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ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
2006
918 Dronsch Strecker Vogel
Oc,i ~,: t CD N NN „ in LI.M Cl) ,: t , ... inZ .-Cl) QI)! ! ! Heft 18 • 9. Jahrgang (2006) ZEITSCHRIFT ,~NEUES TESTAMENT Das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft Herausgegeben von Stefan Alkier, Kristina Dronsch, Ute E. Eisen Eckhard Plümacher Stichwort: Lukas, Historiker David Trobisch Die narrative Welt der Apostelgeschichte Alain Gignac Neue Wege der Auslegung. Die Paulus-Interpretation von Alain Badiou und Giorgio Agamben Heike Omerzu Das Imperium schlägt zurück. Die Apologetik der Apostelgeschichte auf dem Prüfstand Christine M. Thomas Die Rezeption der Apostelakten im frühen Christentum K~E Wie historisch ist die Apostelgeschichte? Rainer Riesner vs. Daniel Marguerat Buchreport Herausgeber Stefan Alkier Kristina Dronsch Ute E.Eisen in Verbindung mit Peter Busch Axel von Dobbcler Kurt Erlemann Gabriele Faßbcck Matthias Klinghardt Volker Lehncrt Eckart Reinmuth Günter Röhser Thomas Schmeller Manuel Vogel Fran~ois Vouga Bernd Wander Jürgen Zangcnberg Anschrift der Redaktion Prof, Dr. Stefan Alkier Johann Wolfgang Goethe-Universität Fachbereich Evangelische Theologie Neues Testament - Geschichte der Alten Kirche z.H.: Kristina Dronsch Grüneburgplatz 1 D-60629 Frankfurt Manuskripte Zuschriften, Beiträge und Rezensionsexemplare werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Verpflichtung zur Besprechung unverlangt eingesandter Bücher besteht nicht. Anzeigen Narr Francke Attempto Verlag Telefon: (07071) 9797-0 Bezugsbedingungen Die ZNT erscheint halbjährlich (April und Oktober) Einzelheft: € 15,-/ sFr 26,90 zuzügl. Versandkosten Bezugspreis jährlich: € 28,-/ sFr 49,00 Vorzugspreis für Studenten jährlich: € 22,-/ sFr 38,60 (Immatrikulationsbescheinigung beifügen) © 2006 · Narr Francke Attempto Verlag Alle Rechte vorbehalten ISSN 1435-2249 Umschlagentwurf: Werner Ri.ib, Bietigheim-Bissingen. Satz: Fotosatz Hack, Dußlingen. Druck: Gulde, Tübingen. Bindung: Nädele, Nehren. Editorial Neues Testament aktuell Zum Thema Kontroverse Hermeneutik und Vermittlung Buchreport Editorial .......................................................... 1 Eckhard Plümacher Stichwort: Lukas, Historiker David Trobisch 2 Die narrative Welt der Apostelgeschichte .... 9 Alain Gignac Neue Wege der Auslegung. Die Paulus-Interpretation von Alain Badiou und Giorgio Agamben .................................. 15 Heike Omerzu Das Imperium schlägt zurück. Die Apologetik der Apostelgeschichte auf dem Prüfstand .......................................... 26 Eine Einführung zur Kontroverse: Wie historisch ist die Apostelgeschichte? (Ute E. Eisen) .................................................. 37 Rainer Riesner Die historische Zuverlässigkeit der Apostelgeschichte............................................ 38 Daniel Marguerat Wie historisch ist die Apostelgeschichte? .... 44 Christine M. Thomas Die Rezeption der Apostelakten im frühen Christentum ....... ............................................. 52 Daniel Schowalter! Steven]. Friesen (Hgg.), Urban Religion in Roman Corinth. Interdisciplinary Approaches, Cambridge 2005 (rez. v.Jürgen Zangenberg) .......................... 64 Hans-]osef Klauck Apokryphe Apostelakten. Eine Einführung, Stuttgart 2005 (rez. v. Manuel Vogel) .......... 66 Narr Francke Attempto Verlag GmbH+ Co. KG Tübingen Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Telefon (07071) 9797-0 · Telefax (07071) 75288 Internet: http: / / www.francke.de · E-Mail: info@francke.de ZNT im Internet: http: / / www.znt-online.de Liebe Leserinnen und Leser, das neue Heft der ZNT versammelt Beiträge, die sich um Apostelgeschichten ranken. Wir haben den Titel des Themenheftes so offen gewählt, um dazu beizutragen, nicht nur die neutestamentliche Apostelgeschichte, sondern auch die für die Ausbildung der Frömmigkeitsgeschichte so wichtigen apokryphen Apostelakten in den Blick zu nehmen. Dabei werden wie immer auch theologische, methodische und hermeneutische Fragestellungen und Neuansätze diskutiert. Eckhard Plümacher stellt in der Rubrik »Neues Testament aktuell« die wichtigsten Ergebnisse der Forschung zur Frage Lukas als Historiker zusammen, die Plümacher selbst in den letzten drei Jahrzehnten wesentlich vorangebracht hat. Einen ganz anderen Weg der Auslegung schlägt in der Rubrik »Zum Thema« David Trobisch ein, der die neutestamentliche Apostelgeschichte aufgrund seiner eigenen Kanontheorie weit in die 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts platziert und sie vor allem als Erzählung analysiert, die der Zusammenstellung des Kanons einen narrativen Rahmen verleiht. Auf das neu erwachte philosophische Interesse an den Briefen des Apostels Paulus macht Alain Gignac aufmerksam. Heike Omerzu schließlich führt in die »imperiale« Perspektive ein, die in den vergangenen Jahren insbesondere die Paulusbriefe in den Blick nahm. Omerzu kann zeigen, dass die angemessene Berücksichtigung der Herrschaft Roms zur Zeit der Abfassung der neutestamentlichen Schriften auch neue Einsichten für die Auslegung der Apostelgeschichte erbringt. Die von Rainer Riesner und Daniel Marguerat ausgetragene Kontroverse über die historische Zuverlässigkeit der Apostelgeschichte zeigt, dass bei der Beantwortung dieser Frage gerade auch hermeneutische, geschichtstheoretische und theologische Positionen eine nicht geringe Rolle spielen. In der Rubrik »Hermeneutik und Vermittlung« führt Christine M. Thomas in die wichtigsten apokryphen Apostelakten und ihre Rezeption in der Geschichte des Christentums ein. ZNT 18 (9. Jg. 2006) Der »Buchreport« von Manuel Vogel befasst sich ebenfalls mit einer Einführung in die apokryphen Apostelakten, nämlich die von Hans- Josef Klauck. Den interdisziplinären Sammelband »Urban Religion in Roman Corinth« empfiehlt in einem weiteren Buchreport Jürgen Zangenberg der Lektüre. Wir hoffen, dass Ihnen die Lektüre des neuen Heftes der ZNT den theologischen, historischen und nicht zuletzt narrativen Reichtum der Apostelgeschichten ebenso ins Bewusstsein ruft wie uns. Stefan Alkier Kristina Dronsch Ute E. Eisen In eigener Sache Wir freuen uns, Prof. Dr. Eckart Reinmuth, Evangelisch-Theologische Fakultät, Rostock, und Prof. Dr. Thomas Schmeller, Fachbereich Katholische Theologie, Frankfurt am Main, im erweiterten Herausgeberkreis begrüßen zu dürfen. Beide haben bereits Beiträge zur ZNT geliefert und werden mit ihren Ideen und Perspektiven die ZNT nun auch als Herausgeber bereichern. Zudem hat sich turnusgemäß die Zusammensetzung des geschäftsführenden Herausgeberkreises verändert. Im Namen des Verlags und im Namen der Herausgeber danken wir PD Dr. Axel von Dobbeler und Prof. Dr. Jürgen Zangenberg für ihre ideenreiche Arbeit der vergangenen Jahre und sind sehr froh, dass wir auch weiterhin auf ihre Anregungen im erweiterten Herausgebcrkreis zählen können. Ihre Arbeit in der Geschäftsführung haben übernommen Dr. Ute E. Eisen, Professorin für Bibelwissenschaften Altes und Neues Testament am Institut für Evangelische Theologie, Gießen, und Dr. Kristina Dronsch, Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Neues Testament, Fachbereich Evangelische Theologie, Frankfurt am Main. Ausgeschieden ist aus dem erweiterten Herausgeberkreis Dr. Dirk Frickenschmidt, dem ganz herzlich für sein langjähriges Engagement gedankt sei. Für die Herausgeberinnen und Herausgeber Stefan Alkier Eckhard Plümacher Stichwort: Lukas, Historiker Über den literarischen Charakter des lukanischen Doppelwerkes hat sich dessen Autor nirgends direkt geäußert, auch nicht im Prooemium Lk 1,1-4. Einzig die Unternehmungen jener, die schon zuvor »von den Geschichten, die unter uns geschehen sind«, berichtet haben, werden hier mit dem von den Zeitgenossen oft genug zur Bezeichnung historischer bzw. biographischer Literaturerzeugnisse benutzten terminus technicus diegesis charakterisiert (Lk 1,1; vgl. z.B. Dionys von Halikarnass, Ant. Rom. I 7,4; J osephus, Bell VII 42 bzw. Plutarch, Lyc. 1,7), nicht das Doppelwerk selbst. Sein eigenes Vorhaben, definiert Lukas anders, weniger prägnant, als bloßes »in der rechten Reihenfolge (kathexes) aufschreiben« (Lk 1,3). Wenn freilich der zu Beginn von Lk 1,3 mitgeteilte Entschluß des Autors, es nunmehr den Lk 1,1 erwähnten Vorgängern nachtun und ebenfalls zur Feder greifen zu wollen, nicht nur auf das Faktum des Schreibens als solchen, sondern auch auf die literarische Gattung des geplanten Werkes zu beziehen wäre, enthielte das Prooemium wenigstens einen indirekten Hinweis auf Vokabular zwischen lukanischem Prooemium und Thukydides' Methodenkapitel besteht, ist deutlich genug, um das literarische Selbstverständnis des Lukas zu enthüllen: Ganz offensichtlich wollte auch er Historiker sein. Wenn Lukas Historiker hellenistischer Historiker zu sein beanspruchte, ist anzunehmen, daß sich dieser Anspruch auch bei der literarischen Gestaltung seines Werkes bemerkbar gemacht hat. Charakteristika einer historischen Darstellung weist freilich kaum das Lukasevangelium, umso mehr jedoch die Apostelgeschichte auf. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Während Lukas sich bei der Abfassung seines ersten Buches (Apg 1,1) umfänglichen Quellenschriften dem Markusevangelium sowie der Logienquelle gegenübersah, von denen die erstere auch bereits eine fest geprägte und anscheinend unverzichtbare literarische Form (eben die des Evangeliums) aufwies, hatte der schriftstellerische Gestaltungswille des Lukas in der Apostelgeschichte freie Bahn; weder waren hier wie im Lukasevangelium formale den literarischen Charakter des Doppelwerkes: Lukas hätte dann ebenfalls eine diegesis verfassen wollen. » Wenn Lukas Historiker hellenistischer Historikerzu Vorbilder zu berücksichtigen, noch gab es überhaupt größere Quellenkomplexe, die der literarischen Gestaltungskraft hätten hinderlich sein können. Das Quellenmaterial bestand hier weithin aus knappen Einzeltraditionen solchen, wie sie z.B. die gemein- Präziser als über die literarische Gestalt seines Werkes hat sich Lukas über sein der Abfassung dieses Werkes vorangegangenes Tun geäußert. Bevor er schrieb, sei er »von sein beanspruchte, ist anzunehmen, daß sich dieser Anspruch auch bei der literarischen Gestaltung seines Werkes bemerkbar gemacht bat.« Beginn an allem genau (akribos) nachgegangen« (Lk 1,3). Eben dies hatte schon Jahrhunderte zuvor ein anderer Autor, der Historiker Thukydides, für sich in Anspruch genommen: beim Aufschreiben der Geschehnisse nicht nach Gutdünken verfahren, sondern den Nachrichten anderer mit aller erreichbaren Genauigkeit (akribeia) bis ins einzelne nachgegangen zu sein (I 22,2). Entsprechende Versicherungen sind in der Folgezeit dann bei den Historikern üblich geworden. Die beträchtliche Übereinstimmung, die in Topik und 2 hin als > Itinerar< bezeichneten Partien prägen-, die sehr viel leichter in eine Darstellung eigener Art einzuschmelzen waren. Als Historiker zeigt sich Lukas am augenfälligsten in den zahlreichen Reden, die er den in der Apostelgeschichte Handelnden in den Mund gelegt hat: insgesamt ca. 24 Redestücke, die zusammen ein knappes Drittel (bei Thukydides und in Sallusts coniuratio Catilinae etwa ein Viertel) des Buches ausmachen. Gleich den Reden der griechischen und römischen Historiker können auch die lukanischen ZNT 18 (9. Jg. 2006) Eckhard Plümacher Dr. Eckhard Plümacher, geb. 1938, Studium der Ev. Theologie und der Geschichte in Bonn, Zürich und Göttingen; 1967 Promotion bei Hans Conzelmann, ab 1968 im wissenschaftlichen Bibliotheksdienst, zuletzt Bibliotheksdirektor der Theol. Fakultät der Humboldt-Uni, versität zu Berlin. Werke: Lukas als hellenistis.cher Schriftsteller. Studien zur Apostelgeschichte (StUNT 9), Göttingen 1972; Geschichte und Geschichten. Aufsätze zur Apostelgeschichte und zu den Johannesakten, hrsg. v. J. Schröter und R. Brucker, Tübingen 2004. nicht Wiedergabe wirklich gehaltener Ansprachen sein; wie jene passen sie häufig entweder nicht zu der Situation, in der sie angeblich gehalten wurden, oder reichen, selbst wenn sie aus dem Zusammenhang mit der sie umrahmenden Szene nicht herausfallen, doch weit über diese hinaus. So widersprechen sich etwa in 17,16 und 17,22 Szene und Rede diametral; 17, 16 berichtet, daß Paulus bei seiner Ankunft in Athen über die Fülle der Götterbilder äußerst erbost gewesen sei; in der Areopagrede (17,22-31) hingegen bestimmt ihn der gleiche Umstand dazu, die Athener in einer captatio benevolentiae wegen ihrer Frömmigkeit ausdrücklich zu loben (17,22). Durch die Paulusrede vor den Ältesten von Ephesos (20, 18- 35) zieht sich wie ein roter Faden eine Selbstapologie des Paulus (20,20f.; 27.33f.). Entsprechende Anklagen gegen ihn sind aber weder von den Hörern des Paulus vorgebracht worden noch treten solche an anderer Stelle der Apostelgeschichte in Erscheinung. In 22,1-21 will sich Paulus mit einer Rede vor der Volksmenge, die über eine angeblich von ihm begangene Tempelschändung aufgebracht ist (21,28), wie es ausdrücklich heißt, ver- ZNT 18 (9.Jg. 2006) teidigen (22,1). In der Rede selbst beschäftigt sich Paulus jedoch ausschließlich mit seiner jüdischen Erziehung und Frömmigkeit sowie mit seiner Bekehrung und dem Auftrag zur Heidenmission. Die Schwierigkeiten lösen sich, wenn man die Reden nicht im Zusammenhang ihres engeren Kontexts, sondern im Rahmen des ganzen Buches, und das heißt: im Kontext der Intentionen des Verfassers interpretiert. Dann zeigt sich, daß es Lukas bei der Niederschrift dieser Reden nicht auf die Wiedergabe eines bestimmten geschichtlichen Ereignisses ankommt, sondern darauf, seinen Lesern durch sie »Einsicht in die übergeschichtliche Bedeutung des betreffenden geschichtlichen Augenblicks« bzw. in den »Richtungssinn des Geschehens« zu gewähren. 1 Deshalb wählt er Athen trotz des Umstands, daß der tatsächliche Missionserfolg hier recht gering war (17,32ff.), zum Schauplatz einer Paulusrede. Die Stadt hat als geistiges Zentrum der Welt und Vorort hellenistischer Frömmigkeit (darum die auf die Frömmigkeit der Athener bezügliche captatio 17,22! ) besondere Bedeutung für ihn; sie ist der rechte Ort für die exemplarische Auseinandersetzung des Christen Paulus mit griechischer Geistigkeit: auf die »Typik dieser Auseinandersetzung, die im höheren Sinn geschichtlich ist und in seiner eigenen Zeit vielleicht noch mehr Aktualität hat als zur Zeit des Apostels«, kommt es Lukas an 2 ähnlich wie Thukydides in den Reden des Melierdialogs (V 85-113) auf den »idealen Wettstreit zweier Prinzipien«. 3 Nicht minder ist die zur Gattung der Abschiedsreden gehörige Ansprache 20, 18-35 als der Situationserhellung dienende Äußerung des Acta-Verfassers zu würdigen. Auch sie richtet sich einzig an die Leser. Lukas gibt ihnen hier zu verstehen, daß mit dem Abschied des Paulus von seinem Missionsfeld zugleich eine Epoche der Kirchengeschichte, die Zeit der Apostelschüler, zuende geht und nun die anders als die Epochen zuvor vom Phänomen der Häresie geplagte (vgl. 20,29f.) lukanische >Gegenwart< beginnt, in der man sich, im Besitz der von Paulus unverkürzt weitergegebenen Tradition (Vs 20.27), durch häretische Geheimlehren (vgl. Vs 20.30) nicht verunsichern zu lassen braucht. Die erstaunliche Beziehungslosigkeit der Verteidigungsrede des Paulus (22,1-21) zum Kontext hört schließlich gleichfalls auf, befremdlich zu wirken, wenn man sie nicht mehr im Zusammenhang mit dem Vor- 3 wurf, Paulus habe den Tempel geschändet, interpretiert, sondern sich der historiographischen Intentionen des Lukas als Verstehensschlüssels bedient. Dann ergibt sich, daß der Verfasser der Apostelgeschichte in dem Augenblick, an dem er Paulus am Ende seines Wirkens in Freiheit angelangt sein ließ, offenbar einen Augenblick von besonderer geschichtlicher Bedeutung gesehen hat, der es als solcher erforderlich machte, Paulus Rückblick halten zu lassen scheinbar vor jener Volksmenge, in Wirklichkeit vor dem Forum der Leser. Wenn Lukas aber dergestalt an den wichtigsten Wendepunkten des Geschehens Reden in seine Darstellung eingefügt hat, um mit ihrer Hilfe die Bedeutung des jeweils geschilderten Augenblicks zu erhellen und den Richtungssinn des Geschehens anzugeben, ist er im Grundsätzlichen nicht anders verfahren als Thukydides bestand doch auch bei diesem »das letzte Ziel der Reden« in der »Deutung des Geschehens durch den Historiker selbst: sie erhellen die inneren Zusammenhänge, die sonst ... nur mittelbar im Aufbau und Ton der Darstellung sichtbar werden«.' Thukydideer vom Schlage eines Polybios war Lukas nicht; in den Reden der Apostelgeschichte allerdings ist der Einfluß des großen Atheners deutlich fühlbar. Für eine bestimmte Gruppe von Reden, die sog. Missionsreden (2,14-39; 3,12-26; 4,9-12; 5,29- 32; 10,34-43; 13,16-41), die bestimmten Epoche geschehener (historischer) Predigt. Wie die übrigen Reden der Apostelgeschichte stehen auch diese Reden jeweils an entscheidenden Wendepunkten der Kirchengeschichte allerdings nicht in der Weise, daß Lukas die verschiedenen Wendepunkte durch sie in ihrer den Augenblick transzendierenden Bedeutung erhellt hätte, sondern so, daß »an jedem entscheidenden Wendepunkt der Missionsgeschichte die Predigt verbaliter als das Movens gezeigt werden [sollte], das die Ereignisse selbst hervorbringt und ihren Verlauf bestimmt«.' Ein charakteristisches Beispiel hierfür ist die Petrusrede in 3,12-26. Sie bewirkt den für die Zukunft so einschneidenden Gegensatz von Jesuskerygma und Judentum (vgl. 4,1-3). Die Petrusrede in 10,34-43 hat die erstmalige Begabung von Heiden mit dem Heiligen Geist und deren Taufe zur Folge (10,44-48). Ein weiteres Beispiel stellt die Paulusrede 13, 16-41 dar. An ihrem Schluß findet sich eine Bußmahnung an die Juden. Aus der mangelnden jüdischen Bereitschaft, dem Bußruf zu folgen (13,44f.), resultiert dann die (im folgenden freilich noch nicht wahr gemachte) Ankündigung des Paulus, nunmehr von der Judenzur Heidenmission übergehen zu wollen (13,46f.). Auch hier ist Lukas von der griechisch-römischen Geschichtsschreibung abhängig. Reden, deren literarische Funktion darin besteht, entscheidende historische Prozesse in Gang gesetzt und so Geschichte gemacht durch eine ihnen allen gemeinsame Gliederung gekennzeichnet sind, stets vor jüdischem Publikum gehalten werden und wesentlich besser in ihren Kontext passen, hat man freilich jeden Zusammenhang mit der griechischrömischen Historiographie » Thukydideer vom Schlage eines Polybios war Lukas nicht; in den Reden der Apostelgeschichte allerdings ist der Eir,ifluß des großen Atheners deutlich fühlbar.« zu haben, finden sich genauso wie bei Lukas in den großen Verhandlungsszenen des Livius. Ihm zufolge wird z.B. der Krieg zwischen Rom und Antiochos III. hauptsächlich durch eine Rede ausgelöst, die Hannibal im Rat des Königs bestreiten wollen; in ihnen spiegele sich vielmehr ein christliches Predigtschema, wie es zur Zeit des Lukas üblich gewesen sei.' Es hat sich jedoch gezeigt, daß ein solches Predigtschema nicht existiert hat, 6 und daß diese Reden als spezifisch lukanische Darstellung dessen gedeutet werden müssen, was der Autor der Apostelgeschichte als Quintessenz der apostolischen Verkündigung angesehen wissen wollte, als Beispiele also nicht geschehender (zeitgenössischer), sondern in einer 4 hält; denn »diese Rede machte nicht nur Eindruck auf den König, sondern versöhnte ihn auch wieder mit Hannibal. So ging aus dieser Beratung hervor, daß Krieg geführt werden solle« (XXXV 19,7; vgl. V 49-55; XXI 19,Sff.; XXXIII 13,13). Wie verbreitet die Überzeugung von der geschichtsmächtigen Kraft der Reden unter den Historikern der griechisch-römischen Welt seinerzeit war, beweisen indes am besten die programmatischen Worte des kaum sonderlich originellen 8 Dionys von Halikarnass: er wundere ZNT 18 (9. Jg. 2006) sich, schreibt er in den Antiquitates Romanae (VII 66,3 ), wenn manche Geschichtsschreiber über Kriegsereignisse und die damit in Zusammenhang stehenden Umstände so viele Worte verlören, dann aber, wenn sie über politische Entwicklungen und Unruhen zu berichten hätten, die Reden nicht mitüberlieferten, durch die ganz außerordentliche und staunenswerte Ereignisse zustande gekommen seien. Eben dieser historiographischen Forderung ist Lukas bei der Abfassung der Missionsreden nachgekommen. Freilich hat er diese Forderung nicht um ihrer selbst willen erfüllt, sondern zu dem Zweck, die Legitimität des historischen Prozesses zu erweisen, in dessen Verlauf aus der jüdischen Christenheit des Anfangs die heidenchristliche Kirche seiner Gegenwart geworden war. Dies gelang ihm eben dadurch, daß er zu zeigen vermochte, wie an den entscheidenden Wendepunkten jenes Prozesses stets die Evangeliumsverkündigung der Apostel bzw. des Paulus, der vom Herrn noch selbst zum Zeugendienst »in Jerusalem und in ganz Judäa und Samaria und bis ans Ende der Erde« Berufenen (1,8; 13,47; 22,21), verantwortlicher Motor der Entwicklung gewesen war. Fast mehr noch als die gesprochenen erweisen indes die erzählenden Partien der Apostelgeschichte ihren Autor als hellenistischen Historiker.9 Einen kontinuierlich fortschreitenden Handlungsablauf kennt Lukas nicht; er schildert die Ereignisse vielmehr als Abfolge einzelner Episoden, die zumeist jeder oder jeder über ein geringes Maß hinausgehenden Verbindung mit dem Kontext entbehren und zu deren Verständnis es der Kenntnis des Textzusammenhangs auch gar nicht bedarf. Beispiele für den abrupten erzählerischen Neueinsatz solcher Episoden begegnen z.B. in 10,lff. und 18,12, wo die Erzählung jeweils mit der Vorstellung einer für die folgende Episode wichtigen und noch unbekannten Person neu beginnt. Andererseits können bereits bekannte Fakten im neuen Zusammenhang nochmals erzählt werden (vgl. 10,5f. / 9,43 ). So gut wie nie wirkt die Handlung einer Episode auf anderes Geschehen ein; daß sich z.B. in den 2,lff. dargestellten Pfingstereignissen eine im Zusammenhang der Himmelfahrtsgeschichte berichtete Verheißung (1,8) erfüllt, wird dort nicht einmal erwähnt. Dementsprechend sind die Episoden ZNT 18 (9.Jg. 2006) auch an ihrem Schluß kaum jemals durch sachliche Verbindungslinien mit dem Kontext verknüpft (vgl.14,18/ 14,19; 16,40/ 17,1; 19,40/ 20,1). Vor allem erweisen sich die Episoden der Apostelgeschichte aber als dramatische Szenen, als lebendige, anschauliche Bilder, straff und zielstrebig komponiert, deren Dramatik Lukas gern noch durch Peripetien (14,8-18; 16,16-40; 19,23-40) und dramatische Effekte (1,9; 10,44; 16,27f.; 18,12-17), beides durchaus auch in Gestalt wunderbarer Geschehnisse (1,9; 10,44) oder eines Naturereignisses (16,26 ), gesteigert hat. Mit besonderer Meisterschaft handhabt Lukas den »dramatischen Episodenstil« (E. Haenchen) indes immer dann, wenn er bestimmte Thesen samt den daraus folgenden Konsequenzen in szenisches Geschehen übersetzt, um jene ihrer unanschaulichen Abstraktion zu entkleiden und so ihre Wirkung auf den Leser zu verstärken bzw. überhaupt erst zu ermöglichen. Zum Beispiel formuliert er nirgends abstrakt, daß der römische Staat und seine Gerichtsbarkeit zur Entscheidung religiöser Streitigkeiten nicht kompetent, solche Streitigkeiten also gar nicht justitiabel seien; er demonstriert seine These vielmehr in den Szenen 18,12-17; 25,13-22; 25,23-26,32 am konkreten Fall. Was Lukas wichtig erscheint, teilt er dem Leser nicht in trockenem Referat mit, sondern setzt es in das Geschehen lebendiger Einzelszenen um, deren dramatischer Handlung der Leser alles Wesentliche gleichsam mit eigenem Auge entnehmen kann. Es ist der Stil einer bestimmten Richtung der hellenistischen Historiographie, den Lukas hier benutzt: der Stil der mimetischen (früher als tragisch-pathetisch bezeichneten) Geschichtsschreibung. Deren Ziel war die packende Gestaltung anschaulicher, lebenswahrer Bilder, die den Leser fesseln sollten wie eine Theaterszene (vgl. Lukian, Hist. conscr. 51). Anhänger dieser historiographischen Richtung waren u.a. Duris von Samos (vgl. Diodorus Siculus XIX 108f.; XX 33f.), Phylarch (vgl. Plutarch, Cleom. 19f.; 29; 38), die Alexanderhistoriker Kleitarch (vgl. Diodorus Siculus XVII 26f.; 98f.) und Curtius Rufus (vgl. IV 1,38-4,21) sowie der Verfasser des 2. Makkabäerbuches (vgl. 3,1-40). Sie alle zeigen mehr oder minder deutlich jene stilistischen Eigentümlichkeiten, die auch für die lukanischen Episoden kennzeichnend sind: häufig mangelnde Kontextbezogenheit, das Stre- 5 ben nach Bildhaftigkeit sowie den Sinn für dramatische Effekte und Peripetien. Besonders charakteristische Beispiele für den Stil der mimetischen Historiographie stellen die Einzelerzählungen des Livius dar, die »visuell konzipiert sind, und deren Bestes in ihrer starken Bildwirkung, in ihrer lebendigen Anschaulichkeit zu finden ist«. 10 Der Leitgedanke der mimetischen Historiographie war, durch Nachahmung der Wirklichkeit, d.h. durch mimesis bzw. enargeia in der Darstellung geschichtlicher Ereignisse zu unverkürzter Wiedergabe der Lebenswahrheit zu gelangen (s. den Programmsatz des Duris, FGrH 76 F 1). Dies bedeutete freilich nicht, daß man nach historischer Faktentreue strebte sah man in der mimesis doch häufig selbst dann noch ein angemessenes Mittel zur Veranschaulichung von Geschichte, wenn man die historischen Tatbestände durch die auf Lebensechtheit bedachte Darstellungsweise verzerrte oder gar durch »fiktive, beziehungsweise potentielle Wirklichkeit« ersetzte.11 Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Kritik, die Polybios an Phylarch übte: dieser besorge die Geschäfte der Tragödie, wenn er sich bemühe, »an das Gefühl der Leser zu appellieren und sie zu Mitleidenden des Geschilderten zu machen«, versäume darüber aber die der Geschichtsschreibung, nämlich »unverkürzt des wirklich Getanen und Gesagten zu gedenken« (II 56,7-10). Worauf es der mimetischen Geschichtsschreibung in erster Linie ankam, war, den Leser zur hedone, zur Gemütserregung, zu führen, sei es zu bloßer Unterhaltung (delectatio; Cicero, Farn. V 12,4), sei es auch zur »Seelenreinigung beziehungsweise -befreiung, welche insbesondere vom Nacherleben der Tragödie ausgeht«. 12 Auch für diese Psychagogie bietet wieder Livius die eindrücklichsten Beispiele, vor allem dort, wo seine Einzelerzählungen dem Leser die exempla maiorum in ihrer die Gegenwart verpflichtenden Kraft vor Augen stellen (z.B. II 10; 12; 13,6-11) und die geschilderten Ereignisse so als salutaria exempla ... humano generi (V 27,13) wirken lassen. Für die Zwecke des Lukas war dieser Stil wie geschaffen. Nach dem Ausbleiben der als nahe bevorstehend erhofften Parusie hatte sich das Christentum zunehmend der Einsicht zu stellen gehabt, daß es fortan zunächst in dieser Welt zu existieren und den aus solcher Existenz resultierenden Problemen ins Auge zu blicken galt so 6 insbesondere der Tatsache, daß die pagane Welt dem Christentum wenn nicht a priori (vgl. 26,28 .3 lf.) so doch de facto immer feindlicher gegenüberstand (vgl. Plinius, Ep. 1O,96f.), wobei auch der pagane Antijudaismus eine Rolle spielte (vgl. 16,19-23; 19,33f.). Gegen Konsequenzen, die aus solcher Situation gezogen werden konnten, dürfte sich Lukas gewandt haben: einerseits gegen eine kompromißlose Gegnerschaft gegen Staat und Gesellschaft, wie sie gemeinsam mit der Erneuerung apokalyptischer Erwartungen in der J ohannesapokalypse sichtbar wird, andererseits gegen die resignative Tendenz, sich anzupassen, um nicht aufzufallen (ein späteres Beispiel für diese Haltung bei Tertullian, de corona 1). Die auf Triumph gestimmten Bilder in Apg 14,8-18; 16,16-40; 17,16-33 und 19,23-40 sollen demgegenüber zeigen, wie sich das Christentum allen Widerständen zum Trotz doch immer wieder in der Welt durchzusetzen vermocht hat; die lebensvoll und darum überzeugend dargestellte exemplarische Schilderung von seinerzeit günstig verlaufenem Geschehen soll den Leser zu der Hoffnung führen, daß das, was er so eindrücklich für die Vergangenheit geschildert sah, auch in seiner Gegenwart Wirklichkeit werden könne. 13 Noch deutlicher tritt die psychagogische Absicht des Lukas jedoch in jenen Szenen zutage, in denen er seine politische Apologetik inszeniert hat (18,12- 17; 25,13-22; 25,23-26,32). Der Schein der Wirklichkeit, der über diese in 26,31 in einem Quasi- Freispruch für Paulus und damit für das Christentum insgesamt gipfelnden Szenen gebreitet ist, soll die Stichhaltigkeit der lukanischen Argumentation in actu vorführen. Zu klären hatte Lukas freilich noch ein weiteres, für ihn und seine Leser wohl noch gewichtigeres Problem. Antwort zu finden galt es auch auf die Frage, weshalb die Juden trotz aller Bemühungen der christlichen Missionare (Paulus wird von Lukas den Ankündigungen von Apg 13,46f. und 18,6 entgegen bis zum Ende der Apostelgeschichte vor allem als Judenmissionar geschildert! ) und trotz beachtlicher Bekehrungserfolge sich in ihrer Gesamtheit dem Evangelium versagt hatten. Die Glaubensverweigerung der Synagoge war für die lukanische Kirche von erheblichem Belang mußte solche Glaubensverweigerung doch die heilsgeschichtliche Legitimität einer mehr oder minder nur noch aus Heidenchristen bestehenden ZNT 18 (9. Jg. 2006) Kirche aufs äußerste gefährden, insofern diese jeder ersichtlichen Kontinuität mit Israel, dem das Evangelium ursprünglich gegolten hatte (13,46), ermangelte. Wie Lukas sich diesem Problem stellte, ist bereits der Funktion zu entnehmen, die er den Missionsreden zugewiesen hatte (s.o. die Ausführungen bei der Fußnote sieben). Seine einschlägige Auskunft, nämlich die, daß der (den Übergang des Evangeliums aus den Händen der Juden in die der Heidenkirche implizierende) Schritt von der Judenzur Heidenmission seinerzeit nicht willkürlich erfolgt, sondern von der göttlichen providentia selbst veranlaßt und Paulus vom Herrn sogar ausdrücklich geboten worden war, erteilt Lukas indes auch im Rahmen der erzählenden Partien seines Werkes charakteristischerweise wiederum nicht in Form einer abstrakten Darlegung, sondern indem er sie der Handlung dramatischer Szenen inkorporiert (10, 1- 11, 18; 22,17-22). Der eigentliche Grund für die die Heidenkirche ins Recht setzende Glaubensverweigerung Israels enthüllt der Actaverfasser seinen Lesern freilich erst in der dramatischen Schlußszene des Buches (28,23-28). Angesichts der wie noch stets so auch hier über die ihnen zuvor verkündete Heilsbotschaft streitenden Juden läßt der Verfasser der Apostelgeschichte Paulus nun in Rom sein letztes Wort sprechen. Unter Bezugnahme auf das als vom Heiligen Geist inspiriert bezeichnete Prophetenwort J es 6,9f. konstatiert Paulus, daß die Juden das Heil deswegen nicht akzeptiert haben, weil sie es nicht akzeptieren konnten, und es deshalb nicht akzeptieren konnten, weil sie verstockt sind und Gott ihre Verstocktheit nicht »heilen« Geschichte selbst, der der Leser der Apostelgeschichte die Antwort auf seine drängenden Fragen entnehmen kann; einmal mehr erhalten die von Lukas geschilderten Geschehnisse so aber auch ganz wie z.B. bei Livius! den Charakter von salutaria exempla, die nicht einfach nur Geschichte erzählen, sondern, indem sie das tun, zur Bewältigung von Gegenwartsproblemen helfen sollen. Das paßt genau zu dem Zweck, dem die historische Schriftstellerei des Lukas dessen eigenem Zeugnis zufolge insgesamt dienen will: den Lesern zur Vergewisserung (asphaleia) hinsichtlich der ihnen in der Gemeindekatechese begegneten Traditionen zu verhelfen (Lk 1,4), d.h. sie der Tatsache zu versichern, daß ihr Christentum durchaus in Ordnung war. So gewiß Lukas als hellenistischer Historiker verstanden werden muß, so wenig läßt er sich einer bestimmten Richtung der griechisch-römischen Geschichtsschreibung zuordnen. Aus der pragmatischen Geschichtsschreibung stammen die Thukydideismen des Prooemiums sowie das Konzept, durch Reden die Bedeutsamkeit historischer Ereignisse zu betonen bzw. den Richtungssinn des Geschehens anzudeuten. Der dramatische Episodenstil hingegen war der Erzählstil der mimetischen Historiographie. Dem Klassizismus (Attizismus), dem seinerzeit freilich nicht nur Historiker, sondern Schriftsteller auch vieler anderer Literaturgattungen ausgiebig frönten, verdankt Lukas die Methode (colorem sincerum vetustatis appingere: Fronto, ed. van den Hout 1145f.) seiner Septuagintamimesis. 16 Der Verfasser des Doppelwerkes hat sich seine schriftstellerischen Mittel offenbar unter wird (28,25-27). 14 Adressaten des Heils seien, so fährt der lukanische Paulus nunmehr in Form einer feierlichen Deklaration fort, die Heiden (daß sie dies nur faute de mieux wären, steht nicht im Text 1 '), um mit dem auf die Epoche der (in der Apostelgeschichte noch nicht eigent- »So gewiß Lukas als hellenistischer Historiker verstanden werden muß, so wenig läßt er sich einer bestimmten Riehtung der dem Gesichtspunkt der Zweckdienlichkeit und nicht dem der historiographischen Schulzugehörigkeit ausgesucht. Ähnlich schwierig ist es, für die äußere Form des Doppelwerkes einen Ort in den Traditionen der hellenistigriechisch-römischen Geschichtsschreibung zuordnen.« lich geschilderten) Heidenmission vorausblickenden vaticinium ex eventu zu schließen, daß eben sie, die Heiden, es seien, die der Heilsbotschaft (anders als Israel) auch Gehör schenken werden (28,28). Summa: Einmal mehr ist es also die ZNT 18 (9. Jg. 2006) sehen Geschichtsschreibung zu finden. Am ehesten könnte man es aufgrund des Charakters der Apostelgeschichte als historischer Monographie (entsprechend dem von Cicero, Farn. V 12 skizzierten Programm und ähnlich dem 2. Makkabäerbuch oder Sallusts coniuratio 7 bzw. bellum I ugurthinum) sowie angesichts des Eindringens der Tendenz zu monographischer Aufgliederung in die Universalgeschichte (vgl. Diodorus Siculus XVI 1) als den Versuch ansehen, in zwei locker miteinander verbundenen Monographien eine um der Bedürfnisse der Gegenwart willen verfaßte - Gesamtgeschichte des Christentums (einschließlich der Schicksale seines Gründers, vgl. Apg 1,1) zu schreiben, in der allerdings die Jahrzehnte nach der Lukas zufolge in Rom definitiv erfolgten Trennung von Kirche und Synagoge nicht mehr erzählt worden sind. Nachfolger hat Lukas nicht gefunden. So muß denn als Vater der Kirchengeschichtsschreibung weiterhin Euseb gelten. Der Ruhm, »der erste christliche Historiker« (M. Dibelius) gewesen zu sein, gebührt freilich dem unbekannten Verfasser des später dem aus Phlm 24; Kol 4,41 und 2Tim 4,11 bekannten Paulusbegleiter Lukas zugeschriebenen - Doppelwerkes, auch wenn ihn erst die Exegese der Neuzeit als solchen (wieder- )entdeckt hat. Anmerkungen M. Dibelius, Aufsätze zur Apostelgeschichte (FRLANT 60), 5. Aufl., Göttingen 1968, 120f. Dibelius, Aufsätze, 133. W. Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, Bd. 1, 2. Aufl., Berlin/ Leipzig 1936, 501. H. Gundert, Athen und Sparta in den Reden des Thukydides, Die Antike 16 (1940), 98-114, hier: 98; Alexander Mittelstaedt vgl. z.B. Thuc. I 68-71; 73-78; II 87; 89. Dibelius, Aufsätze, 142. U. Wilckens, Die Missionsreden der Apostelgeschichte. Form- und traditionsgeschichtliche Untersuchungen (WMANT 5), Neukirchen-Vluyn 1961, 72-91. Wilckens, Missionsreden, 96. E. Schwartz, Art. Dionysios von Halikarnassos I. Die römische Archäologie, PRE 5 (1905), 934-961, hier: 934. Gelegentlich jedoch auch die des Lukasevangelium, vgl. U. Busse, Das Nazareth-ManifestJesu. Eine Einführung in das lukanische Jesusbild nach Lk 4,16-30 (SBS 91 ), Stuttgart 1978, 55-67. 10 E. Burck, Die Erzählungskunst des T. Livius, 2. Aufl., Berlin/ Zürich 1964, 200f.; vgl. II 40; XXXI 17; xxxxv 12. 11 H. Strasburger, Die Wesensbestimmung der Geschichte durch die antike Geschichtsschreibung (Sb WGF 5,3 ), 3. Aufl., Wiesbaden 1975, 80. 12 Strasburger, Wesensbestimmung, 82. 13 Dies gilt umso mehr, als Lukas Verfolgung und Leid in seiner Darstellung keineswegs verschweigt, vgl. nur Apg 7,54-60; 9,16; 12,1-5; 14,1-5.19.22; 20,25.36-38 (Andeutung des Todes Pauli). 14 Die Härte dieser Absage an Israel hat in der jüngeren Vergangenheit erhebliches Mißfallen erregt. Für dieses Mißfallen gibt es gute Gründe. Versuche, dem lukanischen Text durch exegetische Kunststücke seine Schärfe zu nehmen, waren und sind jedoch wenig hilfreich. Was hier hilft, ist einzig Sachkritik an den Aussagen des Autors selbst. 15 Allerdings sind sie jetzt, nachdem die Mission unter Juden aufgrund von deren Verstocktheit obsolet geworden ist, die einzigen Adressaten des Heils. Die Zeiten, da festzustellen war, »daß auch (kai) die Heiden das Wort Gottes angenommen hatten« (11, 1, vgl. 10,45; 11,18 und 26,23), sind vorbei. 