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ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
2005
816 Dronsch Strecker Vogel
0 0) Cll -t UIN NN at u, u,M _-t 1 ,in 2 ,- (/ ) <w ! : ! ! Heft 16 • 8. Jahrgang (2005) ZEITSCHRIFT ,~ NE U ES TESTAMENT Das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft Herausgegeben von Stefan Alkier, Axel von Dobbeler, Jürgen Zangenberg Annette Weissenrieder / Friederike Wendt Phänomenologie des Bildes. Ikonographische Zugänge zum Neuen Testament Volker A. Lehnert Die >Verstockung Israels< und biblische Hermeneutik. Ein exegetisches Kabinettstückchen zur Methodenfrage Michael Schneider/ Leroy A. Huizenga Das Matthäusevangelium in intertextueller Perspektive Willi Braun >Wir haben doch den amerikanischen Jesus<. Das Jesus-Seminar: Eine Standortbestimmung Almut Sh. Bruckstein »Und was wären dann die Bilder? « Talmudische und philosohische Notizen zur Bilderfrage Herodes: Kindermörder oder weiser Staatsmann Manuel Vogel vs. Sarah Japp Buchreport Impressum Herausgeber Stefan Alkier Axel von Dobbeler Jürgen Zangenberg in Verbindung mit Peter Busch Kristina Dronsch Ute E. Eisen Kurt Erlemann Gabriele Faßbeck Dirk Frickenschmidt Matthias Klinghardt Volker Lehnen Günter Röhser Manuel Vogel Fran~ois Vouga Bernd Wander Anschrift der Redaktion Prof. Dr. Stefan Alkier Johann Wolfgang Goethe-Universität Fachbereich Evangelische Theologie Neues Testament - Geschichte der Alten Kirche z.H .: Kristina Dronsch Grüneburgplatz 1 D-60629 Frankfurt Manuskripte Zuschriften, Beiträge und Rezensionsexemplare werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Verpflichtung zur Besprechung unverlangt eingesandter Bücher besteht nicht. Anzeigen Narr Francke Attempto Verlag Telefon: (0 70 71) 97 97-0 Bezugsbedingungen Die ZNT erscheint halbjährlich (April bis Oktober) Einzelheft : € 15,-/ sFr 26,90 zuzügl. Versandkosten Bezugspreis jährlich: € 28,- / sFr 49,00 Vorzugspreis für Studenten jährlich: € 22,- / sFr 38,60 (Immatrikulationsbescheinigung beifügen) © 2005 · Narr Francke Attempto Verlag Alle Rechte vorbehalten ISSN 1435-2249 Umschlagentwurf: Werner Rüb, Bietigheim-Bissingen. Satz: Fotosatz Hack, Dußlingen. Druck: Gulde, Tübingen. Bindung: Nädele, Nehren. Editorial Neues Testament aktuell Zum Thema Kontroverse Hermeneutik und Vermittlung Buchreport Inhalt Heft 16 · 8. Jg. (2005) Editorial .......................................................... 1 Annette Weissenrieder / Friederike Wendt Phänomenologie des Bildes. Ikonographische Zugänge zum Neuen Testament .................... 3 Volker A . Lehnert Die ,Verstockung Israels, und biblische Hermeneutik. Ein exegetisches Kabinettstückchen zur Methodenfrage .. .. .. .. ... .. .. .... ... 13 Michael Schneider/ Leroy A. Huizenga Das Matthäusevangelium in intertextueller Perspektive.............................. 20 Willi Braun > Wir haben doch den amerikanischen Jesus,. Das Jesus-Seminar: Eine Standortbestimmung .............................. 30 Einführung zur Kontroverse (Roman Heiligenthal) ...................................... 40 Manuel Vogel Herodes: Kindermörder. Hintergründe einer Rollenbesetzung ............ 42 Sarah ]app Herodes ein weiser König. Hintergründe seiner Herrschaftsideologie .. 48 Almut Sh. Bruckstein »Und was wären dann die Bilder? « Talmudische und philosophische Notizen zur Bilderfrage..... ....... ...................... 54 Hans Hübner rezensiert Ingolf U. Dalferth, Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, Tübingen 2003 .......... 59 Narr Francke Attempto Verlag GmbH+ Co. KG Tübingen Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Telefon (0 70 71) 97 97-0 · Telefax (0 70 71) 7 52 88 Internet: http : / / www.francke.de · E-Mail: info@francke.de ZNT im Internet: http : / / www.znt-online.de Editorial Liebe Leserinnen und Leser, die Frage nach neuen und zum Teil ungewohnten Zugängen zu Fragestellungen neutestamentlicher Wissenschaft in gesamttheologischer Perspektive zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Heft. Unabgesprochen spielt dabei in mehreren Beiträgen in den einzelnen Rubriken von »Neues Testament aktuell« bis zum »Buchreport« die Rezeption der Kategorialen Semiotik Charles Sanders Peirces für die verschiedensten aktuellen Fragestellungen und Neuansätze eine wichtige Rolle, sei es für das recht neue Arbeitsfeld der Ikonographie, den semiotischen Ansatz der Intertextualitätsforschung oder die Hermeneutische Religionsphilosophie. Wir freuen uns daher sehr, Sie mit diesem Heft besonders auf die aktuellsten Theoriedebatten neutestamentlicher Wissenschaft aufmerksam machen zu können und hoffen sehr, dass damit Ihre eigene exegetische und theologische Praxis ebenso bereichert wird, wie die unsere. Dass gerade vom Erscheinen des ersten Heftes der ZNT an die ZNT der Ort ist, wo diese notwendigen Debatten geführt werden, erfüllt uns auch ein wenig mit Stolz. »Neues Testament aktuell« bietet einen informativen Überblick über aktuelle Zugänge zur Frage der Interpretation bildhafter Darstellungen. Annette Weissenrieder und Friederike Wendt plädieren hier mit ihrem Aufsatz »Phänomenologie des Bildes« entschieden für eine stärkere Berücksichtigung einer theoretisch fundierten Ikonographie im Rahmen neutestamentlicher Wissenschaft. Methodische Fragen stehen auch im Mittelpunkt der drei Beiträge in der Rubrik »Zum Thema«. Die Ansätze des Narrative Criticism und der Rezeptionsästhetik bringt Volker Lehnen mit Blick auf die Verstockungsproblematik ins Spiel. Sein Aufsatz »Die >Verstockung Israels, und biblische Hermeneutik« schärft den Blick für den oft vernachlässigten Zusammenhang von Theologie und Methode. Michael Schneider und Leroy A. Huizenga führen in ihrem Beitrag »Das Matthäu- ZNT 16 (8. Jg. 2005) sevangelium in intertextueller Perspektive« den semiotischen Intertextualitätsansatz theoretisch und zugleich an ausgewählten Beispielen vor. Sie machen deutlich, dass die Intertextualitätsforschung gleichermaßen Impulse aus der schulischen und kirchlichen Bibelpraxis aufgreift aber auch neue Impulse dafür gibt. Willi Braun schließlich berichtet über die Arbeit des Jesus-Seminars, das mit Blick auf seine Beiträge zur Frage nach dem historischen Jesus international sehr kontrovers wahrgenommen wird. Die »Kontroverse« ist der historischen Bewertung der politischen Leistung des berühmtberüchtigten Herodes gewidmet, der schon zu Lebzeiten als Herodes der Große bezeichnet wurde. Was aber war »groß« an Herodes? War er ein großer Menschenverächter oder ein großer Staatsmann - oder beides? Manuel Vogel und Sarah J app, beide ausgewiesen innerhalb der Herodes- Forschung, kommen aufgrund gleicher Kenntnis der Quellen zu sehr unterschiedlichen Antworten und stecken damit den Spielraum ab, in dem Aussagen über den historischen Herodes getroffen werden können. Wie schon »Neues Testament aktuell« greift auch die Rubrik »Hermeneutik und Vermittlung« die Frage nach den Bildern auf. Almut Sh. Bruckstein fügt der methodischen Fragestellung Weis senrieders und Wendts die religionsphilosophische aus einer dezidiert postmodernen Perspektive hinzu. Sie verbindet dies mit dem eindringlichen Appell an die deutschsprachige Forschung, endlich die internationale Forschung zu Talmud und Midrasch angemessen zu rezipieren. Den »Buchreport« hat Hans Hübner verfasst. Wie schwer es der altehrwürdigen deutschen exegetischen Tradition fällt, gerade im Bereich der theologischen und religionsphilosophischen Grundlagenforschung die neuen Impulse Kategorialer Semiotik zu rezipieren, wird an seiner Besprechung des Buches von Ingolf U. Dalferth »Die Wirklichkeit des Möglichen« deutlich. Wie sehr Hübner angesichts der drängenden Fra gestellungen mit dem sparsamen Raum für eine Rez ensio n zu kä: npfen h at te, wird mehr als ersichtlich. Wir hoffen an ge sichts der gewi ,: : htigen Anfra ge n Hübners, dass er sein Verspre chen, in Bälde andern orts die hier b eg onn ene Diskussion 1 Zuletzt noch in eigener Sa che l □ Herausgeberkreis haben sich einige personelle Veränderungen ergeben. Ausgeschieden sind Frau Prof. Dr. Marlis Gielen und Herr Prof. Dr. Roman Heiligenthal, neu hinzugekommen is t Frau Kristina Dronsch. Im Namen der H erausgeber/ innen der ZNT und des Verlags se i Frau Gielen und n er rn Heiligenthal ausdrücklich fi=.r ihr Engagement und die konstruktive Zusammenarbeit gedankt, die maß geblich zur Etablierung der ZNT beigetragen hat. fo rtzuführen, halten wird und versp rechen ihm schon jet,zt mindestens drei höchst interessierte Les e r. 1 Stefan A lk ier Axel von ID obbeler Jürgen Zangenberg 2 1 1 S -c ef an A lkier, Axel von Dobbeler, Jürgen Zangenberg, TANZ - Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter : \k,ander \ liltl· ,wt·cl Lukas als Historiker Zu ll.JI.-n111g u• lL; h.u11--cla.·n Dn : ,'lf": . _ rl .... Alexander M ittelstaedt Lukas als Historiker Zu r Datierung des lukanischen Doppelwerkes TA NZ L3, 2005, 2 71 Seiten,€ 59,- / SFr 100,- ISB N 3-7720-8140- 1 D ie Ankündigung der Zerstörung Jerusalems im Lukas evange li-.1m gilt allgemein als „ vaticinium ex eventu", weshalb man das Evangelium und seinen Nachfolgeband, die [ Apostelgeschichte, erst nach dem vermeintlichen Eintreten dieser Proph ez e i. ung im J ahr 70 ansetzt. Dabei entsprechen die Zerstörungs-Weissagung~ Jesu den Fakten des Sommers 70 keinesfalls so genau, wie allgemein behauptet wird, sind a ber e be nsowenig als bloße Reminiszenzen alttestamentlicher Prophetenwort~ erkl ärb 2r. V: elmehr lieferte die Apokalyptik die entscheidenden Vorlagen; M ark.us wie Lu: : <.as erw arteten ei r_e Zerstörung Jerusalems als Teil der endzeitlichen Geschehnis e. Zu d em offenbart die gesamte Gestaltung des Doppelwerkes eine völlige Unk ecntnis s eir. .es Autors über d ie Christenverfolgung unter Nero, der Paulus wie Peuu s„ die ze nt ra len Gestalten der Apostelgeschichte, zum Opfer fielen . Stattdessen lege n'. eine eihe von Indizien n2he, daß der Großteil der Arbeit am Doppelwerk während der Gefan genschaft des Paulus in Caesarea (57-59 n.Chr.) geleistet wurde, auch wenn sich die Fe rtigstellung des zweite n Bandes wegen der unklaren Lage des Paulus noch um Jah re verzögerte. Narr Francke Atte mpto Verlag o · schingerweg 5 · D-7 2070 T übingen ZNT 16 (8. Jg. 2005) Neues Testament aktuell Annette We issenrieder / Friederike We ndt Phänomenologie des Bildes. Ikonographische Zugänge zum Neuen Testament »Wie bei jeder Wahrnehmung so sind auch bei der Bildwahrnehmung die Zugangsart und der Sachgehalt unauflös lich miteinander verschränkt: Das Was-man-auf-dem-Bild-sieht korreliert mit dem Wie-man-auf-das-Bild-schaut.« ' Neben der Beschäftigung mit textu ellem religionsgeschichtlichem Quellenmaterial ist in jüngster Zeit ein Interesse für die visuellen Quellen der Antike wach geworden. Vorausgese tzt ist, dass kulturell(-religiöse) Bilder und (biblische) Texte zugleich an der Produktion und Rezeption frühchristlicher Texte teilhaben. Beide, visuelle Artefakte und textliche Quellen, sind Teil von Kultur und damit auch Teil eines Zeichensystems, mit dessen Hilfe Menschen sich verstän digen . Religion partizipiert an diesem Zeichensystem. Doch wie kann das Bildmaterial angemessen angewandt werden? L. WIESING beschreibt in seinem Buch »Phänomene im Bild« eine Verhältnisbestimmung von Bild und Bildtheorie, die u.a. auch für eine Deutu ng von antiken Artefakten in der neutestamentlichen Exegese grundlegend sein dürfte: Das Was? des Sehens wird durch ein Wie? bestimmt. Das Wie? qualifiziert sich etwa durch besondere Beachtung schriftlicher Quellen, des visuellen Kontextes, der Zeichendeutung und des Wirklichkeitsverständnisses. matische Konstellation in ihren verschiedenen Ausprägungen (2), die sozialgeschichtlich fokussierte Au slegung (R. BIANCHI BANDINELLI / P. ZANKER) betont die Bedeutung des Kontextes einer visuellen Quelle (3 ), die semiotische Analyse (T. HöLSCHER / F. SAINT-MARTIN) setzt sich die Aufdeckung einer logischen Tiefenstruktur zum Ziel (4) und die konstruktivistische Analyse (R. VAN DER HOFF / ST . S CHMIDT) schließlich frag t nach der Bedeutung des Sehvorgangs im Verhältnis zur visuellen Quelle (5). 1. Bilder als Ausdruck einer Welt symbolischer Werte (Erwin Panofsky) ERWIN PANOFSKY (1892-1968) gilt als einer der bedeutendsten Kunsthistoriker des 20. Jh . Stan den in seiner Arbeit zunächst kunsttheoretische Überlegungen im Vordergrund, so entwickelte Panofsky unter dem Einfluss des Neukantianismus (v.a. E. CASSIRER) ein System apriorischer Grundbegriffe, die im Idealismus fußen und sich auf die formalen Aspekte eines Kunstwerkes beziehen. Wirku ngsgeschichtlich bedeutsam wurde allerdings Panofskys Verständnis von »Ikonologie«, das er in enger Zusam- Grundlegend fü r d as Was? und Wie? ist eine Verhältnisbestimmung von visuellen Quellen zu den Texten. 2 Eine Bildtheorie liefert nach Wiesing dann phänomenologi- »Eine Bildtheorie liefert nach Wiesing dann phänomeno lo gische Beiträge, wenn sie eine A ntwort auf die Frage Wa skann-man-wie-auf-einemmenarbeit mit A. WARBURG und den Wissenschaftlern in der Warburg-Bibliothek entwickelte: »[D]ie Ikonologie [hat] über die Klarstellung des Themas hinaus nach der Besche Beiträge, wenn sie eine Bild-Schauen versucht.« Antwort auf die Frage Was kann-man-wie-auf-einem- Bild-Schauen versucht. Im Folgenden sollen fünf methodische Zugänge zur Ikonographie vorgestellt werden, die z .T. aneinander anschließen, die aber auch ein je eigenständiges Konzept vertreten: Die ikonologische Analyse (E. PANOFSKY) betrachtet eine visu elle Quelle vor dem Hintergrund des geistesgeschichtlichen Wissens ihrer Zeit (1), die motivorientierte Analyse ( 0. KEEL) u ntersucht eine th e- ZNT 16 (8. Jg. 200 5) de utung des Inhalts (als ikonograph. Bildsinn) und dem Warum der bes. Darstellung des Themas zu fragen. Dabei nutzte P.[anofsky] häufig zeitg enöss . literar. und philosoph. Vergleichsmaterial sowie hist.-ikonograph. Reihen von Darstellungen des betreffenden The- ' mas .« Insgesamt verfolgte Panofsky mit seiner Methodik das Ziel, Formanalyse und klassische Ikonograp hie einerseits u nd Kunstgeschichte als 3 Neues Testament akt ell Ausdruck geistesgeschicblicher Ph änomene an dererseits in Beziehung zueinander zu setzen. Den .A! Usgang spunkt jeder Bildinterpretation bildet für ihn das, was m J.11 direkt sieht; es zählt der unmittelbare sinnliche Eindruck. Zunächst ist dies ganz elementar gemeint, nämlich wie Linien und Farben zueim.nder in Beziehung gesetzt sind und wie Material zu Darstellungen konkreter Gegenstände geformt ist.' Dazu ge hören auch aus druckhafte Eigenschaften, die zur Atmc,sphäre einer Darstellung beitragen, Die präzise Beschreibung der im visuellen Medium vorhandenen Motive ist insofern nicht unproblematisch, als sie beim Betrachter eine Kenntnis der verwendeten Darstellungsprinzipien also etwa des Perspektivischen , voraussetzt. Der ZyVeite Blickwinkd, der in Panofskys Methode zur Geltung komrr _t, liegt in der Fr; : ,ge, wie diese zunächst erhobenen Motive mit Themen oder Konzepten Ye rbunden sind. Dazu ist es notwendig, cdie Mot: ve samt ihrer Attribute in den Kontext ih: -er he: -kömmlichen Verwendung einzuordnen und so ihre Bedeutung zu verstehen. Es geht hierbei zentr al um Identifizierung (Wer ist dargestellt? ) und um Klassifizierung (Um was geht es? ). Literarisches Wissen, Kenntnis von Themen ucd Bildprogra: nmen ist für die3en Arbeitsschritt unerlässlich. Nachdem ma: i ein Bild seiner Sache und seinen Themen nach untersu : ht hat, schließt sich in PanofskYis Modell die »ikonolog is che Interpretation« an. Unter c.i esem Stichwort wird die Frage beantwortet, weshalb und wozu etwas da: -gestellt ist, wie es dargestellt ist, und damit eben die nach dem Gehalt, dem Sinn und dem geistesgeschichtlichen Stellenwert einer Darstellung. Du: -ch diesen Blick auf den »Wesenssinn,/ einer Darstellung sollen nichts weniger aL die basal en Prinzipien des Weltverstehens, wie ein Künstle r, eine Epoche sie aufgefasst hat, erhellt werden. Daran anschließend ist dann eine Bewertung eines Kunstwerkes möglich, da »die Größe einer küns tlerischen Leistung letzten Endes davm1 abhängig ist, welches Quantum -, on >Weltansc hauungs-Energie< in die gestaltete Materie hineingeleitet worden ist und aus ihr auf den Betrachter hinüberstrahlt.« Die Grenzen de s int erpretatorisch Möglich: ! n setzt hierbei die allgemeine Geistesgeschichte. Erwin Panofsky hat ein dreigliedriges Modell vorgeleg,t, Dars t ellungen zu beschreiben und zu 4 deuten. Dabei handelt es sich letztlich um einen ein zigen Prozess des Verstehe: is, nicht um verschiedene Zugänge zu einer Quelle. Es ist dies ein Modell, das versucht, eine »Totalität« in visuellen Q uellen aufscheinen zu lassen. Dies geschieht durch die Einordnung in eine Geschichte »kulture[er Symptome« bzw. »Symbole«, die transparect werden soll für die weltanschauliche Verfas stheit eines Künstlers bzw. einer Zeit. Als Beispiel für eine Rezeption der Panofsky' sehen Methodik in der neutestamentlichen Exegese mag die Auslegung des Ezechielzyklus' aus Dura Europos von REINHARD VON BENDEMANN dienen.6 Von Bendemann versteht den Zyklus zunächst als Kunstwerk, das ikonographisch beschrieben und ikonologisch interpretiert werden kann, wobei sein besonderes Augenmerk auf einer rezeptionsästhetischen Fragestellung liegt (die »vor-ikonographische Beschreibung«) . So werden Figuren des Bildprogramms t: -ansparent für die Rezipienten, die Synagogenge: -neinde. Weitergehend bezieht von Bendemann die Rezeption von Ez 37 in der Johannesapokalypse in die Deutung mit ein (die »ikonographische Analyse«) und entdeckt Konvergenzen in den Kc-mpositionstechniken von Bild und Text, die beide gleichermaßen als Kunstwerke verstanden werden können . Im Ve rgleich mit dem prophetisc}_en Text zeigt sich, dass beide für sich einen unabhängigen Mehrwert an Sinn transportieren. Die Einordnung in die allgemeine Geistesgeschichte (»ikonologische Interpretation«) ergibt sich hier durch den sozio-politischen Kontext des Bildprogramms: Es zeigt die Rolle einer Minorität in ihrer paganen Umwelt, die implizit die Gegenwart kritisiert und für sich eine heilvolle Zukunft erhofft. 2. Bilder als Ausdruck grundlegender Beziehungsmuster: Die »Freiburger Schule« Das Panofsky'sche Modell, visuelle Quellen zu deuten, ist im Hinblick auf die biblische Bilderwelt zunächst entscheidend von OTHMAR KEEL und seinen Schüler/ innen der sog . »Freiburger Schule« aufgenommen und weiterentwickelt w : )rden. 7 Ihre Forschungen zur altorientalischen Ikonographie lassen sich cum grano salis in zwei ZNT 16 (8. Jg. 2005) Annette Weissenrieder Annette Weissenrieder lehrt als Wissenschaftliche Assistentin Cl für Neues Testament an der Ruprecht -Karls-Universität Heidelberg. Ihr Interesse gilt der Erforschung der Bezüge zwischen frühchristlicher Literatur und der griechisch-römischen Umwelt (antike Medizin, Philosophie und visuelle Artefakte) und der theoretischen Reflexion dieser Bezüge. Ihr besonderes Augenmerk gilt der neutestamentlichen Anthropologie und der philonischen und paulinischen Pneumatologie. Friederike Wendt Friederike Wende lehrte von 2003-2005 als Wissenschaftliche Assistentin für eutestarnentliche Theologie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Sie interessiert sich besonders für die Deutung frühchristlicher Literatur im Kontext ihrer gr ie chisch-römischen Umwelt und die methodische Reflexion dieser Verhältnissetzung. Zur Zeit ist Friederike Wendt Vikarin der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck. Phasen einteilen: Stand zunächst das Interesse im Vordergrund, durch außerbiblische Fundstücke, und zwar insbesondere Bilder, die Vorstellungswelt der alttestamentlichen Schriften zu erhellen, ZNT 16 ( 8. Jg. 2005) Ann e tt e W e isse nried er / Frie derik e W e ndt Phänomenologie des Bildes so zielen jüngere Forschungen eher darauf ab, die Bedeutung von Bildern unabhängig von Texten zu untersuchen. Bilder und Texte seien demnach getrennt voneinander zu deuten, um sie bei einem nachgewiesenen Zusammenhang in einem späteren Schritt zueinander in Beziehung zu setzen. 8 Dabei ermögliche die Einbeziehung von Bildmaterial eine Chronologisierung der Texte, da verschiedene Motivausprägungen verschiedenen Epochen der Geschichte Israels zuzuweisen seien. Die vorrangige Leistung von Bildern gegenüber Texten sei die, dass Stereotype und unverwechselbare Eigenheiten zugleich dargestellt werden könnten. Bilder werden in diesem Modell als Abbilder von Wirklichkeit verstanden, deren Regeln auf Konventionen beruhen und dabei eine Mehrleistung gegenüber Texten aufweisen, die in ihrer Stärke, komplexe temporale, lokale und soziale Beziehungen simultan darzustellen, liegt. Der Erkenntnisgewinn von Bildern ist primär auf historische Zusammenhänge bezogen, deren Wirklichkeit durch Motive vermittelt wird. Am Beginn einer Deutung steht folgerichtig in diesem Modell die Erhebung von Motiven, die in einem visuellen Medium anzutreffen sind, und ihre Einordnung in zeitgenössische Darstellungskonventionen und die Motivgeschichte. Anschließend wird die Aussageintention des Bildes bestimmt und gefragt, wie Motivik und Aussage zueinander in Beziehung gesetzt werden. Dies ist die Frage nach der Komposition des Bildes. Schließlich stellt sich die Frage nach individuellen Zügen (den »Dekorationen« ), die eine Erhebung des »Sitzes im Leben« und darüber hinaus eine mentalitätsgeschichtliche Einordnung des Mediums möglich machen. Ein Beispiel für eine motivorientierte Analyse im Bereich neutestamentlicher Exegese ist die Auslegung des »schwankenden Rohrs « in Mt 11,7 von GE RD THE ISS EN .9 Zeitgenössische Embleme zeigen, dass Herodes Antipas anlässlich der Gründung von Tiberias Schilf auf seine Münzen prägen ließ. Schilf gehörte also zum bekannten, allgemein kommunizierten visuellen Inventar. Für die Auslegung des Logions bedeutet dies: »Wer wollte, konnte in Herodes Antipas, dem Adressaten der prophetischen Gerichtsrede des Täufers, ein >schwankendes Rohr< sehen, das durch von Gott gesandte Schicksalsschläge erschüttert werden würde. Oder er konnte im Lichte der verbrei- 5 Ne u es Testament akt uell teten Fabeltradition in ihm einen klug sich an alle möglichen Umstände anpassenden Politiker sehen, der im Kontrast zum kompromißlos auftretenden Täufer stand.« Durch die Motivanalyse werden Konnotationen aktualisiert, deren Plausibilität für den jeweilige n. literarischen Kontext und »Sitz 1 im Lebe n« geprüft werden könn e n. 3. Bilder und soziale Gegebenheiten: Sozialgeschichtlicher Ansatz 1 E. Panofskys Thearie dient neben der Freiburger Schule auch der s: nialgeschichtlichen Schule, wie sie sich um den Italiener R. BIANCHI BANDINELLI und den Deutscben P AUL ZAN KER gebildet hat, als Sprungbrett methodis cher Refl exion . 10 Ausgangspunk: ist hier die von Panofsky gemachte Unterscheidung zwischen. Ikonographie als sachlicher Bestim mung der Bildthemen und Ikonologie als w esen smäßiger, ideeller Bestimmung der Bedeutung der Bilder. Grundlage f r die Arbeiten des so zialgeschichtlichen Ansatzes ist die Interpretation der visuellen Artefakte in ihren Kontexten: Öffentlichen Plätzen, H eiligtümern, Theatern un: l Thermen, Privathäus ern und ·Nekropolen w ir d dementsprechend große Aufmerksamkeit entgegengebracht. Während die Bild-Analyse auf die Frage nach ihren ideologischen Aussagen zugespitzt wird, tritt die formale Analyse demgegenüber stark zurück od er wird gar nich t mehr beachtet. R. B. IBandinelli hat die sozialgeschichtliche Frageste l'1 ung zu: - Bildkunst un d Architektur auf zwei Pfeiler gestellt: Poliiik und Sozialgeschichte. Grundlage sei zum ein en, dass die »römische Kunst[ ... ] immer eng mit den historischen Gescheh en verbunden« (S. XI) war und zum anderen, dass die gesamte römische Kunst aus der griechischen erwachsen sei, aber freilich auf ein er neuen sozialen Ebene, »: 1icht als Ausdru - : : k eines tief im Bewusstsein der bestimmenden sozialen Gruppen verwurz elten Gefühls« (S. XI). In diesem Sinne war die römische Kunst eklektisch und konnte der Ideologie der Regierend en an gepasst werden. Grundl egend ist: Die Id eologie wurde von Küns tlern erarbeitet, di e in Abhängi; ; keit zu ihren Auftraggebern standen als Sklaven oder Kriegsgefangen e bes aßen si e nich t das römische Bürgerrecht und konnten jederzeit ausgewiesen 6 werden. Exemplarisch zeigt sich dies in den Arbeit en Bandinellis zu Tempelbauten im republikanischen Rom als Ausdruck konkurrierender Staatsmänner und zu Grabbauten als Selbstdarstellung lokaler Eliten. P. Zanker thematisierte vor allem die Repräsentation der Herrscher und der Oberschichten in Portraits und öffentlichen Monumenten; zentral ist für ihn Augustus. Unter Augustus entstehe in Rom ein Herrschaftsmythos, der die gesamte visuelle Kommunikation der Epoche ebenso prägte wie alle Arten sozialer Begegnung: Religiöse Rituale, Staatsakte und soziale Kontakte werden geformt. Visuell lässt sich ein Prozess der Normierung nach festen Standards erkennen: Rom wurde zum Zentrum einer Einhe: tskultur. »In der normierten Bildersprache der Kaiserzeit[...] standen Staat und Kaiser im Mittelpunkt. [... ] Da die konsolidierte, pyramidenförmig strukturierte Gesellschaft sich ganz nach der Spitze ausrichtete, konnte die kaiserliche Selbstdarstellung zum Muster für jedermann werden .«1 1 HARRY 0. MAIER hat diesen Ansatz für seine theologische Studie über den Kolosserbrief, besonders für die Erwähnung der »Barbaren« und Skythen in Kol 3,11, zugrunde gelegt: 12 Darstellungen von Barbaren in unterschiedlichen Stadien der Integration unter die römische Herrschaft, beispielsweise das Sebasteion in Aphrodisias und die Prima Porta des Augustus, können die Bedeutun g der Reihe in Kol 3,11 erklären. Sie ist eine Anspielung auf die universelle Reichweite des Enngeliums. Sebasteion und Gemma Augustea enthüllen beide, dass die Kolosser in der vertikalen ikonographiscl: .en Semantik der Sprache der römischen politiscien Kultur zu Hause waren. 4. Bilder als Zeichen: Semiotische Theorie und Ikonographie Ist es möglich, die plausiblen Anliegen der ikonographischen Formanalyse bzw. die Deutungsmetho de aufzugreifen und sie in eine Fragestellung zt: . transformieren, die zu einem umfangreicheren Verständnis des antiken Bildmaterials im Kontext der antiken Kultur führt? Dieser Fragestellung nimmt sich die semiotische Bildanalyse an, die momentan in der kunsthistorischen und archäologi , chen Bilddeutung häufig herangezogen wird . 13 Im Zentrum der semiotischen Bildtheorie steht ZNT 16 (8. Jg. 2005) die Vorstellung, dass Menschen sich die Wirklichkeit kommunikativ aneignen: Kulturelle und naturale Zeichenprozesse sind die Grundlage aller Kommunikation. Semiotik als Annette Weissenrieder / Friederike Wendt Phänomenologie des Bildes Ba, Bb, Be usw. zu. Dabei steht die Frage nach redundanten Bildmerkmalen wie Kreisen oder Dreiecken im Vordergrund. Die Regionen und Subregionen werden danach Lehre von den Zeichen im weiteren Sinn umfasst alle Analysen von Zeichen und deren Bedeutung. Im engeren Sinn aber meint sie die Aufdeckung einer hinter der Oberflächenstruktur der bild- »Im Zentrum der semiotischen Bildtheorie steht die durch ein Gitter, welches am Anfang der Bildanalyse steht, lokalisiert: Jedes Bild kann demnach durch ein Gitternetz von fünf mal fünf Quadraten untergliedert werden. Vorstellung, dass Menschen sich die Wirklichkeit kommunikativ aneignen.« liehen Quelle liegenden logischen Tiefenstruktur, die durch die Relation Objekt - Zeichen - Interpretant offengelegt werden kann. Bildlich wird die logische Tiefenstruktur an der Bildoberfläche oft anthropomorphisiert (Gegensätze werden durch Menschen repräsentiert) und dynamisiert (Gegensätze lösen Spannungen für die Bilddimension aus). Wichtige Grundannahmen der Semiotik aus der Perspektive der Ikonographie sind: 1. Die Semiotik ist eine Theorie der Zeichen. Grundlegend ist, dass die dyadische Subjekt- Objekt-Beziehung zu einer triadischen (Objekt- Zeichen - Interpretant) erweitert wird: Repräsentation setzt erstens ein Zeichen voraus, das zweitens für ein Objekt steht und drittens den Interpretanten bestimmt. CH. S. PE IRCES Zeichenlehre basiert auf einer Kategorienlehre, die immer drei mögliche Relationen benennt: Erstheit, Zweitheit, Drittheit. Die Kategorie der Erstheit ist die Kategorie, die ohne externe Relation auskommt. Mit Erstheit umschreibt Peirce die Kategorie des Unmittelbaren. Diese führt unmittelbar zu einer visuellen Empfindung oder einem Gefühl. Beschreiben wir ein Bild unter der Kategorie der Erstheit, so fassen wir es zunächst als abstrakte Möglichkeit und Potentialität: Zu Zeichenmitteln zählen alle Gegenstände, Dinge, Farben und visuellen Ereignisse. In diesem Sinne repräsentiert das Zeichen eine Qualität. Bildanalyse hat so die Qualität einer Textanalyse. Verschiedene Modelle werden diskutiert. An dieser Stelle soll das Modell von F. SAINT-MARTIN vorgestellt werden. 14 Zunächst zerlegt man ein Bild bzw. die visuelle Quelle durch grobes Skizzieren der Umrisse in großflächige Regionen, die man alphabetisch benennt. Sinnvoll ist die Herangehensweise vom äußeren Rand bis zum Mittelpunkt des Bildes. Danach ordnet man die Subregionen des Bildes entsprechend ihrer Zugehörigkeit in Aa, Ab, Ac/ ZNT 16 (8.Jg. 2005) Jedes Quadrat lässt sich nochmals in seine vier Seiten und das Kernstück aufteilen, so dass 125 Bildteile, die sogenannten Koloreme, das Bild segmentieren. Diese visuellen Variablen werden grob durch die vier formbildenden Winkel, welche wiederum eine Kreuzform und eine Raute entstehen lassen, unterteilt. Diese Gliederung ermöglicht eine präzise Ermittlung des Mittelpunkts der visuellen Quelle sowie der Perspektiv- und Distanzflächen. Sechs Dimensionen ermöglichen neben der topographischen Relation eine weitere Klassifikation: (1) Farbe oder Tönung, (2) Textur, (3) Quantität oder Größe, (4) Verortung auf der Ebene, (5) Vektorialität oder Orientierung, ( 6) musterbildende Konturen oder Abgrenzung. Im Moment der Wahrnehmung, der Kategorie der Z w eitheit, dem Objektbezug, der von Peirce auch als unwiederholbare Erfahrung beschrieben werden kann, steht die Differenzierung im Vordergrund: Durch Wahrnehmung der Unterschiede im Hinblick auf Form und Farbe in der Materialität oder Qualität des Bildes werden Informationen über den Gegenstand erzeugt. Das Zeichen im Bild wird unter dem Aspekt betrachtet, wie es sich auf ein Objekt bezieht. Diese Beziehung umfasst die semantische Beziehungsfunktion des Zeichens. In diesem Sinne beschreibt die Kategorie der Zweitheit eine unwiederholbare Erfahrung. Die private Erfahrung, die innere Welt, oder wie Peirce auch sagt: das Ego des Menschen, kann nicht grundsätzlich in Zeichen und Bilderwelten überführt werden. Man kann die Kategorie der Zweitheit auch als eine körperlich erfahrbare, »psychische« oder vorgestellte Kenntnis von Objekten deuten. Die Kategorie der Drittheit ist die der Reflexion: Zeichen und Objekt werden vom Interpretanten verknüpft: In Hinblick auf eine Annäherung an die Wirklichkeit werden individuelle Aussagen 7 Neu e s Test ament akt uell getroffen, die, um sich d er »Wahrheit« anzunähern, mit einer Interpreta i: io nsgemeinschaft abgestimmt werden sollten. In Bezug auf die Interpretation von Bildzeugnissen bedeutet dies: Das Bild ist beispielsweise ein Zeichen für die Repräsentation von Zeichen einer visu al isierten Vorstellung eines Malers oder Bildhauers. Sofern also Bilder durch Drittheit entstandene Zeichen sind, muss der Bildproduzent über ein Repertoire an Zeichen verfügen, das ihm gestatte t., eine Erfahrun5 visualisiert in Zeichen darzustellen. In der Drittheit sind Bilder vom Rezipienten in ihrem gedanklichen Inhalt der Zeichen erfassbar und erzeugen Interpretanten von »etwa: , Anderem«, etwas Realem oder Irrealem in kartographischen arstellungen. Man kann also s; ; .gen : Mit der Deu tung und Interpretation eines Zeichens verwirklicht sich dess en Bedeutung. 2. Die Analyse der Zeichenrelation hsst sich durch drei Dimensionen des Zeichens vertiefen: die Syntaktik, die Semantik und die Pragmatik. Die Syntaktik benennt die Beziehung vo : 1 einem Zeichen zu anderen Zeichen und umfasst die Qualität. Die Möglichkeiten der Qualität lassen sich nach drei Klassen ihrer syntaktischen E rscheinungsweise semiotisch ordnen: Die visuellen Empfindungen durch Far be nennt Peirce Qualizeichen. Sie verweisen als Zeichen auf die Qualität eines Objekts. Sie sagen nichts über die Qualität der Wirklichkeit aus, sondern über die der wirklichen Bilder. Führen F: ubflecke, -punkte und -Struktur en zu U nterscheidungen, werden sie als Sinzeichen definiert. Wenn Zeichen einem Code folgen, welcher die Wiederholbarkeit gleichförmiger Darstellungsweisen stabilisiert, wie z.B . das christliche Kreuz, dann sind sie L egizeichen. Die Semantik benennt die Beziehung zwischen den Zeichen. Wie O bj ekte in Zeich en vorliegen, unterscheidet Peirce wiedernm in drei Beziehungen: Das Ikon bezeichnet die ,: -Ähnlichkeitsrelation« seines Objektbezugs: d as Bildzeichen gibt mit dem Ikonbezug nur vor, einem Objekt zu ähneln. Der Index beschreibt einen Objektbezug, bei dem der Obj ektbezu g durch hinweisenden, gestischen und anzeigenden Sinn bezeichnet wird. Das Symbol benennt mit Hilfe , ei.nes Codes Merkmale eines Objekts. Die Pragnuitik benennt die Beziehung zwis chen dem Zeichen u nd seinem Benutzer, dem 1Interpreten. Das Geschmacksurteil über die Schönheit wird als Rhema gekennzeichnet. 8 Der Hinweis auf die Existenz eines Objekts oder Subjekts nennt man Dicent. Plausibilität und logische Interpretation werden als Argument bezeichnet . Es ist die Drittheit in der Drittheit. 