ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
2007
1020
Dronsch Strecker VogelCarsten Claußen Vom historischen zum erinnerten Jesus. Der erinnerte Jesus als neues Paradigma der Jesusforschung Christian Strecker Der erinnerte Jesus aus kulturwissenschaftlicher Perspektive François Vouga Erinnerung an Jesus im Johannesevangelium Francesca Yardenit Albertini Die religiöse und geschichtliche Gestalt Jesus’ von Nazareth im Denken Moses Maimonides’ Thomas Nisslmüller Jesusbilder: Mediale Bedingungen der Erinnerung Der erinnerte Jesus als Begründer des Christentums? Jens Schröter vs. James D.G. Dunn Buchreport DER ERINNERTE JESUS 4 18,- / SFr 30,90 ISSN 1435-2249 ZEITSCHRIFT NEUES TESTAMENT F Ü R Das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft Herausgegeben von Stefan Alkier, Kristina Dronsch, Ute E. Eisen Heft 20 · 10. Jahrgang (2007) 20 20 JUBI LÄUMSA USGABE JUBI LÄUMSA USGABE Impressum Inhalt Heft 20 · 10. Jg. (2007) Herausgeber Stefan Alkier Kristina Dronsch Ute E. Eisen in Verbindung mit Peter Busch Axel von Dobbeler Kurt Erlemann Gabriele Faßbeck Matthias Klinghardt Volker Lehnert Eckart Reinmuth Günter Röhser Thomas Schmeller Manuel Vogel François Vouga Bernd Wander Jürgen Zangenberg Anschrift der Redaktion Prof. Dr. Stefan Alkier Johann Wolfgang Goethe-Universität Fachbereich Evangelische Theologie Neues Testament - Geschichte der Alten Kirche z.H.: Kristina Dronsch Grüneburgplatz 1 D-60629 Frankfurt Manuskripte Zuschriften, Beiträge und Rezensionsexemplare werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Verpflichtung zur Besprechung unverlangt eingesandter Bücher besteht nicht. Anzeigen Narr Francke Attempto Verlag Telefon: (0 70 71) 97 97-0 Bezugsbedingungen Die ZNT erscheint halbjährlich (April und Oktober) Einzelheft: € 18,- / sFr 30,90 zuzügl. Versandkosten Bezugspreis jährlich: € 32,- / sFr 51,50 Vorzugspreis für Studenten jährlich: € 24,- / sFr 40,30 (Immatrikulationsbescheinigung beifügen) © 2 007 · Narr Francke Attempto Verlag Alle Rechte vorbehalten ISSN 1435-2249 Umschlagentwurf: Werner Rüb, Bietigheim-Bissingen. Satz: Fotosatz Hack, Dußlingen. Druck: Gulde, Tübingen. Bindung: Nädele, Nehren. Editorial Editorial .......................................................... 1 Neues Testament Carsten Claußen aktuell Vom historischen zum erinnerten Jesus. Der erinnerte Jesus als neues Paradigma der Jesusforschung .......................................... 2 Zum Thema Christian Strecker Der erinnerte Jesus aus kulturwissenschaftlicher Perspektive ...................... 18 François Vouga Erinnerung an Jesus im Johannesevangelium ...................................... 28 Francesca Albertini Die religiöse und geschichtliche Gestalt Jesus’ von Nazareth im Denken von Moses Maimonides’ ........................................ 38 Kontroverse Einleitung zur Kontroverse (Kurt Erlemann) .............................................. 46 Jens Schröter Der erinnerte Jesus als Begründer des Christentums? Bemerkungen zu James D.G. Dunns Ansatz in der Jesusforschung ........................ 47 James D.G. Dunn Remembering Jesus ........................................ 54 Gemeinsames Statement von James D.G. Dunn und Jens Schröter: Der »erinnerte« und der »historische« Jesus .. 60 Hermeneutik Thomas Nisslmüller und Vermittlung Jesusbilder: Mediale Bedingungen der Erinnerung ...................................................... 62 Buchreport Elena Esposito Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft. Aus dem Italienischen von Alessandra Corti. Mit einem Nachwort von Jan Assmann (stw 1557), Frankfurt a.M. 2002 (rez. von Eckart Reinmuth)............................ 73 Peter Lampe Die Wirklichkeit als Bild. Das Neue Testament als ein Grunddokument abendländischer Kultur im Lichte konstruktivistischer Epistemologie und Wissenssoziologie, Neukirchen-Vluyn 2006 (rez. v. Peter Busch)................................ 7 5 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Tübingen Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Telefon (0 70 71) 97 97-0 · Telefax (0 70 71) 97 97-11 Internet: http: / / www.francke.de · E-Mail: info@francke.de ZNT im Internet: http: / / www.znt-online.de ZNT 20 (10. Jg. 2007) 1 Editorial Liebe Leserinnen und Leser, mit großer Freude legen wir Ihnen nun bereits die zwanzigste Ausgabe der ZNT vor. Sie knüpft thematisch an das erste Heft an, das ebenfalls der Jesusforschung gewidmet war. Ging es der Startausgabe der ZNT um die damals hochaktuelle dritte Runde der Erforschung des historischen Jesus, die so genannte »Third Quest«, so befasst sich diese Ausgabe der ZNT mit einem neuen Paradigma der Jesusforschung. An die Stelle des Paradigmas »der historische Jesus«, das - in welcher Form auch immer - nach dem Einen hinter der Vielfalt der Traditionen sucht, tritt das Paradigma »der erinnerte Jesus«. Mit dieser Umorientierung wird der Vielfalt der Erinnerung Rechnung getragen, ohne die historische Forschung in die Beliebigkeit subjektiver Projektionen zu führen. Das viel versprechende neue Paradigma greift Anregungen aus der interdisziplinären Erforschung kultureller Phänomene auf und betont deren Notwendigkeit für theologisches Arbeiten, wenn es um eine sachgemäße Erfassung des Phänomens Jesus von Nazareth geht, dessen Eindruck gerade durch die schriftlich fixierte Erinnerung der Bücher des Neuen Testaments im kanonischen Zusammenhang mit den Büchern des Alten Testaments auch in der Gegenwart nachhaltige Wirkung zeitigt. Dass die Kategorie der Erinnerung dabei auch in der Lage ist, über die spezifisch christliche Erinnerung hinaus das Phänomen Jesus interreligiös und intermedial zu erforschen, zeigt der Perspektivenreichtum der in diesem Heft gesammelten Aufsätze. Leider traf der für dieses Heft geplante Aufsatz von Ömer Özsoy nicht mehr rechtzeitig für die Drucklegung ein. Wir werden ihn daher auf die Homepage der ZNT (www.znt-online.de) stellen, sobald er eingetroffen ist. Unsere Homepage soll insgesamt größeres Gewicht erhalten, indem hier auch Rezensionen zum Themenfeld »Jesus« zu finden sind sowie wertvolle Informationen und Hinweise, wie z.B. der Hinweis auf das neue, sehr gelungene von Klaus Koenen u.a. herausgegebene Internetbibellexikon (www.wibilex.de). Die Bemerkungen im Editorial von Heft 19 zum Beitrag von Gebhard Löhr konnten von einigen als negative Leserlenkung aufgefasst werden. Dafür möchten wir uns entschuldigen. Mit großem Bedauern haben wir die berufliche Veränderung von Frau Pfaller zur Kenntnis genommen, die als Lektorin des Francke-Verlags unsere Zeitschrift in den letzten Jahren betreut hat. Wir möchten uns für die ebenso freundliche wie kompetente und professionelle Zusammenarbeit bei Frau Pfaller herzlich bedanken und wünschen ihr viel Erfolg und alles Gute für ihre neuen Aufgaben. Stefan Alkier Kristina Dronsch Ute E. Eisen 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 1 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 2 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Auf welchen Jesus gründet sich der christliche Glaube? Diese Frage bewegt die wissenschaftliche Jesusforschung seit nun mehr als zwei Jahrhunderten. Dabei sind die Alternativen in ihren Grundformen einfach und klar. Entweder beginnt der christliche Glaube mit der historischen Person Jesu. Der Hamburger Orientalist H ERMANN S AMUEL R EIMARUS (1694-1768) setzte diese Frage nach dem historischen Jesus auf die Tagesordnung und gilt damit nach gängiger Auffassung als Begründer der kritischen Jesusforschung. 1 Oder aber der christliche Glaube gründet in der Bedeutung, die seine Anhänger ihm nach Ostern beimessen und die sie in den im Neuen Testament überlieferten Zeugnissen implizit oder explizit bekennen. M ARTIN K ÄHLER (1835-1912) hat in seiner kleinen Schrift »Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus« (1892) 2 beide Möglichkeiten gegenübergestellt - und sich gegen den »historische(n) Jesus der modernen Schriftsteller« und für »den lebendigen Christus« entschieden. 3 Warum? Weil »wir (...) keine Quellen für ein Leben Jesu (besitzen), welche ein Geschichtsforscher als zuverlässige und ausreichende gelten lassen kann,« 4 so begründet Kähler seine Entscheidung. Wenige Jahre später hat A LBERT S CHWEITZER mit dem Resultat einer kritischen Erledigung der Rückfrage nach dem historischen Jesus eine ausführliche »Geschichte der Leben-Jesu-Forschung« (1906) 5 vorgelegt. Er entlarvte darin die zahlreichen Leben-Jesu-Bilder ihres projektiven Charakters. Die jeweiligen Autoren der verschiedensten Jesusbücher hatten mehr von sich selbst erzählt als von Jesus von Nazareth. So erschien es nach dieser Generalabrechnung und Bankrotterklärung der historischen Jesusforschung nur konsequent, dass R UDOLF B ULTMANN die Verkündigung Jesu in den Bereich der Voraussetzungen seiner neutestamentlichen Theologie verwies, mit Jesus als dem Gekreuzigten und Auferstandenen einsetzte und sich auf die Verkündigung der Christusbotschaft konzentrierte. 6 Andere dagegen, etwa J OACHIM J EREMIAS , setzten in ihrer Darstellung der neutestamentlichen Theologie weiterhin explizit beim historischen Jesus ein. 7 Wieder andere wie E RNST K ÄSEMANN sahen gerade um des von R UDOLF B ULTMANN so sehr betonten christologischen Kerygmas die Rückfrage nach dem historischen Jesus als geboten an, weil der irdische Jesus mit dem erhöhten Christus in den neutestamentlichen Schriften als identisch vorausgesetzt sei. 8 Seit P ETER M ÜLLER vor nun fast zehn Jahren in der ersten Nummer der Zeitschrift für Neues Testament einen ebenso informativen wie differenzierten Beitrag unter dem Titel »Neue Trends in der Jesusforschung« 9 veröffentlichte, ist der unaufhörliche und kaum überschaubare Strom immer neuer populärer und wissenschaftlicher Jesusbücher nicht abgerissen. Als Müller seinen Lesern und Leserinnen Überblick verschaffte, konnte er seinen damaligen Standpunkt noch »mitten in der ›dritten Fragerunde‹« der historischen Jesusforschung, 10 der sogenannten »Third Quest«, verorten. Was ist aus diesem Neuansatz geworden? 1. Erinnerungen an die Anfänge der »Third Quest« Was 1998 noch wie eine klar definierbare Epoche der Leben-Jesu-Foschung erschien, nötigt heute angesichts der nicht abreißenden Flut neu erscheinender Jesusbücher mehr denn je nach einer kritischen Rückfrage, - nicht nur nach dem historischen Jesus selbst, sondern nach der Kohärenz und Konsistenz der gegenwärtigen Forschungslage. Als der britische Neutestamentler T OM W RIGHT 1988 in einem forschungsgeschichtlichen Überblick den Begriff der »Third Quest« prägte, 11 war ihm die Vielschichtigkeit dieser neuen Bewegung durchaus bewusst. In Absetzung zur von E RNST K ÄSEMANN 1953 eingeläuteten Phase der von J AMES M. R OBINSON so benannten »New Quest«, der neuen Rückfrage nach dem historischen Jesus, sah Wright vor allem seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts »eine durchaus ande- Neues Testament aktuell Carsten Claußen Vom historischen zum erinnerten Jesus. Der erinnerte Jesus als neues Paradigma der Jesusforschung 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 2 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 3 Carsten Claußen Vom historischen zum erinnerten Jesus re Bewegung (...) an einer Vielzahl von Orten und ohne einheitlichen Hintergrund oder Programm.« 12 Unter dem Einfluss der unterdessen viel leichter zugänglichen jüdischen Quellen seien eine Reihe von Forschern als Historiker aufgebrochen, um in Absetzung von den Schülern R UDOLF B ULTMANN s nun zu behaupten, dass man durchaus viel über Jesus von Nazareth wissen könne und dass sich damit auch ein lohnenswerter Erkenntnisgewinn erzielen lasse. Als die vier herausragenden Beiträge dieser dritten Suche nach dem historischen Jesus nennt Wright Werke von B EN F. M EYER - »The Aims of Jesus« (1979) 13 -, A NTHONY E. H ARVEY - »Jesus and the Constraints of History« (1980) 14 - M ARCUS J. B ORG - »Conflict, Holiness and Politics in the Teachings of Jesus« (1984) 15 und E.P. S ANDERS - »Jesus and Judaism« 16 (1985). Bereits diese wenigen Werke offenbaren eine große Bandbreite höchst unterschiedlicher Jesusbilder. War das zentrale Thema der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu die Wiederherstellung Israels (Meyer) oder könne man dies eher vernachlässigen (Harvey)? 