16 Dazu Plümacher, Lukas als hellenistischer Schriftsteller. Studien zur Apostelgeschichte (StNT 9), Göttingen 1972, 38-72. Alexander Mittelstacdt Lukas als Historiker 8 Lukas als Historiker Zur Datierung des lukanischen Doppelwerkes Zur Datierung des lukanischen Doppelwerkes Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter Band 43 2006, 271 Seiten, €[0] 59,-/ SFR 100,- ISBN 3-7720-8140-1 Die Ankündigung der Zerstörung Jerusalems im Lukasevangelium gilt allgemein als »vaticinium ex eventu«, weshalb man das Evangelium und die Apostelgeschichte erst nach dem vermeintlichen Eintreten dieser Prophezeiung im Jahr 70 ansetzt. Dabei lieferte die Apokalyptik die entscheidenden Vorlagen; Markus wie Lukas erwarteten eine Zerstörung Jerusalems als Teil der endzeitlichen Geschehnisse. Zudem offenbart die gesamte Gestaltung des Doppelwerkes eine völlige Unkenntnis seines Autors über die Christenverfolgung unter Nero. Stattdessen legen Indizien nahe, dass der Großteil der Arbeit am Doppelwerk während der Gefangenschaft des Paulus in Caesarea (57-59 n.Chr.) geleistet wurde. ZNT 18 (9. Jg. 2006) David Trobisch Die narrative Welt der Apostelgeschichte Apg 1,1-2a: Im ersten Buch, lieber Theophilus, habe ich über alles berichtet, was Jesus getan und gelehrt hat, bis zu dem Tag, an dem er (in den Himmel) aufgenommen wurde.' Literarisch steht die Apostelgeschichte in enger Verbindung zum Vier-Evangelien-Buch, bildet sie doch den zweiten Teil des lukanischen Werkes. Aber die Apostelgeschichte erklärt den Lesern des Neuen Testamentes auch, wer die Autoren der beiden großen Briefsammlungen sind. Sie stellt zunächst die Autoren der Katholischen Briefe vor: Jakobus, Petrus, und Johannes. Die zweite Hälfte der Apostelgeschichte befaßt sich mit dem Autor der übrigen neutestamentlichen Briefe: Paulus. Da beide Briefsammlungen den Lesern im gleichen Werk wie die Apostelgeschichte, dem Neuen Testament, präsentiert werden, kann man die Leseanweisung folgendermaßen verstehen: Beim Lesen soll man Informationen aus den Briefen mit dem in der Apostelgeschichte gebotenen erzählerischen Rahmen in Es handelt sich bei der neutestamentlichen Apostelgeschichte nicht um ein Tagebuch oder eine eidesstattliche Erklärung eines Augenzeugen, die uns im Original zur Verfügung steht, sondern um einen literarischen Text, der für ein breites Publikum überarbeitet, vervielfältigt und veröffentlicht wurde, also um Literatur. Es sollten daher auch Methoden angewandt werden, die für die Auslegung von literarischen Texten hilfreich sind. Der Versuch, mit Abstand zu überprüfen, welche der erzählten Ereignisse auch tatsächlich so stattgefunden haben, sollte erst der zweite Schritt sein. Literaturkritik ist eine Übung im Zuhören, im wohlwollenden Sich-gehen-lassen, es geht zunächst darum, sich auf die Stimme des Erzählers einzulassen, mit den handelnden Personen mitzuleiden und sich mitzufreuen. Ich möchte dies an einem Beispiel verdeutlichen, das nicht so ganz zu einem wissenschaftlichen Beitrag zum Neuen Testament zu passen scheint. Denken Sie an Karl Verbindung setzen. Dieser Gedanke verdient es, ein wenig ausgeführt zu werden, unterscheidet er sich doch von vielen anderen Ansätzen. Wird die Einheit des Neuen Testamentes ernst >> Wird die Einheit des Neuen Testamentes ernst genommen, so versteht sich die Apostelgeschichte als eine Art Kommentar zu den anderen Schriften.« May. Wer damit aufgewachsen ist, wird ein Bild vom Wilden Westen der USA haben, das von ehrenhaften Indianern, korrupten Eisenbahnfirmen, Trappern und europäischen Greenhorns begenommen, so versteht sich die Apostelgeschichte als eine Art Kommentar zu den anderen Schriften. Sie zitiert keinen Paulusbrief ausdrücklich und doch ist dadurch daß ' Paulus der Held weiter Teile des Buches ist, der Verweis auf die Paulusbriefe für die Leser ebenso deutlich wie der Verweis auf das Lukasevangelium im ersten Satz der Schrift. Das gleiche gilt für Jakobus, Petrus und Johannes, die Autoren der Katholischen Briefe. Dadurch, daß nicht ausdrücklich aus den Briefen zitiert wird, wird den Lesern suggeriert, daß hier ein Bericht vorliegt, der unabhängig von den beiden Briefsammlungen noch einmal dieselben Ereignisse behandelt. ZNT 18 (9.Jg. 2006) völkert ist, die Wüsten durchqueren, auf Geisire treffen, mit dem Pferd Canons überspringen, Schätze aus Seen heben und Grislybären bloß mit dem Messer töten. Ganz ungeachtet der Frage, ob alles auch tatsächlich so stattgefunden hat, wie Karl May es beschreibt, muß man doch eingestehen, daß es dem Autor gelungen ist, ein Jahrhundert lang das Bild des » Wilden Westens« in der Phantasie seines deutschen Lesepublikums zu prägen. Der Fachausdruck dafür ist »Narrative Welt«. Überprüft man aber die Tatsachen, so stellt sich schnell heraus, daß Karl May nicht aus eigener Erfahrung schreibt. Obwohl meistens in der ersten Person berichtet wird, hat er lediglich 9 Reiseberichte seiner Zeit ausgewertet. Erst 1908, vier Jahre vor seinem Tod, bereist er zum ersten Mal die USA. Es stellt sich deshalb die Frage: Darf man in der ersten Person berichten, obwohl man nicht dabei war? Als Historiker wohl nicht, als Geschichtenerzähler aber sehr wohl. Was also in Karl Mays Schriften tatsächlich die historische Wirklichkeit des ausgehenden 19. J ahrunderts beschreibt und was nicht, wird man nicht aus einer Kritik seiner eigenen Schriften erheben können, sondern man wird Quellen brauchen, die unabhängig von seinen Schriften dieselben Ereignisse beschreiben und deren Quellenwert klar einschätzbar ist. Und hier sehe ich das Problem der historischen Auswertung der Apostelgeschichte. Wir haben keine unabhängigen Quellen. Wer die Einheit des Neuen Testamentes ernst nimmt, muß eingestehen, daß die neutestamentliche Briefliteratur schwerlich als unabhängige Quelle im historischen Sinne gewertet werden kann. Die Herausgeber der ersten Auflage des Neuen Testamentes wußten sehr wohl, daß die Leser die Apostelgeschichte im Kontext der Paulusbriefe und der Katholischen Briefsammlung lesen würden. Die N ebeneinanderstellung ist Absicht, sie ist Programm. Was man in den Briefen nicht versteht, erklärt oft genug die Apostelgeschichte. Und umgekehrt verhält es sich ebenso. Einmal angenommen, daß Sie diesen Beitrag noch nicht zur Seite gelegt haben und bereit sind, sich auf das Experiment einzulassen: Wie also sollte man das Buch dann What is Narrative Criticism? (Minneapolis: Fortress Press, 1991) geschrieben. Im folgenden versuche ich zu zeigen, was herauskommen kann, wenn man die Apostelgeschichte auf diese Art betrachtet. 1. Narrative Analyse Was braucht man, um eine Geschichte zu erzählen? Man braucht Personen, Schauplätze und eine Handlung, die bestimmt, wer was wann und wo macht. Um die Handlung voranzutreiben, braucht jede Geschichte einen Konflikt, der im Laufe der Erzählung aufgelöst wird. Der Titel des Buches, »Die Taten der Apostel«, weist die Leser an, die wichtigsten handelnden Personen als »Apostel« zu verstehen. Im ersten Teil des Buches handelt es sich dabei um Personen, die mit Jesus von N azareth eng vertraut sind, weil sie aus seinem engsten Familien- oder Schülerkreis stammen. Dazu gehören unter anderen Petrus, Johannes, Jakobus und der Jesusbruder Judas, die vier Autoren der sieben Katholischen Briefe des Neuen Testamentes. Apg 1,13-14: Als sie in die Stadt kamen, gingen sie in das Obergemach hinauf, wo sie nun ständig blieben: Petrus und Johannes, Jakobus ... Sie alle verharrten dort einmütig im Gebet, zusammen mit den Frauen und mit Maria, der Mutter Jesu, und mit seinen Brüdern. lesen? Gibt es eine Möglichkeit, Erzählungen zu analysieren und zu beschreiben, die das subjektive Leseerlebnis übersteigt, eine Art Methode, Literatur zu kritisieren? »Literary Criticism«, ein Begriff, den ich hier als Literaturkritik wiedergebe, ist im englischen Sprachraum im 19. »Mein Vorschlag besteht darin, den grundsätzlichen Konflikt, der erzählerisch aufgeli5st wird, im Streit zwischen Paulus und der }erusalemt: r Führung zu sehen, wie er in de,n Paulusbriefen deutlich In der zweiten Hälfte der Apostelgeschichte ist die Hauptperson der Handlung Paulus, der ebenso wie die Leser der Apostelgeschichte Jesus von N azareth nicht getroffen hat, aber durch ein spirituelles Erlebnis zum Nachfolger des auferstandedokumentiert ist.« Jahrhundert entstanden. Durch das Aufkommen von Tageszeitungen war der Bedarf nach kritischen Beurteilungen von Neuerscheinungen und Theaterstücken gewachsen. Die Untergattung, »Narrative Criticism« oder Narrative Kritik, wie ich sie nenne, befaßt sich mit erzählender Literatur. Eine gute Einführung hat Mark Allan Powell, 10 nen Christus wird. Auf die Schauplätze der Handlung werden die Leserinnen und Leser durch Apg 1,8 vorbereitet: Jerusalem, Judäa, Samarien und dann die ganze Welt. Apg 1,8: Aber ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes empfangen, der auf euch herabkommen wird; ZNT 18 (9. Jg. 2006) David Trobisch David Trobisch wurde in Kamerun, Westafrika geboren. Er studierte evangelische Theologie in Neuendettelsau, Tübingen und Heidelberg, wo er promovierte und sich habilitierte. Seit 1995 lebt und arbeitet er in den USA. Lehrtätigkeit an der Universität Heidelberg, Missouri State University, Yale Divinity School und Bangor Theological Seminary. Er wohnt in Portland, Maine. Weitere Informationen zu Person und Forschungsschwerpunkten unter: .www.bts.edu/ trobisch und ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde. Doch worin besteht der Konflikt, ohne den eine Handlung nicht möglich ist? Das ist natürlich Interpretationssache. Mein Vorschlag besteht darin, den grundsätzlichen Konflikt, der erzählerisch aufgelöst wird, im Streit zwischen Paulus und der Jerusalemer Führung zu sehen, wie er in den Paulusbriefen deutlich dokumentiert ist. 1Kor 1,12 erwähnt eine Petruspartei und eine Pauluspartei. In 1Kor 9,5-6 werden ausdrücklich Petrus, die Apostel und die Brüder des Herrn erwähnt. Diese halten sich an Jesu Anweisung, sich während ihrer Missionstätigkeit von den Gemeinden aushalten zu lassen, während Paulus von der eigenen Hände Arbeit lebt. Paulus bricht hier ganz offensichtlich ein Gebot J esu. 1Kor 9,3-6: Das aber ist meine Rechtfertigung vor denen, die abfällig über mich urteilen: Haben wir nicht das Recht, zu essen und zu trinken? Haben wir nicht das Recht, eine gläubige Frau mitzunehmen, wie die übrigen Apostel und die Brüder des Herrn ZNT 18 (9. Jg. 2006) David Trobisch Die narrative Welt der Apostelgeschichte und wie Kephas? Sollen nur ich und Barnabas auf das Recht verzichten, nicht zu arbeiten? Und schließlich ist wohl der gesamte Galaterbrief ein Kommentar zu dem unerfreulichen Zwischenfall in Antiochien, bei dem Paulus öffentlich Petrus kritisiert (Gal 2,11). Auch einiges in den Katholischen Briefen kann als Kritik an Paulus gelesen werden. Im Jakobusbrief scheint Jakobus direkt gegen das paulinische Konzept der Rechtfertigung aus Glaube allein zu argumentieren (Jak 2,24 ), und die Beschwörung der Einigkeit zwischen Petrus und Paulus im 2. Petrusbrief macht erst auf dem Hintergrundeines Streites Sinn (2Petr 3,15-16). In meinen Augen bildet die Apostelgeschichte einen narrativen Kommentar zu diesen Textstellen. Sie löst diesen offensichtlichen Konflikt auf. Mein Argument ist dabei die Struktur der Apostelgeschichte, die in etwa gleichviel Text für J erusalem verwendet wie für Paulus, und die J erusalemer um Petrus nicht gegen Paulus und seine Mitarbeiter ausspielt. In der ersten Hälfte des Buches wird über die J erusalemer berichtet, in der zweiten Hälfte über Paulus. Ungefähr in der Mitte des Werkes in Kapitel 15 treffen sich alle und verabschieden eine gemeinsame schriftliche Erklärung (Apg 15,23-29), in der der Konflikt zwischen Paulus und den J erusalemern zunächst eingestanden und dann aufgelöst wird. Diese Tendenz drückt sich auch in der Auswahl der erzählten Wundergeschichten und wunderbaren Begebenheiten aus: Alles was Petrus tut, wird von Paulus wiederholt. Einige Beispiele: Petrus heilt zusammen mit Johannes im Jerusalemer Tempel einen Mann, der von Geburt an gelähmt war (Apg 3,1-10), Paulus heilt in Lystra einen Mann, der von Geburt an gelähmt war (Apg 14,8-10). Allein durch seinen Schatten heilt Petrus in Jerusalem Kranke (Apg 5,15), Paulus vermag dasselbe in Ephesus allein durch seine Schweiß- und Taschentücher (Apg 19,12). Petrus treibt in Jerusalem unreine Geister aus (Apg 5,16), Paulus befiehlt dem Wahrsagegeist einer Magd in Ephesus, die Frau zu verlassen (Apg 16,18). Auch der Bericht, daß die Kranken aus den umliegenden Städten zu Petrus nach Jerusalem gebracht und alle geheilt werden (Apg 16), findet eine Parallele bei Paulus, zu dem nach sei- 11 nem Schiffbruch auf Malta alle Kranken der Insel gebracht und geheilt werden (Apg 28, 9). Petrus erweckt die Jüngerin Tabita in Joppe (Apg 9,36- 41 ), Paulus den jungen Eutychus in Troas (Apg 20,9-12). So wie Petrus in Lydda den lahmen und seit acht Jahren bettlägerigen Äneas heilt (Apg 9,33-34 ), so heilt Paulus auf Malta den Vater des Publius, der an der Ruhr erkrankt war und mit Fieber im Bett lag (Apg 28,8). Petrus und Johannes setzen sich erfolgreich gegen den Zauberer Simon durch (Apg 8,18-25), während Paulus und Barnabas den Zauberer Elymas blenden (Apg 13,6-12). Kornelius fällt vor Petrus ehrfürchtig nieder (Apg 10,25), Paulus und Barnabas werden in Lystra wie Götter verehrt (Apg 14,11-18, vgl. 28,6), und beide Male lehnen sie die Verehrung mit dem gleichen Einwand ab: »auch ich bin nur ein Mensch« (Apg 10,26), bzw. »auch wir sind nur Menschen« (Apg 14,15). Petrus und Johannes erteilen den Heiligen Geist durch Handauflegung (Apg 8,14-17; vgl. 10,44), ebenso legt Paulus seine Hände auf die zwölf Anhänger Johannes des Täufers und der Heilige Geist kommt auf sie herab (Apg 19,1-7). Durch eine Vision wird Petrus in Joppe zum Heidenmissionar (Apg 1 O; vgl. 11,5- 10) und durch eine Vision wird Paulus vor Damaskus zum Christusverkünder (Apg 9,1-22; vgl. 22,6-11; 26,12-18). 2 2. Kritische Anfragen Natürlich funktioniert Narrative Kritik um so besser, je sorgfältiger die Erzählung konstruiert ist. Und hier ergibt sich eine offensichtliche Schwierigkeit im Falle der Apostelgeschichte. Sie ist im Vergleich zu den anderen neutestamentlichen Erzählbüchern, das sind die vier Evangelien und die Offenbarung, und im Vergleich zu zeitgenössischen Erzählungen sehr achtlos und ungemein schlampig redigiert worden. Während am Ende des Lukasevangeliums die Himmelfahrt am Ostersonntag und am Ölberg stattfindet, geschieht sie in der Apostelgeschichte vierzig Tage nach Ostern und in Bethanien, das mehrere Kilometer entfernt liegt. Drei Mal wird die Bekehrung des Paulus berichtet. In 9,4.7 hören Paulus und seine Begleiter die Stimme Gottes, in 22,7.9 hört sie nur Paulus. In 9,7 sehen die Begleiter das Licht nicht, in 26, 13 aber sehen sie es. Das hätte sich 12 leicht korrigieren lassen. Bis 13,7 wird Paulus als Saulus bezeichnet, 13,9 erwähnt beiläufig »Saulus, der auch Paulus heißt«, und von da an wird er nur noch Paulus genannt. Die Erzählung liefert keinerlei Erklärung für den Namenswechsel. Das ist nicht gut gelöst. Die Liste von Beispielen ließe sich noch lange fortsetzen. Die unbefriedigende Endredaktion der Apostelgeschichte hat schon früh dazu Anlaß gegeben, den Text zu bearbeiten. Spuren mehrerer konkurrierender Ausgaben haben sich in den Handschriften erhalten, besonders bekannt ist hier die redaktionelle Bearbeitung des sogenannten westlichen Textes, die etwa zehn Prozent erklärenden Text ergänzt. 3 Da die literarische Qualität der Apostelgeschichte nicht sehr hoch anzusetzen ist, scheint es nicht angemessen, Analysen auf Details zu stützen, sondern sich auf die groben Linien und den Gesamtentwurf zu konzentrieren, wie ich es oben dargelegt habe. Ich denke das Programm dieses Buches, den Konflikt zwischen Paulus und Jerusalem aufzulösen, ist im Aufbau deutlich erkennbar. 3. Historischer Quellenwert Ist Karl May eine zuverlässige Quelle für die Situation in Nordamerika im ausgehenden 19. Jahrhundert? Wohl kaum. Zu viel Phantastisches mischt sich in die korrekten Beschreibungen. Was Karl Mays Werk aber ausgezeichnet beschreibt, ist das Bild, das der Autor und seine Leserschaft entwickelten, eine narrative Welt, die bis heute noch ihre Auswirkungen hat. Ich habe in Franken einmal erwachsene Männer als Cowboys und Indianer verkleidet zu Wigwams reiten sehen, in denen sie dann das Wochenende verbrachten. Meines Erachtens besteht der historische Quellenwert der Apostelgeschichte darin, daß sie uns ein Bild der inneren Welt eines frühchristlichen Erzählers und seiner Leserschaft zeichnet. Ereignisse aus der Vergangenheit, die der implizite Autor nach eigenen Aussagen nur vom Hörensagen kennt (Lk 1,1-4), werden neu erzählt, um die Gegenwart des Autors und seiner Leser zu erklären. Und man verzeihe mir die Parallele zu den Karl-May-Spielen in Bad Segeberg das lukanische Werk hat das Kirchenjahr mehr geprägt ZNT 18 (9.Jg. 2006) als irgendeine andere Schrift. Ohne die Apostelgeschichte hätten wir keine Himmelfahrt vierzig Tage nach Ostern und wohl auch kein Pfingstfest. Ist Jesus wirklich gen Himmel gefahren? Haben sich wirklich kleine Flämmchen gebildet als der Heilige Geist herniederkam? Wohl kaum. Können wir verstehen, warum der Autor die Geschichte so erzählt? Aber natürlich. Der Heilige Geist ersetzt die Gegenwart J esu. Und dazu muß Jesus erst einmal verschwinden. Eine wunderbare narrative Lösung eines theologischen Problems und eine sehr angemessene Beschreibung der spirituellen Erfahrung eines antiken und modernen Christen dies sei ohne einen ironischen Unterton festgehalten. Die Bibel ist voller Geschichten, die das Unerklärbare erklären. Warum arbeiten wir am Sonntag nicht? Nun, Gott hat die Welt in sieben Tagen erschaffen, am siebten ruhte er (Gen 2,2). Woher kommen die Babies? Nun, Gott hat Adam eine Rippe entfernt und daraus die erste Frau gemacht. Was aus einem Leib kommt, will wieder zu einem Leib werden: im Kind. Wie kommt es zu den vielen verschiedenen Sprachen? Das hängt mit dem Turmbau zu Babel zusammen (Gen 11,9). Warum müssen Maria und Joseph bei Matthäus und Lukas nach Bethlehem reisen? Weil es so von den Propheten angekündigt wurde, aus N azareth kann der Messias nicht kommen. Wie kommt es, daß Jesus zu seinen Lebzeiten gebot, sich bei der Verkündigung auf die verlorenen Schafe in Israel zu beschränken (Mt 10,5 ), das Christentum sich aber fast ausschließlich außerhalb Israels verbreitet hat? Nach Matthäus ist Jesus nach seinem Tod noch einmal erschienen und hat seine Aussendungsrede erweitert (Mt 28). Ist die Welt tatsächlich in sieben Tagen entstanden? Ist Jesus wirklich in Bethlehem geboren? Wohl kaum. Oder vorsichtiger ausgedrückt: zuverlässige Quellen außerhalb literarischer Texte entscheiden, was tatsächlich geschah. Wenn es um Geschichten geht, muß mit dichterischer Freiheit gerechnet werden. Der historische Quellenwert der Apostelgeschichte besteht für mich darin, daß sie Denkprozesse und Konzepte der sich ausbildenden katholischen Kirche des zweiten Jahrhunderts beschreibt. Die Harmonie der Apostel konnte als Leitbild verstanden werden, das sich auf den Konflikt zwischen den Paulus-treuen Christus- ZNT 18 (9. Jg. 2006) David Trobisch Die narrative Welt der Apostelgeschichte nachfolgern, wie sie sich beispielsweise in den markionitischen Gemeinden organisierten, und Jerusalem-treuen Jesusanhängern (z.B. Ebioniten) des zweiten Jahrhunderts anwenden ließ. Ohne diese harmonisierenden Tendenzen des Neuen Testamentes hätte sich das Christentum vielleicht nicht zu einer Bewegung entwickelt, der es über Jahrtausende hinweg gelungen ist, immer wieder Einheit in der Vielfalt der religiösen Ausdrucksformen ihrer Mitglieder zu finden. Ob die Apostelgeschichte darüber hinaus auch einen Quellenwert für das erste Jahrhundert hat, kann nicht allein anhand der narrativen Welt der Apostelgeschichte ermittelt werden. Die Frage der Historizität der geschilderten Ereignisse muß meines Erachtens von Quellen außerhalb des Textes beantwortet werden. Denn in Dichtung - und dazu gehören die frommen Erzählungen der Apostelgeschichte steht historisch Korrektes neben freier Erfindung, Autoren sind nicht verpflichtet ihren Lesern und Leserinnen offenzulegen, wo das eine endet und das andere beginnt. 4. Historisch-kritische Methode Gelegentlich wird Literaturkritik verstanden als ein Ansatz, der mit historisch-kritischen Methoden konkurriert. Ich denke nicht, daß das der Fall ist. Formgeschichte lehrt uns, einen Text zunächst in seiner Endgestalt zu verstehen, und durch sorgfältige Bestimmung der Gattung und des Sitzes im Leben den Quellenwert zu beschreiben. Genau das kann Literaturkritik leisten. Die Apostelgeschichte wird erstmals von Irenaeus in Adversus Haereses ausdrücklich zitiert. Das ist um das Jahr 180, kurz bevor die handschriftliche Tradition in den Papyri einsetzt. Es gibt keinen zwingenden Grund, die Entstehung der Apostelgeschichte viel früher anzusetzen. Ihre enge Verbindung zum Vier-Evangelien- Buch und zu den beiden neutestamentlichen Briefsammlungen scheint für eine späte Endredaktion dieser Schrift zu sprechen, zu einer Zeit, in der das Neue Testament in der Form, in der wir es kennen, bereits feststeht. Auch wenn es natürlich nicht klar nachgewiesen werden kann, so sollte doch die Vermutung ernst genommen werden, daß die Apostelgeschichte gattungsmäßig verwandten Schriften wie die Acta Pauli et Theclae 13 oder das Martyrium des Ignatius kannte und imizu verzaubern und zu erweitern, als Künstler. Theologie und Kunst sind verwandt. Das Reden tierte. Und was den historischen Wert einer Quelle angeht, sollte man stets von der Quelle ausgehen und auf die Ereignisse hinarbeiten, auf die die Quelle Bezug nimmt, und niemals umgekehrt. Dies ist eine schwerer Weg für Neutestamentler, die auch Theologen sein wollen. Denn als Mitglied einer Glaubensgemeinschaft hat man eben so seine Vorstellungen, was im ersten Jahrhundert tatsächlich »Auch wenn es natürlich nicht klar nachgewiesen werden kann, so sollte doch die Vermutung ernst genommen werden, daß die Apostelgeschichte gattungsmäßig verwandten Schriften wie die Acta Pauli et Theclae oder das Martyrium des Ignatius kannte und imitierte.« von Gott verweist auf eine menschliche Erfahrung, die sich der intersubjektiven Meßbarkeit entzieht, ähnlich wie Schmerz oder Freude oder Trauer oder Einsamkeit. Auch wenn die Erfahrung geteilt wird, bleibt sie doch weitgehend in einer inneren, persönlichen Welt. Diese Welt wird mit Erzählungen erreicht. Die Apostelgeschichte befindet sich in diestattgefunden hat. Genau wie der Autor und Redaktor der Apostelgeschichte. ser Tradition. Auch Jesus von Nazareth wird von den Evangelisten als Geschichtenerzähler dargestellt. Geschichten von Gott zu erzählen, ist keine Schande, es ist Kunst. 5. Theologische Überlegungen Anmerkungen Warum gehen Dichter mit der historischen Wirklichkeit so großzügig um? Warum stellen Maler die Welt anders da, als man sie mit den eigenen Augen sieht? Warum müssen Musiker Lieder schreiben, um die Wirklichkeit zu erfassen? Es gibt darauf keine klare Antwort. Falls der Versuch gelingt, bezeichnen wir das Ergebnis als Kunst und die Leute, denen es gelingt unsere Erfahrung Die deutschen Bibelzitate sind entnommen: Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Stuttgart 1980. Weitere Beispiele: D. Trobisch, Die Endredaktion des Neuen Testaments: Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel (NTOA 31), Freiburg (Schweiz)/ Göttingen 1996, 128-134 = The First Edition of the New Testament, New York 2000, 80-85. W.A. Strange, The Problem of The Text of Acts, Cambridge 1992. 14 Oda Wischmeyer (Hrsg.) Paulus Leben - Umwelt - Werk - Briefe UTB 2767 2006, 320 Seiten, div. Abb. und Tab., €[0] 19,90/ SFR 34,90 ISBN 3-8252-2767-7 Das Buch ist als Lehrbuch für die Examensvorbereitung in den Fächern Evangelische und Katholische Theologie konzipiert und stellt Umwelt, Person, Werk, Briefe, theologische Themen und Wirkung des Paulus auf dem neuesten Forschungsstand dar. Besonderes Interesse gilt drei Bereichen: der Rekonstruktion des jüdischen und griechisch-römischen religiösen Umfeldes, der strukturierten, formalen und thematischen Erschließung der Briefe sowie der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte des Paulus. Das Buch steht zwischen den umfangreichen Spezialdarstellungen der paulinischen Theologie und den Kurzeinführungen für einen allgemeinen lnteressentenkreis und erfüllt damit ein Desiderat der deutschsprachigen Fachliteratur. A. Francke ZNT 18 (9.Jg. 2006) Alain Gignac Neue Wege der Auslegung. Die Paulus-Interpretation von Alain Badiou und Giorgio Agamben 1 Der Fall der Berliner Mauer (und das Ende der marxistischen Utopie) sowie das Phänomen der Globalisierung (und der Triumph des Neo-Liberalismus) haben zwei bedeutende politische Denker veranlasst, Paulus wiederzuentdecken, obwohl beide agnostisch oder sogar atheistisch sind 2 so als ob uns der paulinische Korpus aus der Aporie, in die die politische Reflexion geraten ist, herausziehen könnte. Der Franzose Alain Badiou und der Italiener Giorgio Agamben sind zwar nicht die einzigen Philoso- Die Theologen und Exegeten, sobald sie sich von der Überraschung erholt haben, Philosophen in ihrem Fachbereich wildern zu sehen, können von diesen neuen paulinischen Interpretationen viel lernen, auch wenn sie manchmal feststellen, dass sich bestimmte Elemente der paulinischen Theologie in den Synthesen von Badiou und Agamben nur schwer integrieren lassen. Dies gilt aber für jede Auslegung, einschließlich der Interpretationen von Luther und Barth: Keine vermag den paulinischen Text, der seit phen, die sich für das politische Denken des Paulus interessieren,' aber ihr Ansatz ist insofern exemplarisch, als er sich als das Ergebnis der Reflexion eines ganzen philosophischen Lebens darstellt und die Figur des Paulus die Zusammenfassung dieser Re- »Die Theologen und Exegeten, sobald sie sich von der Überraschung erholt haben, Philosophen in ihrem Fachbereich wildern zu sehen, können von diesen neuen paulinischen Interzweitausend Jahren der westlichen Welt zu denken gibt, völlig auszuschöpfen. Vor einigen Jahren habe ich die paulinischen Interpretationen von Alain Badiou, Giorgio Agamen, aber auch von Jacob Taubes 4 parallel dargepretationen viel lernen ... «. flexion bildet. Auf dem Spiel steht nicht weniger als die Zukunft der Demokratie und die universale Anerkennung des Menschlichen im Menschen. Ist eine politische Utopie noch zu begründen? Gibt es noch einen Raum für die Politik? Kann das politische Handeln noch als eine relevante Möglichkeit betrachtet werden angesichts des entpersonalisierenden Systems des Konsums, das trotz der Diskurse über die Freiheit herrscht? Ist eine demokratische und solidarische Veränderung der Sachverhalte noch denkbar? Und wie kann Pluralität wahrgenommen werden, ohne dass die Universalität aufgegeben wird? »Paulus ist für mich ein dichterischer Denker des Ereignisses und zugleich der, welcher in seiner Aussage wie in seinem Tun die bleibenden Züge jener Figur zeigt, die man den militant oder Kämpfer nennen könnte. An ihm tritt eine Verbindung zutage, die durch und durch menschlich ist und deren Schicksal mich fasziniert: die nämlich, die zwischen der generellen Idee eines Bruchs, eines Umsturzes, und der einer Praxis und eines Denkens besteht, welches die subjektive Materialität dieses Bruchs darstellt« (Badiou, sf.). ZNT 18 (9. Jg. 2006) stellt.' Ich habe unter anderem versucht, die Verwurzelung ihrer Auslegung innerhalb ihres eigenen Werkes zu zeigen. Ich legte den Akzent auf ihre philosophischen Fragestellungen und auf die ideengeschichtlichen Traditionen, die sie aufnehmen. Ich warnte auch vor der Gefahr, ihre Begrifflichkeit (Sein, Ereignis, Fabel) im Rahmen des herkömmlichen ontologischen Wortschatzes zu lesen. Es war mein primäres Ziel, mich als Exeget ohne einen großen Abstand mit ihren Hauptthesen auseinander zu setzen. Im vorliegenden Essay möchte ich auf eine parallele Darstellung verzichten, um vielmehr die Ansätze auf die ihnen inhärenten theologischen Themen hin zu untersuchen, mit denen Badiou und Agamben die Theologie herausfordern. 6 Fassen wir deshalb die Thesen von Badiou und Agamben in Grundzügen zusammen. Nach Badiou ist Paulus der erste Theoretiker, der aufgrund des Ereignisses seiner Berufung die Struktur des Universalismus beschrieben und begründet hat: »Das, was uns am Werk des Paulus fesselt, ist eine einzigartige [...] Verbindung, deren eigent- 15 licher Erfinder Paulus ist: die Verbindung, die einen Übergang zwischen einer Aussage über das Subjekt und der Frage nach dem Gesetz herstellt. Es geht darum, dass Paulus ergründen will, welches Gesetz ein jeder Identität beraubtes Subjekt strukturieren kann, ein Subjekt, das von einem Ereignis abhängt, dessen einziger ,Beweis, genau darin besteht, dass ein Subjekt sich zu ihm bekennt. Das Wesentliche dieser paradoxen Verbindung zwischen einem Subjekt ohne Identität und einem Gesetz ohne Stütze besteht für uns darin, dass sie die geschichtliche Möglichkeit einer universalen Verkündigung begründet. Die unerhörte Geste des Paulus ist die, die Wahrheit jedem kommunitären Zugriff zu entziehen, mag es sich um ein Volk, eine Stadt, ein Reich, ein Territorium oder eine soziale Klasse handeln. Das, was wahr ist ( oder gerecht, was in diesem Falle dasselbe ist), lässt sich auf keine objektive Menge zurückführen, weder nach seiner Ursache noch nach seiner Bestimmung« (Badiou, 13f.). Paulus ist im wissenschaftlichen Sinne des Wortes das Paradigma des Subjektes, das durch das Ereignis der Offenbarung des Auferstandenen und der Berufung als individuelle Subjektivität konstituiert wird und sich von der alten Zeit der allgemein-objektiven Definitionen und der Partikularitäten unterscheidet. Die Singularität des Ereignisses, das den anekdotischen Ablauf der Geschichte unterbricht, die Treue des Subjekts zu diesem Ereignis (Der Glaube), die Betonung seiner universalen Gültigkeit (Die Liebe) und seine Gewissheit (Die Hoffnung) begründen den universalen Charakter der Wahrheit. 16 »Der grundsätzliche Gedankengang des Paulus ist der folgende: wenn ein Ereignis stattgefunden hat und wenn die Wahrheit darin besteht, es zu bekennen und ihm dann treu zu bleiben, dann folgen daraus zwei Konsequenzen: Wenn, einmal, die Wahrheit ereignishaft ist oder der Ordnung dessen angehört, was geschieht, dann ist sie singulär. Sie ist weder struktural noch axiomatisch noch legal. Keine vorhandene Allgemeinheit kann von ihr Rechenschaft geben oder das Subjekt, das sich auf sie beruft, strukturieren. Es kann also kein Gesetz der Wahrheit geben. Da, weiter, die Wahrheit sich ausgehend von einem Bekenntnis von essentiell subjektivem Charakter einschreibt, wird sie von keiner bereits konstituierten Teilmenge gestützt, verleiht nichts Kommunitäres oder historisch Etabliertes ihrem Prozess seine Substanz. Die Wahrheit ist im Hinblick auf alle kommunitären Teilmengen diagonal; sie autorisiert sich durch keine Identität, und (dieser Punkt ist offenkundig der delikateste) sie konstituiert auch keine. Sie ist allen angeboten und für jeden bestimmt, ohne dass irgendeine vorausgesetzte Zugehörigkeit dieses Angebot oder diese Bestimmung einschränken könnte« ( Badiou, 28f.). Giorgio Agamben verweist auf eine Vorstellung des Messianismus, den er mit den Namen von Jacob Taubes und Walter Benjamin verbindet: »Die Möglichkeit, die Botschaft des Paulus zu verstehen, fällt mit der Erfahrung dieser [messianischen] Zeit vollständig zusammen: Ohne diese Erfahrung bleibt jene als toter Buchstabe zurück. Daher wird das Unterfangen, Paulus wieder in seinem messianischen Kontext zu verorten, für uns zuallererst bedeuten zu versuchen, den Sinn und die innere Form derjenigen Zeit zu verstehen, die bei ihm ho nyn kair6s, die ,Jetztzeit" heißt, und sich erst dann zu fragen, in welcher Art und Weise so etwas wie eine messianische Gemeinschaft wirklich möglich ist« (Agamben, 1lf.). Paulus sei der anspruchvollste messianische Denker, was sowohl das Christentum als auch das Judentum verkannt haben: »Die paulinische klesis ist [...] eine Theorie über die Beziehung zwischen dem Messianischen und dem Subjekt, die ein für allemal mit dessen Ansprüchen auf Identität und Eigentum abrechnet. Auch in diesem Sinne ist das, was nicht ist (ta me onta), stärker, als das, was ist. [...] Das messianische Subjekt betrachtet die Welt nicht, als ob sie gerettet wäre. Vielmehr betrachtet es die Rettung, indem es sich mit den Worten Benjamins im Unrettbaren verliert. So kompliziert ist die Erfahrung der klesis, so schwierig ist es, im Ruf zu verharren« (Agamben, 53f.). Auf der einen Seite wird die Universalität hervorgehoben, auf der anderen Seite liegt der Akzent auf dem Zeitverständnis, obwohl sich beide Ansätze in unterschiedlicher Art und Weise sowohl mit dem Universalen als auch mit der Zeit befassen. Beide wählen den Weg der paulinischen Theologie, um die Relevanz einer politischen Philosophie zu begründen, die auf einen Umsturz der herrschenden politischen Systeme zuläuft. Während durch die Logik eines Universalismus des Denkens bei Badiou alles auf eine Verwandlung der offenen Demokratie in einen Parlamentarismus zuläuft, wird bei Agamben das politische System ZNT 18 (9. Jg. 2006) Alain Gignac Professor Alain Gignac, geboren 1964 in Quebec, war nach dem Studium von 1985-1999 Lehrer am College Saint-Charles-Garnier (Quebec). Von 1992-1994 war er am DSEB Institut catholique de Paris und DEA Sorbonne und wurde 1996 an der Universität von Montreal promoviert. 1996-1999 Lehrbeauftragter an der Universite Lava! und an der Universite du Quebec a Chicoutimi. Seit 1999 Professor an der Universite de Montreal. Veröffent! ichungen.u.a.: A. Gigµac et A .. Fortin (Hgg.), »Christ est mort pour nous«: etudes semiotiques, foministes et soteriologiques en l'honneur d'Olivette Genest (coll. Sciences bibliques 14), Montreal 2005; Traduction et annotation de Galates et Romains dans Bible: nouvelle traduction, Paris und Montreal 2001; Juifs et chretiens a l'ecole de Paul de Tarse? Enjeux identitaires et ethiques d'une lecture de Rm 9~ 11 (Sciences bibliques), Montreal 1999. durch das von ihm postulierte messianische Bewusstsein, das sich jenseits der geschichtlichen Abläufe vollzieht, in Frage gestellt und führt zu einem Ausnahmezustand. Beide stellen somit Paulus und seine Schriften explizit in den Kontext einer gegenwärtigen politischen Philosophie. So formuliert können die beiden Thesen verwirren, weil sie ein überraschendes, unter Umständen reduktionistisches, aber auf jeden Fall ungewohntes Paulusbild widerspiegeln. Deshalb möchte ich in einem ersten Teil die Stärken und die problematischen Seiten ihres Zugangs zu Paulus darstellen. Im zweiten Teil werde ich Themen der paulinischen Theologie benennen, die sie neu beleuchten: Nämlich das Zeitbewusstsein, das glaubende Subjekt, die Dialektik des Fleisches und des Geistes und die Problematik des Gesetzes. Vorausgeschickt sei die Bemerkung, dass beide Philosophen trotz ihres gemeinsamen Interesses ZNT 18 (9. Jg. 2006) an einer relecture der Theologie des Paulus auch grundsätzliche Differenzen hinsichtlich ihrer politischen Lektüre im Generellen sowie hinsichtlich ihrer Interpretation von Paulus im Speziellen haben. Beide teilen zwar das Interesse an den paulinischen Schriften; Badiou durch eine systematische Darstellung, die sich im Wesentlichen auf den Galaterbrief, den 1. Korintherbrief sowie Römer 7 bezieht, Agamben durch einen Kommentar der zehn ersten Wörter des Römerbriefes, um eine politische Philosophie, die sich auf die marxistische Philosophie beruft, anthropologisch oder im Sinne von Walter Benjamin messianisch zu begründen. Aber dennoch dürfen ihre grundlegenden Differenzen nicht übersehen werden. Ihre Auseinandersetzung betrifft insbesondere ihr kontrovers diskutiertes Verständnis des Universalismus und des Verhältnisses des Einzelnen zur Geschichte. Gegen die von Agamben pointierte Kritik am Universalismus hat Badiou hervorgehoben: »Das Denken ist nur dann universal, wenn es sich an alle wendet, und in dieser Adresse verwirklicht es sich als Macht. Sobald aber alle, auch der vereinzelte Kämpfer, nach dem Maß des Universalen gelten, muss daraus die Subsumierung des Anderen unter das Selbe entstehen. Paulus zeigt im Einzelnen, wie ein universales Denken ausgehend von der mundanen Wucherung der Alteritäten (der Jude, der Grieche, die Frauen, die Männer, die Sklaven, die Freien etc.) Selbes und Gleiches produziert ( es gibt weder Jude noch Grieche etc.). Die Produktion von Gleichheit, die gedankliche Außerkraftsetzung von Differenzen, sind die materiellen Zeichen des Universalen. Gegen den Universalismus als Produktion des Selben hat man neuerdings eingewandt,' er finde sein Emblem, wenn nicht gar seine Erfüllung, in den Lagern, wo jeder, weil bloß noch ein Körper am Rande des Todes, vollkommen gleich mit jedem anderen sei. Dieses Argument ist Schwindel ... « (Badiou, 200f.). Agamben seinerseits nimmt ausdrücklich auf Badiou Bezug, indem er seine Aussagen mit dem Universalismus der katholischen Institution in Verbindung setzt: »Sie wissen, daß Paulus immer schon für den Apostel des Universalen gehalten wurde und daß ,katholisch" d.h. universell, der Titel ist, den die Kirche für sich reklamiert hat, als sie sich auf 17 1. seine Doktrin zu stützen gedachte. So lautet der Untertitel eines jüngst erschienenen Buches Die Begründung des Universalismus: Dieses Buch will geradewegs zeigen, >wie ein universales Denken ausgehend von der mundanen Wucherung der Alteritäten [...] Selbes und Gleiches produziert< (Badiou 2002, S. 201). Aber ist es wirklich so? Ist es möglich, bei Paulus ein Universales als ,Produktion des Selben< zu denken? Es ist klar, daß der messianische Schnitt des Apelles nie ein Universales erreicht. Der Jude >nach dem Hauch< ist kein Universales, weil es nicht von allen Juden gesagt werden kann, genausowenig, wie der ,Nichtjude nach dem Fleisch, etwas Universales ist. Das bedeutet aber nicht, daß die Nicht-Nichtjuden nur ein Teil der Juden oder der Nichtjuden wären. Sie stellen vielmehr die Unmöglichkeit für die Juden und für die gojim dar, mit sich selbst zusammenzufallen, sie sind eher so etwas wie ein Rest zwischen dem Volk und sich selbst, zwischen jeder Identität und sich selbst. Man kann hier die Distanz ermessen, die das paulinische Verfahren vom modernen Universalismus trennt« (Agamben, 64 ). Ein philosophischer und synchronischer Zugang zu Paulus Die Exegese des 20. Jahrhunderts ist vor allem historisch-kritisch gewesen. Paulinische Texte zu interpretieren hieß, den Sinn zu rekonstruieren, den er für die Adressaten des 1. Jahrhunderts gehabt haben könnte. Die Auslegung paulinischer Texte stellt sich dementsprechend als ein Versuch dar, mittels exegetischer Methoden den zeitlichen Hiatus zwischen der originären Entstehungszeit und der Gegenwart zu überbrücken mit dem Ziel, sich durch ein wissenschaftli- »Wozu das alles? Man kann es nachlesen. Halten wir uns lieber ohne Umweg an die Lehre« (Badiou, 34). Und Agamben kommt sogar zu der Feststellung: »Was bedeutet es, im Messias zu leben, was ist das messianische Leben? Und welche Struktur besitzt die messianische Zeit? Diese Fragen, die die Fragen des Paulus sind, müssen auch die unseren sein« (Agamben, 29). 