3. Jeder Gegenstand unserer Wahrnehmung kann als Zeichen fungieren, sei es eine Farbe oder eine Münze. Wenn wir sagen: >-Etwas fungiert als Zeichen«, dann deuten wir schon auf einen Pro zess hin, denn nach Peirce gilt: Nicht das Zeichen an sich ist zentral, sondern der Prozess. Demnach befinden wir uns in einem Interpretationsprozess im Zirkel der Syntaktik, Semantik und Pragmatik. Da die Semiotik sämtliche Ze: .chen zum Gegenstand ihrer Untersuchung macht, ist sie für die Bilddeutung eine akzeptierte Methode. Trotzdem weist gerade Hölscher darauf hin, dass sich visuelle Quellen grundsätzlich von sprachlichen Zeug nissen unterscheiden: Zum einen funktionieren visuelle Zeichen oft ohne Ähnlichkeit zum übermittelten Gegenstand, zum anderen fächert Sprache Gegenstände in definite Einheiten auf, die in einem Bild analog wiedergegeben werden können. Schließlich werden Bildwerke nicht ausschließlich als konventionell definierte Verweise, die außerhalb ihrer selbst liegen, verstanden. Sie seien, so Hölscher, vielmehr »Konstrukte, die ihre Bedeutungen in sich selbst, das heißt in ihren eigenen Formen zum Ausdruck bringen.« 15 4. Die semiotische Theorie verfolgt mit ihren drei Kategorien ein Ziel: Die mannigfaltigen Interpretationsmöglichkeiten werden als Stationen auf dem Weg zur Wahrheit gedeutet. Dieser Weg wird nochmals durch die Unterscheidung von unmittelbarem, dynamischem und finalem Interpretant beschrieben: Der unmittelbare / nterpretant ist eine vage mögliche Bewusstseinsbestimmung. Was ein individueller Interpret einem Zeichen entnimmt, nennt Peirce einen dynamischen Interpretanten: Der finale Interpretant ist die letzte Wirkung des Zeichens, insofern diese von der Beschaffenheit des Zeichens her intendiert oder vorbestimmt ist. Keine Interpretation kann dem nach beanspruchen, die eigentliche und wahre Interpretation zu sein. Sie sind jeweils nur eine »Zwischenstation«. Eine Annäherung an das dynamische Objekt und damit an die Wahrheit kann nur einer Interpretationsgemeinschaft gelingen. 5. Wichtig ist: Bilder korr: .munizieren nichts Sichtbares aus der Welt, sondern sie beziehen sich auf etwas, was sie innerhalb ihrer Gliederung der ZNT 16 (8. Jg. 2005) Zeichenmittel sichtbar machen können. Die Welt bleibt in Bildern unsichtbar. Bilder bilden nicht die Folie, auf der wir die Wirklichkeit nachvollziehen können. Annett e Weisse nrieder / Friederike Wendt Phänomenologie de s Bildes die sich einer tief greifenden, in Jahrtausenden entwickelten Symbolik bedienten. Bilder als Konstrukt der Wirklichkeit: Sozialer Konstruktivismus In erster Linie hat sich T. HöLSCHER um die 5. semiotische Methode verdient gemacht. Hölschers semiotische Umsetzung basiert auf einem dreistufigen Kategoriensystem: In einer ersten Stufe wird ein einzelnes Bildwerk nach den konnotierten Bedeutungen befragt, wobei symboli- Semiotische und konstruktivistische Theorien stimmen insofern überein, als sie davon ausgehen, dass bildliche Quellen keine Abbildungen der Wirklichkeit darstellen, sondern dass sie kulturell kodiert sind. Beide Theorien unterscheiden sich jedoch im Schwerpunkt: Während die Semiotik um das »Was? « bemüht ist, fragt der Konstruktivismus verstärkt nach dem »Wie? « des Sehvorgangs. Die Frage, die der Konstruktivismus stellt, ist die, wie der Vorgang des Sehens »erzeugt« wird. Der Sehvorgang wird somit selbst ein Teil der Interpretation. 19 sche Handlungsformen und Verhaltensweisen als Zeichen einer spezifischen Mentalität gedeutet werden. Auf der zweiten Stufe wird das Repertoire der Bildthemen erfasst. Nach unbewussten Strukturen des Wahrnehmens, Denkens, Verhaltens und Handelns, die sich aus Bildern und den Funktionen erschließen lassen, fragt man schließlich auf der dritten Stufe. 16 Auch L. GIULIANI nutzt den semiotischen Zugang, indem er diesen auf Portraitkunst anwendet, besonders das des Pompejus: Portraitkunst wird als Zeichensystem gedeutet und in jenem Kommunikationsprozess, in dem es seine ursprüngliche Funktion erfüllte, rekonstruiert. Die Portraits werden als Propagandakunst analysiert, die Leistung und Erfolg des Dargestellten zu erheischen suchten. 17 G. ELSEN- N6VAK und M. N6VAK, beide bekannt durch ihre Ausgrabungen in Qatna, haben die semiotische Methode für die Auslegung von Joh 15, der johanneischen Weinstockrede, zugrunde gelegt. 18 Die herausgehobene Weinstockmetaphorik in J oh 15,1-8 wird vor dem Hintergrund der altorientalischen »Paradies«-Garten-Symbolik bewertet. Diese gründete auf dem von den assyrischen Kö nigen entwickelten und den achämenidischen, parthischen und hellenistischen Herrschern weiter tradierten Typus des Universalgartens, der als »Mikrokosmos« dem Weltherrschaftsanspruch des Königs Ausdruck verlieh. Besonders deutlich wird dies durch das Bild des Weinstocks, das für den zeitgenössischen Hörer mit der Konnotationskette Weinranke - »Paradies« - Garten - Fruchtbarkeit - Herrschaft/ Zivilisation/ Ordnung verbunden gewesen sein dürfte. Damit ein her ging die in der Levante beheimatete Verbindung des Weins mit der zyklisch wiederkehrenden Auferstehung des Fruchtbarkeitsgottes. Vor dem kulturellen Hintergrund des Alten Orients erhält die Weinstockmetaphorik mehrere, zum Teil voneinander unabhängige Bedeutungsebenen, ZNT 16 (8. Jg. 2005) Visuelle Quellen stellen, so die grundlegende These, keine Abbildung der Wirklichkeit dar, sondern sind im Zusammenhang mit dem typischen Rollenverhalten von Menschen (in der Antike), mit philosophisch-medizinischem Wissen vom menschlichen Körper, mit Mentalitäten, Strukturen und Konflikten in sozialen Gruppen und der Gesamtgesellschaft zu deuten. Von daher sind Artefakte immer an Quellen der allgemeinen Strukturgeschichte, d.h. an weitere visuelle und textliche Quellen zu den allgemeinen Verhältnissen der damaligen Zeit anzupassen. Auf diese Weise können konstruktivistische Theorien der Wirklichkeit eines einzelnen Künstlers oder dessen Werkstatt, des einzelnen Betrachters oder des sozialen Kontextes näher kommen. Die verschiedenen konstruktivistischen Theorien bieten keine einheitliche Antwort auf die Frage nach der Deutung visueller Quellen. Sie teilen lediglich die Grundlage, dass es einen ob jektiven Zugang zur Realität nicht geben kann oder dass er bestenfalls indirekt vermittelt wird . In der neueren archäologischen Methodendiskussion wird besonders der sog. »Soziale Konstruktivismus« rezipiert. Der Soziale Konstruktivismus geht von der Möglichkeit aus, dass wir mittels unserer Interaktionen und Kommunikationen soziale Artefakte und Produkte zu schaffen vermögen, die gegen über den individuellen Konstruktionen als selbstbezügliche Entitäten fungieren. Der Wahrneh- 9 Neu es Testament ak t uell mung der Wirklichkeit lie ge demnach im sozialen Austausch begründet: Die · w-elt, die Menschen erschließen, is t die Welt, die sie ge m ei nsam schaffen. Das »Was« und »Wie« d es aktuellen s; : izialen Austausches ist dann wiederum Teil eines se Eistorganisierenden Dis kurses. Aus den jeweiligen Kommunikations abläufe : : - 1lassen sich jede-eh keine stabilen Eigenschaften der kommunizierenden Partner herausschälen. Seefahrer angesichts des Falles der Hure »zitiert«, zwingt er ihnen eine Rolle auf, die nach den moralischen Maßstäbe: : i der römischen Gesellschaft als lächerlich gelten musste. Insofern schlägt er in Offb 18 diejenigen, die bereitwillig mit Rom kooperieren, mit iiren eigenen »moralischen« Waffen. Der Soziale Konscruk tivismus ist gru: : idsätz- 6. Zum guten Schluss lieh auf die sozia: e D.imension des menschlichen Lebens abgestellt . Die vom Einzelnen becutzten, gedachten und gefühlten Prozesse sind letztlich Ergebnis eines so zialen : K onstruktionsprozesses, der sich über Spr ache un d über die Sprache vermittelten Verständigungsfor men re al isiert. Eine besondere Form der so zialen Verstä: : idigung sind visuelle Artefakte wie Münzen, Re liefs oder Votive. Die se erfüllen zwei Funktior_en: d en Aufbau und die F ortfü hrung sozialer Beziehu ngen und die Konstruktion einer eigenen Identität. Häufig sind sie a: s Fortsetzung von Mythen, Erzählungen oder in sc hriftlich en Belegen gedacht. Eines wird dadurch grundsät zlich verändert: Einer kat egorialen Tr enc ung von Text und Sprache auf der einen Seite und Bild und Kategorie des Kunstwerks auf der anderen Seite wird durch den sozialen Kontext der Boden entz ogen. Für die neutestamentl iche Exegese wurde die konstruktivistis che Bild analys e jüngst von H. RoosE fruchtba r gemacht: . 00 Si e fragt nach dem Zusammenhang des Falls d er »Hure Babylon « in Offb 18 und der ·.-isuellen Darstellung von alternden Prostituierten in der römischen Gesellsc ia ft. Ihr »typisches« Schicksal ist dur ch Verfall gekennzeichnet: Mit zu nehmendem Alter verliert die Prostituierte ihre sexu elle Attraktivität und damit ihr e (angebliche) 1\l [a cht über die Freier. Sie endet als verarmte »Trun : C.: c·ne Alte«. Dieser »typische« Lebensweg wurd e von der römischen Gesellschaft mit Häme quittiert. In O ffb 18 so die von Roos e vertretene Die antike Welt hat Spuren hinterlassen, die bis in unsere Gegenwart hineinreichen: Es sind neben d en Textquellen au, : h visuelle Artefakte, die wir als Puzzleteile verwenden können, um die Vergangenheit zu re-kc,nstruieren. Die fünf hier darge legten methodischen Zugänge zeigen Wege auf, um die Frage zu erläutern Wie-man-auf-das-Bildschaut. Dabei ist eines deutlich geworden: Neben der Frage, inwiefern die Analyse des Bildes methodisch konzise reflektiert werden kann, steht die Frage, wie das Verhältnis zwischen Text und Bild als zwei QueLen gefasst werden kann. Die verschiedenen Theorien nehmen sich dieser Frage mit unterschiedlicher Intensität an: Panofsky wert et ikonographische Einzelheiten ein es visuellen Mediums als Hinweis auf Grundeinstellungen von Menschen und Epochen aus. D iese Grundeinstellungen werden zwar aus der visuellen Quelle erhoben, anschließend allerdings auf ihre Kohärenz mit anderen, meist textuellen Dokumenten hin überprüft. Sie bilden den normativen Rahmen d er Bilddeutung. Das Kunstw erk wird als verweisendes »Symptom« verstanden, als der Textwelt korrespondierende Aussageform, die die Grundhaltung einer Epoche zum Ausdruck bringt. Die Geschichte der Freiburger Schule, für die der Ansatz Panofskys im Hinblick auf die Exegese biblischer (insbesondere alttestam entlicher) Texte zum methodischen Ausgangspunkt wurde, spiegelt die besondere und wach- These greift Johannes c.i eses Stereotyp auf, um es seinem rhetorischen Anliegen dienstbar zu machen: Der Proz ess des Alterns und damit des » Eine Phänomenologie des Bild? s {..] ist demnach eng 'Verbunden m it einer Phänomenologie des Text es.« sende Bedeutung visueller Medien, die ihnen methodisch zugemessen wird: Wurde das visuelle Medium zunächst als gleichwertiger Partner von Texten entdeckt, so sind es biologis chen u: : id sozia len Verfalls wird als gerechte Strafe gedeutet . Indem der Seher die Klagen der Köni g e, Kaufleute und 10 gegenwärtig primär visuelle A rtefakte, die unmittelbar Fenster zu vergangenen Wirklichkeiten öffnen. Der sozialgeschicht- ZNT 16 (8. Jg. 2005) liehe Ansatz, wie ihn Zanker und Bandinelli vertreten, stimmt der von Panofsky erhobenen Vorordnung des Textes vor dem visuellem Artefakt grundsätzlich zu, ist aber in seiner Deutung durchaus eigens zu würdigen: Er lässt sich grob einteilen in eine Richtung, die sich bildinternen Elementen widmet und Versatzstücke eines Bildes mit Rücksicht auf gesellschaftliche Bezüge erarbeitet, und eine, die ihr Augenmerk eher auf bildexterne gesellschaftliche Bestandteile des Kommunikationssystems richtet. So versuchen die einen das am Kunstwerk zu identifizieren, was auf konkrete gesellschaftliche, politische oder sozialgeschichtliche Textfakten außerhalb des Kunstwerks Bezug nimmt und arbeiten eher bildorientiert, während die anderen sich mit dem soziologischen Rahmen des Kommunikationssystems befassen und stärker textorientiert sind. Die Vorordnung des Textes vor den Bildquellen wird ansatzweise anhand der semiotischen Methode, gänzlich jedoch durch den konstruktivistischen Ansatz aufgehoben, der Texte und visuelle Artefakte als gleichberechtigte Formen sozialer Verständigung deutet. Dadurch wird einer kategorialen Trennung von Text und Sprache auf der einen Seite und Bild und der Kategorie des Kunstwerks auf der anderen Seite der Boden entzogen. Eine Phänomenologie des Bildes, wie sie L. WIESING beschreibt, ist demnach eng verbunden mit einer Phänomenologie des Textes. Nicht allein, »wie« wir »was« sehen, ist durch die textuellen Kontexte des Gesehenen kontaminiert, sondern vielmehr erhält auch das, was wir wie scheinbar selbstverständlich lesen, durch das einen anderen Sinn, was wir sehen. Anmerkungen 1 L. Wiesing, Phänomene im Bild (Bild und Text), München 2000, 61. Ausführlich diskutiert haben wir die folgenden Ansätze in: A. Weissenrieder / F. Wendt, Images as Communication. Introduction into the Methods of Iconography, in: dies./ P.v. Gemünden (Hgg.), Picturing the New Testament. Studies in Ancient Visual Images (WUNT II,193), Tübingen 2005, 3-49. Für die Beratung in ikonographischen Fragestellungen sind wir Frau Prof. Dr. Barbara Borg (University of Exeter) zu Dank verpflichtet. 2 Vgl. den weiterführenden Beitrag von H.-J. Klauck, Die J ohannesoffenbarung und die kleinasiatische Archäologie, den er uns freundlicherweise vor der Drucklegung überlassen hat (Vortrag auf der Jahrestagung der katho- ZNT 16 (8.Jg. 2005) Ann e tt e Weissenri eder / Friederike Wendt Phänomenologie des Bildes lischen deutschsprachigen Neutestamentler in Fribourg / Schweiz 2005). Zusammenfassend stellt er fest: »Die Vergangenheit hat Zeichen und Spuren hinterlassen, die in unsere Vergangenheit hineinragen. Wir benutzen sie, um Geschichte zu rekonstruieren[ ...]. Aber es besteht rein wissenschaftstheoretisch gesehen kein Grund, ein Zeichensystem gegenüber einem anderen zu privilegieren, etwa den Text gegenüber dem Bild, das Pergamentblatt gegenüber dem Stein, [... ].Wir stecken noch mitten in der Debatte um das Konzept der Intertextualität, das in aller Munde ist, ohne dass die Konturen einer angemessenen Methode scharf umrissen wären. Streng genommen müssten wir das alles noch einmal auf eine höhere Ebene verlagern, die man vielleicht als lnsignifikation bezeichnen könnte.« (S. 14) 3 Art. Panofsky, Erwin, Lexikon der Kunst 5 ('2004), 406- 407. Vgl. L. Hajen/ T. Janssen, Die doppelte Heimkehr. Ernst Cassirer und Aby Warburgs Bibliothek, Dialektik (1995), 31-36. 4 E. Panofsky, Ikonographie und Ikonologie, in: E. Kaemmerling (Hg.), Ikonographie und Ikonologie. Theorien - Entwicklung - Probleme. Bildende Kunst als Zeichensystem, Bd. 1, Köln ' 1994, 207-225. 5 E. Panofsky, Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst, in: Kaemmerling, Ikonographie 185-206, 200. Dort auch das folgende Zitat. 6 R. v. Bendemann, »Lebensgeist kam in sie ... « - Der Ezechielzyklus von Dura Europos und die Rezeption von Ez 37 in der Apk des Johannes. Ein Beitrag zum Verhältnisproblem von Ikonizität und Narrativität, in: Picturing the New Testament, 253-286. 7 Vgl. 0. Keel, Das Recht der Bilder, gesehen zu werden. Drei Fallstudien zur Methode der Interpretation altorientalischer Bilder (OBO 122), Freiburg 1992, 267-273; vgl. zum Programm: Ch. Uehlinger, Die »Freiburger Schule«: Ikonographische Forschung am Biblischen Institut der Universität Freiburg, Internetpublikation der Universität Freiburg, Departement für Biblische Studien; Ikonographie, Biblische (S. Schroer) (NBL 2), Düsseldorf/ Zürich 1995, 219-226. Freilich gab es auch vorher schon Ansätze, Bilder und biblische Texte miteinander ins Gespräch zu bringen, vgl. Weissenrieder / Wendt, Images, Anm. 27. Zur Panofskyrezeption in der »Freiburger Schule« vgl. Weissenrieder / Wendt, Images, I.2. 8 Ch. Uehlinger, Bildquellen und »Geschichte Israels«. Grundsätzliche Überlegungen und Fallbeispiele, in: Ch. Hardmeier (Hg.), Steine - Bilder - Texte. Historische Evidenz außerbiblischer und biblischer Quellen (ABG 5), Leipzig 2001, 25-77. 9 G. Theißen, Das »schwankende Rohr« (Mt 11,7) und die Gründungsmünzen von Tiberias, in: ders., Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien. Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition, Freiburg (Schweiz)/ Göttingen 2 1992, 26-44 ( = überarb. Fassung von: ZDPV 101 [1985] 43-55). Für das Folgende vgl. Theißen, Das »schwankende Rohr«, 32-34.40. 10 Vgl. R. Bianchi Bandinelli, L'arte romana nel centro del potere, Rom 1969 = Rom - Das Zentrum der Macht. Die römische Kunst von den Anfängen bis zur Zeit Marc Aurels, München 1970; F. Coarelli, Classe dirigente romana e arti figurative, Dialoghi di Archaeologia 4-5 (1970/ 71 ), 24 lff.; P. Zanker, Augustus und die Macht 11 Neues Testame nt aktuell der Bild er, : \1ünchen ' 1997; P. Zanker, Hellenismus im Mittelitalien. Kolloquium Göttingen (1 974), Göttingen 1976. 11 Zanker, Augustus und die Macht der Bilder, 329. 12 H.O . Maier, Barbarians, Scythians and Imperi a_ Iccnography in the Epistle to the Colossians, in: Picturing the New Tes t aoent , 385 -406. 13 T. Hö lsch er, Bilderwelt, F ormensys te m, Lebensku~tur, Studi Ita li ani di Filologia Classica 10 (19 92 ), 460-483 : 472 . Vgl. zum Folgenden auch : C h.S . Peirce, Semiotische Schrif: e n, 3 Bände, Frankfurt a.M . 1986-1 99~; L. Schneide: : - / B . Feh r/ K.-H. N. : e yer, Zeic hen- KommJni kation - Interaktion. Z ur Bedeutung von Zeichen-, Kommunikations- und Interaktionstheo rie für die Klassische A: : -ch äologie, Hephaistos 1 (1979), 7-41 ; K.-H. Meyer, Semiotik, Ko mmunikationswissensch aft und Kun.stgeschichte, H ephaisto: ; 1 (1979), 42-60; A. Schelske, Die kulturelle Bedeutung von Bildern. Soziologi,che und semi ot : sche Überlegungrn zur vtsuellen Ko mmunikation, Wiesbad en 1997, und Weissenrieder ,'Wendt, Images III. Vgl. zu 1. den n ützlichen Überblick bei G . Sonesson, : : )ie Semiotik des Bildes: Zum Forschu: : igsstand am Anfang der 90er Jahre, Semiotik 15 (1 <; 93), 127-160. 14 F. Saint-Martin, Introduction to a Semiology of Visual Language, Toronto 1985 und ders ., Semiologie du langage visuel, Quebec 1987. 15 Hö lscher, Bildwerke: Darstellungen, Funktionen, Botschaften, 164. 16 H ölscher, Bilderwelt. Allerdings lässt sich fragen, ob Hö lschers Umsetzung nicht vielmehr als Anschluss an Panofsky zu deuten ist. 17 L. Guiliani, Bildnis und Botschaft. Hermeneutische Untersuchungen zur Bildniskunst der römischen Republik, Frankfurt a.M. 1986. 18 G. Elsen-Novak/ M. Novak, »Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater ist der Weingärtner«. Zur Semio tik des Weinstocks in Joh 15,1-8 aus Sicht der Altorientalistik, in: Picturing the New Testament, 183-206. 19 Vgl. dazu gru ndlegend: R. van de: : r Hoff/ St. Schmidt, Konstruktionen von Wirklichkeit: Bilder im Griechenland des 5. und 4. Jahrhunderts v.Chr ., Stuttgart 2001; Weissenrieder/ Wendt, Images IV. 20 H . Roo se, The Fall of the »Great Harlot« and the Fate of the Aging Prostitute. An Iconographic Approach to Revelation 18, in: Picturing the New Testament, 228- 252 . Jak~obus-Studien 12 Hedwig Röckelein (Hrsg.) Der l(ult des Apostels Jakobus d.Ä. in norddeutschen Hansestädten Jakobus-Studien 15, 2005, IV, 250 Seiten, div. Abb.,€ 42,-/ SFr 72,50 ISBN 3-8.233-6039-6 Band 15 der Ja kobus -S tudien dokumentiert erstmals den Kult um den Apostel Jakobus d.Ä. und die Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela aus norddeutscher Sicht. In den Blick genommen werden v.a. das Bürgertum und die Mittelwie Unterschichten der Hansestädte, die das größte Kontingent der Santiagopilger seit dem 14. Jahrhundert stellten. Ihre spezifischen Reisewege zu Wasser und zu Land entlang der Routen des Fernhandels kommen dabei ebenso zur Sprache wie die für die norddeutschen Städte typische Überlieferung de r t esta: nentarischen Verfügungen. Neben den wirtschaftlich und politisch h erausragenden Hansestädten Hamburg, Lübeck. Rostock und Stralsund richtet sich der Fokus "'"uc.: i auf die kleineren, binnenländischen Hanse=i Duderstadt u nd Göttingen. Mit der Erforschung des Familiennamens »Jakob« und der digita en Karti ernn g des Kultes werden neue Methoden erprobt. Narr Francke Attempto Verlag Disd1ingenveg 5 · D-75070 Tübingen ZNT 16 (8. Jg. 2005) Zum Thema Volker A. Lehnert Die >Verstockung Israels< und biblische Hermeneutik. Ein exegetisches Kabinettstückchen zur Methodenfrage Die Auslegung der biblischen Verstockungsaussagen, vor allem der Funktion von Jes 6,9f. in Mk 4,10-12; Joh 12,39f. und Apg 28 ,26f., ist seit langem umstritten und provoziert immer wieder neue exegetische Versuche.' Interessanterweise differieren die erzielten Ergebnisse bisweilen erheblich. Ende der Erwählung Israels? Traditionell wird der Indikativ Futur in Apg 28,27 »ich werde heilen « abhängig von der Konjunktion »damit nicht« als Ersatz für einen Konjunktiv aufgefasst. Zu übersetzen wäre dann »damit sie nicht etwa sehen ..., umkehren und ich sie heilen würde« . Theologisch würde dies bedeuten, dass die Verstockung Israels für Lukas prädestiniert wäre, Israel nach Apg 28 keine Heilszukunft zukäme und der lukanische Paulus mit eschatologischen Perspektiven auf der Linie von Röm 9-11 reichlich wenig im Sinn gehabt haben kann. So behauptete jüngst JACOB JERVELL nochmals in seinem Acta-Kommentar, in Apg 28 ginge es »um die endgültige Verstockung. [...] Jetzt ist das Urteil über das gesamte unbußfertige Judentum endgültig. Alle Juden überall in der Welt haben das Evangelium gehört. Jetzt gilt es Rom und dem Westen, und damit ist das Schicksal des ganzen Weltjudentums besiegelt. [. .. ] Eine zukünftige Bekehrung Israels, so wie Röm 11, ist ausgeschlossen« .2 Im Folgenden werden drei neuere Ansätze zur Lösung dieses Problems vorgestellt mit drei unterschiedlichen Ergebnissen. Die Betrachtung ihrer Gemeinsamkeiten und Unterschieden sowie der faktischen Präjudizierungen theologischer Ergebnisse durch methodische Vorentscheidungen entpuppt sich als bibelwissenschaftliches Kabinettstückchen, nicht nur für exegetische Proseminare, denn zwei Vorschläge kommen mit verwandter Methodik zu gegensätzlichen Ergebnissen und zwei kommen mit unterschiedlichen methodischen Zugängen zu einem ähnlichen theologischen Ertrag. ZNT 16 (8 . Jg. 2005) 1. Was Lukas nicht sagt, meint er auch nicht 1998 erschien GÜNTER WASSERBERGS Studie »Aus Israels Mitte - Heil für die Welt«. 3 Hier erfährt das lukanische Werk eine theologische Aufwertung durch eine narrative Betrachtungsweise (narrative criticismJ: Lukas rückt in eine größere Nähe zu Paulus als es der traditionellen deutschsprachigen Exegese bisher lieb gewesen zu sein scheint und die immer wieder bemüht war, eine deutliche Distanz zwischen Lukas bzw. dem lukanischen Paulus und dem Paulus der Briefe herauszustellen. Zwei Aspekte seien herausgegriffen: a) Wasserberg legt Apg 28,16ff. >textimmanent< aus: »Was Lukas sagen will, hat er gesagt. Alles darüber Hinausgehende bleibt Spekulation« (114). Es gibt daher keinen Grund, Apg über »das literarische Ende hinaus « zu deuten, denn »was bislang noch nicht gesagt worden ist, wird auch nicht mehr gesagt« (71) . Zu interpretieren ist ausschließlich das explizit Gesagte bzw. Geschriebene. Da der Text abbricht, ist es für Wasserberg müßig, über irgendwelche fiktiven Fortsetzungen oder verborgene Intentionen des Lukas zu spekulieren. b) Wasserberg bezieht das Verstockungswort Jes 6, 9f. auf die ,jesusungläubigen Juden, die aufgrund göttlicher Verstockung nicht glauben< (115). Die lukanische Erzählung diene der theologischen Erklärung der faktischen jüdischen Ablehnung des Evangeliums in der Erzählgegenwart. Die Frage der weiteren politischen oder eschatologischen Zukunft Israels interessiere Lukas nicht (365) . Wasserbergs Ansatz geht im Grundsatz davon aus, dass Lukas das, was er meint, auch in irgendeiner Form sagt. Sprechakttheoretisch heißt das: Die dem Text zu Grunde liegende Illokution ist aus dem Oberflächentext in irgendeiner Weise auch direkt abzulesen. 2. Was Lukas meint, sagt er nicht Ich selbst habe 1999 meine Studie »Die Provokation Israels « 5 vorgelegt, in der ich die Rede von 13 Z um Th ema der Verstockung textpragmatisch ucd lese : orientiert vom hermeneutischen Ansatz WOLFGANG lSERS 6 he r interpretiere. Dabei komme icl: ebenfalls zu d em Ergebnis, da : ,s Luhs theologisch aufzuwerten und in größerer N ähe zu Paulus zu verort en ist: Zu den beiden ang espro chenen Aspekten im einzelnen: a) Zur Frage d es offenen Schlusses und der In terpret ati on von Apg 28,1 6ff. lautet meine These: »Der Ab bruch der Apg in der Spannung eines offenen Schlusses [...] ste lli: le serorientiert einen Rezeptions spielraum im Si nn einer Leerst elle zur Verfügung, die das , was sie will, gerade nie t sagt, sondern als Schlussfolgernng dem Leser nfgibt« (272) . Da der Text so abrupt abbr i cht und mehr Fragen offen lässt als beantwortet, mus s es sich um einen sogenannte n >offenen Schluss< und bei der Apg entsp rechend um ein >offenes Kunstwerk/ handeln, das nicht-artikuli erte Dimensionen rezeptionsästhetisch zu einer gleichsam ko ns truktivistischen Vervollständig ng durch die Leser zur Verfügung stellt, die aber g,erade keine Spekulation, sondern vieimehr eine sub : i l geplante Komplettierung des Textes darstellt. tische Behandlungsform der Symptomverschreibu n g, die u.a. von PAUL WATZLAWICK kommunikationstheoretisch reflektiert wurde. So berichtet er v on einer Pat ientin, die nicht ,Nei n-Sagen< konnte. Der Therapeut forderte daher alle Teilnehmer einer Gruppe auf etwas zu verneinen. Da sie das nicht vermochte, lehnte sie die Verneinung kategorisch ab, ohne zu merken, dass sie gerade darin eine Verneinung vollzog. Sie hatte durch Verneinung des ,Nei n-Sagens< das ,Ne in-Sagen< gel ernt. Nicht dem Begriff, aber der Sache nach war diese Tech nik bereits in der Antike bekannt. So kennt etwa QUINTILIAN die sogenannte >Antiphrasis< als Technik: »das Gegenteil von dem zu sagen, was man verstanden wissen will« (Inst IX 2,50) . Emotionaler Wide rspruch zur Behauptung des angeblichen Verstocktseins stellt also bereits einen ersten Schritt zu dessen Überwindung dar. Dazu passt, dass in Bezug auf das Rezeptionsumfeld des lukanischen Werkes in neuerer Zeit der jüdische und judenchristliche Anteil wieder größer eingeb) Da s Vers tockungswort J es 6, 9f. beziehe ich wie Wasserberg auf die ni cht an Jesus glaubenden Juden , allerdings mit dem Zi el eines ra dikalen » Zu interpretieren ist daher nicht nur das Gesagte, sondern auch d,as "Jtlicht-Gesagte, aber sehr wo hl indirekt Gemeinte.« schätzt wi rd. 9 Das gesamte Repertoire des Lukas (bes. Lk 1-2) einschließlich semer LXX- Kenctnisse weist auf seine tiefe Verwurzelung im Judentum hin. Seine Leser er- Umkehrruf es im Sinne einer >parad oxen Interventio n-: (252ff.). Die Verstockung in der Erzählgegenwart soll nicht in erster Linie er~-därt, sondern durch rh etorische Pro vokati on überwunden werden. Zu paraphrasieren i st mit ironi sch em Unterton: »Macht nur weiter so, dass ihr n ur nicht umkehrt und i: h euch heilte ... «. Hier rückt Apg 28,26f. in die Nähe von Röm 11 ,7-14 wo ja in V.8 auch auf J es 6,9f. ange spielt wird. Der Paulus des Römer br iefe s "errät iier geradezu explizit, wa s der lukanis che Paulus insgeheim be zweck t. Die Fesdegung auf d: e Verstockung e ntpuppt sich im Sinne einer ,Symptomverschreibung< als eine rhetorische provoccitio zur Umkeh r, denn sie provoziert den Widerspruch der Leser zum G elesenen.. Paradoxe lnter-,ention s ucht das zu Überwindende bewmst hervorzubringen, um es genau dadurch zu überwinden. Der moderne Begriff der >Paradc-xen lr: tervention<8 stammt au s der Suggestivtherapie. VI KTOR FRANKL entwickelte daraus die spezielle therapeu- 14 warten und verstehen bibliseh e Argumentation, müssen also mit der LXX vertraut sein. In den Reden der Apg wird nur ein einziges Mal ein Römer angesprochen (Apg 24), ansonsten sind immer Juden die Adressaten. Die Verteidigung des Christentums erfolgt also nicht Rom, sondern dem Judentum gegenüber. Analog zu r alttestamentlichen Unheilsprophetie wären damit die harschen Verstockungsaussagen nicht als heidenchristlicher Antijudaismus, sondern als Fo rm innerjüdischer Polemik und prophetischer Se lbstkritik Israels zu verstehen. Zu interpretieren ist daher nicht nur das Gesagte, sondern auch das Nicht-Gesagte, aber sehr wohl indirekt Gemeinte . Sprechakttheoretisch heißt das: Die dem Text zu Grunde liegende Illokution ist aus dem Oberflächentext indirekt zu erschließen. ' 0 Obwohl die beiden Arbeiten hermeneutisch unterschiedlich ansetzen, haben sie große Gemeinsamkeiten bei teilweise gegensätzlichen Er gebnissen: ZNT 16 (8.Jg. 2005) Volker A. Lehnert Dr. Volker A. Lehnert, Jahrgang 1960. Studium der Ev. Theologie in Wuppertal und Bonn, Pro motion 1999 in Wuppertal mit einer Studie zur neutestamentlichen Textpragmatik am Beispiel von Jes 6,9f. bei Markus und Lukas. Von 1988 bis 2001 Pfarrer in Neuss. Vortragstätigkeit in der theologischen Erwachsenenbildung. Diverse Veröffentlichungen (www.lehnertneuss.de). Seit 2001 Aus - und Fortbildungsdezernent der EKiR. Beide Arbeiten erschienen fast zeitgleich. Beide Arbeiten erweitern das gängige methodische Repertoire. Beide Arbeiten werten Lukas theologisch auf und rücken ihn wieder in die Nähe des Paulus. Beide Arbeiten sind israeltheologisch wichtig. Beide Arbeiten stehen im Gespräch mit internationalen Entwürfen, z.B. von TANNEHILL, MARGUERAT und BRAWLEY, die alle zum Schluss der Apg gearbeitet haben, ebenfalls mit unterschiedlichen Ergebnissen. 11 Während aber die narrative Methodik interpretieren will, was da steht, sucht die textpragmatische Methodik nach dem, was drin steht. 12 3. Lukas meint, was er sagt Im Jahre 2000 veröffentlichte MARTIN KARRER in der Festschrift für Jürgen Roloff einen Beitrag zu Jes 6,9f. in Apg 28,26f. 13 Karrer findet nun das, was Lukas nach Wasserberg angeblich überhaupt nicht, nach Lehnert dagegen indirekt sagt, im Text direkt, indem er nämlich den Indikativ Futur »ich werde heilen« (Apg 28,27) als echten Indikativ versteht und nicht im Anschluss an »damit nicht« als Ersatz für den Konjunktiv (257ff.). »Apg 28,27 (nach J es 6, 10 LXX) teilt die reale Erwartung im ZNT 16 (8. Jg. 2005) Volker A. Lehnert Die >Verstockung Israels< und biblische Hermeneutik Indikativ Futur« (258). Dann wäre zu übersetzen: »und ich werde sie heilen« oder paraphrasiert »ich aber werde sie trotz allem heilen«. Damit führt der lukanische Paulus die paulinische Israeltheologie nach Paulus weiter. Lukas vertritt zwar eine »Theologie der Skepsis gegenüber Israel, aber eines noch größeren Zutrauens zum Gott Israels für Israel« (271). Blendet Lukas nach Wasserberg die Zukunftsfrage für Israel aus, so kommen Karrer und ich kurioserweise trotz unterschiedlicher methodischer Vorgehensweise zu einer ähnlichen theologischen Aufwertung des Lukas, der entweder Umkehr provoziert (Lehnert) oder sogar explizit Zukunft verheißt (Karrer), in jedem Falle also das Heil Israels im Blick hat. 4. Lukas meint mehr, als er sagt Mit dieser Erkenntnis hat die Lukasexegese eine Interpretationsfährte wiederentdeckt, die bereits in der jüdischen Rezeptionsgeschichte von J es 6,9f. angelegt ist, wie MARTIN VAHRENHORST im Jahre 2001 zeigen konnte. 14 In neutestamentlicher Zeit wird nämlich J es 6, 9f. nirgends negativ als ein »auf Vernichtung zielendes Verstockungsgericht« zielender Text gelesen (150). Rabbinische Auslegung vernimmt aus Jes 6,9f. sowohl einen Umkehrruf als auch ein heilende Sündenvergebung verheißendes Heilswort (157; Belege dort). Jüdische Auslegung hört aus den Texten immer ein positives Mehr heraus. Es gibt gar keinen Grund anzunehmen, dies sei bei Lukas nicht der Fall, zumal die gleichen Argumente, die für eine jüdisch geprägte Leserschaft anzuführen sind auch für eine jüdische, zumindest aber stark jüdisch geprägte Identität des Lukas sprechen. 15 5. Lukas deutet an, was er nicht sagt, aber dennoch meint Auch wenn WASSERBERG der Meinung ist, Lukas gewähre seinen Lesern keinen »verheißungsvollen Ausblick auf jüdische Annahme christlichen Glaubens« (355) - und im Sinne direkter Explikation hat er zweifelsohne recht so lassen sich doch deutliche Indizien dafür benennen, dass Lukas sehr wohl eine eschatologische Zukunft 15 Zum Thema Israels kennt und diese sogar in Andeutunger_ zu erkennen gibt. Dies hat sehr eindrücklich MICHA - EL HOFFMANN in ~einer bisher leider viel zu wenig beachteten Arbeit »Das eschatologische Heil Israels nach den luka: 1ischen Schriften« 16 gezeigt- So ist die Zeit des Gerichte: ; nach Lk 13,34f. ausdrücklich begrenzt, ebenso wie in Lk 19, 11-27, das nicht isoliert vo n der Verkündigung im Tempel (Lk 21,24b) gelesen werden darf. Lk 24 ,21; Apg 1,6f. u: 1d 24,21 belegen explizit die Reichs hoffnung für Israel und die WiederbringuEg >al ler Dinge< (Apg 3,19 -21 ) wird Israel kaum ausschließen, im Gegenteil, das in diesen Versen verwer_dete Vokabular schließt assoziativ an Jer 16,15; 24,6 und 27,10.19 (LXX) und damit an den Kontext der Rückführung Israels aus dem Exil an. In Apg Lehnert) differieren theologisch, die theologisch konvergierenden Untersuchungen (Lehnert, Karrer) differieren methodisch. Eindrücklicher als an diesem exegetischen Kabinettstückchen kann man den unauflösbaren Zusammenhang von wissenschaftlicher Methodik und theologischer Erkenntnis kaum demonstrieren. 