17 Ist Jesus für seine Landsleute als politischer Verräter gegenüber den jüdischen Freiheitsbestrebungen seiner Zeit einzuordnen und zugleich als Weiser (»sage«) und als Heiliger (»holy man«) 18 zu charakterisieren (Borg)? Oder muss Jesus - unter dem Eindruck seiner Taten, nicht etwa seiner Verkündigung, wie Meyer betonte - im Rahmen einer jüdischen Eschatologie verstanden werden, die auf die Wiederherstellung Israels (»restoration eschatology«) hofft, ohne dass er selbst in einem politischen Sinne darauf hingewirkt habe (Sanders)? Will man diese zweifellos herausragenden Jesusbücher auf einen Nenner bringen, so bleibt kaum mehr als die Verortung Jesu inmitten des palästinischen Judentums seiner Zeit. Man mag dafürhalten, dass eine solche Sicht der Dinge seit den 80er Jahren geballt auftrat. Neu ist die Darstellung eines jüdischen Jesus jedoch keinesfalls. Bereits J OSEF K LAUSNER hatte Jesus Anfang des 20. Jahrhunderts als Vertreter einer beeindruckenden jüdischen Ethik dargestellt. 19 C LAUDE J.G. M ONTEFIORE stellte Jesus in die Reihe mit den großen jüdischen Propheten 20 und für R OBERT E ISLER war er ein jüdischer Rebell, der in einer späteren Phase seines Lebens mit Gewalt den Tempel erobert habe und schließlich in der Auseinandersetzung mit den Römern gescheitert sei. 21 Auch D AVID F LUSSER 22 und G EZA V ERMES 23 veröffentlichen Jahre vor der »Third Quest« ihre jüdischen Jesusbücher. Auf christlicher Seite hatte bereits die religionsgeschichtliche Schule Anfang des 20. Jahrhunderts herausgearbeitet, dass Jesus theologisch ins Judentum gehöre. So formulierte etwa J ULIUS W ELLHAUSEN pointiert: »Jesus war kein Christ, sondern Jude.« 24 Und Neutestamentler wie A DOLF S CHLATTER und J OACHIM J ERE - MIAS unternahmen es in zahlreichen Veröffentlichungen, Jesus vor dem Hintergrund des antiken Judentums zu verstehen. So ist die frühe Phase der »Third Quest« letztlich kaum mehr als ein Neuansatz, mit dem sich jedoch die Erkenntnis, Jesus im Judentum zu verorten, auf breiter Front durchsetzte. War der gemeinsame Nenner also bereits in der Anfangsphase der »Third Quest« sehr klein, so zeigte sich in der Folgezeit, dass neue Forschungsansätze und -perspektiven keinesfalls das Weiterleben oder Wiederaufleben älterer Ansätze verhindern. D ALE A LLISON weist mit Recht darauf hin, dass die einzelnen »quests« keinesfalls als klar abgrenzbare Epochen zu denken seien. 25 So erschienen auch während der »no quest« R UDOLF B ULTMANN s zahlreiche, dem historischen Jesus gewidmete Jesusbücher und mitten in der »Third Quest« kehrte das sogenannte »Jesus Seminar« zu einem Feilschen um die Authentizität der Jesuslogien zurück, wie es eher für manche Teile der 61 V D D L F Z ( J Carsten Claußen Carsten Claußen, Jahrgang 1966, ist Wissenschaftlicher Assistent an der Abteilung für Neutestamentliche Theologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität München. Er wurde dort 1999 mit einer Arbeit über antike Synagogen promoviert. Derzeit arbeitet er an seiner Habilitation über das Gebet Jesu in Joh 17. 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 3 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 4 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Neues Testament aktuell »New Quest« typisch gewesen war. So kann eine Einteilung der historischen Jesusforschung nur noch sehr zurückhaltend nach chronologischen Gesichtspunkten verfahren. Entsprechend lassen sich für die »Third Quest« im Rückblick nur noch wenige, jeweils eine größere Zahl von Forschungsbeiträgen verbindende Charakteristika festhalten. Neben der bereits erwähnten Einordnung Jesu ins Judentum lässt sich vor allem ein gesteigertes Interesse an sozialgeschichtlichen Perspektiven beobachten, die meist an die Stelle der in der »New Quest« sehr dominanten theologischen Fragestellungen traten. An die Stelle des Differenzkriteriums trat mit der »Third Quest« das historische Plausibilitätskriterium. Schließlich erweiterte sich der Horizont der Quellen. Neben einem gesteigerten Interesse an der rekonstruierten Logienquelle wurde auch das außerbiblische Thomasevangelium verstärkt in die Jesusforschung eingebunden und signalisierte damit zugleich das Zurücktreten der Kanongrenze. Doch gilt dies noch für die jüngste Gegenwart? Oder müssen wir gar bereits von einer »Fourth Quest« sprechen, wie einige wenige Forscher es postulieren oder konstatieren? 26 Auf der Suche nach Antworten auf diese Fragen wird es zunächst darum gehen, einige Werke kurz vorzustellen, die in besonderer Weise den gegenwärtigen Diskussionsstand der Jesusforschung repräsentieren. Davon ausgehend ist zu fragen: Womit hat die historische Jesusforschung es in der Gegenwart besonders zu tun? Hier lassen sich vor allem drei Bereiche benennen: Den Versuch, unter besonderer Berücksichtigung der in der Logienquelle zusammengefassten Jesusworte, auf möglichst authentisches Material zurückzugreifen; die verstärkte Hinzuziehung archäologischer Befunde; und schließlich die Erforschung der Mechanismen, unter denen mündliche Überlieferung auf dem Weg zu den neutestamentlichen Evangelien erfolgte. Doch zunächst ein Blick auf einige neuere Publikationen der Jesusforschung. 2. Neue Bücher - neue Trends Die Zahl neuer Jesusbücher reißt nicht ab, nimmt sogar stetig zu, und gelegentlich mag man sich mit D ALE A LLISON fragen, ob es nicht einfach nur mehr Neutestamentler und Verlage als früher gebe, die bereit seien, deren Bücher zu publizieren. 27 Doch egal wie man dieses stetige Anwachsen der Jesusliteratur deuten mag, auf keinen Fall kann ein Artikel zur historischen Jesusforschung wie dieser enzyklopädischen Ansprüchen genügen, sondern muss nach Bemerkenswertem und möglichst Neuem Ausschau halten. So fällt die Auswahl im Bewusstsein der Selbstbeschränkung auf drei englischsprachige und ein deutschsprachiges Werk, die auf je verschiedene und doch vergleichbare Weise den Graben zwischen dem sogenannten historischen Jesus und dem sogenannten Christus des Glaubens überbrücken wollen. Setzt J AMES D.G. D UNN dabei auf die Erinnerungen der Nachfolger Jesu so betont R ICHARD B AUCK - HAM die Bedeutung der Augenzeugen für die Entstehung der neutestamentlichen Evangelien. G ERD T HEISSEN bietet eine differenzierte Sicht der Trägergruppen der mündlichen Jesusüberlieferung. Einen Schritt über die historische Jesusforschung hinaus widmet sich L ARRY W. H URTA - DO der Verehrung Jesu Christi als Herr. 2.1. Der erinnerte Jesus Gleichsam mit einem Paukenschlag eröffnete der britische Neutestamentler J AMES D.G. D UNN mit seinem Vortrag »Altering the Default Setting: Reenvisaging the Early Transmission of the Jesus Tradition« 28 eine neue Forschungsrunde zur Frage nach der mündlichen Überlieferungsgeschichte der Jesusüberlieferung. Schon der Titel verhieß, dass es Dunn um nichts Geringeres als einen Paradigmenwechsel ging, der zwischenzeitlich in seinem Werk »Jesus Remembered« ausführlicher formuliert vorliegt. 29 Hatte sich die historische Jesusforschung bisher unter dem Einfluss der Quellenkritik vor allem mit schriftlichen Vorstufen der synoptischen Tradition beschäftigt, so drängte Dunn nun dazu, der Beobachtung, dass die Evangelien aus mündlicher Überlieferung hervorgegangen seien, mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Ursprünglicher Ausgangspunkt der mündlichen Überlieferung sei dabei der Eindruck (»impact«), den Jesus während seines irdischen Wirkens hinterlassen habe. 30 Dunn weist darauf hin, dass Jesus schon vor Ostern Glauben hervorgerufen habe. 31 Entsprechend groß sei die Kontinuität zwischen dem vorösterlichen Jesus und 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 4 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 5 Carsten Claußen Vom historischen zum erinnerten Jesus dem Jesus der Evangelien. »Die Idee, dass wir durch die Glaubensperspektive der neutestamentlichen Schriften hindurch einen Jesus sehen könnten, der nicht Glauben hervorgerufen oder Glauben auf eine andere Art hervorgerufen habe, ist eine Illusion. Einen solchen Jesus gibt es nicht.« 32 Insofern folgt Dunn der Entscheidung Kählers zu Gunsten des »lebendigen Christus« gegen den »historische(n) Jesus moderner Schriftsteller« 33 und weigert sich, Jesus vom Glauben zu trennen. Die parallelen Überlieferungen der Synoptiker dienen Dunn dazu, sowohl die Stabilität der Überlieferung als auch die Abweichungen als Folge der mündlichen Performanzen zu erklären. Hier wirkt sich seine grundlegend veränderte Sicht mündlicher Überlieferungsprozesse aus. Er schreibt: »Es bestätigt sich, dass das Modell literarischer Überarbeitung vollkommen ungenügend ist: in mündlicher Überlieferung (›oral tradition‹) ist das Erzählen einer Geschichte in keiner Weise die Überarbeitung eines früheren Erzählvorgangs; vielmehr beginnt jeder Erzählvorgang mit demselben Gegenstand und Thema, aber Nacherzählungen sind unterschiedlich: jeder Erzählvorgang ist eine Performanz der Tradition selbst, nicht etwa der ersten oder der dritten oder der 21. Überarbeitung der Tradition. Dementsprechend sollten wir die mündliche Weitergabe der Jesustradition als eine Folge von Nacherzählungen ansehen, bei denen jede bei demselben Vorrat gemeinschaftlich erinnerter Ereignisse und Lehre einsetzt und jede den gemeinsamen Bestand in verschiedenen Mustern für verschiedene Kontexte zusammenwebt.« 34 Dieses Modell übernimmt Dunn von dem amerikanischen Neutestamentler K ENNETH E. B AILEY , dessen Werk weiter unten noch ausführlicher dargestellt wird. Zunächst einmal ist nur wichtig festzuhalten, dass dieses Modell einer mündlichen Überlieferung durch immer wieder neue Performanzen im Grundbestand eine zuverlässige Weitergabe der Tradition leisten kann, während die konkreten Erzählungen durchaus voneinander abweichen können. Damit legt Dunn ein Erklärungsmodell vor, mit dem es zugleich möglich ist, Konstanz und Abweichungen der in den Evangelien verschrifteten Jesusüberlieferungen als Folge ihrer mündlichen Vorgeschichte plausibel zu machen. Die Jesusüberlieferungen gehen damit einerseits im Kern auf Jesus zurück und führen zu einem weitgehend kohärenten Jesusbild der synoptischen Tradition. Als Erinnerungen der Tradenten sind sie jedoch Bearbeitungen und Veränderungen unterworfen. Entsprechend diesem Modell definiert Dunn Jesus als den »erinnerten Jesus« (»the remembered Jesus«). 35 2.2. Der Jesus der Augenzeugen Der im schottischen St. Andrews lehrende Neutestamentler R ICHARD B AUCKHAM vertritt in seiner Monographie »Jesus and the Eyewitnesses. The Gospels as Eyewitness Testimony« die These, dass die neutestamentlichen Evangelisten direkten Zugang zu Augenzeugenberichten gehabt hätten. 36 Damit sei die Dichotomie zwischen dem historischen Jesus und dem Christus des Glaubens verfehlt. Stattdessen sei von einem »Jesus of testimony« - also einem Jesus des Zeugnisses - auszugehen. In dieser Kategorie verbindet sich für Bauckham der irdische mit dem nachösterlichen Jesus. Bauckham geht von einer kurzen Zeitspanne bis zur Abfassung der Evangelien aus, in der die Evangelisten noch Zugang zu Augenzeugenberichten gehabt hätten. Er kritisiert im Gegenzug die Anwendung von Modellen auf die Jesusüberlieferung, die sich der Traditionsweitergabe über mehrere Generationen widmen. Als Beispiel solcher Wertschätzung gegenüber Augenzeugenberichten führt Bauckham den Bischof P APIAS von Hierapolis (frühes 2. Jh. n.Chr.) an. Von jenem sei bekannt, dass er die Berichte von Augenzeugen Jesu sehr geschätzt habe. 37 Ebenso hätten auch die Evangelisten Augenzeugen Jesu befragen können. Für eine den historischen Ereignissen damit zeitlich sehr nahe kommende Weitergabe von Mund zu Mund bevorzugt Bauckham den Terminus »mündlich überlieferte Geschichte« (»oral history«) gegenüber mündlicher Überlieferung (»oral tradition«). 