ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
2004
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Dronsch Strecker VogelHeft 14 • 7.Jahrgang (2004) ZEITSCHRIFT ,~ NEUES TESTAMENT Das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft Herausgegeben von Stefan Alkier, Axel von Dobbeler, Jürgen Zangenberg Michael Walter Eine neue paulinische Perspektive Margaret M. Mitchell Paulus in Amerika Peter Arzt-Grabner Die Paulusbriefe im Lichte der Alltagspapyri Ute E. Eisen »Ich vernichte die Streitwagen ... « - Aspekte paulinischer Herrschaftskritik und ihre alttestamentlichen Wurzeln Richard B. Hays Schriftverständnis und lntertextualität bei Paulus K~E Die Stellung der Rechtfertigungslehre in der paulinischen Theologie Hans -Joachim Eckstein vs. Hendrik Boers Buchreport Impressum ' Herausgeber Stefan Alkier Axel vo n Dobbeler Jürgen Zangen berg in Verbindung mit Peter Busch Ute E. Eisen Kurt Erlemann Gabriele Faßbeck Dirk Frickemchmidt Marlis Gielen Roman Heiligenthal Matthias Klingh a rdt Volker Lehnen Günter Röhser Manuel Vogel Fran~ois Vouga Bernd Wander J~nschrift der Redaktion Prof. Dr. Stef rn Alkier Johann Wolfgang Goethe-U ni·.,ersität Fachbereich Evangeliscl: e Theologie Neues Testament - Geschich te der Alten Kirche z.H. : Kristim D ronsch Grüneburgplatz 1 D -60629 Frankfurt llllanuskript1! Zuschriften, Beiträge und Rezensionsexemplare werden an die Adresse der Reda tion erbeten. Eir: e Verp fl ichtung zur Bes prechung un verlangt ein gesa ndter Bücher besteht nicht. 1\nzeigen A . Francke Verlag, Tel.: '. 07071) 9797-0 Bezugsbedingungen Die ZNT erschei nt halb äh rlch ! April bis Oktober ) . E inz e lheft: € 14,- / sFr .25,3 0 zuzügl. Versand kosten Bezugspreis jährlich: € 26,- / sFr 45,60 Vo rzugspreis für Srudeme n j.ihrlich : € 20,-/ sFr 35,10 (Immatrikulationsbesch .e ini g,ing beifügen) © 2004 · A. Francke Ver kg Tübingen · Basel A lle Rechte vorbehalte n ISSN 1435-2: 149 Um schlagentwurf: Werner Rüb, Bietigheim-Bissingen. Satz: Fotosatz Hack, D ußlin ,; en. D ruck: Guld e, Tübingen. 3 indung: Nädele, Nehren. Inhalt Heft 14 · 7. Jg. (2004) Editorial Editorial .. ............... ......... ................................ 1 Neues Testament Michael Walter aktuell Eine neue paulinische Perspektive .. .............. 2 Zum Thema Kontroverse Herm eneutik und Vermittlung Buchreport Margaret M. Mitchell Paulus in Amerika .. ...... ... .... .... ..... ............ ...... 10 Peter Arzt-Grabner Die Paulusbriefe im Lichte der Alltagspapyri ............................. ..... . .. ....... 22 Ute E. Eisen »Ich vernichte die Streitwagen ... « - Aspekte paulinischer Herrsch aftskritik und ihre alttestamentlichen Wurzeln .... ... ..... 31 Einführung zur Kontroverse (Stefan Alkier) ........ .. ................... .. ... .. .. ... ... ... .. . 40 Hans-Joachim Eckstein »Gott ist es, der rechtfertigt« ................. ......... 41 Hendrik Boers Antwort auf Hans-Joachim Ecksteins » Rechtfertigungstheologie« .... ........................ 59 Richard B. Hays Schriftverständnis und lntertextualität bei Paulus ........... ....... ..... ........ ... .. .... ............ .... 55 Robert J ewett Saint Paul Returns to the Movies. Triumph over Shame ......... ... . .. ................... .... 65 Udo Schnelle Paulus. Leben und Denken ..... .. ............. ........ 66 A. Francke Verlag Tübingen und Basel· Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Telefon (0 70 71) 97 97-0 · Telefax (0 70 71) 7 52 88 Intern et: h ttp: / / www .francke.de · E-Mail: info@francke.de ZNT im Internet: h ttp: / / www.znt-online.de Editorial Liebe Leserinnen und Leser! Das neue Themenheft, das wir Ihnen heute vorlegen, greift das Werk einer Person auf, die wahrlich zum Urgestein des Christentums gehört. Über Augustinus, Thomas von Aquin, Martin Luther und Karl Barth bis heute fordert Paulus von Tarsus Glaube und Denken immer wieder heraus. Es überrascht daher nicht, dass die Paulusforschung in den letzten zwei Jahrzehnten nicht nur ausgetretene Pfade verlassen hat, sondern auch die aktuelle kirchliche Diskussion etwa um die Rechtfertigungslehre zum Teil mit initiiert, immer aber kritisch und kenntnisreich begleitet und inspiriert hat. Über Brennpunkte dieser grundlegenden Debatten berichten Ihnen unsere Autorinnen und Autoren in gewohnt ökumenischer Breite und internationaler Weite. In »NT aktuell« skizziert Michael Woher, welche Impulse die Paulusforschung in Deutschland, deren eigenes Profil weiterhin durch die Grundimpulse der Reformation geprägt ist, aber durch vor allem im angelsächsischen entwickelte »new perspective on Paul« erhalten hat. Der Bericht von Margaret Mitchell vertieft diesen Aspekt und öffnet Tore in die »Neue Welt«, von deren Paulusrezeption in kritischer Auseinandersetzung einiges zu lernen wäre. Peter Arzt-Grabner greift in den Schatz seiner jahrzehntelangen papyrologischen Arbeit und führt anhand der Alltagspapyri vor, dass das intensive Studium der »Umwelt« des NT gerade dort überraschend Neues und Anregendes zutage fördern kann, wo man meint, das Wesentliche eigentlich schon zu wissen. Ute Eisens Beitrag liest Paulus im Kontext zeitgenössischer politischer Realitäten und Hoffnungen und warnt so vor aller Verharmlosung seines Denkens durch Reduktion nur auf das Spirituelle oder rein Theologische. Die »Kontroverse« zwischen Hendrik Boers und Hans-Joachim Eckstein dokumentiert am Beispiel der aktuellen Debatte um den Stellenwert der Rechtfertigungslehre bei Paulus, dass traditionelle, einst nach Konfession oder Generation ausgerichtete Frontstellungen längst obsolet gewor- ZNT 14 (7 . Jg. 2004) den sind. Die Aufgabe, sich mit diesen zentralen Themen unter neuen Gesichtspunkten zu befassen, besteht aber weiterhin und ebnet den Weg für neues Verstehen. Richard Hays' Beitrag in der Rubrik »Hermeneutik und Vermittlung« zeigt modellhaft, wie sehr die paulinische Theologie von einer durchaus eigenständigen Rezeption des Alten Testaments geformt ist und gibt so Impulse für unsere eigene Auseinandersetzung mit dem Buch, das zu Recht oder zu Unrecht immer wieder als »Hebräische Bibel« bezeichnet wird. Die »Buchreports« von Peter Busch und Michael Schneider bringen Ihnen zwei anregende, wenn auch völlig unterschiedliche Publikationen zum Thema des Heftes nahe. Wenn die Beiträge unseres Heftes Sie anregen, wieder zu den Briefen des Paulus selbst zu greifen, und helfen, bei der Lektüre neue und fruchtbare Entdeckungen zu machen, haben wir unser Ziel erreicht. - Nicht zuletzt war es ja Paulus, der seine Thessalonicher ermahnt hat: »Prüfet alles und das Gute behaltet! « (1 Thess 5,21 ). Wir werden auch in Zukunft alles daran setzen, dass die ZNT zu dem »Guten« gehört, das Sie nach_eingehender Prüfung auch weiterhin gern behalten. Stefan Alkier Axel von Dobbeler Jürgen Zangenberg DENKSPRCCHE II Johann Albrecht Bengel Denksprüche Ein Lesebuch Herausgegeben von Heino Gaese 2004, 171 Seiten, geb., € 24, 90/ SFr 43, 70 ISBN 3- 7720-8051-0 A. Francke Verlag PF 2560 · 72015 Tübingen www.lrancke.de l Neues Testament Michael Walter ~l<tuell , Eine neue paulinische Perspektive Im Jahre 1969 -veröffentlic hte ERNST KÄSD1ANN unter dem Titel »Paulinische Perspektiven« eine kleine Sammlung von Essays zu unterschiedlichen Texten und Theme r. der paulinischen Briefe. 1 Ob wohl Käsemann au ·drücklich nicht beansprucht, »den Entwurf einer paulinischen The ologie vor legen zu wollen «,' zeichnet sich die Sic ht der paulinischen Theobgie, die den einzelner_ Aufsätzen jeweils zugrunde liegt, durch beeindruckende Kohärenz und Profil bildu n g aus. Vie~en, die wie d er Verfasser dieses Beitrags in jener Zeit studierten, eröffnete Käsemanns Paulusinterpretation eine Sicht auf die paulinische Theologie, der in jener Zeit erh ebliche existentielle Plausibilität zukam. Ein k nappes Vier teljahrhundert sr: 2 ter publizierte der schotti sche NeutestameLtler JAMES D.G. DUNN einen Aufsatz mit dem Titel »The New Perspective on Paul« . 3 Diese Üb erschrift gab einer neuen Pa lu s interpreta t ion ihr en Namen, die sich zuerst in d er angelsächsisch en Paulusforschung durchsetzte und mittlerweile auch in Deutschl a nd z--1ne hm end rezip i ert w : . rd. - Der Ansatz der »New P erspective« setzt ·eh kritisch vor allem mit jener aulusin terpretatio : : i auseinander, die sich seit den 20er Jahren des 2C. Jahr h un derts unter dem Einfluss der Lutherre: : 1aissance in Deutschland durch gese tz t hat und ihre prominentesten Vertreter in UDOLF B ULTMAN N und eben ERNST K ÄSEMAN gefunden h at. Er nimmt dabei freilich auch seinerseits Ansätze auf, wie sie be reits viele Jahrz eh nte vorher z.B . vo n W IL LIAM WREDE und ALBER T SCHWEITZER form·-1liert worden waren .' Inhaltlich geht es dab ei um nicht weniger als um de n Status und die Fu: : iktion der sog. Rechtferti g un gsleh re innerhalb d er paulinischen Theologie bzw. um die systematische Orga nisation der paulinischen Theo logie überhaupt: Macht die pauli nische Rechtfertigungslehre deutlich, dass »die paulinische Theologie z ugleich Anthropo logie (ist) «, wi e es in einer berühmten For mulierung RUDO LF BULTMANNS heißt,5 oder hat sie ihren genuinen O rt gewissermaßen innerhalb der Ekklesiologie, insofern sie näm hch aus der theologischen : : Zeflexion üb er d as Ve: -2iältnis der 2 Gemeinschaft der an Jesus Christus Glaubenden und auf ihn Getauften zu Israel erwachsen ist? Mit diesen systematisch-theologischen Fragen verbinden sich aber auch unterschiedliche historische Ortsbestimmungen: Ist die Rechtfertigungslehre als Ursprung der paulinischen Theologie anzusehen, d.h. wurzelt sie in seiner Bekehrung und ist sie deren Auslegung als »gehorsame Beugung unter das im Kre u z Christi kundgewordene Gericht Gottes über alles menschliche Leisten und Rühmen« 6 und ist dementsprechend die paulinische Heidenmissio n ihre Folge? Ode r ist es eher so, dass Paulus seine Rechtfertigungslehre erst relativ spät entwickelt hat, und zwar als einen theo logischen Begründungszusammenhang, der die Erfahrungen und Konsequenz der paulinischen Heidenmission theologisch reflektiert u nd in eine Theorie überführt, die erstmals im Galaterbrief sprachlich greifbar wird (hier stellt Paulus unter dem Einfluss von Gen 15,6 erstmals den Zusammenhang von Rechtfertigung und Glauben her)? 7 1. Als erster Vertreter der »New Perspective« wird zu Recht der schwedische Neutestamentler und nachmalige Bischof von Stockholm KRISTER STENDAHL angesehen, der bereits 20 Jahre vor Dunn's Aufsatz nicht weniger als die gesamte, von Augustin über Martir _ Luther bis hin zu Rudolf Buhmann reichende »westliche« Paulusinterpretation für unsachgemäß erklärt hatte. 8 Seine Kritik an der aktuellen Paulusinterpretation bezog sich darauf, dass die paulinische Rechtfertigungslehre von Luthers Frage, »Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? «, her interpretiert wurde. Das paulinische Verständnis von Rechtfertigung aus Glauben sei dadurch verstanden worden als »die zeitlose Antwort auf die Nöte und Qualen des ichbezogenen wes tlichen Gewissens«,9 und Paulus wurde so gelesen, »als ob er auf Luthers Gewissensnöte antwortete«. 10 Dementsprechend werde das Gesetz »mit seinen ZNT 14 (7 . Jg . 2004) Michael Walter Prof. Dr. Michael Woher wurde 1950 geboren und studierte Evangelische Theologie in Berlin, Heidelberg und Göttingen. 1977 promovierte er in Heidelberg über »Rechtfertigung und zukünftiges Heil. Untersuchungen zu Röm 5,1-11 «. 1977-1983 leitete er die Redaktion der »Theologischen Realenzyklopädie« (TRE). Habilitation 1986 in Mainz über »Die Pastoralbriefe als Paulustradition«. 1988 -1993 Professor für Biblische Theologie an der Universität Bayreuth; seit 1993 Professor für Neues Testament an der Universität Bonn. Hauptforschungsgebiete: Lukasevangelium und Ethik des Neuen Testaments. spezifischen Forderungen nach Beschne idung und Speisevorschriften« von seinem heilsgeschichtlichen Bezug auf Israel abgelöst und »zu einem generellen Prinzip der ,Gesetzlich keit< in religiösen Angelegenheiten« gemacht. 11 Das sei aber, so Stendahl, eine unhistorische Verallgemeinerung, weil daraus das Missverständnis der paulinischen Rechtfertigungslehre als eines pole mischen Angriffs auf das Judentum als Religion der »Gesetzlichkeit« erwachse. 12 Demgegenüber betont Stendahl, dass Paulus nicht am Individuum interessiert sei, sondern am Gegenüber v on Israel als »Volk« und den Heiden als »Nicht -Volk«: Michael Wolter Eine neue paulinische Perspektive Dementsprechend müsse die pau linische Rechtfertigungslehre apologetisch verstanden werden. Paulus verteidige mit ihr sein Programm der Heidenmission: Ihre theologische Spitze bestehe darin, dass die Heiden in das Gottesvolk aufgenommen werden können (gewissermaßen » den Status ... als Juden ehrenhalber« erhalten 14 ) , ohne dass sie »durch das Gesetz hindurchgehen ... müssen«. 15 Rechtfertigung »aus Glauben, ohne Werke des Gesetzes« (Röm 3,28) ist für Stendahl also der Weg, der den Heiden den Zugang ins Gottesvolk ermöglichen soll. Nach Gal 1, 15 habe Paulus sich als zu der Aufgabe berufen verstanden, den Heiden diesen Weg zum Heil bekannt zu machen. In seinen Briefen habe er dann vor allen Dingen darüber nachgedacht, »wie der Ort der Heiden in der Kirche entsprechend dem Plan Gottes zu definieren ist« ." Demgegenüber habe er das Damaskusgeschehen zu keinem Zeitpun k t als »Bekehrung« v erstanden, 17 denn er habe sich bei dieser Gelegenheit nicht etwa aus einem Juden in einen Christen verwandelt, sondern sei auch als Heidenmissionar immer ein Jude geblieben. Stendahls Vorstoß blieb auch in der fachwissenschaftlichen Debatte noch ohne größere Resonanz. Jedenfalls war er nicht in der Lage, den in Geltung stehenden Konsens zu erschüttern. Das änderte sich erst mit der nächsten der hier vorzustellenden Arbeiten. 2. Zu einem breiteren Durchbruch verhalf der »New Perspective« jedoch erst das im Jahr 1977 erschienene Buch von ED PARISH SA NDERS. 18 In der ersten Hälfte seines Buches entwirft Sanders ein Bild des antiken Judentums, das dessen »Paulus' Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben hat ihren theologischen Kontext in seinen Gedanken über die Beziehung zwischen Juden und Heiden; sie steht nicht in Zusammenhang mit der Frage, wie der Mensch erlöst » . . . Sanders entwirft ... ein Bild des antiken Judentums, das dessen weit verbreitetes Bild als Typos allgemein menschlicher Gesetzlichkeit und Werkgerechtigkeit nachhaltig destruiert hat« weit verbreitetes Bild als Ty pos allgemein menschlicher Gesetzlichkeit und Werkgerechtigkeit 19 n achhaltig destruiert hat: Er geht von einem konsequent funktionalen Ansatz aus und fragt danach, wie die Funktion einer Religion von ihren Anhängern wahr werden kann, oder wi e die Werke des Me n sc hen zu bewerten sind, oder ob der freie Wille des Individuums bestätigt oder bestritten wird. «" ZNT 14 (7. Jg. 2004) genommen wird. 20 Hierbei unterscheidet er zwischen zwei grundsätzlichen Aspekten: zum einen werde die Frage beant- 3 N eu e s T estament aktue ll wortet, was man dafür tun muss, um ir_eine Religion hineinzugelangen (»getting in«) und zum anderen die Fra ge, was man tun muss, um in einer Religion drin zu blei en (»staying in«). 2 1 Auf der Grundlage dieser L nterscheidung fragt Sanders nun nach der Funktion des Gesetzes in der Religionsstruktur des antiken Judentums und kommt zu einer profili erte n Kriti k an der verbreiteten christlichen Wa hrne hmung der jüdis ch en Religionsstruktu r als »Werkgerechtigkeit« oder »Gesetzlichkeit«, die darauf abziele, sich durch Erfüllung des Gesetzes den Weg zum Heil z u erarbeiten bzw. zu verdien n. Hierbei handele es sich um eine Fehlinterp r etation, weil die Funktion des Gesetzes innerhalb der Religionsstruk: ur des Judentums als ein »getting in« verstanden wird. Demgegenüber l ass en die Quellen erkennen, dass der Erfüllung des Gesetzes im Judentum die Funktion des »s ta ing in« zukommt: Die Tora werde befolgt, u m der Zugehörigkeit zum Gottesvolk Ausdruck zu verleihen. Sie sei nicht Heilsweg im Sinne eines Weges, der zum Heil hinführen soll, sond ern sie sei d as Mittel zur Aufrechter altung des undesverhältnisses zwischen Gott und dem von ihm erwählten Vol k. Dementsprechend charakterisiert Sanders die Religionsstruktur des antiken Judentums als »covenantal nomism« (Bundesnomismus), 22 der a-c s acht Ele menten bestehe: (1 ) Gott hat Isr ael erwählt u nd (2) ihm das Gesetz gegeben. Das Gesetz impli ziere (3) Gottes Zusage, an der Erwählung festzuhalten un d (4) die Gehorsamsforderu ng für die Angehörigen des Bundesvolks. (5) GNt belohnt Gehorsam und bes traft Übertretung des Geset zes. (6) Bei Ü bertretungen stellt das Gesetz jedoch Sühnemittel bereit, die (7) der Aufrechterhaltung oder Wiederhers tellung des Bundes verhältnisses dienen. (8) All diejenigen, die durch Gehorsam, Sü hne und Gottes Gnade im Bund verbleiben , werden ,gerettet werden. Die Paulusin: erpretation, die Sanders im zweiten Teil seines Buc h es vorlegt, untersch eidet sich schon in der äußere Struktur von den Paulusdarstellungen, wie sie vor allem RUDOLF BULT- MANN,13 aber auch HANS CON ZELMANN 24 und GÜNTHE R BOR.."T KAMM 25 vorgelegt haben. Sie alle richten ihre eig ene Paulusdarstellung mehr oder weniger am Aufb au des Römerbrie : : s aus und beschreiben ers t die Misere (Röm 1,18-3,20; Buhmann: »Der Mens ch vor der Offen barung der 4 pistis« 26 ) und dann die Lösung (Röm 3,2lff.; Bultmann: »Der Mensch unter der pistis</ 7). Dem hält Sanders entgegen, dass Paulus genau umgekehrt gedacht habe: »Erst die Lösung dann das Problem«. 28 Der Ausgangspunkt sei immer, dass das Heil nur in Christus zu finden ist, und das sei der Maßstab, an dem sich alles andere entscheidet; alles andere ist per definitionem ausgeschlossen. Dementsprechend sei auch die Anthropologie nicht die Basis, sondern lediglich »die Folgerung aus seiner Theologie, Christologie und Soteriologie«. 29 Das heißt dann für das paulinische Rechtfertigungsverständnis: Weil die Gerechtigkeit nur aus dem Glauben an Jesus Christus kommt, kann sie nicht aus Werken des Gesetzes kommen,3° und: »Weil das Heil nur in Christus zu finden ist, sind folglich alle anderen Heilswege falsch.« 3 1 Die paulinische Kritik am Judentum richte sich also nicht dagegen, dass es einen falschen Umgang mit dem Gesetz praktiziert, sondern sei weitaus grundsätzlicher: »Was Paulus am Judentum für falsch hält, ist, auf eine Kurzformel gebracht, daß es kein Christentum ist.« 32 Daraus folgt auch notwendig die Aufhebung des Unterschieds zwischen Israel und den Völkern: Weil die a priori gesetzte Lösung (>Heil gibt es nur durch Glauben an Jesus Christus,) für alle Menschen gleichermaßen gilt und zugänglich ist, muss Paulus den jüdischen Bundesnomismus und die oben beschriebene Funktion des Gesetzes in ihm ablehnen, weil beides auf einem Spezialverhältnis zwischen Gott und Israel beruht: »Paulus polemisiert also ga nicht in erster Linie gegen das dem Judentum angemessene Mittel, in rechter Weise religiös zu sein (,durch Werke des Gesetzes,), sondern gegen die ihm zugrunde liegenden Fundamente des Judentums : gegen Erwählung, Bund und Gesetz.«" Aber auch abgesehen davon konstatiert Sanders zwischen der jüdischen und der paulinischen Religionsstruktur einen fundamentalen Bruch. Er sei dadurch bedingt, dass wir bei Paulus einen gänzlich anderen Religionstypus vorfinden, was bereits in seiner Verwendung der Gerechtigkeitsterminologie deutlich wird: Während »Gerechtigkeit« im antiken Judentum stets auf das bestehende und durch Gott eingerichtete Bundesverhältnis bezogen gewesen sei und dabei ein Handeln unter dem Aspekt des »staying in« bewertet habe, das ZNT 14 (7. Jg. 2004) »die Beibehaltung des Status innerhalb der Gruppe der Erwählten zum Ausdruck bringt«," habe sich dies bei Paulus radikal geändert: »Gerechtigkeit« ist zu einem »Übergangs -Begriff« (»transfer term«) geworden, der den Vorgang des »getting in« beschreibe. 35 Was das paulinische Denken aber vor allem von der Religionsstruktur des palästinischen Judentums unterscheide, sei seme Michael Wolter Eine neue paulinische Perspektive die Bedingung dafür sind, ,drinzubleiben" doch erwerben sie das Heil nicht«. 39 Diese partielle Übereinstimmung bleibe jedoch der grundsätzlichen Differenz nachgeordnet. Trotz mancher Kritik an Einzelheiten hat die von Sanders vorgelegte Analyse der Religionsstruktur des antiken Judentums breite Akzeptanz gefunden. Es ist seitdem nicht mehr möglich, Be- Bestimmtheit durch Katego rien der »Teilh abe« (»participation«).36Es sei die durch die Taufe vermittelte Teilhabe am Tod Christi, das »in Christus Sein«, das den Übergang aus dem Bereich der Sünde in den des Heils und damit die Veränderung der Per son bewirke. Die strukturelle Differenz zwischen dem jüdischen und dem paulinischen »pattern of »Es ist ... nicht mehr möglich, Begriffe wie griffe wie »Werkgerechtigkeit« oder »Gesetzlichkeit« als analytische Kategorien zu verwenden, um das Wesen des Judentums oder auch nur die paulinische Wahrnehmung des Judentums zu be schreiben. Demgegenüber ist seine These vom fundamenta len Bruch des Paulus mit der jüdischen Religionsstruktur >Werkgerech tigkeit< oder >Gesetzlichkeit< als analytische Kategorien zu verwenden, um das Wesen des Judentums oder auch nur die paulinische Wahrnehmung des Judentums zu beschreiben.« religion« sieht Sanders also letztlich darin bestehen, dass diese anders als jene kein »Bundesnomismus« (man könnte auch sagen: keine Religion des »staying in«) sei, sondern auf einer Transfer- Soteriologie basiere und mithin eine Religion des . . . »gettmg m« sei: »Die Mitte des pln. Denkens besteht nicht darin, daß der Mensch einen von Gott angebotenen Bund billigt und bejaht, daß er Mitglied einer Gruppe wird, die eine Bundesbeziehung mit Gott eingegangen ist und in der er unter der Bedingung, sich angemessen zu verhalten, bleibt, sondern darin, daß der Mensch mit Christus stirbt, wodurch er neues Leben und die erste Verwandlung empfängt, die zur Auferstehung und zur letzten Verwandlung führt, daß er ein Glied des Leibes Christi und mit ihm eines Geistes ist und daß er in diesem Status verbleibt es sei denn, er zerbricht die partizipatorische Gemeinschaft dadurch, daß er eine andere eingeht«." Nicht unerwähnt bleiben sollte, dass Sanders trotz dieser ,fundamentalen< Differenz auch »subst antielle Gemeinsamkeiten« 38 zwischen den beiden Religionsstrukturen bestehen sieht: Auch bei Paulus lasse sich erkennen, dass Elemente des jüdischen Bundesnomismus in sein »pattern of religion« Einzug gehalten haben, denn sowohl die paulinische Ethik als auch seine Vorstellung vom Gericht nach den Werken funktionierten nach dem Prinzip des »staying in«. In diesem Sinne stellt er unter Verweis auf Röm 11,22 fest, dass »bei Paulus, wie in der jüd. Literatur, gute Werke ZNT 14 (7 . Jg. 2004) mit großer Zurückhaltung bis Ablehnung aufgenommen worden, wie gleich deutlich wird. 3. Eine noch weitergehende Präzisierung erfuhr dieser Neuansatz durch die Arbeiten von JAMES D. G . DUNN.4° Er akzeptiert das von E . P. Sanders entworfene Bild der Religionsstruktur des antiken Judentums als »Bundesnomismus« . Anders als dieser sieht er in der paulinischen Theologie jedoch keineswegs einen fundamentalen Bruch mit dem jüdischen Bundesdenken; Paulus führe es vielmehr auf seine ursprüngliche Grundlage zurück: den alle Völker einschließenden Abrahambund. 41 Sein Argumentationsgang verläuft in groben Zügen so: Ausgangspunkt ist die Darstellung des antiken Judentums von einem soziologischen Ansatz aus. Dunn fragt nach der Funktion der Tora und verdichtet seine Sicht der Dinge in zwei Begriffen, die einander komplementär ergänzen: Die Tora habe demnach die Funktion, Israel von den »Völkern«, d.h. den Nichtjuden, zu unterscheiden und die Erwählung Israels aus den Völkern sichtbar · und erfahrbar zu machen. In diesem Sinne fungiere die jüdische Torapraxis nach innen als »identity marker«, die die Zusammengehörigkeit aller Juden zum Ausdruck bringe, während sie nach 5 l'i leues Testament ak t uell außen als »boundary marker« wirke, weil sie eben den Unterschied zwischen Juden und N ichtjuden deutlich werden lass e. Genau diese »identity markers« oder »bound ary markers« habe Paulus im Blick, wenn er von den »Werken des Gesetzes« spricht (Röm 3,20.28; Gal 2, 16; 3,2.5.10). In besonderer Weise ge ~te dies für einen Kanon von Torageboten, die in besonderer Weise dazu beitragen würden, die jüdi ~che von einer nichtjüdischen Identität abzugrenzen: die Forderungen der Beschneidung, der Sabbatobservanz und der Beachtung von bestimmten Speisetabus. 42 Mit dieser Interpretation ist zugleicl: eine wichti ge Differenz zur r ': : ormatorischen Paulusrezeption markiert: We n Paulus »'Werke des Gesetzes« ablehnt, meint er damit gerade n icht »gute Werke« im Allgemeinen und S ! ) rich: er gerade nicht von »Werkgerechtigkeit« oder »Gesetzlichkeit« . Paulus beziehe sich mit seiner Gesetzeskritik vielmeh r immer nur auf die »-Werke der Tora«, d.h. auf diej er_ igen »Werke«, die Juden von Nichtjuden umers ch eiden und mit deren Hilfe Israel seine Beso nd rheit als Gottesvo lk zur Anschauung bringen wolle; Dunn kann sie darum auch als »Bundesw ': : -ke« (»covenant "'orks«) bezeichnen.'3 Die paulinische Antithese laute also nicht: >\Verke< geg : : 1 >Glaube<, sondern >Werke der Tara< gegen >Glaube an Jesus Chris t us<. Das habe nun aber zur Folge, da ss der Bund Gottes mit Is r ael nicht aufgehoben, sondern seiner ursprünglichen Intention zugeführt werde: Er wird »ausgeweitet« (»b r oadened out«)," und eben damit werde die an Abraham erg .; . ngene Verheißung von G en 12,3 und 18,18 (alle Völker sollen in A braham ge segnet sein), die Pwlus in Gal 3,8 zitiert, erfüllt. Der »identity marker« bzw. »boundary mar ker <•: , der das GotteS""rnlk kennzeichne, sei fü r Paulus dementsprech end allein der Glaube an Jesus Christus . Daraus ergibt sich konsequent, was Paulus am Judentum für falsc h halte. Dunn beruft sich hierfür auf Röm 2, 17 und 3,27, deren beiden Texte er miteinander verbindet: Paulus kritisiert das Judentum, weil es steh »rühmt«, gegenüber den Nichtjuden einen privilgierten Status : : ,ei Gott zu haben und dass es die »Werke des Gesetzes« in der oben beschrie ben en Weise als »Ausdruck eines zu engen atio nalistischen und ethnischen Bundesverständnisses« benutzt und s~e damit ihrer ursprünglichen Bestimmung nämlich 6 »Kennzeichen von Abrahams Glauben« zu sein entfremdet und zu einem Mittel von »Israels Rühmen« gemacht habe .4 5 - Hierin kommt eine charakteristische Veränderung des Verständnisses von »Rühmen« und seiner systematischen Verortung innerhalb der paulinischen Theologie zum Ausdruck: Hatte RUDOLF BULTMANN im Gefolge MARTIN LUTHERS das von Paulus kritisierte »Rühmen« noch als »höchsten Ausdruck der sündig-eigenmächtige(n) Haltung« des Menschen bestimmt, mit dem dieser vor Gott auf seine Verdienste poche,4 6 und Röm 3,27 von lKor 1,29-31 und 4,7 her interpretiert, verknüpft JAMES DUNN Röm 3,27 mit Röm 2,17 und bestimmt als Gegenstand des Rühmens, das Paulus ausgeschlossen wissen will, nicht die Gesetzeserfüllung Israels, sondern die Behauptung einer im Gesetzesbesitz zum Ausdruck kommenden besonderen Gottesbeziehung. 4. Der Ertrag der »New Perspective« für das Gesamtverständnis der paulinischen Theologie lässt sich in drei Punkten zusammenfassen: a) Wenn wir die paulinische Rechtfertigungs lehre als Theorie der paulinischen Völkermission verstehen können, mit deren Hilfe Paulus begründen will, dass und warum es keinen Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden gibt (wie Paulus in den beiden komplementären Feststellungen Röm 3,22f. und 10,12 ausdrücklich hervorhebt), wird sie einerseits natürlich auf einen ganz spezifischen historischen Entdeckungszusammenhang hin kontextualisiert. Andererseits eröffnet aber gerade diese historische Fixierung den Blick für einen neuen Zusammenhang der paulinischen Theologie insgesamt und macht die Rechtfertigungslehre als Bestandteil eines übergreifenden christlichen Wirklichkeitsverständnisses identi fizierbar: In Bezug auf das Verhältnis von Juden und Nichtjuden wird hier nämlich dasselbe formuliert wie in Bezug auf das Verhältnis des Herrn zu seinem Sklaven im Philemonbrief (vgl. Phlm 16-17) oder in Bezug auf das Eindringen sozialer Statusdifferenzen in die christliche Gemeinde, wie sie in lKor 1-4 und 11,17-34 greifbar werden: In allen Fällen geht es darum, dass es nichts anderes als der gemeinsame Glaube an Jesus Christus ist, ZNT 14 (7. Jg. 2004) der die Identität der Christen bestimmt und nicht die an anderen Wirklichkeitsverständnissen ausgerichteten sozialen, rechtlichen oder ethnischen Statuszuweisungen. In dieser Hinsicht macht die »New Perspective« darum gerade auch die Kohärenz der paulinischen Theologie in bisher ungewohnter Weise neu sichtbar. b) Wenn es der paulinischen Rechtfertigungslehre um die Begründung der soteriologischen Inklusivität geht (vgl. vor allem Röm 1,16-17; 10,12: Juden und Nichtjuden kommen unterschiedslos durch Glauben zum Heil), lässt sich auch die paulinische Ethik wieder neu in diesen theologischen Zusammenhang integrieren (was ja nicht ganz einfach ist, wenn man die »Werke des Gesetzes« allgemein als »gute Werke« versteht 47 ): Charakteristisch für die ethische Weisung des Apostels ist nämlich gerade ihre Allgemeinheit und angebliche Profillosigkeit (vgl. nur Phil 4,8: »orientiert euch an dem, was wahr, was gerecht, was rein, was liebenswert ist, was einen guten Ruf hat, sei es eine Tugend und ein Lob«). Sie ist jedoch genauso inklusiv ausgerichtet wie die paulinische Soteriologie : Alle ob sie nun Heiden oder Juden sind können den paulinischen Weisungen zustimmen, und insofern kann man sagen, dass Soteriologie und Ethik eng miteinander zusammenhängen: Aufgrund ihrer Inklusivität korreliert die paulinische Paränese insofern ganz unmittelbar mit der paulinischen Soteriologie, denn sie zielt auf eine Lebensführung ab, die zum Ausdruck bringt, dass es zwischen jüdischen und nichtjüdischen Christen keinen Unterschied gibt. So wie die Rechtfertigungslehre die Theorie der paulinischen Ekklesiologie ist, so macht es die »New Perspective« möglich, die paulinische Ethik als angewandte Rechtfertigungslehre zu interpretieren. 48 c) Auch innerhalb der »New Perspective« ist strittig geblieben, ob die paulinische Soteriologie nun einen fundamentalen Bruch mit dem jüdischen Wirklichkeitsverständnis markiert (Sanders) oder nicht (Stendahl; Dunn). Diese Frage lässt sich eindeutig beantworten, denn bei diesem Widerspruch handelt es sich um eine bleibende Aporie innerhalb der paulinischen Theologie selbst, die Paulus bis zum Schluss nicht überwinden konnte. Einerseits steht völlig außer Frage, dass das Postulat, es gebe keinen Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden (ob sie nun »Christen« sind oder nicht; vgl. Röm 3,9-20.22f.; ZNT 14 (7. Jg. 2004) Mi chael Wo lter Eine neue paulinische Perspe kt iv e lKor 1,18-25; Gal 5,16; 6,15), mit dem jüdischen Selbstverständnis schlechterdings nicht zu vereinbaren ist.4 9 Hier hat Paulus eine eindeutige Grenze gezogen, die keinen Kompromiss ermöglicht. Andererseits hat er aber auch ebenso unmissverständlich die bleibende Erwählung, und das heißt: die weiterhin bestehende Sonderstellung Israels gegenüber den Völkern betont. Er macht sie in Röm 3,1-8 und 11,29 an der Gottheit Gottes und an der in ihr begründeten absoluten Zuverlässigkeit seiner Verheißungen fest. Diese offenkundige Dissonanz bringt er in Röm 11,28 auf den Punkt: »nach dem Evangelium«, d.h. innerhalb des christlichen Wirklichkeitsverständnisses, sind die nichtchristlichen Juden Gottes »Feinde«; »nach der Erwählung«, d.h. innerhalb des jüdischen Wirklichkeitsverständnisses, sind sie auch weiterhin Gottes »Geliebte«. - Und eben hierin liegt dann auch der eigentliche Gewinn der »New Perspective«: Sie hat nämlich erneut sichtbar ge macht, dass die paulinische Theologie eine Theologie des Übergangs ist: Sie markiert exakt den Punkt, an dem die Geschichte des Christentums umschlägt von einem innerjüdischen Differenzie rungsprozess in einen christlich-jüdischen Trennungsprozess. Anmerkungen ' E. Käsemann, Paulinische Perspektiven, Tübingen 1969 2 1972. 2 Käsemann, Paulinische Perspektiven, 5. 3 J.D.G. Dunn, The New Perspective on Paul, BJRL 65 (1983), 95-122; mit einem Nachtrag wiederabgedruckt in: ders.,Jesus, Paul and the Law, London 1990, 183-214. 4 Vgl. W. Wrede, Paulus, Halle 1904; wiederabgedruckt in: Das Paulusbild in der neueren deutschen Forschung, hg.v. K.H. Rengstorf (WdF 24), Darmstadt 1964 = 1967, 1-97; A. Schweitzer, Die Mystik des Apostels Paulus, Tübingen 1930 = 1981. 5 R. Buhmann, Theologie des Neuen Testaments, durch ges. u. erg. v. 0. Merk, Tübingen ' 1984, 192. 6 Buhmann, Theologie., 189. Vgl. auch G. Klein, Ein Sturmzentrum der Paulusforschung, VuF 33 (1988), 40- 56, hier: 43: »Die Offenbarung Gottes in Christus« habe Paulus bei seiner Bekehrung »als Apokalypse des Menschen erfahren«. 7 Aus Raumgründen können im Folgenden nur einige exemplarische Vertreter der »New Perspective« genannt werden. Es sei darum an dieser Stelle verwiesen auf den ausgezeichnet orientierenden Aufsatz von C. Strecker, Paulus aus einer »neuen Perspektive«. Der Paradigmenwechsel in der jüngeren Paulusforschung, Ku! 11 (1996), 3-18. 7 11 ,l eues Testament aktuell 8 K. Stendahl, Tl: e A osde Paul and the Lltrospective Conscience of the 'iest, HThR 56 (1963), 199-215; dt.: Der Apostel Paulus und das »introspektive« Gewissen des Westens, Kul 11 (1996), 19-33 (im Folgenden zitiert als »Gewissen«; ; ders ., Paul amongJews .: nd Gentiles, Philadelphia 1976; dt.: Der Jude Paulus unc. wir Heiden, München 1978 (im Folgenden zitiert als »Der Jude Paulus«) . Vgl. jetzt auch ders., Final Account. Paul's Letter to the Romans, Min eapolis 1994. 9 Stendahl, Der Ji.: de Paulus, 15; s. auch Stend ahl, Gewissen, 22 . 10 Stendahl, Der Jude Paulus, 12f. 11 Stend ahl, Gewissen , 23. In seiner Ausein.: ndersetzung mit Stendahl be5tätigt Käsemann diesen Vo rwurf noch einmal expressis. verbis: »Wen repräsentier: der jüdisch Nomismus, gegen den Paulus sich wandte? ... Er vertritt jene Gemeinschaft frommer Menschen, w elche ... Gottes Gebote zum Mittel ihrer Selbstheiligung machen« (Paulinische Perspek: iven, 127f.). 12 Stendahl, Der J: 1de Pa ulus, 31. In seiner Auseinandersetzung mit Stendah l macht Käsemann irnnischerweise genau diesem den Vorwurf eines polemischen Missverständnisses der ? aulinischen Rechtfertigungslehre (Paulinische Perspektiven, 109 u .ö.). Das hat seinen Grund darin, dass Käs ~ma nn den Ansatz Stendahls (nicht zu Unrecht) der Pm lu sinterpretation William Wredes an die Seite stellt, der die paulinische Rechtfertigungslehre als eine »Kampf es lehre« bezeichnet hatte, die aus der »Auseinandersetzun g mit dem Judentum und dem Judenchris tentum vers: ändlich und nur für diese gedacht« gewesen sei (Pa: .ilus, 72[67]); vgl. die antikritische Klarstellung bei Stendahl, Paul am ongJews and Gentiles, 130. 13 Stendahl, Der Jude Paulus, 40 . 14 Stendahl, Der Jude Paulus., 15. 15 Stendahl, Der Tu de Paulus, 20. 16 Stendahl, Gev/ 2ssen, 23. 17 Stendahl, Der Jude P aulus, 17ff. 18 E.P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism. A Comparison of Patterns of R eligion, London 1977; dt.: Paulus und d as palästinisch e Juden tu m. Ein Vergleich zweier Religionsstrukturen (St UNT 17), Göttingen 1985; vgl. auch ders ., Paul, the Law, and the Jewish People, Philadelphia 1983; ders., l >a ul, Oxford 1991; dt.: Paulus. Eine Einführung, Sti.: ttgart 1995. 19 Vgl. dazu exe □ plarisch die Formulieru r_ g von Ernst Käsemann o. A: : : im. 9. 20 »How a religion is erceived by its adher ents to function« (Paul and PalestinianJudaism, 17). 21 Sanders, Paul and Palestinian Judaism, 1 7. 22 Sand ers, Paulus un d das palästinische Jud entum, 415, 422. 23 Buhmann, Theologie, 187ff. 24 H . Conzelmann, Gru ndriß der Theologie des Neuen Testaments, Mi: nch n 2 1968, 173ff. 25 G . Bornkamm, Paul us , Stuttgart u.a. 7 1993. 26 So lautet die Üben chrift über dem erst rn Teil seiner Paulusdarstellung (Buhmann, Theologie, 191). 27 Überschrift über dem zweiten Teil der Paulusdarstellung Bu! tmanns (ebd. 271 ). 28 Sanders, Paulus und das p al ästinische Judentum 415. 29 Sanders, Paulus und das palästinische Jud entum, 419 . 30 Sanders, Paulus und das palästinische Judentum, 459 . 31 Sanders, Paulus und das palästinische Ju dentum, 457 (Hervorhebung im Or iginal). 8 3 2 Sanders, Paulus und das palästinische Judentum, 513; s. dann auch Paul, the Law, and the Jewish People, 47: »What is wrong wich the law, a: : : id thus wich Judaism, is that it does not provide for God's ultimate purpose, that of saving the entire world through faith in Christ, and without ehe privilege accorded to Jews through the promises, the covenants, and the law.« 33 Sanders, Paulus und das palästinische Judentum, 513 . 34 Sanders, Paulus und das palästinische Judentum, 504 (Hervorhebung im Original). 35 Sanders, Paulus und das paläs tinische Judentum, 504. 36 Vgl. Sanders, Paulus und das palästinische Judentum, 480ff. (engl. Ausg. 502ff. ). 37 Sanders, Paulus und das paläs: inische Judentum, 493 . 38 Sanders, Paulus und das paläs: inische Judentum, 509. 39 Sanders, Paulus und das palästinische Judentum, 496 (Hervorhebung im Original) . Vgl. auch ebd . 492 : »So läßt sich bereits bei Paulus erkennen, wie das Christen tum im Begriff ist, eine neue Form von Bundesnomis mus zu werden, u . zw. eine Bundesreligion, der man durch Taufe beitritt, deren Mit: ; liedschaft Heil eröffnet und die einen spezifischen Katalog von Geboten besitzt; ist man diesen Geboten gehorsam (... ), so bleibt die Bundesbeziehung aufrechterhalten« . 40 Zu nennen sind vor allem sein in Anm. 3 erwähnter Aufsatz. Wichtig sind darüber hinaus vor allem die beiden Kommentare zum Rörr_erbrief (2 Bde. : Romans 1-8.9-16 [WBC 38A- B], Dallas 1988) und zum Galaterbrief (The Episde to the Galatians, London 1993 ). I n der Einleitung zum ersten Band des Römerbrief-Kom mentars findet sie eine kurze Zusammenfassung von Dunn's Sicht auf die paulinische Theologie (The New Perspective on Paul. Paul ~nd the Law; S. lxiiilxxii), die Wolfgang Stegemann ins Deutsche übersetzt hat: J.D .G . Dunn, Die neue Pnlus-Perspektive, KuI 11 (1996), 34-45. Eine komprehensive Gesamtdarstellung der paulinischen T heologie hat Dunn dann in seinem monumentalen Paulusbuch (808 Seiten! ) vorgelegt (The Theology of Paul the Aposde, Grand Rapids, MI/ Cambridge 1998). 41 In diesem Sinne kann er Paulus dann auch als »Apostel Israels« bezeichnen: J.D .G. Dunn, Paul: Apostate or Apostle of Israel? , ZNW 89 (1998), 256-271. 42 »These identity markers identified J ewishness because they were seen by the Jews themselves as fundamental observances of the covenant. They functioned as badges of covenant memb ership . A member of the covenant people was, by definition, one who observed these practices in particular«; und : •> They are the proper re sponse to God's covenant grace, the minimal commitment for members of God's people« (The New Perspective on Paul, 192.194). 