7. Einige Konsequenzen Für das theologische Geschäft ergeben sich daraus meines Erachtens unter anderem folgende Schlussfolgerungen: 1. An dem vorgeführten Beispiel zeigt sich besond ers deutlich, in welch hohem Maße die hermeneutische und methodi- 15,15 -18 sc ~1.l ießlich wird die endzeitliche »Wiederaufrichtung J erusalems « (177) ausdrücklich ve rheiß en. D iese Lesehinweise suggerie ren mehr oder weniger subti~die positive Verhe ißung, die sich hinter der vermeintlichen Negativaus,age von Apg 28 verbirgt, g; ; ,nz im Sinne von » An dem 1.: orgeführten Beispiel zeigt sich besonders deutlich, in welch hohem Maße die hernu: netttische und methodische Vorentscheidung das Ergebnis der Exegese pri: ijudizieren kann.« sche Vorentscheidung das Ergebnis der Exegese präjudizieren kann. Die Wahrheitsfrage kann also unterschwellig von der Methodenfrage dominiert werden. Allein schon diese Einsicht müsste eigentlich automatisch zu ei- N edarim 1la: »Aus dem Nein hörst Di: . das Ja. « 6. Methodik nd Theologie Diese Beispiele mögen genügen. Las die klccssi~che Auslegung Apg 28,26f. theologisch als Ende der Erwählung Israels, indert sie die Verstockungsaussage n 1direkt u nd wönlich auffasste (Gnilka, Jervell), so vermag eine textpragmatische Betrachtung, die mi t indirekten und paradoxen Si nn- und Wirkpotenzialen rechnet, Negativprognosen einen positiven rh etorisch,: n Sinn abzugewinnen. Wasserberg und Karrer gehen von dem Text aus, wie er dasteht, sind allerdings untersch: edlicher Meinung über das, was denn dastehe, u: 1d kommen daher zu gegensätz lichen Deutung~n. Ich gehe im Unterschied zu Karrer von einem nicht direkt dastehenden Sinnpotenzial aus, komme aber kurioserweise zu einem vergleichbaren theologischen Ergebcis wie er. Die sich method: sch näherstehenden Untersuc hu ngen (Wasserberg, 16 ner hermeneutischen Selbstrelativierung im Sinne von lKor 13,9 führen: »Unser Erkennen ist Stückwerk«. 2. Die Unterscheidung zwischen Gesagtem und Gemeintem sensibilisiert für das Erspüren von indirekten, rhetorischen und poetischen Sp rachformen. Dies mag man zwar einerseits als ein modernes Remake der alten Lehre vom mehrfac hen Schriftsinn bedauern, kritisieren oder gar ablehnen, anderseits aber befördert es dynamische und postmodern 17 andockfähige Auslegungsarbeit. Auch schafft es in gewisser Weise Fundamentalismusimmunität, ganz im Sinne von 2Kor 3,6: »Der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig«. Wissen wir doch schon spätestens seit der Satanshermeneutik aus der Versuchungserzählung (Mt 4,1-11 ), dass ein starres >es steht geschrieben< als undynamische Ausprägung eines vordergründigen und oberflächlichen >sola scriptura< noch lange keinen Weg ins Leben eröffnet. Satan zitiert hier die Schrift scheinbar wie Jesus, aber in Wahrheit doch ganz anders. Er klebt am Wortlaut, der ZNT 16 (8.Jg. 2005) sich immer auch einem Ungeist dienstbar machen lässt. Jesus bringt demgegenüber den Geist der Schrift zur Geltung und stellt auf diese Weise ihren Wortlaut in ein konstruktives theologisches Licht. Modem ausgedrückt: Jesus wusste, dass locutio und illocutio eines Textes noch lange nicht identisch sein müssen. 3. ULRICH KöRTNER hat sogar versucht, in solchen textpragmatischen und lesetheoretischen Phänomenen eine berechtigte Dimension der alten Inspirationslehre wiederzufinden, nun allerdings weniger auf der Autorals auf der Leserseite. Wenn sich Textbedeutung rezeptionsästhetisch je neu ereignet, entfalten sich textinhärente Sinnpotenziale nicht endgültig und zeitlos, sondern jeweils aktual. Die Inspiration läge dann nicht im vordergründigen Wortlaut des biblischen Textes, sondern in der durch diesen ausgelösten und konstituierten Wirkung, denn biblische Texte »bringen ihre Leser und Hörer wie Resonanzböden zum Schwingen und Klingen«. 18 Hier hätte auch der Geist seinen pragmatischen Ort. Im Falle des offenen Schlusses von Apg 28 wird die Israelfrage eben nicht abschließend beantwortet, sondern in paradoxer Weise geradezu aufgerufen. Durch das plötzliche Verschwinden Israels auf der narrativen Bildfläche wird nämlich die Frage nach dessen weiteren Ergehen für die Leser gleichsam doppelt virulent. 4. Für die Bibeldidaktik wäre somit der potenzielle Ereignischarakter der Textlektüre herauszustellen. Texte sind Sprachhandlungen, biblische Texte ganz besonders. Das >Wort< teilt nicht nur etwas mit (Information), sondern es teilt auch etwas aus bzw. bringt etwas hervor (Performati- Volker A. Lehnert Die >Verstockung Israe ls< und biblische Hermeneutik falls nicht immer, das was zu sagen ist, sondern spannender Unterricht arrangiert eine Art rezeptionsästhetische Rallye, in deren Verlauf bzw. an deren Ende die Lernenden sich das, was zu sagen gewesen wäre, selber gesagt haben werden, weil sie es gelenkt durch geschickte didaktische Settings selber haben entdecken können. Insofern verhält sich Apg 28 zur Röm 11 wie ein Unterrichtsentwurf zum Lehrerhandbuch, ein Arbeitsauftrag zum referierenden Vortrag oder ein narratives Rätsel zur seiner Auflösung. Das Gleiche gilt übrigens für den sekundären Markusschluss im Verhältnis zum Markusevangelium oder für die Heilsworte am Schluss der Unheilspropheten. In all diesen Fällen wird das Nicht-Gesagte der Vortexte sekundär expliziert, ihr Geheimnis gleichsam gelüftet. b) Homiletik: Die antike Gerichtsrede kannte solche rhetorischen Raffinessen gut. So warnt etwa CICERO davor, immer sofort die Intention einer Rede zu erkennen zu geben: »Wenn die ... sich ergebenden Folgen offensichtlich sind, haben wir es nicht nötig, immerzu Schlussfolgerungen zu ziehen« (Part XIII, 47). Nach dem Autor ad HERENNIUM kann eine Rede ihre Hörer auf eine Spur setzen und sie etwas vermuten lassen, »ohne dass der Redner es ausspricht«(Ad Her IV 54, 67). Entsprechend könnte die Wirkungslosigkeit so mancher Predigt auf den Effekt des >erklärten Witzes< zurückzuführen sein. Ein Witz entfaltet seine Wirkung >Lachen, nur dann, wenn seine Pointe im Kopf der Zuhörer on). Biblische Pragmatik entspricht demnach exakt dem Ereignischarakter des hebräischen Wortverständnisses. Bekanntlich >tut, ja das Wort (hehr.: dabar), was es >sagt, (vgl. Jes 55,lOf.). Im Falle von »Für die Bibeldidaktik wäre von alleine >zündet,. Tut sie dies nicht, würde eine Erklärung des Witzes zwar zu dessen Verständnis, wohl aber kaum mehr zum Lachen somit der potenzielle Ereignischarakter der Textlektüre herauszustellen.« Apg 28 tut es darüber hinaus sogar, was es nicht sagt! Dies zeitigt didaktische Konsequenzen für zwei Bereiche: a) Unterricht: Modeme Pädagogik hat dieses Prinzip längst erkannt. Lehren heißt nicht nur etwas mitteilen, lehren heißt Lernprozesse zu arrangieren, Spuren zu legen, Entdeckungen zu ermöglichen. Unterricht expliziert nicht, jeden- ZNT 16 (8. Jg. 2005) führen. Werden theologische Richtigkeiten einfach nur diskursiv vorgetragen und damit den Hörenden ihre sinnkonstituierenden Rezeptionsleistungen erlassen, um nicht zu sagen vorenthalten, werden Richtigkeiten schnell langweilig. Sie mögen möglicherweise sogar verstanden werden, nicht unbedingt aber führen sie zum Glauben in einen überkognitiven Sinn. Das zu häufig und immer wieder >erklärte< Gleichnis 17 Zum Thema entfaltet seine Wirkung a~s Sprac~ereignis eben genauso wenig w ie der zum fünften Mal >erklärte< Witz. Erklärungen können narrative Texte entleeren oder durch Verschieb-i.: .ng auf d ie distanzierte Metaebene entsc härfen . L ernen wir von Apg 28 wieder die Rhetorik der Provoka tion, d er mit >Salz gewürzten ede, (Kol 4,6) sowie die Kunst des offenen, ab er glei chwohl nicht beliebigen Schlusses, die C l: -_anc en au: f Erhöhung des durch unsere P r edigten generierten F unk enfluges (vgl. das >F euer< in L k 12,49) könnten durch~rus steigen. Das führt u m zu einem letzten Aspekt. 5. Ger ichtspredigt: Dass für manchen biblizistischen Hard liner Mt 25,31 -46 den hermeneutischen Hauptbezu gsr ahmen darstellt, ist theologisch und ho mi letis ch genauso so unvertretbar wie die prinzipi elle Ausblendun g des gesamten Gerichtskontextes in stark liberal geprägten Kontexten. Dass ein primär rhetorisches Verständnis der unbedingten Gerichtsprophetie deren theologischen Ernst ke: nesfalls elimin ie: t , habe ich am Beispiel de, J on abuches 2.n dernort s gezeigt. 19 I nsofern wär ': ! es vielleicht gu t und, im Sinne einer ganz eiger_en >Hermeneutik der Fremdheit" 20 nützlich, für Predigten auch w ie der unbedingte, provokante und zum Widerspruch reizende rhetorische Red e formen zu entdecken, die nicht sofort von der Fachwelt auf der Metaebene per rationalisie: -endem Diskurs eliminiert werden, nur um sich ihrer existenzi ellen Herausforderung nicht stellen zu müssen . Der Gottesfrage durch die Gerichtsmet a phorik e: nen le tzten Ernst bzw. eine ultimative Dimension zu verleihen, kann theologisch kau m ein Fehler sein, das Gegenteil dagegen sehr woh l. Und dass biLige Gnade nichts anderes ist als Ve: -r amschung biblischen Glaub ens bzw. Entschärfung der N; ; .chfolge, sollte uns spätestens seit Bonhoeffer klar sein. Nochmals: r hetorische Pro v okation verhindert das Begräbnis ein er dringlichen th eologischen Frage im Sarg ihr es Erledigtseins u nd regt dazu an, Möglic hk eiten il: rer Bea ntwort u ng auszuloten. K egatin ussagen steigern geradezu die Brisanz de„ Neg ie rten . D ie Negation nämlich ist eine subtile Art der Au f hebung des Verschwiegenseins des Verschwiegenen, denn die Leser sollen das »in der Negation Verschwiegene entdecken«.21 Am Beispiel von Apg 28: Das Thema Israel is t am Ende der Lektüre der Apostelgeschichte gerade nicht erle2igt, nein, recht verstau- 18 den ist seine Brisanz erheblich gesteigert gewor den. Insofern stellen provocatio und negatio eine Art >rhetorischen Wachmacher< dar und der Acta- Schluss ist alles andere als eine Schlussakte, die einen Prozess beendet, der ja im Übrigen noch gar nicht erzählt wurde. Ganz im Gegenteil, dieser Schluss provoziert einen neuer_ Anfang und setzt den bislang in Apg nicht erzäilten Prozess nun rezeptionsästhetisch als geistlichen Erkenntnisprozess in Gang, indem er in seinen Lesern eine neue Sensibilität (oder mehr ... ) weckt für die th eologische Frage schlechthin: die Zukunft der Verheißung Gottes für sein VoLd Anmerkungen 1 Grundlege nd: J. Gnilka, Die Verstockung Israels. Isaiahs 6,9-10 in der Theologie der Synoptiker (STANT 3), München 1961 und C.A. Evans, To See and Not Perceive. Isaiah 6,9-10 in Early Jewish and Christian Interpretation QSOT-Suppl. 64), Sheffield 1989. Vgl. auch G. Röhser, Prädestination und Verstockung. Untersuchunge n zur frühjüdischen paulinischen und johanneischen Theologie (TANZ 14), Tübingen/ Basel 1994. 2 J. Jervell, Die Apostelgeschichte (KEK 3), Göttingen 1998, 628. 3 G. Wassserberg, Aus Israels Mitte - Heil für die Welt. Eine narrativ-exegetische Studie zur Theologie des Lukas (BZNW 92), Berlin/ New York 1998 . 4 Wasserberg, Israels Mitte, 32ff. 5 V.A. Lehnen, Die Provokation Israels. Die paradoxe Funktion von Jes 6,9-10 bei Markus und Lukas. Ein t extpragmatischer Versuch im Kontext gegenwärtiger Rezeptionsästhetik und Lesetheorie (NTDH 25), Neukirchen-Vluyn 1999. 6 W. Ise r, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung, München 1976. 7 Vgl. hierzu U. Eco, Das offene Kunstwerk, 5. Aufl., Frankfurt 1990. • Vgl. P. Watzlawick, Die Möglicl: keit des Andersseins. Zur Technik der therapeutischen Kommunikation, 4. Aufl., Bern/ Stuttgart/ Toronto 1991, 79ff. und M.S. Palazzoli u.a., Paradoxon und Gegenparadoxon. Ein neues Therapiemodell fü r die Familie mit schizophrener Störung, 8. Aufl., Stuttgart 1993. ' Zur Literatur vgl. Lehnen, Provokation, 45. 278-285. 10 Die Textpragmatik findet inzwischen immer größere Akzeptanz. Zur Methodik Lehnen, Provokation, 49- 101 und M. Mayordomo-Marfn, Den Anfang hören. Leserorientierte EYangelienexegese am Beispiel von M atthäus 1-2, Göttingen 1998, 11-195. 11 Vgl. Lehnen, Provokation, 45-48. 12 Vgl. K. Barth, Der Römerbrief, 12. unv. Abdr. der Bearb. von 1922, Zürich 1978, XII. 13 M . Karrer, »Un d ich werde sie heilen«. Das Verstockungsmotiv aus Jes 6,9f in Apg 28,26f, in: Kirche und Volk Gottes, FS J. Roloff, Neukirchen-Vluyn 2000, 255-271. ZNT 16 (8.Jg. 2005) Volker A. Lehnert Die >Verstockung Israels< und biblische Hermeneutik 14 M. Vahrenhorst, Gift oder Arznei? Perspektiven für das neutestamentliche Verständnis von Jes 6 im Rahmen der jüdischen Rezeptionsgeschichte, ZNW 92 (2001), 145- 167. 19 Lehnen, Provokation, 92-101.156ff.; ders., Wenn der liebe Gott ,böse< wird - Überlegungen zum Zorn Gottes im Neuen Testament, ZNT 9 (2002), 19f. 15 Lehnen, Provokation, 278-285. 16 M. Hoffmann, Das eschatologische Heil Israels nach den lukanischen Schriften, Diss. Masch, Heidelberg 1988. 20 Vgl. K. Berger, Hermeneutik des Neuen Testaments, Tübingen / Basel 1999, 76ff. 17 Vgl. A. Grözinger, Die Kirche ist sie noch zu retten? Anstiftungen für das Christentum in postmoderner Gesellschaft, 3. Aufl., Gütersloh 2000, bes. 23ff. sowie I. Reuter, Predigt verstehen. Grundlagen einer homiletischen Hermeneutik (APTh 17), Leipzig 2000. 21 Iser, Der Akt des Lesens, 328. Vgl. G. Stickel, Einige syntaktische und pragmatische Aspekte der Negation, in: H. Weinrich (Hg.), Positionen der Negativität, Poetik und Hermeneutik, Arbeitsergebnisse einer Forschungsgruppe VI, München 1975, 17-38. Ein schönes Beispiel zur Pragmatik der expliziten Negation im Munde Jesu findet sich in Mk 11,27-33; dazu Lehnen, Provokation, 89. 18 U.H.J. Körtner, Der inspirierte Leser. Zentrale Aspekte biblischer Hermeneutik, Göttingen 1994, 86. Martin Stiewe / Franc; ois Vouga Das Evangelium im alltäglichen Leben Beiträge zum ethischen Gespräch Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 11, 2005, VIII, 413 Seiten, € 49,-/ SFr 84,- ISBN 3-7720-8134-7 Die meisten ethischen Diskussionen konzentrieren sich auf Grenzgebiete, die schwierige Entscheidungen betreffen und neue Reflexionen verlangen. Der Grundgedanke dieses Buches ist es dagegen, die Normalität des alltäglichen Lebens zum Gegenstand der theologischen Reflexion zu machen. Dabei kommen die Erfahrung der religiösen Pluralität, der Sinn der Arbeit und die Arbeitslosigkeit, der Umgang mit dem Geld und die Globalisierung der Wirtschaft ebenso zur Sprache wie das private Leben zu Hause, in der Familie und mit Freunden, Krankheit, Geburt und Tod, die Freizeit und die Spiritualität. Zu jedem Thema werden zentrale Texte des Neuen Testaments und klassische Texte der Theologiegeschichte, unter anderem der Reformatoren, aber auch von Augustin, Blaise Pascal, Friedrich Schleiermacher, Johann Christoph Blumhardz, Karl Barth oder des Zweiten Vatikanischen Konzils aktuell ausgelegt. Das Buch versteht sich so als konstruktiver Beitrag zu der Vielfalt der in der Gesellschaft stattfindenden Gespräche. Narr Francke Attempto Verlag Dischingerweg 5 · D- 72070 Tübingen ZNT 16 (8. Jg. 2005) 19 Zum Thema Michael Schneider / Leroy A. Huizenga Das Matthäusevangelium in intertextueller Perspektive Die Bezüge neutestamentlicher Texte zu anderen Texten waren schon immer Gegenstand exegetischer Forschung. Insbesondere zum Matthäus evangelium mit seiner groß en Zahl an Reflexionszitaten gib~ es verschiedene Arbeiten, die den Hintergrund und Kontexc dieser alttestamentlichen Ei mpielungen unte: : -suchen. Seieiniger Zeit wird nun auch im Rahmen i: heologischer Exegese mit dem literaturwissenschaftlichen Konzept »Intertextualität« gea: : -beitet, wovon mittlerweile eine ganze Reihe von Publikationen zeugt.' Grundlegende Annahme dabei ist, dass die Erforschung intertextueller Bezüge eines (biblischen) Textes immer die Textproduktion und -reze ption gleichermaßen im Blick haben soJ te. Welche Möglichkeiten ergeben sich aber speziell durch eine intertextuelle Lektüre des Matthäusevangeliums? Um diese Frage zu beantworten soll im Folgenden zunächst m it der grund legenden Katego risi erung intertextueller Perspektiven durch Stefan Alkier ein Modell vorgestellt werden, auf des s en Basis ganz unterschiedliche Fragen zu biblis chen Texten bearbeitet und verschiedene Intertextualität.skonzepte in ein Metakonzept integrie rt werd.en können. In einem weiteren S: : hritt werden einige Abschn itte aus dem Matthäusevangeliurn diskutiert, an denen sich die Tragweite dieses Intertextualitätskonzeptes demonstrieren lässt. Ziel der Darstellungen ist Die wesentliche Neuerung, die sich durch Aufnahme intertextueller Modelle für die Auslegung biblischer Schriften ergibt, zeigt sich in der Erweiterung der möglichen Textbeziehungen, die für eine Untersuchung in den Blick kommen. In vielen Predigten un d auch in einer ganzen Reihe von Unterrichtsentw ürfen zu biblischen Themen werden Texte zueinander in Beziehung gesetzt, ohne dass es für diesen Bezug eine erkennbare Intention eines Autors gibt. Mehr noch: Diese Frage scheint in diesen Zusammenhängen oftmals nicht in erster Linie von Belang. Gefragt wird dabei vielmehr nach in der Gegenwart oder Vergangenheit möglichen p lausiblen Zusammenordnungen von Texten und den sich daraus ergebenden Sinneffekten bzw. Interpretationen. Oftmals wird die Frage nach historisch realisierten Lektüren sogar vernachlässigt, wen n z.B. in einer Predigt ein Bibeltext mit der Lyrik des 20. Jahrhunderts ins Gespräch gebracht wird. Genau an dieser Stelle setzt das Intertextua litätskonzept an, das Stefan Als.ier in die exegetische Forschung eingebracht und weiter ent wickelt hat: Intertextuelle Lektüren lassen sich nicht nur aus produktionsästhetischen Gesichts p unkten untersuchen, es ist darüber hinaus unabdingbar, auch Möglichkeiten rezeptionsorientierter und experimenteller Intertextualität exegetisch zu reflektieren. Eingebettet ist sein Konzept in ein es, zu zeigen, dass mit derbtertextualitätsfor schung als Erweiterung des herkö m mlichen Methodenreperto ~res eine Lek nirepr axis in d en Blick wissenschaftlich-exegetischer Betrach tung kommt, die immer schon die Au slegung biblischer Texte in Gemeinde und Schule prägt. »Die we sentliche Neuerung, die sich durch Aufnahme inten; extueller Mo delle für die Auslegung biblischer Schriften e-rgibt, zeigt sich in der Erweiterung der möglichen Textbeziehungen, die für eine Untersuchung in den Blick kommen.« semiotisches Lektüremodell, das die Vernetztheit aller (sprachlicher) Zeichen untereinander ir. den Blick nimmt: »Ohne Paulus aus seinem jüdischen Kontext herauslösen zu wollen, macht es z.B. dennoch Sinn, seine Briefe auch im Zusammenhang mit latei nischer Literatur zu lesen, wie es Dieter Georgi provokativ 1. 20 Zeichen im Unive1rsum der Zeichen lntertextualitä1t a l: s sem iotische Theorie der Textbeziehun,1en vorgeführt hat. Ein anderes Beispiel: Die produktionsorientierte Fragestellung , wie arbeitet das Matthiusevangelium mit dem Buch Jesaja, wird von deo Paradigma Inter- ZNT 16 (8. Jg. 2005) Mi c h ae l Sc hne ider/ Leroy A. Huizenga Das Matthäu s evang e lium in intertextueller Perspektive Michael Schneider Michael Schneider, Jahrgang 1977, studierte Evangelische Theologie, Mathematik und Philosophie in Frankfurt am Main und Gießen. Nach der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien zunächst Wissenschaftliche Hilfskraft, dann Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neues Testament in Frankfurt. Arbeit an einer Dissertation zur Intertextualität im lKor. Weitere Informationen: http : / / www.evtheol. uni-frankfurt.de/ nt/ personen/ schneid er Leroy A. Huizenga Leroy Andrew Huizenga, Jahrgang 1974, studierte Theologie und Geschichte am Jamestown College (USA); 2001 M.Div. am Princeton Theological Seminary (New Jersey, USA). Seit 2001 Arbeit an einer Doktorarbeit (Duke Uni versity, Durham, NC) zum Thema Isaakrezeptionen im Matthäusevangelium. Arbeitschwerpunkte: Exegetische Methoden, Evangelienforschung, Auslegungs- und Interpretationsgeschichte. textualität ebenso abgedeckt, wie die rezeptionsorientierte Fragestellung, wie ein angenommener römischer Leser der Res Gestae des Augustus das Matthäusevangelium hätte lesen können. Es lässt ZNT 16 (8. Jg. 2005) sich aber auch rein textorientiert fragen, welche Sinneff ekte intertextuell erzielt werden können, wenn ein biblischer Text mit einem Text einer späteren Epoche oder auch mit einem Text unserer Gegenwart zusammengelesen wird. Entscheidend ist, dass die Einengung auf die Frage nach Genealogien und Analogien durch das Intertextualitätskonzept aufgesprengt wird, ohne diese Forschungshinsichten zu diffamieren.</ Für die Arbeit mit neutestamentlichen Texten in universitärer, kirchlicher und schulischer Praxis ergeben sich wesentliche Folgerungen aus dem Alkierschen Konzept: Texte stehen in mannigfaltigen Beziehungen zu anderen Texten, die durch ihre Produktion, ihre Rezeption oder auch aus rein »experimentellem« Interesse hergestellt werden können; diese Kategorien sollten für die konkrete exegetische Arbeit unterschieden werden. Auf der anderen Seite gilt es, alle drei Ebenen als für die Exegese relevant anzuerkennen. Verbunden mit diesem Konzept von Intertextualität ist eine Erweiterung der exegetischen Möglichkeiten und des Gegenstandsbereichs neutestamentlicher Forschung. Wenn die produktionsorientierte Perspektive eine, aber eben nicht die einzige Möglichkeit ist, sich wissenschaftlich mit Text-Text-Beziehungen auseinanderzusetzen, dann wird es zur Aufgabe der neutestamentlichen Wissenschaft, die Rezeptionsbedingungen und -möglichkeiten neutestamentlicher Texte kritisch zu begleiten. Ein weiterer notw endiger Schritt ist gerade auch im Gespräch mit anderen theologischen Disziplinen die Entwicklung von Kriterien, die eine angemessene Interpretation von einer weniger angemessenen bzw. Textinterpretation insgesamt von Textgebrauch unterscheiden. Mit Blick auf das Thema Intertextualität heißt das: Die vermeintlich rekonstruierte Intention des Autors und dessen intendierte Aufnahme von Praetexten kann nicht mehr als Garant für die richtige Interpretation eines Bibeltexts gelten. An diese Stelle tritt prinzipiell die Vorstellung von mehreren möglichen Interpretationen, wobei die Frage nach vertretbaren und angemessenen Deutungen auch und vor allem zu einer ethischen Entscheidung wird. 3 Die grundsätzliche Möglichkeit, ja Notwendigkeit verschiedener intertextueller Bezüge und daraus resultierender Textinterpretationen ist durch die für Alkier grundlegende Semiotik Charles Sanders Peirces, und zwar in der 21 Zum Thema Unterscheidung zwischen unmittelbarem und dynamischem Objekt bzw. zw ischen unmittelbarem, dynamischem u nd fi nalem Interpretanten an gelegt: »Während der unmittelbare und der d ynamische Interpretant in jed er Semiose gegeb en ist, ist d er f inale I n terp re tan t die re gula tive I dee ein er im umfas sendsten Sinn de s Wo rt es -wa hrrn Interpretation . Seine Wahrheit: be steht darin, dass er das dyn am: sche Objekt in jeder Hinsicht darstellt . Peirce zeigt sich hier als Vertreter ei: ier Variante der Korrespondenzthe ori e der Wahrheit. Peirc es semiotis che P ointe diese r Th eorie liegt darin, dass sie die Vielfalt der Interp retationen als notwendige Stationen auf dem W eg zur Wahrheit hin begreifen lernt, ohne eine ab solute B el iebigk eit zu favorisier en. I n the sh ort run aber kann k eine Interpretatio n beanspru chen, di e absolu te Interpretati o n z u sein. Si e kann nic ht: selbst zeigen, da ss sie dem dynamischen Objekt adäquat is t. Die Annäherung an den fin alen Interpr etanten kann nur eine Interpretations ge meinschaft in the lang run erreichen. Die rei; ulative Id ee des fi nalen Interpretanten schütz t vor jeglichen Aosolutheitsansprü o: : hen. « 4 Ohne an dies er Stelle weiter auf di e Methodendisku ssion zum Thema »Intertextualität« einzugehen, lässt sic h schon anh and dieser w enigen einführenden Bemerkungen ab lesen, dass mit diesem Schlagw ort nicht lediglich eine neue exe getisch e Me tl: . ode bezeichne t werden kann: »Intertextu alitä: ist keine Method e, sondern eine T heo rie bzw. eir: e Gruppe vo n Theorien, die sich mit der Produktion von Bed eutun g beschäftigen .«' Wir möcht en im Folgenden schlaglichtartig an einigen Stellen zeigen, welche intert ex tuellen Persp ektiven sich aus der Lektü re d es Matthäus evangeliums ergeben könne n. 2. lntertextuelle Lektüren zum Matt häusevangelium 2.1 Der R ahm en: Anf an g 1m d Sch luss des Matthäu se vangeliums Stefan Alkier hat sein eige nes ln tertextualitätskonzept am Beispiel des Matthäusprolo gs ausgeführt . Ausg ehend von de r G rund entsch eidung, M t 1 als -> intertextuelle Disp osition « des Te xt es zu lesen, ergeben sich na ch einer intratextu ellen 22 Lektüre, die versucht, »enzyklopädisches Wissen methodisch zu narkotisieren«,• eine Reihe offener Fragen: »1. Wie muss die Genealogie gelesen werden, damit die Aussage der dreimal vierzehn Generationen überhaupt zutrifft? 2. Warum wir d das Schema >a zeugte b, b zeu gte c< an einigen Stellen verlassen und was bedeuten dies e Zusatzinformationen? 3. Warum sind gerade Abraham, David und die babylonische Gefangenschaft so wichtig, dass si e zu Eckpunkten geo rdneter Geschichte werden? 4. Was erfährt man über die anderen Namen in der Genealogie? « Diese Fragen lassen sich zunächst bis zu einem ge wissen Grad intratextuell, d.h. im Rahmen der vo m Matthäusevangelium entworfenen Welt beantworten. Alkier zeigt dann, dass man in einer weiterführenden intertextuellen Lektüre, die sich in diesem Fall methodisch beabsichtigt zu n ächst einmal nur auf Bezüge zwischen Matthäusevangelium und Septuaginta beschränkt, wenigstens drei Funktionen der Matthäus -Genealogie erheben kann. Erstens zeigt sich in der Genealo g ie die über die Generationen nicht abreißende T re ue Gottes: Ein Leser, der die in Mt 1 aufgeführten Namen mit entsprechenden Erzählungen aus den Schriften Israels verbindet, erkennt eine dire kte Linie zwischen dem Geschlecht Abrahams über den König David bis hin zu Jesus, der »Immanuel« - »Gott mit uns« genannt wird. Weiterhin stellt sich die Genealogie als Sündenspiegel heraus: D ie von den Sünden befreiende Kraft Jesu C hristi wird nicht nur in Mt 1,21 explizit genannt, sondern durch sprachlich feine Anspielungen auf die E rzählungen von Juda und seinen Brüdern, di e Joseph verstoßen (Mt 1,2), auf den Ehebruch Davids (Mt 1,6: »mit der Frau des Uria«) oder auf die Tarnar-Erzählung (Mt 1,5) bereits zuvor angedeutet. Die Treue Gottes, die sich in der Genealogi e zeigt, wird von den genannten Personen immer wieder mit Übertretungen beantwortet. U nter der Frage »\Y./ er gehört dazu? « diskutiert Alkier sodann am Beispiel der weiteren in der Genealogie genannten Frauen Rahab und Rut sowie d er Abrahamsfigur die Zugehörigkeit zu Gottes Bund: »Nicht aufgrund menschlicher Abstammu ng und auch nicht auf der Basis irgendeines charakterlichen Vorzugs schließt Gott einen Bund mit dem Aramäer und lässt ihn zum Stammvater ZNT 16 (8. Jg. 2005) Michael Schneider/ Leroy A . Huizenga Das Matthäusevangelium in intertextueller Perspektive Israels werden, sondern allein aus Gottes Initiative kommt Abraham diese Gnade zu. Es ist Gott, der in die Erwählung ruft.« Die Ausführungen Alkiers verwenden letztlich in deutlich erweiteter Weise das von Richard B. Hays für das Vorliegen eines intertextuellen Echos genannte Kriterium availability, 1 fragen aber in erster Linie nicht danach, ob dem Autor oder den Erstlesern die angespielten Texte zur Verfügung standen, sondern welche Sinneffekte und Leseeindrücke sich daraus ergeben. Führt man die Überlegungen Alkiers zur Treue Gottes weiter, so entdeckt man, dass damit ein möglicher Rahmen für das gesamte Evangelium vorliegt: Mit dem »Gott mit uns« - »Immanuel« in Mt 1 korrespondiert das »Ich bin bei euch alle Tage« am Ende des Evangeliums (Mt 28,20b). Wie mit einem Modell rezeptionsorientierter Intertextualität innerhalb der kanonischen Grenzen neue, interessante Ergebnisse für die Exegese erschlossen werden können, zeigt wiederum Thomas Hieke am Beispiel desselben Kapitels (Mt 28): Im kanonischen Zusammenhang lässt sich Mt 28,20a »Und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe« als Aufforderung zum erneuten Lesen des Matthäusevangeliums, aber auch als Ausblick auf das folgende Markusevangelium lesen. 8 Damit wird keinesfalls der Anspruch erhoben, die ursprüngliche Pragmatik des Textes in der Kommunikation zwischen Autor und Erstleserschaft erhoben zu haben. Vielmehr werden bestimmte Lektüren gerade erst nach eben dieser ursprünglichen Kommunikationssituation möglich. Mit den Kategorien Alkiers lassen sich gerade diese unterschiedlichen Man kann eine Enzyklopädie einer bestimmten Textrezeption auswählen, und nach den von realen Lesern in der Rezeptionsgeschichte hergestellten intertextuellen Beziehungen fragen. Man kann aber auch experimentelle intertextuelle Lektüren erarbeiten und so z.B. das Diskursuniversum des Matthäusevangeliums mit Texten wie modernen Filmen oder Romanen erschließen; kanonische Lektüren fallen dabei unter die beiden letztgenannten Kategorien. Diese Kategorien sind hilfreich, denn sie bieten uns geeignete Termini zur Analyse der intertextuellen Disposition des Matthäusevangeliums sowie möglicher und realisierter intertextueller Beziehungen. Wie sehr Auslegungen des Matthäusevangeliums von unterschiedlichen intertextuellen Verknüpfungen und damit Enzyklopädien unterschiedlicher Zeiten abhängig sind, zeigen die beiden folgenden Beobachtungen. Beide haben gleichermaßen ihre Berechtigung, obwohl bzw. gerade weil sie auf der Basis ganz unterschiedlicher intertextueller Bezüge zu verschiedenen Ergebnissen kommen. 2.2 Der »leidende Gottesknecht« im Matthäusevangelium Die Interpretationsgeschichte des Matthäusevangeliums stellt sich oftmals als Geschichte methodisch nicht klar getrennter intertextueller Bezugsebenen dar. Auf der Basis experimenteller oder rezeptionsorientierter intertextueller Lektüren wurde immer wieder versucht, Aussagen auf der Ebene der Textproduktion zu treffen. Exegetische Studien arbeiten beispielswei- Ebenen möglicher Textbezüge klassifizieren. Alkier betont mit Rückgriff auf die Schriften C.S. Peirces, dass jeder Text - und damit auch das Matthäusevangelium eine eigene Welt, ein Diskursuniversum ent- » Die Interpretationsgeschichte des Matthäusevangeliums stellt sich oftmals als Geschichte methodisch nicht klar se häufig mit der impliziten Annahme des (modernen) biblischen Kanons für die Antike. Mehr noch: Sie setzen außerdem voraus, dass die kanonischen Texte in der Antike in der gleichen Weise wie in getrennter intertextueller Bezugsebenen dar.« wirft. Dass eine intertextuelle Lektüre die Welt des Textes in vielerlei Richtungen erschließt, hängt wiederum an der jeweils ausgewählten Enzyklopädie. Man kann eine bestimmte Enzyklopädie auf der Ebene der Textproduktion auswählen und so etwa nach der Wirkung fragen, die eine Lektüre des Matthäusevangeliums angesichts antiker jüdischer Schriften und Legenden hat. ZNT 16 (8.Jg. 2005) der Moderne gelesen wurden. In der Folge werden dann wirkungsgeschichtlich motivierte Lektüren als historische ausgegeben. Dieses Phänomen lässt sich auch in verschiedenen Arbeiten zur Figur des so genannten »leidenden Gottesknechtes« finden,9 die im Rahmen historisch-kritischer Exegese immer wieder zur Beschreibung des Christusbildes im Matthäusevangelium herangezogen wurde. Gestützt wurde 23 Z um T he m a dieser Anspruch auf die zwei Zitate aus den »Gottesknechtsliedern« des Jesajabuches Ges 53,4 in Mt 8,17 bzw. Jes 42,1-4 i. n Mt 12,17- 21 ). Durch das Zitieren diese: - Passag,~n habe Matthäus so die Schlussfolgerung -- J erns als »den leic.enden Gottesknecht« dargestellt. Grun annahme ist, dass die kurzen Z itate vom Leser als Ansrielung auf die Figur des leidenden Gottesknechtes aJer vier Lieder Qes 42, 1-4; Jes 49,1-6; Jes 50,4-10 und Jes 52,13-53,12) verstanden wird. Das setzt wiederum voraus, da~s der »lei dende Gottesknecht« sowohl dem Aut or Matth äus ; ; _ls auch seinen ersten Hörern und Lesern zur Verfügung stand. Bezüge zu Jesaja findet man im in den Schriften des frühen Christentums reichlich (vgl. z.B. lPetr 2,21-25, aber auch außerkanonisch z_B. Junin dem Märtyrer). Da der »l eidende Gottesknecht« zum Grundbegriff der mo dernen neutestamentlichen Forschung avanciene, überrascht es auch nicht, dass Exegeten dieser Figur eine en: sch eidende Rolle für die m,itthciische Christologie zuschrieben. Dass diese Position nicht unum, tritten ist, soll an einigen Punkten diskutiert werden. Erstens beruh t das moderne Verständnis der Knechtsfigur ein e messianische Figur, die st=11vertretend und erlösend leidet und stirbt auf einer heb r äischen Version J esajas, dem Masoretischen Text (MT). D ie alttestamentlichen Zitate im Matthäusevangelium un terscheiden sich Yon Grund auf vom MT, und zwar von allen uns bekannten alttestamentlichen Textformen. Das wiegt umso schwerer, wenn man bedenkt, dass andere antike Versionen Jesajas inhaltlich masüve Differenzen zum MT aufweisen. In der Septuaginta-Version von J es 53 will Gott nicht das Leiden des Knechts: • Jes 53,46 (LXX) lässt: die Phrase »vo: : 1 Gott geschlagen« weg, die der MT enthält_ • Jes 53,l0a (MT) schreib t: »So wollte ihn : : ier Herr zerschlagen mit Krankheit«, die LXX aber stellt diesen Satz auf den Kopf. Nach dieser griechischen Version will der Herr »ihn von seinem Unglück reinigen«. • Zudem scheint es, da ss der Knecht des MT stirbt: »Und man gab ihm sein Grab bei Gottlosen und bei Übeltätern, al s er gestorben wa« (j es 53, 9a[MT]. Wiederum ste ll t: die LXX das wf den Kopf: »Und ich werde ihm die Bösen anstatt seines Grabes und d : e Reichen anstatt seines To: : ies geben« Ges 53,9a [LXX] ). 