38 Die konkreten Augenzeugen vermutet Bauckham hinter jenen Namen, die in jeweils einem Evangelium aber nicht in den anderen genannt werden, wie zum Beispiel Bartimäus, Alexander und Rufus (alle nur Mk), Kleopas (Lk) oder Lazarus (Joh). Solche namentlich genannten Personen gehörten zur frühesten Überlieferungsstufe und seien als Garanten der berichteten Ereignisse anzusehen. 39 Zusätzlich seien die Zwölf für den Inhalt der Jesusgeschichte insgesamt verantwortlich. 40 Aber sind die Berichte von Augenzeugen per 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 5 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 6 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Neues Testament aktuell se wirklich als zuverlässig einzustufen, wie Bauckham es suggeriert? Der gelegentlich von Zeitgeschichtlern süffisant zitierte Spruch, dass der Zeitzeuge der Feind des Historikers sei, enthält eine berechtigte Anfrage. Auch die Erinnerung von Zeit- und Augenzeugen ist dem Wandel und der Interpretation unterworfen. So verspricht Bauckham mehr als seine Zeugen halten können. Auch Papias verweist schließlich nicht auf Petrus als Augenzeugen, sondern berichtet, dass selbst »Petrus (...) seine Lehrvorträge nach den Bedürfnissen einrichtete« 41 und dass die Zuhörer des Petrus Markus gebeten haben, »er möchte ihnen schriftliche Erinnerungen an die mündlich vorgetragene Lehre hinterlassen.« 42 Der Begriff der Erinnerung ist darum gegenüber dem der Augenzeugenschaft zweifellos der für die mündliche Weitergabe von Überlieferungen tragfähigere, weil er die Balance zwischen den vergangenen Ereignissen und den Interessen und Besonderheiten der Tradenten halten kann. Insofern droht im Begriff des »Jesus der Augenzeugen(schaft)« oder des »Zeugnisses« (»Jesus of testimony«) die Bedeutung des Osterereignisses für die Erinnerung zu verschwimmen. Eine Unterscheidung des historischen Jesus vom Christus des Glaubens ist perspektivisch allemal sinnvoll. Gegen ein Auseinanderreißen und gegeneinander Ausspielen der beiden Perspektiven wehrt Bauckham sich mit Recht, jedoch methodisch wenig überzeugend. 2.3. Der vielfältig überlieferte Jesus Das kleine Bändchen »Das Neue Testament« 43 von G ERD T HEISSEN ist natürlich kein Jesusbuch. Es verfügt auch nicht über einen riesigen Apparat von Fußnoten. Jedoch besticht es durch Klarheit und sei gerade jenen Lesern und Leserinnen empfohlen, die einen schnellen Zugang zu fundiertem Wissen haben wollen. In deutlicher Absetzung von der klassischen Formgeschichte zeichnet Theißen auf wenigen Seiten 44 die verschiedenen Überlieferungswege der synoptischen Tradition nach. Er unterscheidet dabei die Überlieferungen der Wandercharismatiker, die sich in der Logienquelle finden, die Passionsgeschichte und die synoptische Apokalypse, die von den frühchristlichen Ortsgemeinden überliefert wurde und die Wundergeschichten als Überlieferungen im Volk. Im Hintergrund steht Theißens soziologische Unterscheidung zwischen Wandercharismatikern und ortsfesten Sympathisanten. 45 Für die Überlieferung der Wundergeschichten stützt Theißen sich auf Angaben wie Mk 1,28, nach denen sich Gerüchte von Jesus Heilungen und Exorzismen schnell in ganz Galiläa verbreiteten. Wie noch ausführlicher darzustellen sein wird, enthält die Logienquelle nicht nur Spruchmaterial, das sich auf Wandercharismatiker beschränkt, sondern auch Logien, die Sesshaftigkeit voraussetzen. Jesus selbst scheint Kapernaum zum Ausgangspunkt seiner Mission gemacht zu haben 46 und war damit nicht ständig auf Wanderschaft. Lässt man jedoch diese konkreten Einschränkungen einmal bewusst beiseite, so stellt die soziologische und damit etwas schematische Zuordnung bestimmter Gattungen zu konkreten Gruppierungen aus der Geschichte der Jesusbewegung eine durchaus plausible Rekonstruktion der Überlieferung der synoptischen Tradition von Jesus und seinen Jüngern über Wandercharismatiker, Ortsgemeinden und das Volk bis hin zu den Evangelisten dar, die bei den unterschiedlichen Trägergruppen verschiedene Jesusmaterialien abrufen konnten. Damit wird auch bei Theißen ein Traditionskontinuum sichtbar, das bei der Verkündigung und Lehre des historischen Jesus ansetzt und den Überlieferungsweg bis zu den Synoptikern beschreibt. 2.4. Jesus Christus - der Herr Mit dem monumentalen Werk »Lord Jesus Christ. Devotion to Jesus in Earliest Christianity« des in Edinburgh lehrenden Neutestamentlers L ARRY W. H URTADO verlassen wir die historische Jesusforschung im engeren Sinne. Genau 90 Jahre nach dem Erscheinen von W ILHELM B OUSSET s Werk »Kyrios Christos« 47 widmet sich Hurtado der Christusverehrung im Zeitraum von etwa 30 n.Chr. bis etwa 170 n.Chr. Ist Bousset auch der vornehmliche Gesprächspartner Hurtados, so »Der Begriff der Erinnerung ist darum gegenüber dem der Augenzeugenschaft zweifellos der für die mündliche Weitergabe von Überlieferungen tragfähigere ...« 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 6 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 7 Carsten Claußen Vom historischen zum erinnerten Jesus setzt sich dieses neue Werk doch deutlich von jenem Klassiker und der religionsgeschichtlichen Schule ab. Eine Würdigung dieser Aspekte würde angesichts der thematischen Fokussierung dieses Aufsatzes zu weit führen. Hurtado widmet sich ja gerade der nachösterlichen Verehrung Christi und eben nicht ausführlicher dem historischen Jesus. Darum ist es jedoch umso bemerkenswerter, dass auch Hurtado den Beginn der Jesusverehrung eindeutig beim vorösterlichen Jesus ansetzt. Mit Worten, die bisweilen an Dunns »Jesus remembered« erinnern, stellt Hurtado fest: »Ich schlage vor, dass der einzige vernünftige Faktor, der für die zentrale Stellung der Figur Jesu im frühen Christentum verantwortlich ist, der Eindruck (impact) des Dienstes Jesu und dessen Konsequenzen, vor allem für seine Nachfolger, ist.« 48 Damit setzt selbst ein Werk wie dieses, das sich als Schwerpunkt die nachösterliche Verehrung Christi gesetzt hat, bei den Erfahrungen Jesu und seiner Jünger ein. Die Identität des nachösterlich verehrten Christus mit dem vorösterlichen Jesus wird auch bei Hurtado vorausgesetzt. Zusammenfassend lässt sich für diese vier Werke das Bemühen um die Überbrückung zwischen den ältesten mündlichen Stufen der Jesusüberlieferung und den verschrifteten neutestamentlichen Evangelien und damit zugleich zwischen dem vorösterlichen Jesus und dem Christus des Glaubens festhalten. 3. Logien, Steine und Performanzen Mit demselben Ziel hat sich in jüngerer Zeit auch die Beschäftigung mit der Logienquelle Q, mit archäologischen Befunden Palästinas und, wie schon angedeutet, mit den Mechanismen mündlicher Überlieferung verstärkt. 3.1. Logien: auf der Suche nach den authentischen Worten Jesu Bereits 1838 vermutete der Leipziger Philosoph C HRISTIAN H ERMANN W EISSE als erster, dass der bei Mt und Lk gemeinsame Nicht-Mk-Stoff auf eine gemeinsam benutzte Quelle zurückginge. Dies ergab sich aus der Annahme der Markuspriorität und führte insgesamt erstmalig zu einer umfassenden Begründung der Zweiquellentheorie. Später wies A DOLF VON H ARNACK in seiner Untersuchung der »Sprüche und Reden Jesu. Die zweite Quelle des Matthäus und Lukas« 49 (1907) darauf hin, dass vorwiegend »die moralische Lehre« 50 Auswahl und Anordnung des Q-Stoffes bestimmten und im Gegensatz zu Mk, Mt und Joh keine »christologisch-apologetische (...) Interessen« 51 habe. Entsprechend zeichnet Harnack ein eher undogmatisch, ethisches Bild der Person Jesu nach Q. 52 Damit war die Logienquelle zunächst und für lange Zeit lediglich als eine bloße Materialsammlung von paränetischen Jesusworten angesehen worden, mit der Mt und Lk den Markusstoff ergänzt hatten. Erst seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts kam es zu einer genaueren Untersuchung des literarischen und theologischen Profils, worauf im Folgenden noch näher einzugehen sein wird. Im Kontext der historischen Jesusforschung hat Q mittlerweile eine äußerst prominente Stellung erreicht. So urteilen G ERD T HEISSEN und A NNETTE M ERZ durchaus repräsentativ: »Q ist zweifellos die wichtigste Quelle zur Rekonstruktion der Lehre Jesu.« 53 Sie gestehen jedoch sogleich zu, dass auch die Logienquelle offensichtlich die Rekonstruktion »ganz verschiedene(r) Jesusbilder« 54 zulasse. Doch wie belastbar sind jene auf die Quelle Q sich stützenden Rekonstruktionsversuche überhaupt? Immerhin liegt sie nur als Hypothese vor, die ihre Plausibilität der Zwei-Quellen-Theorie verdankt. Sicherlich, soviel ist nicht zu bezweifeln: Mt und Lk weisen im Nicht-Markus- Stoff auffällige Überschneidungen auf. Insofern die Markuspriorität grundsätzlich die höchste Plausibilität aufweist, tritt Q neben Mk als zweite Hauptquelle der synoptischen Tradition. Die Perikopenreihenfolge deutet neben der hohen Wortsymmetrie gerade in längeren Einheiten und dem Auftreten von Dubletten und Doppelüberlieferungen mit höherer Wahrscheinlichkeit auf die Vorlage einer schriftlichen Form der Logienquelle für Mt und Lk hin. 55 Doch gerade angesichts des hohen Ranges, den Q in der gegenwärtigen Jesusforschung genießt, ist umso präziser nach den Grenzen der Q-Hypothese zu fragen, will man nicht unkontrolliert Rekonstruktionsversuche, Annahmen, Ableitungen und schließ- 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 7 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 8 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Neues Testament aktuell lich Spekulationen auf für notgedrungen immer plausibler gehaltene Hypothesen aufbauen. So fragt A NDREAS L INDEMANN mit vollem Recht: »Wenn schon die Annahme der Existenz von Q eine - wenn auch sehr gut begründete - Hypothese ist, dann muß die Frage erlaubt sein, ob es methodisch wirklich vertretbar ist, diese Hypothese zu erweitern durch die zusätzliche Annahme, es ließen sich die im Verlaufe einer längeren oder kürzeren Traditions- und Redaktionsgeschichte entstandenen Veränderungen des ohnehin nur hypothetisch rekonstruierbaren Q-Textes wirklich im einzelnen aufweisen.« 56 Einen Architekten, der bei dem Aufschichten immer neuer Stockwerke nicht nach der Tragfähigkeit des Fundamentes fragt, würde man mit Recht für töricht halten. So ist etwa grundsätzlicher nach dem als gesichert geltenden Umfang, der Rekonstruktion der Textentstehung und schließlich in aller Nüchternheit nach der Bedeutung der Logienquelle für die historische Jesusforschung zu fragen. 57 3.1.1. Eine Reihe älterer und neuerer Textausgaben der Logienquelle 58 erwecken unwillkürlich den Eindruck, als sei deren Textbestand gesichert. Genau genommen liegt uns jedoch nur die Mt und Lk gemeinsame Textmenge des Nicht-Markus-Stoffes als Q vor. Ungeklärt bleibt dagegen, ob auch im matthäischen oder im lukanischen Sondergut Q-Stoffe erhalten sind, die einer der beiden Q-Rezipienten aus unbekannten Gründen weggelassen haben mag. Auch könnte Q ursprünglich noch weitere Texte enthalten haben, die Mt und Lk beide nicht aufgenommen haben. Schließlich bleibt ungewiss, ob eine Reihe von »Q-Texten«, die in das literarische oder theologische Profil der Aussagen Jesu insgesamt nur schwer einzugliedern sind, überhaupt jemals zur Logienquelle oder allenfalls zu einer bestimmten nur sehr spekulativ zu erschließenden Redaktionsschicht von Q gehört haben. Exemplarisch ist auf einige Texte hinzuweisen. Wie passt etwa die Gerichtspredigt Johannes des Täufers (Lk 3,7-9 / Mt 3,7-10) an den Anfang einer Sammlung von Worten Jesu? Wäre dieser Text nicht wahrscheinlicher einer unabhängigen Einzelüberlieferung zuzuweisen, mit der Mt und Lk die markinische Täuferüberlieferung (Mk 1,7- 8) ergänzt hätten, gerade weil Mk 1,8a.7b.8b eine deutliche Nähe zu Lk 3,16b / Mt 3,11 aufweisen? Zu alledem vermeidet Q auch noch die explizite Zuschreibung an Johannes, die Mt 3,1-6 und Lk 3,1-6 im Anschluss an Mk 1,1-6 vornehmen. Nicht weniger problematisch ist die sich unmittelbar anschließende Erzählung von der Versuchung Jesu zu bewerten. Nicht nur deren Gattung, sondern auch die fehlende Anbindung an die Täuferpredigt werfen die Frage auf, »ob diese Erzählung möglicherweise überhaupt nicht als zur Logienquelle gehörig anzusehen ist.