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ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
61
2006
917 Dronsch Strecker Vogel
Heft 17 • 9. Jahrgang (2006) ZEITSCHRIFT ,~ NEUES TESTAMENT Das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft Herausgegeben von Stefan Alkier, Axel von Dobbeler, Jürgen Zangenberg Martin Leutzsch Gewalt und Gewalterfahrung im Neuen Testament. Ein vergessenes Thema der neutestamentlichen Wissenschaft? Frarn; ois Vouga »Gott hat ihn als Sühneort hingestellt «: Rene Girard, das Problem der Stellvertretung, traditionelle Vorstellungen des Todes Jesu, und Paulus Martin Evang Gewalt und Gewaltlosigkeit in der Strategie des 1. Petrusbriefs Gerd Theißen Aggression und Aggressionsbearbeitung im Neuen Testament. Ein Beitrag zur historischen Psychologie des Urchristentums Michael Schneider »Hast du gehört, Armageddon ist da « Rezeption biblischer Texte und Motive in ausgewählten Texten Xavier Naidoos Ist der eine Gott gewalttätig? Jan Assmann vs. Eckart Reinmuth Buchreport Herausgeber Stefan Alkier Axel von Dobbeler Jürgen Zangenberg in Verbindung mit Peter Busch Kristina Dronsch Ute E. Eisen Kurt Erlemann Gabriele Faßbeck Dirk Frickenschmidt Matthias Klinghardt Volker Lehncrt Günter Röhser Manuel Vogel Fran~ois Vouga Bernd Wander Anschrift der Redaktion Prof. Dr. Stefan Alkier Johann Wolfgang Goethe-Universität Fachbereich Evangelische Theologie Neues Testament - Geschichte der Alten Kirche z.H.: Kristina Dronsch Grüncburgplatz 1 D-60629 Frankfurt Manuskripte Zuschriften, Beiträge und Rezensionsexemplare werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Verpflichtung zur Besprechung unverlangt eingesandter Bücher besteht nicht. Anzeigen Narr Francke Attempto Verlag Telefon: (07071) 9797-0 Bezugsbedingungen Die ZNT erscheint halbjährlich (April bis Oktober) Einzelheft: € 15,-/ sFr 26,90 zuzügl. Versandkosten Bezugspreis jährlich: € 28,-/ sFr 49,00 Vorzugspreis für Studenten jährlich: € 22,-/ sFr 38,60 (Immatrikulationsbescheinigung beifügen) © 2006 · Narr Francke Attempto Verlag Alle Rechte vorbehalten ISSN 1435-2249 Umschlagentwurf: Werner Rüb, Bietigheim-Bissingen. Satz: Fotosatz Hack, Dußlingen. Druck: Gulde, Tübingen. Bindung: Nädelc, Nehren. Editorial Neues Testament aktuell Zum Thema Kontroverse Hermeneutik und Vermittlung Buchreport Editorial .......................................................... l Martin Leutzsch Gewalt und Gewalterfahrung im Neuen Testament. Ein vergessenes Thema der neutestamentlichen Wissenschaft? ................ 2 Franr; ois Vouga »Gott hat ihn als Sühneort hingestellt«: Rene Girard, das Problem der Stellvertretung, traditionelle Vorstellungen des Todes Jesu, und Paulus ...................................................... 14 Martin Evang Gewalt und Gewaltlosigkeit in der Strategie des 1. Petrusbriefs ............................ 21 Gerd Theißen Aggression und Aggressionsbearbeitung im Neuen Testament. Ein Beitrag zur historischen Psychologie des Urchristentums .................. 31 Einführung zur Kontroverse: Ist der eine Gott gewalttätig? (Stefan Alkier) ... . .. .. ... .. .. .. ... .. .... .. .... . .. .. .. .. .. ... ... . 41 ]anAssmann Ist der Eine Gott gewalttätig? ........................ 42 Eckart Reinmuth Ist der eine Gott gewalttätig? Fragen an das Neue Testament ...................... 48 Michael Schneider »Hast du gehört, Armageddon ist da« Rezeption biblischer Texte und Motive in ausgewählten Texten Xavier Naidoos 53 Walter Dietrich/ M oises M ayordomo Gewalt und Gewaltüberwindung in der Bibel, Zürich 2005 (rez. von Peter Busch) .... 64 Dem Heft liegen Prospekte der Deutschen Bibelgesellschaft, Stuttgart und des A. Francke Verlags, Tübingen, bei. Wir bitten um Beachtung. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+ Co. KG Tübingen Dischingcrweg 5 · 72070 Tübingen Telefon (0 70 71) 97 97-0 · Telefax (0 70 71) 7 52 88 Internet: http: / / www.franckc.de · E-Mail: info@francke.de ZNT im Internet: http: / / www.znt-online.de Liebe Leserinnen und Leser, der Gegensatz könnte nicht größer sein: »Friede auf Erden« heißt es im Evangelium zum Christfest, Paulus spricht vom Frieden als »Frucht des Geistes« (Gal 5,22) und die Friedensstifter werden »Kinder Gottes« genannt (Mt 5,9). Gewalttätigkeit hingegen, so betont das NT, ist nicht Sache der Christen, sie erleiden eher Unrecht als es zu vergelten und überlassen Gott das Gericht über Ungerechte (Mt 5,38- 42; Röm 12,14-21). Wenn überhaupt, dann sind Christen Opfer von Gewalt, die von den »Mächtigen der Welt« oder »den Reichen« ausgeht (Mk 10,42- 45; Jak 2,6). Schön wäre das wohl! Dass christlicher Glaube all dieser Texte zum Trotz zu besonders gnadenloser Gewalttätigkeit geführt hat, konnte man zum Jahreswechsel in Ausstellungen über die mittelalterlichen Kreuzzüge studieren. Andererseits kann selbst rudimentäres, christlich motiviertes Gedenken an den Frieden, der höher ist als unsere auf Vergeltung sinnende Vernunft, noch den Lauf des Alltäglichen durchbrechen und in ganz subversiver Weise eine Gegenwelt schaffen, wie die filmische und literarische Erinnerung an den »kleinen Frieden im Großen Krieg« verdeutlicht, als zu Weihnachten 1914 an der Westfront für wenige Tage die Waffen schwiegen. Freilich, bald setzte das Morden wieder ein und dauerte noch fast vier Jahre an, nicht selten im Namen Gottes. Und auch die »Renaissance des Religiösen« im nach Orientierung suchenden postmodernen Westen bringt nicht nur Hunderttausende Neugieriger und Gläubiger nach Rom, um des verstorbenen Papstes zu gedenken und das Wehen eines Geistes zu spüren, der nicht von dieser Welt ist, sondern zeitigt auch eine immer dreistere Instrumentalisierung von Religion für politische Interessen wie etwa im Irak. Nachzudenken gibt es also genug über den Zusammenhang von Christentum und Gewalt, zumal Religionskritiker stets einen Zusammenhang zwischen praktizierter Gewalttätigkeit und geglaubter Ausschließlichkeit des Einen Gottes gesehen haben und den zentralen Glaubensinhalt des Christentums, wonach gemäß göttlichen Willens die Erlö- ZNT 17 (9.Jg. 2006) sung der Welt durch den blutigen Kreuzestod Jesu von Nazareth erwirkt wurde, als besonders gewaltverherrlichend und gewaltfördernd angeprangert haben. Wie also steht es mit »Gewalt« im Neuen Testament? Die Beiträge des vorliegenden Bandes liefern wie immer Hintergründe und Denkanstöße, um in der gegenwärtigen Diskussion zu einem reflektierteren Urteil zu gelangen. Martin Leutzsch orientiert über den gegenwärtigen Stand der Forschung und zeigt auf, wie vernachlässigte Aspekte von »Gewalt und Gewalterfahrung im NT« neu zum Sprechen gebracht werden können. Frarn,; ois Vouga führt ein in das Denken des französischen Literatur- und Kulturwissenschaftlers Rene Girard, der wie kaum ein anderer gegenwärtiger Kritiker sich mit traditionellen christlichen Sühnevorstellungen auseinandergesetzt und ihre bleibende Bedeutung für Kultur und Ethik reflektiert hat. Martin Evangs Beitrag zum 1. Petrusbrief versteht sich als Fallstudie über gelebte Gewaltlosigkeit einer frühchristlichen Gruppe inmitten einer gleichgültigen oder gar offen ablehnenden Umwelt. Gerd Theißen diskutiert in gewohnter Breite und Tiefe neutestamentliche Ansätze zum Umgang mit Aggression und Aggressionsbearbeitung. Ob der Eine Gott gewalttätig ist, diskutieren Jan Assman und Eckart Reinmuth in einer besonders spannenden Kontroverse. Michael Schneiders Beitrag in »Hermeneutik und Vermittlung« behandelt die ganz aktuelle und individuelle Rezeption apokalyptischer Texte, die ja oft drastische und höchst gewaltbetonte Aussagen enthalten, in Songs von Xavier Naidoo. Peter Buschs Buchreport schließlich greift aus der Flut neuerer Publikationen zum Thema einen Band heraus, der besondere Aufmerksamkeit verdient. Insgesamt lohnt sich in diesem Zusammenhang sicher auch noch einmal ein Blick in den Beitrag von Robert Jewett zu den biblischen Wurzeln des amerikanischen Messianismus in ZNT 15 (2005). Aufmerksame und anregende Lektüre wünschen Stefan Alkier Axel von Dobbeler Jürgen Zangenberg Martin Leutzsch Gewalt und Gewalterfahrung im Neuen Testament. Ein vergessenes Thema der neutestamentlichen Wissenschaft? Kein Thema? Wer die neue Debatte um den Zusammenhang von Monotheismus und Gewalt verfolgt, stellt fest, dass sich seitens der christlichen Theologie das Fach Altes Testament an dieser Debatte beteiligt, nicht aber die neutestamentliche Wissenschaft.1 Ist da kein Diskussionsbedarf? Ist Gewalt, von der im Neuen Testament ja durchaus und in vielerlei Hinsicht die Rede ist, für die Fachwissenschaft kein Thema? Es schiene verlockend, dem zuzustimmen. Der Gott des Alten Testaments der Gott des Neuen Testaments; der Gott der Rache der Gott der Liebe; Gewalt hier und Gewaltlosigkeit da; hier Nationalgott und ethnozentrischer Egoismus und da universaler Gott und universalistischer Altruismus diese längst populär gewordenen Gegenüberstellungen haben die Wahrnehmung etlicher Generationen vor allem liberaler protestantischer Exegeten auf die Bibel geprägt. 2 In einem evolutionistischen Verständnis wurde das Alte Testa- Doch, und zwar verdeckt ... Das hieß nun allerdings nicht, dass das Neue Testament als von Gewalt nicht tangierte Sphäre wahrgenommen worden wäre. Die unliebsame Gewalt wurde erkannt, um aus dem am Neuen Testament Wichtigen ausgegrenzt zu werden. Diese Elimination geschah mit Hilfe bestimmter Methoden (Überlieferungs-, Literar- und Redaktionskritik) und Hermeneutiken (Kanon-im- Kanon- und Frühkatholizismus-Debatten): Gegenüber einem Ursprünglichen, dem man Gewaltfreiheit unterstellte, wurden gewalthaltige Texte und Themen des Neuen Testaments zu späteren Transformationen und Perversionen oder aber zu eigentlich überwundenen Relikten überholter Entwicklungsstufen erklärt. Nicht selten wurde das überholte oder Pervertierte dann als Jüdisches identifiziert und denunziert. Gegen den Strich gelesen, können solche Verfahrensweisen Aufschluss darüber geben, was dabei als Gewalt im Neuen Testament wahrgenommen wurde. So gab es ment als vom Neuen aufgehoben verstanden. Um das in Kritik geratene Christentum zu retten, wurde es zum religiösen und ethischen Gipfel der Kultur stilisiert. Was der Kritik standhalten sollte, wurde im Neuen Testament verortet, wovon man sich distanzieren wollte, wurde im Alten »Gegenüber einem Ursprünglichen, dem man Gewaltfreiheit unterstellte, wurden gewalthaltige Texte nach 1945 Vorschläge, bestimmte Stellen der Paulusbriefe als spätere Zusätze, als literarkritisch sekundär zu verstehen. Röm 13,1-7 war deshalb ein Problem, weil darin jede Art von staatlicher Gewalt theologisch legitimiert zu werden schien eine Position, die unter dem Ein- und Themen des Neuen Testaments zu späteren Transformationen und Perversionen ... verklärt« Testament fixiert. Die Tendenz, das Fragwürdige abzuspalten, betraf nicht nur die Themen, sondern auch den literarischen Ort, an dem man sie fand: das Alte Testament selbst. Was man selbst als unzumutbar empfand, mochte man auch Kindern nicht zumuten. So verschwanden im Lauf des 19. Jahrhunderts viele als unzumutbar gewalttätig verstandene biblische Erzählungen und Erzählzüge aus den Kinderbibeln. 3 2 druck der Verheerungen, die die nationalsozialistische Herrschaft angerichtet hatte, und der Mitwirkung und des Einverständnisses von Kirchen und Christen damit höchst fragwürdig erschien. Und wenn Paulus das gar nicht gesagt hätte, sondern erst eine unbekannte Person in späterer Zeit? Dann wäre zwar nicht das Neue Testament in seiner Endgestalt, wohl aber die früheste schriftliche Überlieferungsschicht von einer problematischen Legitimation staatlicher Gewalt frei. ZNT 17 (9. Jg. 2006) Martin Leutzsch Prof. Dr. Martin Leutzsch, geboren 1956, studi.erte Evangelische Theologie in Erlangen und Bonn: und absolvierte anschließend das Vikariat in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Promotion 1986 und Habilitation 1993 an der Evangelisch7Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Professor für Biblische Theologie 199.4-1998 an der Evangelischen Fachhochschule für Sozialarbeit, seither an der Universität Paderborn. Forschungsschwerpunkte: Sozial-, Gender- und Rezeptiomgeschichte der Bibel, Jesusvorstellungen der Neuzeit, Theorie und Praxis der Bibelübersetzung. Auch zu lKor 14,336-36 und lKor 11,2-16 gab es in der Nachkriegszeit entsprechende literarkritische Thesen. Sollte Paulus, der in Gal 3,28 das Ende ethnischer, sozialer und geschlechtlicher Differenzen in Christus betont, Normen propagiert haben, die Frauen diskriminiert, ja von voller Teilhabe an der Gestaltung des Gemeindelebens ausgeschlossen haben und z.T. noch ausschließen? Oder war solche Diskriminierung erst eine Maßnahme der zweiten oder dritten Generation? Diskriminierung von Frauen, hier von Ehefrauen, ist auch eines der Themen der Haustafel Kol 3,18-4,1. Hinzu kommt dort die Legitimation elterlicher Gewalt über Kinder und der Gewalt von Herren und Herrinnen über Sklavinnen und Sklaven. Wäre nicht vorstellbar, dass der ursprüngliche Kol ohne diese Haustafel geschrieben wurde, und die entsprechende Parallelpassage Eph 5,21-6,9 ebenso? Dann würde die These »Gott ist kein Sklavenhalter,/ für diese Briefe etwas mehr an Plausibilität gewinnen können. Wurden Kol und Eph insgesamt dem historischen Paulus ab- und seinen Schülern zugesprochen, konnte eine Gleichsetzung von »zeitlich früher« ZNT 17 (9. Jg. 2006) Martin Leutzsch Gewalt und Gewalterfahrung im Neuen Testament und »authentisch« mit »wichtig« und von »zeitlich später« und »pseudepigraphisch« mit »marginal« für eine Entlastung sorgen. Problematisch wurden angesichts der kirchlichen Diskriminierungsgeschichte gegenüber Homosexuellen und der Formierung christlicher Schwulen- und Lesbengruppen auch Bibelstellen, die gleichgeschlechtliche Sexualität verbieten und verdammen. Aber vielleicht stammte ja eine der wenigen immer wieder zitierten Stellen, Röm 1,26f., gar nicht von Paulus selbst? ' Schließlich machte die nationalsozialistische Vernichtung der europäischen Juden und Jüdinnen sensibel für antijüdische Züge im Neuen Testament. Auch hier schien die Literarkritik eine Chance zu bieten: Wenn etwa 1Thess 2, 13-16 nicht von Paulus selbst stammte, 6 würde wenigstens der anscheinend früheste erhaltene Problemtext zeitlich später einzuordnen sein. ... und auch offen In der neutestamentlichen Wissenschaft ist gegenwärtig das Bewusstsein gewachsen, dass literarkritische Herauslösungen keine Problemlösungen in der Sache darstellen. Ob zeitlich früher oder später, ob paulinisch oder nicht- und nachpaulinisch: »Nun steht aber diese Sache im Evangelium... « ist der Titel eines Sammelbandes, der sich mit antijüdischen Zügen im Neuen Testament sachlich auseinandersetzt. 7 Analoges gilt für die anderen benannten Problemfelder. Der Blick auf die literarkritischen Thesen zu sachlichen Problemtexten zeigt, dass hier Gewalt als Thema (und Botschaft) neutestamentlicher Texte wahrgenommen wurde. Zu den angesprochenen Themenfeldern - Staat und staatliches Handeln im Neuen Testament, Herrschaft von Männern über Frauen und von Freien über Unfreie, Antijudaismus, auch zur Diskriminierung von Sexualitäten und sexuellen Orientierungen gibt es in den letzten vierzig Jahren immer noch expandierende Forschungsschwerpunkte neutestamentlicher Wissenschaft. Thematisierung, Wahrnehmung und Erfahrung von Gewalt im Neuen Testament werden in verschiedenen Hinsichten betrachtet: auf der literarischen Ebene der schriftlichen Texte, auf der historischen Ebene der Rekonstruktion von Gewalterfahrung und Gewaltausübung der 3 Trägerkreise der Jesusbewegung, in kultur- und gesellschaftsvergleichender Perspektive und im Hinblick auf die Rezeptionsgeschichte der jeweils einschlägigen Bibelstellen. In all diesen Bereichen stößt eine im Anfangsstadium der Forschung oft ohne Begründung gemachte Voraussetzung dass ein anfängliches Goldenes Zeitalter der Gewaltfreiheit mehr oder weniger schnell gewalthaltig transformiert worden sei immer mehr auf Skepsis. Einigkeit besteht darüber, dass im Neuen Testament Gewaltstrukturen keineswegs nur aus einer Perspektive wahrgenommen und bewertet werden: KLAUS WENGST etwa hat dies in einem während der Aufrüstungskampagnen der 1980er Jahre geschriebenen Buch für die Erfahrungen mit der Pax Romana gezeigt, die sich in verschiedenen Überlieferungen und Schrift(grupp )en des Neuen Testaments niederschlagen. 8 Die Vielfalt, zum Teil Gegensätzlichkeit der neutestamentlichen Perspektiven macht es auch unmöglich, dass ich meine Bewertung von Gewaltphänomenen mit der des NT insgesamt gleichsetzen könnte. Im Einzelnen ... Wörter des Neuen Testaments und Begriffe der neutestamentlichen Wissenschaft JOHANNES P. Louw und EUGENE A. NrnA haben den Wortschatz des Neuen Testaments in semantische Domänen eingeteilt. Wer einen ersten Zugang zum Thema Gewalt im Neuen Testament sucht, kann unter den Domänen 20 (Violence, Harm, Destroy, Kill), 37 (Control, Rule), 38 (Punish, Reward), 39 (Hostility, Strife), 55 (Military Activity) und 76 (Power, Force) etwa 360 Wörter finden, die unterschiedliche Aspekte von Gewalt bezeichnen. 9 In den einschlägigen Lexika zum NT und in Spezialuntersuchungen finden sich zu diesen Wörtern mehr oder weniger ausführliche Analysen. 10 Nicht alle würden sämtliche bei Louw und Nida in den genannten Domänen aufgelisteten Wörter als zum Thema gehörig betrachten. Manche würden vielleicht auch die eine oder andere Domäne ausklammern wollen. Was dazu gehört, hängt vom jeweiligen Vorbegriff von »Gewalt« ab, den Exegetlnnen der Wahrnehmung des neutestamentlichen Befundes zugrunde legen. Wo unterscheiden, wo überschneiden sich die Begriffe 4 »Macht«, »Gewalt« und »Herrschaft«? Gehören Begriffe wie »Ohnmacht« und »Abhängigkeit« zentral oder nur peripher zum Thema Gewalterfahrung? Der Bedarf an differenzierter Begrifflichkeit ist im Wissenschaftsbetrieb insbesondere in der Aufbruchsphase der Friedensforschung Ende der 1960er Jahre artikuliert worden. Der norwegische Friedensforscher JOHAN GALTUNG hat in dem vielbeachteten Aufsatz »Gewalt, Frieden und Friedensforschung« 1969 wichtige Differenzierungen vorgenommen. Er unterscheidet intendierte und nicht intendierte, manifeste und latente Gewalt, physische und psychische, objektbezogene und objektlose Gewalt sowie personale und strukturelle Gewalt. Galtungs Unterscheidungen machen auf die Vielfalt und Vielschichtigkeit des Phänomens Gewalt aufmerksam. Insbesondere sein Begriff der strukturellen Gewalt ist oft, auch in der Theologie, aufgegriffen worden, seine Angemessenheit aber auch hinterfragt worden. (Gravierende Probleme mit Galtungs Gewaltbegriff bestehen darin, dass seine sehr weite Definition - »Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung« 12 so gut wie alles menschliche Tun und Unterlassen umfasst und damit nivelliert; darin, dass der Aspekt der Legitimität bzw. Illegitimität von Gewalt kein eigenes Gewicht erhält; und darin, dass zwischen Gewalt als Handlungsinitiative und Gewalt als Reaktion auf vorausgehendes [Gewalt-]Handeln analytisch nicht unterschieden wird. Gleichwohl können Galtungs Unterscheidungen die differenzierte Wahrnehmung von Gewaltphänomenen fördern.) In der neutestamentlichen Wissenschaft wurde Galtung (zusammen mit anderen Überlegungen zum Gewaltbegriff) etwa von RICHARD HORSLEY herangezogen. In seinem Buch »Jesus and the Spiral of Violence« unterscheidet Horsley institutionalisierte Gewalt, Protest und Widerstand, Repression, Revolte, nimmt die Aspekte der Legitimität (force) und Illegitimität (violence) von Gewalt auf, interpretiert »strukturelle Gewalt« durch die Kategorie der Ungerechtigkeit und greift ein Stufenschema der Gewalteskalation auf (1: Ungerechtigkeit, 2: Protest und Widerstand dagegen, 3: Repression, 4: Revolte). 13 Mit Hilfe dieser Kategorien untersucht er Formen gewalt- ZNT 17 (9. Jg. 2006) freien Widerstands im jüdischen Volk des ersten Jahrhunderts und deutet die J esusbewegung als eine gewaltfreie soziale Revolution. Horsley hat seine Wurzeln in der US-amerikanischen Friedensbewegung. Die Sympathien DAVID DAUBEs gelten der Bürgerrechtsbewegung, wie sein Buch »Civil Disobedience in Antiquity« (1972) zeigt, in dem er auch die Jesusüberlieferung und die Paulusbriefe auf Aspekte bürgerlichen Ungehorsams hin untersucht. 14 »Strukturelle Gewalt« und »ziviler Ungehorsam« sind metasprachliche Begriffe von heute. Sie finden sich nicht in antiken Texten. Die damit bezeichneten Phänomene können sich sehr wohl finden, aber es ist damit zu rechnen, dass unsere Wahrnehmung dieser Phänomene nicht deckungsgleich ist mit der antiker Personen und Gemeinschaften. Darüber hinaus gibt es Kategorien, die entweder im Neuen Testament oder in der heutigen Theologie zum Thema »Gewalt« gerechnet werden, aber nicht umgekehrt. Zwei Beispiele: Zumindest im Deutschen ist der Begriff »Opfer« sehr vielschichtig. Er umfasst, was im Englischen durch »sacrifice« und »victim« unterschieden wird: ein positiv gewertetes kultisches Darbringungsritual und seinen Gegenstand einerseits, eine Person, die beklagenswerter Weise gewalttätigem Handeln oder Naturgewalten ausgeliefert ist, andererseits. »Victim« fehlt bei Louw und Nida im englischen Stichwortregister, während zum Begriff »sacrifice« ein Dutzend griechischer Wörter aufgelistet werden. Dass in antiken Kulturen und Texten, auch im Neuen Testament, sachlich beide Aspekte vorhanden sind und dass sich antike und heutige Wahrnehmung dennoch im Blick auf den Gewaltaspekt von einander unterscheiden, hat WOLFGANG STEGEMANN herausgearbeitet. 15 Mein zweites Beispiel: Im Neuen Testament werden bestimmte übernatürliche Wesen erwähnt, denen als »Mächten und Gewalten« (Kol 1,16 u.ö.) Einfluss auf das irdische Geschehen zugeschrieben wird oder die als »Dämonen« und »unreine Geister« destruktiv von Personen Besitz ergreifen können, sofern sie nicht durch einen verbalen Gewaltakt, einen Exorzismus, vertrieben werden. Diese Wesen (und ebenso die »Engel« und die wilden Tiere) spielen in dem, was in der neutestamentlichen Wissenschaft heute unter dem Thema Gewalt diskutiert wird, oft nur am Rande eine Rolle ( oder ZNT 17 (9. Jg. 2006) Martin Leutzsch Gewalt und Gewalterfahrung im Neuen Testament gar nicht): Die Plausibilität der Existenz und Wirksamkeit solcher Wesen hat in der christlichen Intellektuellenkultur Europas und Nordamerikas seit dem 18. Jahrhundert deutlich abgenommen. Wie überall, ist auch beim Thema Gewalt der jeweilige Standpunkt entscheidend. Übersetzungen sind hier aufschlussreich. Ein Beispiel: Das griechische Verbum angareuein begegnet dreimal im NT, unter anderem im Ratschlag der Bergpredigt (Mt 5,41 ), nicht nur eine, sondern zwei Meilen zu gehen. »So dich jemand nötiget« diese Übersetzung MARTIN LUTHERS ist bis zur jüngste Revision der Lutherbibel beibehalten worden, aber zumindest heute irreführend: Juristisch gesehen ist »nötigen« eine rechtswidrige Handlung, während angareuein ein staatsrechtlich legitimes Vorgehen beschreibt, nämlich: als Repräsentant der staatlichen Verwaltung oder des Militärsautorisiert jemanden zu einer öffentlichen Zwangstransportleistung zu verpflichten. Was aus der Sicht des Staates legitim ist, wurde indes von den Betroffenen im ersten Jahrhundert oft als Schikane erfahren, sei es, weil sich in dieser Zwangstransportleistung hautnah die Beziehung zwischen Besatzungsmacht und Unterworfenen niederschlug, sei es, weil solche Leistungen nicht selten von Unbefugten gefordert und/ oder mit ungerechtfertigten Zumutungen verbunden waren. 16 Nicht nur zwischen der Antike und heute ist mit Differenzen zu rechnen, sondern auch innerhalb der antiken Gesellschaft: Wenn Barrabas in Joh 18,40 als lestes bezeichnet wird, kann das von Seiten des Establishments als »Räuber« verstanden und damit dem Betreffenden legitime Handlungsmotive abgesprochen werden. Mit einem Seitenblick auf Mk 15,7 wäre aber auch die Übersetzung »Rebell« möglich und die ganze Angelegenheit damit von einer kriminellen auf eine politische Ebene verlagert. Entsprechende Differenzen sind auch in der Gegenwart bekannt, wenn dieselbe Person je nach Standpunkt als Terrorist oder als Widerstandskämpfer bezeichnet werden kann. In der aktuellen Lage der neutestamentlichen Wissenschaft werden solche Differenzen gerade in den Bereichen deutlich, die ich am Beispiel der literarkritischen Operationen benannt habe: Gibt es im Neuen Testament im Verhältnis zum Staat, zwischen Männern und Frauen, Herren und Sklaven, Hetero- und Homosexuellen, Jesusanhängerinnen und (anderen) Juden Bezie- 5 hungen, die als Gewalt bezeichnet werden können? Einfache Ja- und Nein-Antworten auf diese Frage ließen sich unschwer anführen. Häufiger sind indes differenziertere Antworten: Welches Phänomen in welchem Kontext kann zu Recht oder zu Unrecht als welche Form von Gewalt angesehen werden, ist am Einzelfall zu untersuchen. In den genannten Bereichen geschieht dies zunehmend, indem genau darauf geachtet wird: Wer handelt? Wer sind die Adressatlnnen des Handelns ( oder Unterlassens)? Welche Anlässe, Mittel, Ziele von Gewalthandeln, welche Mechanismen und Funktionen von Gewaltstrukturen gibt es? Welche Auswirkungen auf die Handelnden und ihre Adressatlnnen und auf Dritte sind festzustellen? Wie interpretieren die Beteiligten und ihr Umfeld das Gewaltphänomen? Was gilt wem (und bis zu welcher Grenze) als legitim? Wie ist der situative Kontext eines Gewaltphänomens beschaffen? Ist Gewalt das Problem oder eine Form der Problembearbeitung (oder beides)? Ich nenne nun wichtige Phänomene von Gewalt, auf die sich die neutestamentliche Forschung konzentriert hat. Das Spektrum der Gewaltphänomene Subjekte von Gewalt Was die Akteure von Gewalt angeht, so ist die Rolle der römischen Staatsgewalt bei den Prozessen gegen Jesus und gegen Paulus immer wieder Gegenstand von U ntersuchungen. 17 Es geht dabei um die Rechtsgrundlagen, die Verfahrensfragen, die Folter, die reale und symbolische Bedeutung der Hinrichtungsart Kreuzigung. 18 Da beim Prozess gegen Jesus nach den Berichten der Evangelien auch jüdische Instanzen mitbeteiligt waren, wird auch nach der Möglichkeit oder dem Verbot jüdischer Kapitalgerichtsbarkeit unter direkter römischer Herrschaft gefragt; das ist auch für die historische Beurteilung der Hinrichtung des Stephanus von Belang. Untersucht sind die Synagogenstrafen, auf die Paulus Bezug nimmt (2Kor 11,24). Auch darüber hinaus wird die Gewalt des Establishments gegen Anhängerinnen Jesu in neueren Untersuchungen wahrgenommen. 19 Ebenfalls erforscht sind Eigenart und Rezeptionsgeschichte einer Verantwortungsübernahme wie Mt 27,25. 20 6 Neben legitimer und illegitimer Gewalt des Staates und religiöser Institutionen gibt es Gruppen, die jenseits der Legalität gewaltsam handeln. Anknüpfend an die Erwähnung von Räubern im Gleichnis vom barmherzigen Samaritaner (Lk 10,30), ist das Spektrum des antiken Banditentums in den Blick neutestamentlicher Forschung getreten. 21 Auch das Verhalten einer Einzelperson stößt immer wieder auf Aufmerksamkeit: der Verrat des Judas Ischariot. 22 Seit dem 18. Jahrhundert wird diskutiert, inwieweit Jesus als politischer, sozialer oder kultureller Revolutionär verstanden werden muss. Die verschiedenen Optionen haben ihre Befürworter und Gegner gefunden. 23 Dabei hat bis in die 1980er Jahre die Frage der Nähe und der Distanz J esu zu der einen bewaffneten Widerstand gegen Rom befürwortenden und vertretenden Gruppe der Zeloten gespielt. Doch wo die Existenz einer kontinuierlichen antirömischen Widerstandsbewegung vor dem ersten jüdischen Aufstand gegen Rom höchst fraglich ist, 24 laufen auch Behauptungen über antizelotische Tendenzen beim historischen Jesus ins Leere. Neben der generellen Einordnung Jesu haben einzelne seiner Aktionen zu Debatten um Jesus als Gewalttäter geführt. Die vier Berichte von der so genannten TempelreinigungJesu (Mk 11,15-17; Mt 21,12f.; Lk 19,45f.; Joh 2,14-17) unterscheiden sich hinsichtlich der Adressaten und Objekte von Jesu Aktion wie im Blick auf die angewandten Mittel und die Selbstinterpretation J esu. Die Deutung dieser Tat als symbolische Handlung 2' analog zu Symbolhandlungen der israelitischen Propheten überzeugen. Indes macht diese Deutung die Frage nach dem Verhältnis dieser Handlung zu geltendem Recht und die nach den Auswirkungen auf die unmittelbar Betroffenen nicht überflüssig. Größere Ratlosigkeit verursacht die in den synoptischen Evangelien mit der Tempelreinigung verknüpfte Verfluchung des Feigenbaums (Mk 11,12-14.20-25). Die verbale Handlungsform des Fluchs 26 führt zum Verdorren des Baums. Wie bei weiteren Strafwundern des NT (Apg 5,1-11; 13,6- 12; mehrfach in Paulusbriefen) zeigt sich hier eine andere Dimension des biblischen Wunderverständnisses. Im Unterschied zu übernatürlichen Strafen, die Menschen treffen, ist die Gewalthandlung hier an eine Sache adressiert, was u.a. im Kontext antiker Sachstrafen diskutiert werden ZNT 17 (9. Jg. 2006) könnte und auch in den Bereich symbolischer Handlungen zu stellen wäre. Verbale Gewalt gegen Dämonen in Form des Exorzismusbefehls im Rahmen der Exorzismen Jesu (Mk 1,23-28; 7,24-30; 9,14-29; für Paulus vgl. Apg 16, 16-18) ruft selten Erörterungen im Blick auf die Gewaltthematik hervor. Als Problem wird indes manchmal das Hineinschicken der aus dem besessenen Gerasener ausgetriebenen Dämonen (der Name Legion verweist auf die römische Besatzungsmacht) in Schweine, die infolgedessen ertrinken, angesehen (Mk 5,1-20). Modeme Leserinnen machen sich um den wirtschaftlichen Verlust Sorgen, den die Schweinebesitzerinnen erleiden. Es ist aufschlussreich, dass Jesus zwar auf gefordert wird, die Region zu verlassen, von einer Schadensersatzforderung aber nichts erzählt wird möglicherweise eine der Differenzen zwischen antikem und modernem Verständnis von »höherer Gewalt«. 27 Schließlich werden noch weitere Fälle verbaler Aggression wie die Reden gegen Pharisäer und Schriftgelehrte (Mt 23) aber auch Stellen wie Mk 8,33 und J oh 2,4 als Belege für einen Gewaltgebrauch J esu angeführt. Die Stellen, die ins besondere in der Erforschung des Antijudaismus im NT eine Rolle spielen, sind durch das Stichwort Polemik zwar beschrieben, aber noch nicht interpretiert. Gewalt gegen eine Sache, die für das antike Judentum von zentraler Bedeutung war, beinhaltet die Ankündigung J esu, er werde den J erusalemer Tempel abreißen (Mk 14,58). In Lk 22,36 rät Jesus den Jüngern, sich ein Schwert zu beschaffen. Werden damit Gewaltinitiativen seitens der Jünger erlaubt, oder geht es um reaktive Gewalt, um Möglichkeiten zur Notwehr? Einschlägige Studien sprechen in Anführungszeichen vom »sanften« (PETER TRUMMER) und vom »brutalen« (KLAUS BERGER) Jesus und machen damit deutlich, dass keine dieser Zuschreibungen dem neutestamentlichen Befund gerecht wird. 28 Einigkeit besteht darin, dass aggressive und gewalthaltige Züge der Jesusüberlieferung bei der Frage nach dem historischen Jesus nicht von vornherein beiseite geschoben werden dürfen, um ein Vor-Urteil über Jesus bestätigen zu können. Vielmehr stellt sich bei jedem der genannten Bereiche von Jesu Tun und Reden die Frage nach dem jeweiligen Stellenwert ZNT 17 (9. Jg. 2006) Martin Leutzsch Gewalt und Gewalterfahrung im Neuen Testament und Sinn und der jeweiligen Funktion des Gewaltaspekts. Objekte von Gewalt Im Mt ist Jesus schon als Säugling und Kleinkind Ziel von Gewalt (Mt 2). Als Erwachsener wird er Ziel von Verhaftungs- (Joh 7,44) und Tötungsplänen (Mk 3,6; Joh 11,46-57) und Tötungsversuchen (Lk 4,16-30; Joh 8,59; 10,31). Diese Stellen werden im Zusammenhang mit Parallelisierungen von Mose (Ex lf.) und Jesus (Mt 2,13-18) und im Rahmen der Antijudaismusdebatte in Untersuchungen zur Repräsentation der Juden oder einzelner jüdischer Gruppierungen in den Evangelien analysiert. Der gewaltsame Tod Jesu ist Gegenstand historischer Untersuchungen zur Praxis der Kreuzigungsstrafe in der römischen Kaiserzeit. Insbesondere die verschiedenen Deutungen des Todes Jesu im NT, also Bewältigungsversuche und Sinndeutungen von tödlicher Gewalt, sind ein breites Forschungsgebiet. (Bei einer Untersuchung des Phänomens Tod im Neuen Testament würde sich herausstellen, dass quantitativ der Schwerpunkt auf Berichten, Erwähnungen und Ankündigungen von gewaltsamem Tod liegt. 29 ) In der Apg, aber auch in den Briefen des NT, in der Offb und in Ankündigungen der Evangelien (Mk 13,9; Mt 10, 17-23) erscheinen die Jesusanhängerlnnen als Objekte gesellschaftlicher und staatlicher Gewalt. Das kann sich in Diskriminierungen, Verfolgungen, Ausweisungen, Prozessen, Tötungen äußern. (In Offb 18,24 weitet sich der Blick aus auf Opfer staatlicher Gewalt außerhalb des Kreises der Jesusanhängerlnnen.) In der Apg wird ein Muster erkennbar: Oft nicht immer sind es Juden, die Gewalt gegen die Missionare initiieren, während die Vertreter Roms diese Gewalt begrenzen. Das Ergehen von Stephanus und Paulus wird in Analogie zum Ergehen Jesu geschildert. J esu Passion ist vor bildhaft für das Martyrium seiner Verkünder. Verarbeitungen von erfahrener und erwarteter Gewalt Mit dem zuletzt genannten Gesichtspunkt ist bereits die Verarbeitung von Gewalt ins Blickfeld geraten. Das eigene Ergehen kann durch Jesu Passion einen Sinn erhalten. Das erlittene und 7 Neues Testament erwartete Martyrium kann zum festen Bestandteil der Identität der Jesusanhängerlnnen werden. Elemente einer Theologie des Martyriums finden sich bereits bei Paulus. 30 1Petr kann geradezu als literarische praeparatio ad martyrium, als Vorbereitung auf ein Martyrium, verstanden werden. 31 Eine angemessene Würdigung solcher Bewältigungsstrategien von Gewalt wird gut daran tun, sich den Blick nicht durch die seit der Aufklärung beliebte Unterstellung einer »Martyriumssucht« der frühen Christinnen verstellen zu lassen. 12 Die mangelnde Integration in die Umwelt und deren distanzierende und aggressive Vorgehensweisen Gott als die Erst- und Letztinstanz legitimer Gewalt ist der Allherrscher (pantokrator; 2Kor 6,18 und mehrfach in Offb ). Gott begrenzt, unterbricht und beendet Gewalt von Menschen und von Dämonen - und kann dazu Gewalt einsetzen. Die Sinndeutungen des Todes Jesu setzen eine Mitbeteiligung Gottes an Jesu Tod voraus. Diese kommt schon im »müssen« (dei) der Leidensankündigung (Mk 8,31) vor und wird in Röm 3,24f. und anderswo explizit zum Ausdruck gebracht. Darüber hinaus ist Gott der Garant des Tun- Ergehen-Zusammenhangs. Für sein Verhalten erhält der Mensch ein entsprechendes Feedback, sei es vor oder nach dem Tod gegen die Gemeinden führen zu einem Selbstverständnis als Fremde, was insbesondere für 1Petr ausführlich untersucht ist. 33 »Eine angemessene Würdigung solcher Bewältigungsstrategien von Gewalt wird gut daran tun, (vgl. z.B. Mt 5,3-12). Insbesondere die Ankündigung ewiger J enseitsstrafen (für die Jesusüberlieferung z.B. Mk 9,42-50; Mt 13,36-43; 25,14- 30.31-46; Lk 16,19-31) gilt seit den Optionen des Pietismus und der Aufklärungstheologie für eine Allversöhnungs- Auf erfahrene Gewalt, Leid und Bedrängnis reagiert Paulus, indem er eine »Sprache des Leids« entwickelt (1Kor 4,11-13; 2Kor 4,7-10; 6,4-1 O; 11,23-27 u. ö.) in sich den Blick nicht durch die seit der Aufklärung beliebte Unterstellung einer>Martyriumssucht< der frühen Christlnnen verstellen zu lassen.« vielen Untersuchungen zum Thema Leiden im NT geht es sachlich um Erfahrung und Verarbeitung von Gewalt. 34 Eine wichtige Form sprachlicher Thematisierung und Verarbeitung von Gewalt ist das Gebet. Die Klage (Mk 15,34; Offb 6,10) ist ein an Gott gerichteter Protest gegen Gewalt. Der Hymnus thematisiert Gottes Intervention in Gewaltverhältnisse (Lk 1,51-53) und die Rückbindung jeder Form legitimer Gewalt an Gott (die Hymnen der Offb ). Auch die Wir-Bitten des Vaterunsers (Mt 6, 9-13; Lk 11,2-4) lassen sich als Bitten um die Minimierung von ökonomischen, kommunikativen, die religiöse Identität gefährdenden Gewaltverhältnissen und Gewaltakten verstehen. Gebete und Lieder des Neuen Testaments unter dem Gesichtspunkt der Gewaltartikulation und -bewältigung zu verstehen, wäre eine lohnende künftige Forschungsaufgabe der neutestamentlichen Wissenschaft. Gott und Gewalt Im Gebet zeigt sich, dass und wie Gott und Gewalt im Neuen Testament zusammengebracht werden. 