24 • Vergleichbar ist die Darstellung im Jesaja- Targum: Alle Hinweise auf das Leiden der Knechtsfigur werden entfernt und auf die Gemeinde Israels oder deren Feinde übertragen (vgl. TgJes 53,4-5). Darüber hinaus ist eine klar definierte Knechtsfigur auch nicht in der außerkanonischen jüdischen Literatur zu finden, obwohl sich leichte Anspielungen auf die von uns so genannten Knechtslieder finden lassen. Zum Zweiten scheinen die beiden Jesaja-Zitate im Rahmen der Matthäus-Erzählung nicht in erster Linie die Identifikation »Jesus« - »leidender Gottesknecht« zu betonen. Mit der Aufnahme von Jes 42,1 -4 in Mt 12,17-21 wird vielmehr die Aufnahme der Heiden in das V: : ilk Gottes in den Mittelpunkt des Interesses gerückt: Jesus wird von Pharisäern bedroht (Mt 12, 1 4) die Drohung wird ihm bekannt (Mt 12,15) er entweicht (anechoresen, Mt 12,15). : : --Jun folgt ein Zitat aus Jesaja, das die Aufnahme der Heiden betont: »Und die Heiden werden auf seinen Namen hoffen« (Mt 12,21, vgl. Jes 42,4). Genau dasselbe Muster findet man in Mt 4: Jesus wird bedroht (Mt 4,1-1 1) es wird ihm bekannt, dass sein Wegbereiter Johannes der Täufer verhaftet wurde u: : 1d dass er daher selbst bedroht ist (Mt 4,12) er entweicht (anecho resen, Mt 4,12). Wiederum folgt ein Zitat aus Jesaja, das die Aufnahme der Heiden zum Thema hat: »Das Land Sebulon und das Land Naftali, das Land am Meer, das Land jenseits des Jordans, das heidnische Galiläa, das Volk, das in Finsternis saß, hat ein großes Licht gesehen; und denen, die saßen am Ort und im Schatten des Todes, is t ein Licht aufgegangen« (Mt 4,15-16, vgl. Jes 8,23-9,1). Durch die Aufnahme vonJes 42,1-4 in Mt 12,17- 21 soll Jesus in erster Linie also nicht als »leidender Gottesknecht« dargestellt werden, sondern als derjenige, der treu dient und dessen Mission die Heiden eines Tages einschließen wird (vgl. Mt 21,43; Mt 28,19). Wiederum ähnlich ist die Situation in Bezug auf die Einspielung von Jes 53,4a in Mt 8,17_ Angesichts der Tat sache, dass es wohl keine klare Vorstellung von einer Knechtsfigur bei den Adressaten des Matthäus gab, scheint es unwahrscheinlich, dass ein solch kurzes Zitat an diesem Punkt in der Erzählung die Figur des »leidenden Gottesknechts« in Erinnerung rufen konnte. Außerdem wird hier mehr die direkte Heilung und nicht eine stellvertretende geschildert. Die ZNT 16 (8 .J g. 2005) Micha e l Schneider/ Leroy A. Hui z enga Das M a tthäu sevange lium in intertextueller Perspektive Lutherübersetzung greift hier deutlich in den griechischen Text ein und übersetzt: »Er hat unsere Schwachheit auf sich genommen« (Einheitsübersetzung: »Leiden« statt »Schwachheit«). Die Phrase »auf sich genommen« steht so nicht im Matthäusevangelium, sondern nur das griechische Wort »elaben«. Wörtlich heißt diese Stelle daher: »Er hat unsere Schwachheiten genommen.« Erwähnenswert ist außerdem, dass in J es 53 (MT) der »leidende Knecht« stellvertretend leidet und Krankheiten auf sich nimmt. Im Matthäusevangelium dagegen heilt Jesus die Kranken, indem er ihre Krankheiten wegnimmt. Und schließlich beschreibt das Matthäusevangelium im Gegenüber zum MT eine physische Krankheit. Ulrich Luz schreibt: »Das Erfüllungszitat wurde oft überinterpretiert. Vom Kontext her, wo von der Souveränität des heilenden Jesus die Rede ist, kann elaben und ebastasen nur >wegnehmen< und >forttragen< bedeuten. [... ] Vom Leiden des Gottesknechtes ist also im matthäischen Kontext nicht die Rede. Dem entspricht der Zitatausschnitt. [ ... ] Unser Zitat ist ein Beispiel dafür, daß frühchristliche wie damalige jüdische Exegese einzelne Schriftworte manchmal(! ) völlig unabhängig von ihrem Kontext zitiert.« 10 Man muss zum Ergebnis kommen, dass es keine klar definierte und allgemein bekannte Knechtsfigur in der kulturellen Enzyklopädie des frühen Judentums gab. Außerdem haben die oben diskutierten jesajanischen Zitate selbst eher andere Funktionen als die Darstellung J esu als Gottesknecht. Wenn wir das Diskursuniversum des Matthäusevangeliums auf der Basis dieser antiken Enzyklopädie erschließen, müssen wir festhalten, dass Jesus die Rolle der Knechtsfigur nicht einnimmt. Die intertextuelle Disposition des Matthäusevangeliums innerhalb des kanonischen Zusammenhangs der Bibel regt jedoch eine kanonisch-experimentelle Lektüre an, die Jesus als den Knecht versteht. Wenn wir den Hinweisen des Matthäusevangeliums, also den zwei Jesaja-Zitaten aus den Knechtsliedern folgen, so könnten wir weiterlesen. Auch wenn keine Knechtsfigur in der antiken jüdischen Enzyklopädie zu finden ist, und auch wenn die intentio operis des Matthäusevangeliums wohl nicht die Darstellung Jesu als Gottesknecht ist innerhalb des kanonischen Rahmens können die Zitate uns dazu führen, intertextuelle Beziehungen zu finden, die Matthäus ZNT 16 (8. Jg. 2005) selbst und seine ursprüngliche Gemeinde wahrscheinlich nie gesehen haben. Wir können das Matthäusevangelium in Verbindung mit Jesaja (MT) setzen und daher auf einer kanonisch-experimentellen Ebene Jesus mit dem leidenden Gottesknecht identifizieren. Dazu müssen wir aber das Diskursuniversum des Matthäusevangeliums mit unserer modernen christlichen Enzyklopädie erschließen, einer Enzyklopädie, die die Knechtsfigur und das Alte Testament in seiner hebräischen Form enthält. Das ist letztlich genau das, was viele moderne Exegeten im Rahmen historischer Forschung gemacht haben: Sie verwechseln Kanon und Enzyklopädie und verstehen so den Jesus des Matthäusevangeliums als »leidenden Gottesknecht« auf einer historischen Ebene. Eine intertextuelle Untersuchung des Matthäusevangeliums gibt an dieser Stelle eine Terminologie an die Hand, die die verschiedenen Interpretationsansätze klar unterscheiden kann, ohne sie gegeneinander auszuspielen. 2.3 Jesus als neuer lssak im Matthäusevangelium Die mangelnde Unterscheidung der verschiedenen Enzyklopädien hat in der Erforschung des Matthäusevangeliums noch zu einem weiteren Problem geführt: Weitgehend wurden die Beziehungen zwischen dem Jesus des Matthäusevangeliums und dem Isaak der antiken jüdischen Enzyklopädie vernachlässigt. In Gen 22, der so genannten »Bindung Isaaks«, wird dieser als eine weitgehend passive Figur dargestellt. In antiken außerkanonischen jüdischen Interpretationen von Gen 22 dagegen, die zeitlich vor dem Neuen Testament anzusiedeln sind, spielt Isaak eine viel stärker aktive Rolle. Seine Bereitschaft zur eigenen Opferung zeichnet das Wesen dieser Erzählungen aus. 11 Zudem wird in vielen Interpretationen die Bindung Isaaks auf das Passahfest datiert,12 seine Opferungsbereitschaft gilt als Erlösungstat13und die Erzählung ist mit Theophanien und apokalyptischen Motiven ausgestaltet. 14 Diese weder im masoretischen Text, noch in der LXX- Version von Gen 22 zu findenden - Elemente stellen ein Bild Isaaks dar, das auf vielfältige Weise dem matthäischen Jesus ähnelt. Wie Isaak in der antiken jüdischen Überlieferung geht Jesus mit relativer Gelassenheit seinem Opfertod entgegen 25 Z um The m a (Mt 26,36-56), der zur Zeit des Passahfestes stattfindet (Mt 26,17-35). We iterhin ist es auffällig, dass Jesus als »mein geliebter Sohn« gena 1 in den zwei Szenen bezeichnet ·wird, die in apo kalyptischer Darstellun g eine Theophanie schildern, nämlich die Taufe und die Verklärung (Mt 3,13 -17 und Mt 17,1-13 ). In diesen beiden Erzählungen wird Jesus ->Gottes geliebt er Sohn (agapetos)« genannt, ger_auso wie Is a. ak in Gen 22 ,2.12.16 (LXX) »Abrahams gelieb ter Sohn« genannt wird. Die meisten Ausleger dagegen sehen hier keine Anspielungen auf Isaak. So schreibt Ulrich Luz in Bezug auf die Verklärung: »Damit ist eine zweite biblische Geschichte genannt, an die unsere Szene anklingen könnte. Insbesond ere der ,geliebte Sohn, der Himmelstimme erinnert an die Opferung Isaaks un d nicht an Mose auf dem Sinai. Aber diese Ges chichte ist im ganzen von der Verwandlung Je su sehr verschieden; alle ander en Züge der Morij aerzählung passen nicht dazu.« 1 ; Das Proble m ist, dass Luz nach wö rtlichen Parallelen zum Text von Gen 22 selbs t sucht. Wenn man dagegen die verschiedenen Int erpretationen von Gen 22 inn erhalb der antiken jüdischen ku: tr,; rellen Enzyklopädie betrachtet, findet man viel mehr Übereins timmungen zwischen dem Jesus des Matthäu sevangeliums und Isaak bzw. viel mehr A nspielungen auf und Echos von Isaak im 1".: atthäusevangelium. 16 Wie im Falle des leidenden Gottesknechts haben Exegeten die antike jüdische mit einer modernen christlichen Enzyklopidie (mit der kanonisch en Fassung der Gesamtbibel) verwechselt. Deshalb wurden mögliche Hinweise auf Isaak, die sich auf einer historischen Ebene d urchaus finde n lassen könnten, übersehen. 2.4 ln tertextualität als Praxis kreativer Textprodu kt ion Mit dem Konzep t der ln tertextualität ist es aber nicht nur oöglich, unter verschiedenen F: -agestellungen An alyse methoden für biblische Texte zu entwickeln . lntertextuell e Bezüge finden sich per definitionem auch zw ischen biblischen und außerbiblischen Texten. Als Beispiel einer »experimentellen Intertext ualität« in der Term inologie Alkiers ließe sich z.B. d ie U ntersuchung Tina Pippins 1 ' nennen, die mit i hrem Interesse an Jezebel 2Kön 9, Offb 2 und den Roman »Vom Winde 26 verweht« zusammen liest. Neben diesen experi mentellen Lektüren, die ausschliefüich nach möglichen Sinneffekten fragen, gibt es auch Beispiele für Zus ammenstellungen venchiedener (biblischer und außerbiblischer) Schriften, die lntertextualität ganz gezielt zur Leser- und Hörerlenkung einsetzen. Mit Blick auf das Matthäusevangelium soll an dieser Stelle ein Beispiel aus der Vertonung biblischer Stoffe im Weihnacht,oratorium Johann Sebastian Bachs vorgestellt werden. lntertextualität fragt in diesem Fall also nach unterschiedlic hen Erscheinungsformen eines biblischen Textes und den Bedeutungsverschiebungen, die sich durch die neue Zusammenste[ung (ursprünglich ge trennter Texte) ergibt. Wenn im Folgenden einige Aspekte aus Bachs Oratorium unter intertextuellen Fragestellungen betrachtet werden, müssen da bei notwendigerweise Fragen zur Musik und damit auch weiterführende Überlegungen zur lntermedialität unbeachtet bleiben. 18 Der Text des Bachsehen O: -atoriums 19 besteht im Wesentlichen aus den beiden kanonischen Geburtserzählungen (Lk 2 und Mt 2) sowie einer Reihe Chorälen, Arien und Chören so genannter »freier«, i.d.R. außerbiblischer Dichtung. Während die ersten vier der sechs Kantaten dem Duktus der lukanischen Überlieferung folgen, setzt mit den Rezitativen in Kantate V der Matthäustext (mit Mt 2,1) ein. Interessanterweise wird der Wechsel zur Weihnachtserzählung des Matthäus bereits in der vorhergehenden Kantate IV (Nr. 38) vorbereitet: Immanuel, o süßes Wort! / Mein Jesus heißt mein Hort,/ Mein Jesus heißt mein Leben./ Mein Jesus hat sich mir ergeben,/ Mein Jesus soll mir immerfort/ Vor meinen Augen schweben./ Mein Jesus heißet meine Lust,/ Mein Jesus labet Herz und Brust. Die Anrede »Immanuel«, die man so nur bei Matthäus (Mt 1,23) findet, folgt direkt dem Abschluss des Lukas-Berichtes (Nr. 37). Abgesehen von dieser vorangestellten Anspielung wird die Geburtsgeschichte des Matthäus in Bachs Oratorium gerahmt durch den Chor »Ehre sei dir Gott gesungen« zu Beginn der Kantate V und dem Schlusschor »Nun seid ihr wohl gerochen« am Ende der Kantate VI. Ohne genauer auf die anderen Stücke freier Dichtung näher einzugehen, läss t sich bereits an der Rahmung des biblischen Textes zeigen, dass Bach in diesem bestimmte Bedeutungspotentiale besonders stark ZNT 16 (8. Jg. 2005) Michael Schneider/ Leroy A. Huizenga Das Matthäusevangelium in intertextueller Perspektive macht. Vor der Anbetungsgeschichte durch die Weisen steht der doxologische Eingangschor » Ehre sei dir Gott gesungen/ Dir sei Lob und Dank bereit ,/ Dich erhebet alle Welt/ Weil dir unser Lob gefällt/ Weil anheut / Unser aller Wunsch gelungen/ Weil uns dein Segen so herrlich erfreut.« Die folgende Anbetung durch die Weisen wird hier also schon vorweggenommen durch den Chor. Damit erfährt die biblische Erzählung eine Erweiterung bzw. Ergänzung um einen Text, der die Reaktion der Rezipienten ergänzt: Der Chor nimmt die Funktion der gottesdienstlichen Gemeinde wahr und reagiert auf das erzählte Weihnachtsgeschehen, indem er in Form eines Lobgesangs die Anbetung durch die Weisen imitierend vorwegnimmt. Während also dieser Chor ein Motiv aus dem Bibeltext aufgreift, verstärkt und die Anbetung der Weisen durch eine weitere Anbetung »verdoppelt«, erweitert der Schlusschoral die Erzählung durch eine ganz neue Perspektive: Die zuvor gesungene und erzählte Geburtserzählung auf der Basis der zwei Evangelien nach Lukas und Matthäus wird abgeschlossen mit folgendem Text: »Nun seid ihr wohl gerochen/ An eurer Feinde Schar/ Denn Christus hat zerbrochen/ Was euch zuwider war/ Tod, Teufel, Sünd und Hölle/ Sind ganz und gar geschwächt/ Bei Gott hat seine Stelle/ Das menschliche Geschlecht.« Diese Strophe steht nicht unverbunden nach der Weihnachtserzählung, sondern wird mit dem einleitenden »nun« in direkten Bezug zu dieser gestellt. Mit dem altertümlichen Wort »gerochen« (für »gerächt«) wird am Ende des Oratoriums noch einmal ein Thema stark gemacht, das immer wieder (so z.B. im Eingangschor dieser Kantate »Herr, wenn die stolzen Feinde schnauben«) im gesamten Oratorium anklingt: Bereits im Geburtsgeschehen zeigt sich Gottes Überlegenheit an »der Feinde Schar«, ja sogar die endgültige Zerstörung der Mächte »Tod«, »Teufel«, »Sünde« und »Hölle« ist angekündigt und hat bereits begonnen. Eine seiner stärksten theologischen Aussagen hält das Weihnachtsoratorium damit an seinem Schluss bereit: Bereits aus dem Weihnachtsgeschehen ergibt sich für alle Angesprochenen das »wohl gerochen«-Sein. Diese Rache an »der Feinde Schar«, die durch das Christusgeschehen und besonders auch durch die zuvor dargestellte wunderbare Geburt Jesu Christi Gestalt ZNT 16 (8. Jg. 2005) annimmt, führt schließlich zu einer Gerechtigkeit, die bei Gott selbst liegt. Die »rechte Stelle«, die Bestimmung des Menschen ist bei Gott zu finden. Bach schließt sein Oratorium aber nicht mit dem Blick auf den Einzelnen, sondern mit einer kollektiven Aussage: »Bei Gott hat seine Stelle das menschliche Geschlecht.« Wie oben in der Matthäus-Genealogie geht es auch hier um die Treue Gottes an einzelnen Personen, Generationen und schließlich dem menschlichen Geschlecht insgesamt. 3. Zusammenfassung und Ausblick 3.1. Das Matthäusevangelium - Ein Text im Universum der Texte Bereits diese wenigen Bemerkungen zu intertextuellen Bezügen des Matthäusevangeliums verweisen auf die vielfältigen Fragestellungen, die mit dem Stichwort »Intertextualität« verknüpft sind. Sie zeigen, dass im Rahmen intertextueller Lektüre im Gegenüber zur klassischen Einflussforschung einerseits mehr Textbezüge in den Fokus der Untersuchung kommen und andererseits verschiedene Termini zur Verfügung stehen, die die unterschiedlichen Zugänge und Frageweisen systematisieren bzw. voneinander unterscheiden. Als Folge einer solchen Systematisierung kann die Ausarbeitung einzelner Methodenschritte zur Textanalyse stehen das sollte jedoch nicht das emz1ge Zentrum der Intertextualitätsdebatte • 20 sem. 3.2. lntertextualität als »umbrellla-term« So hat sich konsequenterweise der Begriff »lntertextualität« innerhalb der Exegese zum übergreifenden Terminus für vielfältige Textbeziehungen entwickelt; Steve Moyise bezeichnet ihn daher als »umbrella term«. So wie einerseits notwendigerweise mit dem Begriff eine Erweiterung der Fragerichtungen einhergeht, scheint uns andererseits in der Folge eine Klassifizierung bzw. Einbettung in einen texttheoretischen Gesamtzusammenhang unbedingt notwendig. Das bedeutet nicht nur, dass wie im oben skizzierten Konzept angelegt - Textproduktion und Textrezeption gleichermaßen bedacht werden können und müssen. 27 Zum Thema Gerade weii der Terminus ,.ls üb ergreifender Be griff venvendet wird, ist die jeweilige theoretische Verortung nicht nu r zu nennen, sondern jeweilige Untersuchu: : ig eines bibl is ·hen Texte s auch auf ihre Stimmigkeit innerhalb dieser Theorie zu hinterfragen. 3.3. Bezug ra hmen intertexrueller Verweise Das Ko nze: Jt de r Intertextualität ist zunächst auch wenn es in der Exegese i. d .R. so re zipie rt wurde und wird nicht auf einer Interpretationsgemeinschaft hin zu einer Au se inandersetzung über eine angemessene Deutung der Wirklichkeit ist in der Peirceschen Unterscheidung zwischen unmittelbarem, dynamisch em und finalem Imerpretanten angelegt und liegt somit jedem Zeichenprozess zugrunde. Eine intertextuelle Lektüre, die sicl: auf diese semiotis chen Kategorien einlässt, m-.1ss sich selbst als prinzipiell nicht abschließbar verstehen. »Keine Monographie wird aus semiotischen Gründen jemals zu Recht den Titel tragec Die intertextuelinnerbiblische Bezüge beschränkt. So können Referenzschriften in den Blic k kommen, die sic h innerhalb (s o z.B. bei der o . g. Untersuchung der Matthäus-Gem: alogie oder c.en Ausführungen » Eine intertextuelle Lektüre, die sich auf diese semiotischen Kategorien einlässt, muss sich len Beziehungen des Matthäusevangeliums«. 21 Besonders dann, wenn man den Begriff Intertextualität in seiner Weite als umbrella term verwendet, wird ein (biblischer) Text gerade deswegen seine selbst als prinzipiell nicht abschließbar verstehen.« zur Gotteünechts -Gestalt) oder außerhalb d es biblischen Kanons (so etwa bei der Komb inatio n biblischer mit außerbiblischen Texten in Bachs Weihnachts: xatorium) finden. Beide Perspektiven sind nicht nur möglich, sondern vom Intertextualitäts-Paradigma gefordert. 3. 4. Me thu disch e Untersd1<: : idung zwischen Te xtdeskription und rheologischer Deutung Diese Be merkungen führ, en direkt zum nächsten Punkt: Indem die Fülle der möglichen Textbezüge eines (biblischen) Textes untersucht werden, stellt das Intertextualitätsparad..igma die Aufgabe zur Unterscheidung zwischen möglichst genauer Beschreibu ng bestimmter Verweise und den sich daraus ergebenden Si nneffekten auf der einen und der theologischen Wertung auf der anderen Se it e. Textanalyti, ch werden die Bezü ge eines Bibeltextes zu kanonischen Texte n u nd au ßerbi blisch en Texten gleich behandelt . Das bedeutet jedoch nicht, da ss : i.ll e Bezüge für eine Interpretationsgemeinsch aft die gleiche Bedeutung oder den gleichen Rang an zutreffe nder Beschreibung der Wirklichkeit haben. 3 .5. Das Matthäus e1; a ngelium in intertextueller Perspektive Der Dreischritt von unmittelbarer Wahrnehmung eines Textbezug es über die Bewertung innerhalb 28 bleibende Faszination behalten, weil er immer wieder in neuen Textbezügen gel es en werden kann, darf und muss. Anm erkungen 1 Vgl. S. Alkier, Intertextualität - Annäherungen an ein texttheoretisches Paradigma, in: D. Sänger (Hg.), Heiligkeit und Herrschaft. Intertextudle Studien zu Heiligkeitsvorstellungen und zu Psalm 110 (BThS 55 ), Ne ukirchen Vluyn 2003, 1-26; ders., Die Bibel im Dialog der Schriften und das Problem der Verstockung in Markus 4, in: ders. / R.B. Hays (Hg g. ), Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte in tertextueller Bibellektüre (NE T 10), Tübingen 2005, 1-22; M. Pfister, Kon zepte d er Intertextualität, in: U. Broich/ M. Pfister, Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 35), Tübingen 1985, 1-30; S. Holthuis, Intertextualität. As pekte einer rezeptionsorientierten Konzeption (Stauffenburg-Colloquium 28), Tübingen 1993, 12 -28; S. Moyise, Intertextuality and B: blical Studies: A Review, Verbum et Ecclesia 23 (2002 ), 418 -431; T.R. Hatina, Intertextuality and Historical Criticism in New Testament Studies, Biblical Interpre : a tion 7 (1 999), 28 -43; T. A. Schmitz, Moderne Literatu rtheorie und antike Texte. Eine Einführung, Darmstadt 2002, 91-99; M. Schneider, Texte - Intertexte - Sc: irift. Perspektiven intertextueller Bibellektüre, in: Chr. Str ecker (Hg.), Kontexte der Schrift II. Kultur, Politik, Religion, Sprache, Stuttgart 2005 (im Druck); ders., -Wie handelt Gott? Intertextuelle Lektüren zu lKor 10, in: S. Alkier/ R.B. Hays, Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre (NET 10), Tübingen 2005, 35- 56. 2 Vgl. S. Alkier, Intertextualität, in: K. Erlemann / K.L. N oethlichs / K. Scherberich / J. Zangenberg (Hgg.), Ne ues Testament und Antike Kultur I, Neukirchen- ZNT 16 (8. Jg. 2005) Michael Schneider/ Leroy A. Huizenga Das Matthäusevangelium in intertextueller Perspektive Vluyn 2004, 60-65. Auf das Gesamtkonzept Alkiers bzw. seine zeichentheoretische Fundierung kann hier nicht eingegangen werden, vgl. aber S. Alkier, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus. Ein Beitrag zu einem Wunderverständnis jenseits von Entmythologisierung und Rehistorisierung (WUNT 134), Tü bingen 2001, besonders 55-90. 3 Perspektiven einer Ethik der Interpretation entwickelt Stefan Alkier in: Fremdes verstehen wollen - Überlegungen auf dem Weg zu einer Ethik der Lektüre biblischer Schriften. Eine Antwort an L.L. Welborn, ZNT 11 (2003), 48-59 und ders., Ethik der Interpretation, in: M. Witte (Hg.), Der eine Gott und die Welt der Religionen. Beiträge zu einer Theologie der Religionen und zum interreligiösen Dialog, Würzburg 2003, 21-41. • S. Alkier / J. Zangenberg, Zeichen aus Text und Stein. Ein semiotisches Konzept zur Verhältnisbestimmung von Archäologie und Exegese, in: S. Alkier / J. Zangenberg (Hgg.), Zeichen aus Text und Stein. Studien auf dem Weg zu einer Archäologie des Neuen Testaments (TANZ 42), Tübingen 2003, 21 -62, hier: 40 (Hervorhebungen: MS und LH). Durch den in diesem Artikel zu den Grundlagen einer semiotisch fundierten Exegese gegebenen Rahmen wird betont, dass auch das Ergebnis einer intertextuellen Lektüre nie absolute Geltung beanspruchen kann. Eine angemessene Darstellung eines Objektes in seiner Gesamtheit ist nur über den Weg vielfältiger Interpretationen denkbar und möglich. 5 S. Moyise, Intertextualität und historische Zugänge zum Schriftgebrauch im Neuen Testament, in: S. Alkier / R.B. Hays, Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre (NET 10), Tübingen 2005, 23- 34. 6 S. Alkier, Zeichen der Erinnerung - Die Genealogie in Mt 1 als intertextuelle Disposition, in: K-M. Bull/ E. Reinmuth (Hgg.), Bekenntnis und Erinnerung; FS Hans-Friedrich Weiß (Rostocker Theologische Studien 16), Münster 2004, 108-128, hier: 109. 7 R.B. Hays, Echoes of Scripture in the Letters of Paul, New Haven 1989, 29-32. Hays nennt außerdem als Kriterien für das Vorliegen intertextueller Echos: Volume (Grad expliziter Wiederholung von Wörtern oder Satzteilen), Recurrence (Häufigkeit der Bezüge zum gleichen alttestamentlichen Text in der Gesamtheit der Schriften eines Autors), Thematic Coherence, Historical Plausibility, History of Interpretation (Auslegungs - und Wirkungsgeschichte), Satisfaction (passt die vorgestellte intertextuelle Lektüre sinnvoll in einen Gesamtzusammenhang? ). 8 Vgl. T. Hieke, Neue Horizonte. Biblische Auslegung als Weg zu ungewöhnlichen Perspektiven, ZNT 12 (2003), 65-76. 9 Für eine ausführlichere Darstellung dieser Frage vgl. L.A. Huizenga, The Incarnation of the Servant: The »Suffering Servant« and Matthean Christology, Horizons in Biblical Theology 2005 (im Druck). Interessant ist an dieser Stelle auch ein Blick in verschiedene Kinder- und Jugendbibeln, in denen die verschiedenen ZNT 16 (8 . Jg. 2005) Ebenen intertextueller Lektüren oftmals bereits angelegt sind. So findet man in der Jugendbibel »Die Nacht leuchtet wie der Tag« (Frankfurt 1992, 170-292) eine Reihe von Überschriften zu den Evangelienberichten, die auf das Konzept der »Knechtsfigur« und auf Phil 2 Bezug nehmen und so alttestamentliche Texte mit Evangelien und paulinischen Briefen ins Gespräch bringen: »Er nahm Knechtsgestalt an« (zur lukanischen Geburtserzählung), »Er erniedrigte sich selbst« (zur lukanischen Passionsgeschichte), »Gehorsam bis zum Tod am Kreuz« (zur matthäischen Passionsgeschichte). 10 U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, 4 Bände, EKK, Neukirchen-Vluy n u.a., 1985-2002, II, 19 (Umschrift nicht im Original). 11 Vgl. Josephus Am I,232, 4Makk 13,12, 4Makk 16,20; Ps.-Philo 18,5, 32,1-4, 40,1-4; 4Q225. 12 Vgl. Jub 18 und 48-49; L.A. Huizenga, The Battle for Isaac: Exploring the Composition and Function of the Aqedah in the Book of Jubilees, JSP 13.1 (2002), 33 -59. 13 Ps. -Philo 18,5, 32,1 -4, 40,1 - 4; vgl. 4Makk 6,27-29, 17,196-22. 14 4Q225; TestLevi 18,6-7; TestAbr 4,1 - 7. 15 Luz, Matthäus II, 509. 1 • Vgl. Mt 1,20-21 und Gen 17,19 (LXX); Mt 3,17, 12,18, 17,5 und Gen 22,2.12.16 (LXX); Mt 26,36-56 und Gen 22 (LXX). Vgl. L.A. Huizenga, Der Jesus des Matthäusevangeliums und der Isaak der antiken jüdischen Enzyklopädie. Eine Studie zu Anspielungen auf Überlieferungen der Akedah im Matthäusevangelium, in: S. Alkier / R.B. Ha y s (Hgg. ), Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre (NET 10), Tübingen 2005, 71 -92. 17 T. Pippin, Jezebel Re-Vamped, in: G. Aichele / G.A. Phillips (Hgg.), Intertextuality and th e Bible, Semeia 69/ 70 (1995), 221-233. 18 Für eine solche Untersuchung ließen sich ebenso wie für die Beziehungen paulinscher Texte zu alttestamentlichen Prätexten analog zu Ha y s (vgl. Anm. 9) Analysekriterien formulieren. Mittelpunkt der Untersuchung wäre dann weniger das Umfeld der historischen Textproduktion als die Frage nach strukturellen, typologischen oder referentiellen Bezugnahmen und den daraus resultierenden Sinneffekten. 19 Über den Textdichter des Weihnachts-Oratoriums ist wenig bekannt. Es gilt als relativ gesichert, dass Bach durchaus größeren Einfluss auf dessen Endgestalt h atte. Aufgrund des Stils und wegen der verschiedenen Parodien weltlicher Stücke wird oftmals Christian Friedrich Henrici (sog. »Picander«) als möglicher Dichter genannt. 20 Es ist daher nur folgerichtig, dass alle in Anm. 1 genannten Arbeiten erst gegen Ende zur »konkreten« Arbeit am (biblischen) Text kommen und zunächst Möglichkeiten und Grenzen des Intertextualitätsparadigmas insgesamt ausloten. 21 Alkier, Genealogie, 124. 29 Willi Braun Zum Thema i >Wir haben doch den amerikanischen Jesus<. Das amerikanische Jesus-Seminar: Eine Standortbestimmung 1 Es gibt nichts Uranfängliches alles ist Geschichte. (J .Z. Smith) i don't need to be a global citizen because i'm blessed by nationality i'm mem· : >er of a growing p opulace we enfo r,: e our p opularity there are things that seem to pull us under and there are things that drag us dow n but there's a power and a vital presence that's lur_..; ; ing all around we've go t the americanJesu: . (B ad Religion).' 1. Jesus, Geschichte, Rhetorik Es ist angezeigt, jedem Ko rr n1en: ar zum amerikanischen J erns-Seminar einige Bemerkungen zur Geschichte. Geschichtsschreibung und der neuerlichen Rhetoris ierung des Begriffes der »Geschichte« voranzuschicken. Historische J esusforschung, we nn sie denn ·wtrklich historisch sein soll in derr_ Sinn, wie die moderne Wissenschaft den Begriff verwendet, sollte der allgemeinen Geschichtsforschung gleichen: Sie ist dann ein Unterfangen, das rückblickend versucht, die gegenwärtige W2hrnehmung vergangener Dinge - Ereignisse, Handlungen, Kulturphänomene, Personen zu beschreiben. 3 Historiker, auch solche, die Jesusforscl-_ung betreiben, s: .nd h eute keine Techniker mehr, die sich dem p ositivistisc h en Handwerk des Faktensammelns wid men lediglich damit beschäftigt, die Vergangen~ 1.eit abzustauben, um sie dann so zu präsentieren, wie sie »wirklich« war. Unter dem Eindruck neuer historiographischer Theorien müssen sich auch J esus: forscher der Eins icht stellen, daß "die Vergangenheit« nicht einfach dasitzt und sich dem suchenden Historiker selbst erklärt. Dagegen ist »die Vergangenheit« sehr biegsam, der Fo rmung du rch den Historiker unterworfen, wie nicht zuletzt Albert Schweitzer schon vor einhundert Jahren eindrücklich gezeigt hat. So rekomtruiert man auch 30 den historischen Jesus aus ausgesprochen trüben, mehrdeutigen Anhaltspunkten, die man den Archiven der Geschichte entnimmt. Indem man sodann bestimmte Werturteile und Plausibilitäts maßstäbe auf diese Anhaltspunkte anwendet, wertet man sie zu Tatsachenmaterial auf. Die Anhaltspunkte, inzwischen zu Fakten mutiert, werden schließlich durch ein Erklärungsmodell zueinander in Beziehung gesetzt: Kohärenz und Bedeutung sind dabei freilich Ergebnis der kreativen, intellektuellen Tätigkeit des Historikers. Et vo ila: Stolzen Schrittes enteilt der historische Jesus dem Nebel der Vergangenheit. Allerdings ist jede dieser konstruktiven Maß nahmen zur Darstellung der Vergangenheit - Selektion, Bestimmung von Plausibilität, Erklärung tief in die sozialen, institutionellen, intellektuellen und fachwissenschaftlichen Verhältnisse der Gegenwart eingebettet; Verhältnisse, die den Hi storiker nicht nur mit Motivationen und Zielen versehen, sondern auch mit dem konzeptionellen und analytischen Handwerkszeug, das es ihm erlaubt, überhaupt Geschichtsforschung zu betreiben. Zugespitzt: Der historische Jesus würde wohl kaum Gegenstand kontinuierlichen Interesses, Objekt langwieriger und arbeitsintensiver Untersuchungen sein, wären die sozialpolitischen und intellektuellen Garantien für seine Existenz nicht tief im modernen Diskurs verankert. Es ist genau diese Einsicht, die sich in J.Z. Smith's eingangs zitiertem Diktum spiegelt: »Es gibt nichts U r anfängliches alles ist Geschichte.« 4 Das bede utet: Insofern die Figur aus der Vergangenheit (der historische Jesus) als Werkzeug dient, um religiöse, ideologische und sogar nationalistische Parteinahme in der Gegenwart auszuhandeln, ist sie zugleich ein Werkzeug der Rhetorik. Vergleichbar der Antike wird Geschichte zur Rhetorik, zu einem Beweiselement in Diskursen, die Zustimmung zu den konservativen oder revolu tionären Positionen des Redners erwirken wollen. Geschichtsdarstellungen, ganz besonders Entwürfe zum historischen Jesus, entwickeln sich also nicht einfach natürlich. Sie werden fabriziert. ZNT 16 (8 . Jg. 2005) Willi Braun Willi Braun ist Associate Professor im Department of History and Classics an der U niversity of Alberta in Edmonton, Kanada und Direktor des dortigen Interdisciplinary Program of Religious Studies. Seine Veröffentlichungen umfassen u.a. Feasting and Social Rhetoric in Luke 14 (Cambridge 1995) und Rhetoric and Reality in Early Christianities (Waterloo, Ontario 2005). Momentan bereitet er eine Monographie unter dem Titel It's Just Another Story: The Politics of Remembering the Earliest Christians (geplant für 2006) vor und widmet Forschungsarbeit einem anderen Buch zu Feasting, Fasting and Food: A Social History of Early Christianity. Er war kurzzeitig Mitglied des Jesus Seminars in dessen früher Arbeitsphase. Wie haben wir uns solche Fabrikation vorzustellen? An dieser Stelle ist ein Blick auf Eric Hobsbawm's einflußreiches Werk Wieviel Geschichte braucht die Zukunft? hilfreich: »Geschichte«, sagt er, »ist der Rohstoff für nationalistische oder völkische oder fundamentalistische Ideologien, so wie Mohnpflanzen den Rohstoff für die Heroinsucht enthalten. Die Vergangenheit ist ein wesentliches Element, wenn nicht das wesentliche Element überhaupt in diesen Ideologien.Wenn es keine passende Vergangenheit gibt, läßt sie sich stets erfinden. ,/ Insofern dies der Fall ist, ist Historiographie freilich nicht unabhängig von Politik, ist die Geschichtsdarstellung nicht eine vorurteilsfreie Repräsentation der Vergangenheit und kann sich der Historiker nicht aus der Rolle des politischen Schaustellers lösen, ob im Rahmen einer religiösen Gemeinschaft oder irgendeiner anderen Gruppe. »Geschichte « ist daher nicht nur die Summe vergangener Daten und Fakten, sondern ist immer auch beeinflußt von den sozialen, poli- ZNT 16 (8. Jg. 2005) Willi Braun >Wir hab e n doch den am e rikanischen Jesus< tischen oder religiösen Interessen derer, die Geschichte fabrizieren seien es professionelle Historiker oder gewöhnliche Leute, die weniger gezielte Exkurse in die Vergangenheit unternehmen. Geschichte ist Retrospektive und »das Gedächtnis ist genausoviel oder sogar mehr kreative Rekonstruktion wie akkurate Erinnerung unglücklicherweise ist es unmöglich, genau zu definieren, wo das eine endet und das andere beginnt.« 6 Es geschieht ja in unserem gegenwärtigen Moment in der Zeit, daß wir Mohnkörner zu Heroin verarbeiten. Wir kochen rohe Geschichte, indem wir sie mit dem Mythologumenon des unbefleckten Uranfangs spicken, alle Trübheiten der Zufälligkeit menschlicher Geschichte ausfiltern, sie mit Ordnung und Ontologie würzen, Zielgerichtetheit einrühren sowie all die Dinge, die Geschichte schmackhaft (nützlich) für uns machen, damit wir sie als Alibi für unsere Interessen verwenden können: Interessen wie das Erfinden und Aufrechterhalten von Gruppenidentität oder Moralsystemen sowie das Bestreben, uns in ein virtuelles Kontinuum einzuordnen, das aus der Urzeit in die Endzeit führt. Daher fungiert Geschichte immer auch und vielleicht in ihrem letzten Sinne als ein diskursives Mittel zu sozialer Formation oder deren Bekämpfung. Philip Esler hat diese Funktion der Geschichte treffend zusammengefaßt: »Versuche, die Vergangenheit zu kontrollieren, nehmen die Gestalt eines Handgemenges um den Besitz und die Interpretation des kollektiven Gedächtnisses an. Worum es bei solchen Auseinandersetzungen geht, ist meist die Identität und der Status von Gruppen und Gemeinschaften. Daraus folgt, daß wir das Ausmaß bedenken müssen, in dem eine bestimmte Darstellung der Vergangenheit [funktionalisiert wird, um] eine Beschreibung im Hinblick auf eine spezifische pragmatische und rhetorische Absicht [zu liefern]. « 7 Wir werden das Jesus-Seminar an diesem Maßstab zu messen haben. Begriffe wie ,Erfindung" ,Fabrikation< oder die Metapher des Kochens implizieren natürlich, daß Geschichtsdarstellung, auch jegliche Darstellung des »historischen Jesus«, ein Produkt von Menschenhand ist, doch will ich sofort ergänzen, daß ich keine Werturteile der Beliebigkeit, Bedeutungslosigkeit oder Unwahrheit mit der Künstlichkeit von Geschichtsdarstellung verbinde. Künstlichkeit ist nichts, was man im historischen Prozeß vermeiden könnte; im Gegenteil: Ge- 31 Zum Thema schichte im eigentlichen Sinn ist künstliches Gebilde. Dabei sollte man daran erinnern, daß die Kontexten vorgenommen, in denen an Status, Macht und Einfluß gekoppelte Mechanismen von Marginalisierung und Ver- Idee der >Erfindung< von Geschichte, auch wenn sie in den Ohren einer modernis tischp osi ti vis tisch-empirische n Historiographie häretis(h klingen mag, ganz auf der Li- »Künstlichkeit ist nichts, was man im historischen Prozess schweigen bestimmen, wer und was würdig ist, der Nachwelt überliefert zu werden. Dies ist hinlängli: : h bekannt, ohne vermeiden könnte ... « nie einer beachtlichen Tradition antiker Historiographie steht, die die Präsentation der Vergangenheit als rhetorische Kunst ansah. Diese Auffassung hielt sich durchaus bs zur Französischen Revolution und sie hat nun in neuer en theoretischen Arb eiten zum Verhältnis zwischen Geschichtsschreibung, fiktionaler Literatu r und Rhetorik wiederum Prominenz erlangt. 