnis zwischen Gnosis und Kanon zu bringen. Vor allem auf zwei Aspekte möchte ich abschließend hinweisen: (I) Wie an etlichen Stellen deutlich geworden ist, zitieren die Gnostiker neben den biblischen Zeugnissen auch andere, oftmals apokryphe Quellen. 4 Die Verwendung der Begriffe »alttestamentliche«, »neutestamentliche«, »kanonische« und »biblische« Schriften geht vom heutigen Sprachgebrauch aus und impliziert nicht automatisch eine Anerkennung der Kanonizität der jeweiligen Schriften seitens der Verfasser gnostischer Texte. 5 Vgl. dazu S. Petersen, »Natürlich, eine alte Handschrift.« Nag Hammadi, die Gnosis und das Neue Tes- Angesichts des scheinbar unbegrenzten Pluralismus autoritativer Schriften sind prinzipielle Fragen zu stellen: Hatten bestimmte gnostische Gruppen einen »offenen Kanon«? Waren lediglich die »Ist Gnosis eine> Weltreligion< (Quispel) oder eirie >akute Hellenisierung des Christentums< (Harnack)? « tament, ZNT 4 (1999), 2-11; Nag Hammadi (H.-M. Schenke), TRE 23, Berlin u.a. 1994, 731-736; J.D. Turner/ A.M. McGuire (Hrsg.), The Nag Hammadi Library after Fifty Years, Proceedings of the 1995 SBL Commemoration Kanongrenzen unscharf? Oder ist die Zitierung aller verfügbaren Traditionen gerade ein Merkmal »unkanonischen« Denkens? (II) Zur Kanonizität einer Schrift gehört auch ihr gottesdienstlicher Gebrauch. Die biblischen Schriften werden als autoritative Größen zitiert und interpretiert. Damit ist aber noch nichts über ihre gottesdienstliche Verwendung gesagt. Wie sah der Gottesdienst bei gnostischen Gruppen aus? Wurden gnostische Apokryphen gottesdienstlich verlesen? Haben gnostische Christen an »normalen« Gottesdiensten teilgenommen? Hier sind religionssoziologische und kirchenhistorische U ntersuchungen unverzichtbar. Diese führen direkt in das Zentrum der »gnostischen Frage«: Ist Gnosis eine »Weltreligion« (Quispel) oder eine »akute Hellenisierung des Christentums« (Harnack)? Anmerkungen ' Vgl. H. Lietzmann, Wie wurden die Bücher des Neuen Testaments heilige Schriften, in: Kleine Schriften II. Studien zum Neuen Testament (hrsg. v. K. Aland) ( TU 68), Berlin 1958, 16-98. 2 Vgl. dazu S. Alkier, Der christliche Kanon als Quelle der Offenbarung Gottes - Theologiegeschichtliche Anmerkungen zu einem aktuellen Thema, in: Relationen - Studien zum Übergang vom Spätmittelalter zur Reformation, FS K.-H. zur Mühlen, hrsg. v. A. Lexutt/ W. Matz (AHSTh 1), Münster 2000, 115-138: 127. 3 Vgl. zur komplexen Forschungslage hinsichtlich der Gnosis z.B. M. Hengel, Die Ursprünge der Gnosis und das Urchristentum, in: Evangelium. Schriftauslegung. Kirche, FS P. Stuhlmacher, hrsg. v. J. Ädna u.a., Göttingen 1997, 190-223; M.A. Williams, Rethinking »Gnosticism«. An Argument for Dismantling a Dubious Category, Princeton 2 1999; C. Markschies, Die Gnosis (Beck Wissen 2173), München 2001; K.-W. Tröger, Die Gnosis. Heilslehre und Ketzerglaube (Herder Spektrum 4953), Freiburg 2001. ZNT 12 (6. Jg. 2003) (NHMS 44), Leiden u.a. 1997. 6 Vgl. zur Pseudepigraphie in der Gnosis schon R. Liechtenhan, Die pseudepigraphe Litteratur der Gnostiker, ZNW 3 (1902), 222-237; 286-299. 7 Vgl. dazu M. Janßen, Unter falschem Namen. Eine kritische Forschungsbilanz frühchristlicher Pseudepigraphie (ARGU 14), Frankfurt a.M. u.a. 2003. 8 Vgl. NHC I,3,16,31ff. Textgrundlage für die Übersetzung ist die Edition von H.W. Attridge (Hrsg.), Nag Hammadi Codex I (The Jung Codex) (NHS 22), Leiden 1985. Eventuell ist diese Schrift aus Nag Hammadi mit dem bei Iren.haer. 3,11,9 erwähnten valentianischen veritatis evangelium identisch. 9 Vgl. zum Kanon Manis A. Böhlig, Die Gnosis III. Der Manichäismus, Zürich 1995 (überarbeiteter Nachdruck von 1980), 44f.; 221 (Text). 10 T. Säve-Söderbergh, Holy Scriptures or Apologetic Documentations? The »Sitz im Leben« of the Nag Hammadi Library, in: J.E. Menard (Hrsg.), Les textes de Nag Hammadi: Colloque du Centre de'Histoire des Religions (NHS 7), Leiden 1975, 3-14: 4f. 11 Vgl. z.B. für Herakleon A. Wucherpfennig, Heracleon Philologus. Gnostische Johannesexegese im zweiten Jahrhundert (WUNT 142), Tübingen 2002, 375-378. Zur Zeit des Herakleon dürften jedoch noch nicht alle der Nag-Hammadi-Texte entstanden sein. ' 2 Vgl. zur Fragwürdigkeit der häresiologischen Kategorie »sethianische Gnosis« nur die Beiträge von F. Wisse und K. Rudolph in B. Layton (Hrsg.), The Rediscovery of Gnosticism. II. Sethian Gnosticism. Proceedings of the Conference in Yale March 1978 (SHR 41,2), Leiden 1981; Markschies, Gnosis, 98ff. 13 W.C. v. Unnik, Evangelien aus dem Nilsand, Frankfurt a. M. 1960. 14 Unter diesem Titel verbergen sich zwei vermutlich unabhängige Dialogfragmente; vgl. W. Till, Die gnostischen Schriften des koptischen Papyrus Berolinensis 8502 (TU 60), Berlin 2 1960 (bearbeitet von H.-M. Schenke), 26. 15 Vgl. zu dieser Argumentation hinsichtlich des Petrusevangeliums z.B. T.K. Hecke! , Vom Evangelium des Markus zum viergestaltigen Evangelium (WUNT 120), Tübingen 1999, 287-300: 298ff. 16 Vgl. H.-G. Gaffron, Studien zum koptischen Philippusevangelium unter besonderer Berücksichtigung der Sakramente, Bonn 1969, lOff. " Dies betrifft z.B. das EvÄg. Der eigentliche Titel des »Ägypterevangeliums« (vgl. [NHC Ill,2] 69,6) ist »Das heilige Buch des großen, unsichtbaren Geistes«, [NHC 47 III,2] 69,18f. (unsichere Lesung in NHC III,2, 40,12f.; vgl. auch NHC IV,2, 50,lf.). In NHC IV,2 fehlt die Bezeichnung »Ägypterevangelium«; ab p. 81 ist der Text zerstört. Zum EvThom siehe die Erwägungen bei J. Robinson, Logoi Sophon. Zur Gattung der Spruchquelle Q, in: ders. / H. Köster, Entwicklungslinien durch die Welt des frühen Christentums, Tübingen 1970, 70ff. 18 Vgl. dazu C. Markschies, Valentinus Gnosticus? Untersuchungen zur valentinianischen Gnosis mit einem Kommentar zu den Fragmenten Valentins (WUNT 65), Tübingen 1992, 339ff. 19 Das Fehlen von Zitationsformeln erklärt sich zum Teil aus der Form des EvMar; vgl. hier die Erwägungen von Harnack zur PistSoph, die wie das EvMar als Gespräch Jesu mit seinen Jüngern konzipiert ist: »Er (sc. der Verfasser der PistSoph) ist, obgleich er nie die Namen Matth. Marc. usw erwähnt, in der Schätzung der Evangelien mit der katholischen Kirche einig. Dass die Namen fehlen, erklärt sich leicht aus der Fiction des Verfassers, authentischen Bericht über Reden zu erstatten, die Jesus nach seiner Auferstehung gehalten hat. Da war eine Citirung evangelischer Schriften nicht am Platze.« (A. v. Harnack, Über das gnostische Buch Pistis Sophia [TU 7/ 2], Leipzig 1891, 28). 20 Dies wird für einige Texte immer wieder veranschlagt. Vgl. hier neben der Diskussion über das EvThom etwa die Untersuchungen über Dia! und EpJac von E.H. Pagels / H. Köster, Introduction, in: S. Emmel, Nag Hammadi Codex III,5. The Dialogue of the Saviour (NHS 26 ), Leiden 1984, 1-17; R. Cameron, Sayings Traditions in the Apocryphon of James (HThSt 34), Philadelphia 1984. 21 Vgl. z.B. EvPhil 67,30ff.: Hier wird auf ein Logion zurückgegriffen, das auch in EvThom Log. 22; 2Clem 12,lf.; Clem.strom. 3,13,92; ActPtr.Vercell. 38; ActPhil 140 überliefert ist. Vgl. insgesamt die Zusammenstellung in Bezug auf das EvPhil bei Gaffron, Studien, 60-62. 22 Vgl. neben den Registern in Textausgaben und Quellensammlungen nur C.A. Evans/ R.L. Webb (Hrsg.), Nag Hammadi Texts and the Bibel. A Synopsis and Index (NTTS 18), Leiden u.a. 1993. 23 Diese Beobachtung trifft indes nicht auf alle gnostischen Zeugnisse zu; vgl. zum »untypischen« Befund beim Gnostiker Markus N. Förster, Marcus Magus. Kult, Lehre und Gemeindeleben einer valentinianischen Gnostikergruppe (WUNT 114), Tübingen 1999, 397f. Weiter könnte der Gnostiker Basilides eine auf dem Lukasevangelium basierende Evangelienrezension benutzt haben; vgl. dazu W.A. Löhr, Basilides und seine Schule. Eine Studie zur Theologie- und Kirchengeschichte des zweiten Jahrhunderts (WUNT 83), Tübingen 1996, 329. 24 Vgl. nur W.-D. Köhler, Die Rezeption des Matthäusevangeliums in der Zeit vor Irenäus (WUNT II/ 24), Tübingen 1987, 379ff.; W. Röhl, Die Rezeption des Johannesevangeliums in christlich-gnostischen Schriften aus Nag Hammadi (EHS XXIII/ 428), Frankfurt u.a. 1991; T. Nagel, Die Rezeption des Johannesevangeliums im 2. Jahrhundert. Studien zur vorirenäischen Aneignung und Auslegung des vierten Evangeliums in christlicher und christlich-gnostischer Literatur (ABG 2), Leipzig 2000. 25 Vgl. W.H. Worrell, The Odes of Solomon and the Pistis Sophia, JThS 13 (1911/ 12), 26-46; M. Lattke, Die Oden Salomos in ihrer Bedeutung für Neues Testament und 48 Gnosis. Band 1: Ausführliche Handschriftenbeschreibung. Edition mit deutscher Parallel-Übersetzung. Hermeneutischer Anhang zur gnostischen Interpretation der Oden Salomos in der Pistis Sophia (OBO 25.1), Friborg/ Göttingen 1979; Harnack, Buch, 35ff. 2• Vgl. exemplarisch AJ (NHC II 1) 19,10; UW (NHC II,5) 102,8ff.24ff.; 110,30f.; Epiph.haer. 26,3,1; 26,8,1; 26,12,1; 39,5,1; 40,2,1; 45,4,1; Hipp.haer. 5,14,1; 5,21,1; 5,22,1; 7,20,1; 7,38,2; Iren.haer. 1,20,1; Clem.strom. 1,15,69. 27 Vgl. dazu umfassend S. Alkier, Intertextualität - Annäherungen an ein texttheoretisches Paradigma, in: D. Sänger (Hrsg.), Heiligkeit und Herrschaft. Intertextuelle Studien zu Heiligkeitsvorstellungen und zu Psalm 110 (BThS 55), Neukirchen-Vluyn 2003, 1-26. Hinsichtlich der Anwendung des Intertextualitätsparadigmas auf die christlich-antike Literatur kann nicht überbetont werden, dass »für die Antike die Einbettung jeder schriftstellerischen Produktion in ein literarisches Kontinuum ganz selbstverständlich war«; vgl. D. Gall, Zur Technik von Anspielung und Zitat in der römischen Dichtung. Vergil, Gallus und die Ciris (Zetemata 100), München 1999, 15, Anm. 7. 28 Vgl. z.B. EpJac 8,4ff.: Hier wird auf neutestamentliche Gleichnisse angespielt, indem das zentrale Stichwort des Gleichnisses quasi als Überschrift genannt wird; siehe auch Dia! 139,8ff. 29 Vgl. exemplarisch P. Nagel, Die Auslegung der Paradieserzählung in der Gnosis, in: K.-W. Tröger (Hrsg.), Altes Testament - Frühjudentum - Gnosis. Neue Studien zu »Gnosis und Bibel«, Gütersloh 1980, 49-70; P. Nagel hat vier Grundtypen herausgearbeitet: a) aggressiv-polemische Umkehrung, 6) allegorische Interpretation, c) eklektische Inanspruchnahme, d) ätiologische und typologische Interpretation. 30 Vgl. stellvertretend für die zahlreichen Einzeluntersuchungen nur P. Perkins, Gnosticism and the New Testament, Minneapolis 1983. 31 Siehe nur den Index bei Nagel, Rezeption 543ff. 32 Textgrundlage für die Übersetzung ist die Edition von J.-M. Sevrin, L' Exegese De L' Ame (NH II,6) (BCNH.T 9), Quebec 1983; vgl. ferner zu Einleitungsfragen und Literatur M. Scopello, I.: Exegese De L: Ame (NH II,6) (NHS 25), Leiden 1985; B. Layton (Hrsg.), Nag Hammadi Codex II, 2-7 together with XIII.2, Brit. Lib. Or. 4926(1), and P.Oxy. I, 654,655. Volume II: On the Origin of the World, Expository Treatise on the Soul, Book ofThomas the Contender (NHS 21), Leiden 1989, 136-169; C.-M. Franke, Die Erzählung über die Seele (NHC II,6), in: H.-M. Schenke/ H.-G. Bethge/ U.U. Kaiser (Hrsg.), Nag Hammadi Deutsch. l. Band: NHC I,1-V,1 (GCS 8. Koptisch-gnostische Schriften 2), Berlin u.a. 2001, 263-268. 33 Vgl. P. Bruns, Exegesis de anima, in: S. Döpp/ W. Geerlings (Hrsg.), Lexikon der antiken christlichen Literatur, Freiburg '2002, 260. 34 Vgl. H. Bethge, Die Exegese über die Seele. Die sechste Schrift aus Nag-Hammadi-Codex II. Eingeleitet und übersetzt vom Berliner Arbeitskreis für koptischgnostische Schriften, ThLZ 101 (1976), 93-104: 93; H.- M. Schenke, Sprachliche und exegetische Probleme der beiden letzten Schriften des Codex II von Nag Hammadi, OLZ 70 (1975), 5; Colpe, Gnosis, 117. Dem Sinn nach auch Franke, Erzählung, 264. ZNT 12 (6. Jg. 2003) 35 Vgl. dazu umfassend P. Nagel, Die Septuaginta-Zitate in der koptisch-gnostischen ,Exegese über die Seele< (NHC II), AFP 22/ 23 (1974), 249-269. 36 Anders F. Wisse, On Exegeting »the Exegesis on the Soul«, in: Menard, textes, 68-81 : 77. Seiner Meinung nach hat der Verfasser von ExAn das Zitat in 135,31- 136,4 auf Jesaja zurückgeführt, da in 136,4ff. und 136,8ff. zwei J esajazitate mit der Eingangsformel »Wiederum (spricht er) andernorts« eingeleitet werden; ähnlich verhält es sich auch in 1Clem 8,3, wo auf das »unbekannte« Zitat ebenfalls ein Jesajatext (Jes 1,16-20) mit der Überleitung »Und andernorts spricht er so« (lClem 8,4) folgt. Die These, dass der Verfasser von ExAn die in 135,31-136,4 zitierten Worte als jesajanisch ansah, ist indes nicht belegbar. Die folgenden Jesajazitate (136,4f.8f.) sind nicht namentlich auf Jesaja zurückgeführt; weiter spricht in 135,26ff. der Vater durch den Geist des Propheten; auch in 136,4f.8f. kann an ihn als Subjekt gedacht werden. 37 Vgl. ExAn 136,27ff.: vgl. insgesamt Hom.Od. 1,13ff.48- 59; 4,260ff.555ff.; 5,82ft. Es handelt sich nicht um Zitate, sondern um Anspielungen. Auch an Horn.II. 3,l 71ff.399ff.; 24,762ft. kann gedacht werden; so Schenke, Probleme, 8; bei Franke, Erzählung, 277, Anm. 64 erscheinen die Iliasbelege fälschlicherweise als Odysseestellen. 38 Mitunter folgt ExAn auch den Missverständnissen der LXX; vgl. Schenke, Probleme, 6. Von einer genauen Zitierweise zeugen viele gnostische Texte; vgl. für Ptolemaios z.B. B. Aland, Die Rezeption des neutestamentlichen Textes in den ersten Jahrhunderten, in: J.-M. Sevrin (Hrsg.), The New Testament in Early Christianity (BEThL 86), Leiden 1989, 1-38. Vgl. zu textlichen Eigenheiten in ExAn z.B. Nagel, Rezeption, 409ff. (Joh 6,44); Köhler, Rezeption, 415f. (Mt 5,4.6). 39 Vgl. weiter ExAn 133,9f.: hier wird die Anspielung an Gen 3,16b (lKor 11,3; Eph 5,23) mit »wie es geschrieben steht« eingeleitet; ohne Verfasserangabe ist das Zitat in 133,28ff.: »Ebenso wurde zu Abraham gesagt: (Gen 12, 1)«. 40 Vgl. zur Bedeutung der Zitate z.B. M. Krause, Aussagen über das Alte Testament in z.T. bisher unveröffentlichten gnostischen Texten aus Nag Hammadi, in: Ex orbe religionum. Studia Geo Widengren, Bd. 1, Leiden 1972, 449-456; Sevrin, Exegese, 5-13; Scopello, Exegese, 17- 44; W.C. Robinson Jr., Introduction, in: Layton, B. (Hrsg.), Nag Hammadi Codex II, 2- 7. Vol. II, 136-141: 138f. " Vgl. z.B. 1 Kor 5,9-10; Eph 6,12; Mt 5,4.6; Lk 14,26. Zur ethisch-paränetischen Funktion von neutestamentlichen Zitaten in valentinianischen Texten vgl. C. Barth, Die Interpretation des Neuen Testaments in der valentinianischen Gnosis (TU 37/ 3), Leipzig 1911, 111ft. 42 Vgl. dazu Helena I (simonianisch) (J.Fossum/ G. Quispel), RAC 14, Stuttgart 1988, 338-355. 43 Vgl. dazu nur N. Brox, Suchen und Finden. Zur Nachgeschichte von Mt 7,7b/ Lk 11, 96, in: Orientierung an Jesus. Zur Theologie der Synoptiker, FS J. Schmid, hrsg. v. P. Hoffmann, Freiburg u.a. 1973, 17-36; K. Koschorke; »Suchen und Finden« in der Auseinandersetzung zwischen gnostischem und kirchlichem Christentum, WuD 14 (1977), 51-65. ZNT 12 (6. Jg. 2003) 44 Vom Stellenwert der exegetischen Arbeit zeugen allein der vor allem bei Origenes in Fragmenten erhaltene Johanneskommentar des Herakleon und Basilidos' »24 Bücher über das Evangelium« (Eus.h.e. 4,7,7) bzw. Exegetica (Clem.strom. 4,12,81ff.). 45 Willkürlicher Umgang mit der Bibel und Schriftverfälschung durch die Gnostiker sind Hauptanklagepunkte der Kirchenväter; vgl. z.B. Iren.haer. 1,3,6; 1,8,1; 1,9,lf. 1,20,2; Or.comm. in Röm V 1; Hipp.haer. 7,38,2; Tert.praecs. 38; 17; Clem.strom. 3,4,27; 7,16,96; Or.Cels. 2,27; Epiph.haer 44,2,4. 46 Wie nötig hier oft eine Korrektur der Kirchenväter und der älteren Forschung erscheint, lässt sich besonders an der Interpretation der alttestamentlichen Psalmen in PistSoph aufzeigen. Harnack hält die Auslegungsarbeit in PistSoph für willkürlichen, »unmethodischen« Allegorismus; vgl. Harnack, Buch, 49. Den systematischen Charakter der Psalmenexegese hat dagegen A. Kragerud, Die Hymnen der Pistis Sophia, Oslo 1967, herausgearbeitet; vgl. ferner J. Carmignac, RQ 4, 16 (1964), 497-522; G. Widengren, Die Hymnen der Pistis Sophia und die gnostische Schriftauslegung, in: Liber Amicorum, Studies in Horror of C.J. Bleeker (SHR 17), Leiden 1969, 269-281; K. Rudolph, ThR 34 (1969), 225- 231; M. Janßen, »Deine Lichtkraft hat durch David prophezeit.« Zum Psalmgebet in der Pistis Sophia, in: A. Gerhards/ A. Doeker / P. Ebenbauer (Hrsg.), Identität durch Gebet. Zur gemeinschaftsbildenden Funktion institutionalisierten Betens in Judentum und Christentum (Studien zu Judentum und Christentum), Paderborn 2003, 261-293. 47 Vgl. K. Rudolph, Loyalitätskonflikte in der Gnosis, in: Loyalitätskonflikte in der Religionsgeschichte, FS C. Colpe, hrsg. v. C. Elsas / H.-G. Kippenberg, Würzburg 1990, 292-300 ( = K. Rudolph, Gnosis und spätantike Religionsgeschichte. Gesammelte Aufsätze [NHMS 42], Leiden u.a. 1996, 210-219); ähnlich auch schon N. Brox, Offenbarung, Gnosis und gnostischer Mythos bei Irenäus von Lyon (SPSt 1 ), Salzburg 1966, 42ff. 48 Vgl. hierzu grundlegend K. Koschorke, Die Polemik der Gnostiker gegen das kirchliche Christentum (NHS 12), Leiden 1978. 49 Übertragung nach N. Brox, lrenäus von Lyon. Epideixis. Adversus haereses I (FChr 8/ 1), Freiburg u.a. 1993, 348f. 50 Vgl. M. Janßen, Mystagogus Gnosticus? Zur Gattung der ,gnostischen Gespräche des Auferstandenen<, in: G. Lüdemann (Hrsg.), Studien zur Gnosis (ARGU 9), Frankfurt a. M. 1999, 21-260: 125-180. 51 Vgl. Harnack, Buch, 55. 52 Textgrundlage für die Übersetzung ist die Edition von C. Schmidt/ V. MacDermot (Hrsg.), Pistis Sophia (NHS 9), Leiden 1978, Sf. 53 Vgl. Harnack, Buch, 60. Siehe auch insgesamt J. Hartenstein, Die zweite Lehre. Erscheinungen des Auferstandenen als Rahmenerzählungen frühchristlicher Dialoge (TU 146), Berlin 2000. 