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ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
61
2004
713 Dronsch Strecker Vogel
Jürgen Zangenberg Archäologie und Neues Testament. Denkanstöße zum Verhältnis zweier Wissenschaften Axel von Dobbeler Der Exeget als Historiker und Theologe. Eine Positionsbestimmung Günter Röhser »Christus ist mein Leben«. Leben und ewiges Leben nach dem Neuen Testament Rita Müller-Fieberg Literarische Rezeptionen des »neuen Jerusalem« (Offb 21f.) als Impuls für Theologie und Praxis Hanna Roose & Gerhard Büttner Moderne und historische Laienexegesen von Lk 16, 1-13 im Lichte der neutestamentlichen Diskussion Petrus - Bischofsamt - Kirche Christfried Böttrich vs. Martin Ebner Buchreport 4 14,- / SFr 24,50 ISSN 1435-2249 ZEITSCHRIFT NEUES TESTAMENT F Ü R Das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft Herausgegeben von Stefan Alkier, Axel von Dobbeler, Jürgen Zangenberg Heft 13 · 7. Jahrgang (2004) Impressum Inhalt Heft 13 · 7. Jg. (2004) Herausgeber Stefan Alkier Axel von Dobbeler Jürgen Zangenberg in Verbindung mit Peter Busch Ute Eisen Kurt Erlemann Gabriele Faßbeck Dirk Frickenschmidt Marlis Gielen Roman Heiligenthal Matthias Klinghardt Volker Lehnert Günter Röhser Manuel Vogel Bernd Wander Anschrift der Redaktion Prof. Dr. Stefan Alkier Johann Wolfgang Goethe-Universität Fachbereich Evangelische Theologie Neues Testament - Geschichte der Alten Kirche z.H.: Kristina Dronsch Grüneburgplatz 1 D-60629 Frankfurt Manuskripte Zuschriften, Beiträge und Rezensionsexemplare werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Verpflichtung zur Besprechung unverlangt eingesandter Bücher besteht nicht. Anzeigen A. Francke Verlag, Tel.: (0 70 71) 97 97-0 Bezugsbedingungen Die ZNT erscheint halbjährlich (April bis Oktober) Einzelheft: € 14,- / sFr 25,30 zuzügl. Versandkosten Bezugspreis jährlich: € 26,- / sFr 45,60 Vorzugspreis für Studenten jährlich: € 20,- / sFr 35,10 (Immatrikulationsbescheinigung beifügen) © 2 004 · A. Francke Verlag Tübingen · Basel Alle Rechte vorbehalten ISSN 1435-2249 Umschlagentwurf: Werner Rüb, Bietigheim-Bissingen. Satz: Fotosatz Hack, Dußlingen. Druck: Gulde, Tübingen. Bindung: Nädele, Nehren. Editorial Editorial .......................................................... 1 Neues Testament Jürgen Zangenberg aktuell Archäologie und Neues Testament. Denkanstöße zum Verhältnis zweier Wissenschaften ................................................ 2 Zum Thema Axel von Dobbeler Der Exeget als Historiker und Theologe. Eine Positionsbestimmung ............................ 11 Günter Röhser »Christus ist mein Leben«. Leben und ewiges Leben nach dem Neuen Testament .......................... 22 Rita Müller-Fieberg Literarische Rezeptionen des »neuen Jerusalem« (Offb 21f.) als Impuls für Theologie und Praxis ................................ 33 Kontroverse Einführung zur Kontroverse (Axel von Dobbeler) ........................................ 43 Christfried Böttrich »Petrus - Bischofsamt - Kirche« .................... 44 Martin Ebner »Petrus - Papstamt - Kirche« ........................ 52 Hermeneutik Hanna Roose / Gerhard Büttner und Vermittlung Moderne und historische Laienexegesen von Lk 16,1-13 im Lichte der neutestamentlichen Diskussion .................... 59 Buchreport Dirk Frickenschmidt Ricarda Sohns, Verstehen als Zwiesprache. Hermeneutische Entwürfe in Exegese und Religionspädagogik, Münster u.a. 2003 ........ 70 Einem Teil der Auflage liegen Prospekte der Firmen W. Kohlhammer Verlag, Stuttgart, Echter Verlag, Würzburg und A. Francke Verlag Tübingen / Basel bei. A. Francke Verlag Tübingen und Basel · Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Telefon (0 70 71) 97 97-0 · Telefax (0 70 71) 7 52 88 Internet: http: / / www.francke.de · E-Mail: info@francke.de ZNT im Internet: http: / / www.znt-online.de ZNT 13 (7. Jg. 2004) 1 Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, Wir freuen uns, Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, mit dem vorliegenden nicht themengebundenen Heft einen Einblick darin geben zu können, wie vielfältig und spannend es in der Neutestamentlichen Wissenschaft der Gegenwart zugeht. Jürgen Zangenberg informiert in der Rubrik NT-aktuell über die archäologische Forschung der Vergangenheit und berichtet über zahlreiche laufende archäologische Forschungsprojekte im Bereich Neutestamentlicher Wissenschaft. Mit schlagkräftigen Argumenten fordert er die angemessenere Berücksichtigung und auch Institutionalisierung archäologischer Arbeit mit Blick auf eine semiotisch orientierte Kulturgeschichte des Frühchristentums ein. Axel von Dobbeler greift unter der Rubrik »Zum Thema« die prinzipielle Frage nach dem Verhältnis von Historie und Theologie auf. Er wird zum Anwalt der traditionellen historischkritischen Methode, deren Alleingültigkeitsanspruch er aber ablehnt. Vielmehr plädiert er für einen Methodenpluralismus, in dem der historisch-kritischen Exegese die theologische Aufgabe zufällt, die eigene Stimme des Textes hörbar zu machen. Günter Röhser führt seine theologischexegetischen Überlegungen fort, die er in seinem in ZNT 9 erschienenen Aufsatz »Hat Jesus die Hölle gepredigt? « vorstellte. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass alle bisher erschienenen Hefte beim Verlag für 14 Euro pro Heft noch zu erwerben sind. Rita Müller-Fieberg zeigt die theologische und literarische Relevanz literarischer Verarbeitungen biblischer Texte am Beispiel der Metapher des Himmlischen Jerusalems eindrücklich auf und gibt damit Einblick in eine rezeptionsorientierte Neutestamentliche Forschung. Axel von Dobbeler leitet die Kontroverse zwischen dem protestantischen Exegeten Christfried Böttrich und seinem katholischen Kollegen Martin Ebner zum Thema »Petrus - Bischofsamt - Kirche« mit gewichtigen Fragen ein. Böttrich verweist auf die herausgehobene Stellung des Petrus in neutestamentlichen Texten. Den Gedanken einer Überordnung und damit verbundenen Sukzession lehnt er aber entschieden ab und behauptet: »In der Gestalt des Petrus haben die Autoren des Neuen Testaments vorgestellt, was für sie ›Dienst an der Einheit der Kirche‹ bedeutet.« Ebner unterstützt weitgehend mit eigenen Textbeobachtungen die exegetische Argumentation Böttrichs, gibt aber zu bedenken, dass die Weltchristenheit eine gemeinsame Stimme brauche, die aber auch ein kleineres Gremium darstellen könne. Hanna Roose und Gerhard Büttner stellen unter der Rubrik »Hermeneutik und Vermittlung« einen empirischen Beitrag zur Leseforschung des Neuen Testaments vor. Sie vergleichen die Auslegung von »Laien« mit denen professioneller Bibelleser und kommen dabei zu interessanten Beobachtungen. Dirk Frickenschmidt rundet mit seinem gleichermaßen informativem wie problembewussten Buchreport das vorliegende Heft ab. Wir danken allen Beitragenden für Ihre Arbeit und hoffen, dass Sie, liebe Leserinnen und Leser, ihre Aufsätze mit ebensoviel Gewinn lesen werden, wie wir es getan haben. Weitere Buchreporte, die Inhaltsverzeichnisse aller bisher erschienenen Hefte sowie einige Leseproben aus früheren Heften und vieles mehr finden Sie im Internet unter http: / / www.znt-online.de. Zum Schluß ein Wort in eigener Sache: Im Herausgeberkreis haben sich einige personelle Veränderungen ergeben. Ausgeschieden sind Herr Berger und Herr Sasse, neu hinzugekommen sind Frau Eisen und Herr Lehnert. Wir bedanken uns bei Herrn Berger, der den wesentlichen Anstoß zur Gründung der ZNT gegeben hat, und Herrn Sasse. Wir begrüßen unsere neue Mitherausgeberin und unseren neuen Mitherausgeber ganz herzlich in unserem Kreis. Stefan Alkier Axel von Dobbeler Jürgen Zangenberg 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 1 2 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Neues Testament aktuell Jürgen Zangenberg Archäologie und Neues Testament. Denkanstöße zum Verhältnis zweier Wissenschaften »Es geht uns darum, die heute oft in Vergessenheit geratene Doppelung der historischen Quellen in Erinnerung zu bringen. Weder Profannoch Kirchengeschichte können auf die Einbeziehung der monumentalen Zeugnisse der Vergangenheit neben den literarischen verzichten«. 1 Mit diesen Worten umreißt E RICH D INKLER , promovierter Kirchengeschichtler und lange Jahre Professor für Neues Testament und Christliche Archäologie an der Universität Heidelberg und selbst einer der bis heute wegweisenden Erforscher der Geistes- und Kulturgeschichte des frühen Christentums, ein ehrgeiziges Programm: Geschichte kann man nicht schreiben ohne neben den textlichen Quellen auch die materielle Kultur der Epoche zu kennen, die man verstehen und darstellen möchte. 2 Insofern sich die neutestamentliche Wissenschaft auch Methoden der Historiker bedient, um die Geschichte des frühesten Christentums zu verstehen und darzustellen, gilt Dinklers Satz uneingeschränkt auch für dieses Fach. Zwar würden viele Neutestamentlerinnen und Neutestamentler beider Konfessionen ihre Hauptaufgabe zunächst darin sehen, die von der Kirche überlieferten und in ihr gebrauchten Texte des NT nach ihrer Aussage und Bedeutung mit wissenschaftlichen Methoden zu befragen und auszulegen, 3 doch steht für die Mehrheit der Forschung nach wie vor zu Recht fest, dass dies sachgerecht nicht ohne eine gründliche Kenntnis des Kontextes geschehen kann, in dem diese Schriften entstanden sind. 4 Da dieser Kontext ein vergangener ist, ist auch jeder Neutestamentler zugleich Historiker. Da dieser »Kontext« aber nicht nur aus Texten und Gedanken besteht, sondern ebenso aus Töpfen und Gebäuden, kommt man auch als Neutestamentler nicht um die Archäologie herum. 5 Doch ist »Geschichte« nicht nur etwas, was »um das NT herum« geschah. Das NT selbst erzählt Geschichte von Jesus und den ersten Jüngern (in den Evangelien), von der Ausbreitung der »Urgemeinde« (in der Apg) und selbst in den Paulusbriefen, die ja keine Geschichtsschreibung sind, wird nicht nur eine lebendige »Mitwelt«, sondern zugleich eine turbulente Geschichte des Apostels mit seinen Gemeinden vorausgesetzt. 6 All dies hat auch materielle, mithilfe der Archäologie erforschbare Dimensionen. Und schließlich hat das NT ja nicht nur eine immense geistige Nach- und Wirkungsgeschichte hervorgerufen, sondern auch und eigentlich zuallererst, wenn auch für uns ungleich schwieriger fassbar, eine materielle: frühe Christen lebten in dieser Welt und also gestalteten sie ihre Lebenswelt auch. Sie suchten nach Wegen, ihre geistigen und moralischen Vorstellungen und ihre Identität individuell und gemeinschaftlich auszudrücken - und hinterließen Spuren dabei nicht nur in und mit Texten, sondern auch in Form von Gegenständen, Räumen und Symbolen. Die Handgreiflichkeit der Welt des NT, die Konkretheit der im NT erzählten Geschichte und der ungeheure Impuls des NT in die auch materielle Lebenswelt hinein: das sind drei gute Gründe, als Neutestamentler auch Historiker zu sein und als solcher dann eben auch nach bester Möglichkeit Archäologie zu betreiben. 1. Impulsgeber für eine neutestamentliche Archäologie Sieht man jedoch genauer hin, findet der Dialog zwischen »Texten« und »Töpfen« weithin nicht statt. So schreibt der Erlanger Neutestamentler und Epigraphiker P ETER P ILHOFER in einem 2002 erschienenen programmatischen Aufsatz: »Verglichen mit den benachbarten Disziplinen Altes Testament und Kirchengeschichte erscheint das Neue Testament mithin geradezu als archäolo- »Geschichte kann man nicht schreiben ohne neben den textlichen Quellen auch die materielle Kultur der Epoche zu kennen, die man verstehen und darstellen möchte.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 2 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 3 Jürgen Zangenberg Archäologie und Neues Testament giefreie Zone, was umso grotesker wirkt, wenn man sich die schmalen 100 Jahre vor Augen stellt, mit denen es der Neutestamentler im engeren Sinne zu tun hat: mehr als 2000 Jahre Archäologie und Altes Testament, beinahe 2000 Jahre Archäologie und Kirchengeschichte - dazwischen 100 Jahre archäologiefreie Zone, das Neue Testament«. 7 Pilhofer hat zweifellos Recht: zwischen Dinklers berechtigtem Anspruch und der Wirklichkeit ntl. Forschung klafft mitunter eine schmerzliche Lücke. Das NT wird heute mehr denn je als theologisches Buch und literarisches Werk wahrgenommen. So wichtig diese beiden Zugangsweisen nicht zuletzt im Hinblick auf die kirchliche Praxis auch sind, sie dürfen nicht den Blick auf die materiellen Komponenten der Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des NT verstellen. Das war freilich nicht immer so. Ein Blick in die Geschichte der Forschung kann uns aufschlussreiche Anregung bieten, wie man es besser machen kann. In der Zeit vor und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wurde »Neutestamentliche Archäologie« von Vertretern unterschiedlicher Teildisziplinen betrieben. Durch diese Arbeit haben sie nicht nur ihre Fächer, sondern auch die ntl. Wissenschaft bereichert. Das »Wandeln zwischen den Disziplinen« war nicht selten, man arbeitete wie selbstverständlich »vernetzt« (wie man das heute nennen würde). Das NT muss keine »archäologiefreie Zone« sein, wenn man nur wahrnimmt, dass es im Spannungsfeld zahlreicher Wissenschaften liegt, die natürliche Gesprächspartner der ntl. Forschung sein könnten und durch die »ntl. Archäologie« ihr unverwechselbares Profil erhält. a) Archäologische Forschung innerhalb der biblischen Disziplinen war und ist in Deutschland - etwa im Unterschied zu den USA - traditionell ganz überwiegend mit der atl. Wissenschaft verbunden. So haben Alttestamentler wie A LBRECHT A LT , K URT G ALLING oder M ARTIN N OTH (um nur drei der überragenden deutschen Forscherpersönlichkeiten zu nennen) bei ihren Arbeiten ganz selbstverständlich nicht an der Grenze des atl. Kanons Halt gemacht, sondern wertvolle und bis heute wegweisende Studien etwa zur Territorialgeschichte Palästinas, zu Galiläa und Samarien (Alt) oder zur Nekropole von Jerusalem (Galling) vorgelegt. Als besonderer Meilenstein der archäologischen Forschung mit Verwurzelung in der atl. Wissenschaft ist etwa das Biblische Reallexikon (ed. Galling) zu nennen, das in Kürze in fachübergreifender Kooperation überarbeitet werden wird. b) E RICH D INKLER sei als Beispiel dafür angeführt, dass wichtige Impulse für die archäologische Erforschung der geistigen Welt des frühesten Christentums selbstverständlich auch aus der Mitte der ntl. Forschung stammen können. Die erzählte Welt in den Texten fordert geradezu dazu heraus, die Welt der Erzähler auch archäologisch in den Blick zu nehmen. Dinklers Studien zum Kreuzessymbol im frühen Christentum sind ein Musterbeispiel dafür, dass die Wirkungsgeschichte des NT nicht nur literarisch-geistig ist; seine Arbeiten zur frühchristlichen Petrus- und Paulustradition von Rom wären ohne die konsequente Inbeziehungsetzung von textlichen und materiellen Quellen ebenso wenig möglich gewesen. Geht man eine gute Generation zurück, trifft man auf Forscher wie A DOLF D EISSMANN (einer der Lehrer Dinklers) und G USTAF D ALMAN , die je auf ihre Weise bleibende Verdienste für die Erforschung des Paulus bzw. der palästinischen Lebenswelt Jesu erworben haben. Heute spielen archäologische Jürgen Zangenberg PD Dr. Jürgen Zangenberg lehrt Neues Testament an der Bergischen Universität und der Kirchlichen Hochschule Wuppertal. Promotion 1996 in Heidelberg über »Frühes Christentum in Samarien«, Habilitation 2003 in Wuppertal über »Jüdische und frühchristliche Bestattungskultur in Palästina«. 2000/ 2001 Humboldt-Stipendiat an der Yale University. Grabungstätigkeit in ez-Zara (Callirhoe), Petra, Sepphoris und Kinneret. Autor und (Mit-)Herausgeber zahlreicher Publikationen zum Thema Neues Testament, antikes Judentum, Qumran und Archäologie. 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 3 4 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Neues Testament aktuell Fragenstellungen und Teilbereiche in zahlreichen auf ntl. Texte und Themen bezogenen Studien eine Rolle (z.B. C ILLIERS B REYTENBACH zu Galatien oder G ERD T HEISSENS Lokalkoloritforschung). Archäologische Materialien und Überlegungen werden mittlerweile erfreulicherweise auch in der sonst stark textorientierten Johannesforschung einbezogen (R AINER R IESNER zu Betanien; J ÜR - GEN Z ANGENBERG zu Johannes und Samarien). c) Die prinzipielle historische Offenheit des ntl. Kanons in die Alte Kirche hinein ermöglicht umgekehrt stets auch die Rückfrage aus der frühkirchlichen Perspektive zurück ins Neue Testament und liefert damit auch Impulse für eine »Neutestamentliche Archäologie«. Die Disziplin »Christliche Archäologie« und die Kunde der älteren Kirche sind daher ebenfalls wichtige Gesprächspartner. Forscher wie H ANS L IETZMANN , H ANS VON S ODEN und wiederum E RICH D INKLER sind gute Beispiele dafür, dass dieser Ansatz in Deutschland auf eine lange Tradition zurückblicken kann. Auch kann der immense Beitrag des F RANZ J OSEPH D ÖLGER -I NSTI - TUTS in Bonn für die interdisziplinäre Erforschung der Auseinandersetzung zwischen christlicher, jüdischer und paganer Antike und die damit einhergehende Transformation zur spätantiken Kultur bis in das 7. Jh. nicht überschätzt werden (u.a. Herausgabe des »Jahrbuchs für Antike und Christentum« und des »Reallexikons für Antike und Christentum«). d) Bis vor kurzem praktisch abgebrochen waren in Deutschland diejenigen Impulse, die aus einer vierten, aber sachlich nicht weniger wichtigen Perspektive ergangen sind: der Erforschung des antiken Judentums. A DOLF B ÜCHLER oder S AMUEL K RAUSS stehen exemplarisch für große Forscher vom Beginn des 20. Jh., die mit ihren landeskundlichen und archäologischen Arbeiten schon sehr früh vor Augen geführt haben, dass die unmittelbare Lebenswelt der meisten frühen Christen zutiefst jüdisch geprägt war, ob nun in Palästina oder in der Diaspora. In den USA, wo der Kontakt zwischen Judaistik und ntl. Forschung nicht durch Gewaltherrschaft und Rassenwahn abgebrochen ist, hat dies immer wieder zu sehr fruchtbaren Ergebnissen geführt. Man vergegenwärtige sich nur, wohin die Erforschung frühchristlicher Bildsprache ohne die Arbeiten E RWIN R. G OODENOUGHS zur jüdischen Kunst gelangt wäre oder wie sich der »Third Quest« nach dem »historischen Jesus« in den 90er Jahren ohne die Erforschung des antiken Galiläa durch E RIC M. M EYERS entwickelt hätte. 8 In letzter Zeit erfährt die Qumranforschung durch die archäologische Erfassung der höchst komplexen Region um das Tote Meer wichtige neue Impulse (z.B. Y IZHAR H IRSCHFELD , J ÜRGEN Z ANGENBERG ) und dank der Zusammenarbeit von klassischen Archäologen, Judaisten und Religionswissenschaftlern gehört die herodianische Zeit zu den am besten erforschten Epochen Palästinas (z.B. A CHIM L ICHTENBERGER , S ARA J APP ). Großflächige Grabungen in Israel und Palästina haben eine Fülle von Material erbracht, das zentrale Aspek te jüdischer Frömmigkeit klarer ins Blickfeld rücken (Miqwaot, Steingefäße, Synagogen, Gräber). Auch die Kultur der antiken Samaritaner mit ihrem Konkurrenzheiligtum auf dem Berg Garizim ist nun viel besser bekannt als noch vor 20 Jahren (z.B. R EINHARD P UMMER , J ÜRGEN Z AN - GENBERG ). All diese Fortschritte verbieten es, noch eine einzige Zeile über die jüdische »Umwelt des Urchristentums« zu schreiben, ohne tief aus dem Fundus der Archäologie zu schöpfen. e) Schließlich sei erwähnt, dass wichtige Impulse für eine archäologisch orientierte Arbeit am NT immer wieder von Seiten der klassischen Altertumswissenschaften gegeben worden sind und werden. Die in letzter Zeit in so vielen ntl. Studien herangezogenen Inschriften wurden weit überwiegend von Altertumswissenschaftlern zutage gefördert und publiziert. Epigraphik und Numismatik können zu wichtigen Gesprächspartnern für Neutestamentler werden, wie etwa die neuesten Studien der klassischen Archäologen A CHIM L ICHTENBERGER (Universität Münster) über die Kulte in der Dekapolis oder M ONIKA B ERNETT (Universität München) zum Herrscherkult im jüdischen Palästina zeigen. Da nur wenige Neutestamentler s elbst graben, wird der Großteil der Primärforschung (Bergung und wissenschaftliche Aufbereitung des Datenmaterials) in diesen Bereichen, nicht eigentlich in den exegetisch-theologi- »Durch neue Funde und Methoden erfuhr die ntl. Forschung nicht selten von der Archäologie wichtige innovative Impulse.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 4 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 5 Jürgen Zangenberg Archäologie und Neues Testament schen Binnendisziplinen, erfolgen. Durch neue Funde und Methoden erfuhr die ntl. Forschung nicht selten von der Archäologie wichtige innovative Impulse. Umso wichtiger ist, dass die Zusammenarbeit von Exegeten und Altertumswissenschaftlern verstetigt und auch institutionell stärker verankert wird. 2. Zum »Platz« einer ntl. Archäologie Neutestamentliche Archäologie bewegt sich zwischen zwei Polen, die sich keinesfalls von Natur aus ergänzen: zum einen sucht sie den Bezug zum NT und den darauf bezogenen wissenschaftlichen Diskurs, der ihr Fragen und Forschungsgegenstände aufgibt, zum anderen bezieht sie sich methodisch und konzeptionell auf die Altertumswissenschaften (und hier vor allem die Archäologie) als ihre zweite »Patenwissenschaft«. Insofern ist ntl. Archäologie eine Spielart des Unternehmens »biblische Archäologie«, selbst wenn diese Disziplin aufgrund der akademischen Herkunft ihrer Vertreter faktisch oft genug »palästinischbiblische Archäologie« bleibt und daher die Welt des NT geographisch oder chronologisch gar nicht in den Blick nimmt. 9 Die Anlehnung an die Archäologie als Spenderin von Modellen und Methoden erfordert zwingend, dass ntl. Archäologie nicht nur »Archäologie des Neuen Testaments« sein kann. Es gibt auch keine besondere Art und Weise der ntl. Archäologie, Funde zu machen und auszuwerten. Ntl. Archäologen forschen nicht anders als ihre »nichtbiblischen« Kolleginnen und Kollegen. Sie betreiben Archiv- und Schreibtischarbeit, gehen ins Feld, um Ortsbegehungen (Surveys) durchzuführen oder zu graben, sie dokumentieren, analysieren und publizieren. In letzter Zeit kommt die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit verschiedenen Naturwissenschaften hinzu (hier leistet das B IBLISCH -A RCHÄOLOGISCHE I N - STITUT W UPPERTAL unter der Leitung von D IETER V IEWEGER wichtige Pionierarbeit v.a. im Bereich der frühen Kulturen, vgl. <www.bainst.de>. All dies hat mit Diskursfähigkeit und Professionalität zu tun, die auch im Bereich der ntl. Archäologie unbedingt erforderlich ist. Die Hypothesen und Modelle zur Deutung ihrer Funde müssen sowohl innerhalb der eigenen Wissenschaft verständlich zu machen sein wie auch außerhalb. Sowenig es eine philologia sacra gibt, sowenig gibt es eine archaeologia sacra, in der plötzlich andere Denkvoraussetzungen gelten sollen als in der übrigen Archäologie (etwa im Falle der Begründbarkeit von Hypothesen). Weder die Aufgabe noch das Potential ntl. Archäologie erschöpfen sich darin, lediglich im NT erwähnte »Realien« (bestimmte Gegenstände) zu illustrieren, Ortslagen aufzufinden oder im NT auftretenden Personen nachzuspüren. Dies würde die Archäologie zur simplen »Dienerin« degradieren und ihr kreatives und kritisches Potential zum Schaden der ntl. Wissenschaft als Ganzer domestizieren. 10 Neutestamentliche Archäologie hat ganz wesentlich eine Archäologie der Kulturen zu sein, in deren Kontext neutestamentliche Autoren und Gruppen aktiv waren. Ihr Ziel ist es, konkrete Milieus aufgrund materieller Hinterlassenschaften und natürlicher Lebensbedingungen zu beschreiben, nicht nur punktuelle Bezüge zum NT herzustellen. 11 Ntl. Archäologie muss daher aus den Erfordernissen ihres Gegenstandes eigene Forschungsziele definieren und verfolgen (dürfen), ohne ständig nach der »Verwertbarkeit« für die Textdeutung gefragt zu werden. Die Einsicht, dass Archäologie »Grundlagenforschung« ist, scheint in der atl. Wissenschaft viel stärker akzeptiert zu sein als in der ntl. Forschung. Doch arbeiten Neutestamentler ja auch nicht nur deshalb über Qumran oder Plutarch, weil man vermeintliche »Parallelen« im NT erklären möchte. Trotz der weitgehend übereinstimmenden Arbeitsweise innerhalb der biblischen Archäologie ist gleich hinzuzufügen: Ntl. Archäologie ist keine bloße Fortsetzung »biblisch-palästinischer Archäologie« auf kanonbedingt erweiterter Textbasis. So wenig das NT einfach die »Fortsetzung« »Sowenig es eine philologia sacra gibt, sowenig gibt es eine archaeologia sacra...« »Neutestamentliche Archäologie hat ganz wesentlich eine Archäologie der Kulturen zu sein, in deren Kontext neutestamentliche Autoren und Gruppen aktiv waren« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 5 6 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Neues Testament aktuell des AT ist, sowenig kann man »ntl. Archäologie« einfach als »zweiten Teil« einer »biblischen Archäologie« praktizieren, ohne sich über die methodischen Konsequenzen des dramatisch veränderten kulturellen Kontextes und die geänderte geographische Perspektive des NT Rechenschaft zu geben. Eine »ntl. Archäologie« hat daher in vielfältiger Hinsicht anders auszusehen als eine »Archäologie des Alten Testaments«: Erstens: Frühchristliche Gruppen waren noch nicht in dem Maße »kulturbildend« wie etwa die beiden im AT erwähnten politischen Größen der palästinischen Eisenzeit, Israel und Juda. Anders als manche Figuren des AT gehörten die Protagonisten der frühen Christenheit nicht zu denjenigen Personen, deren Handlungen und Gedanken sich unmittelbar in Elementen materieller Kultur niederschlugen (Bauten, Inschriften, Politik). Ohnehin ist die Archäologie nicht recht dazu geeignet, individuelle Figuren oder punktuelle Ereignisse aufzuspüren, sie denkt eher in Kategorien kulturellen Wandels, was angesichts der nur »100 Jahre NT« in der Tat zu bedenken ist, das NT aber noch nicht zur »archäologiefreien Zone« macht. Ferner sind eindeutig als christlich zu betrachtende Objekte oder Räume nicht vor dem 2. Jh. n.Chr. wirklich sicher identifizierbar. Das früheste Christentum war noch so sehr Teil seiner jeweiligen Mitwelt, dass sich dessen theologische und lebenspraktische Spezifika noch nicht unmittelbar in Gegenständen, Bildern oder Symbolen niederschlugen. Damit hat das frühe Christentum Teil an der allgemeinen Schwierigkeit, jüdische Gruppen mithilfe materieller Kultur voneinander abzugrenzen. Doch lassen sich zumindest die lokalen oder regionalen Kontexte mithilfe der Archäologie studieren, in denen Christen gelebt haben. Erst später wird man ihre Spuren direkt erforschen können. Zweitens bezieht sich das NT auf einen viel weiteren geographischen Rahmen als das AT. Während die Erzählungen der Evangelien in Palästina lokalisiert sind, führt uns spätestens der »zweite Band« des lukanischen Doppelwerks durch Syrien und Kleinasien in die vielfältige Welt des östlichen Mittelmeers und bis nach Rom. Paulus erwähnt nicht nur die Arabia im Osten (Gal 1,17), sondern auch Spanien im äußersten Westen des Römischen Reiches (Röm 15,28). Wenn man die Völkertafel in Apg 2,9-11 betrachtet, wird der Unterschied zum AT vollends deutlich. Daraus ergeben sich methodische Konsequenzen: • Der organische Bezugspunkt einer ntl. Archäologie ist nicht per se die Archäologie Palästinas, sondern die Archäologie des hellenistisch-römischen Judentums und einer jeden Region, in der ntl. Schriften entstanden sind oder ntl. Gruppen gelebt haben. »Ntl. Archäologie« muss daher noch mehr als ihr atl. Gegenstück interdisziplinär sein. • Anders als die »biblische Archäologie« traditionellen Typs kann die ntl. Archäologie daher nicht als »Regionalarchäologie« konzipiert sein, die alle Epochen und Kulturen einer Region zumindest dem Anspruch nach gleich behandelt. Was im Bereich der palästinisch-biblischen Archäologie immer wieder gefordert 12 und praktiziert wird, wäre eine klare Überforderung und auch sachlich nicht geboten. Bei allem Recht eines umfassend diachronen Blicks ist festzuhalten: Je weiter sich ein Forscher mit seiner Arbeit zeitlich oder örtlich vom Bezugspunkt NT (oder AT) wegbewegt, desto weniger wird sein Beitrag für diesen Diskurs von Bedeutung sein. Ntl. Archäologie wird auf relevante Themen bezogen bleiben und die selbstverständlich gegebene »Unbegrenztheit ihrer Fragestellungen« auch mit Blick darauf konkret gestalten, was dem »anderen«, textorientierten Gesprächspartner zur Klärung von dessen Fragen beiträgt. Sich dieses Bezugspunkts bewusst zu bleiben heißt nicht, »Bibelarchäologie« im negativen Sinne zu betreiben oder die Entwicklung eigener Fragestellungen, Modelle und Daten zugunsten von »Auftragsarbeit« für Textausleger aufzugeben. Dies ist kein Plädoyer für die »Schere im Kopf« oder für »archäologische Orthodoxie«, sondern ein Appell, die Intention und Tragweite der eigenen Arbeit zu reflektieren. Ntl. Archäologie kann nur aufgrund eigener Kompetenz und Erkenntnis, die sie dem Dialog mit der archäologischen Referenzdisziplin verdankt, zum Gesprächspartner von Textwissenschaftlern werden. In den letzten Jahren ist im Zuge der allgemeinen Professionalisierung und Spezialisierung auch in der deutschen ntl. Forschung eine spürbare Zu- »›Ntl. Archäologie‹ muss daher noch mehr als ihr atl. Gegenstück interdisziplinär sein« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 6 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 7 Jürgen Zangenberg Archäologie und Neues Testament nahme des Interesses an archäologischen Themen und Daten zu beobachten. Dabei bewegt sich die archäologische Arbeit durch Neutestamentlerinnen und Neutestamentler in weit überwiegender Weise im Bereich der Rezeption von Daten, die von anderen Disziplinen oft mit ganz eigenen Forschungsinteressen bereitgestellt werden, kaum der eigenständigen »Produktion« von Befunden durch Grabung oder Survey oder der methodischen Grundlagendiskussion über Ziele und Arbeitsweisen ntl. Archäologie. Die Dateninterpretation darf aber nicht auf Dauer von der Datenerhebung getrennt verlaufen, da die Interpretation archäologischer Daten nicht ohne die Kenntnis archäologischer Praxis sinnvoll geleistet werden kann und eigene Fragen und Themen des NT sehr wohl auch eine Rolle bei der Grundlagenforschung spielen müssen. Vor allem im Bereich der archäologischen Feldarbeit hat speziell die deutsche ntl.-archäologische Forschung einen deutlichen Nachholbedarf. Um zu verdeutlichen, in welche Richtung die Arbeit fortschreiten kann, stelle ich je zwei aktuell laufende Forschungsprojekte aus der antiken Levante und dem weiteren Bereich des östlichen Mittelmeerraums exemplarisch vor. 3. Ausgewählte Projekte neutestamentlicher Archäologie Der folgende Überblick ist notwendig unvollständig, mag aber die Bandbreite fruchtbarer Möglichkeiten einer ntl. Archäologie vor Augen führen. a) Seit 2000 forscht ein international besetztes Team unter der Leitung von P ETER L AMPE (Universität Heidelberg) in Phrygien (heutige westliche Türkei) nach Stätten der Montanisten, einer stark apokalyptisch geprägten frühchristlichen Gruppe. Zunächst mit Surveys, später dann auch mit gezielten Grabungen soll die ländliche Infrastruktur einer Region erforscht werden, die bereits vor den Montanisten Lebensraum christlicher Gruppen war (Apg 2,10; 16,6; 18,23). In Aufnahme neuester Ansätze der Altertumswissenschaft, aber mit dezidierter eigener Fragestellung korrigiert das Projekt die auch in der Erforschung des frühen Christentums oft vorherrschende Konzentration auf städtische Kultur. Zugleich lässt sich der Übergang von der Erforschung der Umwelt des NT hin zu materiellen Spuren frühchristlicher Gruppen in einer klar definierten Region verfolgen <http: / / theologie.uni-hd.de/ wts/ lampe/ project.htm>. b) Seit mehreren Jahren arbeitet P ETER P ILHO - FER (Universität Erlangen-Nürnberg) die literarischen und archäologischen Zeugnisse der Stadt Philippi auf, wo nach Apg 16,12 (vgl. Apg 20,6; Phil 1,1; 1Thess 2,2) die erste christliche Gemeinde auf dem Boden Europas gegründet wurde. Pilhofer hat bereits zwei Bände vorgelegt (eine monographische Darstellung der Stadt und der christlichen Gemeinde und eine Edition von Inschriften, vgl. auch die Monographie zu Philippi von L UKAS B ORMANN ). Ein dritter Band mit literarischen Zeugnissen ist im Entstehen. Damit liegt zum ersten Mal eine umfassende Materialsammlung zu einer hellenistisch-römischen Stadt vor und darauf aufbauend der Versuch, das Leben und die Geschichte einer christlichen Gemeinde einzuzeichnen. Besonders verdienstvoll ist, dass Pilhofer begonnen hat, die Inschriften im Internet einer breiteren Öffentlichkeit vorzulegen <www.philippoi.de, vgl. auch seine Website www.antike-exkursionen.de>. Entscheidend ist, dass dabei der Archäologie (und bei Pilhofer besonders der Epigraphik) nicht die Rolle bloß punktuell illustrierender Staffage zukommt. Ähnliche Arbeiten zu anderen Städten und Regionen der paulinischen Mission sind in letzter Zeit entstanden (C HRISTOPH VOM B ROCKE zu Thessaloniki; C ILLIERS B REYTENBACH zu Galatien, D IET - RICH -A LEX K OCH zu Korinth und bereits vor einiger Zeit P ETER L AMPE zu Rom). Doch ist noch vieles zu tun. So fehlt im deutschsprachigen Raum etwa eine Untersuchung, die das immens vielfältige archäologische Material aus Ephesus für das NT auswertet. Auch ist der kulturelle Kontext Kleinasiens für die Johannesapokalypse trotz mancher Vorarbeiten (u.a. von H EINZ -J OSEF K LAUCK ) noch nicht erschöpfend erschlossen. c) Seit G USTAF D ALMANS grundlegenden Arbeiten haben die archäologischen Hinterlassenschaften der Nabatäer vor allem im heutigen Jordanien (Petra) und südlichen Syrien (Bostra) Archäologen und Religionswissenschaftler in ihren Bann gezogen. Die Nabatäer, Nachbarn und Zeitgenossen der palästinischen Juden, kamen im Zuge der augusteischen Pax Romana durch 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 7 8 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Neues Testament aktuell Weihrauchhandel zu beträchtlichem Wohlstand, ihre semitisch geprägte Religiosität nutzte zunehmend Formen hellenistischer Ikonographie und Architektur als Ausdrucksmittel. Die Erforschung ihrer religiösen Denkmäler hat sich seit 1995 ein Team um den katholischen Neutestamentler H ELMUT M ERKLEIN † (Universität Bonn) und den biblischen und klassischen Archäologen R OBERT W ENNING (Münster) zum Ziel gesetzt. Zur Zeit konzentriert sich die Arbeit auf die Dokumentation der nabatäischen Votivnischen in Petra. Endziel ist der Versuch einer Religionsbeschreibung, die konkreter vom archäologischen Befund ausgeht als bisher und zugleich Rechenschaft darüber abgibt, wie man antike Religion verstehen kann, wenn nur bildliche Zeugnisse vorliegen. Das Projekt ist ein gutes Beispiel dafür, dass man einen religionsgeschichtlichen Vergleich mit dem NT nur ziehen kann, wenn man die Phänomene seiner Umwelt um ihrer selbst willen erforscht und zugleich erkennt, dass bildliche Bedeutungsträger nicht zugunsten der Texte vernachlässigt werden dürfen. d) Unter der Leitung von H AROLD A TTRIDGE und D ALE M ARTIN (Yale University) und dem Autor des vorliegenden Beitrags erforscht das internationale und interdisziplinäre Projekt »Religion, Ethnicity and Identity in Ancient Galilee. Archaeology, Texts and Methodology« eine der klassischen ntl. »Kernregionen« <www.galilee.uniwuppertal.de>. Das Gebiet um den See Gennesaret war seit ältester Zeit Kontaktzone mehrerer Kulturräume. Was bedeutet die Eigenheit der Region am See, die Handelsverbindungen und fortschreitende Urbanisierung, für die frühe Jesusbewegung? Wie bewahrte die jüdische Bevölkerung ihre Identität in einer Welt vielfältiger sozialer Spannungen und kultureller Einflüsse? Wie befruchteten sich Judentum und Hellenismus in dieser Region? Durch die Kooperation mit dem Kinneret Regional Project <www.kinneret-excavations.org> und der beginnenden Arbeit in Tiberias <www.digtiberias.org> ist auch hier eine enge Verknüpfung von Datenerhebung im Feld durch Grabung und Survey und ihre Fruchtbarmachung für die Forschung u.a. am Neuen Testament gegeben. Die ntl. Wissenschaft braucht nicht nur die Philologie und (in jüngster Zeit zunehmend) die Literaturwissenschaft als Gesprächspartner, sondern auch die Archäologie, um die vielfältigen Dimensionen ntl. Entstehungs- und Wirkungsgeschichte zu erfassen. Unbedingt nötig ist die Intensivierung der Methodendiskussion, die in der Facharchäologie eine Selbstverständlichkeit ist, im Bereich der ntl. Archäologie aber bisher kaum stattfindet. Wie lassen sich archäologische Funde interpretieren, wie sich Daten der materiellen Kultur mit Texten in Beziehung setzen? Nicht erst die Qumranforschung zeigt, dass eine bloß additive Kombination von Texten und archäologischen Funden kaum ausreicht. 13 Ziel ist nicht nur die Erweiterung unseres Wissens, sondern auch Möglichkeiten, dieses sinnvoll zu strukturieren und in ein Gesamtbild zu integrieren. Hilfreich ist hier das Konzept einer »Enzyklopädie« des frühen Christentums, der in einem jüngst von S TEFAN A LKIER und dem Verfasser des vorliegenden Beitrags herausgegebenen Band beschritten wird. 14 Denn die Zusammenarbeit von ntl. Wissenschaft und Archäologie muss durchaus keine Einbahnstraße sein, beide Disziplinen können davon profitieren. So kann die ntl. Wissenschaft ihre fast einzigartigen Erkenntnisse aus der Erforschung einer in der Folgezeit ungeheuer bedeutenden Religionsgemeinschaft sozusagen in statu nascendi in die Erarbeitung eines möglichst vielschichtigen Bildes der Antike einbringen. All dies ist heutzutage unter dem Diktat des Rotstifts leichter gesagt als getan. In einer Zeit, in der bei der wissenschaftlichen Qualifikation des Nachwuchses immer größere Spezialisierung verlangt wird, während bei Berufungsverfahren aufgrund von zunehmen- »Unbedingt nötig ist die Intensivierung der Methodendiskussion, die in der Facharchäologie eine Selbstverständlichkeit ist, im Bereich der ntl. Archäologie aber bisher kaum stattfindet.« »Wissenschaftliche Theologie kann es sich nicht leisten, ›Sonderqualifikationen‹ wie die Archäologie sozusagen ›nebenbei‹ zu betreiben oder einfach wieder an ihre Patenwissenschaft zurückzugeben.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 8 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 9 Jürgen Zangenberg Archäologie und Neues Testament dem »Rückbau« von Doppelbesetzungen viel eher »Generalisten« berufen werden, gerät Dinklers eingangs zitierte Mahnung rasch in den Hintergrund. Archäologie gilt vielen Neutestamentlern vielfach immer noch als »Hilfswissenschaft«, die man glaubt jederzeit in eklektischer Weise rezipieren zu können, ohne sie in der ntl. Wissenschaftslandschaft institutionalisieren zu müssen. Gerade in der jetzigen Lage wäre eine »Beschränkung auf die theologischen Grunddisziplinen und -kompetenzen« auf Kosten der Archäologie fatal, da dies gerade zu einem Verlust an Kompetenz und Innovationspotential, an Diskurs- und Reflexionsfähigkeit der ntl. Wissenschaft insgesamt führen würde. Niemand würde etwa in der Praktischen Theologie die Psychologie als bloße »Hilfswissenschaft« bezeichnen und sie für verzichtbar erklären. Nicht zu unterschätzen ist ferner das ungebrochene öffentliche Interesse an archäologisch-kulturgeschichtlichen Themen. Einschlägige Ausstellungen, Artikel in Printmedien und Fernsehsendungen erreichen ein wachsendes Publikum, Zeitschriften wie »Welt und Umwelt der Bibel«, »Bibel und Kirche« oder »Antike Welt« erfreuen sich großen Interesses. Vieles wäre hier noch möglich. W OLFGANG Z WICKELS Frage z.B., warum es in Deutschland eigentlich kein Biblisch- Archäologisches Museum gibt, kann man da nur mit Nachdruck wiederholen. 