8 Es ist nicht ihr Anliegen zu verstehen, was der Text bedeutete, sondern was er bedeutet. Platon, Paulus, Augustinus, Hegel und Benjamin sind Zeitgenossen, mit denen wir uns unterhalten. Auffallend ist, dass Badious und Agambens aktueller Zugang zu den Texten an eine kirchlich orientierte Bibellektüre erinnert, wie sie insbesondere in der Liturgie praktiziert wird ein Zugang, den die akademische Exegese aus methodologischen oder ideologischen Gründen kaum berücksichtigt. Getauscht werden auch die klassischen Rollen der Philosophie und der Theologie. Da, wo Thomas von Aquin Aristoteles las, um den Glauben zu verstehen, liest jetzt der Philosoph die Bibel, um den Menschen zu verstehen. Man könnte Badiou und Agamben vorwerfen, den Text auf seine immanenten Dimensionen zu reduzieren und die paulinische Theologie ihres theologischen Inhalts zu entleeren, um nur noch ihre gedankliche Struktur zu beachten. Nach Agamben ist Christus kein Eigenname, sondern ein Titel, der von der Person, die ihn trägt, unabhängig bleibt: es geht nicht darum, Christus zu ches Instrumentarium an die originäre Entstehungszeit anzunähern. Badiou und Agamben drehen das Verfahren um. Ihr Zugang zum Text ist bewusst synchronisch und nicht diachronisch. Der Text stammt zwar aus der Vergangenheit, aber er ist unmittelbar an uns gerichtet und spricht zu uns in der beweg- »Getauscht werden [ ..jdit: klassischen Rollen der Philosophie und der Theologie. erkennen, sondern darum, »bescheidener und philosophischer, die Bedeutung des Wortes christ6s, d.h. ,Messias" zu verstehen« (Agamben, 29). Da, wo Thomas von Aquin Aristoteles las, um den Glauben zu verstehen, liest jetzt der Ph,ilosoph die Bibel, um den Menschen zu 1Jerstehen. « In einer ähnlichen Art und Weise hält Badiou das Osterkerygma des christlichen Glaubens für eine Fabel: ten Zeit, in der wir leben. Den beiden Philosophen ist die historisch-kritische Forschung nicht unbekannt, und jede Seite belegt die Breite ihrer Kenntnisse. Badiou erklärt jedoch: »Auch wird man fragen, welchen Gebrauch wir von der Apparatur des christlichen Glaubens, von der die Person und die Texte des Paulus abzulösen schlechthin unmöglich scheint, zu 18 ZNT 18 (9.Jg. 2006) machen gedenken. Warum sich auf diese Fabel berufen, warum sie analysieren? Denn damit die Sache klar ist genau um eine solche handelt es sich für uns. Und zwar ganz besonders im Fall des Paulus, von dem wir sehen werden, dass er, aus hochwichtigen Gründen, das Christentum auf eine einzige Aussage reduziert: Jesus ist auferstanden« (Badiou, 1lf.). Der Begriff der Fabel im Vokabular von Badiou ist durch Konnotationen bestimmt, die auf die Psychoanalyse von Jacques Lacan verweisen und die ihm seine Bedeutung geben: »Eben dieser Punkt aber ist es, der der Fabel angehört, denn an allem anderen, wie Geburt, Predigt und Tod, kann man letztlich festhalten. ,Fabel, ist, was in einer Erzählung sich für uns mit keinem Realen berührt, es sei denn mit jenem unsichtbaren, nur indirekt zugänglichen Rest, der allem offenkundig Imaginären anhaftet. In dieser Hinsicht reduziert Paulus die christliche Erzählung auf den einzigen Punkt, an dem sie Fabel ist, mit der Gewalt dessen, der weiß, dass diesen Punkt für real zu halten, vom gesamten Imaginären an seinen Rändern dispensiert« (Badiou, 12). Gerade als Fabel ist die Auferstehung singuläres Ereignis: »Denn das Ereignis ist für Paulus nicht gekommen, um etwas zu beweisen; es ist reiner Beginn. Die Auferstehung Christi ist weder ein Argument noch eine Erfüllung. Es gibt weder einen Beweis des Ereignisses, noch ist das Ereignis ein Beweis« (Badiou, 95). Der theologisch-kritische Zugang, der sowohl Kaiserideologie den vernünftigen Gottesdienst gegenüberstellt (Röm 12,1-2), sind Dimensionen, die unterbelichtet bleiben. Auch die Unterscheidung zwischen Juden und Griechen hat im Römerbrief eine Relevanz, die Badiou vergisst, weil seine Aufmerksamkeit auf den 1. Korintherbrief fokussiert ist. 9 Diese radikale Auslegung hat aber gleichzeitig einen doppelten Vorteil. Zum einen lässt sie Denkstrukturen aufscheinen, die für das Verständnis der Theologie des Paulus zentral sind. Zum anderen haben wir von der zeitgenössischen Reflexion der Geisteswissenschaften gelernt, dass das Spiel der Signifikation genauso stark, wenn nicht noch mehr mit den zugrundeliegenden Strukturen als mit Inhalten verbunden ist. Obwohl es nicht zu ihrem unmittelbar erklärten Ziel gehört, entwerfen die beiden Philosophen eine neue systematische Darstellung der Struktur des christlichen Glaubens, die von der Theologie aufzunehmen und zu diskutieren ist. Alles in allem: Die anthropologischen Strukturen, die bei Paulus entdeckt werden und als philosophisch relevant anerkannt werden, können hilfreich sein, die christliche Erfahrung zu deuten! Jenseits der Diskussion der exegetischen Einzelheiten bringen Badiou und Agamben einen frischen Wind in die paulinische Forschung, die sich oft genug auf positivistische Beobachtungen beschränkt, ohne ihre Relevanz zu zeigen, oder die sich im Kreis der bereits ausdiskutierten Debatten zwischen der lutherischen Auslegungstradition und den sogenannten neuen Perspektiven (E.P. Sanders, J. Dunn) über die Kohärenz des Badiou als auch Agamben kennzeichnet, kann zu einer gewissen Einseitigkeit führen: Die apokalyptische Struktur der paulinischen Theologie, das eschatologische Bewusstsein der Endzeit, die ekklesiologische Reflexion über die Charismen sowie die soteriologische Bedeutung des Todes J esu werden nicht diskutiert. » Badiou und Agamben .sind Außenseiter, die uns daran erinnern, dass sich die aktuelle Bedeutung der Pa.ulusbriefe nicht auf die klassischen Interpretationen der Rechtfertigungslehre beschränken lassen ... « paulinischen Gesetzesverständnisses, über die Bedeutung der pistis christou (Röm 3,22; Gal 2,16) oder über das Zentrum der paulinischen Theologie bewegt. Badiou und Agamben sind Außenseiter, die uns daran erinnern, dass sich die aktuelle Bedeutung der Paulusbriefe nicht Der Christozentrismus von Paulus wird seines Sinns entleert. Ebenso wenig werden die redaktionellen Umstände und der historische Kontext der paulinischen Briefe berücksichtigt. Auch das religiös-politische Denken, das der römischen ZNT 18 (9. Jg. 2006) auf die klassischen Interpretationen der Rechtfertigungslehre beschränken lassen, sondern dass sie zu den Klassikern des Abendlandes gehören. 19 2. Themen der paulinischen Theologie in den Werken Agambens und Badious 1. Die Zeit: Sowohl Badiou als auch Agamben heben die Bedeutung des kairos hervor, der als Augenblick der Gnade, in dem sich die messianische Zeit entfaltet (Agamben), oder als die Singularität, die aus der Kette der Ursachen und Wirkungen herausspringt, ohne von ihnen abhängig zu sein (Badiou), verstanden wird und die Kontinuität des chronos unterbricht: »Anders als die Tatsache ist das Ereignis nur an der universalen Mannigfaltigkeit messbar, deren Möglichkeit es vorschreibt. In diesem Sinn ist es nicht Geschichte, sondern Gnade« (Badiou, 86). Für Paulus besteht das Ereignis in der Berufungsgeschichte, in dem der Apostel der Heiden vom Auferstandenen ergriffen wird. Das Ereignis drängt sich Paulus auf, verändert seinen Lebenslauf und sendet ihn zu den Heiden: » Trotz alledem aber ist man, wenn man Paulus liest, erstaunt, wie wenig Spuren die Epoche, die Gattungen und die Umstände in seiner Prosa hinterlassen haben. Im Imperativ des Ereignisses gibt es etwas Dichtes und Zeitloses, etwas, was uns, eben weil es darum geht, ein Denken in seiner auftretenden Singularität, aber unabhängig von jeder Anekdote, auf das Universale zu beziehen, unmittelbar verständlich ist, ohne dass wir (ganz anders als oftmals in den Evangelien, von der dunklen Apokalypse gar nicht zu reden) zu umständlichen historischen Meditationen gezwungen wären« (Badiou, 70f.). Die historischen Umstände des Ereignisses haben kaum Relevanz und ihre Bedeutung beschränkt sich auf die Hervorhebung ihres außerordentlichen Charakters. Weder die Zukunft noch die Vergangenheit sind wichtig. Selbst die Hoffnung ist keine Erwartung, sondern sie »bezeichnet das Reale der Treue in der Probe ihrer Ausübung, hier und jetzt« (Badiou, 178). Badiou konzentriert alles in der überwältigenden Erfahrung des kairos, die den chronos außer Kraft setzt und ihm gleichzeitig seinen Sinn verleiht. Was allein zählt, ist die Handlung in der Gegenwart. Die Verknüpfung zwischen chronos und kairos nimmt bei Agamben eine andere Form an, indem 20 sie eine messianische Zeit definiert, die sich sowohl vom Eschaton als auch von der Apokalyptik unterscheidet: »Die Zeit hingegen, die der Apostel erlebt, ist nicht das eschaton, ist nicht das Ende der Zeit. Wenn man die Differenz zwischen Messianismus und Apokalypse, zwischen Apostel und Visionär in einer Formel ausdrücken müsste, so glaube ich, dass man[ ... ] sagen könnte, dass das Messianische nicht das Ende der Zeit, sondern die Zeit des Endes ist. Den Apostel interessiert nicht der letzte Tag, nicht der Augenblick, in dem die Zeit aufhört, sondern die Zeit, die zusammengedrängt ist und zu enden beginnt (1 Kor 7,29: ho kair6s synestalmenos estin) oder, wenn man will, die Zeit, die zwischen der Zeit und ihrem Ende bleibt« (Agamben, 75). » ... die messianische Zeit, die Zeit, die der Apostel erlebt und die ihn einzig interessiert, ist weder die olam hazzeh [=die Dauer der Welt von ihrer Schöpfung bis zu ihrem Ende] noch das olam habba [=die Welt, die kommt, die unzeitliche Ewigkeit], weder die chronologische Zeit noch das apokalyptische eschaton, sondern wieder einmal ein Rest, nämlich die Zeit, die zwischen diesen beiden Zeiten übrig bleibt, wenn man mit einer messianischen Zäsur oder mit einem Schnitt des Apells die Teilung der Zeit selbst teilt« (Agamben, 76). » ... die messianische Zeit [erscheint] als jener Teil des profanen Äons, der den chronos und jenen über den zukünftigen Äon hinausgehenden Teil von Ewigkei~, die beide in bezug auf die Teilung der beiden Aone als ein Rest dargestellt sind, konstitutiv überschreitet« (Agamben, 77f.). Die messianische Zeit ist »eine Zeit innerhalb der Zeit nicht jenseits, sondern innerhalb -, die nur meine Verschiebung und meinen Abstand in bezug auf sie, meine Nichtkoinzidenz mit meiner Zeitdarstellung mißt« (Agamben, 81). Genauso wie für Badiou ist die messianische Zeit keine Erwartung, sondern »die operative Zeit, die in der chronologischen Zeit drängt, die diese im Innern bearbeitet und verwandelt, die Zeit, die wir benötigen, um die Zeit zu beenden in diesem Sinne: die Zeit, die uns bleibt« (Agamben, 81). Diese Auslegung erneuert das Verständnis der paulinischen Eschatologie und die Interpretation der Dialektik zwischen der Gegenwart und dem futurischen Charakter des Heils. Das Heil ist nicht vor uns, wie in den klassischen Vorstellun- ZNT 18 (9. Jg. 2006) gen der Heilsgeschichte, sondern es ist als operatives Ereignis und als Appell präsentisch. 10 Die Vorstellung der messianischen Zeit, wie sie Agamben entfaltet, bietet darüber hinaus eine Grundlage, um den patristischen Begriff der Heilsökonomie diesseits einer Heilsgeschichte zu denken: » Paulus stellt durch das typos- Konzept eine Beziehung, die wir von nun an eine typologische nennen können, zwischen den vergangenen Ereignissen und dem nyn kair6s, der messianischen Zeit her« (Agamben, 87). Statt das Verhältnis des Neuen zum Alten Testament als eine chronologische Abfolge zu betrachten, als ob das eine die Fortsetzung des anderen wäre, nimmt es das Neue als die Unterbrechung des Alten wahr, als der kairos, durch welchen der chronos denkbar wird, ohne sich an ihn hinzuzufügen noch ihn zu ersetzen. Für die beiden Philosophen ist das messianische Ereignis um beide Begriffe miteinander zu verbinden nicht so sehr der Zielpunkt oder die Erfüllung der Geschichte als ihr Zentrum und ihre Zusammenfassung. Wie ihre Auslegung der Texte ist ihre politische Philosophie synchronisch, nicht diachronisch. 2. Appell und Identität: Der Verlust der religiösen und moralischen Konsense führt zu einem gesellschaftlichen und politischen Unbehagen, in dem sich die Frage der persönlichen Identität akut stellt. 11 Einerseits besteht die das sich auf die ihm vom Gesetz aufgetragenen Identitäten nicht reduziert, und die Entstehung eines neuen Verhältnisses des Subjektes zu der eigenen Identität und zum Gesetz. Die klesis bildet ein Zentrum der paulinischen Theologie. Badiou verweist auf die Berufung des Apostels (Gal 1) und Agamben auf lKor: »Hos me, ,als ob nicht,: Das ist die Formel des messianischen Lebens und der tiefste Sinn der klesis. Die Berufung ruft zu nichts und zu keinem Ort: Deswegen kann sie mit dem faktischen Rechtszustand zusammenfallen, zu dem jeder berufen wird; aber gerade deswegen wird dieser ganz und gar widerrufen. Die messianische Berufung ist die Widerrufung jeder Berufung. In diesem Sinn definiert sie die einzige Berufung, die mir akzeptabel erscheint. Was ist nämlich eine Berufung anderes als die Widerrufung jeder konkreten, faktischen Berufung? Es geht selbstredend nicht darum, eine weniger authentische Berufung durch eine wahrhaftere zu ersetzen: In wessen Namen könnte man sich denn für die eine oder die andere entscheiden? Nein: Die Berufung beruft die Berufung selbst, sie ist wie eine Notwendigkeit, die sie bearbeitet und von innen aushöhlt und sie in der Geste selbst, mit der sie in ihr verharrt, nichtig macht« (Agamben, 34f.). »Messianisch zu sein, im Messias zu leben, bedeutet die Enteignung jedes juristisch-faktischen Eigentums in der Form des Als-ob-nicht (beschnitten/ unbeschnitten; Versuchung, die Religion als Identitätsmerkmal zu funktionalisieren. Auf der anderen Seite werden die religiösen Überzeugungen so privatisiert, dass der Gläubige nicht mehr weiß, wie er seine Identität definieren kann. Badiou »Für die beiden Philosophen ist das messianische Ereignis[. ..] nicht so sehr der Zielpunkt oder die Erfüllung der Geschichte als ihr Zentrum Freier/ Sklave; Mann/ Frau). Aber diese Enteignung gründet keine neue Identität: Die ,neue Schöpfung, ist nur der Gebrauch und die messianische Berufung der alten« (2Kor 5,17: ,wenn jemand im Messias ist, neue Schöpfung [... ]: Das Alte ist vorbeigegangen, siehe, Neues ist und ihre Zusammenfassung.« und Agamben, die das Selbstverständnis und die Anerkennung des Subjekts durch die ereignishafte Singularität und durch die Gegenwart des kairos der messianischen Zeit begründen, entdecken die klesis als grundlegende Erfahrung einer Berufung, die dem Einzelnen seine Identität verleiht, indem sie die Partikularismen aufhebt. Die wesentliche Mitteilung des Apostels besteht nämlich in der Universalität der Offenbarung und des Rufes zu einer neuen Identität. Diese neue Identität bedeutet aber nicht einen Identitätswechsel, sondern eine Unterscheidung innerhalb der Subjektivität, ZNT 18 (9. Jg. 2006) geworden)« (Agamben, 37f.). »Die Paulinische klesis ist vielmehr eine Theorie über die Beziehung zwischen dem Messianischen und dem Subjekt, die ein für allemal mit dessen Ansprüchen auf Identität und Eigentum abrechnet. Auch in diesem Sinne ist das, was nicht ist[ ...], stärker als das, was ist« (Agamben, 53). Auch für Badiou ist die Verbindung zwischen der absoluten Singularität der Berufung und die Entstehung des Subjektes ein Schlüssel für die Interpretation des Paulus: 21 »In seinen Schriften erinnert Paulus stets daran dass er ermächtigt ist, als Subjekt zu sprechen'. Und zu diesem Subjekt ist er geworden[...] In einem gewissen Sinn gibt es keinen, der diese Konversion durchführt: Paulus ist nicht von Vertretern der ,Kirche, bekehrt worden, er ist kein versöhnter Gegner. Es ist klar, dass das Treffen auf der Strasse [i. e. nach Damaskus] das Gründungsereignis mimt. So wie die Auferstehung vollkommen unkalkulierbar ist und so wie man von ihr aus ausgehen muss, so ist der Glaube des Paulus das, wovon er selbst als Subjekt ausgeht und wo nichts hinführt. Das Ereignis - ,es ist geschehen" ganz simpel, in der Anonymität einer Straße ist das subjektive Zeichen des eigentlichen Ereignisses, welches die Auferstehung des Christus ist. Es ist in Paulus selbst die Wieder-Auferstehung (oder Konstitution) des Subjekts. Es ist das matrizenartige Exempel der Verknotung von Existenz und Lehre, denn Paulus zieht aus den Umständen seiner ,Konversion" dass man nur vom Glauben ausgehen kann, vom Bekennen des Glaubens. Das Auftreten des christlichen Subjektes ist voraussetzungslos« (Badiou, 35f.). Wir können beobachten, dass die philosophische Verknüpfung der Entstehung des Subjektes mit der Singularität des gründenden Ereignisses das umstrittene Problem des historischen Charakters der Auferstehung löst. Historisch ist das Bekenntnis des Glaubens, das erklärt, dass »etwas geschehen ist«, das universale Relevanz hat. 3. Die Teilung zwischen Fleisch und Geist: Das Subjekt, das aus dem Ereignis oder aus der messianischen Zeit entsteht, hat deshalb keine ihm auferlegte Identität, weil es in sich selbst geteilt ist. Diese Teilung innerhalb des Subjektes begründet insofern den Universalismus, als sie die jüdische und griechische Partikularität überwindet (Badiou) oder aufhebt (Agamben). Nach Badiou besteht die Teilung innerhalb des Subjektes: »Denn ein Subjekt ist in Wirklichkeit die Verflechtung zweier subjektiver Wege, welche Paulus das Fleisch (sarx) und den Geist (pneuma) nennt. Und das Reale wird, insofern es von den beiden Wegen, die das Subjekt konstituieren, >aufgefasst< wird, unter zwei Namen dekliniert: dem Tod (thanatos) oder dem Leben (zoe)« (Badiou, 105). Das Subjekt steht nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade (Röm 6, 14 ): 22 »Die kapitale Formel, die wohlgemerkt auch eine universale Adresse ist, lautet: [...] ,denn ihr seid nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade (Röm 6, 14). Eine Strukturierung des Subjektes gemäß einem ,Nicht ... sondern<, das nicht als ein Zustand, sondern als ein Werden zu verstehen ist. Denn das ,Nicht-unter-dem Gesetz- Sein, bezeichnet negativ den Weg des Fleischs als suspendiertes Schicksal des Subjekts, ,Unter-der- Gnade-Sein, dagegen den Weg des Geistes als Treue zum Ereignis. Das Subjekt des neuen Zeitalters ist ein ,Nicht ... sondern<. Das Ereignis ist zugleich die Aufhebung des fleischlichen Wegs durch ein problematisches ,Nicht, und die Affirmation des geistigen Wegs durch ein exzeptionelles ,Sondern,. Gesetz und Gnade benennen für das Subjekt die konstitutive Verflechtung, die es auf die Situation bezieht, wie sie ist, und auf die Folgen des Ereignisses, wie sie werden sollen. Unsere These ist in der Tat die, dass ein ereignishafter Bruch sein Subjekt immer in der geteilten Form eines ,Nicht ... sondern< konstituiert und dass genau diese Form der Träger des Universalen ist. Denn das ,Nicht, ist die potentielle Auflösung der geschlossenen Partikularitäten (die ,Gesetz< heißen), während das ,Sondern< jene mühselige Aufgabe bezeichnet, an der die Subjekte des durch das Ereignis (das ,Gnade, heißt) eingeleiteten Prozesses als Mit-Arbeiter teilnehmen« (Badiou, 120f.). Agamben verwendet weiterhin die mathematische Metapher der Teilung: Aus der Teilung ergibt sich ein Rest, und sie betrifft die Völker: Die Unterscheidung, die Paulus zwischen Juden nach dem Fleisch und Juden nach dem Geist vornimmt, teilt die herkömmliche Unterscheidung zwischen Juden und Griechen, ohne sie aufzulösen, und sie tut es so, dass ein kleiner Rest, ein Nicht-alles erscheint. In seiner Auslegung von Röm 2,28-29 und 9,6.25 zeigt Agamben, dass Israel und Nicht- Israel mit sich selbst nicht zusammenfallen können. Es gibt nämlich die Juden nach dem Fleisch und die Juden nach dem Geist und es gibt die Nicht-Juden nach dem Fleisch und die Nicht- Juden nach dem Geist: »Die nomistische Teilung Juden/ Nicht-Juden, im Gesetz/ ohne Gesetz läßt nun auf beiden Seiten einen Rest übrig, den man weder als jüdisch noch als nicht-jüdisch definieren kann; nämlich den Nicht-Nicht-Juden, d.h. denjenigen, der im Gesetz des Messias lebt. [...] Man kann hier die Distanz ermessen, die das Paulinische Verfahren vom modernen Universalismus trennt. Dieser setzt etwas beispielsweise die Humanität des Menschen als Prinzip in Kraft, das alle Diffe- ZNT 18 (9. Jg. 2006) renzen aufhebt, oder als letzte Differenz, jenseits deren keine weiteren Teilungen mehr möglich sind. [...] Für Paulus geht es nicht darum, die Differenzen zu >tolerieren< oder sie zu überschreiten, um jenseits von ihnen das Selbe und das Universale zu finden. Das Universale ist für ihn kein transzendentes Prinzip, von dem aus er auf die Differenzen schauen könnte er verfügt nicht über einen solchen Standpunkt-, sondern ein Verfahren, das die Teilungen des Gesetzes selbst teilt und unwirksam macht, ohne je einen letzten Grund zu erreichen« (Agamben, 63-65). Dem Nicht-sondern von Badiou setzt Agamben ein Als-ob-nicht entgegen, das explizit auf lKor 7,29-31 verweist. Aus der messianischen Berufung entsteht eine Distanz zu sich selbst, die den Sklaven in einen Nicht-Sklaven, den Nicht-Sklaven zu einem Nicht-Nicht-Sklaven verwandelt. 4. Die Funktion des Gesetzes: Anders als Albert Schweitzer 12 stellen Badiou und Agamben nicht die Kohärenz des paulinischen Gesetzesverständnisses in Frage, sondern versuchen, sie anthropologisch und universal zu verstehen. Agamben schlägt eine sehr elegante Lösung vor, indem er auf Röm 3,31 und 10,4 zurückgreift: Christus setzt das Gesetz außer Kraft, indem er es erfüllt. Begriffe werden von Hegel (Aufhebung), Carl Schmitt, auf den sich Jacob Taubes auch beruft (Der Ausnahmezustand), und Aristoteles (steresis) übernommen und miteinander neu verbunden. Nach dem römischen Recht wird das Gesetz durch die Erklärung des Ausnahmezustandes aufgehoben, um neu begründet zu werden, und in einer vergleichbaren Weise ist der Aufbruch des Messias als die Unterbrechung zu verstehen, durch welche das Gesetz unwirksam wird und ihm seine Geltung zurückgegeben wird, so dass die Norm weder beachtet noch übertreten werden kann. Dabei verweist Agamben nicht ganz ohne Ironie auf die exegetische Debatte: »Man hat sich in Wahrheit nicht sehr scharfsinnig gefragt, ob telos hier ,Ende, oder >Vollendung< bedeute. Nur insofern der Messias den nomos unwirksam macht, ihn aus dem Werk entläßt und ihn der Potenz zurückgibt, kann er dessen telos, d.h. zugleich dessen Ende und Vollendung sein« (Agamben, 11 lf.). Das Gesetzesverständnis von Badiou ist durch die Psychoanalyse von Jacques Lacan geprägt. Sie ist ZNT 18 (9. Jg. 2006) zum einen in seiner Theorie der Diskurse sichtbar: »Das Projekt des Paulus besteht darin, zu zeigen, dass eine universale Heilslogik sich mit keinem Gesetz verträgt, weder mit dem, welches das Denken an den Kosmos bindet, noch mit dem, welches die Regeln einer exzeptionellen Erwählung angibt. Der Ausgangspunkt kann unmöglich das Ganze sein, ebenso unmöglich aber eine Ausnahme vom Ganzen. Weder die Totalität noch das Zeichen kommen in Frage. Man muss vom Ereignis als solchem ausgehen, das akosmisch und illegal ist, sich keiner Totalität einfügt und ein Zeichen von nichts ist. Vom Ereignis auszugehen, bringt jedoch kein Gesetz hervor, keine Form von Herrschaft, weder die des Weisen noch die des Propheten. Man kann es auch so sagen: Der griechische und der jüdische Diskurs sind beide Diskurse des Vaters. Was übrigens auch der Grund ist, warum sie Gemeinschaften in einer Form von Gehorsam zusammenbinden (Gehorsam gegenüber dem Kosmos, dem Reich, Gott oder dem Gesetz). Nur derjenige Diskurs hat die Chance, universal zu sein, sich aller Partikularismen zu entledigen, der sich als ein Diskurs des Sohnes darstellt« (Badiou, 81f.). Die Aussendung des Sohnes hat die Geschichte in zwei Stücke gebrochen. Badiou verweist hier auf Nietzsche und beschreibt die Bedeutung des Gesetzes wie folgt: »Die paulinische Grundthese ist die, dass das Gesetz und nur das Gesetz das Begehren mit einer Autonomie ausstattet, die hinreicht, das Subjekt dieses Begehrens im Hinblick auf diese Autonomie den Platz des Toten einnehmen zu lassen. Das Gesetz ist es, welches dem Begehren Leben verleiht. Dadurch aber versetzt es das Subjekt in die Lage, nur noch den Weg des Todes einschlagen zu können« (Badiou, 148). Anhand Röm 7 geht er einen Schritt weiter und entwickelt eine These, die sich konträr zu den aktuellen exegetischen Bestimmungen des Gesetzesverständnisses bei Paulus verhält: »Der Mensch des Gesetzes ist für Paulus derjenige, bei dem das Tun vom Denken getrennt ist. Dies ist die Wirkung der Verführung durch das Gebot. Diese Figur des Subjekts, wo zwischen dem toten Ich und der unwillentlichen Automatik des lebendigen Begehrens Teilung herrscht, 23 ist für das Denken eine Figur der Ohnmacht. Im Grunde ist die Sünde weniger eine Verfehlung als eine Unfähigkeit des lebendigen Denkens, das Handeln zu bestimmen. [...] Das Gesetz ist das, was das Subjekt als Ohnmacht des Denkens konstituiert« (Badiou, 156). 3. Um (nicht) abzuschließen Diese kurze Darstellung erhebt nicht den Anspruch, das Denken von Agamben und Badiou vollständig wiederzugeben. Die Perspektive, die ich gewählt habe, lässt sowohl die Gesamtarchitektur und die Kohärenz der beiden Ansätze als auch ihre ideengeschichtlichen Voraussetzungen außer Acht. Mein Wunsch ist nur, die Neugierde des Lesers geweckt zu haben und ihn veranlasst zu haben, sie selber zu entdecken. Mir ist bewusst, dass der interdisziplinäre Dialog zwischen Exegeten und Philosophen mühsam ist. Meine Überzeugung ist es jedoch, dass dieser Dialog weiterführend ist. 13 Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass jeder bereit ist, auf einen Objektivitätsanspruch der eigenen Lesetradition zu verzichten. Erst unter dieser Voraussetzung kann eine dialogische Lektüre gelingen und erst dann ist der Weg bereitet für einen Umgang mit den paulinischen Texten, der auf einer hermeneutischen Freiheit gründet. 24 Anmerkungen Ich danke meinem Kollegen Frans; ois Vouga für die Übersetzung des Textes und seine wertvollen Anregungen. G. Agamben, II tempo ehe resta. Un commento alla Lettera ai Romani, Torino 2000. Deutsche Übersetzung: Die Zeit, die bleibt: Ein Kommentar zum Römerbrief (edition suhrkamp 2453), Frankfurt am Main 2006; A. Badiou, Saint Paul. La fondation de l'universalisme, Les essais du College international de philosophie, Paris 1997. Deutsche Übersetzung: Paulus: Die Begründung des Universalismus, München 2002. Die aufgenommenen Zitate aus diesen beiden Werken im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes folgen in der Regel der jeweiligen deutschen Übersetzung. An einigen Stellen, an denen die vorliegenden deutschen Übersetzungen zu Badiou und Agamben fehlerhaft sind, wurde_ in Anlehnung an die Originalausgaben eine eigene Ubersetzung angefertigt. Vgl. unter anderen S. Breton, Saint Paul (Philosophies 18), Paris 1988; J.-F. Lyotard/ E. Gruber, Un trait d'union (Trait d'union), Sainte-Foy, Quebec 1994; J.-F. Lyotard, D'un trait d'union, Rue Descartes, 1/ 4 (1992), 47-60; P. Ricoeur, Paul apotre. Proclamation et argumentation. Lectures recentes, Esprit, (2003 ), 85-112; M. Serres, Le fils adoptif, in: Rameaux, Paris 2004, 77- 111. Vgl. J. Taubes, Die Politische Theologie des Paulus, München 1993. A. Gignac, Taubes, Badiou, Agamben: Reception of Paul by Non-Christian Philosophers Today, in: Society of Biblical Literature (Hg.), 2002 Seminar Papers, Atlanta 2002, 74-110. Als Reaktionen auf die Ansätze von Agamben und/ oder Badiou siehe: P. Büttgen, L: attente universelle et les voix du preche. Sur trois intcrpretations rccentes de saint Paul en philosophie, Etudes Philosophiqucs 1 (2002), 83-101; D. Müller, Le Christ, releve de la Loi (Romains 10,4): La possibilite d'une ethique messianique a la suitc de Giorgio Agamben, Sciences religieuses / Studies in Religion 30 (2001), 51-63; F. Vouga, La nouvelle creation et l'invention du moi, Etudes Theologiques et Religieuses 75 (2000), 335-347; F. Vouga, Die politische Relevanz des Evangeliums. Rezeption des Paulus in der philosophischen Diskussion, in: Ch. Strecker (Hg.), Kontexte der Schrift II: Kultur, Politik, Religion, Sprache - Text, Wolfgang Stegemann zum 60. Geburtstag, Stuttgart 2005, 192-208; S. Zizek, The Politics of Truth, or, Alain Badiou as a Reader of St Paul, in: Ders., The Ticklish Subject: an Essay in Political Ontology, London 2000, 127-170. Badiou spielt auf G. Agamben, Homo sacer 1: die souveräne Macht und das nackte Leben (Erbschaft unserer Zeit 16), Frankfurt am Main 2002 (Italienisch 1995) und Homo sacer 2: Was von Auschwitz bleibt, Frankfurt am Main 2003 (Italienisch 1998), an. Dieses Zitat von Agamben befindet sich auch auf dem Cover der französischen sowie der deutschen Ausgabe des Buches. Vgl. A. Gignac, Juifs et chretiens a l'ecole de Paul de Tarse. Enjeux identitaires d'une lecture de Romains 9- 11 (Co! ! . Sciences bibliques), Montreal/ Paris 1999. 10 Vgl. A. Gignac, Temps et recit de salut chez saint Paul. Romains et la crise des metarecits diagnostiquee par Jean-Francois Lyotard, in: M. Gourgues / M. Talbot (Hgg.), En ce temps-la. Conceptions et experiences bibliques du temps (Sciences bibliques 10), Montreal/ Paris 2002, 137-181. 11 Vgl. S.H.-G. Soeffner, Zeitbilder. Versuche über Glück, Lebensstil, Gewalt und Schuld, Frankfurt/ New York 2005. 12 Vgl. auch H. Räisänen, Paul and the Law (WUNT 29), Tübingen 1983. 13 Exegetische Gespräche mit Alain Badiou haben vom 15.-16.10.1998 in der theologischen Fakultät in Montpellier (die Beiträge von A. Badiou, F. Vouga, J.-D. Causse und E. Cuvillier sind veröffentlicht worden in: EThR 75 (2000), 321-372) und, zusammen mit Slavoj Zizek, vom 14-16.4.2005 in der Universität von Syracuse, NY, stattgefunden: Paula Fredriksen betonte, anhand der Beispiele von Origenes und Augustin, die Eigenwilligkeit der philosophischen Rezeption des Paulus, E.P. Sanders setzte sich ohne besondere Berücksichtigung der Thesen von Badiou mit dem paulinischen Universalismus auseinander, während Dale B. Martin zeigte, wie Paulus das Dilemma zwischen dem Universalismus und dem Monotheis- ZNT 18 (9. Jg. 2006) mus Israels durch die Eröffnung der Erwählung für die Heiden gelöst hat und Daniel Boyarin stellte Paulus in einem positiven Sinne als Sophist eher als Anti-Philosoph, wie Badiou es tut dar, um die praktische Auswirkung, die Realität der Gemeinden und den historischen Kontext bei der Interpretation besser berücksichtigen zu können. Vorschau auf Heft 19 Themenheft: Auferstehung Neues Testament aktuell: Eckart Reinmuth, Ostern - Ereignis und Erzählung. Die jüngste Diskussion und das Matthäusevangelium Zum Thema: Dieter Zeller, Religionsgeschichtliche Erwägungen zur Auferstehung Richard B. Hays/ David Kirk, Die Diskussion der Auferstehung im angloamerikanischen Bereich Ulrich Volp, Die Auferstehungsproblematik in der Alten Kirche Kontroverse: Auferstehung der Toten eine individuelle Hoffnung? Robert C. Neville vs. Hans Kessler Hermeneutik und Vermittlung: Gebhard Löhr, Islamische und christliche Auferstehungshoffnung. Der Koran und das NT im Vergleich. Buchreport: Dale C., Jr. Allison, Resurrecting Jesus, T & T. Clark Publishers 2005 (rez. v. Stefan Alkier) N.T. Wright, The Resurrection of the Son of God, SPCK 2003 (rez. v. Stefan Alkier) ZNT 18 (9. Jg. 2006) Alain Gignac Neue Wege der Auslegung ./ .Zuverl' '~>Kostenlindern ,\Js \tersicheter im Räu.: rit d~r~lrt: he~ K@l'fflef'I wir u~'fftitil~ri 1! 1e: s: ön: de~n ·· Befntlfetregetunger: tirn. .. tdre~n.(ninerr} &ererth bntens, aus; _,' ' 81\tf'Ch..\llfJM'fe anerkann.t '~nstig~tFTialiflosurlsen .st~ w.r~~rurn Jhr ers; ter, • .· Al'lts.p~hp<llrtmer, ~llln: •. •um lhreö.f; ler$inlkhe». · ~rank~nversidtefµngs; . . ,$Chutz ,e: nt~ \ "',\i~~: / ~ : : ,.; ·~·.~·.,', ", " ·~ . i ". '.~h~n AliS: prechparther ·•.,f,.~Ort@rlahreriSie: hler: · ,c'•' " " ' '' ,", '' ' ,' ', " ', ·••-~lt.~.•. ll~südl, Rftelnlättd .. K~sfl$0e~~1~$ansbe4k'; ll~ (o~s as~'9': 1.ßa.a8 · .. ·· . Tefdt.it~<(t: l: },JSi; t•~JO~ .. '(b.eifel~IU'heill@~rtJ€1e.i'hilfe..de www; bru()(er! lrfftet! lte · 25 Heike Omerzu Das Imperium schlägt zurück. Die Apologetik der Apostelgeschichte auf dem Prüfstand Das römische Reich, Geschichte und Organisation des Imperiums, aber auch seine Kultur und Religion sind seit den Anfängen historisch-kritischer Forschung Gegenstand von Untersuchungen zur sog. »Umwelt« und »Zeitgeschichte« des Neuen Testaments. 1 Ziel dieser Darstellungen ist es, den historischen Kontext zu erhellen, in dem das frühe Christentum entstanden ist und in dem es sich ausgebreitet hat. Dabei liegt seit geraumer Zeit ein besonderes Augenmerk auf den sozialen Rahmenbedingungen in den einzelnen Städten und Provinzen des Reiches sowie auf den vielfältigen Ausdrucksformen des Kaiserkultes. 2 Seit etwas über einem Jahrzehnt ist nun jedoch u.a. im Rahmen der Gruppe »Paul and Politics« der Society of Biblical Literature vor allem in Teilen der anglo-amerikanischen Exegese eine Perspektivverschiebung bei der Betrachtung Roms zu beobachten: Es werden gezielt die das Imperium bestimmenden Machtstrukturen zur Analysekategorie erhoben.' Den Ausgangspunkt dieser neuen Fragestellung bildet die Kritik an individualisiekünstliche, erst in der Neuzeit aufgekommene Trennung von Religion und Politik aufgegeben. 6 Darüber hinaus kommt aber auch die Einsicht der neueren Forschung zur Geltung, daß kaiserliche Religion und kaiserliche Politik untrennbar miteinander verbunden waren. Die kultische Verehrung des (noch lebenden! ) Kaisers galt anders als lange Zeit angenommen den Reichsbewohnern offensichtlich nicht nur als ein rein formaler, inhaltsleerer Akt der Pflichterfüllung. Historische und archäologische Studien haben vielmehr gezeigt, wie verbreitet Tempel und Statuen, Rituale und Feste für den Kaiser waren, und daß die imperiale Propaganda in Form von Inschriften und Münzen weite Teile des öffentlichen Lebens bestimmte. Der Kaiserkult mit seinen mannigfaltigen Ausprägungen diente somit als wichtiges Mittel, um imperiale Machtstrukturen zu etablieren und soziale Kontrolle in den Städten und Provinzen des Reiches auszuüben. Diese neue, »imperiale« Perspektive wurde bislang vor allem für die Paulusexegese, jüngst auch umfassender für das renden und entpolitisierenden Engführungen »klassischer« lutherischer Paulusinterpretationen, die bereits in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts durch den schwedischen Exegeten Krister Stendahl angestoßen wurde. 4 Sowohl die Abfassung als auch die Interpretation der frühchristlichen Texte werden so hinsichtlich »Mit Fokus auf den soziopolitischen Implikationen der römischen Machtverhältnisse und deren. Widerhall in frühchristlichen Gemeinden wird die kt: ütstliche, er.st in der Ne.uzeit attfgekommen.e Trennung von Religion und P12litik.aufgegeben,: « Matthäusevangelium, fruchtbar gemacht. Auf andere frühchristliche Schriften wurde sie hingegen nur vereinzelt angewandt. 1 Dabei ist vor allem überraschend, daß das lukanische Doppelwerk bisher nur beiläufig vor diesem Hintergrund untersucht wurde, denn schließlich wird die Haltung des Lukas gegenüber ihrer Einbindung in konkrete Machtstrukturen untersucht bzw. als Ausdruck des Ringens um bestimmte Interessen und Wertvorstellungen verstanden. 5 Als wesentliche die frühen Christinnen und Christen prägende Bedingungen sind dabei die politisch-religiösen und sozio-ökonomischen Herrschaftsmechanismen im römischen Reich in den Blick zu nehmen. Mit Fokus auf den sozio-politischen Implikationen der römischen Machtverhältnisse und deren Widerhall in frühchristlichen Gemeinden wird die 26 Rom sowohl hinsichtlich der historischen Voraussetzungen als auch der Intention seiner Darstellung in der Exegese seit längerem kontrovers diskutiert. Im folgenden sollen daher zunächst die wichtigsten bisher vorgetragenen Lösungsvorschläge skizziert werden, um auf dieser Grundlage anhand ausgewählter Stellen der Apostelgeschichte (die dabei aus pragmatischen, nicht sachlichen Gründen exemplarisch für das lukanische Doppelwerk herangezogen wird) zu prüfen, ZNT 18 (9. Jg. 2006) Heike Omerzu Prof. Dr. Heike Omerzu, Jahrgang 1970, Studium der Evangelischen Theolo.gie und Anglistik in Duisburg und Mainz. Promotion in Mainz 2002, seit 2003 Juniorprofessor.in für Neues Testament in Mainz. Forschungsschwerpunkte: Frühes Christentum und Imperium Roman.um, Apostelgeschichte, Christologie im Markusevangelium, Antikes Judentum. ob die »imperiale« Perspektive einen neuen Beitrag zur Frage nach dem Verhältnis des Lukas zu Rom leisten kann. Von der Apologetik zum Anti-Imperialismus Am häufigsten wird die lukanische Position mit dem Stichwort der Apologetik verbunden. Dieses leitet sich vom griechischen Begriff für Verteidigung oder Rechtfertigung ab und begegnet mit dem zugehörigen Verb mehrfach in der Apostelgeschichte, vor allem im Zusammenhang des Paulusprozesses (apologia: Apg 22,1; 25,16; apologein: Apg 19,33; 24,10; 25,8; 26,1.2.24; vgl. Lk 12,11; 21,14). Anders als in der Alten Kirche, wo sich die Apologie nach dem Vorbild der Verteidigung des Sokrates, aber auch der Werke jüdischer Apologeten wie J osephus oder Philo als eigene Literaturgattung herausbildete, umschreibt der Begriff Apologetik innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft grundsätzlicher das Anliegen der frühen Christen und Christinnen, die eigenen Überzeugungen in der Auseinandersetzung mit der religiösen Umwelt zu vertreten. Trotz etlicher Differenzierungen hinsichtlich der historischen Umstände und der literarischen Umsetzung wird die lukanische Haltung klassischerweise im Sinne der politischen Apologetik als ZNT 18 (9.Jg. 2006) Verteidigung der Kirche vor dem römischen Imperium verstanden (vgl. H.J. Cadbury; H. Conzelmann; F.W. Horn). 