54 Vgl. G. Heinrici, Die valentinianische Gnosis und die Heilige Schrift, Berlin 1871, 182f. 49 50 TANZ - Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter Stefan Alkier / Jürgen Zangenberg (Hrsg.) Unter Mitarbeit von K. Dronsch und M. Schneider Zeichen aus Text und Stein Studien auf dem Weg zu einer Archäologie des Neuen Testaments Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter 42, 2003, ca. 540 Seiten, div. Abb. u. Tab., ca. € 78,-/ SFr 128,80 ISBN 3-7720-8007-3 (erscheint Oktober 2003) Der rapide Fortschritt der archäologischen Forschung im östlichen Mittelmeerraum, vor allem jedoch im Palästina der griechisch-römischen Zeit, ist für fachfremde Personen kaum noch zu überblicken. Nicht nur die Qumran-Forschung hat erwiesen, dass die Ergebnisse von Grabungen, Surveys und von verschiedenen archäologischen Spezialforschungen gerade für die neutestamentliche Wissenschaft Quellen ersten Ranges darstellen, die immer wieder die Art und die Ergebnisse der Textauslegung nachhaltig beeinflussen können. Der Band stellt die Breite der gegenwärtigen archäologischen Forschung zur neutestamentlichen Zeit exemplarisch und auch für Fachfremde verständlich dar und bemüht sich zugleich darum, das hermeneutische Theoriedefizit archäologischer Forschung aufzuarbeiten. Eine prägnante Auswahlbibliographie am Ende jedes Beitrages regt zur eigenen Weiterarbeit an; ein ausführliches Register erleichtert die Orientierung. A. Francke Verlag Tübingen und Basel Ulrich Willers (Hrsg.) Beten: Sprache des Glaubens - Seele des Gottesdienstes Fundamentaltheologische und liturgiewissenschaftliche Aspekte Pietas Liturgica 15, 2000, X, 508 Seiten, 7 Farbabb., geb. € 60,-/ SFr 108,- ISBN 3-7720-3031-9 Beten ist einer der grundlegendsten menschlichen Akte überhaupt. Der Band stellt interdisziplinär angelegte, Wissenschaft wie Praxis befruchtende Reflexionen auf dieses Phänomen und Ereignis vor, das aus dem menschlichen Leben nur um den Preis des Verlustes eben dieses Lebens wegzudenken wäre. Er zeichnet sich durch eine Mischung von Wissenschaft und Praxis, diskursivem Anspruch und konkreter Erfahrung, von Systematik und Praktik aus; philosophisch-theologisch verantwortete Aufarbeitung der Gebetsproblematik und praxisgesättigte Darstellung neuer und alter Gestalten des Betens sind in Anlage und Aufbau des Bandes aufeinander bezogen. "Der vorliegende Sammelband ist eine reiche Fundgrube für den Gläubigen, der sich Gedanken über das Beteu macht, er wird dankbar sein für die vielen Anregungen für eine zeitgemäße Gebetspraxis." Anzeiger für die Seelsorge "Das Buch ist eine großartige und in dieser Art vielleicht erste Sammlung von Fachbeiträgen zum Thema ,Beten'." Pastoraltheologie - A. Francke Verlag Tübingen und Basel ZNT 12 (6. Jg. 2003) Die Entstehung des Kanons: Geschichtlicher Prozess oder gezielte Publizistik? Eine Einführung zur Kontroverse Die Bibel ist die Grundschrift christlichen Glaubens. So einfach und einleuchtend dieser Satz auch klingen mag, so komplex sind die Fragestellungen, die sich aus dieser Feststellung ergeben: Da ist zunächst einmal die alle fundamentalistische Bibelideologie unterlaufende textkritische Tatsache zu nennen, dass es kein »Original« der Bibel gibt, ja nicht einmal ein Original auch nur einer Schrift des Neuen oder Alten Testaments, sondern nur eine Vielzahl von späteren Handschriften, aus denen in kriminalistischer Kleinarbeit der Text der biblischen Schriften erst erstellt werden muss. Da ist weiterhin die Feststellung zu treffen, dass es nicht nur eine christliche Bibel gibt, sondern der Umfang der Bibel konfessionell unterschiedlich bestimmt wird und es mittlerweile auch eine innerprotestantische Kontroverse darüber gibt, ob die hebräische Bibel weiterhin den alttestamentlichen Teil des christlichen Kanons bestimmen soll oder statt dessen die im Umfang und teilweise auch im Text erheblich davon abweichende griechische Fassung der Heiligen Schriften Israels, nämlich die Septuaginta (LXX), an deren Stelle treten soll. Im Paradigma historisch-kritischer Exegese wird ferner seit William Wrede darüber diskutiert, ob dem Kanon überhaupt eine Relevanz für die Auslegung und die Theologie der biblischen Schriften zukommt, da er doch ein späteres dogmatisches Konstrukt der Kirchenväter sei. An die Stelle einer Theologie des Kanons bzw. der kanonischen Schriften solle daher vielmehr die den Kanon außer Acht lassende Religionsgeschichte des Urchristentums treten. Diejenigen Vertreter historisch-kritischer Exegese hingegen, die den Kanon nicht aufgeben wollten, suchten immer wieder nach einem »Kanon im Kanon«, der in der Vielschichtigkeit der kanonischen Schriften eine Grundorientierung geben soll. Das Konzept einer Biblischen Theologie bemüht sich darüber hinaus, den Zusammenhang beider Testamente theologisch zu bedenken. Aus diesem Anliegen heraus entwickelten sich auch gerade neue hermeneutische Impulse, die Schriften der Bibel kanonisch zu lesen. Diese Fragestellungen und Probleme bieten nur einen Ausschnitt aus der vielschichtigen Kanondebatte. Beide Kontroverspartner sind sich über die grundlegende theologische und hermeneutische Relevanz des Kanons einig. Das Thema der Kontroverse, das die Grundfrage nach der Entstehungsgeschichte des Kanons aufgreift, beantworten sie jedoch höchst unterschiedlich. Manfred Oeming verteidigt die weit vertretene Auffassung, die Entstehung des christlichen Kanons sei ein langwieriger Prozess an dem viele beteiligt gewesen seien und der bereits implizit mit der Ausgestaltung und Überlieferung der einzelnen Schriften beginne. Die These, der christliche Kanon sei eine Reaktion auf den von der Großkirche missbilligten Kanon des Markion, lehnen beide ab. Allerdings bestreitet Matthias Klinghardt die traditionelle These des anonymen langsamen geschichtlichen Herausbildens des christlichen Kanons. Er versteht mit David Trobisch den christlichen Kanon vielmehr als geniale Tat eines Einzelnen, als gezielte frühchristliche Publizistik noch vor Markion. Beide Kontroverspartner haben sich mit großem Erfolg darum bemüht, ihre Position mit gewichtigen Argumenten zu begründen und sie allgemein verständlich darzulegen. Die Qualität ihrer kontroversen Stellungnahmen zeigt nachdrücklich, wie offen die Kanonfragen auch weiterhin diskutiert werden müssen. Stefan Alkier T H E O L O G I E I M A. F R A N C I<. E V E R L A G Das komplette Programm im Internet unter <www.francke.de ► ZNT 12 (6. Jg. 2003) 51 Manfred Oeming Das Hervorwachsen des Verbindlichen aus der Geschichte des Gottesvolkes Grundzüge einer prozessual-soziologischen Kanon-Theorie Unter einem Kanon (gr. kanön = »Richtschnur«) versteht man eine als vorbildlich, ja dauerhaft verbindlich gedachte Sammlung dichterischer oder künstlerischer Werke bzw. eine Auswahl mustergültiger Autoren. Der Kanon der Bibel umfasst entsprechend diejenigen Schriften bzw. Autoren, deren Schriften normativ für den christlichen Glauben wurden und die Schriften dessen bilden, was wir heute Bibel nennen. Nur wer diesen Kanon als norma normans kennt, hat einen Maßstab für die »gute« Liteliehe Akzentverschiebungen aufweisen (vgl. Budde). Diese Vielfalt gab es auch schon in der Antike (vgl. Markschies). So kann z.B. der Kanon Muraturi um 170 n. Chr. die Sapientia Salomonis unter den neutestamentlichen Schriften aufzählen. Die Feststellung einer faktischen Vielgestaltigkeit der Heiligen Schrift gilt erst recht, wenn man in Anschlag brächte, welche Texte aus dem theoretisch zur Verfügung stehenden Spektrum der jeweiligen Schriftensammlungen in den jeweiligen Kirchen bei den Gemeinratur, die es wert ist, buchstabengetreu gelesen, gelernt und befolgt zu werden. Wie ist diese Sammlung normativer Schriften entstanden? TROV' degliedern wirklich bekannt sind und benutzt werden, also den »Kanon im Kanon« erhöbe. Eine entsprechende Wer hat festgelegt, welche Schriften autoritativ sind? Wann ist dies geschehen? Wo? Wie ist diese Auswahl durchgesetzt worden? 1. Zwei elementare Beobachtungen: Pluralität und Situativität A) Wer die Ausgaben der Heiligen Schrift vergleicht, die im Gottesdienst der unterschiedlichen Kirchen liturgisch verwendet werden, wird ganz leicht feststellen können, dass sie vom Umfang und Aufbau erheblich empirische Studie ist mir freilich nicht bekannt. Hier ergäbe sich ein nochmals sehr viel differenzierteres Bild. B) Wenn man »die Heilige Schrift« studiert, dann lassen viele Teile unschwer erkennen, dass sie für eine bestimmte Situation und für einen bestimmten Adressatenkreis abgefasst wurden. Wenn ein Arnos etwa in der geschichtlichen Stunde um 750 v.Chr. den fetten Basanskühen in Samaria, d.h. den vornehmen Damen der Oberschicht, das nahe Gericht ansagt oder wenn ein Paulus aus dem Gefängnis heraus an seine Gemeinde in Korinth oder Philippi schreibt, um in die dort aktuellen Streitigvoneinander abweichen. Einerseits betrifft das die sieben Bücher der sog. Apokryphen sowie einige Zusätze, andererseits Schriften wie der Äthio- »Die eine sacra scriptura gibt es nur in der konfessionellen Binnenperspektive.<< keiten einzugreifen, dann stellt sich die Frage: Wieso sollten diese Gelegenheitsschriften als heute normativ pische Henoch oder der Hirt des Hermas und die Didache. Bis in die Gegenwart hinein ist der Umfang des Kanons eine Frage der Konfession und der Region. Dabei geht es nicht um minimale Differenzen an den Rändern, sondern um erhebliche inhaltliche und umfangsmäßige Varianten. Die eine sacra scriptura gibt es nur in der konfessionellen Binnenperspektive. Die ökumenische Weite des Blickes öffnet die Augen für die Tatsache, dass es sacrae scripturae gibt, die jeweils nicht unerheb- 52 anerkannt werden? In welchem Sinne sind die Texte überhaupt normativ? Kann ein Weisheitsspruch oder eine Erzählung überhaupt »verbindlich« sein? II. Ansätze zur Lösung der Probleme Um es vorweg zu sagen: Wir wissen nicht sicher, wie, wo und warum der Kanon (bzw. die verschiedenen Kanones) entstanden sind. Das Problem ZNT 12 (6. Jg. 2003) Manfred Oeming Das Hervorwachsen des Verbindlichen aus der Geschichte des Gottesvolkes Manfred.Oeming Prof. Dr. Manfred Oeming, Jahrgang 1955, studierte Eva11gelische Theologie, Theologie, Philosophie und Pidagogik von 1.975 bis 19.80 in Wuppertal, Saarbrücken und Bonn. Promotion 1984, Habilitation 1989 in Bonn, von 1989 bis 1991 Pfarrer in Bonn: Von 1993-% Professor für Altes testament und Antikes Judentum an der Universität Osnabrück, seit 1996 Ordinarius für .alttestamentliche Theologie an der Universität Heidelberg, seit 2002 Prorektor der Hochschule für jüdische Studien in Heidelberg. Derzeitige Forschungsschwerpunkte: Ge~ schichtsschreibung in· Israel, Psalmen; Hiob, zwischentestamentliche Literatur, jüdisch~ .christlicher Dialog, Diverse Veröffentlichungen (www.uni-heidelberg.de/ institute/ fak1/ pi; rsonalpages/ oeming.html). · gleicht einem Kriminalfall, bei dem man aufgrund von Indizien einen einigermaßen plausiblen Tathergang rekonstruieren und den Täter bzw. die Täter ermitteln muss. Dabei ist zunächst klar festzustellen: Während man früher vielfach glaubte, die Schrift sei von Gott den verbalinspirierten Autoder eine dreistufige Entstehung annimmt: Zunächst sei der Pentateuch kanonisiert worden (ca. 400 v.Chr.); analog sei auch die Prophetie abgeschlossen worden (ca. 200 v.), bis schließlich auch die Schriften um 100 v. zu einem Ende gekommen seien. Die Entstehung der hebräischen Bibel bzw. von deren griechischen Übersetzungen wird in der Religion der ersten Christen als abgeschlossen vorausgesetzt (»he graphe eipen«). Dieses Modell mag Hauptschübe richtig festhalten, ist m.E. aber noch zu schematisch. Der Kanon war länger offen, auch der Pentateuch. Die Vorgänge sind stärker synchron verlaufen, wobei drei Phasen allgemein vorauszusetzen sind: A) erste Verschriftungen; B) über eine längere Zeit laufende Fortschreibungsprozesse (» kanonischer Prozess«) C) eine Phase der systematischen Abschließung (»Kanonisierung«). A) Wo liegen die ersten Anfänge der Verschriftung? In welchen gesellschaftlichen Kontexten kann die Idee entstanden sein, einen bis in den Buchstabenbestand hinein verbindlich fixierten Text zu erstellen? In der Forschung werden zumeist von modernen Analogien her gedacht mehrere Quellorte der Kanonidee erwogen: Chronologisch am weitesten zurück reicht die Annahme, dass schon in der Phase der Oralität, also in Israel noch in vorstaatlicher Zeit zwischen 1200 und 1000 v.Chr., ein normierter Text entstanden sei. Solche Textnormierungen sind im Kult gut vorstellbar, wo rituell geprägte Texte im Kontext von Feiern exakt reproduziert werden mussten. Man hat aber auch an den Bereich des Rechts gedacht. Bei Gericht brauchte man verbindliche Rechtssätze, die eine verlässliche Grundlage für Entscheidungen boten. Von ethnoren sozusagen »in die Feder diktiert« worden (vgl. 2Tim 3,16: päsa graphe theopneustos), hat man sich in der Bibelwissenschaft der letzten 200 Jahre von dieser Vorstel- » Wir wzssen nicht sicher, 'lVie, . wo und warum, de.rKdnDn. (bzw; die versthiedenep . logisch erhobenen Analogien her hat man einen Stand der Erzähler vermutet, die mit »professioneller« Präzision die Sagen und Legenden der Frühzeit an den Lagerfeuern Kanones)· e~tstanden' .sind,« lung verabschiedet und in kritischer Untersuchung erkannt, dass eine große Fülle von Faktoren zur Entstehung des Kanons beigetragen haben müssen. An die Stelle eines simplen Modells ist eine komplexe Geschichte getreten. 1 Zur Entstehung des alttestamentlichen Kanons Sehr einflussreich ist das Modell von O.H. Steck, ZNT 12 (6. Jg. 2003) oder auf den Marktplätzen erzählten und wortgetreu ihren Schülern weitergaben. Möglich ist auch, dass bestimmte Autoren als besondere Autoritäten angesehen wurden (oder werden wollten), so dass sich ihre Jünger bemühten, die Worte der Meister möglichst genau zu überliefern (etwa der paradigmatische Weisheitslehrer König Salomo oder der Psalmendichter David). Im Umkreis der Prophetenzirkel könnte als zusätzliches Mo- 53 tiv für die Sicherung der Botschaft in schriftlicher Form die Verfolgung der häufig unbequemen Unheilspredigt durch staatliche Instanzen hinzugekommen sein (vgl. Jes 8; Jer 36). Wieder ein anderer Erklärungsversuch geht vom Phänomen eines Curriculums in der Schule aus, d.h. von der etwa in Ägypten quellenmäßig gut bezeugten Tatsache, dass der Inhalt des Schulwissens, der »klassische Abiturstoff« über viele Jahrhunderte, ja J ahrtausende erstaunlich konstant blieb. Eine weitere Textsicherungsinstanz könnte der Königshof gewesen sein. Ein literarisch bezeugtes Beispiel ist der assyrische König Assurbanipal (ca. 668-631 v.Chr.). Der gelehrte, schöngeistige und ursprünglich für eine Priesterkarriere ausgebildete Monarch schreibt von sich selbst, dass er »die in geordneten Keilschriftzeichen niedergelegte Weisheit des (Schreibergottes) Nebo« auf die Tafeln geschrieben, den Text geprüft und verglichen, und die Dokumente schließlich in seinem Palast deponiert habe, damit er sie »ansehen und immer wieder lesen könne«. 1 Diese staatlich geförderte systematische Textvergleichung und Archivierung kommt einer Kanonisierung sehr nahe. Die in jedem Fall weit vorexilischen, z.T. wohl sogar vorstaatlichen protokanonischen Anfänge werden in der neueren Forschung stark bezweifelt, m.E. nicht gerade mit guten Argumenten. Mir scheint es nach wie vor äußerst plausibel, dass sich in Israel wie in seiner Umwelt auch recht früh Texte herausbildeten, die einen herausgehobenen Status hatten, weil sie das Selbstverständnis des Volkes prägten. Heilige Texte waren I dentity-Marker. B) Zum kanonischen Prozess: Die im Grundbeliebtheit der Texte beim Volk ein bestimmender Faktor gewesen sein. Dass der Rezeption auch eine Filterfunktion zukommt, hat die neuere Hermeneutik nachdrücklich herausgestellt (Gadamer). Nur das Beste, das über Generationen hinweg Eindruck zu machen in der Lage war, »kam durch«. M.E. muss man an den mannigfachen Orten der Textüberlieferung (wie Torgerichtsbarkeit, Tempel, Palast, Jüngerzirkel, Weisheitsschulen, Volksfeste) mit jeweils eigenen Entwicklungen rechnen. Der Vorgang der Herausbildung heiliger Texte ist also zunächst lokal und temporal begrenzt. Dennoch ist die Entstehung des Kanons nicht zufällig oder gar beliebig. Der Kanon ist nicht Ausdruck der kontingenten Machtverhältnisse, sondern im kanonischen Prozess waltet eine schwer zu durchschauende, im Ergebnis aber erstaunlich sinnvolle Logik. Erst im Laufe einer längeren Geschichte setzen sich die besten Traditionen immer weiter durch und gewinnen so an Wertigkeit und Verbreitung. Dieser bunte und vielgestaltige Produktions- und Rezeptionsprozess ist in den Details kaum mehr rekonstruierbar. Er trägt Züge einer Koproduktion von vielen Angehörigen eines Volkes. In seiner Summe hat er ein (unbewusst) demokratisches Element. Der Grundtextschatz ist Volkseigentum, an dem zahlreiche, nur zum geringsten Teil erkennbare Individuen gewirkt haben. C) Zur Phase der Textfixierung: Große Wahrscheinlichkeit hat die These, dass die Idee des Textabschlusses aus einer bestimmten Theologenschule stammt, deren Hauptwerk das fünfte Buch Mose ist und die man daher »deuteronomistische Bewegung« nennt und um 550 stand niedergelegten Texte erlebten im Zusammenhang ihrer über Jahrhunderte erfolgten handschriftlichen Tradierung zahlreiche Anreicherungen. Ihre Pflege und »Entwicklung« wurde von verschiedenen Gruppen getragen.Je nach literarischer Gattung vollzog sich diese »Fortschreibung« und »Gerinnung« in unterschiedlichen »Mfrscheint es nach wie vor äußerst plausibel, dass sich in lsr: aelwie in seiner Umwelt v.Chr. ff. ansetzt. Diese habe zur Durchsetzung eines national-politisch, sozial-religiösen Erneuerungsprogramms den Gedanken aufgebracht, dass das eine Volk Israel zur angemessenen Verehrung seines einen Gottes JHWH an einem auserwählten heiligen Ort eine verbindliche Schrift brauche. auch.rechtfrüh Texte herausbildeten, die einen herausgehobenen Status hatten, weil sie das Selbstverständnis des Volkes prägten. Heilige Texte waren ldentity'--Marker.« Dtn 4,2 lautet: Trägerkreisen. Man darf die Entwicklungen nicht nur bei Eliten der Oberschicht (König, Beamte, Priester, Propheten, Weise) ansetzen. Vielmehr dürfte auch die kritische Rezeption, d.h. die Be- Ihr sollt nichts dazutun zu dem, was ich euch gebiete, und sollt auch nichts davon tun, auf dass ihr bewahren möget die Gebote des Herrn, die ich euch gebiete. 54 ZNT 12 (6.Jg. 2003) Manfred Oeming Das Hervorwachsen des Verbindlichen aus der Geschichte des Gottesvolkes Der Vers muss in Zusammenhang gesehen werden mit Dtn 13,1: Jedes Wort, das ich euch befehle, sollt ihr bewahren, es zu tun, nicht sollst du zu ihm hinzufügen und nicht sollst du von ihm wegnehmen. Wir hätten es wenn die These stimmt mit einer Schrift zu tun, die schon im Bewusstsein abgefasst wurde, Heilige Schrift und ewige Ordnung für alle Zukunft zu sein. Die Kanonbildung ist Folge der fundamentalen Krise und Instrument zu deren Überwindung. Der Untergang des Staates, die Zerstörung der Paläste, des Tempels, der Schulen, die Deportation der Eliten nach Babylon haben dazu geführt, dass man systematisch zusammengetragen hat, was jetzt noch zählt. Die Herausbildung der Heiligen Schrift wäre so gesehen der Versuch, den Untergang Israels aufzuhalten; die Heilige Schrift ist der rettende Anker, an dem die Zukunft Israels hängt. Eine starke Gruppe von Alttestamentlern vertritt allerdings die Auffassung, dass der Kanon in den Zusammenhang des nachexilischen Wiederaufbaus Israels gehöre. Das Hauptunterscheidungsmerkmal zwischen dem vorexilischen und dem nachexilischen Israel erblicken sie in der Verwandlung der Kultreligion in die Buchreligion. Die radikale, nahezu vertraglich vereinbarte Treue zum Buchstaben gilt als das Hauptkennzeichen der nachstaatlichen jüdischen Frömmigkeit (vgl. z.B. Neh 10,30: »Sie sollen sich ihren Brüdern, den Mächtigen unter ihnen, anschließen und der Abmachung beitreten und sich mit einem Eid verpflichten, zu wandeln im Gesetz Gottes, das durch Mose, den Knecht Gottes, gegeben ist, und alle Gebote, Rechte und Satzungen des HERRN, unseres Herrschers, zu halten und zu tun.«). Diese neuartige Form der jüdischen Religionslehre ergibt sich dadurch, dass Israel den Verlust seiner Eigenstaatlichkeit als Strafe Jahwes für seine Übertretungen des Gesetzes interpretierte und sich deshalb nahezu ängstlich darum mühte, in Zukunft das Gesetz möglichst genau zu beachten und die Forderungen Gottes exakt zu erfüllen. Bei der Kanonisierung geht es nicht um Bewahrung des Gewesenen, sondern um Bewältigung des Zukünftigen. Nicht Konservierung der Tradition, sondern programmatische Eröffnung von Wegen ins Futurum ist die Funktion der Kanonisierung (Schüle). ZNT 12 (6. Jg. 2003) In den letzten 15 Jahren ist als neue These die sogenannte »persische Reichsautorisation« diskutiert worden. Lokale Rechtstexte sind danach von der Zentralverwaltung in Persepolis bzw. Susa als verbindliches Reichsrecht sanktioniert worden. Dieses Modell besagt, dass durch Druck von außen der kanonische Prozess abgebrochen werden musste, was wenig überzeugend ist. Einerseits ist es durch die Quellen kaum gedeckt: in den angeführten Analogiefällen wurde die Reichsregierung von den Regionen ersucht, bestimmte Rechtsunklarheiten zu regeln, niemals umgekehrt. Zudem hat die Vorstellung antijüdische Implikationen: die Tora als abgebrochenes Flickwerk? In der Zeit von 400 v. bis 200 n.Chr. hat sich an verschiedenen Orten der jüdischen Ökumene ein Schriftenbestand herausgebildet, von dem der Pentateuch unbestritten als Heilige Schrift anerkannt war, andere Texte aber gruppenspezifisch umstritten blieben. So haben z.B. die Samaritaner die Propheten und Schriften nicht mehr bzw. noch nicht als kanonisch anerkannt. Die Textfunde von Qumran bezeugen, dass nahezu alle biblischen Bücher (außer Esther) vorhanden waren, dass sehr umfangreiche Textpartien dem heutigen Text entsprechen, aber auch, dass man noch die Freiheit hatte, Texte zu verändern bzw. neue Bücher hinzuzufügen. Die Tempelrolle war wohl als »sechstes Buch Mose« gedacht, mit welchen eine bestimmte Partei ihren Anspruch auf die Herrschaft im J erusalemer Tempel durchdrücken wollte. Zudem gibt es keine erkennbaren Indizien für eine feste Abfolge der Rollen. Relativ sicher ist, dass der Untergang des Tempels und die Neukonstituierung des Judentums nach 70 n.Chr. unter der Führung der Pharisäer mit dem Zentrum im Jamnia zur Fixierung der Texte Erhebliches beitrug. Allerdings ist die Vorstellung einer »Synode von Jamnia« als anachronistische Rückprojektion aus der Zeit der Großkirche überholt (vgl. z.B. Stemberger). Die letzten Fixierungen datieren ins frühe Mittelalter und wurden von gelehrten Schreiberfamilien vorgenommen. 