15 Wenn die akademische Theologie das Interesse an der materiellen Dimension ihrer ureigensten Geschichte im öffentlichen Streit der Meinungen weiter kompetent und kritisch begleiten will, muss sie auch qualifizierten Nachwuchs ausbilden und dafür entsprechende institutionelle Ressourcen freistellen. Wissenschaftliche Theologie kann es sich nicht leisten, »Sonderqualifikationen« wie die Archäologie sozusagen »nebenbei« zu betreiben oder einfach wieder an ihre Patenwissenschaft zurückzugeben. l Anmerkungen 1 E. Dinkler, Petrus und Paulus in Rom, Gymnasium 87 (1980), 1-37, hier: 3. 2 Im vorliegenden Beitrag führe ich ein Thema fort, das in ZNT bereits von H. Tiedemann, Texte, Töpfe, Theorien. Archäologie und Neues Testament, ZNT 8 (2001), 48-58 angesprochen wurde. Wichtige Beiträge zur Methodik und inhaltlichen Einzelfragen finden sich u.a. auch in A. Leinhäupl-Wilke / S. Lücking / J.M. Wiegard (Hgg.), Texte und Steine. Biblisches Forum Jahrbuch 1999, Münster 2000 und im neu erschienen Sammelband S. Alkier / J. Zangenberg (Hgg.), Zeichen aus Text und Stein. Studien auf dem Weg zu einer Archäologie des Neuen Testaments (TANZ 42), Tübingen 2003. 3 Vgl. den Situationsbericht von O. Wischmeyer, Das Selbstverständnis der neutestamentlichen Wissenschaft in Deutschland. Bestandsaufnahme. Kritik. Perspektiven. Ein Bericht auf der Grundlage eines neutestamentlichen Oberseminars, ZNT 10 (2002), 13-36. 4 Erinnert sei nur an Schleiermachers programmatischen Satz: »Keine Schrift kann vollkommen verstanden werden als nur im Zusammenhang mit dem gesammten Umfang von Vorstellungen, aus welchem sie hervorgegangen ist, und vermittelst der Kenntniß aller Lebensbeziehungen, sowol der Schriftsteller als derjenigen für welche sie schrieben« (D.F.E. Schleiermacher, Kurze Einleitung des theologischen Studiums zum Behufe einleitender Vorlesungen, Berlin 2 1830, § 140, Kursive von J.Z.). Schleiermachers »Lebensbeziehungen« entsprechen durchaus dem heutigen Begriff »Kontext«. 5 Vgl. Droysens integratives Verständnis von »Überresten«, das sowohl schriftliche als auch nichtschriftliche Zeugnisse umfasst, siehe J.G. Droysen, Grundriß der Historik (hg .v. P. Leyh), Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, 426-428 (§ 20-26). 6 Dazu vgl. z.B. jüngst E. Reinmuth, Neutestamentliche Historik. Probleme und Perspektiven (ThLZF 8), Leipzig 2003, bes. 35-86. 7 P. Pilhofer, Die frühen Christen und ihre Welt. Greifswalder Aufsätze 1996-2001 mit Beiträgen von J. Börstinghaus und E. Ebel (WUNT 145), Tübingen 2002, 6. 8 Vgl. dazu etwa E.M. Meyers, Jesus und seine galiläische Lebenswelt, ZNT 1 (1998), 27-39; J. Zangenberg / G. Faßbeck, »Jesus am See von Galiläa« (Mt 4,18). Eine Skizze zur archäologischen Forschung am See Gennesaret und zur regionalen Verankerung der frühen Jesusbewegung, in: C.G. den Hertog / U. Hübner / S. Münger (Hgg.), Saxa Loquentur. Studien zur Archäologie Palästinas / Israels, FS V. Fritz zum 65. Geburtstag (AOAT 302), Münster 2003, 291-310. Einer solchen regionalen Betrachtungsweise ist auch der Band G. Faßbeck / S. Fortner / A. Rottloff / J. Zangenberg (Hgg.), Leben am See Gennesaret. Kulturgeschichtliche Entdeckungen in einer biblischen Region (Sonderband Antike Welt), Mainz 2003 verpflichtet. 9 Dieses Manko wurde seit längerem thematisiert (vgl. W. Klaiber, Archäologie und Neues Testament, ZNW 72 [1981], 195-215, bes. 195-197; F. Rohrhirsch, Wissenschaftstheorie und Qumran. Die Geltungsbegründungen von Aussagen in der Biblischen Theologie am Beispiel von Chribet Qumran und En Feschcha [NTOA 32], Fribourg und Göttingen 1996, 79-83), ist aber noch weit verbreitet, vgl. z.B. die ansonsten hilfreiche neue Darstellung D. Vieweger, Archäologie der biblischen Welt (UTB 2394), Göttingen 2003, die praktisch ganz auf Palästina beschränkt bleibt, oder die Aufsatzsammlung J.C.H. Laughlin (Hg.), Archaeology and the Bible, London und New York 2000, die mit dem Jahr 550 v.Chr. abbricht. 10 Dies hat C. Frevel in einem zu Recht oft zitierten Artikel auf atl. Hintergrund bereits gefordert, vgl. C. Frevel, 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 9 Religiöse Weck- und Tagelieder: eine kommentierte Edition Während sich die Forschung dem weltlichen Tagelied seit Jahren mit anhaltend großem Interesse widmet, gilt Gleiches für sein religiöses Gegenstück, das geistliche Tagelied, nicht. Die letzte Monographie dazu, eine Arbeit von Theodor Kochs, datiert aus dem Jahre 1928; dabei hatte bereits er damit zu kämpfen, dass manche der einschlägigen Texte überhaupt noch nicht ediert waren. Hier setzt André Schnyders Publikation ein, indem sie ausgehend von der editorischen Erschließung der Texte über eine sorgfältige Kommentierung eine Geschichte des religiösen Weck- und Tageliedes erarbeitet. Damit wird erstmals seit Jahrzehnten der Blick auf ein reizvolles Spektrum von Texten frei, das vom anonymen ‚Vrône wachter‘ des 13. Jahrhunderts bis zum bekannten Kirchenlied ‚Wachet auf, ruft uns die Stimme‘ Philipp Nicolais reicht. Bibliographie, Register der Autoren, der Liedanfänge, zu den Melodien und zu den Handschriften runden den Band ab und erleichtern die Weiterarbeit. André Schnyder Das geistliche Tagelied des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit Textsammlung, Kommentar und Umrisse einer Gattungsgeschichte Bibliotheca Germanica 45, 2004, XII, 832 Seiten, Leinen mit Schutzumschlag, 124,-/ SFr 196,- ISBN 3-7720-2036-4 A. Francke Verlag Tübingen und Basel 10 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Neues Testament aktuell »Dies ist der Ort, an dem geschrieben steht...«. Zum Verhältnis von Bibelwissenschaft und Palästinaarchäologie, in: Leinhäupl-Wike / Lücking / Wiegard (Hgg.), Texte und Steine, 11-29. 11 Zum Begriff des »Milieus« vgl. L. Grossberg, Was sind Cultural Studies? , in: K.H. Hörning / R. Winter (Hgg.), Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung (stw 1423), Frankfurt / M. 1999, 43-83. 12 Vgl. Vieweger, Archäologie der biblischen Welt, 43. 13 J. Zangenberg, Qumran und Archäologie. Überlegungen zu einer umstrittenen Ortslage, in: Alkier / Zangenberg (Hgg.), Zeichen aus Text und Stein, 262-306. 14 Vgl. darin v.a. S. Alkier / J. Zangenberg, Zeichen aus Text und Stein. Ein semiotisches Konzept zur Verhältnisbestimmung von Archäologie und Exegese, in: dies. (Hgg.), Zeichen aus Text und Stein, 21-62. Bereits Rohrhirsch, Wissenschaftstheorie und Qumran, bes. 74-88 hat darauf hingewiesen, dass der Verweis auf die »eine Wirklichkeit« nicht ausreicht, um die Ergebnisse von Bibelwissenschaft und Archäologie in Beziehung zu setzen. In seinem neuesten Beitrag plädiert Peter Pilhofer für eine größere Berücksichtigung der »Lokal- und Religionsgeschichte sowie Mentalitätsgeschichte« (P. Pilhofer, Die hellenistisch-römische Welt und die neutestamentliche Wissenschaft, in: O. Wischmeyer [Hg.], Herkunft und Zukunft der neutestamentlichen Wissenschaft, Tübingen 2003, 85-96, hier: 96). Im Rahmen einer Enzyklopädie des frühen Christentums wäre dies sicher gut zu leisten. 15 W. Zwickel, Scherben bringen Glück. Die neueren Erkenntnisse der biblischen Archäologie und die Exegese, Herder Korrespondenz 55 (2001), 531-536, hier: 536. 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 10 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 11 Zum Thema Axel von Dobbeler Der Exeget als Historiker und Theologe. Eine Positionsbestimmung 1. Grundentscheidungen und These 1.1. Der Exeget hat es mit Texten zu tun. Im Rahmen der Theologie mit den Texten der Bibel und hier wiederum als Neutestamentler mit den Schriften des Neuen Testaments. Sein primärer Forschungsgegenstand ist weder allgemein die Geschichte noch das christliche Dogma. Dennoch ist er als Historiker und Theologe gefordert. Denn: 1.2. Die Schriften des Neuen Testaments sind antike Texte, die als historische Quellen Aufschluss über die Anfänge des Christentums geben. Aufgrund ihrer Kanonizität sind sie zugleich ein Teil der Heiligen Schrift, die nach reformatorischem Verständnis alleiniger Maßstab des christlichen Glaubens, der kirchlichen Praxis und der theologischen Lehre ist. 1.3. Die Arbeit des Exegeten an den Texten zielt auf deren Auslegung. Mit seiner Textauslegung will der Exeget einen Beitrag zum Verstehen dieser Texte leisten. Die Textauslegung ersetzt das Verstehen der Texte nicht, sondern kann es bestenfalls profilieren. 1.4. Im Prozess des Verstehens ist die Rolle des Exegeten nicht die des unparteiischen Mittlers zwischen den antiken Texten und den gegenwärtigen Rezipienten, sondern die eines Anwalts der Texte. Als Anwalt der Texte nimmt er ihre Interessen wahr, erläutert ihre Absichten, sorgt dafür, dass ihre Stimme gehört wird, verteidigt sie im Interpretationsstreit und bemüht sich, sie vor unangemessenen Urteilen zu schützen. 1.5. Anwalt der Texte ist der Exeget sowohl als Historiker als auch als Theologe. Den Texten ihre eigene Stimme zurückzugewinnen, ist seine historische Aufgabe, ihr im theologischen Diskurs Gehör zu verschaffen, seine theologische Aufgabe. 1.6. Wenn die exegetische Arbeit von der Frage geleitet wird: »Wie können wir so auf die Texte hören, dass wir ihre eigene Stimme wahrnehmen? «, dann setzt dies voraus: a) Texte haben eine eigene Stimme. Im Gegenüber zu radikalen dekonstruktivistischen Texttheorien halte ich die Interpretation von Texten nicht für beliebig. b) Die eigene Stimme eines Texte ist nicht einzureihen in die Polyvalenz späterer Rezeptionen und Deutungen, sondern hat gegenüber diesen eine kritische und regulative Funktion. c) Es ist zumindest approximativ möglich, den alten Texten ihre eigene Stimme zurückzugewinnen. d) Die eigene Stimme der Texte ist in ihrer Zeitgebundenheit von theologischer Relevanz. Die These, mit der ich meine Position als Exeget beschreiben möchte, lautet also: Als Historiker und Theologe ist der Exeget ein Anwalt der Texte des Neuen Testaments. Als solcher hat er die Aufgabe, den Texten ihre eigene Stimme zurückzugewinnen und ihr Gehör zu verschaffen. 2. Der Historiker als Anwalt der Texte Die Texte des Neuen Testaments sind in einer bestimmten historischen Situation entstanden. Ihnen ihre eigene Stimme zurückzugewinnen, bedeutet daher in erster Linie, den Versuch einer historischen Rekonstruktion zu wagen. Ich halte die historisch-kritische Methode nach wie vor für den sachgerechten Zugang des Exegeten zu seinem Gegenstand. Diese Einschätzung ist keineswegs unumstritten. Seit geraumer Zeit wird gefragt, ob die historisch-kritische Methode denn noch als ein taugliches Instrument der Exegese zu gelten habe. Das mag seinen Grund nicht zuletzt in einer Radikalisierung der historischen Kritik haben, die die Althistorikerin Helga Botermann zu der Bemerkung veranlasst hat: »Wenn die Althistoriker ihre Quellen so ›kritisch‹ bearbeiteten wie die meisten Theologen, müssten sie die Akten über Herodot und Tacitus schließen«. 1 In der Tat wäre bei radikal-kritischer Betrachtung »Als Historiker und Theologe ist der Exeget ein Anwalt der Texte des Neuen Testaments.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 11 12 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Zum Thema der Quellen die einzig mögliche Konsequenz das radikale Schweigen, wie Martin Hengel zurecht angemerkt hat. Denn wo völlige Dunkelheit herrscht, können auch keine Beobachtungen mehr gemacht werden. 2 Wer dennoch nicht bereit ist, die Akten gänzlich zu schließen, dem bleibt als eine - so oft praktizierte wie fragwürdige - Alternative der Versuch einer historischen Rekonstruktion gegen die Quellen. Das ist ohne Zweifel von einem gewissen investigativen Reiz, und es gehört - wie Gerd Theißen gemeint hat 3 - »zum intellektuellen Vergnügen des Historikers, Quellen gegen ihre eigene Intention kritisch auszuwerten und die geschichtliche Wirklichkeit wieder zutage zu fördern«. Die methodische Fragwürdigkeit eines solchen Vorgehens liegt freilich auf der Hand. Wenn die historisch-kritische Methode nur noch dazu dient, die Intentionalität der Quellen zu erweisen, und die Geschichte dann via negationis erschlossen wird, ist der Willkür Tür und Tor geöffnet. Was dabei herauskommt, hat schon Adolf Schlatter treffend als »historische Romane« qualifiziert. 4 In jedem Falle geben solche Versuche, gegen die Quellen Geschichte zu schreiben, mehr Auskunft über die kreative Phantasie ihrer Verfasser als über die Geschichte selbst. Bleibt dem Exegeten, wenn er nicht zum Romancier werden will, also nur noch das radikale Schweigen? Ich meine Nein. Ich bin vielmehr der Überzeugung, dass die historischkritische Methode bei sachgerechter Anwendung zumindest annäherungsweise historische Rekonstruktionen erlaubt, wenn auch nur in Form hypothetischer Aussagen. Das Erkenntnisziel ist demnach nicht die »wirkliche Geschichte«, sondern erreichbar sind uns lediglich Hypothesen mit einem gewissen Grad historischer Plausibilität. Das ist weniger als man sich in Zeiten des Historismus erhofft hatte, aber auch mehr als das Schweigen eines radikalen Skeptizismus. Voraussetzung hierfür ist eine bestimmten Haltung des Exegeten, die ich der eingangs verwendeten Metapher entsprechend als Ethos eines guten Anwalts beschreiben möchte. Ein guter Anwalt bringt seinem Mandanten ein gewisses Maß an Vertrauen entgegen; er wird zwar immer auch kritische Distanz wahren, aber er misstraut ihm eben auch nicht grundsätzlich. Radikale Skepsis müsste zur Mandatsniederlegung führen. M.a.W. nur wer sich den Schriften des Neuen Testaments mit der Erwartung nähert, in ihnen auch auf historisch glaubwürdige Informationen zu stoßen, kann das Wagnis einer historischen Rekonstruktion begründet eingehen. Dieses Verfahren hat deutlich experimentellen Charakter und setzt die Bereitschaft zu einem gewissen Maß historischer Kombinatorik voraus. Solange dies in methodisch nachvollziehbaren Schritten und an den Quellen entlang geschieht, halte ich es aber für den legitimen Versuch einer Gratwanderung zwischen dem radikalen Schweigen und dem historischen Roman. 2.1. Die historisch-kritische Methode, die Welt der Texte und die Autonomie der Rezipienten Wenn ich die historische Fragestellung unter den geschilderten Einschränkungen für exegetisch sinnvoll halte, so ist dies noch einem weiteren Einwand gegenüber zu begründen. Dieser Einwand lautet: Da es sich bei dem Forschungsgegenstand des Exegeten um Texte handelt, ist die historische Fragestellung eine unsachgemäße Form der Bearbeitung; sachgemäß wäre vielmehr eine Auslegung nach literaturwissenschaftlichen Gesichtspunkten. Das bedeutet: Nicht die Intention eines historischen Autors oder die sozialen oder geschichtlichen Bedingungen, unter denen ein Text entstanden ist, sind für die Erschließung seines semantischen Gehalts entscheidend, sondern entwe- »Ich bin vielmehr der Überzeugung, dass die historisch-kritische Methode bei sachgerechter Anwendung zumindest annäherungsweise historische Rekonstruktionen erlaubt, wenn auch nur in Form hypothetischer Aussagen.« »... nur wer sich den Schriften des Neuen Testaments mit der Erwartung nähert, in ihnen auch auf historisch glaubwürdige Informationen zu stoßen, kann das Wagnis einer historischen Rekonstruktion begründet eingehen.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 12 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 13 Axel von Dobbeler Der Exeget als Historiker und Theologe der der Text selbst als ein gegenüber seinem Verfasser und seinen Lesern autarkes Gebilde oder der Akt des Lesens bzw. das lesende Subjekt, wie es die verschiedenen rezeptionsästhetischen Texttheorien voraussetzen. Gemeinsam ist diesen literaturwissenschaftlichen Ansätzen, dass sie den empirischen Autor sowie die konkrete historische Situation der Textproduktion als für die Textanalyse irrelevante Größen verabschieden. Hier wie dort ist der Autor im Blick auf seinen Text mit einem Wort des französischen Semiotikers Roland Barthes als ein »Enteigneter« 5 zu betrachten und mit ihm der historische Kontext der Textentstehung. Der von Barthes verkündete »Tod des Autors« 6 lässt die historische Lektüre gegenüber der tendenziell ahistorischen rezeptionsorientierten Lektüre als die unangemessenere Zugangsweise erscheinen. Ich halte eine solche Entgegensetzung von geschichtlicher und literaturwissenschaftlicher Fragestellung weder für sinnvoll noch für notwendig. Es liegen mittlerweile eine ganze Reihe von leserorientierte Studien 7 vor, die zeigen, dass sich historische und rezeptionsorientierte Textanalyse durchaus sinnvoll verbinden lassen, wenn die historische Perspektive durch die Frage nach der Erstrezeption der Texte zur Geltung gebracht wird. Die Rezeptionsvoraussetzungen der Erstleser hängen ja aufs Engste mit den soziokulturellen Faktoren zur Zeit der Textentstehung zusammen und können daher nur auf dem Weg der historischen Forschung ermittelt werden. Ihre hypothetische Rekonstruktion setzt die Auswertung textueller und außertextueller Faktoren voraus und damit die Anwendung des gesamten Methodenspektrums der klassischen historisch-kritischen Arbeitsweise. Wichtig ist mir aber darüber hinaus die Einbeziehung der intentio auctoris in das rezeptionsästhetische Paradigma, bzw. seine Ausweitung zu einem kommunikationstheoretischen Modell. Die Erkenntnisse der Rezeptionstheorien müssen m.E. keineswegs mit dem Tod des Autors bezahlt werden. So berechtigt die rezeptionstheoretische Kritik an einer ausschließlichen Konzentration auf die Intention des Autors sein mag, so wenig sehe ich darin einen Grund, die Frage nach der intentio auctoris nun ganz fallen zu lassen, auch wenn diese sich aufgrund der Quellenlage nur selten von der aus dem Text selbst zu ermittelnden intentio operis wird abheben lassen. Ich verstehe die Texte des Neuen Testaments also als Dokumente von Kommunikationsprozessen, die jeweils zwischen einem Autor und seinen Erstrezipienten verliefen, und gehe davon aus, dass sich die Intention des Autors in der konkreten Gestalt eines Textes niederschlägt und die Erstrezeption durch die intentio auctoris zwar nicht festgelegt, wohl aber gelenkt wurde. Wenn ich in diesem Zusammenhang für einen Methodenpluralismus 8 plädiere, der es vermeidet, die historische und die literaturwissenschaftliche Fragestellung gegeneinander auszuspielen, so vor allem deshalb, weil ich der Überzeugung bin, dass die Komplexität historischer Phänomene, die wir nie zur Gänze werden nachzeichnen können, eine Vielfalt unterschiedlicher Betrachtungsweisen und Erschließungsformen geradezu erfordert. Die einzelnen Fragestellungen beleuchten unter- Axel von Dobbeler PD Dr. Axel von Dobbeler, Jahrgang 1953, Studium der Evangelischen Theologie in Bonn, Promotion 1984 in Heidelberg, Habilitation 1998 ebenfalls in Heidelberg. Seit 2000 Privatdozent an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Veröffentlichungen zur paulinischen Theologie, zur Apostelgeschichte, zum Matthäusevangelium, zur frühchristlichen Mission sowie prosopographische Studien. »Wichtig ist mir aber darüber hinaus die Einbeziehung der intentio auctoris in das rezeptionsästhetische Paradigma, bzw. seine Ausweitung zu einem kommunikationstheoretischen Modell.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 13 14 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Zum Thema schiedliche Aspekte eines historischen Phänomens und führen uns zu verschiedenen Deutungen, die nicht gegeneinander auszuspielen, sondern als Mosaiksteine eines freilich immer unvollendet bleibenden Bildes zusammenzufügen, die Kunst des Historikers ist. 2.2. Der Erkenntnisgegenstand der historischen Fragestellung Wenn es das Ziel der exegetischen Textanalyse ist, die Kommunikation zwischen einem historischen Autor und seinen Erstlesern nachzuzeichnen, so ist damit zunächst nur eine formale Beschreibung gegeben, die noch keinen Aufschluss darüber gibt, was den Exegeten inhaltlich an diesem Kommunikationsprozess interessiert. M.a.W. wir haben uns der Frage zu stellen: Worauf wollen wir eigentlich hinaus, wenn wir historische Rekonstruktionen wagen? Hier wäre wohl im weitesten Sinne vom Glauben der frühen Christen zu sprechen. Dabei scheint mir die von Gerd Theißen 9 vorgeschlagene Verwendung allgemeiner religionswissenschaftlicher Kategorien zur Beschreibung des urchristlichen Glaubens hilfreich, für die u.a. die Überzeugung maßgeblich ist, dass die Interpretation theologischer Gedanken aus ihrem realen Lebenskontext heraus zu geschehen hat, weil Religion kein Ideengebäude, sondern Ausdruck des ganzen Lebens ist. Zu fragen ist daher nach den religiösen Erfahrungen, die im Hintergrund der Texte stehen. Ich rede damit nicht psychologisierenden Varianten der Textauslegung das Wort, schon gar nicht einer tiefenpsychologischen Exegese. Mit dem Begriff der religiösen Erfahrung möchte ich nicht psychische Befindlichkeiten oder archetypische Bilder beschrieben wissen, sondern viel pragmatischer die konkreten alltäglichen oder unalltäglichen Lebensvollzüge und die darin sich auswirkende Dynamik des Glaubens. Mir ist die Kategorie der religiösen Erfahrung vor allem deshalb wichtig, weil sie dazu nötigt, noch konkreter nach dem historischen Ort eines Textes bzw. nach seiner historischen Individualität zu fragen. Die Schwierigkeiten, die damit verbunden sind, liegen freilich auch auf der Hand: Die Texte bieten uns ja nicht die religiösen Erfahrungen selbst, sondern lediglich eine Form ihrer verobjektivierenden Darstellung. Selbst wenn man die Gültigkeit der von Klaus Berger betonten prinzipiellen Konsubstantialität religiöser Erfahrungen und ihrer Ausdrucksformen 10 voraussetzt, ist es doch nur in einem spekulativen Verfahren möglich, Rückschlüsse von der Textebene auf die Erfahrungsebene zu wagen. Begründet eingehen lässt sich dieses Wagnis m.E. dort, wo wir in der Lage sind, aufgrund antiker Texte die »Alltagserfahrung« nachzuzeichnen, die im Hintergrund einer aus den Texten erschlossenen religiösen Erfahrung gestanden haben könnte. Ich will versuchen, das an einem Beispiel zu erläutern. 11 In Mk 1,12f. wird berichtet, dass der Geist Jesus im Anschluss an die Taufe durch Johannes plötzlich »hinauswirft« in die Wüste, wo er vierzig Tage den Versuchungen des Satans zu widerstehen hat. Das griechische Verb ekballein kann sowohl hinausstoßen, hinauswerfen, hinaustreiben bedeuten und damit einen mehr oder weniger gewaltsamen Vorgang beschreiben, als auch die Bedeutung hinausführen, aussenden haben, die völlig frei von solchen Gewalt-Konnotationen ist. Es ist also zumindest lexikalisch möglich, diese Stelle so auszulegen, wie z.B. Joachim Gnilka es in seinem Markus-Kommentar 12 getan hat, und ekballein nicht im Sinne der Gewalt, eines Hinausstoßens oder Hinauswerfens zu verstehen, sondern schlicht als »Führung« des Geistes. Gemeint sei lediglich - so Gnilka -, dass Jesus sich auf »Anregung Gottes« in die Wüste begeben habe. 13 Ich halte diese Auslegung nicht nur deswegen für zweifelhaft, weil sie die eindeutig unanstößigere Bedeutungsvariante wählt, sondern vor allem auch deshalb, weil sie so eingängig glatt ist, dass sie gar nicht mehr nach eventuell im Hintergrund stehenden religiösen Erfahrungen fragen lässt. Diese könnten jedoch in zwei Richtungen gesucht werden: Erstens in Richtung des Exorzismus und zweitens in Richtung der pneumatischen Entrückung. Beide Vorstellungszusammenhänge konvergieren darin, dass sie den Geist als eine bis ins Physische hinein wirkende Macht sehen. Sieht man in dem Verb ekballein mit Walter Schmithals einen terminus technicus der Exorzismussprache, 14 der das gewaltsame Hinauswerfen der Dämonen durch den heiligen Geist beschreibt, so wäre der religiö- 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 14 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 15 Axel von Dobbeler Der Exeget als Historiker und Theologe se Erfahrungshintergrund, von dem her der Wüstenaufenthalt Jesu verständlich gemacht werden soll, die Erfahrung der destruktiven Mächtigkeit der Dämonen bzw. der Befreiung von dieser dämonischen Macht durch einen gewaltsamen, auch physisch sich auswirkenden pneumatischen Akt. Wenn man dies dann allerdings mit Walther Schmithals so auslegt, dass der Weg Jesu in die Wüste »aus der Nacht des Unheils in das Licht Gottes« führt, »das dem leuchtet, der nicht mehr auf das Verfügbare traut«, 15 dann wird dabei nicht mehr mit einer uns vielleicht fremden religiösen Erfahrung gerechnet, die sich in der Vorstellung vom Hinausgetriebenwerden durch den Geist ausdrückt, sondern diese illustriert dann nur auf mythologische Weise etwas von uns längst zuvor Gewusstes: dass nämlich das Heil in einem neuen Selbstverständnis liegt, das nicht mehr auf Verfügbares traut. Damit wird dem alten Text aber jede innovative Potenz genommen. Er sagt nur auf seine etwas skurrile Art, was wir längst wissen. Ich halte es im übrigen für wahrscheinlicher, dass Mk 1,12f. auf die Vorstellung einer physischen Entrückung durch den Geist deutet, die prophetischen Kreisen entstammt. Für diese Vorstellung ist kennzeichnend, dass der Geist Gottes als eine physisch wirksame Kraft gesehen wird, die Menschen räumlich-real über Distanzen hinweg befördert, und zwar so, dass die Distanzen nicht erlebt werden. Die pneumatische Entrückung wird dabei als ein heftiges und plötzliches Geschehen dargestellt. Der Entrückte wird abrupt hinweggerissen, emporgehoben, fortgeschleppt und an einen anderen Ort geschleudert. Visionäre Erlebnisse können die Entrückung begleiten. Welche konkreten Erfahrungen könnten hier im Hintergrund stehen? Die Aufnahme der Vorstellung in Ez 3,14; 8,3 und 11,1 und im Hirten des Hermas (v) 1,1,3 und 2,1,1 legen es nahe, an spezielle Reise-Erfahrungen bzw. eine besondere Weise der Wanderschaft zu denken: Beim Wandern wird durch Formen der Doxologie bzw. der Meditation ein Zustand erzeugt, in dem Wege äußerster Schwierigkeit wie im Flug überwunden werden. Die konkrete Erfahrung eines in seiner Länge und in seiner Beschwerlichkeit nicht mehr wahrgenommenen Weges könnte auf der Erzählebene, die dieses Erleben als objektives Geschehen darstellt, dann als Entrückung durch den Geist beschrieben worden sein. Wichtig ist mir bei diesem Erklärungsversuch, dass er nicht im Sinne einer rationalistischen Auslegung verstanden wird; vielmehr ist davon auszugehen, dass der Geist Gottes durchaus real als eine physisch wirksame Macht erfahren wurde. Darauf deuten in den Berichten schon die Heftigkeit und die Unberechenbarkeit des Geschehens, auf die der Prophet z.T. mit Angst oder auch mit totaler Erschöpfung reagiert. Unser Ziel kann es nicht sein aufdecken zu wollen, was denn wirklich geschah, wenn die Alten von einer pneumatischen Entrückung sprachen, sondern umgekehrt zu zeigen, in welchen Erfahrungsfeldern diese pneumatische Macht als so leibhaftig erlebt werden konnte. Und ein solches Erfahrungsfeld scheinen Wanderungen oder Reisen gewesen zu sein. Ein kurzer Abschnitt aus den Jüdischen Altertümern des Flavius Josephus könnte darüber hinaus die Alltagserfahrung dokumentieren, die im Hintergrund der vermuteten prophetischen Erfahrung stand: In JosAnt 8,124 wird von Pilgern berichtet, die sich auf dem Heimweg befinden. Durch Gebete, Frohlocken und Singen von Hymnen legen sie den Weg so zurück, dass sie dessen Beschwernisse nicht empfinden. In prophetischen Kreisen scheint nun die hier beschriebene Erfahrung von Pilgergruppen zu einer noch verfeinerter Praxis gesteigert worden zu sein. Hier traten an die Stelle des Singens und Betens Formen der Meditation und des visionären Erlebens, die in noch stärkerem Maße die Mühen des Weges vergessen ließen, so dass die Wanderschaft als ein körperlich reales Hinweggerissenwerden durch den Geist erfahren wurde. Als sozialgeschichtlichen Hintergrund der Trägergruppen dieser Tradition werden wir von daher die Lebenspraxis wandernder Propheten und Pneumatiker anzunehmen haben. Die Vorstellung der pneumatischen Translokation bot die Möglichkeit, Erfahrungen der Wanderschaft und der z.T. wohl als äußerst heftig erlebten Wirkungen des Geistes aufeinander zu beziehen. »Dem Text seine eigene Stimme wiederzugewinnen« bedeutet, Mk 1,12f. als einen Niederschlag oder eine Ausdrucksform jener Erfahrung der körperlich-realen Mächtigkeit des Geistes zu hören, die in bestimmten prophetischen Kreisen 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 15 16 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Zum Thema zuhause gewesen zu sein scheint. Näherhin wird diese Erfahrung hier funktional zur Kennzeichnung der Bedeutsamkeit Jesu verwandt; Jesus wird im Rahmen des skizzierten Erfahrungsfeldes prophetischer Pneumatiker beschrieben: Er erscheint dadurch als ein Geistträger, an dem sich die Macht des heiligen Pneuma körperlich-real auswirkt, seine besondere Stellung wird mit den Kategorien der dieser Geisterfahrung zugeordneten Vorstellung einer pneumatischen Entrückung geschildert. Im Kommunikationsprozess zwischen Markus und den Erstrezipienten seines Evangeliums wäre dies dann als ein Akzent der intentio auctoris zu verstehen, die beim Evangelisten und seinen Lesern eine Vertrautheit mit diesem Feld religiöser Erfahrung und damit ein prophetisch-pneumatisch bestimmtes theologisches Milieu voraussetzt. 3. Der Theologe als Anwalt der Texte Dass Exegese in dem beschriebenen Sinn Anwältin der Texte zu sein hat, ist nicht nur mit der Redlichkeit historischen Forschens zu begründen, sondern setzt voraus, dass die Texte des Neuen Testaments im Rahmen von Theologie und Kirche eine autoritative Funktion und einen normativen Wert haben. Zwar hat die historische Forschung des Exegeten an die Texte des NT grundsätzlich keine anderen Maßstäbe anzulegen als an außerkanonische - christliche und nichtchristliche - Texte, als theologische Disziplin kann die Exegese aber von der besonderen Geltung, die diese Texte für Theologie und Kirche haben, auch nicht absehen. Zu fragen ist daher: Welche Bedeutung hat die Exegese im Rahmen der Theologie? Worin liegt die theologische Aufgabe des Exegeten? Meine These lautet: Als Theologe partizipiert der Exeget an der hermeneutischen Aufgabe der Schriftauslegung, die der Theologie insgesamt aufgetragen ist. Auch als Theologe ist der Exeget Anwalt der Texte des Neuen Testaments; sein hermeneutischer Beitrag liegt in der kritischen Konfrontation von Kirche und Theologie mit ihren eigenen Anfängen, also nicht jenseits seiner historischen Arbeit, sondern in ihr. Als Historiker ist der Exeget Theologe. Die theologische Bedeutung der Exegese basiert auf ihrer strikt historischen Arbeitsweise. Darin, dass sie den Texten ihre eigene Stimme zurückgewinnt und ihr Gehör verschafft, liegt ihr kritisches Potential für die gesamte Theologie. 3.1. Die »Zeugnisse des Anfangs« und die antidoketische Zielrichtung der Exegese Zurecht hat Wolfgang Schenk auf die Bedeutung der Tatsache hingewiesen, dass kein Text des Neuen Testaments als kanonischer Text entstanden ist. 16 Deswegen kann sich die Exegese nicht damit begnügen, die theologische Dignität der ntl. Schriften in dem Faktum ihrer späteren Kanonisierung begründet zu sehen. Klaus Berger hat die besondere theologische Relevanz der Schriften des Neuen Testaments dadurch zu fassen versucht, dass er sie als »Zeugnisse des Anfangs« bezeichnet hat. Berger meint damit, dass die Schriften des frühen Christentums unseren einzigen Zugang zu Jesus Christus als dem Zentrum des christlichen Glaubens bilden, 17 und versucht so, ihre theologische Würde nicht nur vom Formalprinzip ihrer Kanonizität herzuleiten, sondern inhaltlich zu begründen - und zwar unter Berücksichtigung ihrer Historizität. 18 M.a.W. ihr theologischer Wert liegt nicht in ihrer zeitlosen oder übergeschichtlichen Qualität, sondern gerade in ihrer historischen Gebundenheit. Die konsequent historische Arbeitsweise des Exegeten und die Würdigung der ntl. Schriften als »Zeugnisse des Anfangs« hat theologisch eine antidoketische Zielrichtung. Sie präsentiert die Texte des NT nicht als Dokumente übergeschichtlicher Wahrheiten, sondern als originäre Produkte ihrer Zeit, die das Wirken und Geschick Jesu von Nazareth in einer z.T. sehr unterschiedlichen Weise deutend reflektieren. Die Würdigung gerade der Zeitgebundenheit der Texte ist theologisch vom Gedanken der Inkarnation her zu begründen. Die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus ist weder bloße Idee noch zeitloser Mythos, sondern historisches »Als Theologe partizipiert der Exeget an der hermeneutischen Aufgabe der Schriftauslegung, die der Theologie insgesamt aufgetragen ist.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 16 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 17 Axel von Dobbeler Der Exeget als Historiker und Theologe Ereignis, sie hat ein konkretes Datum und einen konkreten geschichtlichen Kontext. Damit hat das Christentum von seinem Zentrum her einen historischen Haftpunkt. Das Beharren darauf hat theologische Qualität, weil es vor jeder Form des Doketismus schützt. Indem die Exegese die Stimme der alten Texte in ihrer zeitgebundenen Eigenart historisch zu rekonstruieren sucht, erinnert sie im Gespräch mit den anderen theologischen Teildisziplinen an die Bedeutung der konkreten Geschichte für Theologie und Glauben. Wenn sich die Wahrheitsfrage theologisch nur von der Person Jesu Christi her entfalten lässt, so schließt das m.E. notwendig eine Hinwendung zur historischen Konkretion ein. Ich plädiere also für eine theologische Rehabilitierung der Dimension der konkreten Geschichte. Sie als »krude Historie« abzutun, die für den Glauben ohne Bedeutung ist, entspricht m.E. nicht dem biblischen Denken und birgt die Gefahr einer Verflüchtigung der christlichen Religion in einen zeitlosen Mythos oder in eine philosophische Anthropologie. 19 Der Exeget insistiert als Anwalt der historischen Eigenart der »Zeugnisse des Anfangs« auf der in diesen Zeugnissen zutage tretenden theologischen Relevanz der Historizität dieses Anfangs. 3.2. Die »Zeugnisse des Anfangs« und der Reichtum der Pluralität Der Rekurs auf den Anfang des Christentums birgt freilich selbst wieder Gefahren in sich. Er wird dort problematisch, wo er einhergeht mit dem Versuch, die Einheitlichkeit dieses Anfangs zu erweisen. So unaufgebbar aus meiner Sicht das Festhalten an der Bedeutung des historischen Jesus für Theologie und Glauben ist, so sehr gebietet es die historische Redlichkeit anzuerkennen, dass die Zeugnisse des Anfangs uns ein sehr vielgestaltiges Bild vermitteln. Der Exeget wird daher allen Versuchen, einen fiktiven einheitlichen Ursprung des Christentums festzulegen, ein Veto entgegensetzen. Historisch lässt sich nur die ursprüngliche Vielfalt des Christentums ermitteln, und auch die dritte Runde der Frage nach dem historischen Jesus hat nur erneut gezeigt, dass es aus Gründen der methodischen Sauberkeit und der historischen Redlichkeit nicht möglich ist, die uns in den Quellen begegnende Vieldeutigkeit auf eine ersehnte Eindeutigkeit des Ursprungs zurückzuschneiden. Die Erkenntnis und Anerkenntnis der Pluralität des Anfangs ist aber nicht nur Ausdruck einer gewissen Resignation des Historikers, der angesichts der Quellenlage seine Grenzen sieht, sondern hat m.E. eine sich vom Evangelium selbst herleitende theologische Qualität, steht sie doch allen Bemühungen entgegen, das Evangelium als Orthodoxie zu definieren. In einer für mich überzeugenden Weise hat François Vouga gezeigt, dass die ursprüngliche Vielfalt zum Wesen und zur Identität des Christentums gehört und seine Einheit nicht bedroht, sondern qualifiziert. 20 Vouga sieht im paulinischen Verständnis des Evangeliums das Programm eines pluralistischen Universalismus und universalistischen Pluralismus grundgelegt, das sich ekklesiologisch in der Leib- Christi-Metapher und in der Organisation der paulinischen Mission niederschlägt. 21 Im Zentrum des Evangeliums steht für Paulus die Botschaft, dass jeder von Gott als Person unabhängig von seinen Eigenschaften und deswegen auch mit seinen Eigenschaften bedingungslos anerkannt wird und dass die Einheit der Christen sich von ihrem Einssein in Christus her bestimmt, also eine die Verschiedenheiten nicht aufhebende, sondern sie umgreifende Einheit darstellt. Dadurch ist für Vouga das Evangelium als ein Überzeugungssystem qualifiziert, das »so strukturiert ist, dass die Pluralität Bestandteil seiner Einheit ist«. 22 Unter diesem Blickwinkel sind »Einheit und Vielfalt keine konträren Größen [...], die sich gegenseitig bedrohen oder begrenzen«, sondern Größen, die sich umgekehrt geradezu verstärken. 23 Die Vielfalt des Anfangs kann dann auch in ihren Spannungen und Widersprüchlichkeiten als ein theologischer Schatz entdeckt werden, steht sie doch ideologiekritisch allen Versuchen einer Monopolisierung der Wahrheit entgegen und weist die Theologie gerade unter dem Gedanken der Einheit der Christen auf den Weg des Dialogs. 3.3. Die »Zeugnisse des Anfangs« und die Frage der Verbindlichkeit Dass die Exegese durch ihre historische Forschung Pluralität als einen Reichtum entdecken lässt, ist aber nicht nur hinsichtlich der innerneutestamentlichen Vielfalt zu betonen, sondern auch 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 17 18 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Zum Thema im Blick auf die Kanonfrage 24 . »Zeugnisse des Anfangs« sind ja keinesfalls nur die später kanonisierten Schriften, und die historische Arbeit des Exegeten endet daher nicht an den Grenzen des Kanons. Dass die Frage, wie denn dann historisch Grenzen zu ziehen sind und in welchem Zeitraum wir mit »Zeugnissen des Anfangs« zu rechnen haben, berechtigt ist, ist nicht zu bezweifeln. Wie schwer sie sachgerecht zu beantworten ist, zeigen die recht unterschiedlichen Vorschläge, die es dazu jüngst gegeben hat. Aber unabhängig davon, wie man sich hier entscheidet, bleibt es eine wesentliche theologische Aufgabe des Exegeten, den Blick über die Grenzen des Kanons hinaus zu weiten und damit die Frage des verbindlichen theologischen Redens offen zu halten. Die Suche nach sachgerechten Kriterien für die Verbindlichkeit theologischer Aussagen wird damit als eine permanente Aufgabe der Theologie hervorgehoben. Die Exegese löst diese Aufgabe nicht, sie profiliert sie aber in einer notwendigen Weise. 3.4. Die »Zeugnisse des Anfangs« im Spannungsfeld von historischer Explikation und theologischer Applikation Gleiches gilt auch für die Frage des Verhältnisses von historischer Explikation und theologischer Applikation. Auch hier sehe ich den Beitrag des Exegeten nicht in einer Problemlösung, sondern in einer Profilierung der hermeneutischen Aufgabe. Die Exegese kann nicht mit den Mitteln der historischen Forschung die einzig gültige Auslegung der Schriften liefern. Die Ergebnisse exegetischer Arbeit können die wissenschaftlich-theologische oder auch die naiv-gläubige Applikation biblischer Texte weder ersetzen noch sind sie in der Lage, den Königsweg der Interpretation zu weisen. Ihr theologisches Gewicht liegt vielmehr darin, dass sie durch die historische Rekonstruktion der eigenen Stimme der Texte eine Art Widerlager bereitstellen oder ein Gegengewicht oder Gegenpol zu jeder möglichen Applikation. Nicht die Spannung zwischen Text und Applikation aufzulösen, ist die Aufgabe des Exegeten, sondern sie bewusst zu machen. Der Exeget ist nicht Richter über die Schrift, sondern ihr Anwalt. Er urteilt nicht über das rechte Verständnis der Schrift, er besteht nur gegenüber jeder Applikation auf dem »audiatur et altera pars«. Dies ist nur dort zu gewährleisten, wo die eigene Stimme der Texte und das ihr eigentümliche Profil weder durch die Reduktion auf eine hinter den Texten vermutete »Sache« noch durch eine Verschmelzung der Horizonte des Auslegers und des Interpretanden abgeschliffen wird. Vielmehr wird der Exeget seine Aufgabe darin sehen zu gewährleisten, dass »wirklich zwei Horizonte miteinander kommunizieren«, 25 dass das Gespräch von Kirche und Theologie mit ihren eigenen Anfängen ein zur Veränderung hin offener Prozess bleibt und aus dem Dialog kein Monolog wird. In diesem Zusammenhang halte ich die von Klaus Berger ins Zentrum seiner hermeneutischen Überlegungen gestellte Kategorie der »Fremdheit der Texte« 26 für besonders hilfreich. 