8 Angesichts aktueller oder drohender Konfrontationen der christlichen Gemeinden mit dem römischen Staat wolle Lukas mit seiner apologia pro ecclesia den unpolitischen Charakter des Evangeliums erweisen und den Verdacht der Unruhestiftung von den Christen abwenden. Dazu betone er wiederholt die politische Unschuld und Harmlosigkeit der Christen (z.B. Apg 19,37; 23,29; 25,8.25) und stelle gleichzeitig die vorbildliche Haltung der römischen Beamten ihnen gegenüber heraus: Sie sind es, die den Christen Schutz gewähren und deren Rechtsansprüche durchsetzen (z.B. Apg 21,31-33.37-40; 23,10.23; 24,23; 25,12.16.25), wohingegen die Juden als die wahren Unruhestifter und als Denunzianten dargestellt werden (z.B. Apg 13,50; 17,5; 18,12f.; 21,27f.; 23,12-15; 25,2f.7). Kritik hat diese These nicht zuletzt aufgrund der ihr (implizit oder explizit) zugrundeliegenden Annahme einer nicht-christlichen Leser- oder Zuhörerschaft erfahren. Daher wird in der Forschung auch die umgekehrte Auffassung vertreten, Lukas wolle gegenüber christlichen Adressaten Rom rechtfertigen und besonders positiv darstellen, also eine apologia pro imperio bieten (vgl. Ch.K. Barrett; R. Maddox; P. Walaskay; V. Robbins ).9 Lukas beabsichtige damit, etwaige antirömische Sichtweisen in seiner Gemeinde zu korrigieren, da sich die Christinnen und Christen angesichts der Parusieverzögerung auf unbestimmte Zeit mit dem Imperium arrangieren müssen. Sie sollten kein Martyrium provozieren, sondern auf die Loyalität des römischen Rechts vertrauen. Dementsprechend sei Lukas bemüht, negative Züge römischer Beamter zu beschönigen, indem er für Christen unvorteilhaftes Verhalten auf ihre Unwissenheit (Apg 16,35-40) oder auf den massiven Druck der Juden zurückführe (z.B. Apg 17,1- 10). Diese Position wird gelegentlich auch in Kombination mit der apologia pro ecclesia vertreten (vgl. H.W. Tajra; R.F. O'Toole; E. Plümacher; K. Wengst). 10 Darüber hinaus mehren sich in jüngerer Zeit die Stimmen, die in der Apostelgeschichte keinerlei apologetische Tendenz erkennen wollen, oder solche, die der Apologetik zumindest keine zentrale Bedeutung beimessen. So besitzt Lukas nach Ansicht von Philipp F. Esler vor allem ein legiti- 27 matorisches Interesse. Dieses ziele darauf ab, römischen Amtsträgern die Vereinbarkeit von christlichem Bekenntnis und Loyalität gegenüber Rom aufzuzeigen, wozu Lukas das Christentum u.a. als altehrwürdige Religion der Väter darstelle (vgl. Apg 3,13; 5,30; 15,10; 22,14; 26,6; 28,25). 11 Demgegenüber macht Richard J. Cassidy für seine, gleichfalls nicht-apologetische Deutung der Apostelgeschichte gerade deren romkritische Elemente stark: Er versteht die ambivalente lukanische Darstellung vor allem des Verhältnisses des Paulus zum Imperium als Anweisung für ein angemessenes Leben unter römischer Herrschaft. Demnach wolle Lukas seine Leser ermutigen, die gleiche Standhaftigkeit im Zeugnis an den Tag zu legen wie bereits zuvor Jesus und Paulus (»allegiance-witness theory«). 12 In ähnlicher Weise bestimmt Wolfgang Stegemann die Ermahnung zum offenen Bekenntnis als Christ als wesentliches Anliegen des Lukas. Dies sei nötig, weil seine Gemeinde aufgrund von Distanzierungsmaßnahmen der Diasporasynagogen zunehmend Gefährdungen durch die heidnische Obrigkeit ausgesetzt sei. 11 Carsten Burfeind beobachtet vor allem in Apg 21-28 eine romkritische Pointe, insofern die römischen Behörden in der Person des Apostels Paulus mit der christlichen Kyrios- und Basileia- Verkündigung konfrontiert würden. Dadurch aber werde der absolute Herrschaftsanspruch des Kaisers und des Imperium Romanum relativiert. 14 Während somit Burfeind gerade die politische Dimension lukanischer Theologie hervorhebt, spricht Jacob J ervell Lukas jegliches Interesse an politischen Fragen ab. 11 Da es ihm in der Apostelgeschichte im wesentlichen um die Darstellung eines innerjüdischen Konflikts gehe, der sich an der Verkündigung des Paulus entzündet, werde Rom lediglich unbeschönigt als politische Realität vorausgesetzt, der keine theologische Bedeutung zukommt. Auch die römischen Beamten stünden letztlich im Dienste der Ausbreitung der christlichen Botschaft oder könnten sie zumindest nicht aufhalten. Die Vorgehensweise der »imperialen« Perspektive Bereits dieser kurze Durchgang zeigt, daß von der durch Eckhard Plümacher noch vor gut 20 Jahren 28 konstatierten Einmütigkeit in bezug auf das »Vorhandensein einer politisch-apologetischen Tendenz bei Lk« 16 keine Rede mehr sein kann. In der Zwischenzeit steht von unterschiedlichen Seiten nicht nur ihre Zielsetzung, sondern verschiedentlich sogar die lukanische Apologetik überhaupt zur Diskussion. Allerdings ist die Forschung weit davon entfernt, sich auf einen neuen Konsens zu verständigen. Vor allem das Nebeneinander von positiven und negativen Zügen Roms in der Apostelgeschichte ist im Blick auf die Intention und die Adressaten des Lukas bislang nicht schlüssig beantwortet worden. Kann die eingangs skizzierte »imperiale« Perspektive hier weiterführen? Zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst deren Vorgehensweise zu erläutern, da sich letztlich keine einzelne, spezifische Methode dahinter verbirgt. Der herrschafts- und damit romkritische Zugang wird vielmehr von dem Grundanliegen getragen, den Blick für die vielfältigen Formen, Funktionen und Folgen römischer Machtausübung zu schärfen. Diese Herrschafts- und Kontrollmechanismen wie auch die Reaktionen auf sie manifestieren sich ob bewußt oder unbewußt, absichtlich oder unabsichtlich auf unterschiedlichen Ebenen: in Sozialstrukturen und in militärischen Hierarchien, in Bauprogrammen und im Kult, im Provinzwesen und im Handel. Sie schlagen sich nicht zuletzt auch in der Sprache nieder, in Graffiti und Volksprosa ebenso wie in hoher Dichtung und gewandter Rhetorik. Um diese komplexen Zusammenhänge zu erhellen, wird auf die Methoden und Einsichten historisch-kritischer Exegese und ihrer Nachbardisziplinen wie der Judaistik und Religionsgeschichte, der Alten Geschichte, der Altphilologie oder der Archäologie zurückgegriffen. Das traditionelle Instrumentarium wird dabei jedoch bewußt ideologiekritisch eingesetzt und in verschiedene Richtungen erweitert. Zur Analyse der imperialen und kolonialen Machtgefüge werden insbesondere soziologische, sozialwissenschaftliche und kulturanthropologische Modelle und Theorien herangezogen. 17 Darüber hinaus kommen verstärkt synchrone, literatur- und sprachwissenschaftliche Methoden zur Anwendung, wie z.B. die Erzählanalyse, die Rezeptionsästhetik, die rhetorische Kritik oder die Diskursanalyse. 18 Der Erkenntnisgewinn einer romkritischen, »imperialen« Perspektive auf die Apostelge- ZNT 18 (9. Jg. 2006) schichte soll im folgenden anhand ausgewählter Aspekte diskutiert werden. Zunächst werden dazu direkte Nachrichten über römische Funktionsträger dahingehend untersucht, welche Schlüsse auf die lukanische Haltung zum Imperium sich aus deren Darstellung ziehen lassen. Im Blick auf die weitergehende Frage nach der Zielgruppe der Apostelgeschichte wird sodann die Unterscheidung zwischen öffentlicher und verhüllter Redeweise nach James C. Scott als heuristisches Modell herangezogen. Schließlich soll auf diesem Hintergrund exemplarisch in bezug auf die Titel kyrios und soter gefragt werden, ob ihre christologische Verwendung in der Apostelgeschichte zugleich eine implizite Polemik gegen ihren Gebrauch im Kaiserkult enthält und welche Implikationen sich für die lukanische Theologie daraus ergeben. Römische Funktionsträger in der Apostelgeschichte Obwohl Lukas die Ausdrücke Rom bzw. Römer mit Abstand am häufigsten im Neuen Testament verwendet (16mal in Apg, davon nur in 2,10 nicht in bezug auf Paulus; 4mal im übrigen NT), ist auffällig, daß er an keiner Stelle offen oder gar eindeutig Stellung zum Imperium Romanum bezieht. Vertreter Roms begegnen in der Apostelgeschichte in verschiedenen erzählerischen Funktionen und Zusammenhängen. Zum einen werden die Namen bzw. Maßnahmen einzelner Kaiser und Statthalter lediglich erwähnt, ohne daß diese als Erzählfiguren auftreten. So wird bspw. dreimal innerhalb wörtlicher Reden auf die (Mit-) Verantwortung des Pilatus am Tode Jesu zurückgeblickt (Apg 3,13; 4,27; 13,28). Durch die wiederholte Nennung des Kaisers Claudius verknüpft Lukas wie bereits im Evangelium - Heilsgeschichte und Weltgeschichte miteinander (Apg 11,28; 18,2; vgl. Lk 2,lf.; 3,lf.). Zum anderen erscheinen römische Amtsträger mit Ausnahme des Kaisers 19 verschiedentlich als Akteure der Handlung. Dabei ist jedoch eine große Spannbreite sowohl hinsichtlich ihrer Darstellung als auch ihrer Haltung gegenüber den Christen und Christinnen zu beobachten. Bezeichnenderweise treten die zwei römischen Charaktere, die uneingeschränkt positiv darge- ZNT 18 (9. Jg. 2006) stellt werden und im Verlauf der Erzählung zum Glauben an Christus kommen, im jeweiligen Kontext beide nicht in ihrer offiziellen Funktion auf: der Hauptmann Kornelius (Apg 10) und der Prokonsul von Zypern, Sergius Paulus (Apg 13,7.12). Die weiteren Nachrichten über Vertreter des Imperiums stehen demgegenüber alle im Zusammenhang mit forensischen Konflikten des Paulus. Etliche, nicht namentlich genannte und in der militärischen Hierarchie untergeordnete Figuren wie z.B. Liktoren (Apg 16,35.37), Hauptleute (Apg 21,32; 22,25f.; 23,17.23; 24,23) oder Soldaten (vgl. Apg 21,32.35; 23, 10.23.27.31; 27,3 lf.42; 28,16) treten weitgehend unkonturiert lediglich als gehorsame Befehlsempfänger in Erscheinung, die keinerlei persönliches Interesse am Schicksal der Christen zeigen. Differenziertere und zugleich ambivalente Charakterzeichnungen die hier nicht im Detail ausgeführt werden können - 20 finden sich u.a. von den Statthaltern Gallio (Apg 18,12-17), Felix (Apg 23,31-24,26) und Festus (Apg 24,27-26,32) sowie von dem Tribun Lysias (Apg 21f.). Einen besonders negativen Eindruck hinterläßt das Vorgehen der Beamten in Philippi, die den römischen Bürger Paulus zunächst widerrechtlich foltern und inhaftieren und dann ohne Rehabilitierung ausweisen wollen (Apg 16,19- 23.35-40). Während die Statthalter Felix und Festus beide insofern in ungünstigem Licht erscheinen, als sie bereit sind, den Juden eine Gunst zu erweisen (Apg 24,27; 25, 9), wird das Bild des Festus doch dadurch positiv ergänzt, daß er um eine zügige Wiederaufnahme des Prozesses bemüht ist (Apg 25, 1-6) und Paulus das von ihm eingeforderte Recht unverzüglich gewährt (Apg 25,12.21.25). Anders hingegen Felix: Die Lobrede auf seine Person durch den Christengegner (! ) Tertu! lus (Apg 24,2-4) wird spätestens durch die auktorialen Kommentare in Apg 24,22-27 als ironische Spitze durchsichtig. Denn Felix wird so entgegen dem relativ wohlwollenden Verhalten auf der Handlungsebene (Einberufung eines Zeugen; Anordnung einer leichten Haft; Interesse am christlichen Glauben) als korrupt gezeichnet (Verschleppung; Bestechlichkeit). Dieser kurze Überblick illustriert bereits, daß die Römer in der Apostelgeschichte keineswegs so wohlwollend dargestellt werden, wie es von Vertretern der politischen Apologetik oft postuliert wird. Doch wie läßt sich die umrissene, wenn 29 nicht durchweg kritische, doch mindestens ambivalente Repräsentation der Römer im Blick auf die lukanische Position und die Situation seiner Adressaten auswerten? Die häufig anzutreffende Vermutung, Lukas stehe Rom grundsätzlich positiv und vertrauensvoll gegenüber, lasse aber dennoch willkürliche und widerrechtliche Maßnahmen nicht aus, um so Kritik an Ausnahmen vom Ideal zu üben, ist unbefriedigend; sie beruht letztlich auf einem argumentum e silentio. Weiterführend scheinen hingegen zwei in jüngerer Zeit vorgetragene Vorschläge, die insofern der Tendenz der »imperialen« Perspektive entsprechen, als sie die negativen Züge Roms nicht zu harmonisieren versuchen. So geht Peter Oakes davon aus, daß frühchristliche Haltungen gegenüber dem Imperium durchweg von einer Spannung zwischen positiven und negativen Faktoren gekennzeichnet waren, deren Verhältnis jedoch variabel war. 21 Auch wenn diese Parameter noch exakter zu definieren und zu operationalisieren wären, ist Oakes' Grundannahme plausibel, daß die differenzierte Haltung der Apostelgeschichte gegenüber dem Imperium ebenso realistisch wie repräsentativ ist: » Roman officials in Acts ... are portrayed in varying ways, both positive and negative( ... ). We could read the officials as uniformly representing Rome, but a Rome that was, in Luke's eyes, a paradoxical mixture of good and bad.( ... ) Luke [has] a view of Rome in which there is tension between appreciation and resentment. Luke's Rome is a mixture of efficiency, openness, justice and corruption.« (87f.) Während Oakes vor allem neutestamentliche Texte untersucht, hat Martin Meiser unlängst darauf hingewiesen, daß sich Lukas mit seiner ambivalenten Sicht auf das Imperium auch in guter römischer Gesellschaft weiß: 22 »Kritik an vergangenen Autoritätspersonen war unter den Bedingungen des Prinzipates mit seinen wechselnden Herrschern und Herrscherhäusern nicht unbedingt gefährlich, sondern konnte sich durchaus mit der ,offiziellen< Linie vereinbaren lassen, zumal dann wenn besagte Personen( ... ) in Ungnade gefallen waren.( ... ) Lukas kritisiert vorzugsweise Personen, die auch anderweitig kritisiert werden, und Kritik an vergangenen Autoritäten muß nicht gefährlich sein, sondern kann der offiziellen Linie durchaus entsprechen« (183f.). In diesem Sinne sind dann die kritischen Nachrichten über Pontius Pilatus, 30 Iunius Gallio und Antonius Felix als »ungefährlich« einzustufen, da sie mit entsprechenden Äußerungen in der römischen Literatur (und z.B. bei Josephus) konform gehen. Während Oakes keine Überlegungen hinsichtlich der Intention der spannungsvollen Darstellung des Imperiums anstellt, geht Meiser davon aus, daß Lukas mit dem Neben- und Nacheinander von korrektem und korruptem Verhalten römischer Amtsinhaber »den christlichen Lesern den Eintrag ihrer divergierenden Erfahrungen ermöglichen« (186) will. So sehr ihm dabei hinsichtlich der paränetischen Ausrichtung im Blick auf eine christliche Adressatenschaft zuzustimmen ist, bleibt doch zu fragen, warum oder inwiefern Lukas fürchten mußte, daß romkritische Aussagen in die falschen Hände gelangen könnten, wie es die Rede von »gefährlichen« bzw. »ungefährlichen« Äußerungen impliziert. Das Modell der öffentlichen und verhüllten Redeweisen Hierbei kann ein im Rahmen der »imperialen« Perspektive bereits wiederholt aufgegriffenes soziologisches Modell instruktiv sein. Der amerikanische Soziologe James C. Scott geht davon aus, daß sich Macht- und Unterdrückungsstrukturen in hegemonialen Gesellschaften sowohl bei den Herrschenden als auch bei den Beherrschten in und auf verschiedenen Diskursebenen niederschlagen.23 Öffentliche Äußerungen (»public transcript«) werden von beiden Gruppen gemeinsam wahrgenommen. Sie seien daher darauf ausgerichtet, den Erwartungen innerhalb des wechselseitig akzeptierten bzw. geduldeten Machtverhältnisses zu entsprechen. Für die Untergebenen heißt dies in der Regel aber, sich den vorherrschenden Werten der Mächtigen zu beugen, Loyalität zu bezeugen, ja vorfindliche Machtstrukturen durch stereotype Lippenbekenntnisse oder schweigenden Gehorsam sogar aufrechtzuerhalten. Darin spiegele sich (potentiell) jedoch nicht die wirkliche Haltung der Unterdrückten, denn nach Scott gilt: »[T]he more menacing the power, the thicker the mask« (3 ). Ihre authentische Ansicht werde hingegen lediglich »offstage«, d.h. innerhalb der eigenen sozialen Gruppe unmittelbar ausgedrückt. Da sich diese Sprachhandlungen in einer dem Zugriff ZNT 18 (9. Jg. 2006) Neben dem Genius des Kaisers spielten auch die gleichsam zu Göttern erhobenen Leistungen der augusteischen Herrschaft eine zentrale und sichtbare Rolle im Rahmen der römischen Kaiserpropaganda, wie hier zum Beispiel die reichsweite »Sicherheit«. Museum Palestrina der Machthabenden entzogenen, geschützten Sphäre ereignen, nennt Scott sie etwas mißverständlich versteckte Äußerungen (»hidden transcript«). Diese unmaskierte Sicht negiere oder relativiere häufig die öffentliche und offizielle Redeweise. Zwar sei das »hidden transcript« i.e.S. in den meisten Fällen unzugänglich (Scott zieht u.a. Sklavenerzählungen der amerikanischen Südstaaten aus dem 19. Jh. heran), lasse sich aber teilweise rekonstruieren, weil es in verschleierter Form auch in öffentlichen Äußerungen enthalten sei. Wenn die Tarnung (»disguise«) darin besteht, die Identität des Urhebers einer Äußerung durch Anonymität zu schützen, liege offener Widerstand vor, da Kritik unmittelbar geäußert werde (z.B. in Form von Klatsch, Magie, anonymen Aufrufen). Versteckter Widerstand bediene sich hingegen der Verschleierung der Botschaft selbst (z.B. durch Euphemismus, Spott; Anspielungen; Doppeldeutigkeiten). 24 Nach Scott zeigt also das Eindringen des verborgenen in den öffentlichen Diskurs, daß die Beherrschten ihre Unter- ZNT 18 (9. Jg. 2006) Heike Omerzu Das Imperium schlägt zurücl< Zur römischen Kaiserpropaganda zählte auch der von Augustus für das gesamte römische Reich erzielte »Friede«. Dieser Altar dient der Verehrung der pax Augusta. Museum Palestrina drückung nicht akzeptieren, sondern die alltägliche Erfahrung der Ohnmacht auf diese Weise bewältigen. Scotts Theorie des »public« und »hidden transcript« kann in doppelter Hinsicht für das Verständnis der Apostelgeschichte fruchtbar gemacht werden. Einerseits kann sie im Blick auf die Frage nach den Adressaten weiterführend sein. Lukas wird sich, wie gezeigt, nicht gezielt an ein nichtchristliches römisches Publikum gewandt haben, um etwa eine Apologie der christlichen Überzeugungen zu liefern. Dennoch läßt sich sein Werk als »public transcript« lesen, da es wohl kaum Anstoß bei den Römern erregt hätte. Die offen geäußerte Kritik hält sich in den allgemein tolerierten Grenzen (vgl. M. Meiser). Vielmehr werden die bestehenden Herrschaftsstrukturen und Hierarchien (vordergründig) anerkannt. Mit Paulus steht ab Apg 13 sogar eine Person im Mittelpunkt, die christliche Existenz und römisches Bürgerrecht problemlos miteinander vereinen kann. Wenn sich die Apostelgeschichte aber an 31 ein christliches Publikum wendet, bleibt weiterhin zu klären, warum sich Lukas nicht des »hidden transcript« i.e.S. bedient. Offensichtlich mußte er damit rechnen, daß sein Werk wider seine Absicht! auch an »offizielle« Kreise geraten könnte. Diesbezüglich scheint mir am plausibelsten anzunehmen, daß er fürchtete, die Römer könnten durch Denunziationen von jüdischer Seite auf den (vermeintlich) subversiven Charakter christlicher Glaubens- und Lebensweisen aufmerksam werden (vgl. W. Stegemann). Dieses Ansinnen hätte Lukas dann durch die Negativzeichnung der Der wahre »Herr« und »Retter« Obwohl »Sohn Gottes« für Lukas das wichtigste Attribut war, um die IdentitätJesu zu umschreiben, wie allein die Geburtserzählung in Lk 1-2 zeigt, ist »Herr« (gr. Kyrios) mit über 60 Belegen der Titel, den er Jesus in der Apostelgeschichte am häufigsten beilegt. 25 Er bezeichnet vor allem den gegenwärtigen, von Gott erhöhten Christus. Dementsprechend ordnet Lukas bereits in der Pfingstpredigt die Titel Kyrios und Christus (gr. christos = Gesalbter) einander programmatisch zu Juden als eigentliche Unruhestifter konterkariert. Der bekannte Briefwechsel zwischen Kaiser Trajan und dem Statthalter Plinius (Ep X 96f.) zeigt jedenfalls, daß die Römer noch etliche Jahre nach Abfassung der Apostelgeschichte von sich aus keinerlei Interesse daran hatten, die Christen gezielt zu verfolgen, aber dennoch entsprechenden Anzeigen nachgingen. »Für die Suche nach Spureneines >hidden transcript< in der Apostelgeschichte ist jedoch vor allem wichtig, daß die Bezeichnungen >Herr< und (Apg 2,36). Die Apostelgeschichte endet zudem mit der Notiz über die ungehinderte Predigt vom » Herrn Jesus Christus« in Rom (Apg 28,31 ). Doch auch schon in der Engelbotschaft zu Anfang des Evangeliums werden Kyrios und Christus zusammengestellt (Lk 2,11), dabei aber noch ergänzt um den Titel Soter (gr. = Retter; vgl. Lk 1,47; vgl. auch Lk 1,69.71.77; >Retter< bzw. die Vorstellung des Kaisers als Wohltäter auch in der imperialen Propaganda verwendet werden, ohne damit ihre allgemeineren Konnotationen zu verlieren.« Andererseits ist vor dem Hintergrund des Modells von Scott zu fragen, ob die Apostelgeschichte auch Elemente eines »hidden transcript« enthält, die nur für Christen hinter dem »public transcript« durchscheinen. Lassen sich also im Text Anspielungen finden, die sich als (verborgene) Kritik an der römischen Herrschaft interpretieren lassen? In diesem Fall würde, ganz in der Linie der »imperialen« Perspektive, die Vermutung bestätigt, daß die Apostelgeschichte mehr romkritisches Potential besitzt, als gemeinhin angenommen. Für eine entsprechende Analyse bieten sich vor allem solche Begriffe und Motive an, die nicht nur im christlichen Kontext, sondern auch in der römischen Kaiserpropaganda begegnen, wie z.B. Friede ( eirene I pax ), Eintracht (homonoia I concordia ), Sicherheit (asphaleial securitas), Vorsehung (pronoia I providentia ), Zeitalter (aion I saeculum ), Herr (kyrios I dominus), Retter (soter I salvator) oder Sohn Gottes (hyios theoul filius dei, divi filius). Im folgenden kann dies lediglich für die Epitheta »Herr« und »Retter« exemplarisch skizziert werden. 32 2,30; 3,6). In Apg 5,31 und 13,23 wird Jesus ebenfalls als »Retter« tituliert; darüber hinaus bildet das Motiv gleichfalls eine Inklusion um das gesamte Doppelwerk, insofern in 28,28 die Rettung bzw. das Heil (gr. = soterion) für alle Völker angekündigt wird. Der Titel Christus hat seine traditionsgeschichtlichen Wurzeln eindeutig im antiken Judentum und auch für die Epitheta Kyrios und Soter ist eine judenchristliche Herkunft wahrscheinlich." Für die Suche nach Spuren eines »hidden transcript« in der Apostelgeschichte ist jedoch vor allem wichtig, daß die Bezeichnungen »Herr« und »Retter« bzw. die Vorstellung des Kaisers als Wohltäter auch in der imperialen Propaganda verwendet werden, ohne damit ihre allgemeineren Konnotationen zu verlieren. 27 Die Würdebezeichnung »Herr« hebt in der griechisch-römischen Antike auf die überragende, aber rechtmäßige Machtposition von Göttern oder Menschen ab. Die lateinische Form dominus hat sich erst spät als Kaisertitel etabliert (vgl. Dio 72,20,2). Laut Sueton hat sich Domitian als »unser Herr und Gott« (Dom 10,3: dominus ac deus noster) anreden lassen, weshalb der Titel »Herr« ZNT 18 (9.Jg. 2006) vielleicht im Zuge der Verdammnis nach seinem Tod zunächst verpönt war. Allerdings ist das griechische Äquivalent Kyrios bereits als Titel für Claudius (POxy I 37,5f.) belegt und erscheint dann vor allem seit Nero, der u.a. als »Herr der ganzen Welt« bezeichnet wird (SIG' 814,31; vgl. auch POxy II 246; PLond 280,6 ). Was den Titel »Retter« oder »Beschützer« angeht, werden mit ihm spätestens seit hellenistisch-römischer Zeit Herrscher und Feldherren für herausragende Taten geehrt. Vermittelt durch den hellenistischen Herrscher- und Wohltäterkult findet der Titel später sukzessiven Eingang in die römische Kaiserideologie. Die Gewährung von Schutz und Sicherheit gegenüber eroberten Völkern diente dem Imperium zur Legitimation seiner Macht, da die Errungenschaften der pax Romana vielfach als Heil empfunden wurden. 28 Inschriftlich belegt ist u.a. bereits für Iulius Caesar der Titel »Retter des menschlichen Lebens« (SIG' 760); Augustus wird als »Retter für uns und unsere Nachkommen« (OGIS 458), Claudius als »Retter der Welt« (IGRR IV, 12) bezeichnet. Josephus berichtet, daß Vespasian in Tiberias als »Retter und Wohltäter« Qos, Bell III 459) begrüßt wurde. Lukas verwendet hingegen für den römischen Princeps entweder einfach den von ihm innerhalb des Neuen Testaments deutlich bevorzugten »neutralen« Titel »Kaiser« (vgl. Lk 2,1; 3,1; 20,22.24f.; 23,2; Apg 17,7; 25,8.10-12.21; 26,32; 27,24; 28,19) oder den jeweiligen Namen (vgl. Lk 2,1; 3,1; Apg 11,28; 18,2). Er bringt jedoch nie weder positiv noch negativ akzentuiert die Attribute »Herr« und »Retter« mit dem Kaiser in Verbindung. Somit kritisiert Heil«). Dieser ist aus christlicher Perspektive natürlich nicht der Kaiser in Rom, sondern allein der durch die Auferstehung von Gott zum »Herrn« eingesetzte Jesus Christus. Dies verdeutlicht Lukas zum Abschluß seines Doppelwerkes nochmals in den Verteidigungsreden des Paulus, der kaum auf die politischen Anklagen eingeht und vielmehr vor einem illustren Publikum Zeugnis vom Christusgeschehen ablegt (vgl. C. Burfeind). Eine entsprechende Interpretation wäre als ein im »public transcript« enthaltenes »hidden transcript« für römische »Ohren« entweder nicht wahrnehmbar oder zumindest ungefährlich gewesen, da die unbedingte Loyalität zum Kaiser den Glauben an andere Götter nicht ausschloß. Für christliche Adressaten spendet der Gegenentwurf zur römischen Propaganda hingegen die Zuversicht, daß sich die Basileia Gottes gegen die faktischen gegenwärtigen Erfahrungen der Unterdrückung die daher geduldet werden können bald endgültig durchsetzen wird. Sie haben die Gewißheit, daß das wahre Heil nicht in den zwiespältigen Errungenschaften der pax Romana liegt, sondern in der mit der Auferstehung Christi angebrochenen, alle irdischen Machtvorstellungen transzendierenden Herrschaft Gottes. Ausblick: Die Apostelgeschichte zwischen Apologetik und Anti-Imperialismus Es ist deutlich geworden, daß die lange Zeit die exegetische Forschung beherrschende Annahme, die Apostelgeschichte liefere Lukas die römische Ideologie zwar nicht offen, da er keinen direkten Bezug auf sie nimmt. Er macht aber doch indirekt konkurrierende Machtan- »Es ist deutlich geworden, daß die lange Zeit die exegetische Forschung beherrschende Annahme, die Apostelgeschichte eine Apologie sei es im Sinne der Rechtfertigung des Christentums gegenüber Rom oder als Verteidigung des Imperiums gegenüber dem Christentum zu kurz greift. Lukas stellt durchaus auch kritische Aspekte des Imperiums dar sowohl direkt als auch indirekt. Er bewegt sich dabei mit seiner offen artikulierten Kritik auf sprüche geltend, indem er die Titel »Herr« mit wenigen Ausnahmen (vgl. z.B. Apg 25,26) und »Retter« ausschließlich auf Gott (Lk 1,47) und Christus (Lk 2,11; Apg 5,31; 13,23) bezieht. Somit liefere eine Apologie sei es im Sinne der Rechtfertigung des Christentums gegenüber Rom oder als Verteidigung des Imperiums gegenüber dem Christentum zu kurz greift.« betont Lukas also entgegen der Kaiserpropaganda, daß es nur einen Retter geben kann (vgl. bes. Apg 4,12a: »Und es ist in keinem anderen das dem Boden des gesellschaftlich Akzeptierten und staatlich Tolerierten. Auf der Ebene des binnenchristlichen Diskurses ruft er zwar keineswegs ZNT 18 (9. Jg. 2006) 33 zum offenen Widerstand gegen Rom auf, fordert aber auch keine bedingungslose Unterordnung, wie es eine »unkritische« Lektüre der Apostelgeschichte vermuten lassen könnte. Vielmehr entfaltet Lukas das allgemeine Diktum zum Verhältnis von christlicher Identität und Obrigkeit aus Apg 5,29, man solle Gott mehr gehorchen als den Menschen, im Blick auf das Imperium im weiteren Verlauf seiner Erzählung sehr subtil. Er relativiert die römischen Machtansprüche, indem er betont, daß der wahre Retter Christus ist und die endgültige Herrschaft mit der Basileia Gottes bevorsteht. Bis zur Parusie Christi muß man allerdings damit rechnen, ganz verschiedene, oft widersprüchliche Erfahrungen mit dem Imperium zu machen. Wie damit umzugehen ist, zeigt die Apostelgeschichte. Auf der Achse von Apologetik und Anti-Imperialismus wäre Lukas somit wohl als eine Art »Realpolitiker« in der Mitte anzusiedeln. Die »imperiale« Perspektive, die hier nur knapp illustriert werden konnte, wird im Blick auf die Apostelgeschichte also vielleicht nicht zu grundsätzlich neuen Erkenntnissen führen, kann aber doch differenziertere Urteile ermöglichen. Bspw. ist die Möglichkeit der Herrschaftskritik in Form verdeckter Rede gewiß keine neue Einsicht. Bereits die jüdische Apokalyptik kleidet ihre Polemik gegenüber Rom in verhüllte, oft metaphorische Sprache; die antike Rhetorik kennt die Figur des schema, um kritische Äußerungen zu verschleiern." Die Theorie Scotts ist jedoch insofern innovativ, als sie die sprachlichen Beobachtungen in ein soziologisches Modell überführt und als Ausdruck des Ringens um Macht interpretiert. So sehr die »imperiale« Perspektive dabei freilich von spezifischen Anfragen im Kontext gegenwärtiger US-amerikanischer Gesellschaft und Politik geprägt ist, kann sie wichtige Impulse für die Exegese neutestamentlicher Texte bieten. Die skizzierten Ansätze sind aufzugreifen, dabei aber zugleich kritisch durch Einzelexegesen und Detailstudien auf ihre Tragfähigkeit hin zu überprüfen und von anachronistischen Verzerrungen freizuhalten. In jedem Fall ist zu begrüßen, daß das römische Reich wieder verstärkt in den Blick kommt, nachdem es lange Zeit in den Hintergrund der Forschung getreten war. Diese hat sich vor allem in den letzten Jahrzehnten sehr auf den frühjüdischen Kontext des frühen Christentums konzen- 34 triert. Diese Arbeit muß zwar unbedingt fortgesetzt werden, doch ist erfreulich, daß daneben das Imperium als ein entscheidender, die Lebens- und Vorstellungswelt des frühen Christentums bestimmender Faktor wahrgenommen wird. Für die Exegese gilt also: Das Imperium schlägt zurück. Anmerkungen Vgl. z.B. die Überblickswerke von B. Reicke, Neutestamentliche Zeitgeschichte. Die biblische Welt von 500 v.Chr.-100 n.Chr., Berlin '1982; E. Lohse, Umwelt des Neuen Testaments (GNT 1), Göttingen 8 1989; J. Leipoldt/ W. Grundmann (Hgg.), Umwelt des Urchristentums, 3 Bde., Berlin 8 1990/ 81991/ "1987; H.- J. Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums, 2 Bde. (Kohlhammer Studienbücher Theologie 9,1/ 2), Stuttgart 1995/ 1996. Vgl. zur Sozialgeschichte z.B. G. Theißen, Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19), Tübingen '1989; ders., Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien. Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition, Fribourg u.a. 2 1992; W.A. Meeks, Urchristentum und Stadtkultur. Die soziale Welt der paulinischen Gemeinden, Gütersloh 1993; E. Stegemann / W. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte, Stuttgart 2 1995; L. Schottroff, Lydias ungeduldige Schwestern. Feministische Sozialgeschichte des frühen Christentums, Gütersloh '2001. Vgl. zum Kaiserkult bes. S.R.F. Price, Rituals and Power. The Imperial Cult and Asia Minor, Cambridge 1984; P. Zanker, Augustus und die Macht der Bilder, München 3 1997; A. Brent, The Imperial Cult and the Development of the Church Order. Concepts and Images of Authority in Paganism and Early Christianity before the Age of Cyprian (VC.S 45), Leiden u.a. 1999, bes. 17-72; M. Clauss, Kaiser und Gott. Herrscherkult im Römischen Reich, Stuttgart/ Leipzig 1999; H. Koester (Hg.), Ephesos: Metropolis of Asia. An Interdisciplinary Approach to its Archaeology, Religion, and Culture (HThS 41), Valley Forge, Pa. 1995; ders. (Hg.), Pergamon, Citadel of the Gods: Archaeological Record, Literary Description, and Religious Development (HThS 46), Harrisburg, Pa. 1998. Vgl. für einen Überblick folgende von R.A. Horsley herausgegebenen Sammelbände: Paul and Politics. Ekklesia, Israel, Imperium, Interpretation. Essays in Horror of Krister Stendahl, Harrisburg, Pa. 2000; Paul and the Roman Imperial Order, Harrisburg, Pa. u.a. 2004; vgl. auch ders., Paul and Empire. Religion and Power in Roman Imperial Society, Harrisburg, Pa. 1997. Die Frage nach »Paul and Politics« untersucht Machtverhältnisse im weitesten Sinne. Neben dem römischen Imperium, das im vorliegenden Beitrag im Mittelpunkt steht, werden die »Politik« der Kirche, Israels und der Interpretation in den Blick genommen; vgl. ders., Introduction: Krister Stendahl's Challenge to Pauline Studies, in: ders., Paul and Politics, 11. Vgl. darüber hinaus bereits R.J. Cassidy, Jesus, Politics, and Society. A Study of Luke's Gospel, Maryknoll, NY ZNT 18 (9.Jg. 2006) 1978; ders., Society and Politics in the Acts of the Apostles, Maryknoll 1987; ders. / Philip J. Scharper (Hgg.), Political Issues in Luke-Acts, New York 1983; D. Georgi, Theocracy in Paul's Praxis and Theology, Minneapolis 1991; L. Alexander (Hg.), Images of Empire QSOT.S 122), Sheffield 1991; N. Elliott, Liberating Paul. The Justice of God and the Politics of the Apostle, Sheffield 1995. Vgl. K. Stendahl, The Apostle Paul and the Introspective Conscience of the West, HThR 56 (1963), 199-215. Vgl. Horsley, Challenge, 13f. Dabei ist allerdings nicht der weitere antike, sondern der im Gefolge Machiavellis heute übliche engere Politikbegriff im Sinne der Kunst der Konfliktaustragung mit dem Ziel des Erwerbs oder Erhalts von Macht zugrundegelegt, der dem englischen Ausdruck politics (als Komplementärbegriff zu policy und polity) entspricht; vgl. Herfried Münkler, Art. Politik/ Politologie, TRE 27 (1997), 1-6. Vgl. zu Paulus bes. die in Anm. 3 genannten Titel, zu Matthäus: W. Carter, Matthew and Empire. Initial Explorations, Harrisburg, Pa. 2001; J. Riches / D.C. Sim (Hgg.), The Gospel of Matthew in Its Roman Imperial Context. Early Christianity in Context, London 2005; vgl. auch P. Oakes (Hg.), Rome in the Bible and the Early Church, Carlisle 2002. Erstmals vertreten durch Chr.A. Hcumann, Dissertatio de Theophilo, cui Lucas historiam sacram inscripsit, BHPT IV, Bremen 1720, 483-505 (vgl. W.W. Gasque, A History of the Criticism of the Acts of the Apost! es [BGBE 17], Tübingen 1975, 21f.); vgl. dann vor allem H.J. Cadbury, The Making of Luke-Acts, London 1927, 308-315; H. Conzelmann, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas (BHTh 17), Tübingen 4 1962, 128-135; F.W. Horn, Die Haltung des Lukas zum römischen Staat im Evangelium und in der Apostelgeschichte, in: J. Verheyden (Hg.), The Unity of Luke-Acts (BEThL CXLII), Leuven 1999, 203-224, bes. 223f. Vgl. Ch.K. Barrett, Luke the Historian in Recent Study, London 1961, 63: »No Roman official would ever have filtered out so much of what to him would be theological and ecclesiastical rubbish in order to reach so tiny a grain of relevant apology. So far as Acts was an apology, it was an apology addressed to the Church ... «; R. Maddox, The Purpose of Luke-Acts, Edinburgh 1982, 96f; P.W. Walaskay, »And so we came to Rome«. The Political Perspective of St. Luke (MS- SNTS 49), Cambridge 1983, 15-37.64-67; V.K. Robbins, Luke-Acts: A Mixed Population Seeks a Horne in the Roman Empire, in: Alexander, Images, 202-221. 10 Vgl. H.W. Tajra, The Trial of St. Paul. A Juridical Exegesis of the Second Half of the Acts of the Apostles (WUNT II 35), Tübingen 1989, 199 u.ö.; Robert F. O'Toole, Luke's Position on Politics and Society in Luke-Acts, in: Cassidy / Scharper, Issues, 1-17, bes. 4- 8; E. Plümacher, Acta-Forschung 1974-1982, ThR 48 (1983), 1-56, 24; K. Wengst, Pax Romana. Anspruch und Wirklichkeit. Erfahrungen und Wahrnehmungen des Friedens bei Jesus und im Urchristentum, München 1986, 150f. 11 Vgl. P.F. Esler, Community and Gospel in Luke-Acts. The Social and Political Motivations of Lukan Theology (SNTS.S 57), Cambridge 1987, 16-23.201-219. ZNT 18 (9. Jg. 2006) Diese Argumentation ist freilich nicht weit entfernt vom Altersbeweis der späteren Apologeten. 12 Vgl. Cassidy, Society and Politics, bes. 158-170. 13 Vgl. W. Stegemann, Zwischen Synagoge und Obrigkeit. Zur historischen Situation der lukanischen Christen (FRLANT 152), Göttingen 1991, bes. 89f.268- 280; vgl. in Abgrenzung dazu, aber gleichfalls gegen apologetische Deutungen M. Walter, Die Juden und die Obrigkeit bei Lukas, in: K. Wengst/ G. Saß (Hgg.), Ja und Nein. Christliche Theologie im Angesicht Israels. FS Wolfgang Schrage, Neukirchen-Vluyn 1998, 277-290, bes. 289f. 14 Vgl. C. Burfeind, Paulus muß nach Rom. Zur politischen Dimension der Apostelgeschichte, NTS 46 (2000), 75-91. Nach J.M. Scott, Luke's Geographical Horizon, in: D.W.J. Gill/ C. Gempf (Hgg.), The Book of Acts in Its Graeco-Roman Setting (Al CS 2), Grand Rapids / Carlisle 1994, 483-544, 544 repräsentiert Rom für Lukas das vierte der danielischen Reiche und ist so der künftigen Herrschaft des Menschensohnes unterstellt (vgl. Dan 7,13f.; Apg 7,56). 15 Vgl. J. Jervell, The Theology of the Acts of the Apostles, Cambridge 1996, 86-88.100-106. 16 Plümacher, Acta-Forschung, 51; Hervorhebung im Original. 17 Vgl. für einen instruktiven Überblick D.C. Duling, Empire: Theories, Methods, Models, in: Riches / Sim, Gospel, 49-74. 18 Vgl. z.B. R.A. Horsley, Rhetoric and Empire and 1 Corinthians, in: ders., Paul and Politics, 72-102; D.J. Weaver, ,Thus you will know them by their fruits<: The Roman Characters of the Gospel of Matthew, in: Riches/ Sim, Gospel, 107-127. 19 Dies gilt auch für den Prozeß des Paulus, in dessen Verlauf der Kaiser lediglich in seiner Funktion als oberste Appellationsinstanz erwähnt wird (vgl. Apg 25,1 lf.21.25; 26,32; 28,19). Man kann nur aufgrund relativer Chronologie vermuten, daß Paulus an Nero appelliert hat; vgl. dazu H. Omerzu, Der Prozeß des Paulus. Eine exegetische und rechtshistorische Untersuchung der Apostelgeschichte (BZNW 115), Berlin/ New York 2002, 508 u.ö. 20 Vgl. dazu Omerzu, Prozeß, passim. 21 Vgl. Oakes, State, 75-80. Zu den sechs grundlegenden Einstellungen zählt er Ehrfurcht (z.B. gegenüber Prestige, Macht und Wohlstand Roms), Würdigung (z.B . der positiven Folgen der pax Romana), Wut (bes. angesichts der drängenden Steuerlast), Mißachtung (bes. der römischen Religion und des Kultes), Verweigerung (Rom als höchste Autorität anzuerkennen) sowie Hoffnung (auf den Umsturz des sozialen und politischen Systems Roms). 