43 »The phrase >works of ehe law< .. . is a fairly restricted one : it refers precisely to these same identity markers described above, covenant works those regulations prescribed by the law which any good Jew would simply take for granted to describe what a good Jew did« (Dunn, The New Perspective cn Paul, 194) . 44 Dunn, The New Perspective on Paul, 197. 45 Dunn, The New Perspectivc on Paul, 200ff.; Zitate 201f.; 202 (meine Übersetzung). 46 Buhmann, Theologie, 242. 47 S.o. - Hierin sah A. Schweitzer bekanntlich die Unmög lichkeit begründet, aus der Rechtfertigungslehre eine ZNT 14 (7. Jg. 2004) M ichael Wolter Eine neue paulini sche Per spe ktive Ethik abzuleiten (Die Mystik des Apostels Paulus, 287: »In der Lehre von der Rechtfertigung aus dem Glauben verhalten sich die Erlösung und die Ethik zueinander wie zwei Straßen, von denen die eine bis zu einer Schlucht und die andere von dieser Schlucht weiter führt. Es fehlt aber die Brücke, um von der einen auf die andere zu gelangen« (s. auch ebd. 220). 48 Vgl. dazu M. Wolter, Die ethische Identität christlicher Gemeinden in neutestamentlicher Zeit, in: W. Härle/ R. Preul (Hgg.), Woran orientiert sich Ethik? . Marburger Jahrbuch Theologie. XIII (MThSt 67), Marburg 2001, 61-90. "' Dass die paulinische »Religionsstruktur« sich von der jüdischen dadurch unterscheide, dass sie, wie Sanders meint, eine Religion nicht des »staying in«, sondern des »getting in« sei, ist nicht maßgeblich, denn das Christentum der paulinischen Zeit ist immer noch eine Bekehrungsreligion, während das Judentum, das in den von Sanders interpretierten Texten erkennbar wird, längst zu einer Traditionsreligion geworden ist, wozu das Christentum dann natürlich auch wird; die ersten Indizien hat Sanders ja schon bei Paulus nachweisen können. TANZ - Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter ~tdan \lkicr, Jürgl'll Zangcnlwrg (lft,g 1 Zeichen aus Text und Stein Sll! dien auf dl'm \\l'g 1u einer \rchiiologil' des \euen Testaml'lllS Stefan Alkier / Jürgen Zangenberg (Hrsg.) Unter Mitarbeit von K. Dronsch und M. Schneider Zeichen aus Text und Stein Studien auf dem Weg zu einer Archäologie des Neuen Testaments Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter 42, 2003, XVI, 535 Seiten, div. Abb. u. Tab.,€ 78,-/ SFr 13 1 ,- ISBN 3-7720-8007-3 Der rapide Fortschritt der archäologischen Forschung im östlichen Mittelmeerraum, vor allem jedoch im Palästina der griechisch-römischen Zeit, ist für fachfremde Personen kaum noch zu überblicken. Nicht nur die Qumran-Forschung hat erwiesen, dass die Ergebnisse von Grabungen, Surveys und von verschiedenen archäologischen Spezialforschungen gerade für die neutestamentliche Wissenschaft Quellen ersten Ranges darstellen, die immer wieder die Art und die Ergebnisse der Textauslegung nachhaltig beeinflussen können. Der Band stellt die Breite der gegenwärtigen archäologischen Forschung zur neutestamentlichen Zeit exemplarisch und auch für Fachfremde verständlich dar und bemüht sich zugleich darum, das hermeneutische Theoriedefizit archäologischer Forschung aufzuarbeiten. Eine prägnante Auswahlbibliographie am Ende jedes Beitrages regt zur eigenen Weiterarbeit an; ein ausführliches Register erleichtert die Orientierung. A. Francke Verlag Tübingen und Basel ZNT 14 (7.Jg. 2004) 9 I Zum Thema ' i • Margaret M. Mitchell Paulus in Amerika 1 Wer ist Paulus he te in Nordamerika? Ich beginne meine Erwägungen dieser p rovozierenden Frage m: t z r ei Testbeispielen w s meiner eigenen Erfahrung als amerikanische G elehrte, die tätig ist u.a. in d er Erforschung und L ehre des Corpus Paulinum. Bevor wir im RaLmen einer allgemeinen Einführung in die p aulinischen Schriften für College- und Magis terstudiengän ge an der Universität Chicago zur Textlektüre kommen, zeige ich zunächst der Teilnehmergruppe eine Reihe von 25 künstlerischen Darstellungen des Pau lus, und zwar kommentarlos . Wenn die Studierenden diese Darstellungen si-hte n, die zwischen dem 4. J h. und dem 20. Jh. entstanden und auf Holz, Elfenb ein, Fresken, M etall oder Stein fe stgehalten sind, stelle ich die Fra ge: »Welches Bild kommt Ihrer Vorstellung von Paulus am nächsten, und w elch es ist ih r am entfrrntesten? « Typische Reaktione auf diese Darstellungen reichen von Langeweile (in Bezug auf einige der mittelalterlichen an sk riptillus trationen) zu begeisterter Zustimmung (Rembrandts Darstellung des Paulus im Gefä gnis) oder Aha-Erleb nissen des Wiedererkennen s bis zu Schock-Reaktionen (beispielsweise auf Lovis Corinths wild um sich blickenden Paulus [Kirche von Tapiau]), zu Gelächter im Fall einer halbsatirischen Behandlung von Paulus (Mozar ; ; .b isch es Fresco in der Kirche von San Procob in Naturno aus derr, 9.Jh.). Im Anschluss an di e B i.l dbetrachtu ng ergib t sich immer eine interessie rte und lebendige Diskussion, bei der deutlich wird, wie sehr sich die Studierenden an ihre übe.: -nommenen Paulusbildern kla mmern, ohne dies e hi: 1.t erfragt zu haben bzw. ohne sich selbst über den eigenen Standpunkt im klaren gewesen zu seir: .. Einige Stu dierende bringen alljährlich ihren Argwohn Paulus gegenüber zum Ausdruck, insbesondere gegenüber den berühmt berüchtigten Auss gen gegenüber Frauen, Ho mo sexu ellen, Sklav 'n und Juden, die mit Paulus assoziiert werd en. N immt man dieses päd agogische Experiment als Maßstab, wird se hr deutlich, dass es viele »Pauluse« im Amerika des Jahres 10 2004 gibt. Ebenso aufschlussreich ist es, dass es keine amerikanischen Künstler in meiner Sammlung klas sischer Paulusdarstellungen gibt. Es gibt keine Paulusentsprechung zu dem berühmten J esusporträt von W ARNER S ALLMAN , das er im Jahr 1924 in Chic ago ersann und das dann dank des modernen Marketings in so vielen amerikanischen Wohnungen hing und viel dazu beigetragen hat, die auf Jesus gerichtete Frömmigkeit des amerikanischen Christentums über fünf Generationen zu formen. 2 Der amerikanisch-kulturelle Kontext, in dem meine Lehrveranstaltung auf der Südseite Chicagos eingebettet ist, hat wohl eine angemessenere Einschätzung auf Seiten der Bevölkerung kein Interesse an Paulus, zumindest im Vergleich mit dem Interesse an Jesus, der mit ironischer Regelmäßigkeit des liturgischen Kalenders in der sekularen Presse erscheint und zwar allösterlich auf den Titelseiten von Newsweek, Time Magazine, U.S. News und World Report mit einer Übersicht über die (neue od er weniger neue) Erforschung des historischen Jesus. Im Gegensatz dazu erinnere ich mich nicht, dass es seit meiner Zeit Paulus jemals auf die Titelseiten irgendeines Wochenmagazins geschafft hätte. Die Hinwendung des Jesus-Seminars zu den Paulusbriefen hat nicht das geringste Interesse bei der populären Presse hervo rgerufen. Besonders in letzter Zeit ist Jesus in den Mittelpunkt der amerikanischen Massenmedien gerückt, und zwar aufgrund einer ironischen Trilogie kultureller Werke, welche in die populäre Kultur und Vorstellungswelt hineingeplatzt sind: Das »Jakobus-Ossuar«, The Da Vinci-Code und MEL GrnsoNs Film »Die Passion Christi«. Jes us ist auf der Hauptbühne der amerikanischen Massenmedien erschienen. Die Abwesenheit von Paulus wird anschaulich demonstriert durch den überwältigenden Erfolg der Konspirations-Theorie des Da Vinci Code (einer Novelle von DAN BROWN, deren Auflagen die sieben Millionen- Grenze erreicht haben), wonach die Evangelien als die älteste und wichtigste christliche Literatur gelten und über welche der Kampf über Jesu ZNT 14 (7. Jg. 2004) Margaret M. Mitchell Margaret M. Mitchell lehrt als Associate Professor for New Testament and Early Christian Literature an der University of Chicago. Ihr Interesse gilt der Erforschung der Bezüge zwischen frühchristlicher Literatur und der griechisch-römischen Umwelt (Epistolographie, Rhetorik), dabei liegt ihr besonderes Augenmerk auf den paulinischen Briefen und ihrer Nachwirkung in der Alten Kirche u . a. bei Johannes Chrysostomos . Weitere Informationen unter: http: / / divinity. uchicago.edu/ faculty/ profile_mmitchell.html Göttlichkeit und Menschlichkeit stattfand. Darüber hinaus war Brown allem Anschein nach fähig, Millionen von Amerikanern dazu zu bewegen zu glauben, dass Konstantin der Große der erste gewesen sei, der Jesus für den Sohn Gottes hielt eine angesichts der paulinischen Briefe unhaltbare Annahme. Aber der amerikanische Berufszweig der Bibelwissenschaftler, der durch die SOCIETY OF Brn- LICAL LITERATURE (= SBL) repräsentiert wird, stimmt wie mein zweiter Testfall zeigt nicht mit der amerikanischen populären Kultur über ein. Den größten Teil der Dekade der 90er war ich Mitglied und zusammen mit STEVEN KRAFT- CHICK Vorsitzende des Vorbereitungsteams der Paulusbriefsektion der SBL, deren Mitglieder nicht nur aus nordamerikanischen Bibelwissenschaftlern, sondern zunehmend aus der ganzen Welt stammten. Das Programm-Komitee wies unserer Sektion eine Ausnahme zwei zweieinhalbstündige Sitzungen für jedes Jahrestreffen zu, doch wohl in Anerkenntnis des ungebrochenen Interesses, das Paulus unter den Mitgliedern erregte. Dies lässt sich deutlich bestätigen durch die durchgängig hohen Besuchszahlen unserer ZNT 14 (7. Jg. 2004) Margaret M. Mitchell Paulus in Amerika Sitzungen. Es fiel in den Bereich unserer Verantwortung, neue Untersuchungen zu Paulus und seinen Schriften den Mitgliedern von SBL zu gänglich zu machen sowie diesbezügliche Forschungen zu sichten und zu unterstützen. So kam jeden März ein Paket mit Vorschlägen bei uns an, aus welchem ich zusammen mit vier Kollegen des Komitees die Aufgabe hatten, ein Programm von zehn aus 40-50 Vorschlägen zusammenzustellen. Und Jahr für Jahr ergab sich dasselbe Muster nämlich kein Muster! Die Auswahl aus diesen Vorschlägen gestaltete sich noch schwieriger, weil es sich hierbei um ein Potpourri verschiedenster Ansätze und Anliegen handelte. Obwohl alle diese möglichen Vortragenden durch ein großes Interesse an Paulus miteinander verbunden wa ren, so gab es doch größte Unterschiede bezüglich ihrer Definition des Forschungsgebietes paulinischer Studien und bezüglich der Ansicht darüber, was eine interessante und beantwortbare Untersuchungsfrage ausmache. Typisch war es, einen Vorschlag zu erhalten, der Paulus und Aristoteles unter dem Aspekt der Organisation eines Haushaltes vergleichen wollte, direkt anschließend einen Vorschlag, bei dem es inhaltlich um Paulus und zeitgenössische Debatten über sexuelle Vorlieben gehen sollte, gefolgt von einem anderen über die Frage, ob der Galaterbrief eine deliberative oder forensische Rhetorik bietet, daran anschließend eine lexikalische Untersuchung zu pisteuein (gr. »glauben«) bei Paulus, Josephus, Philo und Plutarch, welche möglich wurde durch die Suchmaschinen von TLG, 3 und, unverzichtbar, ein Antrag die Frage zu beantworten, was Paulus, mit der Aussage »Christus ist das Ende des Gesetzes« (Röm 10,4) wirklich meinte! Aus diesem Knäuel von Vorschlägen stellte sich uns die Herausforderung, ein Menü zusammenzustellen, welches zumindest akzeptabel zu werden versprach für den Fall, dass es an Übereinstimmung und Zufriedenheit unter den Konferenzteilneh mern mangelte. Die Situation aus dem Jahr 2004 ist in dieser Hinsicht noch bemerkenswerter. Zur paulini schen Briefsektion (welche in ihrem Aufruf zu Vorträgen deutlich macht, dass sie Vorlagen akzeptiert über »jegliches Thema in jeglichem Brief, der den Namen des Paulus trägt«), nun unter dem Vorsitz eines britischen Wissenschaftlers QOHN BARCLAY), haben sich vier komplette 11 Z um T he ma Programmeinhe: ten des jährlichen SBL-Meetings hinzugesellt, in de n en es direkt um f aulinische Studien geht: »Die u mstrittenen Paulin en« (Vorsitz: J ERRY SUM , EY ); »Paulus und d~e Politik« (Vorsitz: RICHARD _ . H0RSLEY, CYN TI-IIA KITT- REDGE); »Paulinis ch e Soteriologie« ( / orsit z: A. KATHERINE GR IEB ) und »Der Römerb r ief in der Geschichte und in d en Kulturen « (Vo : s itz: LAU- RE NCE L. W E LB 0 RN) . Obw ohl es hinsichtlich der Beteiligung einige -C.berlapp ungen gib t, hat doch jede Ein heit ihre n fe sten Teilnehmerk reis, und jede Einheit spiegelt ein gemeinsame, Interesse wider, einen eig ene n Bezug zur Sache und einen eigenen methodo lo gischen Zugang zu finden, sowie die Überz eug un g, dass die allge o eine paulinische Br iefsei t ion fü r diese spezie llen Blickwinkel nichts austr ägt, sei es aus intelle ktuellen, praktischen od er me thod ologischen Gründen. Dies lässt vermu ten, dass es inner halb : ler amerikanischen Paulusforschung einen Mangel an Konsens gibt hinsich lich der Frage, worauf die Energie verwandt w e rd en soll bzw. worau f man sich konzentrieren soll. Aber ebenfalls spie gelt diese Situation ein auß erge wö h nliches Engageme: : 1t der SBL wider, jedes dieser pau linischen P rojekt e zu unterst ü tzen, u nd z wa r p rinz ipiell wie auch faktisc h . Je nac h P e rspekt ive mag m an dies als Zeichen eines 1 endigen u nd vorwärtsschreit enden Fo rschungsdiskurses betrach ten o der als ein Zeichen sich ,on einande r abschott c: nder Gesprächsgruppen , o bw o hl m an natürli ch ersteres wünscht . Doch wa s h at dieses ganze Unternehmen eigentlich geleistet? Im Folgender. werde ich sechs unterschiedliche Trends innerhalb der Paulusfo rschung in Amerika und Kanada inn er h~ lb der letzten Jahrzehnte h erausarbeiten, welche in unte rschiedlicher Hi nsi cht mit den oben genan nt en SBL-Sektionen übereinst immen und an d er erseits deren Gre: : 1zen ü berschreiten. Was all die se Richtunge n mi teinander verbin d et, ist m. E . die jew eilige Aus.vahl einer bestimmt en Gr up p e v on L ektürepartnern (antik, modern, dazwischen), mit d enen der h eu tige F orscher Pau lus begegn et und ihn in terp : etiert. Die Interpr e tat i on st ellt hier bei imm er ein e Form der Begegnu n g zw : sch en einem Leser 1: .nd Pau lus dar,4 de r d urch diese Texte irgendwie spricht und konstrui e rt wi: d, un d zw ar immer in ein em weiteren oder engeren Feld von Kon versat ionspartnern. lnderr _sie dieses tun, sind no rdamerika- 12 Rem: : irandt, Paulus im Gefängnis, 1627, Öl auf Eiche: 1.holz nische Paulusforscher nicht einzigartig und sind auch ni cht nur mit sich sel bst im Gespräch, aber es erge i: : i en sich einige identifizierbare Trends, die es wert sind, näher betrachtet zu werden. 1. Literarische: Analysen der Paulus-Briefe Von den euopäischen formgeschichtlichen S: udien geprägt, haben amerikanische Exegeten sich seit de n 7Cern mit der literarischen Analyse der pau linischen Briefe befasst, wobei sie sowohl antike Brieftheorien als auc h antike Briefe bzw. antike rhe: orische Theorien und entsprechende Literatur herangezogen haben. Erstere St1: .dien gingen he r vor aus der Arbeit von ABRAHAM MA : : ., HERBE von der Yale Universität und seinen Studente: : 1 (sie nahmen damit die wichtige Arbeit von PAUL SCHUBERT u.a. auf). Sie machten e, sich zur Au i gabe, antike Werke über Brieftheorien zu sammeln und zu übersetzen. Auf dieser Grundlage ve: : -suchten sie, bereits existierende Zuordnungen ant iker Briefe zu verfeinern. 5 JOHN WHITE u.a. ·1 on der SBL-Arbeitsgruppe über antike Brie: : e leisteten viel, um diese Anliegen im Bewusstsein zu heben. 6 Heute lesen alle ernsthdt an Paulus interessierte Studenten die Handbi: .cher ZNT 14 (7 . Jg. 2004) von Demetrios und Pseudo-Libanios und beißen sich die Zähne aus sowohl an den Briefen der Oxyrhynchus Papyri als auch an den Platon und Demosthenes zugeschriebenen Briefen, als auch an denen, die Sokrates, Diogenes und anderen Kynikern zugeschrieben werden. 7 Die weite Palette antiker Briefschreiber ist heutzutage ein nicht mehr wegzudenkender Teil innerhalb neutestamentlicher Forschung und Lehre zu den paulinischen Briefen. HANS DIETER BETZ' Galater- Kommentar aus dem Jahre 1979 war ein Pionierwerk für die Untersuchung paulinischer Briefe nach den Prinzipien antiker Rhetorik, das ein ganz neues Feld der Lektüre eröffnete. Während die Wurzeln dieser Untersuchungen bei JOHANNES WEiß und RU- DOLF BULTMANN liegen dürften, diskutierte Betz Margaret M . Mit chell Paulus in Amerik a Paideia, Formen ethischer Unterweisung und ihrer Beziehung zu tatsächlichen Lebenssituationen, die Mechanismen der Komposition und Publikation paulinischer Briefe und ihrer Bedeutung für die Untersuchung von Autorschaft und Interpretation sowie endlich die Verbreitung und die antike Formation einer christlichen literarischen Kultur. Ein bedeutendes Nachschlagewerk, welches eine leichte Einstiegsmöglichkeit hierfür bietet, wurde Ende 2003 von DAVID. E. AUNE 9 veröffentlicht. 2. Sozial-geschichtliche Untersuchungen Amerikanisches Interesse an den soziologischen Dimensionen des frühen Christentums geht paulinische Rhetorik nicht nur hinsichtlich stilistischer Merkmale, sondern bezog Fragen rhetorischer Gattungen und argumentativer Dispositionen mit in seine Untersuchungen ein. Nun, 25 Jahre nach seiner Veröffentlichung, sind Bände von rhetorischen Analysen der Briefe dem Kommentar nachge- »Diese Art der direkten zurück auf meine Vorgänger an der Universität von Chicago (die »Chicago-Schule«, zu der SHIRLEY JACKSON CASE und SHAIL ER MATHEWS zählen). 10 WAYNE MEEKS von der Yale University begründete eine neue Richtung dieser Forschungsart mit seinem 1983 erschienen Werk »The Zusammenarbeit zwischen Archäologen und Neutestamentlern, und zwar sowohl im Feld als auch im Seminar, ist von grundlegender Bedeutung für die Vertiefung einer historischen Forschung.... « folgt. 8 Während die Methode selbst Anlass für Kontroversen bietet (einiges davon ist brauchbar, anderes basiert mehr auf theologischen Rückzugsgefechten), ist doch festzustellen, dass die Frage danach, wie Paulus seine Argumente zusammenstellte, und wie seine frühesten Zuhörer seine Logik aufgefasst haben könnten, bzw. was der intendierte Effekt seiner Argumente gewesen sein könnte, zur bleibenden Standardfrage innerhalb der amerikanischen Paulusforschung geworden ist. Wiederum sei gesagt, dass der »Kanon« antiker Literatur in einer solchen Weise erweitert worden ist, dass ernsthafte Studierende mehr als bloß eine oberflächliche Bekanntschaft mit antiker Theorie und antiker Briefliteratur, beispielsweise von Autoren wie Demosthenes, Cicero, Dionysius von Halicarnassus, Quintillian, Dio Chrysostomus und Aelius Aristides gemacht haben müssen. Fragen, welche den neueren Generationen aufgegeben sind, betreffen die Beziehungen zwischen Epistolographie und Rhetorik in der griechisch-römischen literarischen Kultur und ZNT 14 (7. Jg. 2004) First Urban Christians«. Meeks zeigte deutlich, dass Neutestamentler von heutigen soziologischen Theorien zu lernen hätten, worauf auch GERD THEißEN zur selben Zeit in Deutschland hinwies. Während Einzelheiten von Meeks eigener Rekonstruktion des sozialen Standes der frühen Christen noch immer Anlass zur Diskussion geben, bewirkte sein Werk doch, dass die Diskussion über Paulus sich hinwegbewegte von einer Konzentration auf den Apostel selbst zu den weiteren Zirkeln seiner Missionskollegen und vor allem seiner Konvertiten bzw. ihren Motivationen und bedeutungsproduzierenden Mechanismen. 11 In einer Studie mit dem Titel »Portraits of Paul« (1996) haben JE ROME NEYREY und BRUCE MALINA versucht, spezifische theoretische Modelle auf Paulus in seinem kulturellen Umfeld anzuwenden; sie insistieren darauf, dass es einen besonderen Typus einer mediterranen Personalität gegeben hätte, der sich grundsätzlich unterscheiden würde von Menschen in der Moderne. Andere haben einen mehr sozialgeschichtlichen Zugang bevorzugt, der von allgemeinen 13 Z 1 L1m Thema ökonomischen Ge ebenheiten aus au f Paulus zurückschließen möchte . Man denke hier an RONALD HocKs St ud ien zur paulinis: : hen Zeltmacherei oder PAUL SAMPLEYs Analyse der finanziellen Arrangements, die Paulus mit seiner_ Kirchen in Philippi vereinbarte. 12 STE V EN F3.IESEN hat kürzlich versucht, zu Fragen des sozio-ökonomischen St atus paulinisc her Gemeinden zurückzukehren. Nach einer Überzeugung lebten die meisten der paulinis chen Christen unt er bzw. am Existenzminimum. Seine Untersuchung basiert auf einer Integration prosopographischer Evidenz innerha lb der chris tlichen literarischrn Quellen über Mitglieder pa linischer Gemeinden, die in den Kontext materieller Demographier. und theoretischer Erwägung n über ökonomische Realitäten der imperialen Periode gesetzt we : -d en. 13 Wir können erwarten, ass sich diese Deba tte über Armut und die pa ulinischen Kirchen fortsetzt. Soziologische St dien über die paulinschen Gemeinden haben sich immer an Kor : nth orientiert, da es die besten Möglichkeiten für solche Analysen bietet. Da liegt an dem glücklichen Zusammenfluss von textuellen Daten un: i einer gut ausgegrabenen und dokumentierten archäologischen Fläche. Ei: ie Konferenz, die von ehemaligen Studenten von HELM UT KOES TER (Harvard University) zum Them a » Urban Religion ~n Ancient Korinth« im Jahr 2002 organisiert wurde und welche die wichtigst en Ausgräber in Ko rinth und lsthmia mit Fac le ten über frühes C h ristentum zusammenbrachte, mag als wichtige Errungenschaft begrüßt werd en und als Beispiel iür weitere interdiszipl inär e Anstrengungen die: ien. D iese Art der direkten Zusammenarbeit von Archäologen und Neutestamentlern sowohl im Feld als auch im Seminar, ist von grundlegenci.er Bedeutung für die Ve rtie i ung einer hi stori sc hen Forschung, welcher daran gelegen ist, mehr als nur einen ersten Kon t akt mit den Realien der paulinischen Stätten zu etablieren. 14 3. Religionsgeschichte Die einflussreich ste der amerikanischen Studien zur Religionsgeschichte bleibt E.P . SANDERS' Studie aus dem Jahre 1977 mit dem Titel »Paul and Palestinian Judaism: A Comparison of Patterns of Religion«. Dieses Buch hat ausdrück lich die Art 14 Rem: >randt, Selbstporträt als .~poste! Paulus, 1661, Öl auf Eichenholz und Weise in Frage gestellt, wie christlich-theolo gische Überzeugungen die U: itersuc h ung des Judentums c.US dem 1.Jh. n.Chr. bestimmt kben, nämlich als bewusster oder unbewusster Versuch, die Predigt : ! es Pau lus, i: isbeso: idere seine Rede von der Re; : : ~1.tferti gunr als augenscheinlich höherwertig darzustellen. Es ~ar das Ziel von Sanders, eine Theologie anzugreifen, die sich als Ges: : hi: : htswissens chaft a-.: .sgab Lnd das Judent um des 1. Jh. n.Ch: -. als legalistisches Religionssystem beschrieb, welches in Werkgerecitigkeit gründete. Die Schockwellen dieses Buches kön n en heute noch vernommen werden, und noch immer erschein: ei: ie e: 1 - : : >rme Mense ..-on Untersuchungen, welche versuchen, die He r auforderu ng von San ders anzunehmen und die Si, : ht des Gesetzes und seines Ortes, so wie es Paulus und seine Glauberngenossen sahen, neu zu bedenken . Wir kön nen hier : fiese Debatten nicht wieder aufrollen, aber zwei Beobachtungen sollen mitgeteilt werden. Es ist doch erstaunlich, dass d~e D: skussion von Sanders' F.ekc-nstruktion dc>s Bundesnomismus als Pattern c.er jüdischen ReEgion de, 1. J h. n.Ch r. besonc.ers von Forscherr_ aufgegriffen wurde, die ein klares lr.teresse an pa ·.: .~ in.i.scher und moderner ZNT 14 (7. Jg. 2004) christlicher Theologie haben. 15 Bei einer Konferenz Sanders zu Ehren im Jahr 2003 war es interessant, seine eigene von ihm so beschriebene - Odyssee zu hören, bis hin zu seiner Paulusinterpretation als Teil seines ungebrochenen und glühenden Interesses an einer religionsgeschichtlichen Untersuchung des alltäglichen religiösen Judentums (und Christentums) im 1.Jh. n.Chr. So erfolgreich Sanders in seinem Bemühen der Demaskierung einer als Geschichtswissenschaft getarnten Theologie innerhalb der Paulus-F orschung gewesen ist, so ist doch sein Werk ironischerweise in das Netz theologischer Wettkämpfe gefallen, anstatt der Eruierung der Geschichte der mediterranen Religion zu dienen. Als zweite Beobachtung sei angeführt, dass die Art von Untersuchungen, wie sie Sanders in einer Linie mit seinem Lehrer W.D. DAVIES so zuverlässig ausgeführt hat, d.h. eine sorgsame Textanalyse der Mischna und anderer rabbinischer Traditionen sowie der Schriftrollen vom Toten Meer heute innerhalb der amerikanischen Paulusforschung sehr selten geworden ist (wichtige Ausnahme DANIEL BOYARIN, 16 der sich von rabbinischen Studien ausgehend Paulus zugewandt hat). Und es ist nicht ersichtlich, woher solche Forscher in Zukunft kommen werden d.h jene, die kompetent hebräische und aramäische Quellen lesen können und ebenso die Zeugnisse eines griechisch schreibenden und sprechenden Judentums, einschließlich Paulus. Neben den Untersuchungen von Sanders in Bezug auf die religiöse Praxis und die Lehre des Paulus im Kontext des Judentums des 1.Jh. n. Chr. hat die amerikanische Paulus -Forschung in den letzten Jahrzehnten einen vielleicht noch stärkeren Akzent auf den hellenistischen Hintergrund des Paulus gelegt, die den Apostel zu einem Teilnehmer der religiösen, kulturellen und philosophischen Welt der griechisch-römischen Antike machte. Hier ist HANS DIETER BETZ am einflussreichsten gewesen, indem er sich auf Paulus konzentrierte als den Gründer einer neuen Religion, die durch Paulus definiert und ritualisiert wurde. Darüber hinaus sind die wichtigen Beiträge von Betz zu nennen zum »Corpus Hellenisticum Novi Testamenti«, in welchem es darum geht, Kontaktstellen zwischen der frühchristlichen und der griechisch-römischen Literatur zu erhellen. Schließlich ist es Betz zu verdanken, dass er die ZNT 14 (7.Jg. 2004) Margaret M. Mitch e ll Paulus in Amerik a Fragen und Ressourcen innerhalb der neutestamentlichen Forschung lebendig gehalten hat, die ihre Wurzeln in dem Projekt »Antike und Christentum« (initiiert von FRANZ JOSEPH DöLGER) haben. 17 ABRAHAM MALHERBE hat einen großen Einfluss mit seinen Forschungen ausgeübt, die die philosophischen Konturen paulinischer Aussagen betonen, so wie sie sich im Kontext der griechisch-römischen Popularphilosophie der frühen Kaiserzeit darstellen. In wichtigen Arbeiten versuchte Malherbe, die paulinische Praxis der Seelsorge zu erhellen, indem er sie mit paränetischen Ermahnungen solcher Philosophen wie Dio Chrysostomus verglichen hat bzw. mit Seneca's epistulae morales. Dieses Forschungsprogramm ist weiter geführt worden bei der sehr aktiven SBL-Sektion »Hellenistic Moralists and the New Testament« unter der Leitung von L. MICHAEL WHITE von der University of Texas at Austin sowie JOHN FITZGERALD von der Miami University. Diese Sektion hat sich einem eindrucksvollen Übersetzungs- und Interpretationsprogramm gewidmet, welches griechisch-römische Belehrungen über Freundschaft und in den vergangenen Jahren die allegorische Interpretation miteinbezogen hat. Beides hatte einen bedeutsamen Einfluss auf die paulinische Interpretation beispielsweise hinsichtlich der Bewertung des Phil als »Freundschaftsbrief« oder in Bezug auf die paulinische Allegorie in Gal 4,2 lf. 18 Eine kürzlich erschienene Sammlung von Studien, herausgegeben von J. PAUL SAMPLEY, bietet eine Synthese dieser Art von vergleichenden rhetorisch-philosophischen Studien, in der Paulus in den klassischenphilosophischen Traditionen verortet wird. 19 Eine Überwindung der scheinbar parallelen Zugänge zu Paulus als Jude, als Grieche bietet das Buch »Paul Beyond the Judaism / Hellenism Divide« (2001), ein Konferenzband, der zurückgeht auf die Zusammenarbeit von amerikanischen, britischen und skandinavischen Forschern unter der Leitung von TROELS ENGBERG-PEDER- SEN. Zukünftige Paulusforschung wird nicht länger den Hintergrund von Paulus aufspalten können als »entweder Jude oder_Grieche« (um Gal 3,28 schlecht zu paraphrasieren). Die Erfordernisse stellen sich somit als äußerst anspruchsvoll dar: alle Paulus Studierenden müssen alles lesen die Literatur und die dokumentarischen Überreste des palästinischen und des hellenis- 15 Z111m Thema tischen Judentums, d er Griechen und Römer, deren kultureller Einfluss die mediterra: i.e Welt im gendeiner Weise verschieder: .e Vorverständnisse an den Tag legte, was denn »paulinische Theolol .Jh. dominierte . Die meisten Doktorprogramme haben ihre jeweiligen Schwerpunkte, aber die meisten Stu enten in diesen Programmen belassen es bei einer intensiveren Kenntnisnahme von ein oder zwei Forschungs methoden, wogegen andere Ri htungen übergangen od er abgelehnt werden. Nach me iner Meinung besteht die w ichtigste zu bewältigende Aufgabe da- »Nach meiner Meinung besteht die w ichtigste zu bewältigende Aufgabe darin, Doktoranden so auszubildenden, dass sie keine voreilige Schlüsse über Paulus ziehen, die in ihrer eigenen gie« sei. Die SBL-Gruppe zur paulinischen Theologie ermöglichte einen interessanten und erheJenden Gesprächskreis, ins·: : >esondere, weil die Teilnehmer sich wieder mit den Texten beschäftigen mussten, so wie es von der Methodologie anvisiert war. In den Vordergrund rückte auch eine Neubesinnung auf die Bedeutung von »pistis Jesou« und zwar als »Glaube von Jebeschränkten Bekanntschaft mit dem. weiten Feld der antiken Literatur, Kultur, Philosophie una Religion gegründet sind.« rin, Do toranden so auszubilden, dass sie keine voreiligen Schlüs se üb er Paulus ziehen, die in ihrer eigenen beschränkten Bekanntschaft mit dem weiten F eld der antiken Literatur, Kultur, Philosophie und Religion gegründet sind. 4. Paulinische Th eologie In den späten 90 ern at die SBL eine Arbeitsgrup pe zur paulinischen Theologie gefördert, welche sich über einige Jahre getroffen hat Lnd sich in eine fundierte Srndie zur paulinis chen Theologie vertiefte . Ergebnis dieser Bemühunge n sind vier über eine Periode von sechs Jahr en erschienene Bände, welche die Methodologien, die d ie Gruppe anwandte, repriisentieren: Auf die intensive U n tersuchung der Theologie einzelner Briefe oder Briefgruppen felg te als zweiter Schritt die Frage nach einer gesamtp aulinischen Synthese. 20 Diese Vorgehensweise is t gewählt worden, uo die Gefahr einer vorsc hnellen Harmonis ie rung des paulinisch en Drnkens zu minimalisieren und um die Situationsbezogenheit der »zufälligen Theologie« de s Paulus ernst zu nehmen. Ebenfalls liegt hier ein demokratischerer und ökumen ischer Zugang innerhalb der Bibelwissenschaften vor, inso fern als sowohl ältere als auch jüngere Forscher beteiligt sind und nicht nur eine einzelne Denomination oder demographische Größe die Diskussion dominierte. Die Arbeit dieser Gruppe re präsentiert einen Schnappschuss der Probleme und Themen, w elche sich im Rahmen d es S: .: hreibens einer paulinischen Theologie stellen. Es gab keine Sitzung oder Vortrag, welche nicht in ir- 16 sus Christus« in Abgrenzung zu der eher traditionellen Wiedergabe »Glau be an Jesus Christus«. 21 Obwohl wahrscheinlich nur wenige ihre Ansichten änderten, die Arbeit dieser Gruppe war doch die intensivste und öffentlichste methodologische Selbstüberprüfung innerhalb der amerikanischen Paulusforschung unserer Zeit. Dabei handelte es sich in bestimmter Hinsicht um ein besonderes nordamerikanischen Bemühen (unter Einbeziehung britischer und skandinavischer Forscher), erkennbar an ihrem gesprächsorientierten Modell und am anhaltenden Optimismus bezüglich der Resultate von Gemeinschaftsarbeit. Der Einfluss des »contingency model« ist dabei ziemlich stark gewesen, mit dem Ergebnis, dass in den letzten Dekaden keine einzige umfassende synthetische Behandlung einer paulinischen Theologie durch einen einzelnen amerikanisch en Forscher unternommen worden ist. Aber weitere Faktoren seien ebenfalls reflektiert. Einer ist die zunehmende Trennung von biblischen Studien innerhalb der amerikanischen Doktorausbildung von Theologie und Philosophie. Die Methoden theologischen Arbeitens und das grundsätzliche Vertrauen in sie sind nicht mehr allzu sicher, wie das noch für frühere Generationen war. Aber ein weit-erer Grund ist, dass sich diejenigen, die sich mit : .paulinischen Theologien« beschäftigen, nicht mehr in innerkonfessionellen Zirkeln bewegen, sondern in einem weiteren Netz von Forschern und interdenominationellen Lesern, inklusive solcher, die die Bezeichnung Theologe vehement von sich weisen würden. Die ökumenische Bewegung hat sowohl kritische biblische Forschung in Nordamerika ZNT 14 (7. Jg. 2004) angeregt als auch von ihr profitiert. Ein Resultat ist z.B. die erstaunliche Annäherung von Protestanten und Katholiken (wie auch Juden) innerhalb nur einer Generation. Die Ergebnisse und der anhaltende Einfluss einer solchen Arbeit sind bedacht worden auf einer Konferenz im Jahre 2002 an der Notre Dame Universität zum Thema »Rereading Paul Together«. Hier waren biblische Forscher und Theologen zusammengekommen, um die gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre als Errungenschaft zu zelebrieren, die 1999 in Augsburg/ Deutschland vom Lutherischen Weltbund und der römisch-katholischen Kirche unterzeichnet worden war. Es wurde die Frage gestellt, was dieses ökumenische Klima für Margaret M. Mitchell Paulus in Amerika mit ihrer Integration rhetorischer Analysen bei der Frage nach den korinthischen Prophetinnen zu nennen, während sich die Arbeit von MARGA- RET MACD0NALD und DENNIS MACD0NALD der Frage nach der »antifeministischen« Stellung des Autors der Pastoralbriefe widmet, andererseits die Studien von MARY ROSE D' ANGELO über die augusteische Ehegesetzgebung und die Paulinisten der späteren Generation. 23 Zudem ist ein erhöhtes Interesse an Familienthemen innerhalb des frühen Christentums, wie es von CAR0LYN ÜSIEK und DAVID BALCH verfolgt wird, zu verzeichnen.24 In der letzten Dekade sind einige wichtige Nachschlagewerke zur sich weiter entwickelnden feministischen Exegese entstanden, »Die ökumenische Bewegung hat sowohl kritische biblische welche wichtige Grundlagen für weitere Forschungen bieten. 25 die Lehre der paulinischen Theologie in Ausbildungsstätten in ökumenischen Kontexten bedeutet. Es ist vielleicht typisch für die heutige amerikanische Paulusforschung, dass es nicht mehr Forschung in Nordamerika angeregt als auch von ihr profitiert.« Die paulinische Lehre über Sklaven und Sklaverei ist ebenfalls viel bedacht warlänger möglich ist, nur auf Grund der institutionellen denominationalen Zugehörigkeit der Vortragenden auf ihre eigenen Positionen und Glaubenshaltungen zu schließen. Die beständig zunehmende interreligiöse Zusammensetzung der Fakultäten, Universitäten und Seminare hat solche Gespräche viel weniger vorhersehbar gemacht, aber dafür um so lebendiger. In einigen Fällen hat dies zu neuen Problemen geführt: Nämlich Studenten, denen die althergebrachten Debatten über paulinische Theologie fremd sind, darin zu unterrichten, was der geschichtliche Streitpunkt eigentlich war! 5. Paulus und die soziale Ordnung in der Antike und in der Moderne Die paulinischen Äußerungen und seine Praxis in Bezug auf Frauen, Sklaven und die Anpassung an die »säkularen Mächte« sind - und bleiben - Gegenstand eingehender Analysen. Die grundlegende Arbeit von ELISABETH SCHÜSSLER FI0RENZA, welche als erste die Bedeutung einer abgesicherten textualen und theoretischen Fundierung für die feministische Bibelwissenschaft aufgezeigt hat, hat sich in verschiedene Richtungen hin entwickelt. 22 Hier ist einerseits ANT0INETTE WIRE ZNT 14 (7.Jg. 2004) den: Von J. ALBERT HARRILLs sorgfältiger Studie zum historischen Kontext bis hin zu ALLEN CALLAHANs provozierendem, aber doch erfolglosem Versuch der Behauptung, dass Onesimus nicht Philemons Sklave gewesen sei, sondern sein Blutsbruder. Hinzu kommen interpretationsgeschichtliche Studien, einschließlich solcher, in denen es um die Wiederentdeckung einiger bemerkenswerter amerikanischer exegetischer Abhandlungen zu diesen problematischen Passagen geht, die von den Vertretern der Sklaverei vorgebracht wurden bzw. von ihren Gegnern aus dem amerikanischen Süden aus der Zeit vor und nach dem Bürgerkrieg. 26 Neueste Studien haben ebenfalls dankenswerter Weise darauf aufmerksam gemacht, in welchem Ausmaß Sklaven sexuell ausgeliefert waren, und haben die Frage gestellt, wie diese Tatsache die Lektüre paulinischer Texte beeinflussen könnte. 27 In letzter Zeit gab es einige Versuche zu zeigen, dass sich Paulus kritisch und offen mit dem römischen Imperium und seiner Ideologie und Praxis von Macht auseinander gesetzt hätte. Solche Studien müssen sich noch einiger exegetischen Anstrengungen unterziehen, um beispielsweise Röm 13, 1-8 zu erklären (z.B. NEIL ELLI0TT, » Liberating Paul«), aber auch die für lKor in Anspruch genommene Ideologie der Harmonie (RICHARD A. H0RSLEY, »1 Corinthians«) überzeugt noch 17 Z um Thema nicht. A b er diese Lektüren finden im paulinischen Bekenntnis zu Jesus als Herrn ein G e genargu ment zu jedem kaiserlichen Macht anspruch. Ebenso finden sie in seinem Taufformu lar in Gal 3,28 ein e fundame n tale Charta für christliche Gemeinschaft. S: e n e hmen ebenfalls vieles an der gegenwärtigen amerikanischen Politik war, was die Furcht vor einer imperialen Politik nähren kann (sowohl da: nals wie heute). Das kontroverseste Them a innerhalb der paulinischen Ethik u n d ihrer Forschung über die Interpretation der Paulusbriefe in Amerika am meisten auszeichnet, ist die sorgfältige Erwägung der historischen und rhetorischen Kontexte der patris: ischen Interpreten selbst. PAULA FREDRIKSEN hat sich in verdienstvoller Hinsicht der augustinischen Interpretation von Paulus und seinen Briefen gewidmet, ebenso wie THOMAS F. MARTIN in seiner jüngst erschienenen Dissertation und in einem Artikel. 30 ELIZA- BETH CLARKs vorzügliche Studie über die Art kulturellen Norme n ist die paulinische Sicht de Homosexualität, die sich in Röm 1,26-27 und lKor 6.9 widerspiegelt .2 8 Hier ist kein Konsens in Sicht, u nd es wird auch keinen geben, denn es »Das kontroverseste Thema imzerh,db der paulinischen EtlJik und ihrer kulturellen und Weise, wie patristische Forscher methodisch die Schrift interpretierten, einschließlich wichtiger paulinischer Texte, um ihre monastischen ? rogramme zu unterstützen, ist von großem N ~rmen ist die paulinische Sicht der Homosexualität. ... « gibt keine Übereinstimmung hicsichtlich der Bewertungskriterien, v ir elche hinter und v or individuellen exegetischen Vorschlägen stehen: Wo antiker Text und mode ner Kontext sich treffen und auseinander gehen oder inwiefern philologische oder historische Argumentation die biblische Au torität informieren muss oder mit ihr ko existieren oder sich beugen mu ss. Diese Gegensätze spiegeln wie bei keinem anderen Thema •die "liberalen/ konservativen« Trennungen innerhalb des a: neri kanischen Kirchenlebens und at: .ch inn erhalb der Bibelwissenschaft w ider und verstärken sie. 6. Geschichte d1 er Interpretation In den l etz t en zwe i Jahrzehnte n ist es zu einer Explosion von Werk en über die I nterpretationsgeschichte in der Alten Kir: : he gekommen. HARRY GAMBLE s Stu dien über die Geschichte der unterschiedlichen Editionen des Cor: ms Paulinum ma chen hier d ie vielversprechen: lste Richtung aus. 29 Er legt überze u gend dar, dass jene Briefzusammenstellungen ihren Grund darin hatten, dass die Chr isten den Kodex als privilegiertes bibliographisches Fo r mat annahmen. In Bezug auf die antike Interpretation und Anei; nung von Paulus in versch iedenen Kontexten w ird weiterhin ELAI: \! E PAGELS' Studie aus dem J ahr 1975 (Neuauflage 1992) mit dem Titel » The Gnostic Paul« gelesen, und zwar auch v on ei ner mehr populären Lesersch aft. Was die gegenwärtige 18 Interesse, und zwa r sowohl für die Einzelheiten wie auch für die wertvolle Problematisierung der alten Polarität von literaler versus allegorischer Interpretation. Augustins früher Zeitgenosse im Osten, Johannes Chrysostomus, ist Gegenstand meiner eigenen Forschung gewesen, in der ich versuchte, die Schriften dieses produktiven und einflussreichen Interpreten über Paulus in die gegenwärtige Diskussion einzubrin- 31 gen. Das wieder erwa.chte Interesse an patristischer Interpretation strebt seinem Höhepunkt innerhalb der amerikanischen ForEchung entgegen mit dem Erscheinen solcher ambitiösen bzw. ambivalenten Werke wie dem »Ancient Christian Commentary on Scripture«, welches Auszüge ausgewählter antiker Exegeten bietet, die Sätze und Passagen der Paulinen kommentierend begleiten. 