27 Der hermeneutische Beitrag des Exegeten ist es, einen Dialog zwischen der fremden Welt der Texte und der eigenen gegenwärtigen Weltsicht zu ermöglichen. In der Konfrontation mit dem Fremden und Anderen wird die eigene Glaubenshaltung herausgefordert und erst dadurch werden innovative Evidenzerfahrungen möglich. Aufgabe der Exegese ist es also nicht, in einem ersten Schritt die Zugänge zu den Schriften zu erleichtern, denn das würde sie nur verfügbar machen - die Texte wären dann kein kritisches Korrektiv mehr. Vielmehr gilt umgekehrt: Exegese bemüht sich, durch konsequent historische Forschung den Texten in ihrer Welt gerecht zu werden, in ihrer Eigenart, in ihren Fragen und Vorstellungen, in ihrer Fremdheit. Exegese bemüht sich also, davor zu bewahren, dass das NT nur zu einer Selbstbestätigung bestimmter theologischer oder kirchlicher Haltungen und Einstellungen »benutzt« wird. Das ist ihre ideologiekritische Funktion. 3.5. Die »Zeugnisse des Anfangs« und die Frage der christlichen Identität »Zeugnisse des Anfangs« sind die ntl. Schriften nicht nur, weil sie Person und Geschichte Jesu Christi deutend reflektieren, sondern noch in »Nicht die Spannung zwischen Text und Applikation aufzulösen, ist die Aufgabe des Exegeten, sondern sie bewusst zu machen.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 18 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 19 Axel von Dobbeler Der Exeget als Historiker und Theologe einer weiteren Hinsicht. Sie sind auch Dokumente der Konsolidierung christlicher Identität und damit einer Zeit, in der sich in unterschiedlicher Intensität die Ablösungs- und Verselbständigungsprozesse vom Judentum vollzogen. Das Ineinandergreifen von Identitätsbildung und Differenzierung prägt die Anfänge des Christentums in entscheidender Weise. Insofern ist das frühe Christentum, näherhin die in Texten erhaltene Darstellung religiöser Erfahrung früher Christen, für die Frage der christlichen Identität zentral und zwar in der Ambivalenz von Kontinuität und Diskontinuität. Für eine Antwort auf die Frage, welchen Grad der Ausdifferenzierung die einzelnen Texte repräsentieren, ist aus meiner Sicht die von Dietrich Ritschl ins Gespräch gebrachte Kategorie der impliziten Axiome 28 hilfreich. Gemeint sind damit regulative Sätze, die ein religiöses System steuern und die auch dort, wo sie nicht explizit genannt sind, grundlegenden Charakter für dieses religiöse System haben. Die Veränderung solcher für das Judentum maßgeblicher impliziten Axiome kann als ein Indikator für den Grad der Ausdifferenzierung betrachtet werden. 29 Ich möchte dies abschließend an einem Beispiel 30 verdeutlichen: Im Zusammenhang der Frage nach den historischen und theologischen Wurzeln des christlichen Antijudaismus, gerät neben dem JohEv zunehmend auch das MtEv ins Blickfeld, u.a. wegen seiner massiven antipharisäischen Polemik. Ist es das Dokument eines urchristlich bereits ausgeprägten Antijudaismus oder umgekehrt gegen seine antijudaistische Wirkungsgeschichte in Schutz zu nehmen? Für diese Frage ist entscheidend, welchen Standort wir für das erste Evangelium im Prozess von Identitätsbildung und Ablösung ermitteln können. In der Forschung der letzten Jahrzehnte finden wir dazu die gesamte Bandbreite der denkbaren Antworten: von der Verortung »intra muros« des Judentums bis zur These einer rein heidenchristlichen Herkunft. Betrachten wir in diesem Zusammenhang als ein wichtiges Kriterium die Frage, inwieweit das für jüdische Identität zentrale Axiom der besonderen Stellung Israels im Gegenüber zu den Völkern im MtEv bewahrt oder verändert ist, so ist dies vor allem an den beiden Sendungsaufträgen in Mt 10,5b.6 und Mt 28,18-20 zu überprüfen. Nach Mt 28 werden die Jünger bekanntlich durch den Auferstandenen ausdrücklich zu allen Völkern gesandt; nach Mt 10,5b+6 ist ihnen dies jedoch ebenso ausdrücklich untersagt: »Nicht auf eine Straße der Heiden und nicht in eine Stadt der Samaritaner geht, sondern geht vielmehr zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel«. Wie ist das Verhältnis von exklusivem Partikularismus der Israel-Sendung und universaler Sendung zu den Völkern zu fassen? Gemeinhin wird angenommen, dass die Sendung zu Israel entweder durch den Missionsbefehl Mt 28 substituiert oder aber zu diesem hin ausgeweitet wird. In beiden Fällen wäre dann das Axiom einer besonderen Stellung Israels in der Völkerwelt für das MtEv nicht mehr gültig, und das würde bedeuten, dass die mt Gemeinde durch die Öffnung gegenüber der Heidenwelt auf dem Weg war, ihren Standort extra muros des Judentum zu suchen, christliche Identität sich mithin hier bereits im Gegenüber zum Judentum artikulierte. Unter diesen Voraussetzungen wären die massive mt Polemik gegen die Pharisäer Mt 23 und die Eintragung des sog. Blutwort des Volkes in die mt Passionsgeschichte Mt 27,25 in der Tat als Wurzeln eines originär christlichen Antijudaismus zu kennzeichnen. M.E. lässt sich aber zeigen, dass das Verhältnis der beiden Sendungslogien weder durch den Begriff der Substitution noch durch den der Entschränkung zu fassen ist, dass vielmehr beide Sendungsaufträge als komplementäre Wirkungen des Messias Jesus zu betrachten sind und einander aus der Sicht des ersten Evangelisten nicht widersprechen, sondern nebeneinander in Geltung bleiben. 31 Da die beiden Sendungslogien nicht nur unterschiedliche Zielgruppen anvisieren (Israel / Völker), sondern auch unterschiedliche Ziele verfolgen und entsprechend unterschiedliche Aufträge beinhalten, widersprechen sie einander nicht, sondern ergänzen sich. Sie unter dem Stichwort Mission zusammenzufassen, ist daher irreführend; vielmehr geht es im Blick auf Israel um die Restitution des am Boden liegenden Volkes, das aufgerichtet und so für die Herrschaft seines Gottes bereitet werden soll. Bei den Heiden geht es dagegen darum, sie allererst unter die Herrschaft des einen Gottes zu bringen, und das bedeutet: sie von den toten Götzen zu dem lebendigen Gott zu bekehren. Restitution Israels und Bekehrung der Heiden wären demnach die kom- 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 19 20 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Zum Thema plementären Aspekte der einen messianischen Sendung, Mt 10 und Mt 28 mithin Aspekte einer Position, die die Gültigkeit des angenommenen impliziten Axioms der besonderen Stellung Israels in der Völkerwelt unberührt lässt. Dann ist der Standort des MtEv anders zu beschreiben: Das mt Christentum ist demnach im Rahmen der jüdischen Konsolidierungsbestrebungen nach der Katastrophe der Tempelzerstörung zu begreifen, und wir haben in der mt Gemeinde Juden zu sehen, die sich in der Nachfolge der messianischen Sendung Jesu zur Restitution Israels und zur Bekehrung der Heiden beauftragt wussten, ihre Identität selbstverständlich im Judentum sahen und dies gegenüber innerjüdischer - namentlich pharisäischer - Kritik zu verteidigen hatten. Im MtEv läge damit ein Modell christlicher Identitätsbestimmung vor, das eine Alternative zu der in der weiteren Geschichte des Christentums dann dominant gewordenen Form der Selbstdefinition auf Kosten Israels darstellt. Unter der Voraussetzung, dass die vorgetragene These historische Plausibilität besitzt, hat der Exeget die Stimme des ersten Evangeliums als eine jüdische Stimme zu Gehör zu bringen und das Verdikt des Antijudaismus strikt abzulehnen. Er kann sich freilich nicht darauf beschränken, die »Reinheit« des Anfangs herauszustellen, sondern muss sich theologisch auch der Wirkungsgeschichte des MtEv stellen, die zweifelsohne in einer dann mehrheitlich heidenchristlichen Kirche antijudaistische Züge getragen hat. Dem Exegeten wird es dabei darauf ankommen, nicht das eine gegen das andere auszuspielen, also weder die antijudaistischen Züge der Wirkungsgeschichte aufgrund der Reinheit des Anfangs intra muros des Judentums zu relativieren noch das MtEv selbst aufgrund seiner Wirkungsgeschichte als desavouiert zu betrachten. Das kritische Potential der Exegese für die Theologie liegt vielmehr gerade darin, dass sie die Spannungen zwischen den Anfängen und den Wirkungen nicht auflöst, sondern als eine theologische Herausforderung bewusst macht und damit den Rahmen absteckt, in dem gegenwärtige Entwicklungen in Kirche und Theologie eingeordnet und kritisch beurteilt werden müssen. Dazu würde bei unserem Beispiel dann auch die in letzter Zeit wieder heftiger gewordene Diskussion um die Judenmission gehören. l Anmerkungen 1 H. Botermann, Das Judenedikt des Kaisers Klaudius, Stuttgart 1996, 24 A. 39. 2 M. Hengel, Die johanneische Frage. Ein Lösungsversuch (WUNT 67),Tübingen 1993, 5. 3 G. Theißen, Hellenisten und Hebräer (Apg 6,1-6). Gab es eine Spaltung in der Urgemeinde? , in: H. Cancik / H. Lichtenberger / P. Schäfer (Hgg.), Geschichte-Tradition- Reflexion. FS M. Hengel, Bd. 3 (frühes Christentum), Tübingen 1996, 323-343, hier: 323. 4 A. Schlatter, Atheistische Methoden in der Theologie, BFchTh 9 (1905), Heft 5, 236f. [= Zur Theologie des Neuen Testaments und zur Dogmatik. Kleine Schriften (TB 41), München 1969, 139]. 5 R. Barthes, Die Lust am Text (BS 378), Frankfurt a.M. 1974, 7 1992, 43. 6 R. Barthes, »The Death of the Author«. Modern Criticism and Theory. Ed. David Lodge, London / New York 1988, 166-172 (= »la mort de l´auteur«. Le bruissement de la langue: Essais critiques IV, Paris 1984, 61-67). 7 Vgl. z.B. M. Mayordomo-Marín, Den Anfang hören. Leserorientierte Evangelienexegese am Beispiel von Matthäus 1-2 (FRLANT 180), Göttingen 1998; H. Frankemölle, Matthäus Kommentar 1.2, Düsseldorf, 1994.1997; M. Gielen, Der Konflikt Jesu mit den religiösen und politischen Autoritäten seines Volkes im Spiegel der matthäischen Jesusgeschichte (BBB 115), Bodenheim 1998. 8 Vgl. dazu H. Merklein, Integrative Bibelauslegung? Methodische und hermeneutische Aspekte, BiKi 44 (1989), 117-123. 9 G. Theißen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, 17-44. 10 K. Berger, Exegese des Neuen Testaments, Heidelberg 1977, 189; vgl. ders., Einführung in die Formgeschichte, Tübingen 1987, 72-84 11 Vgl. zum folgenden A. von Dobbeler, Der Evangelist Philippus in der Geschichte des Urchristentums. Eine prosopographische Skizze (TANZ 30), Tübingen 2000, 127-147. 12 J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus (Mk 1-8,26), EKK II/ 1, Zürich u.a. 1978, 56-60. 13 Gnilka, Markus, 56. 14 W. Schmithals, Das Evangelium nach Markus, Kapitel 1-9,1, ÖTK 2/ 1, Gütersloh / Würzburg 1979, 91. 15 Schmithals, Markus, 91. 16 Hermeneutik III (W. Schenk), TRE XV, Berlin / New York 1986, 144-150 17 K. Berger, Hermeneutik des Neuen Testaments, Tübingen / Basel 1999, 78. 18 Berger, Hermeneutik, 135. 19 Vgl. Berger, Hermeneutik, 74-76. 20 F. Vouga, Einheit und Vielfalt des frühen Christentums, ZNT 6 (2000), 47-53. 21 Vouga, Einheit, 48f. 22 Vouga, Einheit, 49. 23 Vouga, Einheit, 49. 24 Vgl. hierzu die Beiträge des Themenheftes »Kanon« ZNT 12 (2003). 25 M. Frank, Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpretation nach Schleiermacher, Frankfurt / M. 1977, 34. 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 20 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 21 Axel von Dobbeler Der Exeget als Historiker und Theologe 26 Hermeneutik, 76ff. 27 Vgl. auch S. Alkier, Fremdes Verstehen - Überlegungen auf dem Weg zu einer Ethik der Interpretation biblischer Schriften, ZNT 11 (2003),48-59. 28 D. Ritschl, Die Erfahrung der Wahrheit. Die Steuerung von Denken und Handeln durch implizite Axiome, in: ders., Konzepte, München 1986, 147-166. 29 Vgl. Theißen, Religion, 24f. 30 Vgl. zum folgenden A. von Dobbeler, Die Restitution Israels und die Bekehrung der Heiden. Das Verhältnis von Mt 10,5b.6 und Mt 28,18-20 unter dem Aspekt der Komplementarität. Erwägungen zum Standort des Matthäusevangeliums, ZNW 91 (2000), 18-44; ders., Wo liegen die Wurzeln des christlichen Antijudaismus? , ZNT 8 (2001), 42-47. 31 Vgl. zur Begründung von Dobbeler, Restitution, 18-44. Johann Albrecht Bengels „Gnomon“in neuer Studienausgabe A. Francke Verlag Tübingen und Basel Johann Albrecht Bengel Der Gnomon Lateinisch-deutsche Teilausgabe der Hauptschriften zur Rechtfertigung: Römer-, Galater-, Jakobusbrief und Bergpredigt. Nach dem Druck von 1835/ 36 herausgegeben und übersetzt von Heino Gaese 2003, 679 Seiten, gebunden, 148,-/ SFr 234,- ISBN 3-7720-8018-9 Seiner kritischen Ausgabe des Neuen Testaments im griechischen Urtext 1734 schloss der schwäbische Theologe Johann Albrecht Bengel (1687-1752) 1742 einen wissenschaftlichen Kommentar in lateinischer Sprache an, bedeutendes Zeugnis des Pietismus. Aus dem Werk in seiner ursprünglichen Gestalt werden hier die Hauptschriften zur Rechtfertigungslehre in einer neuen Studienausgabe vorgelegt. Wie der ganze Gnomon wurden sie bisher weder als Auslegung noch theologiegeschichtlich noch kirchengeschichtlich in Bezug auf die zeitgenössischen Kontroversen je eigentlich gewürdigt. Auch das geistesgeschichtliche Interesse, das sich unter Philosophen und Germanisten an den Namen Bengel knüpft, kann durch die Edition neue Nahrung finden. Die Übersetzung nimmt auf Bengels deutsche Schriften Rücksicht, weist auf Abweichungen der Auflagen hin und gibt traditionsgeschichtliche Hinweise. Zu Text und Übersetzung kommen Einleitung, Bibliographie sowie ein dreifaches Register. 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 21 22 ZNT 13 (7. Jg. 2004) »Christus ist mein Leben« - dieser Satz aus dem Brief des Apostels Paulus an die (möglicherweise) erste christliche Gemeinde in Europa (Philippi ist an der Küste Mazedoniens in Nordgriechenland gelegen; vgl. Apg 16,9-40) 1 ist in einer Situation entstanden, die wir im Allgemeinen eher als lebensfeindlich ansehen würden: Paulus sitzt im Gefängnis, genauer wohl: in einer Art Untersuchungshaft, und sieht einem ungewissen Ausgang seines Prozesses entgegen. Wir wissen nicht genau, an welchem der verschiedenen Haftorte des Apostels (Ephesus, Cäsarea oder Rom) der Philipperbrief geschrieben ist; 2 wir bekommen aber einen wichtigen Einblick in die Art und Weise, wie Paulus seine schwierige Lebenssituation (die ja nicht auf diese eine Bedrohungserfahrung beschränkt war) theologisch deutet und so einen tiefen, über den Augenblick hinausreichenden Sinn darin zu finden vermag. Damit ist bereits die Relevanz unseres Textes und sein Bezug zum Thema »Leben und ewiges Leben« angedeutet. 1. Zwischen gegenwärtiger Krafterfahrung im Leiden und vollendeter künftiger Gemeinschaft mit Christus a) Beobachtungen zu Phil 1,12-26 Ich gebe zunächst eine möglichst wörtliche Übersetzung der Verse 12-14 und 18d-26 aus dem 1. Kapitel des Philipperbriefes in strukturaler Darstellung, so dass man aus der Anordnung der textlichen Elemente exegetisch schon möglichst viel erkennen kann: siehe die Darstellung auf der nächsten Seite! Paulus teilt zunächst mit, dass seine (schlechte) Lage (»das in Bezug auf mich« 3 ) mehr zur Förderung, d.h. Ausbreitung des Evangeliums gedient hat denn zu seiner Behinderung. Es ist ihm nämlich auch als Gefangener gelungen, die Botschaft von dem Christus Jesus zu verkündigen - wahrscheinlich hat man an eine öffentliche Gerichtsverhandlung zu denken -, so dass jetzt bei allen Leuten in dem römischen Amtsgebäude und denen, die dort ein- und ausgehen, bekannt ist, dass Paulus infolge dieser seiner Verkündigung inhaftiert ist (seine Fesseln sind »in Christus«). Die Mehrzahl der Christen an seinem Haftort nimmt dies zum Anlass, die Missionsverkündigung noch entschlossener voranzutreiben: Sie haben »im Herrn Vertrauen / Zuversicht gewonnen durch meine Fesseln« (V.14). Diese Aussage enthält m. E. eine doppelte Voraussetzung: Christen haben die Erfahrung gemacht, dass selbst durch äußere Unterdrückung (wie Inhaftierung und Todesdrohung) das Evangelium nicht aufgehalten werden kann. Ja, sie konnten sogar die paradoxe Erkenntnis gewinnen, dass gerade die äußere Bedrohung zur Ausbreitung der Missionsbotschaft beigetragen hat. Worin liegt die Plausibilität einer solchen Aussage? Paulus würde wohl antworten: Gefangenschaft, äußere Machtlosigkeit und Schwäche sind eine Situation, in der sich die Kraft Christi und Zum Thema Günter Röhser »Christus ist mein Leben«. Leben und ewiges Leben nach dem Neuen Testament Günter Röhser Günter Röhser, Jahrgang 1956, Studium der Evangelischen Theologie in Erlangen, Heidelberg und Neuendettelsau. Promotion (1986) und Habilitation (1993) in Heidelberg. Pfarrer der Evang.-Luth. Kirche in Bayern, Lehrtätigkeit in Bamberg und Siegen, 1997-2003 Professor für Bibelwissenschaft an der RWTH Aachen, seit 2003 für Neues Testament an der Universität Bonn (mit anfänglicher Rückabordnung nach Aachen). Forschungsschwerpunkte: Religiöse Vorstellungen der (biblischen) Antike, paulinische Theologie. 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 22 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 23 Günter Röhser »Christus ist mein Leben« die Kraft des Glaubens an ihn besonders deutlich erweisen kann (vgl. 2Kor 4,7-12; 6,4-10; 12,9f.). Unübersehbar kann deutlich werden, dass der Erfolg der Mission, das treue und standhafte 4 Ausharren in der jeweiligen Lebenslage und ggf. auch die Errettung aus der Not ganz und gar auf das Wirken Christi bzw. die Kraft Gottes (und nicht der Menschen) zurückgehen - und dies hat selbst glaubenstärkende, ja missionarische Wirkung. 5 Somit wird äußeres Leiden sinnvoll, ja geradezu »Gnade« - wenn es Leiden »für Christus« und um des Evangeliums willen ist (vgl. Phil 1,29f.). Es dient gewissermaßen der Gewinnung und der Weitergabe einer »höheren Lebensqualität« im Glauben, welche das Leiden zu umfassen vermag, in der es aber punktuell auch überwunden werden kann. Wichtig ist, dass es sich hier um die gegenwärtige und irdische Dimension christ- »Somit wird äußeres Leiden sinnvoll, ja geradezu ›Gnade‹ - wenn es Leiden ›für Christus‹ und um des Evangeliums willen ist (vgl. Phil 1,29f.).« V. 12-14: Wissen lassen aber will ich euch, Brüder, dass das in Bezug auf mich mehr zur Förderung des Evangeliums gedient hat, (13) dergestalt dass meine Fesseln (als) in Christus (geschehen) bekannt geworden sind bei dem ganzen Prätorium und allen übrigen (14) und die Mehrzahl der Brüder, nachdem sie im Herrn Vertrauen gewonnen haben durch meine Fesseln, viel mehr wagen, furchtlos das Wort zu sagen. V. 18d-26: Ja, ich werde mich auch (weiterhin) freuen, denn ich weiß, dass dieses mir ausschlagen wird zur Rettung durch euer Gebet und Unterstützung des Geistes Jesu Christi (20) gemäß meiner festen Erwartung und Hoffnung, dass in nichts ich werde beschämt werden, sondern in aller Offenheit wie allezeit, (so) auch jetzt Christus groß gemacht werden wird an meinem Leibe - sei es durch Leben, sei es durch Tod. (21) Denn für mich (ist) das Leben Christus und das Gestorben-Sein (ein) Gewinn. (22) Wenn aber das Leben im Fleisch (mir beschieden ist), (so ist) dieses für mich Frucht des Werkes; und was ich wählen soll, weiß ich nicht. (23) Ich werde ja gezogen von den beiden (Möglichkeiten) - das Verlangen habend nach dem Aufbrechen und Mit-Christus-Sein, denn (das wäre) sehr viel besser; (24) das Bleiben im Fleisch aber (ist) nötiger euretwegen. (25) Und darauf vertrauend weiß ich, dass ich bleiben werde und verbleiben werde euch allen zu eurer Förderung und Freude des Glaubens, (26) damit euer Rühmen überreich sei in Christus Jesus durch mich kraft meiner erneuten Anwesenheit bei euch. 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 23 24 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Zum Thema lichen »Lebens« handelt, die immer wieder neu vom Leiden bedroht ist, und nicht um die zukünftig-eschatologische Dimension, nicht um »ewiges Leben«. 6 Davon ist erst im Folgenden die Rede. Zurück zu Paulus im Gefängnis: Zwar versuchen innergemeindliche Rivalen von ihm, seine Situation auszunutzen und sich selbst und ihrer Verkündigung Geltung zu verschaffen - wie die hier nicht abgedruckten Verse 15-18c zeigen. Doch selbst damit tragen sie ja noch zur Ausbreitung des Evangeliums bei - und allein darauf kommt es Paulus an. Darüber freut er sich, aber er wird auch - dessen ist er sich sicher - zukünftig Grund zur Freude haben. In den folgenden beiden Versen (19f.) bringt er - ablesbar an den Begriffen »wissen«, »feste Erwartung« und »Hoffnung« sowie drei Futurformen - seine feste Gewissheit bezüglich seiner persönlichen heilvollen Zukunft zum Ausdruck. Seine schlechte Lage wird ihm gewisslich zur »Rettung«, zum »Heil« (griech. soteria, lat. salus) dienen. Damit ist nicht die Errettung aus dem Gefängnis bzw. vor dem Henker gemeint - auch wenn eine solche nicht ausgeschlossen erscheint. Vielmehr geht es um das letzte Ziel des Lebens nach dem Tode, das künftige »Heil Gottes« (vgl. V.28), welches der Apostel dadurch zu erreichen gedenkt, dass er - was auch immer mit ihm geschieht - kraft der Fürbitte der Gemeinde und des Beistandes des heiligen Geistes 7 Christus an seinem »Leibe« (griech. soma) verherrlichen wird - »sei es durch Leben, sei es durch Tod«. Paulus hofft fest, in seiner apostolischen Existenz auch jetzt nicht zu scheitern, sondern im Gegenteil: Durch seine ganze Existenz (»somatisch«), durch sein Verhalten in der Haft und darüber hinaus soll Christus »groß gemacht« werden, d.h. will Paulus Zeuge sein für die Macht und Herrlichkeit Christi. Dies ist mehr als Verkündigungstätigkeit, schließt solche aber natürlich mit ein. Achten wir nun auf den Übergang von V.20 zu V.21: In der Schlusswendung von V.20 sind mit »Leben« und »Tod« die beiden Möglichkeiten angesprochen, mit denen der Gefangene realistischerweise rechnen muss - nämlich sein Leben (in oder außerhalb der Haft) weiterleben zu dürfen oder den Tod durch Hinrichtung zu erleiden. Trotz der begrifflichen Opposition und der scheinbaren Passivität eines Gefangenen ist auf der Ebene des ganzen Satzes in beiden Fällen von einem aktiven Einsatz für Christus die Rede (Verherrlichung durch Leben oder Tod) - wodurch der begriffliche Gegensatz relativiert ist. In dem folgenden V.21 erfährt der Lebensbegriff eine semantische Erweiterung (»Leben« überhaupt) und eine Näherbestimmung (»Christus«), die abermals den Gegensatz der beiden Begriffe relativiert und ihr Verhältnis noch einmal in einem neuen Licht erscheinen lässt. Sehen wir uns diese und die folgenden Formulierungen etwas genauer an: V.21-22a werden durch vier Sätze ohne Verben gebildet und besitzen dadurch einen fast sentenzhaften Charakter. Dreimal sind Subjekt und Prädikatsnomen ohne die Kopula (das Hilfsverb »sein«) nebeneinander gestellt, einmal (V.22a) fehlt das Prädikat ganz. Weiter fällt (v.a. im Griechischen) auf, dass die Begriffe »Leben« und »Tod« aus V.20 nicht wörtlich aufgenommen, sondern durch substantivierte Infinitive der zugehörigen Verben ersetzt sind. Dadurch liegt das Gewicht stärker auf dem Vorgang und der Erfahrung als auf der begrifflichen Fixierung. Entscheidend ist jedoch, dass dem Verbum für »Leben« das Prädikatsnomen »Christus« zur Seite gestellt ist, so dass es (V.21b) seinen Oppositionsbegriff (»Gestorben-Sein«) mit zu umfassen und zu übergreifen vermag 8 - was gleichbedeutend mit einer neuen Bewertung der Todeserfahrung (»ein Gewinn«) ist. Abermals wird damit ein äußeres Leiden - das Sterben, der Tod - sinnvoll - weil es ein Sterben in der Bindung an Christus ist und deshalb die unmittelbare Gemeinschaft mit ihm eröffnet (vgl. V.23). In V.22a kommt Paulus auf das (Weiter-)Leben von V.20fin zurück und bezeichnet es als Leben »im Fleisch«, d.h. als irdisches, vergängliches Leben - was hier ohne jeden negativen Beigeschmack gemeint ist, da es für Paulus ein Leben weiterer Missionserfolge und der Erwartung des kommenden Heiles bedeuten würde. Unter Beachtung der genannten Gesichtspunkte schlage ich für V.21-22a folgende verdeutlichende Übersetzung vor: »Denn für mich ist das Leben als solches nicht anders denkbar denn als 9 gleichbedeutend mit Christus und (deshalb) das Gestorben-Sein ein Gewinn. Wenn aber das (Weiter-)Leben im Fleisch mir beschieden ist, so ist dieses für mich gleichbedeutend mit (weiterem) Erfolg der Missionsarbeit«. , 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 24 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 25 Günter Röhser »Christus ist mein Leben« Paulus sieht die beiden Möglichkeiten seines Prozessausgangs vor sich und ist hin- und hergerissen, welche er sich wünschen soll. Einerseits hat er das Verlangen »nach dem Aufbrechen und Mit-Christus-Sein« (V.23), denn das wäre für ihn das Beste und Schönste; andererseits aber ist das »Bleiben im Fleisch« (V.24), d.h. das Weiterleben wie vorher, nötiger um der Bedürfnisse der Gemeinde willen. Am Ende siegt die Gewissheit, dass er der Gemeinde als Apostel erhalten bleiben und sie wiedersehen werde. Der Anflug von Todessehnsucht in V.23 wird überwunden durch den Blick auf die Aufgaben, die noch vor ihm liegen. b) Vergleich mit Phil 3, 1Thess 4 und 1Kor 15 Phil 1,23 ist ein klassischer Topos für die Hoffnung der Glaubenden auf eine sofortige individuelle postmortale Existenz bei Christus. Traditionsgeschichtlich gesehen, entstammt diese Erwartung jedoch der frühjüdischen Märtyrertradition, welche auch beispielsweise für die makkabäischen Märtyrer ein sofortiges postmortales Leben »für« oder »bei« Gott bzw. »immerwährendes« (= ewiges) Leben kannte 10 und die auch für die verfolgte christliche Minderheit im 1. Jh. aktuell war. Es ging dabei um die Stärkung der Widerstandskraft im Glauben und der Motivation zum Durchhalten durch die Verheißung einer unmittelbaren ewigen Gemeinschaft mit Gott bzw. Christus. Von Märtyrertradition zeigt Paulus sich auch in Phil 3,10f. berührt. 11 Er gibt dort als Ziel seiner in der Bekehrung gewonnenen Gemeinschaft mit Christus (V.8f.) an, diesen zu »erkennen«. Und zwar ist eine Erkenntnis als Erfahrung gemeint (vgl. hebr. jd c ), denn Christus zu erkennen, heißt nach Paulus nichts anderes, als »die Kraft seiner Auferstehung« zu erfahren »und die Gemeinschaft (griech. koinonia) seiner Leiden, wodurch ich gleichgestaltet (›symmorph‹) werde seinem Tode«, in der Hoffnung, »ob ich wohl gelangen möchte (Futur) zur Auferstehung von 12 den Toten«. Die Verbindung mit Christus von Phil 1 ist hier gesteigert von einer »Parallelität« im Leiden zu einer »Partizipation«, durch welche der Apostel dem Tode Christi »gleichgestaltet« wird. Solche Leidensteilhabe entsteht durch Märtyrergeschick und ist die Voraussetzung für Teilhabe auch an der Auferstehung von den Toten. Sie zieht diese gewissermaßen notwendig nach sich, da Christus, an dessen Geschick man Anteil hat, diesen Weg bereits vorausgegangen ist (vgl. auch Röm 8,17fin: Wir leiden mit Christus mit, um auch mit ihm mitverherrlicht zu werden). Man sollte nicht bestreiten, dass Traditionen, wie sie hinter Phil 1,23 und 3,10f. stehen, auch eine - für uns problematische - Leidenssehnsucht von Christen befördern konnten - wie besonders das Beispiel des Märtyrerbischofs Ignatius von Antiochien zeigt, der sich von seinem einmal eingeschlagenen Weg in den Tod nicht mehr abbringen lassen will. 13 Hier äußert sich eine Radikalität in der Nachfolge Jesu, die für uns kaum mehr nachvollziehbar erscheint. Interessanterweise findet sich ein anderes griechisches Wort für »Leben« (psyche) in einem vergleichbar radikalen Zusammenhang bei Jesus selbst. Mk 8,34f. sprechen vom »Retten« des Lebens unter der Maßgabe einer offenbar wörtlich verstandenen Nachfolge bis ans Kreuz: Wer sein (vergängliches) Leben um Jesu willen preisgibt, der wird wahres, unvergängliches Leben gewinnen (vgl. Joh 12,24-25: »ewiges Leben«). Die Bedingungslogik dieser Aussage ist derjenigen der dargestellten Martyriumstradition durchaus analog. Anders als in Phil 1,23 ist als Zeitpunkt des endgültigen Heilsgewinns in 3,10f. jedoch nicht an den individuellen Tod, sondern an die künftige Totenauferstehung bei der Parusie Christi gedacht. Leider hat die lateinische Vulgata durch ihre Fehlübersetzung »dissolvi« (»aufgelöst werden« in vermeintlich wörtlicher Wiedergabe des griech. »analysai« [auflösen, aufbrechen, scheiden]) das Missverständnis befördert, es handele sich bei dem »Mit-Christus-Sein« von 1,23 um eine (bis zur Auferstehung) leiblose, rein geistige Existenz (der unsterblichen Seele); 14 sie hat damit eine unsachgemäße Harmonisierung der genannten Stellen ermöglicht. Tatsächlich gibt es eine solche Geist- oder Seelenvorstellung bei Paulus nicht, 15 auch keine Reflexionen über einen sog. Zwischenzustand zwischen dem persönlichen Lebensende und dem Ende der Welt; vielmehr ist in Phil 1,23 eindeutig die endgültige und ganzheitliche individuelle Heilsgemeinschaft mit Christus gemeint, die keiner Veränderung oder Vollendung mehr bedarf (vgl. als nächste Parallele bei Paulus 2Kor 5,8: »daheim sein bei dem Herrn« als Ziel des Sterbeprozesses). 16 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 25 26 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Zum Thema Der Befund wird noch komplizierter, wenn wir eine frühere Darlegung des Paulus in einem Brief an die Gemeinde in Thessalonich mit hinzu nehmen (1Thess 4,13-17). Dort steht die Mit- Christus-Formel am Ende eines längeren apokalyptischen Szenariums: »... er selbst, der Herr, wird unter dem Befehlswort, unter der Stimme des Erzengels und unter der Trompete Gottes herabsteigen vom Himmel, und die Toten in Christus werden auferstehen zuerst, danach werden wir, die Lebenden, die Übrigbleibenden zugleich mit ihnen hinweggerissen werden in Wolken zur Einholung des Herrn in die Luft; und so werden wir allezeit mit dem Herrn sein« (V.16f.). Auch hier ist nicht erkennbar, dass auf das - hier bei der Parusie anhebende - Mit-Christus- Sein noch etwas folgt - zumindest für die Christen handelt es sich, wie in Phil 1,23, um das voll- und endgültige Heilsziel. Im Zusammenhang kommt es Paulus ohnehin nur darauf an zu zeigen, dass die bei der Parusie Lebenden den dann bereits Verstorbenen nichts voraus haben werden (V.15). Und so äußert er wenig später im Brief noch einmal seine Überzeugung, dass wir, ob wir jetzt leben oder tot sind, zugleich (= alle zusammen) mit Christus leben werden (1Thess 5,10). Voraussetzung dafür ist hier nicht Leidensteilhabe oder Martyrium, sondern einfach die Zusammengehörigkeit mit Jesus. Diese bringt die Christen in die zukünftige Lebensgemeinschaft mit dem Auferstandenen (vgl. 4,14; 2Kor 4,14). »Weil Jesus Christus (gestorben und) auferstanden ist, deshalb werden auch wir« - die wir zu Jesus gehören - »der Auferstehungswirklichkeit teilhaftig werden.« 17 Wiederum in einer ganz anderen Terminologie spricht Paulus in Phil 3,20f. von dem Heilsereignis, welches die Wiederkunft Christi mit sich bringen wird: Christus »wird umgestalten den Leib unserer Niedrigkeit - gleichgestaltet (›symmorph‹) dem Leibe seiner Herrlichkeit...« Wie in 3,10f. ist auch hier von einer »Symmorphie« die Rede - allerdings nicht mit dem Tode Christi, sondern mit seinem Herrlichkeitsleib. Und Paulus hofft auch nicht eigentlich auf die Auferstehung von den Toten (durch Gott), sondern er erwartet die Verwandlung des Leibes (durch den eschatologischen Retter Christus). »Dabei ist ›Leib der Niedrigkeit‹ nicht irgend etwas Negatives am Menschen (etwa seine Körperlichkeit im Gegensatz zur Seele, die entsprechend griechischer Dichotomie nur Last oder Gefängnis der Seele wäre). Vielmehr bezeichnet ›Leib der Niedrigkeit‹ die ganze irdische Existenz des Menschen überhaupt, die der Hinfälligkeit, ja der tödlichen Vergänglichkeit angehört.« 18 Deshalb verwundert es auch nicht, dass auch Christus und den zukünftig erretteten Christen Leiblichkeit, nämlich ein (unvergänglicher) »Leib der Herrlichkeit« zugesprochen wird. Diese Grundkonzeption einer Gegenüberstellung von Vergänglichkeit auf der einen und Herrlichkeit auf der anderen Seite in Verbindung mit dem Verwandlungsmotiv findet sich auch in dem großen paulinischen Auferstehungskapitel 1Kor 15. Nach V.22f. und V.51f. rechnet Paulus dort mit einer Verwandlung aller Christen, der lebenden wie der toten (und dann auferstehenden), bei der Parusie Christi (deren Umstände er ähnlich beschreibt wie in 1Thess 4,15f.). Das einzige Kontinuum zwischen dieser und der künftigen, zwischen irdischer und himmlischer Existenz ist das Ich des Menschen bzw. das Wir der zu verwandelnden Gläubigen, derer, die zu Christus gehören. Genau genommen liegt die Kontinuität also nicht wie in Phil 3,21 in der umzugestaltenden Leiblichkeit, 19 sondern ausschließlich in der sich durchhaltenden »Identität« des Menschen als solcher, in seinem »Selbst« - welches jedoch nicht substanzhaft zu denken ist. 20 Vielmehr ist das Verhältnis von Sterblichkeit und Unsterblichkeit durch radikale Diskontinuität gekennzeichnet: Das eine wird durch das andere »überformt« (Metapher des »Anziehens«) und so das Sterbliche wie der Tod gleichsam »verschlungen« (V.53f.) 21 - d.h. restlos beseitigt. Und die jetzige somatische Existenzform wird durch die künftige, ebenfalls somatische nicht eigentlich verändert, sondern ersetzt: Vergänglichkeit und Unvergänglichkeit, Unansehnlichkeit und Herrlichkeit, Schwachheit und Kraft, irdischer Leib und geistlicher Leib stehen sich in V.42-44 antithetisch gegenüber. »Vielmehr ist das Verhältnis von Sterblichkeit und Unsterblichkeit durch radikale Diskontinuität gekennzeichnet.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 26 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 27 Günter Röhser »Christus ist mein Leben« 2. Theologische Zwischenbilanz Wir haben ein auf Christus bezogenes Lebensverständnis kennen gelernt, welches auch Leiden und Sterben zu umfassen vermag und vor der Grenze des Todes nicht Halt macht. Im Blick auf die Zukunft finden wir eine Reihe verschiedener, teilweise aus der Situation heraus zu erklärender Aussagen und Vorstellungen hellenistischer bzw. apokalyptischer Provenienz nebeneinander. Eine systematische Logik ist darin nicht zu finden, entspräche auch nicht der Eigenart religiösen Denkens in der Antike. Paulus steht in dieser Beziehung nur stellvertretend für das ganze Neue Testament. Die Aufgabe theologischer Interpretation kann in dieser Lage nur sein, Grundlinien der Zukunftserwartung herauszuarbeiten und Grunderfahrungen darzustellen, die bestimmten Vorstellungen zugrunde liegen. Die Gefahr bei einem solchen Vorgehen ist deutlich, und Theologie und Kirche sind ihr heute weithin erlegen: Je abstrakter und allgemeiner solche Grundlinien formuliert und je betonter und ausschließlicher von den Grunderfahrungen des Glaubens jetzt die Rede ist, desto blasser und unkonkreter wird unter Umständen die Zukunftserwartung selbst und kann keine tragende Hoffnung mehr bilden. Ich versuche daher im Folgenden einen Mittelweg zu gehen: 1) Ein in den vorgestellten Texten immer wiederkehrendes Grundmotiv paulinischer Zukunftshoffnung ist »Gemeinschaft mit Christus«. Gemeint ist immerwährendes engstes Zusammensein mit dem Erlöser im Kreise der Märtyrer bzw. in der Familie aller Kinder Gottes. Es ist natürlich kein Zufall, dass auch der Inhalt gegenwärtiger Glaubenserfahrung von Christen so beschrieben werden kann (wie wir noch weiter sehen werden). Das Leben mit Christus, durch den sich Gott den Menschen erschlossen hat, wird als so intensiv und durchgreifend positiv erfahren (gerade auch im Leiden), dass man es für keine reale Möglichkeit mehr halten kann, dass dieses Leben im Tode versinken soll. Vielmehr erwartet man für die Zukunft seine Vollendung und Erfüllung. 22 Gleichzeitig unterscheidet sich dieses Leben so sehr von allem anderen, umgebenden Leben, dass man sich auch und gerade die Existenzform des künftigen, daran anschließenden Lebens nur in radikaler Diskontinuität zu allem bisherigen, irdisch-negativen Leben vorstellen kann. Zwei Linien finden sich hier in biblischer Tradition nebeneinander: eine schöpfungstheologisch bzw. an der »neuen Schöpfung« orientierte, die gelingendes gegenwärtiges Leben eher als Vorabbildung bzw. Grundlegung des zukünftigen Lebens versteht, und eine apokalyptisch-dualistische, die den Bruch zwischen Jetzt und Dann betont. 23 2) Ein ebenso zentraler Begriff für das Verständnis paulinischer Eschatologie und Anthropologie ist - wie wir gesehen haben - »Leiblichkeit«. Damit ist als ein Konstitutivum des Menschen der Ort seiner Beziehungsfähigkeit gemeint, nicht seine Körperlichkeit oder Materialität als solche - ohne die es aber freilich nicht geht. »Sozialität« und »Kommunikativität« - so könnten wir, auch in Aufnahme von Punkt 1, sagen - machen wesentlich Mensch-Sein aus - und zwar nach Paulus im jetzigen wie im künftigen Leben. Die Art der Beziehungen wird im ewigen Leben von wesentlich anderer Qualität sein - aber es werden »Sozialbeziehungen« zu »Personen« sein: zu Christus, zu Gott, zu den anderen Menschen. Denken wir in diesem Zusammenhang auch an die Bilder aus der Jesus-Überlieferung vom »Reich« Gottes, vom eschatologischen »Mahl«, von der »Hochzeit«. Ein leibloses - und nicht irgendwie auch »materielles« - Dasein ist für alttestamentlich-jüdisches wie für neutestamentliches Verständnis ein freudloses Dasein und kann deshalb nicht das Ziel menschlichen Lebens sein. 24 Vielmehr gilt gerade dem »Leib« als dem Organ der Gemeinschaftsfähigkeit des Menschen die Hoffnung der Auferstehung bzw. Verwandlung. 25 Ich mache darauf aufmerksam, dass auch die Er- »Ein in den vorgestellten Texten immer wiederkehrendes Grundmotiv paulinischer Zukunftshoffnung ist ›Gemeinschaft mit Christus‹.« »Vielmehr gilt gerade dem ›Leib‹ als dem Organ der Gemeinschaftsfähigkeit des Menschen die Hoffnung der Auferstehung bzw. Verwandlung.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 27 28 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Zum Thema wartung eines künftigen »Wiedersehens« mit anderen Menschen in der Ewigkeit - die bekanntlich zum Gegenstand vieler Witze geworden ist - in den dargestellten Zusammenhängen ihre Grundlage hat und keineswegs lächerlich gemacht werden sollte. 3. Präsentische Eschatologie bei Paulus und Johannes Wenden wir uns im Folgenden noch einem weiteren Text des Apostels Paulus zu, der einen besonders wichtigen und spannenden Aspekt unserer Fragestellung betrifft: das Kapitel 6 des Römerbriefes. Es geht darin um nicht weniger als um die Grundlegung des christlichen Lebens und einer christlichen Ethik. Diese Aufgabenstellung ergibt sich aus dem Argumentationsgang des Römerbriefes wie folgt: Wenn die grundsätzliche Zugehörigkeit des Menschen zu Gott durch den Glauben an Jesus Christus und nicht durch die »Werke des Gesetzes« hergestellt ist (Röm 3,26- 28), welchen Grund gibt es dann eigentlich noch, die Gebote Gottes zu achten und ein Leben frei von Sünde zu führen? Wird durch die Sünde nicht vielmehr der Gnade umso mehr Raum gegeben (5,20; 6,1)? - Paulus antwortet darauf mit einem bestimmten Verständnis der Taufe, wonach in diesem Vorgang der Mensch aus seiner das ganze Dasein korrumpierenden Verflechtung mit der Sünde herausgelöst (6,2: »der Sünde gestorben«) und in eine grundsätzliche Freiheit von der Sünde gestellt ist und deswegen der Sünde nun auch keinen Raum mehr in seinem Leben geben soll. Und hier begegnen uns nun alle Elemente wieder, die wir im Zusammenhang mit der Rede vom künftigen Leben bereits kennen gelernt haben - hier nun aber bezogen auf die Gegenwart: Das Leben der Getauften ist »neues Leben«, weil die Taufe Vorwegnahme und Überwindung des der Sünde geschuldeten Todes ist, da sie in eine Geschicksgemeinschaft mit dem gekreuzigten und auferstandenen Christus stellt (6,3-11). Das neue Leben ist »leibliches« Leben - und kein irgendwie vergeistigtes -; es geht darum, Leib und Glieder - und d.h. »sich selbst« - in den »Dienst der Gerechtigkeit« zu stellen (V.12ff.). Ein Leben »in Christus Jesus« ist ein Leben »für Gott« (V.11). Die Christen sind »gleichsam Lebende aus den Toten« (V.13). 