2 Zur Entstehung des neutestamentlichen Kanons Die Genese des neutestamentlichen Kanons ist bei allen Unterschieden im Detail nach der gleichen 55 inneren Logik abgelaufen wie die gerade umrissene des alttestamentlichen Kanons, freilich im »Zeitraffertempo«: Zunächst gab es eine Phase von ca. 40 Jahren der mündlichen Tradierung von Jesuslogien und -erzählungen sowie von wichtigen Vorgängen in der ersten Christenheit. Dabei scheint mir das Maß, wieweit man theologische Einzelstimmen erkennen kann, sehr viel geringer zu sein, als Kollege Klinghardt es annimmt. Welches Logion auf welche Gemeinde zurückgeht grundsätzlich und zeitübergreifend das Evangelium entfalten will. Aber auch in den situativen Kontexten entfaltet Paulus eine so fundamentale Reflexion über die Bedeutung des Sterbens und Auferstehens J esu, dass seine »Gelegenheitsschriften«, die an unterschiedliche Adressaten gesandt wurden, zwischen den Gemeinden ausgetauscht wurden und den Weg in die gottesdienstliche und katechetische Verwendung fanden. Die innergemeindliche Kommunikation führte nach der Aus- (Jerusalem, Samaria, Antiochien, Kleinasien oder Alexandrien sind alle mögliche Kandidaten), ist m.E. nicht mehr aufklärbar. Bei ihrem Weg von Predigt zu Predigt, von Gemeindezusammenkunft zu Gemeindezusam- »Dabei scheint mir das Maß, wieweit man theologische Einzelstimmen erkennen kann, sehr viel geringer zu sein, als KollegeKlinghardt bildung lokaler Teilsammlungen zu einer allmählichen Ausbreitung und Akzeptierung durch die immer größer werdende Kirche. Vielleicht ist dabei aber auch die eine oder andere Interpolation in die Paulus-Texte geraten, was es annimmt.« menkunft haben das Spruchgut wie auch die Erzählungen vielfache Übermalungen und Einfärbungen erhalten. So ist auch der heutige Evangelienstoff mit einem hohen Anteil anonymer Produktionen durchwoben. Ab ca. 70 n.Chr. wurden diese Überlieferungen verschriftet, wobei »Markus« eine gewisse normierende Kraft inne wohnte. Welche Person oder Gruppe sich hinter diesem Namen verbirgt, wissen wir aber nicht wirklich; das Evangelium selbst lässt es ja auch offen. Die beiden anderen Synoptiker ( oder die Kreise, die hinter den Namen stehen) scheuten sich aber in den Jahren zwischen 80 bis 90 n.Chr. noch nicht, ihre Fortschreibungen, Umakzentuierungen und Korrekturen einzubringen. Der Evangelist Johannes und der dahinter stehende johanneische Kreis unterzogen den Stoff soweit sie nicht schon andere Quellen verarbeiteten einer nochmaligen radikalen Neuinterpretation und U mformulierung. Das verblüffende Phänomen besteht darin, dass keines der vier Evangelien das andere völlig verdrängte, sondern dass die Gemeinden zu einer solchen Akzeptanz der jeweils anderen Deutungen fanden und alle vier Konzeptionen neben und miteinander zu einem Kanon verbanden. Schon aus der Zeit vor der Verschriftung der Überlieferungen über Jesus sind Dokumente erhalten, die der Apostel Paulus ab ca. 53 n.Chr. als Briefe an verschiedene Gemeinden gesandt hat; wobei der Römerbrief weniger auf konkrete Probleme der römischen Gemeinde einzugehen scheint als vielmehr in der Art einer Dogmatik 56 z.B. für 1Kor 14,33H. öfters angenommen wird. In der dritten Generation der Urchristenheit traten dann aber drei Phänomene auf, die m.E. entscheidend zum Gedanken führten, dass man den Kanon definitiv abschließen muss: a) Das Auftreten von Irrlehrern nötigte zur Festlegung des wirklich Verbindlichen. Hier sind v.a. die N omisten und die Gnostiker zu nennen, die im Namen Jesu Christi auftraten, aber ganz andere Lehren verbreiteten als Jesus und die Urgemeinden, etwa die buchstäblich genaue Befolgung der Tara oder umgekehrt die absolute Freiheit von irgendwelchen Bindungen. b) Das Auftreten von Pseudepigraphen, d.h. von Schriften, die unter falschem Namen herausgegeben wurden, setzte die Gemeinden unter Druck. c) Der römische Reeder Marcion hat um 150 n.Chr. den Gedanken aufgebracht, man müsse eine Auswahl aus dem angewachsenen Schrifttum treffen, die das Wesentliche der Lehre Jesu festhält. Marcion wollte insbesondere das Alte Testament abschaffen, das er für das Zeugnis eines anderen Gottes als des Vaters Jesu Christi hielt. Es tauchen in der Literatur Listen auf, die explizit aufzählen, welche Schriften zur Heiligen Schrift dazugehören sollen und welche nicht. Eine endgültige Festlegung erfolgte erst im Osterbrief des Athanasius im Jahre 368 n.Chr., wobei wir aber auch nicht wissen, wieweit er damit erfolgreich war. Eine wirkliche Fixierung des Wortlautes ist ohnehin erst im Zeitalter des Buchdrucks durchsetzbar geworden. ZNT 12 (6.Jg. 2003) Manfred Oeming Das Hervorwachsen des Verbindlichen aus der Geschichte des Gottesvolkes (Anmerkungsweise sei erwähnt, dass der kanonische Gerinnungsprozess im 4. Jh. n.Chr. immer noch kein Ende erreicht hatte. Im 16. Jh. hat Martin Luther durch seine Kreuzung aus hebräischem Umfang (daran lag ihm als humanistischem Philologen) mit griechischer Abfolge (daran lag ihm aus theologischen Gründen, weil die LXX die elle Leistung gelten, sondern muss für das AT als das Ergebnis eines viele Jahrhunderte langen Erschließungs-, Deutungs- und Selektionsprozesses begriffen werden. Für das NT ist ein weitgehend analoger Prozess von knapp 100 Jahren anzunehmen, der nicht durch das Wirken einer Person zu einem Abschluss gebracht werden konnte. Wer »An der so langwierigen Entstehung des biblischen Kanons haben sehr viele Menschen prophetische Gesamtdeutung der Schrift propagiert) eine Kanonform kreiert, die es bis dahin noch nicht gab. Im Gegenzug verfiel die katholische Kirche auf den abstrusen Gemitgewirkt, deren Namen wir größtenteils nicht kennen.« sollte das sein? Welche Machtmittel hatte er, um andere Texte auszuschließen oder gegen Widerstand seine Auswahl durchzusetzen? Das NT ist höchstens zur Hälfte danken, eine lateinische Übersetzung aus dem 4. Jh. n.Chr. zur kanonischen Grundlage für alle Fragen des Glaubens und der Sitten zu machen. Damit war der Kanonprozess immer noch nicht abgeschlossen. Die Aufklärung brachte im 18. und 19. Jh. den Gedanken zur Blüte, dass sich jedes autonome Subjekt seinen Kanon selber machen könne und solle, so dass wie selbstverständlich nicht die ganze Biblia als kanonisch gelten durfte, sondern nur ein jeweils konfessionell begründeter Ausschnitt. Die Postmoderne des 21. Jhs. meinte den Gedanken an den Kanon begraben zu haben, er ersteht aber mit neuer Macht wieder auf. III. Fazit in neun Thesen 1. Der kanonische Prozess, der produktiv immer neue »eminente Literatur« hervorbrachte, erstreckte sich mit unterschiedlicher Intensität der Kreativität von seinen mündlichen Anfängen bis hin zu »der Bibel« über 1500 Jahre. 2. Der Prozess der Kanonisierung, der den exakten Wortlaut der Bücher, ihre Zahl und die Abfolge fixierte, ist ebenfalls über einen längeren Zeitraum von mehreren Jahrhunderten verlaufen. Autorenliteratur (Paulus und z.T. Jesus), zur anderen Hälfte Traditionsliteratur. Die von M. Klinghardt in Fortführung von D. Trobisch vorgeschlagene Annahme eines genialen Editors ist im jetzigen Begründungszustand eine zumindest sehr gewagte Hypothese. Mit Bildern aus der Kriminalistik gesprochen: Auf der Basis wenig zwingender Indizien haben hier »Profiler« einen Täter dingfest gemacht, den es vermutlich gar nicht gibt. 5. Gewiss gaben einzelne religiöse »Genies« (Offenbarungsempfänger) entscheidende Initialzündungen, aber ihre Grundeinsichten werden von sehr vielen anonymen Theologen fortgeschrieben, umgeschrieben und in einem größeren Ganzen eingeordnet. 6. Im 19. Jahrhundert sah man unter dem Einfluss eines Geniekultes noch Individuen oder kleine Kreise von Eliten bei der Kanonbildung am Werke. Die Einsicht in die Nichtrekonstruierbarkeit der vielfädigen Kanonentstehung zwingt dazu, sich von solchem individualistischen Denken zu lösen und die Entstehung des Kanons zumindest tendenziell stärker »demokratisch« zu denken. Der Gebrauch oder Nicht-Gebrauch in den unendlich vielen Gottesdiensten der Ö kumene mit Lesungen und Predigten entschied über » Der Kanon übt in einen bestimmten Den.kstilein (vgl. Welker).' dialogisch, diskursiv, plural, mit Gegensätzen kanonisch oder nicht-kanonisch sehr erheblich mit. 3. An der so langwierigen Entstehung des biblischen Kanons haben sehr viele Menschen mitgewirkt, deren Namen wir größtenteils nicht kennen. Treibende Kräfte wavertraut.« · 7. Der Kanon übt eine starke Identifikationsfunktion aus: »Sage mir, welche Bücher dir heilig sind, und ich sage dir, wer du bist.« ren u.a. Könige, Propheten, Priester, Weise, Erzähler, Prediger, Rechtsgelehrte und viele andere Anonymi mehr. 4. Der Kanon kann daher keinesfalls als individu- ZNT 12 (6. Jg. 2003) 8. Der Kanon sorgt für eine Handlungsorientierung der Gruppenmitglieder. Der Kanon schafft ein ethisches (und kultisches) Gruppenprofil. 57 »Becoming Canon and becoming church go hand in hand.« 2 9. Bleibt zum Schluss die Frage: Warum brauchen wir überhaupt noch einen Kanon? Ergibt sich die postmoderne Kritik am Kanon nicht aus der Einsicht in den vielschichtigen Entstehungsprozess des Kanons wie von selbst? Nein! Der Kanon übt in einen bestimmten Denkstil ein (vgl. Welker): dialogisch, diskursiv, plural, mit Gegensätzen vertraut. Dass sich dies in der Kirche imponiert hat, ist Wirkung des Heiligen Geistes, der wohl weiß, was das Volk Gottes braucht. Anmerkungen 1 Vgl. H. Schmökl, Ur, Assur und Babylon, '1962, 97f. 2 P. Ricoeur, The Canon between Text and Community, in: Pokorny / Roskovec, J. (Hrsg.), Philosophical Hermeneutics and Biblical Exegesis (WUNT 153), Tübingen 2002, 7-28; hier: 16. Literaturhinweise für die Weiterarbeit Budde, A., Der Abschluß des alttestamentlichen Kanons und seine Bedeutung für die kanonische Schriftauslegung, Biblische Notizen 87 (1997), 39-55. Dohmen, Ch./ Oeming, M., Biblischer Kanon warum und wozu? (Quaestiones Disputatae 137), Freiburg u.a. 1993. Markschies, Ch., Neue Forschungen zur Kanonisierung des Neuen Testaments, Apocrypha 12 (2001), 237-262. Mühlenberg, E., Scriptura non est autentica sine authoritate ecclesiae Qohannes Eck). Vorstellungen von der Entstehung des Kanons in der Kontroverse um das reformatorische Schriftprinzip, Zeitschrift für Theologie und Kirche 97 (2000), 183-209. Oeming, M., Verstehen und Glauben. Exegetische Bausteine zu einer Theologie des Alten Testaments (Bonner Biblische Beiträge), Berlin 2003, darin bes. »Du sollst nichts hinzufügen und nichts wegnehmen« (Dtn 13,1)- Altorientalische Ursprünge und biblische Funktionen der sogenannten Kanonformel, 121-138; »Du sollst nicht abweichen weder zur Rechten noch zur Linken! « (Dtn 17, 11 ). Erwägungen zu Struktur und Geschichte einer alttestamentlichen Formel, 139-152. Ricoeur, P., The Canon between Text and Community, in: Pokorny, P. / Roskovec, J. (Hrsg.), Philosophical Hermeneutics and Biblical Exegesis (WUNT 153), Tübingen 2002, 7-28. Trobisch, D., Die Endredaktion des Neuen Testaments. Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel (NTOA 31), Göttingen/ Fribourg 1986. Schüle, A., Israels Sohn - Jahwes Prophet. Ein Versuch zum Verhältnis von kanonischer Theologie und Religionsgeschichte anhand der Bileam-Perikope (Num 22- 24) (Altes Testament und Modeme 17), Münster 2001. Seckler, M., Über die Problematik des biblischen Kanons und die Bedeutung seiner Wiederentdeckung, Theologische Quartalschrift 180 (2000), 30-53. Stemberger, G. u.a. (Hrsg.), Der Kanon, Jahrbuch für Biblische Theologie 3 (1986) mit zahlreichen Beiträgen aus unterschiedlichen Disziplinen. Welker, M., Das vierfache Gewicht der Schrift. Die missverständliche Rede vom »Schriftprinzip« und die Programmformel »Biblischer Theologie«, in: D. Hiller / Ch. Kress (Hrsg.), »dass Gott eine große Barmherzigkeit habe«. Konkrete Theologie in der Verschränkung von Glauben und Leben (FS G. Schneider-Flume), Leipzig 2001, 9-27. Ziegenaus, A., Kanon. Von der Väterzeit bis zur Gegenwart (Handbuch der Dogmengeschichte 1/ 32), Freibug u.a. 1990. Skizze zur Geschichte des biblischen Kanons bzw. der biblischen Kanones Entstehung AT (ca. 1000 Jahre) Entstehung NT (ca, 100 Jahre) Kanon in der Neuzeit 1200 - 1000 1000 -100 700 - 100 450 v. -200 Ab ca. 50 - 100 100 - 368 16. Jh. Gegenwart v. Chr. v. Chr. v Chr. n. Chr. n. Chr n. Chr. n. Chr. ----- -----~ --------1-------------- Mündliche Sukzessive Zeit des kanoni- Übergang vom Phase der Erstverschrifsehen Prozesses, kanonischen »Texte« z.B. tungen der d.h. Phase der Prozess zur im Torgeersten kürze- Fortschreibun- Kanonisierung, richt, in den ren und längen der Texte in d.h. allmähliche Heiligtügeren Texte unterschiedli- Fixierung des mern, an den (Erzählunchen Tradenten- Textes, Erstel- Lagerfeuern gen, Gesetze, gruppen, anolung eines un- Weisheitsnyme Glaubensveränderbaren sprüche, Liegemeinschaften Buchstabender), Orte der nutzten die bestandes; Pflege u.a. Texte und aktu- Arrangement Gerichte, alisierten sie. von festen Heiligtümer, Die »Ge- Buchabfolgen: Königshof, brauchsspuren« LXX, MT. »Schulen«, lassen sich z.T. Jüngerzirkel. klar erkennen. 58 J\us der mündlichen Durchsetzung von Luther (Biblia Postbiblisches Uberlieferung von und Textformen in be- Deutsch 1539). kre- Zeitalter? Postmoüber Jesus und die stimmten Teilen der iert in seiner Uber- <lerne Patchworkersten christlichen Kirche, allmählicher setzung einen neuen Religon; Warum Gemeinden entstehen Abschluss und Kanon: Umfang sollten wir heute die Schriften des NT's, svstematische Text- Hebräische, unser Denken die in verschiedenen hxierung. Es gab ke1- Anordnung der durch eine vorge- Gemeinden kursieren. nen formlichen Kon- Bücher griechische gebene alte Text- Aus der Gewohnheit zilsbeschluss, sondern Bibeltradition. sammlung leiten und v.a. dem gottes- »Gewohnheitsrecht«! Konzil von Trient lassen? Welche dienstlichen Gebrauch Umstritten ist die (1545-1563) Bedeutung hat es, heraus wächst der Frage, wieweit eine »heiligt« Vulgata. wenn wir immer Kanon der Urchristen Einzelperson, ein wieder vom Kanon an mehreren Orten. genialer Theologe, Neue Kanonforher Probleme lösen Gefahr durch gnostiformativ sein konnte. men, »Kanon im wollen? Es sichert sehe und nomistische Initiator Marcion? Kanon«, Kritik der Komplexität des Irrlehrer erfordert Interesse des Staates Begrenzung, auf- Denkens, Pluralität Zensur durch Fixiean fester Ordnung als geklärte Freiheit der Zugänge zu rung der Paradosis. römische Reichsvom Kanon. Gott und einen autorisation. multifaktoriellen Denkstil. © Prof. Dr. Manfred Oeming ZNT 12 (6. Jg. 2003) Matthias Klinghardt Die Veröffentlichung der christlichen Bibel und der Kanon Für die Frage nach der Entstehung und Bedeutung des Kanons ist es sinnvoll, vorab das Unstrittige festzuhalten. So besteht Einigkeit darüber, dass »Kanon« eine wirkungsgeschichtliche Größe ist: Der biblische Kanon erlangt seine Autorität durch die faktische Nutzung und Rezeption ein länger andauernder Prozess, an dessen Ende die »kanonische Geltung«, d.h. die allgemeine Anerkennung steht. Tatsächlich hat es in der Alten Kirche auch keine Instanz gegeben, die eine verbindliche Schriftgrundlage festgeschrieben hat. 1 Ebenfalls unstrittig dürfte die hermeneutische Einsicht sein, dass ohne einen wie immer gearteten Referenzrahmen Verstehen nicht möglich ist, und dass vorsichtig formuliert der Kanon der christlichen Bibel ein naheliegender Rahmen für das Verständnis der biblischen Texte ist. 1. Warum die klassische Theorie nicht funktioniert Vorsichtige Formulierung ist angebracht, denn hier beginnt der Dissens: Wenn der biblische Kanon den Referenzrahmen für das Verständnis der Einzeltexte bildet, dann ist von entscheidender Bedeutung, wie er zustannach außen (Harnack; von Campenhausen) als geeignet erwiesen hatten, in die Sammlung »aufgenommen«, während andere, ungeeignete ausgesondert und »abgelehnt« wurden. Am Ende habe mit der christlichen Bibel ein autoritativer, durch »soziale Inspiration« legitimierter biblischer Kanon vorgelegen. Die Anonymität dieses Vorgangs dient dabei als Legitimitätsnachweis: Wenn keine Einzelstimme (Bischof, Synode, Konzil) diesen Prozess entscheidend geprägt hat, dann war es eben die Kirche als Ganze bzw. umgekehrt: das Wort Gottes hat sich im Kanon selbst durchgesetzt und der Geist Gottes hat in komplexen Zusammenhängen gewirkt. Indes: Die Gretchenfrage für jede Theorie zum Zustandekommen der kanonischen Sammlung der Bibel stellt sich nicht angesichts der wichtigen oder der umstrittenen, sondern angesichts der unbedeutenden Schriften. Paradebeispiel ist der 3. Johannesbrief: Wie soll man sich eine jahrzehntelange, intensive liturgische Rezeption dieses Briefes vorstellen, die zu seiner Kanonisierung geführt hätte, während gehaltvolle Texte wie die Didache oder das Thomasevangelium »es nicht in den Kanon geschafft« haben? Oder: Lässt sich eine Häresie oder Gruppierung denken, von der sich die entstehende Großkirche durch de gekommen ist und worauf sich dementsprechend sein Anspruch als Deutungsrahmen begründet. Die klassischen Arbeiten zur Geschichte des Kanons' behaupten, dass die Sammlung kanonischer Schriften in einem ano- »Die christliche Bib.el ist nicht in einem langen Sammlungs- und Selektionsprozess zusammengewachsen, sondern in einem redaktionellen Akt gerade diesen Brief hätte abgrenzen wollen? Beides ist absurd, und so scheitern die klassischen Kanonmodelle am 3Joh. Ich setze daher dagegen die These: Die christliche Bibel ist nicht in einem langen produziert worden.« nymen, ungesteuerten Prozess der Selbstdurchsetzung entstanden sei: Über mehrere Jahrzehnte hinweg seien Schriften, die sich entweder durch dauerhaften liturgischen Gebrauch (Zahn) oder aus dogmatischen Gründen der kirchlichen Selbstdefinition und Abgrenzung ZNT 12 (6. Jg. 2003) Sammlungs- und Selektionsprozess zusammengewachsen, sondern in einem redaktionellen Akt produziert worden. Nicht »soziale Inspiration« bindet ihre Einzelteile zusammen, sondern das redaktionelle Konzept des Herausgebers. 59 Matthias.Klinghardt Prof. Dr. Matthias Klinghardt, Jahrgang 1957, 1986 Promotion und 1993 Habilitation {Neues Testament) in Heidelberg, 1988/ 89 Rice University, Houston (ix), 1989 bis 1998 Assistent an der Universität Augsburg, seit 1998 Professor für Biblische Theologie an der TU Dresden. 2. Alternative Theorie: Endredaktion und Publikation der Bibel Diese These ist nicht neu, aber bisher kaum rezipiert. Sie geht zurück auf Da- Redaktion enthalten die Teilsammlungen (Evangelien; Paulus; Praxapostolos; Offenbarung) immer dieselben Schriften in immer derselben Reihenfolge. Die Kontrollfrage lautet: Wie sollten unterschiedliche Herausgeber ausnahmelos! darauf verfallen, die Apostelgeschichte nicht zum Lukasevangelium zu stellen? Oder: Wie kämen sie darauf, den Hebräerbrief immer unter die Paulusbriefe aufzunehmen? Die These besagt daher: Da alle erhaltenen Handschriften des NT denselben Umfang (27 Schriften) in derselben Reihenfolge (innerhalb der Teilsammlungen) repräsentieren, dann verweist das zwingend auf eine einzige Ausgabe. Ein weiterer, schwer zu widerlegender Beweis ist die Gestaltung der Titel der Schriften: Einerseits können sie nicht auf die Verfasser der Schriften selbst zurückgehen, andererseits sind sie in den Handschriften immer identisch bezeugt und innerhalb der Sammlungseinheiten formal einheitlich gestaltet. Auch hier zeigt sich die ordnende und vereinheitlichende Hand der Endredaktion. Das heißt: Es gibt in der handschriftlichen Überlieferung nicht die Spur eines Hinweises darauf, dass es jemals ein NT in vid Trobisch, 3 dessen Argumentation hier kurz nachzuzeichnen ist. Anders als bei der klassischen Kanonsgeschichte setzt Trobisch nicht bei der indirekten Bezeugung des NT durch die patristische Literatur an, sondern bei den » Es gibt in .der handschriftanderer als der kanonisch gewordenen Gestalt gegeben hat.4 Die behauptete »Pluralität der Bibelumfänge« (mit oder ohne Apokryphen; Stellung von Jak und Hebr) ist ein sehr! spätes Phänolichen Überlieferung nicht die Spur eines Hinweises darauf, dass es jemals ein NT in anderer als der kanonisch gewordenen Gestalt gegeben hat.