8 erwartung als Problem. Eine angemessene Bearbeitung kann nicht darin bestehen, dass entsprechende Aussagen überlieferungskritisch eliminiert werden, so dass wenigstens der historische Jesus davon frei gehalten wird, noch darin dass der Vorstellungskomplex der ewigen Strafe dem als überholt gewerteten jüdischen Verhaftetsein einiger neutestamentlicher Schriften anderen Stellen (insbesondere aus dem johanneischen Schrifttum) gegenübergestellt wird und letztere als die eigentlich christlichen privilegiert werden. Vielmehr ist ernst zu nehmen, dass nicht nur die Hebräische Bibel, sondern auch das Neue Testament den Gott der Rache kennt (Röm 12, 19 und Hebr 10,30 im affirmativ aufgenommenen Zitat Dtn 32,35; weiter 1Thess 4,6; Offb 6, 1 O; 19,2; vgl. noch 2Thess 1,7f.; in Lk 18,7f. wird ekdikein, ekdikesis im Unterschied von den gerade genannten Stellen oft mit »Recht verschaffen« übersetzt was den antiken Begriff von Rache gut trifft). Dass Rache ebenso wie Liebe zum Gottesbild der ganzen Bibel gehört, haben Alttestamentler wiederholt hervorgehoben. 35 Beim Verstehen der biblischen Racheaussagen ist eine Differenz zwischen der Antike einerseits und heute andererseits zu bedenken. In der Antike (und später) gilt Rache als eine legitime Form der ZNT 17 (9. Jg. 2006) Konfliktregelung (was heute in den Altertumswissenschaften neu entdeckt wird), während seit der Aufklärung eine Delegitimierung und (etwa in der Tiefenpsychologie) Pathologisierung von Rache vorherrscht: Rache wird abgespalten - und manchmal ist das Andere das Orientalische, wonach »alle morgenländischen Völker sehr rachgierig« seien (JAKOB MICHAEL REINHOLD LENZ, der JOHANN DAVID MICHAELIS aufgreift)3'- und von einem Handeln auf ein Gefühl reduziert. Erst wo die Differenz als solche anerkannt ist, kann ein angemessenes Verstehen beginnen. Zur Ethik des Gewaltverzichts Die neutestamentlichen Ratschläge zu und die Berichte über die Praxis von Gewaltverzicht und gewaltfreiem Handeln und ihre intensive Erforschung stehen bewusst nicht im Mittelpunkt dieses Aufsatzes. 37 Hinweisen will ich auf GERD THEißENs Untersuchungen zur Soziologie der Jesusbewegung. Nach Theißen besteht die gesamtgesellschaftliche Bedeutung der J esusbewegung, ihr Beitrag zur Bewältigung sozialer Spannungen, in bestimmten Formen der Verarbeitung und Überwindung von eigener und fremder Aggression. Er unterscheidet (1) den Aggressionsausgleich durch Gegenimpulse Martin Leutzsch Gewalt und Gewalterfahrung im Neuen Testament kaum in den Blick gekommen sind. Zwei scheinen mir besonders wichtig zu sein. Während es zum Phänomen der Freundschaft für die Antike und darüber hinaus zahllose Untersuchungen gibt, hat Feindschaft als eine soziale Beziehung kaum Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Das gilt, soweit ich sehe, für alle Kultur- und Sozialwissenschaften - und eben auch für die neutestamentliche Wissenschaft. Ohne die Gründe für solches Ignorieren untersuchen zu wollen (möglicherweise hat hier die Prominenz der scheinbar von vornherein feststehenden Lösung - Feindesliebe den genauen Blick auf das Problem überflüssig erscheinen lassen), benenne ich einige Fragen zu diesem Thema: Welche intraindividuellen, interindividuellen und strukturellen Bedingungen für Feindschaft gibt es? Auf welchen Ebenen gibt es sie? In welchen Kontexten findet sie statt? Welche gesamtgesellschaftlichen Funktionen hat die Feindschaftsbeziehung? In welchem Verhältnis zu anderen Sozialbeziehungen steht sie? Welche Akzeptanz oder Nichtakzeptanz hat Feindschaft seitens der unmittelbar Beteiligten und seitens der Gesellschaft? Welche Motive und welche Anlässe für, welche Bezugspunkte und Ziele von Feindschaftsbeziehungen lassen sich unterscheiden, welche Austragungsmodi, welche Auswirkungen gibt es? Mit Hilfe solcher differenzierter Fragen kann z. B. die Eigenart der Feind- (Feindesliebe, Integration diskriminierter Gruppen); (2) die Verlagerung von Aggression auf andere Objekte (Dämonenaustreibung in Schweine Mk 5,1-20) und Subjekte (Menschensohn als künftiger Weltrichter), (3) die Rück- »Beim Thema Gewalt im schaftsbeziehung im Gleichnis vom Taumellolch unter dem Weizen (Mt 13,24-30) präziser wahrgenommen werden, als das bislang der Fall ist. Neuen Testament zeigt sich, dass in der menschlichen Sphäre auf allen Ebenen ganz überwiegend Männer als tatsdchli- Die zweite Dimension ist noch umfassender. Beim Thema Gewalt im Neuen Testache 0der potentielle Akteure von Gewalt im Blick sind.« wendung der Aggression auf den Aggressor und die Verinnerlichung durch ihn als Appell zum Aggressionsverzicht (Beispiele: Mt 5,21f.27-30.38-42); und (4) die Darstellung und Transformation von Aggression in christologischen Symbolen ( der Gekreuzigte als Sündenbock: Mk 10,45; 14,24; lKor 15,3)." Blinde Flecke, offene Fragen Trotz der vielfältigen Untersuchungen von Gewalt im NT gibt es Dimensionen des Themas, die noch ZNT 17 (9. Jg. 2006) ment zeigt sich, dass in der menschlichen Sphäre auf allen Ebenen ganz überwiegend Männer als tatsächliche oder potentielle Akteure von Gewalt im Blick sind. Was bedeutet dieser Befund für das Verständnis von Gewalt - und für das von Männlichkeit? Die Erforschung von Männlichkeiten im NT, die seit kurzem begonnen hat, 39 hätte hierauf künftig ihr Augenmerk zu legen. Dabei wäre zu beachten, dass die sich wandelnden Wahrnehmungen und Bewertungen von Gewalt im NT in den letzten zweihundert Jahren im Kontext von sich wandelnden Männlichkeitsidealen stattgefunden haben. 9 Von 1770 bis 1850 war das herrschende bürgerliche Männlichkeitsideal das der edlen Einfalt und stillen Größe. Dem entsprach die J esusvorstellung von HÖLDERLIN, JEAN PAUL, KAROLINE VON GüNDERRODE oder GOETHE, und der stille, beherrschte, ruhige Jesus prägte die J esusbilder der Nazarener und die Jesusstatue THORVALDSENS. Mit der Formierung der sozialen Bewegungen ab den 1840er Jahren im Kontext der Industrialisierung, aber auch des Kolonialismus und des Antisemitismus stieg der Bedarf an einem aggressiven Männlichkeitsideal. Ab den 1880er Jahren wird der sanfte Jesus der Nazarener als weich, verweichlicht, unmännlich bewertet. In den sozialen Bewegungen Kontinentaleuropas wird die jeweilige Jesusvorstellung in Wort und Bild stark auf die Tempelreinigung fokussiert, ganz gleich, ob Jesus dabei antiklerikal gegen Priesterherrschaft, antikapitalistisch gegen die Hochfinanz oder antisemitisch gegen »die« Juden agiert. Ohne das Thema hier weiterverfolgen zu können, mache ich nur auf Folgendes aufmerksam: Kurz nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg schrieb der deutsche Neutestamentler JOHANNES LEIPOLDT über »Die männliche Art Jesu«. 1946 erschien in Österreich das Buch » Der Mann Jesus« des Theologen GEORG BICHLMAIR. Hier wurde Bedarf an einer Redefinition von Männlichkeit wahrgenommen und theologisch darauf geantwortet. Ähnliches geschah in den 1970er und 1980er Jahren, wo im Zuge von Bürgerrechts-, Studierenden- und Frauenbewegung bisherige Männlichkeitsideale tief in Frage gestellt wurden. »Jesus der Mann« von HANNA WOLFF und »Jesus der erste neue Mann« von FRANZ ALT reagieren auf solche Veränderungen. 40 Welchen Bedarf an welcher Männlichkeit, welchen Bedarf an welcher Gewalt, welcher Gewaltfreiheit und welchen Bearbeitungen von Gewalt hat die heutige Gesellschaft? Die eigene Position zu diesen Fragen sollte sich klar machen, wer Gewalt im Neuen Testament untersucht: Dann lässt dort vielleicht mehr und anderes finden als das, was die eigene Position nur bestätigt ... Anmerkungen 1 Die gegenwartige Monotheismus-Gewalt-Debatte wurde angestoßen von Jan Assmann (vgl. ausführlich J. Assmann, Die Mosaische Unterscheidung oder der 10 Preis des Monotheismus München/ Wien 2003). Vgl. etwa J. Manemann (Hg.), Monotheismus (Jahrbuch Politische Theologie 4), 2. Aufl., Münster 2005; Th. Söding (Hg.), Ist der Glaube Feind der Freiheit? Die neue Debatte um den Monotheismus (Quaestiones Disputatae 196), Freiburg/ Basel/ Wien 2003; H. Düringer (Hg.), Monotheismus eine Quelle der Gewalt? (Arnoldshainer Texte 125), Frankfurt 2004. Ein Neutestamentler, der Stellung genommen hat, ist W. Stegemann, Wie »christlich« ist das Judentum? Zur Kritik an einigen seiner (protestantischen) Konstruktionen, in: R. Faber (Hg.), Zwischen Affirmation und Machtkritik. Zur Geschichte des Protestantismus und protestantischer Mentalitäten, Zürich 2005, 141-163, hier: 156- 161. - Die Zurückhaltung neutestamentlicher Exegetinnen ist auch bei der schon einige Zeit zurückliegenden Debatte um Rene Girards Thesen zu Religion und Gewalt festzustellen. Hier waren es vor allem systematische Theologen, die sich beteiligten (besonders Raymond Schwager und sein Kreis), daneben auch Alttestamentler wie z.B. N. Lohfink, Der gewalttätige Gott des Alten Testaments und die Suche nach einer gewaltfreien Gesellschaft, JBTh 2 (1987), 106-136; U. Rüterswörden, Das Ende der Gewalt? Zu Rene Girards Buch, JBTh 2 (1987), 247-256; von neutestamentlicher Seite habe ich wahrgenommen: R. Hamerton-Kelly, A Girardian Interpretation of Paul: Rivalry, Mimesis and Victimage in the Corinthian Correspondence, Semeia 33 (1985), 65-82; E. Gans, Christian Morality and the Pauline Revelation, Semeia 33 (1985), 97-108; B.L. Mack, The Innocent Transgressor: Jesus in Early Myth and History, Semeia 33 (1985), 135-166; V.K. Robbins, Luke-Acts: A Mixed Population Seeks a Horne in the Roman Empire, in: L. Alexander (Hg.), Images of Empire (JSOT Supplement 122), Sheffield 1991, 202- 221; vgl. auch R. North, Violence and the Bible: The Girard Connection, CBQ 47 (1985), 1-27. - Die seit gut fünfzehn Jahren artikulierte postchrist! iche Pauschalkritik an Christentum und Kirche als einer gewalttätigen Religion und Institution - Aufsehen erregend etwa in Dan Browns »The Da Vinci Code« bezieht sich auch auf die Bibel (vgl. F. Buggle, Denn sie wissen nicht, was sie glauben. Oder warum man redlicherweise nicht mehr Christ sein kann, Hamburg 1992; ders., Inhumaner Jesus? , in: Verfälschter Jesus? Christentum und Christusbilder. Beiträge einer Tagung der Evangelischen Akademie Baden 2.-4. April 1993 [Herrenalber Protokolle 97], 2. Aufl., Karlsruhe 1997, 40-47) und hat etwa auf Akademietagungen auch zu Stellungnahmen von exegetischer Seite geführt. 2 Beispiele für den Begriff »Gott des Alten Testaments« und für die Entgegensetzung »Gott des Alten Testaments - Gott des Neuen Testaments«: H. Lemke, Judenchristentum. Zwischen Ausgrenzung und Integration. Zur Geschichte eines exegetischen Begriffes (Hamburger Theologische Studien 25 ), Münster/ Hamburg/ Berlin/ London 2001, 156-158 mit Anm. 192, 195 (ebd. 157: Kriegsgott); M. Priestman, Romantic Atheism. Poetry and Freethought, 1780-1830 (Cambridge Studies in Romanticism 37), Cambridge 1999, 190; F.v. Sallet, Laien-Evangelium, Jamben, Leipzig o. J., 306; F. Steck (Hg.), Adolf Harnack: Marcion. Der moderne Gläubige des 2. Jahrhunderts, der erste Reformator. Die Dorpater Preisschrift (1870). Kritische Edition des handschrift- ZNT 17 (9. Jg. 2006) liehen Exemplars mit einem Anhang (Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur 149), Berlin/ New York 2003, 26; P. Kornfeld, Der beseelte und der psychologische Mensch, Kunst, Theater und Anderes, in: Th. Anz/ M. Stark (Hgg.), Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920. Mit Einleitungen und Kommentaren, Stuttgart 1982 (zuerst 1918), 222-238, hier: 228; N. Kazantzakis, Rechenschaft vor EI Greco, München 1978, 254.261.269f.284f.289.372f. Die Etikettisierung des Gottes Israels als Gott der Gewalt findet sich z. B. bei K. Gutzkow, Zur Philosophie der Geschichte, Hamburg 1836, 227. - Vgl. auchJ.W.v. Goethe, Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. I-XIV, München 1982, hier: VIII 161 (Wilhelm Meisters Wanderjahre II 2), wo beim Gang durch eine Galerie mit Bildern aus dem Alten und Neuen Testament über »die Bilder der zweiten heiligen Schriften« gesagt wird: »Sie schienen von einer andern Hand zu sein als die ersten: alles war sanfter, Gestalten, Bewegungen, Umgebung, Licht und Färbung.« Mit umgekehrten Vorzeichen wertet Nietzsche das Alte Testament höher als das Neue, vgl. F. Nietzsche: »In ihm finde ich grosse Menschen, eine heroische Landschaft und Etwas vom Allerseltensten auf Erden, die unvergleichliche Naivität des starken Herzens; mehr noch, ich finde ein Volk.« (F. Nietzsche, Kritische Studienausgabe Bd. I-XV [dtv], München/ Berlin 1993, hier: V 393 [Zur Genealogie der Moral III 22]). ' Vgl. R.B. Bottigheimer, The Bible for Children: From the Age of Gutenberg to the Present, New Haven/ London 1996, 70-81.132-136.142-151.162-174; für die Analyse eines charakteristischen Beispiels (Ri 4f.) vgl. R.B. Bottigheimer, The Bible for Children: the Emergence and Development of the Genre, 1550-1990, in: D. Wood (Hg.), The Church and Childhood (Studies in Church History 31), Oxford/ Cambridge, Mass. 1994, 347-362. Vgl. auch die Überlegungen der Erzählfigur Frau Müller-Schulze in C. Menck, Chemisch gereinigte Kinderseelen, in: Frankfurter Hefte 1 (1946), 888-890, hier: 889! ' So der Titel des Buches von S. Schulz, Gott ist kein Sklavenhalter. Die Geschichte einer verspäteten Revolution, Zürich/ Hamburg 1972. 5 So im Rahmen mehrerer, einander z. T. ausschließender Argumentationsstränge A.F. Ide, Zoar and Her Sisters: Homosexuality, the Bible, and Jesus Christ, Oak Cliff 1991, 177-192. ' So D. Schmidt, 1 Thess 2: 13-16: Linguistic Evidence for an Interpolation, JBL 102 (1983 ), 269-279; weitere Vertreter dieser Ansicht nennt T. Holtz, Der erste Brief an die Thessalonicher (EKK NT 13), Zürich/ Einsiedeln/ Köln/ Neukirchen-Vluyn 1986, 97 Anm. 431. 7 Vgl. R. Kampling (Hg.), »Nun steht aber diese Sache im Evangelium... « Zur Frage nach den Anfängen des christlichen Antijudaismus, Paderborn/ München/ Wien/ Zürich 1999. 8 Vgl. K. Wengst, Pax Romana - Anspruch und Wirklichkeit. Erfahrungen und Wahrnehmungen des Friedens bei Jesus und im Urchristentum, München 1986; für Eph vgl. E. Faust, Pax Christi et Pax Caesaris. Religionsgeschichtliche, traditionsgeschichtliche und sozialgeschichtliche Studien zum Epheserbrief (NTOA 24), Freiburg/ Göttingen 1993. ' Vgl. J.P. Louw/ E.A. Nida (Hgg.), (1989) Greek-English Lexicon of the New Testament based on Semantic ZNT 17 (9. Jg. 2006) Martin Leutzsch Gewalt und Gewalterfahrung im Neuen Testament Domains 1: Introduction and Domains, 2. Aufl., New York 1989; dies. (Hgg.), Greek-English Lexicon of the New Testament based on Semantic Domains 2: Indices, New York 1989. Vgl. zur grundsätzlichen Bedeutung dieses Unternehmens unbeschadet der Korrekturbedürftigkeit im Konkreten (dazu schon E. Nida / J.P. Louw, Lexical Semantics of the Greek New Testament: A Supplement to the Greek-English Lexicon of the New Testament Based on Semantic Domains [Society of Biblical Literature Resources for Biblical Study 25], Atlanta 1992) J.A.L. Lee, A History of New Testament Lexicography (Studies in Biblical Greek 8), New York/ Washington/ Baltimore / Bern/ Frankfurt/ Berlin/ Brussels / Vienna / Oxford 2003, 155-175. 10 Bibliographische Zugänge bieten die Literaturangaben zu den einzelnen Wörtern in EWNT und in ThWNT. Vgl. weiter z.B. Lee, History, 297-304 (zu kratos); M. Leutzsch, Die Bewährung der Wahrheit. Der dritte Johannesbrief als Dokument urchristlichen Alltags (Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium 16), Trier 1994, 90-93 (zu hybris). 11 Vgl. z.B. D. Senghaas (Hg.), Imperialismus und strukturelle Gewalt. Analysen über abhängige Reproduktion (edition suhrkamp 563), Frankfurt 1972; I. Fetscher, Strukturelle Gewalt. Entstehung, Bedeutung und Funktion eines sozialwissenschaftlichen Modewortes, in: F. Engel-Janosi/ G. Klingenstein/ H. Lutz (Hgg.), Gewalt und Gewaltlosigkeit. Probleme des 20. Jahrhunderts (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit 4), München 1977, 85-93; M. Jander, Strukturelle Gewalt. Die Entfaltung eines Begriffs, sowie die Möglichkeiten und Schwierigkeiten, damit umzugehen, medien + erziehung 22 (1978), 256-266. Für die Theologie vgl. Th. Posern, Strukturelle Gewalt als Paradigma sozialethisch-theologischer Theoriebildung (EHS 23/ 465), Frankfurt usw. 1992; auch F. Furger, Sozialethik in heilsgeschichtlicher Dynamik, in: H. Rotte (Hg.), Heilsgeschichte und ethische Normen (Quaestiones Disputatae 99), Freiburg/ Basel/ Wien 1984, 128-159, hier: 148f. 12 J. Galtung, Gewalt, Frieden und Friedensforschung, nach: ders., Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung (rororo 1877), Reinbek 1975, 7- 36, hier: 9. 13 Vgl. R.A. Horsley, Jesus and the Spiral of Violence, San Francisco 1987, 20-58. Zur Kategorie »Ungerechtigkeit« vgl. die wichtige sozialwissenschaftliche Studie von B. Moore, Ungerechtigkeit. Die sozialen Ursachen von Unterordnung und Widerstand (stw 692), Frankfurt 1987. 14 Vgl. D. Daube, Civil Disobedience in Antiquity, Edinburgh 1972, 12f.46-49.100-112 (für Jesus) und 135-141 (Paulus). Definition »ziviler Ungehorsam« ebd. 1-4. 15 Vgl. W. Stegemann, Zur Metaphorik des Opfers, in: B. Janowski/ M. Welker (Hgg.), Opfer. Theologische und kulturelle Kontexte (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1454), Frankfurt 2000, 191-216. 16 Vgl. die entsprechende Analyse zu Mt 5,41 von W. Wink, Neither Passivity nor Violence: Jesus' Third Way (Matt. 5: 38-42 par.), in: W.M. Swartley (Hg.), The Love of Enemy and Nonretaliation in the New Testament, Westminster/ Louisville 1992, 102-125, hier: 108-112; ausführlich B. Isaac, The Limits of Empire. The Roman Army in the East, Oxford 1990, 291-297. - Sachlich geht es um diese Form der Zwangstransportleistung auch in Mk 11,1-9, wo auf Initiative Jesu ein Esel requiriert wird 11 (vgl. J.D.M. Derrett, Law in the New Testament: The Palm Sunday Colt, NovTest 13 [1971], 241-258). 17 Vgl. etwa zum Prozess gegen Jesus: K. Kertelge (Hg.), Der Prozeß Jesu. Historische Rückfrage und theologische Deutung (Quaestiones Disputatae 112), Freiburg/ Basel/ Wien 1988; zum Prozess gegen Paulus zuletzt: H. Omerzu, Der Prozeß des Paulus. Eine exegetische und rechtshistorische Untersuchung der Apostelgeschichte (BZNW 115), Berlin/ New York 2002. 18 Für das Verhältnis von Wahrheit (Joh 18,37f.) und Folter (Joh 19, 1) ist die Untersuchung von P. du Bois, Torture and Truth, New York/ London 1991 erhellend. Für die Hinrichtungsart der Kreuzigung vgl. M. Hengel, Crucifixion: In the Ancient World and the Folly of the Message of the Cross, London 1977. 19 Vgl. T. Seland, Establishment Violence in Philo and Luke: A Study of Non-Conformity to the Torah and Jewish Vigilante Reactions, Leiden 1995. 20 Vgl. R. Kampling, Das Blut Christi und die Juden. Mt 27,25 bei den lateinischsprachigen christlichen Autoren bis zu Leo dem Großen (Neutestamentliche Abhandlungen, Neue Folge 16 ), Münster 1984. 21 Vgl. z.B. M. Hengel, Die Zeloten. Untersuchungen zur jüdischen Freiheitsbewegung in der Zeit von Herodes I. bis 70 n. Chr. (AGJU I), 2. Aufl., Leiden/ Köln 1976, 26-38; zuletzt ausführlich zum Thema W. Riess, Apuleius und die Räuber. Ein Beitrag zur historischen Kriminalitätsforschung (Heidelberger Althistorische Beiträge und Epigraphische Studien 35), Stuttgart 2001. 22 Vgl. H.-J. Klauck, Judas ein Jünger des Herrn (Quaestiones Disputatae 111), Freiburg/ Basel/ Wien 1987; W. Klassen, Judas: Betrayer or Friend of Jesus? , London 1996. 23 Jesus als politischer Revolutionär: Überblick von E. 12 Bammel, The Revolution Theory from Reimarus to Brandon, in: E. Bammel/ C.F.D. Moule (Hgg.), Jesus and the Politics of His Day, Cambridge/ London/ New York/ New Rochelle/ Melbourne/ Sydney 1984, 11-68. (Die These begegnet bereits im 17. Jahrhundert, vgl. A. Gfrörer, Origo et fundamenta religionis Christianae. Eine bisher noch unbekannte deistische, antichristliche Schrift aus dem 16. Jahrhundert, Zeitschrift für historische Theologie 6/ 2 [1836], 180-259, hier: 200; dazu W. Schröder, Ursprünge des Atheismus. Untersuchungen zur Metaphysik- und Religionskritik des 17. und 18. Jahrhunderts [Quaestiones 11], Stuttgart-Bad Cannstatt 1998, 103.397-403; für die Verschiebungen im 18. Jahrhundert umfassend D. Menozzi, Les interpretations politiques de Jesus de l' Ancien Regime a la Revolution, Paris 1983 ); Gegenstimmen seit Christian Thomasius (vgl. M. Pott, Christian Thomasius und Gottfried Arnold, in: D. Blaufuß/ F. Niewöhner [Hgg.], Gottfried Arnold [1666-1714]. Mit einer Bibliographie der Arnold-Literatur ab 1714 [Wolfenbütteler Forschungen 61], Wiesbaden 1995, 247-265, hier: 256), z.B. zur Zeit der Studentenbewegung M. Hengel, War Jesus Revolutionär? (Calwer Hefte 110), Stuttgart 1970; ders., Gewalt und Gewaltlosigkeit. Zur »politischen Theologie« in neutestamentlicher Zeit (Calwcr Hefte 118), Stuttgart 1971; vgl auch: ders., Christus und die Macht. Die Macht Christi und die Ohnmacht der Christen. Zur Problematik einer »Politischen Theologie« in der Geschichte der Kirche, Stuttgart 1974. - Jesus als geistiger oder kultureller Revolutionär begegnet seit Lenz, Spittler und Herder bis hin zu G. Theißen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000. 24 Vgl. M. Goodman, The Ruling Class of Judaea. The Origins of the Jewish Revolt against Rome A.D. 66-70, Cambridge/ New York/ Port Chester/ Melbourne / Sydney 1987, 95-97 u.ö. 25 Vgl. E.P. Sanders,Jesus andJudaism, London 1985, 61- 76; H. Mödritzer, Stigma und Charisma im Neuen Testament und seiner Umwelt. Zur Soziologie des Urchristentums (NTOA 28), Freiburg/ Göttingen 1994, 144-156; M.N. Ebertz, Das Charisma des Gekreuzigten. Zur Soziologie der Jesusbewcgung (WUNT 45), Tübingen 1987, lO0f.; Horsley, Jesus, 297-300. " Vgl. W. Speyer, Art. Fluch, in: RAC 7 (1969), 1160- 1288; auch S. Wyss, Fluchen. Ohnmächtige und mächtige Rede der Ohnmacht. Ein philosophisch-theologischer Essay zu einer Blütenlese, Freiburg/ Schweiz 1984; J. Gager (Hg.), Curse Tablets and Einding Spells from the Ancient World, New York/ Oxford 1992. 27 Vgl. A. Doll, Von der vis maior zur höheren Gewalt. Geschichte und Dogmatik eines haftungsentlastenden Begriffs (EHS 2/ 854), Frankfurt/ Bern/ New York/ Paris 1989. 28 Vgl. P. Trummer, Die Sanftmut Jesu und der Zorn Gottes. Exegetische und hermeneutische Beobachtungen zum Jesus- und Gottesbild, in: ders., Aufsätze zum Neuen Testament (Grazer Theologische Studien 12), Graz 1987, 39-79; K. Berger, Der »brutale« Jesus. Gewaltsames in Wirken und Verkündigung Jesu, Bibel undKirche51 (1991), 119-127. 29 Zum Tod in der Offb vgl. P. Lampe, Die Apokalyptiker ihre Situation und ihr Handeln, in: U. Luz / J. Kegler/ P. Lampe/ P. Hoffmann (Hgg.), Eschatologie und Friedenshandeln. Exegetische Beiträge zur Frage christlicher Friedensverantwortung (SES 101), 2. Aufl., Stuttgart 1982, 59-114, hier: 94-114; auch T. Pippin, Death and Desire: The Rhetoric of Gender in the Apocalypse of John, Louisville 1992. 30 Vgl. J.S. Pobee, Persecution and Martyrdom in the Theology of Paul (JSNT.SS 6 ), Sheffield 1985. 31 Vgl. N. Brox, Der erste Petrusbrief (EKK NT 21), Zürich/ Einsiedeln/ Köln/ Neukirchen-Vluyn 1979, 256f. und passim. 32 Vgl. C. Butterweck, ,Martyriumssucht< in der Alten Kirche? Studien zur Darstellung und Deutung frühchristlicher Martyrien (Beiträge zur Historischen Theologie 87), Tübingen 1995. 33 Vgl. R. Feldmeier, Die Christen als Fremde. Die Metapher der Fremde in der antiken Welt, im Urchristentum und im 1. Petrusbrief (WUNT 64 ), Tübingen 1992. 34 Vgl. zur »Sprache des Leids« bei Paulus: M. Schiefer Ferrari, Die Sprache des Leids in den paulinischen Peristasenkatalogen (SBB 23), Stuttgart 1991; für den weiteren neutestamentlichen Kontext vgl. etwa: E.S. Gerstenberger / W. Schrage, Leiden (Biblische Konfrontationen/ Kohlhammer TB 1004), Stuttgart/ Berlin/ Köln/ Mainz 1977. 35 Vgl. J. Ebach, Der Gott des Alten Testaments ein Gott der Rache? , in: ders., Biblische Erinnerungen. Theologische Reden zur Zeit, Bochum 1993, 81-93; ders., Der Gott des Alten Testaments ein Gott der Rache? Versuch der Klärung einer gerade von Christen immer wieder gestellten Frage, Junge Kirche 55 (1994), 130-139; ZNT 17 (9. Jg. 2006) W. Dietrich, Gott der Rache versus Gott der Liebe? Wider die Verzerrung biblischer Gottesbilder, in: W. Dietrich IM. George/ U. Luz (Hgg.), Antijudaismus christliche Erblast, Stuttgart/ Berlin/ Köln 1999, 9-27. Vgl. auch W. Dietrich/ C. Link, Die dunklen Seiten Gottes, 2. Bd., 2. Aufl., Neukirchen-Vluyn, 2004.- Vgl. auch die polemische Spitze gegen den Gott der Rache im NT bei S.L. Steinheim, Die Offenbarung nach dem Lehrbegriffe der Synagoge, Vierter Theil in zwei Abtheilungen: Fünf Monomachieen, voran geht ein Commentar zu den ersten fünf Capiteln der Genesis, Altona 1865, 198 (bezogen auf die Schlachtung des eigenen Sohnes als Sühnopfer). 36 J.M.R. Lenz, Werke und Briefe in drei Bänden 2: Lustspiele nach dem Plautus. Prosadichtungen. Theoretische Schriften (insel taschenbuch 1442), Frankfurt/ Leipzig 1992, 237. Zu Michaelis' Antijudaismus vgl. A.-R. Löwenbrück, Judenfeindschaft im Zeitalter der Aufklärung. Eine Studie zur Vorgeschichte des modernen Antisemitismus am Beispiel des Göttinger Theologen und Orientalisten Johann David Michaelis (1717-1791) (Europäische Hochschulschriften 3/ 662), Frankfurt/ Berlin/ Bern/ New York/ Paris/ Wien 1995. Zum Orientalismus vgl. E.W. Said, Orientalism, London 1995 und die dadurch ausgelöste Diskussion. 37 Vgl. zusätzlich zu bisher genannten Studien z.B. N. Lohfink, Der Weg aus der Gewalt, in: ders., Kirchenträume. Reden gegen den Trend, 5. Aufl., Freiburg/ Basel/ Wien 1988, 112-135; N. Lohfink/ R. Pesch, Weltgestaltung und Gewaltlosigkeit. Ethische Aspekte des Alten und Neuen Testaments in ihrer Einheit und ihrem Gegensatz (Schriften der Katholischen Akademie in Oda Wischmeyer (Hrsg.) Paulus Martin Leutzsch Gewalt und Gewalterfahrung im Neuen Testament Bayern 87), Düsseldorf 1978; H. Merklein, Jesu Botschaft von der Gottesherrschaft. Eine Skizze (SBS 111 ), Stuttgart 1983, 122-124; L. Schottroff, Gewaltverzicht und Feindesliebe in der urchristlichen Jesustradition, in: dies., Befreiungserfahrungen. Studien zur Sozialgeschichte des Neuen Testaments (Theologische Bücherei 82), München 1990, 12-35; W.M. Swartley (Hg.), The Love of Enemy and Nonretaliation in the New Testament, Louisville 1992; G. Theißen, Gewaltverzicht und Feindesliebe (Mt 5,38-48/ Lk 6,27-36) und deren sozialgeschichtlicher Hintergrund, in: ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19), 2. Aufl., Tübingen 1983, 160-197. 38 Vgl. G. Theißen, Soziologie der Jesusbewegung. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Urchristentums (Theologische Existenz heute 194), München 1977, 93- 103. Kritik bei R.A. Horsley, Sociology and Jesus Movement. New York 1989, 58-64.166-170. Vgl. auch Mödritzer, Stigma, 110-132, der die Ratschläge der Bergpredigt Mt 5,38-48 als »Aggressionsüberwindung durch Selbststigmatisierung« interpretiert (ebd. 123- 132). 39 Vgl. S.D. Moore/ ].C. Anderson (Hgg.), New Testament Masculinities (Semeia Studies 45), Leiden/ Boston 2004; auch M. Leutzsch, Konstruktionen von Männlichkeit im Urchristentum, in: F. Crüsemann/ M. Crüsemann/ C. Janssen/ R. Kessler/ B. Wehn (Hgg.), Dem Tod nicht glauben. Sozialgeschichte der Bibel, FS Luise Schottroff, Gütersloh 2004, 600-618. 40 Vgl. H. Wolff, Jesus der Mann. Die Gestalt J esu in tiefenpsychologischer Sicht, 4. Aufl., Stuttgart 1979; F. Alt, Jesus der erste neue Mann, 9. Aufl., München/ Zürich 1991. Leben - Umwelt - Werk - Briefe ZNT 17 (9. Jg. 2006) UTB 2767 2006, 320 Seiten, div. Abb. und Tab.,€ [D] 19,90/ SFR 34,90 ISBN 3-8252-2767-7 Das Buch ist als Lehrbuch für die Examensvorbereitung in den Fächern Evangelische und Katholische Theologie konzipiert und stellt Umwelt, Person, Werk, Briefe, theologische Themen und Wirkung des Paulus auf dem neuesten Forschungsstand dar. Besonderes Interesse gilt drei Bereichen: der Rekonstruktion des jüdischen und griechisch-römischen religiösen Umfeldes, der strukturierten, formalen und thematischen Erschließung der Briefe sowie der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Paulus. Das Buch steht zwischen den umfangreichen Spezialdarstellungen der paulinischen Theologie und den Kurzeinführungen für einen allgemeinen Interessenlenkreis und erfüllt damit ein Desiderat der deutschsprachigen Fachliteratur. A. Francke 13 Fran9ois Vouga »Gott hat ihn als Sühneort hingestellt«: Rene Girard, das Problem der Stellvertretung, traditionelle Vorstellungen des Todes Jesu, und Paulus Christus ist stellvertretend für uns als Opfer wegen unserer Sünden gestorben. So lässt sich eine Deutung des Todes Jesu zusammenfassen, die sichtbare Spuren in der Liturgie und in der Frömmigkeit hinterlässt. Elemente der stellvertretenden Opfertheologie gehören zum metaphorischen Repertoire der Paulus briefe. Welche Bedeutung nehmen sie im paulinischen Denken an? Die Aufmerksamkeit konzentriert sich auf die Bekenntnisformel in lKor 15,36-5 und auf die Aufnahme des terminus technicus des Großen Versöhnungstages in Röm 3,25. In der Mitte ist ein Umweg über die kulturtheoretische und über die theologischen Thesen von Rene Girard, der den Gedanken der Stellvertretung problematisiert hat, nicht zu vermeiden. 1. Für unsere Sünden gestorben (1Kor 15,3-5) lKor 15,36-5 zitiert eine frühchristliche Tradition (»ich habe euch zunächst überliefert, was ich auch empfangen habe, dass ... «, Die beiden Hauptaussagen des Bekenntnisses sind, dass Christus gestorben und von Gott auferweckt worden ist. Beide Aussagen werden parallel jeweils durch drei Kommentare ergänzt: • Der erste Kommentar erklärt die soteriologische Bedeutung des Todes Christi, der für unsere Sünden gestorben ist, und erinnert an die Osterbotschaft, dass er von Gott auferweckt worden ist am dritten Tag. • Der zweite Kommentar bekennt die Konformität des Todes und der Auferstehung mit der Schrift (V. 3 / / V. 4 ). • Der dritte Kommentar bestätigt die Verkündigung des Todes und der Auferstehung durch eine zweite Aussage, die ihren Wahrheitsanspruch betont: Wenn er begraben worden ist, war er auch tatsächlich gestorben, und das Osterbekenntnis beruht darauf, dass der Auferstandene Zeugen erschienen ist, die benennbar sind (Petrus, Jakobus) und die man noch zum Teil fragen kann (die 500). Die Interpretation des Todes Jesu als »Sterben für die Sünden« ist untypisch für Paulus. Sie findet sich bei ihm nur noch bei lKor 15,3a), die den Tod und die Auferstehung als das gründende Ereignis des christlichen Glaubens bekennt. Die Voraussetzungen dieses Bekenntnisses sind, »Die Interpretation des Todes Jesu als >Sterben für die Sünden< ist untypisch für Paulus.« einer anderen vorpaulinischen Formel (Gal 1,4). Paulus spricht nicht von den Sünden als Übertretungen (Plural), sondern von der personifidass Jesus der Erlöser ist, weil er uns von der Last unserer Sünden (Plural: unserer Übertretungen) befreit hat, und dass sein Tod, und nicht sein Leben, seine Worte und Taten erlösenden Charakter haben. 14 (3 b) Christus ist gestorben Für unsere Sünden nach den Schriften (4) und er ist begraben worden und er ist auferweckt worden am dritten Tag nach den Schriften (5) und er hat sich sehen lassen ... zierten Macht der Sünde (Singular), die uns gefangen hält, und von der Kraft der rechtfertigenden Gerechtigkeit Gottes, die uns von der Sünde befreit (Röm 6). Entsprechend schreibt er nicht, dass Christus für die Sünden gestorben ist, sondern »für uns« (hyper hemon): Röm 5,8; 8,32; 2Kor 5,14.15.21; Gal 2,20; 3,13; 1Thess 5,10. Anders als Paulus selbst sieht das Bekenntnis die notwendige Erlösung des Menschen als die Befreiung von den Konsequenzen der Übertretungen. Vorausgesetzt ist, dass der Mensch fähig ist, den Willen Gottes zu tun, dass das Verhältnis zwischen Gott und ihm von den vergangenen Sünden durch die Vergebung befreit werden ZNT 17 (9. Jg. 2006) Franrois Vouga Prof. Dr. theol. Dr. theol. h.c, Franc,; ois Vouga, geboren 1948 in Neuchatel; 1973-1974 Assistent von Christophe Senft in Lausanne; 1975-1982 Gemeindepastor in Avuliy und Chancy (Genf); 1982-1985 Maltrt! assistant in Montpellier; 1985 These de doct.orat und venia legendi im Fach Neues Testament in Genf; 1984-1985 Gastprofessor in N euchatel; 1985-1986 Professor in Montpellier, 1986 an der Kirchlichen Hochschule Bethel; Seit 1988 regelmäßige Gastprofessuren an der Facolta Valdese di Teologia in Rom; 1998 Ehrendoktor der Universität Neuchatel; 1999 und 2001 Gastprofessur an der Facu! te de theologie et de scien<ces religieuse~ de Universite Lava! , Quebec. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der frühchristlichen Literatur, Einheit und Vielfalt der neutestamentfü: hen Theologie, Paulus und die paulinische '.fheologie, die Petrusbriefe, Theologie und Asthetik (Kunst und Musik), Theologie und Naturwissenschaften. Zahlrei.che Veröffentlichungen zu diesen Gebieten, einzusehen unter: www.kihobethel.de/ lehrende/ vouga.html muss, und dass der TodJesu das Verhältnis zwischen Gott und Mensch durch eine Versöhnung wiederherstellt. Erklärt wird Franfois Vouga »Gott hat ihn als Sühneort hingestellt« ung herstellen kann, findet man an einer Schlüsselstelle des Römerbriefes, in der Paulus eine bereits existierende Formel vielleicht auch wieder aufnimmt, wie es Rudolf Bultmann und Ernst Käsemann vermutet haben. Christus hat uns dadurch erlöst, dass die Verkündigung der Auferstehung und des Todes des Gottessohnes die Umsonstheit der Gerechtigkeit Gottes offenbart. (21)Jetzt aber ist ohne das Gesetz die Gerechtigkeit Gottes geoffenbart, die von dem Gesetz und von den Propheten bezeugt wird, - (22) die Gerechtigkeit Gottes durch den Glauben von und an Jesus Christus für alle, die glauben. Denn es ist kein Unterschied. (23) Denn alle haben gesündigt und ermangeln der Ehre Gottes, (24) umsonst gerechtfertigt aus seiner Gnade durch die Erlösung in Jesus Christus, (25) den Gott als Sühneort hingestellt hat in seinem Blut durch den Glauben zur Erweisung seiner Gerechtigkeit durch die Vergebung der vorhergeschehenen Sünden (26) in der Zeit der Langmut Gottes, zur Erweisung seiner Gerechtigkeit im jetzigen Augenblick, damit er selbst gerecht sei und den rechtfertige, der aus dem Glauben von und an Jesus lebt. Der paulinische Begriff der Gerechtigkeit (dikaiosyne) bezeichnet das angemessene Verhältnis zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer (so bei Ferdinand Christian Baur) und als die dikaiosyne theou die Kraft Gottes, die aber nicht, was man in einer Bekenntnisformel gut verstehen kann, wie dieser Tod eine Versöhnung bringen kann. 2. »Gott hat ihn als Sühne hingestellt« (Röm 3,21-26) »Christus hat uns dadurch erlöst, dass die Verkündigung der Auferstehung und des Todes des Gottessohnes die Umsonstheit der Gerechtigkeit Gottes offenbart.