« 59 Sicherlich sind die Übereinstimmungen der jeweiligen Fassung der Versuchungsgeschichte in Lk 4,1-13 und Mt 4,1-11 groß genug, um eine gemeinsame Quelle plausibel erscheinen zu lassen. Zur Logienquelle passt dieser Text dagegen ausgesprochen schlecht und nötigt zur Frage nach einer späteren Redaktionsschicht. 60 Ungewöhnlich innerhalb einer Spruchquelle erscheint auch die als einzige Wundergeschichte Q zugeschriebene Heilungserzählung vom Hauptmann von Kapernaum (Lk 7,1-10 / Mt 8,5- 10.13b / Joh 4,46b-53). Wie eine Reihe anderer Texte, die sich angeblich von einer ältesten Schicht von weisheitlichen Sprüchen und Sprichwörtern abheben, so versucht etwa J OHN S. K LOPPENBORG V ERBIN als prominentester Q-Forscher innerhalb des sogenannten Jesus-Seminars diese Erzählung der Hauptredaktion zuzuweisen. 61 Damit sind wir bei der Frage nach der Entstehung von Q. 3.1.2. Für die Entstehungsgeschichte von Q konkurrieren gegenwärtig vor allem zwei Modelle: J OHN S. K LOPPENBORG V ERBIN vertritt ein dreistufiges Redaktionsmodell. Eine ursprüngliche Schicht von weisheitlichen Spruchgruppen wurde durch eine erste Redaktion zu einer schriftlichen Sammlung von weisheitlichen Reden zusammengefasst (Q 1 ). Die Hauptredaktion (Q 2 ) erweiterte den Textbestand um prophetischapokalyptisches Material. Eine dritten Redaktionsschicht (Q 3 ) 62 entstand durch Hinzufügung der Versuchungsgeschichte und zwei das Gesetz betreffende Jesusworte. 63 P AUL H OFFMANN vertritt dagegen ein Modell mit nur einer Redaktion. Er unterscheidet »zwischen der Q-Tradition, in der Sprüche und Spruchgruppen weisheitlicher und nichtweisheitlicher Prägung durch Israel-Prediger tradiert und gesammelt wurden, und der Q-Redaktion (...), die für deren Verschriftlichung verantwortlich ist.« 64 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 8 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 9 Carsten Claußen Vom historischen zum erinnerten Jesus Solche Rekonstruktionen gehen jeweils von einer einlinigen Entwicklung von Tradition und Redaktion hin zu einer Endfassung von Q aus, die Mt und Lk in schriftlicher Form vorgelegen habe. Bei aller Parallelität sind jedoch die Differenzen innerhalb des Q-Materials bei Mt und Lk nicht selten erheblich. So sind etwa in der ersten Hälfte der Heilungserzählung vom Hauptmann zu Kapernaum die Unterschiede bedeutend (v.a. Lk 7,2b-7a / Mt 8,5b-7), während die Übereinstimmungen in der zweiten Hälfte überwiegend wörtlich sind (v.a. Lk 7,7b-9a / Mt 8,8b-9). Durchgängig bemerkenswert sind die Unterschiede in den beiden Fassungen der Parabel von den anvertrauten Talenten (Lk 19,12-27 / Mt 25,14-30). Entweder handelt es sich hier jeweils um eine gravierende redaktionelle Bearbeitung oder sogar um zwei unterschiedliche Fassungen der Logienquelle: Q Mt und Q Lk . Gingen diese dann ihrerseits auf eine einzige Q-Fassung zurück, die dann zu zwei unabhängigen redaktionellen Rezensionen bearbeitet worden sind oder ist die Vorstellung einer »Urfassung« von Q generell abzulehnen? Wie auch immer man votieren mag, die Konsequenzen für die Rekonstruktion einer oder mehrerer Theologien der (oder einer) Spruchsammlung wären beträchtlich. 3.1.3. Wie lässt sich angesichts der benannten Unwägbarkeiten und Anfragen die Bedeutung der Logienquelle Q für die moderne Jesusforschung bewerten? Wie bereits kurz erwähnt, sieht G ERD T HEISSEN in Q die Überlieferungen der Wandercharismatiker. 65 Sie hätten den Lebensstil und die Predigt Jesu fortgeführt und dessen Logien gesammelt und verbreitet. 66 Einzelne Q-Sprüche scheinen Heimatlosigkeit (Lk 9,58), Familienkritik (Lk 12,51-53; Lk 14,26), Kritik an Reichtum (Lk 6,20; 12,22) und Gewaltverzicht (Lk 6,27- 38) zu spiegeln. Andere Verse setzen Sesshaftigkeit voraus, etwa die Gleichnisse von Senfkorn und Sauerteig (Lk 13,18-21), das Verbot der Ehescheidung (Lk 16,18) oder die Warnung an den Hausherrn vor einem Dieb (Lk 12,39). 67 Auch der in der neueren Q-Forschung so beliebte Versuch, die Logienquelle einer postulierten Q-Gemeinde zuzuschreiben, 68 muss angesichts solch verschiedenartiger Spiegelungen mit Vorsicht betrachtet werden, wie die Sichtweise, Q »primär als individuelle Sammlung eines Autors oder Kompilators zu sehen.« 69 Aus dem Fehlen einer Passionsgeschichte Schlüsse auf das Fehlen einer Vorstellung vom Tode Jesu als Heilstod zu ziehen, erscheint ebenfalls durchaus problematisch. Die Aufforderung, sein Kreuz zu tragen (Lk 14,27 / Mt 10,38), Jesu Klage über Jerusalem (Lk 13,34-35 / Mt 23,37-39) 70 und das gewaltsame Geschick der Propheten werfen die Frage auf, ob diese Q-Texte ohne ein Wissen um die Passion Jesu überhaupt verständlich wären, auch wenn Q vielleicht einem Verständnis des Todes Jesu als das eines Propheten nähersteht (Lk 11,49-51). Die gattungsgeschichtliche Einordnung führt bei aller durch die erzählerischen Einheiten bedingten Unschärfe zunächst am ehesten zur Benennung als Spruchsammlung. 71 Will man die Zusammengehörigkeit größerer Abschnitte betonen, so erscheint auch die Bezeichnung als »Redenquelle« angebracht. 72 Soviel dürfte jedoch klar sein: Vergleicht man Q mit Mk, so erscheint die Gattungsbezeichnung »Evangelium« für die Logienquelle als nicht angebracht. 73 Selbst wenn die wenigen erzählerischen Texte biographische Anteile von Q darstellen, so wirkt sich das Fehlen der Passionsgeschichte doch entscheidend aus. Abschließend ist nochmals nüchtern festzustellen, dass wir Q lediglich als hypothetische Rekonstruktion haben. Jeglicher Versuch, wahrscheinlich zu machen, was der Logienquelle gefehlt habe, etwa eine Passionsgeschichte, oder welche Redaktionsschichten in welcher chronologischen Reihenfolge zu rekonstruieren sind, oder der Versuch eine Q-Gemeinschaft hinter dem Text postulieren oder gar rekonstruieren zu wollen, ist und bleibt höchst spekulativ. 74 Nicht nur die verschiedenen Q-Schichten, die J.S. K LOPPENBORG V ERBIN glaubt voneinander abheben zu können, erinnern an die Schichten einer archäologischen Grabung. Auch der Buchtitel »Excavating Q« (Q ausgraben) geht in diese Richtung. Diese Anspielung übernehmen J OHN D OMINIC C ROS - SAN und J ONATHAN L. R EED für ihr Werk »Excavating Jesus« (Jesus ausgraben), in dem es nicht nur um die zehn größten exegetischen Entdeckungen, sondern vor allem um die zehn für die »Abschließend ist nochmals nüchtern festzustellen, dass wir Q lediglich als hypothetische Rekonstruktion haben.« 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 9 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 10 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Neues Testament aktuell historische Jesusforschung bedeutendsten archäologischen Entdeckungen geht. 3.2. Steine: auf der Suche nach der materialen Umwelt Jesu Das Interesse an der Erschließung materialer Zeugnisse, die mit den biblischen Texten und besonders den darin erwähnten Orten begegnet bereits in der Alten Kirche. Ab Mitte des 2. Jahrhunderts kann man die Pflege »heiliger« Orte nachweisen. 75 Das Onomastikon des E USEBIUS von Caesarea lässt im 3. Jahrhundert ein Interesse an der Kunde Palästinas erkennen. Frühe Pilgerberichte berichten für die Zeit ab dem 4. Jahrhundert von Reisenden, die die biblischen Orte Palästinas bereisten. 76 Wissenschaftlich-kritischen Ansprüchen eher genügende Forscherexpeditionen sind mit einer »Wiederentdeckung« des Heiligen Landes im 19. Jahrhundert verknüpft. Nicht selten war die apologetische Tendenz einer biblischen Archäologie nicht nur für die Auswahl der Grabungsorte, sondern gelegentlich auch für deren Interpretation erkenntnisleitend. Solche Archäologie diente dann lediglich zum »Auffüllen« lückenhafter, unscharfer, magerer oder schweigsamer Textbefunde. 77 Auf die neutestamentliche Wissenschaft hatte biblische Archäologie - allzumal jene unter apologetischen Vorzeichen - jedoch lange Zeit kaum Einfluss. So konnte P ETER P ILHOFER noch in seinem 2002 erschienenen Ausatzband »Die frühen Christen und ihre Welt« 78 schreiben: »Verglichen mit den benachbarten Disziplinen Altes Testament und Kirchengeschichte erscheint das Neue Testament mithin als archäologiefreie Zone, was umso grotesker wirkt, wenn man sich die schmalen 100 Jahre vor Augen stellt, mit denen es der Neutestamentler im engeren Sinne zu tun hat: mehr als 2000 Jahre Archäologie und Altes Testament, beinahe 2000 Jahre Archäologie und Kirchengeschichte - dazwischen 100 Jahre archäologiefreie Zone, das Neue Testament.« Zwar ist dieses Votum auch in seiner Überspitzung nicht nur für die neutestamentliche Wissenschaft sondern auch - mit umgekehrten Vorzeichen - für die Kirchengeschichte sicher übertrieben. Jedoch lässt sich in der neutestamentlichen Exegese nicht selten eine Vernachlässigung der außerliterarischen Zeugnissen beobachten. Dies spiegelt sich auch in der mangelnden archäologischen Ausbildung von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen im Bereich Neues Testament, die diese nur selten in die Lage versetzen, kompetente Gesprächspartner für Archäologinnen und Archäologen zu sein. So sind im Gegensatz zum Alten Testament nur wenige Neutestamentler und Neutestamentlerinnen selbst an Grabungen beteiligt. Schließlich bedarf die Archäologie einer Breitenwahrnehmung vielfältiger Aspekte zur Interpretation eines konkreten Fundes, wohingegen eine durch konkrete neutestamentliche Fragestellungen motivierte Inanspruchnahme der Archäologie zu einer groben und verengten Wahrnehmung und damit nur sehr beschränkten Interpretation an sich aussagekräftiger Funde führt. Dieser Problemstellung widmete sich jener Perspektivwechsel, den die amerikanischen Neutestamentler J OHN D OMINIC C ROSSAN und J ONATHAN L. R EED in ihrem Werk »Jesus ausgraben. Zwischen den Steinen - hinter den Texten« 79 exemplarisch für das Haus des Petrus in Kapernaum anmahnen: »Christliche Pilger der Vergangenheit und der Gegenwart messen der Frage nach dem wo zwar verständlicherweise eine große Bedeutung bei, die Frage, die sich jedoch in erster Linie aufdrängt, ist nicht, wo Jesus in Kafarnaum war, sondern wie das Kafarnaum Jesu ausgesehen hat. Die Archäologie sollte nicht einfach nur darauf abzielen, spätere Schichten behutsam freizulegen, zu bestimmen, ob das Haus Petrus gehörte, und dann Illustrationen oder Visualisierungshilfen zu präsentieren. Die Archäologie sollte vielmehr darauf abzielen, sehr sorgfältig zu untersuchen, welcher Art das Haus war, sollte es mit anderen Häusern im Kafarnaum des ersten Jahrhunderts vergleichen, den Charakter des Dorfes als Ganzes untersuchen und es mit dem Charakter anderer Dörfer und Städte in und um Galiläa kontrastieren.« 80 Ein solches Vorgehen beschränkt sich nicht auf die im Neuen Testament erwähnten Orte. Auch wenn wie Crossan und Reed zugestehen, die Untersuchung von solchen »heiligen« Orten durchaus reizvoll sein kann, so ist ihr Ziel ein anderes: Sie wollen den »übergreifende(n) gesellschaftliche(n) Kontext, in dem Jesus sein Königreich errichtete« 81 verständlich machen. Die sozialgeschichtliche Ausrichtung solcher Archäologie ist unverkennbar und kann wichtige Informationen zur Lebenswelt Jesu und seiner Jünger beitragen. 