« Handschriften (deren Zahl sich in den vergangenen Jahrzehnten ganz erheblich vergrößert hat). Zwei »Layout«-Phänomene sind erste Hinweise für eine Endredaktion aus einer Hand, nämlich die eigentümliche (wenn auch nicht immer einheitliche) Notierung der nomina sacra sowie die ausschließliche Verwendung der Kodex.form wie sollten unterschiedliche Herausgeber zu unterschiedlichen Zeiten auf dieselben ungewöhnlichen Layoutideen verfallen? Beides sind »unableitbare«, willkürliche Phänomene, die sich am ehesten als editorische Entscheidungen der editio princeps verstehen lassen. Wichtiger sind die Konsequenzen, die sich aus dem Umfang der Handschriften und aus der Reihenfolge der darin enthaltenen Schriften ergeben: In allen Handschriften vor der byzantinischen 60 men, das gerade nicht den Anfang kennzeichnet. 3. Das redaktionelle Konzept: Streit um Paulus Die innere Logik dieser Endredaktion ergibt sich auf verblüffend einfache Weise aus den Verfasserzuschreibungen der Titel: Die Titel, die ja sekundär (vom Herausgeber) zu den Schriften hinzugefügt wurden, legen ein ganzes Geflecht von Querverweisen innerhalb der Sammlung über die Einzeltexte, verbinden diese zu einem in sich stimmigen Ganzen und geben den Leserinnen und Lesern entscheidende Hilfen für das Verständnis. Wer z.B. wissen möchte, wer der Verfasser des »Evangeliums nach Markus« ist (der im Text des ZNT 12 (6. Jg. 2003) Matthias l(linghardt Die Veröffentlichung der christlichen Bibel und der Kanon Evangeliums ja überhaupt nicht erwähnt wird), der kann sich anhand der Angaben, die sich in den anderen Teilsammlungen finden, ein ziemlich genaues Bild verschaffen: Petrus war offenbar gut mit Markus bekannt, er verkehrt im Haus seiner Mutter (Apg 12,12) und nennt ihn »mein Sohn« (1Petr 5,13). Markus war zunächst missionarischer Mitarbeiter des Barnabas und des Paulus (Apg 12,25), aber Paulus hat sich im Streit von ihm getrennt (Apg 15,37ff.). Allerdings war dieser Streit nicht von Dauer: Paulus nennt ihn seinen Mitarbeiter (Phlm 24), er empfiehlt ihn nach Kolossä (Kol 4,10) und wünscht sich in seiner letzten Stunde die Gegenwart des Markus (2Tim 4,11). Diese Informationen, die ja nur von der Hand des Herausgebers stammen können, sind weder beliebig noch verzichtbar: Sie erzählen eine ganze Geschichte, die den Rahmen für das (kanonische) Verständnis der einzelnen neutestamentlichen Schriften bildet. Mit Hilfe der Benutzeroberfläche der Querverweise durch die Titel versucht der Herausgeber, das Leseverhalten in eine bestimmte Richdemnach: Paulus ist ein wichtiger Apostel, und sein Urteil bezüglich Gesetz und Beschneidung ist trotz der Auseinandersetzung mit den J erusalemern wichtig. Andererseits ist ein Christentum, das sich ausschließlich auf Paulus gründet, defizitär, weil es judenchristliche Traditionen nicht ausreichend berücksichtigt. Vor allem ist das apodiktisch-beleidigende Urteil des Paulus über das »andere Evangelium« (»Verdammt! «, Gal 1,8) und diejenigen, die es vertreten (»Sollen sich doch kastrieren! «, Gal 5,12) nicht sein letztes Wort in der Sache und markiert keinen endgültigen Bruch. 4. Schriftprinzip, Inspiration und Fälschung So erweist sich das sog. Schriftprinzip im Kern als literarisch-redaktionelles Phänomen: Dass die Schrift »ihr eigener Interpret« ist, indem sie sich auf sich selbst bezieht und sich selbst erklärt, liegt an den Querverweisen. Sie tung zu steuern. In diesem Fall geht es erkennbar um die Schlichtung des Streites zwischen Paulus und den Jerusalemer Aposteln, der in Gal 2 mit wünschenswerter Klarheit dokumentiert ist: Eine Hauptintention der Kanonischen » Eine Hauptintention der . Kanonischen Ausgabe li'egt darin, diese Diskrepanz zwischen Paulus und den verbinden Texte und Teilsammlungen der Kanonischen Ausgabe untereinander, zielen aber nie auf Außenliegendes. Die dadurch entstehende innere Geschlossenheit ist daher in erster Linie eine redaktionelle Leistung, die von Anfang an theologisch Jerusalemern, allen voran Petrus, zu minimieren und ihre Eintracht zu betonen.« Ausgabe liegt darin, diese Diskrepanz zwischen Paulus und den J erusalemern, allen voran Petrus, zu minimieren und ihre Eintracht zu betonen. Der Herausgeber erreicht dieses Ziel auf verschiedene Weise: Zunächst erscheint der Streit ja bereits in Apg schon deutlich heruntergespielt (Apg 15,37ff.). Sodann wird »Markus« durch die redaktionellen Verknüpfungen sowohl dem Petrus als auch dem Paulus zugeordnet: Beide bedenken ihn mit überaus freundlichen Attributen. Und schließlich stellt der Herausgeber den Paulusbriefen noch Schreiben genau dieser Jerusalemer Gruppe an die Seite (Petrus, Jakobus, Johannes und Judas) und zeichnet so ein Bild apostolischer Eintracht. Dieses Bild erschließt sich jedoch nur durch die Lektüre der ganzen Ausgabe. Die theologische Aussage nicht der Einzeltexte, sondern des redaktionellen Konzeptes ist ZNT 12 (6. Jg. 2003) verstanden werden will. Das machen vor allem der 2Petr und der 2Tim deutlich, die von besonderer Bedeutung für das redaktionelle Konzept sind. Zum einen zeigt die Analyse der Querverweise, dass beide Texte alle anderen Teilsammlungen (einschließlich des AT) voraussetzen: Sie gehören also auf die Ebene der Endredaktion. Zum anderen ist deutlich, dass es sich jeweils um die letzten - und darum besonders gewichtigen -Äußerungen der Verfasser handelt: Petrus und Paulus erwarten jeweils ihren Märtyrertod als unmittelbar bevorstehend (2Petr 2, 14; 2Tim 4,6). Vor allem aber ist nur in diesen beiden Texten von der Inspiration der Schrift die Rede, und man muss beide Aussagen aufeinander beziehen, um den ganzen Sinn zu erfassen: Was zunächst nur eine Behauptung ist, dass »die ganze Schrift von Gott eingegeben ist« (2Tim 3,16), wird durch 2Petr erläutert: Prophetie wird nicht 61 durch den menschlichen Willen getragen, sondern durch den Heiligen Geist (1,20f.). Die Richtigkeit dieser Behauptung ist plausibel, weil »Petrus« sich als Zeuge der Verklärung Jesu präsentiert (welche die Leser aus Mk 9 par. kennen! ) und daraus folgert: »Dadurch ist das Wort der Propheten für uns noch sicherer geworden, und ihr tut gut daran, es zu beachten! « (1,17ff.). So legitimieren sich die Teile der Kanonischen Ausgabe gegenseitig und beweisen zugleich die Inspiriertheit des Ganzen. Dieser »Beweis« funktionierte, solange die Leser davon überzeugt waren, hier wirklich Petrus und Paulus zu hören. Erst die historische Kritik hat beide Briefe als Fälschung erwiesen,' den Rahmen der kanonischen Lektüre beseitigt und damit den diskreten, aber wirksamen Leseanweisungen die Grundlage entzogen. 5. Einige Folgerungen 1. Endredaktion: Die wichtigste Abweichung dieses Modells von den klassischen Theorien besteht in der Unterscheidung zwischen der Entstehung der Schriftensammlung und dem Prozess, in dem sie »kanonisch« wurde: Es macht einen großen Unterschied, ob Einzelschriften kanonische Geltung erlangen und dabei zu einer Sammlung zusammenwachsen, oder ob sich ein fertiges literarisches Konzept mit einem umfassenden, theologischen Anspruch durchsetzt: Die Debatten über den theologischen Stellenwert einzelner Schriften wurden seit der Alten Kirche über Teile eines fertigen Buches geführt, nicht aber über autarke Einzelschriften. So hat Luther den Jak genauso als Teil des NT gelesen wie Origenes den Hebr, und die theologische Kritik an Einzelschriften setzt jeweils die fertige Schriftensammlung voraus: Für Luther ergab sich die theologische Devianz des Jak ja erst vor dem Hintergrund seiner kanonischen Lektüre der ganzen Bibel, und Origenes konnte die paulinische Verfasserschaft des Hebr überhaupt nur deshalb bestreiten, weil sie ihm durch die Kanonische Ausgabe vorgegeben war (die den Hebr immer unter den Paulus- Briefen überliefert). Das Konzept des Ganzen erwies sich als stärker als die Kritik an einzelnen Teilen: Niemand entfernt ein schwächeres Kapitel aus einem ansonsten überzeugenden Roman! 62 2. Die Rede vom »Abschluss des Kanons« ist daher im besten Fall irreführend, wenn nicht gänzlich unangemessen: Sofern damit die redaktionelle Zusammenstellung biblischer Schriften gemeint ist, markiert dieser »Abschluss« (noch vor der Mitte des 2. Jh.s) den Beginn (und nicht das Ende) der theologischen Debatte über seine Teile. Und falls damit die theologische Debatte um die »kanonische Akzeptanz« einzelner Schriften gemeint ist, gibt es bis heute keinen Abschluss über Einzelnes (heute eher Einzelaussagen statt -schriften) wird kontrovers debattiert, anderes wird durch selektive Wahrnehmung ausgeblendet: Obwohl der 3Joh weder in wissenschaftlichen »Theologien des NT« noch in der Reihe der Predigttexte eine Rolle spielt, ist er doch unstreitig immer Teil der Bibel. 3. Autorität: Die Durchsetzung dieser Ausgabe bestand wohl schlicht darin, dass sie sich gegen ihre Konkurrenz behauptet hat. Solche Konkurrenz ist uns nur aus der markionitischen Bibel (ein Evangelium und zehn Paulusbriefe) bekannt. Welche Gründe auch immer für die Überlegenheit der Kanonischen Ausgabe sprachen: Machtmittel zur Durchsetzung darf man dafür nicht annehmen. »Kanonische Geltung« impliziert die freie Zustimmung zu ihrem Konzept, das nicht mit »Machtmitteln« gegen »Widerstände durchgesetzt« werden will, sondern überzeugen soll; dass der Herausgeber diese Überzeugungskraft durch kleine Hilfen und Kniffe vergrößert hat, ist zugestanden. 4. Zweiteilige Bibelausgabe: Ausweislich des Titels »Das Neue Testament« war die Kanonische Ausgabe von Anfang an als zweiteiliges Werk konzipiert, das Neue macht ein Altes Testament erforderlich, auf dessen Schriften (mit unterschiedlichen Bezeichnungen) verschiedentlich verwiesen wird. Den genauen Umfang und die Anordnung des ursprünglichen AT kennen wir leider nicht. Aber es ist deutlich, dass die Einbeziehung des AT als Teil der christlichen Bibel kein Automatismus war, sondern eine bewusste Entscheidung des Herausgebers, die im Horizont der theologischen Auseinandersetzung mit der Bibel und der Theologie Markions gesehen werden muss. 5. Traditions- und Autorenliteratur: Deutlich ist schließlich auch, dass die Aufnahme des AT in das kanonische Konzept des Herausgebers relativ ZNT 12 (6. Jg. 2003) Matthias l{linghardt Die Veröffentlichung der christlichen Bibel und der Kanon unabhängig ist von der vor- und nebenchristlichen Sammlungsgeschichte der jüdischen Bibel. Die Entstehung der christlichen Bibel ist nicht die Fortführung eines den biblischen Schriften inhärenten Dranges zur Kanonbildung, sondern die Folge eines eigenständigen Redaktionsaktes. Allerdings lassen sich für alle Teile der hebräischen Bibel Redaktionsprozesse nachweisen,' die dem Verfahren der Herausgeber der Kanonischen Ausgabe ähnlich sind: Gliederung durch Überschriften (so im Psalter oder im Dodekapropheton), Querverweise auf andere Teile der Sammlung zur Lesesteuerung (z.B. durch die Verfasserzuschreibungen der Psalmen, die eine »Verortung« in der aus dem Pentateuch und den Vorderen Propheten bekannten Geschichte erlauben), Redaktion als Ausgleich unterschiedlicher Ansprüche (z.B. in der Komposition des Pentateuch') kurz: Auch wenn die Redaktion der Kanonischen Ausgabe keine Fortsetzung älterer Sammlungskonzepte ist, ist das redaktionelle Verfahren doch nicht dann spricht das weder gegen die Wahrscheinlichkeit einer solchen Publikation noch gegen den implizierten Wahrheitsanspruch, sondern eher gegen das idealistische Vorurteil, »Wahrheit« eher mit dem »Allgemeinen« zu verbinden als mit dem »Individuellen«. Am Ende ist die Wahrheit dieser Ausgabe auch nach der Dekonstruktion ihres Konzepts durch die historische Kritik seit dem 18. Jh. kaum beeinträchtigt: Wie sollte man ein Konzept, das 1600 Jahre lang gewirkt hat, nicht bewundern und darin göttliche Fügung sehen können, zumal es auch heute noch überzeugt? In Manfred Oemings Bild des Kriminalfalles: Der Täter hat die Spuren seiner Tat (die Redaktion und Publikation der christlichen Bibel) so gut kaschiert, dass sich auch heute noch professionelle Spurensammler täuschen lassen und eher an Zufall glauben als an Planmäßigkeit. Bleibt nur die Gretchenfrage: Wie kommt der 3Joh in die Kanonische Ausgabe? Antwort: Er ist schlicht authentisch! Welcher singulär. Diese literarischen Spuren redaktioneller Tätigkeit machen die Bibel in ihrer kanonischen Endgestalt selbst dann eindeutig und vollständig zu einem Stück »Autorenliteratur«, wenn dieses Buch auch Traditionsliteratur » Wie sollte man ein Konzept, das 1600 Jahre lang gewirkt hat, nicht bewundernund darin göttliche Fügung sehen können, zumal es auch heute noch überzeugt? « Herausgeber apostolischer Schriften würde wohl darauf verzichten, echte Briefe des Apostels Johannes in seine Sammlung aufzunehmen? Die Existenz dieses Briefs in der Kanonischen Ausgabe bereitet dann keine Schwierigkeienthält: Das christliche AT ist, genau wie das NT auch, Bestandteil eines Buches aus dem 2. Jh. 6. Die Erstellung der Kanonischen Ausgabe war kein anonymer, selbstgesteuerter Prozess der Kanonisierung, sondern ein individueller und punktueller Publikationsakt in einer einzigartigen historischen Situation, der sehr konkrete kirchenpolitische Ziele verfolgte (Paulus - Petrus), der handwerklich sehr gekonnt umgesetzt wurde (Querverweise; Inspirationstheorie), der eine grundsätzliche Verhältnisbestimmung des frühen Christentums zum Judentum vornahm (AT - NT), der verlegerisch eine Ausgabe mit hohem Wiedererkennungswert schuf (nomina sacra; Kodexform) und der auch vor gezielter Lesertäuschung nicht zurückschreckte (»Pseudepigraphie« ). Wenn es schwer fällt, eine theologische Leistung solchen Ausmaßes einer Einzelperson zuzuschreiben (der Herausgeber lässt sich schließlich ohne große Probleme identifizieren), ZNT 12 (6.Jg. 2003) ten, wenn man bei ihrer Redaktion einen konkreten, individuellen Herausgeber am Werk sieht. Anmerkungen 1 Zum ersten Mal überhaupt hat das Tridentinum (im Dekret über »Schrift und Tradition« vom 8. April 1546 aus Sess. IV; vgl. Denz. 783ff.) eine »kanonische Schriftgrundlage« mit umfassendem Geltungsanspruch festgesetzt: Gegen das reformatorische Schriftprinzip und seine Folgen in Übersetzung, Umfang und Anordnung wurde der Wortlaut der Vulgata für verbindlich erklärt. 2 Forschungsgeschichtlich wichtig waren seit dem 19. Jh.: Th. Zahn, Geschichte des Neutestamentlichen Kanons I/ II, Leipzig/ Erlangen 1888-1892; A. Harnack, Das Neue Testament um das Jahr 200, Freiburg 1889 (und eine ganze Reihe weiterer Einzelstudien); H. von Campenhausen, Die Entstehung der christlichen Bibel (BHTh 39), Tübingen 1968. 3 D. Trobisch, Die Endredaktion des Neuen Testaments (NTOA 31), Freiburg/ Göttingen 1996. ' Die Bezeugung auch anderer Texte (Teile der apostolischen Väter; ApcPetr; Herrn usw.) in irrtümlich sog. 63 Kontroverse »Kanones« (Kanon Muratori; Kanon Claromontanus; Stichometrie des Nikephorus etc.) spricht nicht dagegen: Diese Bibliotheks- und Schriftenverzeichnisse geben einen Einblick in das, was im frühen Christentum gelesen wurde, beschreiben aber nicht den Umfang des Neuen Testaments. 5 Vgl. die Einleitungen zum NT. Ich ziehe in diesem Fall die Bezeichnung »Fälschung« dem anderweitig gebräuchlichen Terminus »Pseudepigraphie« vor, weil hier die Täuschungsabsicht gegenüber den Lesern dominant ist. ' Die Redaktionsspuren sind nicht einheitlich, werden aber in den letzten Jahren für die einzelnen Teile verstärkt registriert und als Teil eines redaktionellen Konzepts ausgewertet. Besonders wichtig sind die Arbeiten zur Redaktion des Pentateuch von E. Blum, R. Rendtorff und anderen; für das Dodekapropheton vgl. z.B. O.H. Steck, Der Abschluss der Prophetie im Alten Testament. Ein Versuch zur Vorgeschichte des Kanons (BThS 17), Neukirchen-Vluyn 1991. 7 Für den Pentateuch ist das übersichtlich dargestellt von E. Blum, Esra, die Mosetora und die persische Politik, in: R.G. Kratz (Hrsg.), Religion und Religionskontakte im Zeitalter der Achämeniden, Gütersloh 2002, 231- 256. MAINZER HYMNOLOGISCHE STUDIEN 64 Hermann Kurzke Andrea Neuhaus (Hrsg.) Gotteslob- Revision Probleme, Prozesse und Perspektiven einer Gesangbuchreform Mainzer Hymnologische Studien 9, 2003, VIII, 237 Seiten, € 39,-/ SFr 64,50 ISBN 3-7720-2919-1 Das katholische Einheitsgesangbuch "Gotteslob" besteht nun seit fast drei Jahrzehnten, und so manches, was bei seinem Stapellauf modern war, hat inzwischen Rost angesetzt. Bei ihrer Herbstvollversammlung 2001 hat die Deutsche Bischofskonferenz deshalb beschlossen, ein neues Gebet- und Gesangbuch herauszubringen. Der Prozeß, der vermutlich Jahre in Anspruch nehmen wird, startet mit einer hymnologischen Besinnung, die aus dem Rückblick auf frühere Gesangbuchrevisionen Kriterien für den Umgang mit dem traditionellen und dem innovativen Liedgut gewinnen will. Das Buch beginnt mit einem liedgeschichtlichen und liedanalytischen Teil, wird fortgesetzt mit einem Blick auf große Gesangbuchreformen des 20. Jahrhunderts, betrachtet dann die am "Gotteslob" im Lauf der Jahre durchgeführten Reparaturarbeiten und versucht sich schließlich an einer Kriteriensammlung zur Ermittlung und Bearbeitung des Liedguts im geplanten neuen Gebet- und Gesangbuch. Cornelia Kück Hermann Kurzke (Hrsg.) Kirchenlied und nationale Identität Internationale und interkulturelle Beiträge Mainzer Hymnologische Studien 10, 2003, XII, 236 Seiten, € 48,-/ SFr 79,30 ISBN 3-7720-2920-5 Kirchenlieder sind kulturelle Identitätssymbole sowohl der Kirchen wie auch der Nationen. Die Beiträge des Bandes weisen die Funktionen von Kirchenliedern für die Ausbildung nationaler Identitäten und die jeweiligen Konstruktionen von "Fremdheit" und "Eigenheit" auf. Es zeigt sich, daß beinahe nur in Deutschland ein negatives Verhältnis zu dem Beitrag besteht, den Kirchenlieder zur kulturellen Ausgestaltung des Nationalgefühls leisten. Zu den Themen des Bandes zählen unter anderem profansakrale Transformationen; Engländer, Schotten, Waliser, Iren und die Besonderheiten ihrer Identitätsfindung; die Entwicklung religiös gestützter Nationalidentitäten in Österreich, Polen, Rumänien, Finnland und Schweden; Identitätsprobleme bei den in Österreich lebenden Slowenen sowie bei den Buren in Südafrika. Die Autoren stammen aus zwölf verschiedenen Nationen. A. Francke Verlag Tübingen und Basel ZNT 12 (6.Jg. 2003) Thomas Hieke Neue Horizonte. Biblische Auslegung als Weg zu ungewöhnlichen Perspektiven Einführung: »Kanon« oder »Bibel« was liegt zur Auslegung an? Unter den methodologischen Schlagworten »kanonische Auslegung«, »kanonisch-intertextuelle Lektüre«, »canonical approach« oder »canonical criticism«' ist die Bibelwissenschaft schon eine gehörige Wegstrecke vorangekommen. Allerdings unterscheiden sich die Konzepte in bedeutsamen Punkten, sodass eine gemeinsame Linie hinsichtlich dessen, was »kanonische Auslegung« ist, noch nicht greifbar scheint, ebenso wenig ein Konsens darüber, was »Kanon« für die Exegese bedeutet und welche Bedeutung ihm zukommt. Die Kontroversen sollten aber nicht den Blick dafür verstellen, dass gewisse Grundoptionen (meist in Abgrenzung von »klassischer«, historisch-kritischer Exegese formuliert) gemeinsam sind. Bisweilen ist es allein Konzept bezeichnet: die Vorstellung eines begrenzten und göttlich legitimierten Textbestandes als Grundlage für eine Glaubensgemeinschaft. Der geschichtliche Befund zeigt, dass sich dieses entscheidende, Religionen und Kulturen prägende Konzept mitunter sehr unterschiedlich ausprägt( e). Es gibt unterschiedliche Realisierungen des Kanons in Judentum und Christentum,3 wobei sich trotz aller Unterschiede konstante Grundstrukturen zeigen lassen. Konkrete Kanonausprägungen können mit dem Begriff »Bibel« bezeichnet werden (vgl. »Hebräische Bibel«, »jüdische Bibel«, »christliche Bibel«, »Lutherbibel« etc.). Fragt man nun danach, was zur Auslegung ansteht, dann ist es nicht »der Kanon«, sondern die jeweilige Bibel: Ausgelegt werden immer nur konkrete Texte in konkreten Kontexten. Es muss eine Entscheidung am Anfang getroffen werden, die bislang zu selten reflekder Begriff »Kanon«, der manche stutzig oder sogar misstrauisch macht: Bemächtigt sich hier die Dogmatik oder eine unbestimmte Art von »Kirchlichkeit« (im pejorativen Sinne) der Exegese, die sich in den vergangenen »In der Exegese kann >Kanon< nur als literarischer Begriff verstanden werden, der den. ersten und privilegierten Kontext markiert, in dem ein biblischer Text verstanden wird.