« das sachgemäße Verhältnis des Vertrauens wiederherstellt: Gott rechtfertigt. Die Gerechtigkeit Gottes ist keine Eigenschaft Gottes, sondern eine Kraft der Veränderung (Röm 1,16-17) und der Eine Antwort zu dieser Frage, die einen logischen Zusammenhang zwischen dem Ereignis der Auferstehung und des Todes Jesu und unserer Befrei- ZNT 17 (9. Jg. 2006) Befreiung (Röm 6, 15-23 ): Gott ist gerecht, indem er jeden/ jede rechtfertigt, der/ die auf das Vertrauen, das in Christus geoffenbart ist, vertraut (Röm 3,26). Diese Gerechtigkeit Gottes ohne das Gesetz ist definiert durch eine Kontinuität mit der Verheißung, sie geschieht 15 im Vertrauen auf das Vertrauen Jesu und sie ist universal für jeden/ jede bestimmt (Röm 3,21- 22a). Es gibt keinen Unterschied (Röm 3,22b, vgl. Röm 1,18-3,20): Die Versuche, das Missverhältnis zwischen Geschöpf und Schöpfer aufgrund von qualifizierenden Eigenschaften (die durch das Gesetz symbolisiert sind) zu beseitigen, sind kontraproduktiv, denn die Logik der Gerechtigkeit Gottes ist die Gnade. Die Deutung der Auferstehung und des Todes Jesu ist klar und wird wiederholt hervorgehoben: Sie sind die Offenbarung, die Umsonstheit der Gnade Gottes, der bedingungslos seinen Sohn als Versöhnungsort oder Sühnemittel (hilasterion) geschenkt hat (Röm 3,24-25). Die kultische Opfermetaphorik des Großen Versöhnungstags wird als Interpretament einer Offenbarung Gottes, der sich dadurch als der Gott, der dem Glauben seine Gerechtigkeit umsonst durch seine großzügige Gnade erweist, umfunktioniert. Der Begriff hilasterion ist an sich ambivalent: • Im allgemeinen Sprachgebrauch und in der hellenistisch-jüdischen Literatur meint hilasterion Sühnegaben oder Versöhnungsmittel. • in der LXX bezeichnet hilasterion ausschließlich den auf der Bundeslade liegenden Deckel, der am Großen Versöhnungstag mit dem Blut bespritzt werden soll: Ex 25,16LXX (= 25, 17MT), 17(18). 18(19). 19(20). 20(21 ). 21(22). 31,7; 35,12; 38,5LXX (37,6); 38,7 (37,8); 38,7 (37,8); 38,8 (37,9); Lev 16,2.2.13.14.14.15; Num 7,89; Am 9,1; Ez 43,14.17.20. Auffällig ist auf jeden Fall, dass Jesus nicht als Opfer »für die Sünden« oder »für uns« hingestellt wird, wie es eine Opfertheologie der Stellvertretung denken würde. Das »für uns«, »an unserer Stelle« oder »wegen unserer Sünden«, das die Metaphorik des Versöhnungstages hervorrufen müsste, fehlt im gesamten Gedankengang. Die Aufmerksamkeit wird vielmehr konsequent auf die Umsonstheit der Gnade Gottes gelenkt. Gott hat seinen Sohn als Offenbarung der Radikalität des Geschenkscharakters seiner rechtfertigenden Gerechtigkeit dahingegeben. Die Veränderungskraft, die diese Gerechtigkeit Gottes definiert, erweist sich zum einen in der Befreiung von der Vergangenheit durch die Vergebung der vergangenen Sünden und in der jetzigen Rechtfertigung, die 16 jeden/ jede, der/ die vertraut, in eine neue, anerkannte und verantwortliche Person verwandelt. 3. Die erste These von Rene Girard': Literaturwissenschaft und Kulturtheorie Rene Girard (': •1923) ist ein Literaturwissenschaftler, der aus komparatistischen Untersuchungen (Dante, Hugo, Stendahl, Cervantes, Flaubert, Proust, Dostojewsky, Camus, Sophokles, Euripides) die kulturtheoretische Hypothese entwickelt hat, dass die kulturelle, religiöse und politische Ordnung jeder menschlichen Gemeinschaft auf einem Opferkult basiert, der die Opferung eines sakralisierten Opfers ritualisiert wiederholt, das stellvertretend für die Gewalt der ganzen Gesellschaft gestorben ist. Die Krise des Opferkultes und der kulturellen Ordnung führt zu der Notwendigkeit, ein neues mögliches stellvertretendes Opfer zu finden, in dessen Richtung die Gewalt, die sich in der Gesellschaft ansammelt und nicht mehr durch die Ritualisierung gestillt werden kann, neu gelenkt wird. Die Sakralisierung, die aus seinem Opfertod folgt, begründet dann die neue gesellschaftliche Ordnung, bis sich der Zyklus der Gewalt wieder schließt. »Betrachtet man die Opfertheologie, also die Selbstinterpretation des Opfers, nicht als die abschließende Opfertheorie, dann wird sogleich deutlich: neben dieser Theologie und ihr im Prinzip untergeordnet in Wirklichkeit aber wenigstens bis zu einem gewissen Punkt von ihr unabhängig gibt es einen anderen religiösen Diskurs über das Opfer, bei dem es um dessen soziale Funktion geht und der viel mehr Interesse verdient« (La violence et Je sacre, 22). 1. Das Opfer hat stellvertretende Funktion, indem sich das gesamte Gewaltpotential, das die Ordnung der Gesellschaft bedroht, auf ein einzelnes Individuum konzentriert. »... das Problem der Stellvertretung stellt sich auf der Ebene der Gemeinschaft als Ganzes. Das Opfer tritt nicht an die Stelle dieses oder jenes bedrohten Individuums, es wird nicht diesem oder jenem besonders blutrünstigen Individuum geopfert, sondern es tritt an die Stelle aller Mitglieder der Gesellschaft und wird zugleich allen Mitgliedern der Gesellschaft von allen ihren Mit- ZNT 17 (9. Jg. 2006) gliedern dargebracht. Das Opfer schützt die ganze Gemeinschaft vor ihrer eigenen Gewalt, es lenkt die ganze Gemeinschaft auf andere Opfer außerhalb ihrer selbst« (La violence et le sacre, 21-22). »Der Antagonismus eines jeden gegen jeden macht Platz für die Gemeinschaft aller gegen einen einzigen« (La violence et le sacre, 116). »Die Menschen wollen sich überzeugen, dass das ganze Übel auf die Verantwortung eines einzigen zurückzuführen ist, den es leicht sein wird, zu beseitigen« (La violence et le sacre, 118). 2. Der Opferkult entsteht aufgrund der Illusion, dass die Opferung die Gemeinschaft von ihrer eigenen Gewalt befreit hat und die religiös-soziale Ordnung, die ein friedliches Leben ermöglicht, wiederhergestellt hat: »Nachdem alle vorherigen Gewalttaten die Gewalt nur vermehrt haben, setzt wunderbarerweise die Gewalt gegen dieses Opfer jeder Gewalt ein Ende. Das religiöse Denken hat zwangsweise dazu geführt, nach der Ursache dieses außerordentlichen Unterschieds zu fragen ... Diesem Opfer den Glück bringenden Abschluss zuzuschreiben, scheint um so logischer, weil die gegen dieses Opfer ausgeübte Gewalt gerade das Ziel hatte, die Ordnung und den Frieden wieder herzustellen ... Dieses Opfer scheint also die am meisten übeltuenden und die am meisten wohltuenden Aspekte der Gewalt in seiner Person zu vereinigen... Es reicht nicht aus, wenn man sagt, dass das stellvertretende Opfer den Übergang von der wechselseitigen und destruktiven Gewalt zur gründenden Einmütigkeit >symbolisiert<. Es selbst sichert diesen Übergang und ist eins mit ihm. Das religiöse Denken hat zwangsläufig dazu geführt, das stellvertretende Opfer, das heißt das letzte Opfer, das Opfer, das unter der Gewalt leidet, ohne neue Vergeltungen auszuüben, als ein übernatürliches Geschöpf zu sehen, das die Gewalt sät, um dann den Frieden zu ernten, als einen furchterregenden und geheimnisvollen Retter, der die Menschen krank macht, um sie dann zu heilen ... Der Held ist Anstifter von Gewalt und Unordnung, solange er unter den Menschen lebt, sobald er ausgeschlossen worden ist, und dies geschieht immer noch durch die Gewalt, erscheint der Held als eine Art Erlöser« (La violence et le sacre, 126-127). 3. Die Verewigung der durch das stellvertretende Opfer hergestellten Ordnung ist die Funktion des Religiösen: »Als erstes haben wir die kathartische Funktion des Opfers ermittelt. Wir haben dann die Krise ZNT 17 (9.Jg. 2006) Fran1; ois Vouga »Gott hat ihn als Sühneort hingestellt« des Opferkultes als Verlust dieser kathartischen Funktion und aller kulturellen Unterschiede definiert. Wenn die einmütige Gewalt gegen das stellvertretende Opfer dieser Krise tatsächlich ein Ende setzt, dann wird offenkundig, dass sie am Anfang eines neuen Opfersystems stehen muss. Wenn das stellvertretende Opfer allein den Entstrukturierungsprozess unterbrechen kann, dann steht es am Anfang aller Strukturierung ... Wir haben [...] gute Gründe zur Annahme, es könnte sich bei der Gewalt gegen das stellvertretende Opfer um eine radikale Gründungsgewalt handeln, und zwar in dem Sinne, dass sie den Teufelskreis der Gewalt beendet und gleichzeitig einen neuen einleitet, nämlich den Kreis des Opferritus, der sehr wohl der Ritus der ganzen Kultur sein könnte« (La violence et le sacre, 135). »Das Ritualopfer gründet auf einer doppelten Stellvertretung. Die erste ist die nie wahrgenommene Stellvertretung der Gesellschaft durch ein einziges ihrer Glieder; sie beruht auf dem Mechanismus des stellvertretenden Opfers. Die zweite, die einzige eigentlich rituelle Stellvertretung, überlagert jene erste; sie setzt an die Stelle des Ursprungsopfers ein Opfer aus einer opferfähigen Kategorie. Das versöhnende Opfer gehört zur Gemeinschaft, das rituelle Opfer nicht; das muss so sein, weil der Mechanismus der Einmütigkeit nicht automatisch zu dessen Gunsten spielt« (La violence et le sacre, 148). Das rituelle Opfer »ersetzt nie dieses oder jenes Mitglied der Gemeinschaft oder gar die ganze Gemeinschaft: es tritt immer an die Stelle des stellvertretenden Opfers. Wie das stellvertretende Opfer an die Stelle aller Mitglieder der Gemeinschaft gesetzt wird, so spielt die Opferstellvertretung tatsächlich die Rolle, die wir ihr zugeschrieben haben: Sie schützt alle Mitglieder der Gemeinschaft vor der eigenen und gegenseitigen Gewalt, aber dies immer durch die Vermittlung des stellvertretenden Opfers« (La violence et le sacre, 147). 4. Die zweite These von Rene Girard 2 : Die evangelische Offenbarung Die »jüdisch-christliche Schrift«, unter anderem die Passionsgeschichte der Evangelien und die paulinische Interpretation des Kreuzes, stellen nicht nur eine nicht-sakrifizielle Deutung des Todes Jesu dar, sondern sie offenbaren anhand der Deutung, die Jesus von seinem Tod in den Invektiven zu den Schriftgelehrten und Pharisäern im Voraus gibt und in der Erzählung des Todes Jesu, 17 Zum Thema sowohl den Mechanismus der Gewalttat als auch die Verdrängung der doppelten Stellvertretung. Der Tod Jesu stellt sich daher als die Offenbarung einer Erkenntnis dar, die sowohl das Ende der Ritualisierung des Opferkultes als auch die Aufforderung, die eigene Gewalt wahrzunehmen und mit Hilfe des universalen Liebesgebotes (»deinen Nächsten wie dich selbst«) zu verarbeiten, impliziert. Der Ausgangspunkt der »zweiten« These von Rene Girard, nach welcher der Tod Jesu die Enthüllung des doppelten Stellvertretungsmechanismus der Gewalt durch das Opfer und durch den Opferkult bedeutet, liegt im Zusammenhang von drei Offenbarungsmomenten, die im Matthäusevangelium miteinander verbunden sind: • Die Wiederaufnahme von Hos 6,6 in Mt 9,13 und Mt 12,7: »Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer«. • Die Ankündigung und die Vorausdeutung des Todes Jesu als Folge der Heuchelei, die gerade als ritualisierte Verdrängung des Stellvertretungsmechanismus der Gewalt in den Invektiven zu den Schriftgelehrten und Pharisäern analysiert wird (Mt 23,13.27-28.29-33). • Der Bericht des Todes Jesu, der die Offenbarung bestätigt und besiegelt (Mt 27). 1. Die erste Invektive (Mt 23,13) warnt die Schriftgelehrten und Pharisäer vor ihrer Heuchelei, die darin besteht, dass sie den Schlüssel einer Erkenntnis haben, den sie missbrauchen, indem sie den Mechanismus der Gewalt verkennen und verdrängen. (13) Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, Heuchler, weil ihr die Himmelsherrschaft verschließt vor den Menschen! Ihr kommt nämlich nicht hinein und lasst die, die eintreten, nicht hineingehen. 2. Die letzte Invektive, die vor einer objektiven Heuchelei der Selbsttäuschung warnt, die die persönliche Verantwortung gegenüber der eigenen Zeit und dem eigenen Ort verdrängt (Mt 23,29- 33), und die Metaphorik der geweißten Gräber, die in der vorletzten Invektive (Mt 23,27-28) die stellvertretende Verwechslung zwischen Leben und Tod enthüllt, offenbaren den doppelten Mechanismus der Ritualisierung der Gewalt. Die geweißten Gräber warnen vor der kultischen 18 Selbsttäuschung, die durch die Lüge der weißen Farbe versucht, den Tod, der die Ordnung des Lebens vor der Gewalt schützen soll, zu verbergen. »Deshalb wirft Jesus den Schriftgelehrten und Pharisäern vor, die Gräber der Propheten zu bauen, die ihre Väter getötet haben. Verkannt wird der gründende Charakter des Mordes, indem man entweder bestreitet, dass die Väter getötet haben, oder indem man die Schuldigen verurteilt. Um die eigene Unschuld zu beweisen, wiederholt man die gründende Geste, erhält das Fundament fort, das die Wahrheit verdrängt; man will nicht wissen, dass die ganze Menschheit auf der Verdrängung der eigenen, auf immer neue Opfer projizierten Gewalt gegründet ist« (Des choses cachees, 186). (27) Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, Heuchler, weil ihr geweißten Gräbern gleicht, die von außen zwar schön erscheinen, innen aber voll sind mit Totengebeinen und aller Unreinheit. (28) So scheint auch ihr von außen zwar den Menschen gerecht, innen aber seid ihr voll von Heuchelei und Gesetzlosigkeit. (29) Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, Heuchler, weil ihr die Gräber der Propheten baut und die Grabmäler der Gerechten schmückt (30) und sagt: » Wenn wir gewesen wären in den Tagen unserer Väter, wären wir nicht ihre Teilhaber am Blut der Propheten geworden«. (31) So dass ihr euch selbst bezeugt, dass ihr Söhne derer seid, die die Propheten getötet haben. (32) Auch ihr erfüllt nur das Maß eurer Väter. (33) Schlangen, Brut von Giftschlangen, wie wollt ihr dem Gericht der Hölle entfliehen? 3. Die evangelische Erzählung des Prozesses, der Kreuzigung und des Todes J esu und dann die Geschichte der Steinigung des Stephanus (Apg 6,8 - 8,3 ), die den Mord und das Martyrium durch keine theologische Deutung erklären und verschleiern, fördern die Mechanismen der Willkür und der Ungerechtigkeit der menschlichen Gewalt offen zu Tage. »Die verbale Offenbarung des Gründungsmordes muss mit der Offenbarung in Taten, mit der Wiederholung dieses Mordes gegen denjenigen, ZNT 17 (9. Jg. 2006) der ihn offenbart und dessen Botschaft die Welt nicht hören will, in unmittelbare Verbindung gebracht werden. In der evangelischen Darstellung löst die Offenbarung in Worten einen kollektiven Willen aus, die Wahrheit zum Schweigen zu bringen, und dieser Wille konkretisiert sich in der Form des kollektiven Mords, der den Gründungsmechanismus reproduziert und das Wort bestätigt, das er sich bemüht, zu verdrängen. Die Offenbarung deckt sich insofern mit der gewaltsamen Opposition gegen jede Offenbarung, als es zunächst darum geht, diese lügnerische Gewalt, die die Quelle jeder Lüge ist, zu offenbaren« (Des choses cachees, 193). 4. Die Konsequenzen der evangelischen Offenbarung sind das Ende des sakralen Opferkultes, der als Tarnung der Gewalt Frani; ,ois Vouga »Gott hat ihn als Sühneort hingestellt« als die Verfluchung des Gekreuzigten, den Gott als seinen Sohn geoffenbart hat, durch das Gesetz [Gal 3,13], 3. der Tod Jesu als Erlösung durch die Offenbarung der universalen Umsonstheit der Gerechtigkeit Gottes [Röm 3,24] und 4. der Tod Jesu als die Versöhnung, die uns alle in eine neue Schöpfung verwandelt [2Kor 5,11-21]) setzen alle die Auferstehung und den Tod Jesu in Verbindung mit der notwendigen Befreiung aller Menschen und jedes Einzelnen von sich selbst und, weil die Macht der Sünde und des Fleisches sich in jedem Einzelnen ausübt, mit der (Wieder-)Herstellung eines Vertrauensverhältnisses mit Gott, mit sich selbst und mit der Person der anderen. Die befreiende Veränderung fungiert, und damit die Aufforderung, die eigene Gewalt nicht loszulassen, sondern mit ihr umgehen zu lernen. Im Zuge dessen ist die notwendige Universalität des Gebotes der Nächstenliebe »Nach Rene Girard besteht das Kennzeichen der evangelisch-neutestamentlichen Tradition in der nicht-sakrifiziellen Deutung des Todes Jesu. « betrifft das Verhältnis jedes Einzelnen zu sich selbst in Bezug auf Gott und auf den anderen und ereignet sich in den beiden Momenten der Selbstkritik (Mitgekreuzigt als Alternative zum doppelten Stellvertretungsmechanismus der Gewalt hervorzuheben. Nach Rene Girard besteht das Kennzeichen der evangelisch-neutestamentlichen Tradition in der nicht-sakrifiziellen Deutung des Todes Jesu. mit Christus bin ich der Sünde gestorben) und der Erneuerung (Wie Christus auferstanden ist, bin ich zu einem neuen Leben neu geboren, Röm 6,1-14). Jesus stirbt nicht als Opfer, sondern er gibt sein 5. Die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes als Ende der Stellvertretung Leben für die Menschen. Der Unterschied besteht darin, dass die Mechanismen, die zu der Kreuzigung führen, geoff enbart werden, statt mythisch und sakral verschleiert zu werden, oder anders gesagt: dass die Metaphorik des Opfers im Rahmen eines nicht-opfertheologischen Verständnisses des Todes Jesu umgedeutet wird. Mit Blick auf die eingangs gemachten Bemerkungen zum neutestamentlichen Sprachgebrauch des Verständnisses des Todes Jesus in Kapitel 1 und 2 dieses Aufsatzes ist zu den Thesen von Rene Girard Folgendes festzuhalten: a.) Weder die vorpaulinische Formel »für unsere Sünden gestorben« (lKor 15,3; Gal 1,4) noch die paulinische Formulierung »für uns/ für euch/ für die Sünder gestorben« (Röm 5,6.7.8; 8,32; 14,15; 2Kor 5,14-15) setzen eine sakrifizielle Deutung des Todes Jesu voraus. 6.) Die paulinischen Interpretationen des Todes Jesu (1. das »Kreuz«, das heißt die Verkündigung des Evangeliums der Auferstehung und des Todes Jesu, als Torheit [lKor 1,17-25], 2. das »Kreuz« ZNT 17 (9.Jg. 2006) Der Verweis auf das Sühnewort (hilasterion) ist in Röm 3,24-26 die einzige paulinische Deutung der Auferstehung und des Todes Jesu mit Hilfe einer opferkultischen Symbolik (Ex 25; Lev 16). Die kultischen Vorstellungen, die den Tod Jesu als Ort des Opfers bezeichnen (Röm 3,25 ), werden in eine nicht-opfertheologische Interpretation des Todes Jesu umfunktioniert: Der Tod Jesu ist nicht Bestandteil eines Stellvertretungsprozesses, sondern er bedeutet eine Veränderung aller: »Durch den Glauben« (Röm 3,25) durchbricht die opferkultische Logik und kündigt die Kraft einer Gerechtigkeit an, die die Vergebung der vergangenen Sünden (Röm 3,25) mit der Rechtfertigung bzw. Berichtigung - J. Louis Martyn spricht in seinem Kommentar zum Galaterbrief von »rectification«, »Berichtigung« der Sünder (Röm 3,26) eng verbindet. Paulus stellt nicht den TodJesu als die Umleitung der Gewalt oder der Verantwortung für eine 19 äußerliche, gesellschaftliche Unordnung dar, sondern als die Erlösung von der Verzweiflung der Existenz, die sich vor Gott aufgrund ihrer Eigenschaften rechtfertigt durch die Offenbarung der Gnade der rechtfertigenden Gerechtigkeit Gottes. Der Tod Jesu ist deshalb die Erlösung (Röm 3,24), weil es keinen Unterschied gibt (Röm 3,22c), weil alle Sünder sind und der Ehre Gottes ermangeln (Röm 3,23), weil kein Mensch vor Gott aufgrund seiner Eigenschaften gerecht werden kann (Röm 3,20 als Zusammenfassung von Röm 1,18-3,20), weil die Gerechtigkeit Gottes die Menschen immer schon umsonst gerechtfertigt hat (Röm 3,21-22a). Diese Erlösung findet nicht in einer Stellvertretung statt, sondern in der Offenbarung der umsonst vergebenden und rechtfertigenden Gerechtigkeit Gottes. Diese Offenbarung der umsonst vergebenden und rechtfertigenden Gerechtigkeit Gottes findet in der Hinstellung eines Ver- Eckart Reinmuth söhnungszeichens statt, das sowohl das Ende des Opferkultes als sakrale Wiederholung des Opfers als auch die universale Aufforderung an alle Menschen, sich durch die Gerechtigkeit Gottes verändern zu lassen und von seiner Gnade zu leben, voraussetzt. Anmerkungen 1 Literatur von Rene Girard zu diesem Kapitel: • Mensonge romantique et verite romanesque, Paris 1961; • La violence et le sacre, Paris 1972. Dt: Das Heilige und die Gewalt, Zürich 1987; • Critique dans un souterrain, «Amers», Lausanne 1976. 2 Folgende Literatur ist grundlegend für diese zweite These von Rene Girard: • »Les maledictions contre ! es Pharisiens et l'interpretation evangelique«, Bulletin du Centre protestant d'etudes, Geneve 1975; • Des choses cachees depuis la fondation du monde, Paris 1978. Dt: Das Ende der Gewalt, Freiburg 1983. Anthropologie im Neuen Testament 20 UTB 2768 2006, VIII, 338 Seiten,€ [D] 24,90/ SFR 43,70 ISBN 3-8252-2768-5 Anthropologische Fragestellungen liegen im zentralen Interesse aktueller theologischer Forschung. In einer für Studenten klar verständlichen Sprache geht das Buch der Frage nach, wie neutestamentliche Perspektiven in die Wirklichkeit der Menschen in der Gegenwart einzubringen sind. Nach einer umfangreichen Einführung in die Fragestellung werden in vier Blöcken anthropologische Perspektiven der Synoptiker, der johanneischen und paulinischen sowie der übrigen neutestamentlichen Literatur zumeist an ausgewählten Texten dargestellt. Neben der an den Schriftgruppen des Neuen Testaments gegliederten Darstellung sorgt ein Bibelstellenregister für gezielten Zugriff. Damit wird ein textorientierter Zugang zur Thematik sichergestellt, wodurch sich das Buch gezielt für Lehre und Prüfungsvorbereitung einsetzen lässt. Aus dem Inhalt: Einführung • Anthropologie in den synoptischen Evangelien • Anthropologie im Johannesevangelium • Paulus • Übrige Schriften • Nachwort• Bibliographie • Register A. Francke ZNT 17 (9. Jg. 2006) Martin Evang Gewalt und Gewaltlosigkeit in der Strategie des 1. Petrusbriefs »Gewalt« und »Gewaltlosigkeit« mit den zugehörigen Facetten: Gewalt- und Rechtsverzicht, Überwindung und Ächtung von Gewalt, Einsicht in gewaltfördernde und -haltige Strukturen und ihre Veränderung, Verarbeitung von Gewalt, Linderung ihrer Folgen - »Gewalt« und »Gewaltlosigkeit« stehen nicht im Fokus des lPetr. Da jedoch Gewalterfahrungen zu der Problemlage nicht nur, sondern ist darauf aus, sein Zeugnis plausibel zu machen, so dass die schwierige Lage aus Überzeugung, ja sogar mit Freude angenommen werden kann. lPetr ist theologische Aufklärung und seelsorgliche Werbung in einem. Der Verfasser spricht von den Kalamitäten des Christseins so, dass sie vor dem überragenden Heil, das den Gläubigen zukommt, marginal erscheinen. Und umgekehrt gehören, auf die der Brief eingeht, liegt »Gewaltlosigkeit« auch im Zielfeld seiner Gesamtstrategie. In diesem Beitrag bearbeiten wir das Gewaltthema im lPetr im Zusammenhang dieser Strategie. Dabei gehen wir nicht »Da jedoch Gewalterfahrungen zu der Problemlage gehören, auf die der Brief eingeht, liegt ,Gewaltlosigkeit< auch im Zielspricht er von diesem Heil so, dass Gegenerfahrungen, die sie im Kontakt mit Nichtchristen machen, als eine unvermeidliche, eher geringfügige und zeitlich begrenzte Begleit- ! eld seiner Gesamtstrategie.« von einem fest umrissenen Gewaltbegriff aus. 1 Die elementare Unterscheidung zwischen potestas als legitim(iert)er, mit Machtmitteln ausgestatteter Autorität und violentia als (physischer, psychischer, sozialstruktureller) Gewalttätigkeit im Sinn, sehen wir zu, welche im lPetr begegnenden Phänomene in dieser Perspektive auffallen und ob sich dabei ein gewaltkritische Potenzial zeigt. 2 1. Der Zuspruch: Groß und gewiss ist euch das Heil! 1 Petr ist ein in der zweiten Hälfte des 1. J ahrhunderts unter dem Namen des Apostels Petrus verbreitetes Rundschreiben an die in Kleinasien lebenden Christen. Zum Ziel des Schreibens resümiert der Verfasser: »... ich erscheinung begriffen werden können. Vergröbert gesagt: » Think big« ist die Botschaft des lPetr hinsichtlich des den Christen von Gott zugewandten Heils; »take it easy« dagegen im Blick auf den Druck, den sie als Christen verspüren. Die Sprach- und Vorstellungsmuster, die dem Verfasser zur Verfügung stehen und die er seiner Strategie dienstbar macht, stammen aus unterschiedlichen Zweigen christlicher Anfangsüberlieferung, namentlich aus der synoptischen Jesus- und der paulinischen Tradition, ferner aus der griechischen jüdischen Bibel. Zur Vergewisserung der angefochtenen Heilswirklichkeit werden besonders solche alttestamentlichen Traditionen aktualisiert und auf die Christenheit bezogen, in denen sich Israel seiner exklusiven Berufung durch JHWH und seiner darin begründeten Sonhabe ermahnt und bezeugt, dass dies (die) wahre Gnade Gottes ist, in der ihr stehen sollt« (5,12). Tatsächlich reklamiert lPetr für eine Lebenssituation, die die Adressaten als ungnädig, wenn nicht gnadenlos erleben, dass in ihr Gottes >» Think big< ist die Botschaft des 1Petr hinsichtlich des den derstellung unter den »Völkern« vergewissert. Ohne die nichtchristlichen Juden seiner Zeit zu berücksichtigen, schreibt der Verfasser des lPetr der Christenheit mit einer Fülle alttestamentlicher Anspielungen solenn zu: »Ihr Christen von Gott zugewandten Heils; >take it easy< dagegen im Blick auf den Druck, den sie als Christen verspüren.« seid ein auserwähltes Ge- Gnade wirksam sei, und ermahnt sie, ihr Geschick zu bejahen. Aber lPetr behauptet und befiehlt schlecht, eine königliche Priesterschaft, ein heiliges Volk, ein Volk zum Eigentum, damit ihr die ZNT 17 (9.Jg. 2006) 21 Großtaten dessen verkündet, der euch aus Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen hat. Einst wart ihr nicht Volk, jetzt aber Gottes Volk; einst gab es für euch kein Erbarmen, jetzt aber habt ihr Erbarmen gefunden« (2,9f.). Demgemäß wird auch die nichtchristliche Zeitgenossenschaft unter den Begriff der »Völker« (»Heiden«) gefasst (2,12) und wird etwa den christlichen Frauen das Prädikat beigelegt, Saras Kinder zu sein (3,6 ). Hierher gehört auch der Begriff des Erwähltseins, der in lPetr eine wichtige Rolle spielt (neben 2,9 = Jes 43,20 noch 2,4.6 = Jes 28,16 sowie im brieflichen Rahmen 1,1 und 5,13). Nach innen stiftet er Identität, nach außen grenzt er ab. Wie die Erwählungsgemeinschaft Israel, so sollen sich die Christen lPetr zufolge als eine >Elite< verstehen, konstituiert durch den Ruf Gottes (neben 2,9 noch 1,15; 5,10), dem sie Glauben und Gehorsam geschenkt haben im Unterschied zu denen, die »dem Wort nicht gehorchen« (2,8; 3,1 und für die Zeit Noahs - 3,20). Dass die Christen sich als >Elite< fühlten und von ihrer Umwelt als >elitär<, >ab-sonderlich, beargwöhnt wurden, geht aus ihrer für lPetr charakteristischen Adressierung hervor: » ... an die Auserwählten, die als Fremde in Pontus, Galatien, Kappadozien, Asien und Bithynien in der Zerstreuung leben ... « (1,1). Als »Fremde und Gäste« (2,11) werden sie wiederholt angesprochen, und von der verbleibenden Lebenszeit der Christen (vgl. 4,2) kann auch so gesprochen werden: »solange ihr in der Fremde seid« (1,17). Die Christen als die »Fremden«, die »Fremde«, die »Zerstreuung« (Diaspora) als ihr Lebensort und ihre Lebenssituation: mit dieser biblisch verwurzelten Begrifflichkeit rückt der Verfasser die alltäglichen Befremdungen der Christen in ihrer Umwelt in eine Perspektive, die sie zugleich in ihrer Heilsträchtigkeit sehen lässt: als vorübergehenden Begleitumstand der ihnen zuteil gewordenen Gnade Gottes und damit als Bestandteil dieser Gnade selbst. 3 Umgekehrt spricht er von diesem Heil so, dass Gegenerfahrungen nicht ignoriert werden müssen, sondern integriert werden können. Einer für lPetr bezeichnenden Redeweise zufolge sind die Christen »neu gezeugt« bzw. »neu geboren« (1,3.23; 2,2), was einerseits als Überführung in ein neues Sein gemeint ist und ernst genommen werden will, andererseits gegen ein perfektionistisches Missverständnis abgesetzt wird: das aus 22 Neuzeugung und Neugeburt hervorgegangene Dasein besteht in der Hoffnung auf ein »unvergängliches, makelloses und unverwelkliches Erbe« (1,3f.). Das Erbe unterliegt einer doppelten Sicherung: es wird für die Christen im Himmel verwahrt, und sie werden darauf hin durch den Glauben bewacht (1,4f.); es besteht im »Heil der Seelen« (1,9), in der Teilhabe an Gottes »ewiger Herrlichkeit« (5,10), in der Auszeichnung mit dem »unverwelklichen Kranz der Herrlichkeit« (5,4 ). Diese Hoffnung auf die noch ausstehende Heilsvollendung soll »vollkommen nüchtern« festgehalten (1,13) werden, und über sie soll Menschen, die verwundert danach fragen, Auskunft gegeben werden (3,15). Sofern der Glaube, in dem die Christen ihre Heilsanwartschaft haben und bewahren (1,5), »zugleich Hoffnung ist« (1,21), kann er Gegenerfahrungen theologisch integrieren, d.h. von Gott her verstehen: als Erprobung und Bewährung (1,6f.; 4,12), als Gottes Wille (3,17; 4,19), als Anfang des Gerichts (4,17). Jedoch werden diese Gegenerfahrungen, indem sie so eingeordnet werden, zugleich in ihrer Begrenztheit beschrieben: Bedrängungen und Leiden zählen wenig und währen kurz angesichts der sicher verbürgten Herrlichkeit (5,10; vgl. 1,6): »Beugt euch also unter die machtvolle Hand Gottes, damit sie euch, wenn die Zeit gekommen ist, zur Höhe hebt; eure ganze Sorge werft auf ihn, denn er kümmert sich um euch« (5,6f.). 1Petr teilt die Überzeugung des Paulus, »dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll« (Röm 8,18). Zusätzliches Gewicht verleiht lPetr der den Christen verbürgten Heilsfülle dadurch, dass sie als Gegenstand intensiver prophetischer Forschung und sehnsüchtiger Neugier von Engeln hingestellt wird (1, 10-12). Propheten wollten es wissen, Engel wollen es haben - und ihr kriegt's! Die Strategie der Vergewisserung wird weiter gestützt durch das apokalyptische Schema, in das auch das prophetische Wirken integriert ist: Zielgruppe des von Gott verfügten, prophetisch voraus verkündeten und nun im Evangelium proklamierten Heils (1,10-12) sind die Christen »nach der Vorhersehung Gottes, des Vaters« (1,2), ebenso wie Christus schon »vor der Gründung der Welt ausersehen« war und »euretwegen zur letzten der Zeiten erschienen« ist (1,l 9f.). ZNT 17 (9. Jg. 2006) Martin Evang Gewalt und Gewaltlosigkeit in der Strategie des 1. Petrusbriefs Martin Evang Dr. Martin Evang, Jahrgang 1957, 1975-1980 Studium der Evangelischen Theologie in Wup~ pertal und Tübingen; 1981-1985 und 1987-1993 Wissenschftlicher bzw. Hochschulassistent an der Ev.-theol. Fakultät der Universität Bonn {bei Prof. Gräßer), 1988 Promoti1: m zum Dr. theoL mit der Arbeit »Rudolf 13ultm.ann in seiner Frühzeit« (BHTh 84); 1985-1987 Vikariat in St. Augustin-Menden, 1993-2005 Pfarrer in Düsseldorf; seit 2005 Landespfarrer in der Arbeitsstelle für Gottesdienst und 1; <; .indergottesdienst - Bereich Gottesdienst im Theologischen Zentrum Wuppertal der Ev. Kirche in: i Rheinland, Halten wir fest: Der Verfasser macht den Christen das Heil groß und gewiss überspringt aber die aktuellen Unheilserfahrungen nicht, sondern nimmt sie in die Vorstellung über Heilswirklichkeit und -verwirklichung auf. Dabei lässt er die Probleme als erträgliche Begleitumstände des Christseins erscheinen. Jetzt und Dann sind im Zeichen der »Freude« verbunden, die schon jetzt aus Traurigkeit (1,6) und »Leiden« heraus jubeln kann, sich »zuletzt« (1,5), wenn mit der Herrlichkeit Christi auch das Heil in Erscheinung tritt, zu einer »unaussprechlichen, verherrlichten Freude« steigern und dann ganz und gar »Jubel« sein wird (1,6.8; 4,13). 2. Der Anspruch: »Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig.« 2.1. Gegenüber Christen wie Nichtchristen: »Allen erweist Ehre! « Bislang ist die Strategie des lPetr aber erst zu einem Teil beschrieben. Mit derselben Intensität mahnt der Verfasser einen der religiösen Zuge- ZNT 17 (9.Jg. 2006) hörigkeit der Christen entsprechenden Gehorsam an. Die unumstößliche Heilsanwartschaft realisiert sich in einer »vom Geist gewirkten Heiligung« und zielt auf »Gehorsam und Besprengung mit dem Blut Jesu Christi« (1,2). Daraus ergibt sich die ethische Fundamentalforderung: »Als Kinder des Gehorsams lasst euch nicht länger von den Neigungen, die euch früher in eurer Unwissenheit bestimmten, leiten, sondern gemäß dem Heiligen, der euch berufen hat, seid auch selbst heilig in der ganzen Lebensführung wie geschrieben steht: Ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig« (1,14-16; vgl. Lev 11,44f.; 19,2). Die Lebensführung der Christen muss sich von dem Lebensstil der nicht christlichen Zeitgenossen (4,4 ), den die Christen ihrerseits hinter sich haben (vgl. noch 1,18b; 4,2f.), unterscheiden; er wird mit Stereotypen beschrieben, wie sie aus jüdischer Völkerpolemik vertraut sind. Hiermit ist der Gerichtsgedanke verknüpft, nicht nur im Blick auf die »Heiden« - »sie werden sich verantworten müssen vor dem, der bereit ist, über Lebende und Tote zu richten« (4,5; vgl. 4,17b.18; 2,12) -, sondern auch im Blick auf die Christen selbst, denen in Erinnerung gerufen wird, dass der, den sie als Vater anrufen, kein anderer als der ist, der »ohne Ansehen der Person nach eines jeden Werk richtet«, weshalb sie ihr Leben »in der Fremde« »in Furcht« zu führen haben (1,17; vgl. 4,17a). Die dem heiligen Gott verpflichtete ganz und gar heilige Lebensgestaltung wird nun im lPetr nach zwei Richtungen konkretisiert, nämlich nach innen im Blick auf das Verhalten unter Christen und nach außen im Blick auf die nichtchristliche Umgebung. Die Perspektiven können zwar unterschieden werden, sind aber nicht zu trennen. Ihnen liegt eine gemeinsame Einstellung zu Grunde, die vor allem an zwei Stellen in Gestalt von katalogartigen Aufzählungen zu Tage tritt. Die erste Reihe dieser Art steht in 2,1 und verallgemeinert die Forderung, in der geschwisterlichen Liebe aufrichtig zu sein: »Vermeidet also strikt jede Form von Schlechtigkeit und Trug und falschem Schein und Missgunst und Diffamierung! « Absolute Lauterkeit soll Haltung und Verhalten der Christen gegenüber ihren Mitmenschen, seien sie Christen oder nicht, bestimmen. 23 Den zweiten Katalog finden wir als Abschluss der Mahnungen, die sich auf das Verhalten in den hierarchischen Strukturen der Gesellschaft beziehen: »Seid alle einträchtig, einfühlsam, geschwisterlich, barmherzig und demütig! Reagiert nicht mit Bösem auf Böses, mit Schimpfen auf Schimpfen! Im Gegenteil: Segnet; denn dazu seid ihr berufen, damit ihr auch Segen erbt. ,Wer nämlich das Leben lieben und gute Tage erleben will, halte die Zunge vor Bösem zurück und seine Lippen davor, Trug zu reden. Er wende sich weg von Bösem und tue Gutes, er suche und strebe nach Frieden. Denn die Augen des Herrn schauen auf die Gerechten und seine Ohren hören auf ihre Bitten; aber das Gesicht des Herrn richtet sich gegen die, die Böses tun«< (3,8-12 mit Zitat Ps 34, 13-17). Diese Forderungen stellen geradezu eine Magna Charta gemeinschaftsfreundlicher Achtsamkeit dar. Sie schließen Aggressionen, die Androhung oder Anwendung physischer oder psychischer Gewalt kategorisch aus. Beide Kataloge betreffen, wie gesagt, übergreifend das Verhalten gegenüber Christen und Nichtchristen: »Allen (Menschen) erweist Ehre ... « Gleichwohl steht das christliche Verhalten nach innen und nach außen auch jeweils unter eigenen Gesichtspunkten. Zunächst nach innen: »... die Brüder (und Schwestern) liebt ... « (2,17a). 