22 M. Meiser, Lukas und die römische Staatsmacht, in: M. Labahn/ J. Zangenberg (Hgg.), Zwischen den Reichen. Neues Testament und Römische Herrschaft (TANZ 36), Tübingen 2002, 175-193. 23 Vgl. J.C. Scott, Domination and the Arts of Resistance. Hidden Transcripts, New Haven u.a. 1990; vgl. auch S. Schreiber, Caesar oder Gott (Mk 12,17)? Zur Theoriebildung im Umgang mit politischen Texten des Neuen Testaments, BZ 48 (2004), 65-85; ders., Imperium Romanum und römische Gemeinden. Dimensionen politischer Sprechweise in Röm 13, in: U. Busse (Hg.), Die Bedeutung der Exegese für Theologie und Kirche (QD 35 215), Freiburg i.Br. 2005, 131-170; vgl. auch Duling, Empire, 70-73; N. Elliott, The »Patience of the Jews«. Strategies of Resistancc and Accomodation to Imperial Cultures, in: J.C. Anderson / C. Setzer/ P. Sellew (Hgg. ), Pauline Conversations in Context, FS Calvin J. Roetzel (JSNT.S 221 ), Sheffield 2002, 32-41; E.M. Heen, Phil 2: 6-11 and Resistance to Local Timocratic Rule. lsa theji and the Cult of the Emperor in the East, in: Horsley, Imperial Order, 125-153. 24 Vgl. Scott, Domination, 136-182; vgl. auch die Tabelle s. 198. 27 Vgl. dazu bereits A. Deissmann, Licht vom Osten. Das Neue Testament und die neuentdeckten Texte der hellenistisch-römischen Welt, Tübingen 4 1923, 298-310; D. Cuss, Imperial Cult and Honorary Terms in the New Testament (Par. 23), Fribourg 1974, bes. 53-71; P. Oakes, Philippians. From People to Letter (SNTS.MS 110), Cambridge 2001, 129-174; vgl. auch S. Walton, The Statc They Wcre in: Luke's View of the Roman Empire, in: Riches / Sim, Gospel, 1-41, 27 mit Anm. 86. 28 E. Faust, Pax Christi et Pax Caesaris. Religionsgeschichtliche, traditionsgeschichtliche und sozialgeschichtliche Studien zum Epheserbrief (NTOA 24), Fribourg / Göttingen 1993, 475; Oakes, Philippians, 160-165. 25 Vgl. J.D.G. Dunn, KYPIOI in Acts, in: Ch. Landmesser u.a. (Hgg. ), Jesus Christus als die Mitte der Schrift. Studien zur Hermeneutik des Evangeliums. FS Otfried Hofius (BZNW 86), Berlin/ New York 1997, 363-378. 29 Vgl. Schreiber, Caesar, 78 unter Hinweis auf Demetrius, De elocutione 287-294; Quintilian, Institutionis Oratoriae IX 2. 26 Vgl. F. Hahn, Christologische Hoheitstitel. Ihre Geschichte im frühen Christentum, Göttingen 5 1995. 36 Eve-Marie Becker/ Doris Hiller (Hrsg.) Handbuch Evangelische Theologie Ein enzyklopädischer Zugang UTB 8326 2006, 390 Seiten, div. Tab., € [D] 29,90/ SFR 52,20 ISBN 3-8252-8326-7 Das Handbuch Evangelische Theologie eröffnet eine Zusammenschau aller Teildisziplinen theologischer Wissenschaft: Altes Testament - Neues Testament - Kirchengeschichte - Systematische Theologie: Dogmatik und Ethik - Praktische Theologie, Religions- und Gemeindepädagogik. Die Beiträge stellen jeweils das Selbstverständnis der einzelnen Disziplin und ihr Verhältnis zu den Nachbardisziplinen und zur theologischen Wissenschaft insgesamt dar. Im dritten Teil der Beiträge wird das enzyklopädisch-theologische Denken am Beispiel des Themas »Gebet« konkretisiert und praktisch durchgeführt. Ein ausführliches Namensregister erfasst die für die Geschichte theologisch-enzyklopädischen Arbeitens zentralen Personen. Aus dem Inhalt: Theologische Enzyklopädie - Eine Einführung • Altes Testament• Neues Testament • Kirchengeschichte • Vorüberlegungen zur Systematischen Theologie • Dogmatik• Ethik• Praktische Theologie, Religions- und Gemeindepädagogik A. Francke ZNT 18 (9. Jg. 2006) Wie historisch ist die Apostelgeschichte? Eine Einführung zur Kontroverse Die Frage nach der Historizität biblischer Schriften ist mindestens so alt wie das moderne Geschichtsbewusstsein. Noch heute steht mit ihrer Beantwortung für viele Menschen die Glaubwürdigkeit der Bibel auf dem Spiel. Für einige bedeutet der Umstand, dass nicht alle Jesusworte auf Jesus selbst zurückgehen, eine Anfechtung ihres Glaubens. Wieder andere jedoch führt es in eine Krise, wenn sie z.B. die Seewandelerzählung als historischen Bericht glauben sollen. Diese Vorbemerkung möge markieren, wie unterschiedlich die Selbst- und Weltverständnisse sind. Für (fast) jeden Standpunkt gibt es gute Gründe. Eine einheitliche Sichtweise zu erzwingen, kann nicht das Ziel sein. Vielmehr aber die Voraussetzungen der verschiedenen Sichtweisen zu reflektieren, scheint mir eine dringliche Aufgabe der Theologie. Die beiden Neutestamentler Daniel Marguerat und Rainer Riesner beantworten die Frage nach der Historizität der Apostelgeschichte im Kontext ihrer theologischen und geistesgeschichtlichen Herkunft und Verortung sehr unterschiedlich. Rainer Riesner ist theologisch durch die Universität Tübingen geprägt, deren renommierter Emeritus Martin Hengel seit Jahrzehnten mit besonderer Leidenschaft für die Historizität der Apostelgeschichte streitet. Mit Hengel und der altkirchlichen Überlieferung seit Irenäus sieht Riesner im Verfasser der Apostelgeschichte den Paulusbegleiter und Arzt Lukas. Im Prolog des Lukasevangeliums (Lk 1,1-4) lege dieser Verfasser seine Arbeitsweise offen und erweise sich darin als zuverlässiger Historiker. Mit seinem Vorgehen gestalte er zwar auch den Stoff, so etwa in den Reden im Hinblick auf den Wortlaut, aber er sei bestrebt, den Inhalt der Reden so genau wie möglich wiederzugeben. Die vieldiskutierten sog. Wir-Passagen der Apostelgeschichte betrachtet Riesner als Indiz für die Augenzeugenschaft des Verfassers. Zu den >»panegyrischen Anwandlungen< des Lukas«, wie Riesner sie mit Adolf von Harnack nennt, zählt er etwa die idealisierende Schilderung der Gütergemeinschaft der Urgemeinde. Diese sei zwar durchaus von alttesta- ZNT 18 (9. Jg. 2006) mentlichen und griechisch-römischen Idealen inspiriert, aber sie deshalb für erfunden zu halten, weist er zurück. Ganz anders geht der französische Neutestamentler und N arratologe Daniel Marguerat an die Fragestellung heran, indem er seine Antwort in geschichtstheoretische und -philosophische sowie erzähltheoretische Reflexionen einbindet. Als Konsens formuliert Marguerat zunächst: »Dass wir mit einer fundamentalen ,historischen Zuverlässigkeit, der Apostelgeschichte rechnen können«. Er betont jedoch, dass beim Verständnis von Historizität der entscheidende Dissens bestehe. Marguerat mahnt, nicht allzu naiv gegenüber Geschichtsschreibung zu sein. Vielmehr regt er an, über Konzepte von Historiographie nachzudenken und knüpft dabei etwa an Raymond Aron, Henri-Irenee Marrou, Paul Veyne, Paul Ricceur und Arnaldo Momigliano an. Seine These lautet, dass zwischen Geschichte und Geschichtsschreibung zu differenzieren sei, denn es gebe keine Geschichte außerhalb ihrer Vermittlung. »Geschichtsschreibung ist nicht beschreibend, sondern (re)konstruktiv« und die spezifische Perspektive des Historiographen fließt stets in die Darstellung ein. Zudem unterscheidet Marguerat mit Ricceur drei Typen der Historiographie. Eine davon ist die poetische, zu der er die Apostelgeschichte zählt. Marguerat bezeichnet sie als Gründungserzählung (frz. recit fondateur), die von einer identitätsstiftenden Funktion geprägt sei und deren Wahrheit in der Interpretation liege. Welche der beiden Positionen die geneigte Leserin bzw. den geneigten Leser mehr überzeugt, hängt nicht zuletzt von texttheoretischen, hermeneutischen und geschichtsphilosophischen Vorentscheidungen ab. Urteilen sie selbst ... Ute E. Eisen 37 Rainer Riesner Die historische Zuverlässigkeit der Apostelgeschichte »Es ist nicht nur im Großen und Ganzen ein wirkliches Geschichtswerk, sondern auch die Mehrzahl der Details, die es bringt, ist zuverlässig. Es folgt außer einigen panegyrischen Anwandlungen in bezug auf die Urgemeinde keinen Tendenzen, die die reine Darstellung des geschichtlichen Verlaufs stören, und sein Verfasser hat genug gewußt, um als Geschichtsschreiber auftreten zu dürfen. Es ist fast von jedem möglichen Standpunkt geschichtlicher Kritik aus ein solides und respektables, in mancher Hinsicht aber ein außerordentliches Verfasser der Apostelgeschichte mit dem zeitweiligen Paulus-Begleiter und Arzt Lukas (Phlm 24; Kol 4, 14) gleichgesetzt hat, sondern sein Wissen dem römischen Gemeindearchiv verdankte.' Die Identifizierung geht wahrscheinlich auf die Zeit vor dem Ausschluss des Markion aus der römischen Gemeinde im Jahr 144 zurück. Diese externe Verfasserzuweisung wird durch das interne Zeugnis des lukanischen Doppelwerks unterstützt. Fiktive Reiseschilderungen der Antike reklamieren in direkter Weise Augenzeugenschaft. Die Wir-Berichte der Apos- Werk; außerordentlich ist schon der Mut des Lukas, die komplizierte Geschichte einer im lebendigsten Flusse sich befindenden religiösen ~ TROV telgeschichte (Apg 16,10-16; 20,5-21,18; 27,1-28,16), die das nur indirekt tun, gehen offensichtlich auf emen Bewegung zu schildern«. 1 Diese Beurteilung der Apostelgeschichte stammt von keinem konservativen Exegeten, sondern von dem großen Liberalen Adolf von Harnack. Während der letzten J ahre hat es in der deutschen protestantischen Theowirklichen Paulus-Begleiter zurück. Da sich ihre Sprache und ihr Stil innerhalb des zweiten Teiles der Apostelgeschichte nicht vom Rest abheben, ist von einer Identität des Verfassers der Wir-Stücke und des Gesamtwerkes auszugehen. Die Vorworte zum Doppelwerk (Lk logie eine gewisse Harnack- Renaissance gegeben, die sich auf die Bewertung des lukanischen Doppelwerks allerdings nicht ausgewirkt hat. Das ist zu bedauern, denn Harnack war ein besserer Historiker als Theologe. Meiner Überzeugung nach kann Harnacks »Ein entscheidender Faktor bei 1,1-4; Apg 1,1-2) lassen sich mit Loveday A. Alexander den Einleitungen zu wissenschaftlich-technischer Literatur und da wieder besonders denen zu ärztlichen Werken vergleichen. 3 Vor kurzem hat Annette Weissenrieder geder Beurteilung eines Geschichtswerkes ist die Frage nach dem Verfasser und seiner Nähe zu den geschilderten Ereignissen.« Urteil über Lukas mit Hilfe moderner exegetischer Erkenntnisse an manchen Stellen präzisiert, im Wesentlichen aber bestätigt werden. Der Paulus-Begleiter Lukas ... Ein entscheidender Faktor bei der Beurteilung eines Geschichtswerkes ist die Frage nach dem Verfasser und seiner Nähe zu den geschilderten Ereignissen. Claus-Jürgen Thornton hat gute Gründe dafür vorgebracht, dass Irenäus (Adv Haer III 1,1) nicht aufgrund exegetischer Kombinationen den 38 zeigt, dass Lukas nicht nur manchmal medizinische Terminologie benutzt, sondern auch gelegentlich Krankheitskonzepte zu Grunde legt, die antiken medizinischen Theorien entsprechen.' Gerade auch Ärzte brachten im Altertum die geistigen Voraussetzungen mit, um Geschichtswerke zu schreiben. Als Zeit des lukanischen Doppelwerks werden in der deutschsprachigen Forschung meist die 80er oder 90er-J ahre des ersten Jahrhunderts genannt. Diese Datierung hat den großen Vorteil, so unpräzise zu sein, dass sie sich kaum falsifizieren lässt. Wie schon Adolf von Harnack bestreitet jetzt eine althistorische Dissertation von Alexan- ZNT 18 (9. Jg. 2006) Rainer Riesner Die historische Zuverlässigkeit der Apostelgeschichte Rainer Riesner Rainer Riesner, Jahrgang 1950, Promotion 1980 und Habilitation 1990 in Tübingen, 1997/ 98 Lehrstuhlvertretung in Dresden, seit 1998 Professor für Evangelische Theologie und ihre Didaktik/ Neues Testament an der Universität Dortm1md. der Mittelstaedt an der Universität Konstanz, dass Lukas 19,41-44; 21,20-24 die Zerstörung Jerusalems voraussetzt, und plädiert für eine Niederschrift der Apostelgeschichte zur Zeit ihres rätselhaften Abschlusses um 62 während der Gefangenschaft des Paulus in Rom.' Martin Hengel nennt bedenkenswerte Gründe für eine Entstehung in der Zeit der frühen flavischen Kaiser Vespasian und Titus zwischen 75 und 80. 6 Selbst tendiere ich zu einer Abfassung noch vor 70, aber nach dem angedeuteten (Apg 20,22-25.37-38) Martyrium des Paulus. Doch sogar wenn man der konventionellen Spätdatierung folgt, ist der Paulus-Begleiter Lukas als Verfasser nicht ausgeschlossen. Trotz der erschreckend hohen Sterblichkeitsrate in der Antike gab es damals viele, die deutlich mehr als das Durchschnittsalter erreichten. Man braucht nur an die neutestamentlichen Beispiele von Petrus und Paulus zu denken. In einer an Kaiser Hadrian gerichteten Apologie, die sich kaum leichtfertige Argumente leisten konnte, behauptete Quadratus, selbst noch solche gekannt zu haben, die Jesus geheilt, ja vom Tode auferweckt hatte (Eusebius, HE IV 3,1-2). ... als antiker Historiker ... Die Gattung der Apostelgeschichte kann man im Rahmen der antiken Literatur als historische Monographie bestimmen.' Im Vorwort zum Evan- ZNT 18 (9. Jg. 2006) gelium beansprucht Lukas, von »Tatsachen« (pragmata) zu schreiben, »allem von Beginn sorgfältig (akribos) nachgegangen« zu sein und so die »Zuverlässigkeit« (asphaleia) der christlichen Lehren zu erweisen (Lk 1,1-4). Einen vergleichbaren Anspruch erhebt Lukas auch auf rhetorisch sehr effektvolle Weise in der Apostelgeschichte. Nach der letzten großen Verteidigungsrede des Paulus wirft ihm der Prokurator Festus vor, wahnsinnig zu sein (Apg 26,24). Darauf lässt Lukas den Paulus antworten: »Ich rase nicht, sondern rede Worte der Wahrheit (aletheia) und Vernunft (sophrosyne). Der König versteht sich auf diese (Dinge), deshalb rede ich freimütig zu ihm. Ich bin überzeugt, dass ihm nichts davon verborgen geblieben ist, denn dies ist nicht im Winkel (en gonia) geschehen« (Apg 26,25- 26). Mit der letzteren, sprichwortartigen Wendung (vgl. Epiktet, Diss II 12.17; Platon, Gorgias 485D) unterstreicht Lukas den Öffentlichkeitscharakter der grundlegenden Ereignisse der jesuanischen und apostolischen Geschichte. Anders als spätere gnostische Evangelien beruft er sich nicht auf geheime Offenbarungen an Einzelne, sondern ist überzeugt, dass die Wahrheit des christlichen Glaubens auch der Vernunft geleiteten, historischen Nachfrage von Skeptikern zugänglich ist und ihr standhält. Lukas folgte auch insofern den Standards besserer antiker Geschichtsschreiber, als er über seine Quellen und Darstellungsweise Rechenschaft gab. ... mit guten Quellen ... Da sich das kurze Vorwort der Apostelgeschichte (Apg 1,1-2) auf den ersten Teil (protos logos) des Doppelwerkes zurück bezieht, darf man das ausführlichere Vorwort zum Evangelium (Lk 1, 1-4) auch im Blick auf die Informationsmöglichkeiten des Lukas für die Apostelgeschichte auswerten. Wenn Lukas von den »Tatsachen« spricht, die sich »unter uns (en hemin) zugetragen haben«, so kann er damit durchaus andeuten, dass er als Angehöriger der apostolischen Generation einige Ereignisse selbst miterlebt hat. In der Apostelgeschichte entsprechen dem die Wir-Berichte. Wenn es im Vorwort heißt, dass »die Augenzeugen (autoptai) von Anfang an uns (hemin) überliefert haben« (Lk 1,2), so dürfte impliziert sein, dass Lukas selbst noch einige von ihnen treffen konnte. Dass Lukas als Zeitgenosse der Apostel die Möglichkeit nutzte, 39 andere solche Zeitgenossen über Ereignisse zu befragen, deren Zeuge er nicht selbst gewesen war, dafür gibt es gerade in der Apostelgeschichte ein wichtiges Indiz. Nicht nur die Wir-Berichte selbst, sondern auch die ihnen zeitlich und örtlich nahestehenden Passagen zeichnen sich durch eine besondere Dichte von chronologischen, geographischen und anderen Detailangaben aus, von denen wenigstens einige historisch verifiziert werden können. 8 Das ist auffällig, weil die lukanischen Schilderungen an anderen Stellen vergleichsweise vage bleiben. Diese ungleichmäßige Verteilung von Einzelheiten spricht dagegen, Lukas einer zu phantasievollen Darstellungsweise zu verdächtigen. Wo er keine detaillierten Nachrichten besaß, hat er offensichtlich nicht durch schriftstellerische Kreativität nachgeholfen. Manchmal scheint das historiographische Problem sogar darin zu bestehen, dass Lukas mehr wusste als er schrieb (vgl. Apg 9,30- 31; 15,37-39; 19,30-31). Mindestens für das Evangelium hat Lukas auch über schriftliche Quellen verfügt, Markus oder eine markusähnliche Darstellung sowie eine mit Matthäus gemeinsame Überlieferung. Vor allem bei der Wiedergabe der Worte Jesu, deren semitische Sprachgestalt den stilistisch durchaus anspruchsvollen Lukas gestört haben muss, zeigt er einen zurückhaltenden Umgang mit diesen Quellen. Von großer Relevanz ist die Frage, woher Lukas sein Sondergut übernahm, das rund die Hälfte seines Evangeliums ausmacht. schichte hoch einschätzt, braucht die Grenzen der lukanischen Darstellung nicht zu übersehen. Sie ergeben sich einmal aus den Möglichkeiten und Konventionen eines antiken Historikers. Wenigstens die Gebildeten unter den Hörern und Hörerinnen bzw. Lesern und Leserinnen wussten, dass es sich bei den Reden der Apostelgeschichte nicht um stenographische Mitschriften handelt. In diesem Zusammenhang wird oft in ungenauer Weise das Vorwort zum »Peloponnesischen Krieg« von Thukydides (I 22,1) angeführt. Der große griechische Historiker hat bei der Komposition von Reden keineswegs der bloßen dichterischen Einfühlung das Wort geredet. Während beim Wortlaut Freiheit bestand, sollte doch der Inhalt der aktuellen Rede so genau wie möglich wiedergegeben werden. Noch deutlicher hat Polybios bei der Gestaltung von Reden die Aufgaben des Poeten und des Historikers voneinander abgegrenzt (II 56,10-12). Über das Verhältnis von redaktioneller Freiheit und historischer Gebundenheit in den Reden der Apostelgeschichte können nicht pauschale Urteile, sondern allein Einzelanalysen entscheiden. Eine andere Grenze ergab sich für die Geschichtsschreibung des Lukas daraus, dass er nicht in allen Fällen selbst die Zuverlässigkeit einer Quelle überprüfen konnte, besonders wenn es um weiter zurückliegende Ereignisse ging. So nennt Lukas einen Aufstandsführer namens Theudas, der vor der Revolte von Judas dem Galiläer, die durch einen Zensus Man kann weiterhin und sogar mit durch die Qumran-Funde verstärkten philologischen Argumenten eine These vertreten, die in der Vergangenheit vor allem von Paul Feine »Manchmal scheint das historiographische Problem sogar darin zu bestehen, dass Lukas mehr wusste als er schrieb ... « veranlasst wurde, aufgetreten sein soll (Apg 5,36-37). J osephus erwähnt den Aufstand eines Theudas in späterer Zeit unter dem Prokurator Cuspiverteidigt wurde: Lukas verfügte nicht nur im Evangelium über eine Sonderquelle aus konservativ-judenchristlichen Kreisen, die sich in Jerusalem und Judäa um den Herrenbruder Jakobus und andere Herrenverwandte gesammelt hatten. Diese Überlieferung macht sich auch in der Darstellung der U rgemeinde im ersten Teil der Apostelgeschichte (Apg 1-12 und 15) bemerkbar. 9 ... nicht ohne Grenzen und Tendenzen, ... Auch wer den historischen Wert der Apostelge- 40 us Fadus (Ant XX 97-99). Ob es sich um zwei verschiedene Ereignisse handelte oder ob ein Fehler bei Josephus oder Lukas vorliegt, lässt sich bei unserem momentanen Wissensstand schwer entscheiden. Vor besondere Probleme stellen den modernen Forscher die Absichten, die Lukas mit seinem Doppelwerk verband, und die man seit den Tagen der älteren » Tübinger Schule« unter dem Stichwort »Tendenz« diskutiert. Die Schwierigkeiten für urchristliche Gemeinden gehen nach der Apostelgeschichte meist, wenn auch nicht ausschließlich (vgl. Apg 16,16-40; 19,23-40), von jüdischer Seite aus. Wer hierin nicht nur eine sehe- ZNT 18 (9. Jg. 2006) Rainer Riesner Die historische Zuverlässigkeit der Apostelgeschichte matisierte, sondern eine antijüdische Darstellung sehen möchte, sollte Folgendes bedenken: Nicht nur in der judenchrist! ich geprägten Vorgeschichte seines Evangeliums (Lk 1-2) gibt es bei Lukas freundliche Schilderungen jüdischer Menschen wie bei kaum einem anderen Autor des Neuen Testaments. Lukas kennt den pluralistischen Charakter des damaligen Judentums (Apg 23,1-11) und schildert deshalb eine ganze Bandbreite von Reaktionen auf die neue messianische Bewegung der »Nazaräer« (Apg 24,5): Zustimmung (Apg 17,10-12), Sympathie (Apg 2,47; 22,12), Abwarten (Apg 5,34-39) und entschiedene Gegnerschaft (Apg 5,17-33; 9,1-2; 12,1-2; 14,19-20; 17,5-9 usw.). Dass es Gewaltanwendung nicht nur von Seiten des Synhedriums in Jerusalem, sondern ebenso in der Diaspora gab, bezeugt Paulus (2Kor 11,24-25; vgl. 1Thess 2,14-16), und dieses Phänomen fügt sich auch sonst in den zeitgeschichtlichen Rahmen ein, wie sich anhand der Schriften des Philo von Alexandrien zeigen lässt. 10 Die Darstellung des Lukas bietet personell und geographisch nur einen Ausschnitt aus der Geschichte der urchristlichen Bewegung zwischen den Jahren 30 und 62 n.Chr. Lukas schildert die Anfänge in Jerusalem, aber dann geht der Weg der christlichen Botschaft nur noch nach Westen durch Petrus an die hellenisierte Mittelmeerküste von Palästina und durch Paulus über Kleinasien sowie Griechenland nach Rom. Nur in Andeutungen verrät Lukas, dass er Gemeinden in Galiläa kennt (Apg 9,31) und um die Ausbreitung der messianischen Bewegung nach Süden (Apg 2,10; 8,26-39), Norden (Apg 2,9) und Osten (Apg 2,9; 9,2) weiß. Unübersehbar ist auch eine irenische Tendenz, die Lukas innerchrist! iche Konflikte aber nicht völlig übergehen lässt (Apg 6,1; 11,1-3; 15,1-7.37-39; 21,18-21). Er wollte die grundlegende Übereinstimmung der führenden Repräsentanten Petrus, J akobus und Paulus zeigen. Das wird direkt bei seiner Darstellung des so genannten Apostelkonzils deutlich (Apg 15,1-29), zeigt sich aber auch daran, dass er in seinem Doppelwerk Traditionen zusammengeführt hat, die auf den Umkreis von Petrus (markinische Tradition), Jakobus (Sonderüberlieferung) und Paulus zurückgehen. Auf seine Weise nimmt Lukas im Doppelwerk den neutestamentlichen Kanon in nuce vorweg. Dass es grundlegende theologische Übereinstimmungen zwischen Petrus, J akobus ZNT 18 (9. Jg. 2006) und Paulus gab, ist sicherlich eine höchst kontroverse, aber keineswegs von allen modernen Exegeten negativ entschiedene Frage. ... aber im Wesentlichen zuverlässig. Wenigstens drei Beispiele sollen andeuten, dass auch in besonders umstrittenen Bereichen eine positive Wertung der lukanischen Geschichtsschreibung möglich ist. Zu den »panegyrischen Anwandlungen« des Lukas zählen wie Adolf von Harnack viele Ausleger die Schilderung der Gütergemeinschaft der Urgemeinde (Apg 2,42-45; 4,32-35). Es muss keineswegs bestritten werden, dass Lukas sowohl alttestamentliche (Dtn 15,1-4) wie griechisch-philosophische Ideale (Platon, Resp V 462C; Jamblichos, Vit Pyth 30,168) erfüllt sah. Aber ist seine Darstellung deshalb einfach erfunden? Josephus hat die Essener als ideale jüdische Gemeinschaft geschildert (Bell II 119-161; Ant XVIII 18-22), und trotzdem sind die meisten seiner Einzelinformationen über sie zutreffend. Die örtliche Nähe zwischen dem Essener-Viertel (Josephus, Bell V 145) und dem ersten Zentrum der Urgemeinde auf dem Südwesthügel Jerusalems (Epiphanius, De mensuris et ponderibus 14 [PG 43,260]) sowie die Konversionen von Essenern zur neuen messianischen Gemeinschaft (vgl. Apg 2,5; 6,7) bilden einen plausiblen Hintergrund (vgl. 1QS 6,13-23) für die Gütergemeinschaft eines Teiles der Urgemeinde. 11 Man kann sogar die Ansicht vertreten, dass Lukas sich bei seiner Schilderung den hellenistischen Adressaten weniger angepasst hat als J osephus. Wenn man das Treffen von Paulus mit Jakobus, Petrus und Johannes in Galater 2, 1-10 mit dem Konzil von Apostelgeschichte 15 identifiziert, gerät man in größte Probleme mit der Darstellung des Lukas. Er hat dann entweder aufgrund einer falschen oder missverstandenen Nachricht eine frühe Kollektenreise des Paulus angenommen oder eine solche erfunden, um den Apostel in stärkere Abhängigkeit vom heilsgeschichtlich-apostolischen Zentrum Jerusalem zu bringen (Apg 11,27-30; 12,25). Hier wird dann auch oft das stärkste Argument gegen Lukas als Paulus-Begleiter gefunden (U. Schnelle). Offenbar als erster hat Johannes Calvin in seinem Kommentar zu diesem Brief die Jerusalem-Reise in 41 Galater 2 und Apostelgeschichte 11 identifiziert (CR 78,182). Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert gilt diese Gleichsetzung als klassische Lösung evangelikaler Ausleger (W.M. Ramsay, F.F. Bruce, I.H. Marshall, R.N. Longenecker, R.J. Bauckham). Aber in jüngster Zeit hat auch die katholische Exegetin Ruth Schäfer in einer Bochumer Dissertation diese Lösung ausführlich verteidigt. 12 Diese Rekonstruktion ist ebenfalls nicht ohne Probleme, kann aber spätestens jetzt nicht mehr als hoffnungsloser Harmonisierungsversuch abgetan werden, sondern stellt eine diskussionswürdige Alternative dar. Wenn man ihr folgt, würde sich ein zweites Problem der lukanischen Darstellung abmildern, wenn nicht sogar lösen lassen. Nach Gal 2,6 wurde Paulus »nichts auferlegt«, während er nach Lukas dem »Aposteldekret« zugestimmt haben soll (Apg 15,22-35; 16,1-6). Nun ist es allerdings auch abgesehen von der chronologischen Rekonstruktion die Frage, ob Paulus solche Verpflichtungen von Heidenchristen für die Tischgemeinschaft mit Judenchristen anerkannt hätte. Wenn man mit Markus Bockmuehl die halachischen Diskussionen um die Ausdehnung von Erez Jisrael und die damit verbundene Geltung ritueller Vorschriften beachtet (vgl. Apg 15,23), dürfte aber selbst über diese Frage nicht das letzte Wort gesprochen sein. 13 Seit einem einflussreichen Aufsatz von Philipp Vielhauer ist vielen der angebliche »Paulinismus« der Apostelgeschichte suspekt. Lukas habe den Apostel des gesetzesfreien Evangeliums zum christianisierten Pharisäer stilisiert, um Paulus für den beginnenden Frühkatholizismus kompatibel zu machen. So sei es historisch völlig undenkbar, dass der Apostel ein Nasiräats-Gelübde auf sich genommen (Apg 18,18) und für judenchristliche Nasiräer am Jerusalemer Tempel gespendet habe (Apg 21,23-26). In letzter Zeit für moderne Forscher nicht immer leicht zu vermeiden, dass gegenwärtige Tendenzen die eigene Wahrnehmung von Geschichte bestimmen. Ein protestantischer Theologe der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts hätte sich sicher nicht auf eine derart solidarische Geste gegenüber in ihrer Existenz bedrohten, konservativen Judenchristen eingelassen, der Verfasser von Röm 9-11 schon eher. Wie viel wir Lukas verdanken, kann man sich auch an zwei Gegenproben klar machen. Nach dem abrupten Schluss der Apostelgeschichte gehen die Rekonstruktionen der weiteren paulinischen Biographie völlig auseinander. Wurde der Apostel gleich in der ersten römischen Gefangenschaft hingerichtet oder noch einmal freigelassen? Reiste er ein weiteres Mal nach Osten (Pastoralbriefe) und/ oder hat er noch Spanien erreicht (1Clem 5,6-7)? Erlitt er vor oder in der neronischen Verfolgung (64-68) das Martyrium? War der Ort seines Todes Rom, wie die Tradition besagt (Eusebius, HE II 25,7), oder gar Philippi, wie eine moderne Hypothese behauptet (H. Koester, A.D. Callahan)? Auch alle Versuche, unter totalem Verzicht auf den lukanischen Geschichtsrahmen zu einer Chronologie des Paulus zu kommen (J. Knox, G. Lüdemann, N. Hyldahl), enden in völlig gegensätzlichen Entwürfen. Man ist versucht, das Fazit zu formulieren: Lukas oder Chaos! Ich bin nicht nur als Familienvater und Ausbilder von Religionslehrern und Religionslehrerinnen froh, dass die Apostelgeschichte im Kanon steht. Wie sollte man Schülern und Schülerinnen ohne die farbigen Schilderungen des Lukas den Apostel Paulus und seine Theologie nahe bringen? Aber auch hinsichtlich der Erforschung des Urchristentums halte ich das Doppelwerk des Lukas für einen Glücksfall. Er hat bereits eine historiographische Leistung vollbracht, der sich gibt es gewichtige Stimmen, unter ihnen die des berühmten jüdischen Forschers Jacob N eusner, welche die lukanische Darstellung für richtig, zumindest aber für möglich halten. 14 Vielhauer schrieb in einer Zeit schärfster protestantisch-katholischer Kontro- »Auch wenn hier die Wertungen im Einzelfall auseinander gehen mögen, stellt uns Lukas vor die unausweichliche Altererst zweihundert Jahre später die Arbeit des Eusebius vergleichen lässt. Ohne Lukas wüssten wir wesentlich weniger. native, ob wirklich alle Geschichte atheistisch verstanden werden kann oder nicht.« Daniel Marguerat sieht das lukanische Doppelwerk am Schnittpunkt der alttestamentlich-jüdischen und der versen, wir leben in einer Periode des ernsthaften Dialoges mit dem Judentum. Gewiss ist es auch griechischen Geschichtsschreibung. 15 Marguerat hat auch völlig Recht, dass Lukas entgegen der 42 ZNT 18 (9.Jg. 2006) Rainer Riesner Die historische Zuverlässigkeit der Apostelgeschichte von Thukydides ausgehenden historiographischen Tradition mit einem direkten Eingreifen Gottes in die Geschichte rechnete. Aus diesem unleugbaren Sachverhalt sind allerdings zwei völlig unterschiedliche Folgerungen möglich. Lukas könnte von seinen theologischen Voraussetzungen her Heilsgeschichte konstruiert haben, ohne allzu sehr Rücksicht auf die historischen Realitäten zu nehmen. Lukas kann aber auch in Ereignissen, die er in Quellen vorgefunden, auf Nachfrage erfahren oder sogar selbst erlebt hatte, Gottes Handeln zum Heil von Menschen wahrgenommen haben. Adolf von Harnack hielt an der substanziellen historischen Zuverlässigkeit der Apostelgeschichte fest, obwohl er bei einigen Erzählungen mit sehr früh einsetzender Legendenbildung rechnete. Man sollte in der Tat nicht die Beurteilung von einzelnen Wundergeschichten zum entscheidenden Maßstab machen. Auch wenn hier die Wertungen im Einzelfall auseinander gehen mögen, stellt uns Lukas vor die unausweichliche Alternative, ob wirklich alle Geschichte atheistisch verstanden werden kann oder nicht. Das bleibt auch nach der Aufklärung und der schon früher in dieser Zeitschrift ausgetragenen Kontroverse (ZNT 7 [2001]) eine grundlegende philosophische und theologische Frage. Anmerkungen A. von Harnack, Beiträge zur Einleitung in das Neue Testament III: Die Apostelgeschichte, Leipzig 1908, 222. Der Zeuge des Zeugen. Lukas als Historiker der Paulusreisen (WUNT I/ 56), Tübingen 1991. Preface to Luke's Gospel: Literary Convention and Social Context in Luke 1: 1-4 (SNTSMS 78), Cambridge 1993. Images of Illness in the Gospel of Luke: Insights of Ancient Medical Texts (WUNT II/ 164), Tübingen 2003. Vgl. auch M. Hengel/ A.M. Schwemer, Paulus zwischen Damaskus und Antiochien. Die unbekannten Jahre des Apostels (WUNT I/ 108), Tübingen 1998, 18-26. Lukas als Historiker. Zur Datierung des lukanischen Doppelwerkes (TANZ 43), Tübingen 2006. The Four Gospels and the One Gospel of Jesus Christ. An Investigation of the Collection and Origin of the Canonical Gospels, Harrisburg 2000, 186-194. Vgl. D.W. Palmer, Acts and the Ancient Historical Monograph, in: B.W. Winter/ A.D. Clarke, The Book of Acts in Its Ancient Literary Setting, Grand Rapids/ Carlisle 1993, 1-30. ZNT 18 (9. Jg. 2006) Vgl. C.J. Hemer, The Book of Acts in the Setting of Hellenistic History (WUNT I/ 49), Tübingen 1989; R. Riesner, Die Frühzeit des Apostels Paulus. Studien zur Chronologie, Missionsstrategie und Theologie (WUNT I/ 71), Tübingen 1994; H. Botermann, Das Judenedikt des Kaisers Claudius. Römischer Staat und Christiani im 1. Jahrhundert (Hermes.E 71), Stuttgart 1996. P. Feine, Eine vorkanonische Überlieferung des Lucas in Evangelium und Apostelgeschichte, Gotha 1891. Vgl. R. Riesner, Prägung und Herkunft der lukanischen Sonderüberlieferung, TBei 24 (1993), 228-248; ders., James' Speech (Acts 15: 13-21), Simeon's Hymn (Luke 2: 29-32) and Luke's Sources, in: J.B. Green/ M. Turner, Jesus of Nazareth - Lord and Christ: Essays on the Historical Jesus and New Testament Christology, Grand Rapids / Carlisle 1994, 263-278; ders., Lukas, in: V. Reinhardt (Hg.), Hauptwerke der Geschichtsschreibung, Stuttgart 1997, 391-394; ders., Das Lokalkolorit des Lukas-Sonderguts: italisch oder palästinisch-judenchristlich? , SBFLA 49 (1999), 51-64; ders., Die Emmaus-Erzählung (Lukas 24,13-35). Lukanische Theologie, judenchristliche Tradition und palästinische Topographie, in: K.H. Fleckenstein / M. Louhivuori/ R. Riesner (Hgg.), Emmaus in Judäa. Geschichte - Exegese - Archäologie (BAZ 11), Gießen 2003, 150-208; ders., Genesis 3,15 in der vorlukanischen und johanneischen Tradition, SNTU 29 (2004), 119-178; ders., Once More: Luke-Acts and the Pastoral Epist! es, in: S.W. Son (Hg.), History and Exegesis: New Testament Essays in Honor of Dr. E. Earle Ellis, New York/ London 2006, 239-258. 10 Vgl. T. Seland, Establishment Violence in Philo and Luke: A Study of Non-Conformity to the Torah and Jewish Vigilante Reactions (BIS 15), Leiden 1995; L.W. Hurtado, How on Earth Did Jesus Become a God? Historical Questions about Earliest Devotion to Jesus, Grand Rapids / Cambridge 2006, 152-178. 11 Vgl. B.J. Capper, Community of Goods in the Early Jerusalem Church, in: W. Haase (Hg.), ANRW II 26/ 2, Berlin/ New York 1995, 1730-1774; R. Riesner, Essener und Urgemeinde in Jerusalem. Neue Quellen und Funde (BAZ 6), Gießen 1998; ders., Essener und Urkirche auf dem Südwesthügel Jerusalems, in: N.C. Schnabel, Laetare Jerusalem, Münster 2006, 200-234. 12 Paulus bis zum Apostelkonzil. Ein Beitrag zur Einleitung in den Galaterbrief, zur Geschichte der Jesusbewegung und zur Pauluschronologie (WUNT II/ 179), Tübingen 2004. 13 Jewish Law in Gentile Churches: Halakhah and the Beginning of Christian Public Ethics, Edinburgh 2000, 49-83. 14 M. Boertien, Nazir (Nasiräer). Die Mischna, Berlin/ New York 1971, 28f.71f.90-95; J. Jervell, Die Apostelgeschichte (KEK 3), Göttingen 1998, 526-530; J. Neusner, Vow-Taking, the Nazirites, and the Law: DoesJames' Advice to Paul Accord with Halakhah? , in: B. Chilton/ C.A. Evans (Hgg.), James the Just and Christian Origins (NT.S 98), Leiden 1999, 59-82; W. Eckey, Die Apostelgeschichte II, Neukirchen-Vluyn 2000, 485-490. 15 La premiere histoire du christianisme: Les Actes des Apotres (LD 180), Paris/ Genf 1999, 11-42. 43 Daniel Marguerat Wie historisch ist die Apostelgeschichte? 1 ... aber was heißt Historizität? Ich stimme Rainer Riesner in einem wesentlichen Punkt zu: Ich denke wie er, dass wir mit einer fundamentalen »historischen Zuverlässigkeit« der Apostelgeschichte rechnen können. Aber die entscheidende Frage ist: Was heißt Historizität? Und in diesem Punkt teile ich die Ansichten meines Diskussionspartners nicht. Ich präzisiere meine Übereinstimmung mit ihm. Die Tübinger Schule hat den immensen Verdienst gehabt festzustellen: Erstens, dass die Apg in den Rahmen der historischen Entwicklung des Urchristentums gestellt werden sollte, um korrekt verstanden zu werden; zweitens, dass der Autor der Apg durch das Verfassen seines Werks einen identitätsstiftenden Ansatz für die Christenheit vertritt. Die wissenschaftliche Forschung zur Apg bestätigt heute dieses doppelte Postulat. Aber indem seine theologische Tendenz anerkannt In groben Zügen lässt sich die neutestamentliche Forschung zum lukanischen Doppelwerk in zwei Richtungen aufteilen: Auf einer Seite der extreme Vorbehalt der deutschen Exegese zur historischen Arbeit des Lukas (Vielhauer, Conzelmann, Haenchen, Lüdemann, Roloff, Weiser, Schille, mit Ausnahme von Hengel und seiner Schule), und getrennt davon die anglo-amerikanische Seite mit ihrer Hartnäckigkeit, die dokumentarische Schwäche des Verfassers des lukanischen Doppelwerkes rehabilitieren zu wollen (Gasque, Bruce, Marshall, Hemer, Bauckham, Witherington).4 Der Zweifel an der lukanischen historiographischen Arbeit hat übrigens eine unbehagliche Aporie geschaffen. Einerseits ist sie, auch wenn die gelieferte Information durch die Acta aufgrund ihrer Fixierung auf die Achse Jerusalem-Rom auf Kosten des Aufschwungs nach Osten und Süden zu als lückenhaft anerkannt ist, für jeden unerlässlich, der die Periode der ersten war, wurde Lukas vor dem Richterstuhl der historischen Wahrheit angeklagt und für schuldig erklärt. Für Franz » ... die entscheidende Frage ist: christlichen Generation rekonstituieren will; keine Biographie des Apostels Paulus Was heißt Historizität? « Overbeck »ist das eine Taktlosigkeit von welthistorischen Dimensionen, der grösste Excess der falschen Stellung, die sich Lukas zum Gegenstand gibt«.' Nach Overbeck ist es die grundlegende lukanische Sünde gewesen, Historie und Fiktion vermengt zu haben, d.h. das historiographisch zu behandeln, was keine Historie war und nicht als solche überliefert wurde. Kurz, der Autor der Apg hätte Historie und Legende, historisches Faktum und übernatürliches in einen Topf geworfen und so durcheinander gemischt, dass der moderne Historiker das Gesicht davor verhüllt. Man weiß, an welchem Punkt dieser verhängnisvolle Satz die (vor allem deutsche) Exegese der Acta bis heute erschwert hat! In seinem monumentalen Kommentar betrachtet Ernst Haenchen das Buch der Acta bestenfalls als »ein Erbauungsbuch«. 