8 Künstlichkeit nimmt an verschiedenen Stellen Einfluß auf den Prozeß historischer Produktion und sie nimmt verschiedene Formen an. Um nur eine Form zu benennen: Amnesie, gewolltes oder ungewolltes Vergessen, oder aber absichtliche U nterdrückung menschlicher Taten in der geschichtlichen Dokumentation. Jede historische Produktion ist ein Bündel ,: .ess en, was ausgesprochen wird, und dessen, w ... s unausgesprochen bleibt; jede Geschichtsdarstellung, ob religiösen Charakters oder nicht, ob ad Ereignisse, Personen oder Kulturen bezogen, ist eine Kombination vo n Gewinnen und Verlusten. M.-R. Trouillot unterscheidet in seinem Beitrag Silencing the Past: Power and the Production of History9 im histori schen Prozeß vier Stadien (die er >Momente< nennt) des Verlustes von Geschichte. Diese Verluste ergänzen und überlapp en sich, sie geschehen auch zeitgleich nur zu analytischen Zwecken önnen sie differenziert werden: (1) Herstei'lung der Fakten (Qu ellen). Dies ist der Moment : nenschlicher Aktivität, der Moment gelebter Geschichte in Raum und Zeit. Es ist der Moment, in dem G efühle entstehen und Interessen, der Moment, in d em Gefühle zu Motivationen für Handlungen werde n, Motivationen geordnet werden zu absichtsvollen individuellen und sozialen Handlunge n, durch welche Menschen ihre Welt und die ideologische Überhöhung derselben konstruieren. In diesem Stadium machen alle Menschen Geschichte, alle stelle Fakten und Quellen her. Abe: nicht jedermanns Handlungen (Fakten, Que llen) werden festgehalten. Schri: : tliche N iederlegu n g wird in sozialen 32 daß man dazu Marx, Nietzsche oder Foucault gelesen haben müßte. (2) Sa mmlung der Fakten. Dieses Stadium kann man sich als Erstellung des historischen »Archivs« durch rückblickende Selektion vorstellen, eine Auswahl, die einige Fakten berücksichtigt, andere als uninteressant ausscheidet und wieder andere ganz vergißt. Auf diese Weise erleidet Geschichte neue Verluste im Stadium der Archivierung. (3) Abrufen der Fakten. »Archive« bilden die Quellen für jede Geschichtsdarstellung, die das archivierte Sammelsurium von Fakten in eine kontinuierliche Erzählung gieß t. Auch in diesem Stadium sind Verluste zu beklagen, denn jede Darstellung mißt unterschiedlichen Fakten unterschiedliche Bedeutung bei, sie favorisiert bestimmte Fakten und trivialisiert andere. Zur Illustration dieses Sachverhaltes bedenke man nur, wie sehr die Leben-Jesu-Forschung eine Geschichte der Diskussion gerade jener Frage ist, welche Fakten aus dem antiken »Jesus Archiv« denn legitim zur Rekonstruktion des Lebens Jesu herangezogen werden dürfen. Die berühmten Auswahlkriterien wie das D: .fferenzkriterium oder das Prinzip der Mehrfacl-_bezeugung einer Tradition in voneinander unabhängigen Quellen, wie wir sie von Rudolf Buhmann, Ernst Käsemann, Norman Perrin und zahllosen Einführungen in das Neue Testament kennen, sind die besten Beispiele für lnterventiommaßnahmen des Historikers, der sich aus dem »Archiv« bedient, um den historischen Jesus zu kreieren. ( 4) Den Fakten Bedeutung zuweisen. In diesem letzten Stadium nun entsteht Geschichte im eigentlichen Sinn, indem die Darstellung gewoben wird. Ein großer Schritt ist getan, wenn im Laufe der Zeit eine bestimmte Darstellung weite Verbreitung erlangt, so daß ihr k: monischer Status beigemessen wird - und dies bedeutet ja zugleich immer, daß viele Quellen und andere Darstellungen marginalisiert werden. Nun wird die kanonische Darstellung zu einer Art Scheinbild, einer Hy per-Realität, die allerdings ni,: hts als sich selbst ZNT 16 (8.Jg. 2005) bezeichnet. 10 Mythos und Geschichte werden zu einer ununterscheidbaren, verworrenen Einheit. Wenn Darstellung und reale Geschichte identisch sind, wird es schwierig, die Fakten in anderer Weise zu ordnen und jeder, der es versucht, setzt sich Widerständen oder gar der Zensur aus. Wenn, noch weitergehend, die Darstellung sich mit der Bezeichnung »Geschichte « legitimiert, dann wird Geschichte selbst zum Objekt des Streits . Genau aus diesem Grunde ist >Geschichte< ein Schibboleth in der Leben-Jesu-Forschung: >Geschichte< ist als Terminus hochgeschätzt, zum einen mit Blick auf die Inkarnationstheologie, zum anderen als rhetorischer Joker zur Beförderung eines bestimmten Jesus in Konkurrenz zu seinen zahllosen Rivalen. Genau besehen ist >Geschichte < ein interessanterer und sicher machtvollerer Begriff in der historischen Leben-J esu- 2. Willi Braun ,Wir haben doch den amerikanischen Jesus< Der amerikanische Jesus Ein zweiter diskursiver Kontext, ohne den das Je sus-Seminar unvorstellbar wäre , ist die jahrhun dertealte Faszination, die die Jesusfigur in Amerika auslöst. Amerika ist eine regelrechte »Jesus Nation «, deren Wurzeln tief in die Zeit Thomas Jeffersons zurückreichen und also in die Gründungszeit selbst. 12 Unter dem Einfluß der Werke des britischen Unitariers Joseph Priestl yl) unterschied Jefferson (1743-1826) scharf zwischen der »Philosophie Jesu von Nazareth « den er den »ersten menschlichen Weisen « nannte, lange be vor Robert Funk und andere das Bild des »Weisen Jesus « vertraten - und den »Entstellungen« und »Verstümmelungen« von Jesu wahrer Lehre durch die Evangelisten und Paulus mit ihrer platonischen Metaphysik und My stik. 14 Mit der Rasierklinge in der Hand be- Forschung als >Jesus <, und es steht zu hoffen, daß der Gebrauch der Apposition >historisch<mit Bezug auf Jesus ei nes Tages selbst das Objekt historischer Analyse wird . Solche Analyse würde sicherlich zeigen, daß der Begriff »Genau besehen ist >Geschicharbeitete Jefferson die King James Version des Neuen Testaments und sonderte aus, was er für authentische Worte des galiläischen Weisen hielt (ungefähr jeder zehnte Vers in te< ein interessanterer und sicher machtvollerer Begriff in der historischen Leben-]esu- Forschung als >] esus< ... « der >Geschichte <nicht etw as >rein Tatsächliches< bezeichnet, sondern eine rhetorische Kategorie ist, eben ein Mittel, einen bestimmten Jesus gegenüber anderen Jesusen der Leben-Jesu-Forschung zu promulgieren. Der Jesus des amerikanischen Jesus-Seminars unterscheidet sich davon nicht im Geringsten, publikumswirksamer Behauptungen, daß man unerhörte und bislang unbekannte Informationen über ihn mittels rigoroser und zuverlässiger historischer Methoden enthüllt habe, Methoden, die »nicht von theologischen Vorgaben geleitet« seien. 11 Für das Jesus -Seminar mußte Jesus von vorneherein ein anderer sein als der Christus der Bekenntnisse und kirchlichen Doktrinen. Wie bei aller historischer Jesus- Forschung ist Geschichte wichtig, ebenso die Methoden, mittels derer Geschichte rekonstruiert wird, doch letzten Endes sollte dabei schon besser die >richtige < Geschichte herauskommen. Man mag behaupten, >uninteressierte<, d.h. nicht von Interessen geleitete, Methoden historischer Untersuchung einzusetzen doch schließlich ist kein J esusforscher uninteressiert an den Ergebnissen seiner Untersuchung! ZNT 16 (8. Jg . 2005 ) den Evangelien); eine Aufgabe, die ihm so »offensichtlich und einfach« erschien wie die Identifizierung von »Diamanten in einem Misthaufen«. 15 So entstand ein Büchlein, ein unbekannter Vorgänger der berühmten J efferson Bible, das Jefferson einen »kostbaren Happen Ethik « nannte. Unbeeinträchtigt von allen wunderhaften Begleiterscheinungen, von Jungfrauengeburt, Kreuzigung oder Auferstehung, war Jeffersons Jesus bestens dazu geeignet, einer entstehenden Nation das moralische Fundament zu geben, ohne dabei Jeffersons zweiter großer Leistung, nämlich der Trennung von Kirche und Staat im First Amendment, im Wege zu stehen. Es wäre sicher falsch, J efferson alleine für die nachfolgende Ikonisierung J esu in den Vereinigten Staaten verantwortlich zu machen. Doch hat der dritte Präsident des Landes mittels Konstitution und Gesetz kulturelle Möglichkeiten geschaffen, die es Jesus gestatten, das allgegenwärtige Eponym für alles zu werden, was in Amerika als gerecht und moralisch angesehen wird. Jesus ist zur regelrecht trans-religiösen Figur geworden, die weder mit dem real existierenden Christentum noch mit irgendeiner seiner konkreten Ausfor- 33 Zum Th ema mungen in den USA identifizierb ar ist; er ist anpassungsfähi g, »vielgesta: tig wie Proteus«, interessant sogar für nichtchristliche Einwanderer, die ihn als Amerikas zentral es Symbol adoptieren, damit Amerika selbst in ihre Arme schließen und dennoch Juden, Mu slime, Buddhisten oder was auch immer bleiben. 16 Ungleich der Situation in jeder anderen Nation auf dem Erdball ist Jesus wohlgelitten in jedem Sektor amerikanischer Ku: tu r: er ist gegenwärtig in Debatt en über nahezu jeden Sachverhalt von nationaler Bedeutung; man findet ihn als Priester des amerikanischen Nationalismus, als Champion säkularer humanistischer Moral, als symbolischen Garanten globaler amerikanischer Macht, als Friedensfürst, der Ameri kas Kriegsspiel verurteilt, als ganz persönlich er_ Erlöser der zahllosen Millionen von Wiedergeborenen, als Befreier der Armen, Unterdrückten u: : : id Marginalisierten gestern und heu te. Man w·ähle ein Thema, eine moralisch e Präfer enz, eine soziale Vision auf der politischen Rechten oder Linken oder einer extremen Sekte: was es auch s e: i, , Jesus wird unfehlbar als Freund und Verbündeter zur Seite stehen. Er ist »a vital pres ence that's lurking all around, we've go c the american Jes u s«, singt die Punkrockband Bad Religion. »I was educated in a small town/ taught to fear Jesus in a small town«, schmettert Rocksänger John Mellencamp. »No, they ain't makin' J ews like Jesus anymore« singt Kinky Friedman mit seiner Band The Texas Jewboys ein wenig sarkastisch. Mick Jagger und Bono haben beide nach Buddha gesucht und stattdessen Jesus gefunden, er ist ja auch so viel einfacher zu lokalisieren. Jesus war ein ->Fr eak« und ein »Hippie« der 1960er und 70er Aussteigergeneration; er war und ist immer noch »Jesus Christ, Superstar« und der Star anderer sehr populärer Rockopern; er ist nach wie vor ein Hollywoodstar und die Attraktion im Jesus Park The Holy Land Experience unweit Disney World in Florida. Charles Sheldons Roman In His Steps: What Would]esus Do? (1897) von einer amerikanischen Stadt, die ein Jahr lang versucht wie Jesus zu leben, war für 60 Jahre ein Kassenschlager mit nicht weniger als acht Millionen verkaufter Exemplare. Dan Bro wns Roman The Da Vinci Code (dt.: Sakrileg) hat bisher mehr als dopp elt soviele Exemplare ver kauft und noch ist kein Ende abzusehen. Unter den kulturellen Modew ellen wäre der WWJD 34 (What would Jesus do? ) Spleen zu nennen, durch den sich die amerikanischen Evangelikalen in den 1980ern und 90ern auszeichneten. Und weil Jesus eine solch gefeierte amerikanische Persönlichkeit ist, ist er natürlich oft Objekt von Reportagen, regelmäß ig vertreten in Time Magazine, in Newsweek, The Economist, Atlantic Monthly, in Zeitungen wie der New York Times, dem Wall Street Journal, der Washington Post und der Los Angeles Times, sogar in Modemagazinen und selbstverständlich in den elektronischen Medien. 17 In der Jesus Nation nicht wirklich überraschend konnten auch Neutestamentler und Historiker des frühen Christentuos der Versuchung nicht widerstehen, die Bühne des kulturellen Diskurses mit ihren eigenen Ansprüchen zu betreten. Allen zwingenden Argumenten zum Trotz, daß die Leben-Jesu-Forschung nur in eine Sackgasse führt, Ar gumenten, die mindestens seit Albert Schweitzers Moratorium zur Leben-Je su-Forschung (1906) bekannt sind und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Rudolf Buhmann einflußreich bestätigt wurden, haben sich Gelehrte in den 1980ern nicht davon abschrecken lassen, in massiver Weise eine »Renaissance der Jesus- Forschung« auszurufen und diese Renaissance dauert bis heute unvermindert an. 18 Das durch und durch amerikanische Jesus Seminar ist ein Hauptakteur in dieser Renaissance. 3. Das Jesus Seminar Das Jesus Seminar (JS) wurde 1985 von dem Neutestamentler und früheren Präsidenten der Society of Biblical Literature Robert Funk ins Leben gerufen. Es ist nun an das Westar Institute angebunden, dessen Direktor Funk ist. Auf der Gründungsversammlung an der Pacific School of Religion in Berkeley, Kalifornien formulierte Funk die Aufgabe des Seminars auf emphatische Weise: " Wir lassen uns hier auf ein Unternehmen von großer Tragweite ein. Wir werden in einfacher Weise, aber rigoros nach der Stimme Jesu suchen, nach dem, was er wirklich ges: ; .gt hat. [... ]Unser Vorgehen ist einfach. Wir werden jedes Fragment, das uns die Tradition unter dem Namen Jesu überliefert hat, untersuchen, t: .m zu bestimmen, was er wirklich gesagt hat vielleicht werden wir nicht zu genau seinen Worten vordringen, ZNT 16 (8.Jg. 2005) aber doch zur Substanz dessen, was er meinte und zum Stil seiner Äußerungen. Wir sind auf der Suche nach seiner Stimme, insofern sie unterschieden werden kann von anderen Stimmen in der Tradition.« 19 Zur Gründungsversammlung kamen 35 Wissenschaftler, jedoch schwankten die Mitglieder- und Teilnehmerzahlen in den folgenden Jahren: Zwischenzeitlich waren mehr als einhundert Wissenschaftler involviert, viele davon pro minente amerikanische Neutestamentler wie John Dominic Crossan, Marcus Borg, Harold Attridge, Karen King, John Kloppenborg, Marvin Meyer, Vernon Robbins, James M. Robinson. Die Gruppe traf sich halbjährlich, um jeweils eine Anzahl von Worten, die Jesus in der Tradition zugeschrieben werden, zu untersuchen. Vorbereitet wurden die Sitzungen durch Positionspapiere einzelner Mitglieder, die im Vorfeld unter den Teilnehmern zirkulierten. Man bemühte sich, zur denkbar gründlichsten, am besten durchdachten Beurteilung der Authentizität oder Nichtauthentizität jedes einzelnen Wortes zu kommen. Nach eingehender Diskussion war jeder Wissenschaftler aufgefordert, seine Meinung zur Frage der Authentizität in einer Art Wahlgang kundzutun. Mitunter (und dann mit großem Publicity Effekt) wurden für diesen Zweck bunte Perlen, die die Mitglieder in eine Wahlurne warfen, benutzt. Die Wissen schaftler hatten vier mögliche Optionen (vgl. The Five Gospels): a.) (Rot) »Ich würde dieses Wort eindeutig in den Katalog der Worte aufnehmen, die spiegeln, wer Jesus wirklich war. Oder: Jesus hat dies oder etwas sehr Ähnliches unzweifelhaft gesagt.« b.) (Rosa) »Ich würde dieses Wort nur mit Bedenken in den Katalog aufnehmen. Oder: Jesus hat wahrscheinlich etwas Ähnliches gesagt.« c.) (Grau) »Ich würde dieses Wort nicht in den Katalog aufnehmen, würde mich aber am Sinn des Diktums orientieren, um zu bestimmen, wer Jesus war. Oder: Jesus hat dies nicht gesagt, doch hat das Wort Ähnlichkeiten mit dem, was er gesagt hat.« d.) (Schwarz) »Ich würde dieses Wort nicht in den Katalog aufnehmen. Oder: Jesus hat das nicht gesagt.« Jeder Option oder Farbe wurde ein Wert zugeordnet (rot= 3, rosa= 2, grau= 1, schwarz= 0), und die Resultate wurden tabellarisch festgehal ten, um ein gewichtetes Mittel auf einer 1.00 Skala ZNT 16 (8. Jg . 2005) Willi Braun >Wir haben doch den amerikanischen Jesus< zu erhalten (0.7501 und mehr = rot; 0.5001 bis 0.7500 = rosa; 0.2501 bis 0.5000 = grau; bis 0.2500 = schwarz). Auf diese Art sollte sichergestellt werden, daß jede abgegebene Stimme bei dem Versuch den Durchschnittswert zu errechnen, zählte, mit dem Ziel, so präzis wie möglich das Maß gelehrter Meinungen zu reflektieren ohne Uneinigkeit zu demonstrieren. Nach sechs arbeitsreichen Jahren publizierte das Jesus Seminar abschließend seine Ergebnisse in seiner farbkodierten Ausgabe der Evangelien (inclusive des Thomasevangeliums) unter dem Titel The Five Gospels: The Seareh for the Authentie Words of Jesus (1993). In einer zweiten Phase unterzogen die Mitglieder des JS in gleicher Weise die Taten Jesu ihrer Bewertung, die dann als The Acts of Jesus: The Seareh for the Authentie Deeds of Jesus (1998) veröffentlicht wurde . Obwohl die so publizierten Resultate immense öffentliche Aufmerksamkeit erregten (durchaus geschürt von den Mitgliedern des Jesus Seminars, etwa durch respektlose Bezeichnungen Jesu als »Bastard Messias« [d.i. nicht von einer Jungfrau geboren] oder als »erster jüdischer Bühnenkomiker« [d.i. ein Meister gewitzter Worte]), war die Art und Weise, wie die Resultate zustande kamen, doch alles andere als neuartig. Ganz wie in der Leben-J esu-Forschung vergangener Jahrzehnte wurde die Jesustradition mit Hilfe der Standardmethoden Literar-, Form und Redaktionskritik durchkämmt, kombiniert mit dem Differenzkriterium oder dem Prinzip der Mehrfachbezeugung. Auch dürfte wohl kein Neutestamentler von der niedrigen Überlebensquote von J esusworten auf dem Seziertisch des Jesus Seminars überrascht ge wesen sein: Nur 18% der Jesus zugeschriebenen Worte wurden von den Mitgliedern des Seminars mit rot oder rosa bewertet, 16% der Jesus zuge schriebenen Taten erhielten die gleiche Bewertung. Eine Zusammenschau derjenigen Worte und Taten, die die Mitglieder des Seminars für authentisch erklärten, ergibt einJesusbild, das historisch gewieften Amerikanern bekannt vorkommen dürfte: Der Jesus, den Robert Funk und seine Kollegen exhumierten, hat bemerkenswerte Ähnlichkeit mit J effersons galiläischem Weisen.Jesus entstieg dem JS als ein galiläischer Landbewohner mit einer bewunderungswürdigen Begabung zu gerissener Schlagfertigkeit und geistreicher Er- 35 Zum Thema zählkunst, vergleichbar den Kynikern (obwohl dies ein häufig zu hörender Vorwurf ist, l at kein Mitglied des JS jemals behauptet, Jesus sei ein Kyniker gewesen). Ziel von Jesu En lassungen, mit den rhetorische n Mitteln von Witz, Paradoxie, Doppeldeutigkeit und Übertreibung gewürzt, war, seine Zuhörer aufzuschrecken und zu schockieren und sie so ber eit zu machen, eine subversive Position in H insicht auf ihre sozialen Realitäten einzunehmen un d, geleitet von der Metapher vom » eich Gott es«, die Umkehrung der Verhältnisse zu erwart en . Ein lakonischer Weiser und Poet w ar er, nicht ein apokalyptischer Visionär, ein Mann, der ~ich selbst keine göttlichen Titel beimaß oder d.as Ende der Welt zu seinen Lebzeiten erwartet e, e: n religiöser und sozialer Störenfried, ein Bilders: ürmer, ein subversiver Landprediger, nicht mehr Sohn Gottes als Du und ich es sind, nicht von einer· Jungfrau geboren, kein Wundertäter (obwohl ein p aar Heilungswunder das kriti sche Ur teil des TS mit wenigste ns rosa oder grauer Kodierung passierten), natürlich ohne Auferstehung oder Himme lfahrt und, o bwohl man am Kreuzestod fes thielt, keine Passion wie in den Evangelien geschilden: . Ebenso wie Je: ffersons Moralphilosoph hat Funks J es us ernsthaft Federn lassen müssen im Vergleich zu dem Stams, der ihm in den Evangelien zukommt, in den frühchristlichen Bekenntnissen und übrigens au ch in den Herzen von Millionen amerikanischer bibeltreuer, evangelikaler Christen. 4. Vom Jesus der Geschichte zum ,Jesus des historischen Diskurses Wie soll man das Werk des Je su s Seminars beurteilen? Seine prinzipielle Leistung, nämlich d er Einsatz historischer Meü10den zur Rekonstruktion einer Persönlichkeit der Vergangenheit, ist nicht sonderlich bemerken sde nz gelten soll. Im besten Fall hat das Seminar Evidenz und Schlußfolgerungen wiederaufgefunden und erneut besprochen, die sich bereits im dicken Dossier der Leben-Jesu-Forschung fan den, wenn auch die Argumentation des Seminars zu gegeben oft schärfer, zwingender ist. In dieser Hinsicht ist also kaum kognitiver Gewinn zu verzeichnen. Nun soll dies allerdings nicht heißen, daß das Seminar nicht erfolgreich gearbeitet hätte. Doch sind die Erfolge eher unerwartet und, ja, eigentlich versehentlich. Der Erfolg liegt nicht in einer umwerfend neuen Rekonstruktion des historischen Jesus, sondern darin, Aufmerksamkeit auf Sachverhalte gelenkt zu haben, die bedeutend zu un serem Wissen über die Welt der frühen Christentümer beigetragen haben. Man betrachte z.B. die Flut von Arbeiten zur Spruchquelle Q und zum Thomasevangelium, die z.T. durch die Frage nach dem historischen Jesus ins Rollen gebracht worden ist. Wir wissen dank dieser und anderer Untersuchungen nun viel mehr über die soziale, politische und wirtschaftliche Realität Galiläas und seiner Nachbarregionen im ersten J ahrhundert. So hat etwa J.D. Crossans meisterhaftes Leben J esu ein überzeugendes Modell historischen Arbeitens entworfen, das Historiker des frühen Christentums sorgfältig lesen sollten, einmal abgesehen von Crossans Schlußfolgerungen über Jesus. Sein Werk repräsentiert eine brilliante Verschmelzung theoretischer und ethnographischer Studien aus der Kultur- und Sozialanthropologie, Studien vorindustrieller agrarischer Gesellschaften, des antike Patronatswesens und darüber hinaus alle intellektuellen und methodischen Bausteine für plausibel-phantasievolle historische Rekonstruktion.'0 Die neutestamentliche Forschung ist durch das Jesus Seminar und die vielgestaltigen Untersuchungen, die es inspirierte, bedeutend bereichert worden. Und darüber hinaus? Das wert - und das ist ja auc h nicht überraschend, wenn man bedenkt, daß die Art der Evidenz, mit der es die Jesusforschung zu tun hat, a pr io: : -i vorgenommene Festlegungen (in religiösen oder ideologischen Präferenzen begrür.. c.e-) »D ie neutestamentliche Forschung ist durch das Jesus Seminar und die vielgestaltigen Untersuchungen, die es inspirierte, bedeutend bereichert worden.« Jesus Seminar ist ein ausgesprochen interessantes Beispiel für den kulturellen Wettstreit in Amerika, in dem Jesus als unausweichliches » Vorher« alles religiöse, ideologische und moralische darüber erfordert, was denn überhaupt als Evi- 36 »Nachher« autorisiert. Es ist deutlich, daß Funk, ganz wie zuvor Jefferson - ZNT 16 (8 . Jg. 2005) dem Funk übrigens The Five Gospels widmet! -, selbstgerecht den historischen Jesus als Kriegsaxt gegen die Fesseln traditioneller christlicher Be kenntnisse und Institutionen schwingt, die seiner Meinung nach ihren unseligen Höhepunkt in genau dem christlichen Fundamentalismus finden, in dem Funk selbst aufwuchs. Diese Tatsache nimmt dem Porträt Jesu als subversiver Weiser, das das JS erstellte, zwar nichts von seiner Plausibilität, doch enthüllt sie diesen historischen Jesus als einen erneuten Versuch, den Mythos des Uranfangs wiederzubeleben, wobei die »Geschichte« (historischer Jesus) hier die Funktion übernimmt, diejenigen Jesusporträts zu unterminieren, die Funk gerne von der amerikanischen kulturellen Bühne abtreten sähe. Prinzipiell aber ist es unnötig, Jesus als Freund dieses oder Feind jenes kulturellen Wertes anzurufen. Schließlich liegt diese Welt in unserer Verantwortung. Wenn Geschichte, inklusive aller Geschichten von ihrem übernatürlichen Ursprung und ihrem gottgeleiteten Verlauf, von Anfang bis Ende menschliche Produktion ist, dann können wir der Pflicht zur Verantwortungsübernahme nicht entkommen. Solche Willi Braun ,Wir haben doch den amerikanischen Jesus< Theater unseres Lebens je nach Bedarf auf- und wieder abbauen könnte. Solche Sicht wäre ein Phantasieprodukt, das die Komplexität kultureller und materieller Kräfte übersieht. Im Gegenteil, mein Anliegen mit dieser kurzen Auswertung des Jesus Seminars im Rahmen der Leben-Jesu- Forschung ist vielmehr, das Bewußtsein für ein historiographisches Axiom zu schärfen: Weder der historische Jesus, noch der Christus der Bekenntnisse, noch biblische oder nachbiblische Erzählungen vom Ursprung des Christentums sind zutreffende historische Darstellung der Vergangenheit, sondern sie sind Mythographien des Ursprungs, die nichts als unsere sehr identifizierbaren Interessen, in unserer Zeit und an unserem Ort, widerspiegeln. Wenn dies richtig ist, dann hat es Konsequenzen für jedes zukünftige Studium der christlichen Anfänge und Geschichte: Solches Studium muß fest inmitten der oft unappetitlichen menschlichen Realität verankert sein, nicht jenseits davon. Die erste Aufgabe, sicherlich im Rahmen akademischer Auseinandersetzung mit dem Thema, bestünde dann darin, solche Behauptungen zu evaluieren, die die Geschichte des Christentums als etwas ande- Verantwortlichkeit schließt beides ein: unser Tun jetzt und die Art, wie wir die Vergangenheit benutzen, um unsere Taten, Ansichten, Sozialstrukturen etc. zu legitimieren. Es gibt keine Blankovollmachten wacklige Abstrak- »]esu ipsissima vox ist so sehr überlagert von der Kakophonie, die die zahllosen Bauchredner produzieren, die sich ihm im Laufe der Zeit angedient haben ... « res als nur ein weiteres Beispiel für ganz normale menschliche Geschichtsfabri kation vertreiben. Sicher, Jesus hat gelebt, aber er hat das Christentum nicht gemacht. Der historische Jesus ist tionen wie »Natur«, »Vorsehung«, »Gott«, der »historische Jesus« oder Ähnliches, was die menschliche Vorstellungskraft mit scheinbarer Realität versieht und in unanfechtbare Bekenntnisse und Kanones gießt die es uns erlauben würden, unser Wahlrecht zu vernachlässigen oder unsere Position so ehrlich und transparent wie möglich einzunehmen. Die Frage: >Wie sollen wir leben? < und: >Was konstituiert eine humane Gesellschaft? < wird von einem toten Galiläer nicht gelöst werden. Wir sollten ihm und uns nicht die Schande bereiten, ihm unsere persönlichen, sozialen und nationalen Sorgen oder Pflichten aufzuerlegen. Nun muß ich einigen Mißverständnissen vorbeugen. Ich plädiere nicht für eine prometheische Sicht menschlicher Potenz, die heldenhaft das ZNT 16 (8. Jg. 2005) tot, sein Körper ist zu Staub zerfallen. Seine ipsissima verba sind verweht, so wie alle Worte verklingen, sobald sie gesprochen sind. J esu ipsissima vox ist so sehr überlagert von der Kakophonie, die die zahllosen Bauchredner produzieren, die sich ihm im Laufe der Zeit ange dient haben, beginnend mit den Evangelisten und endend (vielleicht) bei Robert Funk und dem Jesus Seminar, daß man jedem, der beansprucht, im Besitz zuverlässiger Stimmidentifizierungstechnologie zu sein, sehr skeptisch begegnen sollte. Die Ironie liegt freilich darin, daß man den historischen Jesus gar nicht braucht, weder aus theologischen Gründen (und das hat Paulus bereits demonstriert), noch für das profanhistorische Unternehmen, die Formierung der ersten christlichen Gemeinschaften zu verstehen. Denn prinzipiell ist jeder historiographische Ansatz schlicht 37 Z um Th e m a naiv, der annimt, daß eine sch on an ihrem Beginn so vielfältige soz io -religiöse Bewegung wie das frühe Christentum auf ein einziges Individuum zurückführbar is t. Daher sche in t der Ra t angemessen, mit dem der kanadische Neutestamentler William Arnal sein Buct . The Symbolic Jesus schließt: "Vielleich t sollt e man die Frage nach dem historischen J esus ein weiteres Mal ad acta legen. Nicht, weil Wissenschaftler sich nicht auf eine Rekonstrukt i on einigen könnten. [... ] Nicht, weil die Untersuchung vore i ngenomme n wäre; Voreingenommenheit ist mwermeidbar, hier und anderswo. Noch n icht einmal, weil angemessene Schlußfolgerungen angesichts der Defizit e unseres Quellenmate rials unmöglich wär en, obwohl letzteres der Fall sein mag. Sonde rn weil letztlich der historische J esus irrelevant ist, sowohl für unser Verständnis der Vergangenheit als auch der Gegenwart. Die historisch : .-elevanten und interessanten G r ünde für die Entwick l ung der christlichen Bewegung sin d nich t in der Person .J esu zu finden, sondern in den koLei.tiven Machenschaften, der Agenda und den Wechse~haftigkei.ten der Bewegung selbst. U nd: Der J esus, der uns heute wichtig ist, ist w irklich nicht der Jesus der Geschichte, sondern der sym b olische Jesus unseres zeitgenös sischen Diskurses. «" 1 Anmerkungen Ich danke Dr . Gabriele Faßbeck für ihre Offert,e, das Jesus-Seminar für ZNT zu besprechen und für Ihre Übersetzung meines Artikels ins Deutsch e. Mein D ank geht ebenso an meinen Assistent en C had Kile für seine Recherchearbeit. Bad Religion, American Jesus, in: Recipe for Hate, Epitaph Records, 1993. 3 Vgl. L.H. Martin, History, Historiography and Christian Origins, Studies in ReligioIL 1 Scie: ices Religieuses 29 (2000), 69-89; T. Holmen, A T heologically Disinterested Quest? On the Origim of eh e »Third Q uest« for the HistoricalJesu s, Studia Theologica 55 (2001), 175- 197; C. Marsh, Quests of t: he Historical Jesus in the New Hi storicist Perspective, Biblical Interpretation 5 (1997), 403-437. ' J.Z. Smith, Imagining Religio n: Fro m Babylon 1: 0 Jonestown, Chicago 1982, xiii. 5 E. Hobsbawm, Wieviel G es chic ht e braucht die Zukunft? , München 1998, 1S. • J.D. Crossan, Th e Birt: h ot Chris tianity: Discovering What Happened in the Yea rs Immediately After the Execution of Jesus, San Francisco 1998, 59. 38 P. F. Esler, Conflict and Identity in Ro mans: The Social Setting of Paul's Letter, Miimeapolis 2003, 24; vgl. D. Georgi, The Interest in Life of Jesus Theology as a Paradigm for the Social History of Biblical Criticism, Harvard Theological Review 85 (1992), 51-83, bes. 79; H. Koester, The Historical Jesus and the Historical Situation of the Quest: An Epilogue, in: B. Chilton and C.A. Evans (Hgg.), Studying the Historical Jesus: Evaluations of the State of Current Research, Leiden 1998, 535 -545 . ' R . F. Berkhofer, Beyond the Great Story: History as Text and Discourse, Cambridge, Mass . 1995; A. Easthope, Romancing the Stone: History-Writing and Rhetoric, Social History 18 (1993), 235-249; D. LaCapra, Rhetoric and History, in: ders., History and Criticism, Ithaca, New York 1985, 15-44; L. Stone, The Revival of Narrative: Reflections on a New Old History, Past and Present 85 (1979), 3-24; H. White, The Fictions of Factual Representation, in: A. Fletcher (Hg.), The Literature of Fact: Selected Papers from the English Institute, New York 1976, 21-44; ders., Tropics of Discourse: Essays in Cultural Criticism, Baltimore 1978; ders., The Content of the Form: Narrative Discourse and Historical Representation, Baltimore 1987. 9 M. -R. Trouillot, Silencing the Past: Power and the Production of History, Boston 1995. ' 0 J. Baudrillard, Simulacre et simulation, Paris 1981. " R .W. Funk and the Jesus Seminar (Hg.), The Acts of Jesus: The Search for the Authentie Deeds of Jesus, San Francisco 1998, 1. 12 Vgl. S. Prothero, American Jesus: How the Son of God Became a National Icon, New York 2003, 41ff. B.L. Mack, The Historical Jesus Hoopla, in: ders., The Christian Myth: Origins, Logic, and Legacy, New York 2001, 25-40 (28-34). 13 An History of the Corruptions of Christianity (1782), An History of Early Christian Opinions Concerning Jesus Christ (1786), A General History of the Christian Church from the Fall of the Western Empire to the Present Time (1802, gewidmet Thomas Jefferson) und Socrates and Jesus Compared (1803). 14 Ich folge hier Prothero, American Jesus, 19-32; D.W. Adams (Hg.), Jefferson's Extracts from the Gospels, Princeton 1983; J.Z. Smith, On the Origin of Origins, in: ders., Drudgery Divine: On the Comparison of Early Christianities and the Religions of Late Antiquity, Chicago 1990, 1-35. ,s Adams, Jefferson's Extracts, 352; Prothero, American J esus, 24. 16 P rothero, AmericanJesus, 301-302. 17 D ie Belege sind viel zu zahlreich, um sie hier aufzuführen. Mein Assistent Chad Kile hat eine 36 Seiten umfassende Bibliographie zu Jesus und d~m Jesus Seminar in den populären Medien Amerikas zusammengestellt. Eine Auswahl von Presseartikeln zu J esus ist zugänglich unter http: / / virtualreligion .net/ forum/ reaction .html. Die populäre Fernsehserie From Jesus to Christ des Public Broadcasting Service (PES) hat eine begleitende Website http: / / www.pbs.org/ wgbh/ pages/ frontline/ shows/ religion/ . C. Allen, The Human Christ: The Search for the H istorical Jesus, New York 1998 ist der Bestseller eines J ournalisten, der die amerikanische Jesusforschung unt er besonderer Berücksichtigung des Jesus Seminars darstellt. " M. Borg, A Renaissance in Jesus Studies, Theology Today 45 (1988), 280-292; ders., Jesus in Contemporary ZNT 16 (8. Jg. 2005) Willi Braun >Wir haben doch den amerikanischen Jesus• Scholarship, Valley Forge, Pennsylvania 1994, 3-17; von den zahllosen Überblicksdarstellungen zum neuerlichen Interesse am Leben J esu seien hier genannt J.H. Charlesworth, From Barren Mazes to Gentle Rappings: The Emergence of Jesus Research, Princeton Seminary Bulletin 7 (1986), 221-230; W.G. Kümmel, Jesus Forschung seit 1981, Theologische Rundschau 53 (1988), 229 -49; 54 (1989), 55 (1990), 21 -45; 56 (1991 ), 27-53, 391 -420 (eine Besprechung von ca. 120 Büchern und Artikeln aus den beginnenden 1980ern); C.A. Evans, Life of Je sus Research: An Annotated Bibliography, Leiden 1989; W.B. Tatum, In Quest of Jesus: A Guidebook, Atlanta 1982; W.M. Thompson, The Jesus Debate: A Survey and Synthesis, New York; W.R. Telford, Major Trendsand Interpretive Issues in the Study of Jesus, in: B. Chilton and C.A. Evans (Hgg .), Studying the Historical Jesus : Evaluations of the Stare of Current Research, Leiden 1998, 33 -74; S.E. Porter, The Criteria for Authenticity in Historical-Jesus Research: Previous Discussions and New Proposals, Sheffield 2001. Seit 2003 auf dem Markt ist das Journal for the Study of the Historical Jesus (verlegt bei Sage Publications in California und London). " R.W. Funk, The Issue of Jesus, Foundations and Facets Forum 1 (1985), 7. (Foundations and Facets Forum ist eine Fachzeitschrift, in der die Mitglieder des JS Artikel publizieren, die auf ihren Vorträgen im Seminar basieren.) 