2.2. Im innerchristlichen Verhältnis: »Liebt einander! « Das Verhalten zu Mitchristen steht unter dem Anspruch der Liebe. »Haltet vor allem die wechselseitige Liebe beständig, denn ,Liebe deckt eine Menge Sünden zu«< (4,8 mit Zitat aus Spr 10, 12). Diese Weisung greift eine schon vorher ergangene Mahnung wieder auf, in der feinsinnig zwei offenbar gefährdete Aspekte geschwisterlicher Liebe, nämlich ihre Lauterkeit und ihre Beständigkeit, aus Eigenschaften Gottes und der Gottesbeziehung der Christen begründet und dringlich gemacht wurden (1,22f.).4 Wir treffen hier zum wiederholten Mal auf eine elementare Begründungsfigur des Verfassers, die christliche Existenz von Gott her prägen zu lassen. Die Figur begegnete uns bereits in dem alttestamentlichen Aufruf, gemäß der Heiligkeit Gottes heilig zu leben (1,15f.), und wir begegnen ihr nicht zum letzten Mal wieder in der Gemeindeparänese, die die 24 Mahnung zu beharrlicher Liebe (4,8) konkretisiert: »Dient einander, jeder entsprechend der Gabe, die er empfangen hat, als gute Verwalter der vielfältigen Gnade Gottes. Redet jemand, dann (sollen seine Worte) als Worte Gottes (selbst gelten können), dient jemand, dann (soll sein Tun) als aus der Kraft (stammend gelten), die Gott (selbst) gewährt, damit mit allem Gott verherrlicht werde durch Jesus Christus« (4,l0f.). Nicht »Lob, Ruhm und Ehre« (vgl. 1,7) des Täters sollen >der Liebe Tun, mit Mund und Händen motivieren und krönen, sondern es soll auf Gott als Quelle der Liebe zurückweisen. »Gott entsprechend« (vgl. 5,2: kata theon) soll auch die Leitung von Gemeinden geschehen. Älteste sollen die jeweilige örtliche Gemeinschaft, »die Herde Gottes bei euch«, wie Hirten leiten: »nicht aus Zwang, sondern, wie es Gott entspricht, freiwillig; auch nicht aus Gewinnsucht, sondern aus Hingabe; nicht wie Unterdrücker der Teilgemeinden, sondern als Vorbilder der Herde! « (5,2f.) Die Klauseln schließen Zwangsmaßnahmen im Leitungsamt der Gemeinde kategorisch aus. Zwar werden die Jüngeren ermahnt, sich den Ältesten »unterzuordnen« (5,5a); aber die für die öffentliche und häusliche Gesellschaft so charakteristischen Hierarchien der Über- und Unterordnung, die, wie wir noch sehen werden, der Verfasser grundsätzlich akzeptiert, werden für die Gemeinde mit der Mahnung an »alle«, sich »wechselseitig« (pantes allelois) dienst- und hilfsbereit zu begegnen (5,5 b), sogleich wieder unterlaufen. Diese auf Gleichrangigkeit beruhende Wechselseitigkeit, die außerhalb der Gemeinden weder vorausgesetzt noch erwartet werden kann, muss als ein grundlegendes Merkmal der agape (Liebe) in den innerchristlichen Beziehungen gelten und auch auf solche Beziehungen einwirken, die in der umgebenden Gesellschaft hierarchisch strukturiert sind. Dies gilt nicht nur, wie gezeigt, für die Gemeindeleitung (5,1-5), es gilt auch für das Verhältnis der christlichen Männer zu ihren Ehefrauen: »Ihr Männer ebenso, lebt mit dem weiblichen als dem schwächeren Geschlecht gemäß Einsicht ( = mit euren Frauen rücksichtsvoll) zusammen; erweist ihnen die Ehre, die ihnen als Miterbinnen der Gnade des Lebens gebührt, damit eure Gebete nicht belastet werden« (3,7). Zieht man diese Linie aus, so darf auch gesagt ZNT 17 (9. Jg. 2006) Martin Evang Gewalt und Gewaltlosigkeit in der Strategie des 1. Petrusbriefs werden, dass es nach lPetr wohl christliche Sklavenherren geben kann, aber nur »gute und freundliche« und keine »verdrehten«, d.h. nicht solche, die ihre Sklaven, obwohl sie sich nichts haben zuschulden kommen lassen, schäbig behandeln (vgl. 2,18); das nämlich würde heißen, »die Freiheit zum Deckmantel für Bosheit« zu missbrauchen und zu vergessen, dass auch die Freien, sofern sie Christen sind, »Sklaven Gottes« sind (2,16). Die Wechselseitigkeit prägt auch zwei weitere konkrete Mahnungen für den innerchristlichen Umgang: »Seid gegeneinander gastfreundlich ohne Murren« (4,9a). Christen unterwegs müssen sich darauf verlassen können, bei ihresgleichen Aufnahme zu finden eine christliche Parallel- oder Binnengesellschaft zeichnet sich ab, die eine Heimat bietet, wo die bisherige Heimat zur »Fremde« geworden ist. Schließlich: »Grüßt einander mit dem Kuss der Liebe« (5,14). 2.3. Im Verhältnis zu Nichtchristen: »Führt euer Leben unter den Heiden einwandfrei! « Das Verhalten in den >Außenbeziehungen, wird unter den allgemeinen Anspruch des rechtlich und moralisch Guten gestellt: »Euer Leben unter den Heiden führt gut« (2,12a). Anastrophe (Lebensführung) ist eines der für lPetr charakteristischsten Wörter überhaupt (6 von 13 Vorkommen im NT); es begegnet in Verbindung mit »heilig« (1,15), »sittlich gut« (2,12), »ehrfürchtig rein« (3,2), »in Christus gut« (3,16), negativ »nichtig« (1,18). In dasselbe Wortfeld gehören agathos (gut, 3, 11.13 .16bis.21) mit agathopoiein, agathopoiia, agathopoios (Tun des Guten, 2,14.15.20; 3,6.17; 4,19) und seine Opposita kakos, kakia (schlecht, böse; Schlechtigkeit, Bosheit, 2,1.16; 3,9.10.11.12) mit kakopoiein, kakopoiia (Tun des Bösen, 2,12.14; 3,17; 4,15). Die dem heiligen Gott entsprechende Heiligkeit der Christen (vgl. l,15f.) soll in einer unangreifbaren Lebensführung Gestalt gewinnen. »Wer wird euch Böses zufügen, wenn ihr Eiferer des Guten seid? « (3,13) Die Annahme, dass dieses Kalkül aufgeht, wird in 1 Petr sowohl prinzipiell festgehalten als auch angesichts gegenteiliger Erfahrungen eschatologisch transzendiert. »Führt euer Leben unter den Heiden einwandfrei, damit sie in dem ZNT 17 (9. Jg. 2006) (= mit Bezug auf die Sachverhalte), worin sie euch als Täter des Bösen diffamieren, aufgrund der guten Werke, wenn sie sie in Augenschein nehmen, Gott >am Tage der Heimsuchung, preisen« (2,12). Lässt auch das aus Jes 10,3 stammende »am Tage der Heimsuchung« an das Endgericht denken und lassen sich auch für diese Deutung weitere Belege aus lPetr anführen (eindeutig 4,5.176.18), so kann man es doch auch von einem anberaumten »Untersuchungstermin« verstehen, an dem sich die Haltlosigkeit erhobener Anschuldigungen zeigt. Für diese Auffassung kann zunächst auf die in der fraglichen Hinsicht ebenfalls nicht eindeutige Parallele in 3, 16 verwiesen werden: » ... damit in dem (= mit Bezug auf die Sachverhalte), worin ihr diffamiert werdet, die, die euren guten in Christus (geführten) Lebenswandel schmähen, beschämt werden.« Es kann weiter verwiesen werden auf die missionarische Wirkung, die von einer betont guten Lebensführung erhofft wird: Männer, »die dem Wort nicht gehorchen«, könnten »ohne Wort« durch die Beobachtung des »ehrfürchtig reinen Lebenswandels« ihrer Frauen für den Glauben »gewonnen werden« (3, lf.). Schließlich kann verwiesen werden auf die Funktionsbeschreibung der »Statthalter«: »... entsandt zur Bestrafung derer, die Böses tun, aber zur Belobigung derer, die Gutes tun« mit dem angehängten Kommentar: »denn so will es Gott, dass die, die Gutes tun, die Unwissenheit der verständnislosen Menschen zum Schweigen bringen« (2, 14f.). Man wird also davon ausgehen können, dass das Kalkül: >Tut Recht dann braucht ihr niemand zu scheuen" obwohl es ersichtlich nicht immer aufging, umgekehrt keineswegs immer versagte. Jedenfalls war der Verfasser des lPetr davon überzeugt, seinen Adressaten einen betont unanstößigen Lebenswandel weiterhin nicht ohne Aussicht auf Erfolg (positiv: Werbung für die christliche Religion; negativ: Widerlegung unbegründeter Anschuldigungen) anraten zu können. 2.4. In den hierarchischen Strukturen: »Ordnet euch unter! « Die generelle Anweisung, »unter den Heiden« einen tadellosen Lebenswandel zu führen, wird hauptsächlich in Mahnungen zur Unterordnung konkretisiert: »Ordnet euch unter« bzw. »seid« 25 oder »bleibt untertan«, wird den Freien gegenüber der staatlichen Obrigkeit (2,13-17), den Sklaven gegenüber ihren Herren (2, 18-25) und den Ehefrauen gegenüber ihren Ehemännern (3, 1-6) geboten. Die einerseits verkürzte, andererseits erweiterte Aufnahme der sogenannten Haustafeltradition dürfte ein Indiz dafür sein, dass sich Argwohn und Vorwürfe gegenüber den Christen hauptsächlich aus Befürchtungen speisten, diese Bewegung gefährde das gesellschaftliche Gefüge. Angesichts der Wechselseitigkeit als Grundmuster in den von der Liebe geprägten innerchristlichen Beziehungen waren diese Befürchtungen nicht ohne Anlass. Zu berücksichtigen ist auch, dass in der neuen Religion ein hingerichteter Aufrührer im Zentrum der Gottesverehrung stand. Vor diesem Hintergrund ist der strategische Sinn der Unterordnungsmahnungen zu ermessen: Durch ihr Wohlverhalten gerade in den Autoritätsstrukturen der damaligen Gesellschaft sollten die Christen dem nicht einfach aus der Luft gegriffenen Verdacht, einen einen revolutionären Keim in die Gesellschaft zu tragen, entgegenwirken. Im Blick auf »Gewalt« und »Gewaltlosigkeit« bedeutet das zunächst: Obwohl in der christlichen Religion Ansätze zu einer grundlegenden kritischen Neubewertung von Gewalt als Obergewalt (potestas) nicht nur angelegt, sondern auch wirksam sind, sollen diese Impulse nach dem lPetr in der damaligen gesellschaftlichen Position der Christen nicht verfolgt werden können und dürfen nicht verfolgt werden, um Christen und christliche Bewegung in der gegebenen Lage nicht einer tödlichen Gefahr auszusetzen. Die Strategie des 1 Petr ist an diesem Punkt Überlebensstrategie. Gleichwohl lässt er keinen Zweifel daran, dass eine legitime Gestalt von potestas, die er geradezu einfordert (s.u.), an bestimmte Bedingungen geknüpft ist: »nicht gezwungen, sondern wie es Gott entspricht freiwillig; nicht habsüchtig, sondern hingebungsvoll; nicht tyrannisch, sondern vorbildlich für die, die der potestas unterliegen« (5,2f.); »gemäß Einsicht (die Empathie und Respekt umfasst)« (3,7); »Freiheit nicht als Deckmantel für Bosheit missbrauchend, sondern als Sklaven Gottes (d.h. in einer letzten Verantwortung vor Gott, die im Gewissen [vgl. 2, 19; 3,16.21] wahrgenommen wird und dem Gericht unterliegt [4,5])« (2,16). 26 Besonders reich an diesbezüglichen Untertönen ist die Mahnung zur Unterordnung unter die vorgegebenen politischen Instanzen in den kaiserlichen Provinzen Kleinasiens (2,13-17). Die Mahnung ist, anders als die folgenden, nicht speziell adressiert; implizit ist sie vorwiegend an solche gerichtet, die in ihren Häusern selbst nicht Untergebene sind (Sklaven, Frauen), sondern »Gewalt« (potestas) inne haben, also an (relativ) »Freie« (vgl. 2,16). Das bedeutet, dass die in der Unterordnungsmahnung zwischen den Zeilen stehenden Erinnerungen an eine dem Willen Gottes entsprechende Ausübung übertragener »Gewalt« auch von denen, die sich staatlichen Instanzen unterordnen sollen, im Verhalten gegenüber den ihnen Unterstellten zu beherzigen sind. Die ,Untertöne< klingen sofort mit: »Unterstellt euch jedem menschlichen Geschöpf wegen des Herrn, sei es dem Kaiser als dem, der an der Spitze steht, sei des den Statthaltern, die durch ihn zur Bestrafung derer, die Böses tun, und zur Belobigung derer, die Gutes tun, entsandt werden« (2,13f.). In Verbindung mit der gemeißelten Sentenz: »Alle ehrt, die Geschwisterschaft liebt, Gott fürchtet, den Kaiser ehrt« (2, 17), die den Kaiser mit »allen (Menschen)« als Empfänger von »Ehre« zusammenfasst und ins Gegenüber zu Gott stellt, dem allein »(religiöse Ehr- )Furcht« gebührt, signalisiert die Kategorisierung der politischen Autoritäten unter »jedes menschliche Geschöpf« die Verweigerung jeglicher Beteiligung von Christen an religiös-politischem Zeremoniell mithin am sogenannten »Kaiserkult«, dem zentralen und gerade in den kaiserlichen Provinzen Kleinasiens hoch bewerteten Symbol politischer Loyalität. Das Paradox, dass die explizite Unterordnungsmahnung in Bezug auf ihren faktisch strittigen entscheidenden Inhalt implizit dementiert wird, offenbart die heikle Situation der Adressaten. Wie die etwas spätere Offenbarung des Johannes zeigt, konnte diese Gratwanderung nicht lange gut gehen. In der Enzyklika lPetr wird noch die offene Konfrontation vermieden und wird ausdrücklich entfaltet, worin die legitime Ausübung übertragener Obergewalt besteht mit den Worten der Barmer Theologischen Erklärung von 1934, die unter dem Zitat lPetr 2, 17 dem Staat die Aufgabe zuschreibt, »in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und ZNT 17 (9. Jg. 2006) Martin Evang Gewalt und Gewaltlosigkeit in der Strategie des 1. Petrusbriefs menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen. Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnung an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten« (aus These V). Anders als in der Erklärung von Barmen bleibt die der These entsprechende Verwerfung in lPetr implizit so deutlich sie zwischen den Zeilen zu lesen ist. Die folgende Mahnung an die Sklaven, sich ihren Herren unterzuordnen (2,18-25), enthält den Vorbehalt »soweit es christlich ist« (Johann Heermann, 1630, EG 495,5) in dem Verweis auf die syneidesis theou, das »an Gott gebundene Gewissen«, das dazu bringt, sich nicht nur »guten und freundlichen« Herren zu fügen, sondern auch ungerechte Behandlung, die einem trotz betonten Wohlverhaltens seitens »verdrehter« Herren widerfährt, bewusst und ohne Aufbegehren hinzunehmen als »( einen besonderen Erweis der) Gnade Gottes« (2,18f.). Gegenüber einem nur zu verständlichen spontanen Protest gegen dieses Konzept sei einstweilen auch hier wiederholt, dass es sich offensichtlich um eine Überlebensstrategie handelt, zu der sich der Verfasser in der bestimmten Situation, wie er sie wahrnimmt, gezwungen sieht. Auf die Entfaltung dieses Konzepts unter der Signatur »Leiden als Gnade« kommen wir sogleich zurück. Wie gezeigt, ist die Unterordnungsmahnung an die Frauen (3,1-6) von der Erwartung möglicher missionarischer Erfolge getragen. Die Empfehlung, sich von der äußeren Aufmachung (Haare, Schmuck, Kleidung) auf die innere zu verlegen - »der verborgene Mensch des Herzens in dem unvergänglichen (Wesen) des sanften und stillen Geistes, der vor Gott sehr kostbar ist« (3,4) zielt darauf, den Verdacht zu entkräften, die christliche Religion verfolge sozialrevolutionäre (hier: emanzipative) Ziele. Anzumerken ist, dass die Frauen, nochmals ausdrücklich an die Bedingung des agathopoiein (Tun des Guten, rechtlich und moralisch einwandfreies Verhalten) geknüpft, als »Kinder Saras« wie mit einem Ehrentitel ausgezeichnet werden (3,6 ), dass sie in der reziproken Paränese an die Männer als »Miterbinnen der Gnade des Lebens« und Mitsubjekte der »Gebete« aufgewertet werden (3,7) und dass auch ZNT 17 (9. Jg. 2006) der Anspruch »sanft und still« mit der an- und abschließenden an alle gerichteten Ermahnung (3,8) in die Wechselseitigkeit überführt wird. 2.5. Bei ungerechter Behandlung: » Wenn ihr wegen der Gerechtigkeit leidet, Heil euch! « »Wer wird euch Böses zufügen, wenn ihr Eiferer des Guten seid? « (3,13) Wie bereits erwogen, ist dieses Kalkül sowohl in der Erwartung des Verfassers als auch in der Lebenspraxis der Empfänger sicherlich teilweise aufgegangen; ob nur teilweise oder immerhin teilweise, stehe dahin. Wir haben uns nun abschließend damit zu beschäftigen, dass die Christen des lPetr selbst dann, wenn sie sich »unter den Heiden« rechtlich und moralisch einwandfrei verhielten, schmerzhaften sozialen Repressionen ausgesetzt blieben. Wie thematisiert und bearbeitet der Verfasser dieses Phänomen? In den Blick zu nehmen sind außer kürzeren Passagen im Briefeingang und -schluss (bes. 1,6f.; 5,8-12) vor allem die drei z.T. parallel strukturierten Passagen 2,18-25; 3,13-4,6; 4,12-19, in denen das »Leiden« der Christen (paschein, pathema) im Mittelpunkt steht. Die Kategorie des Leidens ist, wie es für 1Petr überhaupt kennzeichnend ist, zugleich beschreibend und deutend 1 • Für die Deutung sind zwei in der jüdischen bzw. frühchristlichen Tradition verwurzelte Komponenten des Leidensbegriffs bestimmend, nämlich einerseits die Verknüpfung des widrigen Geschicks der Christen mit den Leiden Christi und andererseits die perspektivische Hinordnung von gegenwärtigem, zumal ungerecht(fertigt)en Leiden auf die ihm überbietend korrespondierende zukünftige Herrlichkeit. Dieser Deutungsgehalt des Leidensbegriffs erschwert es aber, die historischen Erfahrungstatbestände, die mit ihm bezeichnet werden, konkret zu erfassen. So ist in der Sklavenparänese 2,18-25, die nun wieder aufzugreifen ist, kaum zu entscheiden, worin das »ungerechtfertigte Leiden« bzw. das »Leiden trotz Tuns des Guten« (2,19f.) konkret besteht. Die absichernde Klausel, dass es sich bei dem in Rede stehenden »Leiden« selbstverständlich nicht um die Strafe für strafwürdiges Verhalten handeln dürfe (2,20a), lässt an die Verabreichung von Schlägen (kolaphizein) denken, und in der anschließenden Schilderung des vorbildlichen Verhaltens Christi werden Schmähungen erwähnt 27 (loidorein). Genaueres erfahren wir hier nicht. Die Angaben reichen aber aus, um zu sehen, dass christliche Sklaven Opfer von verbaler und brachialer Gewalt werden konnten, differenzierter ausgedrückt: dass Sklavenherren als legitime Inhaber von Gewalt (potestas) diese gewalttätig (violentia) missbrauchten. Den Sklaven wird, indem sie aufgerufen werden, sich selbst »verdrehten« (d.h. ungerecht vorgehenden) Herren zu fügen, zugemutet, gegen solche Behandlung nicht aufzubegehren, sondern das »Leiden« zu »ertragen« bzw. »auszuhalten« (2,l 9f.). Verständlich wird diese Zumutung nur als überlebensstrategische Maßnahme. Um sie im Alltag umsetzen zu können, bedarf es einer kühnen Vision, die den manifesten Ehrentzug aufwiegen kann, der als öffentliche Schmach auch die Selbstachtung und das Ansehen bei Gott in Zweifel gestellt sein lässt. Eine solche Vision bietet lPetr, indem er das Leiden als »Gnade bei Gott« konzipiert (2,19.20; 5,12) und den leidenden Christus, der gegen sein Leiden nicht aufbegehrt, sondern sich in es geschickt hat, als heilswirkendes Urbild und wegweisendes Vorbild zugleich in Erinnerung ruft eine eindrucksvolle Reformulierung der Christologie. 2,21-25 im Einzelnen: Ausgehend von der überlieferten soteriologischen Kernformel »Christus ist gestorben für ... « (sc. uns; unsere Sünden), die zu »Christus hat für euch gelitten« umgeprägt wird, wird die Vorbildlichkeit und Maßgeblichkeit der Passion Christi entfaltet: » Er hinterließ euch ein Muster, damit ihr (ihm in) seinen Fußspuren folgtet« (2,21). Mit Wendungen aus Jes 53 wird festgehalten, dass Jesus wie es die Christen auch sollen sich in Taten und Worten nichts zuschulden kommen ließ: »Er tat keine Sünde, und kein Trug fand sich in seinem Mund« (2,22). Trotzdem fiel er der Gewalt zum Opfer. Er reagierte darauf aber so, wie es die Christen in seiner Nachfolge nun auch tun sollen: »Als er beschimpft wurde, schimpfte er nicht zurück; als er litt, drohte er nicht« ein Hinweis darauf, dass den Christen, die gegen Repressionen aufbegehren wollten, eher verbale als brachiale Gegengewalt zu Gebote stand (vgl. unten zu 3,16). Statt zurückzuschimpfen oder zu drohen, »stellte er (sc. Christus) es dem anheim, der gerecht richtet« (2,23) gewissermaßen ein temporärer Rechtsverzicht, oder genauer: ein eschatologischer Auf- 28 schub des Rechtsanspruchs, welcher im Falle Christi durch seine Auferstehung inzwischen durchgesetzt ist; von daher erklärt sich übrigens, dass nach 1,3 Gott mit der »Auferstehung (= nomen actionis mit Gott als Subjekt: das ,Wiedererstehenlassen<) Jesu Christi von den Toten« auch die »Neuzeugung (sc. der Christen) zu einer lebendigen (! ) Hoffnung« vollzogen hat (vgl. noch 1,21; 3,21fin.22). Der Erwähnung der Kreuzigung Christi und ihrer Sünden tilgenden Bedeutung nachJes 53: »Er trug unsere Sünden an seinem Leib auf das Holz ... « folgt gleich wieder die Verpflichtung auf eine unsträfliche Lebensführung: »... damit wir, für die Sünden gestorben, der Gerechtigkeit lebten« (2,24). Den Abschluss der Passage, die den leidenden Christen den leidenden Christus als Vorbild vor Augen stellt, bildet wiederum eine erneut von J es 53 inspirierte - Heilsvergewisserung: »Durch seine Verwundung wurdet ihr heil wart ihr doch wie irrende Schafe, habt euch aber nun zum Hirten und Hüter eurer Seelen bekehrt« (2,24fin.25). Treffend kommentiert R. Feldmeier: »Diese Verzahnung von soteriologischer Singularität und ethischer Exemplarität des Leidens Christi ist für den lPetr bezeichnend.« 6 In eine zu 2,21-25 z.T. parallele Argumentation tritt nach Abschluss der Unterordnungsmahnungen (2,13-3,12) der Verfasser mit 3,14a neu ein: »Aber selbst wenn ihr wegen der Gerechtigkeit leidet selig seid ihr! « Dass solches Geschick als besonderer Gnadenerweis Gottes zu begreifen und zu bewähren ist, wird teils mit schon bekannten Gedanken, teils unter Aufbietung anderer Traditionen vorgeführt. Auf die Ermutigung von 3,6fin., dass sich die Frauen von ihren Männern in keiner Weise einschüchtern (und vom christlichen Glauben abbringen) lassen sollen, greifen das Zitat aus Jes 8,12: »Ihre(= die von ihnen verbreitete) Furcht fürchtet nicht ... « (3,14b) und die nachJes 8,13 gebildete positive Mahnung zurück: »... heiligt vielmehr den Herrn, Christus, in euren Herzen« (3,15a). Offensichtlich hat der Verfasser den auf Christen ggf. mit Sanktionsdrohungen ausgeübten Druck vor Augen, dem christlichen Glauben abzusagen. In dieser Situation sollen sie über ihre nach allgemeinen Begriffen absurde Bereitschaft, Sanktionen in Kauf zu nehmen, auskunftsfähig sein: »ständig bereit zur Antwort gegenüber jedem, der von euch Rechenschaft for- ZNT 17 (9. Jg. 2006) Martin Evang Gewalt und Gewaltlosigkeit in der Strategie des 1 .. Petrusbriefs dert über die Hoffnung, die in euch ist« (3,15b). Diese Auskunft wird substantiell in einem Verweis auf die Auferstehung Jesu Christi bestehen und mit der Position - Gott hat dem gerechten, aber ungerecht behandelten Jesus Christus Recht verschafft, den Leidenden in die Herrlichkeit versetzt (vgl. 1,21) auch die Kehrseite dieses Rechtsentscheids anklingen lassen: das bevorstehende Gericht (ausdrücklich in 3,5). Daher erklärt sich der Zusatz: »aber mit Sanftmut (sc. gegenüber den Menschen) und (Ehr-)Furcht (sc. gegenüber Gott), ein gutes Gewissen bewahrend, damit« so in Wiederaufnahme von 2,12 - »die, die euren guten Wandel >in Christus< diffamieren, in den Punkten, in denen ihr verleumdet werdet, beschämt(= ins Unrecht gesetzt werden) werden« (3,16). M.a.W.: Die den bedrängten Christen abverlangte Auskunft soll nicht als Aufbegehren wirken auch der Protest gegen das Unrecht übernimmt Züge des Unrechts; damit würde das der sich in Dinge einmischt, die ihn nichts angehen«, wird dies erneut abgesichert (4,15). Auf dem gegenwärtigen Leiden liege, so der Verfasser, der Vorschein göttlicher Herrlichkeit, und die Freude, zu der ermutigt wird, werde sich im Jubel vollenden. Entsprechend die Schlussmahnung: »Die nach Gottes Willen leiden, sollen ihre Seelen dem treuen Schöpfer anvertrauen ... « - und wie? Natürlich: » ... durch Gutestun« (4,19)! 3. Fazit In einer geschichtlichen Situation, in der Christen als solche an den Rand der Gesellschaft gedrängt und als Störenfriede der religiös verfassten sozialen Ordnung beargwöhnt werden, bestärkt der Verfasser des lPetr sie einerseits in ihrer abgrenzenden Selbsteinschätzung als Heilselite Gottes und schreibt ihnen andererseits eine einwandfreie Leiden seine Qualität verlieren (vgl. 3,17). Es schließt sich wie in 2,21ff. eine Passage über die soteriologische Ur- und ethische Vorbildlichkeit des Leidens Christi an (3,lSff), die ihren Skopus in dem Gedanken hat, dass »Leiden im Fleisch« der »Sünde« den Garaus macht, und in der entsprechenden Mahnung: »Da nun Christus » Weil sich die antichristliche Lebensführung vor, die zur Konfliktentspannung und zur Widerlegung gegen die Christen erhobener Vorwürfe tauglich erscheint. Weil sich die antichristliche Einstellung aber im Kern nicht gegen die soziale, sondern gegen die fundamentalere, nicht verhandelbare religiöse Devianz der Christen richtet, dehnt Einstellung aber im Kern nicht gegen die soziale, sondern gegen die fundamentalere, nicht verhandelbare religiöse Devianz der Christen richtet, dehnt der Verfasser seine ethische Strategie auf eine freudige Hinnahme von >Leiden< aus ... « am Fleisch gelitten hat, wappnet auch ihr euch mit derselben Gesinnung denn wer am Fleisch leidet, hat mit Sünde nichts (mehr) zu tun-, damit ihr eure restliche Lebenszeit nicht mehr menschlichen Neigungen, sondern dem Willen Gottes widmet« (4,lf.). Abschließend noch kurz zur dritten Parallelpassage, 4,12-19! Die »Leiden«, die als Erprobung (4,12; vgl. 1,7), als Teilhabe an den Leiden Christi (4,13; vgl. 5,1), als Anfang des Gerichtes Gottes (4,17) zur Sprache gebracht und so begreiflich gemacht werden, bestehen konkret im »Beschimpftwerden im (oder mit dem) Namen Christi« bzw. »als Christianer«, mithin wegen der Zugehörigkeit zu Christus, die den Empfängern trotz ihres anständigen Lebens zum Vorwurf gemacht wird - »leide nämlich ja niemand von euch als Mörder, Dieb, Spitzbube oder als einer, ZNT 17 (9.Jg. 2006) der Verfasser seine ethische Strategie auf eine freudige Hinnahme von »Leiden« aus, das als Teilhabe am Leiden Christi, als gegenwärtige Kehrseite künftiger göttlicher Herrlichkeit und als besonderer Gnadenerweis begriffen und plausibel gemacht wird. Zum Thema der Gewalt ist knapp und klar zu sagen, dass nach lPetr für Christen ein anderes als ein gewaltloses, auf Ausgleich und Frieden zielendes Verhalten nicht in Frage kommt. Gewaltverzicht als Verzicht auf gewaltsames Handeln wie auf den Einsatz von Zwangsmitteln bestimmt nicht nur das binnenchristliche Verhalten einschließlich solcher Beziehungen, die in der antiken Gesellschaft hierarchisch und damit strukturell gewaltträchtig organisiert waren; Gewaltverzicht als Rachebis hin zum völligen Rechtsverzicht prägt nach lPetr auch die Einstellung von Christen gegenüber der nichtchristlichen Umwelt, auch 29 ·Das erzählende -Ev: angeU1: 1m JL\\Sldfü'\ f); is Hans Klein Das Lukasevangelium übersetzt und erklärt von Hans Klein l(ritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament, Band 1, 3. 2006. 745 Seiten, Leinen€ 89,- D; bei Abnahme der Reihe€ 80,10 D ISBN 3-525-51500-6 Ausgangspunkt dieses grundlegenden Kommentars zum Lukasevangelium ist die These, dass Lukas ein begabter Erzähler der Jesusgeschichte war und nicht ein systematisch denkender Theologe. Darum sind seine Texte bis zum heutigen Tag im Unterricht und als Grundlage sozialen Handelns sehr beliebt. Der Auslegung liegt das Bestreben zu Grunde, sich in den Gesamtaufriss und die Einzeltexte des dritten Evangeliums hinein zu hören und damit dem Evangelisten möglichst gerecht zu werden. Jeder Texteinheit wird eine Analyse vorangestellt, die nach den Quellen des Lukas fragt und hinter diesen die historisch wahrscheinlichen Ereignisse oder Worte herauszustellen bemüht ist. Die kleinen thematischen Exkurse wollen das Blickfeld erweitern. Hans Klein Lukasstudien Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments, Band 209. 2005. 219 Seiten, Leinen€ 69,90 D ISBN 3-525-53073-0 In dieser 18 Beiträge umfassenden Studie entwirft ' der Autor ein differenziertes und umfassendes Profil des Evangelisten Lukas und des lukanischen Doppelwerks. Vandenhoeck & Ruprecht Weitere Informationen: VandenhoeckErRuprecht, Theologie 37070 Göttingen info@v-r.de www.v-r.de 30 dann, wenn sie selbst Opfer von Gewalt sind; hierfür ist Christus Urbild und Vorbild. Hingegen akzeptiert lPetr im Rahmen seiner ethischen Strategie die hierarchischen Strukturen der antiken Gesellschaft und verlangt von den Christen, dass sie sich ihnen ein- und unterordnen. Dabei zeigt der Verfasser ein waches Bewusstsein dafür, dass die Ausübung übertragener Gewalt rechtlichen Bedingungen und Grenzen unterliegen muss und letztlich vor Gott zu verantworten ist. Konnte sich lPetr in seiner geschichtlichen Situation hier nur zwischen den Zeilen äußern, so sind die Untertöne seiner >politischen< Paränese (2,13-17) zu gegebener Zeit gehört und beherzigt worden (vgl. Barmen). Ebenso hat das in lPetr den innerchristlichen Umgang kennzeichnende Prinzip der Wechselseitigkeit, das wir als Sozialgestalt der Ranggleichheit aller Christen vor Gott interpretierten, zwischenzeitlich die Grenze der Kirche übersprungen; als allgemeines soziales Prinzip entspricht es der Rangleichheit (bzw., theologisch geurteilt, der Gottebenbildlichkeit) aller Menschen. Bisweilen möchte man wünschen, es überspränge die Grenze der Kirche erneut, gern auch von außen wieder nach innen. Wie dem auch sei: Ohne Vorbehalt ist zu begrüßen, wenn dass! auch Nichtchristen »einander mit dem Kuss der Liebe« grüßen (5,14a). Grüßen sich aber Christen, mit Kuss oder ohne, dann, bitteschön, auch wirklich mit Liebe, wie sie sich nach lPetr gehört (1,22f.): aufrichtig und anhaltend! Anmerkungen 1 Vgl. M. Mayordomo in: W. Dietrich/ ders., Gewalt und Gewaltüberwindung in der Bibel, Zürich 2005, 11-17. 2 Zu Einzelfragen und zur Vertiefung verweise ich auf die Kommentare zum lPetr, exemplarisch: L. Goppelt, Der erste Petrusbrief (KEK XII/ 1), Göttingen 1978; N. Brox, Der erste Petrusbrief (EKK XXI), Zürich u.a., Neukirchen-Vluyn 1979 (und spätere Auflagen); R. Feldmeier, Der erste Brief des Petrus (ThHK 15/ I), Leipzig 2005. 3 Vgl. monographisch: R. Feldmeier, Die Metapher der Fremde in der antiken Welt, im Urchristentum und im 1. Petrusbrief (WUNT 64), Tübingen 1992. 4 Vgl. dazu: M. Evang, Ek kardias allelous agapesate ektenos: Zum Verständnis der Aufforderung und ihrer Begründungen in lPetr 1,22f, ZNW 80 (1989), 111-123. 5 Vgl. Feldmeier, lPetr, §§1-2; ders., Art. Petrusbriefe, RGG' 6, 2003, 1179-1182, hier: 1180. 6 Feldmeier, lPetr, 116, mit Verweis auf H. Manke. ZNT 17 (9. Jg. 2006) Gerd Theißen Aggression und Aggressionsbearbeitung im Neuen Testament Ein Beitrag zur historischen Psychologie des Urchristentums Aufgeklärte Zeitgenossen stehen der Religion ambivalent gegenüber. Viele sehen in ihr eher ein Aggressionsals ein Friedenspotenzial, obwohl große Teile der Friedensbewegung christlich motiviert waren. Diese Ambivalenz wird heute durch fundamentalistische Strömungen in vielen Religionen verstärkt. Sie hat aber auch einen Anhalt in der Bibel. In ihr stehen aggressive und nicht-aggressive Texte dicht nebeneinander. Drei Beispiele sollen das Problem verdeutlichen. Das erste Beispiel ist das Nächstenliebegebot im Heiligkeitsgesetz in Lev 19,18: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der Herr«. Derselbe Herr verheißt im darauf folgenden Kapitel (in Lev 20,23) die ethnische Säuberung des Landes von allen Heiden. Beides ist vereinbar: Abgrenzung nach außen kann den Zusammenhalt im Innern fördern. Beides liegt aber auf verschiedenen Ebenen: Die Solidarität gegenüber dem Nächsten begegnet als Gebot, die Vertreibung der Fremden als Verheißung. Das eine soll der Mensch tun, das andere erwartet er von Gott. Ethnische Vertreibungen werden aber auch geboten. Das Deuteronomium verbindet eine beeindruckende Solidarethik gegenüber dem Fremden im eigenen Land (Dtn 10,18f.; 14,28f.; 16,11; 24,14.17.19) mit der Aufforderung zur Vertreibung der Ureinwohner (Dtn 7,1-26). Dieses Vertreibungsgebot bezieht sich zwar nicht auf die gegenwärtig im Land lebenden Fremden. Es rechtfertigt Vertreibungen, die nie so stattgefunden haben, aber es kann immer wieder reaktiviert werden. Die Solidarität beschränkt sich auf jeden Fall eindeutig auf das eigene Volk und die jetzt im Volk lebenden Fremden. Dennoch ist es gerade angesichts starker Spannungen mit den umliegenden Völkern bemerkenswert, wenn es heißt: Gott liebt den Fremden (Dtn 10,18). Man könnte nun sagen, im Neuen Testament werde die Grenze zwischen dem eigenen Volk und den Fremden überwunden. Solidarität wird in ihm über interne Binnenbeziehungen hinaus auf alle ausgedehnt selbst auf die Feinde: »Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; seg- ZNT 17 (9. Jg. 2006) net, die euch verfluchen ... « (Lk 6,27f.). Aber im selben Evangelium geht der Herr in einem poetischen Text und damit auf einer anderen Ebene wenig liebevoll mit seinen Feinden um. Am Schluss des Gleichnisses von den anvertrauten Pfunden befiehlt er: »Doch diese meine Feinde, die nicht wollten, dass ich ihr König werde, bringt her und macht sie vor mir nieder« (Lk 19,27). Das ist ein Bild für das Jüngste Gericht. Gerichtsvorstellungen im Neuen Testament sind aggressiv. Sie wollen »Heulen und Zähneklappern« verursachen. Die Verpflichtung zur Aggressionsüberwindung (im Ethos) und eine poetisch imaginierte Aggressivität (im Mythos) stehen in den Evangelien dicht nebeneinander. Kein Einwand ist, dass es sich hier um verschiedene Texte, Gattungen, vielleicht sogar verschiedene Strömungen im Urchristentum handelt. Denn wir finden Bilder prosozialen Verhaltens und aggressive Phantasien auch in ein und demselben Text. Das zeigt das dritte Beispiel: In der Vision vom Gericht des Menschensohns in Mt 25 versammelt der Richter alle Menschen vor seinem Richterstuhl. Kriterium seines Gerichts ist, dass Menschen Hungernde und Durstende speisen, Fremde beherbergen und Nackte kleiden, Kranke und Gefangene besuchen. Der Richter identifiziert sich mit den Hilfsbedürftigen: » Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan« (Mt 25,40). Der moderne Leser liest den Gesamttext dennoch mit gemischten Gefühlen. Denn derselbe Richter urteilt über die anderen: »Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! « (25,41). Ein Zentraltext christlicher Mitmenschlichkeit enthält die Terrorvision ewiger Strafen für Menschen, die keine außergewöhnlichen Verbrechen begangen, sondern nur elementare Hilfeleistungen unterlassen haben. Die drei Texte (Lev 19f.; Lk 6; 19; Mt 25) mit einer Verbindung von aggressiven und nichtaggressiven Aussagen zeigen auf jeden Fall: Aggression wird in verschiedenen Textsorten und 31 auf verschiedenen Ebenen in unterschiedlicher Form zum Ausdruck gebracht. Das gilt insbesondere für die drei Ausdrucksformen von Religion, für Ethos, Mythos und Ritus. Dazu seien vorweg drei Hypothesen formuliert: 1. Das Ethos der ersten Christen ist nicht-aggressiv. Es hat einen friedlichen Zug. Chancen für solch ein nicht-aggressives Ethos sind in der Zeit- und Sozialgeschichte des Urchristentums begründet. 2. Der Mythos der ersten Christen, d.h. ihr Glaube an ein Handeln Gottes, der Dämonen oder des Teufels, ist voller Aggressivität. Das gilt von den Bildern vom Jüngsten Gericht, vom Sühnetod Christi oder von der Vernichtung satanischer Geistermächte. 3. Der Ritus der ersten Christen verbindet Gewaltreduktion im Verhalten und Gewaltzunahme in der Imagination: Die urchristlichen Riten lösen die blutigen Opfer ab. Aber in der Imagination beleben sie ein längst überholtes Opfer neu: das Menschenopfer. Aus diesen drei Teilhypothesen lässt sich eine den muss. Imaginierte Aggression ist expressive Aggression. Potenziell kann der Mensch instrumentelle und expressive Aggression entkoppeln. Er kann also Aggressivität als Emotion, als Wut und Zorn, zum Ausdruck bringen - und manchmal gerade deshalb auf aggressive Handlungen verzichten. Aber er kann auch beides verbinden. Dabei sollte man nicht nur von modernen Aggressionstheorien ausgehen. Es gab schon in der Antike einen Diskurs über Aggression und Aggressivität: die antike Theorie der Affekte. Sie wird im Neuen Testament zwar nirgendwo als Gesamttheorie rezipiert, wir finden aber hin und wieder Fragmente eines Echos der antiken Reflexion über die Affekte. Verwiesen sei insbesondere auf die Arbeiten von Petra v. Gemünden zu den Affekten und zum Zorn. 2 1. Das Ethos der ersten Christen Die Bergpredigt vertritt in ihren drei Hauptteilen das antike Anliegen der Autonomie: Sie verlangt Gesamthypothese formulieren: Charakteristisch für das Urchristentum ist eine Verringerung von Aggression im Ethos, eine Zunahme von Aggressivität in den Glaubensvorstellungen und eine Verschränkung beider Tendenzen im Ritus. In dieser These wird zwischen Aggression und Aggressivität unter- »Charakteristisch für das Urchristentum ist eine Verringerung von Aggression im Ethos, eine Zunahme von im ersten Hauptteil, bestehend aus sechs Antithesen, Souveränität gegenüber aggressiven und sexuellen Affekten (Mt 5,21-48), im zweiten Hauptteil Souveränität gegenüber der Sozialkontrolle beim Almosengeben, Beten und Fasten (6,1- 18), im dritten Hauptteil Aggressivität in den Glaubensvorstellungen und eine Verschränkung beider Tendenzen im Ritus.