32 Obwohl diese Bände gerechtfertigt zu sein scheinen durch die Hinführung der Leser zu den antiken Originalen, besteht doch die Gefahr, dass sie einen gegenläufigen Effekt haben werden und die Leser sich eher verlassen auf diese durch die Editoren ausgewählten Auszüge, ohne die Originale im Kontext zu studieren. Ebenso problematisch ist es, dass diese Zugangsweise modernen Lesern den falschen Eindruck verm: tteln wird, dass die Kirchenväter selbst kommentierend schrieben analog zur modernen Bibelwissenschaft. Diese Beobachtung führt uns zu unserem letzten Punkt und zum Fazit dieses Essays. ZNT 14 (7. Jg. 2004) Ein letztes Thema: Interpretationsarten innerhalb der amerikanischen Paulusforschung Der vorliegende kurze Überblick thematisiert einige Haupttrends in der Paulusforschung, welche normalerweise verstreut vorliegen in Konf erenz -Papers, Monographien und Nachschlagewerken, und möchte als letztes danach fragen, wie es Paulus in Kommentarreihen ergangen ist. Diese Kommentarreihen richten sich in Aufmachung und inhaltlicher Stellungnahme stark an den Erwartungen ihrer Leserkreise aus, wobei diesen Zielgruppen die paulinische Forschung und ihre Einsichten im entsprechenden Zuschnitt vorgetragen werden. Forscher haben schon immer gewusst (und zwar eher als die übrige Leserschaft), dass sich individuelle Bände innerhalb einer Serie hinsichtlich Qualität und Zugangsweise erheblich unterscheiden können. Aber einige Reihen können mit einiger Sicherheit mit bestimmten Leserzirkeln und bevorzugten Untersuchungsmethoden assoziiert werden. Einige zeitgenössische Kommentarreihen werden weiterhin assoziiert mit bestimmten Denominationen oder besonderen christlichen Gruppierungen innerhalb der amerikanischen Kultur oder über sie hinausgehend (InterVarsity Press New Testament Commentary preist sich selbst als das »beste evangelikale Werk«, und Sacra Pagina-Kommentare unterstehen seit jeher der Domäne katholischer Exegeten"). Erstaunlich ist jedoch die in den letzten Jahren zunehmende ökumenische Mischung der Kommentarreihen, insbesondere der katholischen und protestantischen Gelehrten (z.B. Abingdon New Testament Commentary oder New Testament Library 34 ). Die wissenschaftlichste Kommentarreihe Nordamerikas ist »Hermeneia«, welche seit der Zeit ihres Erscheinens (ab 1970) interessanterweise nur zwei originale Bände zu paulinischen Briefen herausgebracht hat (HANS DIE- TER BETZ' Galaterkommentar aus dem Jahr 1979 sowie seinen Kommentar zu 2 Korinther 8 und 9 aus dem Jahr 1985). Ebenso auffällig ist es, dass die amerikanische biblische Kommentarreihe »Word Biblical Commentary«, welche bisher am erfolgreichsten darin gewesen ist, Bände zu allen biblischen Büchern hervorzubringen (neuerdings auch als CD-Sets zu erhalten), sich für die paulinische Literatur auf Autoren abgesehen von ZNT 14 (7. Jg. 2004) M a rga ret M . M it che ll Paulus in Amerika einigen Ausnahmen außerhalb Nordamerikas spezialisiert hat. Damit bleibt die »Anchor Bible« die Kommentarreihe, in der amerikanische Exegeten katholische wie protestantische sich am ausführlichsten zu Wort gemeldet haben. 35 Diese Beobachtung ist von Interesse, da es sich bei der »Anchor Bible« nicht um eine Kommentarreihe handelt, sondern um eine »Bibel« eine Übersetzung mit Anmerkungen und einem beigegebenen Kommentar. Diese Art von Genre- Konfusion bringt die Frage auf nach der Zukunft des wissenschaftlichen Kommentars in den nächsten Generationen. Kommentatoren stöhnen unter dem Gewicht ihrer Vorgänger, selbst wenn sie sich auf die europäische Wissenschaft nach der Aufklärung beschränken. Die Bände der »Anchor Bible« bestehen aus einem unhandlichen Format: Übersetzung, Anmerkungen, satzweise und absatzweise Kommentierung. Es handelt sich und es handelt sich nicht um eine Bibel; es ist und es ist nicht ein Kommentar. In diesem Format liegt eine Art Mischmasch von traditionell antiken und mittelalterlichen Formen der Glosse, des Satzkommentars und der Responsa-Literatur vor, dies in Kombination mit der Form der Version, der Übersetzung und mit einigen textkritischen Notizen einer editio princeps (allerdings ohne den Originaltext) und einem Forschungsbericht. Diese große Verworrenheit von Interpretation und in terpretativem Apparat wird in einem visuellen Format dargeboten, welches eher hindert als nützlich ist bei der kommentierenden Erklärung. All das lässt uns nach dem Ziel eines modernen Paulus-Kommentars fragen: Sollen diese Werke gelesen oder nur konsultiert werden? Wer soll diese Werke lesen und warum? Wer soll sie schreiben? Wer liest sie tatsächlich? Um welche Art von Diskurs geht es dabei? Sollte ein Kommentar neue Interpretationen weitergeben oder ein Kompendium konsensfähiger Entscheidungen bieten? In Bezug auf Paulus ist alles in Bewegung. Anmerkungen 1 Der Aufsatz wurde von Werner Kahl übersetzt. 2 S. Prothero, American Jesus: How the Son of God Became a National Icon, New York 2003, 116- 123, zu Sallmans berühmtem Bild. 3 Die Thesaurus Linguae Graecae Datenbasis der griechischen Literatur von Homer bis zum Ende der byzanti- 19 2.um Thema nischen Zeit stellt je, zt ein Grundlagenwerk amerikanischer Forschung d r. Es ist zugänglich sowohl auf CD Rom und über C: .,.s Internet (vgl. www.tlg .uci.edu). 4 Siehe dazu die These meines Buches: M.M. Mitchell, The Heavenly Trun: pet: John Chrysostom and the Art of Pauline Interpretation ( HUTh 40), Tübingen 2000; Louisville 2001. 5 A.J. Malherbe, Anc ient Epistolary Theorists (Sources for Biblical Stu y 19 ), Atlanta 1988; P. Scbubert, Form and Function of th e Pauline Thanksgivings, Chicago 1935. ' J.L. White (Hg.), Studies in Ancient Let t er Writing, Semeia 22 (1981 ). 7 Zugang zu den Oxy rhynchus Papyri über das Internet APIS (Advanced P apyrological Informa tion System) Projekt (http: / / www.columbia.edu/ cu/ lweb/ projects/ digital/ apis/ ) . Zugang zu den kynischen Quellen: A.J. Malherbe, The Cynic Epistles: A Study E: fition (Sources fo r Biblical Stud y 12), Atlanta 1977 und J.L.White, Light from Ancient Letters, Philadelphia 1986. 8 Vgl. M.M. Mitc eil, Paul and the Rhetoric of Reconciliation: An Exegetical Investigation of the Language and Composition of 1 Corinthians (HUTh 28), Tübingen 1991; dies., Reading Rhetoric with Patristic Exegetes : John Chrysostom on Gal atians, in: An tiquity and Humanity: Essays o Ancient Religion an: i Philosophy Presented to H ans ieter Betz on His 7 Ct h Birthday, hg. v. A.Y. Collins / M.M. Mitchell, Tübingen 2001, 333- 355; T. Engberg-Pedersen/ J. Starr (Hgg.) Early Christian Paraenesis in C ontext (BZNW 125), Berlin/ New York 2004. 9 D.E. Aune, The We tminster Dictionary c: New Testament and Early Christian Literature and Rhetori: , Louisville 2003. 10 W.J. Hynes, Shirley Jackson Cas e and the Chicago School, The Socio-historical Method (Biblical S: holarship in Norch Amer ica 5), Chico, CA 19 81, mit einer Bibliographie ihrer Werke. 11 Vgl. A.J. Malherbe, Social As pects of Early Chriscianity, Philadelphia 1983. Zur Debatte um Meeks Ansatz: Vgl. die lebendige Kommunikation zwische n J. Meggitt, D.B. Marein und G . Theißen in JSNT 84 (2001). Eine wertvolle Monograp hie mit einer ähnlichen Ausrich tung wie Meeks wu rde von Meeks Student, D.B. Martin, vorgelegt: Slave ry as Salvation: The Yletaphor of Slavery in Pauline Christianity, New Haven 199C. 12 J.P. Sampley, Pauline Partnership in Christ, Philadelphia 1990. 13 S. Fri esen, Povercy in Pauline Stud ies: Beyond ehe Socalled New Conse sus, JSN T 26 (2004), 323-61; vgl. auch die zustimmenden Vo t en von John Barclay and Peter Oakes a.a.O. 14 Vgl. z.B. H. Koester (Hg.), Ephesos Metropolis of Asia: an Interdisciplinary Approach to ics Archaeolo gy, Religion, and Culcure (Harvard Theological Studies 41), Valley Forge 1995; D ers. / C. Bakirtzis, Philippi at the Time of Paul and after H is Death, Valley Forge, PA 1998; D. Schowalter / S. Fries en (Hgg. ), u ~ban Religion in Roman Corinth (Harvard Theological Studies 53 ), Cambridge im Druc k. 15 Zum »Bundesnomis mus«: Vgl. u.a. D.A. Carson / P.T. 20 O'Brien / M. Seifrid (Hgg.), Justifi.cation a: -id Variegated Nom ism: Vol. 1: T he Complexities of Second Temple Judaism ( WUNT 2/ 140), Tübingen 2001; G rand Rapids 2001; A.A. Das, Paul, the Law, and the Covenant, Peabody 2001; Step hen Westerholm, Perspectives Old and New on Paul: T he »Lutheran« Paul and His Critics, Grand Rapids 2004. 16 D. Boyarin, A Radical Jew: Paul and the Politics of Identity, Berkeley 1994. 17 H .D . Betz, Gesammelte Aufsätze Bd. III: Paulinische Studien, Tübingen 1994; ders. , Plucarch's Theological Writings and Early Christian Lterature (Studia ad Corpus Hellenisticum Novi Test.: .menti 2), Leiden 1975; ders., Plutarch's Ethical Writings and Early Christian Literature (Srudia ad Corpus Helleniscicum Novi Testamenti 4), Leiden 1979; hinsichtlich des weitergefassten Forschungsprogramms, vgl. die neue, 2. Auflage von The Greek Magical Papyri in Translation, Chicago 1996; ders., Antiquity and Christianity. Presidential Address to the Society of Biblical Literarure, JBL 117 (1998), 3- 22; wiederabgedruckt in G esammelte Aufsätze Bd. IV: Antike und Christentum, Tübingen 1998, 267-290; ders., Antike und Christentum, RGG 4. Auflage, Bd. 1 (1998), 542-46. 18 J.T. Fitzgerald (Hi; .), Friendship, Flattery, and Frankness of Speech: Studies on Friendship in the New Testament World (NT.S 82), Leiden 1996; ders. (Hg.), Greco- Roman Perspectives on Friendship (Resources for Biblical Srudy 34), Atlanta 1997; ders.iD. Obbink/ G.S. Holland (Hgg.), Philodemus and the New Testament World (NT.S 111), Leiden 2004. 19 J. Paul Sampley (Hg.), Paul in t: i.e Greco-Roman World: A Handbook, Valley Forge, PA 2003. 20 J.M . Bassler (Hg.), Pauline Theology, Vol. I, Minneapolis 1991; D.M. Hay (Hg.), Pauline Theology, Vol. II: 1 and 2 Corinthians" Minneapol: s 1993; D.M. Hay / E.E. Johnson (Hgg .), Pauline Theology, Vol. III: Romans, Minneapolis 1995; E .E. Johnson (Hg.), Pauline Theology, Vol. IV: Looking Back, Pressing On, Atlanta 1997. 21 Als Einführung in die Argumente und Debatten vgl. die 2. Auflage von R. Hays' The Faith of Jesus Christ: the Narrative Substrucrure of Gai 3: 1-4: 11 (The Biblical Resource Series), Grand Rapid, 2001. Dem Band ist ein neues Vorwort von Luke Timochy Johnson (der mit Hays übereinstimmt) vorangestellt und eine Debatte mit J.D.G. Dun n (der die ->Glaube von«-Position ablehnt). Unter amerikanisc: 1.en Forschern gibt es hinsichtlich dieser Frage keinen Konsens, aber zumindest garantiert doch diese Forschung, dass Srudierende die Bedeutung der Phrase nicht kritiklos hinnehmen. 22 E. Schüssler Fiorenza, In Memory of Her: A Feminist Theological Reconstruction of Christian Origins, 10th anniversary ed., New York 1994. 23 M.Y. MacDonald, Early Christian Women and Pagan Opinion: The Power of ehe Hysterical Woman, Cambridge 1996; D.R . MacDonald, The Legend and ehe Apostle: The Battl,~ for Paul in Story and Canon, Philadelphia 1983; M.R. D' Angelo, Eusebeia: Roman Imperial Family Values and the Sexual Politics of 4 Maccabees and ehe Pastorals, BI 11 (2003); 139-65 A. Clark Wire, The Corinthian Women Pror: hecs: A Reconstruction Through Paul's Rhetoric, Minneapolis 1990. 24 C. Osiek/ D.L. Balch, Families in the New Testament World, Louisville 1997; dies. (Hgg .), Early Christian Families in Context: An Interdisciplinary Dialogue, Grand Rapids 2003. 25 C.A. Newsom/ S.H. Ringe, The Women's Bible Com- ZNT 14 (7. Jg. 2004) mentary, Louisville 1992; E. Schüssler Fiorenza u.a., Searching the Scriptures (2 Bd.), New York 1993-1994; C.L. Meyers/ T. Craven/ R.S. Kraemer, A Dictionary of Named and Unnamed Women in the Hebrew Bible, the Apocryphal/ Deuterocanonical Books, and the New Testament, Boston 2000. 26 J.A. Harrill, The Manumission of Slaves in Early Christianity (HUTh 32), Tübingen 1995; A. Callahan, Paul's Epistle to Philemon: Toward an Alternative Argumentum, HTR 86 (1993), 357-76; ders., The Embassy of Onesimus: The Letter of Paul to Philemon (The New Testament in Context), Harrisburg 1997. Ich habe darauf reagiert in: John Chrysostom on Philemon: A Second Look, HTR 88 (1995), 15-43. Vgl. auch L.A. Lewis, An African American Appraisal of the Philemon-Paul-Onesimus Triangle, in: C. Hope Felder (Hg.), Stony the Road We Trod, Minneapolis 1991, 232- 46 ); W.A. Meeks, The ,Haustafeln< and American Slavery: A Hermeneutical Challenge, in: Theology and Ethics in Paul and His Interpreters: Essays in Horror of Victor Paul Furnish, hg. v. E.H. Lovering u.a., Nashville 1996, 232-53. 27 J.A. Glancy, Obstacles to Slaves' Participation in the Corinthian Church, JBL 117 (1998), 481-501; C. Osiek, Female Slaves, Pomeia, and the Limits of Obedience, in: D.L. Balch/ C. Osiek, Early Christian Families in Context: An Interdisciplinary Dialogue, Grand Rapids 2003, 255-276. 28 B.J. Brooten, Love Between Women: Early Christian Responses to Female Homoeroticism (Chicago Series on Sexuality, History, and Society), Chicago 1996; D.B. Martin, ARSENOKOITES and MALAKOS: Meanings and Consequences, in: Biblical Ethics and Homosexuality, hg. v. R.L. Brawley, Louisville 1996, 117-36, und die verschiedenen Essays in jenem Buch. Für eine gegensätzliche Perspektive, vgl. R.A.J. Gagnon, The Bible and Homosexual Practice: Texts and Hermeneutics, Nashville 2001; für den Versuch eines Dialogs, vgl. J.S. Siker, Homosexuality and the Church: Both Sides of the Debate, Louisville 1994. "" H.Y. Gamble, Books and Readers in the Early Church: A History of Early Christian Texts, New Haven 1995, bes. 58 -65. 30 P. Fredriksen, Augustine's Early Interpretation of Paul, Princeton 1979; vgl. auch: dies., Paul and Augustine: Conversion Narratives, Orthodox Traditions, and the Retrospective Seif, JTS 37 (1986), 3-34; dies., Vile Bodies: Paul and Augustine on the Resurrection of the Flesh, in: Biblical Hermeneutics in Historical Perspective: Studies in Horror of Karlfried Froehlich on His Sixtieth Birthday, hg. v. M. Burrows / P. Rorem, Grand Rapids 1991, 75-87; dies., Allegory and Reading God's Book: Paul and Augustine on the Destiny of Israel, in: Interpretation and Allegory: Antiquity to the Modem Period, hg. v. J. Whitman, Leiden 2000, 125-49; und ihren Übersetzungsband: P. Fredriksen Landes, Augustine on Romans (SBLTT 23 ); Chico, CA 1982; T.F. Martin, Rhetoric and Exegesis in Augustine's Interpre- ZNT 14 (7.Jg. 2004) Margaret M. Mitchell Paulus in Amerika tation of Romans 7: 24-25a (Studies in Bible and Early Christianity 47), Lewiston 2001; ders., Vox Pauli: Augustine and the Claims to Speak for Paul, JECS 8 (2000), 237-72. 31 Vgl. M.M. Mitchell, The Heavenly Trumpet. 32 Ich sage »ambitiös«, weil die Zielgruppe dieser Werke wohl kaum über Wissen bezüglich des historischen oder literarischen Kontexts verfügen wird, der nötig ist, um die hier zur Verfügung gestellten ausgewählten patristischen Quellentexte verstehen und auswerten zu können. Darüber hinaus sind die Prinzipien der Auswahl (wohl ein Ergebnis, das sich aufgrund von Computersuche ergab) so unklar wie ergebnisbestimmend. ACCS Bände umfassen den Römerbrief (hg. v. G. Bray, 1998), 1. und 2. Korintherbrief (hg. v. G. Bray, 1998), Galaterbrief, Epheserbrief und Philipperbrief (hg. v. M.J. Edwards, 1998) sowie Kolosserbrief, 1.-2. Thessalonicherbrief, 1.-2. Timotheusbrief, Titusbrief und Philemonbrief (hg. v. P. Gorday, 2000). Eine ähnliche Serie, hrsg. von R.L. Wilken, ist zur Zeit in Vorbereitung. Sie wird Bände zu den Paulusbriefen umfassen (The Church's Bible; Eerdmans). 33 Neuere Bände in der InterVarsity Reihe sind G.R. Osborne zum Römerbrief (2004), L.L. Belleville zum 2. Korintherbrief (1995) und G. Fee zum Philipperbrief (1999). Sacra Pagina-Autoren zu den Paulusbriefen sind B. Byrne zum Römerbrief (1996), R.F. Collins zum 1. Korintherbrief (1999), F.J. Matera zum Galaterbrief (1992), M.Y. MacDonald zum Kolosserbrief und zum Epheserbrief (2000), sowie E.J. Richard zum 1. und 2. Thessalonicherbrief (1995). 34 Die Abingdon-Reihe, von einem »mainline« methodistischen Verlagshaus, weist sowohl nicht-konfessionell identifizierte, protestantische wie auch katholische Autoren auf, wie z.B. R. Horsley zum 1. Korintherbrief, T.T. Fitzgerald zum 2. Korintherbrief (erscheint 2004), : ).M. Hay zum Kolosserbrief, J.M. Bassler zu den ·Pastoralbriefen und die Katholiken C. Osiek zum Philipper- und Philemonbrief sowie P. Perkins zum Epheserbrief. Zwei neue Bände in der New Testament Library-Reihe von der Presbyterian Publishing Corporation stammen von katholischen Priestern: F.J. Matera (2. Korintherbrief, 2003) und R.F. Collins (Pastoralbriefe, 2002). 35 Neuere Anchor Bible Commentary-Bände umfassen solche von Katholiken wie den Jesuiten J.A. Fitzmyer zum Römerbrief (1992) und Philemonbrief (2000), L.T. Johnson zum 1. und 2. Timotheusbrief (2001), Fr.J.D. Quinn zum Titusbrief (1990) und andere von Protestanten verschiedenster Denominationen, wie V.P. Furnish von der Southern Methodist University zum 2. Korintherbrief (1984), J.L. Martyn zum Galaterbrief (1998) und A. Malherbe zum 1. und 2. Thessalonicherbrief (2000). Es hat sich in jüngster Zeit ein konservativer Trend ergeben: Einige Bände stimmen für die Paulusverfasserschaft in Bezug auf Briefe, denen diese bislang weithin abgesprochen wurde Qohnson zu den Pastoralbriefen; Malherbe zum 2. Thessalonicherbrief). 21 Zum Thema 1 ' Pe ter Arzt-Grabner . . l. Die Paulusbriefe im lichte der Alltagspapyri Der Heidelberger Neutest a mentler und Papyrologe A DOLF DEI SS MAN N w ar ei ner der ersten, der die auß erordentliche Bedeutung der d okumentarischen Papyri und Ostraka für das Verständnis des Neuen Testamen ts , sow o h l hinsi : : htlich der Sprache als auch im Hinbl ick auf zah lreiche Begriffe, Wendungen u nd einzelne Texte, erkannte. 1908 ersc hien sein einflus sreiches Bu ch »Li cht vom O sten. Das N eue Testame nt u nd die neuentdeckten Texte der h ell enistisch-römis : hen Welt« in erster Auflage; die maßgeblich e vie rt e Auflage wurde in völlig über arbei t ete r F orm 1923 veröffentlicht. Als P ion iere und Zeit geno ssen Deißmanns sind ferne r JAMES HOPE MOl"LTON und G E ORGE M I LLI GA z u er w ähne n , die das dokumentar ische M a ter ial de r bis d ahin entdec k ten Papyri und Ins ch rifte n lexikalisch fü r d as Neue Testament ausgewe r: et hab en. 1 Seithe: beschränken sich sowohl H andbüch er als auch exegetische Einzeluntersuc h un ge n meist auf die b ei diesen beiden Autore n sow ie bei Dei ß man n dargebotenen Belege, u n d as obwohl mitt le rw eile mehr als das Siebenfache an pu b lizierten : ? apyri und Ostrak a vorliege im Vergleich zu damal s. Aber erst seit Be inn der 70er J ahre d es vergangenen Jh.s finden do kumentarische Papyri im Bereich der ntl. 'Wiss en schaft w ied er ein Inter esse, das sich sowohl in Einzeluntersuc hun gen als auch in speziellen und mfangreichen Prc j ekten niederschlägt . Bekan t gewo r den i st v or allem die Reihe » New Doc une nts Illustrating E arly Christianity «, die 198 1 v on GREG H.R. H 0 RSEY begründet wurde u nd : nittlerweile von STEPHEN R. LLEWEL YN heraus gegeben w ir d (bi ,h er liegen neun Bänd e vor ). G egenw ärti g sinc. vor allem zwei P rojekte zu n ,: : 1 nen: Das »New Moulton & Milligan Projec «, "'s seit 1985 unter der Leitung von G R EG H.R. H O F; SLEY und J OHN .A.L. LEE mit intern ationaler Bet eiligung läuft, u n d das vom Autor geme ins am rr_ it M IC HAEL ERNST initiierte Projekt einer » An alys e des Ne uen Testaments auf dem Hin t ergrund d o kumenta risch er P apyri und Ostraka «. Dies es Salzburger un d mittlerweile internatio n ale Proj ekt h at sich die A ufg abe ges t ellt, 22 alle bisher edierten Papyri, Ostraka und Täfelchen nach ihrem Vergleichswert für neutestamentliche Texte zu prüfen und auszuwerten, um sc, auf dem Hintergrund der Papyri und Ostraka die Sprache, die Textsorten, die Themen, die zeitgeschichtliche und soziale Situation neutestamentlicher Schriften eingehend zu beleuchten ·.md teilweise neu zu kommentieren. 2 Die erarbeiteten Bände erscheinen in der 2003 begründeten Reihe »Papyrologische Kommentare zum Neuen Testament«, die im Verlag Vmdenhoeck & Rup recht in Göttingen erscheint und vom Autor gemeinsam mit AMPHILOCHIOS PAPATHOMAS (Athen) u: : 1d MAURO PESCE (Bologna) herausgegeben wird. Als erster Band erschien 2003 »Philemon« (bearbeitet von PETER ARZT-GRABNER), für 2005 ist »1. Korinther« geplant. Die Bände für »2. Korinther« und »Markus« sind in Arbeit. Die ursprünglichen formalen Vorbilder für die »: ? apyrologischen Kommentare zum Neuen Tes tc.ment « waren H E RMAN N L. STRACKS und PAUL BILLERBECKs »Kommentar zum Neuen Testa ment aus Talmud und Midrasch« (4 Bände, München 1924- 1928) sowie der »Neue Wettstein«. 3 Die dort gewäh lte Katenenform hätte sich auch für einen papyrologischen Kommentar angebo ten. Mehrere Gründe waren der Anlass, schließlich doch eine mehr oder weniger ausführlich kommentierende Form der Darbietung des Materials und überhaupt eine Kommentarform zu wählen: 1. Das Quellenmaterial ist nicht nur übe: : -aus umfangreich, sondern vor aLem auch sehr vielfältig. So finden sich nicht nur Zeugnisse aus dem Geschäftsleben, Verwaltungsapparat und Rechtsbereich, sondern auch aus dem Privatleben. Man trifft auf umfangreiche Listen mit Abrechnungen und dgl. ebenso wie auf verschiedenste Verträge, Protokolle, Schulübungen und private Briefe. Der Vergleichswert der einzelnen Stücke für Texte des Neuen Testaments ist somit nicht nur von deren zeitlichem und geografischem Rahmen her zu bemessen, sondern auch von ihrer kulturellen und sozialen Einordnung sowie vom Grad ihrer Über - ZNT 14 (7 . Jg. 2004) Peter Arzt-Grabner Prof. Dr. Peter Arzt-Grabner, Jahrgang 1959, Studien der Theologie und Klassischen Philologie in Salzburg und Rom, 1991 Promotion zum Dr. theol., seit 1987 Assistent am Institut für Neutestamentliche Bibelwissenschaft (nunmehr: Fachbereich Bibelwissenschaft und Kirchengeschichte) der Universität Salzburg, seit 1998 Assistenzprofessor. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören: Neutestamentliche Textkritik, sozialgeschichtliche Bibelauslegung, insbesondere dokumentarische Papyri und Neues Testament, Kultur des hellenistischen Alltags. Seit 2003 ist er Mitherausgeber der von ihm initiierten Reihe » Papyrologische Kommentare zum Neuen Testament« (Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen). einstimmung in semantischen Feldern, Textsorten und gedanklichem Gehalt. Eine unkommentierte Darbietung hätte da wenig Aussagekraft. 2. Auch bisher wurde das Quellenmaterial aus dem antiken Alltag für eine Auswertung im Rahmen der Bibelwissenschaft nicht unkommentiert dargeboten; dieser Tradition sehen sich auch die »Papyrologischen Kommentare zum Neuen Testament« verpflichtet. Und 3. Im Verlauf des Projektes erwies es sich zunehmend als wichtig, sich auch der Frage nach der Sinnhaftigkeit derartiger Textvergleiche zu stellen. Als beste Möglichkeit, diese Frage zu beantworten, erscheint die verantwortete Darlegung dessen, was das Vergleichsmaterial an Verdeutlichungen, Widerlegungen, Bestätigungen, Ergänzendem und Neuem zu bieten hat. Durch die Beschränkung auf dokumentarische Papyri, Ostraka und Täfelchen wird freilich nur ein eingeschränkter Zugang zum neutestamentlichen Text geboten. Durch die ausschließliche Berücksichtigung der zitierten Quellen können ZNT 14 (7. Jg. 2004) Peter Arzt - Grabner Die Paulusbriefe im lichte der Allt a gspapyri bei weitem nicht alle Aussagen des Textes angemessen erschlossen werden. So sind einerseits z.B. Ausführungen zu ekklesia oder euangelion wenig ergiebig. Umso aufschlussreicher sind andererseits z.B. jene Erkenntnisse, die für das Briefformular des Paulus, für seinen Zugang zur römischen Sklaverei oder seine Vorstellung funktionierender Gemeindestrukturen gewonnen werden können. Eine durchgehende umfassende Kommentierung der neutestamentlichen Texte darf und kann man also nicht erwarten. Die »Papyrologischen Kommentare« verstehen sich nicht als Alternative zu traditionellen bibelwissenschaftlichen Kommentaren, sehr wohl aber als wichtige Ergänzung. Dazu drei sehr unterschiedliche Beispiele: 1. Nachrichten von den Leuten der Chloe (1Kor 1,11) Zunächst ein Beispiel für die Untersuchung eines einzelnen Begriffs: In lKor 1,11 schreibt Paulus, dass ihm von den Leuten der Chloe »deutlich gemacht wurde« (griech. edelothe), dass es in der christlichen Gemeinde von Korinth Streitigkeiten gibt. Die entscheidenden Fragen, die sich hier stellen, lauten: Hat Paulus einen Brief erhalten oder mündliche Nachrichten? Waren die Nachrichten offizieller Natur, die offen und ehrlich übermittelt wurden, oder ging es um die eher private Einzelaktion einer Gruppe, womöglich sogar um eine Vernaderung? Mit dem Wort deloo (»deutlich/ klar machen«) verwendet Paulus ein auch in dokumentarischen Papyri gut bezeugtes Wort. Die Formulierung edelothe moi (»es wurde mir klar gemacht« im Sinne von »mitgeteilt«), die er hier verwendet, begegnet auch im Brief des praefectus Aegypti Maevius Honoratianus an einen Strategen aus dem Jahre 236 n.Chr. (P.Rein. II 91,3),4 es handelt sich dabei um eine amtliche Mitteilung. überhaupt begegnet das griechische Wort deloo in den dokumentarischen Papyri häufig im Passiv, das innerhalb eines Dokumentes als Querverweis verwendet wird. Schon in dieser Form nimmt der Ausdruck Bezug auf eine schriftliche Mitteilung oder Eintragung, die im Amtsverkehr zu einem offiziellen Akt wird. So wird z.B. der Hinweis, beim Prozess am Gerichtstag konkrete Aussagen 23 Z um Thema zu machen, zunächs : mündlich zu verstehec sein, insofern die Aussa en aber auch protokolliert werden, ist ein derartiger Hinweis auch mit Schriftlichkeit verbunden im Sinne von »zu Protokoll gebe « (so z.B. in SB XVI 12548,2-4 [97 n.Chr.], wo es über einen Diebstahl heißt: »sie raubten alles, was ich .. . in meinem Haus habe, das ic h beim Gerichtstag anführen/ zu Protokoll geben werde«). üb erhaupt wird das Verb häufig im Zusammenr_ang mit amtlichen : Meldungen oder Deklarationen und Registrierungen verwendet: Im berühmten Schreiben des Claudius an die Alexandriner aus dem J ahre 41 n.Chr. (P.Lond. VI 1912) geht es u. a. um eine offizielle vom Imperator an ihn erbetene Mitteilung; dieser schreibt - Z. 70-71: »ich habe Aemilius Rectus ge schrieben, eine Untersuch ng durchzuführen und mir zu berichten (delosai)<•. Dass dieser Bericht schriftlich zu erfolgen hat, liegt auf der Hand. In privaten Brie fe n bezeichnet das Verb d el oo in erste r Linie die briefliche Mitteilung, in manchen Texten wird ausdrücklich der Brief als : .\1edi um der Übermittl ung erwähnt. In SB XIV 11644,8-12 (1./ 2. Jh. n.Chr. ) z.B. geht es zunächst um eine persönliche Beziehungsproblematik: »Du hast mir durch den Brief, der mir vo n dir ge schickt wurde, deutli ch gemach t , das s ihr mich verachte t. Der Gott weiß, wie ich dich in der Seele liebe und verehre wie (oder: als? ) meinen Bruder«. nd weiter heißt es - Z. 12-15: »Du hast mir mitgeteilt, dass du einen Krug Ö l geschickt hast und Geld, aber du hast nicht mitgeteilt, durch wen du das geschickt has t, und ich hab e es nicht bekommen«. Beide Male (in Z. 8 und Z . 12 ) wird wohl auf ein und d enselben Brief Bez u g genommen, beim ersten Mal wird sogar au sdrücklich darauf hingewi sen, dass die Nachricht durch einen Brief vermittelt wurde. Noch durch viele andere Beispiele lä _· st sich zeigen, da ss rnfern vom Kontext nichts dagegen spricht das Verb deloo die briefliche Übermittlung einer Nachricht bezeichnet. Der ge samte papyrologische Befund macht es deshalb höchst wahrscheinlich, dass es sich bei den Nachrichten, die Paulus au s Korinth erhalten hat, um ei nen (oder mehrere) Brief(e) von den Leuten der Chloe handelte. Ferner weisen die Papyrusdokumente darauf hin, dass es im Zusammenhang mit deloo häufig um wichtige, offizielle oder sogar amtliche Mitteilungen geht, in jedem Fall aber um Mitteilungen, hinter denen 24 die Absenderinnen und Absender auch offen stehen; es geht also nicht um heimliche Nachrichten, um Geschwätz oder üble Nachrede. Mit diesem Umfeld stimmt überein, dass Paulus in seinem Brief an die ganze Gemeinde die Nachrichten ausdrücklich erwähnt und auch die »Leute der Chloe« als Quelle hier gleichsam offiziell nennen kann. 2. Der Handwinker Paulus und frühchristlic: he Gemeindestrukturen Das zweite Beispiel, das nicht einen einzelnen Begriff, sondern eine Reihe vor_ Textstellen betdft, zeigt, wie Papyri die Bedeutung des von Paulus erlernten und nach wie vor ausgeübten Beruf es ausweisen und hervorheben. Von Beruf war Paulus Zeltmacher, so jedenfalls nach Apg 18,3. Ein absolut passender Beruf für jemanden, der aus Tarsus stammte, war diese kilikische Stadt doch ein Zentrum der Leinenweberei5 und weit über Kleinasien hinaus berühmt für die nach ihr benannte spezielle tarsische Webkunst. Auch in dokumentc.rischen Papyri aus Ägypten, die zwischen dem 3. und 8. Jh. n.Chr. abgefasst wurden, trifft man auf einen tarsikarios, den Weber tarsischer Stoffe (z.B. P.Oxy. XIV 1765,2.21 sowie Verso,30 [3. Jh. n.Chr.J). Einige Stellen der Paulusbriefe zeigen nun deutlich, dass der 'Weber und Handwerker Paulus nicht zu trennen ist vom Apostel und Wandermis sionar. Dies lässt sich insbesondere durch zeitgenössische Weberlehrverträge, aber auch durch andere Schriftstücke aus derr_ Bereich des Webergewerbes belegen. An die Garantieerklärungen bzw. Sicherstellungen in Kau: verträgen (z.B . beim Kauf eines Webstuhles, P.Oxy. II 264 [mit BL 8,234; 6 = Chrest.Mitt. 266; 54 n.Chr.J, beachte vor allem Z. 10-11) erinnern Aussagen wie 2Kor 1,21, wo Paulus betont, dass Gott selbst für ihn »garantiert« .7Leiht jemand von einem anderen Geld, so wird im entsprechenden Dokument natürlich festgehalten, dass er seine Schulden auch zurückzahlen wird (z.B. SB X 10234,5 [35 n.Chr.]); derselbe Wortlaut begegnet auch bei Paulus in Röm 13,7. An derselben Stelle zählt er auch die Sw: .ern auf, die man zu erstatten hat, was wiederum an den genauen Wortlaut zeitgenössischer Steuerquittungen erinnert, schließlich war Paulus sefost- ZNT 14 (7.Jg. 2004) verständlich auch Steuerzahler, der als Weber u.a. auch die Webersteuer zu begleichen hatte. 8 Vor allem möchte ich aber nun auf einen typischen Weberlehrvertrag aus dem 1. Jh . n.Chr. etwas näher eingehen. Als Vertragstyp liegt hier eine sog. Homologia vor,9 deren Form sich während der ersten drei Jahrhunderte n.Chr. kaum verändert hat und die vermutlich im ganzen Imperium in ähnlicher Gestalt abgeschlossen wurde wie in der Provinz Ägypten, wo vollständig erhaltene Verträge auf Papyrus gefunden wurden. Der Weberlehrvertrag P.Oxy. II 275 (= Chrest.Wilck. 324; Jur.Pap. 42; Sel.Pap. I 13; mit BL 9,1 79) wurde zwischen einem gewissen Tryp h on und dem Webermeister Ptolemaios in Oxyrhynchus am 18. September 66 n.Chr. abgeschlossen und betrifft den Sohn des Tryphon, Thoonis. Dieser soll vom Tag des Vertragsabschlusses an für ein Jahr bei Ptolemaios in die Lehre gehen. 10 In den Z. 10-13 werden die entscheidenden Verpflichtungen des Lehrlings festgehalten, nämlich dem Webermeister »zu dienen und alles auszuführen, was ihm von Ptolemaios im Einklang mit dem gesamten Weberhandwerk aufgetragen wird«, was andererseits den Webermeister dazu verpflichtet, den Lehrling auch tatsächlich in seinem Handwerk zu unterweisen entsprechend seinen Kenntnissen. Anschließend wird erwähnt, dass der Vater Tryphon den Knaben zu verköstigen und einzukleiden hat, ferner gehen auch alle steuerlichen Abgaben zu seinen Lasten,11 während der Webermeister Ptolemaios monatlich fünf Drachmen für die Verpflegung des Lehrlings zu zahlen hat und bei Vertragsende weitere zwölf Drachmen für Kleidung (Z. 14-21). 12 Es folgt die Verpflichtung des Vaters, dafür Sorge zu Pete r Arzt-Grabner Di e Paulusbrie fe im li c ht e der A ll tagspap y ri Hypographe schließlich zeichnet der Webermeister Ptolemaios für die Gültigkeit der ihn betreffenden Bestimmungen (Z. 37-40). Danach folgt noch eine sog. Agrammatos-Formel (Z . 41-43) und noch einmal die Datierung (Z. 44-46). Abgesehen von einzelnen Termini lässt sich vor allem ein Passus ganz zentral und ganz entscheidend mit einer Stelle im Philemonbrief des Paulus vergleichen. In Phlm 10-13 wird der Sklave Onesimos von Paulus ausgesprochen positiv charakterisiert. In V. 13 schreibt er: »Ich wollte ihn bei mir behalten, damit er an deiner Stelle mir dient (diakone) in den Fesseln des Evangeliums«. Beispiele für diakoneo aus der Zeit des Paulus, also aus dem 1. Jh. n.Chr., finden sich nun ausschließlich in Weberlehrverträgen, und zwar stets in der Formulierung, wie sie im dargestellten Vertrag zwischen Tryphon und Ptolemaios in den Z. 10-13 begegnet, wo eben vereinbart wird, dass der Lehrling dem Webermeister »dienen und alles ausführen wird, was ihm von Ptolemaios im Einklang mit dem gesamten Weberhandwerk aufgetragen wird«. 13 Die Parallele im Phlm ist überaus deutlich. Paulus hat hier offensichtlich genau jene Strukturen auf sein neues Betätigungsfeld übertragen, die er aus seinem Handwerkszweig kannte und als bewährt anerkannte: Das »Handwerk« ist nunmehr der Dienst am Evangelium, Paulus ist darin der Meister, der sich Onesimos als Lehrling wünscht. Paulus möchte sich als Meister verpflichten, Onesimos im »Handwerk des Dienstes am Evangelium« auszubilden, Onesimos wiederum sollte während dieser Lehrzeit seinem Meister Paulus »dienen und alles ausführen, was dieser ihm im Einklang mit dem Dienst am Evangelium aufträgt«. Das einzige, was dazu noch fehlt, ist der »Lehrvertrag«, den Paulus tragen, dass sein Sohn auch tatsächlich die gesamte vereinbarte Lehrzeit bei seinem Lehrherrn verbringt; eventuell fehlende Tage sind am Ende der vereinbarten Zeit anzuhängen, oder Tryphon hat dafür ein e Summe von einer Drachme pro Tag zu zahlen (Z. 22-28). In Z. 28-33 werden die Strafbestimmungen » . .. der Zeltmacher Paulus aus zuvor mit dem Herrn des Onesimos, mit Philemon abschließen müsste, ohne dessen Kenntnis, ohne dessen Einverständnis Paulus nichts un ternehmen will, wie er in V. 14 völlig im Einklang mit den rechtlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten Tarsus, der stolz ist auf seiner eigenen Hände Arbeit, übernimmt die bewährten Strukturen und Traditionen aus seinem erlernten Handwerk für die Strukturen der neuen christlichen Gemeinden.« der Zeit schreibt. genannt für den Fall, dass die Vereinbarungen gebrochen werden, gefolgt von der Gültigkeitsklausel (Z. 33 -34) und der Datierung (Z. 34-36). In der Bedenkt man, dass in der Formulierung mit diakoneo auch die Funktion und das spätere Amt des Diakons beschrieben wird, so wird noch ZNT 14 (7. Jg. 2004) 25 2. um T he ma deutlich er, worum es hier v om Hintergrund h er geht: der Zeltma cher P aulu s aus Tarsu s, der stolz ist auf seiner eigen en Hände Ar b eit, übernimmt d ie bewährten Strukt uren und Tradit ionen aus seinem erlernten H andwe rk für die St rukturen der neuen chris tlich en Ge m eind en . D i ese Struk turen gr ünden also offen b ar nich t auf theo lo gischen En twürfe und nicht zumindest nicht n ur auf Vo rbi l dern au s d em Bereich der r ömisch en Administration ,14 son dern auf den b ewährten Struktu r en alltäglicher h an dwe rklicher Ar beit. 3. Paulus und der Sklave Onesimos Das dritte Beispiel b etrifft e in w eites T hema der griechischr ömischen An tik e u n d die Stellu ng bzw. Lösung d es P au lus: es geh t um die a nt ike Sklaverei. Ich b esch ränke mich hi er a uf das ty pische Beispiel, d as P aulus in d iesem Zu sammenhang bietet: den ° klaven O n esimos. Im P h lm lässt P au lus zu nächst dur chaus eine sehr traditionelle Ei nstellu n g zur Sklaverei erkennen : P hilemon ste h t als Sklavenhalter natürlich absolut autoritär ü be r seinem Sklaven Onesimos, dieser hat seine □ H er rn ganz einfach nützlich zu sein (beachte sc_ o n d en N amen O n es imos der »Nützliche «) . In V. 11 w ird der Sklave z uall erers t durch d as Gegensat zpaar ach rest os euchrestos charakterisiert: ein mal sei er so schreibt Paulus für Philemon »t: .nb r auch ba r « gew esen, jetzt aber sei er sowohl für Ph ilemon als a uch fü r Pau lus selbst »gu t b rauc hb ar«. D as Adje k tiv achrestos (»unbrauchbar, un nü tz «) w ird in den d okume ntarischen P ap y ri als A ttribu t z.B . für , chle chtes, nicht mehr ku ltivie : b ar es Ack erl and od er fü r schlechte Kleider ve rw en det, fern er für einen F etzen, der als Verpack n gsmat erial dient, für Lederschläuch e, »sch le ch te « G eldstü cke o der auch Nutzti ere , die man eb en ni cht me hr ( oder noch nicht) recht nut z en kann. A ls Attr i but für Menschen wie hier b ei Paulu s be gegnet der Aus druck n ur in einem Pr iva t brief aus d em 3. Jh. n.Ch r., P.Oxy. VII 1070: ein gewisser Aure lius Demareus hat an seiner Eh efrau einiges auszusetzen, was die Fü h ru g d es H aus halts b etriffc, u nd er ford e rt sie auf, nicht nac hlässig zu sein, >: -es sei denn«, so schrei t er, »du hast vor, d as Hüte n des gesamten Hauses mit dir gemeins am an Herai: s zu übertra g en , die ja nnütz is t« (Ver so Z . 50-52). 26 Bezeichnenderweise geht es ber um eine Sklavin, bei Paulus (etwa 20C Jahre früher! ) um einen Sklaven. Vielleicht steckt auch hi nter seiner Aussage, Onesimos sei einst. für Philemon ein Nichtsnutz gewesen, ein gewisses Maß an Ironie. Der Sklave Onesimos wird da mit stark verdinglicht gesehen: u n b r auchbar, unnü t z wie wertlose Münzen, wie ein altes Kleid, ein Acker, d en man nicht bebauen kann, ein Fetzen , den man zum Einwickeln verwenden, aber ebenso gut w egwerfen kann. Den Gegensatz dazu bildet das Adjektiv euchrestos. Das gegenüber chrestos (» brauchbar, nützlich«) um das Adverb eu erweiterte Adjektiv (also »gut brauchbar, sehr nützlich") wird auch in d en dokumentarischen Pap yri mehrmals als Eigenschaft bestim mter Menschen verwendet. In einem Brief an einen gewiss en Aristandros (PSI IV 361 Verso [251/ 250 v.Chr.]) z.B. wird dieser aufgefordert, sich des Nomarchen Maimachos fürsorglich anzunehmen (Z. 21-22); dieser würde dann umso »bereitwilliger und dir nützlicher (euchrestoteros)« sein (Z. 24). Die beschriebene positive Charakterisierung des Onesimos durc n das Att r ibut euchrestos darf nicht darüber hinwegtäusch en, dass gerade im sklavischen Kontext die » Nütz lichkeit« und »Brauchbarkeit« als typische Realität des Sklavendaseins zu sehen ist. Auch da: -auf wird in Phlm 11 sowohl mit achrestos als auch mit euchrestos abgezielt. Wie sehr Paulus zumindest scheinbar die gängige Vorstellung über das Wesen eines Sklaven teilt, zeigt sich besonders deutlich in Phlm 15. Das Verb apecho begegnet hier in der Bedeutung »empfangen haben, erhalten haben«. In diesem Sinne begegnet der Begriff auch in zahlreichen Papyrus -Belegen, und zw ar v or allem in Quittungen: es handelt si ch um den spezifischen Ausdruck, mit dem der Empfa n g von Waren oder Geld quittiert wird (z.B. O.Wilck. 