20 J.D. Crossan, Der historische Jesus, 2. Aufl., München 1995. 21 W.E . Arnal, The Symbolic Jesus: Historical Scholarship, Judaism and the Construction of Contemporary Identity, London 2005, 77. Hartmut Heuermann Relioion ~--: -~ 0 ~~-. und ldeolorrie '-- Die Verführung des Glaubens durch Macht Hartmut Heuermann Religion und Ideologie Die Verführung des Glaubens durch Macht 2005, 343 Seiten, € 29,90/ SFr 52,20 ISBN 3-7720-8106-1 Der Mensch ist ein machthungriges Wesen. Um sich die Welt gefügig zu machen, strebt er danach, die objektive Wirklichkeit seinem subjektiven Willen zu unterwerfen und Dominanz über Natur und Gesellschaft zu erlangen. Darin folgt er einem Trieb, der rationalisiert und systematisiert zur Bildung von Ideologien führt, ein Trieb, von dem grundsätzlich auch der homo religiosus nicht ausgenommen ist. Vom Pantheon der antiken Götter bis zum Machtzentrum der römischen Kurie haben ideologisierte Religionen eine Blutspur in die Geschichte gezeichnet, die das hehre Anliegen von Glaubensvertretern nur allzu oft als inhumanes Programm entlarvt und ihre noblen Bekenntnisse Lügen straft. Dieses Buch untersucht ,Brennpunkte' der Religions - und Gesellschaftsgeschichte, an denen die unselige Verquickung von Gläubigkeit und Machtversessenheit sichtbar wird. Ob es um den blutrünstigen Jahwe der Israeliten, den unduldsamen Allah der Muslime oder den „allmächtigen" Gott der Christen geht; ob wir das Debakel der so genannten Kreuzzüge, die Untaten der „Heiligen Inquisition" oder die Raubzüge der Konquistadoren in der Neuen Welt betrachten; ob es sich um die Motive fundamentalistischer Gewalttäger oder die messianische Politik eines George W . Bush handeltstets stoßen wir auf diesen Komplex aus Glaubensinbrunst und Machtgier, der die überirdischen Ziele religiöser Verkündiger auf höchst irdische Weise kompromittiert. Die kritischen Analysen münden in die Frage, ob und unter welchen Bedingungen es ideologiefreie Religion geben kann. Narr Francke Attempto Verlag Dischingerweg 5 · D- 72070 Tübingen ZNT 16 (8. Jg . 2005) 39 Kontroverse Herodes: Kindermörder oder weiser Staatsmann? Eine Einführu ng zur Kontroverse Neben Jud as Isch ariot wird kaum eine Gestalt der frühjüdisch-christlichen G eschichte zur Zeit J esu derart negativ gedeutet wie Herodes der Groß e. »Herodes erlangte sein Königreich wie ein Fuchs, er regierte wie ein Tiger und starb als Verrückte r.« 1In der traditionellen jüdischen Geschichtsschreibung galt er a ls ein verschlagener un d mordlüsti ge r De spot, der die jüdische Religion missachtete und das rec h: mäßige jüdische Königshau s der Has monäer mit Stumpf und Stil ausrottete. Dieses und ähnliche Urteil e, die kaum ein gutes Haar an H erodes li .gen, beruhen auf einer nationalreligiösen Sichtweise, die ku lturelle und religiöse Isolatio n zum Ideal erhebt und auf politischem Feld die realen Gege benheiten und Handlungsspielräume nicht zu sehen vermag. Die römisch-hellenist is che Kultur wird als identitätsbedrohende Gegenwelt gesehen. Eine Öffnung ihr gegenüber, wie sie die H erodianer versuchten, kann dann höchs tens als politischer Opportunismus gewertet werden. Der Schlüss el zu einem abgewogenen Verständnis des Herodes li eg e in den politischen Verhältnissen Judäas , die Hero d es vorfand und die er weder verändern konnte n och aus eigenem Willen verändern wollte. Spätestens seit 40 v. Chr., dem Jahr als Herodes aus Jerusal em vor den Parthern und dem mit ihnen verbündeten Antigonus nach Ro m fliehen musste und er dort aufgrund eines Se natsbeschlusses nach Fürsprache von Antonius und Oktavian zum König von Judäa ernannt wurde ,2 war ihm bewusst, dass er nur mit der Hilfe Roms bestehen konnte. Diese Grundhaltung hatte für das Selbstverständnis des Herodes auf dem Hintergrund des unt er Augustus besonders im Orient aufkommenden politischen Messianismus auch religiöspolitische Implikationen. Fundament dieser religiö sen Einbindung und Legitimierung seines Königtums war der Euergetismus,3 den Herodes zur Richtschnur seines Regierens machte. Herodes I. war nicht nur einer der bedeutend sten Bauherren se iner Zeit, ein großartiger Kämpfer und Stratege, ein diplomatischer Politiker, sondern auch ein Visionär. Er hatte die Vision, Israel aus seinem Partikularismus in die Weite der he llenistisch-römischen Ökumene zu führen. Er war offen für die kulturellen Entwicklungen seiner Zeit und achtete doch in einem erstaunlich ho hen Maß die Gesetze und Bräuche seines Vo lkes. In einem gewissen Sinn trug Herodes die kri egerischen Züge eines Davids und besaß die »multikulturelle« Offenheit eines Salomo. Man wird diesem Mann nicht gerecht, wenn UTß Theologie 40 Fve-Marie Becker (ltrsg.) Eve -Marie Beck er (Hrsg.) Neutestamentliche Wissenschaft Autobiographische Essays aus der evangelischen Theologie UTE 2475 M, 2003, XVII, 394 Seiten, € 24, 90/ SFr 43, 70 UTE-ISBN 3-8252-2475-9 A. Francke ZNT 16 (8. Jg. 2005) man ihn aus dem Blickwinkel fanatischer Pharisäer beurteilt, die seine ärgsten Gegner waren . Wie richtig der von Herodes eingeschlagene Weg gewesen wäre, zeigt die Katastrophe des jüdischen Krieges nur einige Jahrzehnte nach seinem Tod. A uf der anderen Seite muss man allerdings auch bedenken, dass die nativistischen Bewegungen' des Judentums in ihrem Versuch, sich durch Abgrenzung von dem großen Assimilationsdruck der römisch-hellenistischen Kultur zu befreien, die Identität des Judentums auch durch politische Katastrophen hindurch zu wahren vermochten. Herodes hat sich dem starken »Hellenisierungsschub « seiner Zeit geöffnet. Er beförderte, dass griechische Sprache, hellenistische Lebensart und Kultur und in Ansätzen auch eine synkretistische Religiosität das Leben in Judäa teilweise überformten .5 Ob Herodes zu dieser Hellenisierungspolitik eine realistische Alternative hatte, erscheint mir allerdings fraglich. In geradezu exemplarischer Weise zeigt die anschließende Kontroverse, wie man bei unterschiedlicher Gewichtung der selben Quellen und durch die Wahl eines bestimmten Blickwinkels der Interpretation zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen kommen kann. Die reine historische Wahrheit gibt es nicht. Alles ist eine Frage der Auslegung. »Was ist Wahrheit? « 0oh 18,38) mit dieser skeptischen Frage beendet der Statthalter Pontius Pilatus einen der vielleicht berühmtesten Dialoge der Weltliteratur ... Roman H eiligenthal Anmerkungen ' S. Zeitlin, Who crucified Jesu s, New York 1964, 21 : » Herod achieved his kingdom as a fox , ruled as a tiger and died as a madman. « 2 Jos ant XIV, 14,1-5; bell I 14,4. 3 Vgl. Zum Verständnis: Art. Euergetismus, in: Der Neue Pauly Bd. 4 (1998), 228-230. • Vgl. hierzu: G . Theißen, Jesus - Prophet einer millenaristischen Bewegung? Sozialgeschichtliche Überlegungen zu einer sozialanthropologischen Deutung der Jesusbewegung, in: EvTh 59 (1999), 402-415. 5 Siehe hierzu: G . Theißen / A. Merz, Der umstrittene historische Jesus. Oder : Wie historisch ist der historische Jesus? , in: S.M . Saecke / P.R. Sahm (Hgg.), Jesus von Nazareth und da s Christentum . Braucht die pluralistische Gesellschaft ein neues Jesus bild? , Neukirchen-Vluyn 2000, 184 . ZNT 16 (8 . Jg. 2005) Stefan Alkier / Hermann Deuser Gesche Linde (Hrsg.) Religi öse r Fundamentalismus Analysen und Kritiken 2005, Vlll, 230 Seiten, € 29 ,90 / SFr 49, 90 ISBN 3-7720-8099- 5 Fundamentalismus ist kein islamisches bzw. arabi sches Sonderproblem. Vielmehr finden sich auch in der Begründung US-amerikanischer und europäischer Politik christlich-fundamentalistische Plausibilitätsstrukturen und im Konflikt zwischen Palästina und Israel sind es gerade fundamentalistische Denkweisen, die einen friedlichen Diskurs blockieren . Aber was ist Fundamentalismu s? Woher bezieht er seine verführerische Kraft? Diese Frage wird reli gionsphänomenologisch, religionsphilosophisch, so ziologisch, politikwissenschaftlich und theologisch erörtert. A. Francke Verlag Tübingen Vorschau auf Heft 17 Themenheft: Gewalt und Gewalterfahrung Neues Testament aktuell: Martin Leutzsch, Gewalt und Gewalterfahrung im Neuen Testament. Ein vernachlässigtes Thema neutestamentlicher Forschung Zu m Thema: Franr; ois Vouga, Rene Girard und das NT Martin Evang, Wie reagieren Christen auf Gewalt? Perspektiven des lPetr Gerd Theißen, Aggression und Aggressivität im Neuen Testament Kontroverse: Ist der eine Gott gewalttätig? Jan Assmann vs . Eckard Reinmuth Hermeneutik und Vermittlung: Michael Schneider, Rezeption apokalyptischer Texte in Songs von Xavier Naidoo Buchreport: W. Dietrich u. M. Mayordomo, Gewalt und Gewaltüberwindung in der Bibel, Zürich 2005 41 Kontroverse Kontroverse : Manuel Vogel ' 1 Herodes: Kindermörder. Hint,ergründe einer Rollenbesetzung He rodes i st im euen Te st am e nt eine Ra n dfigur des Bösen, gleichw ohl promin ent durch das Ausmaß seiner Bosh eit. Sofe rn das Neue Testament Hero d es als Rand fi gur auftret en lässt, ihm nur eine Nebenrolle am Anfang der Jesusgeschichte zuweist, wird es der tatsächlich en Bedeutung dieses Herrsche rs nicht gerecht. König Herode s d. Gr. (37-4 v.Ch r.) hat fü r die D auer von fast vier Jahrzehnten w i e kein Zw eit er die Geschicke Palästinas bestimmt. Was jedoch sein e Bosheit b etrifft, so ist der w eltberühmte Kindermord von Bethlehem eine durch aus angemessen e erzählerische Veranschaulichung dessen, wo zu er fähig war. Besser Herodes' Schwein als sein Sohn? Die Gra u samkeit des Herodes gegenübe r allen, d ie seiner Macht stellu ng ge : : ä h rli ch wurd en ob tatsächlich oder vermeintlic h, vermochte H erodes mit zune h mende m Alter b .u m mehr zu unterscheiden war sc hon in d er Antike sprichwörtchischen Vorlage lebt sie vom Wortspiel mit hys (Schwein) und hyios (Sohn). Erkennbar sind bei Macrobius zwei Traditionen miteinander verbunde n: Das Wortspiel des Augustus, das auf die Gr ausamkeit des Herodes gegenüber seinen Söhnen abhebt und der bethlehemitische Kindermord. Diese Kontamination war nur möglich um de Preis eines gravierenden sachlichen Fehlers: Di e drei Herodessöhne, die der Despotie ihres Vaters zum Opfer gefallen sind, starben sämtlich im Erwachsenenalter. Lassen wir also den bethlehemitischen Kindermord für einen Moment außer acht und beschäftigen uns mit dem Ausspruch des Pri ceps selbst: »Es ist besser, Herodes' Schwein zu sein als sein Sohn«. Zunächst einmal kommen hier zwei historische Details zum Tragen: Herodes stand in persönlichem Kontakt mit Augustus, und er galt diesem als Jude. Dass ein Schwein am herodianischen Hof sicherer lebte als die Herodessöhne, setzt die jüd ische Enthaltung von Schweinefleisch voraus. Herodes ließ aus diesem Grund keine Schweine schlachten, wohl aber ließ er lich. Kein Geringer er als Kai ser August u s soll angesich: s d es Mordens, das Herode s sogar innerhalb seiner eigenen Familie veranstaltete , gesagt haben, es sei besser, ein Schwein de, Herode s zu sein als sein Sohn. Ü b erliefert: ist »Die Grausamk eit des Herodes gegenüber allen, die seiner Machtstellung gefährlich wurden[. .. ] war schon in der Antike sprichwörtlich.« seine eigenen Söhne umbringen. In einem zweiten Schritt können wir dem Bonmot des Augustus entnehmen, dass die Grausamkeit der herodianischen Gewaltherrschaft sogar in Rom von sich reden dieser A u s~ p ruch in den Saturnalien d.es Macrobiu s. Das um 400 n.Chr. publizierte Werk ent h ält im zw eiten Buch, woh l unter Ve rw e ndu n g alter aug usteischer Quellen , eine Sammlung witziger Aussprüche des Augustus, darunter auch den fo lge r: den: »Als er [s ,: i l. Augustus] h ön e, dass unter den Knaben unter zwei Jahren, die Hero: ie s, Kön ig der Juden, in Syrien zu töten befo hlen ha tt e, auch dessen eigener Sohn zu Tode gekommen wa r, rief er: Es ist besser, Herodes' Schwein zu sein als sein So hn« (2,4, 11). Bereits im lateini schen Tex t bü ß t d ie Bem erkung des Augustus ihr en Witz te ilw eise ein. In d er grie- 42 machte. Auch das scheint nicht übertrieben. Was wir darüber wissen, geht üb er das Normalmaß dessen, was antike Quellen so n st von den Gewalttaten vorderorientalischer Herrscher berichten, deutlich hinaus. Doch der Reihe nach. Nikolaos von Damaskus: Ein Hofchronist packt aus N ach Jahren des Machtkampfes um den J erusalemer Thron, aus dem Herodes siegreich hervorgegan gen war, konnte er sich als judäischer König ZNT 16 (8 . Jg. 2005) Manuel Vogel PD Dr. Manuel Vogel, geb. 1964, seit 2004 Privatdozent für Neues Testament und Hellenistisches Judentum an der Westfälischen Wilhelms- Universität Münster. Promotion 1994 in Heidelberg über »Bundestheologie im Frühjudentum und im frühen Christenrum«. Von 1996 bis 2002 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Josephus-Projekt des lnstitutum Judaicurn Delitzschianum in Münster. 2003 Habilitation über »2. Korinther 5,1-10 auf dem Hintergrund antiker ars moriendi«. Weitere Veröffentlichungen im Neuen Testament, zum antiken Judentum und zu Flavius Josephus. von Roms Gnaden ab 37 v.Chr. weitgehend ungestört der Entfaltung monarchischer Pracht widmen. Dazu gehörte neben einer bemerkenswerten Bautätigkeit auch die Ausstattung seines Hofstaates mit Rhetoren, Literaten und Philosophen von Rang. Deren wichtigster war Nikolaos von Damaskus, peripatetischer Philosoph, vormals bei Antonius und Kleopatra in Diensten. Irgendwann nach deren Tod 30 v.Chr. holte ihn Herodes nach Jerusalem und machte ihn zu seinem Chefdiplomaten und Hofgeschichtsschreiber. Nikolaos' opus magnum, eine Weltgeschichte in 144 Büchern, war ein Auftragswerk. Herodes wollte sich damit zweifellos ein literarisches Denkmal setzen: Die Geschichte der Welt von den Anfängen bis zum Tode Herodes' des Großen! Doch wie schonungslos hat Nikolaos die letzten Jahre, Wochen und Tage des Judäerkönigs beschrieben, wie glanzlos und abstoßend ist das, was wir da zu lesen bekommen. Fast scheint es, als habe sich der feinsinnige und gebildete Nikolaos mit Federkiel und Papyrus nachträglich rächen wollen für Jahre der Unfreiheit am Hof eines machtversessenen ZNT 16 (8 . Jg. 2005) Manuel Vogel Herodes: Kindermörder und gewalttätigen Tyrannen. Anders ist es kaum zu erklären, dass Nikolaos seinem Brotherrn postum das für einen antiken Menschen Schlimmste angetan hat, nämlich ihn in der literarischen Nacherzählung eines würdelosen und erbärmlichen Todes sterben zu lassen. Kurze Rückblende: Der Aufstieg eines ldumäers zum römischen Klientelkönig Damit wir wissen, mit wem wir es zu tun haben, seien in aller Kürze die wichtigsten Stationen im Leben des Herodes rekapituliert. Wir halten uns dabei an den jüdischen Geschichtsschreiber Flavius Josephus (36/ 37 bis ca. 100 n.Chr.), der in seinem Bel/ um Judaicum und den Antiquitates Judaicae ausgiebig aus Nikolaos' Werken geschöpft hat. Herodes' Familie betrat die Bühne der Geschichte nach dem Tode der Hasmonäerin Salome Alexandra 67 v.Chr., als zwischen ihren Söhnen Aristobul und Hyrkan II. ein Bruderzwist um die Macht im Staate entstand. Der Idumäer Antipater, Herodes' Vater, setzte als Berater Hyrkans von Anfang an auf eine konsequente Bindung an Rom und wusste diese auch in den unruhigen Zeiten innerrömischer Machtkämpfe stets zu seinem Vorteil durchzuhalten. 47 v.Chr. ernannte Julius Cäsar den politisch schwachen Hyrkan zum Ethnarchen und Antipater zum Prokurator von Judäa. Sein Sohn Herodes, damals 26 Jahre alt, wurde Prokurator von Galiläa. Der innerhasmonäische Machtkampf zog sich indes noch weitere zehn Jahre hin. Aristobuls Sohn Antigonos hätte es sogar um ein Haar geschafft, die Herodianer, die sich von Parteigängern H yrkans mehr und mehr zu einer eigenen Hausmacht entwickelten, doch noch aus dem Felde zu schlagen: Mit Hilfe der Parther, die 40 v.Chr. über Syrien bis Judäa vorgedrungen waren, erlangte Antigonos die Königswürde zurück und zwang Herodes und seine Familie zur Flucht. Über Alexandria schlug Herodes sich nach Rom durch, um bei Antonius und Octavian um Hilfe nachzusuchen. Tatsächlich hatte er, der loyale Verbündete Roms in zweiter Generation Erfolg: Der römische Senat machte Herodes, da man einen treuen Gefolgsmann im parthisch besetzten Syrien gut brauchen konnte, zum König von Judäa. Zunächst war er allerdings ein König ohne Thron. Der Kampf um Judäa und 43 Kontroverse Jerusalem hielt i hn noch volle drei Jah re bis 37 v.Chr. in A t em. Erst als d ie Römer in der Region wieder Fuß gefasst und die P a rther zu r ückgedrängt hatten, gelang Herodes die Erobenmg Galiläas, Judäas un d schließlich Jerusalems . Bei der jüdische r_ Bevölkerung war er als Usurp a tor des hasmonäischen Throns vo: : i Anfang an nicht sonderlich beliebt. Seine id um äische Herku nft wurde ihm von jüdischer Seit e wi,ede rh olt negativ ausgelegt. Die Idumäe r wa r en zwar seit den Tagen des Hasmon äers Johannes Hy rkan (134- 104 v.Chr.) jüdischen Glaubens , doch galten sie offen bar noch lange als Jud en zweiter Klasse. Josephus gebraucht einmal das abschiit zige Stereotyp »Halbjude« . Um dem entgegen zu w irken, 1 at sich Herodes von N ikolaos einen lupenreinen jüdi schen St ammbaum bis zurü ck ins bab ylonische Exil fingieren lassen. Gegl rnbt h; ; .t i hm das keiner. So war seine He rrschaft von Anfang an belastet durch eine mehr oder W{: : : 1ig er a blehn ende Hal tun g sein er jüdischen Unte r tanen. Hero de s rea gierte darauf mit Mi sstr au en und einem mit den Jahren immer ausgeprägteren und schließlich wahnhaften Sicherheitsbedürfnis. Ein Keller voller Leichen: Herodes' politische Morde Die Beseitig ung von Rivalen u n d anderen miss liebigen Pe r son en gehör : zum Stand a rdrep er toire ant i ker Th ro nfo lgegeschichten. Kein Geringerer als Sal omo hat viel Blut vergossen, bis er sich auf dem Thron sein es Vaters David hinreichend sicher füh lte, und dennoch ist er als Inbegriff des weisen Königs in die Geschichte eingegangen. Was H e rodes betrifft, so sind es denn auch nich t die p o litischen Morde der A nfangszeit, die es u ns sch we r mac hen, ihm die Eigenschaft des weisen Herr schers zuzuer · ennen, sondern die hässlichen Szenen eines aus d em Ruder gelaufen en M achtkam? fes am Jeru salemer Hof während der letzten Jahre seiner H err schaft. Herodes war in diesem höfischen Intrige nspiel das muss man i hm zuge teh en je länger desto mehr nic ht meh r nu r Täter, sondern Tä.ter und Opfer zugleich. D er junge Herodes tritt bei J osephus no ch mit ei nem An flu g so uveräne r Nachsicht auf : Zwar ha t er 37 v.Chr. mit zahlreich en Mitgliedern des J erusalemer Synhedrions kurzen 44 P ro zess gemacht, weil sie ihn zehn Jahre zuvor w egen gewisser Eigenmächtigkeiten als Prokurator von Galiläa hatten vor Gericht stellen wollen, doch ließ er ausgerechnet dasjenige Ratmitglied am Leben, das als einziges den Mut gehabt hatte, ihn öffentlich zur Rede zu stellen. Diese Souveränit ät hat Herodes jedoch binnen weniger Jahre ve rlo ren. Weil er seinen Untertanen ständig mi s straute, installierte er in Jerusalem eine Geheimpolizei, die eine Atmosphäre des Schreckens in der Heiligen Stadt verbreitete. Wer denunziert wurde, wurde verhaftet und verschwand für immer. Herodes soll sich gar selbst verkleidet unter die Leute gemischt haben, um zu hören, wie das Volk über ihn redete. Aber auch innerhalb seiner eigenen vi er 'Wände traute er bald kaum jemandem meh r über den Weg und wurde doch von de n wenigen, auf die er meint e, sich verlassen zu kö n nen, am übelsten betrogen. Familienelend Di e Herodesdynastie kann sich nach außen hin sehen lassen: Die vorhandenen Quellen erwähnen v.a. 15 Kinder des Herodes aus zehn Ehen, 20 Enkel, 13 Urenkel, acht Ur-Urenkel und zwei Ur-Ur-Urenkel, insgesamt nicht weniger als 144 Pe r sonen aus vier Jahrhunderten. Die politische Gl anzzeit dieser Dynastie war je doch zugleich eine Zeit namenlosen familiären Elends . Am Anfang stand Herodes' grandiose familienpolitische Fe hle ntscheidung, in das hasmonäische Herrscherhaus einzuheiraten. Als er sich im Alter von 31 Jahren mit der Hasmonäerprinzessin Mariamm e verlobte, mag er sich davon eine Entspannung de s Verhältnisses zu Mariammes Großvater Hyrk an versprochen haben, in dessen Diensten er st and, vor allem aber einen Prestigegewinn bei der jüdischen Bevölkerung. Tatsächlich vermerkt Jo sephus, dass ihm die Einheirat in jene alte jüdische Aristokratenfamilie kurzfristig einen erheblic he n Zuwachs an Beliebtheit bescherte. Langfri st ig war mit der Eheschließung mit Mariamme je do ch der Keim dauerhaften Unfriedens gesät. Zu tief saß der gekränkte Stolz der Hasmonäer, al s dass sich mit der Eheschließung 37 v.Chr. sämtliche Feindseligkeiten in Wohlgefallen aufgelö st hätten. Herodianer und Hasmonäer agitierten und i nt rigierten am J erusalemer Hof gegen ZNT 16 (8. Jg. 2005) einander, bis schließlich keiner mehr dem anderen traute. Am allerwenigsten vertraute Herodes selbst seinem engsten Familienkreis. Mariammes Bruder Aristobul, der als lupenreiner Hasmonäer für Herodes eine ständige Bedrohung darstellte, kam 35 v.Chr. unter mysteriösen Umständen ums Leben; 31 v.Chr. ließ Herodes aus nämlichem Grund den greisen Hyrkan umbringen, als hätte ihm der alte Mann noch gefährlich werden können. Mariamme überantwortete Herodes 29 v.Chr. dem Henker, ihre Mutter Alexandra im Jahr darauf. Der alte Hass gegen den Usurpator schwelte weiter: Die beiden Söhne aus der Ehe mit Mariamme überwarfen sich mit ihrem Vater. Im Jahr 14 v.Chr. machte er ihnen den Prozess wegen Hochverrats und verurteilte sie zum Tod durch Erdrosseln. Im selber Jahr rehabilitierte er seinen Sohn Antipater, der aus Herodes' erster Ehe übrigens einer von insgesamt zehn stammte, und den er bei seiner Eheschließung mit Mariamme zusammen mit dessen Mutter aus seinem Umfeld verbannt hatte. Doch auch von seinem Erstgeborenen sah sich Herodes schließlich getäuscht. Noch auf seinem Sterbebett gab er den Hinrichtungsbefehl. Das hässliche Finale im Hippodrom von Jericho Wie schon erwähnt hat Nikolaos das Lebensbild des Herodes zum Ende hin mit immer dunkleren Farben gemalt. Josephus ist ihm darin gefolgt, und zwar nicht erst in seinen Antiquitates Judaicae, wo ihm Herodes als eine Art Lehrbuchbeispiel für das Unglück dient, das jeden Übertreter von Gottes Gesetz ereilt, sondern auch schon im Bellum]udaicum, wo er Herodes in den Jahren nach dem jüdischen Krieg (66-70 n.Chr.) ein wichtiges apologetischen Anliegen eigentlich als Kronzeugen eines historisch gewachsenen jü disch-römischen Einvernehmens präsentiert. Des ungeachtet werfen die letzten Lebenstage des Herodes ein schlechtes Licht auf den römischen Klientelkönig: Als in Jerusalem das Gerücht umgeht, Herodes liege im Sterben, machen sich die Schüler zweier angesehener Gesetzeslehrer daran, mit Hammer und Meißel ein Adlerrelief von der Außenmauer des Tempels zu entfernen, das Herodes dort hatte anbringen lassen. Diesen Akt ZNT 16 (8. Jg. 2005) M a nuel Vogel Herodes: Kindermörder wertete Herodes als unmittelbaren Angriff auf seine Königswürde der Adler war, wie Münzfunde zeigen, Herodes' Wappentier - und ließ die Gelehrtenschüler ohne Umschweife hinrichten. Unmittelbar darauf wird er von derart heftigen Schmerzen geplagt, dass er sich mit einem Obstmesser das Leben nehmen will. Der Selbstmordversuch (hier in einer hochmittelalterlichen Darstellung zu sehen man beachte die Teufel im Hintergrund! ), misslingt. Rasende Schmerzen steigern die Mordlust des Königs. Er befiehlt, sämtliche judäische Würdenträger im Hippodrom von Jericho einzusperren und sie umzubringen, Benedikterstift Lambach. Fresko im ehemaligen Westchor, 11. Jh., Selbstmordversuch des Herodes sobald er den letzten Atemzug getan habe: als Rache dafür, sagt der sterbende König, dass sich ganz Judäa auf seinen Tod freue. Herodes stirbt Ende März des Jahres 4 v.Chr. siebzigjährig in seinem Winterpalast in Jericho. Der Mordbefehl an den im Hippodrom Festgehaltenen bleibt unausgeführt. 45 Kontroverse Herodes' Testament: Eine Verlegenheitslösung Nicht wen ig er als sieben mal hat Herodes sein Testament geändert. N achde m er bei drei des ignierten Thronfolgern bei den Mariammesöhnen Alexander und Aristobul, sowie bei Antipater, dem Sohn der Doris eigenhändig die Todesurteile unter schrieben hatt e, war Archelaos, Sohn seiner Frau Malthake, bu c~1.stäblich die vierte Wahl. Archelaos stand seinem Vater an Grausamkeit um nichts nach, doch fehlte ihm der politische Instinkt, den Herodes fraglos besessen hatte: Archelaos' erster öffentlicher Auftritt in J erusalem mündete in einen Tumult, an dessen Ende 3000 Tote zu beklagen waren. Schon Jahre zuvor hatte sich Herodes von dem Gedanken verabschiedet, sei: i Reich könnte ungeteilt an ein einziges seiner Kinder fallen. Zu offenkundig waren Neid und Rivalität am Ho f. Durch eine Dreiteilung seines Reiches hoffte Herodes, den Machtansprüchen seiner Kinder un d c.eren Mütter am besten nachkommen zu können. Die Letztfassung seines Te staments sah Archelaos als König von Judäa vor, Philipp, den Sohn der Kleopatra (Ehefrau Nr. 6) als Tetrarchen in de r Gaulanitis (Go lan) und Herodes Antipas, den jüngeren Sohn der Malthake, als Tetrarchen von Galiläa und Peräa. Augustus bestätigte Herodes' Testament, ernannte Archelaos jedoch nicht zum König, sondern nur zum Ethnarchen. Die glanzvollen Jahre der guten judäis: : h-römischen Beziehungen waren damit gezählt. In Rom wartete man nur darauf, dass Archelaos sich etwas zuschulden kommen lassen würde. Als im zehnten Jahr seiner Herrschaft eine judäische Delegation in Rom vorstellig wurde, um sich üb er die fortgese t zte Grausamkeit des Ethnarchen zu be schweren, wurde Archelaos nach Rom zitiert. Augustus machte ihm den Prozess und verbannte ihn nc..c h Vienna in Gallien. 6 n.Chr. wurde Judäa der rö mischen Provinzialverwaltung unterstell t. Aus diesem Anlass (und nicht schon 4 v.C h r. w ie Lk 2,1-4 voraussetzt) führte der syrische Sta: thalter Sulpicius Quiriniu s einen Zensus durch, um für die fo rtan an Rom zu entrichtenden Steuern eine Bem essungsgrundlage zu schaffen. Es folgten Jahrzehnte unter direkter römische O berhoheit, in denen die Unzufriedenheit der judäischen Be völkerung über hohe Steuerlasten und ko r: : upte römische Provinzialbeamte von 46 Jahr zu Jahr wuchs und sich schließlich im ersten jüdischen Krieg der Jahre 66-70 n.Chr. entlud. Hätte Herodes bei der Regelung seiner Nachfolge eine glücklichere Hand gehabt und beizeiten ein Ft: . dament für die Fortdauer seines Klientelkönigtums gelegt, hätte sich das palästinische Judentu: n des 1. und 2. Jhs. vielleicht nicht zu kriegerischen Konfrontationen mit Rom hinreißen lassen. Kindermörder? Als die Schriften des Josephus im Jahr 1544 bei Arn old Arlenius in Basel erstmals im Druck erschienen und den Herodes des Bellum Judaicum und der Antiquitates rasch in den europäischen Ge lehrtenstuben bekannt machten, hatte die Herodes-Figur bereits eine Wirkungsgeschichte von anderthalb Jahrtausenden als Kindermörder von Bethlehem hinter sich. Die christliche Ikonographie seit der Spätantike ist voll von Darstellun- Weiterführende Literatur zur Kontroverse: A. Schalit. König Herodes. Der Mann und sein Werk, 2. Aufl. mit einem Vorwort von D.R. Schwanz, Berl in/ New York 2001 D . W. Roller, The Building Program of Herod the Great, Berkeley/ Los Angeles/ London 1998 N. Kokkinos, The Herodian Dynasty. Origins, Role in Society and Eclipse, Sheffield 1998 P. Richardson, Herod: King of the J ews and Friend of the Romans, Edinburgh 1999 A. Lichtenberger, Die Baupolitik Herodes des Großen (Abhandlungen des deutschen Palästina-Vereins 26), Wiesbaden 1999 E . N etzer, Die Paläste der Hasmonäer und Herodes' des Großen (Zaberns Bildbände zur Archäologie), Mainz 1999 S. Japp, Die Baupolitik Herodes' des Großen. D ie Bedeutung der Architektur für die Herrschaftslegitimation eines römischen Klientelkö nigs (Internationale Archäologie 64), Rahden/ Westf. 2000 M. Vogel, Herodes. König der Juden, Freund der Römer (Biblische Gestalten 2), Leipzig 2002 ZNT 16 (8. Jg. 2005) gen des bethlehemitischen Kindermordes und in den mittelalterlichen liturgischen Dramen und Mysterienspielen tritt Herodes regelmäßig in der Rolle des Kindermörders auf. In der Malerei erfreute sich das Sujet »Kindermord von Bethlehem« bis ins 17. Jh. hinein großer Beliebtheit. Die Theaterdichtung seit der Renaissance hat den neutestamentlichen um den josephischen Herodes ergänzt und bereichert. Im Jahr 1552 veröffentlichte Hans Sachs seine Tragedia mit 15 Personen zu agirn, der Wütrich König Herodes, wie der sein drey Sön und sein Gmahel umbbracht, unnd hat 5 actus. Weitere 37 Herodes-Dramen sind bekannt, darunter Friedrich Hebbels Herodes und Mariamne [sie! ], im Jahr 1849 im Wiener Burgtheater uraufgeführt. Hebbel lässt in der letzten Szene die heiligen drei Könige auftreten und verbindet damit (wie vor ihm schon M a nuel Voge l Herod es: Kindermörd er ist ihm ein bildwütiges Massaker an unschuldigen Kindern durchaus zuzutrauen. Allerdings verwundert es, dass weder J osephus etwas von diesem spektakulären Vorfall weiß, wo er doch in den Antiquitates keine Gelegenheit auslässt, Herodes als Gesetzesübertreter par excellence darzustellen, noch der Evangelist Lukas, der die Geschichte J esu und der frühen Christen ansonsten gern mit der Herodesdynastie in Verbindung bringt. Deshalb liegt der Schluss nahe, dass Matthäus für die Kindermordgeschichte literarische Beweggründe hat, dass er nämlich den aus jüdischen wie paganen Texten geläufigen Topos von der Gefährdung des messianischen Knaben in seinem Kindheitsevangelium unterbringen will bzw. ihn dort vorfindet. Von der Beschuldigung des bethlehemitischen Kindermords ist Herodes des- Macrobius) den josephischen mit dem matthäischen Stoff. » Von der Beschuldigung des bethlehemitischen halb freizusprechen, gewissermaßen aus Mangel an Beweisen. Dem Evangelisten Matthäus können wir jedoch bescheinigen, dass er die Rolle des Verfolgers des Messiaskindes mit keinem anderen besser hätte besetzen können Wie steht aber es um den Kindermord von Bethlehem, wenn wir ihn nicht als Motivspender für die bildende und darstellende Kunst betrach- Kindermords ist Herodes deshalb freizusprechen, gewissermaßen aus Mangel an Beweisen.« ten, sondern als möglicherals mit Herodes. Dieser hat weise historisches Ereignis? Zunächst einmal passt, was Matthäus im 2. Kapitel seines Evangeliums erzählt, recht gut in das josephische Bild des späten Herodes, der jede Infragestellung seines Herrschaftsanspruchs umso unnachsichtiger und grausamer verfolgte, je älter er wurde. Von daher den Beinamen »der Große« angesichts seiner Bedeutung für die Geschichte des syrisch-palästinischen Raumes in der zweiten Hälfte des 1. Jhs v.Chr. fraglos verdient, ein weiser Herrscher war er jedoch nicht. Oda Wischmeyer Hermeneutik des Neuen Testaments Ein Lehrbuch Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 8, 2004, XII, 231 Seiten, € 34,90/ SFr 60,40 ISBN 3-7720-8054-5 Die hier vorgelegte Hermeneutik des Neuen Testaments versteht sich als Text-Hermeneutik. Diese geht programmatisch davon aus, daß die Exegese, d.h. die methodengeleitete Interpretation der neutestamentlichen Texte, das sachgemäße Instrument des Text-Verstehens sei. Die neutestamentliche Hermeneutik wird als Interpretationsaufgabe der neutestamentlichen Wissenschaft verstanden. Narr Francke Attempto Verlag ZNT 16 (8. Jg. 2005) 47 Kontroverse ' Sarah Japp ' Hemdes ein weiser König. Hintergründe seiner Herrschaftsideologie Herodesder Kindermöirder? Anknüpfen: : ! . an die Schlußbemerkungen meines Vorgängers möchte auch ich mich kurz dem Mo tiv des be: hlehemitischen Kindermords widmen. Diese Perikope des Matthäu s- Evangeliums is t zwar auch in der jüngeren neutestamentlichen Forschung als unhistorisch erkannt worden, doch hat sie das Urteil über den Herrscher entscheidend mitbestimmt. »Als aber Jesus in den Tagen des Königs Herodes in Bethlehem in J u däa geboren war, siehe, da kamen Magier von Os t en nach J emsalem und sag1: en: ,Wo ist der neugeborene Judenkönig? Wir haben nämlich seinen Stern beim Aufgehen gesehen und kamen, um ihm zu huldige : 1 ., : \ls de r König Herodes das aber hörte, wurde er bestürzt.