26 Mit- Christus-Formulierungen, wie wir sie oben kennen gelernt haben, werden hier im Zusammenhang mit Taufe und christlichem Lebenswandel gebraucht (V.4: Mit-Begraben-Werden, V.6: Mit- Gekreuzigt-Werden) - dann aber auch für das künftige, ewige Leben, welches Christus bei Gott schon lebt (V.8-10). Das heißt: Das gegenwärtige christliche Leben ist der Beginn des Neuen; vom künftigen Leben wird in diesem Text so geredet, dass von seiner Grundlegung im gegenwärtigen Leben die Rede ist (vgl. Röm 8,10). Umgekehrt bleibt aber das künftige, ewige Leben die Zielperspektive des gegenwärtigen (6,22f.). Der eigentliche Bruch, die Diskontinuität zwischen zwei Phasen liegt hier - anders als in 1Kor 15 - nicht zwischen dem Jetzt und dem Dann, sondern zwischen dem vorchristlichen und dem christlichen Leben. Und so hat auch die »Gnadengabe« des ewigen Lebens in V.23 bereits einen stark präsentischen Charakter. 27 Traditionsgeschichtlich kann man diese Akzentverschiebung folgendermaßen erklären: 28 Die Aussagen und Vorstellungen der oben skizzierten Märtyrertradition werden »realsymbolisch« auf die Taufe und ihre Folgen bezogen; 29 Leben »für Gott«, »aus den Toten« und »mit Christus« sind Formulierungen, die traditionell für vollendete Märtyrer gelten können und jetzt in theologisch kühner Weise auf die Gegenwart aller Christen angewendet (s. auch Gal 2,19) - und damit übrigens auch in gewisser Weise »entschärft«, und d.h. lebbar gemacht werden. Denn es stirbt sich »leichter« in der Taufe als an einem echten Galgen. 30 Erreicht wird damit aber vor allem eine enorme Konzentration der Heilserfahrung auf die Gegenwart - wir sprechen von »präsentischer Eschatologie« -, wie sie sich noch deutlicher in der deuteropaulinischen Briefliteratur und den dortigen Mit-Christus-Formeln findet. Man vergleiche Eph 2,5f.: Gott hat uns »mit Christus lebendig gemacht..., und er hat uns mitauferweckt und im Himmel miteingesetzt in »Derjenige Theologe im Neuen Testament, welcher die Gegenwart des Heils am nachhaltigsten akzentuiert, ist zweifellos der Evangelist Johannes.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 28 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 29 Günter Röhser »Christus ist mein Leben« Christus Jesus...« - Kol 2,12f.: Mit Christus wurdet ihr »begraben in der Taufe, in der ihr auch mitauferweckt wurdet durch den Glauben an die Macht Gottes, der ihn von den Toten auferweckt hat. Und euch ... hat er mit ihm zusammen lebendig gemacht...« Die entscheidende Heilserfahrung, die Wende zum Leben haben die Glaubenden und Getauften demnach bereits hinter sich; sie sind von daher zu einem neuen Leben (samt allen praktischen Folgerungen) ermächtigt. Derjenige Theologe im Neuen Testament, welcher die Gegenwart des Heils am nachhaltigsten akzentuiert, ist zweifellos der Evangelist Johannes. Er spricht dem in der Jüngergemeinde gegenwärtigen Jesus die höchsten nur denkbaren Heilsprädikate zu: »Ich bin die Auferstehung und das Leben« (11,25). »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich« (14,6; das »Leben« steht jeweils als Höhepunkt der Aufzählung am Ende). »Ich bin das Brot des Lebens« (6,48). Gemeint ist nicht: Wer zu Jesus gehört, wird zur künftigen Auferstehung (vgl. 11,24) und zum künftigen ewigen Leben gelangen; sondern: Wer zu Jesus gehört, dem wird jetzt schon alles nur denkbare Heil von Gott her durch Jesus zuteil. Begründet ist dies in der einzigartigen Präsenz des göttlichen Logos in Jesus; damit ist Gott den Menschen so intensiv nahe gekommen, dass der Glaube mit der Erfahrung unzerstörbaren Lebens selbst verschmilzt (vgl. 17,3). Dann aber gilt auch: Die Entscheidung über Tod und (ewiges) Leben - also das eschatologische »Gericht« - vollzieht sich bereits hier und jetzt, in der Entscheidung gegenüber dem Wort des Menschensohnes (Jesus). Fast lapidar heißt es in 3,18: »Wer glaubt ..., wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, ist schon gerichtet...« Und 5,24: »Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, hat (Präsens) ewiges Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern ist aus dem Tod in das Leben hinübergegangen (Perfekt).« 31 4. Schlussbetrachtung Was ist »ewiges Leben«? Ewiges Leben - auch »immerwährendes« Leben zu übersetzen - ist zunächst einmal kaum anders vorstellbar als zeitlich (unendlich). Es ist zugleich nach wichtigen Texten des Neuen Testaments ein Leben, das jetzt beginnt (oder zumindest grundgelegt wird) und den Tod »in Ewigkeit« überdauert. Dennoch unterliegt »ewiges« Leben anderen Bedingungen als das bisherige Leben: Es ist nicht die unendliche Verlängerung des bisherigen Lebens, auch nicht seine Steigerung, sondern seine Erfüllung im Sinne einer qualitativen Veränderung - wobei die Identität der Menschen erhalten bleibt. Selbstverständlich bleibt davon auch die Zeit-Erfahrung selbst nicht unberührt. In der »Ewigkeit«, die nach Johannes jetzt beginnt, ist die Erfahrung der verfließenden, ablaufenden Zeit aufgehoben. Wo der Mensch sich selbst vergisst im Tun des Willens Gottes, im Tun der »Gerechtigkeit«; wo er ganz aufgeht im Glauben an Jesus Christus und an den, der ihn gesandt hat - da ist »ewiges Leben«, unverlierbares, unzerstörbares Leben. Und da ist vor allem Leben, kein »paradiesischer Zustand«, kein Schlaraffenland. »Ewiges Leben« ist erfülltes, engagiertes, individuell-persönliches Leben, ganz einfach »richtiges« Leben. Es ist die Verwirklichung der göttlichen Bestimmung des Menschen zum Kind und Gemeinschaftspartner Gottes. In diesem Sinne kann man sagen: Wenn es kein »ewiges Leben« jetzt gibt, im faszinierten, begeisterten Hingegeben-Sein an das Tun dessen, was Gott von mir will, dann gibt es überhaupt keines. Wenn es kein »ewiges Leben« jetzt gibt, im anhaltenden Widerstand gegen die Mächte des Bösen und in der Erfahrung der Kraft des auferstandenen Gekreuzigten, dann gibt es überhaupt keines. Der Sinn des Lebens entscheidet sich jetzt, in der Zeit. »Ewiges Leben - auch ›immerwährendes‹ Leben zu übersetzen - ist zunächst einmal kaum anders vorstellbar als zeitlich (unendlich).« »›Ewiges Leben‹ ist erfülltes, engagiertes, individuellpersönliches Leben, ganz einfach ›richtiges‹ Leben.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 29 30 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Zum Thema l Anmerkungen 1 Zwei Einschränkungen sind zu machen: 1) Schon vorher gab es offensichtlich (nichtpaulinische) Christen in Italien (Apg 28,13-15). 2) Der Übergang nach Mazedonien stellt nicht wegen des Kontinental- oder gar wegen eines Kulturkreiswechsels (der er zu dieser Zeit nicht war) einen durch göttliche Führung veranlassten Einschnitt innerhalb der sog. zweiten Missionsreise (Apg 16,9f.) dar, sondern als Beginn der selbstständigen Missionstätigkeit des Paulus zur weiteren Ausbreitung des Evangeliums (vgl. Apg 15,39ff.; Phil 4,15). - Anders zuletzt B. Orth, Lehrkunst im frühen Christentum (Beiträge zur Erziehungswissenschaft und biblischen Bildung 7), Frankfurt a.M. u.a. 2002, 163: »Eintritt des Christentums in die westlich-abendländische Kulturwelt«. 2 Für Rom (und damit für eine Abfassungszeit um 60 n.Chr.) hat sich zuletzt mit guten Gründen U. Schnelle (Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 4 2002, 153-156) ausgesprochen, für Ephesus (und dann ca. 55 n. Chr. als Entstehungsjahr) U.B. Müller, Der Brief des Paulus an die Philipper (ThHK 11/ 1), Leipzig 2 2002, 16- 24; ders., Der Brief aus Ephesus. Zeitliche Plazierung und theologische Einordnung des Philipperbriefes im Rahmen der Paulusbriefe, in: U. Mell / U.B. Müller (Hgg.), Das Urchristentum in seiner literarischen Geschichte, FS J. Becker (BZNW 100), Berlin / New York 1999, 155-171; vgl. auch W. Thiessen, Christen in Ephesus (TANZ 12), Tübingen / Basel 1995, 116-128. 3 Die offene Formulierung rührt wohl daher, dass Paulus sich mit ihr auf die Anfragen der Philipper nach seinem persönlichen Ergehen bezieht (vgl. K. Barth, Erklärung des Philipperbriefes, Zollikon 6 1947, 23). 4 Zu dieser Grundbedeutung von griech. pistis (Glaube) vgl. K. Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen / Basel 2 1995, 89f. 5 Zum Ganzen vgl. jetzt J. Krug, Die Kraft des Schwachen. Ein Beitrag zur paulinischen Apostolatstheologie (TANZ 37), Tübingen / Basel 2001, der allerdings auf Phil 1,14 nicht eingeht. Siehe aber ebd. 159 (zu 1Kor 2,4f.): »Wenn Paulus schwach ist, und dennoch in seiner Verkündigung eine glaubenstiftende Kraft wirksam ist, wird offenbar, daß Gott und nicht ein schwacher Mensch Fundament des Gemeinde-Glaubens ist.« 6 Vgl. Krug, Kraft des Schwachen, 220f. (zu 2Kor 4,10f.); 272f.; 290f. (zu 2Kor 12,9f.); 315. Im Leben des Apostels zeigen sich deshalb auch gegenwärtige »Kraft«-Erfahrungen (griech. dynamis, z.B. 2Kor 6,7; 12,9.12). 7 Zum Beistand des heiligen Geistes vor Gericht s. auch Lk 12,12. 8 Vgl. ähnlich Lk 20,38, wo das Prädikat »leben« auch die Verstorbenen umgreift. 9 Die Formulierung soll deutlich machen, dass es sich primär um eine »intellektuelle« Aussage des Paulus handelt (durch das betont vorangestellte »für mich« grenzt er sie als seine Ansicht von anderen ab). Gleichwohl ist die »existenzielle« Dimension natürlich nicht ausgeschlossen, so dass die traditionelle Übersetzung »Christus ist mein Leben« (Luther) als durchaus sachgemäß erscheint (genauer wäre allerdings: »Mir ist Christus das Leben«, im Sinne von: Ich lebe von Christus; vgl. Kol 3,4: Christus als »euer / unser Leben«). - Anders S. Vollenweider, der vor dem Hintergrund seiner - an sich durchaus zutreffenden - formgeschichtlichen Bestimmung von V.21ff. als »Synkrisis von Leben und Tod« V.21a und V.21b lediglich »in parallelem Verhältnis zueinander« stehen sieht (Die Waagschalen von Leben und Tod. Phil 1,21-26 vor dem Hintergrund der antiken Rhetorik, in: Ders., Horizonte neutestamentlicher Christologie. Studien zu Paulus und zur frühchristlichen Theologie (WUNT 144), Tübingen 2002, 237-261, die Zitate 241; 243). V.21a bringe »ein Leben um Christi willen zur Sprache..., ein Leben zugunsten der Verkündigung des Evangeliums...« (ebd. 243f.). Dabei bleibt jedoch zweierlei unerklärt: a) wie Paulus überhaupt in V.21b unabhängig von V.21a zu einer positiven Wertung des Gestorben-Seins gelangen kann (in den von Vollenweider ebd. 248f. angeführten Parallelen geht die Begründung immer gerade aus dem Spruch selbst bzw. aus seinem unmittelbaren Zusammenhang hervor), b) der Sinn des adversativen de (»aber«) am Beginn von V.22, wenn denn V.21a ebenfalls nur (wie V.22) das irdische Leben im Blick hat (vgl. Müller, Philipper, 61; S. Schreiber, Paulus im ›Zwischenzustand‹: Phil 1.23 und die Ambivalenz des Sterbens als Provokation, NTS 49 [2003], 336-359: 338f. mit Anm. 9; kritisch zu Vollenweider auch ebd. 346f.). 10 Vgl. 2Makk 7,36 (nach kurzer Pein immerwährendes Leben jetzt); 4Makk 9,8 (»wir werden bei Gott sein, um dessentwillen wir auch leiden«); 16,25 (die um Gottes willen Sterbenden leben für Gott wie alle Patriarchen); 17,18 (wegen ihrer Ausdauer »stehen sie jetzt am göttlichen Thron« und leben ewig); ferner Weish 3,1-9; 4,7- 9.16; 1Clem 5,4.7; 6,1 und zum Ganzen: Müller, Philipper, 66-71. - Die Makkabäerbücher zeigen zudem, dass - neben der Auferstehungsvorstellung - die Erwartung der unmittelbaren postmortalen Gemeinschaft mit den Patriarchen auch auf alle Frommen übertragen werden kann (vgl. 2Makk 7,14; 4Makk 7,18f. und dazu Schreiber, Paulus, 348f.). 11 Anders Müller, Philipper, 162f., der von Röm 6,3-5 und der Taufe her erklären will (zu beidem s.u.). Eher ist noch an das hellenistische Freundschaftsideal zu denken, in dem das Motiv der Gemeinschaft (griech. koinonia) im Leiden und Sterben eine zentrale Rolle spielt, »insofern sich erst in der uneingeschränkten Teilhabe am Leidensgeschick des Freundes die Echtheit der Freundschaft erweist«; s. dazu M. Wolter, Der Apostel und seine Gemeinden als Teilhaber am Leidensgeschick Jesu Christi: Beobachtungen zur paulinischen Leidenstheologie, NTS 36 (1990), 535-557: 544-547 (mit Belegen; das Zitat 545). Von daher lässt sich m.E. auch die Übertragung von Aussagen über die himmlische Gottesbzw. Christusgemeinschaft der Märtyrer (s.o. Anm. 10 und Phil 1,23) auf die irdische Christusgemeinschaft im Leiden gut erklären: Freundschaft ist etwas Irdisches und die irdische Gemeinschaft muss der zukünftigen gemeinsamen Herrlichkeit vorausgehen. 12 Es ist zu beachten, dass ansonsten »die Rede vom Auferwecken bzw. Auferwecktwerden ›von den Toten‹ bei Paulus ausschließlich Christus gilt..., niemals den Christen überhaupt, denen die Auferstehung der Toten verheißen ist. Anscheinend denkt Paulus hier so stark von der conformitas mit Christus aus..., daß er seine eschatologische Zukunftserwartung mit den Worten von Christi Auferstehung formuliert« (Müller, Philipper, 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 30 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 31 Günter Röhser »Christus ist mein Leben« 164). - Eine zusammenhängende Darstellung der hier und im Folgenden herangezogenen »apokalyptischen« Texte des Paulus findet sich z.B. jetzt bei M. Hengel, Paulus und die frühchristliche Apokalyptik, in: Ders., Paulus und Jakobus (Kleine Schriften III; WUNT 141), Tübingen 2002, 302-417: 343-398 (»Parusietexte bei Paulus«). Hengels Tendenz besteht darin, die einzelnen Aussagen des Apostels in eine einheitliche Gesamtanschauung einzuordnen. 13 Vgl. Ignatius an die Römer: Erst der Märtyrer beginnt ein wirklicher Jünger Jesu zu sein (4,2; 5,3; vgl. Lk 14,27). Ignatius will »sterben hin zu Jesus Christus« (6,1) und ein »Nachahmer des Leidens« seines Gottes sein (6,3). 14 So auch wieder der »Katechismus der Katholischen Kirche«, München u.a. 1993, Nr. 1005 (S. 288). 15 Vgl. aber z.B. Tob 3,6 BA (Gebet Tobits): »Befiehl, meinen Geist aufzunehmen, damit ich abscheide und zu Erde werde...« 16 Dieselbe Heilsgemeinschaft spricht Jesus nach Lk 23,43 dem reuigen Verbrecher am Kreuz neben ihm zu: »Wahrlich, dir sage ich: Heute wirst du mit mir sein im Paradies.« - Vgl. weiter Offb 2,10: »Fürchte nicht, was du erleiden wirst! ... Sei treu bis zum Tod, so werde ich dir den Kranz des Lebens geben.« 17 T. Holtz, Der erste Brief an die Thessalonicher (EKK 13), Zürich u.a. 3 1998, 193f. - Vgl. weiter ebd. 204 mit Anmerkungen (Lit.! ), wo Holtz (mit P. Siber) auf »jüdisch-messianische Heilserwartung« als Hintergrund verweist (z.B. 1Hen 62,14). 18 Müller, Philipper, 184. 19 So übrigens auch in Röm 8,11, wonach Gott die sterblichen Leiber der Christen durch seinen in ihnen wohnenden Geist lebendig machen wird, und Röm 8,23, wo es um die erwartete »Erlösung des Leibes« aufgrund des »Geistes als Erstlingsgabe« geht. - Dieser Unterschied zwischen Röm 8 und Phil 3 einerseits, 1Kor 15 andererseits wird z.B. nicht gesehen von N. Walter, Leibliche Auferstehung? Zur Frage der Hellenisierung der Auferweckungshoffnung bei Paulus, in: M. Trowitzsch (Hg.), Paulus, Apostel Jesu Christi, FS G. Klein, Tübingen 1998, 109-127: 119f. 20 Am ehesten kann Lk 10,20b zur Veranschaulichung dienen: »... freut euch aber, dass eure Namen eingeschrieben sind im Himmel« (sc. im »Buch des Lebens«: Offb 3,5; 20,12). - Zur Kategorie des Namens s. K. Berger, Ist mit dem Tod alles aus? , Stuttgart 1997, 80-86. - Dass das Kontinuum »nicht in dem im Sinne einer sich unverändert durchhaltenden ontologischen Struktur verstandenen soma (steckt)« - so richtig W. Schrage, Der erste Brief an die Korinther IV (EKK 7/ 4), Zürich u.a. 2001, 300 -, schließt also eine eigene »personale Identität« des Menschen nicht aus (gegen Schrage ebd., der diese »allein in Gottes Schöpfertreue als eschatologischer Neuschöpfer« begründet sieht). Wirklich »substanzhaftes« Denken finden wir in dieser Frage erst mit der - unpaulinischen (1Kor 15,50! ) - Rede von der »Auferstehung des Fleisches«, die im Laufe des 2. Jh.s zunehmend an theologischer Bedeutung gewinnt (s. dazu die Untersuchung von H.E. Lona, Über die Auferstehung des Fleisches. Studien zur frühchristlichen Eschatologie [BZNW 66], Berlin / New York 1993, z.B. 266f.). 21 Zur Metaphorik vgl. 2Kor 5,4 und zum Kontext dieser Stelle: B. Bosenius, Die Abwesenheit des Apostels als theologisches Programm (TANZ 11), Tübingen / Basel 1994, 63-70. - Etwas anders akzentuiert Schrage, 1Kor IV, 378f., der auch für das Sterbliche von einem Verwandelt- und Hineingezogen-Werden in das Leben spricht, ohne jedoch die Diskontinuität in Frage stellen zu wollen. Stärker die Kontinuität und künftige Vollendung als die Diskontinuität bringt die Metapher vom »Geist als Angeld« in 2Kor 5,5 zum Ausdruck (vgl. Röm 8,23 und Bosenius, Abwesenheit, 70). 22 Vgl. bei Paulus auch die schwierige Stelle 2Kor 3,18, nach der die Christen sich auf dem Weg in immer größere Herrlichkeit befinden, da sie in die urbildliche Herrlichkeit Christi hineinverwandelt (»transformiert«) werden. 23 Vgl. die Darstellung bei A. Vögtle, Das Neue Testament und die Zukunft des Kosmos, Düsseldorf 1970 (z.B. 61- 63). »Apokalyptische Diskontinuität und natürliche Kontinuität stehen logisch unausgeglichen nebeneinander, eine Problemanzeige, die in unterschiedlichen Akzentuierungen letztlich alle Aussagen über das ewige Leben betrifft« (Leben V: Historisch / Systematisch [J. Hübner], TRE XX, Berlin / New York 1990/ 2000, 530-561: 552). 24 Vgl. zum Ganzen: Leib / Leiblichkeit (H.-H. Schrey), TRE XX, Berlin / New York 1990 / 2000, 638-643. 25 Von einem Zurücktreten dieser »leiblichen« Erwartung im Zuge einer »Hellenisierung der Auferweckungshoffnung« (vgl. Walter, Leibliche Auferstehung? ) kann ich bei Paulus aufs Ganze gesehen nichts erkennen. Gerade das in diesem Zusammenhang viel diskutierte 2Kor 5,1- 10 muss nicht zwangsläufig in diesem Sinne verstanden werden (vgl. zur Auslegung K. Erlemann, Der Geist als arrabon [2Kor 5,5] im Kontext der paulinischen Eschatologie, ZNW 83 [1992], 202-223, bes. 213ff.). 26 Zur Diskussion dieser Formulierung s. U. Wilckens, Der Brief an die Römer II (EKK 6/ 2), Zürich u.a. 1980, 21f. mit Anm. 76. 27 Der Aspekt der gegenwärtigen Teilhabe am Leben des Auferstandenen wird für Röm 6,1-11 sehr stark betont von H.-J. Eckstein, Auferstehung und gegenwärtiges Leben nach Röm 6,1-11. Präsentische Eschatologie bei Paulus? , ThBeitr 28 (1997), 8-23, bes. 19ff. 28 Vgl. Berger, Theologiegeschichte, 327f. 29 Das heißt auch: Sie werden sekundär (von Paulus) mit der Taufe in Verbindung gebracht (vgl. Wilckens, Röm II, 11f., der ebenfalls keinen ursprünglichen Zusammenhang zwischen der Tauftradition von Röm 6,3a und der Todesdeutung in Röm 6,3b-4 sieht), und zwar wohl aufgrund der möglichen metaphorischen Assoziation zwischen dem »Untertauchen« (griech. baptizein) und dem Sterben / Tod / Begraben-Werden (V.2-4). - Eine indirekte Bestätigung erfährt diese Auffassung durch EvPhil (Ende 2. Jh.) 109, wo der genannte Zusammenhang ausdrücklich bestritten wird: »Wir steigen zwar ins Wasser hinab, wir steigen aber nicht in den Tod hinab.« Vgl. hingegen Herm sim IX 16,4 (»Ins Wasser steigen sie tot hinab und steigen lebendig empor«) und zum Ganzen: R. Schlarb, Wir sind mit Christus begraben. Die Auslegung von Röm 6,1-11 im Frühchristentum bis Origenes (BGBE 31), Tübingen 1990, 54-57.250f. 30 In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass Hippolyt von Rom Formulierungen aus Röm 6,8.11 tatsächlich auf das Schicksal von Märtyrern (alttestamentliche Propheten, verfolgte Christen) angewendet 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 31 32 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Zum Thema hat (De Antichr 31; Com Dan 1,21,3ff.; s. dazu Schlarb, Begraben, 111-114). 31 Vgl. weiter Joh 3,15f.; 6,47.63; 10,28 und zum Ganzen: J. Becker, Die Hoffnung auf ewiges Leben im Johannesevangelium, ZNW 91 (2000), 192-211. Wichtig ist die Klarstellung, dass auch »präsentische Eschatologie« nicht individualistisch, sondern kosmisch zu verstehen ist, indem jeder einzelne Fall von Glaube oder Unglaube »als ein Aspekt eines kosmischen Trennungsprozesses angesehen ist« (ebd. 205). TANZ - Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter A. Francke Verlag Tübingen und Basel Stefan Alkier / Jürgen Zangenberg (Hrsg.) Unter Mitarbeit von K. Dronsch und M. Schneider Zeichen aus Text und Stein Studien auf dem Weg zu einer Archäologie des Neuen Testaments Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter 42, 2003, XVI, 535 Seiten, div. Abb. u. Tab., 78,-/ SFr 131,- ISBN 3-7720-8007-3 Der rapide Fortschritt der archäologischen Forschung im östlichen Mittelmeerraum, vor allem jedoch im Palästina der griechisch-römischen Zeit, ist für fachfremde Personen kaum noch zu überblicken. Nicht nur die Qumran-Forschung hat erwiesen, dass die Ergebnisse von Grabungen, Surveys und von verschiedenen archäologischen Spezialforschungen gerade für die neutestamentliche Wissenschaft Quellen ersten Ranges darstellen, die immer wieder die Art und die Ergebnisse der Textauslegung nachhaltig beeinflussen können. Der Band stellt die Breite der gegenwärtigen archäologischen Forschung zur neutestamentlichen Zeit exemplarisch und auch für Fachfremde verständlich dar und bemüht sich zugleich darum, das hermeneutische Theoriedefizit archäologischer Forschung aufzuarbeiten. Eine prägnante Auswahlbibliographie am Ende jedes Beitrages regt zur eigenen Weiterarbeit an; ein ausführliches Register erleichtert die Orientierung. 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 32 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 33 »Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde. [...] Und die heilige Stadt, das neue Jerusalem, sah ich herabkommen aus dem Himmel von Gott [...].« Was Johannes von Patmos in der Schlußvision seiner »Apokalypse« (Offb 21,1-22,5) als Szenario endzeitlichen Heils vor Augen stellt, ist an motivischer Vielfalt kaum zu übertreffen: Eine Stadt wie ein Würfel mit kosmischen Ausmaßen (Offb 21,16), ganz aus Gold (Offb 21,18) und übersät mit kostbarsten Steinen (Offb 21,19f.), gesegnet mit den Gütern des Paradieses (Offb 22,1f.), fernab allen irdischen Leids (Offb 21,4) und so durchdrungen von Gottes lichter Gegenwart, daß sie der Sonne und des Mondes nicht mehr bedarf (Offb 21,23; 22,5). Zu schön, um wahr zu sein? Oder anders gefragt: Offeriert dieser Text am Ende unseres christlichen Bibelkanons noch ein nachvollziehbares eschatologisches Denkmodell für uns WesteuropäerInnen zu Beginn des 21. Jh.? Welchen Stellenwert besitzt Offb 21f. in unserer theologischen Rede von Heil und von Zukunft heute? Ist es überhaupt wünschenswert, in der kirchlich-schulischen Praxis christliche Hoffnung gerade an diesem Text zu exemplifizieren? 1. Hermeneutischer Testfall einer Exegese zwischen Text- und Rezipientenorientierung In der Tat erweist sich die Jerusalemvision wie auch die Offb insgesamt als besonders geeignet, G.E. Lessings vielzitierten »garstigen breiten Graben« zwischen dem Damals und dem jeweiligen Jetzt offenkundig zu machen. Einige ihrer Bilder mögen über die Jahrtausende hinweg unmittelbar zugänglich sein. Andere erscheinen heutigen Lesern bestenfalls fremd, oft aber auch mißverständlich oder gar abstoßend. Doch als ein Text, der die existentiellen Fragen von Sinn und Ziel unserer Geschichte berührt, läßt sie sich nicht unter »ferner liefen...« beiseiteschieben - wenngleich das mit dieser unbequem anderen Schrift in der Theologiegeschichte immer wieder geschehen ist. Zweifelsohne besteht ein unverzichtbarer Beitrag zu einem wissenschaftlich verantwortbaren Zugang darin, den literarischen Kontext und die historische Situation der Jerusalemvision zu erhellen. Die traditionsgeschichtliche Analyse von Offb 21f. 1 zeigt, wie stark der judenchristliche Seher in Kontinuität zur jüdischen Zukunftshoffnung steht. Mit prophetischem Selbstverständnis und im Horizont der frühjüdischen Apokalyptik rezipiert er v.a. die atl. Propheten (vgl. die »Leittexte« Jes 65,17-20 und Ez 40-48) sowie den Pentateuch. In kreativer Weiterentwicklung läßt er eine eschatologische »Collage« entstehen, die durch seine vom Christusereignis geprägte Perspektive gleichwohl eine neue Stoßrichtung erhält. Mit seiner Heilsvision will er den angeschriebenen kleinasiatischen Christen am Ende des 1. Jh. eine Alternative zum ständigen Paktieren mit den Kräften des Imperium Romanum aufzeigen und greift kompromißlos-rigoros in das damalige Ringen um christliche Identität zugunsten einer strikten Abgrenzung von der paganen Umwelt ein. 2 Für eine heutige Wertschätzung heißt das: Offb 21f. stellt nur einen (wenn auch bedeutenden) Knotenpunkt im Geflecht eines langen Traditionsprozesses dar. Fast zweitausend Jahre vor unserer Zeit appliziert ihr Autor die Hoffnungen seiner Vorgänger und Zeitgenossen auf die konkrete Situation seiner Adressaten. Das Kennenlernen der historischen Hintergründe mildert manche Zugangsschwierigkeiten ab. Das Gewahrwerden des immensen historischen Abstands schärft gleichzeitig aber das Bewußtsein für die Distanz zwischen dem orientalischen Text der Antike und uns heutigen Rezipienten. Es Zum Thema Rita Müller-Fieberg Literarische Rezeptionen des »neuen Jerusalem« (Offb 21f.) als Impuls für Theologie und Praxis »Das Gewahrwerden des immensen historischen Abstands schärft gleichzeitig aber das Bewußtsein für die Distanz zwischen dem orientalischen Text der Antike und uns heutigen Rezipienten.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 33 34 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Zum Thema läßt nicht selten selbst das, was wir unmittelbar zu verstehen glaubten, in einem neuen, fremden Licht erscheinen. So wichtig die Erfahrung unvereinnahmbarer Fremdheit auch ist, kann sie doch - wenn wir von der bleibenden Lebensrelevanz der Bibel überzeugt sind - nur die eine Seite unseres Umgangs mit biblischen Texten darstellen. Genauso bedeutsam ist es, die Seite der LeserInnen in ihrer jeweiligen geographischen, historischen und kulturellen Verortung in den Interpretationsprozeß mit einzubeziehen. Nur wenn wir auch im exegetischen Alltag realisieren und statt als Manko als Chance erkennen, daß eine jede Rezeption subjektiv-zeitgebunden ist, kann der »ferne« Text uns naherücken, kann der »alte« Text in unserer Wirklichkeit Neues in Gang setzen. Die Vision des neuen Jerusalem in Offb 21f. belegt besonders eindrucksvoll, daß sich der Prozeß des Rückgriffs auf biblische Traditionen bis heute fortsetzt. Neben dem Weiterleben in bildender Kunst und Architektur läßt ihre ästhetisch-poetische Formung noch einen bisher weniger beachteten Bereich ins Blickfeld treten: denjenigen der literarischen Rezeption. Der in den letzten Jahrzehnten intensivierte Dialog zwischen Theologie und Literatur(wissenschaft) hat die Produktivität einer Konfrontation biblischer Zeugnisse mit ihren literarischen Fortschreibungen zutagetreten lassen. Seismographisch vermögen literarische Texte die Fragen, Ängste und Sehnsüchte ihrer Zeit anzuzeigen. Gerade darum eröffnen sie oft frische Zugänge zu einem schon antiquiert geglaubten Text und können der exegetisch-theologischen Diskussion neue Impulse verleihen. 3 Am Beispiel von Offb 21f. sollen einige Ertragspotentiale eines solchen Dialogs aufgezeigt werden. Zwei Denkhorizonte sind dabei leitend: Zum einen sei die Frage aufgeworfen, in welchem Licht literarische Texte die christlicheschatologische(n) Perspektive(n) generell erscheinen lassen. Zum anderen muß Hoffnung, will sie nicht im luftleeren Raum verharren, immer in konkrete Formen gegossen werden. Wie wird diejenige, die der Seher Johannes fand - eine mit vielen Details versehene Stadtbeschreibung - durch die Jahrhunderte hinweg rezipiert? Wo liegt es, das »Jerusalem« der Schriftsteller? 2. Die »kupierte Apokalypse« - oder: Die christliche Hoffnungsperspektive auf dem Prüfstand Können wir auf »Heil«, auf Erlösung von allem Leid und allen Unzulänglichkeiten menschlicher Existenz hoffen? Die Antwort des Sehers lautet: Gott wird alle feindlichen Mächte besiegen und endgültig Gerechtigkeit schaffen. Mit ungebrochener Schöpferkraft läßt er eine neue Stadt vom Himmel herabkommen, die anders ist als alles, was ihr bisher kennengelernt habt! Die Antwort der Literaten fällt wesentlich uneindeutiger aus. Bis in die Gegenwart hinein besteht eine an Offb 21f. orientierte Linie traditioneller christlicher Jenseits- und / oder Endzeitrede. Bei affirmativer, oft wörtlicher Bindung an die biblische Vorgabe gedeiht die biblische Stadt zu der Himmelsschilderung schlechthin, besonders eindrucksvoll z.B. in John Bunyans Erbauungsbuch »The Pilgrim’s Progress from this World to that which is to come« (1678/ 1684) oder in den schlaraffenlandähnlichen Jenseitsschilderungen des Angelus Silesius (»Die ewige Freude der Seligen«). Inmitten von Naziterror und Zweitem Weltkrieg wählen christliche Schriftsteller wie Jochen Klepper (»Kyrie«, 1938) oder Reinhold Schneider (»Apokalypse«, 1943) die Bilder der Jerusalemvision, um in starker Antithese von gegenwärtiger Gerichtszeit und ewiger Heilsstadt die unverstellte Gottesnähe (vgl. u.a. Offb 22,3f.) tröstlich in Aussicht zu stellen. Zwei Trends sind den genannten Texten gemeinsam. Zum einen wird das »neue Jerusalem« als streng jenseitige Größe gezeichnet, zum anderen geht mit diesem Ansatz fast immer eine starke Individualisierung der Heilshoffnung einher, die die eschatologische Fragestellung auf das Ergehen des Einzelnen nach seinem persönlichen Tod reduziert. Daß es auch im christlich-literarischen Spektrum andere Stimmen gibt, belegt das in den fünf- »Der in den letzten Jahrzehnten intensivierte Dialog zwischen Theologie und Literatur(wissenschaft) hat die Produktivität einer Konfrontation biblischer Zeugnisse mit ihren literarischen Fortschreibungen zutagetreten lassen.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 34 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 35 Rita Müller-Fieberg Literarische Rezeptionen des »neuen Jerusalem« ziger Jahren des 20. Jh. entstandene Gedicht »Apocalipsis« des nicaraguanischen Priesters und Politikers Ernesto Cardenal. Konsequent überträgt Cardenal die biblische Apokalypse bei formaler Kontinuität in die aktuelle Erfahrungswelt und paßt sie dem wissenschaftlichen Kenntnisstand seiner Gegenwart an. Sowohl Untergang als auch Neuschöpfung erhalten dabei ein modernes Gesicht. »Y vi en la biología de la Tierra una nueva Evolución«, 4 so lautet der mit Offb 21,1 korrespondierende Vers. An die Stelle des Dualismus von Alt und Neu, von Diesseits und Jenseits rückt ein innerweltlicher Vervollkommnungsprozeß, der in der »Biologie der Erde« angelegt ist und nur noch entfaltet werden braucht. Das Bild der Stadt weicht demjenigen einer Zelle mit kosmischen Dimensionen, in der jeder einzelne seine persönliche Freiheit behält und doch alle zusammen einen einzigen harmonischen Organismus bilden. Beachtlich ist, daß zumindest im christlichen Binnenkontext die Vision des Johannes bis in die Gegenwart hinein ein reaktivierbares Identifikationsangebot darstellt. Wie der biblische Seher in Bedrängnis die Zuversicht auf die Herrschaft Gottes nicht aufgibt, üben solche Texte besonders in Situationen politischer oder wirtschaftlicher Unterdrückung Trost- und Ermutigungsfunktion aus, bei Cardenal auch mit dem Impuls zum Handeln verbunden. Was aber, wenn die klare Heilsperspektive als solche brüchig wird und die Evokation einer ewig-glückseligen Stadt nur noch den schalen Beigeschmack des Eskapismus hat? Stellvertretend für andere explizite Infragestellungen der biblischen Heilsvision sei hier aus Stefan Heyms Roman »Ahasver« (1981) zitiert. Den Bogen von der Schöpfung bis zur endgültigen Vernichtung der Erde spannend, läßt der von Geburt jüdische Autor in der »apokalyptischen« Schlußszene den »Rabbi« Jesus einem gleichgültigen Gott entgegentreten, dem die eigene Schöpfung entglitten ist: »Dieser GOtt ist nirgends; [...] und ich, des Menschen Sohn, bin GOtt an seiner Statt, und ich will tun, was Er geschworen, aber nie erfüllt hat; ich will einen neuen Himmel schaffen und eine neue Erde [...].« 5 Doch seine Hoffnung, der Zerstörung möge sich die verheißene Neuschöpfung anschließen, wird nicht erfüllt: »Aber immer noch stürmte der Rabbi vorwärts, und sein Heerscharen ihm nach, auf der Suche nach dem himmlischen Jerusalem, welches aus Jaspis ist und lauterem Golde und zwölf Tore hat [...] und über ihnen der große Tempel aus weißem Marmelstein, in dessen Allerheiligstem GOtt selber thront auf einsamem Thron [...]; doch nirgendwo fand sich eine solche Stadt...« 6 Nichts als eine abgedroschene Utopie bleibt von den Hoffnungen auf ewiges Heil. Letztlich bleiben wir, so Heym, gefangen in den Ambivalenzen des hiesigen Daseins. Der Roman Heyms ist ein Beispiel für die »apokalyptische Literatur«, die sich im deutschsprachigen Raum des 20. Jh. in drei großen Schüben abzeichnete: Zur Zeit des Ersten Weltkrieges gaben v.a. Expressionisten wie Georg Trakl oder Johannes R. Becher ihrer Sehnsucht nach umwälzender Veränderung Ausdruck, doch erscheint dort, wo die Motivik von Offb 21f. anklingt, das Ersehnte diffus und losgelöst von der ursprünglichen jüdisch-christlichen Weltdeutung. Auf die Schrecken des Dritten Reiches reagierten neben christlichen Autoren (s.o.) v.a. auch jüdische Dichter wie z.B. Nelly Sachs oder Paul Celan. Und in der bislang jüngsten Welle »apokalyptischer Literatur« im Zeichen von atomarer Bedrohung und befürchtetem Ökozid zeichnen Autoren wie Christa Wolf (»Störfall«, 1987) oder Günter Grass (»Die Rättin«, 1986) das Bild von Rita Müller-Fieberg Rita Müller-Fieberg, Jahrgang 1968, studierte Katholische Theologie, Französisch und Germanistik in Mainz, Toulouse und Bonn. 1. und 2. Staatsexamen für das Lehramt der Sekundarstufen II/ I. Promotion 2003 in Bonn über Offb 21f. im Kontext von alttestamentlich-frühjüdischer Tradition und literarischer Rezeption. Seit 1998 wissenschaftliche Mitarbeiterin für Neues Testament am Institut für Katholische Theologie der Justus-Liebig-Universität Gießen. 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 35 36 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Zum Thema der Unweigerlichkeit einer von Menschenhand herbeigeführten Katastrophe. Entgegen der ursprünglichen Semantik (apokalypsis = »Offenbarung«, »Enthüllung«) ist dem Begriff in der »apokalyptischen Literatur« jedoch eine bedenkenswerte »Kupierung« 7 widerfahren: Die Zerstörung, in den biblischen Texten nur Voraussetzung für die Entstehung neuen Heils, stellt nun das eigentliche Finale dar, die Hoffnung auf die Errichtung einer neuen Welt hingegen fehlt. Der Bildkomplex von Offb 21f. erscheint höchstens noch in Motivsplittern und wird an den Rand gedrängt. »Der Katastrophe gewinnt die Literatur der Moderne allemal mehr ab als dem Glück. Konkretisierungen des kommenden idealen Reiches wie noch in den alt- und neutestamentlichen Apokalypsen sind der Trivialität verdächtig. [...] Wir erlauben uns nicht mehr, das neue Reich zu denken.« 8 Ist eine noch größere Herausforderung an eine christliche Eschatologie vorstellbar? 3. »Translatio Hierosolymae«- oder: »Jerusalem« ist überall (und nirgends? ) Nicht alle literarischen Texte greifen das Motiv der Gottesstadt im Kontext der traditionellen Jenseits- und Endzeiterwartung auf. Gerade die Entwürfe jüdischer Schriftsteller verweisen immer wieder auf die Fokussierung der heiligen Stätte im irdischen Jerusalem, wenngleich auch hier fließende Übergänge und Ambivalenzen zu finden sind, die »Jerusalem« zu einer multivalenten Metapher der Sehnsucht werden lassen: »Ich suche allerlanden eine Stadt, / Die einen Engel vor der Pforte hat.« 9 Christlicherseits dagegen läßt sich von Anfang an ein starker Trend zur Entkonkretisierung und Spiritualisierung erkennen, verbunden mit der Loslösung von der irdischen Stadt und einer »translatio Hierosolymae« 10 auf andere Örtlichkeiten und Erfahrungen: »If the true Jerusalem is located in heaven or elsewhere upon earth, the Old City upon the hills of Judaea has lost its unique signification.« 11 3.1. Projektion auf andere Städte und Länder Nachhaltigen Einfluß übte die Vision des Johannes auf den Städtebau aus, wobei das Motiv einer »neuen Welt« auch die Dimension ganzer Länder oder Kontinente mit einbezieht. So verlagert William Blake in seinem Versepos »Milton« (1809) das neue Jerusalem in die englische Heimat. Schon vor dem »Sündenfall« der Menschheit hätten England und Jerusalem eine Einheit gebildet, in der Gott und Lamm gegenwärtig gewesen seien: »And did those feet in ancient time Walk upon England’s mountains green? And was the holy Lamb of God On England’s pleasant pastures seen? And did the Countenance Divine Shine forth upon our clouded hills? And was Jerusalem builded here Among these dark Satanic mills? « 12 Aus dieser Vorstellung erwächst ein leidenschaftlicher Appell zu einer erneuten Aufrichtung der »heiligen Stadt« in englischen Gefilden: »I will not cease from mental fight, Nor shall my sword sleep in my hand, Till we have built Jerusalem, In England’s green and pleasant land.« 13 Blakes ursprünglich die Folgen der industriellen Revolution kritisierendes Gedicht gedieh im 20. Jh. zu einer Art zweiter englischer Nationalhymne, mit Inbrunst gesungen bei Versammlungen der Labour Party, bei Arbeiterstreiks oder bei Kundgebungen der Frauenbewegung. Es stellt so Heinrich Bünting (1545-1606), ein lutherischer Theologe aus Hannover, verfasste unter anderem das Werk Itinerarium Sacrae Scripturae, welches eine biblische Geographie darstellt und bis zu zwölf Karten enthält. Die gezeigte Karte stellt die Welt als Kleeblatt dar. Den Mittelpunkt bildet das heilige Land, darin eingebettet befindet sich Jerusalem. 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 36 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 37 Rita Müller-Fieberg Literarische Rezeptionen des »neuen Jerusalem« ein eindrucksvolles Zeugnis für die (literarisch vermittelte) suggestive Kraft des Jerusalemmotivs dar - freilich unter der von der Bibel abweichenden Prämisse, das »neue Jerusalem« sei nicht gänzlich Gottesgabe, sondern von Menschenhand zu erkämpfen und zu errichten. Auch in Charles Baudelaires »Rêve parisien« (1881) entspringt die »Traumstadt« allein dem Rausch des mit einem Künstler verglichenen lyrischen Ichs. In starker Parallelität zum neuen Jerusalem verfügt sie über immense Ausmaße und besteht aus den edelsten Materialien. Der Eindruck ihrer Kostbarkeit wird potenziert durch den Wasserreichtum, dessen Glanzeffekte der Stadt ein kristallines Angesicht verleihen. Wie das Jerusalem der Offb bedarf die Traumstadt keiner Gestirne mehr. Doch trotz ihrer Ausstrahlung von Zeitlosigkeit und Unendlichkeit läßt sich kein größerer Gegensatz zur Gottesstadt der Offb denken. Nicht die»Doxa Gottes« (Offb 21,23) bewirkt das selbständige Leuchten der Stadt, und anders als der »Strom von Wasser des Lebens« (Offb 21,6; 22,1) erfüllen die Gewässer dort keinerlei lebensspendende Funktion. Alles Natürlich- Kreatürliche ist der perfekten Monotonie und Regelmäßigkeit, der Kälte und Sterilität gewichen. Das »Neue« bringt dem Träumer keine Erlösung, unweigerlich folgt die Rückkehr in den trostlosen Alltag. Bleibende Erfüllung kann weder das reale noch das geträumte Paris bieten. 