402,2 [52 n.Chr.]). Bezeichn enderwei~e findet sich in den Papyri bisher kein einziges Beispiel, in dem eindeutig vom »Empfang« eines Menschen die Rede ist. Die paulinische Wortwahl ist in diesem Fall also drastisch und in ihrer Verdinglichung einzigartig: Philemon wi d nach de : - Aussage des Paulus bald imstande sei , den Erhalt seines Sklaven zu quittieren! Was ist aber nun das Neue, das Paulus hier recht grundsätzlich in die Frage einbringt, wie ein ZNT 14 (7.Jg. 2004) Sklave behandelt werden soll, konkret der Sklave des Philemon, mit dessen Verhältnis zu seinem Herrn es ganz und gar nicht zum Besten steht? Der Kern des ganzen Briefes liegt in V. 17; hier äußert Paulus in Form eines Imperativs sein eigentliches Anliegen gegenüber Philemon: » Nimm ihn (gemeint ist der Sklave Onesimos) auf wie mich «, also wie Paulus selbst, was bedeutet: als koinonos - Paulus macht dies im vorhergehenden Konditionalsatz deutlich; als koinonos, und das meint im Zusammenhang höchstwahrscheinlich mehr als den Glaubensbruder (vgl. V. 6) oder den »geliebten Bruder « (V. 16), denn als solchen soll Philemon ja seinen Sklaven nicht nur »im Herrn«, sondern »sowohl im Fleisch als auch im Herrn « erhalten (V. 15-16). In diesem »fleischlichen «, alltäglich menschlichen Kontext wird mit koinonos, wie die dokumentarischen Papyri zeigen, vor allem der Geschäftspartner bezeichnet. Die Beispiele dafür sind überaus zahlreich. Paulus selbst bezeichnet sich in Phlm 17 freilich im übertragenen Sinn als Teilhaber des Philemon, war doch schon in V 6 die Rede von der Gemeinschaft des Glaubens des Philemon. 15 Durch die folgende Aufforderung, Onesimos so aufzunehmen wie Paulus, wird aber auch Onesimos in diese Gemeinschaft mit hineingenommen, womit Paulus möglicherweise mehr im Auge hatte als » nur « eine »Partnerschaft« im Glauben. Der textliche Zusammenhang des Philemonbriefes legt auf dem Hintergrund der dokumentarischen Quellen folgende Deutung nahe: Philemon wird aufgefordert, seinen Sklaven Onesimos im vollen Sinn als Partner aufzunehmen, im religiösen Sinn als Glaubensbruder, aber auch im menschlichen Sinn als mitverantwortlichen Partner im Rahmen seiner alltäglichen Geschäfte oder in der Leitung der christlichen Gemeinde, die ja in seinem Haus zusammenkommt. Die zweite Möglichkeit wäre sogar die bedeutendere gewesen, denn das hätte geheißen, Onesimos für die ganze Gemeinde ebenso wichtig und einflussreich werden zu lassen wie Philemon und Paulus. Im Zusammenhang damit wäre auch zu überlegen, ob dann nicht die zweite Möglichkeit die erste mit einschließen hätte müssen, damit für einen derart wichtigen Aufgabenbereich innerhalb der Gemeinde auch die dafür nötigen wirtschaftlichen Voraussetzungen geschaffen worden wären, für die am ehesten Philemon durch eine geschäftliche ZNT 14 (7. Jg. 2004) Pet e r Ar zt - Gr a bn e r Di e Pa ulusbrie fe im li c ht e d e r Alltag spa pyri Partnerschaft mit Onesimos hätte sorgen können. Paulus fordert Philemon damit auf, seinen Sklaven Onesimos mit einer gehobenen, verantwortungsvollen Position zu betrauen, also mit einer Position, die für Sklaven sicher nicht alltäglich war, andererseits aber durchaus erreichbar auch das bestätigen nicht wenige Papyri aus dem griechisch-römischen Alltag. Ich erwähne hier nur ein Beispiel, das sich aufgrund der Quellen besonders gut dokumentieren lässt: der Fall eines gewissen Epagathos, den sein Besitzer L. Bellienus Gemellus 16 um das Jahr 100 n.Chr. mit der Verwaltung einiger seiner Landgüter betraut hatte. Die erhaltene umfangreiche Korrespondenz zwischen Gemellus und seinem Sklaven enthält immer wieder sehr konkrete Anweisungen, die Epagathos auszuführen hatte. Als Text-Beispiel soll hier ein Brief wiedergegeben werden, den Gemellus am 11. September 94 n.Chr. an Epagathos schrieb - P.Fay. 110 (mit BL 1,131; 6,37; siehe auch BL 2.2,56): »Lucius Bellienus Gemellus seinem Epagathos, Gruß. Du wirst gut daran tun, wenn du meinen Brief erhalten hast, dass du anordnest, dass dort der Dünger hinausgeschafft wird, damit das Getreidemagazin, das du Magazin nennst, errichtet wird, und hebe einen tiefen Graben rund um die Ölpresse aus, damit die Ölpresse nicht leicht zu übers chreiten ist, und sondere den Dünger ab für die Düngung, und sie (sc. unsere Sklaven) sollen alle unsere Felder bewässern, damit die Schafe dort übernachten, und s ie sollen die Olivenhaine ein zweites Mal bewässern, und fahre nach Dionysias und erkundige dich, ob der Olivenhain zweimal bewässert und umgegraben worden ist, wenn aber nicht, soll er bewässert werden ... und gib ... und Psellos, den Sitologen ... und Chairas, dem Schreiber der Bauern, und Heraklas 90 Drachmen und die Zins en, und Chairas, dem früheren Steuereintreiber, 24 Drachmen, und Didas ... den Betrag für die Gerste, 240 Drachmen und Zinsen, und Heron, dem früheren Leiter, die Zinsen zweier Jahre, 120 Drachmen. Und die Zimmerleute sollen die Türen anferti gen (oder vielleicht gemeint: einpassen oder einsetzen); ich sende dir die Ausmessungen. Die Binsengeflechte zur Ölpresse lass doppelt machen, aber zu den Magazinen einfach. Leb wohl! Im 14. Jahr des Imperators Caesar Domitianus Augustus Germanicus, am 14. des Monats Germanicus. Handle nicht anders! (Verso) Gib dem Epagathos von Lucius Bellienus Gemellus .« Das Beispiel des Epagathos wirft auch insofern ein bezeichnendes Bild auf den Philemonbrief, als 27 Z um Thema Epagathos ge es ~en an seiner verantwortungs vollen Stellung a ich ein erstaun liches Maß an Gedankenlosigkeit an den Tag legen k onnte. In einem Brief aus d em Jahre 95 oder 96 n.Chr. (P.Fay. 111) wird er von seinem Herrn heftig getadelt: zwei Schweine, die er für den Haushalt des Gemellus hätte liefern sollen, sind im wahrsten Sinn des Wortes: auf der Strecke geblieben; Epagathos ließ die armen Tiere auf der Straße zu seinem Herrn treiben, obw hl er vor Ort mehr als genug Lasttier e zur Verfügung gehabt hätte, um die Schweine tran portieren zu lassen. Gemellus schreibt Z. 3-10: » Ich tadle dich se h r, weil du zwei Schweine as r verenden lassen an den Strapazen des Weges, ob wohl dir im Dorf zehn Lasttiere zur Verfügu n g stan den. Der E seltrei ber Herakl idas h at die Schuld v on sich gewiesen und gesagt, dass du ihm gesagt hast, die Schweine zu Fuß zu treiben< . Trotz eines erkennen, wie sich auch überhaupt bei Paulus noch keine direkten Anzeichen finden, die Sklaverei als solche abschaffen zu wollen. Gerade der Vergleich mit den Texten des griechischrömischen Alltags zeigt: , wie sehr Paulus mit den darin beschriebenen Gegebenheiten vertraut war, wie sehr er aber auch ein Gespür dafür hatte, wo Veränderungen und neue Ansätze im Sinne seines Herrn Jesus möglich waren und eine Chance auf Erfolg hatten. Den Sklaven Onesimos, der von seinem Herrn bisher als »unbrauchbar« eingeschätzt wurde, nicht »unbrauchbar« sein zu lassen, sondern in eine gehobene Vertrauensposition zu setzen, war in der damaligen Situation mit Sicherheit die für den Sklaven weitaus bessere Lösung, als ihn mittellos und unbedarft in eine nicht sehr aussichtsreiche Zukunf: hinein freizulassen. In seiner neuen Position konnte er sogar hoffen, derartigen Vorfalles genieß t Epagathos weiterhin das Vertrauen seines Herrn für d ie ihm übertragen en A ufgaben. Das eigentlich Besondere der Forderung des Paulu s liegt darin, dass Phi lemon jenem Sklaven c.erart großes Vertrauen entg egen bringen »Da s eigentlich Besondere der Fo rderung des Paulus liegt da: ,in, dass Philemon jenem Sklaven derart großes Vertrauen entgegen bringen soll, den er bis zuletzt als >unbrauchbar< angesehen hat.« nach entsprechender Zeit sich selbst mit seinen eigenen Mitteln freizukaufen, sicher nicht ohne sich vorher auch für die weitere Zukunft relativ abgesiche rt zu haben. Auch wenn der Ansatz des Paulus also nicht die unmittelbare Abschaffung der soll, den er bis zule r zt als " unbrauchb ar« angese hen hat . Wie das Beispiel des Epagathos zeigt, wurden zwar Sklaven in gehobenen Positionen nicht au t omatisch · us diesen entfern t, wenn sie sich einmal als sehr unzuverlässig erwiesen hatten, doch einen Skkve n gerade dann in eine derartige Position empo: zu heben, wenn er si ch gerade wieder als unbrauch bar e rw iesen hatte," das liegt noch einmal auf ein er ganz anderen Ebene. Und hier sollte man wo}J sagen: das liegt auf der Ebe ne des Paulus, d as ist das zentra le, das neue Ele ment, das der Phile monbrief ansprich t und ein bringt! Paulus vollzieht hier einen Ausgleic· , eine Aufhebung der verschiedenen Schichten. Alle drei sich selbst, Phile rn on u n d One simo s sieht er nunmehr als Partn e r. Wäh rend er selbst auf seine Autori t ät verzicht et und sich mit Philemon auf eine gemeinsame Ebene stellt, soll Phil emon seine n Sklaven, ob gleich bisher unbrauchbar, auf dieselbe Ebene stell en . Ein Appell a Philemon, seinen Sklaven Onesimos freizulassen, i st im ganzen Brief nicht zu 28 Sklaverei vorsieht, so enthält er doch indirekt den Keim dazu. Denn wenn sich Sklavenhalterinnen und Sklavenhal ter gemeinsam mit Sklavinnen und Sklaven auf ein und derselben Ebene begegnen, dann führt dies folgerichtig und zwangsläufig zur Aufhebung der Sklaverei. Auswahl wichtiger Fachliteratur: Im weitesten Sinn ist für die »Papyrologischen Kommentare zum Neuen Testament« neben der bibelwissenschaftlichen Literatur natürlich die gesamte papyrologische Primär-· und Sekundärliteratur relevant. Ausführliche Literaturangaben zur Papyruskunde bietet H. -A. Rupprecht, Kleine Einführung in die Papyruskunde (Die Altertumswissenschaft), Darmstadt 1994; eine Übersicht über wichtige Hilfsmittel bietet auch P. Arzt-Grabner, Philemon (Papyrologische Kommentare zum Neuen Testament 1), Göttingen 2003, 9-13 (mit Internetadressen S. 34-35). Das maßgebliche Verzeichnis für Editionen von Papyri, Ostraka und Täfelchen ist die Checklist of Editions of Greek, Latin, Demotic and Coptic Papyri, Ostraca and Tablets, ed. J.F. Oates u.a. (BASPap.S 9), Atlanta '2001 (die jeweils aktuelle Fassung ist im Internet einsehbar: <http: / / odyssey.lib.duke.edu/ papyrus/ texts/ clist.html>). ZNT 14 (7.Jg. 2004) Als Auswahl der unmittelbar relevanten Literatur zum Vergleich neutestamentlicher Texte mit dokumentarischen Papyri und Ostraka sind anzuführen: P. Arzt, Ägyptische Papyri und das Neue Testament. Zur Frage der Vergleichbarkeit von Texten, Protokolle zur Bibel 6 (1997), 21-29. Ders., The »Epistolary lntroductory Thanksgiving« in the Papyri and in Paul, NT 36 (1994), 29-46. Ders., » Brothers« and »Sisters« in Documentary Papyri and in Early Christianity, RivBib 50 (2002), 185-204. Ders., Philemon (Papyrologische Kommentare zum Neuen Testament 1), Göttingen 2003. Ders./ R. Kritzer / A. Papathomas / F. Winter, 1. Korinther (Papyrologische Kommentare zum Neuen Testament 2), Göttingen (erscheint 2005). G.A. Deißmann, Licht vom Osten. Das Neue Testament und die neuentdeckten Texte der hellenistischrömischen Welt, Tübingen 4 1923. Ders., Bibelstudien. Beiträge zumeist aus den Papyri und Inschriften, zur Geschichte der Sprache, des Schrifttums und der Religion des hellenistischen Judentums und des Urchristentums, Marburg 1895 (N achdr. Hildesheim/ New York 1977). 0. Montevecchi, Luca 16,1-8 alla luce dei papiri, in: Paideia cristiana. Studi in onore di Mario Naldini (Scritti in onore 2), Barcelona 1994, 183-188 (Nachdr. in: Dies., Bibbia e papiri. Luce dai papiri sulla Bibbia greca [Estudis de papirologia i filologia bfblica 5], Barcelona 1999, 191-196). Dies., Phoebe prostatis (Rom . 16.2), in: Miscelania papirologica Ramon Roca-Puig, Barcelona 1987, 205-216 (Nachdr. in: Dies, Bibbia e papiri 173-189) . J.H. Mou! ton / G. Milligan, The Vocabulary of the Greek Testament Illustrated from the Papyri and Other Non-Literary Sources, London 1929. New Documents Illustrating Early Christianity, Bd. 1-6 hg. v. G.H.R. Horsley, Macquarie University 1981, 1982, 1983, 1987, 1989, 1992; Bd. 7-9 hg. V. St.R. Llewelyn, Macquarie University 1994, 1998, 2002. A. Papathomas, Das agonistische Motiv lKor 9,24ff im Spiegel zeitgenössischer dokumentarischer Quellen, NTS 43 (1997), 223-241. Ders., Die juristischen Termini im 1. Korintherbrief (im Druck). J.L. White, New Testament Epistolary Literature in the Framework of Ancient Epistolography, ANRW 11.25.2, Berlin/ New York 1984, 1730-1756. Anmerkungen ' J.H. Moulton/ G. Milligan, The Vocabulary of the Greek Testament Illustrated from the Papyri and Other Non- Literary Sources, London 1929. 2 Seit 1993 wird dieses Projekt auch vom Österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) gefördert. Informationen über den weiteren Verlauf und jeweils aktuellen Stand dieses Pro- ZNT 14 (7 . Jg . 2004) Peter Arzt-Grabner Die Pau l usbriefe im lich t e der A ll tagspapyri jektes sind im Internet unter folgender Adresse zu finden: <http: / / www.sbg.ac.at/ anw/ projects/ papyri.htm>. 3 Neuer Wettstein. Texte zum Neuen Testament aus Griechentum und Hellenismus, hg. v. G. Strecker/ U . Schnelle; bisher sind erschienen: Bd. 2: Texte zur Briefliteratur und zur Johannesapokalypse, Teilbd . 1 und 2, Berlin/ New York 1996; Bd. 1: Texte zum Johannesevangelium, Teilbd. 2, Berlin/ New York 2001. Siehe dazu auch G. Strecker, Das Göttinger Projekt »Neuer Wettstein«, ZNW 83 (1992), 245-252. • Die Angabe der Papyrusbelege richtet sich nach der Checklist of Editions of Greek, Latin, Demotic and Coptic Papyri, Ostraca and Tablets, ed. J.F. Oates u.a. (BASPap.S 9), Atlanta 5 2001 (eine aktualisierte Fassung ist im Internet einsehbar: <http: / / odyssey.lib.duke.edu/ papyrus/ texts/ clist.htmi> ). 5 Dion Chrysostomos (geboren in Prusa um 40 n.Chr. und somit ein Zeitgenosse des Paulus) erwähnt ein Kollegium der Leinenarbeiter (Oratio 34,21). 6 BL = Berichtigungsliste der Griechischen Papyrusurkunden aus Ägypten. Bd. 1, hg. v. F. Preisigke, Berlin/ Leipzig 1922; Bd. 2, in zwei Teilen hg. v. F. Bilabel, Heidelberg 1929/ 1933; Bd. 3, hg. v. M. David/ B.A. van Groningen / E. Kießling, Leiden 1958; Bd. 4, hg. v. M. David/ B.A. van Groningen / E. Kießling, Leiden 1964; Bd. 5, hg. v. E. Boswinkel/ M. David/ B.A. van Groningen/ E. Kießling, Leiden 1969; Bd. 6, hg. v. E. Boswinkel/ P.W. Pestman/ H.-A. Rupprecht, Leiden 1976; Bd. 7, hg. v. E. Boswinkel/ W. Clarysse/ P.W. Pestman/ H.- A. Rupprecht, Leiden 1986; Bd. 8, hg.v. P.W. Pestm an/ H.-A. Rupprecht, Leiden u.a. 1992; Bd. 9, hg. v. P.W. Pestman/ H. -A. Rupprecht, Leiden / New York/ Köln 1995; Bd. 10, hg. v. P.W. Pestman/ H.-A. Rupprecht, Leiden u.a. 1998; Bd. 11, hg. v. H.-A. Rupprecht/ A.M.F.W Verhoogt, Leiden/ Boston 2002. 7 Siehe ferner Röm 15,8; lKor 1,6; beachte auch Phil 1,7. 8 Eine zeitgenössische Quittung über Webersteuer lautet - O.Wilck. 1040 (58 n.Chr.): »Petechonsis, Sohn des Petem ... , und seine Kollegen, die Steuereinnehmer der Webersteuer, an Abos, Sohn des Pikos, Gruß. Wir haben die Steuer für die Monate Phamenoth und Pharmuthi des 4. Jahres Neros, des Herrn, erhalten«. Zum Wortlaut beachte auch Phil 4,18. 9 Vgl. W.L. Westermann, Apprentice Contracts and the Apprentice System in Roman Egypt, CP 9 (1914), 295- 315: 298. ' 0 Die in den Lehrverträgen angegebene Laufzeit variiert, man findet Angaben für ein Jahr, zwei oder fünf Jahre. Höchstwahrscheinlich war die im vorliegenden Vertrag genannte Laufzeit von einem Jahr nicht die volle Lehrzeit des Thoonis. Dessen Vater Tryphon ist durch mehrere andere Dokumente als Webermeister bekannt (zum Archiv des Tryphon siehe vor allem M.V. Biscottini, L'archivio di Tryphon, tessitore di Oxyrhynchos, Aeg. 46 [1966), 60-90.186-292); hier lässt Tryphon seinen Sohn wohl zusätzlich zur Lehre im eigenen Betrieb auch außerhalb in die Lehre gehen. Auch drei andere Papyri - P.Mich. III 170 (49 n.Chr.); 171 (58 n.Chr.); 172 (62 n.Chr.)belegen, dass Weberfamilien aus Oxyrhynchus ihre Kinder bei anderen Webermeistern in die Lehre gehen ließen. Die Hg. dieser drei Dokumente liefern dafür zwei Deutungsmöglichkeiten: entweder wollte der jeweilige Weber, dass sein Sohn - oder Neffe im Falle von P.Mich. III 171 (58 n.Chr.)auch andere Techniken 29 Z um Thema als die traditionellen des eigenen Betriebes le rnen konnte, oder es gab gesetzliche Besc hr änkungen, Mitglieder der eigenen Familie als Lehrlinge zu führen. Die zweite Erklärung scheint a fgrund de r drei Michigan-Papyri die wa hrscheinlichere zu sein. Im Durchschnitt dürfte die Lehrzeit für das "' eberhandwerk drei Jah re betragen haben. 11 In einigen anderen Verträgen ist der Webermeister dafür zuständig. Wenn die Verträge diesbezüglich nic hts erwähnen, war offenb ar der natürliche oder gesetzliche Vormu nd des Le hrlings dafür zus tändig (vgl. P.Oxy. IV 725 ). \Veber mussten im Besonderen als Gewerbesteuer die sog. Webe rst euer b eza hlen (im 1. Jh . n .Chr . nicht nur au sgebildete Handwerker, sondern auch min derjährige Lehrlinge; A nfang de s 2. J h. n.C h r. wurden Letztere von diese r Zahlung befreit), fe rn er war en sie zur Z ahlung d er Kopfsteu er verpflichte t sowie der Schwe inesteuer und Damms teuer (a b dem Alter von 14 Jahr en) . 12 Der Webermeister P : olemaios wird also dem Lehrling keinen Lohn zahlen, w as wohl damit zusammenhängt, dass der Vertra g nu r für ein Jahr abgeschlo ssen wird. Wie z.B. P.Oxy. IV 72 5 zeigt, kan n dies für das erst e Lehrj ahr als normal angesehen werden, danach aber steigt de r Lohn oEenb ar im Einklang mir der zuneh menden Qualifi hti n des Lehrlings stark an. Im ge nannten Dokument wird für das erste und zweite J ah r kein Lohn ve reinbart, für das dritte Lehrjahr abe r 60 Drachmen, für d as vierte 192 und für das fiinfte s; ; hließ lich 288 (al so fa st da s Fünffache gegenüb er dem Lohn von zwei Jahren zuvor). 13 Analoge Formulieru ngen finden sich auch in SB X 10236,12-15 (36 n. Ch r.) und in P.Wisc. I 4,9-1 0 (53 n. Chr .). Deutlich and ers ist das Fo rmular z .B. des viel später ve rfasst e: : i Wcberlehrvertrag es PSI IV 287 (mit BL 1,394; 7,234; 377 n. Ch r. ), der vonseiten eine, tarsikarios formulie rt wird und in erster Linie die Verpflichtungen des Weberm eisters gegenüber d em Vater des Lehrlings zum Inhalt hat. 14 Ein d er artiger Hint er grund liegt z.B. für die prostatis Phoebe (Röm 16,1-2) auf der Hand (s iehe z.B. M. Ernst, Bianca Schnupp Die Funktionen der Phöbe [Röm 16,lf.J in der Gemeinde von Kenchreai, Protokolle zur Bibel 1 [1992], 135- 147; 0 . Montevecchi, Phoebe prostatis [Rom. 16.2], in: Miscelania papirolögica Ramon Roca-Puig, Barcelona 1987, 205-216; Nachdr. in: D ies., Bibbia e papiri. Luce dai papiri sulla Bibbia greca [Estudis de papirologia i filologia biblica 5], Barcelona 1999, 173-189]). 15 Ebenfalls im ü bertragenen ~inn: Mt 23,30; 1Kor 10,18.20; 2Kor 1,7; Hehr 10,33; lPetr 5,1; 2Petr 1,4. Im eigentlichen Sinn h ingegen Lk 5,10. S.C. Winter, Paul's Letter to Philemon, NT S 33 (1987), 1-15: 11 -1 2, hat über Phlm 17 die Ansicht vertre ten, Paulus ziele hier auf einen offiziellen Vertrag ab (in den nun auch Onesimos hinein genommen werden solle; , da es sich beim Begriff koinonos um einen juridischen terminus technicus handle, dem stets ein Pa .rt nerschaftsvertrag zu Grunde liege. Dazu ist an dieser Stelle festzu stellen: die Beispiele aus den Papyri zeigen trotz aller Gemeinsamkeiten auch Unterschiede, so dass man sicher nicht von einer völlig strikten und durc hwegs einheitlichen Fassung des Begriffs koinonos ausgehen kar: n. Paulus selbst gibt als koinonos Philemons ein Beispiel dafür ab, dass der Begriff eben auch ü hertragen angewendet we rden kann und nicht unbedingt einen Gesellschaftsvertrag materialiter voraussetzt, was aber nicht bedeutet, dass die Bildebene von der in diesem Fall rechtlichen - Sachebene völlig unbeeinflusst wäre. 16 Zu L. Bellienus G emellus siehe ausführlich W.L. Westermann, An Egyptim Farmer, University of Wisconsin Studies in Language and Literature 3 (1919), 171 - 190; N. Hohlwein, Le ve teran Luc: us Bellienus Gemellus. G entleman - Farmer au Fayoum, EtPap 8 (1957), 69-91; zum Verhältnis von Gemellus und sei: : iem Sklaven Epagathos siehe auch J A. Straus, L'esclavage dans l'Egypte romaine, in: H. Temp orini (Hg.), ANRW II.10.1, Berlin / New York 1988, 841-911 : 875-876. 17 Literarische und dokumentarische Quellen legen nahe, Onesimos nicht als entflohenen Sklaven, sondern als notorischen Herumtreiber zu sehen; siehe dazu P. Arzt- Grabner, Onesimus erro. Zur Vorgeschichte des Philemonbriefes, ZNW 95 (2004), 131-143. Schutzengel 30 Neutestamentliche Entwürfe zur Theo logie 9, 2004, 217 Seiten, € 44,-/ SFr 76 ,- ISB 3-7720- 061 -8 Genealogie und Theologie emer religiösen Vor stellung vom Tobitbuch bis heute Die Schutzengelvorstellung ist ein Aspekt gegenwärtiger Engelfrömmigkeit, der sich weit von seinen jüdisch-christlichen Anfängen entfernt hat und ein sehr eigenes religiös-kulturelles Panorama darstellt. Die Arbeit geht von aktuellen Bezügen aus und verfolgt die Vorstellung von den religionsgeschichtl : i chen Ursprüngen und dem Prototyp im Tobitbuch durch die gesamte Theologiegeschichte. A. Francke Verlag Tübingen und Basel ZNT 14 (7 . Jg. 2004) Zum Thema Ute E. Eisen »Ich vernichte die Streitwagen ... « - Aspekte paulinischer Herrschaftskritik und ihre alttestamentlichen Wurzeln Der jüdische Religionsphilosoph Jacob Taubes hat in seinen Heidelberger Paulusvorlesungen 1987, wenige Wochen vor seinem Tod, die Theologie des Paulus »eine politische Theologie, eine politische Kampfansage an den Cäsaren« 1 genannt. Das sind ungewöhnliche Töne innerhalb der deutschsprachigen Paulusforschung. Diese Aussage stammt sicher nicht zufällig von einem jüdischen Religionsphilosophen, der Paulus stärker aus alttestamentlich-jüdischen Traditionen heraus zu verstehen in der Lage war. An diese Feststellung Taubes' möchte ich im folgenden anknüpfen. Meine Ausführungen bewegen sich zudem innerhalb der Paulusforschungsdiskussion, die sich mit dem Stichwort New Perspective verbindet. 2 Den Auftakt für diese Auslegungsrichtung gab in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts der schwedische Harvard-Neutestamentler und Lutheraner Krister Stendahl mit einer harschen Kritik an der Denktradition des abendländischen Christentums von Augustin über Luther bis in die Gegenwart hinein. Stendahl formulierte wohlgemerkt als Lutheraner und späterer lutherischer Bischof von Stockholm (1984-1988) die schockierende These, dass Luther Paulus falsch verstanden habe und mit ihm die exegetische Auslegungsgeschichte seitdem. Stendahls Hauptkritik protestantischer Auslegung ist es, dass sie die Paulusinterpretation auf die Frage nach dem >Heil des Einzelnen< beschränkte und Paulus einen sozialen Konservativismus attestierte. 3 Dieser im abendländischen Christentum ausgeprägten Konzentration auf eine am Individuum orientierte Interpretation der Rechtfertigungslehre stellte Stendahl die Überzeugung entgegen, dass es Paulus gemäß seiner Berufung zum Apostel für die Völker vor allem um die Frage des soteriologischen Status aller Völker ging, also um die Frage der Rettung auch nichtjüdischer Völker. Stendahl zufolge war Augustin der Erste, der die Rechtfertigungslehre aus ihrem ursprünglich ethnisch-heilsgeschichtlichen Kontext in den des sog. >inneren Gewissens< transformierte. Stendahl ZNT 14 (7. Jg. 2004) schreibt, dass Rechtfertigung nicht länger den Status >der Heiden als Juden ehrenhalber rechtfertigte<, sondern als zeitlose Antwort auf die Nöte und Qualen des ichbezogenen westlichen Gewissens verstanden wurde. Des Weiteren interpretierte Stendahl die paulinische Rechtfertigungslehre nicht länger als Attacke gegen ein angeblich >werkgerechtes< oder >legalistisches< Judentum. In Stendahls Gefolge wurde schließlich das Zerrbild jüdischen Gesetzesverständnisses durch eine gerechtere und angemessenere Charakterisierung antik-jüdischer Religiosität ersetzt. Ich werde im folgenden Überlegungen zur paulinischen Parusievorstellung vortragen, die insbesondere dem Forschungsbereich der antiimperialen Interpretation des Paulus zugeordnet werden können.4 Meine Thesen lauten: 1. Die paulinischen Parusietexte sind als Kritik am Imperium Romanum, ja mehr noch, als Kritik an jedem menschlichen Herrschaftsanspruch interpretierbar.' 2. Diese Kritik ist nicht neu in alttestamentlichjüdischer Tradition. Sie ist in der Hebräischen Bibel verankert. Ich werde meine Thesen in drei Schritten entfalten: Erstens stelle ich das hellenistisch-römischen Parusieritual vor, das den zeitgeschichtlichen Hintergrund für das paulinische Parusieverständnis bildet. Zweitens korreliere ich das hellenistisch-römische Parusieritual mit den Paulustexten zur Parusie Christi. Und drittens zeige ich anhand von Sach 9,9f., dass die herrschaftskritischen Implikationen der paulinischen Parusietexte nicht neu, sondern in der Hebräischen Bibel verankert sind. 1. Was bedeutete Parusie in der hellenistisch-römischen Welt? Parousia ist seit dem 4. Jh. v.Chr. Terminus technicus für den Besuch eines hellenistischen Königs oder einer Königin und später den eines Statthalters und schließlich in der Kaiserzeit den eines 31 Z 1um Thema Kaisers b zw . einer Kaiserin in einer Sta d t.6 Solche sam waren und als zentrale Ereignisse galten, zeu- Besuche wurden von einem Ritual begleitet, das einem bestimmten Ablauf folgte. Die Quellen, die dies belegen, sind vielfältig: In schriften, Papyru sbriefe, Ost r aka, d. h . Tonscherben, di,~ als Schreib- »Die paulinischen Parusietexte sind als Kritik am Imperium Romanum, ja mehr noch, als Kritik an jedem menschlichen gen Bezeichnungen solcher Tage als heilige Tage, die teilweise sogar eine neue Ära einläuteten. Das lässt sich etwa für Kaiser Hadrian belegen. M: t seinem ersten Besuch i: 1 Griechenland im Ja hr 124 n.Chr. hat eine neue material dienten, Münzen, Herrschaftsanspruch interpretierbar ... « Staatsreliefs unc. lit rarische Text e, die den Zeitraum v om 4. Jh. v.Chr. bis zum 4. Jh. n .C hr. ab decken. Sie sind über das gesamte Imp e rium Romanum verstre u t astzutreffe n und ent halten bis ins Detail hinein frap ierende Übereinstimmu: : igen. 7 Voraus gingen solchen Parusien die Bek anntgabe des Termines, damit sich die Stadtverwaltung und -bevölkerung darauf vorbereiten konn te. Das Ritual sah folger: .dennaßen aus : 1. Zuerst erfolgte d ie sog. apantesis, d.h. die »Begegnung« b zw . ,>Einholung« der e rwarteten Person. 8 Apantesis is t Terminus t echnicus dafür, dass de m Herrs her bzw . der Herrsc h erin, dem Statthalter oder de Kaiser bei deren Besuch in einer St adt die Be ölkeru n g ein Stück vor die Mauern der Stadt entgege n zog, die Perso: 1 traf und in die Stadt geleitete. Das bedeutete k onkret: Zum Empfang lief die gesamte Stadtbevölkerung, d.h. Stadtrat un Amtspersonen, Angehörige verschiedener lnst itu ·onen, Männer und Frauen, Schulkin der un Kl in kinder, Pr iester und Pries terinnen, geordnet n ach Rang und Würde, bis zu einer gewissen Ent fernung v or die Tore der Stadt, um die entspre che nd e Per son einzu h olen. Die Berichte der an tiken Auto re n belege n eine rege Beteiligung aller Bev ölkerungsgruppe n . Dabei trugen die Menschen weiße Kleider u nd waren bekränzt, die P sau : ie wurde geblasen, der Herrscher, Statthalter o ,er Kai ser, der in se inem Gefolge Truppen mit sich führte, wurde m it Akkla mationen begrüßt. ei der Begleitung des Introitus wurden hymn enartige Lob lieder gesungen. 2. Es erfolgte der Introitus in eine von F; ; .ckeln und Kerzen erleuc htete Stadt. Der Geruc h von Weihrauch erfüllte die Straßen. Ehrungen erfolgten, etwa, dass d em König ein (goldener) Kranz oder eine Gel s umm e überreicht wurde. Der Kaiser in Rom zog auf das Capitol. 3. Es wurden Opfer vollzogen . 4. Es vvurden Spiele veranstaltet. Davon, dass s 1c e Besuche besonders einpräg- 32 Ära begonnen. 9 Die Funktionen solcher Parusien waren vielfältig: 1. Sie hatten wirtschaftliche Funktionen, indem sie Bautätigkeit in die Städte brachten. Zudem führten sie zu Pri vilegierungen einzelner Städte während des Aufenthalts: Verringerung von Steuern, Schuldenerlasi; oder kaisaerliche Spenden, bestehend aus Geld oder Getreide. Profit und Verlust gingen dabei oft Hand ir_ Hand. Die Könige, Statthalter oder Kaiser kamen mit großem Gepräge und Truppen, was zu einer erhöhten Nachfrage an Versorgungsleistungen führte. Erwartet wurde die Bereitstellung von Kleidung, finanzieller Ausstattung, Transportmitteln und Unterkunft auf Basis von Gastfreundschaft. Das führte teilweise zu erheblichen finanziellen Engpässen in den Städten, zu Beschwerden und im schlimmsten Fall zum Bankrott der Aristok ratie. 10 2. Die Parusien hatten richterliche, notarielle und polizeiliche Funktionen. Insbesondere kam den Statthaltern die Aufgabe zu, während ihres Aufenthalts in der Stadt Petitionen und Briefe entgegenzunehmen sowie Gesandtschaften zu empfangen. 3. Vielfach begegnet das Parusieritual im Zusammenhang von Krieg und Frieden. So lässt sich etwa die spezifische Form der Parusie als Ergebungsritual nachweisen. Z.B . wird von der Parusie eines kriegerischen Diadochenherrschers in Athen berichtet (291/ 290 v.Chr.), bei der die Stadtbevölkerung ihn nach allen Regeln des Parusierituals empfangen hat mit der Botschaft: »Zuerst schaff Frieden " Liebster, denn Herr bist du«. 1 1 Es handelt sich hier um ein Parusieritual, das als freiwilliges Ergebungsritual gedeutet werden kann. Die Formulierung »zt: .erst schaff Frieden« kann dabei als Beschwichtigungsaussage gegenüber dem siegreichen Feldherrn gelesen werden. Auch Josephus berichtet aus : : lern Jüdischen Krieg Parusien dieser Art von Kaiser Vespasian in verschiedenen galiläischen Städten 1Jos., bell.iud. 3,33; 3,459; 3,461). ZNT 14 (7. Jg. 2004) Ute E. Eisen Prof. Dr. Ute E. Eisen, Jahrgang 1961, studierte Evangelische Theologie in Erlangen, Berkeley/ Carlifornia und Hamburg. 1989-1993 Wiss. Mitarbeiterin am Fachbereich Ev. Theologie in Hamburg. 1994 Promotion; 1994-2002 Wiss. Assistentin am Institut für Neutestamentliche Wissenschaft und Judaistik der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität in Kiel; 2003 Habilitation. Seit 2004 Professorin für Bibelwissenschaften Altes und Neues Testament an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Forschungsschwerpunkte: Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte, Literaturwissenschaftliche Analyse der Bibel, Genderforschung, Geschichte des frühen Christentums, die Bibel in Bild und Film sowie in neuen Medien. Diverse Veröffentlichungen: http: / / www.unigiessen.de/ fb04/ theologie/ ev/ B W/ B W%20Eisen%20HP.htm Das zeigt: Mit Parusie und Apantesis verband sich häufig der Wunsch nach Frieden. Das machen die Ergebungsszenen deutlich. Parusien wurden aber insbesondere auch für eigene erfolgreiche Könige, Feldherren und Kaiser anlässlich erfolgreicher militärischer Leistungen ausgerichtet. Für die frühe Prinzipatszeit, d.h. um die Zeitenwende, ist die mit dem Adventus verbundene Friedensidee am Beispiel des Augustus sehr gut zu illustrieren. Augustus zog insgesamt dreimal, in den Jahren 29, 19 und 13 v.Chr. unter großer Anteilnahme der Bevölkerung in Rom ein. Anlässlich des Adventus des Augustus im Jahre 13 v.Chr. wurde der sog. Altar des Augustusfriedens, die Ara Pacis, errichtet. Auffallend ist auch hier, ähnlich wie in den hellenistischen Parusietexten, die Verbindung mit dem Friedensgedanken. Die Parusie der jeweiligen Person wird als Bürgschaft ZNT 14 (7. Jg. 2004) Ute E. Eisen »Ich vernichte die Streitwagen .. . « für eine anhaltende Friedenherrschaft interpretiert. 4. Der Kaiseradventus ist unter dem Stichwort >Kaisernähe< in die Forschung eingegangen. 12 So deutet Egon Flaig das Ritual des Kaiseradvents in einer groß angelegten Studie soziopolitisch. 13 Es bedeutete konkret die Nähe der Untertanen zu ihrem Kaiser. Im Adventus entfaltete sich die gesamte Gliederung der städtischen Gesellschaft, gestaffelt nach Rang, sozialem Status und Würde bis hin zum niederen Volk. Da alle, einschließlich der Kinder, anwesend und gefragt waren, wird darin die Pflege des gesellschaftlichen Konsenses, des consensus universorum deutlich. Es handelt sich also um ein >politisches Konsensritual< der Stadtbevölkerung und seiner Aristokratie. In diesem Ritual gewann die symbolische Einheit des sozialen Körpers der Stadt ihre eindringlichste Darstellung. Das Adventusritual war also gemeinschaftsfördernd und Herrschaft bekräftigend. Angesichts der Masse der Quellen in dem Zeitraum vom vierten vorchristlichen bis zum vierten nachchristlichen Jahrhundert im gesamten Raum der hellenistisch-römischen Welt, die von Parusien von Königen, Statthaltern und Kaisern zeugen, ist davon auszugehen, dass dieses Ritual den meisten Bewohnerlnnen größerer Städte innerhalb des Imperium Romanum auch im 1. Jh., also zur Zeit des Wirkens des Paulus, plastisch vor Augen stand. 2. Die paulinischen parousia-Texte im Vergleich mit dem hellenistischrömischen Parusieritual Das eschatologische Ereignis des Kommens Christi bezeichnet Paulus ebenfalls mit dem Begriff parousia. 14 Immer häufiger wird in der exegetischen Sekundärliteratur betont, dass parousia kein Terminus technicus aus der Septuaginta ist, sondern aus dem hellenistischen Sprachgebrauch stammt. 1 ; Wie oben gezeigt werden konnte, ist er vielmehr Terminus technicus für den Besuch eines hellenistischen Königs oder einer Königin, eines Statthalters oder eines Kaisers oder einer Kaiserin in einer Stadt. Dass auch für Paulus diese Vorstellung bei seiner Parusieentfaltung Pate gestanden hat, zeigt seine Kombination der Begriffe parousia und apantesis in lThess 4,15-17, denn dieses Begriffspaar war für das hellenistisch-römische 33 Z tLJm Thema Parusieritual charakt eristisch (s.o.) . Darüber hinaus weisen Einzelzüge sein er Argumentation auf seine Anknüpfung und zugleich Abgrenzung vom hellenistisch-römischen Parusieverständnis. Paulus be zeicl-..net das esc hatologische Kommen Christi insgesamt fün fmal in seinen Briefen mit dem griechischen Begriff parousia (lThess 2,19; 3,13; 4,15- 1 7; 5,23; 1Kor 15,23). Neben diesen expliziten Thematis ie rungen der Parusie Christi finden sich noch zahlr eiche w eitere Hinweise auf seine Erwartung de eschatologischen Kommens Christi (etwa 1Kor 16,22; 2Kor 1,14; hil 3,20f; 4,5; Röm 13,1 lf.) . Die ausführlichste Schilderung der parousia Christi durch Paulus findet sich in seinem älte sten Brief, dem Thessalonicherbrief (lThess 4,13 -5,1 1 ). Anl ass für die paulinische Erörterung der Parusiefrage war die in Th essaloniki virulent gewordene Frage, wa„ mit den Versto rbenen bei d er Parusie Christi geschehe (1 Thess 4,15-17): 14 »Dies es nämlich sagen wir euch mit einem Wort des Herrn, dass wir, die Lebenden, die Übriggeb li ebenen bis zurr_ Kommen (pa rousi a) des Herrn den Entschlafenen nicht zuvorkomme n we : : -den . Denn er selbst, der Herr, wird mit einem Befehlswort, mit der Stimme des Erzengels und der Posaune Gottes vom H immel he rabkommen, u nd die Toten in Christus werden zuerst auferstehen, danach werden wir, die Lebe de n, die übrigbleiben, zugleich mit ihnen auf Wolken in die Luft entrückt we rd en zur Einholung (apant esis) des Herrn . Und so werden wir b ei dem Herrn sein alle Zeit.« Die An tw ort de s P aulus ist eind eutig: Die Verstorbenen werden zuerst auferstehen und danach zusammen mit den noch Lebend en entrückt zur »Einholung« (apantesi s) des Herrn. Hier begegnet der für das hell niscisch-römische Parusieritual typische Begrif: der Apan tesis. Dieser Vorgang wird in den Qt: ellen häufig auch durch Verben des Wortstammes ag o beschrieb en, daher erklärt sich auch der Gebrauch dieses Verbes kurz vo r der zitierten Passag e in 1Thess 4, 14. D : ese terminologis chen Pa rallelen zeigen, dass Paulus die Parusie Christi in die Begriffli ch keiten u nd die Vorstellungswe! t des hellenistischrömischen Parusierituals fa3st. E r stelle klar, dass, wie bei der politischen Parusie, auch bei der Parusie Christi alle beteiligt sind. Die Verstorbenen w erden nicht fehlen und auch nicht hintanstehen. D as markiert aber zugleich nch den Unterschied zur politi- 34 sehen Parusie, wo eine deutliche Einhaltung von Rang und Würde a ls Ausdruck der hierarchischen Ordnung bei der Einholung anzutreffen ist. Eine solche gibt es bei der Parusie Christi nicht: Die Auferstandenen und die Lebenden werden zusammen dem Herrn entgegen gehen. In unmittelbarem Anschluss an diese Ausführungen fährt Paulus mit seiner Entfaltung der Parusiethematik fo rt (1 Thess 5,1-3): »Über Zeiten un ci Stunden (chronoi kai kairoi), Geschwister, ist es nicht nötig, euch zu schreiben, denn ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommt wie ein Dieb in der Nacht. Wenn sie sagen: Friede und Sicherheit! (irene kai asphaleia), kommt plötzlich Verderb en über sie wie die Wehen über eine schwangere Frau, und es gibt kein Entrinnen.« Paulus fährt hier mit der Erörterung der Frage nach dem Wann der Parusie fort, also der Terminfrage. Für die politischen Parusien war es signifikant, dass sie angekündigt wurden, damit entsprechende Vorbereitungen auf Seiten der Stadtbevölkerung getroffen werden konnten. Paulus greift ebenfalls die Terminfrage auf, betont aber die Andersartigkeit der Parusie Christi. Diese Parusie kommt »wie ein Dieb in der Nacht«, also unerwartet und überraschend. Vorbereitungen dafür können dann nicht mehr getroffen werden. In den folgenden Versen betont Paulus vielmehr, dass die Vorbereitungen der Gemeinde schon jetzt erfolgen müssen. Er schreibt: »Also lasst uns nicht schlafen wie die anderen, sondern wach und nüchtern sein« (1Thess 5,6). Seine Ermahnungen zu Wachsamkeit und Nüchternheit münden schließlich in seine berühmte Rede von der geistlichen Waffenrüstung: Die Glaubenden sollen den Brustpanzer des Glaubens und der Liebe und den Helm der Hoffnung auf Rettung anlegen (1 Thess 5,8). Was an der gesamten P: uusieerörterung in lThess 4,13-5,11 vor allem auffällt, ist die apokalyptische Diktion. Typische apokalyptische Motive enthält die Rede von den Übriggebliebenen (vgl. 4Esr 6,25; 7,27f.; 9,8; 12,31-34; 13,24.48), der Stimme des Erzengels (vgl. Dan 12,1 LXX; Apk- Mos 22; AssMos 10 ,2), der ? osaune Gottes Qes 27,13; Sach 9,14; 4 Esra 6,23; 1Kor 15,51f., Mt 24,31), dem Herabkommen des Kyrios (etwa Mi 1,3; Jes 26,21; AssMos 10,3.7; 12,13; PsSal 18,5; äthHen 1,3f.; 100,4; Sib 3,286.3D8), der Entrückung (Apg 8,39; 2Kor 12,2.4; Offb 12,5), den Z~T 14 (7. Jg. 2004) Zeiten und Stunden (Dan 2,11; 7,12; Weish 8,8; Apg 1,7), dem Kommen wie ein Dieb in der Nacht (vgl. QLk 12,39 par.; Offb 3,3; 16,15), dem Wehe der Schwangeren (vgl. Hen 62,1-6; 4 Esra 4,40-42). Auch ist die Vorstellung des Tages des Herrn biblisch verankert und mit dem Gericht Gottes verknüpft (vgl. LXX Am 5,18.20; Joel 2,1; Jes 13,6.9; Ez 7,10; 13,5). Es kann festgehalten werden: Die Einzelmotive der Argumentation sind vorrangig apokalyptisch und damit alttestamentlich-jüdisch. Innerhalb der apokalyptischen Motive tauchen jedoch Begriffe auf, die den imperialen Kontext als Deutungshintergrund der paulinischen Rede nahe legen. Das ist zum einen das Begriffspaar parousia und apantesis wie oben bereits gezeigt. Hinzu kommt die Wendung »Friede und Sicherheit«, wie sie Paulus im oben zitierten Text gebraucht (1 Thess 5,3 ). Diese Wendung ist mittlerweile als römischer Slogan erkannt worden, der als Programm der frühprinzipalen Zeit gilt: die römische Formel »Friede und Sicherheit« (pax et securitas). 