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 10 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 11 Carsten Claußen Vom historischen zum erinnerten Jesus Crossan und Reed übersehen dabei keinesfalls, dass es neben der breit angelegten archäologischen Forschung in sozialgeschichtlicher Perspektive auch der Publikation jener Funde bedarf, die einen etwas konkreteren Einblick zu einzelnen Personen oder konkreten Aspekten der Lebenswelt des historischen Jesus bieten. So stellen sie insgesamt zehn archäologische Funde kurz vor, die sie für die wichtigsten zum Thema Jesus und Archäologie halten. Unter ihnen finden sich etwa das Ossuarium des Hohenpriesters Kaiphas, der uns mehrfach in den Evangelien begegnet, 82 das Haus des Apostels Petrus in Kapernaum, ein Fischerboot aus der Zeit Jesu vom See Genezareth und das Skelett eines gekreuzigten Mannes namens Yehohanan, das Aufschluss über die Kreuzesstrafe gibt. Damit dient die Archäologie vor allem im nordamerikanischen Raum aber auch zunehmend im deutschsprachigen Raum als wichtiger Gesprächspartner der historischen Jesusforschung. Dies wird etwa durch drei neuere Aufsatzbände dokumentiert. So haben S TEFAN A LKIER und J ÜRGEN Z ANGENBERG in ihrem Aufsatzband »Zeichen aus Text und Stein. Studien auf dem Weg zu einer Archäologie des Neuen Testaments« 83 und M AX K ÜCHLER und K ARL M ATTHIAS S CHMIDT in ihrem Tagungsband »Texte - Fakten - Artefakte. Beiträge zur Bedeutung der Archäologie für die neutestamentliche Forschung« 84 jeweils eine ganze Reihe von Beiträgen verschiedener Autoren zusammengestellt, die sich neben methodischen Überlegungen und forschungsgeschichtlichen Perspektiven unter anderem auch konkreten Aspekten des Alltagslebens und der Religiosität widmen. In noch größerer Fokussierung widmet sich ein erst 2006 erschienener, von J AMES H. C HARLESWORTH herausgegebener Aufsatzband dem Thema »Jesus and Archaeology«. 85 Diese (und weitere) 86 Sammelbände dokumentieren auf eindrucksvolle Weise die wachsende Bedeutung und den Erkenntnisgewinn, den archäologische Forschungsergebnisse für die historische Jesusforschung zu bieten haben. 3.3. Erinnerungen: auf der Suche nach dem mündlich überlieferten Jesus Die Frage nach den mündlichen Vorstufen der in den neutestamentlichen Evangelien verschrifteten Jesustradition ist keinesfalls neu. So postulierte bekanntlich bereits J OHANN G OTTFRIED H ERDER (1744-1803) hinter den synoptischen Evangelien ein mündliches Urevangelium. 87 Konkret habe es einen Stand der Evangelisten gegeben. Diese seien Begleiter der Apostel gewesen und hätten später selbst weitergegeben, was sie aus dem Munde jener Begleiter Jesu gehört hätten. Die Übereinstimmungen in den ersten drei Evangelien gingen auf die Festlegungen der Apostel zurück, während die Unterschiede den individuellen Leistungen der Evangelisten und den verschiedenen Adressatenkreisen der jeweiligen Evangelisten zuzuschreiben seien. Zur Verschriftlichung sei es erst als Gegenmaßnahme gegen häretische Fälschungen des Materials gekommen. Eine Weiterentwicklung erfuhr die Untersuchung der mündlichen Evangelienüberlieferung durch J OHANN C ARL L UDWIG G IESELER (1792- 1854). 88 So vermutet er ein auf die Jünger Jesu zurückgehendes mündliches Urevangelium in aramäischer Sprache, das sodann im Kontext der Mission ins Griechische übersetzt und schriftlich fixiert wurde. Verstärkte Aufmerksamkeit erhielt die Frage nach der mündlichen Überlieferung hinter den synoptischen Evangelien durch die klassische Formgeschichte. Für R UDOLF B ULTMANN und M ARTIN D IBELIUS erhielten die »kleinen Einheiten« ihre Prägung jedoch vor allem durch die Bedürfnisse der Gemeinden, weniger durch historische Erinnerung. 89 Es unterblieb allerdings eine genauere Untersuchung mündlicher Überlieferungsmechanismen. Hier setzte die Kritik der schwedischen Neutestamentler H ARALD R IESENFELD und seines Schülers B IRGER G ERHARDSSON an. Gerhardsson legte eine monumentale Untersuchung der Traditionsübermittlung rabbinischer Texte vor. 90 Seine zentrale These ist, dass Jesus als Lehrer seinen Jüngern seine Lehrinhalte zum Auswendiglernen eingeprägt habe. Doch Rückschlüsse von rabbinischen auf frühchristliche Überlieferungsmechanismen ziehen zu wollen galt als anachronistisch. 91 So blieb Gerhardsson die verdiente Anerkennung und Diskussion seiner Forschungsergebnisse lange Zeit weitgehend versagt. 92 Anders erging es schließlich K ENNETH B AILEY , einem amerikanischen Neutestamentler, der mehr als dreißig Jahre lang im Nahen Osten 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 11 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 12 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Neues Testament aktuell unterrichtet hatte. Bereits 1991 veröffentlichte er einen Aufsatz unter dem Titel »Informal Controlled Oral Tradition and the Synoptic Gospels.« 93 Bailey nutzt darin seine detaillierte Kenntnis mündlicher Überlieferungsmechanismen im Kontext heutiger arabischer Dorfgemeinschaften. Seine Beobachtungen wurden zunächst von N.T. W RIGHT und dann vor allem von J AMES D.G. D UNN ausführlich aufgenommen und unter anderem von R ICHARD B AUCKHAM kritisch gewürdigt. 94 Damit kommen Baileys Ausführungen für die gegenwärtige Diskussion zentrale Bedeutung zu, die es gerechtfertigt erscheinen lässt, seine Sicht der Dinge im Folgenden etwas ausführlicher darzustellen: 95 Bailey beschreibt drei verschiedene Arten mündlicher Überlieferung, die er sowohl geschichtlich verortet als auch einzelnen Erklärungsmodellen mündlicher Überlieferungsgeschichte konkret zuweist. Er orientiert sich in seinem Modell an den beiden Fragen, ob die Traditionsweitergabe »formell« durch einen klar definierten Lehr- und Lernkontext erfolgt sei und ob es Kontrollmechanismen zur »Qualitätssicherung« der korrekten Weitergabe gegeben habe. Entsprechend unterscheidet Bailey zwischen »informeller, unkontrollierter«, »formeller, kontrollierter« und »informeller, kontrollierter mündlicher Überlieferung«. 3.3.1. Informelle, unkontrollierte mündliche Überlieferung Die klassische Formgeschichte entwirft ein recht vages Bild mündlicher Traditionsweitergabe, bei der kein geordneter Lehrkontext vorausgesetzt wird. Bultmann setzt für die Untersuchung der Jesustradition bei der mündlichen Überlieferung in der frühchristlichen Gemeinde ein. Aufgabe der Formgeschichte sei es entsprechend »›Entstehung und Geschichte dieser Einzelstücke zu rekonstruieren, somit die Geschichte der vorliterarischen Überlieferung aufzuhellen.‹ 96 Die Erfassung dieser Aufgabe beruht auf der Einsicht, daß die Literatur, in der sich das Leben einer Gemeinschaft, also auch der urchristlichen Gemeinde, niederschlägt, aus ganz bestimmten Lebensäußerungen und Bedürfnissen dieser Gemeinschaft entspringt, die einen bestimmten Stil, bestimmte Formen und Gattungen hervortreiben.« 97 Da sich die christlichen Quellen für das Leben und die Persönlichkeit Jesu, mithin für den historischen Jesus nicht interessiert hätten, 98 ist auch keine Kontrolle der Überlieferung erfolgt oder gar für nötig erachtet worden. Das Überlieferungsmodell der klassischen Formgeschichte führt damit durch die Grundeinschätzung der mündlichen Überlieferungsphase als unzuverlässig auf direktem Wege zur Unmöglichkeit, den neutestamentlichen Quellen historisch gesicherte Informationen und Überlieferungen des historischen Jesus entnehmen zu können. So urteilt Bultmann konsequent gegenüber der historischen Jesusforschung: »Denn freilich bin ich der Meinung, daß wir vom Leben und von der Persönlichkeit Jesu so gut wie nichts mehr wissen können, da die christlichen Quellen sich dafür nicht interessiert haben, außerdem sehr fragmentarisch und von der Legende überwuchert sind, und da andere Quellen über Jesus nicht existieren. Was seit etwa anderthalb Jahrhunderten über das Leben Jesu, seine Persönlichkeit, seine innere Entwicklung und dergleichen geschrieben ist, ist - soweit es nicht kritische Untersuchungen sind - phantastisch und romanhaft.« 99 So steht dieses Überlieferungsmodell der klassischen Formgeschichte der historischen Jesusforschung im Wege. Bailey zieht zum Vergleich die Weitergabe von Gerüchten im heutigen Nahen Osten heran. Den Bedürfnissen von Tradenten und Rezipienten entsprechend könne es dabei etwa zu einem erheblichen Anwachsen der Zahl bei einem Attentat getöteter Menschen kommen, und die Dramatik nehme von Mund zu Mund zu. Bailey bezeichnet dieses Modell als »informell« und »unkontrolliert.« 100 3.3.2. Formelle, kontrollierte mündliche Überlieferung Ganz anders verhält es sich mit der von Gerhardsson beschriebenen Memorisierung der Worte Jesu in Analogie zu rabbinischen Lehrtechniken. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Jesus und seinen Jüngern sei als »formell« zu charakterisieren. Durch das den Wortlaut einzelner Jesusworte bewahrende Auswendiglernen sei eine Kontrolle der Überlieferungsqualität gegeben. Auch dieses Überlieferungsmodell kennt Bailey aus persönlicher Erfahrung. Er zieht als Beispiel islamische Scheichs heran, die den gesamten Koran auswendig beherrschten, und verweist auf die 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 12 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 13 Carsten Claußen Vom historischen zum erinnerten Jesus wortwörtliche Kenntnis umfangreicher Liturgien bei orthodoxen Christen. Für die Antike verweist er auf Belege bei Platon, Plutarch und Ephrem den Syrer, die das Memorieren großer Textcorpora belegen. 101 3.3.3. Informelle, kontrollierte mündliche Überlieferung Als sein eigenes, zur Erläuterung neutestamentlicher Überlieferungsprozesse geeignetes Modell verweist Bailey auf die Traditionspflege in einer heutigen arabischen Dorfversammlung: »Der Rahmen ist die abendliche Versammlung der Dorfbewohner, um Geschichten zu erzählen und Gedichte vorzutragen. Solche Versammlungen haben einen Namen. Sie werden haflat samar genannt. Samar im Arabischen ist verwandt mit dem Hebräischen shamar, das ›bewahren‹ bedeutet. Die Gemeinschaft bewahrt ihren Traditionsschatz. Mit informell meinen wir, dass es keinen bestimmten Lehrer und keinen klar identifizierbaren Schüler gibt. Während den Abend über Geschichten, Gedichte und anderes Traditionsgut erzählt und rezitiert werden, kann sich theoretisch jeder daran beteiligen. Tatsächlich aber rezitieren vor allem die älteren, die begabteren und die sozial herausgehobeneren Männer. Je nach dem wer diesem Kreis gerade angehört, so wechseln die Vortragenden. (...) Ich habe oft in einem solchen Kreis gesessen, wenn ein bestimmtes Stück der traditionellen mündlichen Literatur zitiert wird. Vielleicht kenne ich die Geschichte dann nicht und frage, worum es sich handelt. Dann sagt jemand: ›der Älteste Soundso kennt die Geschichte.‹ Die sozial oder intellektuell ranghöchste Person wird dann fortfahren, die Geschichte stolz zu erzählen. Im Gegensatz dazu gibt es beim Vortragen von formeller und kontrollierter mündlicher Tradition einen klar identifizierbaren Lehrer mit einem anerkannten Titel und einen klar identifizierbaren Studenten.« 102 Zwar gibt es in einer solchen arabischen Dorfversammlung keinen offiziellen und immer wieder tätigen Erzähler. Jedoch ist es alles andere als beliebig, wer von einem Gruppenmitglied autorisiert und als Erzähler einer bestimmten mündlich tradierten Geschichte berufen und anerkannt wird. Selbst eine solche Gruppe mit jeweils wechselnder Zusammensetzung folgt damit gewissen formalen Regeln. Die Versammlung übt eine Kontrollfunktion aus, die den Vortrag überwacht und bei Bedarf korrigierend eingreifen kann. Welche Traditionsgüter kommen für eine »informelle«, aber »kontrollierte« Traditionsweitergabe in Frage? Bailey nennt Sprichwörter, Rätselgeschichten, Gedichte, Gleichnisse, Erzählungen oder historische Berichte (etwa von bedeutenden Personen der Dorfgeschichte). Dabei müsse im Einzelnen noch ein unterschiedlicher Grad an Flexibilität unterschieden werden, den die Gemeinschaft für einzelne Gattungen für akzeptabel halte. So sei für Sprichwörter und Gedichte eine wortgetreue Wiedergabe unabdingbar. Die Zuhörer würden bei diesen Texten jeden Fehler korrigieren. Eine durchaus flexiblere Wiedergabe lasse sich dagegen bei historischen Berichten feststellen. Bailey veranschaulicht dies an dem Beispiel einer Geschichte, die über drei Hauptszenen und eine Pointe am Ende verfügt: »Das Sprichwort, das innerhalb der Geschichte vorkommt, musste wortwörtlich wiedergegeben werden. Die drei Hauptszenen konnten nicht verändert werden, aber die Reihenfolge konnte umgedreht werden, ohne dabei den Widerspruch der Gemeinschaft hervorzurufen. Der grundlegende Ablauf der Geschichte und deren Schluss mussten derselbe bleiben. Die Namen konnten nicht verändert werden. Die zusammenfassende Pointe war unantastbar. Aber der Erzähler konnte die Tonlage der emotionalen Reaktion (...) [einer der in der Geschichte vorkommenden Personen gegenüber einer anderen] variieren, und der Dialog innerhalb des Ablaufs der Geschichte konnte an jedem Punkt den Stil und die Interessen des jeweiligen Erzählers widerspiegeln. Das heißt, der Geschichtenerzähler hatte eine gewisse Freiheit, die Geschichte in der ihm eigenen Weise zu erzählen, solange der zentrale Tenor der Geschichte nicht verändert wurde. So gab es Kontinuität und Flexibilität. Nicht Kontinuität und Veränderung.