« schieden. Unter Aggression ist jedes Verhalten zu verstehen, das andere Menschen schädigt, sei es durch physische Gewalt oder durch psychische Verletzungen. Es kann sich dabei um »kalte« Aggression ohne emotionale Feindseligkeit oder um » heiße« Aggression mit feindseliger Emotion handeln. Aggression meint das ganze Verhalten, Aggressivität speziell die aggressive Motivation und Emotion. Diesen Unterschied hat man im Blick, wenn man zwischen instrumenteller und expressiver Aggression unterscheidet, 1 zwischen einer Aggression, die durch zweckhaftes Handeln andere zu etwas zwingt, und Aggressivität als Motivation und Emotion, die in Worten, Gesten und inneren Bildern zum Ausdruck kommt, aber nicht unbedingt in Handlungen umgesetzt wer- 32 innere Freiheit gegenüber Reichtum und Neid (6,19-7,11). Diese innere Souveränität ist kein Selbstzweck. Sie soll den Menschen gemeinschaftsfähig machen. Unser Interesse gilt vor allem dem ersten Hauptteil. In seinen sechs Antithesen handeln drei von Aggression und Aggressionsbewältigung. Sie bilden einen Rahmen um die anderen Antithesen. Die erste Antithese (Mt 5,21-26) ist eine Verschärfung des alttestamentlichen Tötungsverbots. Verworfen wird der Zorn. Das geschieht in erster Linie im Interesse der Gemeinschaft, mit dem Ziel, ein gutes Verhältnis zum Bruder zu ermöglichen. Dabei wird der Mensch nicht nur für seinen eigenen Zorn verantwortlich gemacht, sondern auch für die Aggressivität des anderen. Wenn ihm bewusst wird, dass ein anderer etwas gegen ihn ZNT 17 (9.Jg. 2006) Gerd Theißen Aggression und Aggressionsbearbeitung im Neuen Testament Gerd Theißen Prof. Gerd Theißen, geb. 1943, Studium der Germanistik und Ev. Theologie in Bonn. Nach Promotion 1969 1,md Habilitation 1973 Privatdozent und Lehrer, 1978 Professor für Neues Testament in Kopenhagen, seit 1980 in Heidelberg. Schwerpunkte: Sozialgeschichte des Ur.christentums, Historischer Jesus, Theorie der urchristlichen Religion. hat, soll er sich mit ihm versöhnen, bevor er im Tempel sein Opfer darbringt. Andernfalls droht ihm das Gericht. Die fünfte Antithese (Mt 5,38-42) setzt das Talionsgebot »Auge um Auge, Zahn um Zahn« außer Kraft und verlangt dafür den Verzicht auf Widerstand. Jesu Gebot lautet: »dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar« (Mt 5,39). Alle Beispiele des Widerstandsverzichts zeigen, wie Menschen aus der Position des Ohnmächtigen heraus anders reagieren, als man von ihnen erwartet - und dabei die Talionsregel umkehren. Sie sollen nicht Gleiches mit Gleichem vergelten, sondern freiwillig noch einmal das Gleiche über das Geforderte hinaus anbieten: die linke Backe zur rechten Backe, den Mantel zum Rock, die zweite Meile zur ersten hinzu. Die sechste Antithese (Mt 5,43-48) tut beides, sie verschärft und setzt außer Kraft: Sie verschärft das alttestamentliche Gebot der Nächstenliebe zur Feindesliebe, hebt aber gleichzeitig ein Gebot zum Feindeshass auf, das im Alten Testament in dieser Form nirgendwo zu finden ist. Dieses Gebot entspricht vielmehr einem verbreiteten antiken Konsens: Freunde muss man fördern, Feinden schaden! ' Die letzte Antithese wertet die Feindesliebe, die dieser allgemein menschlichen ZNT 17 (9. Jg. 2006) Tendenz widerspricht, als imitatio dei, als Nachahmung des Gottes, der seine Sonne über Gute und Böse aufgehen lässt. Umstritten ist in der Auslegung der fünften Antithese, was der Sinn des Verzichts auf Gegenwehr ist. Geht es darum, den aggressiven Mitmenschen doch noch zur Besinnung zu bringen? Beinhaltet die fünfte Antithese somit eine Klugheitsregel, die zeigt, wie man sich auch aus der Position des Schwächeren heraus auf paradoxe Weise durchsetzen kann? Oder ist der Verzicht auf Gegenwehr ein unbedingt gebotenes Handeln unabhängig von der Reaktion des anderen? Zumindest so viel kann man sagen: Sofern dieses Gebot auf die Umkehr des anderen zielt, riskiert ein ihm entsprechendes Handeln Erfolglosigkeit. Das Risiko der Erfolglosigkeit ist aber kein Verzicht auf Erfolg. Die Absicht, auf den anderen einzuwirken, ist m.E. unverkennbar. Sie folgt aus der Komposition der Beispielreihe als ganzer, an deren Ende eine Aufforderung zum Spenden steht: » Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei. Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will« (Mt 5,39-42). Das letzte Beispiel vom Bitten und Spenden scheint nur auf den ersten Blick nicht in den Kontext zu passen. Die vorhergehenden Beispiele schildern Situationen, in denen ein Mächtiger den Adressaten nötigt. Der Angeredete ist unterlegen, sein Gegner aktiv. Hier dagegen ist der Adressat selbst der Überlegene, der gibt. Er wird von anderen angebettelt. Er befindet sich in der Position dessen, der etwas gibt. Wer in der Antike anderen gibt, verpflichtet den Empfänger, d.h. er darf eine Gegenleistung erwarten. Das letzte Beispiel passt als Höhepunkt ausgezeichnet in die Reihe, wenn die vorherigen Beispiele den Gedanken enthalten: Wer freiwillig mehr tut als das Verlangte, verpflichtet den anderen. Er wirkt auf ihn ein. Genau das ist der Fall. Die hier vorgeschlagene Verhal- 33 Zum tensstrategie ist soziologisch eine Strategie »demonstrativer Selbststigmatisierung«, psychologisch eine »paradoxe Intervention«. Bei der Strategie der Selbststigmatisierung' übernimmt jemand demonstrativ eine Rolle, in der er keine Chance hat, echte soziale Anerkennung zu finden. Er verunsichert dadurch den Gegenspieler: Erstens stellt er die Werte und Regeln in Frage, nach denen der andere vorgeht. Allgemeine Regel ist, dass man sich gegen Widerstand durchsetzen soll, sofern man die Macht dazu hat. Das Opfer verhält sich demonstrativ nach einer anderen Regel. Es verzichtet auf manifesten Widerstand und bietet freiwillig mehr, als von ihm verlangt wurde: nicht nur Auge um Auge, sondern Backe zu Backe, nicht nur Zahn um Zahn, sondern den Mantel zum Rock. Zweitens verlässt das Opfer die passive Rolle. Wer über das Erwartete hinausgeht, hat ein Stück seiner Freiheit wiedererobert. Wer einem anderen freiwillig gibt, verpflichtet ihn. Er reagiert nicht, er agiert. Eine solche demonstrative Selbststigmatisierung hofft auf Veränderung des Verhaltens: Wer freiwillig etwas anbietet, kann an einen Sinn für ein Handeln auf Gegenseitigkeit appellieren: Wenn ich dir entgegenkomme, womit kommst du mir entgegen? Die Beispiele vom Verzicht auf Widerstand sind psychologisch eine »paradoxe Intention« 5 bzw. Intervention. Sie wird therapeutisch eingesetzt, um Verhalten zu ändern. Sie besteht in der positiven Verstärkung eines negativen Verhaltens oder einer negativen Einstellung. Wer z.B. exzessiv über die Bosheit der Welt klagt, wird darin positiv verstärkt: » Wie erschütternd ist es, dass er nicht die allerbeste Zensur hat. Alle Staatsgebäude müssten halbmast flaggen! « Irgendwann protestiert der Betroffene gegen seine eigene Überzeichnung! Die demonstrative Wehrlosigkeit wirkt nur dann auf den Angreifer, wenn im Angreifer eine mit seinem Handeln dissonante Wertung aktiviert werden kann, etwa der Grundsatz, es sei unfair, gegen Wehrlose vorzugehen. Sowohl aufgrund soziologischer als auch psychologischer Überlegungen kommt man m.E. zu dem Ergebnis: Die demonstrative Wehrlosigkeit der Bergpredigt will sich nicht dem Willen des anderen unterwerfen, sondern will ihn aus der Position des Ohnmächtigen heraus beeinflussen, riskiert aber, dass sie dabei scheitern kann. 6 34 War solch ein Verhaltensmuster gegenüber Feinden damals historisch möglich? Zur Beantwortung dieser Frage müssen zwei weitere Fragen geklärt werden: Einmal die Frage nach den sozialgeschichtlichen Bedingungen für die Entstehung und Erhaltung dieses nicht-aggressiven Ethos, ferner die ideengeschichtliche Frage nach einer Einordnung der Aussagen der Bergpredigt in den antiken Diskurs über den Zorn. Uns sind aus der Zeit J esu zwei Vorfälle von Massendemonstrationen bezeugt, bei denen Juden durch demonstrative Wehrlosigkeit die römischen Machthaber mit Erfolg zum Einlenken bewegt haben. 7 Beim ersten Mal hatte Pilatus (ca. 27-37 n.Chr.) nachts Schilder mit Kaiserbildern nach Jerusalem bringen lassen. Es kam zu einer Massendemonstration in seiner Residenz, im Stadion von Caesarea. Pilatus ließ die Menge einkesseln und befahl den Soldaten, die Schwerter zu zücken. Daraufhin warfen sich alle Juden auf den Boden und erklärten, sie wollten lieber sterben, als den Bruch ihrer väterlichen Gesetze zu tolerieren. Pilatus musste nachgeben (Flavius Josephus Ant. 18,55-59; Flavius Josephus Bell. 2,169-174). Entsprechende Massendemonstrationen gab es wenig später gegen den Versuch des Kaisers Gaius Caligula (37-41 n.Chr.), denJerusalemer Tempel in einen Tempel des Kaiserkults zu verwandeln (Flavius Josesphus Ant. 18,261-272; Flavius Josephus Bell. 2,185-187). Ein direkter Zusammenhang mit der Predigt Jesu fehlt. Beide Ereignisse zeugen jedoch von einer nicht-militanten Mentalität, die wir auch bei Jesus finden. Und das ist kein Zufall. Die Zeit der Präfekten, in der Jesus wirkte (zwischen dem Räuberkrieg 6 n.Chr. und der Caligulakrise 39/ 40 n.Chr.), war vergleichsweise ruhig: Sub Tiberio quies, sagt Tacitus (Hist 5,9,2). Konflikte wurden weniger gewaltsam ausgetragen als in der Zeit davor und danach. In dieser Zeit konnten Juden hoffen, durch demonstrative Gewaltlosigkeit etwas zu erreichen. Und sie haben in ihr etwas erreicht. Daher fand der Wanderlehrer aus Nazareth damals Gehör. Was in dieser vergleichsweise ruhigen Zeit als nicht-militantes Ethos entstand, hatte aber auf längere Sicht nur eine Chance, wenn es sich in einer sozialen Nische ausbreiten konnte, in der es lebbar war: Erst im militärischen Schutz vieler Legionen konnte sich das Christentum mit seinem unmilitärischen Ethos innerhalb eines befriedeten Rei- ZNT 17 (9.Jg. 2006) Gerd Theißen Aggression und Aggressionsbearbeitung im Neuen Testament ches entfalten. Während Mohammed einen Staat gründete, fanden die ersten Christen einen geordneten Staat vor. Ferner können wir das nicht-aggressive Ethos der ersten Christen in den psychologischen Diskurs der Antike über Aggression und Aggressivität einordnen. Zorn galt als einer der Affekte. 8 Die moderatere Linie der Aristoteliker verlangte die Kultivierung der Affekte durch die Vernunft. Ziel war Affektbewältigung als M etriopathie, eine Temperierung der Leidenschaften. Die Stoiker verlangten dagegen die Ausrottung der Affekte. Ziel war die Apathie, die Freiheit von ihnen. Zwischen den verschiedenen Schulen war umstritten, ob es einen gerechten Zorn geben darf. Die Aristoteliker traten für den gerechten Zorn ein und verwarfen nur den ungerechtfertigten Zorn. Die Stoiker verwarfen den Zorn dagegen apodiktisch. Im Judentum verfolgte man die aristotelische Linie. Ihr entspricht Jesus Sirach 1,22 (LXX): »Nicht wird gerechtfertigt werden können ungerechter Zorn; wahrlich die Wut seines Zornes wird ihm den Fall bringen.</ Im Neuen Testament radikalisieren dagegen gerade zwei judenchristliche Schriften, das Matthäusevangelium und der Jakobusbrief, diese Tradition. Der Zorn wird in ihnen apodiktisch verworfen. Im »heidenchristgesetzt (~ 2 D LW Q 0233 [1 13 33 Mit sy eo). In der ursprünglichen Fassung von Mt 5,21f. soll aber nicht der gerechte Zorn das Ethos bestimmen, sondern die Überwindung des Zorns. Die Vorstellung vom gerechten Zorn bestimmt dagegen eindeutig den Glauben an das Jüngste Gericht. Damit aber kommen wir zu unserem zweiten Punkt: zur imaginierten Aggressivität. 2. Die Glaubensvorstellungen der ersten Christen Das Zentrum der urchristlichen Glaubensvorstellungen ist nicht durch aggressive Bilder bestimmt. Im Gegenteil: Die Vorstellung vom Zorn Gottes ist zwar deutlich vorhanden, aber seine Liebe siegt über seinen Zorn. Die Offenbarung seines Zorns (Röm 1,18ff.) wird durch die Offenbarung seiner heilschaffenden Gerechtigkeit (Röm 3,21ff.) abgelöst. Der historische Jesus spricht zwar nirgendwo von der Liebe Gottes zum Menschen (was vielen Christen nicht bewusst ist), denn er kennt nur die Liebe des Menschen zu Gott und seinem Nächsten. Aber schon Paulus spricht von der Liebe Gottes zum Menschen. In den johanneischen Schriften wird Gott sogar als lichen« Epheserbrief finden wir dagegen die moderatere Linie: Der Zorn soll vor Tagesende überwunden sein: »Lasst die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen! « (Eph 4,26). Ein besonderer Akzent liegt im Neuen Testament im Unterschied zur antiken Philosophie darauf, dass der Affekt nicht so sehr »Da# Gott rJ4s R~J: fit f#f,'t. d~'n Liebe definiert (1Joh 4,16). Das Problem ist aber: Neben dem Liebesgedanken steht die Vorstellung vom aggressiven, strafenden und richtenden Gott. Dass Gott das Recht hat, den Menschen bis in alle Ewigkeit zu vernichten, steht als Terror des mysterium tremendum im Hintergrund des mysterium fascinosum der Gnade Gottes, die dem ver- Mei? Jcken•bisJ: n ' · zu; "\ .... : • ·· ·• .~,ttQ; f>S~ titf ·· : Ji,•ift~; twµ; : ren~JJ • ...... .. fi,e/ J Npl! ~if~~ ! ~i~ Hfl/ Q.t1'tii~m schenkt.« um der Selbststeuerung des Menschen willen besiegt werden muss, sondern weil er die Gemeinschaft zerstört. Es heißt nicht: »Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht töten. Ich aber sage euch: Du sollst nicht zürnen! "«, sondern »Du sollst deinem Bruder nicht zürnen! « (Vgl. Mt 5,21f.). Die meisten Handschriften korrigieren diese Stelle im Sinne der antiken Lehre vom gerechten Zorn. Sie schreiben: »Du sollst deinem Bruder nicht ohne Grund zürnen! «, fügen also ein eiki'e (gr. ohne Grund) ein. Diese Lesart hat sich im Mehrheitstext durch- ZNT 17 (9.Jg. 2006) lorenen Menschen Heil und ewiges Leben unverdient schenkt. Die Vorstellung von einem aggressiven Gott begegnet in zwei Variationen: Entweder wird Gott als ein mächtiger Krieger vorgestellt, der sich gegen seine Feinde durchsetzt, oder als ein gerechter Richter, der im Jüngsten Gericht alle Menschen beurteilt. Die Aggressivität der Bilder ist bei kriegerischen Vorstellungen natürlich größer als bei forensischen, da ein Gerichtsverfahren schon eine rechtliche Bändigung und Diszipli- 35 Zum Thema nierung von Aggression voraussetzt. Aber in beiden Bildzusammenhängen geht es um Aggressivität, die um der Gerechtigkeit willen geschieht. Es geht immer um den »gerechten Zorn« Gottes gegen die Sünde und die Sünder. Kriegsmentalität herrscht dort, wo sich Gott gegen fremde Geistermächte, gegen den Satan und seine Dämonen durchsetzen muss. Schon Jesus führt gegen sie einen »heiligen Krieg«. 10 Andere Menschen sind von diesem Krieg betroffen, wenn sie dämonisiert werden. So finden wir in der J ohannesapokalypse eine Dämonisierung des Römischen Staates und des Kaisers. Gott und seine Mächte stehen in einem blutigen Krieg gegen ihre Widersacher. Es genügt, eins der vielen aggressionsgesättigten Bilder des Apokalyptikers zu zitieren: »Und ich sah den Himmel aufgetan; und siehe, ein weißes Pferd. Und der darauf saß, hieß: Treu und Wahrhaftig, und er richtet und kämpft mit Gerechtigkeit.... Und er war angetan mit einem Gewand, das mit Blut getränkt war, und sein Name ist: Das Wort Gottes .... Und aus seinem Munde ging ein scharfes Schwert, dass er damit die Völker schlage; und er wird sie regieren mit eisernem Stabe; und er tritt die Kelter, voll vom Wein des grimmigen Zornes Gottes, des Allmächtigen« (Offb 19,11-15). Hier geht es zweifellos um ein Kriegsgeschehen. Die aggressiven Handlungen werden dadurch gerechtfertigt, dass sie um der Gerechtigkeit willen geschehen. In einem zweiten Vorstellungstyp wird dieser gerechte Zorn in Szenen des Jüngsten Gerichts gestaltet. Die Exekution des Urteils wird dabei oft nicht von Gott selbst durchgeführt. Sein Urteil ist gerecht und es ist definitiv. Die Strafen sind grausam für die Sünder. Das richtende und strafende Handeln Gottes muss im seelischen Haushalt der ersten Christen eine große Rolle gespielt haben. Aus einigen Stellen geht hervor, dass die Überzeugung vom Gericht (d.h. von der imaginierten Strafe Gottes) von menschlicher Aggression entlastet. Paulus mahnt in Röm 12,9 zur »ungeheuchelten Liebe«. Er hat zunächst Beziehungen zwischen Christen in der Gemeinde im Blick, weitet dann aber (ab Röm 12,14.17-21) die Mahnungen auf Beziehungen zu Nicht-Christen in der Umwelt der Gemeinde aus. Dabei begegnet das betont nicht- 36 aggressive Ethos der Christen, das direkt an die Bergpredigt erinnert: »Segnet, die euch verfolgen; segnet, und flucht nicht. Vergeltet niemand Böses mit Bösem. Seid auf Gutes bedacht gegenüber jedermann. Ist's möglich, soviel an euch liegt, so habt mit allen Menschen Frieden. Rächt euch nicht selbst, meine Lieben, sondern gebt Raum dem Zorn Gottes; denn es steht geschrieben: ,Die Rache ist mein; ich will vergelten, spricht der Herr.< Vielmehr, >wenn deinen Feind hungert, gib ihm zu essen; dürstet ihn, gib ihm zu trinken. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln,. Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem« (Röm 12,14.17-21). Weil Gott es übernimmt, den Bösewicht zu strafen, kann man darauf verzichten, dem Feind selbst Böses anzutun. Sogar Feindesliebe ist gegenüber dem Übeltäter geboten, wobei umstritten ist, ob die feurigen Kohlen, die man auf sein Haupt sammelt, Teil des Höllenfeuers sind, in dem der Gegner einst untergehen wird, oder ob sie eine Aufforderung zur Umkehr darstellen. 11 Noch handgreiflicher begegnen solche Rachephantasien in der Logienquelle. Die Boten Jesu werden in ihr aufgefordert, Jesu Botschaft vom Gottesreich in alle Dörfer und Städte zu bringen. Sie sollen mit einem Friedensgruß die Häuser betreten. Aber wenn sie abgewiesen werden, sollen sie den Staub von den Füßen schütteln und den nächsten Ort aufsuchen (QLk 10,10-12). Die Abweisung von vagabundierenden Bettlern war zu allen Zeiten mit der Angst verbunden, dass die Abgewiesenen aus Rache das Haus anzündeten. Bei den urchristlichen Wandercharismatikern ist das nicht anders, nur dass die Brandstiftung Gott überlassen wird. Das Staubabschütteln ist ein Fluchritus: »Es wird Sodom erträglicher ergehen an jenem Tage als dieser Stadt« (Lk 10,12). Die Orte, deren Bewohner die Aufnahme der Wandercharismatiker ablehnen, werden in Flammen untergehen. Man war sich der allzu menschlichen Problematik solcher Rachephantasien durchaus bewusst. Als Jesus auf dem Weg nach Jerusalem in einem samaritanischen Dorf keine Aufnahme findet, sagen einige Jünger zu ihm: >»Herr, willst du, so wollen wir sagen, dass Feuer vom Himmel falle und sie verzehre<. Jesus aber wandte sich um und wies sie zurecht. Und sie gingen in ein andres Dorf« (Lk 9,54-56). ZNT 17 (9. Jg. 2006) Gerd Theißen Aggression und Aggressionsbearbeitung im Neuen Testament Voll Aggressivität sind ferner Aussagen zur Sühne und Stellvertretung. 12 Im Römerbrief entwirft Paulus in den ersten Kapiteln ein dunkles Gemälde von der Sünde aller Menschen. Der Zorn Gottes schwebt wie eine dunkle Gewitterwand über den Menschen. Die Wende geschieht dadurch, dass der Blitz, in dem sich die Gewitterspannung entlädt, den Gekreuzigten trifft. In ihm verurteilt Gott die Sünde (Röm 8,3 ), um an ihm zu demonstrieren, dass der Sünder trotz seiner Verurteilung eine Lebenschance hat. Denn der Gekreuzigte erhält neues Leben jenseits des Todes durch Gottes Macht. Der Gott des Zorns wandelt sich im Römerbrief dadurch in einen Gott der Liebe. Wie Gott im Römerbrief eine Verwandlung erfährt, so auch der Mensch. Er wird aus einem asozialen Wesen, das seinen eigenen Leidenschaften ausgeliefert ist, zu einem kooperativen Wesen. 13 Diese Verwandlung geschieht mit einer Entladung von Aggressivität in der Vorstellungswelt des Glaubens eine tötende Strafmacht trifft stellvertretend den Gekreuzigten. Moderne Mentalität lehnt den Gedanken von Sühne und Stellvertretung zwar ab, weil sie unserem Menschen- und Gottesbild widerspricht. Kein Mensch kann Schuld übertragen. Gott hat kein Opfer nötig, um zu vergeben. Bilder von Sühne und Stellvertretung gelten daher oft als Ausdruck einer gewalttätigen Religiosität. Bei Paulus aber sollen mit Hilfe solcher Vorstellungen Menschen von aggressiven in liebende Lebewesen verwandelt werden. Religiös imaginierte Gewalt soll helfen, die Gewalttätigkeit des Menschen zu überwinden. Wir können die Gedanken des Paulus in die antike Reflexion über die Affekte einordnen. Alle philosophischen Strömungen waren sich darin einig, dass man die Affekte kontrollieren muss. Wenn Paulus sagt, dass die, »die Christus Jesus angehören, ihr Fleisch gekreuzigt haben samt den Affekten und Begierden« (Gal 5,24), dann klingt das wie die stoische Forderung nach Affektüberwindung. Das Ziel ist dasselbe. Aber der Weg zu ihm ist verschieden. Die meisten philosophischen Schulen sagten: Richtige Erkenntnis führt zur Bewältigung der Affekte. Wer einem Affekt nachgibt, hat eine falsche Erkenntnis. Bei Paulus macht aber nicht die Erkenntnis, sondern eine Verwandlung des Menschen Affektüberwindung möglich. 14 Diese Verwandlung erfolgt durch ein Sterben mit Christus und ein neues Leben mit ZNT 17 (9.Jg. 2006) ihm: durch Nachvollzug des Heilsgeschehens von Kreuz und Auferstehung. Wie aber kann der Mensch durch innere Imagination eines aggressiv vorgestellten Heilsgeschehens von aggressiven Affekten frei werden? Schon in der Antike wurden beeindruckende Theorien über die Wirkung fiktionaler Darstellung von Affekten entworfen. Plato wollte in seinem Idealstaat die Dichtung kontrollieren, weil er eine direkte Übertragung negativer Affekte von den Helden in der Dichtung auf die Menschen in der Wirklichkeit befürchtete. 15 Er glaubte, dass die Dichtung als Modell für reales Verhalten dient. Gegen seine Modelltheorie wandte sich (ohne direkte Polemik gegen ihn) Aristoteles: 16 Die Stimulierung von Affekten, von eleos (gr. Jammer) und ph6bos (gr. Schauder) in der Tragödie führt für ihn zu einer katharsis (gr. Befreiung) von diesen Affekten. Auch im Neuen Testament findet in der Passion Christi ein Art »Tragödie« statt, auch wenn die entscheidende Peripetie der Handlung nicht der Sturz des Helden ist, sondern seine Auferweckung von den Toten. Kann man analog zur berühmten aristotelischen Tragödientheorie also sagen: Die Vorstellung vom getöteten Gottessohn stimuliere verborgene Aggressionen und befreie gleichzeitig von ihnen? Ist Jesus das Lamm, das die Sünden der Welt auch in diesem Sinne »wegträgt«? Aggressionsreduktion im Ethos und Aggressivitätszunahme im Glauben wären dann komplementär zueinander. Wie beim Erleben einer antiken Tragödie würde der Glaubende im Nacherleben von Kreuz und Auferstehung Aggressivität in seiner Vorstellungswelt stimulieren und sich dadurch von ihr befreien, so dass sie sich weniger wahrscheinlich in Handlungen umsetzt. Entscheidend ist: Es muss ein Geschehen sein, das intensiv nacherlebt wurde. Wo aber kommt es zu solch einem intensiven Nacherleben, zur Identifikation mit dem Heilsgeschehen von Kreuz und Auferstehung. Das geschieht vor allem im Ritus! Damit kommen wir zum letzten Punkt, den ich nur kurz zusammenfasse. 3. Der Ritus der ersten Christen 11 Der Ritus der ersten Christen verbindet Gewaltreduktion und Gewaltzunahme: Die urchristlichen Riten lösen die blutigen Opfer ab. Sie kom- 37 Zum men ohne tötende Gewalt aus. Der praktische Vollzug der urchristlichen Riten ist gewaltfrei. Eine Waschung wird zur Taufe, ein Essen zum Abendmahl. Das sind harmlose alltägliche Vollzüge. Aber in der rituellen Imagination wird ein längst überholtes Opfer neu belebt: das Menschenopfer. Die Taufe wird zur Taufe in den Tod Christi, das Abendmahl wird zum Gedenken an seinen Tod gefeiert. Vor allem das urchristliche Abendmahl ist eine Verschränkung von praktizierter Aggressionsreduktion und imaginierter Aggressivitätszunahme. Die imaginierte Aggressivitätszunahme greift nicht nur auf den Gedanken des Menschenopfers zurück, sondern auf eine ganz unmoralische Vorstellung, bei der zivilisierten Menschen damals wie heute das Blut erstarrt: Das Abendmahl ist, auch wenn das geleugnet wird, eine symbolisch inszenierte Anthropophagie. Hier wird in symbolischer Weise Leib und Blut Christi verzehrt. Damit wird im rituell geschützten Raum eines der größten Tabus der Menschheit gebrochen. Solche Tabubrüche sind typisch für Riten gerade für Riten, die eine Verwandlung des Menschen bewirken wollen. Sie setzen Kräfte der Verwandlung frei. Dabei kommt eine exzessive Form von Aggression zum Ausdruck, so peinlich und verletzend, dass sich die Theologie das kaum eingestehen kann. Aber der Sinn des Abendmahls ist m.E. eindeutig und er ist positiv: Aus Menschen, die sich als potenzielle »Kannibalen« offenbaren, werden kooperative Menschen, die alle Lebensgüter fair und gleich teilen. Insofern Riten das Wesen einer Religion verdichtet inszenieren, kommt man hier dem Kern des Urchristentums nahe. 4. Schlussüberlegungen Wir kommen zum Schluss und fassen unsere Überlegungen zusammen: Die Gegenläufigkeit von Aggressionsreduktion im rität und der Liebe geprägt. Ihre religiösen Phantasien aber waren voll von Aggressivität. Dabei ist eine Tendenz sichtbar, solche Aggressivität auch in der Phantasie einzugrenzen: Sie soll der Gerechtigkeit dienen. Gottes Zorn ist immer gerechter Zorn. Aber auch diese strafende Gerechtigkeit wird noch einmal ausgeglichen durch den Gedanken der Liebe Gottes, die auch dem gilt, der gerechterweise Zorn verdient hat. Unsere Vermutung ist, dass die aggressionsgesättigten Phantasien des Neuen Testaments dazu beigetragen haben, ein aggressionsreduzierendes Ethos lebbar zu machen. Man kann nicht das humane Liebesgebot loben und die aggressiven Phantasien der ersten Christen verwerfen. Beides hängt zusammen. Für die expressive Aggressivität der Bilder (und nur für sie) gilt die Katharsistheorie, wie sie Aristoteles für fiktionale Texte formuliert hat. Aggressive innere Bilder können ein Ventil sein ein Seufzen der Kreatur, das Entlastung von innerem Druck verschafft. Ausgelebte instrumentelle Aggression aber bringt keine Katharsis, sondern fördert durch Modell und Nachahmung aggressives Verhalten. Für reales Verhalten gilt nicht die Katharsistheorie der Affekte, sondern die Lerntheorie sozialen Verhaltens. Erfolgreich praktiziertes Verhalten wird nachgeahmt. Die Katharsistheorie war bei Aristoteles aber nicht für reales Verhalten entworfen, sondern für das Erleben der Tragödie also für das Erleben von Dichtung, die ihren Stoff aus dem Mythos und der Geschichte der Griechen bezog. Daraus folgt, dass es keinen notwendigen Zusammenhang zwischen einer Katharsis durch Aggressivität in inneren Bildern und einem aggressionsreduzierenden Verhalten in der äußeren Realität gibt. 18 Vermutlich gibt es zumindest zwei zusätzliche Bedingungen, unter denen aggressive Phantasien kathartische Funktion haben können: 1. Ein menschlicher Kontext in der sozialen Welt: In der zivilen Gesellschaft des klassischen Athens konnte die Tragödie eine Sti- Ethos und Aggressivitätszunahme in Glaubensvorstellungen wird in den Riten des Urchristentums offen zum Ausdruck gebracht. Das Gemeinschaftsleben der »Man kann nicht: das humane Liebesgebot loben und die aggressiven Phantasien der ersten Christen verwerfen.« mulierung und Katharsis von Affekten des J ammerns und des Schauderns erreichen. Das gelebte Ethos der Athener lehrte die Menschen ersten Christen war von einem Ethos der Solida- 38 Empathie, Mitleid und Erschrecken über das Unglück anderer Menschen. ZNT 17 (9. Jg. 2006) Gerd Theißen Aggression und Aggressionsbearbeitung im Neuen Testament Im Urchristentum konnten die aggressiven Bilder des Gerichts und der Erlösung eine Überwindung dieser Aggressivität bewirken. Im Leben urchristlicher Gruppen wurde Aggression abgelehnt. Bei einer Brutalisierung der Lebenswirklichkeit aber können dieselben Bilder ganz anders wirken. Entscheidend ist, was die dominierenden Werte im gelebten Ethos sind. 2. Ein Vorrang menschlicher Werte in der inneren Welt: Die dichterische Phantasie wurde in der Tragödie nach bestimmten Gattungsregeln gestaltet. Indem sie scheitern, bezeugen die tragischen Gestalten die menschlichen Werte, an denen sie scheitern. In den urchristlichen Phantasien wird aggressives Verhalten von der Gerechtigkeit gelenkt, wie die Bilder vom Jüngsten Gericht zeigen. Der gerechte Zorn wurde in der Antike bei den realistischen Aristotelikern akzeptiert. Aber auch die Bändigung des Zorns durch Gerechtigkeit ist m.E. nicht ausreichend zur Aggressionsbearbeitung. Im Urchristentum werden die Phantasien von einer strafenden Gerechtigkeit Gottes durch einen noch höheren Wert, den Liebesgedanken, eingedämmt. Gott offenbart sich als Liebe auch gegenüber dem Sünder, der Strafe verdient hat. Unser Fazit ist: Nicht alle lieblosen Phantasien dienen der Katharsis von Lieblosigkeit. Wenn man aber davon überzeugt ist, dass Aggressivität und Aggression zum menschlichen Leben gehören, wird man die Existenz aggressionsgesättigter Phantasien an sich nicht kritisieren können, sondern nur die Art, wie Menschen damit umgehen. Anmerkungen 1 W. Michaelis, Verhalten ohne Aggression? Versuch zur Integration der Theorien, Köln 1976. 2 P.v. Gemünden, La culture des passions a l'epoque du Nouveau Testament. Une contribution theologique et psychologique, ETR 70 (1995), 335-348; dies., Einsicht, Affekt und Verhalten. Überlegungen zur Anthropologie des Jakobusbriefes, in: E. Herms (Hg.), Menschenbild und Menschenwürde (CWGTh 17), Gütersloh 2001, 365-378 = überarbeitet in: P.v. Gemünden/ M. Konradt/ G. Theißen, Der Jakobusbrief. Beiträge zur Rehabilitierung der »strohernen Epistel« (BVB 3), Münster 2003, 83-96; dies., Die Wertung des Zorns im Jakobusbrief auf dem Hintergrund seines antiken Kontextes und seine Einordnung, in: ebd., 97-119; dies., La gestion de la colere et de l' agression dans l' antiquite et dans le Sermon sur la montagne, Henoch 25 (2003 ), 19-45. Ich danke P.v. Gemünden für den Einblick in ihr noch ZNT 17 (9.Jg. 2006) unveröffentlichtes Buchmanuskript: Zorn im Neuen Testament und seiner Umwelt. ' M. Reiser, Love of Enemies in the Context of Antiquity, NTS 47 (2001), 411-427. 4 W. Lipp, Stigma und Charisma. Über soziales Grenzverhalten (Schriften zur Kultursoziologie 1), Berlin 1985. Zwei neutestamentliche Arbeiten sind von diesem Konzept inspiriert: M.N. Ebertz, Das Charisma des Gekreuzigten. Zur Soziologie der Jesusbewegung (WUNT 45), Tübingen 1987; H. Mödritzer, Stigma und Charisma im Neuen Testament und seiner Umwelt. Zur Soziologie des Urchristentums (NTOA 28), Fribourg/ Göttingen 1994. 5 Vgl. die Definition in: F. Dorsch/ H. Häcker / K.H. Stapf (Hgg.), Dorsch Psychologisches Wörterbuch, Bern u.a. 12 1994, 545: »Paradoxe Intention, nach FRANKL, WATZLAWICK, HALEY ein Verfahren, bei dem der Klient aufgefordert wird, sein symptomatisches Verhalten nicht zu bekämpfen, sondern bewusst herbeizuführen und auszuüben. Dies kann zur Symptomreduktion führen, sofern das Zielverhalten gekennzeichnet ist durch einen Spontancharakter und insofern der Kampf gegen das Symptom eben zu einer Aufrechterhaltung beigetragen hat (z.B. Stottern, Herzphobie, Erektionsstörungen, Einschlafschwierigkeiten etc.). Auch im Bereich der Partnertherapie werden derartige Ansätze zunehmend eingesetzt.« ' Damit ist aber eine weitere umstrittene Frage noch nicht geklärt: Handelt es sich nur um einen Rat für individuelles Verhalten also um Interaktionen zwischen Nachbarn im Dorf oder in der Stadt? Oder hat die Jesusüberlieferung auch Interaktionen zwischen Gruppen im Blick? Die erste und fünfte Antithese sind in der 2. Person Singular formuliert. Es geht um individuellen Zorn auf den Bruder (in der Gemeinschaft) und um Aggression eines Gegners, der (zumindest bei der Erpressung von Geleitdiensten) nicht unbedingt zur eigenen Gemeinschaft gehört. Die letzte Antithese schließt dann aber eindeutig mehr als individuelle Feindschaften ein. Das in ihr zitierte Nächstenliebegebot ist in der 2. Person Singular formuliert. Umso mehr fällt auf, dass das Feindesliebegebot in die 2. Person Plural wechselt: »Ihr (im Plural) sollt eure Feinde (im Plural) lieben! « Dieser Plural kann kein Zufall sein. Die Verfolger treten als Kollektiv auf. Sie haben Zwangsmacht gegenüber den Angeredeten. Gemeint sind ohne Einschränkung alle Feinde auch Gruppenfeinde, auch der nationale Feind. Die letzte Antithese führt also deutlich zu einer Generalisierung der Feindesliebe. 7 G. Theißen, Gewaltverzicht und Feindesliebe (Mt 5,38- 48/ Lk 6,27-38) und deren sozialgeschichtlicher Hintergrund, in: ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums, Tübingen '1983, 160-197. 8 W.V. Harris, Restraining Rage. The Ideology of Anger Control in Classical Antiquity, Cambridge (Mass.) 2001. Vgl. die Zusammenfassung S. 402-408. 9 Sie liegt auch dem 4. Makkabäerbuch zugrunde, einem Traktat über die Beherrschung der Affekte durch das Gesetz. Und sie findet sich auch im Slavischen Henoch, auch wenn dessen Aussagen zum Zorn oft als Beispiel für eine unbedingte Verwerfung des Zorns gewertet werden (2Hen 44,3). Vgl. die Veröffentlichungen von P.v. Gemünden (Anm. 2). 10 0. Betz, Jesu Heiliger Krieg, NT 2 (1958), 116-137. 39 Zum 11 W. Klassen, Coals of Fire. Sign of Repentance or Revenge? , NTS 9 (1962/ 3), 337-350. 12 Beides ist nicht einfach identisch. Sühne ist eine Ersatzleistung des Übeltäters für eine Strafe, die hinter der Strafe zurückbleibt. Stellvertretung ist Übernahme der vollen Strafe durch einen anderen. Im Neuen Testament verschmelzen beide Gedanken: Der Gekreuzigte trägt stellvertretend das volle Urteil, das den Sünder treffen soll. Aber sein Tod bleibt hinter der geforderten Strafe in zweifacher Weise zurück: (1) Der Gekreuzigte stirbt nicht für einen, sondern für alle. (2) Sein Tod ist nicht endgültig, sondern er wird zu neuem Leben auferweckt. Insofern ist sein stellvertretendes Sterben zugleich Sühne. 13 P.v. Gemünden, Image de Dieu image de l'etre humain dans l'Epitre aux Romains, RHPhR 77 (1997), 31-49. 14 Diese Verwandlung durch den Geist wird bei Paulus als Kraft eines höheren Affekts dargestellt: »Denn das Fleisch begehrt auf gegen den Geist und der Geist gegen das Fleisch« (Gai 5, 17). Der Geist ist hier ein göttlicher Gegenaffekt gegen die Affekte des Menschen. Nicht Erkenntnis führt also zur Affektfreiheit, sondern ein neues Sein. Das Sein des Menschen besteht dabei nach der biblischen Tradition in seinem Willen. Der Mensch konstituiert sich in seinem innersten Kern (in seinem »Herzen«) als Wille im Gegenüber zum göttlichen Gebot. Sein Wille kann sich dabei auch gegen bessere Erkenntnis durchsetzen. Paulus gesteht: »Ich tue, was ich nicht will« (Röm 7,15). Er tut sogar das Gegenteil davon, nämlich das, was er hasst. 15 Plato, Politeia 10. Die Dichtkunst ist für ihn von zweifelhaftem Wert. Sie fördert den Geschlechtstrieb und den Unwillen, Lust und Unlust. »Denn sie nährt und begießt alles dieses, was doch ausgetrocknet werden sollte, und macht es in uns herrschen, da es doch beherrscht werden müsste, wenn wir Bessere und Glückseligere statt Schlechtere und Elendere werden sollen.« (Politeia 10, 606d übs. Schleiermacher) 16 Aristoteles, Poetik 6 (übs. M. Fuhrmann): »Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, ... die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.« Aristoteles verheißt also nur eine emotionale Reinigung, hier nicht direkt eine Überwindung der durch solche Affekte bestimmten Handlungen. Das ist aber wohl impliziert. In der Politik 8,7, denkt er über den erzieherischen Einfluss der Musik durch eine Katharsis von Jammer und Mitleid und andere Affekte nach. 17 Dazu meine Darstellung in: G. Theißen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2003, 171-222; ders., Ritualdynamik und Tabuverletzung im urchristlichen Abendmahl, in: D. Harth/ G.J. Schenk (Hgg.), Ritualdynamik. Kulturübergreifende Studien zur Theorie und Geschichte rituellen Handelns, Heidelberg 2004, 275-290. 18 L. Zimbardo, Psychologie, Berlin/ Heidelberg '1995, 43 lf.433: »Die soziale Lerntheorie wird durch Untersuchungen bestätigt, die eine Zunahme der Aggression nach der Beobachtung aggressiver Modelle zeigen. Zusätzlich dazu ist gezeigt worden, daß die Gelegenheit, aggressiven Gefühlen in einer permissiven Umgebung Ausdruck zu verleihen, diese Gefühle auf ihrem ursprünglichen Niveau hält, statt sie zu verringern.« 40 Gespräche, in denen Menschen »Dampf ablassen«, führen also nicht automatisch zur Aggressionsverminderung. Die Menschen verbleiben im Zustand einer physiologischen Erregung. » Wir können diesen Widerspruch auflösen, wenn wir eine Unterscheidung machen zwischen dem Ausdrücken von Gefühlen einerseits und aggressivem Handeln oder der Beobachtung aggressiven Handelns andererseits: Unseren Gefühlen Ausdruck zu verleihen (weinen, lachen, mit anderen sprechen), mag dazu führen, daß wir uns besser fühlen oder unsere Angst lindern. Das Ausüben von Aggression gegen unsere Gegner, verbal oder in offener Handlung, wird unsere Neigungen zur Aggression wahrscheinlich nicht reduzieren.