3.2. Transposition in die Liebesbeziehung An einer anderen wesentlichen Aussage von Offb 21f. knüpfen Literaten an, die die verheißene unmittelbare Gott-Mensch-Beziehung auf zwischenmenschliche intime Beziehungen übertragen. David Herbert Lawrence z.B. läßt in »New Heaven and Earth« (1917) die Ehefrau des lyrischen Ichs als exotisches »neues« Land erscheinen, als lebensspendende Kraft und Befreiung aus narzistischer Selbstfixierung. An die Stelle der Gottesbeziehung rückt die im irdischen Hier und Jetzt erfahrbare erotische Liebe. Auch in Paul Celans spätem Gedicht »Die Pole«, 1976 posthum veröffentlicht, werden die Geliebten einander zum »Jerusalem«, gewinnen sie ihre Identität erst im Loslassen ihrer selbst und antizipieren auf diese Weise die eschatologische Wirklichkeit. Die im Zentrum des Gedichts stehende Aufforderung »sag, daß Jerusalem i s t« 14 wird dabei zum Inbegriff der Sehnsucht nach einer anderen Wirklichkeit jenseits der die conditio humana bestimmenden Polaritäten von Ich und Du, Tod und Leben, Immanenz und Transzendenz. 3.3. »Jerusalem« zwischen Alptraum und Traum Immer wieder wurde die Jerusalemvision auch zum Ausgangspunkt utopisch-phantastischer Entwürfe. Während die klassischen frühneuzeitlichen Stadtutopien wie Campanellas »La Città del Sole« (1602) oder Andreaes »Christianapolis« (1619) noch optimistisch-alternative Ordnungen in Anlehnung an Offb 21f. entwarfen, verwandeln sich neuere »Utopien« v.a. des 20. Jh. häufig in »Anti-Utopien«, die sie der modernen »apokalyptischen« Literatur immer ähnlicher werden lassen. So liest sich z.B. der Roman »Die andere Seite« (1909) von Alfred Kubin zunächst wie eine typische Utopie. Das Traumreich »Perle« (Offb 21,21), das der fiktive Ich-Erzähler auf Einladung des Herrschers Patera besucht, erinnert hinsichtlich seiner Mauer und Tore sowie seiner äußeren Harmonie an die Stadt der Offb und erweist sich erst beim näheren Kennenlernen als dessen Antitypos: Im Gegensatz zur biblischen neuen Schöpfung existiert in Perle nur Altes. Ohne Sonne und Mond und nur notdürftig künstlich beleuchtet, ist die Stadt in ständiges Zwielicht getaucht, erscheint farblos, stumpf und tot. Der gottähnliche Patera ist für die Bewohner nirgendwo wirklich greifbar, und doch erdrückt seine Allgegenwart jegliches Eigenleben. Pateras Gegenspieler Bell will die Bewohner aus dem Zustand der Lethargie herausreißen und ruft zur Revolte auf. Unter seinem Einfluß nimmt die Stadt Züge Babylons an, wandelt sich die ohnehin schon ambivalente Utopie zur »Apokalypse«. In einem großen Endkampf siegt Bell über den sterbenden Patera, doch hat »An einer anderen wesentlichen Aussage von Offb 21f. knüpfen Literaten an, die die verheißene unmittelbare Gott-Mensch- Beziehung auf zwischenmenschliche intime Beziehungen übertragen.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 37 38 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Zum Thema auch er mit der Vernichtung Perles alles verloren, wofür er kämpfte. Kubins Roman kehrt nicht bloß die in der Offb vorfindliche Reihenfolge von Untergang und »Heilszustand« um, vielmehr handelt es sich um ein prinzipielles Oszillieren zwischen »Himmel« und »Hölle«. »Jerusalem« und »Babylon« fließen ebenso ineinander wie die am Ende miteinander verschmelzenden Antagonisten Patera und Bell. Das Scheitern der Illusion einer »heilen Welt« ist verbunden mit der Erkenntnis, »daß sich dies widersprechende Doppelspiel in uns fortsetzt.« 15 Leben und Tod, Gott und Teufel ringen, so die Botschaft des Romans, in einem jeden Menschen miteinander, ohne daß jemals das eine in Reinform ohne das andere zu haben wäre. Auch Doris Lessing verlegt in »Shikasta« (1979) ihren Entwurf an einen fernen Ort, nämlich in die Science-Fiction- Welt der Planeten und Sterne. Doch folgt sie ganz dem biblischen Erzählduktus vom Sündenfall bis zu einem anbrechenden Neubeginn. Der einst so fruchtbare Planet »Rohanda« wird durch die Hybris seiner Bewohner gegenüber der sie regierenden Intelligenz des Sternenreichs Canopus zu »Shikasta«, dem »verwundeten« und schließlich in einer globalen Katastrophe weitgehend vernichtet. Doch steht in den schlimmsten Wirren schon fest, daß Canopus für diejenigen Rettung bereithält, die sein Zeichen tragen (Offb 7,3ff.). So wohnen die Überlebenden der Errichtung von Städten bei, die in unendlicher Vervielfachung das neue Jerusalem spiegeln. Sie zeichnen sich aus durch harmonische Symmetrie und einen Platz mit einem sprudelnden Springbrunnen in ihrer Mitte (Offb 22,1f.). Unfriede, Angst und Verzweiflung erscheinen so weit weg, als ob sie nie existiert hätten (Offb 21,4). Die Bewohner spüren ihre Lebendigkeit, fühlen sich gereinigt und geheilt von den Leiden der Vergangenheit, sind eins mit sich selbst und miteinander. Zwar haben sie selbst die neuen Städte errichtet, doch auf eine höhere Eingebung hin, die sie zunächst die Quelle finden läßt, um die sie bauen können. Ganz im Sinne von Offb 21,6 speisen ihre Städte sich aus einer »Quelle des Lebens«, bleiben sie letztlich Geschenk. 4. Theologische Schlußfolgerungen Bereits die kleine Textauswahl spiegelt etwas von der großen Vielfalt der Rezeptionspotentiale, die aus der Mehrdimensionalität der Jerusalemsymbolik erwachsen. Welche Impulse können von diesem vielgestaltigen Fortleben des biblischen Motivkomplexes für die heutige Exegese und Theologie von Offb 21f. ausgehen? 4.1. Gratwanderung zwischen den Extremen Ein tiefes Unbehagen und Abgrenzungstendenzen gegenüber dem als »suspekt« empfundenen Phänomen der Apokalyptik (oder dem, was man darunter zu verstehen glaubt) sind christlicherseits oft geblieben. Die Intensität, mit der die Schriftsteller bis heute auf apokalyptische Motive zurückgreifen, zeugt dagegen von deren nicht totzuschweigender Virulenz und fordert die christlichen Kirchen heraus, sich jenseits einer fundamentalistisch-biblizistischen 1: 1-Übertragung verantwortungsvoll mit diesem integrativen Bestandteil ihres Erbes auseinanderzusetzen. Besonders drei Anfragen erwachsen aus der Begegnung von Offb 21f. mit literarischen Texten. 4.1.1. Wider die Schwarz-Weiß-Malerei Die biblische Jerusalemvision trägt den für die Apokalyptik typischen dualistischen Grundzug. Selbst in der Heilsschilderung wird das nicht mehr existente »Alte« noch einmal in Erinnerung gerufen (Offb 21,1.4), wird alles »Unreine« ausgeschlossen (Offb 21,27) und mit handfesten Konsequenzen gedroht (Offb 21,8). Sicherlich: Ihr Autor steht mit dem Rücken zur Wand. Doch birgt eine solche Schwarz-Weiß-Dynamik ins Allgemeine gewendet nicht ein enormes Gefahrenpotential der Simplifizierung, der Ausgrenzung und Dämonisierung Andersdenkender? Texte wie diejenigen von Heym oder von Kubin zeigen, daß menschliche Existenz immer auch ein Leben in Ambivalenzen bedeutet, und stellen so ein wichtiges Korrektiv für die zumindest einseitige Position des Johannes von Patmos dar. »Ein tiefes Unbehagen und Abgrenzungstendenzen gegenüber dem als ›suspekt‹ empfundenen Phänomen der Apokalyptik (oder dem, was man darunter zu verstehen glaubt) sind christlicherseits oft geblieben.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 38 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 39 Rita Müller-Fieberg Literarische Rezeptionen des »neuen Jerusalem« 4.1.2. Radikalabwertung der Schöpfung? Ferner sieht Johannes die Gegenwart so sehr von den Mächten des Bösen beherrscht, daß aus ihr unmöglich Heil erwachsen könnte. Offb 21,1.5 zeugen von einem Diskontinuitätsbewußtsein, das von den Erneuerungsvorstellungen der atl. Propheten deutlich abweicht und auch im frühjüdisch-apokalyptischen Spektrum eine Extremhaltung darstellt. Die Basis für eine engführende Interpretation des neuen Jerusalem als streng endzeitlich-jenseitige Größe war gelegt. Viele literarische Zeugnisse setzen wiederum einen Kontrapunkt. So kann die in modernen Texten beobachtete »Kupierung« verhindern, daß christliche Rezipienten allzu rasch über die Ernsthaftigkeit des »Untergangs« und des Todes angesichts der in Aussicht gestellten »Herrlichkeit« hinweggehen. Ebenso wie z.B. das zum Handeln auffordernde Gedicht Blakes rufen sie dazu auf, den realen Leiden der Gegenwart in Verantwortung zu begegnen. Und Cardenals »evolutionistischer« Entwurf eines Ineinanders von alter und neuer Welt erinnert daran, daß bereits die Schriften des NT eine spannungsvolle Bipolarität von präsentisch und futurisch orientierten Heilsvorstellungen bezeugen. Unter ihnen stellt die Offb zwar vorrangig ein Dokument futurischer Eschatologie dar und bleibt als solches auch unentbehrlich. Denn indem sie das neue Jerusalem einer Welt nach der bestehenden vorbehält, verheißt sie, daß Gottes Zukunft mehr ist als die unendliche Verlängerung der Gegenwart. Nichtsdestotrotz kommt die Gottesstadt auf die (neue) Erde herab (Offb 21,2.10), bleibt der Seher in den Schilderungen ihrer baulichen, farblichen und paradiesischkreatürlichen Pracht dieser Welt stärker verbunden, als es zunächst den Augenschein hat. 4.1.3. Allmächtiger Gott - ohnmächtige Menschen? Eng verbunden mit der Frage der Diesbzw. Jenseitigkeit der Gottesstadt ist diejenige nach ihrem Urheber. Die Jerusalemvision spiegelt den theozentrischen Grundzug der gesamten Offb: Gott allein, der Pantokrator (Offb 21,22), der auf dem Thron Sitzende (Offb 21,5; 22,1.3), der seine Feinde Verurteilende (Offb 21,8), ist der Neuschöpfer (Offb 21,5). Allein ein solch machtorientiertes Gottesbild fordert schon zu Widerspruch heraus. Bei Kubins gottgleichem Patera z.B. folgt aus dessen Allmacht für die Bewohner Unfreiheit und Kontrolle, wird Allgegenwart zur drückenden Last. Gerade weil ein Gott, dessen Auge alles sieht, so oft als moralische Keule in der religiösen Sozialisation eingesetzt wurde, erfordert die theologische Analyse und Vermittlung des Gottesbildes von Offb 21f. differenzierendes Feingefühl. Es gibt auch hier einen Gott zu entdecken, der den Menschen unmittelbar nah ist, 16 dies aber als Ausdruck seiner fürsorglichen Zuwendung. 17 Allmacht und Herrschaft sind kein Selbstzweck, sondern Vorbedingung für die Durchsetzung des Heiles gegen die feindlichen Mächte - eine Notwendigkeit, die für Johannes und seine Adressaten auf der Hand lag. Indem die meisten modernen literarischen Texte statt auf einen aktiv handelnden Gott auf menschliches Handeln bauen, können sie vor der Versuchung süßlicher Jenseitsvertröstung warnen. Daß es aber auch hier »Zwischentöne« gibt, indizieren Texte wie diejenigen von Cardenal, wo Gott ungenannt zurücktritt als in den Menschen wirkende Kraft der Liebe, oder von D. Lessing, wo die Menschen auf die »Inspiration« einer höheren Macht hin handeln. Und wieder gilt es, die Offb differenziert wahrzunehmen. Sicherlich vertritt ihr Autor eine Art »Durchhalteethik« 18 in bedrängter Lage, die vorrangig der Konsolidierung der Gemeinde statt der Veränderung sozialpolitischer Strukturen dienen soll. Doch ist »Durchhalten« nicht gleichbedeutend mit passivem Warten, vielmehr forderte der Aufruf zu Ausschnitt aus der Ebsdorfer Weltkarte, die wahrscheinlich von Gervasius, Probst in Ebsdorf, in der ersten Hälfte des 13. Jh. verfasst wurde. Die Karte, die 13 Quadratmeter groß ist, zeigt in ihrer Mitte das himmlische Jerusalem (abgebildet in der Mitte des unteren Randes), als Nabel der Welt. In Jerusalem integriert ist Christus mit west-östlicher Orientierung. 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 39 40 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Zum Thema »siegen« (Offb 21,7) konkrete Taten mit schmerzlichen Konsequenzen. Das »neue Jerusalem« aber als Inbegriff vollkommenen Heils ist nichts von Menschen Machbares, kommt auf uns zu, bleibt ein Geschenk (Offb 21,6). Die Schlußvision der Offb erweist eindrucksvoll christlichen Glauben als »Mut zu einer Hoffnung wider alle Hoffnung«. 19 4.2. Jerusalem? - Jerusalem! Eine andere Frage in der Konfrontation mit literarischen Verarbeitungen stellt sich hinsichtlich der Konkretisierung der Hoffnungsperspektive. Kann die Schilderung des Johannes von Patmos noch unseren Lebensnerv treffen, sind seine Bilder die unseren? 4.2.1. Monotonie und kalte Pracht? Baudelaires Motivselektion zeigt, daß die Gottesstadt leicht den Eindruck eines wenig wohnlichen Ortes von gigantischen Ausmaßen und monoton-kalter Pracht hinterläßt. Exegetisch wie auch didaktisch ist es daher notwendig, die vielen Details als Ausdruck des kultisch-sakralen Charakters der Stadt verständlich zu machen. Ferner wird deutlich, welche perspektivischen Verengungen unsere Wahrnehmung heute prägen bzw. welche »unterbelichteten« Seiten der Vision wieder neu ins Licht gerückt werden sollten. Denn mit den Paradieseselementen in Offb 22,1f. ist die natürlich-kreatürliche Welt ja in die Stadt integriert. Und stellt nicht gerade der Terminus »Leben« ein zentrales Moment des Textes dar (Offb 21,6.27)? 4.2.2. Wider die individualistische Verengung der Heilsperspektive Eine ähnliche Gefühlsambivalenz wie die Edelsteinpracht des neuen Jerusalem kann das Motiv der Stadt als solches auslösen, das in der Moderne oft mit einem lebensfeindlichen Großstadtmoloch konnotiert wird. Nicht umsonst ersetzt es Cardenal durch das organische Bild der Zelle. Andererseits kann eine Rückbesinnung auf das Bild der Stadt als einem Beziehungsgefüge der sich v.a. in traditionellen christlichen Werken spiegelnden individualistischen Verengung auf die persönliche »Glückseligkeit« hin entgegenwirken: Offb 21f. spricht von den »Menschen« im Plural und als »Volk« und stellt die Adressaten vor die »politische« Wahl zwischen Babylon und der »Polis« Gottes. Heilvolles Leben ist notwendig zurückgebunden an die Gemeinschaft mit anderen, in der sich auch der Einzelne geliebt fühlen kann, wie es das Bild der Braut (Offb 21,2) als Symbol der intimen Zuwendung ausdrückt. Dichter wie Celan oder Lawrence verweisen durch die Übertragung der Motivik auf die Beziehung zwischen Mann und Frau, daß wir in begrenztem Maße schon in der Gegenwart einander zu »Heilsbringern« werden und darin das uns verheißene Heil vorausahnen können. Sie erschließen damit eine Dimension von Offb 21f. neu, die in der langen Rezeptionsgeschichte oft verdrängt wurde: Nicht Sterilität und ätherische Reinheit bestimmen die biblische Vision, sondern Lebensfreude und Leidenschaftlichkeit. Das Doppelbild von Stadt und Braut bietet eine Perspektive, die unser soziales, geistigspirituelles und körperlich-sinnliches Sehnen zu einer untrennbaren Ganzheit vereint. 4.2.3. Jerusalem - Zentraltopos oder austauschbare Chiffre? Johannes von Patmos kann sich trotz seiner Ambivalenz gegenüber der irdischen Stadt (Offb 11,8) das endgültige Heil nur in Verbindung mit der heiligen Stadt der Juden, mit Jerusalem vorstellen. Von einer solch zentralen Bindung kann zumindest bei Autoren mit einer im weitesten Sinne christlichen Sozialisation keine Rede mehr sein. »Kupierte Apokalypsen« und eng am biblischen Text verbleibende Dichter sind sich darin einig, daß sie Jerusalem nicht einmal mehr namentlich erwähnen. Auch die diversen Spielarten einer »translatio Hierosolymae« abstrahieren von der irdischen Stadt. Hat also Jerusalem als Heils- »Die Schlußvision der Offb erweist eindrucksvoll christlichen Glauben als ›Mut zu einer Hoffnung wider alle Hoffnung‹«. »Das Doppelbild von Stadt und Braut bietet eine Perspektive, die unser soziales, geistig-spirituelles und körperlich-sinnliches Sehnen zu einer untrennbaren Ganzheit vereint.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 40 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 41 Rita Müller-Fieberg Literarische Rezeptionen des »neuen Jerusalem« topos von christlicher Seite aus ausgedient? Gewiß: Was diese Stadt den Juden bedeutet, läßt sich von uns »Heidenchristen« nur rudimentär nachempfinden. Doch zeigt sich an diesem Beispiel besonders stark die Angewiesenheit christlichen Glaubens auf die jüdische Wurzel. Eine »Jerusalemvergessenheit« der Christen läßt auch Offb 21f. »in das Vakuum eines heilsgeschichtlich nicht vermittelten Eschatons« 20 fallen. Nur wo sich Christen die Hoffnungen und Enttäuschungen vor Augen führen, die in der jüdischen Geschichte immer wieder an diese Stadt geknüpft waren, wird sichtbar, daß die Hoffnung auf ein »neues Jerusalem« mitten aus dem Leben der Menschen, aus ihren Erfahrungen mit der realen Stadt erwachsen ist. Traditionsgeschichtliche Aufklärungsarbeit in Wissenschaft und Praxis ist daher das Gebot der Stunde, damit auch die christliche Hoffnung ihre »Bodenhaftung« nicht verliert. 5. Konsequenzen für Hermeneutik und Vermittlung Offb 21f. stellt nach wie vor für die christliche Eschatologie in Wissenschaft und kirchlich-schulischer Praxis einen zentralen Bibeltext dar. Von einem Einsatz diesbezüglicher literarischer Texte sind v.a. zwei große Impulse zu erwarten: 1. Die Konfrontation mit der Rezeptionsgeschichte macht Mut zu einer differenzierenden wie auch relativierenden Sicht von Offb 21f. Sie führt dazu, genau zu lesen und auch die leiseren, »verschütteten« Aussagen neu zu entdecken. Sie deckt einseitige, vielleicht sogar bedenkliche Aspekte der Vision auf und erweist die Notwendigkeit, den Einzeltext in das größere Ganze anderer theologischer Ansätze der Bibel zu stellen. Erst mit der Einsicht in die Kontingenz der Perspektive der Jerusalemvision kann man ihr ureigenes Verdienst im Chor der biblischen Eschatologien würdigen, kann auch wahrnehmen, wo die biblische Vision unaufgebbare Korrektiv- und Kontrastfunktion für die heutige Zeit hat. 2. Dem Dialog von Bibel und Rezeptionsgeschichte kann in Gemeinde und Schule die Einsicht erwachsen, daß Offb 21f. zu allen Zeiten ein Text war, der gleichermaßen inspirierte und Anstoß erregte. Und noch mehr: Nicht nur die Schriftsteller greifen transformierend und selektierend auf das biblische Material zurück und integrieren die alten Bilder in ihre eigene Welt. Auch der Autor der Offb entwickelt seine Zukunftsvision im Dialog mit den Traditionen seines jüdischen Volkes und wagt eine gezielte Neuinterpretation - eben weil er an deren lebendige Wahrheit glaubte. Diese Erkenntnis macht uns heute Mut, im Gespräch mit der Bibel nach unseren ureigenen Worten und Bildern zu suchen, die unserer Hoffnung Ausdruck verleihen. l Anmerkungen 1 Die Frage nach den traditionsgeschichtlichen Zusammenhängen greifen alle neueren Dissertationen zu Offb 21f. auf. Vgl. U. Sim, Das himmlische Jerusalem in Apk 21,1-22,5 im Kontext biblisch-jüdischer Tradition und antiken Städtebaus (Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium 25), Trier 1996; P. Söllner, Jerusalem, die hochgebaute Stadt. Eschatologisches und Himmlisches Jerusalem im Frühjudentum und im frühen Christentum (TANZ 25), Tübingen / Basel 1998; P. Lee, The New Jerusalem in the Book of Revelation. A Study of Revelation 21-22 in the Light of its Background in Jewish Tradition (WUNT 129), Tübingen 2001; R. Müller-Fieberg, Das »neue Jerusalem« - Vision für alle Herzen und alle Zeiten? Eine Auslegung von Offb 21,1-22,5 im Kontext von alttestamentlich-frühjüdischer Tradition und literarischer Rezeption (BBB 144), Berlin / Wien 2003. 2 Daß es auch andere Positionen gab, belegen sowohl die in den Sendschreiben an Ephesus, Pergamon und Thyatira erkennbaren Konflikte (Offb 2) als auch der etwa zeitgleiche, ebenfalls an kleinasiatische Gemeinden gerichtete 1Petr (v.a. 2,13). 3 Damit sei keinesfalls einer wissenschaftlichen oder didaktischen Verzweckung das Wort geredet. Erst der Respekt vor der unaufhebbaren Verschiedenheit und notwendigen Autonomie von Theologie und Literatur ermöglicht einen ehrlichen und gegenseitig bereichernden Dialog. 4 E. Cardenal, La noche illuminada de palabras. Obras completas 1. Managua 1991, 205. 5 S. Heym, Ahasver. Roman, Frankfurt a.M. 1983, 242. 6 Heym, Ahasver, 242. Heym verzichtet anders als Offb 21,22 nicht auf ein sichtbares Tempelgebäude und ordnet diesem einen äußerst distanzierten, »einsamen« Gott zu. »Dem Dialog von Bibel und Rezeptionsgeschichte kann in Gemeinde und Schule die Einsicht erwachsen, daß Offb 21f. zu allen Zeiten ein Text war, der gleichermaßen inspirierte und Anstoß erregte.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 41 42 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Zum Thema 7 Zur »kupierten Apokalypse« vgl. K. Vondung, Die Apokalypse in Deutschland, München 1988, 12. 8 W. Braungart, Apokalypse und Utopie, in: G.R. Kaiser (Hg.), Poesie der Apokalypse, Würzburg 1991, 63-102: 94f. 9 So der berühmte erste Vers des »Gebets« (1917) von E. Lasker-Schüler, Sämtliche Gedichte, München 1977, 25. Vgl. Offb 21,12. Zu anderen Beispielen der modernen hebräischen Literatur vgl. G. Oberhaennsli-Widmer, Jerusalem als Frauenfigur und heiliger Ort in der hebräischen Literatur, Freiburger Rundbrief NF 6 (1999), 179-184. 10 G.G. Stroumsa, Mystical Jerusalems, in: L.I. Levine (Hg.), Jerusalem. Its Sanctity and Centrality to Judaism, Christianity, and Islam, New York 1999, 349-370: 352. 11 Stroumsa, Mystical Jerusalems, 351. 12 W. Blake, The Complete Poems. Second Edition. Edited by W.H. Stevenson (Longman Annotated English Poets), London / New York 2 1989, 491. 13 Blake, Poems, 492. 14 P. Celan, Gesammelte Werke 3: Zeitgehöft. Verstreute Gedichte. Prosa. Reden. Hg. v. B. Allemann und S. Reichert unter Mitwirkung von R. Bücher (suhrkamp taschenbuch 1331), Frankfurt 1983, 105. 15 A. Kubin, Die andere Seite. Ein phantastischer Roman, Reinbek bei Hamburg 1994, 251. 16 Vgl. die bundestheologische Interpretation der Schekina-Vorstellung (Offb 21,3), die metaphorische Übertragung des Tempelbegriffs auf Gott (Offb 21,22) sowie die verheißene Gottesschau von Angesicht zu Angesicht (Offb 22,4). 17 Vgl. das Abwischen der Tränen (Offb 21,4), die Gabe des Lebenswassers »umsonst« (Offb 21,6), die Verheißung des »Erbes« (Offb 21,7) sowie das »Erleuchten« der Stadt (Offb 21,23; 22,5). 18 K. Erlemann, Endzeiterwartungen im frühen Christentum (UTB 1937), Tübingen / Basel 1996, 123. 19 U.H.J. Körtner, Weltangst und Weltende. Eine theologische Interpretation der Apokalyptik, Göttingen 1988, 383. 20 H. Merklein, Jerusalem - bleibendes Zentrum der Christenheit? Der neutestamentliche Befund, in: Zion Ort der Begegnung, FS L. Klein (BBB 90), Bodenheim 1993, 47-61: 59. Neues Testament aktuell: Michael Wolter, Neues zur Paulusforschung Zum Thema: Margaret Mitchell, Paulus in Amerika Peter Arzt-Grabner, Die Paulusbriefe im Lichte der Alltagspapyri Ute Eisen, Politik und Herrschaft bei Paulus Kontroverse: Rechtfertigungstheologie-Zentrum paulinischer Theologie? : Hendrik Boers vs. Hans- Joachim Eckstein Hermeneutik und Vermittlung: Richard B. Hays, Schriftverständnis und Intertextualität bei Paulus Buchreport: Peter Busch rezensiert Robert Jewett, Saint Paul Returns to the Movies. Triumph Over Shame, Grand Rapids 1999. Michael Schneider rezensiert Udo Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin/ New York 2003. Vorschau auf Heft 14 (Themenheft »Paulus«) Oda Wischmeyer (Hrsg.) Herkunft und Zukunft der neutestamentlichen Wissenschaft Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 6, 2003, VIII, 284 Seiten, 48,-/ SFr 82,50 ISBN 3-7720-8016-2 Die neutestamentliche Forschung der letzten Generation hat sich religionsgeschichtlich und methodisch exponenziell ausgeweitet. Das Fach Neues Testament wurde zu einer kaum noch überschaubaren und nach außen wenig kommunizierenden Eigenwelt. Eine Analyse von “Herkunft und Zukunft der neutestamentlichen Wissenschaft” ist ein Desiderat. Das 2. Erlanger Neutestamentliche Kolloquium ist dem Thema in elf Beiträgen inländischer und ausländischer Neutestamentlerinnen und Neutestamentler nachgegangen. Die neutestamentliche Wissenschaft braucht neben dem Bewusstsein ihrer eigenen Geschichte und der kritischen Auseinandersetzung mit ihren Methoden einen Modernisierungsschub, der sie in produktiven Austausch mit Religionswissenschaft, Sprachwissenschaft, Sprachphilosophie, Hermeneutik und Kulturwissenschaft bringt. Dieses Buch versteht sich als programmatischer Schritt in diese Richtung. A. Francke Verlag · Tübingen und Basel NET - Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 42 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 43 Der Streit um das »Petrusamt« des Papstes gehört zu den klassischen kontroverstheologischen Themen zwischen den Kirchen der Reformation und der Römisch-Katholischen Kirche. Aus exegetischer Sicht steht dabei die Frage im Mittelpunkt, wie die Darstellung des Petrus in den Zeugnissen des Neuen Testaments zu beurteilen ist: Inwiefern lässt sich aus den neutestamentlichen Petrusbildern die Institution des »Petrusamtes« bzw. ein »Petrusdienst« der Kirche begründen? Und welche inhaltlichen und institutionellen Konturen sind aus neutestamentlicher Perspektive für dieses Amt / diesen Dienst zu zeichnen? Nach jahrhundertlangem Streit ist die Diskussion beider Konfessionen um die Petrusgestalt seit den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in eine neue Phase eingetreten. In zunehmendem Maße tritt an die Stelle des klassischen Streits, der vor allem das Trennende zu benennen bemüht war, die Suche nach Gemeinsamkeiten. Dieses Bemühen um ökumenische Annäherung in einem bisher kontroverstheologisch als Kardinalfrage behandelten Thema, das sich zuletzt in dem von der deutschen Bischofskonferenz und der Kirchenleitung der VELKD herausgegebenen Dokument »Communio Sanctorum« (2003) dokumentiert, hat nachhaltig auch die exegetische Diskussion der letzten Jahre angeregt und bestimmt. 1 Dies spiegelt sich auch in der folgenden »Kontroverse« wider, deren Charme gerade darin liegt, dass sie nicht (im Sinne eines »Schaukampfes«) die hinlänglich bekannten Positionen eines klassischen Streites wiederholt, sondern in ökumenischer Perspektive Einblicke in den Stand der - zumindest in der Exegese - erreichten Gemeinsamkeiten gewährt und damit die Basis für einen weiteren von Johannes Paul II in der Enzyklika »Ut unum sint« (1995) ausdrücklich angeregten Dialog über die Reform des Papstamtes liefert. Dazu gehört die von beiden Gesprächspartner hervorgehobene Wahrnehmung der Pluriformität unterschiedlicher Petrusbilder im NT, die vor exegetischen Kurzschlüssen im Blick auf die Legitimation des päpstlichen Primats bewahrt, ebenso wie die Überzeugung, dass es eines Dienstes an der Einheit der Kirche bedarf und dass sich zur inhaltlichen und institutionellen Ausgestaltung dieses Dienstes die Orientierung an der Figur des Petrus in ihrer unterschiedlichen Darstellung anbietet. Dabei sind sich die Gesprächspartner, deren Beiträge auf einen gemeinsamen Vortragsabend im Vorfeld der 58. Vollversammlung der »Societas Novi Testamenti Studiorum« im Sommer 2003 in Bonn zurückgehen, vor allem über zwei Aspekte einig, die kritisch in die Diskussion um die Reform der geschichtlich gewordenen Gestalt des Petrusamtes einzuführen wären: Zum einen die Einbindung dieses Amtes in ein (die Ökumene repräsentierendes und auch die besondere Beziehung der Kirche zu Israel reflektierendes) Gremium (Ebner) bzw. Kollektiv (Böttrich), die sich neutestamentlich nicht nur aus der Stellung des Petrus im Kreis der drei »Säulen« der Jerusalemer Gemeinde (Gal 2,9) und seiner Zusammenbindung mit den Zebedaiden in der Evangelientradition ergibt, sondern sich auch - darauf weist Martin Ebner hin - aus der Konstruktion des neutestamentlichen Kanons herleiten lässt. Zum anderen die in der Ambivalenz der Petrusfigur (zwischen Auszeichnung und Zurechtweisung) begründete Notwendigkeit eines gesamtkirchlichen Gegengewichts zum Petrusamt. Einer aufmerksamen Lektüre wird freilich nicht entgehen, dass trotz des durchgängig irenischen Grundduktus’ des Gesprächs nach wie vor nicht nur unterschiedliche Akzentsetzungen zu beobachten sind, sondern auch noch eine Reihe von offenen Fragen, die der weiteren Bearbeitung harren, ob dies nun den Sukzessionsgedanken, das Unfehlbarkeitsdogma oder die protestantisch keineswegs durchgängig vorhandene Einsicht in die Notwendigkeit eines die Gesamtkirche repräsentierenden »Petrusamtes« / »Petrusdienstes« betrifft. Die Hürden, die hier noch zu nehmen sind, sind nicht zu unterschätzen. Die konstruktiv-freundliche Atmosphäre des interkonfessionellen Gesprächs, wie sie sich in den Beiträgen von Christfried Böttrich und Martin Ebner äußert, macht freilich Mut, auch vor diesen Hürden nicht zurückzuscheuen. Axel von Dobbeler l Anmerkungen 1 Eine Ausnahme (oder vielleicht doch den Beginn einer neuen Diskussionsphase? ) bildet R. Pesch, Die biblischen Grundlagen des Primats (QD 187), Freiburg / Basel / Wien 2001. Kontroverse Petrus - Bischofsamt - Kirche Eine Einführung zur Kontroverse 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 43 44 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Vor gut 450 Jahren hätte es für eine Kontroverse kein schöneres Thema geben können. Die Kritik an der römischen Kurie, die schon seit langem schwelte, loderte in der Reformation hoch auf. Erst noch verhalten, dann aber immer unverblümter, sah die protestantische Seite in der Institution des Papsttums schlicht den Antichristen am Werk. Die verbale Polemik fand zudem rasch ihren Niederschlag in zahlreichen Karikaturen, für deren Verbreitung das noch junge Medium der Druckgrafik sorgte. Doch auch die Gegenseite hielt nicht lange hinter dem Berg: Wer den Inhaber des Stuhles Petri kritisiert, stellt sich außerhalb der kirchlichen Gemeinschaft. Der Gegensatz war tief und unüberbrückbar; die Positionen standen einander unversöhnlich gegenüber. Daran ändern auch die gelegentlichen, heute gern zitierten Aussagen Luthers nichts, die dem Papst durchaus sein Recht zugestehen - wenn er denn »dem Evangelium Raum gäbe«. Daß die Organisationsform der römischen Kirche Ergebnis geschichtlicher Entwicklung und nicht Setzung göttlichen Rechtes sei - daran hielten die Kirchen der Reformation unbeirrt fest. In demselben Maße freilich beharrte auch die katholische Seite auf eben diesem Anspruch und baute ihn durch weitere dogmatische Absicherungen aus. Doch die Zeiten ändern sich. In den Aufbrüchen des ökumenischen Gespräches ist nicht nur die Sprache eine freundlichere geworden. Als viel bedeutender erweist es sich, daß nun auch die alten Lehrverurteilungen ausgeräumt werden. Eine neue Art der Übereinstimmung hat sich dabei zuerst auf dem Feld der Exegese eingestellt, sofern hier frei von dogmatischen Vorgaben dieselben Texte mit denselben Methoden interpretiert werden. Von dieser Entwicklung konnte auch der klassische Streit um den päpstlichen Primat nicht unberührt bleiben. Seit den 70er Jahren gibt es einen theologischen Diskurs, der - ausgehend von exegetischen Beobachtungen zur Petrusgestalt im Neuen Testament - dieses heiße Eisen wieder in die Hand nimmt. Jüngstes Dokument ist die Verlautbarung »Communio Sanctorum« aus dem Jahre 2000, die einen längeren Passus unter dem Titel »Der Petrusdienst« enthält. 1 Mit der Formulierung ist schon eine bedeutsame Weichenstellung auf terminologischer Ebene erfolgt. Denn ob man von einem »Petrusamt«, einer »Petrusfunktion« oder von einem »Petrusdienst« spricht, das hat erhebliche sachliche Konsequenzen. Überschaut man die Literaturflut zur Gestalt des Petrus - man kann hier im Blick auf die letzten 10 Jahre geradezu von einem »boom« sprechen -, 2 dann zeigt sich deutlich: Die Linien kontroverser Standpunkte verlaufen inzwischen quer durch die Konfessionen. Einigkeit besteht darin, daß die Schriften des Neuen Testamentes eine Vielzahl eigenständiger Petrusbilder erkennen lassen. Erst aus diesen verschiedenen, z.T. durchaus spannungsvoll aufeinander bezogenen Petrusbildern fügen sich die Konturen eines Gesamtbildes zusammen. Und erst im Rahmen dieses Gesamtbildes erhalten jene Einzelzüge, die für einen gesamtkirchlichen »Petrusdienst« Bedeutung haben, ihren Stellenwert. Keine Einigkeit besteht nach wie vor darüber, wie die Proportionen innerhalb dieses Gesamtbildes zu bestimmen sind und zu welchen weiterführenden Schlußfolgerungen sie im Blick auf kirchliche Leitungsstrukturen berechtigen - oder nötigen. Die Frage nach der Zielrichtung bzw. nach dem Richtungssinn von Texten - im Detail ebenso wie in der Gesamtschau - wirft methodisch und theologisch neue Probleme auf. Ausgangspunkt bleibt der Text des Neuen Testamentes. Er eröffnet Spielräume und setzt Grenzen. Deshalb möchte ich noch einmal eine Christfried Böttrich Petrus - Bischofsamt - Kirche »Die Linien kontroverser Standpunkte verlaufen inzwischen quer durch die Konfessionen.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 44 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 45 Christfried Böttrich Petrus - Bischofsamt - Kirche exemplarische Auswahl von Texten zur Gestalt des Petrus vorstellen. 3 Es handelt sich um Texte, deren Sinnpotential immer wieder für die Bestimmung kirchlicher Leitungsfunktionen bzw. kirchlicher Autorität in Anspruch genommen worden ist. Sodann möchte ich einen kurzen Blick auf verschiedene Positionen in der Diskussion werfen, um schließlich mit einigen Anregungen für das Gespräch zu enden. Meine Position ist die folgende: In der Gestalt des Petrus haben die Autoren des Neuen Testamentes vorgestellt, was für sie »Dienst an der Einheit der Kirche« bedeutet. Sie liefern damit kein fertiges, beliebig reproduzierbares Modell - vermitteln aber Impulse, die niemand ignorieren kann. Wenn dabei »Dienst an der Einheit« die leitende Funktionsbestimmung ist, dann besteht die Hoffnung, daß die Frage nach einem »Petrusdienst« letztlich auch nicht in einer konfessionellen Aporie enden wird. 1. Petrusbilder im Neuen Testament 1.1. Exponierter Funktionsträger Schon bei der ersten, unbefangenen Lektüre der Evangelien nimmt man Petrus als eine der Hauptfiguren in der Erzählung neben Jesus von Nazaret wahr. Zahlreiche Episoden sind mit seinem Namen verbunden. Immer wieder ist er es, der sich zum Wortführer des Anhängerkreises macht, der die Initiative ergreift und der sich exponiert. Diese Darstellung der Petrusgestalt läßt zweierlei erkennen: Zum einen bewahrt sie wohl Erinnerungen an den individuellen Charakter jenes Fischers vom See Gennesaret auf; zum anderen aber verdichtet sie diese Erinnerungen zu typischen Zügen, die Petrus als eine exemplarische Figur erscheinen lassen. Eine besondere Wirksamkeit haben dabei in der Geschichte der Auslegung drei Auftragsworte erlangt, durch die Petrus als Exponent des Jüngerkreises ausgezeichnet wird. Allen voran steht hier Mt 16,17-19. In der Peterskirche zu Rom läuft Vers 18 als Schriftband um die Basis der gewaltigen Kuppel und stellt damit den wirkungsgeschichtlichen Fluchtpunkt schon eindrücklich vor Augen. Bei Matthäus steht dieser Vers als Teil einer Dreiergruppe von Logien, die in Gestalt einer kleinen Rede Jesu in die Szene des Messiasbekenntnisses bei Cäsarea Philippi eingefügt sind. Jesus reagiert damit auf Petrus, der sich wieder einmal zum Sprecher der anderen gemacht hat. »Ihr aber, wer sagt ihr, daß ich bin? « - so hatte Jesus zunächst die ganze Gruppe gefragt. Petrus aber ist es, der die Antwort formuliert: »Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes! « Der anschließende Vers 17, mit dem die Reaktion Jesu beginnt, macht sogleich deutlich: Weder der kollektive Erkenntnisprozess im Kreis der Jünger noch die individuelle Einsicht des Petrus stehen hinter dieser Antwort. Vielmehr kommt sie von dem Vater in den Himmeln, der dem Petrus das angemessene Bekenntnis offenbart hat. Allein aufgrund dieses Offenbarungsgeschehens wird Petrus nun mit einer Beauftragung versehen, die ihn zur Gründergestalt der Kirche macht. Doch auch in dieser ausgezeichneten Funktion bleibt seine Erkenntnis noch begrenzt. Der folgende Einwand gegen den Leidensweg Jesu führt zu einer erschreckend scharfen Abweisung: »Weg mit dir, hinter mich Satan! Du bist ein Skandalon für mich ...! « Es gilt heute weithin als Konsens, daß in den Worten Mt 16,17- 19 die Gemeinde einer späteren Zeit ihre Identität an die apostolischen Anfänge zurückbindet - und Christfried Böttrich Prof. Dr. Christfried Böttrich, Jahrgang 1959, studierte Evangelische Theologie in Leipzig. Promotion 1992, Habilitation 1995, Vikariat und Ordination zum Pfarrer der Magdeburger Kirche. Lehrstuhlvertretungen in Frankfurt, Marburg und Jena; seit 2003 Professor für Neues Testament an der Ernst-Moritz-Arndt- Universität Greifswald. Veröffentlichungen zum Slawischen Henochbuch; zur nachbiblischen Kain-und-Abelgeschichte; Adam als Mikrokosmos; Themen des NT in der Grundschule; Petrus - Fischer, Fels und Funktionär. 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 45 46 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Kontroverse für diese apostolischen Anfänge die Gestalt des Petrus in Anspruch nimmt. Daß der historische Jesus selbst von »seiner Kirche« gesprochen haben sollte, wäre ansonsten ebenso wenig zu verstehen wie die Platzierung des Wortes bereits in der Phase der galiläischen Wirksamkeit. Matthäus hat das in seiner Jesuserzählung aufgegriffen - zugleich aber auch die Kontraste im Bild des Petrus verschärft. Die ganze Ambivalenz in der Persönlichkeit des Petrus tritt hier so scharf wie bei keinem anderen Evangelisten zu Tage. Neben dem »Stein« bzw. »Fundamentfels« stehen das schroffe »Satan« und »Skandalon«. Ebenso kontrastiert wird Matthäus dann das Scheitern und die Umkehr des Petrus in der Passionsgeschichte schildern. Doch selbst in der Beauftragung erfolgt noch keine Überordnung. Die Vollmacht zu binden und zu lösen wird in Mt 18,18 allen Jüngern zugesprochen. Wenn der Evangelist Matthäus den Petrus somit als eine Gründergestalt und als Garanten apostolischer Tradition akzentuiert, dann wird dies von einer doppelten Relativierung flankiert: Einerseits liegen Auszeichnung und Zurechtweisung dicht beieinander; andererseits bleibt Petrus in das Kollektiv der anderen Funktionsträger eingebunden. An seiner Person wird auf repräsentative Weise sichtbar, was auch für die anderen gilt. Eine besondere Vollmacht hat er ihnen gegenüber nicht voraus. Lk 22,31-32 bietet ein weiteres Auftragswort. Diesmal ist die Handlung auf der Erzählebene schon viel weiter fortgeschritten. Am Vorabend der Passionsereignisse sitzt Jesus mit seinen Jüngern beim letzten Mahl. Die Szene ist so gestaltet, daß sie den Konventionen eines Symposions genügt: An das Mahl schließen sich noch einige Tischgespräche an. In dieser Situation wird Petrus erneut beauftragt. Gerade hat Jesus einen Streit um Positionen und Rangordnungen damit entschieden, daß er die Zwölf sowohl auf ihre Dienstfunktion als auch auf ihre künftige gemeinsame Herrschaft in Israel verwiesen hat - da wendet er sich direkt an Petrus. Schon mit Blick auf die unmittelbar bevorstehenden Erschütterungen versichert er ihn zunächst seiner Fürbitte. Denn offensichtlich läuft der Glaube des Petrus Gefahr, zu erlöschen. Dann aber folgt die Aufforderung: »Und wenn du dich einst bekehrst: Stärke deine Brüder! « Es ist ein pastoraler Auftrag. Diejenigen, die sich am Karfreitag zerstreuen werden, bedürfen der Sammlung und Stärkung. Petrus soll diese Aufgabe übernehmen. Seine Qualifikation besteht freilich nicht darin, daß er den anderen ein höheres Maß an Standfestigkeit oder Kompetenz voraus hätte. Auch er muß erst einen Prozeß des Scheiterns und der Umkehr durchlaufen. Er hat Teil an den Erfahrungen derer, die ihm anvertraut werden. Petrus selbst bedarf der Stärkung, die ihm durch die Fürbitte Jesu zuteil wird. Doch daß auch die »Brüder« in der Folge die zunächst von Petrus im Sinne eines Anfangsimpulses übernommene Aufgabe ausführen, zeigt Lukas im weiteren Verlauf der Apostelgeschichte. Die Gemeinden zu stärken - das übernehmen ausdrücklich auch Paulus, Barnabas, Silas oder Timotheus. Petrus erscheint in Lk 22 erneut als Exponent apostolischer Existenz. Lukas legt lediglich Wert darauf, ihm den ersten Schritt zu überlassen. Stets schildert er Petrus als den Erstapostel und Wegbereiter, der - zuerst berufen und beauftragt - nun auch zuerst die Initiative ergreift. Den Gedanken einer Überordnung könnte am ehesten Joh 21,15-17 nahelegen. An dieser Stelle begegnet auf der Erzählebene bei Johannes schon der Auferstandene. Am See Tiberias erscheint er seinen Jüngern, bereitet ihnen am Ufer ein Mahl und führt mit ihnen verschiedene Gespräche. Wieder hebt er dabei Petrus durch einen Auftrag heraus: Ihm vertraut er an, »seine Lämmer« bzw. »Schafe« zu weiden. Das hat insofern einen besonderen Klang, als die Hirtenfunktion in der Antike verbreitetes Bild königlicher Herrschaft ist. Wohl bleiben es die »Schafe« des Auferstandenen, aber Petrus wird der »Herde« doch deutlicher gegenübergestellt, als daß er in sie einbezogen bliebe. Ähnlich wie in Mt 16 und Lk 22 findet jedoch auch dieser Auftrag eine deutliche Relativierung. Die dreimalige Frage erinnert nachdrücklich an die dreimalige Verleugnung. Der Weg zur Verantwortung führt durch die Erfahrung des Scheiterns. Und im unmittelbaren Anschluß an dieses Auftragswort muß Petrus zwei bittere Pillen schlucken: Jesus verweist ihn auf seine Abhängigkeit von anderen, wenn er alt sein wird, und er verwehrt ihm die Auskunft über das künftige Geschick des sogenannten »Lieblingsjüngers«. Die Hirtenfunktion liegt offenbar nicht exklusiv bei Petrus. Auch andere Verantwortungsträger haben daran teil. 