« tiert wird4, welche Kanonausprägung, also welche »Bibel«, der Auslegung zugrunde liegt: Beispiele wären die jüdische Bibel (TaNaK), die griechische Bibel (Septuaginta), verschiedene christliche Arhundert Jahren mühsam davon frei geschwommen hat? Das sei ferne. In der Exegese kann »Kanon« nur als literarischer Begriff verstanden werden, der den ersten und privilegierten Kontext' markiert, in dem ein biblischer Text verstanden wird. Es ist der Raum, der für intertextuelle Verknüpfungen primär herangezogen wird. Nicht immer jedoch gelingt es, die in dem polyvalenten und vieldeutigen Wort »Kanon« mitschwingenden Konnotationen und Assoziationen aus systematisch-theologischer Sicht auszuklammern. Daher könnte man sich fragen, ob man diesen Begriff für die Bezeichnung einer bibelwissenschaftlichen Methode nicht besser vermeidet. Ein anderer, weitaus gewichtigerer Grund dafür besteht darin, dass der Terminus »Kanon« eine Idee und ein ZNT 12 (6. Jg. 2003) rangements usw.' Von diesen Überlegungen her erscheint es hilfreicher, für die hier vorzustellende Methode den Begriff »biblische Auslegung« zu wählen. Grundoptionen der biblischen Auslegung Die Grundlinien der »biblischen Auslegung« können hier nur knapp skizziert werden. 6 Ihr Ziel ist das Verstehen biblischer Texte in ihrem jeweiligen Kontext. »Text« wird dabei als eine aus ihrer primären unmittelbaren Sprechsituation herausgelöste Sprechhandlung angesehen, die für eine zweite Sprechsituation gespeichert wird. Texte haben eine sprechsituationsüberdauernde Stabilität.7 Das heißt aber zugleich, dass Texte durch den Vorgang der Speicherung (Verschriftung) von 65 Hermeneutik und Vermittlung ihrer Entstehungssituation losgelöst und damit gegenüber ihrem Verfasser unabhängig werden. Die Sinnkonstituierung erfolgt stets neu in der »zweiten Sprechsituation«, d.h. im Lektürevorgang, bei dem der Autor nicht anwesend ist und der Leser mit seinem jeweiligen Vorwissen zusammen mit dem Text als fester Zeichenfolge und dem jeweiligen literarischen Kontext, in dem der Text überliefert ist, ein Verständnis des Textes aufbaut. Aufgrund dieser Vorüberlegungen wird der Gedanke, dass Texte nur einen »richtigen« Sinn haben, der mit der Intention des historischen Verfassers (»was uns der Autor damit sagen wollte«) identisch sei, als unangemessen aufgegeben. Texte sind grundsätzlich mehrdimensional und vieldeutig. Die Intention des historischen Autors ist eine Modell-Leser," der damit zunächst ein textimmanentes Konzept ist. 12 Es gilt somit aufzuzeigen, welche Sinnmöglichkeiten der Text in seinem Kontext bereit hält, welche Lektürevorgänge möglich sind, welche neuen Leseweisen neue Perspektiven öffnen. Kontrollinstanz ist der Text selbst: »Man kann aus den Texten herauslesen, was sie nicht explizit sagen (und die ganze Interpretations-Kooperation des Lesers beruht auf diesem Prinzip), aber man kann nicht das Gegenteil dessen, was sie sagen, in sie hineinlesen«. 13 Die Interpretationsgemeinschaft selbst wird Auslegungen, die nicht mehr vom Text gedeckt sind, sondern deutlich interessengeleitet sind, zurückweisen. Insofern auch das ist eine neue Perspektive ist biblische Auslegung immer auch ein auf eine Sinnmöglichkeit, aber nicht die Norm der Auslegung. Dies ist insofern besonders für biblische Texte relevant, da hier in den meisten Fällen der historische Autor nicht mehr greifbar ist (wenn überhaupt, dann nur über den ·/ ~~~.fi1'l~e.J~itfg~fisf · il.~m.t't.fpemLektür~<Jr~igtnt1r. h~r.lo,11t-'it~r.t, t~~rm! + die. ••• $.f! .ite ~Text< tLe.s~r<,~ , , 1'.0111; m~~4tionsm.0'1el/ ; « lebendige Gemeinschaft angewiesenes Diskursgeschehen, ein »demokratischer« Vorgang, der nicht für Vorschriften »von oben nach unten« geeignet ist. Damit ist sicher noch nicht das letzte Wort Text selbst) und eine Fixierung auf die Autorintention den Text auf den begrenzten historischen Blickwinkel des Verfassers beschränken würde. Die Bibeltexte könnten keinen überzeitlichen Gehalt transportieren und würden zu Fossilien einer vergangenen Zeit weitgehend ohne Relevanz für die Gegenwart. Biblische Texte wollten aber schon immer stets neu gelesen und in veränderten Situationen aktualisiert werden, was sich schon an den zahlreichen F ortschreibungstendenzen im Entstehungsverlauf biblischer Bücher ablesen lässt. 8 Die biblische Auslegung ist damit vom Lektüreparadigma her konzipiert,9 betont also die Seite »Text« - »Leser« im Kommunikationsmodell. Diese Leserorientierung lässt sich noch weiter eingrenzen im Sinne einer Textzentrierung: Es geht bei der Reflexion von Lektürevorgängen vor allem darum, die im Text selbst angelegten Strukturen und Strategien zur Leserlenkung aufzudecken, d.h. zu zeigen, welche Kriterien der Text selbst für eine angemessene und »ökonomische« Lektüre aufstellt. Durch diese Strukturen, durch das eingeforderte Vorwissen und die angespielten und für das Verständnis relevanten Hypotexte 10 (primär aus der zugrunde gelegten Kanonausprägung, d.h. Bibel) schafft sich der Text selbst seinen 66 zur »biblischen Auslegung« gesagt. Doch es gilt nun, an einigen Beispielen skizzenhaft zu zeigen, welche neuen Perspektiven dieser Zugang im Blick auf das Neue Testament eröffnen kann. Biblische Auslegung am Neuen Testament einige Beispiele Mt 1 als Inhaltsverzeichnis des Alten Testaments Von einem Leser, der bei Mt 1,1 (»Buch der Geschichte J esu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams« 14) anfängt, das Neue Testament zu lesen, wird erwartet, dass er weiß, wer David ist und wer Abraham. Schon der erste Vers des Neuen Testaments macht damit deutlich, dass hier ein Text vorliegt, der Teil eines größeren Zusammenhangs ist. Wer mit David und Abraham nicht vertraut ist, wird zurück verwiesen auf die Texte, die von diesen Personen handeln. Zugleich stellt Mt 1,1 Jesus Christus mit der Wendung »Buch der Geschichte« (biblos geneseös), die so wörtlich in Gen 2,4 und 5,lLXX auftaucht,15 in einen großen genealogischen Zusammenhang: Jesus wird angegliedert an und eingegliedert in die ZNT 12 (6. Jg. 2003) Thomas Hieke Neue Horizonte. Biblische Auslegung als Weg zu ungewöhnlichen Perspel<tiven Thomas Hieke PD Dr. Thomas Hieke, Jahrgang 1968, Studium der katholischen Theologie in Bamberg und Innsbruck. : Promotion in Bamberg 1996, Mitarbeit am Forschungsprojekt »Synoptische Konkordanz« in Bamberg (1996-2000), seit 2000 wiss. Assistent am Lehrstuhl für Biblische Theologie: Exegese und Hermeneutik des Alten Testaments (Prof. Dr. Christoph Dohmen) der Katholisch-Theologischen Fakultä,t d13r Univ~rsität Regensburg. Habilitation in Regensburg 2003 (»Die Genealogien der Genesis«). For~ schungsschwerpunkte: Psalmen, Kohelet, Genesis, biblische Hermeneutik und Methodologie, Themen biblischer Theologie (Menschenbild, Eschatologie, Tod), synoptische Evangelien, lange Generationenfolge, die von der Schöpfung, vom Beginn der Menschheit, 16 über die Erzväter Abraham, Isaak, Jakob, über David und die Könige bis in seine eigene Zeit herein reicht. Es geht hier nicht darum, Jesus mit einer ruhmvollen Ahnengalerie zu schmücken, Tarnar, Perez und Serach sowie Hezron das gesamte Buch Genesis 17 ein. Mt 1 verlangt also von seinem Modell-Leser, das Buch Genesis zu kennen. Doch die Voraussetzungen werden noch weiter gespannt: Nimmt man den Ort des Buches Rut in der christlichen Bibel zwischen dem Buch der Richter und 1 Samuel ernst, so umspannt die Genealogie an seinem Ende (Rut 4,18-22) die gesamte Zeit vom Buch Genesis (Perez als Sohn Judas) bis hin zu König David, damit aber auch die Zeit des Exodus aus Ägypten, der Offenbarung der Tora am Sinai, der großen Mahnrede des Deuteronomium, der so genannten Landnahme und der »Richter«. Mt 1 nimmt die Rut-Genealogie auf und ruft damit auf engstem Raum und mit minimalen Mitteln diese »Heilsgeschichte« präsent. Ist der Leser erst einmal mit dieser Strategie vertraut, so stehen die übrigen Namen für den weiteren Verlauf der Geschichte, die mit dem »Babylonischen Exil« eine markante Zäsur erfährt. Dass aber Mt 1 nicht nur ein dürrer Zeitstrahl ist, sondern tatsächlich die Kenntnis der biblischen Geschichten einfordert, zeigen die eingestreuten Frauennamen: Eine Funktion dieser Namen neben anderen 18 ist, bestimmte Details der biblischen Texte wachzurufen und damit sicher zu stellen, dass der (Modell-)Leser seine Heilige Schrift auch wirklich gelesen hat. Man muss die Tarnar-, Rahab-, Rut- und Batseba-Geschichten gelesen haben, um mit der Genealogie Jesu etwas anfangen zu können. Ruft man sich diese Geschichten aber ins Gedächtnis, dann transportiert das dürre Namensgerippe sondern ihn in die lange und verheißungsvolle Geschichte des Volkes Israel als einen neuen Meilenstein (wie etwa Gen 5,1 ein solcher Meilenstein ist) einzugliedern. Das Matthäusevangelium braucht »Man muss die Tamar-, Rahab-, Rut- und Batseba- Geschichten gelesen. haben, um mit der Genealogie J es# etwas anfangen zu können.« plötzlich eine Botschaft: Die Frauen haben gemeinsam, dass sie mit ihrer Initiative und der Hilfe Gottes die Geschichte des Volkes Gottes entscheidend weitergebracht haben. 19 Damit kommt der für seine Jesusdarstellung den Hintergrund seiner Heiligen Schrift (die später in christlicher Rezeption »Altes Testament« genannt wird). Um sicher zu gehen, dass der Modell-Leser all das parat hat, fährt der Text mit einer Genealogie fort, die mit Fug und Recht als »Inhaltsverzeichnis des Alten Testaments« bezeichnet werden kann. All diese aufgeführten Personen erinnern die Geschichte des Volkes Gottes, und so spielen beispielsweise die Namen Abraham, Isaak und Jakob, Juda und ZNT 12 (6. Jg. 2003) Messias Jesus auf ungewöhnlichen Wegen 20 - und nicht allein durch die automatische, patrilineare Weitergabe des Lebens von Zeugung zu Zeugung zur Welt: Neben der Initiative der Frauen steht auch das unverfügbare und unplanbare, souveräne Eingreifen Gottes. Hat der Leser erst diesen Gedanken entwickelt, ist er bestens darauf vorbereitet, bei Maria ein Durchbrechen des stereotypen Musters (»X zeugte Y, Y zeugte Z, ... «, griech. egennesen) wahrzunehmen und darin eine 67 göttliche Intervention zu sehen (Passivum divinum: »aus der wurde gezeugt/ geboren«, griech. ex hes egennethe). Die Frauen stehen dafür, dass die Erwartungshaltungen und Planungen der Menschen (der Männer? ) immer wieder durchbrochen werden und allein Gottes Handeln die Lösung bringt. Gott ist und bleibt frei in seinem Handeln. Literarisch findet das seinen Niederschlag in einer »Strategie der Entautomatisierung der Heilsgeschichte«. 21 Sichtbar wird das für Leser, die die Abbreviatur der Genealogie des Matthäus-Evangeliums auflösen und den gesamtbiblischen Kontext einspielen. Das Markusevangelium für Leser des Matthäusevangeliums Das Matthäusevangelium endet mit der Aufforderung des auferstandenen Jesus an seine elf Jünger, alle Menschen zu lehren, was er ihnen geboten habe (Mt 28,20). Wenn einem Leser die Frage kommt, was der Inhalt dessen sei, was Jesus geboten habe, hat er zwei Möglichkeiten: Er kann im Matthäusevangelium selbst zurückblättern und die Worte Jesu nachlesen. Dann ist das Matthäusevangelium eine Endlosschleife, in der der Leser am Ende auf den Anfang bzw. das ganze Buch zurückverwiesen wird. 22 Die biblische Auslegung hat noch eine andere Deutemöglichkeit: Man kann mit der Lektüre des Markusevangeliums fortfahren, denn es ist ja das »Evangelium Jesu Christi, des Sohnes Gottes«. 23 Der Anfangsvers des Markusevangeliums weckt die begründete Vermutung, dass der folgende Text (auch) das enthält, was Jesus Christus gelehrt und geboten hat. Im Blickwinkel der biblischen Auslegung wirkt der Übergang von Mt 28,20 zu Mk 1,1 wie die Einladung, den Inhalt des in Mt 28,20 Gebotenen nicht nur im Matthäus-, sondern auch im folgenden Markusevangelium zu suchen. Der Begriff »Evangelium« ist dabei dem Leser des Markusevangeliums, der vorher das Matthäusevangelium gelesen hat, bereits als etwas vertraut, das Jesus verkündet hat. Laut der Summarien Mt 4,23-25 und 9,35, die die Bergpredigt und die damit eng zusammenhängenden Heilungswunder rahmen (»Wort und Tat«), verkündet Jesus »das Evangelium vom Reich (Gottes)«. »Evangelium« ist damit bereits vor2 4 Mk 1,1 als ein zu verkündender und verkündeter Inhalt bekannt. Es han- 68 delt sich um eine frohe Botschaft für die Armen (Mt 11,5 mit dem Verb euaggelizomai unter Rückgriff auf J es 40, 9; 52,7 und vor allem 61, 1), das Evangelium wird vor dem Beginn der Endzeit und ihrer Nöte allen Völkern verkündet werden (Mt 24,14) - und wo immer es verkündet wird, wird man an die unbekannte Frau denken, die Jesus in Betanien für sein Begräbnis im Voraus salbte (Mt 26,13). 25 Der Leser des Markusevangeliums, der das Matthäusevangelium kennt, assoziiert bereits in Mk 1,1 mit »Evangelium« den Inhalt der christlichen Verkündigung in enger Verbindung mit dem Reich Gottes. Bestätigt wird dies durch Mk 1,14-15 (s.u.). Die Verbindung von »Jesus Christus« und »Sohn Gottes« ist ebenfalls bekannt. Bei Matthäus sind es immer andere, die dieses Epitheton über Jesus aussagen: der Teufel bei der Versuchung (Mt 4,3.6), die Dämonen (8,29), die Jünger (14,33), Petrus beim Messiasbekenntnis (16,16)," der Hohepriester beim Verhör (26,63), die Spötter unter dem Kreuz (27,40.43); der Hauptmann und seine Männer (27,54 ). Gerade letzteres Bekenntnis, das nicht mehr durch ein Schweigegebot J esu verhüllt wird, hat dem Leser bereits gezeigt, dass es wahr ist: Jesus ist der Sohn Gottes. Dieses Bekenntnis ist jedoch permanentem Zweifel ausgesetzt noch am Ende des Matthäusevangeliums hatten einige Jünger Zweifel (Mt 28,17), der im Text nicht aufgelöst wird. Dieser Passus macht den Leser sensibel für die im folgenden Markusevangelium mehrfach begegnenden Szenen, in denen es den Jüngern schwer fällt, das Tun und die Botschaft J esu nachzuvollziehen 27 somit werden auch eigene Identifikationen ermöglicht. Obwohl doch die Lektüre des gesamten Matthäusevangeliums hinter ihm liegt, könnte dem Leser der Zweifel an der Person J esu offen bleiben (Mt 28, 17) - und daher beginnt ja die Geschichte Jesu Christi noch einmal von Anfang an (archein Mk 1,1). 1 Anfang des Evangeliums J esu Christi, des Sohnes Gottes: 2 Wie geschrieben steht in dem Propheten Jesaja: »Siehe, ich sende meinen Boten vor dir her; der soll den Weg für dich bahnen. 3 Eine Stimme ruft in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn! Ebnet ihm die Straßen! «, 4 so trat Johannes der Täufer in der Wüste auf ... Was nun in Mk 1,2-3 folgt, wirkt auf den Leser ZNT 12 (6.Jg. 2003) Thomas Hieke Neue Horizonte. Biblische Auslegung als Weg zu ungewöhnlichen Perspektiven des Matthäusevangeliums wie die Frage eines Lehrers, der mit einem Rätselspruch den Stoff der vergangenen Lektionen abfragt: Von wem ist hier die Rede? Dazu werden unter Rückgriff auf »uralte Prophetie« 28 Texte aus der Heiligen Schrift auf eine Vorläufergestalt appliziert, die fest im biblischen Kontext verankert wird - und damit auch das folgende Geschehen, das somit in das Licht des göttlichen Heilsplans getaucht wird. Weiterhin wird die Aufmerksamkeit des Lesers durch das Rätsel gefordert: Der Leser des Matthäusevangeliums hat ein deja-vu-Erlebnis und weiß die Antwort: So, wie es in Mk 1,2 heißt, hat] esus selbst in Mt 11,10 über Johannes den Täufer gesprochen. Durch diesen Rückverweis ist die Identifizierung mit Johannes dem Täufer gewährleistet und wird durch das Zitat aus Jes 40,3LXX, mit dem Johannes auch in Mt 3,3 verbunden wird, bestätigt. Die Fortsetzung in Mk 1,4, »so trat Johannes der Täufer auf«, ist dann keine Überraschung mehr. Bei der Taufe ]esu ist das »Problem«, dass der Sohn Gottes selbst sich bei Johannes taufen lässt, bereits durch die Darstellung im Matthäusevangelium »gelöst« (Mt 3,14-15), so dass hier die Frage nicht mehr aufkommt. Auch die Versuchung Jesu bei Mk 1,12-13 klingt für einen Leser des Matthäusevangeliums wie eine erinnernde Abbreviatur des in Mt 4,1-11 geschilderten Ereignisses. Mk 1,14a erwähnt die Gefangennahme des Täufers, dessen Ende der Leser des Matthäusevangeliums bereits kennt. Er weiß hier schon, dass Johannes enthauptet wird. Es überrascht ihn nicht, dass der Täufer als Vorläufer so rasch die Szene verlässt, um sie für das Auftreten Jesu frei zu machen. In Mk 6,14-16 wird Johannes bereits als tot vorausgesetzt auch kein Problem für einen Leser des Matthäusevangeliums. Für ihn ist der in Mk 6, 17-29 nachgeholte Bericht über das Ende des Johannes gleichsam eine Erinnerung (jedoch eine notwendige Aufklärung für die, die nur das Markusevangelium kennen). Mk 1,14 Nachdem Johannes (ins Gefängnis) überliefert worden war, ging Jesus wieder nach Galiläa; er verkündete das Evangelium Gottes 15 und sprach: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um, und glaubt an das Evangelium! Das programmatische Wort, mit dem Jesus seine Verkündigung im Markusevangelium beginnt ZNT 12 (6. Jg. 2003) (Mk 1,14-15), ist dominiert von den zentralen Stichworten »Evangelium« und »Reich Gottes« diese Verbindung aber kennt der Leser des Matthäusevangeliums bereits aus Mt 4,23 und 9,35, den Rahmenversen der Bergpredigt und der Heilungswunder (s.o.). Die Verkündigung Jesu und der Inhalt der Glaubensbotschaft werden in den Chiffren »Evangelium« und »Reich Gottes« zusammengefasst. Was aber ist der Inhalt dieser »Abbreviaturen«? Kennt man nur das Markusevangelium, bleibt das zunächst eine offene Frage, die im Verlauf des Textes durch die Schilderung von J esu Predigt, seinem heilenden Handeln, von Passion, Sterben und Auferstehen beantwortet wird. Für den Leser des Matthäusevangeliums ist dies jedoch schon bei der Lektüre von Mk 1,14-15 klar: Bei den Stichworten »Evangelium« und »Reich Gottes« klingt bereits das gesamte Matthäusevangelium (und darin vor allem die Bergpredigt und die Heilungen, also Mt 4-9) und dessen Botschaft nach. Für den Leser des Matthäusevangeliums ist der programmatische Satz Mk 1,14-15 eine Bestätigung und Affirmation des bereits Gelesenen. In dieser Weise könnte man fortfahren, die Leseperspektive dessen zu analysieren, der das Matthäusevangelium im Kopf hat und mit diesem Wissen an das Markusevangelium herangeht. 29 Dieses Vorhaben würde sicher zu einer Art »Kommentar« anwachsen und kann hier nicht weiter verfolgt werden. Die knappe Skizze zu Mk 1,1-15, die gewiss noch vertieft werden könnte, sollte aber gezeigt haben, dass dieses Unterfangen durchaus lohnend ist und neue Horizonte öffnet. Es läuft der üblichen Wahrnehmung zuwider: Aus der Sicht der Textentstehung gibt es an der »Markuspriorität« nichts zu rütteln, d.h. entstehungsgeschichtlich ist das Markusevangelium das älteste der synoptischen Evangelien. Auch in der gottesdienstlichen Verkündigung, die von der Fragmentierung in Lesejahre und Perikopen gekennzeichnet ist, wird das Markusevangelium so nie wahrgenommen. Das sind freilich keine Argumente gegen die Reflexion der Lektüre des Markusevangeliums aus der Sicht des Matthäusevangeliums. Ganz abwegig ist dieser Ansatz auch deswegen nicht, weil diese Vorgehensweise in einem anderen Literaturbereich häufig kaum reflektiert als selbstverständlich angesehen wird: bei der Identifizie- 69 rung und Lektüre von Fragmenten christlicher Apokryphen. Die Rekonstruktion nur fragmentarisch erhaltener apokrypher Texte bzw. ihr Verständnis ist z.T. nur aufgrund von Einträgen aus kanonischen Texten möglich. 