1 ; Mit dieser exegetischen Entdeckung ging die Einsicht einher, dass diese Wendung nicht von der alttestamentlichen Losung der Falschpropheten, >»Friede, Friede<, obwohl doch kein Friede ist Qer 6,14; 8,11; Ez 13,10)«, stammen könne, da Schalom in der Septuaginta niemals mit dem griechischen Begriff asphaleia (Sicherheit), wie er hier begegnet, übersetzt wurde. 16 Damit schied die Herkunft dieser Begriffskombination aus dem alttestamentlich-jüdischen Kontext aus. Zahlreiche pagane Quellen, vor allem auch Inschriften belegen, dass es sich eindeutig um einen zeitgenössischen politischen Slogan handelt. Daraus kann geschlossen werden, dass die Wortkombination »Friede und Sicherheit«, wie sie Paulus hier gebraucht, eine für paulinische Zeitgenossinnen und Zeitgenossen deutliche Anspielung auf den imperialen politischen Lebenskontext war und zugleich eine Kritik an diesem implizierte. Paulus gebraucht den Begriff der Parusie noch drei weitere Male im 1. Thessalonicherbrief. In 1Thess 2, 19 bezeichnet Paulus die Gemeinde Thessalonikis als »unsere Hoffnung«, »unsere Freude«, »unseren Ruhmeskranz« angesichts der Parusie Jesu. Für Paulus ist die von ihm gegründete Gemeinde offensichtlich ein Kranz, den er seinem Herrn überreichen kann am Tage der parousia, also möglicherweise nicht oder nicht nur, wie es in der Regel verstanden wird, ein Kranz, ZNT 14 (7.Jg. 2004) Ute E. Eisen »Ich vernichte die Streitwagen ... « mit dem er selbst als Apostel bei der parousia geschmückt wird. Beide Aspekte konnten bei der hellenistisch-römischen Parusie eine Rolle spielen. Eine weitere paulinische Erwähnung der Parusie Christi folgt in 1Thess 3, 13. Paulus nimmt die Parusie hier in zweifacher Weise in den Blick: Erstens thematisiert er die »Stärkung der Herzen der Gläubigen, damit sie untadelig seien in Heiligkeit vor Gott beim Kommen des Herrn«. Hier klingt die Gerichtsthematik an. Sie ist auch virulent bei den politischen Parusien. Zu deren Funktionsbereich gehörten unter anderem das Gerichthalten und die Verfolgung politischer Gegner. Auch bei Paulus ist ein Gerichtsgedanke anzutreffen, wenn er in 1Thess 5,4ff. die Gemeinde ermahnt, sich beständig auf den Tag vorzubereiten. Insgesamt herrscht aber in 1Thess 5, 9f. und 1Thess 3, 13 der zuversichtliche Grundton, dass Gott die Christlnnen aufgrund des Kreuzestodes Christi nicht für sein Zorngericht bestimmt hat. Zweitens stellt Paulus in 1Thess 3,13 die Parusie Christi als ein Ereignis vor, das Jesus mit Gefolge zeigt: mit allen seinen Heiligen. Hier könnte Sach 14,5 im Hintergrund stehen, wo die mit Gott kommenden Heiligen den himmlischen Hofstaat, also die Engel bedeuten. Begleitung war auch ein Charakteristikum der politischen Parusien. Herrscher kamen nicht alleine, sondern in Begleitung bewaffneter Soldaten. Das bedeutete im Zusammenhang hellenistisch-römischer Parusien immer auch eine Demonstration militärischer Macht. Konkret kann man sich vorstellen, was das bedeutete. Wenn die römischen Soldaten in den Provinzen in voller Bewaffnung einzogen, trugen sie große Schilde, Brustpanzer, Helme, Schwerter, Speere und Äxte. Auch das Motiv des Begleitetwerdens findet sich bei der paulinischen Parusie Christi. So erwähnt Paulus, dass Jesus nicht allein kommt, sondern »mit allen seinen Heiligen«. Hier ist aber wohl an Engel als seine Begleitung gedacht. Dabei wird die Differenz zur politischen Parusie deutlich. Gefolge ja, Heilige, Engel, aber keine bewaffneten Soldaten. Die Bewaffnung, von der auch Paulus spricht, ist eine andere, es ist die geistliche Waffenrüstung (lThess 5,8). Die letzte Erwähnung der Parusie im 1Thess erfolgt im abschließenden Gebetswunsch in 5,23f. Paulus formuliert: »Der Gott des Friedens heilige euch ganz und gar 35 Z 1um Thema und bewahre euren Geist, eure Seele und euren Leib unversehrt, damit i; ir untadelig seid bei d er Parusie unseres Herrn Jesu s Christus. Treu ist der, der euch beruft, er wird es auch tun «. Auch hier steht also die Gewissheit im Zentrum, dass die Glaubenden bei der Parusie vor Gott bestehen können. Das Thema Frieden ist für Paulus zentral. So rekurriert er nicht nur hier auf den »Gott des Friedens «. Vielmehr haben wir es hier mit einer besonders von Paulus gebrauchten Wendung zu tun (Röm 15,33; 16,20; 1 Kor 14,33; 2 Kor 13, 11 ; Phil 4,9). Sehr häufig begegnet der Begriff de s Friedens in den Paulusbriefen in den Präskripten (Röm 1,7; lKor 1,3; 2Kor 1,2; Gal 1,3; Phil 1,2; lThess 1 ,1 und Phlm 1,2) und in den Schlusswünsche n. 'orrangig re kurriert Paulus hier auf den Schalo mb egriff, der in der Hebräischen Bibel von so großer Bedeutu n g ist. In 1Thess 5 parodiert Paulus mit der Formel »Friede und Sie erheit" die julisch-claud ische Dynastie und ihre Rede vo m Frieden. Paulus macht unmissverständLch deutlich, dass er den von diesen Machthabern ve rkündeten Frieden und ihre Sicherheit für schei 1a ft hält. Die letzte Erwähnung des Kommens Christi mit das Kommen Chri: .ti aber mit eigenen Akzenten analog zu dem weltlicher He: : -rscher. Damit markiert er in provozierender, aber zugleich auch subtiler Weise, wer für ihn und seine Gemeinde der wirkliche Herrscher der Welt ist und welche Maßstäbe für diesen und dessen Anhängerinnen gelten. 3. Ist diese paulinische Herrschaftskritik neu oder gibt es dafür alttestamentliche Wurzel n? Paulus knüpft in seiner Schilderung des eschatologischen Kommens Christi bildlich und begrifflich nicht nur an die hellenist: sch-römische Parusievorstellung an, sondern ebenso an alttestamentlich-jüdische Königsbzw. Herrscherkritik, die in der Hebräisc . en Bibel reich belegt ist. Ich möchte aus der Fülle der Belege einen Text herausgreifen, der an die Vorstellung der hellenistischen Herrscherparusie anknüpft und diese zugleich kritisiert. Es ist ein Prophetlnnenwort, 17 das im frühen Christentum rezipiert wurde und sicher auch Paulus bekannt war. Es handelt sich dem Begriff Parusie im Co r pus Paulinum steht im ersten Brief an die Gemeinde in Ko rinth. Hier geht es um di e »Ordnung« beim Ko mm en des Herrn. Paulus betont »Ers- »In JThess 5 parodiert Paulus mit der Formel >Friede und Sicherheit< die julisch-claudische Dynastie und ihre Rede vom Frieden.« um Sach 9, 9-10. Dieses Prophetlnnenwort steht in der Traditionslinie einer theologischen Kritik herkömmlichen Herrscherverständnisses, hier insbesondere des hellenistischen Gottkönigtums . 1 ' ter ist Ch ristus« und spielt damit auf dessen berei ts erfolgte Auferstehung an. Beim Kommen des H errn schließ lich folgen ihm alle, die zu ihm geh·· ren. Hier liegt der Schwerpunkt darauf, da ss erstens alle Christinnen und Christen dabei sind und dass es zweitens unter diesen keine Rangs tufen gibt. Paulus operiert hier zwar mit dem Begri ff und der Vorstellungswelt der politischen Parusie, di e Rangstufen kannte, modifiziert diese ab er im Hinblick auf d ie besonderen Bedingungen der Herrschaft sein es Herrn, dessen Kommen er verkündigt: Rangstufen gibt es nicht mehr (vgl. Gai 3,28). Abschließend kann fest ge halten werden: Das hellenistisch-römisc e Parusieritu al war der Enzyklopädi e der Rez ipientlnnen der Paulus briefe eingeprägt. Indem Paulus Begri ffe und Vorstellungen daraus aufgreift, knüpft er an die Vorstellungswelt seiner Rezipientinnen und Rezipienten an. Er fasst 36 Es wird im frühen Christenrum im Rahmen der Erzählung vom Einzug Jesu in Jerusalem aufgegriffen. Diese Erzählung, die szenisch ebenfalls an die Vorstellungen der hellenistisch-römischen Herrscherparusien anknüpfte, wird von allen vier Evangelien aufgenommen. Das Matthäusevangelium (Mt 21,5) und das Johannesevangelium Qoh 12,15) deuten den EinzugJesu in Jerusalem explizit mit dem alten Prophetlnnenwort aus Sach 9,9. Explizit zitiert wird: »Siehe, dein König kommt und reitet auf einem Eselsfüllen.« Diese Anspielung auf eine königliche Einzugsszene stammt aus Sach 9,9-10. Der gesamte Text lautet: (9) Juble laut, Tochter Zion, jauchze, Tochter Jerusalem . Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerecht, ~r und einer, dem geholfen wurde, 1st er, ZNT 14 (7. Jg. 2004) demütig und auf einem Esel reitend, auf einem jungen Esel, dem Fohlen einer Eselsstute. (10) Ich vernichte die Streitwagen aus Ephraim und die Pferde aus Jerusalem und ausgerottet wird der Kriegsbogen. Er spricht Schalom zu den Völkern, und seine Herrschaft reicht von Meer zu Meer und vom Strom bis an die Enden der Erde. Die Verse stammen aus dem Sacharjabuch, hier aus der deuterosacharjanischen Sammlung (Sach 9-11) . Das ist eine Sammlung anonymer Prophet- Innensprüche, die an Sacharja 1- 8 aufgrund gewisser inhaltlicher Konvergenzen angeschlossen wurde. Sie sind wahrscheinlich in hellenistischer Zeit formuliert worden. Sach 9,9- 10 steht einerseits den Psalmen und andererseits prophetischen Vorstellungen nahe . 19 Die Verse stellen eine Kritik am hellenistischen Herrscherverständnis dar und bieten gewissermaßen einen theologischen Gegenentwurf dazu, schon weit über 300 Jahre vor Paulus .' 0 Die Verse heben sich formal und inhaltlich vom Kontext ab. Die Gattung des Stückes bildet der »Aufruf zur Freude«, eine Form des Heroldsrufes,'1 »und richtet sich an das wie häufig (vgl. Jes 1,8; 10,32; 16,1; 23,12; 52,2; Jer 4,31 u.ö.) als >Tochter< personifizierte Zion/ Jerusalem« . 22 Mit der Aufforderung an Zion/ Jerusalem zur Freude wird in der Regel die Ankunft eines Herrschers bzw. einer Herrscherin oder eines sonstigen hochgestellten Gastes angekündigt. Die Szene selbst ist der herkömmlichen Parusie eines helle nistischen Herrschers nachgebildet. Das Besondere ist hier, dass nicht irgendwelche Botinnen die Folgen dieses Ereignisses verkünden, sondern Gott selbst spricht: »Ich vernichte die Streitwagen aus Ephraim und die Pferde aus Jerusalem und ausgerottet wird der Kriegsbogen« (Sach 9,10a), womit die Sicherheit des Eintreffens garantiert wird." Inhaltlich unterscheiden sich die Verse von ihrem Kontext, indem hier die Weltherrschaft angekündigt wird und diese zug leich durch die Gestalt des einziehenden Königs sowie das Handeln Gottes, nämlich die Abrüstung, inhaltlich qualifi ziert ist. Es wird ein eigenwilliges Herrscherideal entworfen, das sich wie folgt darstellt: 1. In Z.4 heißt es, dass der König zum einen gerecht ist und zum anderen ,Hilfe erfahren hat<. Der Aspekt der Gerechtigkeit des Königs ist alt- ZNT 14 (7 . Jg. 2004) Ute E. Eisen »Ich vernichte die Streitwagen ... « testamentlich breit überliefert (vgl. 2Sam 23,3f.; Jer 22,3.15; 23,5; Ps 72,2.4.7.12-14), ebenso die Gerechtigkeit des künftigen Messias Q es 9,6; 11,4f.; 32,1) . Das Erfahren von Hilfe heißt, dass dieser König Go ttes Beistand genießt. Damit wird unterstrichen: Der kommende König verdankt es seiner Gerechtigkeit und der göttlichen Gnade und Hilfe, wenn er nun in Jerusalem seinen Ein zug halten kann. 2. In Z.5 heißt es, dass er auf einem Esel reitet, nämlich auf einem jungen Esel, dem Fohlen einer Eselsstute. Hier soll betont werden, dass es sich um ein edles, königliches Reittier handelt (vgl. Gen 49,11; Ri 10,4; 12,14). Es kann als Anspielung auf die ältere Messiastradition (Gen 49, 11) interpretiert werden. Diese Art von Esel ist das Tier des Messias, wie es auch sonst das Reittier der Vornehmen ist. Der Esel bildet hier vor allem auch den Kontrast zum Pferd in seiner Funktion als Kriegsross (V.10, Z.8) und kann somit als Symbol des Friedens gedeutet werden . Der Messias kommt eben nicht auf einem Pferd, das hier und in anderen Texten mit Krieg in Verbindung gebracht wird. Das Pferd ist seit Salomo Zugpferd für Streitwagen und seit den Persern Reitpferd der Kavallerie. Das Pferd hat im Umfeld dieser Tradition sowohl militärische als auch politischelitäre Konnotationen. In V.10 heißt es, dass JHWH das Pferd, welches militärisches Potenzial repräsentiert, beseitigt. Die Bedeutung des Adjektivs demütig (ani), das sowohl »sanftmütig, demütig« als auch »arm, ge ring, niedrig« bedeuten kann, ist nicht mehr mit Sicherheit bestimmbar . Somit ist die gesamte se mantische Breite des Adjektivs virulent: >Demut< markiert in Verbindung mit dem Ritt auf dem Esel die Geisteshaltung dieses Königs; >Armut< betont die mangelnde Pracht des Einzuges, wie es für solche üblicherweise charakteristisch war. Festzuhalten ist: Der Einzug des Königs auf einem Esel soll zeigen, dass dieser nichts Kriege risches, nichts militärische Macht Demonstrierendes mehr an sich hat. Krieg soll künftig kein poli tisches Mittel mehr sein, und zwar beginnt Gott selbst mit der Abrüstung im eigenen Volk: Gott selbst sorgt dafür, dass Streitwagen, Streitrosse und der Kriegsbogen, der hier für alle Waffen steht, aus dem Territorium Israels verschwinden. Hier knüpft Sach 9,10 an die alte prophetische Tradition aus Mich 5,9 an. 37 2. um Thema 3. In Z. 10 ist vo m Wort d es messian is chen Köni gs die Rede. Er sp richt Schalom zu allen Völ- und relativieren damit nicht nur jegliche weltliche Herrschaft als vorläufig und vorübergehend, sonkern. Schalom verb ür gt hi er Friedenswirkung und Gerechtigk eit und z ar nic ht nur für Israel, sond ern ex plizit für die ganz e V„ lkerwel t. Wilhelm Rudo lph nennt die- »Die Aussagen über ]HWH als abrüstenden Gott und über den König .. . sind der theologische Gegenentwurf zum zeitgenössischen hellenistischen Königsbild.« dern entwerfen zugieich auch eine Perspektive auf die Gestalt der von Gott gewollten Herrschaft. Sie formuliert sich unter Verzicht auf militärische Macht, ihr Ziel ist Abrüstung und ein die Völker sen Kö nig einen »wo rtgewaltigen Schiedsrichte r «, der die Gegen sätze zwischen den Völkern schlicht en w ird. Sein bloßes Wort, das ja im Auftrag J H WHs gesprochen ist, hat die Wirkung, d ass die Völker nich t mehr zu den Waffen greife n, weil dieser wortgewaltige König sie davon üb erzeu gen wird, dass Kriege keine Lösung si n d. 2 ' 4. Die Verheißun g endet d2.mi t (Z.1 1-12), dass diese Methode Erfolg haben wird. Der kommende König wird die Herrschaft über die We lt erlangen. Es ist ei ne auf friedlichem We ge erzielte Herrschaft, die für alle Völker Schalom bedeute t. »V on Meer zu Meer« ist Ausdruck des antiken Weltbildes, es bedeutet die von \Vasser ums pülte Erdscheibe. Das ganze Traditionsstück macht die unbedi ngte Frie densliebe d es Königs und Gottes deutlich. Es ist ein univers alistischer Frieden, der allen Völkern gilt. Es kann fest geh~lten werden: Die Aussagen über J HWH als abrüstenden Gott 25 und über den König, der mit d en Attributen der Kiedrigkeit und Hilfebedürftig keit verseh en wird und Frieden schafft, sind der theologische Gegenentwurf zum zeitgenössischen hellenistischen Königsbild. Dieser Gegenentwurf erfreute sich im frühen Christentu m offen ·ichtlich großer Aktu alität, indem in der Erzählun g vo n Jesu Einzug in Jeru salem auf dem Esel darauf angespielt wird (Mt 21,1-11 ; Mk 11, 1- 10; Lk 19,2: 1-38; Joh 12,12- 19 ) und indem Paulu s in seiner Parusies childer n g implizit daran ankn ··pft . 4. Fazit Die Parusietext e des P aulus insbeson dere lThess 4, 13 -5, 11 u nd der P: : -op h etlnn enspruch Deutero sacharjas (Sach 9,9f.), der in den Evan gelien rezipiert wird (Mt 21,5; Joh 1 2, 1 5) , sind theo logische Konzept e, di e deutlich e Herrscheru nd Imperiums kritik b einhalten.' 6 Diese Texte beschreiben das Kommen des messianischen Königs 38 vereinender Friede, der durch Schlichtung hervorgerufen wird. Paulus steht mit seinen Parusietexten - und nicht nur hiermit 27 in dieser Tradition der Hebräischen Bibel. Anmerkungen 1 J. Taubes, Die Politische Theologie des Paulus. Vorträge, gehalten an der Forschun gs stätte der evangelischen Studiengemeinschaft in H eidelb erg, 23.-27. Februar 1987, nach Tonbandaufzeichnungen red. Fassung von Aleida Assmann, hrsg. v. A. und J. Assmann in Verb. mit H. Folkers, W.-D. Hartwich und Ch. Schulte, München 1993, 27 (Hervorhebung i □ Original). 2 Vgl. dazu die zusammenfassende Darstellung der Forschungsdiskussion Yon Ch. Strecker, Paulus aus einer »neuen Perspektive« . Der Paradigmenwechsel in der jüngeren Paulusforschung, Ku! 11 (1996), 3-18. ' Vgl. dazu und zum Folgenden im Wesentlichen den Aufsatzband: K. Stend ahl, D er Jude Paulus und wir Heiden. Anfragen an das abendländische Christentum, aus dem Amerikanischen von U . Berger (Kaiser-Traktate 36), München 1978 (Orig.: Paul 2mong Jews and Gentiles and other Essays, Philadelphia 1976). 4 Zum gesamten Themenkomplex der antiimperialen Interpretation vgl. den instruktiven Forschungsüberblick von W. Popkes, Zum Thema >Anti-imperiale Deutung neutestamentlicher Schriften<, ThLZ 127 (2002), 850- 862. 5 Siehe dazu auch den ausführlichen Beitrag: U.E. Eisen, Die imperiumskritischen Implikationen der paulinischen Parusievorstellung, in: Beken: nnis und Erinnerung. FS für Hans-Friedri ch Weiß, h : : sg. v. E. Reinmuth und K.-M. Bull, Münster 2004 (erscheint im Herbst 2004). • Es kann im sakralen Bereich auch die Epiphanie eines Gottes oder einer G öttin im Kult oder in Wundern bezeichnen, allerdings wird aber hierfür gewöhnlich der Begriff Epiphanie und seltener Parusie gebraucht, vgl. A. Baumstark, Advent, in: RAC I, 1950, 112-125; E. Pax, Epiphanie, in : RAC V, 1962, 832-909; 0. Nussbaum, Geleit, in: RAC IX, 1976, 908-1049; Ch. Auffarth, Art. Parusie, R GG 6. Au fl . 2003, Bd. 6, 962. 7 Vgl. dazu und zum Folgende : 1 J. Lehnen, Adventus Principis. Untersuchungen zu S: nngehalt und Ritual der Kaiserankunft in den Städten d es Imperium Romanum (PRISMATA 7), Frankfurt am Main u.a. 1997 (s. hier den Forschungsüberblick: 17-27); P. Dufraigne, Adventus Augusti, Adventus Christi. Recherche sur l'exploitation ideologique et litteraire d'un ceremonial dans ! 'an- ZNT 14 (7. Jg. 2004) tiquite tardive (Collection des Emdes Augustiniennes; Serie Antiquite 141), Paris 1994; H. Halfmann, Itinera Principum. Geschichte und Typologie der Kaiserreisen im Römischen Reich (Heidelberger Althistorische Beiträge und Epigraphische Studien 2), Stuttgart 1986; D. Stutzinger, Der Adventus des Kaisers und der Einzug Christi in Jerusalem, in: Spätanike und frühes Christentum. Katalog der Ausstellung im Liebighaus, Museum alter Plastiken Nr. 224, Frankfurt am Main 1983, 284-307; A. Alföldi, Die monarchische Repräsentation im Kaiserreiche, mit einem Register von Elisabeth Alföldi-Rosenbaum, Darmstadt ' 1980; E. Peterson, Die Einholung des Kyrios, ZSTh 7 (1930), 682-702; A. Deissmann, Licht vom Osten. Das Neue Testament und die neuentdeckten Texte der hellenistisch-römischen Welt, 4., völlig neubearb . Aufl. Tübingen 1923, 314ff. 8 S. dazu noch immer Peterson, Einholung, 682 -702. 9 Vgl. Belege bei Deissmann, Licht, 318f. 10 Vgl. z.B. diesbezügliche Dokumente und ihre Kommentierung in P. Stoffel, Über die Staatspost, die Ochsengespanne und die requirierten Ochsengespanne. Eine Darstellung des römischen Postwesens auf Grund der Gesetze des Codex Theodosianus und des Codex Iustinianus (EHS Ill/ 595), 29-155. 11 Vgl. den gesamten Text bei Stutzinger, Adventus, 284f., 196. 12 Vgl. dazu und zum Folgenden ausführlich Lehnen, Adventus, 65ff. 13 Vgl. E. Flaig, Den Kaiser herausfordern. Die Usurpation im Römischen Reich (Historische Studien 7), Frankfurt am Main u.a. 1992; vgl. auch Flaigs Selbstanzeige seiner Monographie: Den Kaiser herausfordern, in: Historische Zeitschrift 253 (1991), 371-384. 14 Vgl. zu parousia bei Paulus W. Radl, Die Ankunft des Herrn. Zur Bedeutung und Funktion der Parusieaussagen bei Paulus (BET 15), Frankfurt am Main 1981; J. Plevnik, The Parousia of the Lord According to the Letters of Paul. An Exegetical and Theological Investigation, Würzburg 1971; zu 1Kor 15: J. Holleman, Resurrection and Parousia. A Traditio-Historical Study of Paul's Eschatology in 1 Corinthians 15 (Suppl. N.T. 84), Leiden u.a. 1996. 15 Etwa G. Haufe, Der erste Brief des Paulus an die Thessalonicher (ThHNT 12/ 1), Leipzig 1999, 54; pointiert schon Radl, parousia, in: EWNT 2 III, 103. 16 Vgl. dazu und zum Folgenden vor allem M. Dibelius, An die Thessalonicher I.11. An die Philipper (HNT 11), 2. völlig neubearb. Aufl. Tübingen 1928, 21-24; Radl, Ankunft des Herrn, 1981, 113-156; A. Lindemann, Paulus und die korinthische Eschatologie. Zur These von einer >Entwicklung< im paulinischen Denken, NTS 37 (1991), 376ff. Haufe, Thessalonicher, 77-88. 17 Vgl. K. Wengst, Pax Romana : Anspruch und Wirklichkeit. Erfahrungen und Wahrnehmungen des Friedens bei Jesus und im Urchristentum, München 1986, 32-34; 97ff. 18 So Haufe, Thessalonicher, 93. 19 Die alttestamentlichen Prophetenworte, die erst sekundär einem Propheten zugeordnet wurden, sind zahlreich. Daher kann bei allen Prophetenworten, die nicht eindeutig einem männlichen Propheten zugeordnet werden können, hypothetisch angenommen werden, dass dieses Wort auch von einer Prophetin gesprochen worden sein kann. So erklärt sich meine inklusive Schreibweise: Prophetlnnenwort. Außer Frage steht, dass es alttestamentliche Prophetinnen gegeben hat, vgl. ZNT 14 (7. Jg. 2004) Ute E. Eisen »Ich vernichte die Streitwagen . .. « I. Fischer, Gotteskünderinnen. Zu einer geschlechterfairen Deutung des Phänomens der Prophetie und der Prophetinnen in der Hebräischen Bibel, Stuttgart 2002, sowie K. Butting, Prophetinnen gefragt. Die Bedeutung der Prophetinnen im Kanon aus Tora und Prophetie (Erev-Rav-Hefte: Biblisch-feministische Texte 3), Wittingen 2001. 20 Vgl. zu dieser These ausführlich vor allem A. Kunz, Ablehnung des Krieges. Untersuchungen zu Sacharja 9 und 10 (HBS 17), Freiburg i. Breisgau u.a. 1998, 121ff. pas sim; ders., Zions Weg zum Frieden. Jüdische Vorstellungen vom endzeitlichen Krieg und Frieden in hellenistischer Zeit am Beispiel von Sacharja 9-14 (Beiträge zur Friedensethik 33), Stuttgart/ Berlin/ Köln 2001. Zu Sach 9,9-10 und zum Folgenden vgl. ferner N. Ho Fai Tai, Prophetie als Schriftauslegung in Sacharja 9- 14. Traditions - und kompositionsgeschichtliche Studien (CThM A/ 17), Stuttgart 1996, 43 - 51; H. Graf Reventlow, Die Propheten Haggai, Sacharja und Maleachi (ATD 25,2), Göttingen 1993 (z.St.); W. Rudolph, Haggai - Sacharja 1-8 - Sacharja 9- 14 - Maleachi. Mit einer Zeittafel von Alfred Jepsen (KAT 13,4), Gütersloh 1976 (z.St). 21 Dazu im Einzelnen Tai, Prophetie als Schriftauslegung, 43-51. 22 So auch Kunz, Zions Weg zum Frieden, 16; ders., Ablehnung des Krieges,121ff. passim; E. Bosshard-Nepustil, Rezeptionen von Jesaja 1-39 im Zwölfprophetenbuch. Untersuchungen zur literarischen Verbindung von Prophetenbüchern in babylonischer und persischer Zeit (OBO 154), Freiburg/ Göttingen 1997, 428. 2 ' F. Crüsemann, Studien zur Formgeschichte von Hymnus und Danklied in Israel (WMANT 32), Neukirchen - Vluyn 1969, 55 -65. 24 Vgl. Reventlow, Propheten, 95. Er charakterisiert das Traditionsstück wie folgt: »Es besteht aus Doppelversen (Bucola) im Dreiermetrum mit synonymem Parallelismus.« 25 Vgl. dazu und zum Folgenden Rudolph, Sacharja, 178-180. 26 Vgl. dazu ausführlich Rudolph, Sacharja, 181f. 27 Vgl. dazu etwa auch I. Baldermann, Der Gott des Friedens und die Götter der Macht. Biblische Alternativen, Neukirchen-Vluyn 1983, oder: H. -W. Wolf, Schwerter zu Pflugscharen - Mißbrauch eines Prophetenwortes? , EvTh 44 (1984), 280-292. Wolf zeigt, dass die Hebrä ische Bibel in vielfältiger Weise dem Vertrauen auf Waffen entgegentritt (vgl. Jes 31,lff.; Hos 14,5; Ps 46,7ff.). 28 Das ist sicher auch der Grund, warum die eher impe riumskonformen Pastoralbriefe nicht den politisch aufgeladenen Begriff der Parusie für das eschatologische Kommen Christi und damit seinen imperiumskritischen Akzent rezipierten, sondern den Begriff der Epiphanie benutzten (! Tim 6,14; 2Tim 4,1.8; Tit 2,13). 29 So formuliert Paulus auch als höchstes Prinzip des Zu sammenlebens die gegenseitige Liebe, die im Dienst der Versöhnung steht, Vergeltung wird von Gott erwartet und nicht selbst vollzogen (2Kor 5,17ff.; 1Kor 13; Röm 12f. passim). Zu weiteren Aspekten der Imperiumskritik des Paulus vgl. etwa R.A. Horsley (Hg.), Paul and Politics. Ekklesia, Israel, Imperium, Interpretation. Essays in Horror of Krister Stendahl, Harrisburg 2000; ders. (Hg.), Paul and Empire. Religion and Power in Roman Imperial Society, Harrisburg 1997; oder beispielsweise N . Elliot, Liberating Paul. The Justice of God and the Politics of the Apostle, Maryknoll / New York 1994, vgl. auch Anm. 4. 39 Kontroverse 1 1 Die Stellung der Rechtfertigungslehre in der paulinischen Theologie Ei ne Einführung zur Kontroveirse Die Theologie der Re chtfertigung ist d as Herzstück pro testantisch er Theologie. Sie ge ht zurück auf Martin Luthe rs Interp retati on de s Galat er- und des Römerbrief es. Sie antwor tet auf Luth ers existentiell e Frage: »Wie beko: nme ich einen gnädigen G ott? « D ies e Frage w i : -d in ihr er bed rängenden Unmittelba r kei t h eute kaum noch verstanden , denn unsere » Light-Kultur« hat auch den Jesus-Li ght un d den Gott-Light hervorgebracht: D er barmher zige und gerechte Gott, des sen Ge re cht igke it sich in d en altun d neutesta mentlichen Bibelt ext en eben auch in sei nem Zo rn äußert, wird all z u häufig auf de n »lieben Gott« reduziert und der aggressive Jesu s, der den armen unschuld igen Feige baum verflu cht, pas st nicht in das d omestizi ert e Jesusbild einer S~Jaßgesellschaft, in der Jesus bestenfalls als guter Freun d wahrgenommen werde n kann. Die b edrohliche Tiefe der biblisch en G ottes r ece und die Komplexität n eu t estamentlich er J esuserzählungen wird nicht selten auch von Theo lo ginnen und Theolo gen in U niversi tät , Kirche, Schule u n d Gesell schaft gering gesc hätzt, verd rän gt o de r auch aus »didaktischen« Gründen zurüc kges t ellt, zum Schaden ein er ganzheitlichen und umfassenden Gottesbegegnung. In der F rage nach d er Gerechtigkeit Gottes und der Rechtfe rti gu n g d er Sünd er geht es nicht um ein überholtes do gmatisches Relikt, sondern um die Grundfrage d er G ottesbeziehung un d eine d amit zusamm enhängende mutige Wahrneh mung des Menschen, auch seiner zers-ö rerischen und selbs t zerstörerisc h en Seiten . Das Evangelium, die gu t e Nac hricht, die Paulu s ver kündet, »is t eine Kr aft Gott es, die jeden rettet, der gla ubt « (Röm 1,16 ). Wovor aber müssen die Menschen gerett et werden? Pau lus gibt in Röm 1, 18 eine klare Antwo rt: Vor dem Zorn G ot tes , der die gerechte Antwort auf die Ungerechtigkeit der Mensc hen ist. Wer diese bedrohliche Seite Gottes v erdrängt, ·ird die gute Nac h richt von der dur ch Got te s Gnade in der Jes us-Chr istus- Geschichte ermöglic ht en Rettung nic ht verstehen. Dass diese Rettun g ic ht d ur ch eine m enschliche Leistung, sondern n ur du rc h die Gnade G otte s, 40 die allein durch die Jesus-Christus-Geschichte den alleinigen He ilsweg des Glaubens eröffnet hat, davon wissen wir allein aus der Schrift. Aber beruft sich diese protestantische Grundüberzeugung zu Recht auf Paulus? Interpretiert Luther Paulus angemessen? Stehen die pau linischen Aussagen, auf denen die protestantische Rechtferti gungstheologie basiert, tatsii.chlich im Z en trum paulinischer Theologie? Die Kontroverse zwischen Hans -Joachim Eckstein und Hendrik Boers geht insbesondere der letzten Frage nach - und sie wird von beiden mit triftigen Argumenten aber sehr unterschiedlich beantwortet. Stefan Alkier NET - Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie Oda Wischmeyer (Hrsg.) Herkunft und Zukunft der neutestamentlichen W i ssenschaft )leu testamentliche Entwürf e z ur Theologie 6, 2003, VIII, 284 Seiten,€ 48,-/ SFr 82,50 ISBN 3 -7 720-8( 16 -2 I: •ie neutestamentliche Forschung der letzten Generation hat sich religionsgesch i chtlich und methodisch exponenziell au sgeweitet. Das Fach : r- ·e ues Testament wurde zu e iner kaum noch überschau bar en und nach außen wenig kommunizierenden Eigenwelt . Eine Analyse von "Herkunft und Zukunft der neutestamen tlichen V ✓issenschaft" ist e in Desidera t . Das 2. Erlanger Keutestamentlicbe K olloquium ist dem Thema in eli Beiträgen in l ändischer und ausländjscher J- ,eutestamentlerinnen und Neut e stamentler nachgegangen. Di e neutestamentliche Wissens,: haft braucht neben dem Bewusstsein ihrer e igen en Geschichte und de r kritischen Auseinandersetzung mit ihren Methoden einen Modernisierungs,; chub, der ; ie in produktiven Austausch mit Religionswi ssenschaft, Sprachwissenschaft, Sprachphilosophie, Hermeneutik und Kulturwissenschaft bringt . Dieses Buch vers: eht sich als programmatischer Schritt in diese Richtung. A. Francke Verlag · Tübi nge n und Basel ZNT 14 (7. Jg . 2004) Hans-Joachim Eckstein »Gott ist es, der rechtfertigt« Rechtfertigungslehre als Zentrum paulinischer Theologie? Die Rechtfertigungstheologie im Kontext paulinischer Theologie als zentral zu erkennen 1 bedeutet nicht, die denkbaren Alternativen, Schwierigkeiten oder offenen Fragen zu bestreiten. Auch Paulus kann das im Christusgeschehen eröffnete Heil mit anderen Begriffen und Vorstellungen entfalten als ausschließlich mit der juridisch klingenden Rede von der begnadigenden Rechtfertigung des durch Anklage und Urteil als schuldig erwiesenen Menschen. Auch für ihn verkörpert Christus ohne Zweifel nicht nur die »Gerechtigkeit« der Glaubenden, sondern zugleich auch deren »Weisheit«, »Heiligung« oder »Erlösung« (lKor 1,30). Paulus kann das Kreuzesgeschehen Jesu in Aufnahme alttestamentlich-kultischer Traditionen als Sühnegeschehen entfalten (Röm 3,25; 5,Sf; 2Kor 5,21) wie auch als Befreiung und Freikauf aus der »Sklaverei« (Gal 3,13; 4,4f.; vgl. lKor 6,20; 7,23). freilich ergeben sich für den judenchristlichen Apostel auf der Grundlage der vielfältigen alttestamentlich-jüdischen Überlieferungen damit keine Gegensätze, sondern eher ein Interpretationsgeflecht verschiedener Traditionsstränge, das durch die Berücksichtigung des überwiegend heidenchristlichen Verstehenshorizontes seiner Adressaten noch zusätzlich bereichert wird. Unbestreitbar findet sich die ausführliche schriftliche Fixierung der »Rechtfertigungstheologie« des Paulus erst in den allgemein später datierten Briefen an die Galater (wohl 55 n.Chr.), an die Römer (55/ 56 n.Chr.) und an die Philipper (spez. Phil 3,2ff., zwischen 55 und 60 n.Chr.). 2 Was ist aber damit über die Entwicklung und Gewichtung des paulinischen theologischen Denkens wirklich ausgesagt? Vergegenwärtigen wir uns, dass die sieben unangefochten echten Paulusbriefe wohl insgesamt in gerade zehn Jahren (zwischen 50 und 60 n.Chr.) gegen Ende eines mehrere Jahrzehnte dauernden apostolischen Wirkens seit der Lebenswende vor Damaskus (ca. 32 n.Chr., Gal 1,15-17; Phil 3,7ff.) entstanden sind, ZNT 14 (7. Jg. 2004) dass also zwischen dem ersten Brief an die Thessalonicher und dem durch die Rechtfertigungsthematik dominierten Brief an die Galater gerade einmal ca. 5 Jahre liegen! Bedenken wir zudem, dass alle sieben Briefe an konkreten Fragen, Problemen und Anliegen der Gemeinden und des Apostels orientiert sind und nicht einmal der theologisch grundlegende und systematisch durchstrukturierte Römerbrief als eine »systematisch-theologische Gesamtdarstellung« verstanden werden will, dann erklärt sich die thematische Variation wohl eher aus den wechselnden und sich zuspitzenden Gesprächssituationen als durch eine späte persönliche Entwicklung des Apostels Jahrzehnte nach seiner grundlegenden Erkenntnis des Evangeliums. Schließlich ist auch einzuräumen, dass die kon- E traversen Auseinandersetzungen um die Frage der Rechtfertigung allein auf Grund des Glaubens an Christus oder zudem bzw. ausschließlich aufgrund der Toraobservanz ihre Brisanz in der umstrittenen Ausweitung der Evangeliumsverkündigung bis hin zu den Heidenvölkern gewonnen hat. Im Streit um die Anerkennung nicht beschnittener Gläubiger (Gal 2,lff.; vgl. Apg 15,lff.) und die Mahlgemeinschaft toraobservant lebender Judenchristen mit Heidenchristen (Gal 2,1 lff.; vgl. Apg l0f.) stellten sich unweigerlich die Fragen, auf die Paulus mit seiner »Rechtfertigungstheologie« eingehend antwortet. Können sprichwörtlich »sündige Heiden« (Gal 2,15) überhaupt zu Töchtern und Söhnen Abrahams und damit zu Empfängern der in Jesu Kommen erfüllten Verheißungen Gottes werden (Gal 3,7-9.29)? Müssen sie sich nicht entsprechend den zum Judentum übergetretenen Proselyten zuvor beschneiden lassen (Gal 2,3ff.; 5,2ff.11; vgl. Apg 15,lff.) und sich zur umfassenden Einhaltung der Sinai-Tora verpflichten, um zum wahren »Israel Gottes« (Gal 6,16; vgl. Röm 9,6) zu gehören? Falls man von der Beschneidung und der umfassenden Toraobservanz 41 K ont roverse bei der Verkündigung des Evangeliums gegenüber Unbeschnittenen absehen wollte, welche Konsequenzen hätte das für das Zt: .sammenleben und die Tischgemeinschaft beim Herrenmahl in gemischten d.h. aus Judenchristen und Heidenchristen zusammengesetzten - Gemeinden? Und wenn die wortwörtliche Befolgung der durch Mose gegebenen We isung hinsichtlich der heidenchristlichen Gemeinden um des Evangeliums willen ausgesetzt werden kann, welche Bedeutung kommt dann noch der Toraobservanz für an Christus gläubige Juden zu? 3 Sosehr die Ausfü hrung der »Re chtfertigungslehre« in den paulinischen Briefen durc h die konchrist d.h. als an Christus gläubig gewordener Jude argumentiert. Er legt \Xlert darauf, dass er selbst Israelit von Geburt und beschnitten ist (Röm 11,1; 2Kor 11,22; Phil 3,5), »Hebräer von Hebräern« (Phil 3,5), vom Stamme Benjamin (Röm 11,1; Phil 3,5 ), dass er ·1or seiner Christuserkenntnis selbst als gesetzestreuer pharisäischer Jude gelebt hat (Gal 1,14; Phil 3,5f.). Bei der Ablehnung der »\X 1 erke des Gesetzes« als Segens- und Lebensgrundlage denkt der Apostel nicht etwa nur an eine depravierte Form selbstgefälliger Werkgerecht~gkeit oder formalisierter Kasuistik und selbstgerechter »Gesetzlichkeit«, sondern auc an das ernsthafte und eifrige kreten geschichtlich en Umstände veranlasst worden se in mag, so deutlich wollen doch gerade die rechtfertigungstheologischen Darlegungen des Evangeliums durch den »Apostel der H eiden« (Röm 11, 13) als grundsätzlich und zentral verstanden werden. Für beide Seiten geht es in der Auseinandersetzun g nicht nur um das Proble vielfältiger Ers cheinungsfo: men der einen Kirche J esu C hristi oder verschiedener Zugangs- »Sosehr die Ausführung der >Re~htfertigungslehre< in den paulinischen Briefen durch die konkreten geschichtlichen Umstände veranlasst worden sein mag, so deutlich wollen doch gerade die recht/ ertigungstheo- Bestreben, die Tora vom Sinai zu befolgen also an die »Toraob servanz« im umfassenden Sinn. Wenn Paulus in seiner großen Anklagerede in Röm 1,18-3,20 als Ergebnis festhält, dass alle Menschen also Heiden wie Juden bei der objektiven Beurteilung ihres gelebten Lebens im Angesicht Gottes als »schuldig« und »straffällig« erwiesen werden (Röm 3, 19f.; vgl. 3, 9 .23 ), dann geht es ihm nicht nur um die logischen Darlegungen des Evangeliums durch den >Apostel der Heiden< (Röm 11,13) als grundsätzlich und zentral verstanden werden.« formen zu dem eine >Israel Gottes" sondern elementar u m die »Wahrheit des Evangeli 1ms< • (Gal 1,6- 9; 2,14) und m die Ve r bindlichkeit der Offenb arung des einen und einzigartigen Gottes Israels im Christusgeschehen. Wenn Paulus in Gal 2,16 und Röm 3,20 unter Aufnahme eines Psalmzitats (Ps 14 3,2) auf dem Grunds atz besteht, dass aus Werken des Ge set zes kein Mensch vor Gott im Gericht bes tehen und zum Heil gelangen kann, d.h. gerechtfertigt wird, dann b ezieht er dieses Urteil nicht nur auf die aus jüdischer Sicht selbs tverständlich - »sündigen Heiden «, sondern entgegen seiner eigenen früheren Selbstwahrnehmung auf alle Mensch en, unter Einschluss der »Juden von Geburt« (Gal 2,15), zu denen sowohl die Jerusalemer Säulen Jakobus und Petrus a ls auch er selbst und se ine judenchristlichen Gegner zählen. Gerade in Anb etracht der Schärfe der Ausei nandersetzung mit den auf Toraob servanz b es tehenden jüdische n Gegnern ist daran zu erinner r; , dass Paulus selbst als Juden- 42 Frage von Beschneidung und Ritualgesetz und damit um die nach außen sichtbaren Identitätsmerkmale Israels, nicht nur um die Zugangsbedingungen von Heiden zum Volk Gottes und die Zulassung von Heidenchristen zur Gemeinschaft. Die »Werke des Gesetze«, auf Grund deren kein Mensch von sich aus vor Gott bestehen kann, bezeichnen i: : 1 der konkreten geschichtlichen Situation der Auseinandersetzung den Weg der jüdischen »Ton.observanz«; sie repräsentieren aber zugleich in spezifischer Zuspitzung auf die jüdischen bzw. judenchristlichen Gesprächspartner -das Denken, Streben und Tun des Menschen überhaupt: In Anbetracht seines gelebten Lebens insgesamt verfehlt der Mensch von sich aus und unter Absehung von Christus seine ihm von Gott in Schöpfung und Erwählung gegebene Bestimmung (Röm 3,9.20.23). »Denn wir sind der Üb,~ rzeu gung, dass der Mensch durch den Glauben gerechtfertigt, d.h. freigesprochen wird unabhängig von : : len W'erken des Gesetzes, d.h. der Toraobservanz« (Röm 3,28). ZNT 14 (7. Jg. 2004) Hans-Joachim Eckstein Prof. Dr. Hans -Joachim Eckstein, Jahrgang 1950. Studium der Ev. Theologie in Erlangen und Tübingen, Schuldienst und Vikariat. Pro motion (Gewissen bei Paulus) 1980. An der Universität Tübingen Hochschulassistent und Pfarrer im Hochschuldienst. Habilitation (Verheißung und Gesetz) und Landeslehrpreis Baden-Württemberg 1994. 