« 103 Festzuhalten ist die Beobachtung Baileys, dass einige Teile einer vorgegebenen mündlichen Überlieferung absolut unveränderbar sind, während für andere Teile eine gewisse Flexibilität möglich ist. Es stellt sich sicherlich die Frage, inwieweit Baileys Modell einer »informellen« und doch »kontrollierten« Traditionsweitergabe, wie es sich in der Erzählkultur einer modernen arabischen Dorfversammlung findet, mit den Verhältnissen im antiken palästinischen Judentum zur Zeit Jesu und seiner Jünger vergleichbar ist. Wichtiger erscheint jedoch der, wie wir gesehen haben, von N.T. W RIGHT und noch stärker von J AMES D.G. D UNN von Bailey übernommene Perspektiv- 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 13 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 14 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Neues Testament aktuell wechsel. Mündliche Überlieferungsmechanismen folgen anderen Gesetzmäßigkeiten als die editorische Aufnahme und Überarbeitung verschrifteter Überlieferungen. Auch wenn Baileys in der neueren Jesusforschung sehr einflussreichen Ausführungen stark anekdotisch geprägt sind und einer Einbindung und kritischen Reflexion im Kontext der Oralitätsforschung bedürfen, so ist doch bereits jetzt ein deutlicher Erkenntnisgewinn für die Rekonstruktion der mündlichen Überlieferung zwischen dem historischen Jesus und den neutestamentlichen Evangelien zu verzeichnen. 4. Resümee und Standortbestimmung E RNST K ÄSEMANN hatte 1953 die neue Rückfrage nach dem historischen Jesus aus theologischen Gründen eingeleitet. Erscheint heute die damit ausgelöste »New Quest« gelegentlich als Anfang einer neuen Phase historischer Jesusforschung, so ist in aller Deutlichkeit darauf hinzuweisen, dass auch Käsemann beim christologischen Kerygma und damit theologisch einsetzte. Ganz entsprechend hat J AMES M. R OBINSON in seiner Darstellung »A New Quest of the Historical Jesus«, 104 die in der englischsprachigen Welt dieser Phase ihren Namen gab, Themen wie »Die Relevanz einer theologischen Neubesinnung« und »Die theologische Berechtigung einer neuen Frage nach dem historischen Jesus« 105 behandelt. Eben diese theologische Fixierung der Jesusforschung stieß in der »Third Quest« auf erheblichen Widerstand. So offenbart E.P. S ANDERS bereits in der Einleitung zu seinem Jesusbuch in expliziter Abgrenzung von Käsemann: »Wenn ich das für einen Moment mal persönlich sagen darf: Ich interessiere mich für die Diskussion um die Bedeutung der Theologie für den historischen Jesus in der Weise eines Menschen, der sich für etwas interessiert, das er früher einmal faszinierend fand.« 106 Noch deutlicher trägt Sanders seine Position und sein Anliegen gegen Ende des Werkes vor: »Die Beziehungen zwischen Geschichte und Theologie sind sehr komplex, und ich werde keinen ärmlichen Versuch unternehmen, in ein riesiges und schwieriges Gebiet einzutauchen. Ich habe mich seit einigen Jahren gemüht, Geschichte und Exegese von der Kontrolle der Theologie zu befreien.« 107 Da Sanders sich damit auch als Exeget zu erkennen gibt, geht es ihm nicht darum, die Theologie innerhalb der neutestamentlichen Schriften zu bestreiten. Lediglich gegen die Vorherrschaft einer Theologie, die der Exegese ihre Ergebnisse diktieren wolle, wehrt er sich mit Recht. Weit über dieses Ziel hinaus ist die »Third Quest« jedoch zu einer recht un-theologischen Phase der einseitig historischen Jesusforschung geworden. Hatte Bultmann sich einseitig auf den kerygmatischen Christus konzentriert, so ging es der »Third Quest« meist nur um den historischen Jesus. D ALE C. A LLISON hat dieses »Säkularisieren Jesu« durch die neuere Jesusforschung jüngst in seinem Buch »Resurrecting Jesus« 108 beschrieben, auch wenn er dabei nicht die theologischen Motivationen etwa eines M ARCUS B ORG oder N.T. W RIGHT übersieht. 109 Dieser Trend der »Third Quest« scheint jedoch in neuesten Jesusbüchern aufzubrechen. So setzt etwa Dunn beim »Eindruck« an, den bereits der historische Jesus auf seine Jünger gemacht habe. Und auch Hurtado widmet sich bereits für Q (das heißt eben für jene Texte, die Q-Forscher gemeinhin als dem historischen Jesus am nächsten stehend ansehen) der Untersuchung christologischer Termini. Gilt sein Interesse vorwiegend der Jesusverehrung, so scheut er sich doch nicht, das irdische Wirken Jesu (»Jesus ministry«) und den daraus auf seine Nachfolger resultierenden »Eindruck« (»impact«) als Ausgangspunkt zu wählen. War E RNST K ÄSEMANN aus theologischen Gründen zur Frage nach dem historischen Jesus zurückgekehrt, so verdichtet sich der Eindruck, dass sich die gegenwärtige historische Jesusforschung auf den Weg zu einem vorösterlich christologischen und damit theologischen Jesus gemacht hat. »... [es] verdichtet sich der Eindruck, dass sich die gegenwärtige historische Jesusforschung auf den Weg zu einem vorösterlich christologischen und damit theologischen Jesus gemacht hat.« 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 14 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 15 Carsten Claußen Vom historischen zum erinnerten Jesus Ob mit dieser Bewegung bereits eine neue Phase der historischen Jesusforschung eingeleitet worden ist, etwa im Sinne einer »Fourth Quest«, - dies werden zukünftige Betrachter im Rückblick vielleicht einmal klarer sehen. Einstweilen sind nur Bewegungen und Perspektivwechsel erkennbar, die nicht selten frühere Ansätze wieder aufgreifen und weiterentwickeln. Insofern damit gegenwärtig die Identität des irdischen mit dem auferstandenen Jesus stärker in den Blick tritt, wird deutlich, dass sich die Entwicklung der frühchristlichen Christologie nicht nur und erst aus der Deutung der Ostererfahrung erklären lässt, sondern bereits aus dem Eindruck, den der irdische Jesus bereits bei seinen Jüngern und Jüngerinnen und darüber hinaus hinterlassen hat 110 und an deren Erinnerung auch spätere Generationen durch das Zeugnis der neutestamentlichen Schriften partizipieren. l Anmerkungen 1 [H.S. Reimarus], Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger. Noch ein Fragment des Wolfenbüttelschen Ungenannten [Fragment 7], hg. v. G. E. Lessing, Braunschweig 1778. 2 M. Kähler, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus, neu hg. v. E. Wolf, München 1953. 3 Kähler, Jesus, 16. 4 Kähler, Jesus, 21. 5 Die erste Auflage erschien unter dem Titel: Von Reimarus zu Wrede. Eine Geschichte der Leben-Jesu- Forschung, Tübingen 1906. Seit 2 1913 erschienen alle weiteren Auflagen unter dem Titel »Geschichte der Leben-Jesu-Forschung«. 6 Vgl. R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1948-1953, 9 1984, 1-2. 7 J. Jeremias, Neutestamentliche Theologie. Erster Teil: Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 1971, 4 1988. 8 E. Käsemann, Das Problem des historischen Jesus (1954), in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. 1, Göttingen 1970, 187-214. 9 P. Müller, Neue Trends in der Jesusforschung, ZNT 1 (1998), 2-16. 10 Müller, Trends, 3. 11 S. Neill / T. Wright, The Interpretation of the New Testament. 1861-1986, Oxford / New York 2 1988, 379. 12 Wright, Interpretation, 379; dort im englischen Original: »a quite different movement (...) in a variety of places and with no unified background or programme.« 13 B.F. Meyer, The Aims of Jesus, London 1979. 14 A.E. Harvey, Jesus and the Constraints of History. The Bampton Lectures 1980, London 1982. 15 M.J. Borg, Conflict, Holiness and Politics in the Teachings of Jesus, Lewiston / Lampeter 1984. 16 E.P. Sanders, Jesus and Judaism, London 1985. 17 So die Kritik von Wright, Interpretation, 386, an Harvey, Jesus. 18 Borg, Conflict, 260f. 19 J. Klausner, Jesus von Nazareth, hebr. 1907, deutsch Berlin 1934. 20 C.J.G. Montefiore, The Synoptic Gospels, 2. Bde, London 1909, 2 1927. 21 R. Eisler, IHSOUS BASILEUS OU BASILEUS (Jesus ein König, der nicht König wurde) 2 Bde. Heidelberg 1929 / 30. 22 D. Flusser, Jesus, Reinbek bei Hamburg 1968. 23 G. Vermes, Jesus der Jude. Ein Historiker liest die Evangelien, Neukirchen-Vluyn 1993 (engl. Erstauflage: London 1973). 24 J. Wellhausen, Einleitung in die ersten drei Evangelien, Berlin 2 1911, 102. 25 D.C. Allison, Resurrecting Jesus. The Earliest Christian Tradition and Its Interpreters, New York / London 2005, 1-26. 26 So fragt etwa Paul F.M. Zahl, Jesus the First Christian. Universal Truth in the Teachings of Jesus, Grand Rapids 2003, 12: »whether a fourth quest, building on the second, might not now be possible.« 27 Allison, Jesus, 13. Dies mag vor allem die Flut der Jesusliteratur im englischsprachigen Raum erklären, zu der Allison - nebenbei bemerkt - einen nicht geringen Teil beiträgt. 28 J.D.G. Dunn, Altering the Default Setting: Re-envisaging the Early Transmission of the Jesus Tradition, NTS 49 (2003), 139-175; in überarbeiteter Form abgedruckt in: ders., A New Perspective on Jesus. What the Quest for the Historical Jesus Missed, Grand Rapids 2005, 79-125. Der Vortrag wurde ursprünglich als »presidential address« auf der 57. Jahrestagung der Studiorum Novi Testamenti Societas in Durham, UK (6.-10. August 2002) gehalten. 29 J.D.G. Dunn, Jesus Remembered (Christianity in the Making Bd. 1), Grand Rapids / Cambridge 2003. Vgl. auch den kleinen Band zum selben Thema: ders., New Perspective. 30 Dunn, Jesus, 332. 335. 31 Dunn, Jesus, 132.498-505. 32 Dunn, Jesus, 126: »The idea that we can see through the faith perspective of the NT writings to a Jesus who did not inspire faith or who inspired faith in a different way is an illusion. There is no such Jesus.« 33 Kähler, Jesus, 16. 34 Dunn, Jesus, 209: »In particular, the paradigm of literary editing is confirmed as wholly inappropriate: in oral tradition one telling of a story is in no sense an editing of a previous telling; rather, each telling is a performance of the tradition itself, not of the first, or third, or twenty-third ›edition‹ of the tradition. Our expectation, accordingly, should be of the oral transmission of Jesus tradition a sequence of retellings, each starting from the same storehouse of communally remembered events and teaching, and each weaving the common stock together in different patterns for different contexts.« 35 Dunn, Jesus, 130-132. 36 Bauckham, Jesus, 5-8 et passim. 37 Bauckham, Jesus, 12-38. 38 Bauckham, Jesus, 30-38. 39 Bauckham, Jesus, 39. 40 Bauckham, Jesus, 97. 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 15 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 16 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Neues Testament aktuell 41 Eusebius Kirchengeschichte III 39,15. 42 Eusebius, Kirchengeschichte II 15,1. 43 G. Theißen, Das Neue Testament (C.H. Beck Wissen in der Beck’schen Reihe), München 2002, 3 2006. 44 Theißen, Neue Testament, 21-32. Wer es ausführlicher haben möchte, wird fündig bei G. Theißen / A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 3 2001. 45 Vgl. im Einzelnen G. Theißen, Die Jesusbewegung. Sozialgeschichte einer Revolution der Werte, Gütersloh 2004. 46 Mt 4,13; 9,1; Mk 1,21 / Lk 4,31. 