« Vorschau auf Heft 18 Themenheft: Apostelgeschichten Neues Testament aktuell: Eckhard Plümacher, Was macht die Apostelgeschichte zur Geschichtsschreibung? Zum Thema: David Trobisch, Die narrative Welt der Apostelgeschichte Alain Gignac, Die Paulusinterpretation von Alain Badiou und Giorgio Agamben Claudia Büllesbach, Die apokryphen Apostelgeschichten Kontroverse: Wie historisch ist die Apg? Rainer Riesner vs. Daniel Marguerat Hermeneutik und Vermittlung: Christine M. Thomas, Die Rezeption der Apostelakten Buchreport: Daniel Schowalter/ Steven J. Friesen (Hgg.), Urban Religion in Roman Corinth. lnterdisciplinary Approaches, Cambridge (Harvard University Press) 2005 (rez. v. Jürgen Zangenberg) Hans-Josef Klauck, Apokryphe Apostelakten. Eine Einführung, Stuttgart 2005 (rez. v. Manuel Vogel) ZNT 17 (9. Jg. 2006) Ist der eine Gott gewalttätig? Eine Einführung zur Kontroverse Der Ägyptologe Jan Assmann und der N eutestamentler Eckart Reinmuth beantworten die in der Kontroverse gestellte Frage in beeindruckender argumentativer Klarheit und Intensität - und sie kommen gerade aufgrund ihrer theologischen Differenz zu grundlegend verschiedenen Ergebmssen. Die theologische Grundthese Assmanns lautet: »Gott ist verborgen«. Dem gesellt sich die anthropologische Hypothese hinzu, Menschen kämen ohne Gottesbilder nicht aus. Mit Blick auf die Frage der Gewalt kommt dann der Vernunft die Aufgabe zu, die traditionelle Rede von der Gewalt Gottes auszudifferenzieren und »zu reinigen«. Das führt Assmann zu seiner kulturgeschichtlichen Rekonstruktion »sprachlicher Bilder« religiöser Ideen, die zu einer faszinierenden großen Geschichte (vgl. F. Lyotard) vom starken Staat Ägypten, über den starken Gott Israels als Gegenentwurf dazu, hin zu den Menschenrechten führt, deren universale Durchsetzung unter anderem durch die Befreiung von der christlichen Idee des »überwachenden und strafenden Gott[es]« erwartet wird. Wie sehr Assmann dem ethischen Religionsverständnis der Religionsphilosophie der Aufklärung, insbesondere der optimistischen Idee einer »Erziehung des Menschengeschlechts« verpflichtet ist (freilich ohne Lessings Wertschätzung des Neuen Testaments zu teilen), die ein gewaltfreies Friedensreich auf Erden zeitigen wird, zeigt sein appellativer Schlusssatz an, in dem sich Assmann um den Schulterschluss zwischen Autor und Leser bemüht. Seine implizite Theologie von der Verborgenheit Gottes lassen die Geschichten des Neuen Testaments nicht in den Blick kommen. Reinmuth hingegen geht von dem Gott aus, der sich in der Jesus-Christus-Geschichte als selbst von der Gewalt betroffenen zeigt. Gerade von seiner Lektüre der Schriften des Neuen Testaments aus gestaltet Reinmuth seine theologische Entgegnung auf die moderne Argumentation Assmanns. Der großen Geschichte Assmanns setzt er die kleinen Geschichten der neutesta- ZNT 17 (9.Jg. 2006) mentlichen Schriften entgegen, deren Grundüberzeugung er nicht in eine religiöse Idee oder in die kulturgeschichtliche Hypothese einer Entwicklung zum Besseren ( oder Schlechteren) hin auflöst, sondern ihren Zusammenhang in ihrem Bezug zur narrativen Struktur der Jesus-Christus- Geschichte gegeben weiß. Der jüdischen und christlichen Tradition rechnet er das Verdienst zu, »Gewalt als zentrales anthropologisches Problem benannt zu haben«. Dabei setzt er aber nicht auf eine aufgeklärte Menschheitsreligion gereinigter Gottesbilder. Vielmehr brechen ihm zufolge insbesondere die kleinen Erzählungen des Neuen Testaments durch die auf vielfältige Weise inszenierte »entwaffnende Logik einer bedingungslosen Liebe« die Mechanismen und Machtstrukturen der Gewalt. Aber auch Reinmuth sieht die Notwendigkeit einer kritischen Relektüre des Kanons angesichts seines faktischen Missbrauchs zur Gewalt gegen andere und theologisch noch brisanter aufgrund des Eingeschriebenseins von Gewalt im Kanon selbst. Die Kontroverse zwischen Assmann und Reinmuth ist gerade deswegen so spannend und lehrreich, weil beide Autoren auf höchstem wissenschaftlichen Niveau und in engagierter gesellschaftlicher Verantwortung sich einig wissen in der Aufgabe, das Gewaltpotential religiösen Denkens zu kritisieren, ohne Religion und Theologie als solche verabschieden zu wollen, dabei aber aufgrund ihrer kontroversen religionsphilosophischen, anthropologischen und theologischen Grundannahmen zu sehr verschiedenen Ergebnissen kommen. Gerade deshalb handelt es sich um eine Lehrstunde wissenschaftlicher Streitkultur, insbesondere um einen essentiellen Beitrag zur interdisziplinären Religionsforschung in kulturtheoretischer, religionsphilosophischer und theologischer Perspektive. Stefan Alkier 41 Jan Assmann Ist der Eine Gott gewalttätig? Ist der Eine Gott gewalttätig? Wir wissen es nicht. Gott ist verborgen. Zwei Feststellungen lassen sich jedoch treffen: Erstens, daß die sprachlichen Bilder, die sich die Menschen, insbesondere die Autoren der hebräischen Bibel, von Gott gemacht haben von Gewalt reden, und zwar auf eine sehr auffallende, explizite und differenzierte Weise. 1 Zweitens, daß die Menschen, die an den Einen Gott glauben, Juden, Christen und Muslime, immer wieder unter Berufung auf den Willen Gottes zu Gewalt gegriffen haben. Unsere Frage muß also in zwei Fragen aufgespalten werden: erstens, ob die in den biblischen Texten aufscheinende Gewalt etwas Spezifisches, der Religion Israels bzw. der Theologie des Alten Testaments Eigentümliches ist, oder ob der Menschen provoziert wurde und die Verwirrung der Sprachen im Anschluß an den Turmbau zu Babel ein letzter Ausbruch kreativer Gewalt, den die Bibel schon mitten im hellen Licht der Geschichte ansetzt. Kreative Gewalt ist, wie man sieht, nichts spezifisch Biblisches; im Gegenteil möchte man sie eher einer archaischen, mythischen Grundschicht zurechnen, die die Bibel mit ihrer Umwelt gemein hat.' Die zweite Form göttlicher Gewalt möchte ich »naturale Gewalt« nennen. Sie stiftet keine neue Ordnung wie die Sintflut und die Sprachverwirrung, sondern hat rein destruktiven, katastrophischen und ausgeprägt strafenden Charakter. Naturale Gewalt ist nichts anderes als die relig10se Interpretation von sich Ähnliches auch in den Texten findet, in denen andere Kulturen von bzw. zu ihren Göttern reden, und zweitens, ob auch in anderen : TROV Naturkatastrophen, Seuchen, aber auch politischen Desastern wie etwa Niederlagen, Belagerungen, Erobe- Religionen Menschen im Namen Gottes Gewalt geübt haben. Im folgenden Essay werde ich mich vor allem der ersten Frage zuwenden, die andere aber durchaus im Blick behalten. Als ersten Schritt zur Beantwortung dieser beiden Fragen möchte ich vorschlagen, verschiedene Formen von göttlicher (d.h. Gott zugeschriebener) Gewalt zu unterscheiden. Die erste Form möchte ich »kreative Gewalt« nennen. Sie tritt uns überall dort entgegen, wo entweder, wie in Mesopotamien, die Schöpfung, oder, wie in Ägypten, die Inganghaltung der Welt mit einem Chaos-Kampf verbunden ist. Im gleichen Sinne reden die ugaritischen Mythen vom unaufhörlichen Kampf zwischen J am, dem Gott des Meeres, und Baal, dem Gott des Wetters und der Fruchtbarkeit. 2 In der Bibel vollzieht sich zwar die eigentliche Schöpfung gewaltfrei durch das bloße Schöpferwort, aber dann werden auch hier verschiedene Nachbesserungen nötig, die nur durch Gewalt zu bewerkstelligen sind. Dazu gehört die Sintflut, die ähnlich wie die Trennung von Himmel und Erde in Ägypten durch die Schlechtigkeit 42 rungen, Razzien im Sinne von strafenden Interventionen einer erzürnten Gottheit.4 Die dritte Form göttlicher Gewalt verbindet sich mit der spezifisch biblischen Idee der »Eifersucht« Gottes. Damit kommen wir nun zu einer exklusiv biblischen Form von Gewalt, die ganz offensichtlich eng mit der Einheit Gottes verbunden ist. Diese Einheit hat zwar nichts mit monotheistischer Einzigkeit zu tun, denn ein einziger Gott, neben dem es keine anderen Götter gibt, hätte keinen Grund zur Eifersucht, aber sehr viel mit Exklusivität, mit Ausschließlichkeit der Bindung und Verehrung, für die dann auch die eheliche Treue die zentrale Metapher und das politische Bündnis das zentrale Modell ist. Die Einheit Gottes, in der seine Eifersucht gründet, ergibt sich auch aus seiner götterweltlichen Einsamkeit. Dieser Gott ist, im Unterschied zu allen vergleichbaren Göttern der anderen Religionen, kein Pantheonchef: er hat keine Frau, keine Kinder, keine Götter unter sich, er hat nur das eine auserwählte Volk, mit dem er einen Bund geschlossen hat. ZNT 17 (8.Jg. 2006) JanAssmann Prof. Dr. Dr. h.c. mu! t. Jan Assmann, Jahrgang 1938, studierte Ägyptologie, Klassische Archäologie und Gräzistik in München, Heidelberg, Paris und Göttingen. 1971 Habilitation, von 1976 '- 2003 ordentlicher Professor für Ägyptologie in Heidelberg, seit 2005 Honorarprofessor für allg. Kulturwissenschaft und Religio-Usthfcorie an der Universität Konstanz. Gastprofessuren.in Paris (College de France, Ecole Pratique des Hautes Etudes, J.l,HESS), Jerusalem (Hebrew University, Dormition Abbey) und USA (Yale, Houston). Seit 1967 epigraphisch-archäologische Feldarbeit in Theben-West (Beamtengräber der Saiten- und Ramessidenzeit). Zahlreiche Buchpublikationen und Aufsätze zur ägyptischen Religion, Geschichte, Literatur und Kunst sowie zur allgemeinen Kulturtheorie (»Das kulturelle Gedächtnis«) und Religionswissenschaft (»Mon0theismus und Kosmotheismus<<). Zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen, darunter 1996 Max Planck Forschungspreis, 1998 Deutscher Historikerpreis, 1998 Dr. theol. h.c. der Evangelischen Theologischen Fakultät Münster, 2004 PhD h.c. der UniversitätYale, 2005 Dr. h.c, der Hebrew University Jerusalem. Die dritte Form der Gewalt gibt es erst seit dem Bundesschluß am Sinai. Erst jetzt hat Gott Grund zur Eifersucht bzw. ein Recht, eifersüchtig zu sein. Die Idee des EI q anna' wurzelt in der Idee des Bundes und gehört daher in den Raum des Politischen. Das hat bereits men des Bundes in Bezug auf Israel auf sich genommen hat, sie ist eine Form, und zwar eine politische Form, göttlicher Weltzuwendung. Wir dürfen die dritte Form der Gewalt daher politische Gewalt nennen; sie ist eine Kategorie der politischen Theologie (und nicht etwa der archaische Rest eines ursprünglichen Vulkangottes, wie oft angenommen).' Diese Form der Gewalt ist der biblischen Religion bzw. Theologie eigentümlich. So etwas kennen die anderen Religionen nicht. Hat man erst einmal erkannt, daß es sich hier um politische Gewalt handelt, die sich erst aus dem Gedanken des Bundesschlusses als eines politischen Bündnisses ergibt, dann wird auch klar, daß diese Gewalt untrennbar verbunden ist mit der Idee des Gesetzes. Es handelt sich um die Gewalt, die das Recht braucht, um wirksam zu werden, »in Kraft zu treten«. Der eifersüchtige, gewaltbereite und immer wieder tatsächlich zuschlagende Gott ist der gesetzgebende, richtende und strafende, also legislative, judikative und exekutive Gott. Was hätte das Gesetz für einen Sinn, wenn es nicht die Gewalt hätte, sich durchzusetzen und auf seine Befolgung zu dringen? Was hätte andererseits die Gewalt für einen Sinn, wenn sie sich nicht auf ein Gesetz berufen könnte? ' Die Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit Gottes immer verstanden als: des biblischen Gottesbildes ergibt sich aus der Ethisierung der Religion, aus dem durchaus revolutionären Schritt des biblischen Gottes, die Ansprüche der Gerechtigkeit zu seiner Sache zu machen und in den Mittelpunkt der Forderungen zu stellen, die er an sein Volk richtet: Es ist dir gesagt worden, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: Nichts anderes als dies: Recht tun, Güte und Treue lieben, in Ehrfurcht den Weg gehen mit deinem Gott. (Mi 6: 8) Ich verzichte darauf, die nächsten fünf oder sechs Seiten zu füllen mit den ent- Laktanz in seiner Schrift De ira Dei klargestellt. Der Zorn Gottes - und das ist die typische Äußerungsform seiner Eifersucht gehört nicht zum Wesen (natura), sondern zur Herrschaft (imperium) » Die Gewaltbereitschaft und Gewalttätigkeit Gottes immer verstanden als: des biblischen Gottesbildesergibt sich aus der Ethisierung der Religion ... « sprechenden, wohlbekannten Passagen aus anderen Propheten, allen voran Jesaja und Arnos, und möchte lieber betonen, daß diese Ethisierung der Religion oder vielmehr Sakralisierung der Ethik Gottes, zu seiner Herrscherrolle, die er im Rahein revolutionärer Schritt ist, mit dem sich Israel ZNT 17 (9.Jg. 2006) 43 Kontroverse auffallend und eindeutig von den Religionen seiner Umwelt unterscheidet. Was z.B. Ägypten angeht, und dieser Fall dürfte gewiß typisch sein für alle anderen Kulturen, die die Umwelt Israels gebildet haben, so finden sich auch hier fast alle die Forderungen, die Jahwe an sein Volk stellt. Nichts wäre verfehlter als die Annahme, die »Heiden« hätten in einem recht- und gesetzlosen, amoralischen Raum der Willkür und Gewalt gelebt und erst der biblische Monotheismus habe die Idee der Gerechtigkeit in die Welt gebracht. In Ägypten tritt aber nicht Gott, sondern der König als Gesetzgeber auf, und die Gewalt, die sich auch hier wie überall auf der Welt und logischerweise mit der Idee des Gesetzes verbindet, ist nicht göttliche, sondern staatliche Gewalt. 7 Die Götter mögen den König in der Überwachung der menschlichen Gesetzestreue unterstützen, aber ihr Urteil würde nie von dem des Staates und der Gesellschaft divergieren und eine alternative Wertordnung begründen. Genau das aber ist der Fall Israels. Das System der altorientalischen Sakralkönigtümer basierte auf einer negativen oder pessimistischen Anthropologie, wie sie uns von Thomas Hobbes oder Carl Schmitt und vielen anderen staatskonservativen Denkern vertraut ist, und die sich auf die Formel bringen läßt: Ohne einen starken Staat würden sich die Menschen gegenseitig die Köpfe einschlagen. Die Zuchtrute des Staates mag die Untertanen noch so schwer bedrücken, sie ist immer noch besser als die Anarchie, die einen Krieg aller gegen alle bedeutet. Mit dieser Vorstellung räumt die Bibel auf, indem sie den starken Staat durch einen starken Gott ersetzt. Zwar gibt es auch in der Bibel genug Stellen, die nach einer negativen Anthropologie klingen, und doch spricht aus ihr ein ganz anderes Vertrauen in den Menschen, seine Kraft zu Bindung und Gemeinschaft und seine Fähigkeit zu zivilisatorischer Bildung und Verfeinerung. Die Idee des Bundes beruht auf einer positiven Anthropologie, denn es wird immer wieder betont, daß dieses Bündnis (im Unterschied zu den assyrischen Vasallenverträgen, die das unmittelbare Vorbild abgeben 8) dem Volk nicht aufgezwungen, sondern von ihm freiwillig eingegangen wurde. Die Idee der Erbsünde, der Kerngedanke der abendländischen negativen Anthropologie, ist christlich, nicht jüdisch. Die Bibel jedenfalls befreit von dem 44 Rembrandt, Kain erschlägt Abel, Federzeichnung um 1650, Kopenhagen, Kobberstiksamling ägyptischen Kleinmut, die Menschen könnten ohne einen Staat nicht leben. Daraus ergibt sich die Verbindung von Gott und Gewalt. Nur ein »starker«, und das heißt, ein gewaltbereiter und gegebenenfalls gewalttätiger Gott, kann die Menschen von der fixen Idee erlösen, ohne einen starken Staat nicht leben zu können. Dafür braucht man nur an Psalm 82 zu erinnern (vgl. dazu E. Zenger, a.a.O. [Anm.1], 70-73): [Ein Psalm Asafs.J Gott steht auf in der Versammlung der Götter, im Kreis der Götter hält er Gericht. »Wie lange noch wollt ihr ungerecht richten und die Frevler begünstigen? [Sela] Verschafft Recht den Unterdrückten und Wa.isen, verhelft den Gebeugten und Bedürftigen zum Recht! Befreit die Geringen und Armen, entreißt sie der Hand der Frevler! « Sie aber haben weder Einsicht noch Verstand,/ sie tappen dahin im Finstern. Alle Grundfesten der Erde wanken. »Wohl habe ich gesagt: Ihr seid Götter, ihr alle seid Söhne des Höchsten. Doch nun sollt ihr sterben wie Menschen, sollt stürzen wie jeder der Fürsten.« Steh auf, Gott, und richte die Erde! Denn alle Völker sind dein Erbteil Ist Gott gewalttätig? Die Antwort dieses Psalms ist eindeutig: sie lautet »Ja gewiß, denn darauf richtet sich die Hoffnung aller Unterdrückten und Waisen, Gebeugten und Bedürftigen, Geringen und Armen dieser Erde.« Solange diese Welt von Unterdrückung und Unrecht beherrscht wird, können wir mit einem gewaltlosen Gott nichts anfangen. In Ps 82 geht es nicht um die theologische Frage des wahren und falschen Glaubens, sondern um die politische Frage der Gerechtigkeit. Die ZNT 17 (9.Jg. 2006) anderen Götter werden nicht als falsche Götzenbilder, sondern als schlechte Herrscher abgekanzelt. Dieser Text führt uns vor vorgehoben hat: »Ich glaube«, schreibt er, »das Judentum wisse von keiner geoffenbarten Reli- Augen, was in den Augen der Bibel »Heidentum« heißt: Rechtlosigkeit, Gewaltherrschaft, Unterdrückung, Entrechtung und Ausbeutung der Armen. Der Psalm endet mit einem Aufruf an Gott, dem Heidentum ein Ende zu machen. Die anderen Götter »Nur ein >starker<, und das heißt, ein gewaltbereiter und gegebenenfalls gewalttätiger Gott, kann die Menschen von gion. Die Israeliten haben ... Gesetze, Gebote, Lebensregeln, Unterricht vom Willen Gottes ... , aber keine Lehrmeinungen, keine Heilswahrheiten, keine allgemeinen Vernunftsätze. Diese offenbart der Ewige uns, wie allen übrigen Menschen, allezeit der fixen Idee erlösen, ohne einen starken Staat nicht leben zu können.« werden gestürzt, so wie durch das Bilderverbot ihre Bilder gestürzt werden. Zwischen Jahwe und den anderen Göttern, zwischen Recht und Unrecht, kann es keine friedliche Koexistenz geben. Die Durchsetzung von Jahwes Gerechtigkeit bedeutet den Untergang des Heidentums, und zwar mit Gewalt. Aus diesen Überlegungen wird deutlich, daß die biblische Religion, die ja das Modell für die heutigen monotheistischen Weltreligionen abgibt, in vieler, und wahrscheinlich entscheidender, Hinsicht als Nachfolgeinstitution des frühen hochkulturellen Staates vom Typ Ägyptens und Mesopotamiens zu verstehen ist und nicht als Nachfolgeinstitution der ihr vorhergehenden Religionen. In der herrscherlichen Form seiner Weltzuwendung, als Bundespartner des Volkes Israel, tritt Gott an die Stelle Pharaos, aus dessen Händen er es befreit. Hier entsteht jedenfalls etwas vollkommen Neues, das man viel eher berechtigt ist, »Staat« zu nennen in Nachfolge der hochkulturellen Sakralkönigtümer, als »Religion« in Nachfolge der »heidnischen« Religionen, denn im Zentrum dieser neuen Ordnung steht nicht der Kult, sondern das Recht.9 Auch der Begriff »Offenbarung« erscheint mit Bezug auf das Geschehen am Sinai unangemessen, jedenfalls unbiblisch. Die Torah wird nicht »geoffenbart«, sondern »gegeben«. »Geoffenbart« wird eine verborgene Wahrheit, aber kein Gesetz. Ein Gesetz wird erlassen, promulgiert, in Kraft gesetzt, und eben »gegeben«, wie der hebräische Ausdruck lautet. Auf diesen Unterschied hat etwa der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn großen Wert gelegt, der in seiner Schrift Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783) den grundsätzlich politischen Charakter des Judentums her- ZNT 17 (9. Jg. 2006) durch Natur und Sache, nie durch Wort und Schriftzeichen. (... ) Sie wurden dem lebendigen, geistigen Unterrichte anvertrauet, der mit allen Veränderungen der Zeiten und Umstände gleichen Schritt hält. (... ) Dieses ist allgemeine Menschenreligion, nicht Judentum; und allgemeine Menschenreligion, ohne welche die Menschen weder tugendhaft noch glückselig werden können, sollte hier nicht geoffenbart werden.« Diese Ideen gehören jedoch der Geschichte an. Judentum und Christentum haben beide auf sehr verschiedene Weise einen Prozeß der Entpolitisierung durchgemacht und die ursprüngliche Idee des »Staates« wieder zu neuen Formen von Religion weiterentwickelt, die freilich mit den ursprünglichen, nun als »heidnisch« klassifizierten Religionen wenig oder nichts zu tun haben. Das Judentum hat in Form des Messianismus die staatliche Verwirklichung seiner Ordnung eschatologisiert, das heißt auf eine Endzeit verschoben, und das Christentum hat das Problem in Form der Lehre von den zwei Reichen gelöst und das »Reich Gottes« als eine himmlische und auf Erden nur spirituell zu realisierende Einrichtung interpretiert. Nur der Islam ist zumindest in seinen fundamentalistischen Ausprägungen der ursprünglichen Idee treu geblieben und sieht noch heute, bzw. heute mehr als jemals, die eigentliche Verwirklichung seines Programms in der Errichtung des Gottesstaats. Damit stellt sich auch das Problem der göttlichen Gewalt heute mit besonderer Dringlichkeit. Was nun die Frage angeht, ob sich Menschen bei der Ausübung von Gewalt auf Gott berufen dürfen, so bildet schon in der Hebräischen Bibel die »eifernde Gewalt« (qin'ah) den Punkt, in dem sich göttliche und menschliche Gewalt spiegeln. Das Urbild aller Eiferer für das Gesetz ist Pinhas, 45 Kontroverse der seinen Landsmann Zimri und seine midianitische Geliebte auf ihrem Lager mit dem Speer durchbohrte (Num 25); die gehörten dann bald nicht mehr ins Reich der literarischen Fiktion, sondern wie die Makkabäer und die Zikarier ins Reich der brutalen historischen Wirklichkeit. Diese Form des heiligen Eiferns hat sich im Christentum ziemlich bruchlos fortgesetzt und ungeheure Opfer gefordert, und was den Islam angeht, so dürfte sich djihad wohl am besten als »Eifern für Gott« übersetzen lassen. Das Christentum hat in Mendelsohns Augen das Verhältnis von ewigen und historischen Wahrheiten umgekehrt. In Christus ist die Offenbarung der ewigen Wahrheit historisch geworden. sehen nun einmal nicht auskommen, von ihren gewalttätigen Zügen zu reinigen. Auch dazu scheint mir Mendelssohns Unterscheidung zwischen Judentum und Christentum sowie »allgemeiner Menschheitsreligion« und konkreten Religionen den Weg zu weisen. Auch in meinen Augen ist es ein großer Vorzug des Judentums, die »ewigen Wahrheiten« nicht dogmatisch festzuschreiben, sondern im Zustand der »diskursiven Verflüssigung« (J. Habermas) zu belassen. Die »allgemeine Menschenreligion« kann niemals auf ein System verbindlicher Lehrsätze festgelegt werden. Alle diese Überlegungen stecken bereits in Lessings Ringparabel. Sie gehören auf die Ebene einer von keiner theo- Damit kommt es jetzt zu Theologie und Orthodoxie, zu Schrift und Glauben. Das Christentum bindet sich an die Dogmen im Sinne einer allein seligmachenden Heilslehre und löst sich vom Gesetz. Damit wird zwar allen die Chance des Heils eröffnet. In Wahrheit aber wird erst dadurch die Grenze »Nachdem uns die Idee des logischen Dogmatik einholbaren Weisheit, die es in allen Kulturen gibt und die sich auf einen Konvergenzpunkt jenseits aller Unterscheidungen inklusive der »Mosaischen Unterscheidung« bezieht. In dieser Perspektive möchte ich die Frage nach der Gewalttätigkeit Gottes mit »Nein« beantworten. Nachdem uns starken Gottes von der Vorstellung befreit hat, ohne einen starken Staat nicht leben zu können, sollten wir uns auch von der Idee frei machen, ohne einen starken, das heißt überwachenden und strafenden Gott nicht leben zu können.« zwischen Christen und Heiden in aller Schärfe gezogen. Denn wer diese Chance verwirft, bleibt vom Heil ausgeschlossen. Was im Rahmen des Gesetzes eine Frage von Recht und Unrecht war, wird im Rahmen des Glaubens zu einer Frage von Heil und Verdammnis. Diese Unterscheidung und die damit verbundenen Vorstellungen von Fegefeuer und jüngstem Gericht gehören wohl zu den gewalttätigsten Bildern, zu denen sich die menschlichen Figurationen des verborgenen Gottes jemals verstiegen haben. Wer die Frage, ob der Eine Gott gewalttätig ist, mit »Ja« beantwortet, bekommt in der Regel vorgehalten, daß die vielen Götter nicht minder gewalttätig waren und daß auch unter den Heiden unter Berufung auf den Namen ihrer Götter gemordet, gebrandschatzt und geopfert wurde. Ein solches Argument (das ich immer wieder zu hören bekomme) sollte eines aufgeklärten Christenmenschen unwürdig sein. Es geht ja nicht darum, wieder zu den vielen Göttern als der besseren Alternative zurückzukehren, sondern darum, unsere Bilder von Gott, ohne die wir Men- 46 die Idee des starken Gottes von der Vorstellung befreit hat, ohne einen starken Staat nicht leben zu können, sollten wir uns auch von der Idee frei machen, ohne einen starken, das heißt überwachenden und strafenden Gott nicht leben zu können. Für die Durchsetzung der Menschenrechte im Sinne von Psalm 82 müssen wir schon selber sorgen. Anmerkungen 1 S. hierzu meinen Aufsatz »Monotheismus und die Sprache der Gewalt«, in: P. Walter (Hg.), Das Gewaltpotential des Monotheismus und der dreieine Gott (QD 216), Freiburg 2005, 18-38 mit den Repliken von Erich Zenger, »Der Mosaische Monotheismus im Spannungsfeld von Gewalttätigkeit und Gewaltverzicht«, ibd., 39-73 und Klaus Müller, »Gewalt und Wahrheit. Zu Jan Assmanns Monotheismuskritik«, 74-82. 2 D. Schwemer, Wettergottheiten Mesopotamiens und Nordsyriens im Zeitalter der Keilschriftkulturen, Wiesbaden 2001. 3 S. hierzu B. Lang, Jahwe, der biblische Gott. Ein Porträt. München 2002, bes. 73-85; M. Fishbane, Biblical Myth and Rabbinical Mythmaking, Oxford 2003, bes. 37-92. ZNT 17 (9. Jg. 2006) 4 B. Albrektson, History and the Gods. An Essay on the Idea of Historical Events as Divine Manifestations in the Ancient Near East andin Israel (Coniectanea Biblica, Old Testament Series I), Lund 1967. 5 S. hierzu J. Assmann, Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa. München 2000. 6 Das ist die von Blaise Pascal in der berühmten Nr. 298 seiner Pensees entfaltete These, s. dazu J. Derrida, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, Frankfurt 1991, 22-28. 7 Daß in Ägypten der König als ein Gott gilt und daß andererseits Götter als Richter, vor allem der Sonnengott und Osiris als Herr des Totengerichts, über die Einhaltung der Gesetze wachen, ändert nichts an der grundsätzlichen Feststellung, daß Recht und Gerechtigkeit zur Sphäre der zivilen Ordnung gehören und nicht zu der von Tabus und Reinheitsvorschriften aller Art umzirkten und ausgegrenzten Sphäre des Heiligen, des Umgangs mit den Göttern. ' E. Otto, Das Deuteronomium, Berlin 1999, konnte zeigen, daß verschiedene Formulierungen des Deuteronomiums geradezu Übersetzungen einer assyrischen Vorlage darstellen, der Treueidverpflichtung auf den Thronfolger Assurbanipal, die Assarhaddon allen Untertanen auferlegte. Otto spricht in diesem Zusammenhang von »subversiver politischer Theologie«. Siehe auch H.U. Steymans, Deuteronomium 28 und die ade zur Thronfolgeregelung Asarhaddons. Segen und Fluch im Alten Orient und in Israel (OBO 145), Freiburg/ Schweiz, Göttingen 1995. 9 Ich brauche nicht zu betonen, daß diese Deutung des frühen Judentums oder wie immer wir das, was sich da im 6. und 5. Jahrhundert herausbildet und in den biblischen Schriften artikuliert, nennen wollen, nicht reduktionistisch gemeint ist, sondern ganz im Gegenteil auf einen umfassenderen Begriff von Gottes-, Welt- und Machtverhältnis abzielt als es unser Begriff von »Religion« normalerweise bezeichnet. Klaus Berger Formen und Gattungen im Neuen Testament UTB 2532 2005, X, 483 Seiten,€ [D] 24,90/ SFR 43,70 ISBN 3-8252-2532-1 Formgeschichte ist eine der zentralen exegetischen Methoden. Der vorliegende Band analysiert das gesamte NT auf seine Formen und Gattungen hin, skizziert ihre Geschichte und unternimmt eine sozialgeschichtliche Einordnung. Auf diese Weise wird die neutestamentliche Form- und Gattungskunde instruktiv in den für sie unverzichtbaren Methodenverbund eingebettet und eröffnet sowohl verschiedene Zugänge als auch neue Perspektiven für die exegetische Arbeit. Der Band liefert eine kompakte Zusammenfassung des Wissensstandes auf diesem Gebiet und ist für Studium und theologische Praxis gleichermaßen geeignetDas Buch steht zwischen den umfangreichen Spezialdarstellungen der paulinischen Theologie und den Kurzeinführungen für einen allgemeinen Interessenlenkreis und erfüllt damit ein Desiderat der deutschsprachigen Fachliteratur. A. Francke ZNT 17 (9. Jg. 2006) Neu bei Mohr Siebeck Ferdinand Hahn Theologie des Neuen Testaments Band 1: Die Vielfalt des Neuen Testaments Theologiegeschichte des Urchristentums 2. durchgesehene und um ein Sachregister ergänzte Auflage 2005. LII, 862 S. ISBN 3-16-148736-2 f'Br€ 49,- Band 2: Die Einheit des Neuen Testaments Thematische Darstellung 2. durchgesehene und um ein Sachregister ergänzte Auflage 2005. XLII, 874 S. ISBN 3-16-148737-0 f'Br € 49,- Band 1 und 2 zusammen. 2005. xcrv, 1736 S. ISBN 3-16-148738-9 Ln€ 219,- Martin Hengel Der unterschätzte Petrus Zwei Studien 2006. Ca. 300 S. ISBN 3-16-148895-4 f'Br ca.€ 25,- (April) Ernst Käsemann In der Nachfolge des gekreuzigten Nazareners Aufsätze und Vorträge aus dem Nachlass Herausgegeben von Rudolf Landau in Zusammenarbeit mit Wolfgang Kraus 2005. IX, 328 S. ISBN 3-16-148747-8 f'Br € 24,- Luther Handbuch Herausgegeben von Albrecht Beutel 2005. XIV, 537 S. ISBN 3-16-148267-0 f'Br € 44,-; ISBN 3-16-148266-2 Ln€ 89,- Plutarch Dialog über die Liebe Amatorius Herausgegeben von Herwig Görgemanns 2006. Ca. 240 S. (SAPERE 10). ISBN 3-16-148811-3 Br ca.€ 25,-; ISBN 3-16-148824-5 Ln ca.€ 50,-(März) Mohr Siebeck Postfach 2040 D-72010 Tübingen Fax 07071 / 51104 e-mail: info@mohr.de www.mohr.de Aktuelle Informationen per e-mail jetzt anmelden unter www.mohr.de/ form/ eKurier.htm 47 Eckart Reinmuth Ist der eine Gott gewalttätig? Fragen an das Neue Testament Die Diskussion um die von Jan Assmann wirkungsvoll erneuerte These, dass zwischen Gottesglauben und Gewalt ein Ursachenzusammenhang bestehe, ist in Bewegung. Vom Monotheismus führte sie über die »mosaische Unterscheidung,< zur »Leidenschaft« des biblischen Gottes, die nun im Kontroversbeitrag für dieses Heft als Quellort religiös begründeter Gewalt benannt wird. Assmanns Generalthese ist nach meinem Eindruck variierbar, aber im Kern konsistent. Sie steht im Kontext beunruhigender Gegenwartserfahrungen, zu denen nicht nur der Terrorismus, sondern auch der nachholende Diskurs über den Holocaust und die Massenmorde der jüngsten Vergangenheit gehören. Assmanns Antwort ist eine Geschichte, deren Sub- Exklusionsprozesse haben die gesamte Antike, auch die ägyptische, geprägt. Sie waren zwar für die Konstruktion kollektiver Identitäten unabdingbar; die Definition der Anderen als anders hatte anthropologischen Rang. Das Christentum stellte jedoch genau diese Voraussetzung in Frage. Das wäre ohne die Gewissheit, dass alle Menschen Adressaten der Liebe Gottes sind, nicht möglich gewesen. Das frühe Christentum lebte nicht von der Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Religion, sondern von der Geschichte, die Gottes Menschwerdung erzählte. Es begriff diese Geschichte als das endgültige Handeln Gottes. Das schloss die Erwartung seines richtenden Handelns ein. Die Gewalttätigkeit Gottes bezieht sich 1m Neuen Testament wie in seitext lautet: Gäbe es die Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Religion nicht, so wäre eine wesentliche Quelle der Gewalt hin- ·~ TROV nen biblischen und frühjüdischen Wurzeln auf die Gewalt und das Unrecht von fällig. Dabei wird die Ambivalenz gesellschaftlicher Gewalt ausgeklammert. Mit den drei Formen ,göttlicher Gewalt<, die Jan Assmann skizziert, gerät leicht die schwierige Frage nach der Legitimation gesellschaftlicher Gewalt aus dem Blick. Angesichts der gegenwärtigen politischen und kulturwissenschaftlichen Diskussionen ist es kaum geraten, diese Frage leichthin abzutun. Sie muss dringend neu gestellt und begründet werden. Mein Kontroversbeitrag bezieht sich indessen auf die grundlegende Leistung der jüdischen und christlichen Tradition, Gewalt Menschen. Aus dem Wissen, dass keine Liebe ohne Nein zu denken ist, wurde jedoch immer wieder die Gewalt derer, die die Liebe zum Gesetz machten. Ich will das erläutern und der grundlegenden Geschichte nachgehen, die das Neue Testament prägt. Das letzte Buch der Bibel bringt die Hoffnung zum Ausdruck, dass Gott sich mit Gewalt gegen alle Ungerechtigkeit durchsetzen wird. Die Bilder dieser Erwartung endgültiger Gerechtigkeit sind anstößig; die Radikalität dieses Denkens macht erschrocken. Es ist schwer geworden, sie mit dem liebenden Handeln eines gütigen und vergebenden Gottes zusammen zu als zentrales anthropologisches Problem benannt zu haben. Im Neuen Testament geht es nicht um die Entfesselung religiös definierter Gewalt, sondern um ihre Brechung. Gewalterzeugende »Aus dem Wissen, dass keine Liebeoh.ne Nein zu denken ist, wJrde jedoch immerwieder die Gewalt derer, die die Liebe zum Gesetz machten.« denken. Die Christen, deren Hoffnungen sich in der J ohannesoff enbarung artikulieren, haben sich der Frage gestellt: Was kann, was wird Gott angesichts der Rettungs- Techniken wie die des Ausschließens und Ausgrenzens anderer Menschen werden dabei nachhaltig in Frage gestellt und unterminiert. 