30 Hier sind von leserorientierten Zugängen wie der hier skizzierten biblischen Auslegung sowohl ein höheres Reflexionsniveau als auch neue Perspektiven zu erwarten.' 1 Was predigt Paulus in seiner Mietwohnung am Ende der Apostelgeschichte? Den Römerbrief! Noch zwei Beispiele, von denen das zweite bereits monographisch ausgearbeitet wurde, seien angedeutet. Die biblische Auslegung kann besonders bei Übergängen und Endpositionen neue Horizonte erschließen. Das gilt auch für den »offenen Schluss« der Apostelgeschichte (Apg 28,16-31 ). 28 ... Treffend hat der Heilige Geist durch den Propheten Jesaja zu euren Vätern gesagt: 26 Geh zu diesem Volk und sag: Hören sollt ihr, hören, aber nicht verstehen; sehen sollt ihr, sehen, aber nicht erkennen. 27 Denn das Herz dieses Volkes ist hart geworden und mit ihren Ohren hören sie nur schwer und ihre Augen halten sie geschlossen, damit sie mit ihren Augen nicht sehen und mit ihren Ohren nicht hören, damit sie mit ihrem Herzen nicht zur Einsicht kommen, damit sie sich nicht bekehren - und ich werde sie heilen. 28 Darum sollt ihr nun wissen: Den Heiden ist dieses Heil Gottes gesandt worden. Und sie werden hören! 29 ... 30 Er blieb zwei volle Jahre in seiner Mietwohnung und empfing alle, die zu ihm kamen. 31 Er verkündete das Reich Gottes und trug ungehindert und mit allem Freimut die Lehre über Jesus Christus, den Herrn, vor. In dem Zitat des Verstockungsauftrags von Jes 6, 9-10 32 laufen bestimmte Linien zusammen, denn in allen vier vorausgehenden Evangelien taucht dieses Zitat auf: bei den Synoptikern als Begründung für die Rede in Gleichnissen (Mt 13,14-15; Mk 4, 11-12; Lk 8, 10), bei Johannes in einer Rede Jesu darüber, dass »die Juden« nicht an ihn glauben (Joh 12,40). Damit endet die Apostelgeschichte mit der komplexen Problematik um Christen aus Juden und Heiden und das Verhältnis zwischen Juden und Christen. Eigentlich schien diese grundlegende Frage schon auf dem Aposteltreffen in Apg 15 behandelt und gelöst sie ist aber zentrales Thema des folgenden Römerbriefes. 70 Dies gilt auch und besonders, wenn anzunehmen ist, dass der Indikativ Futur im letzten Satz des Verstockungsauftrags in der Septuagintafassung eine Wendung zum Heil (»- und ich werde sie [dennoch] heilen«; so auch Mt 13,15; Joh 12,40) darstellt, die konzeptuell in die Apostelgeschichte übernommen wird." Der lukanische Paulus zeigt damit am Ende der Apostelgeschichte einen wenn auch verborgenen - Heilsweg Gottes für die Juden auf. Diese Tendenz entspricht ganz dem Anliegen des historischen Paulus im Römerbrief, wo er um die Rettung »Israels« ringt. Die offene Frage am Ende der Apostelgeschichte ist die nach dem Inhalt dessen, was Paulus in seiner Mietwohnung als »Reich Gottes« und »Lehre über Jesus Christus mit Freimut« verkündete. Aus der Leserperspektive der biblischen Auslegung gehört nun nicht viel Phantasie dazu um anzunehmen, dass dieser Inhalt mit dem identisch ist, was Paulus (vorher) an die Christen in Rom in einem Brief schrieb." Insofern »endet« die Apostelgeschichte eigentlich nicht, sondern lädt direkt zur Lektüre des folgenden Römerbriefes ein. Vom Schluss der Apostelgeschichte her stößt der Bibelleser nicht unvorbereitet auf die Grundproblematik des Römerbriefes. Paulus sieht sich zum Apostel der Heiden ausersehen (Röm 1,5), und so stellt sich für ihn die Frage nach dem Heil: »Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht: Es ist eine Kraft Gottes, die jeden rettet, der glaubt, zuerst den Juden, aber ebenso den Griechen« (Röm 1,16). Es sind gerade diese Wendung »zuerst den Juden« und damit die Frage nach der Gültigkeit »des Gesetzes«, die für Paulus Anlass zu umfangreichen und tiefgehenden Ausführungen werden. Aus der Perspektive der biblischen Auslegung beginnt diese Fragestellung aber nicht im Römerbrief, sondern schon in den Evangelien, etwa an den Punkten, wo das Verstockungszitat aus J es 6, 9-10 auftaucht, um die Problematik des Verstehens der Rede vom Reich Gottes und damit der Grundbotschaft J esu sowie der Notwendigkeit der Entscheidung für ihn zu thematisieren." Die Linien werden am Ende der Apostelgeschichte gebündelt und auf den Römerbrief hingelenkt. All diese Beobachtungen notieren nicht Intentionen irgendwelcher Autoren oder Kompositoren des Kanons, sondern erfolgen deutlich auf der Ebene des Lesers, dem die christliche Bibel vor Augen steht und der offen ist für »die gewaltige Synoptik der Bibel«.' 6 ZNT 12 (6. Jg. 2003) Thomas Hiel<e Neue Horizonte. Biblische Auslegung als Weg zu ungewöhnlichen Perspektiven Offb 22,6-21 als Schlussstein der christlichen Bibel Der Schlussabschnitt der christlichen Bibel, Offb 22,6-21, findet in Beiträgen und Kommentaren relativ wenig Beachtung. Er gilt meist »nur« als Epilog der Apokalypse des Johannes. Unsicherheit besteht u.a. in der Frage, wer der jeweilige die Auffüllung aus einem anderen Reservoir. Als ein Beispiel sei die Aussage J esu » Ich bin der Wurzelspross« in 22,16 genannt: Ohne den Hintergrund vonJes 11,1.10 und den damit verknüpften messianischen Kontext ist dieser Satz banal oder unverständlich. Implementiert man aber die messianische Erwartung von Jes 11, die ja auch an anderen Stellen der christli- Sprecher der Zeilen ist. Dazu kann eine Reflexion des Lektürevorgangs in einem synchronen Ansatz größere Klarheit schaffen. 37 Man stellt fest, dass die Sprecherrolle mitunter wie bei einem Rätsel zunächst offen bleibt, dass dann aber ab einem bestimmten Punkt der Leser Gewissheit darüber erhält, dass hier Christus spricht. Durch den markanten Satz »Siehe, ich » All diese Beobachtungen· notieren nicht.Intentionen irgendwelcher Autoren oder Kompositoren des Kanons, sondern erfolgen deu#ich auf derEbene des Lesers, dem die christliche Bibel vor Augen chen Bibel rezipiert wird (vgl. Sir 47,22; Röm 15,12; Offb 5,5), in Offb 22,16, wird der Satz zu einer christologischen Spitzenaussage. Sodann sind zwei auffällige Motive in 22, 14 .19 zu nennen, deren anderweitige Bezeugung von ihrem Ort her signifikant ist: Der Baum des Lebens ist zunächst ein steht und. der offen ist für >die gewaltige Synoptik der Bibel«<. komme bald«, den nur der auferstandene und wiederkommende Jesus Christus sprechen kann, wird der Sprecher eindeutig identifiziert. Dem Leser bleibt dann nichts anderes übrig, als zum Ausgangspunkt seiner Vermutung zurückzukehren, diese zu revidieren und den Text erneut unter dem Eindruck des identifizierten Sprechers zu lesen. So ist beispielsweise in Offb 22,6 durchaus unklar, wer hier spricht. Eine erste Vermutung wäre der angelus interpres von 21,9, doch der Satz »Siehe, ich komme bald« in 22,7a macht deutlich, dass Christus spricht. 22,6 muss neu gelesen werden. Ebenso ist es bei 22,10-12: In 10a steht eine neue Redeeinleitung ohne Nennung des Sprechers. Vermutet man wieder, dass der vorherige Sprecher Subjekt ist, also der Engel, so wird man in 12 noch einmal durch den Satz »Siehe, ich komme bald« belehrt, dass ab 22,10 erneut Christus spricht. Durch Ernstnehmen der Sprecheridentifizierungen durch den leitwortartigen Satz und der Redeeinleitungen lassen sich die verschiedenen Sprecher in Offb 22,6-21 klar zuordnen wenngleich man mitunter zu mehrmaligem Lesen gezwungen ist. Der Text Offb 22,6-21 zwingt ferner zum Bibellesen. Zahlreiche Andeutungen verweisen auf Texte des Neuen und des Alten Testaments zurück, wobei das Einspielen der angespielten Texte für die Sinnkonstituierung notwendig ist. Offb 22,6-21 spricht in Abbreviatur und verlangt ZNT 12 (6. Jg. 2003) Rückverweis auf Offb 2,7, aber auch dort kommt der Text nicht ohne den Bezug auf den Anfang der christlichen Bibel im Buch Genesis (Gen 2,9; 3,22.24) aus. Das zweite Motiv ist die H eilige Stadt: Sie ist das himmlische Jerusalem der großartigen Schlussvision der Offb (21,9-22,5). Beide Motive werden in 22,14 und 19 verkoppelt. Dadurch entsteht in der Leserperspektive eine literarische Klammer von Gen bis Offb, vom ersten bis zum letzten Buch der christlichen Bibel. Die Motive »Baum des Lebens« und »Heilige Stadt« markieren den Anfang und das Ende von Schriften, die besondere göttliche Autorität und göttlichen Schutz genießen. Das verdeutlicht die eng damit verbundene Textsicherungsformel in 22,18-19: Das Wegnehmen von oder Hinzufügen zu dem gesicherten Bestand (vgl. Dtn 4,2; 13,1; Koh 3, 14; ferner J er 26,2 / LXX: 33,2; Spr 30,6) stellt der Sprecher unter die strenge Strafe des Ausschlusses vom Heil. Zusätzliches Gewicht erhält diese Sanktion durch die Identität des Sprechers: Es ist Jesus Christus selbst, denn die Einleitung in 22,18a »Ich bezeuge jedem« korrespondiert deutlich dem Satz in 20a »Er, der dies bezeugt, spricht: Ja, ich komme bald«. Letzteren Satz kann nur Christus sprechen, und somit ist er es auch, der »dies bezeugt«. Damit hat die Textsicherungsformel durch ihren Sprecher Jesus Christus ungeheueres Gewicht und wirkt als Absicherung des Wortbestandes der Offenbarung des 71 Johannes reichlich überdimensioniert. Aus der Leserperspektive lässt sich allerdings die Textsicherungsformel auch auf etwas anderes beziehen als nur das Buch Offb: In den wenigen Versen von Offb 22,6-21 begegnet mehrfach die Wendung »diese Worte« (22,6) bzw. »die Worte der Prophetie dieses Buches« (22,7.9.10.18.19). Bei näherer ehe Bibel damit zu identifizieren (ohne dass damit deren Umfang und Abfolge im Sinne des »Kanon« in allen Details fixiert wäre). Das Heil Gottes, »die Gnade des Herrn Jesus« kann nun wirklich mit allen sein, die sich an die Worte der Prophetie dieses Buches halten. Unter diesen Beobachtungen, die längst die Betrachtung der kontextuellen Einbettung dieser Wendung drängt sich der Eindruck auf, dass es nicht nur um die Apokalypse des J ohannes geht, sondern um die gesamte verschriftete göttliche Offenbarung, so dass sich »die Worte der Prophetie dieses Buches« durchaus auf die christliche Bibel beziehen las- »Durch die Beteiligungje neuer Leserinnen und Leser an derSinnkonstituierung entstehen durch deren neue Begrenztheit historischer Autoren und Kompositoren übersteigen, erweist sich Offb 22,6-21 als Schlussstein der christlichen Bibel. Hier wird das Konzept des universalen Heilswillens Gottes formuliert, der für alle gilt, die sich an die Worte der Prophetie dieses Buches halten, wobei »dieses Buch« die gesamte Kontex.te immer wieder andere I nterpretationsmoglichkeiten, die es am. Text zu verifizieren gilt.« sen. Die oben erwähnte literarische Klammer durch die Motive »Baum des Lebens« (Gen 2) und »Heilige Stadt« (Offb 21) unterstützt diese Leseweise erheblich. Auch die Seligpreisung dessen, der »die Worte der Prophetie dieses Buches einhält« (griech. tereö) in 22,7 spricht für diese Deutung, denn es ist nicht einzusehen, dass allein Offb alle göttlichen Weisungen beinhalte, deren Einhaltung zur Seligkeit führt. Vielmehr verweist die Verwendung des Wortes tereö in Verbindung mit Worten oder Geboten auf zahlreiche andere Stellen in der christlichen Bibel zurück. Schließlich stellt sich der Engel in 22,9 mit dem Seher Johannes (»du«), allen Propheten und allen, die die Worte dieses Buches halten, auf eine Stufe: Alle sind Mitknechte (griech. syndouloi) vor Gott. Um in diesen Kreis zu gelangen, muss man die Worte dieses Buches einhalten die Offenbarung Gottes aber liegt, wie 22,10 betont, schriftlich und unversiegelt vor, so dass durch das Medium »Buch« der Kreis der möglichen Teilnehmerinnen und Teilnehmer ins Universale steigt. Die voraus liegende christliche Bibel umfasst, deren Lektüre wiederum für das angemessene Verstehen von Offb 22,6-21 unabdingbar ist. Ermutigung zum Bibellesen An vier Beispielen wurde angedeutet, welche neuen Horizonte »biblische Auslegung« am Neuen Testament aufzeigen kann. Vieles müsste noch weiter ausgearbeitet und vertieft werden, wobei aber die Analyse aufgrund der Kontextvernetzung und der Notwendigkeit, im Grunde immer »alles« mit im Blick zu haben, leicht die Ausmaße eines Zeitschriftenbeitrags übersteigt. Zugleich sei betont, dass der Vorgang der biblischen Auslegung prinzipiell nie abgeschlossen ist. Durch die Beteiligung je neuer Leserinnen und Leser an der Sinnkonstituierung entstehen durch deren neue Kontexte immer wieder andere Interpretationsmöglichkeiten, die es am Text zu verifizieren gilt. Auch das Ausloten textimmanenter Strukturen und Strategien Schriftform übersteigt alle Grenzen der Verkündigung von Raum und Zeit. »Dieses Buch« wird zum Schlüssel » Man kann nicht alles mit (»Modell-Leser«) ist nie zu Ende, da andere Konstellationen und Fragestellungen je neuer konkreter Leserinnen einem Text beweisen oder machen,« und zum Weg der Gemeinschaft mit Gott so ist es kaum mehr angemessen, darin »nur« die Offenbarung des Johannes zu sehen, sondern es liegt näher, die vom Baum des Lebens bis zur Heiligen Stadt reichende christli- 72 und Leser mitunter auch neue, im Text verankerte Signale zu Tage fördern. Diese Gedanken sind eine Ermutigung zum Bibellesen und Bibelverstehen. Eine solche Bibellektüre ist auch ohne vertiefte historisch-kritische ZNT 12 (6. Jg. 2003) Thomas Hieke Neue Horizonte. Biblische Auslegung als Weg zu ungewöhnlichen Perspektiven Vorkenntnisse möglich. 38 Schließlich geht es um Sinnvermutungen und Interpretationen von Leserinnen und Lesern, die ihre jeweilige Perspektive in den Rezeptionsvorgang und die Sinnkonstituierung einbringen. Voraussetzung ist dabei, dass man nicht den Anspruch erhebt, den »einzigen wahren Sinn« erheben zu wollen oder herausfinden zu wollen, »was der Autor damit sagen wollte«. Man kann vielmehr zunächst beobachten und reflektieren, was Leserinnen und Leser in einem Text sehen und wie der Text seinen Modell-Leser (jetzt als textimmanentes Konzept) durch Einforderung von Vorwissen und der Kenntnis anderer Texte formt. Aufgabe der wissenschaftlichen biblischen Auslegung ist es, derartige Vorgänge kritisch-reflektierend zu begleiten, Interpretationsvorschläge zu sammeln und gegeneinander abzuwägen. Ausklang: Die Grenzen der Interpretation Kann man mit Goethe und der Bibel alles beweisen, wie meine geschätzte Deutschlehrerin mit Augenzwinkern zu sagen pflegte? Die biblische Auslegung, wie sie hier skizziert wird, könnte dem Verdacht ausgesetzt sein, hier breche sich eine ungezügelte Entdeckerlust Bahn, die mit einem Text »alles machen« könne. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass es einerseits durchaus Freude bereiten kann, am Neuen Testament immer wieder neue Facetten und Sinnmöglichkeiten zu entdecken warum soll Bibellektüre keine Freude bereiten? Wenn aber andererseits »Entdeckerfreude« negativ (im Sinne von Willkür) gemeint ist, muss abschließend gezeigt werden, dass biblische Auslegung Grenzen kennt. Man kann nicht alles mit einem Text beweisen oder machen. Die Diktion ist an sich schon verräterisch: Wer etwas mit einem Text beweisen oder »machen« will, will ihn gar nicht auslegen, sondern gebrauchen, schlimmstenfalls missbrauchen. Gegen seinen Gebrauch (und Missbrauch) kann sich ein Text nicht wehren. Für die interessengeleitete »Verwendung« biblischer Texte zum »Beweis« bestimmter Auffassungen lassen sich zahllose Bei- ZNT 12 (6. Jg. 2003) spiele in Vergangenheit und Gegenwart anführen. In diesen Fällen geht es aber nie um Auslegung (Interpretation), sondern um Gebrauch oder Missbrauch.39 Dem Text wird dann kein eigenes Recht zugestanden, sondern er ist Mittel zum Zweck, Argumentationsmaterial für bestimmte Interessen. Davon ist »Auslegung« grundsätzlich zu unterscheiden. Die Auslegung oder Interpretation gesteht dem Text ein eigenes Recht zu und suchtfast wie bei einer menschlichen Person, die unbedingt zu respektieren ist nach den ureigenen Aussagen dieses Textes, die er in Kooperation mit seinem Kontext und der Welt der Leserinnen und Leser treffen kann. Dieser Respekt vor dem Text gebietet es, Interpretationsvorschläge am Text selbst zu verifizieren.4° Deckt der Text (an welchen Stellen, mit welchen Signalen, Strukturen, etc.) die vorgeschlagene Lektüre noch? Steht die Interpretation im Einklang mit dem Kontext, oder wird durch Isolierung (Perikopisierung) der Text nur »einseitig« wahrgenommen? 41 Ist die Grenze zum Gebrauch überschritten, weil die Interessen der Leser zu dominant wurden? Biblische Auslegung hat hier ein großes Aufgabenfeld der Prüfung und Reflexion. Ein weiteres Kriterium, das Grenzen der Interpretation aufzeigt, ist die Auslegungsgemeinschaft. Biblische Auslegung ist nicht Sache eines Einzelnen, der in Aufbietung seines gesamten Wissens und seiner subjektiven Rationalität »den« Sinn des Textes »herausfindet« und ihn in einem Kommentar oder einer Lehrentscheidung »festlegt«, sondern ein offener Prozess, der seine Kontrolle durch den gegenseitigen Austausch von Lektürevorgängen und Sinnkonstituierungen erfährt. Biblische Auslegung lebt vom Diskurs und entspricht damit dem Paradigma der Wissenschaftlichkeit von Verifizierung und Falsifizierung im gegenseitigen, öffentlichen und nachvollziehbaren Austausch.42 Die Auslegungsgemeinschaften können dabei sehr unterschiedlich strukturiert sein (ein Bibelkreis, ein akademisches Seminar, ein Kongress von Bibelwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, eine Bischofskonferenz, eine 73 Synode, eine christliche Konfession usw.). Im Austausch der Interpretationsvorschläge wird sofern keine sekundären Gebrauchsinteressen hereinspielen deutlich werden, welche Sinnkonstituierungen noch textgemäß (und allgemein nachvollziehbar) sind und welche nicht. Die Auslegungsgemeinschaft als community of faith and practice bestimmt letztlich, ob und in wie weit sich welche Auslegungen (normativ) auf die praktische Lebensgestaltung auswirken. Die biblische Auslegung zielt damit auch nicht primär auf Applikation und Anwendung der Texte,43 sondern zuerst auf ihr Verstehen im biblischen Kontext, auf die Reflexion möglicher Lesevorgänge und Sinnkonstituierungen der mehrdimensionalen Texte. Dazu gibt es methodisch wie inhaltlich stets neue Horizonte zu beschreiben. Anmerkungen ' Eine umfassende Aufarbeitung der Diskussion nimmt monographische Ausmaße an. Es seien nur einige neuere Sammelbände genannt, z.B. F.-L. Hossfeld, (Hrsg.), Wieviel Systematik erlaubt die Schrift? Auf der Suche nach einer gesamtbiblischen Theologie (QD 185), Freiburg/ Br. 2001; L.M. McDonald/ JA. Sanders (Eds.), The Canon Debate, Peabody, MA 2002; H.J. de Jonge / J.M. Auwers (Eds.), The Biblical Canons (BEThL 163), Leuven 2003. 2 Vgl. dazu grundlegend und maßgeblich G. Steins, Die »Bindung Isaaks« im Kanon (Gen 22). Grundlagen und Programm einer kanonisch-intertextuellen Lektüre (HBS 20), Freiburg/ Br. 1999, 99 u.ö., sowie seinen Beitrag im Sammelband »The Biblical Canons« (n.l). 3 Vgl. dazu die grundlegende Studie von P. Brandt, Endgestalten des Kanons. Das Arrangement der Schriften Israels in der jüdischen und christlichen Bibel (BBB 131), Berlin 2001. 4 Ist es selbstverständlich, dass neutestamentliche Exegese immer von der neuesten Auflage des »Nestle-Aland« ausgeht? Suggeriert etwa eine solche Selbstverständlichkeit, hier hätte man »den Urtext« des Neuen Testaments in Reinform und könnte gar eine Jahrhunderte lange Textgeschichte überspringen? Ist man sich bewusst, dass »Nestle-Aland« ein Produkt des 20. Jahrhunderts ist, ein »Codex«, wie er vorher so nie bestanden hat? Damit soll in keiner Weise die herausragende Leistung und der gewaltige Fortschritt einer kritischen Ausgabe des Neuen Testaments in Frage gestellt werden - und es ist nur vernünftig, von dieser Ausgabe her die wissenschaftliche Exegese zu beginnen. Es soll nur in Erinnerung gerufen werden, dass die Entscheidung für eine bestimmte Textgrundlage eine bewusste ist und reflektiert werden sollte. 5 Problematisch erscheinen Mischformen in den Übersetzungen, wenn etwa die katholische Einheitsübersetzung eine Zusammenstellung aus der Übersetzung des maso- 74 retischen Texts (MT) in Septuaginta-Abfolge mit eingestreuten, nur in der Septuaginta enthaltenen Texten ist, wobei die vom Konzil von Trient 1546 an der Vulgata festgelegte Auswahl der kanonischen Bücher zugrunde gelegt wurde. 