« (Mt 2,16) Demnach informierten die Sc hilderung eigentlich nur darauf ankam, die gra samen und abstoßenden Seiten des Herodes plakativ herauszustellen, eine objektive Bewertung seines Charakters oder seiner Herrschaft war nicht beabsichtigt. Herodes weiser Herrscher oder blutrünstiger Despot? Hero des als Person zu fassen, ist nicht nur schwierig, sondern in vielerlei Hinsicht auch hypothetisch. Die Quellenlage steilt sich gemessen an den Schriften über andere Herrscherpersönlichkeiten der Antike als relativ dürftig dar. Zudem muß man sich stets die ideologischen Hintergründe dieser Zeugnisse vor Augen halten. Die jüdischen Quellen begegnen dem König nicht nur mit Vorbehalten, sondern sie drei Magier Herodes darüb e: -, daß ein neuer König, ein Messias, -.md damit eine Gefahr für seine Herrschaft geboren worden sei. Seine Re aktion wird als Bestürzun g beschrieben. Nu n beauftragt »Herodes als Person zu fassen, ist nicht nur schwierig, sondern in vielerlei Hinsicht auch hypothetisch.« lehnen ihn und seine Herrschaft mehrheitlich ganz ab. Nur Flavius Josephus bemüht sich, verschiedene Facetten des Herrschers zu dokumentieren. Die christlichen Queler aber nicht etwa eigene Spione, diesen künftigen Nebenbuhler zu finden nein, er bittet eben jene Magier, ihm doch Beseneid zu geben, sollten sie das Kind eudeck en. Und es wird noch unglaubhafter. Trotz seines immer Vi' iec.er beschworenen Mißtrauens soll Herodes so erfahren wir weiter verwundert und verärgert darüber gewesen sein, daß die Magier, o hne ihn zu benachrichtigen, das Land wieder verließen. Diese Naivität steht in einem solch vehementen Gegens atz zu den überlieferten Wesensschilderungen des Herodes. So betont Flavius Josephus vor allem das Bedürfnis des Herrschers nach umfassender Kontrolle und unverzügliche: n Ein greifen. Schließlich, nach all diesen Pannen, soll der König auch noch den politisch höcist unklugen Massenmord an Kindern befohlen haben? Es wird deutlich, daß es bei de: vorliegenden 48 len machen sich die negativen jüdischen Urteile zu eigen. Wenn wir von Herodes dem Großen als »weisem Herrscher« sprechen, so darf hier nicht das Bild eines älteren und würdigen Herrn entstehen, der voller Milde, Gerechtigkeit und Enthaltsamkeit regiert und sich einzig um das Wohlergehen seiner Untertanen sorgt. Vielmehr soll der Begriff einen charismatischen Charakter umschreiben, und zwar den eines machtbewufüen Herrschers, der seine Handlungen an persönlichen Vorteilen und am Wohle seines Volkes gleichermaßen orientiert. Heirodes ein politischer Taktiker Daß Herodes ein politisch hochbegabter Mann gewesen ist, der es durch geschicktes Taktieren verstand, verschiedene Situationen zu seinen ZNT 16 (8 . Jg. 2005) Sarah]app Dr. Sarah Japp, Jahrgang 1966. Studium der Klassischen Archäologie, der Alten Geschichte und der Kunstgeschichte an den Universitäten in Frankfurt/ Main und München. 1992 Magister. 1997 Promotion an der Universität in Köln (Die Baupolitik Herodes' des Großen). Seit 1991 jährliche Teilnahme an der Pergamongrabung (Türkei) des Deutschen Archäologischen Institutes (DAI), seit 1999 wissenschaftliche Mitarbeiterin bei den Unternehmungen des DAI m Marib und Sirwah Qemen). Forschungsschwerpunkte: Herodes der Große und seine Zeit; jüdisches Leben in der Diaspora; antike Keramik, insbesondere in Kleinasien; Archäologie des Sabäischen Reiches. Gunsten zu wenden, zeigen zahlreiche Episoden seiner Lebensgeschichte. Herodes erkannte schon früh das Potential der expandierenden Weltmacht Rom und machte es sich gezielt zunutze. Exemplarisch verdeutlicht dies sein Vorgehen nach dem Machtverlust seiner Familie um das Jahr 40 v.u.Z. Der Bruderkrieg zwischen den Hasmonäern um die Herrschaft in Judäa hatte zu einer völligen Ausschaltung der herodianischen Sippe geführt. Deren Angehörige wurden teilweise gefangen genommen, zu den wenigen, denen die Flucht gelang, zählte Herodes. Nach der Ablehnung seines Hilfegesuches im Nabatäischen Reich da seine Mutter eine nabatäische Prinzessin war, hätte er durchaus mit Unterstützung rechnen können kam er zu der Überzeugung, nur noch Rom könne ihm wieder zu seinem Recht verhelfen. So reiste er in das Machtzentrum der römischen Welt und versicherte sich des Beistandes von Marcus Antonius, der schon seinem Vater Antipater freundschaftlich verbunden gewesen war. Antonius überzeugte den Senat davon, Herodes offiziell als König von Judäa anzuerkennen. Nach Josephus' Schilderung ZNT 16 (8 . Jg. 2005) Sarah Japp Herodes ein weiser König sah der Römer in ihm den richtigen Mann auf dem Thron Judäas im Gegensatz zu dem Hasmonäer Antigonus, welchen er als Feind Roms bezeichnet (AJ 14,14,4 = 14,382). Entscheidend dabei war - und man darf gewiß sein, daß Herodes diesen Trumpf vor dem Senat ausspielte die Tatsache, daß Antigonus nur mit Hilfe der Parther das Land hatte erobern können. Die Feindschaft zwischen Parthern und Römern wurzelte tief, und so bot sich dem Senat die Möglichkeit, ohne eigene direkte Einflußnahme dem Vormarsch des Gegners Einhalt zu gebieten und einen loy alen Pufferstaat zum Parthergebiet zu schaffen. Um der Entscheidung des Senats zu huldigen, opferte Herodes gemeinsam mit Marcus Antonius und Oktavian im Tempel des Jupiter auf dem Kapitol. Dieses Vorgehen wird oft als Beweis dafür angesehen, daß Herodes nicht dem jüdischen Glauben angehangen habe. Meines Erachtens geht diese Schlußfolgerung fehl, da sie den Aspekt der Staatsräson für Herodes ging es ja um alles oder nichts völlig außer acht läßt. Eine ebenso weise wie radikale Entscheidung traf Herodes zehn Jahre später nach der Niederlage des Marcus Antonius und der Kleopatra in der Seeschlacht von Actium. Sein politischer Instinkt offenbarte ihm, daß dieser Erfolg Oktavians die Machtverhältnisse im Römischen Reich grundlegend verändern würde. So begab sich Herodes 30 v.u.Z. nach Rhodos, um dem Sieger seine unbedingte Treue gegenüber Rom zum Ausdruck zu bringen. Dabei stellte es sich als Vorteil heraus, daß von ihm keine Hilfstruppen zu Marcus Antonius gesandt worden waren dies freilich auch nur deshalb, weil Kleopatra in völliger Verkennung der Lage auf einen derartigen Truppeneinsatz verzichtet hatte. Ungeachtet dessen war der Thron des Herodes aufgrund seiner Freundschaft zu Marcus Antonius gefährdet. Durch die Art seines persönlichen Auftretens gelang es ihm jedoch, sein Königtum zu retten. Josephus überliefert (AJ 15,6,6 = 15,187), daß Herodes, als sein Schiff in Rhodos ankam, sein Diadem ablegte, ab er kein anderes lnsignium seiner Macht. In seiner Rechtfertigung gegenüber dem Sieger von Actium leugnet er weder seine Verbindung zu Antonius noch seine Hilfestellungen während des Krieges. Dieses Vorgehen überzeugte den nicht minder gewieften Taktiker Oktavian von der politischen Befähigung und der Loyalität des Herodes, und so be- 49 Kontroverse stätigte er ihn nicht nur in seiner Herrschaft über Judäa, sondern erweiterte das Klientelköoigreich noch um umfangreiche Gebiete im ~orden. In den folgenden Jahren seiner Herrschaft war Herodes darum bemüht, das. von Kriegen zerrissene und wirtschaftlich damiederliegende Land zu stabilisi<: ren und das ihrr. von Rom entgegengebrachte Vertrauen durch entspr~chende Taten zu stärken. Zeit seines Lebens unterhielt er rege Kontakte nach Rom, und mit einem engen Vertrauten des Augustus, Marcus Agrippa, verband Herodes wohl sogar eine tiefere Freundschaft. Herodes und die administrative Struktur des Landes Da Herodes als römisch er Klient~lkönig in der Innenpolitik freie Hand hatte, kc,nnte er den unterschiedlichen religiösen und ethnischen Ge gebenheite r. im Lande Rechnung tragend differenzierte ·verwaltungssy se<: me entwerfen. Obwohl über deren Struktur wenig bekannt ist, scheinen administrative U ntersd.iede im jüdischen Kernland, in den mehrheitlich von Nicht- Juden bewohnten Gebieten im Norden und Sü den sowie i: i den autonomen Städten existiert zu haben. An der Spitze jeder Verwaltung stand ein Stratege, welcher dem König unmittelbar verantwortlich w; ; _r. Dieses System erforc.erte zwar eine ständige Präsenz des Königs, doch seine direkte Kontrolle gestattete es ihm, auf die Forderungen und Bedür: nisse der jeweiligen Bevölkerungs gruppen gezielt reagieren zu könne: i. Herodes und seine Fürsorge für das Volk Daß Herodes Verantwortung gegenüber seinem Volk empfand, zeigen zwei bei Josephus überlieferte Episoc.en: Während der beiden großen Hungersnöte in den Jahren 24 u~d 21 v.u.Z. erwar~ er auf eigene Kosten Korn in Agypten und verteilte es unter der Bevölkerung (AJ 15,9,1 - 2 = 15,299- 316) . Ferner soll der König r.ach der verheerenden Mißernte des Jahres 20 v.u.Z. die Steuern gesenkt haben, um das wirtschaftliche Gleichgewicht im Land nicht zu gefährden (AJ 15,1: : J,4 = 15,365). Sicherlich waren diese Maßnahmen : iicht nur philanthrophisch motiviert, doch ga: > und gibt es so Ansicht der Bauten am Fuße des Oberen Herodeions mit einem großen Schwimmbassin im Mittelpunkt genügend Herrscher und Regierungen, die sich durch die Not ihrer Völker keineswegs zu solchen Taten veranlaßt sahen bzw. sehen. Herodes als Unterstützer von Wirtschaft und Handel Nach der Konsolidierung seiner Herrschaft kümmerte sich Herodes auch um die wirtschaftliche Situation innerhalb des Reiches . Durch die zahlreichen Kriege und innenpolitischen Auseinandersetzungen verfügte das Land nicht mehr über eine eigenständige Versorgung mit Grundnahrungsmitteln. So versuchte der König gezielt, diese Produktion zu steigern. Er sorgte dafür, daß gerade die fruchtbaren, aber weithin unbewohnten Gebiete im Norden, die ihm von Oktavian geschenkt worden waren, neu besiedelt wurden. Er veranlaßte Veteranen als auch viele der durch die pompeianische Neuordnung landlos gewordenen Bauern, sich dort niederzulassen. Einen archäologischen Hinweis darauf geben die zahlreichen landwirtschaftlichen Siedlungen und Gehöfte, die aufgrund ihrer Stratigraphie in die herodianische Zeit datiert werden können. J osephus zufolge (AJ 16,5,2 = 16,145) gründete der König beispielsweise die Siedlung Phasaelis in Erinnerung an seinen Bruder, der bei der parchischen Invasion den Hasmonäern in die Hände gefallen war und Selbstmord begangen hatte. Dieses sehr fruchtbare Gebiet in der Nähe von Jericho soll auch über zahlreiche Palmenhaine verfügt haben. Zur Kultivierung von Dattelpalmen und Balsamsträuchern dienten ebenfalls die königlichen Domänen in der ZNT 16 (8. Jg. 2005) Oase von Jericho. An den Ufern des Toten Meeres befanden sich wohl Werkstätten zur Gewinnung und Weiterverarbeitung von Asphalt, da dieser Rohstoff nicht nur zur Abdichtung von Booten und Schiffen, sondern auch für medizinische Zwecke und zur Einbalsamierung begehrt war. Archäologisch besonders gut faßbar sind Herodes' Aktivitäten hinsichtlich des Handels. Der König erweiterte nicht nur zahlreiche bestehende Hafenanlagen, sondern legte sein besonde res Augenmerk auf die Neugründung der Stadt Caesarea. Dort entstand mit dem Hafen Sebastos eine der modernsten Anlagen der damaligen Welt. Der Standort bot zahlreiche günstige Voraussetzungen: Aufgrund seiner Lage konnte der Hafen das gesamte Jahr über angelaufen werden und schuf so die Möglichkeit, auch während der Wintermonate Waren zu verschiffen. Die drei hintereinander gestaffelten Hafenbecken vermochten nicht nur eine große Menge an Schiffen aufzunehmen, sondern gewährleisteten zudem einen rei bungslosen Ablauf der Be- und Entladearbeiten. Die Durchführung dieses Bauprojektes war indes nicht nur in der Vergrößerung des judäischen Handelsvolumens und den Einnahmen aus Steuern und Zöllen begründet. Herodes versuchte weiterhin in Konkurrenz zu Alexandria zu treten, über dessen Hafen die Römer einen Großteil des Getreidehandels abwickelten, und sich dabei als zuverlässigerer Handelspartner zu erweisen. Die geographische Nähe Caesareas zur Weihrauchstraße ließ es überdies zweckmäßig erscheinen, die begehrten Gewürze und Duftwaren direkt von hier nach Rom zu verschiffen. Beim Aufbau der neu gegründeten Stadt orientierte sich Hero des an hellenistisch-römischen Vorbildern samt Blick auf den Empfangsraum in der Palastfestung des Oberen Herodeions ZNT 16 (8. Jg. 2005) Sarah Japp Herodes ein weiser König den für sie typischen Einrichtungen. So veranlaßte er neben dem Bau von Hafen und Wohnquartieren auch die Errichtung eines Tempels für Augustus und Roma sowie eines Hippodroms und eines Theaters. Solche Festspielstätten kannte man in Judäa bislang nicht. Die von Herodes intendierte Bindung des Landes an Rom kam nicht zuletzt dadurch zum Ausdruck, daß er die Stadt (Caesarea) wie auch deren Hafen (Sebastos) nach seinem Gönner Augustus benannte. Am Hafen selbst ließ er zahlreiche Statuen der kaiserlichen Familie aufstellen, und der Leuchtturm (Drusion) erhielt seinen Namen nach dem Stiefsohn des Augustus. Mittels groß angelegter Einweihungsfeierlichkeiten warb der König um einheimische und ausländische Händler, sich in dieser Stadt niederzulassen bzw. den Hafen zu nutzen. Diese Maßnahmen verschafften dem Land insgesamt einen anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwung und eine Stabilität, die es in den Jahren vor der Herrschaft des Herodes nicht gekannt hatte und die auch nach dessen Tode nicht mehr erreicht wurden. Herodes und die Religionen Herodes herrschte über ein Reich, das sich aus zahlreichen Gebieten mit unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen und abweichenden Glaubensvorstellungen zusammensetzte. Neben dem jüdischen Kernland bestehend aus Judäa, Galiläa und Peräa umfaßte es Samaria (dessen Einwohner vornehmlich dem samaritanischen Glauben anhingen) und Idumäa sowie die mehrheitlich von Nicht-Juden bewohnten Gebiete im Norden, nämlich Gaulanitis, Auranitis, Trachonitis und Batanäa. Den religiösen Bedürfnissen der jeweiligen Bewohner suchte Herodes auch durch den Bau entsprechender Einrichtungen gerecht zu werden. Das wohl wichtigste Bauprojekt des Herodes war die Erneuerung des jüdischen Tempels in Jerusalem. Josephus kommt der Wahrheit über die Beweggründe des Königs wohl sehr nahe, wenn er Herodes folgende Worte in den Mund legt (AJ 15,9,17 = 15,381): »Die Erfüllung dieser Aufgabe, die die bemerkens werteste unter seinen Projekten gewesen sei, wäre beachtlich genug, um ihm ewiges Gedenken zu sichern«. 51 Ko n tro v erse Herodes verfolgte mit dem Bau des neuen Tempels sicherlich mehrere Ziel e: Primär wollte er gegenüber dem jüdischen Bevölkerungsteil des Landes seine Ehrfurcht vor der Religion und seinen Einsatz für das Volk unt er Beweis stellen. D ies zeigt sich e: wa darin, daß e: bei der Bauplanung den Rat der Pries ter einholte, denn für bem: immte Abschnitte der Anlage galten besondere Vorgaben. Vor a[em aber sollte ber der schönste und prachtvo llste Tempelbau entstehen, der sich jemals an ieser Stelle befun den ha tte . Dafür ließ Herodes ein hoh es Podiu m errichten, das an drei Seit en umlaufende Säulenhallen umgaben, während die vierte Seite eine dreischiffige Basilika beherrsche. Im Zentrum dieses : : \1arkt- · Jnd Versammlungsplatzes erhob sich die eigentliche Tempelanlagcmit ihren verschiedenen Vorhöfen, für welche gewisse Zugangs beschränkungen gemäß den religiösen Vorschriften bestanden. In der architekto nischen Gestaltung des inneren Heil igtums folgte Herodes dem Vorbild des sak>monischen Tempels. Dem mo: : mmentalen Neubau konnten auch die Juden ihren Respekt nic ht versagen, w ie eine Passage im Talmud illustriert (b Suk 516): »Wer den Tempel nicht ge s el-_en, hat im Leben kein prächtiges Gebäude gesehen«. Aber nich t nur dem j üdischen Tempel in Jerusalem, sonde: : -n auch den beiden reEgiös en Monumenten in Hebron und Mamre widmete Herodes seine Aufmerksamkeit. Jene Ort e s i nd in der jüdischen Traditio n mit Personen der Thora v erbunden, denn Mamre gilt als ei: : istiger Wohmitz des Abraham, und in Hebro n befinder_ sich die Patriarchengräber. Beide Stätten versah Herodes mit einer monumentalen architekt onischen Einfassung. Den Quellen ist ferner zu entnehmen, daß sich Herodes um die Belange jüdischer Gemeinden in der Diaspora kümmerte. J c-sephus berichtet von einem an Agrippa gerichteten Gesuch kleinasiatischer Juder_, das H erodes unterstü: zte (AJ 16,2,3- 5 = 16,27-65). Dar in baten die Gemeinden darum, nach den eigenen religiöse: i Gesetzen leben zu dü rfen. A us der Zeit des A-Jgustus sind i: : -n übrigen zahlreiche Dekrete überliefert, in denen der Kaiser bzw. Mar cus Agrippa verschiedene Städte und Geme i nden im Reich dazu rnffordern, die Juden ni c ht in ihrer Lebensweise zu behindern. 52 Das Obere Herodeion: eine Palastfestung innerhalb eines künstlichen Hügels Sie verdanken ihr Entstehen gewiß auch der Einflu nahm e des Herodes, welcher sich bemühte, : lie Juden der Diaspora zu schützen. Für die Samaritaner scheint der König kein ne 1es Heiligtum errichtet zu haben, vermutlich wollte er sich aus dem religiösen Konflikt zwischen ihnen und den Juden heraushalten. Zumin- : le -t erfuhr aber die Stadt Samaria unter seiner Herrschaft eine weitreichende architektonische Ausgestaltung. Weder schriftliche Quellen noch archäologische Befunde geben Hinweise darauf, daß Herode„ Heiligtümer für griechisch-römische oder orien: alische Götterkulte errichten ließ, allerdings ist uns der Bau von drei Augusteia überliefert. In Cc..esarea, in Samaria und im Paneion, einem dem Gott Pan geweihten heiligen Bezirk, stehen heute noch die Überreste dieser Tempel. Die Entscheidung des Königs, lediglich Tempel für Roma und Augustus zu errichten, war sicherlich von politischen Notwendigkeiten diktiert, denn damit erkannte er die Vorherrschaft Roms an und dokumentierte zugleich seine persönliche Loyalität. D rch die Wahl der Standorte sie befanden sich in Gebieten, die mehrheitlich oder sogar ausschließlich von Nicht-Juden bewohnt waren vermied Herodes den Widerstand der Juden, da er deren religiöse Gefühle so nicht verletzte. Im Ausland jedoch scheint Herodes durchaus auch nicht-jüdische Heiligtümer unterstützt zu haben, so ist beispielsweise seine Beteiligung am Wiederaufbau des abgebrannten Tempels für den py thischen Apollon in Rhodos überliefert. ZNT 16 (8.Jg. 2005) Gerade seine Religionspolitik verdeutlicht, daß Herodes den unterschiedlichen Bedürfnissen Sarah Japp Herodes ein weiser König Antipater, der seine Chance witterte, gegen die Spätergeborenen und bewirkte ihre Verurteilung und Exekution. Doch auch der jeweiligen Bevölkerungs gruppen Rechnung zu tragen suchte, wenngleich er den Belangen der Juden offenbar besonderes Augenmerk zukommen ließ. Er orientierte sich damit an der Herrscherethik der hellenistischen Zeit, der sich auch Augustus verpflich- »Gerade seine Religionspolitik verdeutlicht, daß Herodes den unterschiedlichen Bedürfnissen Antipater liebte seinen Vater nicht, vielmehr versuchte er, nachdem er die Nebenbuhler ausgeschaltet hatte und zum Nachfolger auserkoren war, den Machtwechsel vorzeitig herbeizuführen. Ein Unterder jeweiligen Bevölkerungsgruppen Rechnung zu tragen suchte[. . .].« tet fühlte. Herodes und seine Familie Ohne Zweifel gehört das Verhalten Herodes' ge genüber seiner Familie zu den blutigsten Kapiteln seines persönlichen Werdegangs. Doch darf man ihm wohl nicht unterstellen, er hätte im Verlaufe seines Lebens zahlreiche unschuldige Verwandte völlig grundlos dahingemetzelt. Vielmehr scheinen sich die familiären Bande insgesamt weniger durch Eintracht ausgezeichnet zu haben, als durch Intrigen und den Hunger nach Macht und Einfluß. Seiner zweiten Frau Mariamme, so überliefert es Josephus, war Herodes in tiefer Liebe verbunden. Doch offensichtlich konnten weder er noch sie die Kluft überwinden, die ihre unterschiedliche Herkunft bedingte. Mariamme lebte im Zwiespalt ihrer Zuneigung zu Herodes immerhin fünf Kinder zeugen von anderem als unablässigem Haß - und ihres Abscheus. Als Hasmonäerin trauerte sie wohl der verlorenen Herrschaft ihrer Familie nach und verachtete die geringe Herkunft der herodianischen Sippe. Einflüsterungen schürten ihre Unsicherheit und ihren Argwohn. So deutete sie ihren Aufenthalt in Masada, wohin Herodes sie und auch andere Mitglieder der Familie vor den Parthern in Sicherheit gebracht hatte, als Gefan genschaft. Diese Ambivalenz von Liebe und Haß, Unverständnis und Fremdeinwirken führten letztlich zu seiner Entscheidung, sie töten zu lassen. Allerdings stellen sich auch die Söhne des Herodes den Quellen zufolge nicht unbedingt als Musterbeispiele treusorgender Nachkommen dar. Die Söhne der Mariamme, Alexander und Archelaos, distanzierten sich von ihrem Vater, auf die Aussicht der Herrschaftsnachfolge wollten sie aber nicht verzichten. So intrigierte sein ältester Sohn ZNT 16 (8.Jg. 2005) fangen, welches mißlang und zu seiner Hinrichtung führte. Herodes und sein politisches Konzept Herodes hatte nach der Konsolidierung seiner Macht im Jahre 30 v.u.Z. versucht, ein Herr schaftsmodell nach hellenistischem Vorbild zu etablieren. Er unterstand als römischer Klientelkönig dem Princeps in Rom und konnte ohne dessen Einverständnis keine außenpolitischen Entscheidungen treffen. In der Innenpolitik verfügte er freilich über weitreichende Freiheiten, welche es ihm gestatteten, Verwaltung und Rechtssprechung nach eigenen Maßgaben zu gestalten. Unter der Vorherrschaft Roms, die dem Land ein großes Maß an Sicherheit und Frieden gewährte, war er bemüht, Judäa als prosperierendes Reich mit einer autarken Grundversorgung und einem wachsenden Wirtschafts - und Handelsvolumen in die hellenistisch-römische Welt zu integrieren. Folgerichtig machte er die Bewohner Judäas mit verschiedensten Elementen dieser für sie neuen Kultur vertraut, indem er etwa neue Architekturformen im Land einführte, Festspielstätten einrichtete und sich um religiöse Toleranz für alle Bevölkerungsgruppen innerhalb des Reiches bemühte. Doch dieses Konzept wollte nicht ge lingen. Die Mehrheit der Juden lehnte die Öffnungsbestrebungen des Herodes ab, da sie befürchtete, die religiöse Identität zu verlieren und im Völkergemisch der hellenistisch-römischen Welt unterzugehen. Die eigentliche Tragik daran ist, daß eine Akzeptanz der herodianischen Politik es den Juden vermutlich ermöglicht hätte, sich ein gewisses Maß an Eigenständigkeit und politischer Freiheit zu bewahren. Statt dessen führten die beiden bald folgenden jüdischen Aufstände zu deren völligem Verlust. 53 Hermeneutik und 1 1 V~rmittlung , Almut Sh. Bruckstein »Und was wänen dann die Bilder? « Talmudische und philosophische Notizen zur Bildc! rfrage Und was wiren dann die Bilder? Das einmal, das immer wiede..einmal und nur jetzt und nur hier Wahrgenommene und Wahrzunehmende. Und das Gedicht wäre somi1 der Ort, wo alle Tropen und Metaphern ad absurdum ge: : ührt werden wollen. Wege dorthin ... Nach (Paul Celan, Der Meridian') Dem Unwiederholbaren, nach ihm, Blubbernde Wege dorthin ... Etwas, das gehen kann, grusslos, wie Herzgewordenen s, kommt. (PauJ Celan') Tropen und Met a phern, Sprachbilder, verweisen auf Stummes un d Vor-Sp r achliches, der Sprache Übersch ü ssiges: auf »etwas, das gehen kann, wie Herzgewordenes«: »Wie ein Purpurfaden deine Lippen«' - »Wie ein Born lebendigen Wassers meine Braut« 4 - »Wie der Apfelbaum unter den Bäumen des Wald es •mein Ge li ebter«,' »Seine Augen wie Tauben, seine \i? angen wie würziges Beet«. 6 Tro? en und Meta phe rn. Die rabbinische Tradition wie jed e poetische Tradition ist voller Sprach bilder, Tropen und Metaphern. Diese wollen am Ort der Bilder, am Ort des Gc: dichtes, ad absurdum geführt werden, sagt Paul Ce lan. Dieser Beitra g ist jenem Vo: -sprung der 3 ildlichmidraschischer Hermeneutik, die möglicherweise in einer beiden zugrunde liegenden sprachlich nicht festlegbaren Fläche liegt, Text-Fläche hier, Bild-Fläche dort, die für unendliche Blickrichtungen offen ist und daher auf a-lineare Weise, sprunghaft, freischwebend, Zukunft verbürgt. Moses am Sinai - Eine Theorie der Malerei In diesem Zusammenhang sei an den vielzitierten rabb in ischen Midrasch erinnert, nach dem Moses in einer himmlischen Talmudakademie mit dem Kadosch Baruch H u, dem Heiligen, Gesegnet sei er, Tora lernen darf. Als Moses in den Himmel kam, um mit dem Heiligen Tora zu lernen, fand er ihn damit beschäftigt, mit Tinte lauter Ornamente, Schnörkel und Krönchen an die Buchstaben der Tora anzubringen .... »Was machst du da? « fragte ihn Moses. »Was bedeuten all die Schnörkel und Tüttelchen, die Du an den Buchstaben anbringst? « Der Malende/ Schreibende erklärte ihm, dass in mehr als tausend Jahren ein Mann namens Akiva, Sohn von Joseph, kommen werde, der an jedes einzelne dieser Schnörkel und Kronen eine Unmenge von Lehren aufhängen wird (wie Mäntel an einen Haken). Die Tora wächst an ihren Kronen zu einem unendlichen Text, der keine bestimmbare Grundlage kennt, und selbst für Moses als Autor zum Buch mit sieben Siegeln wird. Denn auf Moses Frage hin: »Dieser Beitrag ist jenem Vorsprung der Bildlichkeit auf der Spur, die Roland Barthes einmal unter dem Stichwort der keit auf d er Spur , die Ro land Barthes einmal unter dem St ichwort der »Malerei als Utopie des Textes«, der Malerei als Utopie einer nicht-prädikativen S: ,rache verhand e lt hat. 7 Der Sinn und Nicht- >Malerei als Utopie des Textes( [. ..] verhandeh hat.« »Zeig mir diesen Akiva, Sohn von Joseph«, kam die Antwort: »Gehe ... sieh in Dir an«. Und Moses fand sich, um tausend Jahre in die Zukunft versetzt, im Klassenzimmer von Rabbi Akiva, der seinen Schülern die Tora des Moses lehrte. Moses hörte zu, konnte der schwierigen Diskussion aber nicht folgen, ver- Sinn der Bedeutungsflächen von Bildlichkeit inmitten der jüdischen Tradition, Sprachbil der und Trau mb ilder, die ein Vorsprachliches berü hr en ohne festgelegte Signifikate zu kennen, steht hier in Frc.ge . Mich inte r essiert die Möglichkeit der Kongenialität der Mc.lerei mit den narratinn Besonderhe it en ra bbinischer und 54 stand also kein Wort von dem, was dort verhandelt wurde. Was ihn aufs Außerste betrübte. Dann aber hörte er einen der Schüler fragen: »Akiva, woher weißt Du, dass es stimmt, was Du da lehrst? « Woraufhin Rabbi Akiva erklärte: »Halakha leMoshe miSinai - So hat es Gott den Mose am Sinai gelehrt.« 8 ZNT 16 (8. Jg. 2005) Almut Sh. Bruckstein Professorin Almut Sh. Bruckstein studierte Philosophie, Religionswissenschaften, Judaistik und Musik in Hamburg, Philadelphia und Jerusalem. 1992 promovierte sie mit einer Arbeit über Hermann Cohens Maimonides-Interpretation an der Temple University in Philadelphia. Frau Bruckstein lebt und arbeitet seit 1983 in Jerusalem und seit 2001 in Berlin. Seit dem WS 2004/ 2005 ist Frau Bruckstein Inhaberin der Martin-Buber-Stiftungsprofessur am Fachbereich Evangelische Theologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt. Zahlreiche Veröffentlichungen über die jüdische Philosophie des Mittelalters und der Modeme, u.a. Die Maske des Moses. Studien in jüdischer Hermeneutik, Berlin: Philo, 2001; Hermann Cohen an Maimonides' Ethics, Wisconsin University Press, 2004. Gegenwärtig arbeitet Bruckstein an der Bilderfrage in jüdischer und islamischer Tradition im Kontext zeitgenössischer Bildtheorien, sowie an einem Projekt zur jüdischen und islamischen Hermeneutik als Kulturkritik im Rahmen der Martin-Buber- Professur an der Goethe Universität Frankfurt. Weitere Informationen: http: / / www.evtheol.uni-frankfurt.de/ buber/ personen/ bruckstein Dieses Erzählstück gibt uns einen Geschmack von dem, was Midrasch ist eine vom biblischen Text weitgehend freie, narrative bildhafte Überlieferung zu einem biblischen Topos, hier zur Szene am Fuss des Berges Sinai: U-Moshe ala el haElohim - »Da stieg Moses hinauf zu Gott«.9 Das Erzählstück verdeutlicht auf besonders eindrückliche Weise eine hermeneutische Besonderheit rabbinischer Überlieferung, deren Kongenialität mit dem französischen Poststrukturalismus von Literaturtheoretikern des Midrasch seit etwa dreissig Jahren aufgegriffen wird. ' 0 Wie Moses im Midrasch stellen Roland Barthes, Edmund J abes, ZNT 16 (8. Jg. 2005) Almut Sh . Bruck s tein »Und was wären dann die Bilder? « Jacques Derrida, Jacques Lacan, Julia Kristeva, Luce Irigaray und andere die Frage nach der Bedeutung des ursprünglichen Akts des Schreibens, des Malens, des Lesens, des Blicks. Sie tun dies weit über den literarischen Begriff des Textes hinaus, sodass wie im Midrasch eine nicht-determinierte Praxis der Zeichen-Setzung in den Blick tritt, die den Bewegungen des Körpers folgt, dem Zeichnen und Malen, dem Blick, dem Traum, dem physischen Begehren. Wie ein »durchgängiges Kryptogramm, das mit Hilfe einer Einschreibung oder einer poetischen Entzifferung erst konstitutiert werden muß« und darin nach einer unbegrenzbaren Offenlegung des Sinns verlangt. Letzteres aus Jacques Derrida, »Edmund Jabes und die Frage nach dem Buch«." Die Einschreibungen der mündlichen Lehre in die Tora folgen auf stringente Weise den Gesetzen rabbinischer Interpretation und sind dennoch in ihrer formellen und inhaltlichen Ausrichtung unendlich variabel. Gershom Scholems Aufsatz zu »Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im Judentum« ist noch immer substantieller Ausgangspunkt für die hermeneutische Faszination rabbinischer Überlieferung . 12 Neu wäre, mit dem Kabbala -Forscher Elliot Wolfson, der mit seinem »Through a Speculum that Shines« eine magistrale Arbeit über die Bedeutung der visuellen Anschauungskraft für rabbinische und kabbalistische Texte vorgelegt hat, dem Bilder-Denken der Rabbinen eine inspirative Rolle für ein zukünftiges Gespräch zwischen Bildtheoretikern und Religionswissenschaftlern beizumessen.13Denn rabbinische Texte, wie wir anhand einiger ausgewählter Beispiele gleich sehen werden, kultivieren in den Bild-Spalten ihrer midraschischen Poesie ein »Aussetzen« prädikativer Sprachwege, die im zeitgenössischen Gespräch zwischen Philosophen, Künstlern, Bildwissenschaftlern, Physikern und politisch Handelnden wegweisend werden könnten. Dabei wäre es ganz falsch zu meinen, man wolle nun anfangen, »die Linguistik auf das Bild anzuwenden, oder gar der Kunstgeschichte eine Prise Semiologie zu verabreichen.« 14 Es geht vielmehr darum, die Logik des Territorialen, »die Distanz (die Zensur) aufzuheben, die institutionell das Bild und den Text trennt. Etwas ist im Entstehen begriffen, das sowohl die ,Literatur< als auch die ,Malerei< (und deren metasprachlichen Korrelate, die Kritik und die Ästhetik) hinfällig werden lässt«.15Eine nicht- 55 Hermeneutik und Vermittlung territo riale Logik kündi gt sich an, die der Berührung mit dem, was sich als Vor-Sprachliches in die Sprache einschreibt, Rechnung trägt. »Es ist ein Balancieren v on zwei Welten, das nie zum Ausgleich komm en kann. Dies ist ein zweckloser revolutionärer Zus tand die Schrift wird durch einen Fremdkörper erschü ttert, der in ke: nen Zusammenhang mit ihr gebracht werden kann.« 16 Spurenlese nach Zeichen: nEs glüht der Pinsel, der geschwind den Blitzstrahl verfolgt .. . « 11 Die talmudische Geschichte aus Menacho t, »Moses am Sinai «, handelt vom Umgang mit Zeichen. Inmitten der Ar be it mit Perga □ ent un Tin t e, Farbe und Leinwand mit Holz und Lehm, oder an ihm das Manifeste des Fleisches bewirkt, nur gemäß des Oszillierens eines doppelten Durchgangs zugänglich wäre: von der Oberfläche in die Tiefe und umgekehrt.« 19 Die unlesbare Schrift - Die Malerei als Utopie des Textes »Damit sich die Schrift in ihrer Wahrheit offenbart (und nicht in ihrer Instrumentalität) muss sie uni'esbar sein«, sagt Roland Barthes in seinem Essay über Andre Masson. 20 Damit die Schrift heilig genannt werden kann, muss sie selbst unentzifferbar sein, nicht-signifikant, wie das Weiße zwischen den Buchstaben, oder das Leere des Pergaments, wie die Kronen der Buchstaben, sagt Gershom Schalem über das Schriftver- Plastik steht nicht die Frage nach dem Sinn und Zweck des Seins nicht griechisch: was ist, womit, oder für welchen Zw eck sondern m.ch einer Spurenlese dessen, was eingemeißelt, eingeschrieb en, eingepinselt, eingraviert, eingekerbt er scheint, in H o lz oder Fleisch, Pergament, Meta! oder Wias, Zeichen des Un- »Die Oberflächenstruktur eines Gegenstandes, ob Text oder Bild oder Hau t, offenbart sich keinem ideellen. und von ständnis der rabbinischen Überlieferung, über die sogenannte mündliche Lehre, über den Midrasch und den Umgang der Kabbalisten mit dem Körper der Tora: »Selber bedeutungslos, ist sie das Deutbare schlechthin«. 21 Die ganze Tora, das ganze Gesetz, Gebietsmarkierungen markierten Zugriff, sondern verlangt eine Kunst der Berührung { .. }. « lesbaren, die dennoch so etwas wie eine Lektüre einfordert, die einem Schrei gleichkommen mag: Lesen hebräisch likro von laut ausrufen, verlautbaren, bekannt machen, verkünden, schreien. Es kündigt sich eine U-to p ie des Textes an, jenseits dess en, was im landläufigen Sinne Kommunikation oder Lesbarkeit bedeutet, an der Oberflächenstruktur einer Materie entlang, die zugleich stumm ist und beredt, Textur oder Textilie, die man, wie ein en Körper oder eine Landschaft berührt, »nach d em Sinn jene r Geste, die sich in Entsprechung zu m Körper bewegt«, 18 eine Geste, die auf diese Weise einen Raum, einen Ort, ein Gebiet für neue Wege d es Wissens schafft. Die Oberflächenstruktur eines Gegenstandes, ob Text oder Bild oder Haut, offenbart sich keinem ideellen und von Gebietsmarkierungen markierten Zugriff, sondern verlangt eine Kunst der Berü hrung, die etwas von dem »OszilliereL << , dem »Ineinander« von Oberfläche und Tiefe versteht : Als ob das Manifest e eines Textes , wie in der Berührung einer Haut, »die Evidenz d es I : ü carnats, das was 56 die ganze menschliche Ordnung an disparaten Bildzeichen aufgehängt, die nic h ts sind als Schnörkel und Tüttelchen. Die Utopie eines Textes, in den sich ohne Anhalt an eine schon signifikative Bedeutung von Schriftzeichen, Buchstaben oder Wörtern ein neuer oder alter Sinn einschreiben wird, kann nur »aus einer in-signifikanten Praxis« hervorgehen in Klammern: »der Malerei«, so heißt es bei Roland Barthes in »Ist Malerei eine Sprache.