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 46 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 47 Christfried Böttrich Petrus - Bischofsamt - Kirche 1.2. Erster Zeuge Ein Textabschnitt, dessen Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, findet sich in 1Kor 15,3-8. Paulus behandelt dort die Frage nach der Auferstehung der Toten und setzt zunächst bei dem ein, was auch die Korinther offenbar nicht bestreiten: Christus ist auferstanden. Diesen Basissatz greift Paulus in Gestalt einer alten Bekenntnisformel auf, die er selbst übernommen und weitergegeben hat. In einer zweigliedrigen Aussage sind darin die beiden entscheidenden Aussagen festgehalten: Christus ist gestorben und auferstanden, beides gemäß den Schriften. Diese Aussagen werden noch einmal bestätigt: Er ist auch begraben worden also ist er wirklich gestorben; er ist auch erschienen, also wirklich auferstanden. An dieser Stelle fügt Paulus nun eine Liste von Zeugen an, die Petrus auf Platz eins gesetzt hat. Man kann davon ausgehen, daß auch diese Liste auf alter Überlieferung beruht. Die Spitzenposition des Petrus erhält durch die kurze Bemerkung in Lk 24,34 noch einmal Unterstützung. Ist Petrus also nach Ostern als Erster dem Auferstandenen begegnet? Immer wieder ist in der exegetischen Diskussion die Protophanie vor Petrus zum Ausgangspunkt und zum Schlüssel seiner besonderen Autorität gemacht worden. Entweder hat man die Darstellung seiner exponierten Rolle in den Evangelien erst im Rückblick aus dieser Ostervision ableiten wollen. Oder man hat gerade an diesem Haftpunkt, mit dem nun das Bekenntnis christlichen Glaubens erst beginnt, auch die Funktion des Petrus für die allmählich entstehende Kirche festgemacht. So eindeutig stellt sich der Sachverhalt in den Texten des Neuen Testamentes jedoch nicht dar. Zum einen ist die Ostererfahrung des Petrus zunächst nur eine unter vielen. Erst im Austausch aller Erfahrungen wächst die Gewißheit dessen, was anfangs noch ganz unglaublich erscheint. Zum anderen hat die Protophanie vor Petrus Konkurrenz: Mt 28,9-10 und Joh 20,11-18 wissen davon zu berichten, daß der Auferstandene zuerst Maria Magdalena erschienen sei. Daß diese Überlieferung noch am Ende des 1. Jhs. nicht unterdrückt werden konnte, spricht für ihr Alter und ihre hohe Bedeutung. Mit Sicherheit wird sich nur eines sagen lassen: Petrus war ein Mann der ersten Stunde - seinerzeit in Galiläa wie dann auch erneut am Ostermorgen. Doch erst im Zusammenklang mit den anderen, denen der Auferstandene begegnet, gewinnt seine Erfahrung ihr eigenes Gewicht. 1.3. Kritisierter Anwalt Wie ein Kontrapunkt zu den Petrusepisoden der Evangelien steht jener Streit in Antiochien, von dem Paulus in Gal 2,11-14 berichtet. 4 Mit Petrus und Paulus treffen dabei zwei maßgebliche Persönlichkeiten der Frühzeit aufeinander. Beide haben sich bereits Verdienst und Einfluß erworben. Aber in Antiochien geraten sie in einen Konflikt, dessen Ausgang offen bleibt: Im Streit bricht Paulus zu seiner Europamission auf. Einen Kompromiß kann er auch einige Jahre später den Galatern gegenüber nicht mitteilen. Petrus erscheint in der Darstellung des Paulus in einem wenig günstigen Licht. Nachdem er Jerusalem verlassen hat, fügt er sich offenbar den Gemeindeverhältnissen in Antiochien ein. Die aber sind - im Gegensatz zur Jerusalemer Situation - durch das Miteinander von Juden- und Heidenchristen in der Gemeinde bestimmt. Dieses Miteinander findet seine besondere Brisanz in der gemeinsamen Feier des Herrenmahles, die zumindest für die judenchristliche Gemeindegruppe eine Verletzung ihrer Verhaltensnormen darstellt. Als aus Jerusalem einige Leute des Jakobus eintreffen, kündigt Petrus seine bislang geübte Praxis solcher Tischgemeinschaft auf und zieht eine Trennlinie: Juden- und Heidenchristen müssen Raffael (1483-1520), Fischzug Petri, London, Victoria and Albert Museum 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 47 48 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Kontroverse ihre jeweils eigene Mahlfeier halten. Der Autorität des Petrus ist es offenbar zuzuschreiben, daß alle Judenchristen in der Gemeinde einschließlich Barnabas seinem Beispiel folgen. Die christliche Gemeinde in Antiochien bricht daraufhin in zwei Klassen auseinander. An dieser Stelle erhebt Paulus Protest. Die Vorwürfe, die Paulus gegenüber Petrus formuliert, sind an Schärfe kaum zu überbieten. Gleich einleitend und gleichsam im Vorgriff attestiert er ihm, daß er »sich ins Unrecht gesetzt« habe. Er »heuchelt« und verführt andere zur Heuchelei. Er handelt aus »Furcht«. Vor allem aber: Er »geht nicht gerade gemäß der Wahrheit des Evangeliums«. Das letzte wiegt besonders schwer, wenn man sich an den Anfang des Gal erinnert. Noch kündigt Paulus dem Petrus die Gemeinschaft nicht auf. Ab Vers 15 schließt er ihn vielmehr demonstrativ in das »wir« einer gemeinsamen Glaubensbasis mit ein. Doch die Kritik des Paulus führt hart an die Möglichkeit eines Bruches heran. In dem inkonsequenten Verhalten des Petrus erkennt Paulus auch eine Inkonsequenz im theologischen Denken. Darauf richtet er dann seine Analyse ab Gal 2,15. Wenn Juden und Nichtjuden durch den Glauben an Christus den selben Status vor Gott haben, dann kann es auch im praktischen Lebensvollzug nichts Trennendes mehr geben. Lange Zeit ist dieser Konfliktfall als eine harte Nuß empfunden worden. Die Kirchenväter waren intensiv darum bemüht, den Streitpunkt zu entschärfen und die Harmonie beider Apostel zu retten. 5 Martin Luther hingegen betrachtete die Kontroverse als höchst willkommenen Beleg dafür, daß es in der Kirche keine unhinterfragbare menschliche Autorität gebe: So wie ein Paulus um der Wahrheit des Evangeliums willen einem Petrus öffentlich widersprechen mußte, so müsse man auch heute dem Nachfolger auf dem Stuhle Petri um eben dieser Wahrheit willen widersprechen dürfen. Die Faszination des Textes liegt darin, daß er mitten in das Ringen um den Weg der Kirche hineinführt. Petrus und Paulus, beide ihrer Sozialisation nach Judenchristen, erscheinen dabei als Anwälte verschiedener Anliegen. Paulus macht sich zum Anwalt für die Einheit der christlichen Gemeinde, die ihrem Wesen nach keine Abstufung in verschiedene Klassen dulden kann. Petrus indessen macht sich zum Anwalt der Einheit zwischen christlicher Gemeinde und Israel, deren Bruch er im Konfliktfall Tischgemeinschaft zu verhindern sucht. Erst im Nachgang scheint durch das in Apg 15 aufbewahrte sogen. »Aposteldekret« ein Kompromiß gefunden worden zu sein. Petrus muß der theologischen Einsicht des Paulus nachgeben. Aber auch Paulus muß das Anliegen des Petrus in der Folge stärker respektieren. Petrus erscheint in dem antiochenischen Konflikt als eine Persönlichkeit, die um Integration bemüht ist, dabei aber der Kritik und der Korrektur durch andere bedarf. Er ist nicht der alleinige Souverän verbindlicher Entscheidungen, sondern bleibt in das gemeinsame, durchaus auch mit Schärfe ausgefochtene Ringen um die »Wahrheit des Evangeliums« eingebunden. 1.4. Respektierter Senior Vor diesem Hintergrund gewinnt Joh 20,1-10 noch einmal eine ganz neue Bedeutung. Eine der Eigentümlichkeiten des vierten Evangeliums besteht ja darin, daß Petrus als Repräsentant des Jüngerkreises gelegentlich ins zweite Glied zurücktritt. Vor allem ist es jener geheimnisvolle »Lieblingsjünger«, der in einigen Szenen deutlich näher bei Jesus steht: Beim letzten Mahl kann Petrus seine Frage nach dem Verräter nur durch ihn an Jesus richten, in den Hof des Hohenpriesters erhält Petrus nur durch seine Vermittlung Einlaß, in der Kreuzigungsszene vertraut Jesus gerade ihm seine Mutter an, am See Tiberias erkennt er den Auferstanden zuerst und teilt es dann dem Petrus mit. Immer scheint er dem Petrus ein Stück voraus zu sein. Soll Petrus etwa dem »Lieblingsjünger« nachgeordnet werden? Sehr wahrscheinlich ist jener »Lieblingsjünger« der maßgebliche Traditionsträger der johanneischen Gemeinde, deren Jesuserzählung sich ja auch durch verschiedene Eigenheiten von den Erzählungen der Synoptiker auffällig unterscheidet. Vieles spricht dafür, daß sich in der narrativen »Petrus erscheint in dem antiochenischen Konflikt als eine Persönlichkeit, die um Integration bemüht ist, dabei aber der Kritik und der Korrektur durch andere bedarf.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 48 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 49 Christfried Böttrich Petrus - Bischofsamt - Kirche Beziehung zwischen dem »Lieblingsjünger« und Petrus die Beziehung der joh. Gemeinde zur Gesamtkirche widerspiegelt. 6 Petrus, der auch bei Johannes eine wichtige und immer wieder exponierte Rolle spielt, bleibt also jene Autorität, zu der man sich in Beziehung setzen muß. Wie das geschieht, zeigt Joh 20 auf besonders anschauliche Weise. Auf der Erzählebene treten beide Männer in Aktionseinheit auf. Die Mitteilung der Maria Magdalena gilt ihnen beiden. Petrus aber gebührt dabei offenbar eine Art Ehrenvorrang. Beide eilen zum Grab, um die unerhörte Mitteilung zu überprüfen. Von da an verwendet der Erzähler jedoch eine außerordentliche Sorgfalt darauf, die Akzente in dem diffizilen Beziehungsgefüge beider Männer ausgewogen zu verteilen. Im Zentrum stehen die Beobachtungen des Petrus. Der »Lieblingsjünger« gelangt zwar vor ihm zu dem Grab, läßt aber Petrus den Vortritt. Allerdings heißt es dann nur von ihm, daß er bei Betreten des Grabes sah und glaubte - was von Petrus nicht zu berichten war. Beiden wird abschließend wieder gemeinsam bescheinigt, daß sie die Schrift noch nicht verstanden. Gerade in dieser Szene tritt die gesamtkirchliche Bedeutung des Petrus deutlich zu tage. Die joh. Gemeinde folgt ihrer eigenen Tradition und bezieht sich dabei auch mit großem Selbstbewußtsein auf ihren eigenen Traditionsträger. Doch sie koppelt sich von den anderen Gemeinden nicht ab. Da wo sie ihre Zuordnung darstellen möchte, bringt sie Petrus ins Spiel, der offensichtlich als der in allen Bereichen der frühen Kirche respektierte Senior gilt. 1.5. Erfahrener Kollege Beachtung verdient schließlich noch ein Blick auf 1Petr 5,1-3. Der Brief, der die Autorität des Petrus in Anspruch nimmt, unterstreicht allein durch dieses Pseudonym schon die große Geltung des Apostels. Um so aufschlußreicher ist das Bild, das er rückblickend von Petrus entwirft. Dieses Bild kommt auf komprimierte Weise in den Schlußparänesen noch einmal zum Ausdruck. Petrus fügt sich als »Presbyter« unter die als »Mitpresbyter« angesprochenen Adressaten ein. Wohl vermag er sich darüber hinaus auch als Zeuge der Leiden Christi und als Teilhaber der künftigen Herrlichkeit zu bezeichnen. Doch auch das sind keine exklusiven Epitheta. Das Hirtenamt legt er nun ausdrücklich den angesprochenen Gemeindeleitern ans Herz - und zwar im Plural. Er warnt sie vor Vorteilnahme und Machtansprüchen. Den Ton trägt eine Haltung, die man als »beispielhafte Dienstfunktion« umschreiben müßte. Dieser Einzelzug verleiht dem Gesamtbild insofern besondere Farben, als die beiden Petrusbriefe im Gesamtzusammenhang des ntl. Kanons als späte, die vorausliegenden Traditionen schon implizierende Schriften zu verstehen sind. 2. Positionen in der Diskussion Eine neue Phase in der exegetischen Diskussion um die Petrusgestalt begann 1952 mit dem Buch von O. Cullmann. 7 Seine Untersuchung, die zu ca. einem Drittel ausschließlich mit Mt 16 befaßt war, erfolgte ausdrücklich im Horizont ökumenischer Gesprächsabsicht. Als Ergebnis historischer Analyse kam darin dann allerdings vornehmlich das Trennende zur Sprache: Grundlegende Bedeutung hat die Funktion des Petrus nur in einem temporalen Sinn - ein Sukzessionsprinzip läßt sich den ntl. Texten nicht entnehmen. Anders erfolgte die Akzentuierung jener ökumenischen Studie »Das Petrusbild der Bibel«, die 1975 in den USA als Dokument einer bilateralen Arbeitsgruppe erschien: 8 Sie verknüpfte die historische Rückfrage nach Petrus konsequent mit der Suche nach einer Entwicklung von verschiedenen Petrusbildern sowie deren über die Texte hinausführenden Zielrichtung. Als Fazit ergab sich die Rede von einer »Petrusfunktion« zur Beschreibung »einer besonderen Form eines Amtes ... in Bezug auf die Kirche als Ganzes«. Die exegetische Diskussion beider Konfessionen hat sich in der Folge diesem Ansatz weitgehend angeschlossen. Vor allem die narrativen Kontexte der Petrusgestalt »Einen relativ breiten Konsens fand indessen die Einsicht, daß die Entwicklung des päpstlichen Primates maßgeblich durch geschichtliche Faktoren beeinflußt war, die jenseits der Grenzen des Neuen Testamentes lagen.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 49 50 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Kontroverse fanden zunehmend Beachtung. Kontrovers blieb die konkrete Profilierung jener »Petrusfunktion«. Unterschiede machten sich da bemerkbar, wo es um die Reichweite dessen ging, was man als Zielrichtung einzelner Text erkannte. Einen relativ breiten Konsens fand indessen die Einsicht, daß die Entwicklung des päpstlichen Primates maßgeblich durch geschichtliche Faktoren beeinflußt war, die jenseits der Grenzen des Neuen Testamentes lagen. Mit neuen Argumenten greift in jüngster Zeit ein Buch von R. Pesch in die Debatte ein, das den programmatischen Titel »Die biblischen Grundlagen des Primates« trägt. 9 Mit dem Primat ist dabei das Selbstverständnis des päpstlichen Amtes in seiner gegenwärtigen, geschichtlich gewordenen und dogmatisch abgesicherten Gestalt gemeint. Die Absicht der Untersuchung besteht darin, für diese Gestalt des Primates Haftpunkte im Neuen Testament nachzuweisen - weswegen die entsprechenden Belege stets auch vorausgreifend schon als »Primatstexte« bezeichnet werden. Methodisch fordert Pesch dabei ein, nicht von einer Analyse einzelner Perikopen, sondern von dem einen Endtext des gesamten Kanons auszugehen. Insofern gibt es für ihn auch nicht die Vielzahl eigenakzentuierter Petrusbilder - sondern vor allem das eine, durchaus harmonische Bild vom Primat Petri im Neuen Testament. So lehnt er auch die Auffassung ab, die Frage nach einem gesamtkirchlichen Petrusdienst könne überhaupt Sache von Verhandlungen, von Diskussionen oder Kompromissen sein. Denn hier gehe es vordringlich um die »gottmenschliche Wirklichkeit« der Kirche selbst. Dieser Ansatz, der vor allem Gewachsenes und Bestehendes neutestamentlich zu legitimieren versucht, wird das ökumenische Gespräch nicht fördern. Selbst dann, wenn man der (noch kaum befriedigend definierten) Methode einer durch die Gestalt des Kanons geleiteten Exegese 10 zustimmt: Auf die Gestalt des gegenwärtigen »Primates« führt sie nicht. Das Buch zeigt, wie stark kirchliche und dogmatische Positionen auch weiterhin den exegetischen Diskurs bestimmen werden. 3. Impulse für das Gespräch Die bisherigen Beobachtungen fordern dazu heraus, Impulse für die Frage nach kirchlichen Leitungsstrukturen bzw. für die Frage nach der kirchlichen Einheit zu formulieren. Denn beides wird von den Autoren des Neuen Testamentes immer wieder mit der Person des Petrus verbunden. Durchgängig erscheint Petrus als einer, der - aufgrund besonderer persönlicher Erfahrung - die Gemeinschaft der Anhängerinnen und Anhänger Jesu repräsentiert. In dieser Rolle erfährt er gleichermaßen Auszeichnung und Zurechtweisung. Als Verantwortungsträger, der sich exponiert, bleiben ihm Scheitern und Umkehr nicht erspart. Als Anwalt gesamtkirchlicher Einheit muß er sich der Kritik seiner Mitstreiter stellen. Stets bleibt er in seinen Entscheidungen in die Gemeinschaft gleichrangiger Verantwortungsträger eingebunden. Seine besondere Aufgabe besteht jedoch darin, ein Grundanliegen hör- und sichtbar zu vertreten: nämlich die Bewahrung der Tradition einerseits - und den Mut zur Innovation andererseits. Diese Umrißzeichnung findet m.E. ihre angemessenste Entsprechung in dem, was man als einen »Petrusdienst« bezeichnet hat. Dienst ist er vor allem in einer repräsentativen Weise. Er bleibt wesentlich auf die Einheit aller Christen bezogen. Wie Gal 2 zeigt, ist darin auch das Bemühen um die Gemeinschaft mit Israel einbegriffen. Mit der Akzeptanz eines solchen »Dienstes« verbindet sich aber auch die Frage nach seiner dauerhaften Sicherung. Liegt hier ein Ansatzpunkt für den Gedanken der Sukzession? Die ntl. Petrustexte liefern keine Impulse für Nachfolgeregelungen. Für die kontinuierliche Besetzung eines »Petrusdienstes« bleibt deshalb ein breiteres Spektrum von Modellen denkbar. Im ökumenischen Gespräch hat das für die protestantische und für die katholische Seite unterschiedliche Konsequenzen. Auf protestantischer Seite wäre überhaupt erst einmal die Notwendigkeit anzuerkennen, daß die Gesamtheit aller Christen einer gemeinsamen, ihre grundle- »Auf protestantischer Seite wäre überhaupt erst einmal die Notwendigkeit anzuerkennen, daß die Gesamtheit aller Christen einer gemeinsamen, ihre grundlegend durch Christus vorgegebene Einheit darstellenden Repräsentationsinstanz bedürfte.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 50 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 51 Christfried Böttrich Petrus - Bischofsamt - Kirche gend durch Christus vorgegebene Einheit darstellenden Repräsentationsinstanz bedürfte. Das würde einen großen Schritt über ihre bisherige Geschichte hinaus - wenn nicht gar einen gewagten Sprung über den eigenen Schatten - bedeuten. Auf katholischer Seite wäre der Anspruch auf eine Lehr- und Jurisdiktionsvollmacht, auf einen Sukzessionsgedanken sowie die Unfehlbarkeit lehramtlicher Entscheidungen preiszugeben. Das würde einen großen, durchaus auch schmerzlichen Schritt vor die gegenwärtige, geschichtlich gewordene Gestalt des päpstlichen Amtes zurück bedeuten. Eine besondere Herausforderung stellt die Frage dar, ob und wie sich die Konturen eines solchen Petrusdienstes mit dem Amt des Bischofs von Rom vereinbaren lassen - ob und wie also die biblischen Impulse auch mit geschichtlich gewachsenen Strukturen zusammenfinden können. Eine solche Herausforderung hat das ökumenische Gespräch - nicht zuletzt durch die Formulierungen von »Communio Sanctorum« - aufgenommen. Sie bedarf nun einer möglichst breitgefächerten Diskussion. l Anmerkungen 1 Communio Sanctorum. Die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen, hg. von der Bilateralen Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der Kirchenleitung der VELKD, Paderborn / Frankfurt 2 2003, 77-99 (Abschnitt VI. 4. Der Petrusdienst). 2 Vgl. L. Döring, Schwerpunkte und Tendenzen der neueren Petrusforschung, BThZ 19 (2002), 203-223. 3 Vgl. dazu ausführlich Chr. Böttrich, Petrus. Fischer, Fels und Funktionär (BG 2), Leipzig 2001. 4 Vgl. Chr. Böttrich, Petrus und Paulus in Antiochien (Gal 2,11-21), BThZ 19 (2002), 224-239. 5 Einen kompakten Überblick bietet F. Mußner, Der Galaterbrief (HThK 9), Freiburg 1973, 146-167. 6 So U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 8-17) (EKK I/ 2), Zürich / Neukirchen-Vluyn 1990, 469. 7 O. Cullmann, Petrus. Jünger - Apostel - Märtyrer. Das historische und das theologische Petrusproblem, Zürich 1952, 3 1985. 8 R.E. Brown / K.P. Donfried / J. Reumann (Hgg.), Das Petrusbild der Bibel. Eine ökumenische Untersuchung, Stuttgart 1976. 9 R. Pesch, Die biblischen Grundlagen des Primats (QD 187), Freiburg / Basel / Wien 2001. 10 Vgl. dazu die abgewogenen Überlegungen von K.-W. Niebuhr, Exegese im kanonischen Zusammenhang. Überlegungen zur theologischen Relevanz der Gestalt des neutestamentlichen Kanons, in: J.-M. Auwers / H. J. de Jonge (Hgg.), The Biblical Canons (BEThL 163), Leuven 2003, 557-584. Papyrologische Kommentare zum Neuen Testament (PKNT) Herausgegeben von Peter Arzt-Grabner, (Salzburg), Amfilochios Papathomas (Athen) und Mauro Pesce (Bologna) Band 1: Peter Arzt-Grabner Philemon 2003. 309 Seiten, Leinen € 49,90 D; bei Subskription der Reihe € 44,90 D ISBN 3-525-51000-4 Die Papyrologischen Kommentare ziehen überwiegend Texte des Alltags, wie sie Papyri und Ostraka in reichem Maße bieten, zur Interpretation der Bibeltexte heran, dazu Texte aus Literatur, Philosophie und andere wissenschaftliche, auch gesetzliche Texte. Der 1. Band verdeutlicht, wie sehr Paulus in der Sprachwelt des Alltags und den Rechtsverhältnissen seiner Umgebung beheimatet ist. Eduard Lohse Der Brief an die Römer Neubearbeitung Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament, Bd. 4. 2003. 423 Seiten, Leinen mit Schutzumschlag € 59,- D; bei Subskription der Reihe € 53,10 D ISBN 3-525-51630-4 Die internationale und interkonfessionelle Diskussion über den Römerbrief hat in den letzten Jahrzehnten in beeindruckender Weise an Tiefe gewonnen. Dieser Kommentar trägt der Diskussion Rechnung und vermittelt umfassendes Wissen für Predigt und Lehre. Die Auslegung arbeitet heraus, welche jüdischen Voraussetzungen das Denken des Paulus bestimmen und was er den Christen in Rom zu sagen hatte - damit zugleich den Christen aller Zeiten. Esther Straub Kritische Theologie ohne ein Wort vom Kreuz Zum Verhältnis von Joh 1-12 und 13-20 Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, Bd. 203. 2003. 249 Seiten, Leinen € 49,90 D ISBN 3-525-53887-1 Welchen Stellenwert hat die Kreuzestheologie im Johannesevangelium? Diese Untersuchung kommt zu dem Schluss, dass für das Johannesevangelium nicht die Kreuzigungserzählung, sondern die Selbstoffenbarung Jesu in Reden und Zeichen den thematischen Mittelpunkt bildet. Neuerscheinungen bei V R Weitere Informationen: www.v-r.de 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 51 52 ZNT 13 (7. Jg. 2004) »Petrus ja - Papst nein« ist eine schlechte Alternative. Denn sie blendet Chancen aus, die mit der univoken Repräsentation der gesamten Christenheit im Flair liturgischer Inszenierung verbunden sein könnten. Als Katholik war ich stolz auf den alten Mann in Rom, als er im März 2003 der religiösen Verbrämung der US-Kriegsmaschinerie im Namen der Christenheit Paroli geboten hat. Und ich meine: Je mehr die institutionelle Anbindung an die christlichen Kirchen in den europäischen Ländern abnimmt, je mehr gleichzeitig die humanen und ethischen Wertvorstellungen des Christentums angesichts der technischen und sozialen Herausforderungen unserer Zeit gefragt sind, desto mehr wird es zu einer Überlebensfrage des Christentums - sofern es sich als gesellschaftlich gestaltende Kraft versteht -, ob ihm diese machtvoll imposante Repräsentation vor der Weltöffentlichkeit gelingt. Ich sehe auch die Schattenseiten des Primates in seiner jetzigen römischen Konstruktion. Die Gefahr ist die Machtkumulation auf einen einzigen Mann, wobei nie mit letzter Klarheit durchsichtig wird, welche innerkirchlichen kurialen Kräfte es sind, die seine Entscheidungen jeweils beeinflussen. Es kommt also alles auf die Gestaltung an. Und die wurde von Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika »Ut unum sint« von 1995 zur Disposition gestellt. Als »Bischof von Rom« lädt er zum Dialog über die Reform des Papstamtes, das - man höre und staune - ein »Hindernis für die Einheit der Christenheit« (UUS 88) genannt wird, ausdrücklich ein. 1 Die neutestamentlichen Schriften im einzelnen als auch ihre Kombination im Kanon können Impulse geben. Meine Option: Die Christenheit sollte mit einer Stimme sprechen können, aber es kann ruhig eine Stimme sein, die einen »differenzierten Konsens« zum Ausdruck bringt, also: die differenzierte Aussage eines kleinen Gremiums von drei oder vier Leuten, die ihrerseits als Repräsentanten verschiedener Gruppen agieren, eine Gepflogenheit, wie sie sich in ökumenischen Gesprächen längst etabliert hat. Mehr als ein Mann an der Spitze - das entspricht durchaus nicht nur der alten pagan-römischen Tradition, wonach zumindest in republikanischer Zeit alle wichtigen Ämter im Duo besetzt wurden, sondern das entspricht m. E. auch weiten Teilen der neutestamentlichen Tradition: ein Gremium an der Spitze ist durch den Apostelkonvent verankert, in fast allen Textkorpora gibt es ein Gegengewicht zur Petrusfigur, der Kanon ratifiziert diese Grundkonzeption. Petrus als eine der drei »Säulen« auf dem Apostelkonvent (Gal 2,9) Beginnen wir mit dem so genannten Apostelkonvent, der um 48/ 49 n.Chr. in Jerusalem stattgefunden hat und über den Paulus als Augenzeuge in Gal 2,1-10 referiert. Es handelt sich um ein überregionales Ereignis zu einer theologisch zentralen Frage am Ort der Muttergemeinde der Christenheit. Vertreter der Urgemeinde in Jerusalem verhandeln mit Vertretern der Gemeinde aus Antiochien in Syrien (Paulus und Barnabas). Auch die unterschiedlichen theologischen Richtungen sind vertreten: neben der Fraktion Paulus / Barnabas auch deren Gegner, die Paulus als »Falschbrüder« bezeichnet (Gal 2,4). Inhaltlich geht es um die Frage, ob Heiden, wenn sie sich zum christlichen Glauben bekehren, wie jüdische Proselyten beschnitten werden müssen. Vom jüdischen Horizont aus gesehen, steht damit eine halachische Entschei- Martin Ebner Petrus - Papstamt - Kirche »Die Christenheit sollte mit einer Stimme sprechen können, aber es kann ruhig eine Stimme sein, die einen ›differenzierten Konsens‹ zum Ausdruck bringt ...« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 52 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 53 Martin Ebner Petrus - Papstamt - Kirche dung an. Nachdem im Judentum mit dem Vollzug der Beschneidung die Zugehörigkeit zu Gottes Bund und damit die Frage der eschatologischen Rettung (vgl. Apg 15,1) aufgeworfen wird, betrifft der zu verhandelnde Kasus das Zentrum von Glauben und Lehre. Welche Rolle spielt auf diesem Konvent Petrus? Gemäß dem Augenzeugenbericht des Paulus gehört er einem Dreiergremium an. 2 Dabei wird er nicht an erster Stelle genannt. Die gebührt dem Herrenbruder 3 Jakobus. Petrus steht an zweiter Stelle. Der »Dritte im Bunde« ist Johannes. Vor diesem Dreierkollegium wird die anstehende Streitfrage verhandelt und die Entscheidung per Handschlag, den die drei »Säulen« 4 mit Paulus und Barnabas tauschen, besiegelt. In meinen Augen ist diese Konstellation paradigmatisch für die nachösterlich greifbare Funktion des Simon Petrus: Im Rahmen einer urchristlichen Synode, bei der es um eine Richtungsentscheidung allerersten Ranges geht, fungiert Petrus als Verhandlungspartner innerhalb eines Dreierkollegiums. Leider hat dieses Jerusalemer Triumvirat nicht allzu lange gehalten. Gemäß Gal 2,11-14, der Erzählung vom antiochenischen Zwischenfall, hält sich bereits kurze Zeit später Petrus in Antiochien auf. Als Paulus wohl etwa um 56 n.Chr. seine Kollekte nach Jerusalem bringt, hören wir in Apg 21,18 lediglich noch von Jakobus und einem Ältestengremium in der Jerusalemer Urgemeinde. Von Johannes, dem Dritten im Bunde, ist keine Spur mehr. Aber die Option des Kollegiums ist erhalten geblieben - und zwar im Kanon. Eines der markantesten Konstruktionsprinzipien des neutestamentlichen Teils des christlichen Kanons besteht darin, dass nach den vier Evangelien die Apostelgeschichte folgt, die auf die Zeit der Kirche schaut und von den Aposteln erzählt, die dann anschließend in den Briefen selbst zu Wort kommen: Dabei werden den 14 Paulusbriefen die 7 sogenannten katholischen Briefe gegenübergestellt, die ihrerseits so angeordnet sind, dass sie genau der Reihenfolge der Apostel in Gal 2,9 entsprechen: Jakobusbrief, 2 Petrusbriefe, 3 Johannesbriefe (abschließend der Judasbrief). Ursprünglich standen die katholischen Briefe in Kombination mit der Apostelgeschichte als Auftakt dem paulinischen Briefkorpus sogar voran. 5 Also: Auch im Kanon steht dem Paulus - wie auf dem Apostelkonvent - ein Kollegium gegenüber, innerhalb dessen Petrus seine Rolle spielt. Der historische Grund für diese Gegenüberstellung dürfte die Herausforderung durch Markion gewesen sein, der versucht hat, alles Jüdische am Christentum abzustreifen, und als Basisschriften des Christentums lediglich die Paulusbriefe, allen voran den Galaterbrief, sowie ein gereinigtes Lukasevangelium gelten lassen wollte. Im Kontrast dazu betont der orthodoxe Kanon die jüdische Seite des Christentums nicht nur dadurch, dass er den neutestamentlichen Schriften die gesamte jüdische Bibel als ersten Teil voranstellt, sondern vor allem dadurch, dass den Gesprächspartnern des Paulus auf dem Apostelkonvent, die die jüdische Seite vertreten, auch im Kanon über ihre Briefe eine dauerhafte Stimme verliehen wird. Und erneut ist es eben nicht Petrus allein, der die jüdische Seite anführt oder gar das Christentum vertritt, »Im Rahmen einer urchristlichen Synode, bei der es um eine Richtungsentscheidung allerersten Ranges geht, fungiert Petrus als Verhandlungspartner innerhalb eines Dreierkollegiums.« Martin Ebner Martin Ebner, Jahrgang 1956, nach Promotion (1991) und Habilitation (1997) in Würzburg seit 1998 Professor für Neues Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Münster. Forschungsschwerpunkte: Methodenreflexion, historische Jesusforschung sowie sozialgeschichtlich orientierte Exegese, insbesondere erprobt am Markusevangelium. Seit 2002 Herausgeber der »Biblischen Zeitschrift«. Diverse Veröffentlichungen. Näheres auf seiner Homepage: http: / / ivv7srv01.uni-muenster.de/ fb02/ exegesnt/ publikationen/ ebner.html 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 53 54 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Kontroverse sondern es ist ein Kollegium von vier Aposteln, das - auch im Kanon - im Dialog mit Paulus die Orthodoxie repräsentiert. Orthodoxie im Dialog ihrer Repräsentationsgestalten wird im Kanon schließlich über zwei Vermächtnisse zum Ausdruck gebracht. Gemeint ist der zweite Petrusbrief (in 2Petr 1,14 spricht »Petrus« davon, dass sein »Zelt« bald abgebrochen wird) und der zweite Timotheusbrief (vgl. 2Tim 4,6, wo »Paulus« davon spricht, dass er nun geopfert werde und die Zeit des Aufbruchs nahe sei). Empfiehlt der zweite Brief des Petrus in 3,15f. ausdrücklich die Briefe seines »geliebten Bruders Paulus«, auch wenn darin manches schwer zu verstehen sei, so legt »Paulus« im zweiten Brief an Timotheus in 3,15f. seinem Schüler die heiligen Schriften (der Juden), kurz: das jüdische Erbe, ans Herz . 6 Summa: Sowohl der Verlauf der ersten christlichen Synode als auch die spätere Rezeption durch den Kanon zeigen gerade nicht einen Mann, eben Petrus, an der Spitze, der ein Machtwort spricht und die Gesamtheit des Christentums in seiner Person repräsentiert, sondern: Wir sehen Petrus im Rahmen eines Dreiergremiums agieren (Apostelkonvent) und hören seine Briefe, 7 erneut im Verbund mit den Briefen weiterer Apostel, als Pendant zu den Paulusbriefen (Kanon). 8 Gehen wir zu den Evangelien. Im Unterschied zu den Paulusbriefen oder etwa der Apostelgeschichte schauen sie zurück auf das Leben Jesu und erzählen in diesem Rahmen auch von der Gestalt des Petrus. Allerdings erzählen sie vergangene Geschichte so, dass in ihr Gestaltungsmuster bzw. Begründungszusammenhänge für die gegenwärtige Situation erkannt werden können. Beginnen wir mit dem Markusevangelium. Petrus im Markusevangelium: der Typus eines Versagers Auffällig ist, dass auch das Markusevangelium eine Dreierkonstellation kennt. Stereotyp sind es Petrus, Jakobus und Johannes, denen Jesus - herausgehoben aus dem Zwölferkreis - sozusagen privatissime Sonderwissen über seine Identität (vgl. Verklärungsgeschichte), seine außergewöhnliche Machtbefugnis (vgl. die Totenerweckung des Jairustöchterleins) und Einblick in seine Grenzerfahrungen (vgl. Getsemani) zukommen lässt. Es handelt sich um die gleichen Namen wie in Gal 2,9, allerdings wird im Markusevangelium Petrus an erster Stelle genannt, mit Jakobus ist nicht der Herrenbruder, sondern der Zebedaide, eben der Bruder des Johannes gemeint (vgl. Mk 3,17). Obwohl diese Drei bevorzugt in der Nähe Jesu stehen, verstehen sie von seinem Weg nichts. Die Zebedaiden schielen auf Macht (vgl. Mk 10,35-45) und Petrus verleugnet seinen Meister (vgl. Mk 14,66-72). Am Kreuz ist keiner der berufenen Zwölf zu sehen. Auffällig ist, dass am Ostermorgen den Frauen im Grab der Name des Petrus eigens ans Herz gelegt wird: »Nun aber geht und sagt seinen Jüngern - und dem Petrus: Er geht euch voraus nach Galiläa …« (Mk 16,7). Den zwölf Versagern - und ganz besonders dem großsprecherischen Versager Petrus - wird eine zweite Chance, ein zweiter Neuanfang in Galiläa eingeräumt. Insofern kann im Markusevangelium von einem Typus des Petrus gesprochen werden. Er vertritt den Typus dessen, der in einer Situation auf Leben und Tod nicht stark genug ist, sich zum Christentum zu bekennen. Vielleicht steht er für die vielen Versager der neronischen Verfolgung in Rom, die ähnlich wie Petrus im Verhör schwach geworden sind. 9 Zwar tritt Petrus im Markusevangelium des Öfteren als Sprecher der Jüngergruppe auf (vgl. Mk 8,29; 10,28), aber von einer Leitungs- oder Führungsrolle lässt sich nichts erkennen. Das stünde auch der Konzeption der markinischen Gemeinde diametral entgegen. Konzipiert doch das Markusevangelium die christliche Gemeinde im Haus, aber ohne pater familias, und das heißt: ohne die typisch rechtliche und organisatorische Führungsinstanz, wie sie für das Haus in der Antike eigentlich üblich ist (vgl. Mk 3,31-35; 10,29f.). 10 Petrus im Matthäusevangelium: Korrektur und Gegengewichte Nur scheinbar anders sieht die Sache im Matthäusevangelium aus. In der berühmten »Schlüsselstel- »Zwar tritt Petrus im Markusevangelium des Öfteren als Sprecher der Jüngergruppe auf (vgl. Mk 8,29; 10,28), aber von einer Leitungs- oder Führungsrolle lässt sich nichts erkennen.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 54 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 55 Martin Ebner Petrus - Papstamt - Kirche le« Mt 16,18f. wird Petrus die Schlüsselgewalt zugesprochen. Präzise: Ihm wird die Vollmacht gegeben, verbindliche halachische Entscheidungen zu treffen. Ganz unabhängig davon, ob wir das Wort von der Erklärung des Petrusnamens (Mt 16,18) 11 bzw. das Schlüsselwort (Mt 16,19) auf Jesus zurückführen können oder wollen, 12 die Vorgänge auf dem Apostelkonvent zeigen klar und deutlich: In der ersten entscheidenden Situation, in der eine halachische Entscheidung allerersten Ranges anstand, hat die Gesamtvertretung der Urchristenheit Petrus gerade nicht die Rolle zugesprochen, die ihm Mt 16,19 zuteilt: dass derartige Entscheidungen in seine - und zwar ausschließlich in seine - Hände gelegt sind. Wie wir gesehen haben, wurde die Entscheidung im Dialog gefällt, Petrus war der zweite Mann eines Dreiergremiums. Im Matthäusevangelium, geschrieben etwa 80 n.Chr., gibt es ein derartiges Gremium nicht mehr. Aber es gibt deutliche Gegengewichte gegen die in Mt 16,18f. klar gezeichnete Sonderstellung des Petrus. 1. Mit den Vollmachtsworten an Petrus reagiert Jesus im Matthäusevangelium auf das Gottessohnbekenntnis des Petrus bei Caesarea Philippi (vgl. Mt 16,16). Obwohl es in V. 17 heißt, dass diese christologische Titulierung auf eine Offenbarung des Vaters zurückgeht, erzählt das Matthäusevangelium zwei Kapitel vorher, im Rahmen der berühmten Seesturmgeschichte, dass es die Jünger in der Gesamtheit sind, die dieses Bekenntnis (»Wahrhaft, Gottes Sohn bist du«: Mt 14,33) als Erste aussprechen. Es ist ihre Reaktion darauf, dass Petrus, nachdem er wagemutig aus dem Boot gestiegen ist, aber wegen seines Kleinglaubens im Wind zu sinken beginnt, von Jesus gerettet wird. Die narrative Struktur des Matthäusevangeliums auf den Punkt gebracht, kann man pointiert formulieren: In der berühmten Primatsstelle buchstabiert Petrus den Glauben der Jüngergemeinde nach, leicht verspätet; er spricht diesen Glauben nicht vor, sondern es ist seine eigene Rettung aus Todesnot, die die Jüngergemeinde zu diesem Glauben vorstoßen lässt. 2. Die halachischen, also religionsgesetzlichen Entscheidungen, die Petrus mit Mt 16,19 in die Hand gelegt sind, werden im Matthäusevangelium unter eine inhaltlich qualitative Perspektive gestellt. So vor allem durch 23,13: »Wehe euch aber, Schriftkundige und Pharisäer, ihr Heuchler, weil ihr das Königtum der Himmel vor den Menschen verschließt; ihr selbst geht nicht hinein, und die hineingehen wollen, lasst ihr nicht hineinkommen.« Diese Kontrastfolie gibt eindeutige Vorgaben für die petrinischen Entscheidungen: Sie sollen das Himmelreich für die Menschen öffnen. 13 3. Und schließlich wird der ekklesia, also der Gesamtgemeinde im Matthäusevangelium, zumindest semantisch die gleiche Binde- und Lösegewalt zugesprochen wie Petrus selbst. Als Abschluss-Sentenz der Regelungen für das innergemeindliche Schiedsgericht heißt es in Mt 18,18: »Alles, was ihr auf Erden binden werdet, das wird auch im Himmel gebunden sein, und alles, was ihr auf Erden lösen werdet, das wird auch im Himmel gelöst sein.« Auch wenn rein organisatorisch an dieser Stelle wohl eher an Entscheidungen hinsichtlich des Ausschlussverfahrens, 14 in der Primatsstelle an religionsgesetzliche Entscheidungen per se gedacht ist, so bleibt doch dieses Pendant an Schlüsselgewalt höchst erstaunlich. Eine Frage bleibt: Wie kann es zu einer derartig herausgehobenen Stellung der Petrusfigur, wie sie Mt 16,18f. bezeugt, in der mt Gemeinde, die man gerne in Antiochien ansiedelt, überhaupt gekommen sein, so dass der Theologe, der für die Gesamtkomposition des Evangeliums zuständig ist, diese Stellung bereits wieder relativiert und inhaltlich justiert? Ich denke, dass es der kluge Vorstoß des Petrus beim Herrenmahlstreit in Antiochien war, der ihm zwar den scharfen Widerspruch des Paulus eingetragen (»… wie kannst du die Heiden zwingen zu judaisieren? «), 15 ihm aber als geschickter Schlichterfigur offensichtlich Ansehen verschafft hat. Wer in einer höchst heiklen Situation denjenigen Kompromissvorschlag einbringt, auf den sich die meisten einlassen können, so dass erneut Friede und Geschlossenheit einkehren, dem traut man auch für die Zukunft zu, dass er Derartiges leisten kann. Auf diese Weise kann ich es mir erklären, dass in der Folge des antiochenischen Zwischenfalls Petrus in bestimmten Teilen der Urchristenheit die Rolle zugeschrieben wurde, die Mt 16,18f. für ihn verbürgt. Der begnadete Schlichter wird zum bevollmächtigten Halacha-Geber. Matthäus schreibt um das Jahr 80 n.Chr. Entweder ist der historische Petrus uralt, oder - und das ist viel wahrscheinlicher - es gibt innerhalb der matthäischen Gemeinde bereits eine derartige 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 55 56 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Kontroverse »Petrusfigur«, die die Vollmacht hat, religionsgesetzliche Entscheidungen in letztgültiger Vollmacht zu fällen. Die Magna Charta für ihre Entscheidungsgewalt ist das berühmte Primatswort in Mt 16,18f. Aber es ist der Theologe Matthäus, der über die narrativen Strukturen seines Evangeliums erneut korrigierende Weichen stellt: Er gibt für die Schlüsselgewalt eine inhaltliche Perspektive vor (das Himmelreich öffnen), ordnet die Vollmacht des »Petrusamtes« dem Glauben der Gemeinde zu (Petrus spricht den Glauben der Gemeinde nach) und stellt eine analoge Entscheidungskompetenz der Gesamtgemeinde als Pendant heraus (vgl. Mt 18,18). 