48 losigkeit menschlichen Handelns tun? Die Radikalität des letztgültigen Handelns Gottes entspricht der erfahrenen Totalität und Absurdität menschlicher Ungerechtigkeit. ZNT 17 (9. Jg. 2006) Eckart Reinmuth Prof. Dr. Eckart Reinmuth, 1951 in Rostock geboren, studierte Evangelische Theologie in Greifswald, wurde 1981 in Halle promoviert und habilitierte sich 1992 in Jena. Er war Gemeindepastor in Mecklenburg und Professor für Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Naumburg und der Universität Erfurt. Seit dem Sommersemester 1995 lehrt er an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock. Seine Hauptforschungsgebiete si11d die antik-jüdische Literatur und ihre Hermeneutik sowie moderne Literatur- und Geschichtstheorien in ihrer Bedeutung für die Auslegung des Neuen Testaments heute. Veröffentlichungen unter: http : / / w.ww. theologie. uni-rostock. de/ reinmuth.htm. Letzte Buchveröffentlichungen: Hermeneutik des Neuen Testaments (UTB 2310), Göttingen 2002; Neutestamentliche Historik ~ Probleme und Perspektiven (ThLZ.F 8), Leipzig 2003; Paulus, Gott neu denken (BG 9), Leipzig 2004; Der Brief des Paulus an Philemon (ThHK 11/ II), Leipzig 2006; Anthropologie im Neuen Testament (UTB 2768), Tübingen 200ti>. Seine Gerechtigkeit ist nicht als tolerantes Geltenlassen von Unmenschlichkeit und Unterdrückung denkbar. Die Hoffnung auf den Gott, der jede Inhumanität und Ungerechtigkeit beseitigen wird, wurde zum heuristischen Prinzip für das Erkennen der Gegenwart. In der J ohannesoff enbarung kommunizieren Menschen miteinander, die Tod und Verfolgung in Kauf nehmen und ihr Leiden in die Erwartung katastrophischer Vergeltung transponieren. Aber sie leben um dieser Transposition willen gewaltlos. Das Zentrum der Offenbarung ist nicht die Gewalt der Bilder, sondern die Gewaltlosigkeit des Lammes (Offb 5), in der sich die Gewalt- und Ohnmachtserfahrungen der Glaubenden spiegeln. Sie ist in der Perspektive ZNT 17 (9. Jg. 2006) Eckart Reinmuth Ist der eine Gott gewalttätig? des Autors die Genesis der Menschlichkeit. Sie ermöglicht es, den Schrecken der Gegenwart ins Auge zu sehen. Nur in dieser Perspektive lässt sich das Gemenge von Gewalt und Gewaltlosigkeit in den Bildern der Offenbarung entziffern. Die Kernmetapher dieses Gottes, die die tödliche Erfahrung unrechter Gewalt versinnbildlichte, war das geschlachtete Lamm. Ihm, nicht einer himmlischen Armada, war am Kreuz alle Gewalt übertragen worden. Hier hing ein Gewaltloser, der in einem Gewaltexzess getötet worden war. Diese denkwürdige Ersetzung landläufiger Gewalt durch ihr Gegenteil gehört zum Grundnenner aller neutestamentlichen Schriften. Es war eine Permutation, die bis heute als anthropologische und ethische Herausforderung wirkt. Sie entspricht einer Bewegung, die mit dem gedachten Anfang der Geschichte einsetzt. Von den ersten Erzählungen der Bibel an geht es um Gewaltbegrenzung unter Menschen, für die Gott selbst einsteht (Gen 4,1-16). Sie ist scharf mit der ständig eskalierenden Gewalt der Menschen kontrastiert (Gen 4,23f.). Die Erinnerung an die Leidenschaft Gottes, auf die Jan Assmann als maßgebliche Gewaltquelle verweist, wird im Neuen Testament in denkwürdiger Weise aufgenommen. Im Johannesevangelium wird die tödliche Konsequenz, die Jesus sich mit seiner zeichensetzenden Tempelaktion gleich zu Beginn seines Auftretens einhandelt, mit Hilfe eines Zitats aus den Psalmen interpretiert (Ps LXX 68,10). »Die Leidenschaft für dein Haus wird mich fressen«, so nimmtJoh 2,17 das Psalmwort auf und deutet es, ins Futur gewendet, als memento passionis ein Motiv, das im Johannesevangelium auch auf die Glaubenden ausgedehnt wird (vgl. z.B. Joh 15,18ff.). Sie verstehen sich in Analogie zum Geschick J esu als Opfer, nicht als Ausübende ungerechtfertiger Gewalt (vgl. auch Joh 16,2; s.u.). Wie Jesus, den das Johannesevangelium >Gott< nennt (20,28; vgl. 1,1.18), erfahren sie darin »die Gewalt, die das Recht braucht, um wirksam zu werden« (so Jan Assmann in seinem Beitrag). Bereits die Theologie des Paulus reflektiert radikal und folgenreich, wie diese Gewalt in der Kreuzigung Jesu wirksam wird. Im Neuen Testament trifft die Gewalt des Gesetzes Gott selbst. Im Matthäusevangelium wird der Weg Jesu konsequent als ein Gewaltverzicht gedeutet, der 49 Kontroverse in der Geschichte des Gottes Israels gründet. J esu Weg unterscheidet sich grundlegend von der öffentlichen Gewaltanwendung, die das Handeln der Herrschenden kennzeichnet (vgl. Mt 20,25- 28); er führt nicht nur ans Kreuz, sondern in den expliziten Verzicht auf jede Anwendung von Gewalt (Mt 26,52f.). Dieser Verzicht ist freilich kein Zufall, keine Augenblicksentscheidung. In ihm vollzieht sich die in den Schriften Israels vorgezeichnete Geschichte Gottes (Mt 26,54). Das löst Erschrecken aus und treibt die Jünger stehenden Fußes in die Flucht (Mt 26,56). In der Versuchungsgeschichte war die Entscheidung bereits gefallen: »Bist du Gottes Sohn« mit dieser klugen Kondition wird die zweite Versuchung eingeleitet. Sie besteht darin, dass J esu Identität als des Repräsentanten Gottes durch die Demonstration seiner Macht gesichert werden könnte. Jesus antwortet mit ausdrücklichem Verzicht (Mt 4,5-7). Das kennzeichnet seinen Weg bis zuletzt (vgl. auch Mt 27,39-43). Er wird in seinem Gewaltverzicht als Sohn des Gottes erkennbar, dessen Macht darin besteht, dass er auf sie verzichten kann. Der so genannte Philipperhymnus erzählt die Geschichte J esu Christi als Erniedrigung Gottes bis in den Sklavenstand. Dass ein göttliches Wesen sich so erniedrigt, wurde im antiken Kontext als schockierend empfunden. Freiwilliger Statusverlust galt als Schande. Die Geschichte J esu Christi hingegen erzählte davon, dass Gott auf diesem Wege geradezu Gott wird und sich damit in stärksten Gegensatz zu den Inhabern von Macht und Gewalt begibt (vgl. Phil 2,9-11) ein Gott für Sklaven, ein Gott für Ausgegrenzte, für >überflüssige Menschen< und Herrenlose (1Kor l,26ff.), und deshalb ein Gott für Sklaven und Herren, für Juden und Nichtjuden, Männer und Frauen (vgl. Gal 3,28; dazu 1Kor 12,3; Kol 3,11). Darum kann der Autor des Epheserbriefes Jesus Christus als den Niederreißer von Grenzzäunen verstehen und ihn ,den Frieden< nennen (Eph 2,14). Seine Geschichte bedeutete nicht den Ausschluss anderer Menschen, sondern der Gewalt als menschlicher Handlungsoption. Hier, in dieser narrativen Transformation des Gottes Israels, liegt der ursprüngliche Anstoß, den der christliche Glaube in der antiken Welt auslöste. Er legte mit seiner Gottesgeschichte nicht nur den Daumen auf das Gewaltpotential kollektiver Ausgrenzungsprozesse, sondern auch auf den anthropolo- 50 gischen Zusammenhang von Leiden und Gewalt. Leidkompensation und -prävention wurden als bestimmende Motive menschlicher Gewalt aufgedeckt und entkräftet. Das Entmachtende der Identifikation Gottes mit Jesus von N azareth zielt darauf, dass Menschen ihre Macht über andere Menschen fahren lassen. Sie zielt auf eine neue Begründungslogik des Menschseins, die die Frage der Gewalt einschließt. Das entstehende Christentum sah sich einer doppelten Ausgrenzung gegenüber. Gemeinsam mit dem Judentum stand es im Verdacht, jenseits der Grenzen des religiös Tolerierbaren zu stehen. Vom Judentum unterschied es sich jedoch nicht nur darin, dass seine Existenz mit zunehmender Selbständigkeit immer riskanter wurde, sondern auch darin, dass seine radikale Interpretation der Geschichte des Gottes Israels abgelehnt wurde. Die partielle Gewalttätigkeit der hellenistischrömischen Religiosität gegenüber dem Christentum hatte da ihre Wurzel, wo sie sich als Religion in Frage gestellt sah. Sie war es, die den Vorwurf der superstitio oder des Atheismus auf das Christentum übertrug und es damit zu einer ,Gegenreligion< werden ließ. Der universalistische Geltungsanspruch, den das frühe Christentum vom antiken Judentum übernahm, wurde transformiert. Es folgte damit dem Anstoß Jesu, der sich in provokativer Weise den Ausgegrenzten Israels zugewandt hatte, um an ihnen zeichenhaft die Adressierung der Liebe Gottes deutlich zu machen. Sein Handeln bedeutete Integration, nicht Ausgrenzung. Das frühe Christentum verstand die Liebe Gottes inklusiv; sie galt allen Menschen, insofern sie vor Gott den Ausgegrenzten Israels glichen. Damit wurde jede anthropologisch konstruierte Exklusion unterlaufen und eine wesentliche Quelle von Gewalt aufgedeckt. Antike Gesellschaften wie die griechische und römische definierten sich durch Ausgrenzung des Fremden. So beruhte etwa die Entstehung und Begründung der antiken Sklaverei auf der Ausgrenzung der Nichtgriechen, der Barbaren. Die Modelle von Universalität, die in der hellenistisch-römischen Antike entwickelt wurden, basierten auf einer politischen Anthropologie, die Menschsein so definierte, dass gesellschaftliche Identitäten durch Grenzziehungen entwickelt werden konnten. Sie wurden mit höchsten Autorisierungen legitimiert, die die Definition des ZNT 17 (9.Jg. 2006) Anderen, des Fremden, des Nichtmenschen sicherten. Das frühe Christentum knüpfte bei denjenigen Interpretationsleistungen des antiken Judentums an, die dazu führten, dass die biblischen Schriften nicht exklusiv, sondern inklusiv verstanden werden konnten. Sie galten allen Menschen, sie bildeten Menschsein ab, und sie verkörperten die Erwartungen Gottes gegenüber allen Menschen. Die Geschichte J esu Christi setzte die Geschichte des Gottes Israels fort und brach sie zugleich. Ihre Kraft unterschied sich radikal von der imperialen Gewalt, die auf der politischen Anthropologie der Ausgrenzung basierte. Ihre Adressaten waren von Beginn an die Ausgegrenzten, und ihr Inhalt war der Gott, der durch seine Zuwendung selbst zum Ausgegrenzten wurde (vgl. z.B. Hebr 13,11-13). Hier entstand eine neue Universalität. Ihr Ausgangspunkt war keine politische Anthropologie, sondern die entwaffnende Logik einer bedingungslosen Liebe. Wo sie jedoch konditioniert, unterbrochen, versagt wird, entsteht eine Grenze, die Menschen trennt (vgl. z.B. Mt 18,23-35). Bereits das Neue Testament zeigt, dass das frühe Christentum auf verschiedene Weise versuchte, seine Grenzen zu bestimmen. Im Prozess des Ausgrenzens de-finiert sich die ausgrenzende Gruppe: Sie bestimmt ihre Grenzen im Gegenüber zu anderen Menschen. Das kann zur unterschiedlichen Zuschreibung von Werten führen, bei denen die eigene Überlegenheit konstruiert wird; ihr steht die Abwertung der anderen gegenüber. Gerade diejenigen Werte werden den Ausgegrenzten abgesprochen, auf die man selbst stolz ist. Dieser Prozess ist kein speziell christlicher oder religiöser. Er kennzeichnet vielmehr eine Wir können gar nicht anders, als bei der Verwendung solcher Begriffe unsere eigenen Voraussetzungen in Anschlag zu bringen, sollten aber die Ontologisierungs- und Autorisierungsprozesse in der Frühzeit des Christentums berücksichtigen, die entscheidend in die Bildung eines modernen, >nachaufgeklärten< Begriffs von wahrer und falscher Religion eingegangen sind. Wahrheit hat im Neuen Testament nicht den Charakter einer ontologischen Unterscheidung, sondern einer sich ereignenden Befreiung. Sie realisiert sich nicht inquisitorisch, sondern entwaffnend, nicht verurteilend, sondern schöpferisch. Zur Identitätskonstruktion des Christentums gehört auch die tendenzielle Rücknahme der Anstöße, die mit der Jesus-Christus-Geschichte verbunden sind. Hatte Jesus die Konditionierung der Rettung, wie sie der Täufer vertrat, in den Wind geschlagen, so wurde gerade diese Bedingungslosigkeit des rettenden Handelns Gottes tendenziell wieder rückgängig gemacht. Der Glaube selbst wurde zur Bedingung (vgl. z. B. Mk 16,16). Damit sind der Interpretation des Neuen Testaments kritische Fragen aufgetragen: Wenn der Weg Gottes so konsequent in die Gewaltlosigkeit führt, wie ist dann die Gewalttätigkeit mancher Texte zu verstehen, die diesen Weg bezeugen? Was bedeutet es, dass Menschen verunglimpft und diskriminiert werden, weil man sie außerhalb der Grenzen der Gemeinde sieht? Wie kommt es, dass der Identitätsdiskurs des frühen Christentums zur Gewalt führte, die zwischen eigenem Tun und dem in den Texten bezeugten Handeln Gottes nicht unterschied, sondern diese Texte zur eigenen Legitimation instrumentalisierte? Das Problem der Gewalt beginnt im Christentum weniger mit der Unter- Grundproblematik menschlicher Kulturen. Das Christentum hat daran im Zuge seiner vielen Akkulturationsprozesse in unterschiedlichsten Formen teil. Diese Vorgänge müssen beachtet und in historischer Perspektive analysiert werden. »Das Problem der Gewalt scheidung zwischen wahr und unwahr, sondern in der Ontologisierung von Offenbarung und der Fiktionalisierung von Autorität. Sicher das grundstürzend Neue, das eigentlich Undenkbare, also Unerfindliche, konnte nur als Die Unterscheidung zwibeginnt im Christentum weniger mit der Unterscheidung zwischen wahr und unwahr, sondern in der Ontologisierung von Offenbarung und der Fiktionalisierung von Autorität.« schen wahr und falsch, wahrer und falscher Religion, stellt sich jedoch aus heutiger Sicht völlig anders dar als vor 400, 1.400 oder 2.400 Jahren. Offenbarung kommuniziert werden. Aber aus der Offenbarung als Kommunikationsform wurde ein Monopol. Die Texte des Neuen Testaments standen ursprünglich wie ZNT 17 (9. Jg. 2006) 51 andere antike Texte in Diskursen, in denen autorisierte, durch Offenbarung legitimierte Interpretation gegen solche mit gleichem Anspruch auftrat. Dabei spielt die Autoritätsfiktion eine wesentliche Rolle. Prozesse wie Konservierung, Biographisierung, pseudonyme Textproduktion und Kanonisierung führten zunehmend dazu, die Texte des Neuen Testaments mit der Geschichte Jesu Christi zu identifizieren. Diese Prozesse reicherten ein Gewaltpotential an, das in der Geschichte der Kirchen zu verheerenden Auswirkungen kam. Die als Prophetie geäußerte BefürchtungJoh 16,2 >dass jeder, der euch tötet, meinen wird, Gott damit einen Dienst zu tun<, die so ganz anders gemeint war, wurde zum Nenner christlicher Gewaltanwendung. Gott wurde nicht nur Mensch, seine Geschichte wurde auch Text. Der Menschlichkeit seiner Offenbarung entspricht die Menschlichkeit ihrer Interpretation. Er gab sich in die Hände von Menschen das ist das entscheidende Signal am Beginn seines Weges in die Passion (Mk 9,31). Markus macht deutlich, dass die Geschichte Gottes auf sehr »menschliche« (vgl. Mk 8,33b; Ernst Barlach, Der göttliche Bettler. Aus dem Zyklus ,Wandlungen Gottes< von 1921 (Ernst Barlach. Gestaltung Henry Götzelmann. Mit einem Essay von Willy Kurth, Berlin 1985, Abb. 99) Testament ihren eigenen Widerspruch, ihre Treulosigkeit, ihren Verrat, ihre Verhärtung und Blindheit wiedererkennen. Sie ist nicht nur auf Vergebung angewiesen, sondern auch verpflichtet, sich immer neu von der Geschichte Jesu Christi bewegen zu lassen. Viel zu lange hat eine dogmatisch konstruierte Kanonautorität verhindert, dass das nach innen vgl. Mt 16,23b) Reaktionen stieß. Es ist nur zu verständlich, auf den Weg, den Gott zum Menschen wählte, mit Ablehnung und Unverständnis zu reagieren. Es war der Weg seiner Menschwerdung. Aber die Macht, auf die dieser Gott als Mensch verzichtet » Viel zu lange hat eine dogmatisch konstruierte und außen gerichtete Gewaltpotenzial neutestamentlicher Schriften kritisch interpretiert wurde. Das kann nur eine Ethik der Interpretation leisten. Sie muss nicht nur die Nachgeschichten der Texte im Auge haben, sondern mit den anthropologischen Per- Kanonautorität verhindert, dass das nach innen und außen gerichtete Gewaltpotenzial neutestamentlicher Schriften kritisch interpretiert wurde.« hatte, wurde ihm von Menschen wieder umgehängt (vgl. dazu J oh 6, 15). Menschen sind es, die seiner Geschichte glaubten. Sie zeigten dabei von Anfang an, wie sie Menschen sind mit allen Ambivalenzen, mit ihrer Gewalt- und Liebesfähigkeit. Die Ambivalenzen des Menschen werden im Neuen Testament vielfältig thematisiert. Es zeigt kein Wunschbild, sondern Menschen in ihrer Widersprüchlichkeit. Es enthält nicht nur Zustimmung, sondern auch Abgrenzung, nicht nur Güte, sondern auch Aggression, nicht nur Vergebung, sondern auch Verurteilung. Die Aufnahme auch dieser Widersprüche in den Kanon des Neuen Testaments erfordert die anhaltende Kritik seiner Interpretationen. Der Kirche erwuchs mit dem Kanon ein Anstoß unaufhörlicher Selbstkritik. Sie kann im Neuen 52 spektiven der Jesus-Christus- Geschichte eine Hermeneutik in Anschlag bringen, die hinreichende, theologisch reflektierte Kriterien enthält. Mit der Unterscheidung zwischen Gott und Mensch war der jüdischen und christlichen Tradition von Beginn an das Verbot der Instrumentalisierung Gottes auferlegt. Der Vorwurf, dass Menschen sich Gottes bedienen, ist in jüdischer und christlicher Perspektive identisch mit dem, dass sie ihn nicht kennen. Im Instrumentalisierungsverbot wurzelt das selbstkritische Potenzial des christlichen Glaubens, das auf Selbstaufklärung dringt und reflektierte Verantwortung einfordert. Deshalb gilt es, das humanum unserer Traditionen gegen das wirkmächtige Spiel ihrer Ambivalenzen aufzubieten. Darin stimme ich Jan Assmann zu. ZNT 17 (9.Jg. 2006) Michael Schneider »Hast du gehört, Armageddon ist da« 1 Rezeption biblischer Texte und Motive in ausgewählten Texten Xavier Naidoos »You're a song written by the hands of God« 2 - Popmusik und Theologie Man könnte annehmen, mit diesem Artikel werde auf gewisse Art und Weise ein Klischee gepflegt: Deutschsprachige Popmusik als Teil populärer Gegenwartskultur, dazu noch mit offensichtlich biblisch motivierten Texten eine wahre Fundgrube für theologische Studien, die sich mit Religion im Rahmen der Alltagskulturen auseinandersetzen. Dass es solche Veröffentlichungen im Bereich der Theologie gibt, wurde schon im Februar 1999 mit Blick auf die Songtexte Xavier Naidoos von der Musikzeitschrift Rolling Stone kommentiert: » Von Religionslehrern dankbar rezipiert, werden sie zu Interpretationszwecken im Unterricht eingesetzt. ,Deinen Namen trägt mein Herz./ Dein Fehlen ist mein Schmerz' bei derartigen Textzeilen, entnommen aus der aktuellen Single >Führ mich ans Licht<, glüht das Theologenherz und der Lehrkörper erreicht wieder seine Schäfchen. Alles mittels Rödelheimer Popkultur.«3 Einige einleitende Bemerkungen scheinen angebracht, wenn nun das Spannungsfeld zwischen Popmusik mit biblischen Bezügen und Theologie im Rahmen einer exegetischen Zeitschrift bearbeitet wird. Denn: »Was haben Theologen davon, wenn Bruce Springsteen von seinem >hungrigen Herzen< singt, wenn Sting den Erlöser dafür anklagt, daß er so unüberwindlich fern bleibt? Wenn R.E.M. den Verlust der Religion besingen und Van Morrison die Möglichkeit letztgültiger Klarheit in spirituellen Dingen verneint, was heißt das für die Theologie? Sind es nur kleine Zeichen der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen, wenn Peter Gabriel die Sintflut erwartet und Prince im Liebesabenteuer einen Funken der göttlichen Offenbarung verspürt? Oder kann man sehr viel mehr daraus lernen? « 4 Diese allgemeine Frage mit Bezug auf die Theologie gilt es mit Blick auf die Exegese im Besonderen zu stellen. Bei näherem Hinsehen ergeben sich für die Untersuchung wenigstens zwei ganz prinzipielle ZNT 17 (9.Jg. 2006) Problemfelder: I. In welchem Zusammenhang kann die Analyse populärer Musik Aufgabe der Exegese sein? Welches Verständnis von den Aufgaben der Bibelwissenschaften liegt einer solchen Untersuchung zugrunde? II. Welche (methodischen) Probleme ergeben sich bei einer solchen Untersuchung? Ad 1: Gerade in jüngerer Zeit sind einige Arbeiten im Bereich der Theologie erschienen, die sich mit der Rezeption christlicher Motive im Bereich Film, Videoclip und zeitgenössischer Musik auseinandersetzen. Diese sind i.d.R. im Bereich der Praktischen Theologie bzw. Religionspädagogik angesiedelt; exegetische Arbeiten, die die Rezeption biblischer Texte in zeitgenössischen Kontexten untersuchen, gibt es im deutschsprachigen Raum nur wenige. Somit ist für zeitgenössische Rezeptionen biblischer Texte im Allgemeinen wie für populäre Musik im Speziellen wohl die Diagnose Helmut Utzschneiders zutreffend: »Es könnte aber auch sein, daß die Exegese auf einem Auge, dem historischen, sehr scharf sieht, auf dem anderen Auge, dem ästhetischen und dem rezeptionsästhetischen, aber nahezu blind ist, dann wäre der Akzeptanzverlust ein Indikator für ein Theorieproblem der Exegese selbst. [... ] Erfreulicherweise findet nahezu jedes antike Inschriftenfragment alsbald seinen Weg in die wissenschaftliche Öffentlichkeit; moderne Rezeptionen atl. Texte werden durch die Wissenschaft hingegen kaum zur Kenntnis genommen.« 5 Es ist nicht Aufgabe dieses Artikels, dezidiert eine weitere Position in die Diskussion um Aufgaben und Perspektiven der Bibelwissenschaften einzubringen.6 Die Folgerungen Utzschneiders aus seiner Diagnose deuten jedoch an, wie eine solche Zielbestimmung aussehen könnte und in welcher Form auch Bibelrezeptionen der populären Kultur für die Exegese interessant sein können: »Indem sie [die Exegese, M.S.] sich der beschreibenden Wahrnehmung des Textes, und zwar auch und gerade des vorliegenden Textes, sowie der Rolle seiner Leser bei der Bedeutungskonstitution 53 und zuwendet, ist die Exegese zunächst eine literarisch-ästhetische Disziplin. Gleichwohl bleibt die Exegese immer auch historisch. Sie ist es aber nicht nur im Blick auf die Entstehungskontexte der Hebräischen Bibel, sondern für alle Kommunikations- und Rezeptionskontexte. Sie reicht somit als historische Disziplin von den ersten erreichbaren Lesern bis zu den gegenwärtigen Rezipienten und Interpreten. Das heißt, daß die Rezeption biblischer Texte mehr als bisher auf die Agenda der atl. Exegese zu setzen wäre. Daraus ergeben sich Schnittstellen zur gegenwärtigen kontextuellen Lektüre und Applikation der Texte, aber auch Verbindungen zu den anderen theologischen Diszplinen.« 7 Mit dieser Zielbestimmung kann es also auch Aufgabe der Bibelwissenschaften sein, Popmusik der Gegenwart kritisch zu untersuchen. Exegese als so verstandene »literarisch-ästhetische Disziplin« könnte sich im ergänzenden Gegenüber zu anderen theologischen Disziplinen, aber auch zur Musikwissenschaft und pädagogik intensiver mit den jeweils zugrunde liegenden Texten und v.a. mit unterschiedlichen Rezeptionen biblischer Texte befassen. Noch mehr und über die von Utzschneider genannten Felder hinaus kommen zeitgenössische Rezeptionen biblischer Texte ins Blickfeld der Exegese, wenn man die Ergebnisse der verschiedenen (exegetischen) Beiträge zur Intertextualitätsforschung der letzten Jahre mit bedenkt. 8 Unabhängig von allen Versuchen, das Paradigma Intertextualität für spezielle Textuntersuchungen in ein methodisierbares Konzept zu überführen, bietet die grundlegende Definition zunächst einmal auch eine Basis für Untersuchungen wie die vorliegende: »Indem Texte auf vielerlei Weise einander bedingen und miteinander verzahnt sind, wird deutlich, daß ein Text niemals ganz autonom sein kann, sondern immer in ein Geflecht von Beziehungen zu anderen Texten eingebunden, immer selbst Intertext ist. « 9 Dieses »Geflecht von Beziehungen« kann Untersuchungen neutestamentlicher Texte im Rahmen der verschiedenen biblischen Kanones, im Gegenüber zu anderen Texten des 1. und 2. Jahrhunderts, aber auch im Vergleich zu verschiedenen Rezeptionen bis in die Gegenwart motivieren. Dabei kann die Disposition zu einer intertextuellen Beziehung bereits durch die Textproduktion angelegt sein, das Herstellen bestimmter Bezüge geschieht aber immer 54 durch die die jeweilige Rezeption bestimmende Enzyklopädie. So geht beispielsweise bereits eine Betrachtung neutestamentlicher Texte im Rahmen des biblischen Kanons oftmals über die ursprünglich historischen Beziehungen der Einzelschriften hinaus. Obwohl sich eine Untersuchung zur Rezeption biblischer Texte im 21. Jahrhundert noch weiter von diesem ursprünglich historischen Kontext entfernt, ist sie aus wenigstens zwei Gründen sinnvoll und geboten: Erstens nimmt sie das Konzept der Intertextualität in seiner Weite ernst und benutzt es nicht lediglich als modernen Anstrich überkommener exegetischer Untersuchungen. Zweitens leistet eine solche Untersuchung einen Beitrag zur Erarbeitung der enzyklopädischen Voraussetzungen, also der Deutungsfolien für zeitgenössische Bibelrezeptionen. Ad II: Wenn im Folgenden also nach einigen biographischen Bemerkungen ausgewählte Liedtexte Xavier Naidoos bzw. seiner Gruppe Die Söhne Mannheims aus jüngster Zeit betrachtet werden, dann liegt der Fokus dabei auf der Frage nach Rezeption und Verarbeitung biblischer Texte und Motive. Ein prinzipielles Problem liegt bei dieser Untersuchung allerdings in der Natur der Sache: »Das Verstehen der Rockmusik ereignet sich zunächst im Hören, im Erleben und nicht im Herausarbeiten von Bedeutungsgehalten. [... ] Es genügt nicht, sich auf die Texte zu konzentrieren: Melodie, Harmonie, Rhythmus, Sound usw. sind unvernachlässigbare Aspekte der Gesamtheit eines Rocksongs.,/ 0 Ist also eine exegetische Untersuchung im Sinne einer reinen Textanalyse dem Gegenstand überhaupt angemessen? Diese Frage lässt sich m.E. durchaus positiv beantworten, wenn man einige Einschränkungen bzgl. der Zielsetzung eines solchen Unternehmens bedenkt: Eine reine Untersuchung der Liedtexte wird nicht den Anspruch erheben können, einem Song oder gar der Person eines Künstlers in all seinen Facetten gerecht zu werden, sondern sich vielmehr als kritische Anfrage zu einem Teilaspekt populärer Kultur, nämlich der Rezeption und produktiven Bearbeitung biblischer Texte und Motive verstehen. 2. »Erst kommt Gott, dann lange nichts« 11 - Zur Person Xavier Naidoos Sicherlich lassen sich solche Untersuchungen zur ZNT 17 (9.Jg. 2006) Michael Schneider Michael Schneider, Jahrgang 1977., studierte Evangelische Theologie, Mathematik und Philosophie in Frankfurt am Main und Gießen. Nach der Ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Gymnasien zunächst Wissenschaftliche Hilfskraft, d.ann Wissenschaftlicher Mita: rbeiter für Neues Testament am Fachbereich Ev. Theok>gie der JWG-UniveJ: Sität in Frankfurt. Arbeit an einer Dissertation zur Intertextualität im 1Kor. Weitere Informationen: http: / / www.evtheol.uni-frankfurt.de/ nt/ personen/ schneider Rezeption biblischer Texte und Motive auch am Beispiel anderer Künstler durchführen. Im Rahmen der deutschsprachigen Popmusik nimmt jedoch Xavier Naidoo eine gewisse Sonderstellung bzw. Vorreiterrolle ein. Es gibt nur wenige Künstler in der deutschen Musikszene, die in ihren Songtexten so intensiv und so umfassend auf die Bibel zurückgreifen und darüber hinaus ihre religiöse Überzeugung immer wieder an die Öffentlichkeit bringen wie das Naidoo z.B. mit seinem persönlichen »Bekehrungserlebnis« getan hat: »Die Änderung kam von '92 auf '93 ganz kraß: Da hab ich Zivildienst gemacht, Behindertenfahrdienst. Silvester hatte ich von zehn bis zwölf Uhr keine Fahrt, und da hab ich mich halt hingesetzt, Bob Marley gehört und in der Bibel gelesen. Ich hatte so 'ne Kerze mit der Jahreszahl drauf, hab die Bibel auf genau der Seite aufgeschlagen; das waren die letzten Worte des zweiten Petrus-Briefes, und ich habe dann weitergelesen bis weit in die Offenbarung hinein. Und da war mein Leben auf einmal verändert seit dem Tag denke ich an nichts anderes mehr als an diese Sache. [... ] Weißt du, das kann immer nur komisch klingen, wenn ich jetzt ins Detail gehen würde über diesen Abend [... ] Ich kann nur ZNT 17 (9. Jg. 2006) Michael Schneider »Hast du gehört, Armageddon ist da« sagen: Andere würden behaupten, sie seien erleuchtet worden das ist mir alles viel zu groß. Ich will nicht sagen, daß mir Gott begegnet ist, ich kann nur sagen, daß in der Bibel der Typ mit mir spricht. Fertig. Und wenn der Typ mit mir spricht, dann muß an der Sache auch was dran sein. Und ich habe dann weitergelesen und habe dann so viel Zeug entdeckt, von dem ich sagen muß: Das haben die alle mir immer verschwiegen! In all den Jahren, in denen ich in die Kirche gegangen bin, ist mir nie erzählt worden, daß der Johannes eine Offenbarung geschrieben hat, die so kraß ist, daß es dir die Schuhe auszieht. Das Ende wird immer in die Zukunft geschoben, eigentlich sogar in eine andere Dimension. Aber unsere Generation wird das sehen, wir sind in den letzten Tagen.« 12 In dem in lPetr 5,12 genannten Namen »Silvanus« erkennt Naidoo eine direkte Anspielung an den Silvestertag: »Das hat so perfekt gepasst, das hat mich wirklich von den Socken gehauen.«u Nach einigen Jahren als Solo-Künstler (u.a. mit dem sehr erfolgreichen Album »Nicht von dieser Welt«) bringt Naidoo im Jahr 2000 mit der Gruppe Söhne Mannheims deren erstes Album »Zion« heraus. »Inhaltlich ist die Scheibe von vorne bis hinten hochreligiös und missionarisch: eine Art >musikalischer Kreuzzug, für den einen Gott. Das ganze Booklet ist mit Bibeltexten unterlegt. >Wir haben den Göttern abgeschwor'n und geh'n für einen Herrn, lautet ein Titel. Immer wieder tauchen apokalyptische Kampfmotive auf. Und Xavier Naidoo kündigt das Sendgericht Gottes an. Ziel ist es, eine Community derer herzustellen, die angesichts endzeitlicher Zeiten sich zum Guten, zu Gott hinwenden.« 14 Mit den Söhnen Mannheims sieht Xavier Naidoo seine Rolle als apokalyptischer Mahner: »Ich muss ja schon die Leute ein bisschen aufrütteln und schon den Leuten klarmachen, dass das Ende kurz vor der Tür steht, auch wenn es nur das Ende von Neid, Missgunst usw. ist. Aber wir wollen doch, dass alle die Party feiern. 144 000 feiern halt ein bisschen besser. Aber Armageddon ist ganz klar das Ende von Angst, Hass, Neid, Missgunst. Und das Ende ist da.« 15 Aus verschiedenen Perspektiven ist es sicherlich sehr lohnenswert, sich mit der Biographie und bestimmten religiösen Grundüberzeugen N aidoos weiter auseinanderzusetzen. Die beiden 55 Hermeneutik und wesentlichen Grundzüge der Naidooschen Glaubensüberzeugung seine »Berufung« sowie sein besonderes Interesse, mit seinen Liedern vor der bevorstehenden Apokalypse zu warnen sollen für diesen Artikel als Vorbemerkung ausreichen, um einige ausgewählte Songtexte zu analysieren. 3. Exegetische Anmerkungen zu ausgewählten Liedtexten Xavier Naidoos 3.1. Eine zeitgenössische Theologie der Verstockung? - » Vielleicht« I eh verstehe jeden Zweifel, I schätze jeden Glauben hoch, I auch ich misstraue Übereifer./ Es sei am besten jeder froh, mit dem was er glaubt oder I mit dem was er weiß.! Doch der an den ich glaube, I ist auch der den ich preis'. I Refrain: Vielleicht hör'n sie nicht hin, I vielleicht seh 'n sie nicht gut, I vielleicht fehlt ihnen der Sinn I oder es fehlt ihnen Mut. I eh versuche zu verstehn, I was andere in Dir sehn./ Warum sie Kriege anfangen I und in deinen Augen Morde begeh 'n. l Warum sie M enschen dazu zwingen, I an einem Virus zu sterben. l 2000 Jahre nach Dir,! liegt hier alles in Scherben./ (2x Refrain) Vergib mir meine Schuld, I dann wenn ich Dich seh '. I Solange trag ich meine Sünden, I wenn ich schlaf und wenn ich geh'. II eh will keine Versprechen, I die mir Menschen geben, I die sie dann wieder brechen, I so sind Menschen eben! I Alles was zählt, I ist die Verbindung zu Dir I und es wäre mein Ende, I wenn ich diese Verbindung verlier'! (3x Refrain) [CD N oiz, Söhne Mannheims / Universal 2004, Track 2] Der Text selbst enthält kein explizites Bibelzitat, obwohl sich leicht Bezüge zu biblischen Texten herstellen lassen. Diese biblischen Motive werden aber nicht als Zitat oder mit einem expliziten Verweis übernommen, sondern auch syntaktisch in den Text integriert. Dabei finden sich eine Reihe teils allgemein religiöser Wendungen, teils Rekurse auf spezifisch Christliches, teils Anklänge an biblische Motive und Texte. Auf der allgemein religiösen Ebene bewegen sich Begriffspaare wie Zweifel - Glauben, Glaube - Wissen, während die Frage nach Schuld und Sünde zumindest Begriffe aufgreift, die in christlich-theologischer Sprache eine wichtige Rolle spielen eine Verbindung, die durch die Zeitangabe »2000 Jahre nach Dir« motiviert wird. 56 Sechsmal erscheint der Refrain » Vielleicht hör'n sie nicht hin,/ vielleicht seh 'n sie nicht gut.«, der auffällige Parallelen zu biblischen Verstockungsaussagen enthält: »Und als er allein war, fragten ihn, die um ihn waren, samt den Zwölfen, nach den Gleichnissen. Und er sprach zu ihnen: Euch ist das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben; denen aber draußen widerfährt es alles in Gleichnissen, damit sie es mit sehenden Augen sehen und doch nicht erkennen, und mit hörenden Ohren hören und doch nicht verstehen, damit sie sich nicht etwa bekehren und ihnen vergeben werde.« (Mk 4,10-12) - »Häret und verstehet's nicht; sehet und merket's nicht! Verstocke das Herz dieses Volks und lass ihre Ohren taub sein und ihre Augen blind, dass sie nicht sehen mit ihren Augen noch hören mit ihren Ohren noch verstehen mit ihrem Herzen und sich nicht bekehren und genesen. Ich aber sprach: Herr, wie lange? « (Jes 6,96-11). Das Motiv des Nicht- Hörens bzw. Nicht-Sehens findet sich also analog zu den biblischen Vorlagen auch im Songtext, allerdings mit der einschränkenden Einleitung »vielleicht« sowie erweitert um »vielleicht fehlt ihnen der Sinn/ oder es fehlt ihnen Mut«. Nicht weiter reflektiert wird die Frage, wer Subjekt dieser Verstockung ist. Während bspw. im Jesajatext ganz klar ein Auftrag mit dem Nicht-Hören und Nicht-Sehen verbunden ist(» Verstocke das Herz dieses Volks«), beschreibt der Songtext eine scheinbar festgelegte menschliche Grundeigenschaft sie hören nicht hin, sie sehen nicht gut, sie haben weder Sinn noch Mut. Wenig später wird diese Grundposition bestärkt: Ich will keine Versprechen,/ die mir Menschen geben,/ die sie dann wieder brechen,/ so sind Menschen eben! Die beschriebenen Handlungen bzw. Eigenschaften werden als anthropologische Konstanten beschrieben, die offensichtlich unveränderbar sind. Liest man allerdings den gesamten Text, ergibt sich eine deutliche Gegenüberstellung zwischen dem Subjekt der Aussage (»Ich«) und »die Menschen«. Eine klare Opposition wird aufgebaut: Diejenigen, die Kriege anfangen, Morde begehen, nicht hören und nicht sehen, in biblischer Terminologie die Verstockten einerseits und andererseits der zunächst außen stehende neutrale Beobachter. Dieser erweist sich schließlich auch als derjenige, der um Schuldvergebung bittet bzw. die Wichtigkeit der Gottesbeziehung betont: Alles ZNT 17 (9. Jg. 2006) was zählt,/ ist die Verbindung zu Dir/ und es wäre mein Ende,/ wenn ich diese Verbindung verlier' ! Durch diese konträre Figurenzeichnung wird das Motiv der Verstockung im Vergleich zu Markus oder Jesaja gerade auf den Kopf gestellt. »Das Konzept der Verstockung dient im Markusevangelium nicht einem ausgrenzenden Freund/ Feind-Schema, sondern als pragmatischer Appell an alle Rezipienten des Evangeliums, sich als solche zu erweisen, die nicht verstockt sind.« 16 Auch wenn das Ergebnis mit einer gewissen Vorsicht formuliert wird (»vielleicht«) reiht sich der gesamte Titel mit Blick auf das Verstockungsmotiv in eine ganz bestimmte Auslegungstradition ein: »Verstockt sind in fundamentalistischer Perspektive immer die anderen.<F So sehr sich der Text einerseits biblischer Motive bedient, so wenig wird dieses Aufgreifen und der biblische Gesamtrahmen bestimmter Motive reflektiert. Ob intendiert oder nicht: Der Songtext » Vielleicht« wirkt zunächst wie eine Klage über die Fehlbarkeit menschlichen Verhaltens insgesamt, entpuppt sich auf den zweiten Blick aber als selbstkritiklose Kritik an anderen. Auch die Bitte um Vergebung es Rettung geben./ Hast du gehört, Armageddon ist da./ Nichts ist, wie es ist und nichts bleibt, wie es war. Zu Beginn scheint der Text eine Gleichheit aller Menschen im apokalyptischen Geschehen anzunehmen (»denn jetzt sind wir in der Zange«). Wenig später wird jedoch die besondere Rolle deutlich, in der sich die Produzenten des Titels (! ) selbst sehen: Fast schon überfallartig gehen wir über euch weg./ Erst guckt ihr voll apathisch und dann liegt ihr fett im Dreck./ Weil uns auszubremsen geht halt jetzt leider gar nicht mehr./ Und der Michel im SB, der gibt so einiges her./ Also, duckt euch, Armageddon haben wir fett im Nacken./ Diese Platte haben wir produziert, um das alles zu verpacken,/ dass ihr es in den Schädel bekommt./ Wir werden geschickt von einer höheren Stelle./ Wir bringen Licht und eure dunkle Welt wird hell. Die besondere Dringlichkeit der geschilderten Ereignisse wird im Folgenden deutlich, wenn die apokalyptischen Ereignisse direkt in die Gegenwart datiert werden: »Der Songtext> Vielleicht< wirkt zunächst wie eine Klage über die Fehlbarkeit menschlichen Verhaltens insgesa,mt, entpuppt sich auf den zweiten Blick aber als selbstkritiklose Kritik an der Schuld bleibt in diesem Schema, wenn aus der Matthäus-Vorlage in der 1. Person Plural die persönliche Bitte » Vergib mir meine Schuld« wird. Der vermeintlichen Klage über die Schuldhaftigkeit der Menschheit folgt gerade nicht die inklusive Bitte um Schuldvergeanderen,« Armageddon kommt schnell, noch ein Jahr oder vier./ Scheiß auf die Daten - Armageddon ist hier./ Die Bombe könnt ihr nicht entschärfen./ Armageddon kommt prompt und zerfetzt euch die Nerven./ Da explodiert es, da reißen die Wände./ Dann passiert es, dann kommt das Ende./ Ihr habt scheiß lang gepennt und jetzt wird halt scheiß lang geflennt./ Du weißt ja wohl, dass es gerade um alles geht - Scheißbung, sondern das Gebet eines Menschen, der sich seiner endzeitlichen Rettung sicher ist (»dann wenn ich Dich seh' «). 