3 44 kann die Kapitel 9 bis 28 der Apg aussparen. Andererseits hemmt der Verdacht der historischen Unglaubwürdigkeit der lukanischen Erzählung das in Betracht ziehen der lukanischen Informationen. Am häufigsten beginnen die Historiker des Urchristentums mit dem in Zweifel ziehen des historischen Wertes der Apg, um danach praktisch unter der Hand die Gegebenheiten der lukanischen Erzählung in ihre Forschung aufzunehmen ... Weniger naiv sein gegenüber der Geschichtsschreibung Wenn man der Sackgasse entkommen will, ist über das Konzept der Historiographie selbst nachzudenken. Es ist in der Tat symptomatisch, ZNT 18 (9. Jg. 2006) Daniel Marguerat Prof. Dr. Daniel Marguerat,Jahrgang 1943, studierte Ev. Theologie in Lausanne und Göttingen. Promotion 1981 und seit 1984 Professor für Neues Testament an der Fakultät für Theologie und Religioswissenschaften der Universität von Lausanne (Schweiz). Forschungsschwerpunkte: Apostelgeschichte, Matthäusevangelium, historischer Jesus, narrative und leserorientierte Exegese. Zahlreiche Veröffentlichungen. Sein Acta-Kommentar (Acts 1-12) erscheint 2007 bei Labor et Fides, Genf. Weitere Informationen unter: www.unil.ch/ theol/ page16829.htm1 dass weder Baur noch Overbeck nach einer Theorie der Geschichte rufen; der eine und der andere identifizieren auf der geraden Linie des Positivismus historische Wahrheit und harte dokumentarische Fakten. Nun hat aber die Reflexion über die Niederschrift der Geschichte seit dem Rationalismus von Overbeck, wo man sich in der Verfassung glaubte, zwischen dem Richtigen und dem Falschen deutlich unterscheiden zu können, Fortschritte gemacht. Wir sind bescheidener geworden - und sagen wir ruhig weniger naiv bezüglich der Definition des »Wahren« in der Geschichte. Zwei theoretische Überlegungen sind zu bedenken. Erstens: Die Arbeiten von Raymond Aron über die Geschichtsphilosophie, von Henri- Irenee Marrou über die Epistemologie der Geschichtsschreibung und von Paul Veyne über den Begriff der Intrige (plot) haben die Unterscheidung zwischen Geschichte und Geschichtsschreibung zerbrochen.' Es gibt keine Geschichte außerhalb der Vermittlung, die durch die vom Verstand des Historikers ausgehende Interpreta- ZNT 18 (9.Jg. 2006) Daniel Marguerat Wie historisch ist die Apostelgeschichte? tion erfolgt. Die Geschichte ist Erzählung und als solche von einem Gesichtspunkt her konstruiert. Auf dem Durcheinander der Fakten, das ihm seine Information aus der Vergangenheit liefert, lanciert der Historiker eine Handlung nach Art eines Netzes, indem er bestimmte als bedeutsam beurteilte Fakten festhält, andere ablehnt und die einen mit den anderen in einer Beziehung zwischen Ursache und Wirkung verbindet. Die Geschichtsschreibung ist also nicht beschreibend, sondern (re)konstruktiv. Sie reiht also nicht die nackten Fakten aneinander (die Baur und Overbeck als »geschichtliche Wahrheit« identifizierten), sondern einzig und allein interpretierte Fakten gemäß einer durch den Historiker gesetzten Logik. Und bei diesem Verfahren erkennt Raymond Aron, »die Theorie geht der Geschichte voraus« 6 oder, wenn man so will, der Standpunkt des Historikers geht der Niederschrift der Geschichte voraus. Die Wahrheit der Geschichte verdankt sich also nicht der Tatsächlichkeit des berichteten Ereignisses; sie kommt von einer Interpretation her, die man einer Wirklichkeit gibt, die in sich selbst immer für mehrere Interpretationsmöglichkeiten geeignet ist. Die berühmte Divergenz zwischen der lukanischen und der paulinischen Version des Apostelkonzils in Jerusalem (Apg 15,5-35 und Gal 2,1-13) illustriert diesen Standpunkt exakt; Paulus und Lukas bieten jeder eine ganz bestimmte Rhetorik (argumentativ oder narrativ) auf, nämlich eine spezifische Lesart der Geschichte, partiell und subjektiv. Zweit(; ns: Die Arbeiten von Arnaldo Momigliano erlauben uns nicht nur die Unterscheidung zwischen griechischer und jüdischer Geschichtsschreibung vorzunehmen, sondern haben auch die Intuition der Tübinger Schule bestätigt: Jedes historiographische Unternehmen ist von einer identitätsstiftenden Sichtweise getragen.' Die Vergangenheit ist niemals (jedenfalls in der Antike) durch sich selbst erforscht worden; es ist dies in der Absicht getan worden, eine Darstellung für die Gegenwart der Hörer/ Leser, für eine oft unbeständige oder sich in einer Krise befindlichen Gegenwart, zu konstituieren; dabei ist auch die aktuelle Revision der Theorie der Quellen des Pentateuch, bei dem die literarische Fixierung der Texte auf die Periode des Exils heruntergerechnet wird, nicht dafür geeignet, diesen Punkt zu widerlegen. 45 Die Falle des Positivismus Demzufolge ist die lukanische Geschichtsschreibung nicht nach seiner Konformität, sozusagen bruta facta (immer äquivok) beurteilt worden. Sie muss dagegen nach dem historischen Standpunkt, den die Niederschrift der Erzählung zum Ausdruck bringt, nach der Wahrheit, an der der Autor arbeitet, um sie zu benennen, und nach dem identitätsstiftenden Bedürfnis, auf welches das Werk des Historikers antwortet, befragt werden. Nehmen wir den Fall der dokumentarischen Genauigkeit, auf den Rainer Riesner viel insistiert. Die lukanische Schrift zeugt tatsächlich von einer außergewöhnlichen Aufmerksamkeit für das Feld der paulinischen Mission und richtet das Augenmerk auf die eingeschlagenen Reisewege, auf die vielbesuchten Städte, auf die getroffenen Personen. Die drei Verse, die die Reise von Troas nach Milet (Apg 20,13-15) berichten, zählen mit einer quasi technischen Exaktheit die Zwischenstationen von Assos, Mitylene, Chios und Trogyllion auf. Der Erzähler kann von einer verblüffenden Genauigkeit sein, wenn er den Weg der Gesandten beschreibt (Apg 13,4; 19,21- 23; 20,36-38), die Wahl der Wege (Apg 20,2f.13- 15), die Reisezeiten (Apg meers hat und dass er bestens über die Gebräuche und den administrativen Apparat des römischen Reiches informiert ist. Das garantiert uns nicht die historische Zuverlässigkeit des Autors und noch weniger, dass der Autor als Begleiter des Paulus der Zeuge der erzählten Ereignisse gewesen ist. Die dokumentarische Exaktheit und die Arbeit des Historikers zu identifizieren bedeutet, in die Falle des Positivismus hineinzugeraten. Die Information und den Augenzeugenbericht zu vermischen bedeutet, zwei Wirklichkeiten stoßen in naiver Weise zusammen. Ich berücksichtige, dass Lukas tatsächlich eine persönliche Kenntnis der Orte hat, von denen er spricht ( außer Palästina), aber nur, weil er ein großer Reisender ist. Für seine Rekonstruktion der Reisen des Paulus aus der Entfernung heraus ist er von seinen eigenen Reisen her gut unterrichtet, die es ihm erlaubt haben, die oft lückenhaften Gegebenheiten seiner Quellen zu komplettieren. Der Linguist Roland Barthes nennt diese Marker der Faktizität »Realitätseffekt«, die durch die Erwähnung eines Details darauf abzielen, die Glaubwürdigkeit der Erzählung zu erhöhen. Die lokale Farbigkeit der Apg ist manchmal nur die erzählende Verkleidung einer Fiktion, die im Hinblick auf 20,6.15), die Bedingungen der Unterbringung (Apg 18,1-3; 21,8-10), die Abschiedsszenen (Apg 21,5-7.12-14). Das herrliche Kapitel 27 mit seiner Erzählung vom Schiffbruch, wo Lukas sich zu romanhaften Effekten hin- »Die lokale Farbigkeit der Apg ist manchmal nur die erzählende Verkleidung einer Fiktion, die im Hinblick aufdas Schaffen des >Realitätseffekts< vom das Schaffen des »Realitätseffekts« vom Autor ausgedacht ist. Ich habe das Wort »Fiktion« erwähnt: Bedeutet dies, dass ich den Historiker Lukas für einen Phantasten halte? Tritt die Fiktion in Gegensatz Autor ausgedacht ist.« reißen lässt, ist gleichzeitig für die erstaunliche Sorgfalt beim nautischen Vokabular berühmt. Dieselbe Sorge des dokumentarischen Realismus berührt die lukanische Beschreibung der römischen Institutionen: Philippi ist sehr korrekt Kolonie benannt (Apg 16,12) und seine praetores empfangen ihren wahren Namen als Strategen (Apg 16,20); die Richter von Thessalonich sind tatsächlich politarches (Apg 17,8) und der Prokonsul Gallio in Korinth empfängt ganz wie Sergius Paulus in Zypern seinen Titel anthupatos (Apg 18,12; 13,7f). 8 Was lehrt uns diese Sorge für Genauigkeit? Es lehrt uns, dass Lukas eine exzellente Kenntnis der Geographie des Nord-Ostens des Mittel- 46 zur historischen Ethik? Impliziert das Zulassen der Anwesenheit von Fiktion das Verzichten auf die lukanische » historische Zuverlässigkeit«? Keineswegs. Ein letzter theoretischer Beitrag wird es uns erlauben, das zu verstehen. Es gibt drei Historiographien Wir verdanken Paul Ricoeur die Unterscheidung zwischen drei Typen von Historiographie. 9 Er erkennt zu allererst eine dokumentarische Geschichte, die auf die Darlegung von feststellbaren und verifizierbaren Fakten abzielt (Bei- ZNT 18 (9.Jg. 2006) spiel: wie Titus und seine Legionäre im Jahre 70 Jerusalem eingenommen haben). Er spricht danach von einer erklärenden Geschichte, die das Ereignis von einem sozialen, ökonomischen oder politischen Horizont her bewertet; sie antwortet auf die Frage: Welche Auswirkungen hat die Eroberung Jerusalems durch Titus für Juden und Christen gehabt? Zuletzt spricht Ricoeur von der Historiographie im starken Sinne, die in den Gründungserzählungen (frz. recits fondateurs) die Vergangenheit wieder erkennt, die die Völker brauchen, um ihr Verständnis von sich selbst zu konstruieren. Man trifft hier die identitätsstiftende Funktion des Werks der Erinnerung wieder. Sie korrespondiert mit der Methode des Historikers, der die Eroberung J erusalems durch die römischen Truppen als die göttliche Sanktion auf die Untreue des erwählten Volks interpretiert. Ricoeur nennt diese Geschichte poetisch (im etymologischen Sinne von poiein, denn sie erscheint im Gründungsmythos). Sie gehorcht nicht denselben N armen wie die vorhergehenden Typen und ist nicht bereit für die Kriterien der Verifikation in wahr oder falsch (wie die dokumentarische Geschichte); sie wägt nicht die verschiedenen Hypothesen der Bewertung eines Ereignisses ab (wie die erklärende Geschichte); ihre Wahrheit schlägt sich nieder in der Interpretation, die sie der Vergangenheit gibt und in der Möglichkeit, die sie der Gruppe eröffnet, sich in der Gegenwart zu verstehen. Mit anderen Worten, was die Historiographie im starken Sinne als wahrhaftig anerkennt, das ist das Bewusstsein von sich selbst, das sie der Lesergruppe anbietet. Diese Systematik ist interessant, denn sie setzt einer totalitären (weil einzigen) Definition der Historiographie ein Ende. Es gibt also mehrere Arten, Geschichte zu betreiben, die eine ist dabei ebenso legitim wie die andere. Dem Historiker gerecht zu werden besteht darin, nach seiner historiographischen Sicht zu fragen. Insbesondere ist die Anerkennung der poetischen Dimension entscheidend; indem sie den Rekurs auf den symbolischen Ausdruck in der Geschichte hoch bewertet, rettet sie den Historiker vor dem Verdacht, das Symbolische als missbräuchlich oder im Hinblick auf die historische Ethik als abweichend zu betrachten. Im Gegenteil, sagt Ricoeur, ist das Symbolische (ich füge hinzu: sei ZNT 18 (9. Jg. 2006) Daniel Marguerat Wie historisch ist die Apostelgeschichte? es theologisch oder nicht) für eine poetische historiographische Sichtweise wesentlich. Diese Geschichtsschreibung, wenn sie Gründungserzählungen vorstellt, kommt geradewegs von einem Symbolisieren und Imaginieren her. 10 Man könnte Ricoeur den Vorwurf machen, dass die Trennungen zwischen diesen drei Kategorien selten klar sind. Dieser Verdacht verifiziert sich für das Buch der Apg. Die Lektüre der Erzählung führt nicht dazu, sie gänzlich einem Typ zuzuordnen. Sie empfiehlt sich durch gewisse Züge als dokumentarischer Typ, aber durch andere Züge für den poetischen Typ. Um sich davon zu überzeugen, genügt es Apg 16,6-10, zu lesen. Diese kurze Passage erzählt, wie der missionarische Weg von Paulus und Silas heftig in Richtung Mazedonien abgeändert wird, weil sie »durch den Heiligen Geist verhindert worden sind, das Wort in Asien zu verkünden«; derselbe Geist »autorisiert sie nicht« Bithynien zu erreichen, sondern führt sie nach Troas, wo sie mittels einer Erscheinung ein Mazedonier anfleht »zu ihrer Hilfe nach Mazedonien zu kommen«. Eine solche Version der Tatsachen ist in dokumentarischer Geschichte, wo man konkrete Auskünfte über das Warum und das Wie dieser Nötigungen fordert, unstatthaft; im Gegensatz dazu findet sie ihre Legitimität in einer Gründungserzählung, deren Zweck es ist zu zeigen, wie der Geist die Kirche geboren hat, indem er die Zeugen des Wortes wunderbar geführt hat. Zweites Beispiel: Die Mimesis des Evangeliums durch die Apg, die sich durch die Nachahmung der Passion J esu durch Stephanus (Apg 7,54-60) oder durch die Nachahmung der Wundertätigkeit J esu durch Petrus und Paulus zeigt. Dokumentarische Geschichte oder poetische Geschichte? Das Zögern ist nicht erlaubt: Der Autor handelt nicht wie ein Chronist, sondern wie der Architekt einer Entstehungsgeschichte. Man wird einwenden, dass das Zulassen eines erfundenen Teils in der Historiographie die Grenze zwischen Geschichtswerk und Roman verwischt. Der Einwand ist bedeutsam. Ich würde mit Loveday A. Alexander sagen, dass die Differenz zwischen dem Historiker und dem Romanschriftsteller daher kommt, dass der Historiker im Unterschied zum Romanautor dem Respekt gegenüber seinen Quellen und seiner Dokumentation verpflichtet ist. 11 47 Die zehn Regeln der antiken Historiographie Wenn die Zuverlässigkeit des Historikers nicht in der Genauigkeit seiner Erzählung (die fälschlich sein kann) besteht, sondern definitiv in der Wahrheit, die er zur Sprache bringt, was ist die Wahrheit bei Lukas? Wie konstruiert sich seine Lesart der Vergangenheit? Wenn man den Anachronismus vermeiden will, gibt es eine einzige Lösung: Die Arbeit des Lukas an der antiken griechisch-römischen Historiographie zu messen. Willem van U nnik, der sich auf die Abhandlung Lukians von Samosata Wie man Geschichte schreiben soll (geschrieben in 166-168) und auf den Brief nach Pompeji von Dionys von Halikarnass (zwischen 30 und 7 v.Chr.) stützt, hat in zehn Regeln die Deontologie des griechisch-römischen Historikers formalisiert.12 Hier sind diese zehn Regeln: 1) Wahl eines noblen Themas; 2) Nutzen des Themas für die Adressaten; 3) Unabhängigkeit des Geistes und Abwesenheit von Parteilichkeit; 4) Gute Konstruktion des Berichts, insbesondere sein Anfang und sein Ende; 5) Adäquate Sammlung von vorbereitendem Material; 6) Auswahl und Abwechslung bei der Behandlung der Informationen; 7) Korrekte Verteilung und Planung des Berichts; 8) Lebendigkeit bei der Erzählung; 9) Mäßigung bei den topographischen Details; 10) Zusammenstellung angemessener Ausführungen zum Redner und zur rhetorischen Situation. Der mit der Apg vertraute Leser stellt unmittelbar die große Zahl der Anordnungen fest, denen Lukas zugestimmt hat. Dies bestätigt die Ambition des Vorworts von Lk 1, 1-4, durch welches der Autor ad Theophilum sein Werk auf die Ebene niveauvoller hellenistischer Literatur stellt. Eine Verifikation des Textes macht ersichtlich, dass das lukanische Doppelwerk die Nomenklatur der historischen Normen erfüllt und dem griechischrömischen historiographischen Standard in der Mehrzahl der Punkte entspricht. 11 Ich betone: In der Mehrzahl der Punkte, aber nicht in allen: Das ist es, was vom größten Interesse ist! Von den durch van Unnick zehn aufgezählten Regeln sind acht im lukanischen Doppelwerk erfüllt, einschließlich der berühmten thukydideischen Regel von der Umgestaltung der Reden (Regel Nr. 10; Peloponnesischer Krieg 1,22,1). Im Gegensatz dazu bricht Lukas zwei Regeln: Die erste und die dritte. 48 Ein lächerliches Thema? Die Regel Nr. 1 des Historikers ist die Wahl des Themas. Was ist ein »gutes Thema« für die Historiker der griechisch-römischen Kultur? Es genügt ihre Werke durchzublättern, um es zu wissen: Der klassische Historiker behandelt politische oder militärische Geschichte, es sei denn, dass er sich in die ethnographische Studie stürzt. Er erzählt das Leben und das Auf und Ab der Großen, seien es Generäle oder Kaiser. Er zeigt seine Kunst, indem er die Eroberungshandlungen beschreibt. Er erzählt Schlachten. Lukian versäumt es nicht über diese Historiker, die die Schlachten nicht erzählen können, ironische Bemerkungen zu machen. 14 Das Thema, das Lukas ausgewählt hat, ist sicher nicht ein kleines Thema, da ja unser Autor darauf besteht zu sagen, dass »diese Ereignisse nicht in einem verlorenen Winkel passiert sind« (Apg 26,26) und von daher kann er seinen Bericht in der Weltgeschichte verankern (vgl. Lk 2,lf.; 3,1 ! ). Dennoch sind seine »acta«, seine res gestae weder Alexander dem Großen (Kallisthenes ), noch Kyros (Xenophon), noch dem Weg der Griechen und Barbaren (Theopompos), noch dem römischen Volk (Sallust) gewidmet; ich gehe jede Wette ein, dass die Geschichte, welcher sich Lukas widmet, einen Lukian von Samosata nicht beeindruckt hätte. Was ein griechischer Historiker lächerlich finden würde, steht dennoch in gerader Linie zu einer anderen Geschichtsschreibung, nämlich der jüdischen. Die historischen Schriften der hebräischen Bibel beschäftigen sich ausschließlich damit zu erzählen, wie Gott sich in das Glück und das Unglück eines kleinen Volkes mischt. Lukas, am Ort der Begegnung der hellenistischen und jüdischen historiographischen Traditionen gelegen, optiert, was das Thema betrifft, für die jüdische Linie. Der jüdische Historiker Flavius Josephus richtet sich eher nach der griechisch-römischen Thematik als er seine Antiquitates schreibt. Arnaldo Momigliano sieht in der christlichen Geschichtsschreibung des vierten und fünften Jahrhunderts (Eusebius, Sozomenos, Sokrates, der Scholastiker, Theodoret von Cyrus) mit ihrer Entfaltung der kirchlichen Konflikte und ihrer Geschichte der Häresien eine Weiterführung der kriegerischen Geschichte. 15 Lukas, der sich ganz in die Form der narrativen griechisch-römischen ZNT 18 (9.Jg. 2006) Vorgehensweisen einschleicht, nimmt die thematische Wahl biblischer Geschichtsschreiber vor. Eine theologische Geschichtsschreibung Bei einem anderen Punkt, der durch die Regel Nr. 3 berührt wird, überschreitet Lukas zugunsten der biblischen Tradition das Ethos der griechischrömischen Historiker: Die parresia, die man als eine Tugend der Offenheit, des Wagnisses und der Freiheit des Ausdrucks verstehen muss. Lukian ist sehr sensibel bezüglich dieser Forderung: es ist wichtig »frei von Furcht, unbestechlich, frei, Freund der Ehrlichkeit und der Wahrheit zu sein [... ],niemanden zu verschonen aus Frömmigkeit, Scham oder Respekt« (Wie man Geschichte schreiben soll, 41) und »ein freier Mensch und voll von Ehrlichkeit, ein Feind der Schmeichelei und der Unterwürfigkeit« (61) zu sein. Lukian spricht sich für die Unabhängigkeit des Geistes des Historikers aus, der nicht den Großen schmeicheln noch die Geschichte in Propaganda umwandeln muss. Unterschreibt Lukas dieses Erfordernis? Wenn er der parre- Daniel Marguerat Wie historisch ist die Apostelgeschichte? der Unwahrscheinlichkeit und des Sensationalismus gibt Polybios den Ton an: Das Spektakuläre und das Wunderbare sind nur unter der Bedingung tolerierbar, »die Frömmigkeit des Volkes gegenüber dem Göttlichen zu bewahren«, so urteilt Polybios im sechzehnten Buch seines umfangreichen Geschichtswerkes (16, 12, 9). Historiker und Romanautoren erwähnen in ihren Schriften manchmal das Schicksal oder damals auch die Launen der Götter. 16 Die Götter haben ihren Platz, aber es ist ein vertrauter und kontrollierter Platz: Göttliche Orakel oder Fortuna können bei Gelegenheit angerufen werden, um die Handlungen vorangehen zu lassen. Alles im Gegensatz zu den Acta, wo der Leser niemals dazu aufgefordert wird, sich von den übernatürlichen Bekundungen zu distanzieren, sondern sich darüber zu wundern. Wir berühren hier einen entscheidenden Punkt, bei dem sich zwei Historiographien trennen: Die griechische ist kritisch, die jüdische ist es nicht. Die griechische Geschichtsschreibung findet ihr Modell bei Herodot und übernimmt von seiner Schrift die persona des Erzählers, der kommentiert, was er berichtet; sia der Apostel eine große Wichtigkeit zuschreibt (die eher auf ihre Kühnheit, das Wort zu verkündigen als auf ihre Unabhängigkeit des Geistes hinweist), stellt Lukas die intellektuelle Autonomie des Historikers nicht zur Schau: seine Lesart der Geschichte ist gläubig. Die ersten Verse der Apg (1,7) sagen es schon: »Versuchen wir nicht, aus dem Autor der Acta einen christlichen Thukydides zu machen; seine Kollegen im Standpunkt des Denkens sind eher auf der Seite des Flavius Josephus oder des Autors der diese gewichtige Stimme führt zu einer Distanz zwischen den erzählten Fakten und der Rezeption der Leser. Es handelt sich nicht weniger als um eine fundamentale epistemologische Differenz. Griechische und jüdische Historiker verstehen beide ihre Arbeit als eine Erforschung Makkabäerbücher zu suchen.« Lukas versteht die Geschichte als Theologe, d.h., dass er sie im Voraus als eine Zeit versteht, die zu Gott gehört. Versuchen wir nicht, aus dem Autor der Acta einen christlichen Thukydides zu machen; seine Kollegen im Standpunkt des Denkens sind eher auf der Seite des Flavius J osephus oder des Autors der Makkabäerbücher zu suchen. Der Unterschied zu den griechischen Historikern, Biographen oder Romanschriftstellern ist, was die Beziehung zum Religiösen angeht, stark. Der kritische Abstand ist bei denen angebracht, die systematisch Sorge tragen, sich von den übernatürlichen Phänomenen zu distanzieren, die sie den Lesern berichten. Im Namen der Ablehnung ZNT 18 (9. Jg. 2006) des Wahren, eine Suche nach der Wahrheit (die Herausforderung der Wahrhaftigkeit in der Geschichte ist das Hauptwort der antiken Geschichtsschreibung). Aber während die ersten die Wahrscheinlichkeit der Ereignisse ermitteln, stellen die zweiten die Wahrheit Gottes, der die Welt regiert, dar. Die griechische Geschichte ist erhellend, die jüdische Geschichte ist bekennend. Deshalb ist das Eindringen des Erzählers in die hebräische Geschichtsschreibung nicht passend, dies verbleicht hinter dem Wort, das er zur Sprache führt (Josephus macht eine Ausnahme); das Griechische spielt im Gegensatz dazu mit dem Einsatz verschiedener Perspektiven. 49 Die berühmten »Wir«-Formulierungen Lukas hat seine Sichtweise in der Widmung an Theophilus klar dargelegt (Lk 1,1-4). Die Narratologie spricht vom »Pakt der Lektüre«, um auf diese anfänglichen Textsequenzen, in denen der Erzähler den Rahmen für das Verständnis seines Werks erstellt, hinzuweisen. Dadurch signalisiert er, auf welche Weise er versteht, wie die Erzählung zu lesen sei. Welches Signal sendet das lukanische incipit für die Intention des Lesers? In zweimaliger Wiederholung taucht ein »Wir« auf1': »Viele haben es schon unternommen, Bericht zu geben von den Geschichten, die unter uns geschehen sind, wie uns das überliefert haben, die es von Anfang an selbst gesehen haben und Diener des Worts gewesen sind ... « (1,lf.). Auf was verweist dieses doppelte »Wir«? Es ist meiner Meinung nach ein Irrtum der Lektüre, dieses »Wir« mit dem »Ich« des Autors zu verwechseln, das auch benutzt wird in der Apg: »so habe auch ich's für gut gehalten ... «. Dieses »Wir« findet in der Folge des Buchs ein wohlbekanntes Echo, die berühmten Wir-Berichte (Apg 16,10-17; 20,5-15; 21,1-18; 27,1-28,16). Aus diesem Grund müssen die zwei »Wir«-Formulierungen des Vorwortes aus dem Lukasevangelium verstanden werden in Relation zu den rätselhaften Wir-Berichten in der Apg. Ohne die Absicht zu haben, das Rätsel definitiv zu lösen, möchte ich doch die folgende Interpretation vorschlagen: a) Von Seiten eines guten Schriftstellers wie Lukas her gedacht bedeutet der literarische Bruch, der die Passage mit den Wir- Berichten herbeiführt, dass dieses » Wir« vom Leser bemerkt werden muss; b) Einzige vernünftige Interpretation: Lukas will merken lassen, dass er hier eine Quelle benutzt (Tagebuch, Notizen eines Begleiters von Paulus? ); c) Das Auftreten des »Wir« umfasst den Autor; anders gesagt, Lukas ist darauf aus, sich in diese Paulus nahestehende Gruppe zu integrieren, auch wenn er historisch kein Begleiter des Paulus gewesen ist. Der Vorgang ist theologisch begründet: Lukas zieht hier eine Tradition in Betracht, die dem Milieu angehört, das das Seine ist, nämlich eine paulinische Strömung, die die Erinnerung an den Apostel in Ehren hält und seine Reiseaktivitäten zur Evangelisation fortsetzt. Das » Wir« zielt darauf ab, die Erzählung glaubwürdig zu machen aber nicht wie es ein positivistischer Historiker machen 50 würde; die Glaubwürdigkeit stützt sich auf die Nähe zu Paulus, auf die Verteidigung seines Denkens, auf die Übernahme seines Modells von missionarischer Aktion. Das »Wir« ist nicht die Handschrift eines Chronisten, sondern die identitätsstiftende Bestätigung einer Gruppe, die ihre Legitimität im Erbe der paulinischen Tradition zurückfordert. Das stellt die Frage nach dem »Paulinismus« der Apg, die weder im Sinne einer Harmonisierung mit der Theologie der Briefe noch im Sinne eines Anathemas a la Vielhauer gelöst sein dürfte. Die Aufmerksamkeit auf das vielgestaltige Phänomen der Rezeption des Paulus in der dritten christlichen Generation verlangt feinere Instrumente. Aber dies ist eine andere Geschichte ... Anmerkungen Der Aufsatz wurde übersetzt von Detlev Schneider. F. Overbeck, Christentum und Kultur, Basel 1919 (repr. 1963), 78. » Was er seinen Lesern vor allem als Fortsetzung eines Evangeliums! bieten durfte, mußte ein Erbauungsbuch sein.« (Die Apostelgeschichte, KEK, 6. Aufl., Göttingen 1968, 93 ). Die laufende Edition einer der historischen Verwurzelung der Acta gewidmeten Enzyklopädie konkretisiert die Bemühung, die Historizität der lukanischen Erzählung glaubwürdig zu machen: B.W. Winter/ A.D. Clarke (Hgg.), The Book of Acts in its First Century Setting, Grand Rapids / Carlisle, seit 1993 fünf Bände erschienen. R. Aron, lntroduction a la philosophie de l'histoire (1938), 14. Aufl., Paris 1957. H.I. Marrou, De la connaissance historique, Paris 1954. P. Veyne, Comment on ecrit l'histoire, Paris 1971. Man darf nicht versäumen, die Arbeiten von P. Rica: ur über die Zeitlichkeit und Intentionalität in der historischen Erzählung hinzuzufügen: Temps et recit, Bd. I, Paris 1983. lntroduction a la philosophie de l'histoire, 14.Aufl., Paris 1957, 93. A. Momigliano, Les fondations du savoir historique, Paris 1992. Dokumentierte Verifikation im 2. Band von: The Book of Acts in its First Century Setting, Grand Rapids / Carlisle 1994 oder bei J. Taylor, The Roman Empire in the Acts of the Apostles, ANRW II 26.3, Berlin/ New York 1996, 2436-2500. P. Rica: ur, Philosophies critiques de l'histoire: recherche, explication, ecriture, in: G. Floistad (Hg.), Philosophical Problems Today, Band 1, Dordrecht 1994, 139-201. Vgl. auch ders., La critique et la conviction, Paris 1995, 13 lf. 10 Vgl. J. Schröter, Lukas als Historiograph, in: E.-M. Becker (Hg.), Die antike Historiographie und die ZNT 18 (9.Jg. 2006) Anfänge der christlichen Geschichtsschreibung (BZNW 129), Berlin 2005, 248f. 11 L.C.A. Alexander, Facts, Fiction and the Genre of Acts, in: Acts in its Ancient Literary Context (JSNT.SS 289), London 2005, 133-163. 12 W.C. van Unnik, Luke's Second Book and the Rules of Hellenistic Historiography, in: J. Kremer (Hg.), Les Actes des Ap6tres. Traditions, redaction, theologie (BEThL 48), Gembloux/ Leuven 1979, 37-60, bei dem man die Referenzen finden wird. 13 Detaillierte Darstellung in meinem Buch: La premiere histoire du christianisme (Les Actes des ap6tres) Theo van Oorschot (Hrsg.) Friedrich Spee Geistliche .Lieder ■ Spee Geistliche Lieder tierausgegeöen von Theo G.M. van Oorschot 2007, 320 Seiten, 134 Melodien, gebunden ca. € [D] 39,90/ SFfl 69,40 ISBN 978-3-7720-8195·8 Narr Francke A~empto Verlag GlllbH + Co, KG Postfach 2561 • D-7201'5TübiQgen Telefax (07071.) 75288 www.francke.de, info@francke,de ZNT 18 (9. Jg. 2006) Friedrich Spee ist eine herausragende Gestalt im Deutschland des frühen 17. Jahrhunderts. Zum einen als moralischer Mahner, der mit seiner Anklageschrift Cautio Criminalis mutig gegen die Hexenprozesse eintrat, zum anderen als sensibler Lyriker der Trutz-Nachtigall und wie erst jetzt in vollem Umfang nachgewiesen werden konnte als der ohne jeden Zweifel begabteste Verfasser von katholischen Kirchenliedern. Höhepunkt der im A. Francke Verlag erschienenen Edition der Werke von Friedrich Spee war denn auch die erstmalige Gesamtausgabe seiner geistlichen Lieder unter dem Titel Ausserlesene, Catholische, Geistliche Kirchengesäng. Da sich dieses Buch jedoch so gut wie ausschließlich an den Kreis der Fachgelehrten richtet, folgt nun eine populäre und preisgünstige Ausgabe der geistlichen Lieder, wie es auch dem Geiste Friedrich Spees entsprochen hätte. So kann sich nun jeder von der Frische und ungebrochenen Aktualität dieser Kirchengesänge überzeugen. Friedrich Spee - Geistliche Lieder enthält sämtliche Melodien und Liedtexte der großen Edition, verzichtet auf den wissenschaftlichen Apparat, nicht aber auf für das heutige Verständnis unverzichtbare Worterläuterungen. Daniel Marguerat Wie historisch ist die Apostelgeschichte? (LeDiv 180), 2. Aufl., Paris/ Genf 2003, 28-38. Vgl. auch die englische Übersetzung des Buches: The First Christian Historian (SNTS.MS 121), Cambridge 2002, 14-22. 14 Wie man Geschichte schreiben soll, 28-29. 15 A. Momigliano, Les fondations du savoir historique, Paris 1992, 155-169. 16 A. Billau! t, La creation romanesque dans la litterature grecque a l'epoque imperiale, Paris 1991, 103-109. 17 Im Französischen bedeutet »nous« sowohl »wir« als auch »uns«. Es geht hier um den Gebrauch der ersten Person Plural im Rahmen der aufgeführten Textstellen. Klaus Berger » Tradition und Offenbarung« Studien zum frühen Christentum herausgegeben. von Matthias Klinghardt und Günter Röhser · 2006, 590 Seiten, gebunden € [D] 148,-/ SFR 234,- ISllN : 3-7720-8408-8 Narr Francke Attempto Verlag Gmbl,! +€0.KG 8osttach,2567, IJ-7201STübingen Telefax (07071) 75288 www.francke.de • info'<tYfrancke.de Aus dem Inhalt: Hartherzigkeit und Gottes Gesetz: Zur Vorgeschichte des antijüdischen Vorwurfs in Mk 10,5 • Materialien zu Form und Überlieferungsgeschichte neutestamentlicher Gleichnisse• Apostelbrief und apostolische Rede. Zum Formular frühchristlicher Briefe• Zum Problem der Messianität Jesu • Volksversammlung und Gemeinde Gottes. Zu den Anfängen der christlichen Verwendung von ekklesia • Almosen für Israel. Zum historischen Kontext der paulinischen Kollekte• Hellenistisch-heidnische Prodigien und die Vorzeichen in der jüdischen und christlichen Apokaliyptik • Die impliziten Gegner. Zur Erschließung von »Gegnern« in neutestamentlichen Texten • Petrus in der gnostischen apokalyptischen Offenbarungsliteratur • Jesus als Pharisäer und frühe Christen als Pharisäer• Henoch • Innen und Außen in der Welt des Neuen Testaments• Jesus als Nasiräer. 51 Christine M. Thomas Die Rezeption der Apostelakten im frühen Christentum 1 1. Einführung: Die apokryphen Akten als christliche Tradition Wer die mittelalterlichen Kathedralen Europas besucht, entdeckt auf den bunten Glasfenstern zahlreiche Darstellungen von Begebenheiten aus dem Leben der Apostel, die nicht aus dem Neuen Testament stammen. So findet man zum Beispiel in Chartres einige eindrückliche, aber eigentlich ganz unbekannte Darstellungen: Einmal streitet der Apostel Johannes mit dem Priestern des Artemistempels in Ephesos, ein andermal trinkt er mutig einen Becher voll Gift. Es gibt eine Vielzahl solcher Szenen auch auf anderen Fenstern aus dem 12. und 13. Jahrhundert: in Bourges ist Johannes abgebildet, wie er unversehrt einem Kessel mit kochendem Öl entsteigt; in Troyes Petrus und Simon Magus vor Nero im Wettstreit um die Auferweckung eines toten Knaben; in Chartres findet sich wiederum Johannes, der eine Frau von der Totenbahre auferweckt. Die Geschichten, auf die die Kirchenfenster anspielen, gehen alle auf die sogenannten apokryphen Apostelakten zurück, Schriften, die frühestens in das zweite und beginnende dritte Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung datieren. Diese Schriften gehören damit zu den frühesten bekannten christlichen Erzählungen. Sie dienen demselben Zweck wie die neutestamentliche Apostelgeschichte: Sie berichten vom Geschick der zwölf Jünger Jesu, wurden aber nicht in den neutestamentlichen Kanon aufgenommen, als dieser im vierten Jahrhundert n.Chr. seine endgültige Gestalt annahm. Dem nichtkanonischen Status der apokryphen Akten zum Trotz bieten sie doch die eigentliche telalter. Ihre Erzählungen sind im Laufe der frühen christlichen Kunstgeschichte vielfach aufgegriffen worden. Ohne die Akten hätten wir wenig oder keine Informationen darüber, in welche Länder die Apostel die christliche Mission brachten, noch wüßten wir etwas über die ersten Konvertiten, über Wunder, die die Apostel vollbrachten und über ihr Todesschicksal. Die kanonische Apostelgeschichte berichtet uns nicht, daß der Apostel Thomas Kirchen in Indien gründete, aber die Thomasakten tun es. Im Neuen Testament hören wir nichts von Thekla, der mutigen jungen Frau, die sich von Paulus' Verkündigung angezogen fühlte, Heim und Verlobten verließ, um auch das Evangelium zu predigen, und die eine der bekanntesten Heiligen des Ostens wurde. Ihre Geschichte wird allerdings breit in den Paulusakten verhandelt. Derselbe Text berichtet von Paulus' Enthauptung in Rom unter Nero, ein Detail, das Lukas in der Apostelgeschichte merkwürdigerweise verschweigt. Und während Lukas Petrus in Jerusalem verläßt, erzählen uns die Petrusakten, wie er nach Rom kam, eine doch recht wichtige Information über den ersten Inhaber des »Stuhles Petri«. Die Geschichten aus den apokryphen Apostelakten ebenso wie ihre bildlichen Repräsentationen üben Einfluß bis in die Moderne aus. Die Oper »Nerone« von Arrigo Boito verarbeitet in einigen Szenen die Begegnung zwischen Petrus und dem Erzhäretiker Simon Magus, wie sie zuerst aus den Petrusakten bekannt ist. Das Hollywoodepos »Quo Vadis? « von 1951 verdankt seine Handlung derselben Schrift und darüber hinaus sogar den Filmtitel. Nachdem Petrus für Quelle für nahezu alle Einzelheiten, die wir aus dem Leben der Jünger nach J esu Kreuzigung kennen. Die Apostelakten bildeten die Basis für eine ganze Reihe liturgischer Kompositionen durch die gesamte christliche Antike hindurch und bis hinein ins Mit- >~Dem nichtkanonischen Status de? C apokryphen Akten zum einige Zeit in Rom gelehrt hat, flieht er auf Anraten seiner Schüler aus der Stadt, um der Gefangenschaft und dem sicheren Märtyrertod zu entgehen nur um Jesus zu treffen, der auf dem Weg in die Hauptstadt ist. »Quo vadis, domine? «, fragt Petrus ihn. 52 Trotz bieten sie doch die eigentliche Quelle für nahezu alle Einzelheiten, die wir aus dem Leben der Jünger nach JesuKreuzigung kennen.« ZNT 18 (9. Jg. 2006) Christine M. Thomas Die Rezeption der Apostelakten im frühen Christentum Christine M. Thomas Professorin Christine M. Thomas absolvierte ein Studium der klassischen Philologie und alten Geschichte an der University of Minnesota und der Eberhardt-Karls Universität, Tübingen, 1995 Promotion in Religionswissenschaften an der Harvard University. Nach einemJuniorstipendium mit der Society of Fellows in Harvard (1993-96) trat Christine M. Thomas ihre Stelle an der Religionswissenschaftlichen Abteilung. der University of California, Santa Barbara, an, wo sie als Associate Professor unterrichtet. Seit 1991 ist sie der archäologischen Arbeit in der Türkei verbunden und leitet zur Zeit Grabungsprojekte in Ephesus und Metropolis an der Westküste der Türkei. Prof. Thomas ist als Autorin, Herausgeberin und Übersetzerin aktiv. Derzeit befinden sich von ihr sechs Bücher und vierzehn Artikel im Druck, die sich vorwiegend mit den christlichen Apokryphen und den Religionen des antiken Kleinasien befassen. Christine Thomas lebt in Santa Barbara mit ihrem Mann, einem kleinep Sohn und einer großen, faulen Katze. Weitere Informationen unter: http: / / www.religion.ucsb.edu/ faculty/ thomas.htrnl »Wohin gehst du, Herr? « Als der Heiland sanft antwortet: » Ich gehe nach Rom, um gekreuzigt zu werden«, sieht der ewig wankelmütige Petrus schlagartig ein, daß es ihm vorherbestimmt ist, dem Meister nachzufolgen; prompt kehrt er um, mutig dem eigenen Kreuzestod entgegenschreitend. Die Filmversion hält diese alte Erzählung nicht in buntem Glas fest, sondern im farbenprächtigen Technicolorverfahren der S0er Jahre des letzten Jahrhunderts. 