1996 -2001 Professor für Neues Testament an der Universität Heidelberg, seit 2001 Professor für Neues Testament an der Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Paulus, Evangelien, Theologie des Neuen Testaments. Themenschwerpunkte: Auferstehung, Glaube im Neuen Testament. Diverse fachwissenschaftliche und allgemeinverständliche Veröffentlichungen (siehe: www.uni-tuebingen.de/ ev-theologie/ eckstein). Nun liegt die eigentliche Anstößigkeit solch exklusiver Aussagen, die die Verwirklichung der Segensverheißung an Israel ausschließlich mit dem Glauben an Christus verbinden, wohl nicht erst in der rechtfertigungstheologischen Akzentuierung der späten Paulusbriefe begründet, sondern vielmehr in seiner durchgängig »christozentrischen« Entfaltung des Evangeliums. Die tatsächliche Provokation der paulinischen Rechtfertigungstheologie und ihrer späteren Rezeption durch Martin Luther und die anderen Reformatoren dürfte wohl nicht nur in der exklusiven Hervorhebung des Glaubens und der Gnade also in dem sola fide und dem sola gratia zu erkennen sein, sondern mehr noch in dem solus Christus also dem exklusiven Bekenntnis zu Christus als dem einen »Sohn Gottes « und »Herrn «, in dessen Kreuz und Auferstehung Gott sowohl für Israel wie für die Völker seine Weisheit und Kraft, seine Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung erwiesen hat (lKor 1,18-31). Diese Konzentration auf ZNT 14 (7. Jg. 2004) Hans-Joachim Ec k st e in »Gott ist es, der rechtfertigt« Gottes Handeln im Christusgeschehen und diese theologische Gesamtausrichtung an der »Erkenntnis Christi« (Phil 3,8ff.) bestimmen nun aber nicht erst die Spätbriefe des Paulus, sondern sämtliche von ihm erhaltenen theologischen Äußerungen angefangen bei den von ihm zitierten christologischen Formeln über die frühen Briefe (vgl. lThess l,9f.; 3,13; 4,14ff.; 5,9f.) bis hin zu seinen späteren Berichten über die Frühzeit. Darüber hinaus wird seine grundlegende Lebenswende vom Verfolger der »Gemeinde Gottes « hin zum Apostel Christi durchgängig und einheitlich gerade mit dieser alles verändernden Erkenntnis der Einzigartigkeit und exklusiven Bedeutung Christi, mit der »Offenbarung des Sohnes Got tes « durch Gott selbst begründet (Gal 1,13ff.; Phil 3,Sff.; vgl. lKor 9,1; 15,Sff.; 2Kor 4,6). Dementsprechend lässt sich deutlich nachvollziehen, dass der Theologe Paulus die Soteriologie in all ihrer Auffächerung nach verschiedenen Traditions - und Überlieferungssträngen konsequent aus der Christologie entfaltet und aus dieser wie jener die Folgerungen für die Anthropologie, das Tora-Verständnis, die Ethik usw. zieht. Nicht weil der Pharisäer Paulus an der Toraobservanz persönlich gescheitert wäre, hat er seinen Weg zu Gott in Christus gesucht, sondern weil sich ihm Gott selbst in Christus zu erkennen gab, konnte er keinen anderen Weg als den des Erkennens und Anerkennens Jesu Christi als des Kyrios und Gottessohnes mehr als gottgemäß und angemes sen denken. Nicht haben eigene Schuldgefühle und Versagenserfahrungen Paulus aus einem bewusst erfahrenen Sündersein zur Rechtfertigungstheologie getrieben, sondern umgekehrt war es die erhellende Christuserfahrung mit all ihren soteriologisch zu entfaltenden Implikationen, die eine Existenz unter Absehung von Christus also remoto Christo nur als insuffizient und obsolet erkennen konnte (ganz pointiert in Phil 3,7ff.). So würde er selbst auch die in seiner Rechtfertigungslehre implizierte kritische - und deshalb so anstößige - Sicht des Menschen unter Absehung der Liebe und Begnadigung Gottes kaum als Ausdruck einer schwarzen Anthropologie und dominanten Hamartiologie gedeutet haben, sondern vielmehr als Innen- und Tiefeneinsicht in die menschliche Existenz aus der Geborgenheit des Rechtfertigungszuspruchs und aus der Retro spektive des sich der Annahme und Wertschät- 43 ont roverse zung gewissen Glaubens .' Und gerade aus dieser Perspektive erweist sich, dass P aulus seine ausführlichste schriftliche Darstellung des Evangeliums an die ihm noch unbekannte Gemeinde in Rom nicht ohne G rund zentral als Theologie der Rechtfertigung entfaltet. Freilich impliziert die neuzeitliche Anfrage bezüglich der zentralen Bedeutung der Rechtfertigungstheologie noch weitere aktuelle Vorbehalte: Ist die Beschreibu n g des C h cstusgesch ehens als eines gö ttlichen R echtfertigungshandelns am Menschen heute überhaupt no: h verständlich und vermittelb ar? Liegt das Unzeitgemäße nicht bereits in den negative,1 Vorstellungen, die die Rede von der Rechtfertigung des Sünders bei Yielen auslöst? Als schwierig erscheint auch der Einstieg in die Darstellung des Glauben s mithilfe von »moralischen« Begri "fe n wie »~ut und böse«, »gerecht und sündig «, »uns chuldig und schu ldig «. Gilt es inzwischen doch weithin zumindest als »unangemessen« und »ungeschickt«, wenn nicht sogar als pädagogisch und theologisch »schädlich« und »politisch inkorrekt«, den : \1enschen überhaupt auf sein e U nzu länglichkeit und Bedürftigkeit anzusprechen. Zudem wirkt die Entfaltung des Evan geliums mit juristischen Begriffen und forensisch e Vo rstellungen an sich schon irritieren d. Wer denkt schon gerne an eine Gerichtsverhandlu ng mit Anklage, Vert eidigu ng, Zeugenaussagen, Plädoyers und dem abschließenden Urteilvon einer möglichen Strafe bei Verurteilung ganz zu schwe ig en? So erscheint es für viele heute kaum noch nachvollziehbar, dass der Apostel in seiner programmatischen Themena gabe zu Beginn des Römerbriefes sowohl sei fr eimütiges Bekennen wie auch di e Bedeutung des Evangeliums als »erfreulicher Nachrich t « u nd »gute : - Botschaft« sowie deren Wesen und Schriftgemäßheit ausgerechnet damit begründet, da -s sie »Gottes Gerechtigkeit« zum zentralen Inhalt hat: »Ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gotte s zum H eil für jede n Glau benden den Juden zunächst und auch den Griechen. Denn die Gerechtigkeit G otte s wird in : hm offenb art aus Glauben zum Gla ben, d.h. ausschließlich im Glauben; wie geschrieben steht: >Der aus Glaub en Gerechte wird leben< (Hab 2,4)« (Röm l,16f.). Was hat die Gerechtigkeit mit der B es timmung des Evan ge liums als »Kraft Gottes zum Heil fü r 44 jeden Glaubenden<, zu tun? Wenn doch, wie Paulus im Anschluss (Röm 1,18-3,20) selbst nochmals vergegenwärtigt, Gott ein gerechter Richter ist u nd jeder Mensch einmal auf der Grundlage seines gelebten Lebens von Gott ohne Ansehen der Person beurteilt werden wird (Röm 2,6ff.), inwieweit handelt es sich dann bei Gottes Wort um eine befreiende und erfreuliche Botschaft? Erwarten wir nicht von einem gerechten Richter, dass er seine Gerechtigkeit in eine: -n unbestechlichen, analytischen Urteil erweist, dass er nach dem lateinischen Rechtsgrnndsatz suum cuique - »jedem das Seine« einem jeden zuteilt, was er verdient: dem zu Unrecht Verklagten : : len Freispruch und dem Schuldigen die verdiente Verurteilung, dem Unschuldigen die Wiedergutmachung und dem Ungerechten seine Strafe? Muss die Ankündigung einer solchen »verteilenden « Gerechtigkeit (iustitia distributiva) eines allwissenden Gottes nicht eher Angst und Sorge verbreiten als Hoffnung? In der Tat lässt sich mit unserem herkömmlichen vor allem durch die lateinische Rechtstradition sowie die theologische Entwicklung der Westkirche bestimmten - Vorverständnis von »Gerechtigkeit«/ ivtstitia das Befreiende, Erfreuliche und Lebensfördernde m.: r schwer begreifen. Paulus schließt sich in seiner Bestimmung von der »Gerechtigkeit Gottes « jedoch vielmehr an entscheidende Aspekte alttestamentlich-jüdischen Verständnisses von Gerechtigkeit an, das m.E. nicht nur den Zugang zu seiner eigenen Theologie, sondern zugle ich zu deren reformatorischer Wiederentdeckung und zu : : leren neuzeitlicher Rezeption erleichtert, weshalb es hier zumindest skizzenhaft vergegenwärtigt werden soll. 5 (1) Nach alttestamentlich-jüdischem Verständn is ist die »Gerechtigkeit« (hebr. }edäka") viel weniger als in unserem Denken an einer abstrakten Norm, an einem »Gesetz« orientiert, sondern an den Beziehungen -zunächst zu Gott, dann zum N ächsten und zum eigenen Volk. Der Mensch ist nicht an sich gerecht und auch nicht primär gegenüber dem Gesetz vom Sin,ii das zweifellos die Grundlage des jüdischen Glaubens und Lebens bildet-, sondern im Hi: 1blick auf eine konkrete, gelebte Beziehung. Die Aussage: »Ich bin gerecht! «, müsste also präzisiert werden durch die Frage: » Wem gegenüber? « Denn die Gerechtigkeit wird hier als Relations-, d .h. Beziehungsbegriff verstanden: »Gerechtigkeit« ( }edäka"") ist in ZNT 14 (7. Jg. 2004) alttestamentlich-jüdischer Tradition das der Beziehung entsprechende, das gemeinschaftsbezogene Verhalten; und als »gerecht« gilt ein Tun, wenn es »gemeinschaftstreu«, »loyal« und gerade in diesem Bezug »heilvoll« ist. (2) Dieses besondere Verständnis von »Gerechtigkeit« als einem Relationsbegriff entspricht nun einer vertieften anthropologischen Gesamtsicht: Der von Gott geschaffene und von ihm in die Gemeinschaft gestellte Mensch existiert nicht an sich und unabhängig von anderen, sondern er lebt in konkreten Beziehungen, im Angesprochensein und Sprechen, im Mitteilungsgeschehen zwischen Gott und seinem Volk. Was unserer individualistischen Tradition durchaus fremd erscheinen mag, ist für die biblischen Traditionen konstitutiv d.h. wesentlich und grundlegend: Der Mensch ist für das »Wir« geschaffen, für die lebensfördernde und heilvolle Gemeinschaft. Haben die einzelnen Mitglieder eine solche zuträgliche Beziehung, dann herrscht im gefüllten Sinn »Frieden« - »Schalom«. Denn wenn der Mensch ist, dann ist er in Beziehung. Mit dem Verlustseinerlebensstiftenden und -tragenden Beziehungen ist sein Leben selbst gefährdet. Der Beziehungslose würde seine Lebensgrundlage verlieren, der von Gott und Menschen Verlassene sähe sich von der Todessphäre bedroht, wenn nicht schon von ihr betroffen. Auf diesem Hintergrund gewinnt die Bestimmung der Gerechtigkeit als ein der Beziehung entsprechendes Verhalten einen ganz gefüllten Sinn: »Gerechtigkeit« (Jedakä) ist nachdrücklich als personaler Relations begriff zu verstehen. (3) Nun versteht es sich fast von selbst, dass die inhaltliche Konkretion einer solchen Gerechtigkeit von dem jeweiligen Verhältnis abhängig ist. Die Beziehung zu Gott ist eine andere als die zu Menschen, die Relation zum Nächsten ist nicht die gleiche wie die zum Feind. Was als gerechtes Verhalten gegenüber einem Fremden im Landgelten mag, z.B. die Duldung und die Gewährung des Gastrechtes, wäre als Verhalten gegenüber der Ehefrau und den Kindern oder auch gegenüber den eigenen Eltern unzureichend. Die Beziehung gibt die Kriterien für die Bestimmung des gerechten Verhaltens vor. In Hinsicht auf die Gottesbeziehung sind die Vorgaben in der breiten alttestamentlichen Tradition im entscheidenden Punkt überraschend einheitlich und weitgehend. Ob wir an die drei ersten der Zehn Gebote denken (Ex ZNT 14 (7. Jg. 2004) Hans-Joachim Eckstein »Gott ist es, der rechtfertigt« 20,lff.; Dtn 5,6ff.) oder an das bis in die Gegenwart hinein von Juden gebetete »Höre Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr allein« (Sch'ma ]israel) samt dem nachfolgenden Gebot der Liebe zu Gott (Dtn 6,4f.), die hier beschriebene Relation ist nicht nur eine von vielen personalen Beziehungen, sie zeichnet sich vielmehr durch ihre Ganzheitlichkeit und Ausschließlichkeit aus. Die Beziehung zu Gott ist Israel von Gott selbst als eine ganzheitlich personale eröffnet, oder um es mit den Worten der »Zugehörigkeitsformel« zu sagen, Gott spricht zu Israel: »Ich will unter euch wandeln und will euer Gott sein, und ihr sollt mein Volk sein« (Lev 26,12; vgl. Ez 37,27; Offb 21,3). (4) Wenn aber die Beziehung zu Gott in solch radikaler und umfassender Weise als »Liebe von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller Kraft« (Dtn 6,5) beschrieben wird und wenn die Loyalität und Treue zu Gott in der Ausschließlichkeit des ersten Gebotes bestimmt wird - »Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst keine anderen Götter neben mir haben! « (Ex 20,2f.) -, dann erscheint auch das Verständnis der Ungerechtigkeit, der Verfehlung und Sünde in einem neuen Licht. »Ungerechtigkeit« ist dann nicht nur ein konkretes unmoralisches Verhalten, sondern im Kern eine Verletzung der persönlichen Beziehung; und als Sünde erscheint nicht vorrangig eine bestimmte Gebotsübertretung, sondern vielmehr die Abwendung von der Gemeinschaft. Das eigentliche Vergehen liegt in der Verfehlung der Bestimmung zur Gemeinschaft, und die Sünde ist ihrem Wesen nach Trennung von Gott. Alles, was von Gott trennt, ist Sünde, denn es gefährdet die Gottesbeziehung und damit das Leben; und alles, was der Beziehung zu Gott, zum Nächsten und mir selbst schadet, wird in Geboten und Weisungen als Verfehlung bestimmt. Auf diesem Hintergrund wird deutlich erkennbar, dass es bei dem biblischen Verständnis von Gerechtigkeit keineswegs um einen primär moralischen oder einen ausschließlich forensisch-juristischen Begriff geht, sondern hinsichtlich der Gottesbeziehung um einen spezifisch »theologisch« gefüllten: Als Gerechtigkeit gilt das der ganzheitlich-personalen Beziehung entsprechende Verhalten von Gott aus gegenüber den Menschen und von Seiten der Menschen gegenüber Gott. Das konkrete Denken, Reden und Tun wird als Ausdruck dieser 45 l'[ ontr o verse Beziehu ng gewertet; es kan n weder a r_ die Stelle der Beziehung tret en , noch könnte das moralische Verhalten seinerseit die Beziehung konstituieren, d.h. begründen oder wiederh e: -ste llen. (5) Auf dem Hi nt ergrun d eines solchen sowohl t h eologisch wie au ch anthrop olog: sch vertieften Vers tändnisses von G erechtigkeit sind vor allem die altt es tamentlichen Belege von besonderer Bed eut n g, die nicht nu r den juridisch-forensisch en , so nde rn zugleich au ch den soterio lo gisch-eschatologis ch en Aspekt der nahen Offenb arung der Gerec htigkeit Gottes zu r Geltung bringen. So steh t Paulus mit seinem Verständnis der G er echtigk eit als G ott es heil schaffenden Handelns und se iner rettenden H eilsmacht in der Tradition verschiedener Ps almen (z.B. P s 70, 15f.; 9 7, 2f. LXX) wie auch Deutero - und Tritojesajas Qe s 46, 12f .; 51,5a.8; 56,1; 59,17; 61,l0f.; 62, 1. 2), bei denen sich au ch der auffällige synonyme Gebr auch vo n »Gerechti gkeit " n d »Heil« fi ndet - und damit die positive Konnotation der Gerechtigk ei : a ls ei ner heilbringenden und befreiende n G rö ße: »Hört mir zu, ihr trotzi ge n Herzen, die ihr ferne seid von der Gerechtigkeit! Ich habe meine Ger echtigkeit nahe gebrach t; sie ist nicht ferne, und ein H eil säumt nicht...« Qe s 46,12f.). Angesichts des Christus ge schehens und in Aufnahme entschei2 end er Aspekte der ihn prägenden alttestamen tlich-jüdi schen T rc..dit ionen ergibt sich für den Apostel nach D am as kus die the ologische Konsequenz, d as s es »Rech tfertigung·, im Si nn e des endgültigen un d verbi ndic hen F reispruchs zum Leben dur ch Go tt unter dieser Vorausset zung nich t aufgru nd ein es analy tisch en richterlichen Urteils ge ben kann, sondern ausschließlich als Begnadigung der a ls schuldig Erwi es enen und zu Recht Verurteilt en. So wie ein Schuldiger und rechtskr äftig Verurt eilter hins ichtlich seines gelebten Lebens au ch von ein em König und Staatsoberhaup t nich t anders beurteilt wer den, w ohl aber durch sie begnadigt w erden k ann , so wird den an C hristus G laubend en im Evangelium zugesagt: »sie sind geschen k weis e gerechtfertigt worden, d .h. sie haben um s· : ms t den rettenden Freispruch empfang en, durch sein e Gnade kraft der Erlösu ng, die in C hris tm J esus [gescheh en] ist« (Röm 3,24). G tt als Richter rechtfertigt die als schuldig Erwi es nen, indem er sie im Evan gelium begnadigt und sie ges chenkweise freispricht, 46 ihnen wirksam zusagt: »Du bist frei! « Dieser Freispruch aber basiert eindeutig auf einem synthetischen Urteil Gottes: : : )ie Rechtfertigung bewirkt selbst, w as sie zus? richt; sie setzt die Gerechtigkeit und Freiheit des Menschen nicht voraus, sondern schafft sie erst durch das vollmächtige Wort. »Ich begnadige dich! «, ist eine p erformative die Handlun g selbst vollziehende - Aussage. Die Freiheit des Verurteilten wird durch den, der die Autorit ät hat, Schuldige zu begnadigen, nicht f estgestellt, sondern hergestellt. Die Kraft des Evangeliums und die Gewissheit der Rechtfertigung liegen damit freili ch allein in der Autorität dessen begründet, der sie zuspricht, verantwortet und verwirklichen kann. Was ist dann aber präzise unter der »Gerechtigkeit Gottes« " zu verstehen, die Paulus in Röm l,16f. als den zentralen Inh alt des von ihm bezeugten Evangeliums von Jesus Christus angibt? Ist dabei (1) an die Gerechtigkeit gedacht, die Gott selbst als Eigenschaft hat (Genitivus subiectivus, Genitiv des logischen Subjekts), oder ist (2) die Gerechti gkeit gemeint, die Gott w irkt und schafft (Gen . auctoris, Gen. des Urhebers), oder wird (3) mit Gerechtigkeit Gottes die Gerechtigkeit beschrieben, die der Mensch vor Gott, im Angesicht Gottes erweisen muss, um vor ihm im Gericht zu bestehm gemäß der aus der Lutherbibel vertrauten Ü bersetzung: »die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt« (Gen. obiectivus, Gen. des logischen Objekts)? - Um eine lange und komplizierte theologische Diskussio n kurz zu fassen : Gemäß dem Verständnis des Paulus bringen alle drei Aspekte Entscheidendes in den Blick: (1) Gott selbst hat sich im Unterschied zu Israel und der Welt in Christus als seinen Menschen gegenüb er i: r eu und zuverlässig, und das heißt »gerecht« erv , iesen (Rö rn 3,4-6). Insofern ist es angemessen, davon zu sprechen, dass »Gerechtigkeit Gottes« (Gen. subiectivus) seine Eigen schaft und sein Verhalten bezeichne t: Die Erlösu ng in Christus geschah ,-zum Erweis seiner Gerechtigkeit in er jetzigen Zeit, dass er selbst gerecht ist ... « (Rörn 3,26). (2) Wenn der Erweis der Gerechtigkeit Gottes darin besteht, dass er Schuldige begnadigt und Verurteilte freispricht (» Go t t ist es, der rechtfertigt, d.h. gerecht mach t und freispricht«, Röm 8,33) und dass er sogar den erwiesenermaßen Gottlosen gerechtspricht (4,5 ), dann ist die Rede ZNT 14 (7 . Jg. 2004) von der Gerechtigkeit Gottes als derjenigen, die er dem Menschen schafft und für ihn und an seiner Stelle bewirkt (Gen. auctoris), nicht nur zu- Ha ns- Joachim Eck s tein »Gott ist es, der rechtfertigt« nungstheologische Perspektiven, ob um pneumatische Erfahrung oder Partizipation am Sterben und Auferstehen Christi, ob um individuelle Heitreffend, sondern der eigentlich überraschende und zentrale Aspekt des Evangeliums. Gott ist für seinen Teil gemeinschaftstreu und gerecht, und er macht zudem - und gerade als solcher den gerecht, der sich seinerseits illoyal und ungerecht verhalten hat. Er erweist seine Gerechtigkeit also darin, »dass er selbst gerecht ist und den an Jesus Glaubenden gerecht »Fragt man nach dem einen und entscheidenden Zentrum ligungsparaklese oder um weltverantwortliche sozialethische Paränese die Stärke einer zentralen Verortung der Rechtfertigungstheologie lässt sich sicherlich nicht eindrücklicher illustrieren als mit Verweis auf diesen theologischen Hauptbrief und speziell auf diese hymnisch vorgetragenen Ausführungen in Röm 8,18-39. In dieser Zupaulinischer Theologie, so wäre ohne jeden Zweifel die Christologie präziser noch: das Bekenntnis zu Jesus als dem gekreuzigten und von Gott auferweckten Christus, als dem Herrn der Welt und Sohn Gottes zu nennen.« macht« (3,26 ). (3) Schließlich ist auch der Gedanke der Ge rechtigkeit, die vor Gott im Endgericht gilt und ihm gegenüber bestehen kann also der »Gerechtigkeit Gottes« im Sinne eines objektiven Genitivs durchaus für die paulinische Darstellung der Rechtfertigung zutreffend, solange stets im Bewusstsein bleibt, dass nicht an die menschliche Gerechtigkeit ob als Jude, als Heide oder auch als Christ gedacht ist, sondern an die dem Menschen in Christus von Gott geschenkte Gerechtigkeit (iustitia Dei passiva ), so Phil 3, 9! Sie kommt dem Menschen in dem Sinne als eine »fremde Gerechtigkeit« iustitia aliena zugute, dass ihm die Gerechtigkeit Christi »zugerechnet« wird (iustitia imputativa). Denn auch die Gerechtigkeit der an Christus gläubig Gewordenen besteht prinzipiell darin, dass Christus für sie von Gott »zur Gerechtigkeit gemacht worden ist« (lKor 1,30; 2Kor 5,21). Die Zuversicht der an Christus Gläubigen, dass sie nichts und niemand von Gottes Zuwendung und Liebe trennen kann (Röm 8,37-39), basiert also auf der Hoffnung, dass Gott sie trotz aller berechtigten und unberechtigten Anklagen gegen sie endgültig begnadigen und freisprechen will (Röm 8,31-33). Und sie gründet auf der Zusage, dass Christus, der für sie Gestorbene und Auferstandene, der nun zur Rechten seines Vaters ist, trotz aller Verurteilungen hinsichtlich ihres gelebten Lebens für sie eintritt und Fürsprache für sie einlegt (Röm 8,34)! Ob es um die Hoffnung auf Verherrlichung, Erlösung und Befreiung von Vergänglichkeit geht, ob um schöpfungstheologische und/ oder versöh- ZNT 14 (7 . Jg. 2004) sammenschau juridisch-forensischer wie soteriologisch-eschatologischer Aspekte lassen sich für den Theologen Paulus offensichtlich all die anderen soteriologischen Facetten des Christusgeschehens am besten mit in den Blick bringen und veranschaulichen. Fragt man nach dem einen und entscheidenden Zentrum paulinischer Theologie, so wäre ohne jeden Zweifel die Christologie präziser noch: das Bekenntnis zu Jesus als dem gekreuzigten und von Gott auferweckten Christus, als dem Herrn der Welt und Sohn Gottes zu nennen. Fragt man aber danach, ob in der Vielzahl der soteriologischen Entfaltungen der Christuserkenntnis für die paulinische Theologie die Rechtfertigungslehre eine zentrale und unaufgebbare Rolle spielt, so ist dies im Sinne des Apostels gewiss entschieden zu bejahen. Anmerkungen 1 S. zu den Befürwortern in der neueren Diskussion z.B. P. Stuhlmacher, Gerechtigkeit Gottes bei Paulus (FRLANT 87), Göttingen 2 1966; ders., Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. I. Grundlegung: Von Jesus zu Paulus, Göttingen 1992, hier 326ff.; 0. Hofius, Paulusstudien I/ II (WUNT 51/ 143), Tübingen 2 1994/ 2002; E. Lohse, Paulus. Eine Biographie, München 1996; M.A. Seifrid, Justification by Faith. The Origin and Development of a Central Pauline Theme (NT.S 68), Leiden 1992; ders., Christ, our Righteousness. Paul's Theology of Justification (NSBT 9), Illinois 2000; H.- J. Eckstein, Verheißung und Gesetz. Eine exegetische Untersuchung zu Gai 2,15-4,7 (WUNT 86), Tübingen 1996; ders., Der aus Glauben Gerechte wird leben. Beiträge zur Theologie des Neuen Testaments (BVB 5), Münster u.a. 2003; ders., Zur Wiederentdeckung der 47 Kont roverse Hoffnu ng. Grundlagen des G kub ens, H o lzgerlingen 2002, hier: 45ff. 2 Vgl. zu Datierung und Chronologie U . Schnelle, Einleitung in das Neue Testament (UTB 1830), Göttingen 3 1999, 31ff.; E. Lohs e, Paulu s. Eine Biographie, 53ff. 3 S. zum Ganzen Ecks t ein, Verheißung, 3ff.2 1ff. 49ff.76ff u.ö. ' S. Röm 1,16f. un: i 3,21ff. als Rahmen für den Erweis de r Notw endigk eit der Offenb arung der Gerechtigkeit Gottes in Röm 1 ,1 8-3 ,20 und Röm 7,4-6.2 5 bzw. Röm • 6, 1-7,6 und 8,1-39 m sgesamt als Grundlage der Retrospektive a·.1f den a amitischen Menschen Röm 7,7-24. 5 S. zu Darstellung, Diskussion ·.1nd Literatur K. Koch, Art. ~dq, THAT IL München 1976, 507-530, hier 527; F.V. Reiterer, Gerechtigkeit als ~eil. ? dq bei Deuterojesaja, Graz 1976, 24 -: 16.208 -216; J. Scharben, Art. Gerechtigkeit I, TRE 12, Berlin u.a. 1984, 404-411; und die in Anm. 1 Genannten (s.v.) . 6 S. Röm 1,17; 3,5.21f.25f.; 10,3; 2Kor 5,21. 1ssen 48 Standa dwerke von J oachim Gnilka Joachim Gnilka Wie das Chris tentum entst nd Sonderausgabe in 3 Bä den 13 , 9 x 2 1,4 cm, (Paperb ack) in Ka s set: e, ca . 1.1 50 Seiten Einm aliger Sonderpreis nur€35,- SFr 60. 50 / €[Al 36,- ISBN 3-,; 51-28307- 7 Eine ein zigartige Sich: alrf die : nt stehung des Christe ntums I nh a lt der Kassette: Band 1: .: esus von Nazaret Band 2: Paulus von Tar,us Bard 3: eologie des Neuen Testaments Erh~ltlich in jeder Bu chhandl ung! Europr~is Os te rreich [A ] unv; rbincliche Pr eise,1: ifehl t.m g ww w.herder.de HERDER ZNT 14 (7 . Jg. 2004) Hendrik Boers Antwort auf Hans-Joachim Ecksteins »Rechtfertigungstheologie« Die Diskussion über die Stellung der Rechtfertigung durch den Glauben in den paulinischen Schriften fand hauptsächlich innerhalb der Grenzen zweier grundsätzlich entgegengesetzter Positionen statt: Gü.Q.ther Bornkamm hat die eine im Rahmen protestantischer Couleur weit verbreiteter Auffassung zusammengefasst: »[Die] ganze [paulinische] Verkündigung, auch dort, wo seine Rechtfertigungslehre nicht ausdrücklich zur Sprache kommt, ist nur dann richtig verstanden, wenn sie im engsten Zusammenhang mit dieser verstanden und auf sie bezogen wird«. Mehr als ein halbes Jahrhundert vorher hat William Wrede den Fall im entgegengesetzten Sinn formuliert, beinahe als vorweggenommene Antwort auf Bornkamm: »Die Reformation hat uns gewöhnt, diese Lehre als den Zentralpunkt bei Paulus zu betrachten. Sie ist es aber nicht. Man die ausführliche schriftliche Fixierung der >Rechtfertigungstheologie< des Paulus erst in den allgemein später datierten Briefen [findet] ... «, d.h. in Galater, Römer und Philipper (spez. Phil 3,2ff.). Darin scheint er Wrede zuzustimmen, aber in seiner Absicht steht er eigentlich Bornkamm viel näher. Er schreibt: »Obwohl die Ausführung der >Rechtfertigungslehre< in den paulinischen Briefen durch ... konkrete geschichtliche Umstände veranlasst worden sein mag, so deutlich wollen doch gerade die rechtfertigungstheologischen Darlegungen des Evangeliums .. . als grundsätzlich und zentral verstanden werden«. Er untermauert diese Überzeugung mit dem Hinweis darauf, dass die exklusiven paulinischen Aussagen, die die Erfüllung der Verheißungen an Israel ausschließlich an den Glauben an Christus binden, »wohl nicht erst in der rechtfertigungstheolokann in der Tat das Ganze der paulinischen Religion darstellen, ohne überhaupt von ihr Notiz zu nehmen, es sei denn der Erwähnung des : , TROVEB~ E gischen Akzentuierung der späten Paulusbriefe begründet [sind], sondern vielmehr in seiner durchgängig >chris- Gesetzes. Es wäre ja auch sonderbar, wenn die vermeintliche Hauptlehre nur in der Minderzahl der Briefe zu Worte käme. Und das ist der Fall; d.h. sie tritt überall nur da auf, wo es sich um den Streit gegen das Judentum handelt. Damit ist aber auch die wirkliche Bedeutung dieser Lehre bezeichnet: sie ist die Kampfeslehre des Paulus, nur aus seinem Lebenskampfe, seiner Auseinandersetzung mit dem Judentum und Judenchristentum verständlich und nur für diese gedacht, insofern dann freilich geschichtlich hochwichtig und für ihn selbst charakteristisch«. Hans-Joachim Eckstein versucht in seinem Kontroversebeitrag einen Mittelweg einzuschlagen, indem er eine Festlegung auf eine der beiden entgegengesetzten Auffassungen vermeidet. Er hält fest, dass Paulus »das im Christusgeschehen eröffnete Heil mit anderen Begriffen und Vorstellungen entfalten [kann] als ausschließlich mit der juridisch klingenden Rede von der begnadigenden Rechtfertigung ... «. Er ist überzeugt, dass »sich ZNT 14 (7. Jg. 2004) tozentrischen< Entfaltung des Evangeliums«. Deswegen soll die Provokation der paulinischen Rechtf ertigungstheologie »nicht nur in der exklusiven Hervorhebung des Glaubens und der Gnade also in dem sola fide und dem sola gratia zu erkennen sein, sondern mehr noch in dem solus Christus also dem exklusiven Bekenntnis zu Christus als dem einen >Sohn Gottes< und >Herrn<, in dessen Kreuz und Auferstehung Gott sowohl für Israel wie für die Völker seine Weisheit und Kraft, seine Gerechtigkeit, Heiligung und Erlösung erwiesen hat (lKor 1,18-31)«. Mit dieser Äußerung umgeht Eckstein freilich die Frage der Rechtfertigungslehre als Zentrum der paulinischen Lehre, denn er macht sie abhängig von der (im Rahmen der Forschung nicht kontrovers verhandelten) Verkündigung Christi, von der die Rechtfertigungslehre nur eine - und zudem späte - Ausprägung sei. In Konsequenz dieser Argumentation muss Eckstein effektiv die Unmöglichkeit einer Bestätigung der Zentralität 49 on tr over se der Rechtfertigung durch den Glaub en in dem Denken des Paulus anerkennen. Zentr al in der paulinischen Lehre ist die Verkündigung Christi, von der die Rechfertigung durch den G lauben nur ein kontingenter Au druck is t. Eckstein versteht die Rechtfertigungslehre als Antwort auf konkrete historische Begebenheiten, gibt ab er in seinem Beitrag keinen Hinweis darauf, welche Ere i. gni. se es waren, und besonde rs lässt er die Beantwo rtung der Fr a ge vermissen, was für eine Bedeutung sie für ein Verständnis dieser Lehre ha· en könnten. Die in Phil 3,2-11 und Gal vorauszusetzenden Begebenheiten sind bei näherer Betrachtung ganz verschieden. Unter dem Aspekt der inhaltlichen Sukzessivität betrachtet, folg t der Römerbrief dem G ala terbrief. In Phil 3,2-11 bewegt sich di e Dis kussion in einem jüdischen Rahmen: fa geht u m das unjüdische Benehmen de s Paulus . In 3,5-6 zählt er seine Au szeichnungen als vorbildliche : - Jude auf, die er in 66 sich zueignet: »In der Rechtfertigung durch d as Gesetz war ich oi ne Fehler« . Die se Aussage hat nichts mit der so 5enannten Werkgerechtigkeit zu tun, ondern fass t zusammen, was er sich zu eignet im Sinne der A uszeichnungen von 5-6a. So lehnt er in 3,9 nicht d as ab, was er im Sinne von Werkgerechtigk ei t erreicht hat, sondern das, was er als vorb · dlicher Jude erlangt hatte: » ... dass ich in ihm gefunden wurde, ohne meine eigene Gerechtigkeit aus dem Gesetz, sondern die Gerechtigkeit aus dem Glaul: : en Christi, die Gerechtigkeit, die von Gott koom t aus d em Glauben«. Paulus antwortet konkret, biographisch: Was er in Christus gefunden hat, w ar unvergleichbar mit seinem Streben a ls Jude. Seine Verteidigung gründet sich d eshalb nicht auf eine Lehre über Jesus Christus, ebens o ist es auch keine Verteidigung von C hristu s als dem einzigen Weg zum Heil. Stattdessen ve lä ss t sich meinen, nicht näher definierten Sinn benutzt, z.B. »Ihr seid von Gott in Christus, der die Weisheit Gottes für uns wurde, Gerechtigkeit und Heiligung und Erlösung« (1Kor 1,30, ähnlich in lThess 2,10; 1Kor 4,4; 2Kor 3,9; 5,21; 6,7.14; 9,9- 10; 11,15). Nur einm al erfährt der Gebrauch des Wortes speziellere : Bedeutung: ,>Das alles wart ihr, aber ihr seid gereinigt, ihr seid gerechtfertigt im Namen unseres Herrn Jesus Christus und im G eist unseres Gottes« (1Kor 6,11). Die Vielfalt und Unbestimmth eit der Verwendung dieser Ausdrücke lässt erkennen, dass Paulus keine Lehre der Rechtfertigung erarbeitet hatte, von der er schöpfen konnte. D ie Redewendungen »Rechtfertigung durch das Gesetz« und »meine eigene Rechtfertigung durch das Gesetz« in Phil 3,2-11 sind gegründet in dem jüdischen Kontext der Diskussion und »[Rechtfertigun g], die au s dem Glauben Jesu k: : immt« ist im Gegensatz dazu davon abgeleitet. Die Kontroverse in Galatien findet hingegen in einem ganz anderen Kontext statt: Es handelt sich um eine Auseinandersetzung über das Verhältnis zwischen j-: idischen und heidnischen Gläubige n, die über die Frage entstanden ist, ob Heiden sich beschneiden lassen müssen als Erfüllung ihrer Berufungen in Christus. Auch hier wird keine bestehende Lehre des Paulus zum Ausdruck gebracht oder auf sie zurückgegriffen. Die Anrede an die Galater durch den Apostel gründet sich wieder auf die Erfahrung mit Christus, in diesem Fall nicht seine eigene, sondern die Erfahrung seiner Leser: »Ihr unvernüftigen Galater, wer hat euch betrogen, ihr vor dessen Au 5en Christus als der gekreuzigte darges·,ellt wurde! « Ein Schlüssel zu dem, wa, Paulus im Galater brief beschäftigt, bietet sein Bericht über die Ereignisse in Antiochien. In Antiochien fand eine Tischgemeinschaft von jüdi- Paulus ganz auf sei ne Erfah rung mit Christus. Die Rechtfertigu n g aus dem Glauben, von der er spricht, is: nicht eine eigenständige Ide e, son dern Material fü r d ie Verteidigung einer Preisgabe seiner Auszeichnungen als vorbild- »Die Rechtfertigung aus dem Gla11,ben, von der er spricht, ist nicht eine eigenständige Idee, sondern Material für die Verteidigung einer Preisgabe se iner Auszeichnungen als vorbildlicher Jude.« schen und heidnischen Gläubigen statt, wie Paulus berichtet: »Petrus hat mit den Heiden gegessen bis einige Leute von Jakobus ankamen. Danach hat er sich zurückgezogen un d sich abgesondert, weil er diejenigen, die von der licher Jude . In seinen frühere n Briefen hat Paulus »Rechtfertigun g« und verwandte Wörter in einem allge - 50 Beschneidung waren, fürchtete. Und der Rest der Juden fing auch an, mit ihm zu heucheln bis auch Barnabas hingeführt ZNT 14 (7 . Jg. 2004) Hendrik B oe rs Antwort auf Hans- Joachim Ecksteins »Rechtfertigungstheologie« Hendrik Boers Prof. Dr. Hendrik Boers, Jahrgang 1928, geboren in Ermelo, Transvaal, Süd-Afrika. Promotion 1962. Von 1969-1977 Associate Professor für Neues Testament an der Chandler School of Theology, Emory University, Atlanta, USA und seit 1977 Professor für Neues Testament an der dortigen Universität. Forschungsschwerpunkte: Paulinische Theologie, christologische Konzepte im Neuen Testament, semantische Analyse biblischer Texte. Diverse Veröffentlichungen, zu denen die Bücher »The Justification of the Gentiles . Paul's Letters to the Galatians and the Romans« sowie »The Meaning of Christ in Paul's Thought« zählen. wurde durch ihre Heuchlerei« (Gal 2,12 - 13). Der Streitpunkt in Galatien aber, anders als in Antiochien, war nicht die Tischge- Angaben nicht, um Information zu übermitteln, sondern stellt die Information als Mittel dar, um die Kontroverse in Galatien anzusprechen. »Werke des Gesetzes« in Gal 2,16 sowie auch in Phil 3,9 bedeuten also nicht »Rechtfertigung durch das Tun guter Werke«, sondern Rechtfertigung im Sinne von: ein Jude zu sein durch Beschneidung. Paulus verneint keineswegs die Rechtfertigung der Juden, aber nicht auf Grund ihres Seins als Juden. Auch sie werden durch den Glauben gerechtfertigt: »Wir, die durch Erbnis Juden sind und nicht aus den Heiden, Sünder, wissend, dass keiner gerechtfertigt wird durch die Werke des Gesetzes [d. h. auf Grund des Jude sein], außer durch den Glauben Christi, haben auch in Christus geglaubt, um durch den Glauben Christi gerechtfertigt zu werden und nicht durch Werke des Gesetzes, weil niemand durch Werke des Gesetzes [auf Grund des Jude sein] gerechtfertigt wird« (2,16). Paulus unterstützt dieses Argument dadurch, dass er sich auf die Verheißung an Abraham beruft (3,15 - 18), besonders darauf, dass die Verheißung Abraham gegeben wurde 430 Jahre bevor das jüdische Sonderrecht vom Gesetz festgelegt wurde (3,17). Im Römerbrief wird er im selben Sinne argumentieren, dass Abraham als Heide gerechtfertigt wurde: »Wie war [Abraham Rechtmeinschaft jüdischer und heidnischer Gläubigen, sondern er entzündete sich darüber, ob heidnische Gläubige sich beschneiden lassen müs - »Paulus verneint keineswegs die Rechtfertigung der Juden, aber nicht auf Grund ihres Seins als]uden. « fertigung] zugerechnet: Als er beschnitten war oder unbeschnitten? Nicht beschnitten, sondern unbeschnitten, und er bekam das Zeichen der Beschneidung als Siegel seiner sen. In diesem Kontext passt Paulus die antiochenischen Ereignisse an die Kontroverse in Galatien an. Er erzählt, wie er Petrus beschuldigt hat, dass er die Heiden judaisieren wollte: »Wieso zwingst du die Heiden dazu, sich zu judaisieren? « (Gal 2,14d). Diese Beschuldigung hat aber keinen Anlass in seinem eigenen Bericht über die Ereignisse in Antiochien, sondern dient rhetorischen Zwecken. Er gestaltet seinen Bericht der Begebenheiten in Antiochien auf die Kontroverse in Galatien hin. Deswegen ist es auch nicht nötig zu fragen, wo sich in Gal 2,11 - 21 der Übergang von seiner Anrede an Petrus zu der an die Leser findet. Paulus spricht seine Leser die ganze Zeit an, auch wenn er berichtet, was er angeblich Petrus gesagt hat. Er macht diese biographischen ZNT 14 (7. Jg. 2004) Rechtfertigung als U nbeschnittener ... « (Röm 4,10-1 la). Rechtfertigung durch den Glauben bedeutet im Galater- und Römerbrief Rechtfertigung der Heiden. In beiden Briefen funktioniert Abrahams Rechtfertigung als er noch Heide war für Paulus als Grundlage seines Arguments, dass die Heiden als Heiden gerechtfertigt werden. Beschneidung bleibt ein grundlegendes Thema im ganzen Galaterbrief. In seinem Bericht über seinen Besuch in Jerusalem unterlässt Paulus es nicht zu erwähnen, dass nicht von ihm erwartet wurde, Titus zu beschneiden (2,3). Seine Erwähnung, dass die Säulen in Jerusalem Qakobus, Kephas und Johannes) ihm keine weiteren Forderungen aufgelegt hatten (2,6-10), bedeutet 51 K ont roverse bestimmt auch, dass die Beschneidung der heidnischen Gläubige n nicht von ihm verlangt wurde . Auch die Frage des Paulus an die Galater» ... nur dies möchte ich von euch wissen: Habt ihr den Geist durch We : : ke des Gesetzes bekommen oder durch d as Hören (Gehorc hen? ) des Glaubens? « (3,2) ist konkret zu verstehen als Bezweiflung der Notwendigkeit der Beschneidung für die Ermöglichung der Geistes gabe. Die weitere noch im Galaterbrief folgende iskreditier ng des Gesetzes in 3,5 -5 ,31 mu ss im gleichen Sinne verstanden werden. Paulus kehrt mehrmals zurück zum Thema Beschneidung in den letz ten zwei Kapiteln des Briefes (5,2 .3.6. 1 1; 6,12.13.15). Damit bestätigt es sich, dass nicht die Rechtfertigung, sondern die Frage nach der Beschneidung das verbindliche und übergeord ete Thema des Briefes ist. Rechtfertigung aus dem Glauben funktioniert als ein kritisch er Bestande il seiner Argumentation und muss deshalb als wichtig in der Entfaltung seiner Argumentation anerkannt werden. Aber der Galaterbrief biete t gewiss keine Darstellung einer Lehre von der Rec tfertigung aus dem Glauben als gegebener und vorfindlicher Lehre des Paulus . Ähnlic der Philipp erbriefstelle entsteht der Ge gensatz zwischen der Rechtfertigung durch die Werke des Gesetzes und durch den Glauben konkret als Ausdruck einer Ausein andersetzung, in die sich Paulus gestellt sieht: Diese ist im Fall des Galaterbiefs konkret über der Frage der Notwendigkeit der Beschneidung der heidnischen Gläubigen entstanden. Paulus versteht diejenigen, die die Beschneidung der Galater erwarten, als motiviert durch die Anforderungen des Ges etzes, und interpretiert ihr Verhalten als ein Sichverlassen auf das Gesetz als Mittel der Rechtfertigung, demgegenüber stellt der Apostel das Hören des Glau bens. Hierfür beruft er sich konkret auf die Erfahrung seiner Leser: »: : --Jur dies möchte ich vo: 1 euch wissen: Habt ihr den G eist durch Werke des Gesetzes bekam en oder durch das Hören (Gehorchen? ) des Glaubens? « (3,2). Paulus entwickelt seine Sprache und Wortwahl im Verlauf seiner Rede sukzessiv, so wie es für se ine Argumentation erade benötigt wird. E rstmalig taucht der Begriff »Rechtfertigung·=< in Galaterbrief in Gal 2,16 auf: In dem d rchschlagenden Vers verweist er nicht auf di e Rechtfertigung durch den Glauben, d .h . der G läubigen, bei der 52 ersten Nennung der Opposition zwischen den Werken des Gesetzes und der Verkündigung des Evangeliums im Galaterbrief, sondern zweimal auf die Rechtfertigung »durch den Glauben (Jesu) Christi«. Nach ihm haben Petrus und die anderen sich auf die Werke des Gesetzes verlassen, um gerechtfertigt zu werden. Dagegen stellt er den Glauben Jesu. Mit >-G laube« verweist er in keiner der beiden Formulierungen auf den Glauben der Gläubigen darauf verweist er .unterscheidend in 2, 16c mit »auch wir sind gläubig geworden an Jesus Christus«. »Glaube« bedeutet hier auch nicht die oft vorgeschlagene Alternative eines Glaubens Jesu selbst im Sinne seiner Treue . Eine bessere Lösung wäre »Glaube« im Sinne von 1,23 zu nehmen, wo Paulus berichtet, dass die Gemeinden in Jerusalem gehört haben, dass "der, der früher die Kirche verfolgt hat, jetzt den Glauben, den er früher zerstört hat, verkündigt.