3.2. Der Beginn der Endzeit - »Armageddon« und »Dein Leben« Mit noch drastischerer, von apokalyptischen Motiven durchsetzter Sprache wird der Zustand der Welt im Titel »Armageddon« (im Original in Mannheimer Dialekt) beschrieben: Armageddon kommt oder ist in vollem Gange./ Macht euch große Sorgen, denn jetzt sind wir in der Zange./ 1 eh bange um mein Leben, denn ich höre von den Beben./ Und nur für 144 000 wird ZNT 17 (9.Jg. 2006) gefühl, / wie Petrus, weil der Hahn dreimal kräht./ Jetzt wird gebetet und gefleht. Der Titel schließt dann wiederum mit dem Gegenüber zwischen Mahnendem und Ermahnten: Guck zu, dass du zu den Auserwählten zählst/ und beim Durchzählen nicht fehlst. I informiere dich. Was glaubst du warum du hier bist? I Oder bist du halt nur ein Zierfisch und glücklich an deinem Stammtisch? / Ich warne dich, jetzt, wo alles abgeht, die Welt so kurz vor knapp steht./ Wo man erntet was man aussät./ 1 eh hoffe nur, dass ihr einseht: Die Welt ist ein Pulverfass/ und es wird zuviel gezündelt./ Wir haben soviel Scheiß gebaut und jetzt kommt der Scheiß gebündelt./ Für ein paar Milliarden Seelen, die sich mit ihrem Zustand herum quälen./ Haben 57 Hermeneutik halt leider keinen Schimmer./ Du scheißt dir in die Hose,/ aber für andere wird es tausendmal schlimmer./ Und Armageddon ist nicht Hollywood - Bruce Willis und so einer.... / Die Nutte Babylon fällt, wie Börse mit Geld./ Es erschüttert die Welt. Wir sind alle geprellt./ Ihr wisst nicht, wie es sich verhält./ Fällt euch nicht auf, dass es anfängt zu enden? / Mein Buch spricht Bände über deinen Scheiß. I Und für mich schließt sich gerade ein Kreis./ Deswegen trete ich lieber leise, aber bei vollem Materialverschleiß. I Reiße dir den Arsch auf/ Wenn du dabei bist dann fährst du hinauf in den Himmel./ Weiß wie ein Schimmel sind deine Gewänder./ Und ich schreibe lieber darüber wie ein Simmel. / Bände über alles was ich aufschnappe./ I eh suche mir aus was ich mir draufpacke / und weiß auf was ich draufkacke. / I eh kacke auf die falschen Lehrer, die scheiß Götzenverehrer./ I eh schicke sie zum Scherer, der Schlachtbank, Armageddon. / Da wird es viele ledern, wie Seiten in Schreddern. Ihr lasst Federn. [CD Zion, Söhne Mannheims / Universal 2000, Track 9] Der Song »Armageddon« liest sich wie eine große Aneinanderreihung biblischer Motive: • Armageddon (vgl. Offb 16,16), • das dreifache Krähen des Hahns (vgl. die Erzählungen der Verleugnung Petri - Mt 26,74parr.) • Himmelfahrts- und Entrückungsmotive (vgl. etwa J esu Himmelfahrt - Lk 24,50-53 oder auch die Entrückung Henochs - Gen 5,22-24) • die 144.000 endzeitlich Erretteten (vgl. Offb 7,4 und 14,1-3) • Irrlehrer und Götzenverehrer (vgl. Mt 24,24parr. sowie über das Ende der Götzendiener Offb 21f.). Bemerkenswert ist insgesamt aber nicht die starke Präsenz dieser Motive im Text die Liste ließe sich noch fortsetzen-, sondern v.a. der radikale Gegenwartsbezug apokalyptischer Geschehnisse. Dabei stehen in Naidoos Songtext nicht nur Aussagen über die Gegenwart neben den biblischen Texten, sondern folgen letztlich einem Schema: biblische Verheißung - Erfüllung im Hier und Jetzt. Mehr noch: Darstellungen, die in den biblischen Texten vergangene Ereignisse schildern (Himmelfahrt, Verleugnung des Petrus) oder in eine nicht genau festlegbare zukünftige Zeit datiert werden (apokalyptische Szenarien), fallen in »Armageddon« zeitlich zusammen, und zwar in der Gegenwart des 21. Jahrhunderts. Dieser Umgang mit neutestamentlichen Texten ist 58 umso erstaunlicher, da die biblischen Schriften, aus denen Naidoo Motive entnimmt, mit Zeitangaben doch eher zurückhaltender operieren. Mk 13,32f. bemerkt ausdrücklich: »Von dem Tage aber und der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater. Seht euch vor, wachet! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist.« Auch die Johannesapokalypse vermeidet eine genaue Datierung und bemerkt lediglich das unmittelbare Bevorstehen der geschilderten Ereignisse: »Dies ist die Offenbarung J esu Christi, die ihm Gott gegeben hat, seinen Knechten zu zeigen, was in Kürze geschehen soll.« (Offb 1,1). Drei Charakteristika prägen das apokalyptische Szenario, das der Song entwirft: • Die Endzeit, »Armageddon« hat begonnen. Die endzeitlichen Geschehnisse sind mit großen Schrecken und dem Ende der kompletten gegenwärtigen Welt verbunden. Biblisch-apokalyptische Bilder illustrieren die beginnenden Schreckensszenarien, ein düsteres Bild wird gezeichnet: Der letzte Kampf hat begonnen, nur (! ) 144.000 werden errettet werden, wir »haben Armageddon im Nacken«, die Menschheit erkennt (wie Petrus) zu spät oder gar nicht den Ernst ihrer eigenen Lage. • Es gibt einige (prophetisch Begabte, Weise, wahre Christen? ), die das bevorstehende und sich Bahn brechende schreckliche Ende erkennen. Diese sehen sich durch diese Erkenntnis in der besonderen Rolle, andere darüber zu informieren: Diese Platte haben wir produziert, um das alles zu verpacken,/ dass ihr es in den Schädel bekommt. I Wir werden geschickt von einer höheren Stelle./ Wir bringen Licht und eure dunkle Welt wird hell. Der Songtext erhebt also selbst den Anspruch apokalyptische Auditionen und Visionen den Hörerinnen und Hörern mitzuteilen. Ein besonderes Gewicht erhalten die Aussagen durch ihre Legitimation von »einer höheren Stelle«. Diese göttliche Sendung wird nur noch überboten durch die Fähigkeit, »Licht in die dunkle Welt zu bringen«, während gerade biblisch-apokalyptische Texte eher dem Tenor von Dan 22,2 folgen und das Licht in unmittelbarem Zusammenhang mit Gott selbst sehen: » Er offenbart, was tief und verborgen ist; er weiß, was in der Finsternis liegt, denn bei ihm ist lauter Licht.« Der Songtext reklamiert somit für sich nicht nur prophetische ZNT 17 (9. Jg. 2006) Weitsicht, sondern nimmt für diese Mission auch einen göttlichen Auftrag in Anspruch. Die verwendete Lichtsymbolik zeigt, dass dabei die Grenze zwischen der Vorstellung einer göttlichen Sendung einerseits und der Übertragung göttlicher Eigenschaften auf diese Gesandten teilweise nicht mehr klar zu ziehen ist. • Die Rettung vor den Schrecken des Endes wird durch den klassischen Tun-Ergehens- Zusammenhang charakterisiert: Guck zu, dass du zu den Auserwählten zählst und beim Durchzählen nicht fehlst. - Wo man erntet was man aussät. Alle Menschen haben ihre Zielbestimmung verfehlt (Wir haben soviel Scheiß gebaut), sie unterscheiden sich nur noch darin, ob sie ihr Fehlverhalten erkennen. Es ist Aufgabe des irdischen Lebens, »sich zu informieren« und darauf zu achten, dass man »zu den Auserwählten zählt und beim Durchzählen nicht fehlt« Die Rettung vor dem schrecklichen Ende wird gerade nicht zu einem Akt der göttlichen Gnade, sondern durch die Auswahl der Texte zur Zielbestimmung des menschlichen Strebens. Der Titel »Armageddon« zeigt noch stärker als » Vielleicht« ein bestimmtes Vorgehen des Textdichters Xavier Naidoo: Biblische Motive, Textpassagen und apokalyptische Bilder führen drastisch vor Augen, dass das Ende der Zeit angebrochen ist. Geschickt werden dabei Differenzen zwischen Alltagssprache des 21. Jahrhunderts und biblischer Sprache überbrückt, indem nicht nur Bibelstellen voll und ganz syntaktisch in den Songtext integriert werden, sondern auch ihr Inhalt radikal in die Gegenwart projiziert wird. Dass gerade in Bezug auf die Datierung apokalyptischer Ereignisse in den Songtexten Xavier Naidoos auch andere Vorstellungen begegnen als in »Armageddon« zeigt ein kurzer Blick auf den Titel »Dein Leben«: Wenn die Zeit es zeigt wird man sehen,/ Ob wir die richtigen Wege gehen./ Die Überlebenszeit ist jetzt, denn die Messer sind gewetzt./ Der Schwätzer hat geschwätzt, die Kampagne hat gehetzt,/ Die Regeln sind verletzt, Überlebenszeit ist jetzt! / Refrain: Kümmer' Dich um dein Leben und dann kümmer' Dich um uns! / Die Schäden können wir beheben, das ist nicht die Kunst./ Wir müssen was bewegen, sonst bewegt sich nix. / Es geht nicht nur um Dein Leben, sondern ob es ein Leben ist./ Mache es Dir nicht so schwer, zu viele Blicke sind ZNT 17 (9.Jg. 2006) schon leer./ Wir stellen die Ordnung wieder her, die keine Ordnung ist./ Gib die Sorgen wieder her, wenn das in Ordnung ist./ Dann lebt jeder wieder mehr und alles ordnet sich./ Hoffnung ist größer als das Meer./ [ ... ] [CD Zion, Söhne Mannheims / Universal 2000, Track 11] Im Mittelpunkt dieses Titels steht die Frage nach dem diesseitigen Verhalten mit Blick auf das Ende der Zeiten nochmals im Vordergrund. Dabei geht es deutlich weniger um einen direkten Tun-Ergehens-Zusammenhang wie in »Armageddon«. Der Aufruf, sich »um sein Leben zu kümmern« steht nicht direkt im Zusammenhang einer Heilszusage für die zukünftige Welt. Vielmehr bleibt die Beurteilung des menschlichen Lebens bis zu einem gewissen Grad offen: » Wenn die Zeit es zeigt wird man sehen, ob wir die richtigen Wege gehen«. 4. Bibeltext und Songtext: Ein Modell zur Skalierung intertextueller Bezüge Wie lässt sich die Rezeption biblischer Texte und Motive in den Songtexten zusammenfassend charakterisieren? Wie verhalten sich biblischer Text und Songtext zueinander? Wie lassen sich diese Bezüge formal und inhaltlich beschreiben? Zur Beantwortung dieser Fragen bietet es sich an, auf Modelle bzw. Methoden zurückzugreifen, die die (litera turwissenschaftliche) In tertextualitätsforschung entwickelt hat, um das Verhältnis zwischen zwei oder mehr Texten möglichst genau zu analysieren. 18 Für diesen Aufsatz soll auf die Terminologie bzw. das Skalierungsmodell des Literaturwissenschaftlers Manfred Pfister zurückgegriffen werden. Er unterscheidet intertextuelle Bezüge einerseits 19 nach quantitativen Kriterien, die in erster Linie »Dichte und Häufigkeit intertextueller Bezüge, zum anderen die Zahl und Streubreite der ins Spiel gebrachten Praetexte« 20 untersuchen und andererseits sechs qualitative Kriterien für solche Text-Text-Bezüge. Hier differenziert er im Einzelnen zwischen »Referentialität (Wird ein Wort oder eine linguistische Struktur verwendet oder wird auf sie verwiesen? ), Kommunikativität (Wie deutlich wird der intertextuelle Bezug beim Autor, beim Rezipienten und im Text selbst? ), Autoreflexivität (Werden intertextuelle Bezüge im 59 Text selbst metakommunikativ diskutiert? ), Strukturalität (Wie werden Praetexte syntagmatisch in den Text integriert? ), Selektivität (Wie prägnant ist der intertextuelle Verweis? ) und Dialogizität (Wie stehen ursprünglicher und neuer Kontext eines Wortes/ Satzes in Spannung zueinander? ),/ ' 4.1. Songtext und biblischer Praetext - Zur Referentialität, Strukturalität und Selektivität Die drei untersuchten Liedtexte greifen eine Reihe biblischer Textpassagen auf, integrieren sie in einen neuen Zusammenhang und bieten so nicht nur eine Relecture alter Texte in neuen Kontexten. Charakteristisch für die Rezeption der Bibeltexte in allen betrachteten Songs sind die fast ausschließliche Auswahl apokalyptischer bzw. endzeitlicher Schreckensszenarien verbunden mit einem sehr wörtlichen Verständnis der Bibeltexte und ihre direkte Beziehung auf die gegenwärtige Zeit. Auf die Bibel wird nicht einige Interviews, dass seine Songtexte durch den Rückgriff auf christliche bzw. biblische Texte klar einem bestimmten Zweck dienen: »Ich dringe mit meiner Musik in die Herzen der Menschen ein. Und was will ich mehr? Ich gebe alles, was ich habe, für die Sache für Gott. [... ] Der einzige Schlüssel, der meine Musik darstellt, ist: Erkenne Gott - und alles wird gut! Ich glaube nicht an den Tod. Mein Glaube wird mich befähigen, den Himmel zu sehen. Warum sterben wir Christen Tag für Tag, wenn Christus den Tod schon vorweggenommen hat? In der Bibel steht ganz klar, dass der Tod nur ein Schatten ist,[ ... ] Wir leben schon im Himmel. Wir haben es nur noch nicht kapiert.« 22 Naidoo sieht das in seinen Songs dokumentierte Gottesbild wohl als Produkt seines intensiven Bibelstudiums: »Ich habe drei Jahre im Alten Testament gelesen. Ich habe es verschlungen. Wow! Jesaja, Jeremia, die zwölf Prophetenbücher, das ist ja eine ganz andere Welt! Sie sprechen immer noch von aktuelverwiesen, aus der Bibel wird nicht zitiert es geht vielmehr um das Unterstreichen der eigenen religiösen Grundüberzeugung und des eigenen religiösen Sendungsbewusstseins durch biblische Motive. Sicherlich zeigt dieser Umgang mit apokalyptischen »Die drei untersuchten Liedtexte greifen eine Reihe biblischer Textpassagen auf, integrieren sie in einen neuen Zusammenhang und bieten so nicht nur eine Relecture alter Texte in len Dingen. Aber ohne Jesus wäre ich nie dazu gekommen.«" Dass diese Bibellektüre auch zu eher außergewöhnlichen Erkenntnissen wie der Gleichsetzung Zions mit der Stadt Mannheim und zu einer Bibelcode-ähnlichen neuen Kontexten.« Schriften einerseits eine große Vertrautheit Xavier Naidoos mit der Bibel verbunden mit der unbedingten Intention, deren zentrale Aussagen auch an das Publikum weiterzugeben. Andererseits geht Naidoo mit der christlichen Überlieferung auch sehr selektiv um und erarbeitet so ein apokalyptisches Szenario, das mit klaren Oppositionen zwischen hell und dunkel, Erkennenden und Verstockten, Geretteten und Verlorenen arbeitet. Biblische Texte, die diesem Bild gegenüberstehen, scheinen in den untersuchten Songs ausgeblendet zu werden. 4.2. Songtext und die Bibelauslegung Naidoos - Zur Kommunikativität und Autoreflexivität Interessant bleibt somit v.a. die Frage, inwieweit der Autor Xavier Naidoo oder die Texte selbst seinen Umgang mit der Bibel kritisch reflektieren. Für den Autor Xavier Naidoo dokumentieren 60 Suche nach verborgenen Zahlenrätseln in biblischen Texten geführt hat, sei hier nur mit einem kurzen Beispiel erwähnt: »Wir waren auf 1541 Metern. Und sobald ich die Zahl 41 höre, denke ich an Jesaja. Weil Jesaja mein Lieblingsprophet ist. Dann habe ich die Zahlen einfach umgedreht und zu meinem Beifahrer gesagt: >Schlag mal auf: Jesaja 41,15<. Er fing dann erst für sich an zu blättern. In einer verängstigten, aufrüttelnden Stimme hat er dann laut gelesen. Die Stelle hieß: >Ich mache Dich zu einem Dreschschlitten. Mit scharfen Zähnen. Berge und Hügel wirst Du dreschen und zu Staub zermahlen.< Mir sind die Tränen in die Augen geschossen.«24 Nach diesem Erlebnis fährt Naidoo durch ein durch Lawinen verwüstetes Tal und zieht direkte Verbindungen zur Jesaja-Stelle: »Die Berghütten und Strommasten lagen, wie zu Staub zerbröselt im Tal [... ] Da wird einem klar, dass Gott nicht nur Gutes, sondern auch solche Momente für uns bereithält.«" ZNT 17 (9. Jg. 2006) So klar die Intention, biblische Texte in der Gegenwart zur Sprache zu bringen, auf Autorenseite erkennbar ist, so wenig findet man in den untersuchten Songtexten eine Reflexion des Bibelgebrauchs. Mehr noch: Die Texte arbeiten mit der unbedingt gesetzten Wahrheit und dem ebenso unumstößlichen Gegenwartsbezug apokalyptischer Szenarien. Dieser Umgang mit den biblischen Schriften wird aber in den Songtexten an keiner Stelle reflektiert oder kritisch hinterfragt. Interessant bleibt somit die Frage, wie die in die Songtexte eingespielten biblischen Motive auf Rezipientenseite wahrgenommen werden. Werden die Lieder Naidoos bzw. der Söhne Mannheims als authentische Zeugnisse biblischer Themen oder als Anregung zur eigenen Lektüre aufgenommen? Verstärken die Texte Zukunftsängste oder regen sie dazu an, sich mit dem eigenen Dasein kritisch auseinanderzusetzen? Und schließlich: Wird der Sänger Naidoo eher als Vermittler biblischer Texte, Prophet, Visionär, Prediger wahrgenommen und welchen Status hat seine ganz spezielle Bibelrezeption bei seiner Hörerschaft? 4.3. Rückblick und Ausblick - Zur Dialogizität Steht also an dieser Stelle zusammenfassend eine negative Kritik Xavier Naidoos und seiner Musik a la »Und die Exegese hat doch recht«? Kommen wir am Ende dieses Artikels doch zu einer klischeehaften Kritik durch die theologische Exegese an der Bibelrezeption innerhalb populärer Kultur? Nein, der Anspruch ist ein anderer und zugleich viel bescheidener: Betrachtet wurden ausgewählte Texte Xavier Michael Schneider »Hast du gehört, Armageddon ist da« ren Texte kontrastiert werden nie in einer einzigen Interpretation auflösen lassen. So sehr es theologische Aufgabe ist, mit dieser Vielfalt möglicher Interpretationen umzugehen, so sehr gilt es, exegetisch begründet Einspruch zu erheben, wenn diese Weite zugunsten einer absolut gesetzten Deutung aufgegeben wird. Durch die Analyse der Songtexte dürfte klar erkennbar sein, dass die Motive, die Xavier Naidoo aus der Bibel für seine Songs auswählt, lediglich einen ganz bestimmten Ausschnitt repräsentieren. Auch wenn man letztlich von keinem Popsong eine exegetisch genaue Detailarbeit am biblischen Text erwarten kann, stellt sich gerade bei Xavier Naidoo die drängende Frage, wie mit der gleichermaßen quantitativ starken und eklektischen Rezeption biblischer Texte theologisch umzugehen ist. Die Untersuchung der drei Songtexte erweckt den Eindruck, dass Naidoo offensichtlich weniger mit der teilweise deutlichen Spannung zwischen biblischem und neuem Kontext spielt, um durch dieses dialogische Gegenüber bestimmte Sinneffekte hervorzubringen. Vielmehr scheint sich in den Songtexten eine Theologie zu manifestieren, die ausgewählte apokalyptische Inhalte gegenüber anderen Themen deutlich hervorhebt, die den Aspekt der Fremdheit biblischer Texte sehr viel weniger berücksichtigt als ihren direkten Gegenwartsbezug und auf dieser Basis die unbedingte Notwendigkeit einer Hinwendung zu Gott besingt. Als Konsequenz dieser Form der Bibellektüre entsteht ein Weltbild, das zwischen Wissenden und Unwissenden, Erkennenden und Verstockten, ja sogar zwischen Geretteten und Verlorenen scharf trennt - Naidoos unter den oben diskutierten hermeneutische Prämissen, die eine reine Textanalyse von Popsongs immer als aspekthaft erschei nen lassen. Das zu Beginn skizzierte Konzept der Intertextualität versucht zunächst »Gerade eine intertextuelle Analyse lehrt aber auch, dass sich (biblische) Texte besonders dann wenn sie mit anderen Texten kontrastiert werden nie in einer einzigen Interpretation auflösen lassen.« immer voraussetzend, dass man selbst zu den ersten gehört. Es ist nicht Aufgabe der Exegese, Phänomene der populären Kultur theologisch umfassend zu analysieren. Gerade mit Blick auf die einmal, diese Songtexte als Rezeption biblischer Motive ernst zu nehmen und ihre Charakteristika und die des biblischen Texts angemessen zu beschreiben. Gerade eine intertextuelle Analyse lehrt aber auch, dass sich (biblische) Texte besonders dann wenn sie mit ande- ZNT 17 (9. Jg. 2006) Rezeption biblischer Texte in der Gegenwart kann sie aber auf Besonderheiten und Probleme hinweisen, die ein solches Aufgreifen im Allgemeinen aber auch in speziellen Zusammenhängen wie hier in den Liedtexten Xavier Naidoos impliziert. Umso drängender wird diese 61 Hermeneutik und exegetische und theologische Aufgabe, wenn als Garant für die Bedeutung und Richtigkeit der getroffenen Aussagen einzelne biblische Schriften oder die Bibel als Ganze herangezogen werden. Die primäre Intention Naidoos, durch die Songtexte biblische Texte in die Gegenwart zu transportieren und dabei auch ihren mahnenden Charakter ernst zu nehmen, mag aus verschiedenen theologischen Gründen nachvollziehbar, ja vielleicht sogar begrüßenswert sein. Exegetisch gilt es aber genauer hinzuschauen, wenn die Lieder zugunsten eines Gegenwartsbezugs die Fremdheit der biblischen Texte nicht ausreichend berücksichtigen, wenn neu- und alttestamentliche Motive ohne Rekurs auf ihren Kontext aufgegriffen werden und wenn die hermeneutischen Grundüberzeugungen, die einer solchen Rezeption zugrunde liegen, fragwürdig erscheinen. Die Wahrnehmung der verschiedenen intertextuellen Bezüge biblischer Texte zu Texten der Gegenwartskultur ist somit auch ein Desiderat exegetisch-theologischer Forschung. Nicht durch Beschränkung auf enzyklopädische Untersuchungen im Umfeld der Autoren und Erstleser, sondern durch diese Erweiterung präsentiert sich Exegese als theologisch-historische Disziplin. 26 Die Lieder Xavier Naidoos bzw. der Söhne Mannheims sind gleichermaßen interessante wie weit verbreitete Dokumente der Gegenwartskultur, die mit intertextuellen Bezügen zu biblischen Texten arbeiten. Als solche eignen sie sich jedenfalls nicht als popkultureller Appetizer, der ausschließlich als Einstiegsmotivation für verschiedene Lerneinheiten im kirchlichen und schulischen Unterricht eingesetzt wirddazu verlangen bereits die Songtexte zu sehr nach einer ausführlicheren exegetischen Diskussion durch Lehrende und Lernende. Anmerkungen 1 Zitat aus dem Titel »Armageddon«; vgl. unten 3.2. Ich danke herzlich Herrn stud. paed. Michael Weber, der mir zur Abfassung dieses Artikels seine Wissenschaftliche Hausarbeit im Rahmen der Ersten Staatsprüfung für Lehramt, v.a. aber auch seine Sammlung aller Liedtexte Xavier Naidoos zur Verfügung gestellt hat. 2 Beginn des Titels »Underneath Your Clothes« der Sängerin Shakira, Album Laundry Service, Sony BMG 2002. 3 Zeitschrift Rolling Stone, Februar 1999, 25. 4 B. Schwarze, »Everybody's Got a Hungry Heart ... «. 62 Rockmusik und Theologie, in: P. Bubmann/ R. Tischer (Hgg.), Pop & Religion. Auf dem Weg zu einer neuen Volksfrömmigkeit, Stuttgart 1992, 187-201. 5 H. Utzschneider, Text - Leser - Autor. Bestandsaufnahme und Prolegomena zu einer Theorie der Exegese, BZ 2/ 1999, 224-238. Zu den wenigen Arbeiten zur zeitgenössischen Rezeption von Bibeltexten zählen: S. Alkier, Wunder Punkt Jesusfilm, Pastoraltheologie 86 (1997), 167-182. Für die deutlich umfangreiche Diskussion im englischsprachigen Raum vgl. z.B. G. Aichele, Kanon als Intertext: Einschränkung oder Befreiung? , in: S. Alkier / R.B. Hays (Hgg.), Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre (NET 10), Tübingen, Basel 2005, 159-178. ' Vgl. neben dem Entwurf Utzschneiders u.a. M. Hengel, Aufgaben der neutestamentlichen Wissenschaft, NTS 40 (1994), 321-357 und U. Luz, Kann die Bibel heute noch Grundlage für die Kirche sein? Über die Aufgabe der Exegese in einer religiös-pluralistischen Gesellschaft, NTS 44 (1998), 317-339. S. Alkier, Neutestamentliche Wissenschaft - Ein semiotisches Konzept, in: Chr. Strecker, Kontexte der Schrift. Bd. II, Kultur, Politik, Religion, Sprache-Text, Stuttgart 2005, 343-360. 7 Utzschneider, Text, 237f. 8 Vgl. zu einer ersten Orientierung M. Schneider, Texte - Intertexte - Schrift. Perspektiven intertextueller Bibellektüre, in: C. Strecker (Hg.), Kontexte der Schrift II. Kultur, Politik, Religion, Sprache, Stuttgart 2005, 361- 376 und den Sammelband S. Alkier / R.B. Hays, Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre (NET 10), Tübingen u.a. 2005. 9 G. Weise, Zur Spezifik der Intertextualität in literarischen Texten, in: J. Klein/ U. Fix (Hg.), Textbeziehungen. Linguistische und literaturwissenschaftliche Beiträge zur Intertextualität, Tübingen 1997, 39-48, hier: 41. 10 Schwarze, Rockmusik, 194f. 11 M. Fuchs-Gamböck/ J.-P. Klotz, Xavier Naidoo. Seine Wege, München 2002, 100. 12 Zitiert nach M. Schröder, »Könnt ihr mich hören? « Gespräche mit Popstars über die religiöse Dimension ihrer Musik, in: G. Fermor/ H.-M. Gutmann/ H. Schroeter (Hgg.), Theophanie. Grenzgänge zwischen Musik und Theologie, 40-77, hier: 47. 13 Fuchs-Gamböck/ Klotz, Naidoo, 52. 14 P. Buhmann, »Die Jesusfalle« oder: »Alles für den Herrn«? Popmusik als Medium von Mission, in: PGP 58/ 1 (2005), 23-27, hier: 24. 15 Die Söhne Mannheims, Zion; Kommentar Xavier Naidoos zum Titel »Armageddon«. 16 S. Alkier, Die Bibel im Dialog der Schriften und das Problem der Verstockung in Mk 4. Intertextualität im Rahmen einer kategorialen Semiotik biblischer Texte, in: S. Alkier / R. Hays (Hgg.), Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre (NET 10), Tübingen u.a. 2005, 1-22, hier: 14. Vgl. zum Thema jetzt auch den Beitrag von V.A. Lehnen, Die >Verstockung Israels< und biblische Hermeneutik. Ein exegetisches Kabinettstückchen zur Methodenfrage, ZNT 16 (2005), 13-19 sowie ders., Die Provokation Israels. Die paradoxe Funktion von J es 6, 9-10 bei Markus und Lukas. Ein textpragmatischer Versuch im Kontext gegenwärtiger Rezeptionsästhetik und Lesetheorie (NTDH 25), Neukirchen-Vluyn 1999. 11 Alkier, Bibel, 13. 18 Vgl. zur Einführung und zum Überblick M. Schneider, Texte, 361-376 und den Sammelband Alkier/ Hays (Hgg.), Bibel im Dialog. 19 M. Pfister, Konzepte der Intertextualität, in: U. Broich/ M. Pfister, Intertextualität. Formen, Funktionen, angli- ZNT 17 (9. Jg. 2006) stische Fallstudien (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 35), Tübingen 1985, 1-30, hier: 30. 20 Ebd. 21 Zusammenfassung nach M. Schneider, »Des vielen Büchermachens ist kein Ende.« Exegetische Anmerkungen zum literaturwissenschaftlichen Begriff der Intertextualität (bisher unveröffentlichtes Manuskript eines Vortrags im Rahmen der IX. Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft neutestamentlicher Assistenten und Assistentinnen an evangelisch-theologischen Fakultäten (AG-ASS). Vgl. als Beispiel zur Anwendung dieser Kriterien in einer exegetischen Studie: M. Grohmann, Aneignung der Schrift. Wege einer christlichen Rezep- Alexander Mittclstaedt Lukas als Historiker Zur IMienmg des luk; misdwn Doppt'lwt•rk('s Anja Cornils Vom Geist Gottes erzählen Ana! yst•n 1.11r ,\pos1dgeschid11l' Narr Ftancke AtteJllpt~ VerJag GmbH+Co.KG Postlac~ 2567 • IJ-72015 Tübingi; n Telefax (07071) 75288 www.francke.de • info@francke.de , ZNT 17 (9. Jg. 2006) Alexander Mittelstaedt Lukas als Historiker Zur Datierung des lukanischen Doppelwerkes Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter Band 43 2006, 271 Seiten, €[0] 59,-/ SFR 100,- ISBN 3·7720·8140·1 Die Ankündigung der Zerstörung Jerusalems im Lukasevangelium gilt allgemein als »vaticinium ex eventu «, weshalb man das Evangelium und die Apostelgeschichte erst nach dem vermeintlichen Eintreten dieser Prophezeiung im Jahr 70 ansetzt. Dabei lieferte die Apokalyptik die entscheidenden Vorlagen; Markus wie Lukas erwarteten eine Zerstörung Jerusalems als Teil der endzeitlichen Geschehnisse. Zudem offenbart die gesamte Gestaltung des Doppelwerkes eine völlige Unkenntnis seines Autors über die Christenverfolgung unter Nero. Stattdessen legen Indizien nahe, dass der Großteil der Arbeit am Doppelwerk während der Gefangenschaft des Paulus in Caesarea (57-59 n.Chr.) geleistet wurde. Anja Cornils Vom Geist Gottes erzählen Analysen zur Apostelgeschichte Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter Band 44 2006, VIII, 283 Seiten,€ [D] 68,-/ SFR 115,- ISBN 3·7720·8156·8 In dieser Arbeit wird der Nachweis erbracht, dass ein biblischer narrativer Text wie die Apostelgeschichte mit den modernen Methoden der Narratologie sinnvoll und äußerst ertragreich exegesiert und interpretiert werden kann. Die mit hoher narratologischer Kompetenz durchgeführte Untersuchung ist nicht nur für Theologen, sondern auch für interdisziplinär arbeitende Philologen und Kulturwissenschaftler von großem Interesse, zumal die zielstrebige Argumentation und die gute sprachliche Gestaltung zur Lektüre einladen. Michael Schneider »Hast du gehört, Armageddon ist da« tion jüdischer Hermeneutik, Neukirchen-Vluyn 2000. Grohmann verwendet die Kriterien nicht nur, sondern unterzieht sie einer kritischen Würdigung. 22 Fuchs-Gamböck/ Klotz, Naidoo, 55. 23 H. Gerwin, Was Deutschlands Prominente glauben, Gütersloh 2005, 154. 24 Fuchs-Gamböck / Klotz, N aidoo, 106. 25 Fuchs-Gamböck/ Klotz, Naidoo, 106. 26 Vgl. wiederum Utzschneider, Text, 237f.: »Gleichwohl bleibt die Exegese immer auch historisch. Sie ist es aber nicht nur im Blick auf die Entstehungskontexte der Hebräischen Bibel, sondern für alle Kommunikations- und Rezeptionskontexte.« Klaus Berger »Tradition und Offenbarung« Studien zum frühen Christentum herausgegeben von Matthias Klinghardt und Günter Röhser 2006, 590 Seilen, gebunden « {DJ14B,-/ SFR 234,- ISBN 3-7720-810! ! '8 Narr F~ancke Attempto- VerJag GmbH+Co.KG Postfach 2567 • D-72015 Tübingen Telefax (07071) 75288 w\vw.francke.de , i11fo@francke.de Aus dem Inhalt: Hartherzigkeit und Gottes Gesetz: Zur Vorgeschichte des antijüdischen Vorwurfs in Mk 10,5 • Materialien zu Form und Überlieferungsgeschichte neutestamentlicher Gleichnisse• Apostelbrief und apostolische Rede. Zum Formular frühchristlicher Briefe• Zum Problem der Messianität Jesu • Volksversammlung und Gemeinde Gottes. Zu den Anfängen der christlichen Verwendung von ekklesia • Almosen für Israel. Zum historischen Kontext der paulinischen Kollekte • Hellenistisch-heidnische Prodigien und die Vorzeichen in der jüdischen und christlichen Apokaliyptik • Die impliziten Gegner. Zur Erschließung von »Gegnern« in neutestamentlichen Texten • Petrus in der gnostischen apokalyptischen Offenbarungsliteratur • Jesus als Pharisäer und frühe Christen als Pharisäer• Henoch • Innen und Außen in der Welt des Neuen Testaments • Jesus als Nasiräer. 63 Walter Dietrich, Moises Mayordomo (in Zusammenarbeit mit Claudia Henne-Ensele und einem studentischen Autorenteam) Gewalt und Gewaltüberwindung in der Bibel. Zürich: Theologischer Verlag, Zürich 2005, 274 S., ISBN 3-290-17341-0, 17,50 € Die im Jahre 2001 vom Ökumenischen Rat der Kirchen ausgerufene »Dekade zur Überwindung von Gewalt« hat nun im aktuellen Jahr ihren Zenit überschritten, und mit gutem Recht kann jetzt schon mit der Wahrnehmung von deren Wirkungsgeschichte begonnen werden. Zu dieser zählt sich in ihrer Genese und in ihrem Selbstverständnis die hier zu besprechende Studie. Was die Genese anbetrifft, so handelt es sich um das Forschungsergebnis eines Seminars über »Gewalt und Gewaltüberwindung in der Bibel« an der Theologischen Fakultät der Universität Bern, das der Alttestamentler Walter Dietrich und der Neutestamentler Moises Mayordomo anlässlich der ausgerufenen Dekade in Kooperation geleitet hatten. Diese Art einer interdisziplinären Zusammenarbeit ist per se schon begrüßenswert und stellte auch im vorliegenden Fall sicher, dass die gesamte Bandbreite des Themenfeldes über die beiden Testamente hinweg tatsächlich berücksichtigt werden konnte. Schon beim ersten Durch- 64 blättern ist erkennbar, dass die einschlägigen Texte wirklich behandelt und in vielfältiger Weise in einen kanonischen und außerkanonischen Zusammenhang gesetzt worden sind. Zudem sind die Ergebnisse der studentischen Beiträge des Seminars in die Einzeldarstellungen mit eingeflossen, und dies schien, wie auch im Vorwort angedeutet, zur qualitätssteigernden Motivation der Studierenden beigetragen zu haben auch in dieser Hinsicht ist man geneigt, der Studie das Etikett »vorbildhaft« aufzudrücken. Sicherlich die Zweizahl der Autoren und die damit verbundenen Ecken und Kanten des Gesamtbildes sind nicht zu verbergen. Ein Beispiel: das Kapitel zur »Sprache der Gewalt in der Bibel« S.17-23, von Dietrich für das AT systematisierend konzentriert, von Mayordomo für das NT lexikonartig mit dem Anspruch terminologischer Vollständigkeit präsentiert. Der Unterschied in der inhaltlichen Ausrichtung ist hier mit Händen zu greifen. Uber derartige Unebenheiten wird man allerdings eher bereitwillig hinwegsehen. Sie erklären sich aus der Entstehungsgeschichte des Buches und schaden weder den inhaltlichen Aussagen der Studie noch deren Selbstverständnis. Damit ist auch das zweite Stichwort gefallen. Was das Selbstverständnis anbetrifft, so berufen sich die Autoren nicht nur explizit auf die »Dekade zur Überwindung von Gewalt«, sondern die vom ÖRK in den schon seit 1999 geäußerten Anliegen sind in Aufriss und Inhalt der Studie deutlich erkennbar. Zwei Beispiele. Der Gewaltbegriff ist, wie vom ÖRK im Einklang mit dem aktuellen humanwissenschaftlichen Forschungsstand zum Thema gefordert, sehr breit angelegt und versucht die verschiedensten Ausprägungen von »Gewalt« zu berücksichtigen (S.11-17): Psychische, institutionelle, strukturelle und symbolische Gewalt werden hier angesprochen und in den verschiedenen Kontexten behandelt. Vielleicht zeigt dieser Beitrag zur ausgerufenen Dekade gerade darin sein »akademisches« setting, dass die brachial physische Seite der Gewalt eher Randthema zugunsten subtilerer Ausdrucksformen der Gewalt zu sein scheint (»physische Gewalt« taucht beispielsweise in der Liste der Gewaltbereiche S.13f. nicht auf, wenn sie auch vorher und danach immer wieder benannt wird). Doch macht die an den Ansatz von M. Foucault erinnernde weit ausgefächerte Bestimmung des Gewaltbegriffs gerade den Reiz für den Leser aus. Das Thema »Gewaltüberwindung« kann als weitere Antwort der Autoren zur ausgerufenen Dekade genannt werden. Fast zwei Drittel des Buches (S.105-267) haben die biblischen Gegenbilder bzw. Wege zur Überwindung von Gewalt zum Thema. Damit ist die Studie keineswegs nur deskriptiv, sondern will auf biblischer Basis Handlungsspielräume für gelingende Lebenspraxis aufzeigen. Exegese als Basis für Ethik so könnte man gewagt formulieren. Die solide exegetische Qualität des vorliegenden Buches steht außer Frage die zahlreichen Literaturangaben zu jedem Kapitel, die Verweise auf die aktuelle Forschungssituation in den Anmerkungen sowie die vielfältig herangezogenen antiken Zeugnisse literarischer sowie auch ikonographischer Natur machen die historisch-kritische Verortung in jeder Hinsicht deutlich. Den besonderen Reiz macht aber m.E. der immer wieder versuchte hermeneutische Brückenschlag in die aktuelle Situation aus. Als Beispiel empfiehlt sich die exemplarische Lektüre des Kapitels zum Gewaltthema in der Bergpredigt (S.200-218), das von M. Mayordomo auf Mt 5,38-48 fokussiert wurde. Allein schon die treffende Darstellung in den hermeneutischen » Überlegungen zur Praxis« des immensen Legitimationsdruckes, unter dem der so rigoristische Text in der heutigen Situation steht, wirkt für neue Perspektiven kathartisch und erleichtert die vorgeschlagene Verortung in einer zum Reich Gottes bezogenen Ethik. Derartige hermeneutische Brückenschläge machen die Studie letztendlich, jenseits der klar erkennbaren exegetischen Grundlage und ihrer akademischen Heimat, zu einem kirchlich eingebundenen Werk, dem ein entsprechend großer Adressatenkreis zu wünschen ist. Peter Busch ZNT 17 (9. Jg. 2006) Eve-Marie Becker/ Doris Hiller (Hrsg.) Handbuch Evangelische Theologie Ein enzyklopädischer Zugang UTB 8326 2006, 390 Seiten, div. Tab., € [D] 29,90/ SFR 52,20 ISBN 3-8252-8326-7 Das Handbuch Evangelische Theologie eröffnet eine Zusammenschau aller Teildisziplinen theologischer Wissenschaft: Altes Testament Neues Testament Kirchengeschichte - Systematische Theologie: Dogmatik und Ethik - Praktische Theologie, Religions- und Gemeindepädagogik. Die Beiträge stellen jeweils das Selbstverständnis der einzelnen Disziplin und ihr Verhältnis zu den Nachbardisziplinen und zur theologischen Wissenschaft insgesamt dar. Im dritten Teil der Beiträge wird das enzyklopädisch-theologische Denken am Beispiel des Themas »Gebet« konkretisiert und praktisch durchgeführt. Ein ausführliches Namensregister erfasst die für die Geschichte theologischenzyklopädischen Arbeitens zentralen Personen. Aus dem Inhalt: Theologische Enzyklopädie - Eine Einführung• Altes Testament• Neues Testament• Kirchengeschichte • Vorüberlegungen zur Systematischen Theologie• Dogmatik• Ethik• Praktische Theologie, Religions- und Gemeindepädagogik A. Francke Kohlhammer aktuell Walter Dietrich/ Wolfgang Lienemann (Hrsg.) Gewalt wahrnehmen von Gewalt heilen Theologische und religionsMssenschaftliche Perspektiven 2004. 248 Seiten mit 10 Abb. und 3 Tab. Kart. € 18,- ISBN 3-17-018523-3 Gewalt ist allgegenwärtig: von der internationalen Politik bis in die alltägliche Erfahrung der Einzelnen. Nicht von ungefähr hat der Ökumenische Rat der Kirchen das erste Jahrzehnt des neuen Jahrtausends als „Dekade zur Überwindung der Gewalt" ausgerufen. Der Aufruf findet in vielen Kirchen und ungezählten Gemeinden starken Widerhall. Auch die theologische Wissenschaft und Religionswissenschaft sind gefordert, sich intensiv mit der Thematik auseinander zu setzen. In den Beiträgen dieses Bandes wird deutlich, wie Spuren der Gewalt und Wege zu ihrer Überwindung schon in der Bibel präsent sind, wie sie sich fortsetzen in 2000 Jahren Kirchengeschichte, wie sie immer neu reflektiert werden in christlicher Dogmatik und Ethik, wie virulent sie sind in der religiösen Praxis: in der Christenheit nicht nur hierzulande, sondern weltweit und darüber hinaus auch in nichtchristlichen Religionen. Weltweite ScYlidarität angesichts neuer Fronten globaler (Un-)Sicherheit Trutz von Trotha u.a. Globalisierung der Gewalt Weltweite Solidarität angesichts neuer Fronten globaler (Un-)Sicherheit Herausgegeben von Johannes Müller und Mattias Kiefer 2005. 176 Seiten. Kart. €26,- ISBN 3-17-018674-4 Globale Solidarität - Schritte zu einer neuen Weltkultur, Band 12 Terroristische Anschläge wie in New York am 11.9.2001 und zahlreiche gewaltsame Konflikte fast überall auf der Welt zeigen, dass die Globalisierung ein erhebliches Gewaltpotenzial in sich birgt. Dies betrifft nicht nur die Anwendung physischer Gewalt, sondern auch den aggressiven Umgang mit anderen Kulturen und Religionen. Viele Menschen in der Dritten Welt sehen darin einen Ausdruck westlicher Arroganz, ja imperialistischen Strebens zum Erhalt der Vormachtstellung der Industrieländer. Die Debatte über die Wurzeln der Gewalt, die Prävention von Gewalt und die Rechtmäßigkeit von Gegengewalt ist von größter Bedeutung, da die Spirale von Gewalt und Gegengewalt nicht nur den Zielen globaler Solidarität widerspricht, sondern auch die Gefahr mit sich bringt, dass die begrenzten Mittel für eine humane W. Kohlhammer GmbH 70549 Stuttgart· Tel. 0711/ 7863 - 7280 • Fax 0711/ 7863 - 8430