2. Die Entstehung der apokryphen Akten Die frühesten apokryphen Apostelakten sind die ZNT 18 (9.Jg. 2006) fünf Schriften, die Paulus, Petrus, Johannes, Thomas und Andreas zugeschrieben werden. Diese fünf datieren in der frühesten schriftlichen Form, die für uns greifbar ist, in das späte 2. bzw. frühe 3. Jahrhundert n.Chr. Mit Ausnahme möglicherweise der Thomasakten sind alle Schriften ursprünglich in Griechisch geschrieben, jedoch ist ihr Erhaltungszustand ausgesprochen fragmentarisch und wichtige Passagen jeder Schrift sind nur in frühen Übersetzungen erhalten. Von den Petrus-, Johannes- und Thomasakten sind ausführliche Passagen erhalten. Die Thomasakten scheinen sogar fast vollständig vorzuliegen, allerdings unterscheiden sich die syrische und die griechische Version des Textes bedeutend voneinander, und es ist nicht klar, welche der beiden die ursprünglichere Fassung darstellt. Etwa drei Viertel der Johannesakten sind als lange Auszüge in verschiedenen Manuskripten enthalten. Für die Petrusakten ist anzunehmen basierend auf der Zeilenzählung der Stichometrie des Nikephoros, des Patriarchen von Konstantinopel, der im frühen 9. Jh. für uns der letzte Zeuge ist, welcher diese Schrift in ihrer Gesamtheit gesehen zu haben scheint -, daß wir gegenwärtig zwei Drittel des Originals besitzen. Doch ist dieser Text nur in einem langen lateinischen Fragment erhalten, den Actus Vercellenses, die als eine Art Vorspiel einer Abschrift der Pseudoklementinen beigefügt sind, welche die Abenteuer des Petrus und seines Schülers Klemens, der schließlich zum römischen Bischof avancierte, erzählen. Von den Paulusakten ist der gesamte Zyklus der Theklageschichte recht gut im griechischen Original erhalten, ebenso die Geschichte von Paulus' Märtyrertod, doch sonst ist die Erzählung sehr fragmentarisch. Noch bruchstückhafter ist der Erhaltungszustand der Andreasakten: Hier gibt es außerhalb des Martyriumsberichts gar keine zusammenhängende Erzählung, sondern nur einzelne, fragmentarisch erhaltene Teile der Gesamterzählung.' Obwohl diese Werke aus dem zweiten bzw. dritten Jahrhundert stammen, gibt es doch einige Anzeichen, die auf ihre früheren schriftlichen oder mündlichen Quellen verweisen. Besonders im Fall der Petrusakten, die in einem längeren ununterbrochenen Abschnitt erhalten sind, hat die Quellenkritik interessante Ergebnisse zutage gefördert. Spuren im Text verraten, daß ein späterer Redaktor einigermaßen ungeschickt verschiedene 53 schriftliche Vorlagen miteinander verwoben hat, allerdings lassen sich diese Vorlagen nicht mehr präzise rekonstruieren.' Wiederum weisen viele der apokryphen Akten zwei oder mehr Episoden gleichen Inhalts auf. Die Varianten mögen ursprünglich auf mündliche Erzähltradition zurückgehen, in der man ein und dieselbe Geschichte wieder und wieder erzählte, jedes Mal ein wenig verschieden. So wird zum Beispiel Paulus' Schülerin Thekla zweimal zum Tode in der Arena verurteilt, beide Male, weil sie das amouröse Ansinnen eines mächtigen Mannes zurückweist: In der ersten Variante der Erzählung ist es ihr Verlobter Thamyris in Ikonion, der von edler Abstammung ist, das zweite Mal der Syriarch 4 Alexander in Antiochia. Petrus macht es zwei jungen Frauen unmöglich, mit ihren Verehrern davonzulaufen, indem er Gott bittet, sie physisch untauglich zu machen: Einmal fällt eine gewisse Gärtnerstochter tot um, nachdem er auf diese Weise für sie eintritt, das andere Mal wird seine eigene Tochter in Antwort auf sein Gebet gelähmt. Zusammengenommen lassen sich in den fünf frühen apokryphen Akten auch sieben Beispiele auflisten, die insgesamt dreizehn Frauen betreffen und die am besten typisiert werden als »Keuschheits-Verfolgungs- Geschichten«, weil in ihnen Keuschheit als ein entscheidender Bestandteil der Evangeliumsnachfolge angesehen wird. In diesen Erzählungen werden die Apostel immer wieder als erfolgreich darin porträtiert, verheiratete Frauen zur Enthaltsamkeit von ihren Männern zu überzeugen. Die erbosten Männer reagieren mit Inhaftierung der Apostel und es folgt meistens auch deren Hinrichtung.' Für die frühe Datierung sprechen nicht nur die Anzeichen, die auf schriftliche und mündliche Quellen deuten, auch das Erzählmaterial selbst weist auf das erste nachchristliche Jahrhundert. Die Liste der Charaktere in diesen Erzählungen ist gesättigt mit Persönlichkeiten des ersten Jahrhunderts. Nicht nur die offensichtlichen, zentralen Charaktere, die Apostel und die Kaiser, die sie töten lassen, sondern auch viele der Nebenakteure, Personen, die weder in den Akten noch in der Geschichtsschreibung einen wichtigen Platz für sich beanspruchen, stammen aus dieser frühen Zeit. Die »Königin Tryphaina« zum Beispiel in den Paulusakten, die ihr Haus in Antiochia der Thekla öffnet und sie unterstützt, nachdem Thekla dem sicheren Tod in der Arena entgangen ist, 54 ist Antonia Tryphaina, ein Mitglied der königlichen Familie von Pontos, die durch Münzen und Inschriften des ersten Jahrhunderts belegt ist. Sie war die Ehefrau des Königs Kotys, Mutter Ptolemon II., Urenkelin des Markus Antonius und eine entfernte Verwandte des regierenden Kaisers Claudius. Tryphaina regierte solange ihr Sohn, der die Herrschaft von 37/ 38 bis 63 n.Chr. innehatte, noch minderjährig war, daher ihre Titulierung als Königin in den Paulusakten. 6 Ebenso dürfte Marcellus, der illustre Bekehrte des Petrus in den Petrusakten mit Granius Marcellus zu identifizieren sein, der aus den Annalen des Tacitus bekannt ist. Er war während der Herrschaft des Tiberius Statthalter von Bithynien und wurde der Veruntreuung und des Verrates angeklagt (Ann. 1.74). Nun dürften Tacitus' Annalen kaum zur Bettlektüre des oder der Autoren der Petrusakten gehört haben, der oder die sehr wahrscheinlich kein Latein konnten, daher darf man hier wohl mündliche Überlieferung im Hintergrund vermuten.' Die meisten der frühen apokryphen Akten weisen zudem Vertrautheit mit spezifischen lokalen Bedingungen und Traditionen auf. Die Thomasakten beispielsweise sind Bestandteil eines größeren Korpus von Literatur, das man in der Gegend von Edessa lokalisieren kann. Das Thomas-Buch und das Thomasevangelium, die in koptischer Übersetzung in Nag Hammadi gefunden wurden, gehen sehr wahrscheinlich auf syrischen Ursprung zurück und teilen viele Motive mit den Thomasakten, z.B. die starke Entwertung aller Körperlichkeit, Wanderaskese sowie die Annahme, jeder Gläubige habe einen göttlichen Zwilling. Die Thomasakten sind in voneinander abhängigen syrischen und griechischen Versionen erhalten und auch das ist typisch für zeitgleiche christliche Werke aus Edessa. 8 Die Petrusakten spielen zwar in Rom, nehmen aber Bezug auf eine Herberge für Bithynier dort (Kap. 4) und auch auf den römischen Gouverneur für Bithynien, Granius Marcellus. Diese Notizen stehen im Einklang mit der Lokalisierung der Adressaten des kanonischen 1. Petrusbriefs (1,1): Pontus und Bithynien, die dort unter anderen zentralanatolischen Gebieten wie Kappadokien und Galatien aufgeführt werden. Die Begebenheiten schließlich, von denen die Paulusakten erzählen, finden in Ikonion, im zentralen Kleinasien statt, wo Lu- ZNT 18 (9. Jg. 2006) Christine M. Thomas Die Rezeption der Apostelakten im frühen Christentum kas die erste Missionstätigkeit des Paulus verankert. Die Paulusakten nennen viele Personen aus Ikonion und aus dem pisidischen Antiochia, Lystra und Derbe, Gegenden für die uns solche spezielle Informationen in der kanonischen Apostelgeschichte fehlen: Im Unterschied zu den 65 namentlichen Genannten in den Paulusakten, kennt Lukas nur einen einzigen Christen aus dieser Gegend namentlich - Timotheus von Lystra (Apg 16,1), der später an der ägäischen Küste in Ephesos bezeugt ist (1Tim 1,3). Einige der in den Apostelakten genannten Persönlichkeiten sind auch aus den Quellen des ersten Jahrhunderts bekannt, zum Beispiel den Paulusbriefen, der Apostelgeschichte und den Pastoralbriefen.9 Zwei dieser Individuen, Simon und Kleobios, sind jedoch nur in den Petrusakten bezeugt und in Hegesipps >Erinnerungen,. Hegesipps Werk aus dem zweiten Jahrhundert ist bis auf Auszüge in der Kirchengeschichte des Eusebius (IV 22,5) verloren, basierte aber wohl auf Traditionen, die denen vergleichbar sind, die von den Paulusakten verarbeitet wurden. Hegesipp hält Simon und Kleobios für die Begründer zweier der sieben Urhäresien und sie werden auch in den Paulusakten (Kap. 8) als gnostische Häretiker des 1. Jahrhunderts eingeführt. 3. Kanonizität Ebenso wie manche anderen Werke, die später aus dem Kanon ausgeschlossen wurden, zitierten die Kirchenväter die apokryphen Akten ebenso wie die Schriften, die schließlich kanonisch wurden. Häufiger als direkte Zitate aus den apokryphen Akten begegnen Bezugnahmen auf die Erzählungen, die sich darin finden. So ist Hippolyt von Rom der erste Kirchenschriftsteller, der Petrus' Konfrontation mit Simon Magus in Rom erwähnt (Refutatio 6.15). Da Hippolyts Werk nach 222 n.Chr. geschrieben ist, die Petrusakten allerdings schon etwa 175 n.Chr., ist es wahrscheinlich, daß Hippolyt seine Informationen von dort bezog. Tertullian (160-210 n.Chr.), der erste Schriftsteller, der die Geschichte von Johannes' Leiden im kochenden Ölkessel kennt (De praescriptione 36), mag seine Information auf ähnliche Weise aus den J ohannesakten bezogen haben, denn wir wissen, daß er mindestens auch die Paulusakten kannte ZNT 18 (9. Jg. 2006) (s.u.). Origenes (185-254 n.Chr.) erwähnt als erster Kirchenvater, daß Petrus mit dem Kopf nach unten gekreuzigt wurde (bei Eusebius, Kirchengeschichte II 1), ein Detail, das er von demselben apokryphen Text erfahren haben könnte. Eine Passage in Tertullian (De baptismo 17, etwa 198-200 n.Chr.) legt sogar nahe, daß einige Christen die apokryphen Akten als normative theologische Texte benutzt haben. Tertullian interpretiert die Figur der Thekla in den Paulusakten, die er für fälschlich dem Paulus zugeschrieben hält, als einen Versuch, die Autorität des Paulus zu nutzen, um Frauen zur Lehre und zum Vollzug der Taufe zu bevollmächtigen. Thekla wird in den Paulusakten tatsächlich als eine Wanderpredigerin beschrieben, die sich selbst in einer Wassergrube in der Arena tauft, weil sie glaubt, daß ihr Ende gekommen ist. Tertullian spricht ausdrücklich jene an, die diese Interpretation gutheißen (»denen aber sage ich«); dabei kritisiert er nicht das Verständnis des Textes an sich, sondern seine Echtheit als paulinisches Dokument. Er schreibt die Paulusakten einem Presbyter in Kleinasien zu, der sein Amt verlor, nachdem er die Akten geschrieben hatte. Für Tertullian ist das Beweis genug, daß der Inhalt des Werkes nicht akzeptabel für die Kirche sei. Selbst noch zu Zeiten des Eusebius (ca. 325 n.Chr.) wurden die Paulusakten von vielen Christen als echt, alt und normativ für die Lehre betrachtet. Eusebius selbst kategorisiert sie als »umstrittene« Schrift, übrigens zusammen mit einigen Schriften, die schließlich in den Kanon des Neuen Testaments aufgenommen wurden, wie zum Beispiel die Briefe des Jakobus und Judas, der 2. Petrusbrief, der 2. und 3. J ohannesbrief und die Johannesoffenbarung (Kirchengeschichte III 25). Eusebius behandelt die apokryphen Akten nicht als Gesamtkorpus, er sieht Unterschiede im Hinblick auf ihre Echtheit und theologische Akzeptabilität. Auch kennt er die Petrusakten und notiert, daß sie nicht allgemein anerkannt seien, womit er natürlich verrät, daß einige sie sehr wohl anerkennen (Kirchengeschichte III 3). Die Andreas- und Johannesakten dagegen sind Eusebius so suspekt, daß er sie nicht einmal unter die zurückgewiesenen christlichen Schriften stuft, sondern sie generell unter der Kategorie »absurd und unfromm« ablegt. Wenn man die relativ nuancierte Behandlung der Akten bei Eusebius bedenkt, ist es überra- 55 sehend, daß innerhalb recht kurzer Zeit alle apokryphen Akten dasselbe Schicksal erlitten: Keine dieser Schriften erlangte den Vorzug (der anderen umstrittenen Werken wie etwa dem Hirt des Hermas, der Didache und dem Barnabasbrief zuteil wurde), während der Spätantike in frühe griechische Manuskripte des Alten und Neuen Testaments hineinkopiert zu werden. Die komplette Marginalisierung der Akten führte schließlich auch zu deren sehr unterschiedlichem und fragmentarischen Erhaltungszustand. Die Tatsache, daß alle fünf Akten gleichermaßen zurückgewiesen wurden, mag mit ihrer zeitgleichen Akzeptanz als Korpus durch die Manichäer zusammenhängen. Die Manichäer weigerten sich, die kanonische Apostelgeschichte anzuerkennen und stützten sich stattdessen auf die apokryphen Akten, deren Autorschaft sie einem Manichäer namens Leukios Charinos zuwiesen. Sowohl Faustus von Milevis als auch Philaster (um 400 n.Chr.) bezeugen eine solche Sammlung. Diese Sammlung ist möglicherweise schon dem Herakleides, einem Schüler Manis (gest. 277 n.Chr.) bekannt gewesen, der sie in seinen Laudationes heiliger Frauen (erhalten im manichäisch-koptischen Psalter 192.25-193 .3) erwähnt. Dies zeigt, daß die frühen Manichäer die Akten als ein Korpus bereits in vorkonstantinischer Zeit lasen, kurz nach dem Tode des Gründers Mani selbst.' 0 Selbstverständlich ist die Kanonisierung ebenso wie der parallele Prozeß der »Apokryphisierung« ein Geschehen, das sich über eine lange Zeit erstreckte. Die apokryphen Akten begannen ebenso wie die kanonische Apostelgeschichte als mündliche Erinnerungen und kürzere schriftliche Erzähltexte über bemerkenswerte Begebenheiten aus dem Leben der ersten Jünger J esu. Dabei ist es allerdings klar, daß jede einzelne der apokryphen Akten um einiges später niedergeschrieben wurde als die Apostelgeschichte des Lukas. Genau wie das kanonische Werk blieben auch die apokryphen Akten anonym: Keine weist eine Verfasserangabe im Beginn des Werkes auf. Jedoch blieben die Akten anonym über den Zeitpunkt hinaus, an dem dies als akzeptables Indiz für Echtheit und frühe Entstehungszeit galt. Die kanonische Apostelgeschichte entging diesem Schicksal, weil sie mit dem Evangelium, das man später dem Autor Lukas zuschrieb, verbunden ist. Im Vorspann von Evangelium und Apostelgeschichte wird ein 56 bestimmter Theophilus angesprochen, die Apostelgeschichte gibt sich darüber hinaus als ein zweites Werk zu erkennen, das die Erzählungen des Evangeliums fortsetzt. Als daher das anonyme Evangelium schließlich Lukas zugewiesen wurde, um ihm seine apostolische Autorität zu sichern, wurde derselbe Autor auch für die Apostelgeschichte in Anspruch genommen. Eusebius behandelte als eines der wichtigsten Kriterien für Kanonizität, ob einer der Autoren, die »zur Sukzession der kirchlichen Schriftsteller gehören«, ein bestimmtes Werk erwähnt. Das ist sicher ein bemerkenswerter, geradezu historischkritischer Maßstab, um das Alter eines gegebenen Dokuments festzustellen und nachfolgende Fälschungen auszuschließen; wenn man diesen Maßstab jedoch praktisch anwendet, ergeben sich dabei sogleich zwei ernsthafte Probleme im Hinblick auf die apokryphen Akten. Zum einen ist die Konzentration auf die »kirchlichen« Schriftsteller problematisch, denn sie kamen aus städtischen Zentren des Imperiums, Rom oder Alexandria zum Beispiel, und nicht aus den Gegenden, mit denen die Akten verknüpft sind und wo sie wahrscheinlich ihre größte Verbreitung hatten, nämlich dem kleinasiatischen Hinterland oder Edessa. Des weiteren ist es schwierig, irgendwo direkte Zitate aus den Akten zu finden, einfach weil sie zum Großteil erzählende Texte sind. Sicher hat jede der fünf apokryphen Akten lange theologische Passagen, die Reden der Apostel wiedergeben, jedoch handelt es sich dabei nicht um den J esusworten in den Evangelien vergleichbares »Spruchmaterial«. Diese Reden wurden von den Autoren, die sie zitieren, auch nicht mit derselben Ehrfurcht behandelt wie etwa J esusworte. Die Reden in den Akten sind denen in der Apostelgeschichte verwandt, die, wie überhaupt Reden in der antiken Geschichtsschreibung, immer auch eine metatextuelle Funktion erfüllen. Sie erlauben den Autoren, die Ereignisse zu kommentieren, ihre Ursachen sowie die Motivationen der Akteure zu erforschen und schließlich eine übergreifende Geschichtsphilosophie zu artikulieren. Meistens greifen Kirchenschriftsteller bestimmte Episoden aus den Erzählungen der Akten auf, oft ohne Quellenangabe. Freilich hörte die mündliche Tradition nicht einfach auf, nachdem die Akten niedergeschrieben waren, daher ist es im Einzelfall schwierig auszumachen, woher genau ein Autor ZNT 18 (9. Jg. 2006) Christine M. Thomas Die Rezeption der Apostelakten im frühen Christentum seine Kenntnis einer bestimmten Episode hat. Schließlich fungierten die Akten auch als Quellentexte für zahlreiche spätere Schriften über die Apostel, schon von daher kann man häufig kaum bestimmen, welchen von einer Reihe eng verwandter Texte ein Kirchenschriftsteller zu Rate gezogen hat. Alle diese Faktoren tragen zu der Schwierigkeit bei, vor der sich moderne Wissenschaftler ebenso sehen wie dereinst Eusebius, Zitate aus den apokryphen Akten in anderen frühen christlichen Werken wiederzufinden. 4. Das spätere Schicksal der apokryphen Akten Ausschluß aus dem Kanon ist nicht gleichbedeutend mit Ausschluß aus der christlichen Tradition. Obwohl die »Apokryphisierung« der Akten ihren Gebrauch als normative theologische Dokumente verhinderte, war es nicht das Ziel der Kanonisierung, Menschen vom Lesen nichtkanonischer Schriften abzuhalten. Einige der apokryphen Akten wurden sicher von manchen in der Kirche als normativ betrachtet, aber viele hielten sie für erbauliche Geschichten von verehrten christlichen Vorbildern, Schriften, die, obwohl nicht normativ, so doch alt, wertvoll und nützlich zu lesen waren. Daher verschwanden die Akten nie ganz aus der christlichen Tradition, sondern führten ein langes und reiches Weiterleben in zahllosen Erzählungen und ikonographischen Darstellungen. Wie auch das Neue Testament wurden die Akten beinahe von ihrer ersten Bezeugung an als schriftliche Quellen in eine Unzahl von Sprachen übersetzt und verbreitet, wobei die meisten dieser Übersetzungen auf das 4.-6. Jh. n.Chr. zurückgehen. Passagen der frühesten Akten existieren in griechischen, lateinischen, koptischen, syrischen, armenischen, arabischen, äthiopischen und altkirchenslawischen Fragmenten und bezeugen die Tatsache, daß die Akten in jedem Winkel des Reiches Leser fanden. Doch erfährt man dadurch nicht nur von der großen Popularität dieser Texte, sondern auch von der Art und Weise, wie diese Texte in den regionalen Kirchen Fuß fassten, durch Mönche nämlich, die selbst nicht in den beiden Hauptsprachen der Zeit - Griechisch und Lateinisch zu Hause waren. Zusätzlich zu dieser Vielzahl an Übersetzun- ZNT 18 (9. Jg. 2006) gen wurden Neuerzählungen der Texte angefertigt, diese vornehmlich in Lateinisch, Griechisch und Syrisch. Sie datieren ebenfalls typischerweise in das 4.-6. Jh. n.Chr. und benutzen die Akten als eine Art Basistext. Dabei wurde entweder die Erzählung derart gekürzt, daß nur noch Verhaftung und Martyrium des Apostels zur Darstellung kamen, dazu die Szenen, die der Verhaftung unmittelbar vorausgehen. So wurde beispielsweise der letzte Teil der Petrusakten zunächst als das »Martyrium des Heiligen Apostels Petrus« (4. Jh. n.Chr.) neu entworfen und dem Bischof Linos zugeschrieben, sodann als das »Leiden der Heiligen Apostel Petrus und Paulus« (5. Jh. n.Chr.), zugeschrieben dem Marcellus. 11 Solche Texte wurden als Teile der Märtyrer- und Heiligenkalender benutzt und am Tag des entsprechenden Heiligen verlesen. Dementsprechend haben wir für alle der apokryphen Akten eine recht gute Bezeugung des originalen griechischen Textes in Exzerpten, die nur das Martyrium umfassen. Die Kopisten übernahmen nur diesen Teil der längeren Akten für den liturgischen Gebrauch und ignorierten den Rest. Dann wieder findet man Beispiele, wo ein Kirchenschriftsteller den Inhalt der Erzählung beibehalten, aber in eine theologisch akzeptablere Form gegossen hat. Viele der Episoden aus den Andreasakten zum Beispiel sind nur in einem Auszug erhalten, den Gregor von Tours im 6. Jh. unter dem Titel »Das Buch der Wunder des Heiligen Apostels Andreas« (Liber de Miraculis Beati Andreae Apostoli) veröffentlicht hat. Ähnlich hat Abdias im späten 6.Jh. die J ohannesakten in den Virtutes I ohannis neu erzählt. Diese späteren Schriften benutzen die frühen apokryphen Akten als Quelle für ihre Erzählungen, bewahren aber nicht den Wortlaut der Akten. Das Anliegen hier ist weniger streng martyrologisch als hagiographisch, denn der Akzent liegt ganz auf den Wundern und Bekehrungen, die die Apostel vollbrachten. In all diesen verschiedenen Wiederverwendungen der Akten wurden die Reden der Apostel entweder theologisch gesäubert oder völlig ausgelassen. Als Petrus sich dem Kreuz nähert, an das er kopfüber geschlagen werden wird, erklärt er in einer Rede in den Petrusakten, daß er darin dem Vorbild des ersten Menschen folgen wird, der mit dem Kopf nach unten (wie ein Säugling geboren 57 wird) in die Welt kam, daher rechts und links verwechselte und folglich auch in anderen Hinsichten völlig desorientiert war. 12 Diese philosophische Reflektion über den Eintritt der Sünde in die Welt mit Adam wurde in späteren Neufassungen (Pseudo-Hegesipp, Pseudo-Marcellus) durch Petrus' Bitte ersetzt, kopfüber gekreuzigt werden zu wollen, weil er nicht würdig sei, in der gleichen Weise sein Ende zu finden wie sein Herr. Auch das »Buch der Wunder« des Gregor von Tours schneidet mißliebiges theologisches Material heraus. Wie Gregor selbst berichtet, hatte er eine Kopie der Andreasakten gefunden, die »aufgrund ihrer exzessiven Wortfülle von manchen als apokryph bezeichnet wird. Daher befand ich es für richtig, daraus nur die Wunder zu exzerpieren und alles auszulassen, was Verdruß bereitet« (aus dem Prolog). Indem er die langen Redepassagen mit ihrem philosophischen und theologischen Material aussparte, reinigte Gregor den Text von seiner häretischen Wortfülle und stillte zugleich seine eigene Langeweile, die er offenbar dem Material gegenüber empfand. Den frühen Akten vergleichbare Literatur wurde im Laufe der Zeit für alle zwölf Apostel geschaffen, aber auch für nichtapostolische Persönlichkeiten wie z.B. den Evangelisten Markus. Diese Texte variieren sehr, sowohl nach Entstehungsdatum wie Inhalt, wobei die Philippusakten zwar ein Jahrhundert nach den frühen apokryphen Akten datieren, diesen aber nach Form und Inhalt sehr nahe stehen. 13 In einen ähnlichen Zeitraum wie die Philippusakten sind wohl auch die »Akten des Andreas und Matthias« zu datieren, die am Anfang einer Tendenz stehen, weniger bekannte Apostel in Paaren zu verhandeln, so wie auch in den »Akten des Andreas und Bartholomäus«, den »Akten des Bartholomäus und Barnabas« und der »Passion des Simon und Judas«, die den Märtyrertod sterben müssen, weil sie in Persien Zauberer konfrontieren. Alle diese Texte aus späterer Zeit enthalten typischerweise einige Episoden aus dem Leben der Apostel und einen Bericht über ihre Verhaftung sowie Hinrichtung.14 Hinzu kommen ab dem späten 4. Jh. n.Chr. eine ganze Reihe von Schriften, die eine Art Überblick über das Leben und Sterben aller zwölf Apostel darstellen, wobei jeweils eine kurze Passage einem der Apostel gewidmet ist. Die frühesten Akten in diesem Stil werden Hegesipp 58 zugeschrieben (4.Jh. n.Chr.), andere Abdias und Melito. Die Arbeit an solchen Neuauflagen der Apostelakten kulminierte in den »Goldenen Legenden« (Legenda aurea), einer Zusammenfassung von Geschichten, die über die Apostel kursierten und die von Jakob von Vorago um 1260 n.Chr. besorgt wurde. Ganz in den Spuren der späteren Aktenliteratur kompilieren die »Goldenen Legenden« Taten und Wunder der Apostel im Einklang mit der hagiographischen Literatur über andere, nichtapostolische Heilige. Sie dienen nunmehr maßgeblich dazu, gute Beispiele für christliches Benehmen zu liefern. Die Tatsache allerdings, daß überhaupt neue Akten allen Aposteln gewidmet wurden, eben auch den ganz unbedeutenden mit lauter unzusammenhängenden Details, zeigt, daß hier auch eine gewisse Neugierde auf das Schicksal dieser wichtigen ersten Christen zu befriedigen war. Die Bedeutung der christlichen Kunst wird im Verhältnis zu den Texten oft unterschätzt, aber es ist deutlich, daß von der Antike bis ins Mittelalter Bücher viel weniger wichtig im Hinblick auf die Verbreitung der christlichen Tradition waren als etwa Predigten, Liturgien und Bilder. In diesen drei Genres gibt es reichlich Belege für die Präsenz von Traditionen, die letztlich auf die apokryphen Akten zurückgehen. Da jeder der Apostel auch als Heiliger galt, wurden seine Taten zum Objekt zahlreicher Predigten an seinem Festtag, die apokryphen Akten wurden zur Basis der Hagiographien, Lektionare bzw. Synaxarien in der östlichen orthodoxen Kirche. Szenen aus dem Leben der Apostel waren beliebter Gegenstand christlicher Kunst in allen Medien, von den spätantiken Sarkophagen über liturgische Gerätschaften, Kirchendekorationen in Mosaiken, Malereien und Glasfenstern. Die vierzehn Panelen des Zyklus, der den Taten des Johannes in der Kathedrale von Chartres gewidmet ist, folgen der Ordnung des Festes des Hl. Johannes am 27. Dezember. Dieser Apostel war im 12. und 13.Jh. besonders populär und Szenen aus seinem Leben schmücken die Kirchenfenster in Bourges, Paris (Saint-Chapelle), Tours, Troyes, Rheims, Lyon und Saint-Julien-du-Sault. 15 Christliche Kunst bildet ein wichtiges Gegengewicht zu den Texten, denn, anders als die Texttradition, versteift sie sich weniger auf die Martyrien und konzentriert sich stattdessen auf ZNT 18 (9. Jg. 2006) Christine M. Thomas Die Rezeption der Apostelal<ten im frühen Christentum die anschaulichen Taten der Apostel; wenn der Buchstabe tötet, so ist es die bildende Kunst, die die Apostel wieder zum Leben erweckt. Einige der Lieblingsdarstellungen sind hier Petrus und der sprechende Hund in ihrer Begegnung mit dem Erzhäretiker Simon Magus; Simon Magus beim Sturz in seinen Tod, als er erfolglos zu fliegen versucht; Thekla im Feuer oder von wilden Tieren umgeben; Johannes die tote Drusiana wiederbelebend, mitten aus ihrem Leichenzug heraus; Andreas, der die Dämonen in der Gestalt wilder Hunde bändigt. Die Tatsache, daß diese Szenen in künstlerischen Darstellungen in den Kirchenräumen und sogar auf liturgischen Gerätschaften auftauchen, zeigt, daß sie völlig als christliche Tradition akzeptiert waren, wie immer man sich auch zur Kanonizität der literarischen Quellen dieser Bilder stellte. Viele der Bildtypen, die man in den Repräsentationen der apokryphen Akten wiederfindet, gehen vielleicht ursprünglich auf Illustrationen in den Manuskripten zurück, die zusammen mit den Texten immer und immer wieder kopiert wurden und daher möglicherweise in die frühesten christlichen Jahrhunderte zurückreichen. Da die Erhaltung von Manuskripten stets ein heikles Unterfangen ist, bewahrt christliche Kunst manchmal unabhängig von Texten Geschichten aus den apokryphen Akten auf und ist mitunter sogar der einzige Zeuge einer Geschichte, wie z.B. die Bekehrung des jugendlichen Räubers durch Johannes. Clemens von Alexandria erwähnt diese Geschichte (Quis dives 42), doch ist sie sonst nicht mehr erhalten. Die prominente Position, die die apokryphen Akten in der kirchlichen Tradition einnehmen, leschluß aller anderen frühen christlichen Erzählungen sowie schließlich der Angriff auf die Hagiographie. Immerhin waren die Apostel die ersten Heiligen. Da auch die moderne Forschung, die sich mit dem Frühchristentum befaßt, stark durch den Protestantismus geprägt ist, wird das Resultat dieser Tendenzen im Umgang mit den apokryphen Akten weiter verstärkt. 5. Theologische Tendenz und Wert Die apokryphen Akten der Apostel sind im Laufe der Forschungsgeschichte beharrlich theologisch unterschätzt worden. Einer ihrer frühen Herausgeber, Lipsius, charakterisierte sie alle als gnostische Texte mit einer leichten katholischen Überarbeitung,1' eine recht merkwürdige Beurteilung, wenn man bedenkt, daß zumindest die Paulusakten einen Brief (3. Korintherbrief) des Paulus enthalten, in dem er ausdrücklich gegen Doktrinen der »Gnostiker« Stellung bezieht. Zunächst herrschte in der Forschung einigermaßen Unklarheit darüber, wer die Gnostiker eigentlich waren und was sie glaubten, da so wenige ihrer Schriften überlebt hatten. Die einzig erhaltenen ausführlichen Quellen über die Gnostiker stammten von den Häresiologen, Kirchenschriftstellern, die die Gnostiker für Feinde und eine Bedrohung der sich entwickelnden christlichen Lehre hielten. Daher waren moderne Forscher bis zu einem gewissen Grade dazu verdammt, die antiken häresiologischen Beurteilungen nachzuvollziehen, die im Laufe der Zeit auch noch dazu tendierten, alle als häretisch eingestufgen die Annahme nahe, daß ihre endliche Marginalisierung sofern man wirklich davon sprechen kann mit Tendenzen zusammenhängt, die sich der protestantischen Reformation verdanken und der Moderne generell: Die Ablehnung von Bildern, die Entwertung der christlichen Kunst, die Betonung des originalen Textes gegenüber dem Erzählen und Wiedererzählen » Die prominente Position, die die apokryphen Akten in der kirchlichen Trad: ition einnehmen, legen die Annahme nahe, daß ihre endliche ten Gruppierungen unter einer Überschrift, nämlich »gnostisch«, abzuhandeln. Das war sicher weitestgehend dadurch bedingt, daß die kirchlichen Schriftsteller mehr und mehr den Kontakt mit den andersgläubigen Gruppen verloren und daher in gar keiner ernsthaften theologischen Diskussion mehr mit ihnen standen. Die- Marginalisierung [. ..] mit Tendenzen zusammenhängt, die sich derproustantischen Reformation verdanken und der Moderne generell ... « se Situation änderte sich drain der mündlichen Tradition, das Prinzip der sola scriptura mit dem damit einhergehenden Ausmatisch, als 1945 die koptisch gnostischen Texte bei Nag Hammadi gefunden wurden, die drei- ZNT 18 (9. Jg. 2006) 59 zehn Codices aus der Feder der Gnostiker selbst bieten. Seit diesem Fund besteht Klarheit darüber, daß »die Gnosis« nicht ein Monolith war, sondern eine ganze Anzahl verschiedener theologischer Richtungen umfaßte, und zwar so verschieden, daß der Sammelterminus »Gnosis« möglicherweise gar nicht sinnvoll anzuwenden ist. 17 Die genauere Kenntnis des Phänomens, die wir den koptischen Texten verdanken, führte zu der Einsicht, daß viele der heterodoxen Dokumente, die man zuvor der »Gnosis« zugeschlagen hatte, tatsächlich wenig mit den Nag Hammadi-Texten zu tun haben und als theologisch distinkt von jenen zu betrachten sind. Auch die apokryphen Akten fallen unter diese Gruppe von Dokumenten. Dem theologischen Verständnis der Akten ist nicht dadurch geholfen, daß man sie selektiv liest, indem man sich auf den Unterhaltungsaspekt der Geschichten über sprechende Tiere und aufsässige Ehefrauen verlegt und die langen, theologischen Reden der Apostel außer Acht läßt. Nur durch solche selektive Wahrnehmung haben Forscher in der Vergangenheit behaupten können, die apokryphen Akten wollten hauptsächlich unterhalten und seien nicht primär als theologische Werke intendiert. Was die Tiergeschichten betrifft, so hat die Vorliebe der modernen Leserschaft für diskursive Theologie oft den Blick für die narrative Theologie in diesen Dokumenten verstellt, die theologischen Gehalt durch Geschichten vermittelt. Die Johannesakten (Kap. 60-61) erzählen von Johannes Aufenthalt in einer Herberge, die mit Wanzen verseucht ist. Nachdem er sich genügend schlaflos im Bett gewälzt hat, befiehlt Johannes schließlich den Wanzen, sein Bett zu verlassen. Die Krabbeltiere gehorchen sogleich und stellen sich in ordentlichen Reihen außerhalb der Tür auf. In den Paulusakten nähert sich ein Löwe dem Paulus, um von ihm die Taufe zu erbitten. Paulus willigt ein und der Löwe zieht fort, um fürderhin ein asketisches Leben zu führen. Als Paulus einige Zeit später die Arena betritt, um sich den wilden Tieren zu stellen, trifft er denselben Löwen, der, wie sein treuer Vorgänger in der Sage von Androkles und dem Löwen, sich weigert, Paulus irgendein Leid anzutun und öffentlich seine Taufe durch Paulus bezeugt (P.Heid., S. 4-5). Ganz ähnlich übt Thekla eine Faszination, die eines Franz von Assisi würdig ist, auf die Tiere aus, die sie zerreißen 60 sollen. Die wilden Robben zeigen kein Interesse, sie zu verletzen, als sie sich in der Wassergrube, die ihr Ende hätte bedeuten sollen, selbst tauft. Die Löwin, die sie angreifen soll, liegt ihr stattdessen zu Füßen und kämpft sogar auf den Tod mit einem anderen Löwen, der gegen Thekla geschickt wird (Kap. 38). Diese charmanten Erzählungen drücken die Hoffnung aus, daß Christi Macht nicht nur Errettung für die Menschen bedeutet, sondern auch Erlösung der gesamten Schöpfung, eine Hoffnung, der nicht zuletzt Paulus selbst Ausdruck verleiht (Röm 8,9- 22). Sie spielen auch deutlich auf die Hebräische Bibel an, denn sie zeigen, daß das messianische Zeitalter, wie Jesaja es mit all den friedlichen Kreaturen beschreibt, nun wirklich angebrochen ist: Die Prophezeiung ist erfüllt. Schließlich bieten die Tiere mit ihren löblichen Charakterzügen Anschauungsunterricht für ihre menschlichen Betrachter: Wie Johannes ganz richtig bemerkt wenn die Wanzen der menschlichen Stimme gehorchen, warum gehorchen die Menschen dann nicht der göttlichen Stimme? Die erzählerische Funktion der Tiere ist dieselbe wie die der Vögel und Blumen in J esu Gleichnissen. Im Lichte neuerer theologischer Versuche, die Menschen in ihrer Umwelt, besonders in ihrer Beziehung zu den Tieren, zu verstehen, dürften die apokryphen Akten durchaus etwas mehr Aufmerksamkeit verdienen. 18 Die theologische Auswertung der apokryphen Akten steckt noch in ihren Anfängen. 19 Alle fünf Akten, manche mehr, manche weniger, sind geprägt von einer theologischen Position, die als Enkratismus bekannt ist, eine Form asketischen Verhaltens, die allen Nachfolgern Christi anempfohlen wird: Enthaltsamkeit vom Geschlechtsverkehr, der Zeugung von Kindern, von Wein und Fleisch. Enkratismus wird in den apokryphen Akten als ein Mittel gepriesen, den Körper zu reinigen, so daß Gott zum Gläubigen sprechen kann. Während über spätantiken christlichen Asketizismus, der von der nachkonstantinischen Kirche akzeptiert und gefördert wurde, viel Tinte geflossen ist, hat der Asketizismus der apokryphen Akten wenig Interesse auf sich gezogen. Er ist mit späteren asketischen Bewegungen eng verwandt und hat ebenso wichtige Verbindungen zu Theologie und Praxis der vorkonstantinischen syrischen Kirche. Schließlich wäre es durchaus ZNT 18 (9. Jg. 2006) Christine M. Thomas Die Rezeption der Apostelakten im frühen Christentum lohnend, auch die Lehren der apokryphen Akten in den Kontext kulturvergleichender asketischer Praktiken zu stellen, so wie es in letzter Zeit für den spätantiken christlichen Asketizismus geschehen ist. 20 Auch hat die theologische Wertschätzung der Akten unter der Tendenz moderner Leser gelitten, die Akten als ein von der kanonischen christder apokryphe Paulus jungen Leuten anrät, nicht zu heiraten noch Kinder zu zeugen und das »jungfräuliche Leben« lobt (Kap. 5-6), lehrt der Paulus der Pastoralbriefe, daß Frauen durch Kindergebären gerettet werden (lTim 2,15) und daß junge Witwen wieder heiraten sollen, damit sie nicht zu ungebührlichem Benehmen verleitet werden (lTim 5,11-15). Im Unterschied zur tüchlichen Literatur getrenntes Phänomen wahrzunehmen. Die literarische Beziehung zwischen den apokryphen Akten und dem Neuen Testament ist Gegenstand zahlreicher Untersuchungen gewesen, meist mit dem Ziel nachzuweisen, daß die Akten literarisch abhängig von den neutestamentlichen Schriften »Auch hat die theologische Wertschätzung der Akten unter der Tendenz moderner Leser gelitten, die Akten als ein von der kanonischen christlichen Literatur tigen Thekla, die ausgeht und das Evangelium predigt, wird den Frauen in den Pastoralbriefen verboten zu lehren oder Autorität über Männer auszuüben (lTim 2, 11-12). Es scheint, daß die beiden Textkorpora in eine Debatte über das Erbe des Paulus eingetreten sind, jedes mit dem getrenntes Phänomen wahrzunehmen.« sind ( oder auch umgekehrt in der Sicht mancher Abweichler). Sehr viel weniger Aufmerksamkeit ist der Frage zuteil geworden, wie denn diese Dokumente die theologischen Themen, die aus dem Neuen Testament bekannt sind, weiterführen und entwickeln. So müßte man sicher fragen, in welchem Sinne denn etwa die Petrusakten als »petrinisch« zu bezeichnen wären oder die Paulusakten als »paulinisch« oder die Johannesakten als »johanneisch«. Die Paulusakten haben eine etwas ungewöhnliche Beziehung zu den Pastoralbriefen (1 Tim, 2Tim, Tit), Briefe, die unter dem Namen des Paulus geschrieben sind, die die Mehrheit der Forscher jedoch als nicht aus der Feder des Paulus stammend beurteilt. 21 Die Akten und die Briefe nennen einige identische Persönlichkeiten im Umfeld des Paulus, jedoch nicht in derart genauer Entsprechung, die man bei literarischer Abhängigkeit erwarten würde. Z.B. Demas und Hermogenes, zwei gnostische Häretiker in den Paulusakten, sind beide auch aus den Pastoralbriefen bekannt: Hermogenes und Phygelos verlassen Paulus in Asien (2Tim 1,15), Demas in Thessalonike (2Tim 4, 10). Doch ist die Beziehung in theologischer Hinsicht noch auffälliger. Während die Paulusakten Paulus als Enkratiten zeichnen, rät der Paulus der Pastoralbriefen Timotheus zu ein wenig Wein (lTim 5,23) und warnt vor solchen, die den Menschen verbieten zu heiraten und bestimmte Speisen zu genießen (lTim 4,3). Während ZNT 18 (9. Jg. 2006) Anspruch auf seine Autorität, um sehr unterschiedliche Visionen christlichen Lebens zu verbreiten. Welches Korpus gibt Paulus zutreffender wieder? Die apokryphen Akten stehen sicherlich im Einklang mit dem Paulus, der Menschen anhielt, unverheiratet zu bleiben, so daß sie sich umso besser dem Dienst des Herrn widmen könnten, da nicht viel Zeit bis zum Ende bleibt (1Kor 7, 25-26); ebenfalls mit dem Paulus, der Regeln für die Prophetinnentätigkeit von Frauen in der Kirche aufstellte, ohne sie zum Schweigen zu verurteilen (lKor 11,2-16); und schließlich mit dem Paulus, der Frauen in gemeindeleitender Funktion grüßt, so wie Phoebe und Chloe, oder Apostel wie Junia (Röm 16,1.7; lKor 1,11). Die Lektüre der apokryphen Akten kann letztlich zu einem besseren Verständnis des Neuen Testaments selbst verhelfen, denn die Akten heben einige durchaus legitime theologische Dimensionen ans Licht, die ernsthafte Christen des 2. und 3. Jh. deutlich sahen - und diese waren Paulus und seinen Lehren ja immerhin viel näher als wir es sind. Die Petrusakten für ihren Teil malen ein Bild von Petrus, das dem der kanonischen Evangelien sehr nahe kommt, aber stärker noch ein Modell für den Umgang mit den Herausforderungen entwirft, denen sich ein christliches Leben zu stellen hat. Petrus, der mutig genug ist, Jesus auf das Wasser zu folgen und bis zu dessen Gerichtsverhandlung, verliert immer im entscheidenden Moment seine Entschlossenheit: Er versinkt im 61 Wasser und verrät seinen Herrn. Ganz ähnlich schwankt auch in den Petrusakten Petrus' Mut, als er sich der Verhaftung und seinem Märtyrertod nähert. Er flieht aus der Stadt, nur um plötzlich Jesus selbst gegenüber zu stehen eine Szene voll Zartheit und Pathos zugleich (Kap. 35). Zum ersten Mal in seinem Leben ist Petrus nun auf dieser Straße fähig, seine Unschlüssigkeit zu besiegen, bevor es zu spät ist. In seinen Reden nimmt Petrus Bezug auf seinen eigenen Kampf gegen sich selbst, als er etwa Marcellus tröstet, der, nachdem er sich zum Christentum bekehrt hatte, wieder davon abfiel und Simon Magus folgte (Kap. 7-8). Dieser Text hat sehr deutlich den Abfall vom Glauben zum Thema und findet theologische Wegweisung und Ermutigung Figur des Petrus, dem Grünin der einer Gewandtheit und psychologischen Genauigkeit verhandelt, die man vergebens in der kanonischen christlichen Erzählliteratur sucht. Es geschah sicher auch aus diesem Grund, daß solche Geschichten, obwohl apokryph, wieder und wieder erzählt und illustriert wurden von einer Kirche, die sie unbestreitbar hoch schätzte. Denn diese Geschichten boten jedem Hörer Modelle unter den allerersten Bekehrten, wie man den Zwängen und Dilemmas, die christliches Leben mit sich brachte, entsprechen könnte. Der Umgang der Apostel mit den Problemen ihrer bedrängten Nachfolger wurde für die spätere christliche Leser- oder Hörerschaft zur apostolischen Antwort an sie, apostolische Lehre für ihren Umgang mit den Schwierigkeiten christlicher Existenz, die im Neuen der der römischen Kirche. Auch treffen sich die Petrusakten mit den anderen apokryphen Akten in ihrem Augenmerk auf individueller Spiritualität. Wo die kanonische Apostelgeschichte sich auf den Moment der Bekehrung von Individuen und ganzen Gruppen konzentriert und dabei versucht, die Beziehung zwischen der Gemein- »In ihrer Verwendung als Vorlesestoff, als Quelle für Predigten, Geschichten und Kunst, prägten die apokryphen Akten alltägliches religiöses Verhalten unter den frühen Christen; sie halfen, ein Testament praktisch nicht behandelt werden. In diesen Geschichten von den apokryphen Akten wird Christentum nun wirklich in das alltägliche Leben übersetzt und das ist viel mehr als eine bloße soziale Standortbestimmung. In ihrer Verwendung als Vorlesestoff, als Quelle für Predigten, Geschichten und dezidiert christliches Selbstverständnis zu entwickeln.