« Gegenüber des Sich-Verlassens auf eine Identität unter dem Gesetz, stellt Paulus eine Identität, die auf die Verkündigung des Glaubens gegründet ist. Diese neue Identität entsteht dadurch, dass man an Jesus Christus glaubt (2,16c). Die Vorrechte des Evangeliums werden nicht auf Grund der Tat des Glaubens gegeben, wie die Vorrechte des Gesetzes auch nicht auf Grund von Taten der Erfüllung des Gesetzes gegeben werden, auch nicht der Tat der Beschneidung. Die Vorrechte werden unterschiedlich gegeben: entweder durch das Gesetz oder den verkündigten Glauben J esu Christi. Beschneidung und Glauben an Christus Jesus sind die unterschiedlichen Weisen sich diese Vorrechte anzueignen. Aus Gal 2,16 ist schon deutlich geworden, dass Glaube nicht nur eine einzige Bedeutung im Galaterbrief hat. Konkret geht Paulus von dem verkündigte Glaube Jesu (fides quae creditur), » .. . wissend, daß niemand gerechtfertigt wird, .. . wenn nicht durch den Glauben Jesu Christi« (16ab ), zum Glauben an Christus Jesus (fides qua creditur), »wir auch haben an Christus Jesus geglaubt« (16c) über. Die Vieldeutigkeit des Terminus »Glaube« erlaubt es Paulus, alle Bedeutungsfacetten auszuloten und wenn nötig, von einer Bedeutung zur anderen zu wechseln. Leider führt diese Vieldeutigkeit auch zu semantischer Ambiguität. In 3,2 und 5 z.B. ist nicht klar, ob sich der Terminus »Glaube« in dem Satzteil »durch das Hören (Gehorsam? ) des Glaubens« auf das ZNT 14 (7 . Jg. 2004) Hendrik Boers Antwort auf Hans-Joachim Ecksteins »Rechtfertigungstheologie« bezieht, was geglaubt wird oder auf die Tat des Glaubens, wodurch wiederum auch das Hören doppeldeutig wird: Entweder »das Hören, das durch Glaube gekennzeichnet wird« im Sinne von einem Gehorsam des Glaubens oder »das Hören des verkündigten Glaubens«. Paulus benutzt die Vieldeutigkeit von »Glaube« in 3,6-9 rhetorisch dazu, um Abraham für den verkündigten Glauben J esu in Anspruch zu nehmen, und ihn zugleich von der jüdischen Erb schaft auszuschalten, mit dem Argument, dass Abraham gerechtfertigt wurde, weil er der Verheißung Gottes glaubte. Deswegen sind diejenigen, die aus dem Glauben sind, Abrahams Erben, und nicht diejenigen, die unter dem Gesetz sind. Dies geschieht mit dem argumentativen Ziel, das Gesetz als Garanten jüdischer Vorrechte ganz unter Verdacht zu stellen, was er in 3,10-26 ausführt, mit dem impliziten Resultat, dass die Gültigkeit der Beschneidung als Mittel der Befreiung und Rechtfertigung obsolet wird. Während Paulus im Galaterbrief seine Argumente entwickelt hat im Fortgang seiner Erörterungen, gründet er im Römerbrief seine Darlegungen zum Teil auf Gedanken, die er im Galaterbrief schon entwickelt hat. Es scheint kein konkretes Ereignis vorzuliegen, auf das Paulus im Römerbrief reagiert. Also macht er eklektischen Gebrauch von einigen seiner Gedanken, die er im Galaterbrief entfaltet hat, und benutzt seine schon vorliegenden Ausführungen als Material für sein Schreiben an die Leser in einer Gemeinde mit der er keine früheren Kontakte hatte. So verwundert es nicht, dass der Römerbrief oft als an eine theoretische Darlegung grenzend betrachtet wurde. Das Hauptthema des Römerbriefes ist nicht die Rechtfertigung durch den Glauben. Dieses Thema bleibt begrenzt auf Röm 3,21-5, 11. Paulus kündigt es in 3,19-20 an als Abschluss seiner Gedanken über das Gesetz in 2,1-3,18. In 2,1-3,18 hat er das Gesetz positiv dargestellt als das Mittel, wodurch die Juden bewahrt waren von der Perversion der Heiden, die Paulus in 1,1-10 beschrieben hatte. Seine eigentliche Absicht ist es aber, die Juden zu diskreditieren wegen ihres Versagens im Gehorsam gegenüber dem Gesetz, besonders deutlich in 3, 1-10. Aber das Gesetz im Sinne von 2,1-3,18 ist die Grundlage für Gottes Urteil über die Werke aller Menschen, nicht nur Juden, wie Paulus in 2,13 darlegt: »Nicht die Hörer des Ge- ZNT 14 (7. Jg. 2004) setzes sind gerechtfertigt vor Gott, sondern diejenigen, die das Gesetz erfüllen, werden gerechtfertigt werden.« Die Juden können also von der Beschneidung Vorteil haben, nur wenn sie die Gebote erfüllen (2,25a), aber Heiden, die ebenfalls die Gebote erfüllen, zeigen, dass sie das Gesetz in ihre Herzen geschrieben haben (2,14-15). In 3,19-20 nun wendet sich Paulus hin zu einer anderen Bedeutung des Gesetzes: das Gesetz, das das jüdische Vorrecht festlegt, wodurch man aber nicht gerechtfertigt werden kann: »... deswegen wird niemand vor [Gott] gerechtfertigt« (3,20ab). Er unterscheidet dieses Gesetz in diesem Sinne von dem Gesetz in Sinne von 2,1-3,18, das Gesetz als Grundlage von Gottes Urteil über Werke des Gesetzes. Hier aber, in 3,20, begrenzt er die Funktion des Gesetzes zum Offenbarer der »Kenntnis der Sünde« (3,20c). In Röm 3,20 nimmt Paulus die Gedanken des Galaterbriefes neu auf, verfeinert sie aber. Rechtfertigung durch das Gesetz und durch den Glauben wird jetzt klar definiert. In diesem Teil seiner Darstellung im Römerbrief anders als im Galaterbrief sucht Paulus nicht mehr nach seinem (theologischen)Weg, auch nicht terminologisch. Er weiß, was er sagen will, mit der Einschränkung, dass er sich in Röm 4,23-25 jenseits von dem befindet, was er wollte. Er verbindet die Tat des Glaubens Abrahams nun mit der Tat des Glaubens an die Auferstehung Jesu, ohne eine Verbindung mit dem Christus-Geschehen selbst festzustellen. Er stellt die Verbindung fest auf Grund von Gottes Tat der Auferweckung, die Erweckung eines Sohnes für Abraham aus seinem toten Leib und dem toten Mutterschoß Sarahs und die Auferweckung Jesu aus dem Tode. Im Gegensatz dazu hat Paulus im Galaterbrief Christus direkt in Verbindung mit Abrahams Glaube gebracht, auch wenn die Weise, wie er das tat, viel zu wünschen übrig lässt: Der einzige Samen der Verheißung war Christus (Gal 3,16). Im Römerbrief ist der Same offensichtlich Isaak (Röm 4, 18- 21). Auf diese Weise endet Paulus in Römer 4 ohne eine Verbindung zwischen Abrahams Glaube und dem Christusgeschehen hergestellt zu haben. Eine Verbindung, die er offensichtlich beabsichtigt, wie seine darauf folgende Darstellung verdeutlicht. Im Vergleich mit dem Galaterbrief, in dem Paulus im Verlauf seiner Argumentation Abrahams Glaube direkt mit Christus verbunden 53 Kont roverse hat, zeigt der Römerbrief einen eklatanten Mangel auf. Der Behebung dieses Mangels wendet sich der Ap ostel in 5,1-11 zu, er verlässt hierfür seine Argumentation aus den Darlegun gen im Galaterbrief und sucht einen neuen argumenta: iven Weg. Paulu s beginnt in Kapitel 5 damit, dass er die Verbindung zwischen Abrahams Rechtfertigung durch den Glauben nd die Rechtfertigung derer, die an G o tt glauben , der »Jesus unsern Herrn « aus dem Tode auferweckt hat, ers t wieder in Erinnerung ruft, »also, gerechtfertigt durch den Glauben haben wir Frieden mit Gott .... « (5,1). Damit hat Paulus die Gr ndlage der Rechtfertigu ng der Rechtfertigung durch den Glauben vielmehr zum Ausdruck, w as Paulus in Christus gefunden hat als Grundlage : ,einer Absage seiner Angewiesenheit auf sein jü disches Erbe als Mittel der Rechtfertigung. Im Galaterbrief funktioniert seine A blehnung der Rechtfertigung durch Werke des Gesetzes als Argument gegen die Forderung, dass die Heiden sich beschneiden lassen müssen, um teilnehmen zu können an der Gemeinschaft der G läubigen. Dieses Argument wird zu einem der grundlegenden Gedanken im Römerbrief. Durch c.iese beiden Überlegungen wird die Auffassung Wredes bestätigt, dass es sich bei der noch nicht weit er g führt als bezogen auf die Tat des Glaubens an Go ttes Auferweckung Jesu aus dem Tode. Um argumentativ weiter zu kommen, führt er in 5,6-8 noch eine cl: .ristologische Aussage ein. Auf Grund die ser christologische Zentrierung fo rmuliert ,er die Grund- » Wichtiger scheint es mir, .. . dass festgehalten wird, dass paulinische Rede von der Rechtfertigung durch den Glauben keineswegs in einem univoken Gedanken über die Recht- Rede vor.. der Rechtfertigung im paulir_ischen Kontext keineswegs um ein Theologumenon sine qua non handelt. Wichtiger scheint es mir, so bedeutsam Martin Luthers Konzeption der Rechtfertigung durch den Glauben in der Geschichte auch sein mag f ertigung gegründet ist. <lage der Rechtfertigung neu: Nich t der Glaube sei die G rundlage der Rechtfertigung, sondern das Blut C hristi: »Soviel mehr als o , gerechtfertigt durch sein Blut, sind wir gerettet von dem Zorn [Gottes]« (Röm 5,9). Wie im Galaterbrief so auch im Römerbrief Yer weist die Rechtferti gung durch den Glauben nicht auf die Tat des Glaubens, sondern auf d ie Tat Gottes in Christus. Damit wird klar, 1. dass Paulus sich nicht auf schon durchdachte Ausführungen ü ber den G egensatz zwischen der Rechtfertigung durch We rke des Gesetzes und der Rechtfertigung durch den G lauben verlassen hat, so ndern dass er im Philipper-, G alater- und im Römerbrief sein Gedanken sukzes siv im Laufe seiner Argumen ta tion entwickelt hat; 2. dass Paulus in dem Gegens atz zw ischen der Rechtfertigung durch die Werke d es Gesetzes und der Rechtfertigun g durch den Glauben keine Opposition aufbauen will zwischen dem Tun guter Werke im Geho : : sa m des G es etzes und der Tat des Glaubens, bei der die eigenen Leistungen aufgeben wer den. In Phil 3,2-11 bringt die Rede von 54 dass festgehalten wird, dass paulinische Rede von der Rechtfertigung durch den Glauben keineswegs in einem univoken Gedanken über die Rechtfertigung gegründet ist. So wichtig die Rechtfertigungslehre Luthers für die Reformation und für die ganzen Reformationstradition ist, sie ist nicht historisch, vielleicht wohl dekonstruktiv, in den paulinischen Gedanken über Rechtfertigung begründet. Anmerkungen 1 G. Bornkamm, Paulus, Stuttgart . lBerlin/ Köln/ Mainz' 1970, 128. 2 Sie wird ausfü hrlich entwickelt nur im Galater- und Römerbrief. Daneben vgl. die gleichfalls polemische Stelle Phil 3,6-9. 3 W. Wrede, Paulus (Religionsgeschicht! iche Volksbücher I 5-6), Halle 1904, 72. Jetzt in K.H. Rengstorf (Hg.), Das Paulusbild in der neuere: : 1 deutschen Forschung (WdF 24),Darmstadt 1964, 67. 4 Für eine gründliche Diskussion, sehe, K. - Y. Na, The Meaning of Christ in Paul. A Reading of Galatians 1,11- 2,21 in ehe Light of Wilhelm Di! they's Lebensphilo sophie, Atlanta 2001. ZNT 14 (7.Jg. 2004) Hermeneutik und Vermittlung Richard B. Hays Schriftverständnis und lntertextualität bei Paulus 1 »Dies aber widerfuhr jenen typologisch. Es wurde aber geschrieben uns zur Ermahnung, auf die die Enden der Zeiten getroffen sind.« (1Kor 10,11) 1. Einleitung: Paulus als Leser der Schrift in 1. Korinther 10 Im 1. Korintherbrief 10 erzählt Paulus die Geschichte von Israels Aufenthalt in der Wüste. Der Bericht des Paulus enthält jedoch mehrere merkwürdige Elemente. Wie beispielsweise die ersten vier Verse: »Ich will euch aber, liebe Brüder, nicht in Unwissenheit darüber lassen, daß unsre Väter alle unter der Wolke gewesen und alle durchs Meer gegangen sind; und alle sind auf Mose getauft worden durch die Wolke und durch das Meer und haben alle dieselbe geistliche Speise gegessen und haben alle denselben geistlichen Trank getrunken; sie tranken nämlich von dem geistlichen Felsen, der ihnen folgte; der Fels aber war Christus.« (1Kor 10,1-4) Erstens bemerkt man mit Überraschung, dass Paulus sich auf Israel in der Wüste als »unsre Väter« bezieht, obgleich er zu der hauptsächlich heidnischen Gemeinde in Korinth schreibt. Obwohl diese heidnischen Konvertiten nicht physische Nachkommen von Israel sind, redet Paulus sie als die Angehörigen des Bundesvolk Gottes an. Er möchte sie davon überzeugen, dass sie ihre Identität in der Geschichte Israels begreifen. In der Tat schreibt er sie in diese Geschichte ein, damit sie lernen können, dass sie selbst Nachkommen der Figuren sind, die in den alttestamentlichen Schriften erscheinen. Zweitens ist der Ausdruck »auf Mose getauft worden« (die Worte sind ohne Anhalt im Exodustext und ohne Beispiel in der jüdischen Tradition) der entscheidende Hinweis, dass Paulus die Geschichte von Israels Aufenthalt in der Wüste so liest und interpretiert, dass Analogien zwischen den Erfahrungen Israels und der Lage der korinthischen Gemeinde während der Zeit des ZNT 14 (7. Jg. 2004) Paulus deutlich werden. Weil die Korinther mit Streitigkeiten zum Umgang mit Götzenopferfleisch befasst sind, stellt Paulus sie metaphorisch in derselben Lage wie die Generation Israels dar, die sich in der Wüste mit der Versuchung des Götzendienstes konfrontiert sahen. Also betrachtet Paulus das Meer und die Wolke der Exodus- Geschichte als figürliche Zeichen der christlichen Taufe und interpretiert das Manna und das wunderbare Wasser vom Stein in der Wüste als Vorabbildungen des Abendmahls (»geistliche Speise und geistlichen Trank «) . Drittens sagt Paulus ziemlich überraschend, dass der Fels in der Wüste (Ex 17,6; Num 20,7-11) »ihnen folgte« und interpretiert diesen Felsen als Christus. Die Legende, nach der der Fels Israel während der Wanderungen folgte, ist nicht in den biblischen Texten zu finden, aber ist in späteren rabbinischen Überlieferungen gut bezeugt (als Folgerung des Tatbestands, dass sich Erzählungen über das Wasser vom Fels in zwei verschiedenen Abschnitten im Pentateuch finden lassen). Außerdem findet sich diese Tradition auch noch in einer Quelle aus dem 1. Jh. n.Chr. (Pseudo-Philo, Liber Biblicarum Antiquitatum 11.15 ). Bemerkenswert ist, dass Paulus sich auf diese Erzähltradition in einer so beiläufigen Weise bezieht, die den Schluss nahe legt, dass sie seinen Lesern schon bekannt ist. Seine Interpretation vom Fels als Christus ist zugegebenermaßen eine christliche Neuerung, aber sie setzt wahrscheinlich eine Identifizierung vom Fels mit der göttlichen Weisheit voraus, die schon in den Schriften Philos von Alexandria, ein jüdischer Zeitgenosse des Paulus, erscheint. Philo behauptet, »der feuersteinhaltige Fels ist die Weisheit Gottes ... aus der er die Durst habenden und Gott liebenden Seelen sättigt« (Leg. All. 2.86). Auch wenn Paulus annimmt, dass seinen Lesern diese Interpretation bekannt ist, gestaltet er sie angesichts seiner Überzeugung, dass nur Christus die echte göttliche Weisheit ist (1Kor 1.30), um. Wie diese wenigen Beobachtungen andeuten, ist der 1Kor ein komplexes intertextuelles Dokument. Um ihn zu verstehen, bedarf es der Auf- 55 H ermeneutik und Verm ittlung merksamkeit auf die alttestamentlichen Zitate und direkte Zitate aus eiern Alten Testament zusätzlich Anspielungen, die ineingeweb t wurden in den zu einer großen Anzahl von Anspielungen. Dennoch gab die kritische Exege paulinischen Diskurs, und die Leser müssen erke nen, dass der paulinische ebrauch dieser alttestam n tl ichen Referenzt exte einen an dauern den int erpretieren den Aus tausch über das Verstehen der » \X 1 ie diese wenigen Beobachtungen andeuten, ist der 1 Kor ein komplexes intertextuelles Dokumem. « se paulinischer Theologie relativ wenig Acht auf das Vorhandensein des Alten Testaments als intertextueller Stimme in den Briefen, trotz der Geschi cht e Israels Y oraussetzt eine Konversation sowohl innerhalb der jüdischen Tradition des Paulus als auch innerhalb der frühen christlichen Gemeinden des Mittelmeerraumes. N ic ht nur die von Paulus ber: utzt en Quellen müssen erkannt werden, sondern auch die Wege, wie Paulus diese umformt und verä dert, indem er diese Texte in einen Dialog mit der Welt der korinth ischen Gemeinde bringt. l Kor 10 ist daher nur ein Beispiel für lntertextua lität, die sich in fast jedem Kapitel dieses Briefes finde lässt. Doch dieses Beispiel ist besonders wichtig, denn Paulus offerie rt in 1 Kor 10 eine explizite hermeneutische Rechtfertigung für seine Lesestrategie. Sein metaphorisches Verständnis der Exodus - Geschichte ist von der Überzeugung getragen, dass die Ereignisse aus der Vergangenheit Israels als Vorab bildungen der Erfahrungen der Kirche in der p aulin ischen Zeit geschrieben wurden: »Diese Dinge a ber sind als Vorbilder (typoi) für uns geschehen« (lKor 10,6). Der schriftliche Bericht von ihr en Erfahrungen » wur de geschrieben uns zur Enna nung, auf die die Enden der Zeit getroffen sind. « (10,11 ) Anders gesagt, stehen Paulus und seine L ser im kulminierenden eschatologis c hen Zei tp unk t. G o tt hat die ganze Geschichte [history] Israels als eine Erwartung dieses Zeitpunktes bereit et, und man darf in der Tat muss die ganze Geschichte [story] Israels angesichts d es Off enbarungsaktes Gottes in Chr is tus neu lesen. Eine de r manifesten seelsorgerisch en Strategien des Paulu s in lKor ist es deshalb, seine Leser zu lehren, ihre eigene Erfahrung angesichts dieser eschatologis ch en intertextuellen Perspektive aufs Neue zu verstehen . 2 II. lntertextualität bei Paulus: status quaestionis Die paulinischen B riefe enthalten mindestens 89 56 Häufigkeit schriftlicher Zitate in den Hauptbriefen des Paulus. Dieser etwas überraschende Befund darf teilweise als Hinterlassenschaft der Reformation gesehen werden, die die hermeneutische Vorrangstellung der Antithese von Gesetz und-Evangelium zum hermeneutischen Krisralisationspunkt paulinischer Theologie erhob und so Paulus als den großen Verfechter der Freiheit vom Judentum darstellte. Diese Tendenz ist in ADOLF VON HARNACKs einflussreichem Aufsatz »Das Alte Testament in den Paulinischen Briefen und in den Paulinischen Gemeinden« zum Ausdruck gebracht worden. Harnack behauptete, dass »Paulus das A. T. nicht als das christliche Quellen- und Erbauungsbuch von vornherein den jungen Gemeinden gegeben hat.« Nach Harnack schrieb Paulus seinen Kirchen in den Briefen nur da: rn mit Bezugnahme auf das Alte Testament, »wenn sie in Gefahr standen, dem judaistischen Irrtum zu verfallen«, d.h., n r wenn der Apostel von judaisierenden Gegner gezwungen wurde. 3 Diese Ansicht ist nur haltbar, wenn viele Evidenzen (z.B. die häufigen alttestamentlichen Verweise in lKor, in denen es keine Anzeicher_ von judaisierer: den Gegnern gibt) ignoriert oder aber die alttestamentlichen Zitate einer vorpaulinischen Ebene der Tradition zugeschrieben werden. (Vertreter dieser Auffassung schlugen vor, in lKor 10,1-13 ein Stück eines traditionellen jüdischen Midraschs zu sehen, den Paulus in seinen Brief einfach einarbeitete und mit mehreren redaktionellen Zusätzen, wie die Verweise auf Christus in 10,4.9, versah. Die unausgesprochene Implikation dieser Hypothese ist, dass der vorpaulinische Midrasch nicht paulinischen Ursprungs sein kann.) Nach dieser Ansicht war die Predigt des Paulus ein reines Evangelium über die Rechtfertigung durch den Glauben, die keinen wesentlichen Bezug auf die Schrift Israels nahm. In RUDOLF BULTMANNs »Theologie des Neuen Testaments«, um noch ein prominentes Beispiel anzuführe: : i, wird ebenso wenig Aufmerksamkeit ZNT 14 (7. Jg. 2004) Richard B. Hays Richard B. Hays, Jahrgang 1948, Professor für Neues Testament an der Duke University in Durham, North Carolina, USA. Vorher Associate Professor für Neues Testament an der Yale Divinity School. Sein Forschungsansatz ist interdisziplinär, Hays' Augenmerk liegt auf der Erarbeitung biblisch-theologischer Fragen mittels literaturwissenschaftlicher Methoden. Sein Hauptforschungsgebiet sind die paulinischen Briefe sowie neutestamentliche Ethik. Diverse Veröffentlichungen zu denen »The Faith of Jesus Christ«, »Echoes of Scripture in the Letters of Paul«, »The Moral Vision of the New Testament«, »First Corinthians (IC)« und »The Letter to the Galatians (NIE)« zählen. Zur Zeit arbeitet Richard B. Hays an einem Forschungsprojekt zur IdentitätJesu sowie an einem Buchprojekt über die vier Evangelisten als Interpreten der Schriften Israels. dem Alten Testament als Erzählmatrix für die Darstellung paulinischer Gedanken gewidmet. Gleichzeitig beobachteten andere N eutestamentler die häufigen Bezugnahmen des Paulus auf das Alte Testament, aber waren über den Graben zwischen der paulinischen Interpretation dieser Texte und ihrer ursprünglich historischen Bedeutung verängstigt. Folglich versuchten sie, durch apologetische Rechtfertigungen die paulinischen Revisionen seiner Lektüren der biblischen Schrift zu erklären. Oft behaupteten solche Kritiker, Paulus benutze anerkannte midraschartige oder rabbinische Auslegungsmethoden, weil diese Auslegungen, wie seltsam es uns auch erscheinen mag, der Legitimitätssicherung seiner Person in Anbetracht der interpretatorischen Konventionen seiner Zeit dienten. Beispielsweise behaupte Paulus in Gal 3,16, dass die singularische Form des Substantives sperma (»Same«, »Nachkomme«) ZNT 14 (7. Jg . 2004) Richard B. Hays Schriftverständnis und lntertextualität bei Paulus anzeige, dass sich die dem Abraham und seinem Samen (seinem Nachkommen) gegebene Verheißung Gottes auf einen einzigen Erben der Verheißung bezieht, einen Erben, den Paulus als Christus identifiziert. Obgleich diese Interpretation höchst künstlich wirkt, ist die messianische Auslegung der Verheißung an Abraham vielleicht ein Beispiel für den rabbinischen Kunstgriff von gezerah shawah (das Vernetzen von Stichwörtern), die Gen 13,15 (»Denn all das Land, das du siehst, will ich dir und deinen Nachkommen [sperma] geben für alle Zeit«) im Lichte der Verheißung Gottes an David aus 2Sam 7,12 auslegt (»will ich dir einen Nachkommen erwecken, der von deinem Leibe kommen wird; dem will ich sein Königtum bestätigen«). Die Untersuchung von E. EARL ELLIS, »Paul's Use of the Old Testament«, die lange das mustergültige englischsprachige Werk zu diesem Thema war, betont die Wichtigkeit solcher rabbinischen Kunstgriffe für das Verständnis des paulinischen Umgangs mit dem AT.4 Letzten Endes sind jedoch die paulinischen Auslegungen der Schrift zu mannigfaltig und überraschend, um sie mit den Regeln der rabbinischen Hermeneutik gänzlich erklären zu können, ganz zu Schweigen von der Tatsache, dass Paulus die alttestamentlichen Texte in einer Art und Weise liest und interpretiert, die mit jüdischen Auslegungen in grundsätzlichem Konflikt steht. In den letzten 20 Jahren hat die Forschung zur Intertextualität bei Paulus beträchtliche Fortschritte gemacht. 1986 veröffentlichte DIETRICH- ALEX KOCH seine Habilitationsschrift »Die Schrift als Zeuge des Evangeliums: Untersuchungen zur Verwendung und zum Verständnis der Schrift bei Paulus«, ein übergreifender kritischer Überblick der Zitate des Paulus. Dieser Untersuchung folgte 1992 eine Monographie von CHRIS- TOPHER D. STANLEY mit dem Titel »Paul and the Language of Scripture: Citation Technique in the Pauline Epistles and Contemporary Literature«, die etwas enger angelegt war. Beide Werke arbeiteten zwar innerhalb des traditionellen historischkritischen Paradigmas neutestamentlicher Wissenschaft, aber zusammen gesehen bieten sie eine zuverlässige und präzise Grundlage für weitere Untersuchungen.' Von einer anderen Perspektive aus setzte mein 1989 veröffentlichtes Buch »Echoes of Scripture 57 t·lerm eneutik und Vermi-ttlung in the Letters of Pau l« an, die Frage nach alttestamentlichen Ans? ielungen unc. Echos in den Briefen des Paulus zu erforschen, indem es von der Literaturwissenschaft entliehene Methoden für die Unters uchung er Intertextualität verwendete.6ln meiner Unter suchung wurde darauf hingewiesen, dass die vo Paulus verwendeten Verweise nicht einfach aus dem ursprünglichen Kontext gerissene Belegstellen sind; sond ern sind im Gegenteil oft so ge stalt et, dass sie Elemente früherer Texte wieder ins G edächtnis rufen, ge rade außerhalb des ausfüh: -lic Zitierten. D ie Interpretation solcher Anspiebngen erfordert es, dass der Leser diese unzitierten El mente wieder ins Gedächtnis zurückruft oder entdeckt. Z.B. der einzige in lKor 10,1-13 ausführlich zitierte alttestamentliche Text ist Ex 32,6: »Danach setzte sich das Vo~k, um zu essen und z1.: . trinken, u nd sie standen auf, um ihre Lust zu treiben .« Dieses Zitat macht nur für den Leser Sinn, der erkennt, dasss es aus dem Erzählzu ammenhang der Geschiebe vom goldenen Kalb st ammt. In diesem Fa] vernetzt das versteckte Zitat das E ssen und Trinken aus dem korinthischen Zusammenhang mit der Praxis des Götzen ' ienstes ein Verne: zen, das spezifisch rhetorisches Gewicht in der Argumentation des Paulus hat, dass die Korinther im paganen Tempel nicht essen und trinken sc-llen. Die Leser in Korinth sollen sich den Kontext des Zitates ins Gedächtnis zurückrufen und erkennen, dass sie in Gefahr stehen, G ottes Gesuchungen von HANS HüBNER, BRIAN ROSNER und J. Ross WAGNER erinnert. 7 Von einem anderen Gesichtspunkt aus, wurden augerdem Arbeiten vorgenommen, die im Rahmen des gesamten paulinischen Opus die Verwendung spezifisch Bibelstellen und Bücher untersuchte. Die wichtigste Monographie zu diesem Feld ist bis jetzt von FLORIAN WILK unter dem Titel »Die Bedeutung des Jesajabuches für Paulus« verfasst worden. 8 Durch solche Untersuchungen ist ein umfassenderes Verständnis von Paulus als Leser der Schrift und von seinen Briefen als komplexe intertextuelle Leistungen erreicht worden. Eine vollständige bibliographische Übersicht würde den Rahmen dieses Aufsatzes zwar sprengen, aber wir sollten noch einige wichtige Beobachtungen zum Thema Intertextualität und schrikiche Auslegung bei Paulus anführen. III. Paulus als intertextueller Theologe A. Ekklesiozentrische Hermeneutik. Wie die Dis kussion um Israel in der Wüste in lKor 10 illustriert, besteht Paulus darauf, dass die Erzählungen der Schriften Israe. ls die Situation der Kirche präfigurieren, die durch seine eigene Mission zu den Heiden entstanden ist. Im Gegensatz zum Evan gelisten Matthäus, der im Alten Testament nach christolog~schen Belegstellen =>prooftexts,J gräbt, richt auf sich zu laden, ebenso wie die Verehrer des goldenen Kalbs. Dieser Kun stgriff, bei dem ein Autor Echos unzitierter Teile eines vorherigen Textes hervorruft, wird als Metalepsis bezeichnet, in An- »Daher benutzt Paulus eine ekklesiozentrische Hermeneutik: liegt das paulinische Augenmerk bei seiner Auslegung des Alten Testaments darauf, dass das AT auf die Kirche als das Volk Gottes hinweist und deshalb als Anleitung für die Handlungen der Kirche zu Eine Auslegungsstrategie, die auf die Kirche und ihre Situation fokussiert ist. .z lehnung an die Verwendung des Begriffs bei dem Literaturwissenschaftler JOHN H0LLANDER. Viele nachfo lgende Untersuchungen nahmen die methodische Herangehensweise von »Echoes of Scripture in the Letters of Paul« auf, mit dem Ergebnis, dass »Intertextualität« ein weit diskutiertes Thema in der paulinischen Forschung wurde. Mehr ere wichtige Monogr; ; .phien sollen deshalb auch nicht unerwähnt bleiben, die sich dem paulinischen Gebrauch der alttestamentlichen Schrift innerhalb eines einzelnen Briefes oder Briefabschnitts widmeten. Besonders sei an die Unter- 58 verstehen ist. Daher benutzt Paulus eine ekklesiozentrische Hermeneutik: Eine Auslegungsstrategie, die au: : die Kirche und ihre Situation fokussie rt ist. Beispielsweise gibt Paulus eine allegorische Auslegung der Erzählung von Abraham, Sara, und Hagar. Nun wäre es zu erwarten, dass behauptet würde, da.ss Saras Kind, Isaak, Abrahams legitimer Erbe sei, der als Opfer dargebracht wurde, und dieses Opfer ein allegorisches Vorbild Jesu Christi sei. J cdoch interpretiert Paulus Isaak stattdessen als Urbild der (unbeschnittenen) heid nischen C: iristen: »Ihr aber, liebe Brüder, seid wie ZNT 14 (7. Jg. 2004) Isaak Kinder der Verheißung.« (Gal 4,28) Weil die heidnischen Bekehrten des Paulus »nicht Kinder der Magd, sondern der Freien« sind, müssen sie weder beschnitten werden noch unter der Herrschaft des Gesetzes leben. Sie sollen daher das Wort der Schrift als eine an sie adressierte Direktive verstehen: »Stoß die Magd hinaus mit ihrem Sohn.« (Gal 4,30, Zitat aus Gen 21,10) Im Kontext der Argumentation des Paulus im Galaterbrief bedeutet das: »Treibt die jüdisch-christlichen Missionare heraus, die euch mit ihren Lehren stören, die Beschneidung sei für die Zugehörigkeit zum Bundesvolk notwendig.« Bemerkenswerter Weise erwähnt Paulus Jesus Christus nicht einmal in seiner allegorischen Auslegung der Erzählung von Sara und Hagar. Isaak ist nicht ein christologisches Symbol, sondern ein Vorläufer jener heidnischen Bekehrten, die den versprochenen Segen außerhalb des Gesetzes und »des Fleisches« bekommen. Dieses Beispiel vermag deutlich das ekklesiozentrische Muster illustrieren, das die paulinische Exegese dominiert. Paulus entwickelt seine ekklesiozentrische Auslegung in charakteristischer Weise, so dass die Kontinuität zwischen Israel und der Kirche betont wird. In lKor 10 stellt Paulus keinen Vergleich zwischen der Untreue Israels einerseits und der Treue der Kirche andererseits dar. Stattdessen warnt er seine Leser davor, dass sie genau in derselben Lage wie die Israeliten sind und demselben Gericht unterstehen. Die Argumentation des Paulus hängt von der metaphorischen Identifikation seiner Leser mit Israel ab, nicht von einer Entfremdung von Israel. Auch wird im 1 Kor nicht vorgeschlagen, Israel durch die Kirche zu ersetzen. Im Gegenteil ist Israel als »unsere Väter« bezeichnet, und die Leser sollen zu der Sichtweise gelangen, die sie ihr Leben durch die Ereignisse in der Geschichte Israels kodiert sehen lässt. Genauso wie Israel in Versuchung war, das goldene Kalb zu verehren, stehen die Korinther in der Versuchung, in paganen Tempeln zu schlemmen. In beiden Fällen werden die, die den Herrn versuchen, den Zorn auf sich laden. Es ist nicht überraschend, dass der paulinische Lesefokus sich so stark auf die Beziehung des Alten Testaments zur Kirche konzentriert, denn die in den paulinischen Briefen kontroversen Fragen handeln von der Identität und der Praxis der Kirche. Es liegen keine Auseinandersetzungen um ZNT 14 (7.Jg. 2004) Richard B. Hays Schriftverständnis und lntertextualität bei Paulus Detail einer Paulusstatur von Jacob Cressant, 1740 christologische Lehren mit seinen Gemeinden vor. Wie Koch richtig bemerkt: »Fraglich war nicht die christologische Grundlage, strittig waren die Konsequenzen, die Paulus daraus in seiner Interpretation der dikaiosyne theou, in der Beurteilung des Gesetzes, in der Frage der Berufung der ethne, in der Eschatologie (lKor 15! ) oder für das Apostelamtes zog.« 9 Präzise an diesen Momenten, wenn Paulus auf solche strittigen Fragen kommt, orientiert er sich an schriftlichen Argumenten, deren Logik von seinen Lesern ein intertextuelles Vernetzen zwischen der Geschichte Israels und der Geschichte der entstehenden heidnischen Kirche erfordert. B. Christologische Auslegung der biblischen Schrift. Obgleich Paulus das Alte Testament für umfangreiche christologische Argumentationen nicht explizit benutzt, ist dennoch sein Verständnis der Bedeutung J esu Christi tief intertextuell, wie es sich in den Formulierungen des von ihm gepredigten Evangeliums zeigen lässt: »Denn als erstes habe ich euch weitergegeben, was ich auch empfangen habe: Dass Christus gestorben ist für unsere Sünden nach der Schrift; und dass er begraben worden ist; und dass er auferstanden ist am dritten Tage nach der Schrift; und dass er gesehen worden ist von Kephas, danach von den 59 1-l ermeneuti k und Verm it t lung Zwölfen« (lKor 1 ,3-5). Die Überzeu gung, dass Tod und Auferstehung Chris ti kata t as graphas (»nach der Schrift«) passierte, ist das Herzstück vom p aulinischen kerygma. Paulu s erläutert nicht, an welche Bibelstellen er denkt, aber diese Bekenntnisformulierung lädt die Hörer ein, die Bedeutung dies er weltverändernden Ereignisse zu interpretieren, inde sie im Lichte der Geschichte Israels gesehen werden. Als die relevc.nteste alttestamentliche Schrift für die Rede von Tod und Auferstehung Jesu Christi darf d er Psalter a gesehen werden, in welchem dem Geschick des leidenden Gerechten Ausdruck verliehen wird, der von G ott schließ_ich gerechtfertigt und erh ..ht wird. In lKor 15 selbst benutzt Paulus Anspielungen an Ps 110,1 und Ps 8,6, um den endgültigen eschatologischen Triumph Christi zu schildern (lKor 15,24-28). Woanders kann P aulus ohne Erklärung annehmen, d as s es Christus ist, der die sprechende Stimme ist, die im Psalter gehört wird (R ·· m 15,3, Zitat von Ps 69,9). Alle dies e Beobacht ngen füh ren zu dem Schluss, dass das Bild des L idens und der Rehabilitierung des Leidenden in den David zu ge schriebenen Psalmen einen ent cheidenden Schlüssel für das paulinische Vers tändnis vom Evangelium des gekreuzigten : W.: ess i as liefert. Die ser Vorschlag gewinnt zusätzlich an Stichhaltigkeit, wenn au ch beachtet wird, dass Paulus im Röm mindeste s zweimal Jesus al s Davididen identifiziert. Der Brief b eginnt mit einer Erklärung des Pa lus, dass er »ausgesondert« wurde »zu predigen das Evangelium G ottes, das er zuvor verheißen hat durch seine Propheten in der heiligen Schrift, die von seinem So hn Jesus C hristus handelt, unserm H errn, der geboren ist aus dem Geschlecht David s nach dem Fleis ch ... « (Röm 1,1 -3). 10 Am Sc luss der Argumentation des Briefes interpretiert P aulus das We rk Chris ti, ind em er Jes 11 ,10 zitiert: •>Und wiederum sp richt Jesaja: >Es wird kommen der Sproß au s der Wurz el lsais und wird aufstehen, um zu herrschen ü ber die Heiden; auf den werden die Heiden hoffen«< (Röm 15,12: vgl. Röm 15,9, Zitat von Ps 18,49, in dem Jesus wieder er implizite Sprecher ist). Diese me ssianische Metapho rik ist auch implizit in Paulu s' Darstellun g vo n Jesu als dem aus Zion kommende Errete r (Röm 11 ,26-27). D ie Darstellung J esu als c.avidischen Messias klammert die Argumentation des Römerbrie fe s ein und ford ert 60 den Leser auf, über die Sichtweise der Identität Jesu intertextuell nachzudenken, in der besonders die Psalmen Davids herangezogen werden. An anderen Stellen entwick elt Paulus eine Interpretation Jesu Christi in typologischer Antithese zu der biblischen Figu Adams (Röm 5,12- 21, lKor 15,20-23. 45-49). Er kann Christus ebenso als Passalamm (lKor 5,7), als Gnadenthron im Tempel ([hilasterion] Röm 3,25), als Stein des Anstoßes, der in Zion gelegt wurde (Röm 9,32-33 ), als »Erstling«, der Gott gegeben wurde (lKor 15,23), oder wie wir oben sahen, als Fels in der Wüste (lKor 10,4) sowie als der in der Verheißung Gottes an Abraham erwähnte »Samen/ Nachkommen« (Gal 3,16) darstellen. Diese Beispiele zeigen, dass Paulus das Alte Testament mit einer lebendigen metaphorischen lmagination 11 liest und oit der Erwartung, dass sich ein christolo gisches Zeugnis in vielen Teilen der Schrift finden lässt. Vielleicht gehört es zu den aufregendsten Entdeckungen, dass Paulus sich sogar die Sprache zu Eigen machen kann, die im AT allein als Gottesrede erscheint, um so die eschatologische Exaltation von Jesus als kyrios zu beschreiben: »jedes Kn ie sich beuge ... und jede Zunge b ekenne.<• (Phil 2,10-11, ein Echo vonJes 45,23). Obwol: l Paulus uns keine systematische von der Schrift aus entwickelte christologische Argumentation gibt, setzt er bei jedem Schritt voraus, dass die Identität J esu und die Bedeutung seines Todes unc: . Auferstehung in Beziehung zu Bildern, Typoi und Katagorien des Alten Testaments zu verstehen sei. Er lädt seine Leser zu einer imaginativen christologischen Interpretation der Schrift Israels angesichts der hermeneutisch umgestaltenden Ge~; chichte des Kreuzes und der Auferstehung ein. C. Das Zeugnis des Alten Testaments für die Rechtschaffenheit Gottes. Die paulinische Schriftauslegung legt eindringlich und überzeugend immer wieder dar, dass der Gott des Alten Testaments Verheissungen und Bundesschlüsse gab, die unvergänglich und zuverlässig sind, trotz aller menschlischer Untreue. Das ist das große Thema des Römerbriefs: »die Gerechtigkeit Gottes« die c.ls die Re: .: htscha : ff enheit des Gottes zu verstehen ist, der die Verheißungen des Bundes Israel gab und der gleichzeitig seine rettende Macht für die ganze Welt geoffenbart hat. 12 Diese Gerechtigkeit Gottes, obgleich sie jetzt ohne das Gesetz, son- ZNT 14 (7. Jg. 2004) dern durch Jesus Christus geoffenbart wird, ist »bezeugt durch das Gesetz und die Propheten« (Röm 3,21-22). Daher müht sich Paulus im Röm ab, immer wieder zu zeigen, dass Gott sein Volk nicht verlassen hat und das Wort Gottes weder hinfällig geworden ist noch sich als launenhaft erwiesen hat (z.B. Röm 3,1-8; 9,6; 11,1-6.25-36; 15,7-13). Das ist einer der Gründe für die Fülle alttestamentlicher Zitate und Anspielungen in diesem Brief. Die These, mit der der Brief beginnt (Röm 1, 16-17), ist reich an intertextuellen Echos, die die rettende Gerechtigkeit Gottes aufzeigen: »Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist die Kraft Gottes zum Heil für alle die glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen. Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit Gottes, welche kommt aus Treue für Treue (ek pisteös eis pistin); wie geschrieben steht: ,Der Gerechte wird aus Treue (ek pisteös) leben.«< Das Zitat stammt aus Hab 2,4. Um Paulus' Erklärung zu verstehen, ist es jedoch ebenso wichtig, die starken Echos von vielen Schriftstellen des Psalter und Jesaja zu hören, die die Offenbarung der rettenden Kraft Gottes erklären. Z.B. ist an Ps 97,2 LXX zu denken: »Der Herr hat kundgetan sein Heil; vor den Augen der Nationen [ethnön] macht er seine Gerechtigkeit offenbar.« Dieselben Themen erscheinen in J es 51,4-5: »Mein Urteil wird als Licht zu den Nationen ( ethnön) hingehen. Meine Gerechtigkeit kommt schnell heran, und mein Heil wird als ein Licht hingehen, und auf meinen Arm werden die Nationen ( ethne") hoffen«. Was Paulus in Röm 1,16-17 ausspricht, ruft diese unüberbietbaren Erklärungen von der Treue Gottes und von seiner rettenden Macht zurück, um so zu versichern, dass der Gott des paulinischen Evangeliums derselbe Gott ist, dessen rettendes Wort in neuen und unerwarteten Weisen weiterhin ergeht. Die hier unterschwellig ertönenden Themen tauchen deutlich später im Brief auf, besonders in Röm 3,21-26, 9,27-23, 11,26-27 und 15,7-13. NILS DAHL nannte die Gotteslehre als »de[n] vernachlässigte[n] Faktor in der Theologie des Neuen Testaments.«! } Als Heidenmissionar ist Paulus davon überzeugt, dass das Verständnis von Gott keineswegs als gegeben angenommen werden kann. Paulus besteht darauf, dass die Identität des gepredigten Gottes erst durch ein aufmerksames Lesen der Schrift zu erkennen ist - ZNT 14 (7 . Jg. 2004) Richard B. Hay s S chriftver st ä ndnis und lntertextualität be i Paulus Miniaturmalerei: Apostel Paulus, 11. Jahrhundert d.h., durch eine intertextuelle Fusion der Geschichte Israels mit der Botschaft des Evangeliums. IV. Eine methodische Frage: Die Freiheit des Paulus als Leser Bei näherer Betrachtung paulinischer Benutzungsweise biblischer Schriften wird deutlich, dass Paulus diese Texte mit großer Freiheit las. Es ist schwierig, irgendeine festgelegte Methode zu erkennen, die seine Interpretation regelt. Stattdessen ist Paulus in der Welt der Schrift Israels ganz tief verwurzelt und es ist ihm ein Leichtes, auf die Elemente dieser Welt zu rekurrieren, um überraschende Metaphern in den Dienst an seiner Evangeliums-Verkündigung zu stellen. Seine Überzeugung, dass die Schrift Zeugnis für das Evangelium ablegt, bringt damit auch zum Ausdruck, dass dieselbe Schrift von bildlichem und anspielendem Charakter sein muss. Die alttestamentlichen Texte müssen als immenser Bereich verborgener Verheißung gelesen werden, und die Verheißung muss durch interpretative Strategien aufgedeckt werden, die das versteckte Wort zu verdeutlichen erlauben. 