« 22 Daniel Boyarin, in seinem »Materialist Midrash« sagt Folgendes: »Der Midrasch konzentriert sich oft auf die materiellen, phonetischen oder visuellen Details der Buchstaben, ja Fragmente von Buchstaben, oder auch nur ihre dekorativen Schnörkel. Midrash bezieht seine Bedeutung aus scheinbar gar nichts, und findet gerade darin eine Art persönlichen Sinn in allem und jedem. In diesem Sinne demonstriert der Midrasch eine psychotische Beziehung zur Sprache, er gleicht der Sprache des Psychoten.« 23 Mit der Behauptung einer Kongenialität von Malerei und Midrasch lassen wir die landläufige Diskussion von »Athen und Jerusalem«, die alte Rede ZNT 16 (8.Jg. 2005) von der sogenannten Bilderfeindlichkeit der jüdischen und islamischen Traditionen im Kontrast zum bilderfreundlichen Hellas, beiseite und konzentrieren uns auf ein Gespräch, ein zukünftiges, welches noch nicht stattgefunden hat, zwischen der zeitgenössischen Midrasch-Forschung und den Vertretern einer zeitgenössischen Bildtheorie, die sich nach Lacan als eine Hermeneutik des Blicks erweist. Der Blick, »Ungeschriebenes, zu Sprache verhärtet«,24 bewahrt die Berührung eines heterogenen Moments unwiederholbarer sinnlicher Vorsprachlichkeit, welches in seiner Heterogenität die Ordnungen des Einen aus den Angeln zu heben scheint, und Monolithisches, Monotheistischen, vielleicht auch Monogames, im produktivsten Sinne zu stören und zu erschüttern weiß. Die Berührung des Einmaligen und Unwiederholbaren, aller parmenidischen Gleichung von Denken und Sein zuwiderlaufend, ein unumkehrbares Moment der Unschärfe zeitigend, das sich dennoch über die visuelle Wahrnehmung in das Gedächtnis einzuschreiben vermag und so in den sprachlichen Umkreis der Wiederholbarkeit tritt, sei als das Faszinosum der Frage nach der Bildlichkeit bestimmt. Es zeigt sich in ihm eine ge- Almut S h . Bruc k st e in »Und wa s wären dann die Bilde r? « warech - »wenn jemand einen Ort sieht, an dem Israel Wunder geschehen sind, soll er segnen«; baruch she assa nissim la'awotenu bamakom haze - »Gesegnet sei, der unseren Vätern an diesem Ort Wunder getan hat.« - Und was, wenn jemand an einen Ort kommt, an dem nur ihm persönlich ein Wunder geschehen ist? Ein solcher soll segnen: baruch she assa li nes bamakom haze - »Gesegnet sei, der mir an diesem Ort ein Wunder getan hat.« 25 Um zu demonstrieren, was gemeint ist, bieten die Rabbinen das Bild eines spazieren gehenden Gelehrten, Mar, der Sohn von Rabina, an, der im Markt von einem verrückt gewordenen Kamel attackiert und durch einen plötzlich berstenden Mauervorsprung gerettet wurde. Was hier unter dem Schleier profanster Alltäglichkeit verhandelt wird, berührt in Wahrheit die Frage nach der Vergegenwärtigung und Erinnerung einzigartiger Ereignisse. Einzigartige Ereignisse, so scheint der talmudische Text zu sagen, sind Begebenheiten, denen jemand sein Leben verdankt, wobei gerade das unberechenbare So-Geartetsein von etwas ganz Winzigem eine Kleinigkeit, eine Unwägbarkeit, wie etwa die Unebenheit der Mauer im Markt von Mechoza, in dem Mar, der Sohn von genüber jeder Vereinnahmung durch die Ordnung des Einen widerständige Alterität also nicht die Alterität einer wie auch immer gearteten ideellen Transzendenz, sondern, ganz im Gegenteil, die Alterität des Körpers: Bildkörper, Schriftkörper, Perga- »Die Pointe der talmudischen Suggya ist die: die Einschreibung des Einzigartigen in das Sprach-Gedächtnis geschieht Rabina, spazieren ging, zum Garanten einer Zukünftigkeit wird: Eine plötzlich in Stücke berstende Mauer bietet dem durch den Markt schlendernden und zu Tode erschrockenen Gelehrten gerade in dem Moment Schutz, in dem ein durch das visuelle Erinnern einer Wahrnehmung[ ..].« ment oder Haut, unlesbare Daten, die doch erinnert werden wollen. Unlesbare Daten, Unschärfe-Relationen. Notizen zum Talmud: »Wenn jemand einen Ort sieht, an dem Israel Wunder geschehen sind, soll er segnen« Der Talmud spricht von diesem Faszinosum in überraschend täglich-alltäglicher Weise. Ich lade Sie ein, sich abschließend für einen Moment auf die ganz eigenen Wege talmudischer Argumentation einzulassen. Im talmudischen Traktat in Berakoth heisst es: haroe makom she naasu bo nissim lelsrael, me- ZNT 16 (8. Jg. 2005) verrückt gewordenes Kamel Amok läuft und ihn zu zertrampeln drohtunafal ale gamla peritsa, itpareka le ashita al legawa - »da ihn ein verrückt gewordenes Kamel zu zertrampeln drohte, borst eine Mauer, so dass Mar in dem sich auftuenden Mauerloch Zuflucht suchen konnte.,/ • Die allen berechenbaren Zeitläufen zuwiderlaufenden Momente gleichzeitig stattfindener sinnlicher Gegebenheiten werden Mar zum Garanten seiner eigenen Zukünftigkeit. Wir finden die Kontinuität eines biographischen Zeitmaßes eingefaltet in die Materie einer vor Schwäche berstenden Steinwand. Chaos stiftet Ordnung, die Heterogenität der Materie verbürgt die Integrität des Subjekts, eine Integrität, die sich auf visuelle Weise seiner selbst vergewissert: jedesmal, wenn ploni (jemand), in diesem Fall Mar, 57 He r meneutik und Ver mittl1 ung der Sohn von Rabina, den Ort seiner Errettung sieht, soll er segnen. Das Unwiederholbare, Einzigartige das Wunder welches sich natu rge mäß der Versprachlichung w iderset zt, soll doch versprachlicht und erinnert werd en. Wie? Derri c.a sagt: »(Paul Celan) zuschauen, w ie er sich der Einschreibung unsichtbarer, ja , ,ielleicht sogar unlesbarer Daten annimt: Jah rest age, ringförm ig Wiederkehrendes, Konstellationen und Wiederholungen einzigartiger, einmaliger, wie er es necnt ,unwiederholb arer< Ereignisse «. 27 Die Pointe der talmudischen Suggya is t die : die Einschreibung des Einzigartigen in das Sprach- Gedächtnis geschieht durch das visuelle Erinnern einer W'ahrneimung, denn nur di es e vermag, auf etwas einst Ge5chehenes als A bwesendes zu verweisen, ein Fingerzeigen, ein deiktisches Ver weisen auf eben dieses Unsichtbare, welches damals als Rettung e: : schien: ein gamla peritsa ein verrüc kt geworde ; 1,es Ka mel oder was auch immer e.; ist, das die 5pur sei ner Abwesenh eit in jemand es Gedächtnis schreibt, wann immer er den Ort seiner R ettung wieder si eh t. Michel Serres in »Die fün: : Sinne - Eine Philosophie der G emenge und Gerr.ische« meint es ernst: »Schla 5en Sie sich seitwärts Irren Sie uml: e: wie ein Gedanke, lasse n Sie ihre n Blick in alle Richtungen schweifen, improvisieren Sie. D ie Improvisation setzt den Gesichtssinn in Erstaun en. Verlassen sie den Gleich 5 ewich ts zustand, de brouillez-vous der Ausdruck unterstellt einen verwirrten Strang, cine gewisse Unc-rdnung und jenes vitale Vertrauen in das Un erwartete, das für Naive, Einzelgänger, Verj ebt e oder Ästheten typisch ist, bei rnller Gesundheit. . .. « Anme kungen 1 P. Celan, Gesammelte Werke III, Frankfurt 1392, 199. 2 P. Celan, Gesammelte Werke I, F: ankfurt 1992, 251. ' Hld 4,3 . ' Vgl. Hl d 4, 1 5. s Hld 2,3 . • Vgl. Hl d 5, 12-13. 7 Vgl. R. Barthes, Der entgegenkommende und de r stumpft Sinn, Frankfurt 1990, 162, auch: 157- 159. 8 Nach TB Menachot 296, vgl auc h Al mut SI: . Bruckstein, Die Maske des Moses. Studien in jüdischer Her meneutik, Berlin 2001 , 51-52. • Ex 19,3 . 10 Das Th ema »Midrasch« wird in der neueren F: : irschung seit mel: .r als zwanzig Jahr<! n im Verhältnis zur neueren Literan: rth eorie sowie zur zeitgenössischen, poststruk- 58 turalistischen und psychoanalytischen französischen Diskussion um die »Dekonstruktion« kanonischer Kulturzeugnisse diskutiert. Die Inhalte dieser Diskussion sind im deutschsprachigen Raum weitgehend unbekannt, und folgende (unvollständige) Literaturhinweise können nur andeuten, welche Lektüre im deutschen Sprachbereich nachgeholt werden müsste, um sich in die gegenwärtig stattfindende theoretische und philosophische Auseinandersetzung mit den Besonderheiten jüdischer Hermeneutik hineinzudenken. Vgl. S.A. Handelman, The Slayers of Moses, Albany 1982; J. Faur, Golden Doves with Silver Dots: Semiotics and Textuality in Rabbinic Tradition, Bloomington 1986; M. Fishbane, The Garments of Torah - Essays in Biblical Her meneutics, Bloomington 1989; vgl. ebenso ders., The Exegetical Imagination - On J ewish Thought and Theology, Cambridge 1998; D. Boyarin, Intertextuality and the Reading of Midrash, Bloomington 1990; vgl. ebenso ders., Unheroic Conduct - The Rise of Heterosexuality and the Invention of the Jewish Man, Berkeley 1997; S.D. Fraade, From Tradition to Commentary - Torah and its Interpretation in the Midrash Sife to Deuteronomy, Albany 1991; G.L. Bruns, Hermeneutics Ancient and Modern, New Ha ven 1992; D. Stern, Midrash and Theory - Ancient J ewish Exegesis and Contemporary Literary Studies, Evanston 1996; vgl. ebenso ders., Parables und Midrash - Narrative and Exegesis in Rabbinic Literature, C ambridge 1991. Für eine Auswahl grundle gender Texte zur Bedeutung d es Midrasch für die zeitgenössische hermeneutische Diskussion, vgl. G.H . Hartman/ S. Budick (Hgg.), Midrash and Literature, New Haven 1986. Für eine erste deutsche Übersetzung aus dem Umkreis dieses Diskurses, vgl. Daniel Boyarin, Den Logos zersplittern. Zur Genealogie der Nichtbestimmbarkeit des Textsinns im Midrasch (Schriftenreihe ~1. a'atelier Bd. 3), Berlin 2002. 11 J. Derrida, Die Schrift und die D ifferenz, übers. v. Rudolph Gasehe, 6. Aufl., Frankfurt a.M. 1996, 118. 12 G. Scholem, Judaica 4, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Frankfu rt a. M. 1984, 189-228. 13 E. Wolfson, Through a Sp eculum That Shines. Vision m d Imagination in Medieval Jewish Mysticism, Princeton 1994. 14 R. Barthes, Sinn, 159. 15 R. Barthes, Sinn, 159. 16 W. Kandinsky, Punkt und Linie zu Fläche. Beiträge zur Analyse der malerischen Elemente, Bern 1973, 25. 17 P. Picasso, Ecrits, zitiert nach Picasso: Die Umarmung, . Berlin 2000, 42. 18 Nach Barthes, Sinn, 162. 19 G. Didi-Huberman, Die leibhaftige Malerei, übers. v. Michael Wetzei, München 2002, 28. 20 Barthes, Sinn, 162; Hervorhebung von R. Barthes. 21 G. Schalem, Offenbarung und Tradition als religiöse Kategorien im Judentum, in: ders., Judaica 4, insbes. 214. 22 Barthes, Sinn, 162. 23 Diese Passage verdanke ich Daniel Boyarin, der mir großzügigerweise das unveröffentlichte Manuskript seines Vortrags »Materialist Midrash« zur Lektüre überlassen hat, gehalten im Sommer 2003 in der Berliner Volksbühne. 24 P. Celan, Gesammelte Werke I, 251. 25 TB Berakhot 54a. 26 TB Berakhot 54a. 27 J. Derrida, Schibboleth. Für Paul Celan, Wien 2002, 11. Hervorhebung von Derrida. ZNT 16 (8. Jg. 2005) Buchreport INGOLF U. DALFERTH Die Wirklichkeit des Möglichen Mohr Siebeck Ingolf U. Dalferth Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie. Tübingen: Mohr Siebeck 2003, 578 S., 39,00 Euro, ISBN 148100-3 Ich bin Theologe geradezu egozentrisch und unbescheiden ist »ich« das erste Wort meiner Rezension von Ingolf U. Dalferth (= D.), »Die Wirklichkeit des Möglichen«, der Untertitel: Hermeneutische Religionsphilosophie. Doch wenn ich das für einen Theologen äußerst interessante und ihn gerade als Theologen an-sprechende Buch hier rezensieren soll, so ist es durchaus angebracht, mit dieser Selbstvorstellung zu beginnen. Denn der Schweizer Autor, sowohl Professor für Systematische Theologie als auch für Religions-Philosophie, hat jüngst auf dem fundamentaltheologischen Symposium der Theologischen Fakultät Leipzig in seinem Referat »Fundamentaltheologie oder Religionsphilosophie? « ' nachdrücklich erklärt, anders als Fundamentaltheologie sei Religionsphilosophie eine philosophische und keine theologische Disziplin. Philosophie aber lebe »vom Philosophieren, also von dem, was sie tut, wenn sie denkt«; sie sei »keine Wissenschaft, die auf methodisch kontrollierten Erwerb von Wissen zielt, sondern diszipliniertes Nachdenken«.' Rezensiere ich nun sein Buch, so tue ZNT 16 (8. Jg. 2005) ich es demnach als Theologe, nicht aber als Philosoph. Mein Ich ist also kein philosophisches. Kann ich, ja darf ich dann überhaupt als Theologe diese Rezension schreiben? Da aber D. auch Theologe ist, war die Anfrage an mich, diese Besprechung zu schreiben, doch wohl angebracht. Ich habe D.s Referat beim Leipziger Symposium ' gehört und kann zumindest seiner Schlußkonklusion zustimmen, daß es nicht um die Alternative »Fundamentaltheologie oder Religionsphilosophie? « geht, sondern »einfach und grundsätzlich um Philosophie und [! ] Theologie«.' Nun habe ich soeben eine »Evangelische Fundamentaltheologie«' publiziert und in ihr die philosophischen Implikationen der Theologie ich nenne hier nur Schelling und H eidegger thematisiert und in diesen z.T. ausführlichen Abschnitten auch nach innerphilosophischen Zusammenhängen also auch aus genuin philosophischer Intention! gefragt. Erst das Ganze meines Buches erweist diese philosophischen Passagen als Überlegungen aus übergeordneter theologischer Intention. Wie steht es aber dann mit dem Ich des Philosophierenden und dem I eh des Theologisierenden, wenn sich ein und dasselbe Ich abwechselnd in zwei Disziplinen denkend bewegt? Inwiefern bleibt der Theologe noch Theologe, sobald er philosophisch denkt? D.s und meine Intentionen treffen sich darin, als wir uns beide um einen hermeneutischen Ansatz bemühen (s. Untertitel seines Werks). Und das ist auch meine Überzeugung: Theologie ist per se ein hermeneutisches Geschehen; das in der Theologie Gesagte will ja als das die Existenz Treffende verstanden werden. D.s hermeneutische Intention wird auch an der Gliederung seines Buches deutlich. Es enthält drei weiter (unterteilte) Hauptabschnitte: I. Orientierungsphilosophische Religionsphilosophie; II. Kritik philosophischer Theologie; III. Philosophische Hermeneutik von ,Gott<: »Teil III schließlich sucht am Beispiel des Denkens Gottes positiv zu zeigen, wie eine hermeneutisch aufmerksame und sprachphänomenologisch sensible Religionsphilosophie aussehen könnte ... « (S. 2). Nun ist D.s Religionsphilosophie ein äußerst umfangreiches Werk, und folglich kann ihr eine Rezension auf nur wenigen Seiten nicht voll gerecht werden. Den Inhalt des Buches adäquat zu referieren hieße, dadurch ein kritisches Gespräch aus Platzmangel unmöglich zu machen und deshalb dem inhaltlichen Gewicht der Ausführungen nicht gerecht werden zu können. Wollte man aber aus der Fülle des von D. gebotenen Argumentationsganzen nur einige Aspekte kritisch bedenken, nämlich eine Auswahl von Problemen aus der in sich geschlossenen Argumentationssequenz D.s herauszuschneiden, so würde das die Zertrümmerung der so sorgfältig dargelegten Gesamtheit seines Denkens bedeuten. Also: Quomodo procedamus? Vielleicht ist es in diesem konkreten Fall angesichts der unterschiedlichen Fundierung des Denkens des Rezensierten und des Rezensierenden angebracht, kurz diese Differenzen zu skizzieren und von da aus zu versuchen, Möglichkeiten eines kritischen Gesprächs auszuloten: Da, wo mir der Zugang zu seiner Position erschwert ist, stelle ich meine Anfragen an den Autor. Vielleicht ergibt sich so, nämlich von der Differenz beider Grundpositionen her, eine in sich geschlossene, inhaltlich sinnvolle Diskussionsbasis. Meine Absicht ist es, nach der Möglichkeit theologischen Denkens zu fragen. Dabei sei Theologie als Explikation des christlichen Glaubens verstanden: denkend versucht der Glaubende sich selbst als Glaubenden zu verstehen. Der Glaube des Glaubenden, seine fides qua creditur (= Glaube als Glaubens-»Gegenstand«) nämlich in Einheit mit seiner fides quae creditur (= Glaube als Glaubensvollzug), ist als personales Geschehen existentielles Sich-Wissen im Gegenüber zu Gott.' Als solch personales Geschehen ist es seinem Wesen gemäß entschieden mehr als Zustimmung zu einer Summe fixierter Sätze. Glaube ist ja nicht Glaube an Dogmen, also an begrifflich fixierte Formulierungen, die mit kirchlicher Autorität die fides quae creditur zum Ausdruck brächten. D. gründet seine hermeneutische Religionsphilosophie auf der Philosophie von Charles S. Peirce, dem Begründer des amerikanischen Pragma- 59 Buch r eport tismus. In dessen Sinn ist D.s fundamentale Voraussetzung die Ann ahme von Lebensp,ozessen als Zeich er.prozessen, also v-: m semiotischen Prozessen. Er faßt Lebensprozesse als Prozesse der Zeichenbildung, Zeichenverknüpfung u. dgl.: Leben ist Zeichenprozeß, \'erstanden als hochkomplexer Inte: -pretationsprozeß. · Von meir: em Hermeneuti: -: -Verständnis lcer frage ich nu n, ot: D .s Ausgang von Peirce eine Hermeneutik zuläßt, die als ein Grun dpcn zip hermeneut: schen D enkens das Vers tehen als Se: bstverstehen und nu r von diesem Selbstverstehen aus d as Verstehen anderer bej ahen kann. Also : Existenz 1,er; teht Existenz, genauer: Nur Existenz versteht Existen z. Vertritt er also eine hermeneutisch e Religionsphiksophie im Ausgang von Peirce und verstehe ich hingegen Theologie als ein aus dem G lauben erwachsenes hermeneutisches Geschehen, s: : : i stellt sich die Frag: : , ob wir von diesen unte rschiedlichen hermeneutisch en Ausgangspositionen her unter »Hermeneutik« gleiches verstehen. E: was entgegenkom: nender und wohl auch gerechter fo rmu liert: In w~lchem Au smaß verstehen wir unte1· Hermeneutik gleiches? Meint D. womöglich, ich dich: e zu personalistisch, so daß wir unsere hermeneutischen Positionen in weiter Distanz zue: nande r sehen müßten? Soweit wir uns bisher D.s Denken vergegenwärtigt haben, fällt es mir also schwer, sein so grundsätzliches Zu rückgreifen auf Peirce und seinen Pragmatismus als Voraussetzur: g einer hermerie.-ttischen Religionsphilosophie zu -.erstehen. Doch info rmieren wir uns erst einmal genauer über seine Intentionen, ehe wir urteilen. Eines der folgenden Kap. ist uberschrieben =• Menschliches Leben« eine für hermeneutisches Denken offene Überschrift, zumal es heißt , daß Menschen sprachfähig seien. Als sprachfähige Wesen, so D., können sie ihre Lebensprozesse in Geoeinschaft vollzif: hen: »Wir leben in einer immer schon verstehend erschlos: .enen gemeinsamen Welt, nur deshalb können wir uns sinnvoll in ihr verhalten« (S. 25; KursiYierung durch mich). Das ist Geist vom Geiste Martin He ideggers ! Warum nennt er ihn aber nicht? Allerdings ist D.s Verständnis von Sprache io Rahmen der Peirce~chen Zeichenphilosophie schlecht mit Heideggers G espür für Sprache vereinbar sie ist ja bekanntlich für inn das 60 »Haus des Seins"! ' Zurück zu D .s verstehend erschlossener Welt! Dafür, daß jem and in seiner 3eziehung zu anderen Menschen zum Menschen wird, ·J eruft er si ch auf Levinas : »Indem der Andere meinen Lebensvollzug u: nerbricht durch seinen Blick, dem ich nicht ausweichen kann, und durch sein Gesicht, d em ich mich nicht entziehen kanr., werde ich genötig t, im Bezu g auf dieses DU zum ICH zu werden« (S. 13). Ein wenig verwundert fragt man aber: Warum hier der Rekurs ausgerechnet auf ihn? Warum ü bergeht er wie zuvor schon Heidegger - Martin Buber, dem wir doch vor allem diese Einsicht nrdanken? Ich zitiere aus »Ich und I: -u«, eins seiner Zitate für viele : : , Ich werde am Du; Ich werdend spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung.«' Ist doch Buber der entscheidende Vertreter d: eses personalen Denkens! In Kap . 6 »Denken und Leben« stellt D. die höchste Bedeutsamkeit des Denkens heraus. Es sei »eine Vollzugsweise des Lebens«. Freilich interpretiert er dieses Denken wiederu m im Kcntext der Z eiche: 1; es vollziehe sich »notwendigerweise in Zeichen« (S.22f.). Jedoch, relativ: ert, entwertet nicht sogar das Argumentieren mit der Peirceschen Zeichentheorie das soebe: 1 positiv Gesagte? Doch sofort begegnen wir wieder Aussagen, d ie man gerne bejaht, gerade um der hermeneutischen Intention willen, etwa wenn er das Spektrum des Denkens in seiner Weite herau sstellt und in diesem Zusammenhang das »Denken ".fJesen: t lich [als] ein[en} Akt der Freiheit« fasst (S. 23; Kursivierung durch mich). Im 7. Kap . "Verstehen in Gemeinschaft« verweist D. mit Recht darau: : , daß es »im Verstehen kein Nacheinander zweier Akte [gibt], zunächst kausale Wahrnehmung von etwas und dann interpr etatives Ve rsteher: als etwas« (S. 25; . Ge: i.t es darum, was u nd überhaupt daß Th eologie be-denkt, so ist damit eine nic ht unwichtige gemeinsame Grundüberzeugung zwischen D . und mir insofern zum Ausdruck gebracht, als wi: beide im Denken eine zentrale Aufgabe der Theologie und der Philosop: 1.ie bzw. der Religionsphiloso phie s: : hen. Doch möchte ich das, was D. vo: n Philosophierer. sagt, nämlich daß es wenn ich ihn richtig verstehe, vorne: 1.mlich vom dem lebt, »was sie tut, w: : nn sie denkt«, auch vom Theologisieren annehmen. Denn die Theologie lebt davon, daß sie, sofern sie ihre ontologische Aufgabe wirklich ernst nimmt und von der Offenbarung Gottes her sowohl das Sein Gottes als auc: 1. das Sein d es Menschen denkt, eben dieses ihr Denken in hermeneutischer Verantwortung denkt.' Kommen wir zum Teil B »Philosophisches Denken« von I. Dessen 1. Kap . ist mit »Philosophie als Philosophieren« überschrieben. Es ist D.s Ausgangspunkt, daß es zum Verstehen philosophischen Denkens nötig sei, nicht nur auf das zu achten, was jeweils gedacht, sondern auch und vor allem, warum und weshalb es gedacht wird eine richtige Feststellung (wenn auch wieder im Kontext des Verstehens anhand von Zeichen). Erfreulich ist, daß nun Di! theys Hermeneutik mit ihrer Theorie des Verstehens von Lebensäußerungen herangezogen wird . Im 2. Kap . »Keine Wisse: : ischaft« kommt Husserl zur Sprache und von ihm aus auch der Hinweis auf »die p: 1.ilosophische Methode, alles Wirkliche in den Horizont des Möglichen zu stellen« , und zwar als »wirksame Weise, uns von dem, was wir wissen oder zu wissen meinen, kritisch zu distanzieren« (S.50). In diesem Sinne helfe die Philosophie, sich im Denken zu orientieren; durch Orientierung im Denken aber komme es zu O rientierung im Leben. Als »Liebe zur We: sheit« so die Übersc: 1.rift des 4. Kap. ist Philosophie für D. »ein St reben und ein Tun, praktiziertes Philosophieren in lebensweltlichen, wissenschaftlichen, theologischen und vielen and eren Zusammenhängen« (S . 53). Seine Ausführungen streben immer deutlicher auf das 6. Kap. »Kontemplatives Denken« zu, darin wichtige Aussagen, die im Gegensatz zu manchem zuvor Gesagten in eine Richtung gehen, die ich begrüße . Erneut auch der wichtige Gedanke, daß Philosophieren das »Nachdenken selbst zum Gegenstand kritischen Nachdenkens macht. Wer philosophiert, sucht [... ] seine Gedanken zu ordnen u nd sich durch diszipliniertes Nachdenken im Denken zu orientieren«. Ist Philosophieren Selbstveränderung durch Kontemplation, so erweitere es den Lebenshorizont der Menschen, »indem es im Denken Wirkliches auf Mögliches hin überschreitet und sie so lehrt, das Wirkliche im Licht des Möglichen kritisch zu beurteilen« (S. 56; Kursivierung ZNT 16 (8. Jg. 2005) durch mich). »Man philosophiere, weil man nicht anders kann, und nicht bloß instrumentell zum Zweck der Lösung oder Beseitigung eines Problems, das anders vielleicht auch beseitigt oder gelöst werden könnte.« Dafür beruft er sich mit Rech t auf Wittgenstein 10 , für den die Arbeit an der Philosophie vor allem »die Arbeit an Einern selbst [ist]. An der eigenen Auffassung. Daran, wie man die Dinge sieht« (S . 56f.). So kommt D . immer näher an das Eigentliche hermeneutischen Denkens heran. Jedoch, darf man angesichts des Hinweises auf Dilthey, Husserl und Wittgenstein Heidegger ganz übergehen ich frage wieder gemäß meinem ceterum censeo? Angesichts des zutreffenden Hinweises auf Wittgenstein ist es folgerichtig, wenn D.D .Z. Philipps, für den Philosophie deskriptive Wissenschaft ist (Lebensbeschreibung statt Lebensanweisung), nicht folgt und statt dessen erneut auf Wittgenstein verweist: Nur weil man so betroffen ist, daß man gar nicht anders als philosophieren kann, denkt man philosophisch: »Doch betroffen bin je ich, und deshalb gilt für jeden Philosophierenden, was Wittgenstein von sich selbst sagte: ,Wo Andre weitergehn, dort bleib ich stehn«< (S. 57; »je ich« von D . gesperrt! ) . J etzt ist das hermeneutisch unumgängliche »je ich« expressis verbis ausgesprochen. Er wendet sich mit Recht gegen Philipps Interpretation Wittgensteins, dieser hätte philosophisches Denken als rein deskriptiv verstanden; mit dieser Sicht komme gerade nicht die seiner Philosophie zugrunde liegende Pointe seines Philosophieverständnisses in den Blick. Und zutreffend ist D.s Präzisierung: Die Pointe des »Philosophierens [liegt] in dessen Bedeutung [vielleicht besser: Bedeutsamkeit, H.H.] für die Philosophierenden selbst [... ], nicht in dem, worüber diese nachdenken« (S . 58). In etwa haben wir wichtige Aspekte des Koordinatensystems skizziere, innerhalb dessen D. denkt. Dabei gelang es hoffentlich, den Weg von der zunächst befremdend en Anleihe bei Peirce bis zu seinen einleuchtenden hermeneutischen Überlegungen zu gehen. Ein gewisser Schlußpunkt ist damit erreicht. Zur Sprache kam auch, wenn auch nur am Rande, die Intention, die D. mit der Überschrift »Die Wirklichkeit des Möglichen« verfolgt. Daß der Rezensent, der phi- ZNT 16 (8 . Jg. 2005) losophisch auch von Heidegger herkommt, bei dieser Formulierung sofort dessen fundamentale Aussage »Höher als die Wirklichkeit steht die Möglichkeit« " assoziiere, wird man ihm nicht verdenken können. Ich möchte aber hier diese Problematik aussparen, wahrscheinlich sehr zum Bedauern des Autors. Aber ich möch te angesichts des mir zur Verfügung gestellten Platzes lieber einige noc h sehr grundsätzliche Fragen bedenken. Da ich also an entscheidender Stelle Wichtigstes unbedacht lassen muß, werde ich zu einem späteren Zeitpunkt an anderer Stelle die hier vorgetragenen Überlegungen ergänzen. Ich wähle für heute noch folgende Abschnitte aus: 1. He r meneutische und kritische Aufgaben orientierungsphilosophischer Religionsphilosophie (S . 113ff.); 2. Theologisches Denken; Vom Denken u nd Denken Gottes (S . 434ff.); 3. Gott konkret denken (S. 512ff.). ad 1) Religionsphilosophisches Denken als kritische Reflexion von Fragen, gestellt aus unterschiedlicher Lebenspraxis, ist für D. weder Theologie noch eine bessere Alternative zur Theologie . Sie leiste methodisch ihre Aufgabe »dadurch, daß sie sich hermeneutisch entwirft, also ganz auf die Klärung, Kritik und hypothetische Erkundung kontrafaktischer Möglichkeiten religiöser Wirklichkeiten konzentriert und nicht, wie die (christliche) Theologie, auf die assertorische Entfaltung [...] der impliziten Möglichkeiten der bestimmten Wirklichkeitssicht des christlichen Glaubens« (S . 113). Damit ist die Differenz von Religionsphilosophie und Theologie klar und einsichtig zum Ausdruck gebracht. Die Frage, die sich mir hier stellt, ist, wie ich Religionsphilosophie mit ihrer kritischen Aufgabe (Kritik der Religionen, religiöser Kommunikation, der Philoso phie u. dgl.) als hermeneutischen Vollzug begreife, wenn ich theologisch de n Glauben insofern hermeneutisch verstehe, indem ich mich selbst als den Verstehenden ins theologische Denken einbringe. Ist das bereits genannte »je ich« hier ausgeschalte t ? Oder ist »Verstehen« in (religions) philosophischer Sicht in einem weite ren Sinne als theologisches Verstehen gemeint? Hierüber wird vielleicht die wichtigste Diskussion mit D . zu führen sein. Das Verstehen einer nichtchristlichen Religion durch einen Christen liegt ja auf einer anderen Buchreport Ebene als das theologische Verstehen eines christlichen Glaubenssatzes durch einen Christen. Denn das Verstehen des hinduistischen Elefantengottes Ganescha meint ja nicht ein Verstehen wie das Verstehen des christlichen Evangeliums durch einen Christen. Hermeneutik, Verstehen und Ich müssen hier doch in anderer Weise bestimmt werden. Ist nicht gerade hier eine Diskussion zwischen Religionsphilosophie und Theologe angebracht, ja sogar gefordert? Das Kapitel über die hermeneutischen und kritischen Aufgaben der Religionsphilosophie könnte somit zu einem der interessantesten Punkt der Auseinadersetzung werden. ad 2) In Abschnitt III Philosophische Hermeneutik von »Gott«, A. Gott denken: Religionsphilosophische Aufgaben, sind die ersten beiden Kapitel überschrieben: Vom Denken; Vom Denken Gottes. Allerdings thematisiere bereits das Kapitel über das Denken das Denken Gottes. Daß D. mit diesen Ausführungen auf bereits Erwähntes zurückkommt, versteht sich von selbst. Und es gehört auch zur Struktur seines Werks, bereits Gesagtes wieder aufzugreifen und es dabei jeweils in neue Horizonte zu stellen. Dies ist nicht ein unnützes Wiederholen, sondern ein hilfreiches Vorgehen. Im ersten Kap. lautet einer der m.E. wichtigsten Sätze, und zwar im Kontext seiner Aussage, daß Gott nicht durch denkendes Vorgehen »erfaßt oder ergriffen würde«: »Im Denken wird Gott nur im Modus des Denkens und damit im Zusammenhang eines spezifischen Umgangs mit Zeichen zum Thema: Er wird nicht präsent, sondern als etwas repräsentiert, und kommt deshalb nur in den Abschattungen des Übergangs von einem Zeichen zum anderen in den Blick, in denen Gott in wechselnden Symbolisierungen als etwas und etwas als Gott gedacht wird« (S. 435). Wo ich hier meinen Einwand habe, geht aus bereits Gesagtem hervor. Für spätere Diskussionen sei schon hier angedeutet: Ist nicht mit der repraesentatio Gottes im Wort, im Evangelium, jetzt freilich theologisch argumentiert! eine andere Seinsdimension des Redens Gottes offenbar geworden? So ist in Röm 1,16 das Evangelium Gottes, also das kerygmatische Wort, die Macht Gottes, die dynamis theou. Da aber die Macht Gottes nur begrifflich, aber nicht seinsmäßig vom mächtigen Gott un- 61 Buch report terscheidbar ist, ist das Wort Gottes im Vollzu g von Gehört-Werden und Geglaubt-Werden d ie Präsenz Gottes im Wort. " Insofern ist in diese m theologischen Denken Gottes ein essentieller Un tersch ied zum De: : 1ken Gottes in : ier zitierte n St ell e offenkundig. Was D.s Ausführu ngen in diesen beiden Kap iteln so wertvoll macht, ist sein hier und auch 2n .mderen Steller_ so starkes Insistieren auf dem Denken Gott es. Damit : s: das Gespräch i: . ber theolo gisches und religionsphiloso? hisches D enken vorgegeben wie mir scheint, eine äußerst schwierige, aber ungemein wichtige Diskussion. ad 3) Eine letzte G esprächsanzeige für die Zu iunf t: Von erheblic her Bedeutung is: D.s Abschnitt »GJtt konkret denken«: Die Funktion de, -Wo rtes »Gott<ist elementar in religiöser Kommunilationsp raxis im sich Orten in der Welt ( S. 513) . Abe r genau die se Inte ntion verfolgt sowohl Heide gge r als auch Buhmann, wenn bei ihnen theclogisches Gott-Den en im Rah men de r fund amentalo: : 1tolo gischen Analyse den ze ntr alen Gedanken des ln-der-Welt-seins hervorhebt. Das ist für : nich eines der größten Rätsel bei D ., daß er doch woh: sehr bewußt nicht auf Autoren wie diese beiden ocer auf Gerhard EbElings Hermeneutik zurü ckgreift. Ve r birgt Klaus Berger sich d2hinter eine bewußte Distanzierung einer ganzen Fo~schungsrichtung? 13 Auf jeden Fall komme ich später ausführlich auf 5eine sehr interessanten und für sein Vorgehen ze nt ralen Au sführung en über das Subjekt- Ob jekt-Denken und Subjekt-S>tb jeki-D enken zu sprechen. Ich bed auere sehr, daß dafür in dieser Re zensio n kein Platz mehr ist. Ich stehe d so in der Pflicht, in absehbarer Zeit au f wichtigste Intentionen D.s zurückzukommen. Hans Hübner Anmerkungen ' LU. Dalferth, Fundamentaltheologie oder Religionsphilosophie? , in: M. P etzoldt (Hg.), Evangelische Fun damentaltheologie in der Diskuss ion, Leipzig 2004, 171-193. 2 DaJ erth, Fundamentaltheologie, 17 6.. 3 Au: h ich habe an ihm teilgenomm e: : 1 und da bei über »Neutestame: : 1 t! iche T heologie und Fundame: : 1 taltheologie« referiert, ebenfalh in: M. Petzoldt (Hg.), Evangelische Fundamentaltheologie in der Di ~kussion, Leipzig 2004, 95-118. • DaJ erth, Fundamentaltheologie, UTB Theologie 193. 5 H. Hübner, Evangelische Fundamentaltheologie. Theologie der Bibel, Göttingen 2005. • Hübner, Fundamentaltheologie, 31-68: 2. Kap. Personales Denken und Theologi e. 7 M. Heidegger, Unterwegs zur Sprache, 4. Aufl., Pfullingen 1971, passim, speziell zur Sprache als »Haus der Seins« ebd . z.B. 166. 8 M. Buher, Das dialogische Prinzip, 3. Aufl., Heidelberg 1973, 15. • Vgl. Hübner, Fundamentaltheologie, 3. Kap., D as Sein Gottes; 4. Kap., Das Se: n des Menschen. 10 L. Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen, Werkausgabe Bd. VIII, 5. Aufl., Frankfurt a.M. 1992, 472. " M. Heidegger, Sein und Zeit, 18. Aufl., Tübingen 2002, 38. 12 Vgl. Hübner, Fundamentaltheolo gie, 73ff. 13 Im Namensregister fehlen u.a. Martin Buher und Rudolf Buhmann, Gerhard Ebeling wird nur einmal genannt, aber ohne konstitutiv für die Argumentation zu sein. Auf Martin Heidegger wird zwar öfter Bezug genommen, aber wiederum ohne Auseinandersetzung mit seiner Fundamentalologie; der späte H eidegger spielt keine Rolle. Formen und Gattungen im Neuen Testament u n d unternimmt eine sozialgeschichtliche Ein ordnung. Auf diese Weise wird die neutestamentliche Form- und Gattungskunde instruktiv in den für sie unverzichtbaren Methodenverbund eingebettet und eröffnet sowohl verschiedene Zugänge als auch neue Perspektiven für die exegetische Arbeit. Der Ba nd liefert eine kompakte Zusammenfassung des Wissensstandes auf diesem Gebiet und ist für Studium und theologische Praxis gleichermaßen geeignet. 62 U TB 2532 M, 200 5, X, 483 Seiten, € 24,90/ SFr 43, 70 UTB-ISBN 3-8 252-2 532 -1 Formgeschich te ist eine der zentralen exegetischen Meth oden. Der vorliegende Band analysiert das gesamte NT auf seine Formen und Gattungen hin, ski: zzier t ihre Ge schichte A. Francke ZNT 16 (8.Jg. 2005)