6 Vgl. die Anwendung am Beispiel der Genealogien des Buches Genesis in T. Hieke, Die Genealogien der Genesis (HBS 39), Freiburg/ Br. 2003. Methodische Darlegung und Textarbeit werden in folgender Studie zu Offb 22,6-21 verbunden: T. Hieke/ T. Nicklas, »Die Worte der Prophetie dieses Buches« Offb 22,6-21 als Schlussstein der christlichen Bibel gelesen (Biblisch- Theologische Studien 62), Neukirchen-Vluyn 2003. 7 Vgl. zu dieser Definition von Text K. Ehlich, Text und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis nach Überlieferung, in: A. Assmann/ J. Assmann/ C. Hardmeier (Hrsg.), Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation, München 1983, 24-43: 32-39. • Vgl. u.a. T. Veijola, Text, Wissenschaft und Glaube. Überlegungen eines Alttestamentlers zur Lösung des Grundproblems der biblischen Hermeneutik, Jahrbuch für Biblische Theologie 15 (2000) 313-339: 330; U.H.J. Körtner, Spiritualität ohne Exegese? Pneumatologische Erwägungen zur biblischen Hermeneutik, Amt und Gemeinde 53 (2002) 41-54: 51. 9 Vgl. Steins, Bindung, 85-94; R. Scoralick, Gottes Güte und Gottes Zorn. Die Gottesprädikationen in Exodus 34,6f. und ihre intertextuellen Beziehungen zum Zwölfprophetenbuch (HBS 33), Freiburg/ Br. 2002. 10 Biblische Auslegung arbeitet schon von ihrer Zielvorgabe, dem Verstehen biblischer Texte im Kontext der Bibel, her vornehmlich intertextuell: Sie beschreibt die Text-Text-Relationen, die zwischen dem Untersuchungstext (Hypertext) und den bezogenen Texten (Hypotexen) bestehen und wertet die beobachteten Analogien interpretatorisch aus: Welchen Einfluss haben die Hypotexte auf den Hypertext? Welches neue Gesamtbild ergibt sich? Wie werden die Hypotexte aufgrund ihrer Rezeption in einem anderen (»neuen«) Text anders bzw. neu gelesen? 11 Vgl. U. Eco, Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur, München 1999, 18-19. Ein solcher Modell-Leser besitzt nach U. Eco, Grenzen der Interpretation, München 1992, 148, »die Art von Kompetenz, die ein bestimmter Text postuliert, um ökonomisch interpretiert zu werden.« Bei H. Link, Rezeptionsforschung. Eine Einführung in Methoden und Probleme, Stuttgart/ Berlin/ Köln 1980, 86-89, begegnet der problematischere Begriff »idealer Leser«. 12 Daher ist »er« nicht »maskulin«. Eine Differenzierung in »Leser/ in« wäre irreführend. 1' Eco, Im Wald, 122-123. 14 Zur Begründung der Übersetzung »Buch der Geschichte« vgl. T. Hieke, BIBLOS GENESEOS. Mt 1,1 vom Buch Genesis her gelesen, in: H.J. De Jonge/ J.-M. Auwers (Eds.), The Biblical Canons (BEThL 163), Leuven 2003, 635-649. 15 Diese Beobachtung impliziert die Entscheidung für »die griechische christliche Bibel« als den privilegierten Kontextraum. Vgl. die Option für den sog. »Septuaginta-Kanon« bei Hieke/ Nicklas, Worte, 113-124. 16 Die Septuaginta ist in Gen 5,la wörtlich so zu übersetzen: »Dies ist das Buch der Entstehung (oder: Geschich- ZNT 12 (6. Jg. 2003) Thomas Hieke Neue Horizonte. Biblische Auslegung als Weg zu ungewöhnlichen Perspel<tiven te) der Menschen (oder: Menschheit) ... «. An Stelle von »Adam« im masoretischen Text steht in der Septuaginta der Genitiv Plural anthropon, der wohl am besten mit »Menschheit« zu übersetzen ist. 17 Der Rückverweis auf Abraham führt auch in die so genannte »Urgeschichte«, also vor Gen 12 zurück, da Abraham eng in das gesamte genealogische System der Genesis eingebunden ist. Auch die Wendung biblos geneseos in Mt 1,1 verweist auf Gen 5,1 und auf Gen 2,4 LXX zurück. 18 Vgl. dazu weiterführend den Exkurs über die Frauen in der Genealogie J esu bei Hieke, Genealogien. 19 Vgl. u.a. B. Teuwsen, Die Frauen in der toledot/ genealogie des Evangeliums nach Matthäus (Mt 1,1-25), Wort und Antwort 42 (2001) 111-114: 112-113. 20 Vgl. H. Frankemölle, Matthäuskommentar 1, Düsseldorf 1 1999, 142. 21 R. Oberforcher, Die jüdische Wurzel des Messias Jesus aus Nazaret. Die Genealogien Jesu im biblischen Horizont, in: M. Öhler, (Hrsg.), Alttestamentliche Gestalten im Neuen Testament, Darmstadt 1999, 5-26: 20. 22 U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 26-28) (EKK I/ 4), Düsseldorf und Zürich/ Neukirchen-Vluyn 2002, 455, nennt das im Anschluss an Maises Mayordomo-Marin eine >»Selbstkanonisierung< in nuce«: Das matthäische Buch enthalte die Gebote J esu, welche als Evangelium vom Reich allen Völkern zu verkündigen seien. Luz sieht hier einen Hinweis auf dem Weg zum neutestamentlichen Kanon. 23 Grammatikalisch kann der Genitiv I esou Christau sowohl als Evangelium des Jesus Christus als auch als Evangelium über/ von Jesus Christus interpretiert werden. In beiden Fällen ist der Anschluss an Mt 28 sinnvoll. - Die textkritisch unsichere Wendung hyiou theou, »Sohn Gottes«, wird hier als Bestandteil des auszulegenden Textes angesehen. 24 Dieses »vor« ist nicht zeirlich-textgenetisch aufzufassen, sondern bezieht sich auf die biblische Anordnung der Evangelien. 25 Ein praktisches Arbeitswerkzeug, das neben den Belegen im Kontext auch die synoptischen Parallelen liefert und so unter diachronem, textgenetischen Aspekt - Rezeptions- und Redaktionsprozesse zeigt, aber auch unter synchronem, »gesamtbiblischen« Aspekt den Blick für intersynoptische Lektürevorgänge schärft, ist die »Synoptische Konkordanz«: P. Hoffmann/ T. Hieke / U. Bauer, Synoptic Concordance, 4 Bände, Berlin/ New York 1999-2000. 26 Ferner die göttliche Stimme aus der Wolke bei der Verklärung: »mein geliebter Sohn«, Mt 17,5. 27 Vgl. dazu u.a. K. Scho! tissek, »Augen habt ihr und seht nicht und Ohren habt ihr und hört nicht? « (Mk 8,18). Lernprozesse der Jünger Jesu im Markusevangelium, in: C. Niemand (Hrsg.), Forschungen zum Neuen Testament und seiner Umwelt. Festschrift für Albert Fuchs (Linzer philosophisch-theologische Beiträge 7), Frankfurt am Main 2002, 191-222. 28 Der erwähnte Prophet Jesaja steht hier als allgemeine Chiffre für »uralte Prophetie«. Da bedeutet es für die Lektüre kein großes Problem, dass Mk 1,2 eigentlich ein Mischzitat aus Mal 3,1 und Ex 23,20 ist und erst in Mk 1,3 aus Jes 40,3LXX zitiert wird. 29 Diese Leseweise steht im programmatischen Gegensatz zum Anliegen von B. van Iersel, Markuskommentar, ZNT 12 (6. Jg. 2003) Düsseldorf 1993, 60, der bewusst das Markusevangelium ohne Vorwissen aus dem Matthäusevangelium liest. Eine solche Perspektive ist ebenfalls begründet und legitim, vor allem, da sie am Anfang des Kommentars klar herausgestellt wird. Methodisch hat der hier skizzierte leserorientierte und textzentrierte Lektüreansatz viel mit dem Konzept B. van Iersels (vgl. dort S. 55-60) gememsam. 30 Dies zeigt am Beispiel des sog. »Petrusevangeliums« T. Nicklas, Ein »neutestamentliches Apokryphon«? Zum umstrittenen Kanonbezug des sog. »Petrusevangeliums«, VigChr 56 (2002) 260-272. 31 Ich danke meinem Kollegen T. Nicklas, Regensburg, für die Einsichtnahme in sein Habilitationsprojekt mit dem Arbeitstitel »Christliche Apokryphen: Praxis eines hermeneutischen und methodischen Programms am Beispiel des sog. ,Egerton-Evangeliums«<. 32 Vgl. M. Karrer, »Und ich werde sie heilen«. Das Verstockungsmotiv aus Jes 6,9f. in Apg 28,26f., in: M. Karrer / W. Kraus/ 0. Merk (Hrsg.), Kirche und Volk Gottes, FS J. Roloff, Neukirchen-Vluyn 2000, 255-271. 33 Vgl. Karrer, Verstockungsmotiv, 271. 34 Vgl. dazu K.-W. Niebuhr, Exegese im kanonischen Zusammenhang: Überlegungen zur theologischen Relevanz der Gestalt des neutestamentlichen Kanons, in: H.J. De Jonge/ J.-M. Auwers (Eds.), The Biblical Canons (BEThL 163), Leuven 2003, 557-584: 568. 35 Wo auch die indikativische Heilswende der Septuagintafassung zitiert wird (Mt 13,15; Joh 12,40; Apg 28,27), ist der Aspekt der (geheimnisvollen) Rettung Israels durch Gott bereits angesprochen, so dass sich die Ausführungen des Paulus dazu im Römerbrief (v.a. Röm 9- 11) wie eine theologische Aufgipfelung und Lösung lesen lassen. 36 Diese Wendung von M. Buber, Zur Verdeutschung des letzten Bandes der Schrift. Beilage zu »Die Schriftwerke«, Köln/ Olten 1962, 3, die er auf die Bezüge zwischen Propheten und Pentateuch, zwischen Psalmen und Pentateuch, zwischen Psalmen und Propheten der hebräischen Bibel hin formuliert, darf getrost auch auf die christliche Bibel übertragen werden und als Einladung zur leserorientierten »biblischen Auslegung« verstanden werden. 37 Vgl. zum Folgenden: Hieke/ Nicklas, Worte, v.a. 108-112. 38 Vgl. S. Alkier, Fremdes Verstehen - Überlegungen auf dem Weg zu einer Ethik der Interpretation biblischer Schriften, ZNT 11 (2003) 48-59: 53-54. 39 Den Unterschied zwischen Interpretieren und Benutzen von Texten faltet Eco, Grenzen, 47-48, aus. Trotz der Skepsis von Alkier, Fremdes Verstehen, 52, scheint mir doch diese Unterscheidung hilfreich und auch durchführbar zu sein. 40 »Darum muß ein Text als Parameter seiner Interpretationen dienen«, so Eco, Grenzen, 51. Vgl. auch die Darlegungen zum Respekt gegenüber dem biblischen Text von Alkier, Fremdes Verstehen, 50-52. Alkier nennt das Ernstnehmen eines Textes als Äußerung eines Anderen das »Realitätskriterium« der Exegese. 41 »Die Pluralität des Kanons ... schützt vor ideologischer Ausschlachtung des Kanons, einer dogmatischen Belegstellenexegese, die einzelne Texte oder Textstellen zur Begründung der eigenen eindeutigen Position heranzieht«, so Alkier, Fremdes Verstehen, 58. 42 Alkier, Fremdes Verstehen, 53, spricht vom »Sozietäts- 75 kriterium« und betont mit Recht, dass es dabei nicht um gleich-gültige Beliebigkeit geht, sondern um ein »Gemeinsam lernen«. 43 Das heißt nicht, dass biblische Auslegung »wirkungslos« im Blick auf gesellschaftliche und politische Verhältnisse sei oder sein müsse. Mit Alkier, Fremdes Verstehen, 54-55, ist zu unterstreichen, dass die gewählte Hermeneutik, Methodik, Thematik und Fragestellung der Exegese auf ihre gesellschaftliche Wirkung hin zu befragen sei. Alkier nennt dies das »Kontextualitätskriterium«. 76 Vorschau auf Heft 13 Neues Testament aktuell: Jürgen Zangenberg, Archäologie heute Zum Thema: Axel von Dobbeler, Der Exeget als Historiker und Theologe Günter Röhser, »Christus ist mein Leben« - Leben und ewiges Leben nach dem Neuen Testament Rita Müller-Fieberg, Aufnahme der Johannesapokalypse in der neueren Literatur Kontroverse: »Petrus - Bischofsamt - Kirche« Christfried Böttrich versus Martin Ebner Hermeneutik und Vermittlung: Hanna Roose / Gerhard Büttner, Moderne und historische Laienexegese von Lk 16,1-13 im Lichte der neutestamentlichen Diskussion Buchreport: Dirk Frickenschmidt rezensiert Ricarda Sohns, Verstehen als Zwiesprache. Hermeneutische Entwürfe in Exegese und Religionspädagogik, Münster u.a. 2003 Die ZNT im Internet www.znt-online.de ZNTonline - Neues auf der Homepage Seit einigen Wochen finden Sie eine neue Rezension von Günter Röhser auf den Internet-Seiten der ZNT. Besprochen wird das Buch von Thomas Knöppler, Sühne im Neuen Testament. Studien zum urchristlichen Verständnis der Heilsbedeutung des Todes Jesu (WMANT 88), Neukirchen-Vluyn 2001. Sie können den Artikel in der Rubrik »Bücher & Medien« online lesen oder als pdf-Dokument speichern bzw. ausdrucken. Außerdem ist zur ZNT eine neue Informationsbroschüre erschienen, die Sie auch auf unserer Homepage (unter der Rubrik »Hintergrund«) lesen, speichern oder ausdrucken können. Seit einigen Monaten können Besucher von ZNTonline direkt über die Homepage neue Bücher bestellen. Wir ergänzen dieses Angebot nun durch einen Link zum weltweit größten Anbieter von gebrauchten Büchern im Internet www.abebooks.de. ZNTonline im Blickpunkt Unter der Rubrik Service stellen wir ein Formular für (Nach-)Bestellungen von Einzelheften sowie für Abonnements der ZNT zur Verfügung. Dort finden Sie auch einen Link direkt zur Bestellseite des Francke-Verlags. Bitte nutzen Sie dieses Angebot für Ihre Bestellungen direkt beim Verlag. ZNTonline zum Thema Auch zum Thema dieser ZNT-Ausgabe findet man eine Reihe von Informationen in WorldWideWeb. Einige sollen hier vorgestellt werden: • http: / / www.ntcanon.org Diese Seite stellt Informationen zum Thema Kanon aus verschiedenen Monographien zusammen und ergänzt diese durch ein vielfältiges Angebot an Zeittafeln, Überblicksdarstellungen und Grafiken. • http: / / www.ntgateway.com/ patristi.htm#canon Die Kanonseite von www.ntgateway.com stellt verschiedene Online-Artikel zum Thema zur Verfügung. • http: / / www.joerg-sieger.de/ einleit/ nt/ 07kan/ nt_e7.htm Auch die Online-Einleitung ins NT von Jörg Sieger bietet Informationen zur Entstehung des biblischen Kanons und diskutiert darüber hinaus noch Kriterien, die zur Kanonbildung führten. Wenn Sie weitere Link-Vorschläge zum Thema »Kanon« oder zu anderen Themenheften der ZNT haben, senden Sie diese bitte an info@znt-online.de. Wir können Ihre Ergänzungen dann auf der Homepage (interaktiv/ Themen-Links) aufführen. Michael Schneider Webmaster www.znt-online.de ZNT 12 (6. Jg. 2003) Theo K. Hecke! Vom Evangelium des Markus zum viergestaltigen Evangelium (WUNT 120). Tübingen: Mohr Siebeck 1999, 409 S.; 89,- Euro, ISBN 3-16-147199-7 Die Erlanger Habilitationsschrift von Theo Hecke! verdient im Rahmen des vorliegenden Themenheftes Aufmerksamkeit, weil sie sich mit einem wichtigen Stück Kanonsgeschichte befasst: der Entstehung der Vierevangeliensammlung (Mt, Mk, Lk, Joh). Sie tut dies nicht nur in historischer, sondern auch in theologischer Hinsicht, d.h. sie fragt nach der theologischen Bedeutung der höchst erstaunlichen Tatsache, dass die Kirche vier gleichwertige Evangelien nebeneinander in ihrem Kanon besitzt und nicht nur ein einziges, einheitliches (vgl. im Buch den Vorspruch von Adolf Harnack). Die Untersuchung reiht sich damit ein in neuere Arbeiten zur Theologie des Kanons, die dessen Herausbildung und Gestalt selbst theologisch ernst nehmen wollen und nicht nur seine einzelnen Schriften. Allerdings gilt das Interesse im vorliegenden Fall hauptsächlich der historischen Rekonstruktion. Man kann es mit Hecke! auch exegetischmethodisch ausdrücken: Die redaktionsgeschichtliche Fragestellung, die das theologische Profil der Evangelisten zu ermitteln sucht, wird hier ZNT 12 (6. Jg. 2003) auf das »viergestaltige Evangelium« als Ganzes angewandt. »In dieser Arbeit geht es um die historische Verortung der Redaktion der Vierevangeliensammlung. Eine entsprechende Untersuchung stellt, soweit ich sehe, ein Desiderat der Forschung dar« (29). Die Arbeit überstreicht den Zeitraum von ca. 70 bis ca. 180 n.Chr., d.h. von der Abfassung des Markusevangeliums bis zur fraglosen Anerkennung der kanonischen Autorität der Evangeliensammlung beim Kirchenvater Irenäus von Lyon, und fragt dabei v.a. nach den einzelnen Stationen dieses Prozesses. Ein erstes wichtiges Ergebnis besteht darin, dass sich die Theologie der Vierersammlung nicht aus der Theologie der einzelnen Evangelisten ableiten lässt, sondern dass hier ein regelrechter Bruch besteht. Denn die einzelnen Evangelien sind nicht (wie später die Sammlung) daraufhin angelegt, die anderen Schriften oder J esusüberlieferungen zu ergänzen, sondern sie wollen sie ersetzen und jeweils für sich das Ganze repräsentieren. Hecke! zeigt dies durch eine Analyse der Abschlussgeschichten und bei Lukas des Prologs, wo die Evangelisten ihren Selbstanspruch besonders deutlich reflektieren: Nach Mk 16, 1-8 (dem ursprünglichen Schluss des MkEv) tritt das schriftliche Evangelium geradezu an die Stelle des Jünglings im Grabe, dessen Auferstehungsbotschaft (wie die ganze Botschaft Jesu) sich trotz des Versagens der Zeuginnen (und der männlichen Jünger) in Gestalt des MkEv erhalten und durchgesetzt hat wie, das bleibt letztlich offen - und jetzt auf die Annahme durch die Empfänger zielt. Mit Mt 28,20 (»Lehret sie halten alles, soviel ich euch geboten habe«, d.h. alle die Gebote, die im vorangehenden Evangelium aufgeschrieben sind, und sonst keine) autorisiert Matthäus seine eigene Schrift und schließt alle anderen aus im Unterschied zu Markus allerdings unter Hinweis auf die Jünger als Traditionsgaranten (wie Lukas in Lk 24). Lukas formuliert seinen Selbstanspruch in Lk 1, 1-4 unter Hinweis auf die besondere Qualität seiner Arbeit, die ebenfalls alle anderen ersetzt. Als Hinweis auf die anderen Evangelien kann V.2 erst im späteren Kontext einer Sammlung gelesen werden (z.B. bei Papias: 262f.). Die Selbstreflexion des JohEv findet sich in Joh 20,24-31: Wie das Wort Jesu den Thomas zum Bekenntnis überführt, so wird auch das Evangelium wirken: Es wird Glauben schaffen und Glauben stärken, da es nach der Zeit des persönlichen Kontakts und des »Sehens« (V.29) jetzt als schriftliches Medium die Begegnung mit Jesus vermittelt und das Zeugnis des Glaubens in vollem Umfang verbürgt. Und auch das »mit Joh 20,30f. abgeschlossene Buch beansprucht, für sich allein stehen zu können« (150). - An dieser Stelle vermisst man allerdings eine Reflexion über die hermeneutische Funktion des Parakleten, des »Geistes der Wahrheit«, im JohEv, der nach Ostern an alles erinnern und in alle Wahrheit leiten wird (Joh 14,26; 16,13) und insofern der eigentliche Autor des JohEv ist und dessen Autorität und Wirksamkeit erst eigentlich begründet (anders: 181f.). Und auch für Markus wird man fragen müssen, wie er sein Evangelium eigentlich legitimiert, wenn (wie gezeigt) keine Überlieferungskontinuität besteht. Zwischenfazit: »Die Sammlung mehrerer Evangelien erwächst nicht aus der Theologie der Synoptiker« (104) und auch nicht aus J oh 1-20 (der ursprünglichen Gestalt des JohEv). Erst in Kap. 21, welches Hecke! (mit der Mehrheit der Exegeten) als »Nachtrag« zum JohEv und »letzte(s) Zeugnis der johanneischen Schule« versteht (202), deutet sich ein Umschwung an. Denn im Verlauf von Joh 21 tritt neben den sog. Lieblingsjünger als Garanten der Jesustradition (der im schriftlichen Zeugnis des JohEv »bleibt«, bis Jesus wiederkommt: V.23f.) Simon Petrus als gleichrangige Autorität; damit vollzieht sich eine Öffnung hin zu petrinischen und synoptischen Überlieferungen und theologischen Konzeptionen (Fischfangerzählung, Petrus-Wort). »Die ehemals reservierte Art des Evangelisten gegenüber einer bleibenden Bedeutung des Petrus ... ist in Joh 21 zu einem versöhnbaren Nebeneinander gereift« (184). Und diese mehrfache individuelle Traditionssicherung (im Unterschied zu den Jüngern als kollektiven Traditions- 77 garanten bei Mt und Lk) geht von Joh 21 aus weiter! Auch der zweite Buchschluss Joh 21,25 rechnet mit der (gleichwohl unzureichenden) Möglichkeit mehrerer Bücher Jesustradition nebeneinander. Joh 21 wird so für Hecke! zu einer Art »Keimzelle« der Vierersammlung und diese aus der Geschichte der johanneischen Schule heraus erklärbar. In ebenso origineller wie problematischer Weise verbindet Hecke! diese Entwicklung mit der angeblichen antidoketischen Ausrichtung des 1. Johannesbriefs (der zeitlich zwischen Joh 1-20 und Joh 21 angesetzt wird). Dieser setzt sich mit aus der johanneischen Gemeinde hervorgegangenen Gegnern auseinander, welche bestreiten, »dass Jesus Christus im Fleisch gekommen ist« (1Joh 4,2). Dies führt seit Joh 21 zu einer zunehmenden Öffnung gegenüber anderen Jesustraditionen, die ebenfalls den »ins Fleisch gekommenen«, geschichtlichen Jesus in den Mittelpunkt stellen (Synoptiker). Die Vierevangeliensammlung ist also im Gefolge der johanneischen Schule entstanden und gewinnt von daher ihr Profil. Äußeres Kennzeichen der Sammlung sind die vier gleichartigen Überschriften »Evangelium nach (griech. kata) + Eigenname im Akkusativ«, die erst im Zuge der redaktionellen Zusammenstellung entstanden sind (gegen M. Hengel). Diese reflektieren zugleich (nicht unähnlich dem in Joh 21,25 zum Ausdruck kommenden Vorbehalt) »das besondere Verhältnis des einen Evangeliums zu den vier schriftlichen Werken« (212): »Das Evangelium ist gleichsam normgebend über dem einzelnen Werk vorzustellen, das in seiner besonderen Ausprägung dieser Norm zu entsprechen versucht. Die ungewöhnliche Titulierung