61 H ermeneuti k und Verm i ttlung Daher sind Paul s' intertextuelle Exkursionen notwendigerwei se revidierend. Er interessiert sich nicht für die urspr··ngliche Absicht der Autoren; stattdessen ist es sein Anliegen, die alttestamentlichen Texte d rc das Vexierglas des Evangeliums zu lesen un ihnen so neue Bedeutungen zukommen zu lass n, so dass sie in unvorhersehbaren Weisen zu der Kirche der paulinischen Zeit sprechen. Jene , die diese Texte noch in ihrem synagogalen Zu sa menhan g le sen, haben »eine Decke vor ihrem H erzen«. Erst, »wenn man sich zum Herrn wende t, wird die Decke w eggenommen« (2Kor 3,15-16). Diese Schriftstelle zeigt in beispielhafter Manier diesen Anspruch, denn sie ist ein lockeres Zitat von Ex 34,34. Daher wird das Wegnehmen der Decke genau durch ein schriftliches Zicat beschrieben, d as die Verwand lung aufführt, auf ie es hinweist: Der Berich im Pentateuch, in dem Mose die Decke wegnimmt, wird zu einem Beispiel für die hermeneutische Erläuterung der christlichen Les e r, die sich an den heiligen Geist we den und den Text mit neuen Augen lesen. 14 Wie diese Schriftstelle hervorhebt, ist Paulus nicht bloß ein spielerischer Dolmet scLer, der sich an Polyvalenzen v rgnüg t, und die Freiheit der Interp r etation um ihrer selbst willen hochhält. Im Ge genteil sind seine revidier enden Interp r etationen eine lo gische Auswirkung seiner apokalyptischen theologischen Überzeugungen, wie 1Kor 10,11 belegt: »Dies aber widerfuhr jenen typologisch (typikös). Es wurde aber geschrieben uns z ur Mahnung, auf die die Enden der Zeit en getroffen sind<,. Paulus ist überzeugt, dass er und seine Leser auf dem Schnittpunkt zwischen dem alten und dem n euen Ä on stehen, weshalb er behaupten kann, Aber dennoch sind inmitt~n von Paulus' freien und innovativen Interpretationen einige beständige Tendenzen zu erkennen. Erstens sind seine intertextuellen Verweise nicht gleichmäßig über den alttest.amentlichen Kano n verteilt; sie häufen sich an gewissen Stellen an. Die drei Bücher, die am häufigsten von Paulus zitiert werden, sind Gen, Ps und Jes, besonders Jes 40-55. Diese Vorliebe ist unschwer zu erklären. Die Zitate aus Gen konzentrieren sich auf die Figur Abrahams, dem ein e entscheidende Rolle in dem paulinischen Gedanken des ursprünglichen Empfängers der Verheißung Gottes zukommt, da die Verheißung der Beschneidung und dem Empfangen des Gesetzes vorausgeht. Die Psalmen nehmen in ihrer poetischen Sprache das Schicksal des gekreuzigten und gerechtfertigten Messias vorweg. Und Jesaja ist der Prophet, dessen Worte die eschatologische Mission z·.1 den Heiden vorwegnehmen, von der Paulus glrnbt, dass es seine Aufgabe sei, sie zu Ende zu führen. Zweitens, wie oben schon erwähnt, sind die meisten Zitate und Anspielu: igen des Paulus nicht isoliert. Sie setzen den Kontext voraus, aus dem sie genommen sind und erfordern, dass der Leser etwas vom Kontext zurückbringt, um die vollständige Intention dieser intertextuellen Vernetzung zu erfassen. Deshalb ist die Metalepsis (wie von Hollander ab gegrenzt) eine der charakteristischen rhetorischen Kunstgriffe des Paulus. 15 Die Leser können nur die paulinische intertextuelle hermeneutische Praxis nacl-_vollziehen, wenn sie selbst mit den von Paulus vorausgesetzten Erzählungen und Symbolen vertra ut sind. Oder anders gesagt: Für die Produktion und Rezeption der paulinischen Briefe in dem kulturellen Setting der Welt des frühen jüdischen dass die ganz e Geschich te Israels angesichts ieses apokalyptischen Zeitpunktes neu gelesen werden muss . Die Texte sind neu zu lesen, weil Gott durch das apokalyptische Ereignis des Todes und der Auferstehung Jesu, eine »neue Schöpfung« vor Augen geführt hat. Angesichts dieser »Die Leser können nur die Christentums ist eine »Enzyklopädie« anzunehmen, die sich aus den Traditionen der Schriften Israels speist. 16 paulinisch e intertextuel! e hermeneutische Praxis nach-vollziehen, wenn sie selbst mit den 'Von Paulus vorausgesetzten Erzählur.gen und Symbolen vertraut sind.« Drittens versteht Paulus die Schrift als ein lebendiges Wort m it der fortwirkenden Fähigkeit zu sprechen. Die Schrift verkündigte das Evanfundamentalen Wende erleben alle, die an das Evangelium glauben, eine Verwandlung der Imagelium dem Abraham voraus (Gal 3,8), und sie spricht zugleich zu den Galatern, um ihnen zu sagen, d2.ss sie die Missionare eines konkurrienden Evangeliums der Beschneigination. 62 ZNT 14 (7.Jg. 2004) dung hinausstoßen sollen (Gal 4,30). Die Schrift »sagt es denen, die unter dem Gesetz sind, damit allen der Mund gestopft werde und alle Welt vor Gott schuldig sei« (Röm 3,19). Und die Schrift spricht, um zu offenbaren, dass der eschatologi sche »Tag des Heils« ganz in der Nähe ist. Es ist genau diese Fähigkeit der Schrift, direkt zum Leser sprechen zu können, die die andauernde Freiheit und Flexibilität der paulinischen intertextuellen Interpretation garantiert. Und schließlich, gerade weil die Schrift zu den paulinischen Gemeinden weiter spricht, garantiert sie einen intertextuellen Dialog mit der kulturellen Enzyklopädie der heidnischen Leser. Zum Beispiel bringt Paulus die Erzählung von Israel in der Wüste in einen kritisch gesehenen Zusammenhang mit der Situation der Korinther, die unter dem Einfluss von alltäglicher kynischer und stoischer Philosophie sagen, panta moi exestin (»Alles ist mir erlaubt «, lKor 6,12, 10,23). Eine vollständige und umfassende Untersuchung der Intertextualität bei Paulus muss darüber nachdenken, wie die Briefe des Paulus Bedeutung aus der intertextuellen Verschmelzung von mindestens drei Faktoren generieren: ( 1) die Schriften Israels, (2) die Geschichte Jesu und andere frühchristlichen kerygmatischen und liturgischen Überlieferungen (z .B. Paulus' Bericht vom Abendmahl in lKor 11,17-34), und (3) die »Texte«, die die hellenistische kulturelle Welt gestalteten, in der seine Leser lebten und sich bewegten. V. Paulus als hermeneutisches Beispiel Die Untersuchung der lntertextualität in den Briefen des Paulus führt zur Frage, ob die paulinische Strategie ein Beipiel ist für unser eigenes Lesen der Schrift. Die Alternativen sind klar zu benennen: Einerseits die Aus - Richard B. Hays Schriftverständnis und lntertextualität bei Paulus Schrift Israels als grundlegend für das Leben der Kirche: »Für den christlichen Glauben ist das Alte Testament nicht mehr Offenbarung, wie es das für die Juden war und ist. Wer in der Kirche steht, für den ist die Geschichte Israels vergangen und abgetan .... Israels Geschichte ist nicht unsere Geschichte, und sofern Gott in jener Geschichte gnädig gewaltet hat, gilt diese Gnade nicht uns .... Die Ereignisse, die für Israel etwas sagten, Gottes Wort waren, sagen für uns nichts mehr. .. . Israels Geschichte ist für den christlichen Glauben nicht Offenbarungsgeschich- " te. « Historisch gesehen ist die Sichtweise von Origenes unter Christen weit verbreitet, aber die Ansicht Bultmanns - oder zumindest eine sanftere Variante davon ist in der Modeme einflussreich gewesen, besonders in den theologischen Ausbildungsstätten, die den Abstand zwischen der ursprünglichen historischen Bedeutung der alttestamentlichen Texte und den Interpretationsstrategien des Paulus schmerzhaft spürten. Die begeisterte christliche Interpretation des Alten Testaments bei Paulus erscheint historisch anachronistisch und in gewisser Weise anmaßend zu sein. Trotz dieser Schwierigkeiten möchte ich vorschlagen, dass Paulus einige unabkömmliche Instruktionen für die christliche Auslegung der biblischen Schrift erteilt. In meinem Buch »Echoes « vers uchte ich darzulegen, inwiefern paulinische Textauslegung ein lehrreiches hermeneutisches Vorbild liefert, 18 einige Hauptthesen in geraffter Form möchte ich zum Schluss erwähnen: 1.) Paulus entwickelt eine Schriftauslegung, die von einer Kontinuität des Gottes Israels und dem Gott, der sich in Jesus Christus geoffenbart hat, ausgeht. 2.) Paulus stellt eine Schriftauslegung vor, die die alttestamentliche Schrift sage von Origenes, Paulus sei der große »Lehrer der Heiden «, ein Lehrer, der »die von den Heiden versammelte Kirche lehrte, wie sie die Bücher des Gesetzes vers tehen sollen « (Predigten über Exodus 5.1). Anderseits finden wir »Paulus entwickelt eine Schriftauslegung, die von einer Kontinuität des Gottes Israels und dem Gott, der sich in Jesus als eine Geschichte der Erwählung und Verheißung versteht (nicht als ein Gesetzesbuch oder als Erzählung religiösen Strebens ). Christus geoff enbart hat, ausgeht.« 3.) Paulus weiß sich einer Schriftauslegung verpflichtet, die der Verkündigung dient (d.h ., das Alte Testament ist kein Buch der antiken Historie ohne Gegenwartsbezug); seine Auslebei Rudolf Buhmann eine komplette Verwerfung der paulinischen Strategie von der Aneignung der ZNT 14 (7 . Jg. 2004) 63 H ermeneuti k und Verm i ttlung gung ni mmt die Leser mit in diese Erzählungen hinein. 4.) Pau lus stellt eine Schriftau slegung vor, die sich bildlicher Freiheit verpflichtet we iß . Daher lädt die pau linische intertext ue lle Ausle gung u ns ein, d ie ganze Schrift eschatologisch zu interpretieren als bildliches Zeugnis fü : das Evangeli um J esu Ch risti . Alle, die sich auf den Pfaden theo lo gischen Den ·ens bewegen wo llen, müssen diese Einladung ernst nehmen. Anm erkungen 1 Übersetzt von Leroy Andrew Huizenga. 2 Siehe R.B. Hays , T e Conversion of the Imagination: 64 Scrip ture and Eschatology in 1 Corinthians, NTS 45 (1999), 391·412 . Vorschau auf Heft 15 (Themenheft »Mission«) ZNT aktuell: Thomas Schmeller, Überblick zu □ Thema » Mis sion im : -JT « Zum Th ema: Jürg en Zangenberg, Mission im Judentum und in der Antik e Wirlr ied Löl: r, Mission in der Alten Kirche w·erner Kahl, Wunder und Mis s ion in ethnologischer Perspektive Kontrovers e: Ri.c~-i tet sich der 1-I issionsauftr ag in Mt 28,19 auch an Israel ? Hubert Frankemölle vs. Florian Wilk Hermeneutik und Verm ittlung : R obert J ewett, Biblische Wurzeln des amerikanischen Messianismus Buchreport: J am es A. Kehlhoffer, Miracle and Mission. The Au thent: cation of Missionaries a nd Their : W: : essage in the Longer Ending of Mark (WUNT Reihe 2, 112), Tübingen 20J0. 3 A. von Harnack, Das Alte Testament in den Pauli· nischen Briefen u n d in den P.mlinischen Gemeinden, Sitzungsberichte der Preussischen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische Klasse (1928), 124-141. Zitate von S. 137 und 5. 130. • E. Earl Ellis, Paul's Use of the Old Testament, Edinburgh 1957. 5 D.-A. Koch, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums: Untersuc: 1.ungen zur Verwendung und zum Verständnis der Schrift bei Paulus (BHT 69), Tübingen 1986; und Ch.D . St: anley, Paul and the Language of Scripture: Citation Technique in the Pauline Epistles and Contemporary Literature (SNTSMS 69), Cambridge 1992. 6 R.B. Hays, Echoes of Scripture in the Letters of Paul, New Haven/ Lonclon 1989. 7 H. Hübner, Gottes Ich und Israel. Zum Schriftgebrauch des Paulcs in Römer 9-11 (FRLANT 136), Göttingen 1984; B.S.. Rosner, Paul, Scripture and Ethics : A Study of 1 Corimhians 5-7 (AGJU 22), Leiden 1994; J.R. Wagner, Heralds of the Good News: Isaiah and Paul »In Concert« in the Letter to the Romans (NovTSup 101), Leiden 2002 . 8 F. Wilk, Die Bedeutung des Jesajabuches für Paulus (FRLANT 179), Göttingen 1998. ' Koch, Schrift als Zeuge, 286. 10 Die Übersetzung dieser Verse ist strittig. Die meisten moderne: : i Übersetzungen verstehen die Präpositionalphrase »von seinem Sohn« als abhängig von »das Evangelium Gottes« (V: 1) . Die angemessenere Ü bersetzung des Griechischen ist jedoch die oben gegebene Übersetzung, in der die Phrase »von seinem Sohn« in Beziehung zu den Wön: ern steht, d: e ihr unmittelbar vorangehen (»i: : i der heiligen Schrift.« ). 11 Im Deutochen »Einbildungskraft«, »Vorstellungskraft« oder »Fantasie«. Die deutsche Sprache hat kein genaues Synonyrr. für dieses mehrdeuti 5e englische Wort. 12 Für eine Verteidigung dieser Interpretation der »Gerechtigkeit Gottes«, vgl. Hays, Echoes, 34-73. 13 N.A. Dahl, The Neglected Factor in New Testament Theology, in: N.A. Dahl, Jesus the Christ: The Historical Origi: : is of C hristological Doctrine, hg. v. D .H. Juel, Minneapolis 1991,153-163 . 14 Für eine umfassende Diskussic,n dieser Stelle, vgl. Hays, Echoes, 122-53. 15 J. Hollander, T he Figure of Echo: A Mode of Allusion in Mi! ton and After, Berkeley ~ 981. 16 Dieser Gebrauch des Terminus "Enzyklopädie« stammt von Umberto Eco . Für eine Anwendung in einem intertextuelle: : i Paradigma, vgl. S. Alkier, Intertextualität - Annäherungen an ein texttheoretisches Paradigma, in: D. Sänger (Hg.), Heiligkeit und Herrschaft: Intertextuelle Stud: en zu H eiligkeitsvorstellungen und zu Psalm 110 (BTh.3t 55), Neukirchen-Vluyn 2003, 1-26, hier: 21-26 . 17 R. Buhmann, Die Bedeutungs des Alten Tes taments für den christlichen Glauben, in: ders ., Glauben und Verstehen Bd. 1, Tübingen 1933, 313-336, hier: 333f. Eine englische Übersetzung liegt ebenfalls vor: The Significance of the o: d Testament for Christian Faith, in B.W. Anderson (Hg.), The Old Testament and Christian Faith, New York 1963, 8-35, hier: 31-32. 18 Vgl. Hays, Echoe~, 178-92. ZNT 14 (7. Jg. 2004) Buchreport Robert Jewett Saint Paul Returns to the Movies. Triumph over Shame. Grand Rapids MI: (Eerdmans) 1999, 231 S., ab 10,50 Euro, ISBN 0-8028- 4583-1 Obwohl man den inzwischen siebzigjährigen Robert Jewett aufgrund seiner thematischen Breite zu den Generalisten der Neutestamentlerzunft rechnen darf, ist er in Deutschland besonders als Paulusforscher bekannt geworden. Sicherlich hat die deutsche Übersetzung seiner Studie zur Pauluschronologie (1982, engl. 1979) hierzu nicht unwesentlich beigetragen. Doch auch seine vielen englischsprachigen Aufsätze zu theologischen, anthropologischen und historischen Aspekten der Paulusforschung sowie seine Kommentare zum Römerbrief und den Thessalonicherbriefen kann niemand ignorieren, der sich ernsthaft mit dem Gedankengut des Völkerapostels auseinandersetzen möchte. Im Horizont der gesamten Bandbreite von Jewetts Forschungen bildet doch dieser Focus auf ihn als »Neutestamentler« oder gar »Paulusforscher« geradezu eine Reduktion: Der Kulturphilosoph Robert Jewett wird in Deutschland erst in den letzten Jahren seit dem »11. September« und recht zögerlich entdeckt. Doch gerade hier, in der kritischen Aufarbeitung der insbesondere amerikanischen - Zivilreligion und Kulturmythologie hat J ewett auch einem deutschen Publikum viel zu sagen. Seit gut drei Jahrzehnten, beginnend mit seinem Buch »The Captain America Complex: The Dilemma of Zealous Nationalism« (1973), führt er die amerikanische Tagespolitik kritisch auf ihre geistesgeschichtliche Tiefendimension zurück. Seine beiden jüngsten Werke zum Thema (gemeinsam verfasst mit John Shelton Lawrence) »The Myth of the American Superhero« (2002) und »Captain America and the Crusiade against Evil: The Dilemma of Zealous Nationalism« (2003) waren zeitgleich und kommentierend zur Eskalation der Bush-Regierung zum zweiten Golfkrieg zu lesen und haben in der amerikanischen Öffentlichkeit ein breites Echo gefunden: Nicht umsonst wurde " The M.yth of the American Super- ZNT 14 (7 . Jg. 2004) hero« letztes Jahr von der American Culture Association mit dem »John G. Cawelti Book Award« als »Best Book of 2002« ausgezeichnet. Schon diese kleine Skizze von Jewetts CEvre lässt erahnen, dass das hier zu besprechende Buch trotz seines lässigen Titels auf gut fundierten wissen schaftlichen Sockeln ruht. Es profitiert von den jahrzehntelangen Forschungen des Paulusspezialisten einerseits und des Kulturphilosophen andererseits, und dieses doppelte Fundament macht es zu etwas He rausragendem in der thematischen Nachbarschaft. So ist eine Studie über biblische Stoffe im Film ja keineswegs etwas Neues, sondern reiht sich ein in ein ganzes Genre zur »Bibel im Film« (so das gleichnamige Standardwerk von M. Tiemann, 1995). Die Aufarbeitung biblischer Stoffe im (Hollywood-) Film ist in den letzten Jahren ein gängiges, schnelllebiges und beliebtes Tätigkeitsfeld insbesondere der Religionspädagogenzunft. »Gängig«, weil die Veröffentlichungen allein im deutschsprachigen Raum inzwischen praktisch unübersehbar sind, man vergleiche nur die Literaturangaben der neueren Studien von Inge Kirsner, »Religion im Kino« (2000) oder Jörg Herrmann, »Sinnmaschine Kino. Sinndeutung und Religion im populären Film« (2001). »Schnelllebig« dann, wenn die Veröffentlichungen begleitend zur Aktualität neu herauskommender Hollywoodprodukte an schwellen und verebben man denke nur an die Diskussionen zu »Matrix I« oder in jüngerer Zeit an die um »Die Passion Christi« von Mel Gib son. Und »beliebt«, weil auf diesem Wege einfache und populäre Zugänge zu biblischen Themen für die Gemeinde- und Religionspädagogik zu erhoffen sind. Entsprechend sind die Studien über biblische Stoffe im Film auch von den pädagogisch mundgerechten Herangehensweisen geprägt: Die Analysen beschränken sich zumeist auf das Wiedererkennen biblischer Erzählstrukturen oder biblischer Symbole. Biblische Personen stehen daher, wie ein Blick in das eingangs erwähnte Buch von Tiemann zeigt, im Mittelpunkt der Analyse. Dies gilt nun nicht nur für den deutschsprachigen Bereich: Die an der narrativen Textstruktur sich orientierende Analyse beherrscht auch weitgehend den von Alice Bach herausgegebenen Band der Zeitschrift »Semeia« (74, 1996: Biblical Glamour and Hollywood Glitz). Die Rezeption der Erzählungen von Mose, Maria Magdalena, Bathseba, Delilah und Salome bilden den Schwerpunkt der Besprechungen. Jewetts Studie ragt in dieser Umgebung in mehreren Punkten markant heraus: Zum einen ist sein Buch alles andere als »schnelllebig«. Es versteht sich keineswegs als Kommentierung eines bestimmten aktuellen Filmes, sondern geht von der biblischen Überlieferung aus, der Filme aus dem jüngeren Umfeld zugeordnet werden. Das Buch gewinnt durch die Rezeption neueren Filmmaterials, hat aber seinen eigentlichen Ausgangspunkt in der biblischen Überlieferung selbst. Es ist in erster Linie ein Paulusbuch, und dies wird literarisch dadurch markiert, dass ausnahmslos jedem der zwölf eigenständigen Kapitel des Buches ein Pauluszitat als Leitgedanke voransteht. Zweitens beschränktJewett sich nicht auf biblische narrative Sequenzen oder wieder erkennbare Symbole, sondern es geht ihm vor allem um theologische Strukturen und pauliriische Denkmuster, die er mit den Hollywoodprodukten ins Gespräch bringt. Hierbei knüpft er methodisch an seine erste Studie zum Thema an (Saint Paul at the Movies: The Apostle's Dialogue with American Culture, 1993), bei der die Voraussetzungen für einen derartigen kulturübergreifenden Dialog zwischen »Bibel« und »Film« ausführlich reflektiert sind (dort: 7- 12). Im vorliegenden Nachfolgewerk wird sein Ansatz S.4 kurz rekapituliert: Jewett spricht von einem Interpretationsbogen (»interpretive arch«), der einen bestimmten Paulustext und einen bestimmten Film miteinander verbindet. Drittens sind es seine Analysen paulinischer Denkmuster, die den der deutschen Diskussion verhafteten Interessierten aufhorchen lassen. Sind wir es beispielsweise bei der interpretierenden Lektüre des Römerbriefes seit Augustin gewohnt, in Kategorien von »Schuld und Vergebung« zu denken, so stoßen wir bei Jewett fortlaufend auf das dominierende Be- 65 griffspaar »honor and shame«, etwa mit »Ehre und Schande « übersetzbar, das als interpretatives Z ugangsmuster dient. Der Autor fo lgt hierbei - und dies ist in seinen : : ieut estamern: lichen Fachstudien seit zwei J ahrzehnten gut nachvollziehbar einem kulturanthropologischen Ansatz, der, in Amerika etwa mit den Na m en David Gilmore, Bruce Malina od er Rob ert Atkins ver bunden, bei u ns erst in den letzten Jahren vers tä rkt rezipiert wird. Im Prolog c.es Buches (3-20) ist dieser Ansatz for die paulinische Theologie gut ve: : -stä nd lich entfaltet. Die fol genden drei Hauptabschnitte »Love and the Secrets of Shame« (23- 67), »Transforming th e Proud and the Shame« (71- 120) und ~ The Shamefu l Gospel and the P ro blem of Redemption« (123-176) sind jeweils in drei bis vier eigenständige Kap itel unterteilt, die jeweils einen Asp kt des Kapitels in einem speziel! en Hollywo o dfilm behandeln. Als markantes Beispiel für J ewetts Zugang sei Kap . 4, »S h ame, Love, and the Saga of Forrest G ump« (i m Abschnitt »Love and the Secrets of Shame«) herausgegriffen. Diesem Kapitel ist als p aulinis ,: her Ausgangstext ! Kor 13 vorangestellt, Lesern der Lutherbibel als das »H h elied der Liebe« bekannt. Jewetts Auslegung dieses Textes im Rahme n des oben beschriebenen kulturamhropologischen Ansatzes macht : n vielfältigen Textbezügen die Oppositio n von »Liebe« und »Sozialpres tige « deutlich und will zeigen, wie »Lie be« das soziale Udo Sch nelle Paulus. Leben und D enken. Berlin / New York 2003, 704 S. broschiert, 39,95 Euro, ISBJ'\ 3-1 1-012856-X »Paulus als Hera·.1sfo rderung « - Udo Schnelle hat nich: nu r das erste Kapi tel seines Buches so überschrieben , sondern sich auch der Herausforde rung einer Darstellung des Lebens und Denk ens des Apostels gestellt und somit die aktuellste deutschsprachige Paulus-Mon ographie vorgelegt. Schnelle präsentiert seine Darstellung des Paulus im Wese ntlichen in zwei Hauptte: len. Während im ersten der »Lebens- und Denkw eg« des Apostels n achgezeichnet wird, ist der zweite Hauptte il th ematisch nac h Kernthemen padini scher Theologie geordnet. Gerahmt werden diese beiden H auptteile durch einen Prolog mit ein er Reihe ges chichtstheoreti- 66 System von Prestige und Ehre in Korinth zu transzendieren vermag: Der We ttstre: t um Ehre, sei es apostolisches (so liest Jewett die Passagen des Parteiensteites in 1 Kor 1) oder gemeindeincernes (so versteht e: : die Notizen -: ibe r innergemeindliche Geistesgaben in ! Kor 12) Prestige, wird von Paulus im Konzept der Agape (gr. »Liebe«) in ! Kor 13 aufgelöst . Als kleines Zusatzbonbon löst sich für den Leser durch Jewetts A: : isatz d"'s Problem der textkritisch umstrittenen Passage in ! Kor 13,3 (Text im aktu ellen NT Graece sowie im »Greek New Testament«: »dass ich mich rühmen sollte«, gegen ci ie Textvariante »d ; ; . ss ich brennen sollce«): Während paradoxerweise die meisten deutschsi: rachigen Kommentare wohl aus inhaltliche: : i Gründen gegen den aktuellen Text entscheiden, wird dieser im »honor c.nd shame« - Schema d·.1rchaus plau sibe l. Dieses paulinische Konzept der Transzendierung bzw. Auflösung des Gerangels i.: .m Sozialprestige in »Liebe" erkennt Jewett im Film »Forrest Gump« von Robert Zemeckis (1994) wieder. Dieser Film entfaltet ein amerikanisches Geschichtspanorarr.a der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts au1 der Perspektive des liebenswerten Simplizissimus »Forrest Gump«, dargestellt von Tom Hanks. Auf eine Parap hrase des Films soll im Rahmen dieses Buchreports wohlweislich verzichtet werden der Leser mag hier do ch lieber zu Jewe tt selbst greifen . Interessant ist, wie dieser Filn mit scher Überlegungen, die für die vorliegende A rbeit wie auch für eine D arst ellung des Paulus über~uupt vo : : i Relevanz sind und durch einen Epilog zum paulinischen Denken »als bleibender Sinnbildung«. C d o Scl-.nelle verfolgt mit seiner Paulusdarstellung das »Ziel, umfassend in Leben und Denken des Apostels einnführen« (V) und dabei den Spagat zwischen Lehrbuch und Darstellung ei r. es eigenen Entwurfes zu Yersuchen. Prärr.issen für eine solche Betrachtung reflektiert der Autor im Prolog seines Werkes. Diese einleitend e : : i Seiten diskutieren zunächst die erkennt: : iistheoretischen Vora·.1ssetzungen ·,or. Geschichtsschreibung im Allgemeinen und die Probleme einer Paulusdarstellung im Spannungsfeld zwischen Theologie und Biographie im Besonderen. Begründet auf die Geschichtlichkeit des Erkenntnissubje kt es strebt Schnelle kein »objektilKor 13 verknüpft wird . Eng be grenzte Textbezüge als tertia compar,ttionis (»Liebe erträgt alles« und Forrests Liebe zu Jenny) sowie größere strukturelle Passagen (die ständige Aufsprengung von sozialen Grenzen oder von Prestigegehabe durch den völlig unbedarften, liebenswerten Forrest) machen dem Leser Jewetts These deutlich, dass dieses in ! Kor 13 iormulierte Konzept der soziale Grenzen sprengenden Kraft der Liebe tief in der amerikanischen Kultur verwurzelt ist (57). Es sind hier also weniger biblische Erzählstrukturen oder Symbole, sondern theologische Konzeptionen, die im Kulturprodukt Film analysiert werden. Gegen Ende der Lektüre hat der Leser das Gefühl, nicht nur Paulus in seiner Theologie, sondern auch die amerikaniscie Kultur in ihren zivilreligiösen und tief christlichen Wurzeln besser vers: anden zu haben. Nicht zuletzt deswegen ist das Buch dem neutestamentlich oder kulturell interessierten Leser uneingeschränkt zu empfehlen. Der einzige Wermutstropfen für den deutschen Leser mit den üblichen Englischkenntnissen ist die Wahrscl-.einlichkeit, mit der dieser aufgrund Jewetts literarisch flüssigem Stil hier und da doch ein Wörterbuch bemühen muss die Übersetzung von Jewetts kulturphilosophischen Schriften ins Deutsche ist immer noch ein Desiderat. Peter Busch ves«, sondern folgerichtig ein »ange messenes« bzw. »plausibles« (4) Bild des Paulus an, der wiederum selbst indem er Geschichte(n) schreibt x-eine eigene neue religiöse Welt« (8/ 9) konstruiert. So verstandene »sprachliche Konstruktion von Geschichte vollzieht sich deshalb stets auch als ein sinnstiftender Vorgang, der sowohl dem Vergangenen als auch dem Gegenwärtigen Sinn, d.h. Deurungskraft zur Orientierung innerhalb der Lebenszusammenhänge verleihen soll« (6/ 7). Schnelle beschreibt als wesentliche Stärke der paulinischen Korrespondenz ihre Anschlussfähigkeit an die Jesus-Christus-Geschichte, das Judentum und den Hellenismus. Diese Anschlussfähigkeit erwuchs aus dem Lebensweg des Apostels, den Schnelle daher zur Gliederungsgrundlage und Gegenstand seines ersten Hauptteils macht. ZNT 14 (7.Jg. 2004) Ein großer Vorteil der Konzeption Schnelles zeigt sich schon sehr deutlich auf den ersten Seiten des Prologs: Die zugrunde liegenden erkenntnistheoretischen, sprach- und geschichtsphilosophischen Prämissen werden nicht nur zur Sprache gebracht, sondern den Leserinnen und Lesern auch erläutert und als Deu- \ tungsfolie für die folgende Darstellung mit auf den Weg gegeben. Dabei bleiben diese Überlegungen nicht auf Prolog und Epilog beschränkt, sondern finden sich in konkreten Ausführungen wieder, beispielsweise zum Frühen Christentum (170-176) oder der Auferstehung (besonders 447ff.). Nach den methodischen Vorüberlegungen wendet sich Schnelle im ersten Hauptteil dem »Lebens- und Denkweg« des Apostels zu. Dieser wird anhand von Einzelbetrachtungen der Protopaulinen nachgezeichnet. Ausgehend von der Beobachtung, dass »jedes Geschehen( ... ) seinen Ort und seine Zeit« hat, sind an dieser Stelle verschiedene Vorentscheidungen inhaltlicher Natur unausweichlich: die notwendige Scheidung von Proto- und Deuteropaulinen, deren zeitlich-chronologische Abfolge sowie deren Abfassungsort und -umstände. Auch hier findet man den eingeschlagenen methodischen Weg schon vorgezeichnet in den vom Autor selbst genannten »Kriterien für eine Paulusdarstellung« (18-25): • Grundlegend ist der chronologische Aufbau, • Grundlagen und Wandlungen des paulinischen Denkens können allein am Textbefund der einzelnen Briefe festgemacht werden, • die historische und theologische Situation des Paulus muss in all ihrer Komplexität und Einzigartigkeit wahrgenommen und gewürdigt werden, • die Darstellung muss in die Geschichte des Frühen Christentums integrierbar sein, • paulinisches Denken hängt untrennbar zusammen mit dem paulinischen Identitätskonzept, • paulinische Theologie vollzieht sich als historische Sinnbildung und • eine sachgemäße Interpretation des Paulus muss multifaktoral angelegt sem. Schnelle stellt dem Durchgang durch die einzelnen Briefe innerhalb des ersten Hauptteils sechs Kapitel voraus, die nicht nur eine Rekonstruktion der »Vorgeschichte« vor der Abfassung des 1. Thessalonicherbriefes versuchen, sondern auch en passant eine Reihe weiterer Fragen zur ZNT 14 (7. Jg. 2004) Person des Paulus diskutieren. So schließt sich dem Abschnitt über Datierungsfragen (mit tabellarischer Übersicht) und den entsprechenden methodischen Problemen ein Kapitel über die soziale und kulturelle Her kunft des Apostels an, bevor dann in einem weiteren Schritt das sog. Damaskus-Geschehen intensiver be leuchtet wird. Auch an dieser Stelle beginnt Schnelle (gemäß seiner Kriterien für eine Paulusdarstellung) mit den Textbefunden, die das paulinische Selbstzeugnis über die Berufung be treffen, bevor weitere Quellen zu Rate gezogen werden. Bevor Schnelle in Kapitel 5 den Be ginn des paulinschen Wirkens mit der 1. Missionsreise beschreibt, diskutiert er verschiedene Fragen zur Basis die ser Mission wie die Bedeutung frühchristlicher Traditionen oder überlie ferter Schriften für Paulus . In diesem Zusammenhang analysiert Schnelle auch die Bedeutung des irdischen Jesus für Paulus (97f.) und gibt damit gleichsam Auskunft über sprachliche Formen der paulinischen Korrespondenz. Der Autor betont, dass man in den paulinischen Briefen »narrative Abbreviaturen« findet, die »in ge formter Sprache die entscheidenden Grunddaten der Jesus-Christus-Geschichte [enthalten], indem sie die Proexistenz des irdischen Jesus the matisieren und in seiner theologischen Bedeutung reflektieren.« (98). Nach der Darstellung des Apostel konvents und des Antiochenischen Zwischenfalls in Kapitel 6 geht Schnelle im folgenden Kapitel noch einmal ausführlich auf die Rahmenbe dingungen der paulinischen Missionstätigkeit ein. Er thematisiert da bei u.a. die pax romana als politische Voraussetzung und das Koine-Grie chisch als lingua franca sowie die Möglichkeiten des Reisens in der Antike. Über das Selbstbild des Paulus und die Struktur seiner Gemeinden kommt Schnelle zur Darstellung des frühen Christentums als eigenständiger religiöser Bewegung (162ff.). Ab Kapitel 8 beginnt Schnelle die eigentliche Besprechung der einzelnen Protopaulinen. In den Abschnitten »Paulus und die Thessalonicher: Trost und Zuversicht«, »Der lKorintherbrief: Hohe und wahre Weisheit«, »Der 2Korintherbrief: Frieden und Krieg«, »Paulus und die Galater: Er kenntnis im Konflikt«, »Paulus und die Gemeinde in Rom: Begegnung auf hohem Niveau« und »Paulus in Rom: Der alte Mann und sein Werk« (zum Philemon- und Philipperbrief) entwirft er ein komplexes Bild jeder einzelnen Schrift im Kontext ihrer jeweiligen Entstehungsbedingungen. Der Durchgang durch die einzelnen Briefe bringt eine Fülle von Einzelergebnissen, führt aber auch zu immer wiederkehrenden Grundgedanken bezüglich der paulinischen Literatur: • Liest man die Briefe zunächst unabhängig voneinander, ohne das Meta-Konzept einer paulinischen Theologie in sie einzutragen, ergibt sich neben Gemeinsamkeiten eine Reihe von Widersprüchen und Wandlungen - »durch Textvergleiche nachweisbare Veränderungen« (20) im paulinischen Denken. So verwundert es nicht, dass Schnelle bereits im Prolog betont, dass auch der Römerbrief »in eine komplexe theologische und politische Situation eingebunden ist und nicht die paulinische Theologie« schlechthin verkörpert, womit er sich klar von anderen Exegeten absetzt' und seine eigene Position deutlich in das Lehrbuch einbringt. • Die paulinischen Briefe sind nicht nur zunächst unabhängig voneinander zu lesen, sie sind auch in der vorliegenden Form im Großen und Ganzen einheitlich. Insbesondere im Kapitel zum 2. Korintherbrief (Abschnitt 10.2) diskutiert Schnelle die Plausibilität und die hermeneutischen Prämissen verschiedener Teilungshypothesen und gelangt schließlich zur Annahme der Einheitlichkeit sämtlicher Paulusbriefe. • Weiterhin stellt Schnelle fest, dass mit der Rechtfertigungslehre nicht das Zentrum paulinischer Theologie überhaupt beschrieben ist. »Natürlich dachte Paulus schon vor der Abfassung des Galater- und Römerbriefes über die Bedeutung des Gesetzes/ der Tora für Heiden- und Judenchristen nach. [... ] Die Rechtfertigungs- und Gesetzesthematik war Paulus vorgegeben, nicht aber die Rechtfertigungs- und Gesetzeslehre des Galater- und Römerbriefes! « (91/ 92) Auch lKor 15,56 könne nicht als »Darlegung der Rechtfertigungslehre« (247) verstanden werden. • Nicht die Rechtfertigungslehre, vielmehr die »endzeitliche Gegenwart des Heils Gottes in Jesus Christus« (437) ist nach Schnelle das Zentrum paulinischer Theologie. Grundlegende Bedingung dafür ist aber »Gott als das unhinterfragte Axiom« (441 ), gerade auch im Angesicht einer Reihe von Aporien der menschlichen Existenz, die sich auch in den Paulinen niederschlagen. • Die große Anschlussfähigkeit der 67 paulinischen Schriften, die sich in einer Integr ation und einer Transformation »jüdische(r), h ell enistisch-jüdische(r) u nd griechisch-römische(r) Vorstellun gen« (173 ) zeigte, war ein entscheidender Faktor ei der Herausbildung des Frühen C : -istentums als eigenständiger Bew egung. Damit verbunden ist bei Paulus ein attraktives Identitätskonzep : : » peziell Paulus entwickelte und p raktizierte ein neues univers ales Identität skonzept: das Sein in Ch ristus jenseits überkommener religiöser Privi: egie n .« (175) Der kons equente Ans atz bei den ein zelnen Schriften des Prnlus die nt als Vorausset zung fü r eine im zweiten Hauptteil folgende Gesamtinterpretation. Schnelle versucht rnch in diesem Teil nich t, die Einzelergebnisse aus dem erste n Absch nitt in einem harmonisierten theolo gischen System zu präsentieren, sonder verwe is t vielmehr an dieser Ste lle auf Widersprüch e, die der Ap ostel selbst offen lässt. ' Tro t zdem bietet der Au tor in den fo lgenden Kapit ein einen Üb erblick zu r T heologie, C l--_ ristologi e, Soteriologie, Pneumatolo&i e, Ant hropologie, Et hik, Ekklesio: ogie und Eschatolo gie der pa ·.1 linischen Briefe. In den zweiten Hauptteil führt ein Kapitel »Heilsgegenwart als Zentrum paulinischer Theologie« ein. Hi er werden bereits Grundlin: en d e, paulinischen Denken s aufgezeigt, die Schnelle dann im F olgenden in Einzelaspekten näher erörtert: »Basis und Zentrum des pauli: : iischen D en kens ist die endzeitliche Gegenu; art d es H eils Gottes in Jesu s C hr istus [... ] Paulus entwarf ein endzeitliche s Szenario, desse n Grundlag e Gottes H eilswille, dessen Eckpunkt e Auferstehu ng und Parusie Jesu Chris t i, dessen bestimmende Kraft der Heilige Geist, dessen gegenwärtiges Ziel die Teilhabe d er Glaubenden arr. neuen Sein und dessen Endpunkt die Verwandlung in eine pneumatische Existenz bei Gott wa r. « '. 437) Im fol genden 15. Kap: tel » Th eologie: Gott handelt« wird k la: -: »Gott ist das unhinterfr agbare und zugleich alles bestim me nde f.xiom p aulinischer Theologie, ihr wel: ansch aulicher Ausgangspunkt. -·<(44 1). Dieser Got t ist »Sch öpfer und Vo Lender« (15.1 ), »Vater Jesu Christi« (15.2) sowie »Erwählen der, Beru fende : - und Verwer fender" (15.3 ). C: , ris toiogie und Soteriologie haben ih: -en P latz in der Red e von Tod und Auferstehun g Jes u Christi: »Die Re de vom Kreu z ist ein Spezifik um pau li nisch er Th eologie .« (491) Ai.: ch das Reden über die Auferstehung Jesu Chris ti wird letztlic h 68 zu einer Rede über Gott selbst: -,Das eigentliche Subjekt der Auferstehung ist G ott, d. h. die Red e von der Auferstehung J esu Christi ist zuallererst eine Aussage über Gott selbst.« (479). Auch die folg enden Abschnitte lassen sich in diesen Gedankengang integrieren: Gott hat an Jesus Christus geha ndelt (Ch ristologie, Kapitel 16), die Glrnbenden haben durch die Taufe ber eits in der Gegenwart an diesem Heilshandeln teil (Soteriologie, Kapitel 17), in d er Auferstehung hat der Geist Gott es wiederum seine Wirkung entfaltet (Pneumatologie, Kapitel 18) und auch der Mensch, der von sich aus nicht existieren kann, ist in diesen großen Zusammenhang eingebettet (Anthropologie, Kapitel 19). Dadurch dass alle Getauften bereits am neuen Sein partizipieren, eröffnen sich neue »Hc.ndlungsmöglichkeiten und H andlungsaufforderungen« (Ethik, Kapitel 20). »Die Teilhabe am gemeinsamen Heil ka nn es fü : r Paulus nur in der Gemeinsch,ift der Glaubenden geben.« (645) - Der Erläuterung dieses Kernsatz es widmet sich Schnelle im ~{apitel 21 »Ekklesiologie: Eine anspruchsvolle und attraktive Gemeinsc l--. aft«, bevor der zweite Hauptteil du : ch das Kapitel 22 »Eschatologie: Er w artung un d Erinnerung« abgeschlossen wird. Gerade bei der. Fragen nach dem (persönlichen) Ende wird das Modell der Teilhabe, und zwar der »Teilhabe am Auferstanden« (6 68) besonders wichtig: »So wie G ott ihn von den Toten auferweckte, verbleiben die verstor benen Ge: neindeglieder ebenfalls nicht im Tod, sondern gehen wie die Lebenden der imm fr währenden Gemeinschaft mit Jesus entgegen.« (668). Insbesondere mit Blick auf die E schatologie so Schnelle wird die Stärke der paulinischen Th eologie deutlich: »Indem Paulus die J esus -Christus-Geschichte als Modell für Gottes todesüberwind e: : i de Liebe und Schöpfermacht darstellt, eröffnet er Menschen aus. allen Völkern und Schichten die Möglichkeit, jenseits überkommener Vorstellungen der Kontinuität der göttlichen Lie be zu trauen.« (690) N ach dem Prolog, der wesentliche hermeneutische Grundfragen erörterte, dem ersten Hauptteil, der die paulin ischen Briefe selbst zur Sprache br achte und dem zweiten Hauptteil, der Grundzüge des paulinischen D enkens erarbeitete, schließt das Bu ch mit einem Epilog »Das prnlinisch e Denken als bleibende Sinnbildung«. Dieser endet folgerichtig aus dem zweiten Hauptteil mit dem Abschnitt »Gott als sinnvolle Letztbegründung «. Damit schlägt Schnelle den weiten Bogen über geschichtstheoretische Reflexionen und exegetische Betra-: htungen bis hin zu Fragen der Gegenwartsbedeutung der paulinischen Korrespondenz. Udo Schnelle hat mit seinem Paulus- Buch wenigstens drei Bücher in einem verfasst: »Paulus. Leben und Denken« is: ein methodisch durchdachtes und inhaltlich umfangreiches Lehrbuch zur Biographie und zur Theologie des Apostels und hat seinen Platz als solches auf jeden Fall als Begleitlektüre entsprechender Vorlesungen und Seminare. Es sei allerdings an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass v.a. die Verwendung einer Reihe griechischer Begriffe die Lektüre ohne entsprechende Sprachkenntnisse erschwert. Das Buch ist zweitens genauso auch ein Kompendium ur: d Nachschlagewerk zum Thema Paulus, sei es in Vorbereitung auf Prüfun&en oder bei der Bearbeitung einzelr.er Spezialfragen. Drittens stellt Schnelles Paulus-Bucheineneigenständigen exegetischen und theologischen Entwurf vor und eignet sich somit auch zum Einblick in eine Position neuester Paulusforschung. Durch die dreifache Zielsetzung des Buches erg~ben sich teilweise Wiederholungen und Doppelungen (die jedoch für ein Nachschlagewerk unumgänglich erscheinen) und an manchen Stelle: 1 wurde die eigene Forschungsposition stärker als in einem reinen Lehrbuch eingebracht (z.B. Zentrum der paulinischen Theologie, Einheitlich: ~eit des 2Kor). Dennoch wird das Werk in den allermeisten Fällen den ,; erschiedenen Ansprüchen sehr gut gerecht. Schnelle legt mit der Gesamtdarstellung des pulinischen Lebens und Denkens ein beeindruckendes Werk vor, das au f über 700 Seiten in anregendem Sprachstil ein differenziertes Bild des Apostels und seiner Briefe in ihrem geschichtlichen Kontext und ihrer bleibenden theologischen Bedeutung entv.·irft. Michael Schneider Anmerkungen 1 Vgl. z.B.J.D .G. Dunn, The Theology of P aul the Apostle, Grand Rapids / Cambridge 1998. 2 Vgl. Abschnitt »Unausweichliche Aporien '< , 438f. ZNT 14 (7. Jg. 2004)