47 W. Bousset, Kyrios Christos. Geschichte des Christusglaubens von den Anfängen des Christentums bis Irenaeus, Göttingen 1913, 2 1921. 48 L.W. Hurtado, Lord Jesus Christ. Devotion to Jesus in Earliest Christianity, Grand Rapids / Cambridge 2003, 53f.: »I propose that the only reasonable factor that accounts for the central place of the figure of Jesus in early Christianity is the impact of Jesus’ ministry and its consequences, especially for his followers.« Siehe auch S. 60. Vgl. ders., How on Earth Did Jesus Become a God? Historical Questions about Earliest Devotion to Jesus, Grand Rapids / Cambridge2005. 49 A. v. Harnack, Beiträge zur Einleitung in das Neue Testament II. Sprüche und Reden Jesu. Die Zweite Quelle des Matthäus und Lukas, Leipzig 1907. 50 Harnack, Beiträge, 159. 51 Harnack, Beiträge, 163. 52 Harnack, Beiträge, 163-170. 53 Theißen / Merz, Jesus, 45. 54 Theißen / Merz, Jesus, 45. Theißen / Merz weisen dabei auf die von B.L. Mack vorgenommene Rekonstruktion Jesu als eines galiläischen Kynikers hin. Beziehe man dagegen die apokalyptischen Worte als jesuanisch mit ein, so ergebe sich ein ganz anderes Bild. 55 Dem widersprechen: J. Jeremias, Zur Hypothese einer schriftlichen Logienquelle Q, in: ders., ABBA, Göttingen 1966, 90-92; H.Th. Wrege, Die Überlieferungsgeschichte der Bergpredigt (WUNT 9), Tübingen 1968. 56 A. Lindemann, Die Logienquelle Q. Fragen an eine gut begründete Hypothese, in: ders. (Hg.), The Sayings Source Q and the Historical Jesus (BEThL 158), Leuven u.a. 2001, 3-26: 14. 57 Den wohltuend abgewogenen Überlegungen von Lindenmann, Logienquelle Q, 3-26, verdanke ich dabei wichtige Anregungen. 58 U.a.: A Harnack, Sprüche und Reden Jesu. Die zweite Quelle des Matthäus und Lukas, Beiträge zur Einleitung in das Neue Testament 2, Leipzig 1907; A. Polag, Fragmenta Q. Textheft zur Logienquelle, Neukirchen- Vluyn 1979; J. M. Robinson / P. Hofmann / J.S. Kloppenborg, The Critical Edition of Q. Synopsis including the Gospels of Matthew and Luke, Mark and Thomas with English, German and French Translations of Q and Thomas, Leuven / Minneapolis 2000; P. Hofmann / Christoph Heil: Die Spruchquelle Q. Griechisch und Deutsch, Darmstadt / Leuven 2002. 59 Lindemann, Logienquelle Q, 8; vgl. so bereits D. Lührmann, Die Redaktion der Logienquelle. Anhang: Zur weiteren Überlieferung der Logienquelle (WMANT 33), Neukirchen 1969, 56. 60 So weist Kloppenborg, The Formation of Q. Trajectories in Ancient Wisdom Collections (Studies in Antiquity and Christianity), Philadelphia, Pa. 1987, 317, die Versuchungsgeschichte der Endredaktion zu. Ebs. Kloppenborg Verbin, Excavating Q, 153, wo er diese Redaktionsschicht Q 3 nennt. 61 So Kloppenborg Verbin, Excavating Q, 144. 62 Kloppenborg Verbin, Excavating Q, 150-152; 379-398. 63 Lk 4,1-13; 11,42c; 16,17. 64 P. Hoffmann, Mutmaßungen über Q. Zum Problem der literarischen Genese von Q, in: Lindemann, Sayings Source, 255-288. Weitere neuere Rekonstruktionsversuche liegen vor bei: A.D. Jacobsen, Wisdom Christology in Q, Ph.D. Dissertation, Claremont, Calif. 1978; ders., The Literary Unity of Q, JBL 101 (1982), 365-389; ders., The First Gospel. An Introduction to Q, Sonoma, Calif. 1992; M. Sato, Q und Prophetie. Studien zur Gattungs- und Traditionsgeschichte der Quelle Q (WUNT 2 / 29), Tübingen 1988, 28-62; H.T. Fleddermann, Q.A Reconstruction and Commentary (Biblical Tools and Studies1), Leuven u.a. 2005, 172- 180, dort auch ein ausführlicher Forschungsüberblick: 3-39. 65 Theißen, Neue Testament, 27. 66 Theißen / Merz, Jesus, 44. 67 Vgl. Sato, Q und Prophetie, 375-381. 68 Vgl. bereits P.D. Meyer, The Community of Q (unveröffentlichte PhD-Dissertation, Universität Iowa, [ohne Ort]) 1970; S. Schulz, Q. Die Spruchquelle der Evangelisten, Zürich 1972; in neuerer Zeit: Kloppenborg Verbin, Excavating Q, 166-213. 69 So M. Frenschkowski, Welche biographischen Kenntnisse von Jesus setzt die Logienquelle voraus? , in: From Quest to Q (FS J. M. Robinson), hg. v. J.M. Asgeirsson / K. De Troyer / M. W. Meyer, (BEThL 146), Leuven 2000, 3-42: 36. 70 Vgl. den Bezug von Ps 117,27 zur Passionsgeschichte in Mk 11,9; Joh 12,13. 71 So Theißen / Merz, Jesus, 44. 72 So etwa Lindemann, Logienquelle Q, 16; Kloppenborg, Formation, 262: »Q is (...) still primarily a speech or sayings collection.« 73 Gg. A.D. Jacobson, The First Gospel. An Introduction to Q (Foundations and Facets), Sonoma 1992, 31. 74 Vgl. die Kritik bei: B. Ehrman, Jesus. Apocalyptic Prophet of the New Millenium, New York 2002, 133. 75 Vgl. etwa das Polykarpmartyrium 17-18, wo erstmals die Aufbewahrung von Gebeinen eines Märtyrers an einen besonderen Ort berichtet wird. 76 Die Texte sind leicht zugänglich bei: H. Donner, Pilgerfahrt ins Heilige Land. Die ältesten Berichte christlicher Palästinapilger (4.-7. Jahrhundert), Stuttgart 1979. 77 So etwa noch bei W. Bösen, Mehr als eine freundliche Gesprächspartnerin. Zur Bedeutung der Archäologie für die neutestamentliche Exegese, in: M. Küchler / K.M. Schmidt (Hgg.), Texte - Fakten - Artefakte. Beiträge zur Bedeutung der Archäologie für die neutestamentliche Forschung, Fribourg und Göttingen 2006, 161-195; vgl. bes. seine zusammenfassende Einschätzung: »Indem sie [sc. die Archäologie] die Texte veranschaulicht und verlebendigt, ergänzt und präzisiert, korrigiert und verteidigt, erhellt und bestätigt, erwies sie sich auf überraschend vielfache Weise als Helferin, die der Exegese einen neuen Schwung zu geben vermag.« 78 P. Pilhofer, Die frühen Christen und ihre Welt. Greifs- 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 16 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 17 Carsten Claußen Vom historischen zum erinnerten Jesus walder Aufsätze 1996-2001. Mit Beiträgen von J. Börstinghaus und E. Ebel (WUNT 145), Tübingen 2002, 6. 79 J.D. Crossan / J. L. Reed, Jesus ausgraben. Zwischen den Steinen - hinter den Texten (Aus dem Englischen übersetzt von Claudia Krülls-Hepermann), Düsseldorf 2003. 80 Crossan / Reed, Jesus, 119. 81 Crossan / Reed, Jesus, 119. 82 Mt 26,3.57; Lk 3,2; Joh 18,14 u.ö. 83 S. Alkier / J. Zangenberg (Hgg.), Zeichen aus Text und Stein. Studien auf dem Weg zu einer Archäologie des Neuen Testaments (TANZ 42), Tübingen 2003. 84 Küchler / Schmidt (Hgg.), Texte. 85 J.H. Charlesworth, Jesus and Archaeology, Grand Rapids / Cambridge 2006. 86 Vgl. ferner: J. Zangenberg / D.W. Attrige / E.B. Martin (Hgg.), Religion, Ethnicity and Identity in Ancient Galilee. A Region in Transition (WUNT 210), Tübingen 2007; C. Claußen / J. Frey (Hgg.), Jesus und die Archäologie Galiläas (BThSt 87), Neukirchen-Vluyn, vorauss. 2007 (im Druck). 87 J.G. Herder, Vom Erlöser der Menschen. Nach unsren drei ersten Evangelien, in: B. Suphan (Hg.), Herders sämtliche Werke, Bd. 19, Berlin 1880, 211. 88 J.C.L. Gieseler, Historisch-kritischer Vergleich über die Entstehung der schriftlichen Evangelien, Leipzig 1818. 89 Vgl. Theißen / Merz, Jesus, 25. 90 B. Gerhardsson, Memory & Manuscript. Oral Tradition and Written Transmission in Rabbinic Judaism and Early Christianity (1961) with Tradition & Transmission in Early Christianity (1964). Forword by Jacob Neusner, Grand Rapids, Mich. / Livonia, Mich. 1998. 91 Vgl. die Rezension von: M. Smith, A Comparison of Early Christian and Early Rabbinic Tradition, JBL 82 (1963), 169-176; und das neue Vorwort von Jacob Neusner zum Nachdruck von Gerhardsson, Memory, xxv-xlvi. 92 Aufgenommen und weiterentwickelt wurde Gerhardssons Ansatz jedoch v.a. von S. Byrskog, Jesus the Only Teacher. Didactic Authority and Transmission in Ancient Israel, Ancient Judaism and the Matthean Community, Stockholm 1994; ders., Story as History - History as Story. The Gospel Tradition in the Context of Ancient Oral History, Tübingen 2000; R. Riesner, Jesus als Lehrer. Eine Untersuchung zum Ursprung der Evangelien-Überlieferung, Tübingen 3 1981. 93 Asia Journal of Theology 5 (1991), 34-51. Nachgedruckt in Themelios 20 (1995), 4-11 und jetzt im Internet zugänglich unter: http: / / www.biblicalstudies.org. uk/ article_tradition_bailey.html 94 Baileys Modell einer »informal controlled oral tradition« hat in der neueren Exegese v.a. bei N.T. Wright, Jesus and the Victory of God, Minneapolis 1996, 133- 137, und bei J.D.G. Dunn, Jesus, 205-210, positive Aufnahme erfahren. Eine kritische Auseinandersetzung mit Bailey, Wright und Dunn findet sich dagegen bei R. Bauckham, Jesus and the Eyewitnesses. The Gospels as Eyewitness Testimony, Grand Rapids / Cambridge 2006, 252-263. 95 Vgl. auch: C. Claußen, Die Verkündigung der frühen Zeugen. Von mündlicher Überlieferung zur Entstehung der neutestamentlichen Evangelien, Theologisches Gespräch 2 (2007), 55-74. 96 R. Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition. Mit einem Nachwort von Gerd Theißen (FRLANT NF 12), Göttingen 10 1995, 4, zitiert hier einen anderen Begründer der klassischen Formgeschichte, M. Dibelius, mit dem er sich im Ansatz ganz einig weiß. Vgl. M. Dibelius, Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 6 1971. 97 Bultmann, Geschichte, 4. 98 R. Bultmann, Jesus, Tübingen 1926 (Nachdruck 1964), 11. 99 Bultmann, Jesus, 11. 100 Bailey, Tradition, 36. 101 Bailey, Tradition, 38f. 102 Bailey, Tradition, 40. 103 Bailey, Tradition, 44. 104 J.M. Robinson, A New Quest for the Historical Jesus (Studies in Biblical Theology 25), London 1959, 2 1961. 105 J.M. Robinson, Kerygma und historischer Jesus, Zürich / Stuttgart1960, 2 1967, 147.152. 106 Sanders, Jesus, 2: »To speak personally for a moment, I am interested in the debate about the significance of the historical Jesus for theology in the way one is interested in something that he once found fascinating.« 107 Sanders, Jesus, 333: »The relationships between history and theology are very complex, and I shall make no poor effort to delve into a vast and difficult subject here. I have been engaged for some years in the effort to free history and exegesis from the control of theology.« 108 Allison, Jesus, 19-23. 109 Allison, Jesus, 13. Vgl. M. Borg, Jesus. A New Vision. Spirit, Culture, and the Life of Discipleship, San Francisco 1987; N.T. Wright, Jesus and the Victory of God, Minneapolis 1996. 110 Vgl. J. Frey, Der historische Jesus und der Christus der Evangelien, in: J. Schröter / R. Brucker (Hgg.), Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung (BZNW 114), Berlin / New York 2002, 273-336: 323f. 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 17 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 18 ZNT 20 (10. Jg. 2007) »Alles spricht dafür, daß sich um den Begriff der Erinnerung ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften aufbaut, das die verschiedenen kulturellen Phänomene und Felder - Kunst und Literatur, Politik und Gesellschaft, Religion und Recht - in neuen Zusammenhängen sehen läßt.« 1 Diese These formulierte Jan Assmann im Jahr 1992. Ihr ist insoweit zuzustimmen, als der in den 1980er Jahren einsetzende Aufschwung der Kulturwissenschaften maßgeblich - wenn auch keineswegs ausschließlich 2 - durch die Themen Gedächtnis und Erinnerung mit geprägt wurde. Konzepte wie die des kulturellen Gedächtnisses (J. Assmann) oder der Erinnerungsorte (P. Nora) werden inzwischen in vielen Forschungsbereichen interdisziplinär fruchtbar angewendet. Der vorliegende Beitrag will den besagten kulturwissenschaftlichen Diskurs in groben Zügen vorstellen und an einigen Punkten mit der Jesusforschung ins Spiel bringen. 3 Dies soll in drei Schritten erfolgen. Ein notgedrungen fragmentarischer kulturgeschichtlicher Abriss soll zunächst die Bedeutung des Themas »Gedächtnis und Erinnerung« in der Antike und in der europäischen Kultur sichtbar machen. Es folgt ein Überblick über wichtige kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien. Vor diesem Hintergrund werden im letzten Schritt einige Konsequenzen für die Jesusforschung ausgelotet. 