impliziert, dass die niedergeschriebenen Evangelien gleichsam Abbilder des urbildlichen Evangeliums sind ... ohne es einzeln vollständig abbilden zu können« (213f.). Inhaltlich ist es bestimmt als das geschichtliche Ereignis der Botschaft Jesu (2; 215; vgl. 355). Damit ist die entscheidende These des Buches formuliert und sein Hauptziel erreicht. Das folgende Kapitel über den Bischof Papias von Hierapolis (der im Einflussbereich des JohEv angesiedelt wird) und seine in der Kirchengeschichte des Euseb erhaltenen Notizen über die Evangelienverfasser soll helfen, die Existenz der Vierersammlung zu bestätigen und 78 ihre Datierung auf die Jahre 110-120 n.Chr. einzugrenzen. Und ebenso dienen die restlichen knapp hundert Seiten dazu, das Vorliegen der Sammlung aus den Quellen des 2. Jh.s zu erweisen mit der angesichts der schwierigen Quellenlage methodisch gebotenen Vorsicht und im Einzelfall mehr oder weniger erfolgreich. Behandelt werden der kürzere (Mk 16,8 conclbrev) und der längere Markus-Zusatzschluss (Mk 16,9-20), das Petrusevangelium, das Egertonevangelium, die Epistula Apostolorum, Justin, Markion, Tatians Diatessaron, die Passahomilie des Meliton von Sardes, Kelsos, das Muratorische Fragment sowie als Abschluss Irenäus. Trifft Heckeis These zu, dann hätte also (gegen H. von Campenhausen) nicht Markion den Anstoß zur Vierevangeliensammlung gegeben, sondern würde seinerseits darauf zurückgreifen. Dies alles muss hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Vielmehr möchte ich abschließend besonders interessante innovative Gesichtspunkte der Arbeit ansprechen und diskutieren. Hinweisen möchte ich zunächst auf die Anwendung von Methoden der Erzählforschung (41ff.). Insbesondere durch die Frage nach »Identifikationsangeboten« an die Leser und die Analyse von Mk 16,8 als »offenem Schluss« (einer verbreiteten literarischen Technik) gelingt es Hecke! , eine plausible Lösung für den so rätselhaften Markus-Abschluss vorzuschlagen: Das schriftliche Werk ist nur die »Grundlegung des Evangeliums Jesu Christi« (Mk 1,1), welche auf eine »Vervollständigung« (54) durch die Rezipienten abzielt, indem sie die Botschaft Jesu und des Jünglings im Grabe weitergeben (45; 47: »rezipientenorientiertes Erzählen«) und so gewissermaßen den Auftrag an die Frauen erfüllen. So zeigt sich, dass die Erzählweise eine theologische Bedeutung hat. Besonders wichtig scheint mir die Diskussion mit David Trobisch zu sein. Seine These von einer Endredaktion und Ur-Ausgabe des ganzen Neuen Testaments in der Mitte des 2. Jh.s ist gewissermaßen die Erweiterung von Heckeis These der Vierevangelienredaktion auf das ganze Neue Testament (346). Die grundlegende Gemeinsamkeit, in der beide (jeweils gegen die Mehrheit der Forschung) übereinstimmen, besteht darin, dass es sich bei den jeweils von ihnen angenommenen Sammlungen bzw. Redaktionen nicht um einen Prozess, sondern um ein punktuelles, historisch verortbares Ereignis handelt. Auch wenn er Trobischs These als Ganze ablehnt, kann Hecke! doch dessen Beobachtungen zur Textüberlieferung positiv aufnehmen. So könnte z.B. der bevorzugte Gebrauch der Kodexform bei den Christen durch die Vierersammlung bestätigt werden. Der Hauptvorwurf gegen Trobisch, den auch Hecke! sich zu eigen macht, ein derartig folgenreiches Ereignis wie eine Ur-Ausgabe des Neuen Testaments ließe sich in den Quellen nicht nachweisen, fällt wenigstens zum Teil auf ihn selbst zurück: Auch er vermag nur Spuren seiner Vierersammlung in den Quellen aufzuzeigen, das Ereignis der Redaktion und Herausgabe als solches (Ort und beteiligte Personen) ist nirgends bezeugt (die Legende über » Johannes als Herausgeber der Synoptiker« [198] bei Euseb kann dies nicht ersetzen). Und andererseits vermag Trobisch durchaus ein Motiv (bei Hecke! : der Antidoketismus der johanneischen Schule) für das von ihm postulierte Unternehmen anzugeben, wenn er auf die antimarkionitische Haltung der Endredaktion und den Kompromisscharakter des Neuen Testaments als Ganzheit hinweist. Hier muss weiter gearbeitet werden. Überhaupt scheint mir Hecke! den Kompromisscharakter jeglicher Sammlungen unterschiedlicher Traditionen zu niedrig zu veranschlagen. Allzu schnell geht er über H. Koesters missverständliche Aussage hinweg, die Kanonisierung von vier Evangelien sei kein theologisches, sondern ein politisches Programm gewesen (272f.). Ich meine: Die Einheit der Kirche, die sich in solchen Sammlungen dokumentieren soll, ist auch theologisch ein hohes Gut. Spezieller theologischer Antriebe wie der Abwehr des Doketismus oder der Unerreichbarkeit der Fülle des Evangeliums bedarf es dazu nicht. Und in diesem Sinne wird es Einheitsbemühungen auch schon vor ]oh 21 gegeben haben. Schließlich kann man grundsätzlich fragen: 1. Wie sehen Mt und Lk das Verhältnis ihrer Quellen zu den Jüngern als Traditionsgaranten? Wenn positiv (sonst würden sie die Quellen ja wohl nicht benutzen), müssten sie dann ihren Vorgängern nicht dieselbe Dignität zugestehen wie ihren eige- ZNT 12 (6. Jg. 2003) nen Werken? - 2. Unterschätzt Hecke! nicht die Bedeutung mündlicher Überlieferungsprozesse bis weit ins 2. Jh. hinein, wenn er überall nur schriftliche Texte und nur unsere, später kanonisch gewordenen Evangelien zugrunde liegen sieht? Alles in allem: Eine wichtige Studie zu einem immer wichtiger werdenden Thema mit vielen Anregungen, interessanten Details und reichhaltiger Literaturverarbeitung. Die kanonsorientierte Fragestellung als solche ist legitim und notwendig. Ich sage jedoch auch klar: Sie gehört für mich in den Bereich der historischen (patristischen) Theologie, nicht in den Bereich der neutestamentlichen. Sie hat keinen Einfluss auf die Auslegung der biblischen Einzelschriften je an ihrem geschichtlichen Ort. Und auch eine neutestamentliche Hermeneutik oder gar gesamtbiblische Theologie darf sich von ihr allenfalls ihren Rahmen, aber nicht ihre Inhalte vorgeben lassen. Die Arbeit von Theo Hecke! macht dies eindrücklich klar, wenn sie den qualitativen Sprung von der Theologie der Evangelisten zur Theologie der Vierevangeliensammlung vor Augen führt. Günter Röhser Rolf J. Lorenz/ Dietmar Mieth/ Ludolf Müller (Hrsg.) Die "Würde des Menschen" beim Wort genommen Kontakte 12, 2003, X, 180 Seiten, € 24,90/ SFr 42,- ISBN 3-7720-8002-2 In diesem Buch wird das Entstehen des heutigen Verständnisses von der "Würde des Menschen" aus historischer Perspektive dargestellt. Die in der jetzigen Bioethikdiskussion zu beobachtenden begrifflichen Zweideutigkeiten müssen aufgearbeitet werden, damit die Menschenwürde, Grundlage unserer Kultur, unserer Demokratie und unserer Moral, eindeutig bleibt. Das Buch leistet dazu einen wichtigen Beitrag in einer allgemein verständlichen Sprache. A. Francke Verlag Tübingen und Basel ZNT 12 (6.Jg. 2003) Heikki Räisänen Neutestamentliche Theologie? Eine religionswissenschaftliche Alternative (SBS 186). Stuttgart: Katholisches Bibelwerk, 2000,130 S.; 21,- Euro, ISBN 3-460-04861-1 Anders als das zuvor besprochene Werk von Theo Hecke! behandelt das kleine Buch des finnischen Neutestamentlers Heikki Räisänen keine exegetischen und historischen, sondern ausschließlich Grundsatzfragen der neutestamentlichen Disziplin überhaupt. Der Verfasser ist auf der Suche nach einer zusammenfassenden »Synthese der frühchristlichen Gedankenwelt« (11), die sowohl in inhaltlicher als auch in methodischer und darstellerischer Hinsicht den Anforderungen der Gegenwart genügt. Er macht kein Hehl daraus, dass seines Erachtens »die Einsichten der älteren Forscher denen der Generation nach Buhmann überlegen sind« (ebd.) und orientiert sich für seinen eigenen Vorschlag an der Programmschrift von William Wrede aus dem Jahre 1897 »Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie«, deren Ansatz er erstmals in dem Werk von Gerd Theißen »Die Religion der ersten Christen« (dt. 2000) einigermaßen eingelöst sieht. Bis dahin sei die geforderte Trennung von biblischhistorischer und theologisch-aktualisierender Arbeit zwar in der praktisehen Exegese, nicht aber in den großen Synthesen neutestamentlicher Theologie verwirklicht worden (15; 31). Punkt für Punkt kann man die bei Wrede aufgestellten programmatischen Oppositionen bei Räisänen wiederfinden bzw. nachvollziehen: Eigene, moderne Anschauungen müssen im Rahmen kritischer Wissenschaft von fremden und vergangenen unterschieden werden (z.B. was die Rolle der Eschatologie angeht). Nicht »Theologie« ist der eigentliche Leitbegriff neutestamentlicher Wissenschaft, sondern » Religionsgeschichte« bzw. »Religionswissenschaft«. Die Grenze des Kanons ist zugunsten der außerkanonischen Literatur zu sprengen und beide sind zusammen als urbzw. frühchristliche Schriften zu betrachten. Deswegen ist eigentlich auch der Name »neutestamentliche Theologie« zu ersetzen durch »Geschichte der urchristlichen Religion« bzw. »des frühchristlichen Denkens« (vgl. die sprechenden Titel beider Schriften). Gegenstand dieser Wissenschaft ist nicht der normative Inhalt (Lehrgehalt) kanonischer Schriften, sondern die den frühchristlichen Ideen und Gedanken zugrunde liegenden religiösen und alltäglichen »Erfahrungen« zwischen prägender frühjüdischer und hellenistischer - Tradition (überkommene »symbolische Welt«) einerseits und nachfolgender Neuinterpretation und Veränderung der Tradition andererseits (1 00ff.). Besondere Akzente setzt Räisänen bei der Wahrnehmung der frühchristlichen Vielfalt wobei diese nicht nur die außerkanonische Literatur, sondern auch die »Gegner« in den kanonischen Schriften umfassen soll - und dem Verzicht auf Harmonisierung (z.B. gegen E. Stauffer und W.G. Kümmel [26f.]) sowie bei einer angemessenen Darstellung des Judentums (in dieser Hinsicht werden W. Thüsing [46], G.B. Caird [48], R. Bultmann und L. Schenke [92f.J kritisiert.1) Räisänens Arbeit besteht im ersten Teil (12-66) darin, die Forschungsgeschichte (von J.P. Gablers Altdorfer Antrittsrede von 1787 bis zu den neuesten Veröffentlichungen) unter den angegebenen Gesichtspunkten zu sichten und kritisch zu bewerten. Die beschränkte Seitenzahl lässt schon ahnen, dass er dabei den behandelten Autoren nicht immer voll gerecht zu werden vermag (viele bekommen 79 nicht mehr als 10 oder 20 Zeilen, G. von Rad 1,5 Zeilen und 1 Fußnote! ). Ein Vorzug dieses Überblicks ist es, dass deutsche und anglo-amerikanische Autoren gleichgewichtig berücksichtigt werden. Bultmann gilt als der eigentliche »Gegenpol« (24) zu Wrede, aber auch heilsgeschichtliche und konservativ-kirchliche Ansätze beider Konfessionen sowie alle gesamtbiblischen Theologien werden als unbrauchbar verworfen. Das Urteil über die Arbeiten von Mildenberger, Childs, Stuhlmacher und Hübner ist eindeutig negativ: Sie »bestätigen, allen Unterschieden zum Trotz, dass (Gesamt-) Biblische Theologie ein durchgehend kirchlich-theologisches Unterfangen ist. In einem geistigen Milieu, wo eine kritische Distanz zum Gegenstand geboten ist (auch wenn der Gegenstand die eigene Religion ist), ist dies schwer zu rechtfertigen« (46). Andere Autoren vermag Räisänen differenzierter zu würdigen; eine besondere Konvergenz mit seinem Ansatz ergibt sich (neben den »Klassikern« Johannes Weiß und Hans Windisch) v.a. bei C.T. Craig und K. Stendahl (Unterscheidung von historischer und aktualisierender Arbeit), H. Köster (Verzicht auf den Kanon) und K. Berger (Betonung der Fremdheit, Berücksichtigung der Gegner, kein »Kanon im Kanon«). Auch den Werken von C. Rowland, H.M. Teeple und J. Gnilka vermag Räisänen viel abzugewinnen. Sein größtes Lob gilt aber G. Theißen dafür, dass er »die urchristliche Religion im Rahmen allgemeiner Theorien behandelt, die auch auf jede andere Religion angewendet werden können« (65) wenngleich er den »Systemzwang« durchaus sieht, der von diesen Theorien ausgehen kann (weswegen ich selbst Religionsgeschichte für noch wichtiger halte als Religionswissenschaft). Als »innovative, gründlich durchdachte und gut lesbare Synthese« rage Theißens Buch »weit über alle Konkurrenten heraus. Hier liegt endlich ein Werk vor, das den Bultmannschen Entwurf abzulösen vermag« (ebd.). 2 Die Stärke von Räisänens Buch liegt zweifellos nicht in der Forschungsgeschichte (der Fachkollege erfährt nicht viel Neues, für Studierende, selbst für Examenskandidatlnnen ist die Darstellung verkürzend und knapp bis zur Unverständlichkeit), sondern im zweiten Teil: »Zur grundsätzlichen Problematik« (67- 80 107), wo der Verfasser theoretische Grundsätze seines Programms erläutert und sein bereits genanntes »dialektisches Modell« der »Wechselwirkung von Tradition, Erfahrung und Interpretation« (100) vorstellt. Man erfährt zunächst, dass es in der Religionswissenschaft eine analoge Debatte zu derjenigen in der Exegese gibt: »Transzendentalisten«, nach denen der »irrationale« Charakter der Religion auch den Charakter der Religionsforschung bestimmen soll, entsprechen den theologisch orientierten Exegeten; ihnen stehen »historische Empiristen« gegenüber, zu denen sich auch Räisänen als Neutestamentler zählt. Entscheidend ist für letztere, eine Außen- und keine Binnenperspektive auf den Forschungsgegenstand einzunehmen. Die Darstellung zeigt, dass sich der Verfasser der gewöhnlich erhobenen Einwände gegen ein solches Konzept bewusst ist und sich ihnen stellt. Es wird z.B. immer wieder behauptet, eine wirklich objektive Außenperspektive auf die eigene Religion sei gar nicht möglich. Dem wird zutreffend entgegengehalten, dass dies noch lange keinen »zielbewussten Subjektivismus« rechtfertige. »Eine relative Objektivität oder eine relative Freiheit von Werturteilen ist trotz allem möglich« (71). Statt von »Objektivität« sei es aber besser, von »fair play« zu reden (82). Eine religionswissenschaftliche Theologiegeschichte des Frühchristentums darf auch nicht kirchlich gebunden, sondern muss »gesellschaftlich und global ausgerichtet« sein. »Dabei geht es um nichts weniger als um die Wurzeln unserer Kultur« (75). Geschichtliche Gestalten und Gruppen gehören in die Darstellung ebenso hinein wie theologische Texte und deren rekonstruierte Vorstufen (80). Auch wenn es »die eine und einzige Bedeutung eines Textes« nicht gibt, so ist doch darauf zu bestehen, »dass die Anzahl legitimer Interpretationen begrenzt ist« (83 ). Empathie in den Gegenstand ist nötig und möglich, ist aber etwas anderes als gläubige Zustimmung (91). Ich würde vielleicht noch stärker als Räisänen betonen, dass solche Forschung auch dem Leben der Kirche zugute kommt und insofern durchaus einen »kirchlichen« Charakter der Exegese begründen kann. Immer wieder wird J. Weiß als Vorbild dafür bemüht, dass es nötig und möglich ist, historische und normativ-theologische Arbeit zu differenzieren und als Forscher Abstand von der eigenen Überzeugung zu nehmen (17f.; 20; 82f.; 92; 108). Überlegungen zur inhaltlichen Gliederung einer Geschichte des frühchristlichen Denkens schließen den zweiten Teil ab. In Räisänens »Zweistufenprogramm« ist nach der historischen Rekonstruktion ein zweiter Arbeitsgang auf der Ebene der aktualisierenden Philosophie und Theologie vorgesehen. Dieses Thema wird lediglich in einem »Anhang« behandelt (108-110) und ist deswegen der schwächste Teil der Arbeit. Bei aller grundlegenden Sympathie für seinen Ansatz kann ich Räisänen darin nicht folgen, dass er offenbar den urchristlichen Anfängen keinen bleibenden normativen Vorsprung für alle späteren Verwirklichungen von Christsein (was m.E. etwas anderes ist als eine » Idealisierung des Ursprungs« [88]) zuzuerkennen vermag. Er kann auch keinerlei Kriterien dafür angeben, wie die von ihm geforderte »Konfrontierung ... vom heutigen Standpunkt des Auslegers her« (108) aussehen soll. Dass die Texte »an ihren Früchten zu messen« seien (109) und unsere Neuinterpretationen daran, ob sie »dem Leben dienen oder ihm schaden« (110), ist am Ende doch etwas dünn. Hermeneutik und Applikation sind also nicht die Stärken dieses Buches sollten es wohl auch nicht sein. Aber auf weitere materiale Durchführungen seines Programms nach Theißen (hoffentlich auch durch Räisänen selbst) darf man mit Fug und Recht gespannt sem. Günter Röhser Anmerkungen 1 Die zitierten Werke von Thüsing (Band 1 seiner Theologie) und Schenke (Die Urgemeinde) fehlen im Literaturverzeichnis. 2 S. auch die Besprechung von J. Zangenberg im Buchreport der ZNT 6 (2000), 65-67. ZNT 12 (6. Jg. 2003) Studien zum Neuen Testament Hans Hübner An Philemon. An die Kolosser. An die Epheser. 1997. x, 277 Seiten (Handbuch zum Neuen Testament 12). ISBN 3-16-146775-2 Broschur€ 30,-; ISBN 3-16-146776-0 Leinen€ 59,- Hans Hübner Nietzsche und das Neue Testament 2000. XI, 290 Seiten. ISBN 3-16-147489-9 gebunden € 24,- Hans-Christian Kammler Kreuz und Weisheit Eine exegetische Untersuchung zu 1 Kor 1,10-3,4 2003. xn, 302 Seiten (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 159). ISBN 3-16-148133-x Leinen € 74,- Matthias Klinghardt Gesetz und Volk Gottes Das lukanische Verständnis des Gesetzes nach Herkunft, Funktion und seinem Ort in der Geschichte des Urchristentums 1988. vm, 371 Seiten (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament II/ 32). ISBN 3-16-145298-4 fadengeheftete Broschur€ 49,- HermutLöhr Studien zum frühchristlichen und frühjüdischen Gebet Eine Untersuchung von 1 Clem 59 bis 61 2003. Ca. 650 Seiten (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 160). ISBN 3-16-147933-5 Leinen ca.€ 120,- (September) Kiyoshi Mineshige Besitzverzicht und Almosen bei Lukas Wesen und Forderung des Vermögensethos bei Lukas 2003. xv, 297 Seiten (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament II/ 163). ISBN 3-16-148078-3 fadengeheftete Broschur€ 59,- Markus Öhler Barnabas Die historische Person und ihre Rezeption in der Apostelgeschichte 2003. XIV, 566 Seiten (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 156). ISBN 3-16-147977-7 Leinen€ 99,- Imre Peres Griechische Grabinschriften und neutestamentliche Eschatologie 2003. Ca. 350 Seiten (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 157). ISBN 3-16-148072-4 Leinen € 79,- (September) Folker Siegert Argumentation bei Paulus gezeigt an Röm 9-11 Unveränderte Studienausgabe 2003 (1985). vrn, 320 Seiten (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 34). ISBN 3-16-148067-8 fadengeheftete Broschur€ 34,- Ruben Zimmermann Geschlechtermetaphorik und Gottesverhältnis Traditionsgeschichte und Theologie eines Bildfelds in Urchristentum und antiker Umwelt 2001. xv, 791 Seiten (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament II/ 122). ISBN 3-16-147374-4 fadengeheftete Broschur€ 89,- Index theologicus (IxTheo) Zeitschrifteninhaltsdienst Theologie ZiD Herausgegeben von der Universitätsbibliothek Tübingen Das Abonnement auf CD-ROM Netzwerk-Version mit 4 updates pro Jahr€ 199,- (ISSN 1618-7148) Einzelplatz-Version mit 2 updates pro Jahr€ 49,- (ISSN 1618-7156) Mohr Siebeck Postfach 2040 D-72010 Tübingen Fax 07071 / 51104 e-mail: info@mohr.de www.mohr.de Aktuelle Informationen per e-mail jetzt anmelden unter www.mohr.de/ form/ eKurier.htm Neue Literatur zum Neuen Testament Ingrid Maisch Der Brief an die Gemeinde in Kolossä 2003. 292 Seiten. Kart. Mariano Delgado (Hrsg.) Europa, Tausendjähriges Reich und Neue Welt Tim Schramm Die Bibel ins Leben ziehen Bewährte „alte" und faszinierende € 27,-/ sFr 45,40 ISBN 3-17-018134-3 Theologischer Kommentar Zwei Jahrtausende Geschichte und Utopie in der Rezeption des Danielbuches „neue" Methoden lebendiger Bibelarbeit 2003. 240 Seiten. Kart. € 19,-/ sFr 32,30 zum Neuen Testament, Band 12 2003. 272 Seiten.Kart. € 20,40/ sFr 36,10 ISBN 3-17-017875-X ISBN 3-17-017897-0 Wolfgang Fenske Paulus lesen und verstehen Ein Leitfaden zur Biographie und Theologie des Apostels 2003. 288 Seiten. Kart. € 20,-/ sFr 33,80 ISBN 3-17-017817-2 Wolfgang Stegemann Bruce J. Malina Gerd Theißen (Hrsg.) Jesus in neuen Kontexten 2002. 288 Seiten. Kart. € 20,-/ sFr 33,80 ISBN 3-17-016311-6 W. Kohlhammer GmbH • 70549 Stuttgart ~: =~~-de Tel. 0711/ 7863 - 7280 • Fax 0711/ 7863 - 8430 • vertrieb@kohlhammer.de