« schaft der Christusgläubigen und dem Volk der Juden mit seiner Geschichte herzustellen, interessieren sich die apokryphen Akten für den einzelnen Christen und seinen oder ihren Fortschritt im Glauben nach der Konversion. 22 Insbesondere beschäftigen sie sich direkt und indirekt mit dem Problem der Sünde, Apostasie und Versuchung unter denen, die schon Christen sind, sei es am Beispiel des Senators und Patrons Marcellus (wie oben erwähnt) oder des jugendlichen Räubers, der wieder in seine alten Lebensgewohnheiten zurückgeglitten ist (J ohannesakten). Johannes sorgt auch für Drusiana, eine christliche Frau, die verheiratet ist, aber enthaltsam lebt und so sehr besorgt ist um die sündhafte Anziehung, die ein junger Mann ob ihrer Schönheit zu ihr verspürt, daß sie zunächst depressiv wird, dann krank und schließlich stirbt, nachdem sie Gott gebeten hat, sie aus dem Leben abzuberufen, weil sie für einen anderen Menschen zum Stolperstein geworden war (Kap. 63-64). Diese Situationen werden mit 62 Kunst, prägten die apokryphen Akten alltägliches religiöses Verhalten unter den frühen Christen; sie halfen, ein dezidiert christliches Selbstverständnis zu entwickeln. Dank ihrer Existenz konnte der christliche Glaube gedeihen. Anmerkungen Die Übersetzung wurde von Frau Dr. Gabriele Faßbeck angefertigt. Für detaillierte Informationen über den Erhaltungszustand der fünf frühen apokryphen Akten vgl. W. Schneemelcher, Apostelgeschichten des 2. und 3. Jahrhunderts, in: Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Tübingen 1997-1999, Bd. 2. Zur Frage der ursprünglichen Sprache der Thomasakten vgl. H.W. Attridge, The Original Language of the Acts of Thomas, in: Of Scribes and Scrolls: Studies on the Hebrew Bible, Intertestamental Judaism, and Christian Origins, FS J. Strugnell, Lanham, Md. 1990, 241-245. Zu den Actus Vercellenses L. Vouaux, Les Actes de Pierre, Paris 1922, 17. Ein Überblick zu neuen Arbei- ZNT 18 (9. Jg. 2006) Christine M. Thomas Die Rezeption der Apostelakten im frühen Christentum ten zu den Johannes- und Andreasakten findet sich bei E. Junod/ ].-D. Kaestli (Hgg.), Acta Johannis, Turnhout, Belgium 1983 bzw. J.-M. Prieur (Hg.), Acta Andreae, Turnhout, Belgium 1989. G. Poupon, Les ,Actes de Pierre< et leur remaniement, ANRW 2.25/ 6, 4363-4383; C.M. Thomas, The Acts of Peter, Gospel Literature, and the Ancient Novel, New York 2003, 21-30. Der Syriarch war ein hoher regionaler Regierungsbeamter, Repräsentant des Volkes von Syria, mit kultischen und politischen Verantwortlichkeiten (Anm. der Übersetzerin). V. Burrus, Chastity as Autonomy: Women in the Stories of the Apocryphal Acts, Lewiston, NY 1987. Diese Geschichten sind alle verwandt mit einer Version, die der Märtyrer Justin erzählt (2. Apologie 2): R.M. Grant, A Woman of Rome: The Matron in Justin, 2 Apology 2.1-9, Church History 54, 461-472. Über Dublettenerzählungen in den apokryphen Akten vgl. Thomas, Acts of Peter, 64-71; D.R. MacDonald, From audita to legenda: Oral and Written Miracle Stories, Foundations and Facets Forum 2 (1986), 15-26. A. von Gutschmid, Die Königsnamen in den apokryphen Apostelgeschichten, RhM N.F. 19 (1864), 161-83, 380-401: 177-179; W.M. Ramsay, The Church in the Roman Empire before A.D. 170, London 1893, 382-389, 427-428, Anm. 2; D. Magie, Roman Rule in Asia Minor to the End of the Third Century, Princeton 1950, 1.513, 2.1368, Anm. 51. G. Ficker, Die Petrusakten: Beiträge zu ihrem Verständnis, Leipzig 1903, 38-39, 43-44; Thomas, Acts of Peter, 46-50, 59-61. B. Layton, The Gnostic Scriptures: A New Translation with Annotations and lntroductions, Garden City, NY 1987, 359-364. Titus: 2Tim 4,10 sowie aus dem an ihn gerichteten Brief; Onesiphoros: 2Tim 1,16; 4,19; Demas: Kol 4,14; Phlm 24; 2Tim 4,10; Hermogenes: 2Tim 1,15; Stephanas: lKor 1,16; 16,15; Barsabbas Justus: Apg 1,23; 15,22. Vgl. C.M. Thomas, The Acts of Paulas a Source for the Life of Paul, in: Actes du ler Congres International sur Antioche de Pisidie, Paris 2002, 85-92. 10 P. Nagel, Die apokryphen Apostelakten des 2. und 3. Jahrhunderts in der manichäischen Literatur, in: Gnosis und Neues Testament. Studien aus Religionswissenschaft und Theologie, Gütersloh 1973, 149-182, bes. 152-153, 175-176; K. Schäferdiek, Die Leukios Charinos zugeschriebene manichäische Sammlung apokrypher Apostelgeschichten, in: Neutestamentliche Apokryphen, 81-93, bes. 83-86. 11 R.A. Lipsius / M. Bonner (Hgg.), Acta apostolorum apocrypha, Leipzig 1891, 1.1-22, 118-177. 12 Das Motiv stammt ursprünglich aus Platons Timaeus (43), hat aber eine lange, davon unabhängige Geschichte, vgl. J.Z. Smith, Birth upside down or right side up, History of Religions 9 (1969), 281-303; J.-M. Prieur, »Si vous ne faites ce qui est a droite comme ce qui est a gauche«: crucification et renversement des attitudes dans la litterature chretienne ancienne, Revue d'histoire et de philosophie religieuses 81, 413-424. 13 Vgl. hierzu das relativ neue Werk von F. Bovon/ F. Amsler / B. Bouvier, Actes de l' ap6tre Philippe, Turnhout, Belgium 1996; dies., Acta Philippi: commentarius, indices, textus, Turnhout 1999. ZNT 18 (9. Jg. 2006) 14 A. de Santos Otero, Spätere Apostelakten, in: Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Tübingen 1997-1999, Bd. 2. 15 Vgl. die wertvolle Materialsammlung und -besprechung hierüber und die anderen Apostel in D.R. Cartlidge / J.K. Elliot, Art and the Christian Apocrypha, London 2001. 16 R.A. Lipsius, Die apokryphen Apostelgeschichten und Apostellegenden: Ein Beitrag zur altchristlichen Literaturgeschichte, Braunschweig 1883-1887, 1.4ff. 17 M.A. Williams, Rethinking Gnosticism: An Argument for Dismantling a Dubious Category, Princeton 1996. 18 Vgl. C.R. Matthews, Articulate Animals: A Multivalent Motif in the Apocryphal Acts of the Apostles, in: Apocryphal Acts of the Apostles, Boston 1999. 19 In den letzten zwanzig Jahren ist viel Arbeit der theologischen Auswertung individueller Akten gewidmet worden. Repräsentative Beispiele findet man in folgenden Sammlungen (dabei ist zu beachten, daß viele der Autoren den Themen zusätzliche Artikel und Monographien gewidmet haben): F. Bovon (Hg.), Les Actes apocryphes des ap6tres: Christianisme et monde pa1en, Geneva 1981; F. Bovon/ A.G. Brock/ C.R.Matthews (Hgg.), The apocryphal Acts of the Apostles: Harvard Divinity School studies, Boston 1999; J.N. Bremmer (Hg.), The Apocryphal Acts of Paul and Thecla, Kampen, Netherlands 1996; ders., The Apocryphal Acts of John, Kampen, Netherlands 1996; ders., The Apocryphal Acts of Peter: Magie, Miracles, and Gnosticism, Louvain 1998; ders., The Apocryphal Acts of Andrew, Louvain 2000; ders., The Apocryphal Acts of Thomas, Leuven 2001; R.F.J. Stoops (Hg.), The Apocryphal Acts of the Apostles in lntertextual Perspectives (Semeia 80), Atlanta 1997. 20 Zum Enkratismus vgl. Y. Tissot, Encratisme et Actes apocryphes, in: Les Actes apocryphes, 109-119. Zum syrischen Asketizismus des 2. nachchristlichen Jahrhunderts vgl. P. Brown, The Body and Society: Men, Women and Sexual Renunciation in Early Christianity, New York 1988, 83-102. Zum spätantiken Asketizismus in kulturvergleichender Perspektive vgl. R. Valantasis / V.L. Wimbush/ G.L. Byron/ W.S. Love (Hgg.), Asceticism, New York 1995. 21 Zur Beziehung zwischen Paulusakten und Pastoralbriefen vgl. D.R. MacDonald, The Legend and the Apostle: The Battle for Paul in Story and Canon, Philadelphia 1983. Zur Datierung der Pastoralbriefe: Diese Schriften werden erst recht spät von den Kirchenvätern zitiert (erstmals bei lrenaeus, ca.180 n.Chr.); sie fehlen auch in zwei wichtigen frühen Sammlungen von Paulus briefen, erstens P46 (Chester Beatty Papyrus II), eine Manuskriptsammlung von Paulusbriefen, die um 200 n.Chr. datiert (mit sieben anerkannt echten Paulusbriefen, dem Hebräerbrief, Epheser- und Kolosserbrief); zweitens bei Marcion (fl. 140), dessen Ausgabe der Paulusbriefe (ausgiebig zitiert in Tertullian, Adv. Marc.) nicht die Pastoralen beinhaltet, obwohl er Eph, Kol und den 2Thess kannte. 22 Ich verdanke diese Beobachtung F. Bovon, Canonical and Apocryphal Acts of Apostles, Journal of Early Christian Studies 11 (2003 ), 165-194. 63 Hans-Josef Klauck Apokryphe Apostelakten. Eine Einführung Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk, Stuttgart 2005, 291 S., ISBN 3-460-33023-6, 23,90 € Nicht minder reizvoll als der Reiz des Verbotenen ist der Reiz des Verborgenen des Apokryphen. Wenn die Medien von Zeit zu Zeit apokryphe Texte aus biblischer oder nachbiblischer Zeit präsentieren, in denen nun endlich die ganze Wahrheit über Jesus, Maria Magdalena oder, wie jüngst, über Judas enthüllt wird, eine Wahrheit, die zwei Jahrtausende von Wüstensand bedeckt oder in vatikanischen Geheimarchiven unter Verschluss gehalten war, dann ist das journalistisch eigentlich immer eine sichere Sache. Die Aura des Sensationellen lässt sich freilich nur dadurch erzeugen, dass über die seriöse und seit Generationen mit hohem Aufwand betriebene Erforschung dieser Texte in der Regel kaum etwas verlautet. Es ist dem katholischen Neutestamentler Hans-Josef Klauck zu danken, dass er die Ergebnisse dieser Forschung auf dem neuesten Stand erstmals einem breiten Publikum zugänglich macht. Nach dem ersten Band, der den Bereich der apokryphen Evangelien abdeckt (Hans- J osef Klauck, Apokryphe Evangelien. 64 Eine Einführung, Stuttgart 2. Aufl. 2005) folgt nun der hier zu besprechende zweite Band über apokryphe Apostelakten. Beide Bände sind erschwinglich, ihres Preises wert und zusammen mit der zweibändigen Quellensammlung in deutscher Übersetzung von Hennecke und Schneemelcher, die seit einigen Jahren als preiswerte Studienausgabe vorliegt (Wilhelm Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen, 2 Bde., Tübingen 6. Aufl. 1999) gewiss eine lohnende Anschaffung. Sein Hauptaugenmerk richtet Klauck auf die Gruppe der fünf alten Apostelakten aus dem zweiten und dritten Jahrhundert, deren Entstehung er zwischen 150 und 240 n.Chr. ansetzt (10). Es sind dies die Johannesakten (ca. 150-160 n.Chr.), die Paulusakten (ca. 170-180 n.Chr.), die Petrusakten (ca. 190-200 n.Chr.), die Andreasaktcn (ca. 200-210 n.Chr.) und die Thomasaktcn (ca. 220-240 n.Chr.). Hinzu kommen die Pseudoklementinen, deren Grundschrift Klauck zwischen 220 und 250 n.Chr. datiert. Für die Masse der jüngeren Apostelakten des vierten und fünften Jahrhunderts, die anhangsweise in einem eigenen Kapitel vorgestellt werden (239-260), gilt, dass »das Material (... ) mehr und mehr aus[ufert] und (... ) die stets labile Grenze zur reinen Legende und zur Hagiographie [überschreitet]« (239). Auch für diese weniger wichtigen Texte, die zum Teil noch nicht einmal ediert sind, bietet Klauck flächendeckend zuverlässige bibliographische Hinweise auf die vorhandene Literatur. Erst recht geben die Kapitel zu der älteren Fünfergru ppe und den Pseudoclementinen jedwede bibliographische Einstiegshilfe für eine eigene Beschäftigung mit diese Schriften, deren »Bestand (... ) nicht so groß [ist], dass wir uns die Ignorierung auch nur eines Bruchteils von ihnen leisten könnten« (269). Das auf die Einführung (9-21) folgende Literaturverzeichnis (23-28) wird nachfolgend für jedes Segment der mitunter sehr unübersichtlichen Textgeschichte der einzelnen Apostelakten thematisch aufgefächert und um weitere Literatur ergänzt. In einem ersten Abschnitt wird jeweils das nötige Einleitungswissen in dankenswerter Knappheit gemeinverständlich referiert. Dann folgt der Mittelteil mit einer ausführlichen Paraphrase des Inhalts, wo nötig aufgegliedert in die inhaltlich zum Teil stark differierenden Stränge der Textüberlieferung. Den Schlussteil jedes Kapitels bildet eine Auswertung, die ergänzend zu den bereits im Mittelteil zahlreich eingeflochtenen Beobachtungen - Überlegungen zur kirchen-, theologie- und religionsgeschichtlichen Bedeutung der Schrift anstellt. Wir stellen nachfolgend vier der fünf alten Apostelakten näher vor. (1) Die fragmentarisch erhaltenen Johannesakten (29-59)den Angaben der Stichometrie des Nikephoros zufolge besitzen wir gut zwei Drittel der Schrift (30) sind in mehrfacher Hinsicht interessant. Sie dokumentieren eine Benutzung der Synoptiker und des Johannescvangcliums (und der Apostelgeschichte? ), die diese keineswegs als kanonisch rezipiert bzw. als Autorität anerkennt (31). Sodann sind die J ohannesakten ein Beispiel für die notwendige Differenzierung des Gnosisbegriffs. Galten der älteren Forschung »die die fünf alten Akten ausnahmslos als ursprünglich gnostische Werke( ... ), die später einer katholischen Überarbeitung unterzogen wurden«, so hat mittlerweile »eine genauere Analyse der einzelnen Apostelakten [gezeigt], dass sie durchaus unterschiedlich zu dem Stellung beziehen, was man mit der herkömmlichen Bezeichnung ,Gnosis< nennen kann« (14). Im Falle der Johannesakten sind lediglich zwei Stücke als gnostisch einzustufen, von denen aus freilich die ganze Schrift in einen gnostischen Deutungshorizont gerät. Gegenüber der traditionellen Interpolationshypothese gibt Klauck einem anderen Modell den Vorzug: »Es war ein und derselbe Autor, der über Traditionen unterschiedlicher Herkunft verfügte, darunter auch der gnostisch gefärbte Teil, und sie zu einem Gesamtwerk mit einer einheitlichen Botschaft zusammenfügte« (31). Das erste dieser gnostischen Stücke enthält einen Tanzhymnus, den Jesus vorträgt, während seine Jünger im Kreis um ihn herum schreiten. »Die Vermutung hat viel für sich, dass dieses Ritual in einer Gemeinde tatsächlich praktiziert wurde, evtl. sogar anstelle des Herrenmahls« (47). ZNT 18 (9. Jg. 2006) Das zweite Stück ist eine gnostische Gegendarstellung zu den synoptischjohanneischen Passionstraditionen. »Nichts von alldem, was sie über mich sagen, habe ich gelitten«, lässt Jesus Johannes wissen, worauf dieser alles, was man ihm in Jerusalem über die PassionJesu erzählt, mit Gelächter quittiert (50). Kreuz und körperliches Leiden werden aus dem Christusbild der Johannesakten konsequent eliminiert (54). Narrativ breit ausgeführt wird die doketische Vorstellung von der Polymorphie des Erlösers: Was in den neutestamentlichen Evangelien vom Auferstandenen gilt, dass er nämlich seinen Jüngern in unterschiedlicher Gestalt erscheint (vgl. Mk 16,12; Lk 24,15f.; Joh 21,4), wird in den J ohannesakten vom Irdischen erzählt, womit »deutliche Abstriche an der Leiblichkeit und Menschlichkeit des irdischen Jesus vorgenommen werden« (46). Theologiegeschichtlich ermöglichen die Johannesakten Einsichten in den Verlauf des johanneischen Schismas und der Geschichte der johanneischen Gemeinde über das Corpus Johanneum hinaus: Die in lJoh bekämpfte »gegnerische Christologie«, die sich auf das Johannesevangelium beruft, aber schon zum Doketismus neigt, liegt »in den ActJoh in voll entwickelter Gestalt« vor (55). (2) Ein wichtiges Stück Kirchen- und Theologiegeschichte erschließen auch die Paulusakten (61-62). Von dem ursprünglich recht umfangreichen Werk sind drei Teile erhalten, nämlich die Akten der Thekla, ein Briefwechsel zwischen Paulus und den Korinthern, der über den syrischen Kanon als 3. Korintherbrief Eingang in den Schriftenbestand des armenischen Neuen Testaments gefunden hat, sowie das Martyrium des Paulus. Von besonderem Interesse sind die Akten der Thekla, nicht nur, weil sie die einzige antike Personenbeschreibung des Paulus enthalten (»ein Mann, klein an Gestalt mit kahlem Kopf ... «), ein »gemischtes« Portrait mit mehr und weniger schmeichelhaften Zügen, das viel über die Konventionen antiker Physiognomik verrät (65f.), sondern auch und vor allem wegen der Gestalt der Apostelin und Lehrerin Thekla, die sich auf eine Predigt des Paulus hin zum Christentum bekehrt, sich von ihrem Verlobten lossagt und wegen ihres wiederholt erklärten Desinteresses an einem Ehemann zum Feuertod und nach ZNT 18 (9.Jg. 2006) der wunderbaren Errettung aus demselben zum Tierkampf verurteilt wird, die sich in der Arena selbst(! ) tauft und, nachdem sie erneut mit heiler Haut davongekommen ist, von Paulus zur Missionarin von Ikonium ernannt wird. Die Akten der Thekla sind nicht nur der Reflex eines in der Antike überaus lebendigen Thekla- Kults; sie spiegeln auch frühchristliche Strömungen wider, die die Übernahme leitender Ämter und sakramentaler Vollmachten für Frauen beanspruchten. Dass wir uns hierbei keinesfalls nur auf der Ebene der literarischen Fiktion bewegen, verrät die schroffe Reaktion Tertullians: Er wendet sich um 200 n.Chr. gegen das »Recht der Frauen, [nach Theklas Beispiel] zu lehren und zu taufen« (De Baptismo 17,5), hat aber als Argument nur zur Hand, dass es sich bei den Paulusakten um eine pseudepigraphische Schrift handelt (62). (3) Die Textgeschichte der in ihrem ältesten Bestand um 200 n.Chr. entstandenen Petrusakten ist mit besonderen Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten behaftet. Da sich aus den erhaltenen Handschriften kein klar abgrenzbarer Textbestand rekonstruieren lässt, müssen die vorhandenen Manuskripte für sich interpretiert werden. Die Hauptmasse des Textes ist in einem lateinischen Codex aus der Kapitelsbibliothek von Vercelli (Oberitalien) enthalten, der jedoch nicht, wie lange angenommen, »als wortgetreue Übersetzung eines griechischen Originals« gelten kann, sondern »als eigenständiger Neuentwurf aus dem späten 4. Jahrhundert« behandelt werden muss (95). Hinzu kommen das liturgisch verwendete Martyrium des Petrus und die in einem koptischen Papyruskodex enthaltene »Tat des Petrus«, deren ursprüngliche Zugehörigkeit zu den Petrusakten jedoch strittig ist (118f.). Bekannte Stoffe aus den Petrusakten sind die Quo-Vadis-Legende und die umgekehrte Kreuzigung des Petrus, die jedoch »nicht, wie es die landläufige Meinung will, als Demutsgeste« gemeint ist, »weil der Apostel sich nicht für würdig hielte, auf genau die gleiche Art wie sein Herr zu sterben. Die verkehrte Stellung des Petrus symbolisiert vielmehr die gefallene menschliche Natur«, wie der bereits gekreuzigte Petrus in einer wortreichen Rede dartut (115). In auffälliger Häufung begegnet in den Erzählstoffen der Petrusakten das Motiv der Vergebung auch schwerer Sünden bis hin zum Abfall. Dies kann als Stellungnahme zum Problem der lapsi gedeutet werden, derjenigen Christen also, die unter dem Druck von Verfolgungen ihrem Glauben abgeschworen haben, später aber wieder in die Kirche aufgenommen werden wollten (124 ). (4) Die Andreasakten (125-151), die in Hagiographie, Frömmigkeit und Kunst besonders viele Spuren hinterlassen haben und »zeitweilig der populärste Vertreter der Gattung ,Apostelakten< gewesen zu sein [scheinen]« (125), lassen auf einen Verfasser schließen, der eine gewisse rhetorische und philosophische Bildung besaß. Möglicherweise hat er wie Justin über die Philosophie zum Christentum gefunden (127). In der Forschung wurde neuerdings sogar der Versuch unternommen, Homers Odyssee als durchgängig zugrunde liegenden Intertext nachzuweisen, dazu Anklänge an die Ilias und Anleihen bei Euripides und Platon. Unzweifelhaft ist Andreas teilweise der Gestalt des Sokrates nachgebildet, was auf eine klassische Bildung des Verfassers schließen lässt (145). Nun gilt freilich auch für die Andreasakten, dass sie mit vollen Händen aus dem Repertoire des antiken Romans schöpfen, wie denn die Apostelakten überhaupt zur antiken Romanliteratur zu rechnen sind (14-21). Das muss man wissen, damit man sich von diesen Schriften kein falsches Bild macht bzw. keine allzu hohen literarischen und theologischen Ansprüche an sie stellt. Die in doppeltem Wortsinn oft ziemlich abenteuerlichen Erzählungen decken sichtlich auch den Bedarf an populärer Unterhaltungsliteratur, nur eben mit christlichen Heldinnen und Helden. Nicht erst in den späten Philippusakten gibt es Geschichten wie die vom sprechenden Leoparden, der sich mitsamt einem von ihm gerissenen aber wundersam geheilten Zicklein zum Christentum bekehrt und mit erhobenen Ffoten zu Gott betet (245). Schon in den Petrusakten schickt Petrus einen sprechenden Kettenhund ins Rennen, der Simon Magus zum allgemeinen Erstaunen öffentlich zur Rede stellt (101), und in den Paulusakten gibt es einen um die Taufe nachsuchenden Löwen, der nach seiner Taufe eine attraktive Löwin links liegen bzw. stehen lässt (77). Vollends phantastisch wird es in den Texten des 65 vierten und fünften Jahrhunderts, etwa in den »Akten des Andreas und des Matthias«, einer späten Erweiterung der Andreasakten. Hier gerät der Apostel Matthias in das Land der Menschenfresser, wo ihm die Augen ausgestochen werden und man seine Hand mit einem Datumsstempel versieht, um den idealen Zeitpunkt zum Verzehr zu terminieren. Als Matthias nach wunderbarer Wiederherstellung seines Augenlichts weiteren Menschenverzehr vereitelt, wird er von der verärgerten Bevölkerung durch die Straßen geschleift, sodass seine Haut am Pflaster haften bleibt. Aus den Hautfetzen wachsen fruchttragende Bäume hervor - und so weiter (148f.). Ob man solche Lektüre vergnüglich findet, ist, wie Klauck in seinem Schlusswort anmerkt, »nicht zuletzt eine Geschmacksfrage« (269). Theologische bzw. theologiegeschichtliche Substanz haben die Texte häufig aber auch dort, wo man es ihnen beim ersten Lesen nicht ansieht. So haben »die viel belächelten Tierwunder, denen man einen gewissen naiven Charme nicht absprechen kann« (266), häufig eine symbolische Komponente, die beachtet sein will. Der (zunächst) wilde Löwe aus den Paulusakten etwa verkörpert »die ungebändigte Triebkraft der menschlichen Natur« (266) und die Enthaltsamkeit der getauften Raubkatze ist »ein exquisite[s] Beispiel für den Zusammenhang von Taufe und Eheverzicht« (77), der vom Phänomen des altkirchlichen Enkratismus her zu verstehen ist. Weitere thematische Querschnitte nimmt Klauck im Schlusskapitel vor (»Rückblick und Ausblick«, 261-269), nämlich zur Gnosisfrage (262), zu Ehe, Ehelosigkeit und Eheverzicht (263), zur Auseinandersetzung mit der paganen Kultur (265), zur Wunderfrage (266), zur Rolle von Frauen (266) und zum Nachleben der Apostelakten in der Kunstgeschichte (268). So gilt von diesen Texten in vieler Hinsicht, dass sie »[i]nteressant und lehrreich« sind, und das gilt auch von Klaucks Buch. Manuel Vogel 66 Daniel N. Schowalter / Steven J. Friesen (eds.) Urban Religion in Roma Corinth. Interdisciplinary Approaches Cambridge MA (Harvard University Press) 2005 (Harvard Theological Studies 53 ), 553 Seiten, Paperback, 5 Karten am Ende des Bandes und zahlreiche Schwarzweiß-Abbildungen im Text, ISBN 0674016602; 31,50 € Korinth gehört seit jeher zu den besonders bedeutenden Zentren der frühen Christenheit, insofern hat eine Besprechung über ein neues Buch zu dieser Stadt gerade in einer Ausgabe über Apostelgeschichten durchaus ihren Platz. Über keine andere frühchristliche Ortsgemeinde als die korinthische (Rom eventuell ausgenommen) besitzen wir dank der paulinischen Literatur und späterer Schriften derart viele Nachrichten aus erster Hand. Dieser sonst höchst seltene Zustand hat immer wieder dazu eingeladen, die im NT hervortretenden theologischen Themen und sozialgeschichtlichen Eigenheiten der korinthischen Christen mit dem in Beziehung zu setzen, was wir aus der Archäologie über die Lebenswelt der Korinther insgesamt erfahren. Die Aufgabe ist freilich nicht einfach. Abgesehen von den für das NT relevanten Themen wirft die Kulturgeschichte der Stadt Probleme auf, in der sich viele fundamentale Fragen der Erforschung des östlichen Mittelmeerbereichs insgesamt spiegeln: Was wissen wir über das kulturelle, religiöse und wirtschaftliche Profil der archaischen und klassischen Stadt, die durch die Römer 146 v.Chr. zerstört wurde? Welchen Charakter hatte das gut ein Jahrhundert später von Caesar neu gegründete Korinth, nun eine Veteranenkolonie mit all ihrer kulturellen und sozialen Vielfalt aus römischem Bevölkerungsanteil und orientalischen Elementen? Was wissen wir über die Religiosität, die ethnische oder kulturelle Praxis ihrer Bewohner? Gibt es Verbindungen in die Vergangenheit? Und natürlich: Welchen Platz nahmen die frühen Christen innerhalb dieses komplexen Umfeldes ein? Fragen des wirtschaftlichen Gefüges, der kulturellen Entwicklung zwischen der Romanisierung des Ostens und der Orientalisierung des römischen Reichs können anhand von Korinth diskutiert werden, und es scheint naiv, die neutestamentliche Korintherkorrespondenz des NT ohne die stetige Reflexion über diese fundamentalen Gegebenheiten zu analvsieren, da wir anders die Mensche~ aus dem Blick verlieren, für die und von denen diese Texte geschrieben wurden. Glücklicherweise gehört Korinth seit mehr als 100 Jahren zu den Schwerpunkten amerikanischer Forschungstätigkeit in Griechenland, sodass ein stetiger Dialog zwischen materiellen und literarischen Quellen aus den Blickwinkeln mehrerer wissenschaftlicher Disziplinen möglich ist. Der vorliegende Band tut genau dies und führt ähnliche Sammelbände über Ephesus und Pergamon fort, die beide noch unter der Ägide und Inspiration von Helmut Koester entstanden sind.' Nun sind Daniel Schowalter (Professor of Religion and Classics, Carthage College, Kenosha WI) und Steven J. Friesen (Professor of Religious Studies, University of Missouri, Columbia MI) für die Fortsetzung der fruchtbaren Arbeit verantwortlich und legen einen Band vor, der als Musterbeispiel dafür gelten kann, was an Erkenntnisgewinn und Innovation erreicht werden kann, wenn man mit »Interdisziplinarität« wirklich ernst macht und das Studium der materiellen Kultur in die Arbeit am NT integriert, als auch Fragestellungen der neutestamentlichen Wissenschaft in den althistorischen Diskurs einspeist. Insgesamt 17 Studien beleuchten die mittlerweile ungeheure Fülle an archäologischem Material und die vielfältigen daraus erwachsenen ZNT 18 (9. Jg. 2006) Fragen und Probleme. Dadurch ergeben sich nicht nur ein willkommener Einblick in den Fortgang der Forschung zu Korinth allgemein (zum Teil mit der Vorstellung neuen Materials), sondern immer wieder neue Ansätze und Fragestellungen im Hinblick auf die neutestamentlichen Texte, die ja nicht nur Quellen zur Geschichte des frühesten Christentums darstellen, sondern auch ganz einzigartige Zugänge in einen bestimmten Teil des kulturellen Milieus der Stadt selbst bieten. Nach einer allgemeinen Einleitung durch Daniel N. Schowalter (3-10) und einer Orientierung über unserem momentanen Kenntnisstand zum städtischen Korinth durch G.D.R. Sanders (»Urban Corinth: An Introduction «, 11-24) greifen die ersten neun Studien schwerpunktmäßig archäologische Themen auf. Das Verhältnis zwischen Korinth und seiner ländlichen Umgebung, zu Ausdrucksweisen des urbanen Selbstverständnisses und der kulturellen Identität der korinthischen Elite, zu religiösen Traditionen und Kulteinrichtungen werden von David G. Romano, L. Michael White, Betsey A. Robinson, Nancy Bookidis, Elizabeth R. Gebhard, John R. Lanci, Charles K. Williams II, Mary E.H. Walbank und Christine M. Thomas anhand neuester Funde diskutiert (freilich hätte ich nicht nur angesichts von Röm 16,1; Apg 18,18 gern etwas mehr zu Kenchreai und Lechaion erfahren). Besonders interessant fand ich die beiden Studien zu den Bestattungspraktiken in Korinth ein Thema, das bisher noch viel zu wenig Aufmerksamkeit gefunden hat (Mary E.H. Walbank, » Unquiet Graves. Burial Practices of the Roman Corinthian«, 249-280; Christine M. Thomas, »Placing the Dead. Funeral Practice and Social Stratification in the Early Roman Period at Corinth and Ephesos«, 281-304. Dabei wird manch hartnäckiges Vorurteil berechtigter Kritik unterzogen, u.a. die Rolle sakraler Prostitution (vgl. John R. Lanci, » The Stones Don't Speak and the Texts Tell Lies«, 205-220). So entsteht ein ungemein detailreiches und vielfältiges Bild Korinths, dessen urbaner Raum zutiefst durch Monumente und Orte religiöser Praxis durchzogen war. Schade ist nur, dass dem zeitgenössischen Judentum keine eigenständige Studie gewidmet ist. Natürlich sind direkte Hinweise auf ZNT 18 (9.Jg. 2006) jüdische Präsenz in Korinth spärlich (vgl. Philo, Legatio ad Gaium 281), doch reicht es aus methodischen Gründen nicht, die jüdischen Bewohner Korinths allein im Kontext neutestamentlich orientierter Studien zu behandeln. Die übrigen sieben Artikel widmen sich der frühchristlichen Präsenz in der Stadt, wobei natürlich die paulinische Gemeinde besonderen Raum einnimmt. Margaret Mitchell führt in die gegenwärtige Forschungslage zum »Corinthian Epistolary Archive« ein, die für sie »documentary evidence of one urban religious cult at Corinth in the first century« (336) darstellt (»Paul's Letter to Corinth: The Interpretive Intertwining of Literary and Historical Reconstruction«, 307-338). Auf der Basis dieser Grundlage schlägt sie Wege zur vergleichenden Behandlung städtischer Religiosität insgesamt vor, in die sich auch das frühe Christentum einordnen lässt. Helmut Koesters Beitrag warnt jedoch davor, allzu große Erwartungen an die Aussagefähigkeit der paulinischen Korrespondenz zu stellen, wenn es darum geht, Fragen der urbanen Religiosität und korinthischen Sozialgeschichte zu klären. Paulus' Perspektive sei zu »utopian«, zu selektiv und zu stark auf das Kommen Christi hin ausgerichtet, um sich auf eine Debatte um die »present unjust, hierarchical, and oppressive social order of the Roman world« einzulassen (349). In der Tat eine höchst stimulierende Aporie! Steven Friesen untersucht die Rolle der korinthischen Gemeinde im Gefüge frühchristlicher Gemeinden im Mittelmeerbereich (» Prospects for a Demography of the Pauline Mission: Corinth among the Churches«, 351-370), Richard A. Horsley sieht die paulinischen Gemeinschaft als »alternative society« und Teil der »Israelite/ Judaean resistance to the Roman imperial order« (»Paul's Assembly in Corinth«, 371-395), James Walters untersucht die Bezüge zwischen der städtischen Identität des römischen Korinth und dem Selbstverständnis der örtlichen paulinischen Christengemeinschaft (»Civic Identity in Roman Corinth and Its Impact on Early Christians«, 397-417). Die letzten beiden Arbeiten widmen sich der nachpaulinischen Zeit. G.D.R. Sanders weist anhand archäologischer Dokumente religiösen Lebens aus der Zeit zwischen 300 und 600 nach, dass heidnischer Kult bis weit ins 5. Jh. ungebrochen fortdauerte und öffentliche Manifestationen des Christentums nicht vor ca. 500 begegnen (»Archaeological Evidence for Early Christianity and the End of Hellenic Religion in Corinth«, 419-442). Vassiliki Limberis untersucht schließlich das korinthische Christentum des 4. und 5. Jahrhunderts aus der Innenperspektive (»Ecclesiastical Ambiguities: Corinth in the Fourth and Fifth Centuries«, 443-457). Eine ausführliche Bibliographie (459-498) und ein vielleicht etwas zu knapper Index (511-523) runden den immens wichtigen Band ab, von dem man sich trotz der einen oder anderen Lücke eine Menge Impulse für die zukünftige Arbeit am NT erhoffen kann. Nirgendwo anders als hier sind die neuesten Ergebnisse der Archäologie Korinths in so gut lesbarer und stimulierender Weise für Leserinnen und Leser des Neuen Testaments greifbar. Ein Muss für jeden, der die paulinischen Korintherbriefe verstehen will! Jürgen Zangenberg Anmerkungen 1 H. Koester, Ephesus. Metropolis of Asia. An Interdisciplinary Approach to Its Archaeology, Religion and Culture (Harvard Theological Studies 41), Valley Forge 2004; ders., Pergamon, Citadel of the Gods. Archaeological Record, Literary Description and Religions Development (Harvard Theological Studies 46), Harrisburg 1998. Zu vergleichen ist auch Ch. Barkirtzis / H. Koester (Hgg.), Philippi at the Time of Paul and after His Death, Harrisburg 1998 über Philippi. 67 68 Christiane Schäfer »Wunderschön prächtige« Geschichte eines Marienliedes Mainzer Hymnologische Studien Band 18 2006, 321 Seiten, €[0] 58,-/ SFR 98,- ISBN 3-7720-8160-6 Die Untersuchung rekonstruiert aus den zahlreichen Textzeugen (Flugblätter, Bruderschaftsschriften, Gesangbücher) den mutmaßlichen Urtext dieses bekannten Marienlieds, der ganz der katholischen spätbarocken Volksfrömmigkeit verpflichtet ist. Wie das Lied sich gegen die am Ende des 18. Jahrhunderts einsetzende katholische Aufklärung durchsetzen konnte, wie es zum Beginn des 19. Jahrhunderts in die Sammlung »Des Knaben Wunderhorn« gelangte, wie es in immer wieder abgewandelten Fassungen spät auch Eingang in die offiziellen Kirchengesangbücher fand und warum es im 20. Jahrhundert den Theologen nicht mehr so recht gefallen wollte diesen und noch vielen anderen Fragen wird in der vorliegenden Arbeit nachgegangen. Annette Albert-Zerlik / Siri Fuhrmann Auf der Suche nach dem neuen geistlichen Lied Sichtung - Würdigung - Kritik Mainzer Hymnologische Studien Band 19 2006, 272 Seiten, €[0] 58,-/ SFR 98,- ISBN 3-7720-8168-1 Seit den 6oer Jahren prägt das so genannte »Neue Geistliche Lied« mit neuer Musik und neuen Texten die kirchliche Szene. Doch worin zeigt sich das Neue und das Geistliche? Die Beiträge des vorliegenden Bandes versuchen aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen - Sprachwissenschaft, Soziologie, Psychologie, und Theologie die Liedkultur der letzten 50 Jahre aufzuarbeiten, ihren Bestand zu sichten und kritisch zu reflektieren. NarrFrancl<eAttempte VerlagGmb: H+ Co„ KG Postfach 2560 · D-72015Tffbingen •fax(o7071) 9797~11 Internet~ www.ftanc; ke.de • f; •MaH: info@francke .. de ZNT 18 (9. Jg. 2006) Theologie aktuell Peter Fiedler Das Matthäusevangelium 2006. 440 Seiten. Kart. mit Fadenheftung Subskriptionspreis (bei Vorbestellung des Gesamtkommentars bis zum Erscheinen des letzten Bandes): € 29,- Einzelpreis: € 35,- ISBN 3-17-018792-9 Theologischer Kommentar zum Neuen Testament, Band 1 D as Matthäusevangelium spiegelt die schwierige politische, gesellschaftliche und religiöse Situation im Judentum nach der Zerstörung Jerusalems und des Tempels im Jahr 70. Am Wiederaufbau des Judentums sind auch jüdische Christus-Gläubige beteiligt, darunter die Gemeinschaft, für die dieses Evangelium verfasst ist. Sie gehört zu einer Synagoge, in der pharisäische Schriftgelehrte den Ton angeben. Der Autor des Matthäusevangeliums stimmt mit ihnen in der Tara-Auslegung überein, setzt sich mit ihnen aber wegen ihrer Ablehnung des Christus- Bekenntnisses polemisch auseinander. Der Kommentar arbeitet die jüdische Prägung des Evangeliums heraus, die losgelöst von dieser Polemik der Erneuerung des christlichen Verhältnisses zum Judentum starke Impulse geben kann. Der Autor: Professor Dr. Peter Fiedler lehrt Katholische Theologie/ Schwerpunkt Neues Testament an der Pädagogischen Hochschule Freiburg im Breisgau. Hubert Frankemölle Frühjudentum und Urchristentum Vorgeschichte - Verlauf - Auswirkungen (4. Jh. v. Chr. bis 4. Jh. n. Chr.) 2006. 448 Seiten. Kort. €32,- ISBN 3-17-019528-X Kohlhammer Studienbücher Theologie, Band 5 T raditionell wird die Trennung zwischen Judentum und Christentum, von „Kirche und Synagoge" punktuell mit der Zerstörung des Tempels und der Stadt Jerusalem durch die Römer im Jahre 70 n. Chr. angegeben. Tatsächlich aber ist von langwierigen Trennungsprozessen im Frühjudentum seit dem 4. Jh. v.Chr. bis hin zur frühen Jesusbewegung auszugehen. Keine Frage ist es, dass Juden und Christen trotz aller Differenzierungsprozesse im 1. bis 4. Jh. n. Chr. die gemeinsamen Glaubensgrundlagen für die eigenen Identität stärker beachteten. Der Autor: Professor Dr. Hubert Frankemölle lehrte Katholische Theologie/ Neues Testament an den Universitäten Münster und Paderborn. W. Kohlhammer GmbH • 70549 Stuttgart • Tel. 0711/ 7863 • 7280 • www.kohlhammer.de Helmut Feld lgnatius von Loyola Gründer des Jesuitenordens lgnatius von Loyola (1491-1556) gehört zu den großen Visionären der christlichen Religionsgeschichte. Als Pilger zwischen zwei geistigen Welten, der Kirche des ausgehenden Mittelalters und der durch Reformation und Tridentinum geprägten katholischen Kirche der Frühen Neuzeit, hat er die geistige und politische Stabilisierung des Katholizismus, mehr noch die Lebensart und Kunstrichtung des barocken Zeitalters entscheidend beeinflußt. Auf fundiert wissenschaftlicher Basis, dabei jedoch in verständlicher, essayistischer Weise skizziert Helmut Feld das geistige Profil des Ignatius von Loyola. Er beleuchtet neben dessen Lebensgeschichte vor allem die philosophische und theologische Vorstellungswelt, die sich in seinen schriftlichen · Werken, aber auch seinem religiösen Handeln erschließt. Im Vordergrund steht dabei die Gründung und Frühgeschichte der Gesellschaft Jesu, des späteren Jesuitenordens. 2006. XIII, 483 S. 1 farb. Frontispiz. Gb. mit SU. € 29,90 [D]/ € 30,80 [Al SFr 52,20 ISBN 978-3-41 2-33005- 7 ISBN-10 3-412-33005-1 URSULAPLATZ 1, D-50668 KöLN, TELEFON (0221) 91390-0, FAX 91390-11 z ,--l : Q ~