16 Petrus im Lukasevangelium: der Archeget der Heidenmission Im Lukasevangelium vertritt Petrus erneut einen bestimmten Typus: Er ist der Heidenmissionar par excellence. In seiner Apostelgeschichte erzählt Lukas für Petrus, was gewöhnlich auf das Konto des Heidenmissionars Paulus geschrieben wird: dass er als Erster Heiden tauft und mit ihnen auch isst (Apg 10,1-11,18). Lukas zeichnet Petrus als Archegeten der Heidenmission. 17 Im Rahmen seiner Geschichtstheologie ist es deshalb für Lukas wichtig, dass Petrus als Initiator des Weges zu den Heiden geschichtlich durch die Verbindung mit den allerersten Ursprüngen bei Jesus autorisiert ist, ja mehr noch, gerade dadurch vor allen anderen Aposteln ausgewiesen wird, dass er der Erstberufene ist, der Erstbeauftragte (Lk 5,1-11), der Erstbekenner (Lk 9,20), der Erste, der einer Erscheinung gewürdigt wird (Lk 24,34), der Erstverkündiger am Pfingsttag. Für die heidenchristliche Gemeinde des Lukas erscheint Petrus damit »als Garant für die Kontinuität des Weges, den die Anhänger Jesu von den Anfängen in Galiläa an über die Erschütterungen der Jerusalemer Tage bis hin zu den (heidnischen) Gemeinden in Cäsarea und Antiochia gehen«. 18 Petrus im Johannesevangelium: das Pendant zum geliebten Jünger Im Johannesevangelium kommt Petrus bekanntermaßen schlecht weg: Alle Negativsituationen werden ausführlich erzählt, dagegen die Sternstunden des Petrus einfach gestrichen. Das so genannte Petrusbekenntnis übernimmt im Johannesevangelium Marta von Betanien (11,27). Anstelle der Erstberufung (vgl. Mk 1,16-18) wird eine Sekundärberufung durch seinen Bruder Andreas erzählt (Joh 1,40-42). Penetrant erhält Petrus im Johannesevangelium ein Pendant, das Jesus viel näher steht als er selbst: den so genannten Lieblingsjünger. Auf seine Hilfe ist er nicht nur angewiesen, wenn er in den Hof des Hohenpriesters kommen will (um dort dann die schlechtmöglichste Figur zu machen: 18,15-18.25-27), sondern auch, wenn er erfahren will, wer der Verräter Jesu sein wird (13,21-30). Dabei ist im narrativen Duktus des Johannesevangeliums deutlich zu spüren, dass Petrus in der Welt des Urchristentums bereits eine Vorrangstellung genießt: Nicht anders ist es zu erklären, dass der geliebte Jünger, obwohl er als Erster am Grab ankommt, nicht sofort hineingeht, sondern auf Petrus wartet, um ihm den Vortritt zu lassen. Süffisanterweise erzählt das Johannesevangelium aber lediglich eine offizielle Begutachtung der Grabkammer, während der geliebte Jünger, der als Zweiter ins Grab geht, zum Glauben kommt (20,3-10). Auch wenn im letzten Kapitel des Johannesevangeliums Petrus in einem institutionellen Akt als Hirte der Schafe Jesu schlechthin eingesetzt wird (21,15-17), bleibt jener geliebte Jünger als Pendantfigur erhalten. Während Petrus der Märtyrertod vorausgesagt wird, in dem sich dessen Hirtenaufgabe vollenden wird (21,18f.), spricht das Johannesevangelium von einem rätselhaften »Bleiben« des geliebten Jüngers (21,20-23). Dass dieses »Bleiben« in der physischen Gegenwart des geliebten Jüngers bestehen soll, wird ausdrücklich verneint. Gedacht ist vielmehr an das »Bleiben« des geliebten Jüngers im Text des Johannesevan- Rembrandt, Jesus rettet den sinkenden Petrus, um 1632/ 33, London British Museum 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 56 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 57 Martin Ebner Petrus - Papstamt - Kirche geliums (21,24), eben in der johanneischen Theologie. Das Johannesevangelium installiert damit seine eigene Theologie als Gegenpol zum petrinischen Hirtenamt, 19 als bleibende theologische Grundlage im Gegenüber zum schützenden, integrierenden Handeln des Hirten »Petrus«. Wenn zusätzlich bei der Installation des Petrus als Hirten als ausschlaggebendes Kriterium nach seiner »Liebe« zu Jesus gefragt wird, dann wird als Maßstab für das Hirtenamt Petri genau die Haltung verankert, die die Beziehung zu Jesus gemäß der johanneischen Theologie beschreibt. Petrus als Hirte wird sozusagen auf die Theologie des Johannesevangeliums »vereidigt«. Petrus - und sein »Amt« In meinen Augen zeichnen sowohl das Markusals auch das Lukasevangelium Petrus als einen bestimmten Typus - ohne dauerhafte Funktion. Dagegen ist im Matthäus- und Johannesevangelium sehr wohl von der Konstruktion eines »Petrusamtes« zu sprechen, das über die historische Figur des Petrus hinausreicht. Im einen Fall, im Johannesevangelium, geht es um ein »Hirtenamt«, im anderen Fall, im Matthäusevangelium, geht es um die Vollmacht zu halachischen Entscheidungen. Beide Evangelien schreiben für das Petrusamt Regeln vor. Im einen Fall, im Johannesevangelium, ist es die Orientierung an dem Lebensvorbild Jesu, im anderen Fall, im Matthäusevangelium, ist es die Absetzung von der dunklen Folie der pharisäischen Schriftgelehrten. Und beide Evangelien betonen ein Gegengewicht zur Verfügungsgewalt des »Petrus«: Im einen Fall ist es die johanneische Theologie, im anderen Fall die Entscheidungsbefugnis der Gesamtekklesia. Nehmen wir das Konstruktionsprinzip des Kanons hinzu, ergeben sich für die Petrusfigur als Leitungsgestalt mit bestimmten Machtbefugnissen folgende zwei Grundmöglichkeiten, die jeweils dadurch ausgezeichnet sind, dass sie der Petrusgestalt einen Gegenpol zuweisen bzw. sie in ein Gremium einbinden: • Im einen Fall wird Petrus innerhalb eines Gremiums gesehen (Gal 2,9; Konstruktionsprinzip des Kanons). Wollte man die Dreierkonstellation einigermaßen adäquat auf unsere heutige kirchliche Situation übertragen, so würde sicher die Gestalt des Petrus am ehesten einer Repräsentationsfigur aus der katholischen Kirche entsprechen, die Figur des Jakobus einer Repräsentationsfigur aus der Orthodoxie und schließlich Johannes einer Repräsentationsfigur aus den protestantischen bzw. reformatorischen Kirchen. • Für die andere Grundstruktur ist kennzeichnend, dass der Petrusgestalt ein Pendant und Gegengewicht zugeordnet wird. Nach der johanneischen »Lösung« müsste als Gegenüber zum Leitungs- und Hirtenamt des »Petrus«, der Sorge zu tragen hat für die Integration der Schafe und für deren Schutz mit dem eigenen Leben einsteht, eine Theologenschule installiert werden, sozusagen als Stachel im Fleisch, die für die eigentlichen theologischen Impulse durch die ständige Aktualisierung der Jesustradition zuständig ist. Die matthäische Lösung sieht ein organisatorisch verfassungsrechtlich installiertes Gegenorgan vor, eben die Gesamtekklesia, ein Modell, das sich durchaus auch auf der Universalebene praktizieren ließe: Dieses Modell würde der Gesamtekklesia gerade in Disziplinarfragen letzte Verfügungsgewalt zusprechen, also wenn es darum geht, einzelne Christen aus der Gemeinschaft auszuschließen, sie von ihrem Dienst zu suspendieren oder ihnen die Lehrerlaubnis zu entziehen. So gesehen zeigen die neutestamentlichen Schriften im Einzelnen als auch der Kanon als übergeordnete Größe geradezu von sich aus bereits Widerstände gegen die Machtkonzentration auf eine einzelne Figur im Urchristentum. In meinen Augen sollte diese Linienführung für eine Neugestaltung des Petrusamtes nicht nur mitbedacht werden, sondern eine entscheidende Rolle spielen. l Anmerkungen 1 Vgl. die konstruktive Auswertung dieses Dokumentes durch J.R. Quinn, Die Reform des Papsttums (QD 188), Freiburg i. Br. 1999. 2 Nach der lk Darstellung in Apg 15,1-35 tritt Petrus »So gesehen zeigen die neutestamentlichen Schriften im Einzelnen als auch der Kanon als übergeordnete Größe geradezu von sich aus bereits Widerstände gegen die Machtkonzentration auf eine einzelne Figur im Urchristentum.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 57 58 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Kontroverse neben Jakobus als Sprecher der Jerusalemer Gemeinde auf. Der Beschluss allerdings wiederholt präzise die Nachbesserung, die Jakobus am Plädoyer des Petrus (V. 7-11: keine Auflagen für die Heiden) anbringt: die berühmten Jakobusklauseln (vgl. V. 19-21 mit V. 28f.). 3 So wird Jakobus in Gal 1,19 eingeführt. 4 Die Analogie zu Tempelsäulen im Rahmen der Grundmetapher der Gemeinde als eschatologischem Tempel (vgl. U. Wilckens, ThWNT VII, 732-736) wird von G. Theißen, Die Verfolgung unter Agrippa I. und die Autoritätsstruktur der Jerusalemer Gemeinde. Eine Untersuchung zu Act 12,1-4 und Mk 10,35-45, in: U. Mell/ U.B. Müller (Hgg.), Das Urchristentum in seiner literarischen Geschichte (FS J. Becker) (BZNW 100), Berlin 1999, 263-289, hier: 280f., im Blick auf die Geschichte des Urchristentums spezifiziert: Normalerweise würde man vier Säulen erwarten (vgl. die Darstellung etwa auf Münzen in der Zeit des Bar Kochba-Aufstandes). Die Dreizahl in Gal 2,9 könnte daraus resultieren, dass bereits eine »Säule«, nämlich der Zebedaide Jakobus, dessen Martyrium gewöhnlich auf 43 n.Chr. angesetzt wird, »weggebrochen« ist. Eine eschatologische Entsprechung zu den drei Erzvätern sieht R.D. Aus, Three Pillars and Three Patriarchs: A Prosposal Concerning Gal 2,9, ZNW 70 (1979), 252-261; F. Vouga, An die Galater (HNT 10), Tübingen 1998, 49, verweist mit Belegstellen aus den griechischen Tragikern auf »Säule« als geprägte Metapher für eine »tragende Figur« in einer Sozietät. 5 Vgl. D. Trobisch, Die Endredaktion des Neuen Testaments. Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel (NTOA 31), Freiburg (Schweiz) / Göttingen 1996, 40: Die Stellung der Apostelgeschichte zwischen Evangelien und Paulusbriefsammlung entspricht der Anordnung vieler byzantinischer Handschriften. Von dort gelangte sie über die Ausgabe des Erasmus von Rotterdam in die modernen Druckausgaben. 6 Vgl. Trobisch, Endredaktion, 134-147; K.-W. Niebuhr, Exegese im kanonischen Zusammenhang. Überlegungen zur theologischen Relevanz der Gestalt des neutestamentlichen Kanons, in: J.-M. Auwers / H.J. de Jonge (Hgg.), The Biblical Canons (BEThL 163), Leuven 2003, 557-584, hier: 576f. 7 Was die Leitungsstrukturen angeht, ist auch innerhalb von 1Petr von einem Gremium von Presbytern als Hirten die Rede (vgl. 1Petr 5,1-3), mit denen sich »Petrus« als Mitpresbyter auf eine Stufe stellt. »Oberhirte« ist Christus (5,4), ganz abgesehen davon, dass alle Gläubigen die »königliche Priesterschaft« (2,9) bilden. 8 Damit werden die Strukturen des Kanons völlig anders wahrgenommen als im Petrusbuch von R. Pesch, Die biblischen Grundlagen des Primats (QD 187), Freiburg i. Br. 2001. 9 Vgl. M. Ebner, Du hast eine zweite Chance! Das Markusevangelium als Hoffnungsgeschichte, in: O. Fuchs/ M. Widl (Hrsg.), Ein Haus der Hoffnung (FS R. Zerfaß), Düsseldorf 1999, 31-40. 10 Vgl. T. Roh, Die familia dei in den synoptischen Evangelien. Eine redaktions- und sozialgeschichtliche Untersuchung zu einem urchristlichen Bildfeld (NTOA 37), Freiburg (Schweiz) / Göttingen 1999, 107-144, bes. 136- 143. 11 Vgl. dazu nur P. Lampe, Das Spiel mit dem Petrusnamen - Matt. XVI. 18, NTS 25 (1979), 227-245. Dagegen muten die Überlegungen von M. Rastoin, Pierre »fils de la colombe« en Mt 16,17? , Bib. 83 (2002), 549-555, geradezu phantastisch an: »Barjona« (= Sohn der Taube) soll über die Taufperikope Assoziationen zum heiligen Geist wecken. Er ist es, der Petrus in Mt 16,16 das auszusprechen befähigt, was die göttliche Stimme in Mt 3,17 offenbart hat. 12 Vgl. die ausführliche Diskussion bei U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (EKK I/ 2), Bd. 2, Zürich / Neukirchen-Vluyn 1990, 454-459. 13 Vgl. das Zitat von R.E. Brown, Biblical Reflections on Crises Facing the Church, New York 1975, 83, bei Quinn, Reform, 165: »Am allermeisten hat sich das Papsttum dessen gerühmt, dass Jesus unter allen anderen Jüngern einzig dem Petrus die Schlüsselgewalt übertragen hat. Eine protestantische Kirche, die die Vereinigung beantragen würde, würde den Nachfolger Petri auffordern, diese Schlüssel dazu zu verwenden, die Tür aufzuschließen.« 14 Geht es in Mt 18,18 stärker um Disziplinargewalt, so in Mt 6,19 stärker um Lehrvollmacht; vgl J. Gnilka, Das Matthäusevangelium (HThK I/ 2), Bd. 2, Freiburg i. Br. 1988, 66f.; U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (EKK I/ 3), Bd. 3, Zürich / Neukirchen-Vluyn 1997, 46f. 15 Petrus muss also - um der Rettung der Tischgemeinschaft willen - eine gewisse Auflage für die Heiden in die Diskussion eingebracht haben, nur so erklärt sich, dass Paulus von einem »Zwang zum Judaisieren« sprechen kann; vgl. dazu nur T. Holtz, Der antiochenische Zwischenfall (Galater 2.11-14), NTS 32 (1986), 344-361, hier: 348f. 16 Nicht ob das Binde- und Lösewort von Mt 16,19bc (so Gnilka, Mt II, 55f.) oder das in 18,18 älter ist (so Luz, Mt II, 458f.), ist entscheidend, sondern die Gewichtung der beiden Traditionen in ihrer gegenseitigen Korrespondenz. 17 Bereits die Erzählung vom wunderbaren Fischfang Lk 5,1-11 wird in dieser Perspektive beleuchtet von K. Löning, Das Geschichtswerk des Lukas. Band I: Israels Hoffnung und Gottes Geheimnisse (Urban-Taschenbücher 455), Stuttgart 1997, 165-172. Leider völlig auf das Evangelium beschränkt bleibt R.F. Collins, The Primacy of Peter. A Lukan Perspective, LouvSt 26 (2001), 268-281. 18 C. Böttrich, Petrus. Fischer, Fels und Funktionär (Biblische Gestalten 2), Leipzig 2001, 240. 19 Die Korrespondenz zwischen Leitung und Lehre, besser: die joh Forderung, dass sich Leitungsfiguren durch Theologen leiten lassen, arbeitet sehr schön heraus J. Kügler, Die Liebe des Sohnes und das Bleiben des Jüngers. Der geliebte Jünger im Johannesevangelium und die Begründung kirchlicher Macht im johanneischen Christentum, in: M. Gielen / Ders. (Hgg.), Liebe, Macht und Religion. Interdisziplinäre Studien zu Grunddimensionen menschlicher Existenz (FS H. Merklein), Stuttgart 2003, 217-236, hier: 335f.; U. Wilckens, Joh 21,15-23 als Grundtext zum Thema »Petrusdienst«, in: Ders., Der Sohn Gottes und seine Gemeinde. Studien zur Theologie der Johanneischen Schriften (FRLANT 200), Göttingen 2003, 167-183, dagegen sieht in der Figur des geliebten Jüngers die Qualifikation betont, die ein »Hirte« haben muss, der nach Jesu (und des Petrus) Tod diese Rolle ausfüllen soll. 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 58 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 59 0. Vorüberlegungen Bereits die markinische Notiz Mk 4,10ff. gibt uns einen Hinweis darauf, dass die Gleichnisse Jesu zwar zu den bekanntesten Teilen der Bibel gehören, aber wohl bereits seit ihrem ersten Auftreten auch als interpretationsbedürftig gelten. Die so ausgelöste Irritation verstärkt sich dadurch, dass die Interpretationsbedürftigkeit der Texte einerseits nach den exegetischen Experten rufen lässt, andererseits die wissenschaftlichen Exegeten ihrerseits eine Fülle von Deutungen produzieren. Die ursprüngliche Irritation durch die Gleichnisse wird somit nicht aufgelöst, sondern noch verstärkt. In diesem Zusammenhang halten wir es für wünschenswert, den Status der Laienexegese in ihrem Verhältnis zur wissenschaftlichen Vorgehensweise zu beleuchten und vor allem die Ergebnisse zu vergleichen. Wir machen es uns dabei zunutze, dass die exegetische Wissenschaft sich neuerdings verstärkt darum bemüht, die Verstehensbedingungen z.B. von Gleichnissen im Detail zu rekonstruieren. 1 Wir meinen allerdings, dass die Religionspädagogik an dieser Stelle bereits einen wichtigen Schritt weiter gegangen ist, indem sie empirisch konkrete Verstehensversuche neutestamentlicher Texte rekonstruiert hat. 2 Dabei ergaben sich insbesondere Differenzierungen bezüglich des (altersspezifischen) kognitiven Niveaus. In der Logik der dort unternommenen Arbeiten liegt es, angesichts der Fülle und Unterschiedlichkeit von Deutungsversuchen von Schüler/ innen und der Pluralität der exegetischen Befunde, die Möglichkeit einer einzigen »richtigen« Interpretation generell infrage zu stellen. 3 1. Theoretischer Rahmen Wie funktioniert Verstehen? Wir greifen auf Erkenntnisse der Sprachverarbeitungsforschung zurück, wie sie in der kognitiven Linguistik und Psychologie betrieben wird. 4 Grundlegend ist zunächst die Einsicht, dass Sprachverstehen ein »konstruktiver Prozess« ist: »Die Vorstellung einer starren Beziehung zwischen Text und Bedeutung hat man aufgegeben.« 5 Denn die sprachlichen Zeichen eines Textes sind hinsichtlich der Sinnfestlegung defizitär und werden erst im Verständnishorizont des Rezipienten ergänzt und komplettiert. 6 Das heißt: Beim Verstehen von Texten kommt es zu einem Wechselverhältnis von textuellen Faktoren (als Rezeptionsanweisungen) und außertextuellen Faktoren (Eigenbeteiligung des Rezipienten). 7 Textverstehen ist eine konstruktive Leistung des Rezipienten, »die nicht als mehr oder weniger passive Entnahme von Sinn aus einem ihn transportierenden Vehikel (dem ›sprachlichen Text‹), sondern als kreatives Erstellen von Sinn auf der Basis der kognitiven Verarbeitung der materialen Textgestalt durch den jeweiligen Rezipienten zu begreifen ist«. 8 Während die materiale Textgestalt unterschiedliche Interpretationen anregen kann, zielt die Rezipientin beim Verstehen eines Textes auf »Vereindeutigung«. 9 Wir orientieren uns im Folgenden an drei wesentlichen Fragen der kognitiven Sprachverarbeitungsforschung. 10 1. Wie nehmen die RezipientInnen die materiale Textgrundlage auf? 2. Wie verbinden die RezipientInnen die materiale Textgrundlage mit ihren eigenen, ihnen zur Verfügung stehenden, Kenntnissen? (= inferentielle Prozesse) 3. Welche Strategien wenden die RezipientInnen an, um einen kohärenten Sinn zu konstruieren? Wir gehen also davon aus, dass auch die »Laienexegese« regelgeleitet ist: »Die inferentiellen Prozesse sind ... in ihrer Varianz durch Indikatoren und die Struktur des Gleichnisses (Bildebene und Ausgangsebene) umgrenzt, so dass das Bedeutungsspektrum der Kognition durch das regelgeleitete Verstehen nicht beliebig ... ist. Da jedoch die Wahl und Wahrnehmung von Indikatoren entsprechend der assoziativen Koppelung zu Wis- Hermeneutik und Vermittlung Hanna Roose & Gerhard Büttner Moderne und historische Laienexegesen von Lk 16, 1-13 im Lichte der neutestamentlichen Diskussion 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 59 60 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Hermeneutik und Vermittlung sensbeständen des Rezipienten geschieht, gibt es mehrere Möglichkeiten, welche Vorstellungen herangezogen und wie sie aktualisiert werden.« 11 Worin unterscheidet sich nun die wissenschaftliche von der Laienexegese? Für beide gilt, dass der Rezipient produktiv zum Verstehen beiträgt, indem er die sprachmateriale Vorlage aufgrund seines semantischen Wissens geregelt verarbeitet. Die wissenschaftliche Exegese fragt nun aber nach den Möglichkeiten des historischen Verstehens: Wie haben die ersten Rezipienten das Gleichnis verstanden? Da die Semantik sprachspezifisch, kultur- und zeitabhängig ist, besteht eine Hauptaufgabe der wissenschaftlichen Exegese darin, die historischen Faktoren des Verstehens möglichst genau offenzulegen. Sie ermöglicht dadurch eine Auseinandersetzung mit dem historischen Sinnpotenzial des Textes und bereichert so ein rein applikatives Verstehen, das »nur eine Spiegelung des eigenen Vorverständnisses in offenen Sinnstrukturen« 12 erlaubt. Wir fragen bei der Sichtung von exegetischen Forschungsmeinungen danach, mit welchen Vorkenntnissen, inferentiellen Prozessen und Strategien die Exegeten bei den historischen Rezipienten rechnen. Das heißt: Die Expertenexegese steht (u.a.) im Dienst der (Re-)Konstruktion der historischen Laienexegese. 2. Versuchsanordnung 2.1. Der zu interpretierende Text Als Gesprächsgegenstand haben wir das Gleichnis vom klugen Verwalter (Lk 16,1-13) gewählt, und zwar aus zwei Gründen: Nach einhelliger Meinung der Exegeten finden sich in Lk 16,8-13 mehrere (nicht ganz widerspruchsfreie) Anwendungen des ursprünglichen Gleichnisses. Diese sehr unterschiedlichen Anwendungen lassen darauf schließen, dass die Urchristen mit der Tradierung des Gleichnisses ein nach ihrer Einschätzung schweres, interpretationsbedürftiges Erbe antraten. Das heißt: Die Verse 8-13 geben uns Einblick in eine Laienexegese aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert. Diese urchristliche Laienexegese soll in den Vergleich einbezogen werden. Nicht nur für die ersten Christen, sondern auch für heutige Laien und Experten wirft das Gleichnis Interpretationsprobleme auf. Die Wissenschaft ist sich nicht einig darüber, wie das Gleichnis »ursprünglich« verstanden wurde. Die Vielfalt der Rezeptionen kann Aufschluss darüber geben, welche inferentiellen Prozesse Laien und Experten vollziehen, welche (unterschiedlichen? ) Strategien sie anwenden, um den Text als sinnvolle Ganzheit zu konstruieren. 2.2. Das Analyseverfahren Heutige Laienauslegungen zu Lk 16,1-13 wurden in einem Gruppengespräch mit Studienanfänger- Innen ermittelt. Die Gruppe wurde mit dem Gleichnis samt seinen uns überlieferten widersprüchlichen Auslegungen (16,1-13) konfrontiert. Die widersprüchlichen Anwendungen des Gleichnisses bringen die Studierenden in eine »Dilemmasituation«: Sie können die Verse nicht in ein widerspruchsloses Verhältnis setzen. Die Gesprächsführerin 13 nutzt dieses »Dilemma« aus, indem sie die vorgetragenen Deutungsversuche durch Verweis auf widersprüchliche Verse in Frage stellt. Dieses Verfahren kann Aufschluss darüber geben, welche Deutungsstrukturen bei den Studierenden aktualisiert werden und wie hartnäckig sie an ihnen festhalten. Das Gespräch wurde eingeleitet mit der Frage: »Was will denn dieses Gleichnis Ihrer Meinung nach aussagen? « Diese Frage fängt eine formgeschichtliche Besonderheit der Gleichnisse ein, die darin besteht, dass der Rezipient beim Verstehen von Gleichnissen dazu aufgefordert ist, die »vorgegebene Bildebene in irgendeiner Form [zu] bearbeiten, um ihr einen Sinn abzugewinnen, der über diese Ebene hinausreicht«. 14 Die historischen Laienauslegungen lassen sich nur über die Expertenanalyse erschließen. Dabei ist auffällig, dass sich sowohl die zeitgenössischen Exegeten als auch die zeitgenössischen Laien bei der Interpretation der einzelnen Anwendungen erstaunlich einig sind. Zur Erhebung der diesbezüglichen Laienin- »Dabei ist auffällig, dass sich sowohl die zeitgenössischen Exegeten als auch die zeitgenössischen Laien bei der Interpretation der einzelnen Anwendungen erstaunlich einig sind.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 60 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 61 Hanna Roose & Gerhard Büttner Moderne und historische Laienexegesen von Lk 16, 1-13 terpretation haben wir jungen Erwachsenen die Logien 16,9.10-12 und 13 voneinander getrennt vorgelegt und sie gefragt, was die isolierten Sprüche bedeuten. 15 Dabei hat sich gezeigt: 16,9 wird von Laien und Experten 16 als Aufforderung verstanden, sich durch soziale Verwendung von Geld Freunde zu machen; 16,10-12 deuten beide Gruppen als Aufforderung zur Treue im Kleinen und Großen bei der Verwaltung anvertrauten Gutes; 16,13 wird auf die Unvereinbarkeit von Gottes- und Mammondienst hin interpretiert. Umstritten ist in der Expertenexegese die Frage, wie das ursprüngliche Gleichnis rezipiert wurde. Das eigentliche Gleichnis bereitet auch den heutigen Laien erhebliche Schwierigkeiten. Die wissenschaftlichen Auslegungen zu 16,1-13 sind aus der Fachliteratur leicht zu ermitteln. Die Untersuchung erhebt dabei in dieser Hinsicht keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es geht schon gar nicht um die argumentative Ermittlung der »richtigen« Auslegung. Vielmehr soll die inhaltliche Bandbreite exegetischer Interpretation dargestellt werden unter besonderer Berücksichtigung der »Schlüsselfragen«, die die Exegese beschäftigen. 2.3. Die Relevanz Die hier vorgestellten Ergebnisse können natürlich nur einen ersten, punktuellen Einblick geben. Allerdings halten wir die Ergebnisse im Sinne qualitativer Forschung für repräsentant, 17 d.h. typisch für gebildete junge Leute (mit christlichem Hintergrund). Es zeigen sich u.E. einige recht klare Tendenzen im Hinblick auf die Konstruktionsprinzipien in Laienexegese und neutestamentlicher Wissenschaft, die einen Beitrag leisten können zum besseren Verständnis der Prozesse, die sich zwischen Text und Rezipienten abspielen. 3. Analyse 3.1. Die umstrittene Experten- (Re-)Konstruktion der Erst-Rezeption des ursprünglichen Gleichnisses Die wissenschaftliche Exegese diskutiert im Hinblick auf das ursprüngliche Gleichnis vom klugen Verwalter folgende Fragen: Hanna Roose PD Dr. Hanna Roose, Jahrgang 1967, studierte Ev. Theologie, Französisch und Musik in Saarbrücken und Straßburg. Promotion (1997) in Saarbrücken, Habilitation (2002) in Heidelberg. Seit 2000 ist Frau Roose wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ev. Theologie der Universität Koblenz-Landau. Forschungsschwerpunkte: Apokalyptik, Thessalonicherbriefe und biblische Didaktik. Gerhard Büttner Prof. Dr. Gerhard Büttner, geb. 1948. Studium der Ev. Theologie, Politikwissenschaft und Geschichte in Freiburg / Brsg. und Heidelberg. Lehrer an der Ganztagesschule Osterburken, anschließend StR a.e.H. an der PH Heidelberg. 1991 Promotion über »Seelsorge im Religionsunterricht« (PH Weingarten), 2000 Habilitation über die Christologie von Schüler/ innen (PH Karlsruhe). Seit 2000 Professor für Ev. Theologie an der Universität Dortmund mit dem Schwerpunkt Religionspädagogik und Didaktik des Religionsunterrichts. Mitherausgeber des »Jahrbuchs für Kindertheologie« und der Schulbuchreihe »SpurenLesen«. 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 61 62 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Hermeneutik und Vermittlung 1. Gehörte V.8a zum ursprünglichen Gleichnis? Becker sieht in V.8a einen ersten Kommentar, 18 denn zum einen sei nicht denkbar, dass der Hausherr den Verwalter, den er eben noch wegen Veruntreuung gefeuert hat, nunmehr wegen weiterer Veruntreuung lobt, 19 zum anderen würden die Machenschaften des Verwalters im ursprünglichen Gleichnis nicht moralisch gewertet, wohl aber in V.8a. 20 Der Halbvers halte nachträglich fest: »In der Tat, der Verwalter ist perfide, aber man kann dennoch von seinem klugen, d.h. entschlossenen Handeln angesichts des plötzlichen Stehens am Abgrund lernen.« 21 Schramm / Löwenstein ziehen den Halbvers zum ursprünglichen Gleichnis: »Das in V.8a formulierte Lob gehört mit Sicherheit zur ältesten Überlieferung - eben wegen seiner Anstößigkeit; den Tradenten der Verkündigung Jesu ist es nicht zuzutrauen; die sind ja immer wieder darum bemüht, Unebenheiten zu glätten und allzu harte Aussagen zu bändigen.« 22 2. Wer ist Sprecher in V.8a: Jesus oder der Besitzer? Diese Frage hängt mit der ersten zusammen. Denn grundsätzlich gilt: Wenn V.8a als Zusatz angesehen wird, ist - wie später ab V.9 - Jesus der Sprecher. Wer den Halbvers jedoch zum ursprünglichen Gleichnis rechnet, kann sowohl Jesus als auch den Besitzer als Sprecher annehmen. Die Mehrheit der Exegeten deuten den »Herrn« auf Jesus. 23 Die Exegeten, die den Hausherrn als Sprecher ansehen, argumentieren formgeschichtlich: Sie stützen sich auf die antike Komödienliteratur und sehen in 16,1-8a eine »Schelmen-Komödie«. »Eine Schelmen-Komödie erzählt die Geschichte eines erfolgreichen Schurken, der die konventionelle Gesellschaft für dumm verkauft, ohne eine positive Alternative aufzubieten.« 24 Der Verwalter gewinnt »auf die eine oder andere Weise ... die Zustimmung seines ausgebeuteten Herrn. Es ist dies Element des Erfolgs, das zu dem Schelmenstück gehört, und das auch Lk 16,8a als einen ursprünglichen Bestandteil des Gleichnisses vermuten läßt.« 25 3. Handelt der Verwalter moralisch oder nicht? Theißen / Merz sehen in dem Verwalter einen Menschen, der den alten, irdischen Maßstäben zufolge zwar unmoralisch handelt, der nach den neuen eschatologischen Maßstäben jedoch ein moralisches Vorbild darstellt: »Was in irdischen Rechtsverhältnissen ein Akt der Veruntreuung ist - die eigenmächtige Herabsetzung der Schulden anderer -, ist in der Rechtsordnung des Reiches Gottes eine positive Handlung: Der unmoralische untreue Verwalter wird in ihr zum moralischen Helden (vgl. 16,1ff.).« 26 Derrett 27 geht einen etwas anderen Weg, um den Verwalter als moralisches Vorbild hinzustellen. Er versucht zu zeigen, dass der Verwalter entgegen dem ersten Eindruck dem Gesetz Gottes gehorche. Denn er wirke durch seine Herabsetzung der Schulden dem verbotenen Wucher entgegen. Derrett unterstellt damit, der Verwalter habe wucherischen Kredit eingeräumt, dabei aber im Dienste seines Herrn gehandelt. Als der Besitzer ihn entlassen will, beschließe der Verwalter, einen Teil der Schulden zu stornieren, um so dem Gesetz Gottes zu dienen und sich öffentliche Billigung zu erwerben. Das Lob durch den Besitzer in V.8a komme einer Anerkennung dieser Vorgehensweise gleich. Eine andere Gruppe von Exegeten sieht im Verwalter einen unmoralischen Helden. So betonen Schramm / Löwenstein: »Unmoral bleibt Unmoral... Nur in einem Punkt will das Gleichnis übertragen werden: weder die materiellen Güter, mit denen der Haushalter umgeht, noch seine betrügerischen Transaktionen sind von Interesse; die Unmoral des Helden gehört ganz und gar auf die Seite des erzählten Bildes (Bildhälfte), in die Anwendung (Sachhälfte) soll und will nur die - am unmoralischen Bild aufgewiesene - Klugheit übernommen werden.« 28 Becker konstatiert: »Dabei werden die Machenschaften [im ursprünglichen Gleichnis VV.1-7] nicht moralisch gewertet (vgl. jedoch dann V.8: ›der ungerechte Haushalter‹).« 29 Via spricht von »moralischen Ferien«. 30 »Der Reiz des typischen Schelmenstücks ist, dass es den Leser durch Abschneidung der größeren Dimensionen der Humanität eine Zeit lang von den moralischen Anforderungen befreit. Es gibt der gerissenen Schattenseite des Menschen ... freies Spiel, einer Seite, die immer vorhanden ist, aber gewöhnlich bewußt unter Kontrolle gehalten wird; es bietet diesen Impulsen eine Möglichkeit, sich abzureagieren.« 31 Die Klugheit, die in V.8a gelobt wird, meint dann diese »Gerissenheit«, die es dem Schelmen erlaubt, die Gesellschaft an der Nase herumzuführen. 32 Die Klugheit stellt nach einhelliger Meinung der Exegeten den Schlüsselbegriff des ursprüng- 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 62 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 63 Hanna Roose & Gerhard Büttner Moderne und historische Laienexegesen von Lk 16, 1-13 lichen Gleichnisses dar. Klug ist, wer sich bereithält für die eschatologischen Ereignisse. Zumindest in dieser Hinsicht handelt der Verwalter vorbildlich. »Dabei will der Erzähler, daß man dem Schicksal des Verwalters und seinem energisch sich selbst rettenden Handeln folgt: In lebensbedrohlicher Nullpunktsituation unternimmt dieser Verwalter alles, um sich Zukunft zu eröffnen.« 33 Festzuhalten ist: Die Exegese ist sich darin einig, dass die Klugheit des Verwalters gelobt wird. Unter dieser Klugheit wird zumeist die mutige Entschlossenheit angesichts der (eschatologisch gedeuteten! ) Notsituation verstanden, von einigen aber auch die Gerissenheit eines »Schelmen«. Umstritten ist v.a., ob das Verhalten des Verwalters auch unter moralischen Gesichtspunkten gutzuheißen ist. Die Exegeten, die das ablehnen, argumentieren stark formgeschichtlich: Es handele sich um ein Gleichnis, das die Übertragung aus der Bildin die Sachhälfte nur in einem Punkt (nämlich der Klugheit! ) zulasse. Oder: Es handele sich um ein »Schelmenstück«, das gerade einen Helden jenseits der gängigen Moralvorstellungen vorstellen wolle. Die Exegeten, die im Verwalter einen moralischen Helden sehen, argumentieren mit dem Hinweis auf den eschatologischen Horizont oder das historische, traditionsgeschichtliche Umfeld. Beziehen wir diese Ergebnisse nun auf die Frage, welche Bandbreite an historischen Faktoren des Verstehens die Expertenexegese für die ideale 34 Erst-Rezeption des Gleichnisses eruiert: 1. Wie nimmt der Rezipient die materiale Textgrundlage auf? Hier ist zunächst der Umfang der materialen Textgrundlage umstritten: Gehörte V.8a dazu oder nicht? Rechnet man V.8a zum ursprünglichen Textbestand, konnte der Rezipient in dem Sprecher entweder den Besitzer oder Jesus sehen. In jedem Fall wird angenommen, dass der ideale Erst-Rezipient in der Klugheit des Verwalters die entscheidende Pointe der Erzählung entdeckte. 2. Wie verbindet der Rezipient die materiale Textgrundlage mit seinen eigenen, ihm zur Verfügung stehenden, Kenntnissen (= inferentielle Prozesse)? Diese Frage entscheidet darüber, wie der ideale Erst-Rezipient die »Klugheit« des Verwalters versteht. Theißen / Merz rechnen damit, dass der Rezipient die Erzählung vor einem eschatologischen Hintergrund versteht, der neue Maßstäbe setzt. Derrett rechnet damit, dass der Rezipient sein Thora-Wissen um das göttliche Verbot des Wuchers aktiviert. Schramm / Löwenstein und Via gehen davon aus, dass der ideale Erst-Rezipient formgeschichtliches Wissen aktiviert. 3. Welche Strategien wendet der Rezipient an, um einen kohärenten Sinn zu konstruieren? Die Aktivierung der Kenntnisse über neue eschatologische Maßstäbe erlaubt es dem Rezipienten nach Theißen / Merz, zwischen den irdischen Rechtsverhältnissen und der Rechtsordnung des Reiches Gottes zu unterscheiden. Was auf Erden unmoralisch ist, kann nach den neuen eschatologischen Maßstäben moralisch sein. Die Assoziation des göttlichen Wucherverbotes veranlasst den Rezipienten nach Derrett dazu, in dem Besitzer einen skrupellosen, unmoralischen Menschen zu sehen, der seinen Verwalter dazu veranlasst, wucherischen Kredit einzuräumen. So erkennt er, dass der Verwalter, indem er die Schulden mindert, im Sinne Gottes - also moralisch - handelt. Die Aktivierung des formgeschichtlichen Wissens, das Schramm / Löwenstein und Via beim Erst-Rezipienten voraussetzen, eröffnet ihm die Möglichkeit, zwischen der Klugheit und der Unehrlichkeit / Untreue / Ungerechtigkeit des Verwalters keinen Widerspruch zu sehen, der die kohärente Sinnbildung stören würde. 3.2. Die Rezeption des ursprünglichen Gleichnisses durch die Urchristen Für die Auslegung des ursprünglichen Gleichnisses durch die Urchristen ist typisch: Die in der Exegese zum Teil vertretene Differenzierung »ungerecht (und unmoralisch) aber klug« entfällt. 35 Der Verwalter wird entweder zu einem rein positiven oder aber zu einem rein negativen Vorbild stilisiert. V.9 präsentiert den Haushalter als Beispiel für Freigebigkeit. Die Ungerechtigkeit kommt nun nicht mehr dem Verwalter (vgl. V.8a), sondern dem Geld zu. Dieses »ungerechte« Geld setzt der Haushalter in edler Weise ein: Er verteilt Almosen an andere, um in Gottes ewige Wohnstätten aufgenommen zu werden. Der Verwalter ist also nicht nur klug, sondern er handelt moralisch vorbildlich. 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 63 64 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Hermeneutik und Vermittlung Die Verse 10-12 gehen in die entgegengesetzte Richtung: Der Haushalter wird zum abschreckenden Beispiel. Er hat im Geringsten untreu gehandelt. Daher ist zu erwarten, dass er auch im Großen untreu sein wird. Auf das »wahre Gut« (V.11) darf er nicht hoffen. Dahinter steht die indirekte Warnung an die Leserschaft: Wenn ihr wollt, dass euch das »wahre Gut« anvertraut wird, dann seid auch im Geringsten treu - handelt also nicht so wie der Verwalter! V.13 stellt ein sog. »Wanderlogion« dar (vgl. Mt 6,24; Thomasevangelium 47), das gegen den Umgang mit Geld polemisiert: Gottes- und Mammondienst sind unvereinbar. Der Verwalter erscheint so wieder - gerade in Verbindung mit V.9 36 - in einem günstigeren Licht: Er dient, indem er die Schulden erlässt, gerade nicht dem Mammon, sondern - so V.13 - Gott. Es ist kaum mehr mit Sicherheit zu entscheiden, aus welchen Beweggründen die einzelnen Anwendungen angehängt wurden. Die Exegeten sehen in ihnen bewusste Uminterpretationen durch die ersten Gemeinden, die das Gleichnis so ihren jeweiligen Bedürfnissen anpassen wollten. »Das Logion [V.9] wendet sich an Christen, die den Gefahren des diesseitigen Wohlstandsdenkens zu erliegen drohen. Was 12,33 offen ausgesprochen wurde (›Verkauft euren Besitz und gebt Almosen‹), wird hier nur hintergründig, aber trotzdem unmissverständlich angedeutet.« 37 Die Verse 10-12 sind vielleicht speziell auf die Kirchenleiter gemünzt: »Untreue im Geringen bedeutet konkret: Verschleuderung von anvertrautem Kirchengut.« 38 V.13 warnt hingegen wiederum davor, sein Herz an das Geld zu hängen. Das heißt: »Die variierenden und sperrigen Verhaltensanweisungen zum Stichwort ›Mammon‹ geben eine gewisse Unsicherheit zu erkennen. Es ist offenbar nicht möglich, das Problem mit einer einfachen Formel, etwa: Totalverzicht auf Besitz, zu regeln. Jede Situation des Lebens fordert die ihr angemessene Reaktion.« 39 Beleuchten wir diese exegetischen Aussagen nochmals rezeptionsorientiert: Vorausgesetzt, die einzelnen Logien wurden als Deutungen des ursprünglichen Gleichnisses verstanden - und dafür spricht ihre Positionierung im Evangelium -, so fällt die fehlende Differenzierung zwischen »ungerecht (und unmoralisch) aber klug« auf. Sie könnte so gedeutet werden, dass einschlägiges formgeschichtliches Wissen nicht mehr aktiviert wird (vielleicht gar nicht mehr vorhanden ist? ). Ebenso scheint das Wissen um neue eschatologische Maßstäbe seine Bedeutung für den Verstehensprozess zu verlieren. Es geht jetzt um ethische Maßstäbe im »Alltag«. Damit gewinnt die moralische Dimension größere Bedeutung. Kohärente Sinnbildung kann offenbar nur noch so erfolgen, dass das Verhalten des Verwalters entweder moralisch gewürdigt oder aber verworfen wird. Als neuer Faktor für den Verstehensprozess wird greifbar, dass »Geld« moralisch abgewertet wird. Zur Frage des Umgangs mit Geld werden allerdings unterschiedliche Vorstellungen aktiviert: Man soll es als Almosen geben, man soll es treu verwalten, man soll ganz die Finger davon lassen. 3.3. Das ursprüngliche Gleichnis (samt Anwendungen) in der heutigen Laienexegese 40 Die Auslegungsversuche der Studierenden wurden in einem Gespräch ermittelt und geprüft. 41 Diese Methode erlaubt einen tieferen Einblick in die Interpretationsprozesse, da durch gezieltes Nachfragen bzw. durch das Einbringen widersprüchlicher Textpassagen ermittelt werden kann, welche Strategien warum und mit welcher Zähigkeit vertreten werden. Das Gespräch verdient daher eine eingehendere Analyse. Da den Studierenden auch die Anwendungen des Gleichnisses vorliegen, ist zunächst interessant, an welchem Punkt sie mit ihrer Auslegung ansetzen. Sie wählen den Vers 9: »Also dass man das Geld richtig einsetzt und nicht nur / nicht nur für sich, sondern dass man den andern auch was davon abgibt dann.« Der Verwalter steht als freigebiger »Held« dar. Warum wählen die Studierenden gerade diesen Vers? - Vielleicht, weil er der postmaterialistischen (=christlichen? ) Vorstellung entgegenkommt, dass Freundschaft mehr zählt oder zumindest zählen soll als Geld. Die Deutung entspricht also am ehesten dem »Vorwissen« der Studierenden. »Kohärente Sinnbildung kann offenbar nur noch so erfolgen, dass das Verhalten des Verwalters entweder moralisch gewürdigt oder aber verworfen wird.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 64 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 65 Hanna Roose & Gerhard Büttner Moderne und historische Laienexegesen von Lk 16, 1-13 Die Interpretation des Gleichnisses auf der Grundlage von V. 9 wird nun von der Gesprächsführerin in Frage gestellt: Gesprächsführerin (=G): Der Verwalter wird ja gelobt, wenn Sie mal in V.8 schauen... Wofür genau wird er da, der Verwalter, gelobt? Bettina: Ja, dass er den Schuldnern Geld erlassen hat. G.: Ist das nicht merkwürdig? Bettina: Naja. Eigentlich schon, weil der [...] Hausherr sollte ja eigentlich böse darüber sein, dass er nicht so viel Geld wiederbekommt, wie er geliehen hatte. Man sollte meinen, dass [...] er darauf bedacht ist, wieder das Geld zu bekommen [...]. Bettina bezieht den V.8a spontan auf den Besitzer: Er lobt den Verwalter. Aus seiner Perspektive - so folgert die Studentin - muss die »Freigebigkeit« des Verwalters kritisiert werden, denn der Besitzer verliert dadurch ja Geld. Warum also das Lob? Bettina versucht, den Widerspruch zu glätten: Bettina: Naja, wahrscheinlich geht’s dem Hausherrn nicht um Geld, sondern darum, dass am [...] Mitmenschen irgendwie Gutes getan wird oder so. Also um’s Geld kann’s ihm ja nicht gehen, weil er kriegt’s ja nicht wieder rein. Also er kann ihn nur loben für die gute Tat, die er getan hat und nicht [...], dass er soviel Geld verschleudert oder hat. Der Interpretationsansatz, nachdem das Gleichnis Freigebigkeit propagieren soll, wird also nicht aufgegeben, sondern im Gegenteil verstärkt: Nicht nur der Verwalter, auch der Besitzer zeichnet sich durch Freigebigkeit aus. Die Gesprächsführerin lenkt nun den Blick auf den Anfang des Gleichnisses: G: Was stört denn [...] den reichen Besitzer? Erst jetzt gibt Bettina ihren Ansatz auf: Bettina: Ja, das ist unlogisch. [...] Weil, den stört ja, dass er das Geld verschleudert hat... Daniela kommt nun mit einem neuen Einwand: Daniela: Also ich versteh’ auch nicht, warum dann [...] das so gerecht erscheint, dass er die [...] ganzen Schulden oder einen Teil von den Schulden einfach erlässt ... Hier liegt ein Missverständnis 42 vor, das sich im Folgenden hartnäckig durch die Diskussion zieht: Der Verwalter sei gerecht. Dabei bezeichnet V.8a den Verwalter explizit als »ungerecht / unehrlich / untreu«. Woher rührt dieses Missverständnis? U.E. zeigt sich hier wiederum die Dominanz des »moralischen« Interpretationsansatzes, der in dem Verwalter einen moralischen - und das heißt für die Studierenden automatisch - einen gerechten Helden sieht. Man fühlt sich an die Beobachtung Nipkows erinnert, der in Bezug auf die Bibelinterpretation von Schüler/ innen darauf verweist, dass es für die vor allem darauf ankomme, »dass es in der Bibel gerecht zugeht«. 43 Friederike liest direkt im Anschluss den Vers 8 vor, hakt aber nicht etwa bei dem »ungetreuen Verwalter« ein, sondern bei dem zweiten Versteil: Friederike: Das ist irgendwie so eine Begründung für [...] das treue oder für das kluge Verhalten, aber irgendwie kann ich die Kinder des Lichts und die Kinder dieser Welt nicht ganz einordnen. Hier zeigt sich, wie prägend das »Gerechtigkeitskonzept« ist: In direktem Widerspruch zu dem eben vorgelesenen Zitat setzt Friederike das treue (! ) und das kluge Verhalten gleich. Die Deutung der Kinder des Lichts und der Kinder der Welt gelingt ihr dann: Friederike: Dass man sagt, die Kinder des Lichts sind vielleicht die Gläubigen und die Kinder dieser Welt vielleicht die Heiden. Claudia ergänzt: Also ich könnt’ mir vorstellen, dass dieser Verwalter eben zu den Kindern der Welt gehört. Das entspricht exegetischer Auslegung. 44 Allerdings erfassen die Studentinnen die eigentliche Pointe, dass nämlich in V.8b eine Einschränkung des Lobes aus V.8a vorliegt, 45 nicht. Die Gesprächsführerin lenkt nun den Blick direkt auf die Charakterisierung des Verwalters als »ungerecht / unehrlich / untreu«. Die Studierenden verstehen auf Anhieb, worin diese Untreue besteht: Bettina: Vielleicht ist ja ungerecht dem Haushalt gegenüber, wenn er sich Freunde machen will auf die Kosten des Haushalts praktisch. Auf die Frage, worin denn nun das Lob des Herrn begründet liegt, wird jedoch wiederum das »Gerechtigkeits- und Freigebigkeitskonzept« aktualisiert: Claudia: Vielleicht, dass er jedem diese Schulden erlassen hat und nicht nur einem, sondern jedem hat er ja einen Teil seiner Schulden erlassen. Das ist ja dann diesen Schuldnern gegenüber wieder gerecht. 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 65 66 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Hermeneutik und Vermittlung Ralf bringt die Idee ein, dass der Verwalter zu unrecht gelobt werde - und zwar vom Besitzer: Ralf: Der Hausherr, der sieht ja nicht, aus welchen Motiven heraus der Verwalter jetzt das (errechnet bekommt), [...] der kann ja auch denken, er dient Gott. In V.8a spricht demnach nicht Jesus, sondern der Besitzer. Ralf nähert sich damit der Laieninterpretation, wie sie uns in den Versen 10-12 überliefert ist. Jedoch wird sein Anstoß nicht weiter verfolgt, auch von ihm selber nicht. Der Drang, sich mit dem Verwalter zu identifizieren, scheint zu stark. Nach einer kurzen Diskussion darüber, wer in welchem Vers Sprecher sein könnte, kommt Ellen auf die Klugheit des Haushalters zu sprechen: Ellen: Also Jesus lobt ja den ungerechten Haushalter, vielleicht, dass ihm was eingefallen ist, dass er eben sich nicht seiner Situation kampflos da sich aufgegeben hat, sondern ihm ist was eingefallen und [...] er hat dies irgendwie gelöst, klug. Diese Beschreibung der Klugheit deckt sich in weiten Teilen - unter Absehung des eschatologischen Horizontes - mit der noch zu erörternden exegetischen Erklärung des Begriffs. Die Kombination »ungerecht, aber klug« wird als Verstehensmöglichkeit verworfen. Claudia: Zuerst ist er ja untreu - Jesus sagt dann ja auch, dass der Verwalter untreu ist oder ungerecht gehandelt hat, aber trotzdem war er klug. Ich komm immer noch nicht dahinter, was da jetzt klug ist. Die Ergebnisse aus dem Gespräch sollen abschließend anhand der oben unter Punkt 1 (»Theoretischer Rahmen«) angeführten Fragen gebündelt werden: 1. Wie nehmen die RezipientInnen die materiale Textgrundlage auf? Die Frage, wer Sprecher in V.8a sei, wird auch unter den Laienexegeten thematisiert. 2. Wie verbinden die RezipientInnen die materiale Textgrundlage mit ihren eigenen, ihnen zur Verfügung stehenden, Kenntnissen? (= inferentielle Prozesse) An diesem Punkt zeigen sich u.E. am deutlichsten die Unterschiede zwischen der historisch ausgerichteten Expertenexegese und der modernen Laienauslegung. Die Erwachsenen aktivieren folgende Vorstellungskonzepte: • Die Bibel erzählt »moralische« Geschichten, es geht in ihr gerecht zu. Entsprechend ist der Wunsch, in dem Verwalter einen moralischen Helden zu sehen, sehr stark. • Freundschaft zählt mehr als Geld. Der Verwalter handelt daher nach der »christlichen Norm«. Kenntnisse über eschatologische Maßstäbe oder formgeschichtliche Besonderheiten der damaligen Zeit werden hingegen nicht aktiviert - wahrscheinlich, weil sie einfach nicht vorhanden sind. Ebenso fehlt eine diachrone Perspektive auf den Text, die das Bestreben, auch die Anwendungen in einen kohärenten Sinn einzubinden, relativieren könnte. 3. Welche Strategien wenden die RezipientInnen an, um einen kohärenten Sinn zu konstruieren? Die Laienexegeten versuchen, aus dem gesamten Text (also einschließlich der Anwendungen) einen kohärenten Sinn zu bilden. Diese Strategie führt dazu, dass Einzelelemente der materialen Textgrundlage vollständig ausgeblendet werden. Besonders deutlich ist das bei der hartnäckigen Rede vom „gerechten und klugen“ Verwalter. Eine Differenzierung »klug, aber untreu«, wird als inkohärent empfunden und daher als Verstehensstrategie verworfen. In der heutigen Laienexegese ist der Wunsch, sich mit dem Verwalter als moralischem Helden zu identifizieren, überaus stark. Das in V.8a ausgesprochene Lob veranlasst die Erwachsenen dazu, im Verwalter ein moralisches Vorbild zu sehen. Sie vertreten sehr zäh das Konzept, nach dem in dem Haushalter ein freigebiger Wohltäter für die Armen zu sehen ist. Über weite Strecken wird die Ungerechtigkeit des Haushalters völlig ausgeblendet, so dass wiederholt vom »gerechten und klugen« Verwalter gesprochen werden kann. 4. Ergebnis: Moderne und historische Laienexegesen von Lk 16,1-13 Die Expertenexegese vertritt bei der Auslegung »Die Laienexegeten versuchen, aus dem gesamten Text (also einschließlich der Anwendungen) einen kohärenten Sinn zu bilden.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 66 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 67 Hanna Roose & Gerhard Büttner Moderne und historische Laienexegesen von Lk 16, 1-13 des ursprünglichen Gleichnisses relativ stark die differenzierte Bewertung des Verwalters: Er sei zwar ungerecht, aber klug und insofern ein unmoralischer Held. Diese Verstehensmöglichkeit wird sowohl in den Anwendungen des Gleichnisses (also in der urchristlichen Auslegung), als auch in der zeitgenössischen Auslegung als Verstehensmöglichkeit abgelehnt (eine Ausnahme würde die mit Sicherheit früh anzusetzende Anwendung in V.8a darstellen, wenn sie nicht schon zum ursprünglichen Gleichnis gehört haben sollte). Wie ist das zu erklären? Bei den Studierenden schlägt hier wahrscheinlich zu Buche, dass sie den eschatologischen Horizont nicht berücksichtigen und auch nicht über formgeschichtliches Wissen verfügen. Die Anwendungen, die den Verwalter entweder einseitig zum moralischen Helden (VV.9.13) oder zum unmoralischen Anti-Helden (VV.10-12) stilisieren, könnten darauf hinweisen, dass schon im Urchristentum die moralisch-ethische Ausrichtung erheblich an Gewicht gewann. 46 Sie ist bei heutigen Laien dominant. Abgelehnt wird von den Studierenden die im Urchristentum belegte Möglichkeit, in dem Verwalter ein abschreckendes Beispiel zu sehen. Vielleicht hängt das mit der Einschätzung zusammen, dass die Bibel als kanonisches Buch moralische Vorbilder präsentiert. Dabei stellt die selbstlose Hinwendung zu den Armen ein Konzept dar, das für die Auslegung neutestamentlicher Texte leitend ist. Die wissenschaftliche Exegese unterscheidet sich von heutiger Laienexegese zum einen durch das Wissen um den historischen Ort einer Überlieferung samt den in ihr nachwirkenden Traditionen (vgl. z.B. die Interpretation Derrets). Sie zeichnet sich zum anderen durch die Anwendung methodischer Schritte aus, die Laien unbekannt sind (Formgeschichte) bzw. (zumindest spontan) nicht als hilfreich angesehen werden (Literarkritik). Abgesehen von diesen Unterschieden weisen die Experten- und die Laienexegese jedoch beachtliche Gemeinsamkeiten auf: Der Laie erkennt selbst bei einem so »schwierigen« Gleichnis dieselben zentralen Fragen, die auch die Exegese bewegen, er versteht, was »klug« hier bedeutet, er sieht den Egoismus des Verwalters und versucht ihn zu rechtfertigen etc. Diese Übereinstimmungen lassen vermuten, dass wesentliche Konstruktionsprinzipien bei Laien und Experten - z.T. über die Jahrtausende hinweg - konstant geblieben sind. 5. Ausblick: Konsequenzen für den Dialog von Experten und Laien Was »bringen« diese Ergebnisse für die Frage, wie Experten (Lehrer, Pfarrer, Wissenschaftler) und Laien (Schüler, Gemeinde, Studienanfänger) über biblische Texte besser ins Gespräch kommen können? Einige Aspekte sollen abschließend immerhin angedeutet werden: Hilfreich ist für die Experten zunächst eine Besinnung darauf, dass Laien biblische Texte nicht entweder richtig, falsch oder gar nicht verstehen, sondern dass sie sie z.T. anders verstehen als Experten. Maßgeblich dafür sind bestimmte Erwartungshaltungen an biblische Texte sowie die Unkenntnis über relevante historische Verstehensbedingungen. Laien haben daher die Tendenz, beim konstruktiven Sinnbildungsprozess stärker als Experten eigene Erwartungen und Erfahrungen zu aktivieren. Je genauer Experten diese Erwartungen und Erfahrungen kennen, desto eher können sie mit Laien wirklich ins Gespräch kommen. Dabei gilt es auch, ein Gespür dafür zu entwickeln, wo sich Laien- und Expertenexegesen überschneiden oder berühren. Die weiterführende Aufgabe der Experten besteht u.E. darin, den Prozess des Verstehens bei Laien im Gespräch möglichst transparent zu machen und anschließend mit einem historisch ausgerichteten Verstehensprozess zu konfrontieren. Dabei geht es nicht um eine einseitige Korrektur der falschen durch die historisch richtige Auslegung, sondern um eine Ausweitung, Bereicherung und »Die Expertenexegese vertritt bei der Auslegung des ursprünglichen Gleichnisses relativ stark die differenzierte Bewertung des Verwalters.« »Hilfreich ist für die Experten zunächst eine Besinnung darauf, dass Laien biblische Texte nicht entweder richtig, falsch oder gar nicht verstehen, sondern dass sie sie z.T. anders verstehen als Experten.« 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 67 68 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Hermeneutik und Vermittlung evtl. Infragestellung der Laienauslegungen. Die Laien können so besser erkennen, wie sie zu ihrer Auslegung gekommen sind und welche Vorkenntnisse - vielleicht auch Vorurteile - sie dabei aktiviert haben. Bestimmte unangemessene Erwartungshaltungen - z.B. an biblische Texte allgemein - können differenziert werden. Gerade ein Text wie Lk 16,1-13 kann Laien verdeutlichen, dass sie mit ihren eigenen Auslegungen in einen Dialog eintreten, den schon die Urchristen geführt haben - mit z.T. ähnlichen Ergebnissen. Die Nebeneinanderstellung unterschiedlicher Anwendungen in 16,8b- 13 zeigt dabei, dass schon damals mehrere Auslegungen anerkannt wurden. »Die Nebeneinanderstellung unterschiedlicher Anwendungen in 16,8b-13 zeigt dabei, dass schon damals mehrere Auslegungen anerkannt wurden.« l Anmerkungen 1 Z.B. D. Massa, Verstehensbedingungen von Gleichnissen. Prozesse und Voraussetzungen aus kognitiver Sicht (TANZ 31), Tübingen / Basel 2000. 2 Dabei sei für die neutestamentlichen Wundergeschichten verwiesen auf H.-J. Blum, Biblische Wunder - heute. Eine Anfrage an die Religionspädagogik (Stuttgarter Tb 23), Stuttgart 1997 und H. Bee-Schroedter, Neutestamentliche Wundergeschichten im Spiegel vergangener und gegenwärtiger Rezeption. Historisch-exegetische und empirisch-entwicklungspsychologische Studien (SBB 39), Stuttgart 1998; für die Gleichnisse auf die Pionierstudie von A.A. Bucher, Gleichnisse verstehen lernen. Strukturgenetische Untersuchungen zur Rezeption synoptischer Parabeln (Praktische Theologie im Dialog 5), Freiburg (CH); und den Aufsatz G. Büttner, »Meine Oma hat zu mir gesagt, dass ich für sie ein Schatz bin«. Gleichnisverstehen von Kindern und Jugendlichen, GlLe 15 (1998), 152-164. 3 Dazu programmatisch K. Wegenast / P. Wegenast, Biblische Geschichten dürfen auch »unrichtig« verstanden werden. Zum Erzählen und Verstehen neutestamentlicher Erzählungen, in: D. Bell u.a. (Hg.), Menschen suchen - Zugänge finden. Auf dem Weg zu einem religionspädagogisch verantworteten Umgang mit der Bibel. FS Ch. Reents, Wuppertal 1999, 246-263. 4 Einen knappen Überblick vermitteln A. Linke / M. Nussbaumer / P.R. Portmann, Studienbuch Linguistik, (RGL 121), Tübingen 1991, 325-364. 5 J. Engelkamp (Hg.), Psychologische Aspekte des Verstehens, Berlin u.a. 1984, 32. 6 »Verstehen« ist »nicht als einspurig ablaufender Prozess aufzufassen, der sich im Befolgen von ›Instruktionen‹ erschöpft, sondern zusätzlich simultan wirksame Bewusstseinsaktivitäten ... verändern das ›Wahrgenommene‹, indem sie es in den Rahmen des rezipienteneigenen Horizontes stellen und damit Anschließbarkeiten auftauchen lassen, die zwar von ›Instruktionen‹ evoziert, aber nicht von ihnen determiniert sind.« (M. Scherner, Sprache als Text. Ansätze zu einer sprachwissenschaftlich begründeten Theorie des Textverstehens. Forschungsgeschichte - Problemstellung - Beschreibung (RGL 48), Tübingen 1984, 231). 7 Massa, Verstehensbedingungen, 28. 8 Scherner, Sprache, 233f.; Hervorhebungen im Original. 9 Massa, Verstehensbedingungen, 25. Schon Iser hat dieses Phänomen beschrieben: Ganz im Sinne der Gestaltpsychologie dränge es den Leser zu einer einheitlichen, konsistenten Gestalt, in der »die Spannungen aufgehoben [sind]«. (W. Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung (UTB), München 3 1990, 193-218; hier: 197). Diese Gestaltbildung läuft der prinzipiellen Offenheit des Textes entgegen (202f.). Die Rezipientin selektiert aus den gegebenen Möglichkeiten. Bei der Wahl der einen Möglichkeit spielt die eigene Erfahrungsgeschichte [bzw. das eigene Vorwissen] eine entscheidende Rolle (201). 10 Vgl. Massa, Verstehensbedingungen, 22. 11 Massa, Verstehensbedingungen, 28f.; Hervorhebungen im Original. 12 Massa, Verstehensbedingungen, 35. 13 Das Gespräch wurde von Hanna Roose mit einer Gruppe junger Studierender geführt, von dem AVZ der Pädagogischen Hochschule Heidelberg aufgezeichnet und dankenswerter Weise von Judith Brunner transkribiert. 14 Massa, Verstehensbedingungen, 16. 15 16,8b hingegen ist den meisten Laien unverständlich. 16 Zur exegetischen Auslegung von 9-13 vgl. z.B. G. Theißen / A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, 2 Göttingen 1997, 300 und T. Schramm / K. Löwenstein, Unmoralische Helden. Anstößige Gleichnisse Jesu, Göttingen 1986, 16-18. 17 Zur Begrifflichkeit und zur Sache vgl. S. Lamneck, Qualitative Sozialforschung Bd. 2. Methoden und Techniken, Weinheim 3 1995, 118. 18 J. Becker, Jesus von Nazaret, Berlin / New York 1996, 68. 19 Becker, Jesus, 68. 20 Becker, Jesus, 69. 21 Becker, Jesus, 68. 22 Schramm / Löwenstein, Unmoralische Helden, 16; vorsichtiger D.O. Via, Die Gleichnisse Jesu. Ihre literarische und existentiale Dimension, München 1970, 147. 23 So z.B. A. Jülicher, Die Gleichnisse Jesu, Darmstadt 1963 (Tübingen 1910), 503; J. Ernst, Das Evangelium nach Lukas (RNT), Regensburg 6 1993, 346f.; J. Kremer, Lukasevangelium (NEB), Würzburg 1988, 162. 24 Via, Gleichnisse Jesu, 150. 25 Via, Gleichnisse Jesu, 151. Auch Derrett sieht im Besitzer den Sprecher, vertritt jedoch insgesamt eine andere Interpretation als Via (s.u.). 26 Theißen / Merz, Jesus, 248. 27 J.D.M. Derrett, Fresh Light on Luke 16, NTS 7 (1961), 203-218. 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 68 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 69 Hanna Roose & Gerhard Büttner Moderne und historische Laienexegesen von Lk 16, 1-13 28 Schramm / Löwenstein, Unmoralische Helden, 20f. 29 Becker, Jesus, 69. 30 Via, Gleichnisse Jesu, 151. 31 Via, Gleichnisse Jesu, 150 unter Verweis auf R.B. Heilman: Variations on Piquaresque, The Sewanee Review 66 (1958), 553. 32 Ernst konstatiert: »Eine ungewöhnliche Geschichte, ein ›Gaunerstück‹! Jesus hat nicht nur ›fromm‹ geredet« (349). 33 Becker, Jesus, 67. Becker kommt an diesem Punkt inhaltlich mit den Auslegern überein, die V. 8a zum ursprünglichen Gleichnis zählen. An der Pointe ändert sich also bei der unterschiedlichen Abgrenzung nichts: Abgehoben ist auf die kluge Entschlossenheit, die in V. 8a explizit benannt wird. 34 Die genannten Exegeten arbeiten autorzentriert, d.h. sie wollen ermitteln, was das ursprüngliche Gleichnis nach Meinung des Erzählers aussagen sollte. Will man ihre Ergebnisse in eine rezeptionsorientierte Perspektive übertragen, stößt man auf den »idealen« Rezipienten. Er ist keine empirisch vorfindliche Person, sondern ein heuristisches Konstrukt: Gemeint ist eine Rezeption, die die Intentionen des Autors komplett erfüllt. 35 Sollte V. 8a eine erste sekundäre Anwendung darstellen, wäre diese These entsprechend einzuschränken. 36 Wir wissen nicht, wie die Erweiterung des ursprünglichen Gleichnisses vonstatten ging. Ist ein mehrstufiger Überlieferungsprozess anzunehmen (so Ernst, 350) oder fügte erst Lukas die einzelnen Logien unter dem Stichwort »Mammon« zusammen? (vgl. Via, Gleichnisse Jesu, 146f.). Bemerkenswert ist auf jeden Fall, dass Lukas als Endredaktor nicht versucht hat, die widersprüchlichen Anwendungen zu glätten. 37 Ernst, 349. 38 Ernst, 350. 39 Ernst, 351. 40 Eine erste Untersuchung zur Rezeption des Gleichnisses bei Kindern und Jugendlichen findet sich bei R. Kaspar, »...Wie auch wir vergeben unsern Schuldigern«. Zur Rezeption der Parabeln vom Unbarmherzigen Gläubiger und vom Klugen Verwalter (Mt 18, 23-34 und Lk 16,1-8a) bei zehn Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, mschr. Magisterarbeit, Kath.-Theolog. Fakultät der Universität Salzburg 1996. 41 Methodisch orientieren wir uns dabei am sog. »Gruppendiskussionsverfahren«, vgl S. Lamneck, Gruppendiskussion. Theorie und Praxis, Weinheim 1998 und P. Loos / B. Schäffer, Das Gruppendiskussionsverfahren, Opladen 2001. 42 Missverständnisse lassen sich aus der Sicht der Psycholinguistik oft besser fassen als »richtiges Verstehen«: »So wird uns allmählich klar, dass man zwar in vielen Fällen ein Missverstehen unzweideutig als solches feststellen kann, dass dem Vorgang des Verstehens aber keine so präzisen Grenzen gesetzt sind, dass man sicher und verlässlich sagen kann, man habe sie erreicht.« (H. Hörmann, Einführung in die Psycholinguistik, Darmstadt 2 1987, 140). In diesem Fall liegt ein klares Missverständnis vor: Das Wort »ungerecht / unehrlich / untreu« (alle diese Übersetzungen des entsprechenden griechischen Ausdrucks wurden den Studierenden angeboten) wird gegen die Vorgaben der modernen (und auch historischen) Semantik verstanden. Vgl. dazu auch den Begriff der »Enzyklopädie« bei U. Eco, Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München 2 1994, 94-106. 43 K.E. Nipkow, Elementarisierung als Kern der Lehrplanung und Unterrichtsvorbereitung am Beispiel der Elia-Überlieferung, Bb 37 (1986), 3-16; hier: 11. 44 Schramm / Löwenstein, Unmoralische Helden, 16f. 45 »In V 8b begegnet ein erster sekundärer Zuwachs zur Parabel, als sekundär erkennbar daran, dass hier das befremdliche Lob mit einer Einschränkung versehen und so abgemildert wird: Unter ihresgleichen (=ihrem Geschlecht gegenüber) sind ›Weltkinder‹ vom Schlage des Verwalters tatsächlich klüger als die Erwählten, die ›Kinder des Lichts‹, nicht jedoch Gott gegenüber« (Schramm / Löwenstein, Unmoralische Helden, 16). 46 Das zeigt z.B. auch das Matthäusevangelium. A. Francke Verlag Tübingen und Basel Martina Kreidler-Kos Klara von Assisi Schattenfrau und Lichtgestalt Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie 17, 2., überarb. Aufl., 2003, 359 Seiten, 49,-/ SFr 84,- ISBN 3-7720-2585-4 Klara von Assisi findet in der Forschung oft nur insofern Beachtung, als sie als Ornament für die Geschichte des hl. Franziskus dienen kann. Die nun in 2., überarbeiteter Auflage publizierte Studie von Martina Kreidler-Kos ändert die Blickrichtung und macht Klara von Assisi zur Mitte ihrer eigenen Biographie. So kommt eine Frau zum Vorschein, die die weibliche Beteiligung an der religiösen Armutsbewegung des Mittelalters maßgeblich geprägt hat. „Es bleibt zu hoffen, dass kein Forscher an dieser Arbeit vorbeigeht.“ Wissenschaft und Weisheit 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 69 70 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Buchreport Ricarda Sohns Verstehen als Zwiesprache: hermeneutische Entwürfe in Exegese und Religionspädagogik. (Religionspädagogische Kontexte und Konzepte 9) Münster (Lit) 2003, 328 S. broschiert, 24,90 Euro, ISBN 3-8258-6431-6 Theologische Hermeneutik befasst sich immer wieder mit der grundlegenden Frage, wie die Situation, die für das Entstehen des Textes prägend war (Anstoß zur Erstellung des Textes, Lebens- und Textwelt des Autors, Aussageabsichten etc.) sinnvoll zu der Art und Weise in Beziehung steht, in der heutige Leser / Hörer mit dem Text umgehen. Diese Frage verschärft sich noch, wenn ein eigentlich erwünschtes oder vielversprechendes Verstehen, wie es z.B. im Blick auf die Bibel nach wie vor von Vielen erhofft und erwartet wird, nicht mehr oder immer weniger zustande kommt. Wo und wie scheitert es? Hat ein Text seine Bedeutsamkeit im Lauf der Zeit verloren? Haben wir keine Verwendung mehr für ihn? Scheitern wir an seiner sprachlichen und sachlichen Fremdheit? Und wenn es solche Hindernisse gibt, was wäre dann für einen gelingenden Verstehensvorgang besonders relevant? Respekt und Loyalität gegenüber Eigenart und Aussageabsichten fremder Autoren und ihrer Texte? Oder ein kreativer, maßgeblich auf die eigene Lebenssituation hin zugeschnittener Interpretationsvorgang auf Seiten der Leser? Zwischen diesen Polen läuft das Verstehen selbst ebenso hin und her wie die hermeneutische Diskussion innerhalb der Theologie. Dort findet sich einerseits die Neigung, einen der Pole zum maßgeblichen Bezugspunkt zu machen. Zum anderen gibt es Versuche, Perspektiven zur Berücksichtigung beider Pole zu entwickeln. Das Problem ist nicht neu, aber durch die zugespitzte Situation scheiternder Rezeption von Bibel und Theologie in einer immer säkularer werdenden Gesellschaft inzwischen massiv verschärft. Die veröffentlichte Dissertation von Ricarda Sohns erweist sich in dreierlei Hinsicht als hilfreich für den Fortgang der Debatte: 1.) Sie schafft eine übersichtliche Zusammenfassung aktueller exegetischer und religionspädagogischer Hermeneutik. Ohne eine solche Gesamtperspektive droht im Wust der Argumente, Thesen und (z.T. gleich lautender, aber sehr verschieden gefüllter) Schlagworte der Überblick verloren zu gehen. 2.) Sie setzt exegetische und religionspädagogische Erträge hermeneutischer Debatten so zueinander in Beziehung dass die weitere Diskussion für beide Seiten eine wichtige Horizonterweiterung erfährt. 3.) Sie vollzieht eine Bewegung weg von den programmatischen Vor-Verständnishermeneutiken hin zu einer offenen Verstehens-Hermeneutik bisher diskutierter fruchtbarer Aspekte verschiedenster Herkunft. In Zukunft kann man sich leichter auf diese Aspekte beziehen, ohne sich damit gleich programmatisch einem Autor oder einer hermeneutischen Richtung zuordnen zu müssen. Der Titel »Verstehen als Zwiesprache« passt also gut zu einer Arbeit, die kommende Debatten erleichtern und versachlichen helfen kann. Zu den drei Punkten im Einzelnen: Zunächst werden von der Autorin bekannte theologische Hermeneutikentwürfe ausführlich, sachkundig und differenziert besprochen. Stets ist ein breiter Kontext im Blick, bei dem nicht nur konkurrierende Entwürfe gegenübergestellt werden, sondern auch eine eventuelle Weiterentwicklung von Gedanken beim selben Autor nachgezeichnet wird. Die Eigenart jedes Entwurfes wird auch an ihrem jeweiligen Umgang mit Vorläufern und inspirierenden Quellen erhellend verdeutlicht. Dabei weist Sohns erstaunlich häufig nach, dass im Umgang mit namhaften Vorläufern (Barth, Bultmann, Fuchs, Ebeling, Ricoeur, Gadamer etc.) Schlagworte auf eine Weise aufgegriffen und verarbeitet worden sind, die dem ursprünglichen Kontext und der ursprünglichen Intention kaum gerecht wird. Außerdem werden entsprechende Bezugsschriften selbst kritisch gesichtet (z.B. S. 79-83 Kritik an Gadamer). Wo ein Hermeneutikentwurf breit (zustimmend, ablehnend oder modifizierend) rezipiert worden ist, wird das ausführlich besprochen, so vor allem Stuhlmachers Einverständnisbegriff bei Theißen, Ebach, Taeger, Körtner und Weder (S. 86- 116). Im Fazit wird jeweils gefragt, wie die Entwürfe mit den beiden oben genannten Polen des Respekts vor der historischen Fremdheit der Texte und der Gegenwartsinteressen der Leser umgehen. Zu allen Entwürfen ergeben sich aus Sicht der Autorin kritische Anfragen. Stuhlmachers »Hermeneutik des Einverständnisses«, die in zweiter Auflage seine Auffassungen eher noch zugespitzt zeigt, intendiere zwar eine Balance »zwischen den Ansprüchen der Tradition auf der einen und den Gegenwartsinteressen auf der anderen Seite« (S. 17), werde dieser Intention aber, so Sohns, nicht gerecht. Zwar nehme Stuhlmacher den biblischen Text »vor seiner Verrechnung mit einem absolut gesetzten modernen, atheistischen, rein immanenten Wirklichkeitsverständnis in Schutz, nicht jedoch ausreichend vor kirchlichen Verwertungsinteressen.« (S. 36). Bereits seine Textauswahl von Referenzstellen, die eine vermeintliche »Mitte der Schrift« programmatisch in den Mittelpunkt rücken, weise aber eine auffällige Selektion von Passagen in paulinischen bzw. deuteropaulinischen und katholischen Briefen auf (S. 26), die die Breite neutestamentlicher Theologie verfehle. »Eine biblische Hermeneutik hätte aber allen Textstellen gleichermaßen gerecht zu 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 70 ZNT 13 (7. Jg. 2004) 71 Buchreport werden, sonst ist sie eben ›nur‹ eine apostolische oder ekklesiologische Hermeneutik.« (S. 36). Was für die Art der Verarbeitung biblischer Texte gilt, betrifft nicht weniger die dogmatische Beschneidung der Gegenwartsinteressen von Lesern: »Es wäre daher kritisch zu fragen, ob Stuhlmacher tatsächlich eine ›biblische Hermeneutik‹ entwickelt oder nicht konsequent auf diesen Ausdruck zu verzichten und sich auf den Ausdruck ›ekklesiologische / kirchliche Hermeneutik‹ zu beschränken hätte.« (ebd.) Ob man Weders Hermeneutik treffend als »Hermeneutik der Liebe« bezeichnen sollte, wie Sohns (unter Bezug auf M. Trowitzsch) vorschlägt, erscheint mir fraglich. Gemeint sein soll damit unter Bezug auf 1Kor 13, dass die Liebe nicht das eigene sucht, sondern ihrem Gegenüber gerecht wird. Weder hat das Stichwort zwar breit entfaltet, aber die strittige Frage in der theologischen Hermeneutik dürfte weniger sein, ob »Liebe im Verstehen« positiv zu werten ist (das kann ja auch für eine Hermeneutik der Fremdheit gelten, wie Sohn selbst S. 110 einräumt), sondern zu welchen Mitteln die entsprechende Hermeneutik dann greift. Wie findet »Liebe im Verstehen« in der Hermeneutik praktisch statt? Auch autoritäre Eltern, die meinen, ihre Kinder viel besser zu verstehen, als die sich selbst, haben bekanntlich immer alles »nur aus Liebe getan«. Sohns konstatiert denn auch, dass Weder wie Stuhlmacher dogmatisch argumentiert. Zwar bindet er sich nicht so sehr wie dieser an kirchliche Tradition, aber der gesamte Verstehensprozess werde bei ihm »rechtfertigungstheologisch bzw. paulinisch interpretiert.« (S. 112). Wenn das »Hörenkönnen« des Menschen für Weder aber nur als Überwindung einer ontologisch konstatierten Sündhaftigkeit durch Rechtfertigung und Liebe denkbar ist, bestehe die »Gefahr einer Verschmelzung der methodologischen und der ontologischen Ebene« (S. 113). Hier könnte man noch deutlicher als Sohns anmerken, dass so weder biblische Texte noch moderne Zuhörer für sich selbst sprechen können, sondern ihnen ein ständiger Rekurs auf eine dogmatische Ontologie der Sünde und der Rechtfertigung aufgezwungen wird, als sei das - ob sie es sagen oder nicht - durchgängig ihr eigentliches Thema. Sowohl Weder als auch Berger verwenden den Begriff der Fremdheit im Rahmen ihrer Hermeneutik, aber sie tun es auf sehr unterschiedliche Weise. Bei Weder beziehe sich der Begriff »wesentlich auf die Fremdheit göttlicher Gnade, … so dass sich Hermeneutik und Theologie, Exegese und Applikation respektive Systematische Theologie nicht voneinander trennen lassen.« (S. 121 mit Anmerkungen). Bei Berger hingegen beziehe sich Fremdheit auf die zu respektierende Eigenheit des Textes und seines Verfassers. »Im Interesse der Überprüfbarkeit und des Reichtums von Interpretationen sowie der Wissenschaftlichkeit der Theologie sind Exegese und Systematik bzw. Applikation für Berger methodisch streng zu unterscheiden.« (S. 122 mit Anmerkungen). Sohns hinterfragt nun kritisch, ob diese methodische Trennung prinzipiell die Subjektivität ausschließen könne, die Berger beispielsweise gegenüber der feministischen »Hermeneutik des Verdachts« als ideologische Voreingenommenheit bemängelt hat. Auch wenn das nie gänzlich möglich ist, kann sie zumindest Projektivität eindämmen, wie die Autorin selbst zugesteht. (S. 156) Spannender ist die Frage nach der Wahrnehmung heutiger Adressaten in einer Hermeneutik der Fremdheit. »Mit Frickenschmidt und Scheliha wäre Bergers Hermeneutik … entgegenzuhalten, dass eine biblische Hermeneutik, die bei den ›Empfängern‹ und gegenwärtig Auslegungsbedürftigen beginnt, sie nicht nur als Adressaten der Applikation betrachten darf, sondern ihre Eigenproduktivität aufgreifen, d.h. auch ihre Sinnstrategien und Deutungskompetenzen einer hermeneutischen Analyse zuführen müsste. Mit einer Situationsanalyse allein ist es dann nicht getan. Wir treffen hier auf ein Anliegen, wie es in der religionspädagogischen Hermeneutik formuliert wurde, neuerdings explizit im Ansatz einer ›Hermeneutik der Aneignung‹«. (S. 157) Damit wendet sich die Autorin der Religionspädagogik zu, zunächst mit einem prägnanten Überblick ihrer Geschichte. (S. 165-186) Gegenüber einer zusammenfassend als »Hermeneutik der Vermittlung« gekennzeichneten älteren Phase religionspädagogischer Hermeneutik haben demnach Großmann und Mette 1993 eine »Hermeneutik der Aneignung« entwickelt, für die statt der bloßen Vermittlung von biblischen Texten oder der »Sache« der Texte eine wirkliche Subjektorientierung kennzeichnend ist. Denn wie der Religionspädagoge Wegenast gegen die Forderung nach theologischer Sachorientierung durch Weder und Schmithals betont hat, könnten ja die Exegeten selbst keine plausible exegetische Auskunft darüber geben, worin denn diese Sache bestehe. (S. 216f.) Der Begriff der Subjektorientierung soll dagegen »deutlich hervorheben, dass SchülerInnen Subjekte und nicht Objekte hermeneutischer und insbesondere religionspädagogisch relevanter Prozesse sind.« Die Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler selbst wird konkret und detailliert zum Thema der Hermeneutik (S. 191; S. 209 Verweis auf umfassende religionspädagogische Forschungen zur Lebenswelt der Schüler und zum Begriff). »Was ›Sache‹ der Theologie und Religionspädagogik ist, ist aus der Perspektive der an ihr beteiligten Subjekte zu klären und kann daher nicht dogmatisch gesetzt und danach unverändert beibehalten werden…«. (S. 193) In der Folge werden die Kinder nicht mehr primär als defizitäre Wesen verstanden, für die oder mit denen verständnisbildend gearbeitet werden muss, sondern als Wesen mit eigener lebens- und sinngestaltender Kompetenz. (S. 194f.) Ihnen soll auch nicht länger unterstellt werden, dass ihr Umgang mit Traditionen wahllos und willkürlich sei und zu einer »Patchwork-Identität« führe. Das größere Defizit bestehe demnach nicht auf seiten der Rezipienten, sondern auf Seiten der Tradenten, die es nicht schaffen, sich über und durch Tradition lebendig, sinnstiftend und lebensdienlich zu verständigen. (S. 200f.) In diesem Zusammenhang verweist Sohns auf Großmann, der vorgeschlagen hat, biblische Geschichten künftig nicht mehr als Grundwissen, sondern als »Verständigungswissen« zu behandeln oder mit Orth / Hanisch als »instrumentelles Wissen«. (S. 202f.) So fasst die Autorin zusammen: »Die hier skizzierte religionspädagogische Hermeneutik ruft die exegetische Hermeneutik also nicht nur energisch zum Subjekt (zurück), sondern warnt zugleich vor einem naiven Subjektbegriff, der Subjekte als bruchlose, widerspruchsfreie Einheiten sieht. Exegetischerseits wäre es also besonders angezeigt, das Fremde im Eigenen, das Disparate und dem 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 71 MAINZER HYMNOLOGISCHE STUDIEN Ulrike Süß / Hermann Kurzke (Hrsg.) Gesangbuchillustrationen Beiträge zu ihrer Geschichte Mainzer Hymnologische Studien 11, 2003, 350 Seiten, zahlr. Abb. ISBN 3-7720-2921-3 Gesangbuchillustrationen sind ein Bilderbuch der Kulturgeschichte. “Mit allerley zierde” soll es sich, so rühmt Martin Luther das reich mit Holzschnitten versehene Babstsche Gesangbuch von 1545, “den leuten angeneme machen, damit sie zu solcher freude des glaubens gereitzt werden.” Die Gesangbücher des 17. und 18. Jahrhunderts enthalten opulente Frontispizia mit Herrscherporträts und theologisch-allegorisch ausgeschmückten Stadtansichten. Mariendarstellungen wetteifern mit der kühnen Offenbarungsmetaphorik der Bibel. Biedermeier und Jugendstil machen das Gesangbuch zum aufwendig gestalteten Buchkunstwerk. Das 1994 erschienene Evangelische Gesangbuch der bayerischen Landeskirche präsentiert sich als modernes Designerprodukt. Der reich bebilderte Band interpretiert die Illustration in ihrem liturgischen, theologischen und kulturellen Kontext. A. Francke Verlag Tübingen und Basel 72 ZNT 13 (7. Jg. 2004) Buchreport Ich-Fokus Periphere sowohl auf Seiten der Applikation als auch auf Seiten der Exegese zu berücksichtigen.« (S. 215) Hier zeigen sich Bezüge zu Bergers Hermeneutik ebenso wie eine Erweiterung seiner Perspektive im Blick auf die Leser / Hörer. Denn deren Applikationsbedürfnis sei, so Sohns, mehr als nur eine Problemlösungsstrategie defizitärer Lebenssituationen, und deren Kompetenz zeige sich nicht nur im Verstehen fremder Texte, sondern auch in der freien Deutung ihrer eigenen Lebenswirklichkeit. (S. 215) Am Beispiel Nipkows wird schließlich gezeigt, wie die oben genannte Entwicklung der hermeneutischen Debatte auch innerhalb eines Forscherlebens zu einer Ausweitung und Veränderung von Konzepten geführt hat, die von einer modifizierten Hermeneutik des Einverständnisses schließlich zu einer Pluralität von Hermeneutiken geführt haben, die den verschiedenen Lebenssituationen der Adressaten (unter Bezug auf den Grad ihrer Vertrautheit mit Tradition und Glaube) besser gerecht werden sollten als eine einzige Hermeneutik, die für alle dieselben Verstehensprobleme diskutiert. (S. 223-254). In einem letzten Abschnitt vor der Auswertung bespricht Sohns dann noch religionspädagogische Modifikationen der Hermeneutik des Einverständnisses. In ihrem Fazit am Ende des Buches gelingt es der Autorin, ernstzunehmende Aspekte der verschiedenen hermeneutischen Entwürfe ebenso wie ihre problematischen Seiten kurz und bündig zusammenzufassen. Auch wenn der Versuch der durchgehenden stichwortartigen Systematisierung dieser Aspekte (S. 283-286) stellenweise etwas gezwungen schematisch wirkt, wird am Ende eines ganz deutlich: in Zukunft wird es nicht mehr so sehr um große hermeneutische Entwürfe gehen, sondern eher um einen offenen und dialogbereiten Werkstatt-Umgang mit den von vielen Exegeten und Religionspädagogen erarbeiteten Aspekten von Hermeneutik. Dabei sollten aus der Erfahrung mit bisherigen Entwürfen heraus allerdings künftig dogmatische Engführungen ebenso vermieden werden wie vorschnelle hermeneutische Aneignungs-Strategien, die weder der Fremdheit der biblischen Texte noch der vielfältigen Lebenswelt der Rezipienten gerecht werden können. Aus der erarbeiteten Gesamtsicht hätte die Autorin m.E. am Ende zu einer deutlicher durchgeführten eigenen Synthese der erarbeiteten Hermeneutik-Aspekte vordringen können, die das Ganze besser abgerundet hätte, als das mit dem stichwortartigen Resümee dieser Aspekte möglich war. Aber auch so bleibt die Arbeit ein sehr wichtiger Zwischenschritt auf dem Weg dorthin. Damit komme ich zurück auf meine Forderung nach der Arbeit an exemplarischer Hermeneutik (vgl. ZNT 2 [1998] 52-64). Denn ob und wie fremde biblische Texte die Lebenswirklichkeit deutungsfähiger heutiger Subjekte in einer säkularisierten Welt erhellen können, lässt sich letztlich nur in angewandter Hermeneutik zeigen, so wie Berger das an Beispielen in seiner Hermeneutik und in anderen Veröffentlichungen exerziert hat. Zur Arbeit der Autorin sehe ich mit diesem Anliegen nicht nur keinen Gegensatz, sondern betrachte sie als wertvolle Hilfestellung, sofern sie es erleichtert, aus den Theoriedebatten zurückzufinden zu solchen konkreten Projekten. Die Chancen dafür stehen gut. Dirk Frickenschmidt 004104 ZNT 13 - Inhalt 09.03.2004 14: 46 Uhr Seite 72