1. Streifzüge durch die Geschichte des Gedächtnisses 4 Die große Bedeutung des Gedächtnisses in der Antike wird bereits auf mythologischer Ebene greifbar, nämlich in Gestalt der den Titanen zugeordneten Mnemosyne. Sie galt als Personifikation bzw. Göttin des Gedächtnisses. Aus ihr gingen die Musen hervor, die für den Besitz von Wissen und Wahrheit (aletheia als Gegenstück zur lethe, dem Vergessen) standen. Das gesamte künstlerische und wissenschaftliche Schaffen wurde so letztlich an die Figur der Mnemosyne rückgebunden. Eine wichtige Rolle spielte die Erinnerung in der Philosophie. Platon führte Wissen und Erkenntnis in seiner Anamnesislehre bekanntlich auf die Wiedererinnerung von Prinzipien bzw. Ideen zurück, die wir bereits vor der Geburt schauten (vgl. Men 81a-98a; Phaidr 72e-77a). Aristoteles hob hingegen auf die Sinneswahrnehmung ab. In seiner kleinen Abhandlung Peri mnemes kai anamneseos (Über Gedächtnis und Erinnerung) erscheint »das Gedächtnis als eine auf die Vergangenheit bezogene Folgeerscheinung der Wahrnehmung, während Erinnerung als Assoziation von Vorstellungen verstanden wird«. 5 Der christliche Platoniker Augustin fasste die memoria indes wiederum als eine alle Empirie übersteigende Größe und verband sie in seinen Confessiones mit einer komplexen Philosophie der Zeit und der individuellen Gotteskenntnis, darüber hinaus aber auch mit religiösem und sozialem Handeln (Märtyrer- und Heiligenkult, Totengedenken, Elterngedenken). 6 Großes Gewicht kam der memoria insbesondere in der antiken Rhetorik zu. Dort fungierte sie als wichtiger Teil der fünf Bearbeitungsphasen einer Rede, der sog. partes orationis (s. nur Quintilian, InstOrat 3,3,1). Dabei handelt es sich um folgende Schritte: 1. inventio (Auffindung von Gedanken und Argumenten), 2. dispositio (Ordnung der Gedanken rücksichtlich des Redezwecks und des konkreten Einzelfalls), 3. elocutio (sprachliche Ausgestaltung der Rede), 4. memoria (Einprägen der Rede ins Gedächtnis), 5. pronunciatio (wirkungsvolle körperliche u. stimmliche Umsetzung). Zur Realisierung der an vierter Stelle genannten Kunst des Einprägens der Rede für den freien Vortrag verhalf man sich der Mnemotechnik. Sie wurde auf den Dichter Simonides von Keos (557-467 v.Chr.) zurückgeführt. Einer mythisch geprägten Überlieferung zufolge überlebte dieser als einziger das Festmahl des thessalischen Edlen Skopas, weil er durch das Einwirken der Dioskuren Kastor und Pollux, die er in einem Gedicht zu Ehren des Gastgebers während des Festes mit geehrt hatte, aus dem Saal gerufen wurde, bevor das Dach herabstürzte und alle Teilneh- Zum Thema Christian Strecker Der erinnerte Jesus aus kulturwissenschaftlicher Perspektive 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 18 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 19 Christian Strecker Der erinnerte Jesus aus kulturwissenschaftlicher Perspektive mer unter sich begrub. Nur weil sich Simonides genau an deren Sitzordnung erinnern konnte, gelang es, die entstellten Leichen zu identifizieren (vgl. Cicero, DeOrat, 2,351-354; Quintilian, InstOrat 11,2,11-16). 7 Diese Erfahrung führte zu der zentralen Grundeinsicht der ars memorativa bzw. ars memoriae, wonach die planmäßige Situierung und Anordnung von zu memorierenden Inhalten an bestimmten vorgestellten Orten (topoi, loci) entscheidend für ein gutes Gedächtnis sei. Ausführliche Reflexionen über die im Lauf der Zeit immer weiter profilierte rhetorische Mnemotechnik finden sich dann in den römischen Rhetoriken Quintilians (InstOrat), Ciceros (DeOrat) und in der anonymen Rhetorica ad Herennium, die jeweils umfassend auf die Ausbildung des vom natürlichen Gedächtnis (memoria naturalis) zu unterscheidenden künstlichen Gedächtnisses (memoria artificiosa) eingehen. 8 Die Übung des artifiziellen Gedächtnisses durch Memorieren war überhaupt ein wichtiger Bestandteil der antiken Erziehung und Ausbildung, 9 und besondere Gedächtnisleistungen standen in der Antike in hohem Ansehen. Letzteres belegen diverse, im Detail allerdings z.T. wohl etwas überzogene Zeugnisse über namhafte Gedächtniskünstler. 10 Ebenso kam der memoria bzw. memorialen rituellen Praktiken ein beträchtliches politisches Gewicht zu, wovon u.a. der eigentümliche, auf die innere Stabilisierung des Gemein wesens zielende Ahnenkult in der römischen Aristokratie zeugt, der mit der öffentlichen Repräsentation von realistisch gestalteten Wachsmasken adliger Ahnen (imagines) beim Trauerzug (pompa funebris) einherging, die sonst im Atrium in Schreinen aufbewahrt wurden. 11 Dass Gedächtnis und Erinnerung in der antiken jüdischen Kultur von hoher Bedeutung waren, ist weithin bekannt. 12 Die Vergegenwärtigung der Tora im alltäglichen rituellen Leben, ihre unmittelbare Einschreibung in den männlichen Körper qua Beschneidung, der auf das Eingedenken der jüdischen Heilsgeschichte zielende jüdische Festkalender und die fortwährende Tradierung und Memorierung der Tora weisen das Judentum in besonderer Weise als manifeste Gedächtniskultur aus. Die zentrale Rolle des Gedenkens wird im Buch Deuteronomium besonders deutlich sichtbar. 13 Aber auch Philon (LegGai 210) und Josephus (Ap 2,178.204; s. auch Ant 4,210f.) stellen mit Stolz die im jüdischen Volk verbreitete Einprägung der Tora schon von Kindheit an heraus. Schließlich bezeugt die umfangreiche rabbinische Literatur eindrücklich die fortwährende intensive diskursive Aneignung der eigenen jüdischen Tradition. In vielfältiger Weise war auch die Kultur des christlichen Abendlandes durch Gedächtnispolitik und die Adaption von Mnemotechniken bestimmt. So legitimierte der mittelalterliche Adel seine Herrschaft über memoria, und im liturgischen und monastischen Raum entwickelte sich ebenso wie in der privaten Erbauung und Andacht eine eigene fromme Gedenkkultur. Die klassische Gedächtnislehre wurde nun aber von der Rhetorik abgekoppelt und als Teil der prudentia (eine der vier Kardinaltugenden) in die Ethik eingegliedert. In der Renaissance avancierte die Mnemotechnik gar zum Mittel der Wahrheitsfindung, insofern man im loci-System der ars memorativa die Ordnung der göttlichen Schöpfung widergespiegelt sah. 14 Ende des 16. Jh.s und mehr noch in der Aufklärung und Romantik sind indes manifeste Veränderungen im Verständnis und Umgang mit dem Gedächtnis sowie ein deutlicher Prestigeverlust der Mnemotechnik zu verzeichnen. Montaigne, Christian Strecker Christian Strecker, studierte Evangelische Theologie in Neuendettelsau, Hamburg, Heidelberg und Tübingen. Promotion (1996) und Habilitation (2003) an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau, seit 2003 Privatdozent ebendort; Vertretungsprofessuren in Heidelberg (2005- 2006), München (2006/ 07) und Mainz (2007). Forschungsschwerpunkte: Paulusexegese, historische Jesusforschung, kulturwissenschaftliche Exegese. 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 19 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 20 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Zum Thema Rousseau, Lessing und Kant assoziierten das Gedächtnis mit stupidem Auswendiglernen und stellten es in Opposition zu Verstand, Urteilskraft und Tugend. Die Geringschätzung des Gedächtnisses wurde in gewisser Weise zum Signum der aufgeklärten Neuzeit. Der Sprach- und Literaturwissenschaftler Harald Weinrich spricht gar von einem »allgemeinen Krieg gegen das Gedächtnis«, der seit der Aufklärung in ganz Europa geführt worden wäre. 15 Nicht zuletzt die massive Ausweitung der Produktion und Distribution von Druckerzeugnissen, neue extensive Lesepraktiken, die den bis dato durch Wiederholung und persönliche Aneignung gekennzeichneten Lesehabitus ablösten, sowie Massenalphabetisierungen 16 ließen die orale mittelalterliche Gedächtniskultur in all ihren verschiedenen Facetten zusehends verblassen. In der Historiographie verschwand die Vorstellung von Geschichte als Memoria. Historie erschien nicht mehr als kohärente, ganzheitliche, einem überzeitlichen ordo aufruhende Größe. Der allgemeine Niedergang der metaphysisch bzw. theologisch aufgeladenen, an Kontinuität, Ordnung, Stabilität und Bewahrung ausgerichteten überindividuellen memoria öffnete dafür nun den Raum für die partikulare, subjektive Erinnerung, die die Momente der Kreativität und Konstruktivität ebenso einschloss wie die der Unverfügbarkeit, Unwillkürlichkeit und des Vergessens. 17 In der zu Beginn des 20. Jh.s aufkommenden historischen Kulturwissenschaft wurde dann aber gleichwohl die kollektive Dimension des Gedächtnisses und der Konnex von Erinnerung und Kultur zum Forschungsgegenstand, namentlich bei Maurice Halbwachs und Aby Warburg, den Gründungsvätern der kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorien. 2. Memories are made of this. Einige kulturwissenschaftliche Konzepte Dem Soziologen Maurice Halbwachs (1877- 1945), Schüler Henri Bergsons und Émile Durkheims, kommt das Verdienst zu, die soziale Bedingtheit der individuellen Erinnerungen herausgearbeitet zu haben. 18 Der von ihm geprägte Begriff des kollektiven Gedächtnisses (»mémoire collective«) verweist darauf, dass Erinnern nicht einfach nur ein individuelles, sondern zumal ein soziales Phänomen ist. Das Gedächtnis ist mit anderen Worten durch kollektive Vorgaben und Prozesse imprägniert. Erinnerungen speisen sich schließlich wesentlich aus sozialen Erfahrungen wie auch aus Erzählungen anderer. Sie wurzeln folglich in sozialer Interaktion und Kommunikation und wirken zugleich auf diese zurück. Zudem sind sie maßgeblich durch die symbolische Ordnung einer bestimmten Gruppe oder Gesellschaft, d.h. durch bestimme kollektive Zeit- und Raumvorstellungen, Denk- und Verstehensmuster geprägt und strukturiert. Erinnerungen sind solcherweise rundweg in soziale Rahmenbedingungen (»cadres sociaux«) eingelassen. Nur innerhalb dieser Rahmenbedingungen können sie von Individuen überhaupt erst gebildet und geordnet werden. Halbwachs notiert dementsprechend: »Es gibt kein mögliches Gedächtnis außerhalb derjenigen Bezugsrahmen, deren sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu fixieren und wiederzufinden.« 19 Das Gedächtnis ist also gesellschaftlich determiniert. Diese kollektive Prägung des Gedächtnisses bewirkt zugleich soziale Kohäsion. Die gemeinsam geteilten Erinnerungen, die für Halbwachs »Rekonstruktionen der Vergangenheit mit Hilfe von der Gegenwart entliehenen Gegebenheiten« 20 sind, halten die Gesellschaft bzw. Gruppe zusammen, verleihen ihr Stabilität und stiften eine gemeinsame Identität. Gesellschaften bzw. Gruppen sind insofern immer auch Erinnerungsgemeinschaften. Einen ganz anderen Schwerpunkt setzte der Kunst- und Kulturhistoriker Aby M. Warburg (1866-1929). 21 Er verfolgte das Projekt einer historischen Psychologie des menschlichen Ausdrucks, wobei er insbesondere auf die Kunst, speziell die visuelle Kunst und Kultur als Archiv des menschlichen Ausdrucks zurückgriff. So spürte Warburg dem Nachleben antiker Ausdrucksgebärden, d.h. den in antike Kunstformen eingelassenen Gesten und Mienen des Leidens und Handelns in der Kunst der Renaissance nach. Bilder betrachtete Warburg solcherweise als Gedächtnismedien. »Die Geringschätzung des Gedächtnisses wurde in gewisser Weise zum Signum der aufgeklärten Neuzeit.« 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 20 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 21 Christian Strecker Der erinnerte Jesus aus kulturwissenschaftlicher Perspektive Entscheidend ist, dass er dieses Verständnis von Bildern mit einer eigentümlichen Energietheorie koppelte. Das »Nachleben« der in die Kunstformen eingelassenen Vergangenheit fasste er nämlich nicht als bloße Rezeption oder museale Speicherung auf, sondern als performative Macht. Warburg sah in Bildern und generell in kulturellen Symbolen »Energiekonserven«, denen Affekte eingelagert seien, die über Raum und Zeit hinweg wieder freigesetzt werden könnten. Hartmut Böhme beschreibt diesen Zusammenhang wie folgt: »Geschichte ist für Warburg ein Problem der Energieübertragung. Die Theorie des ›sozialen Bildgedächtnisses‹ bildet die Ebene, auf der Warburg das kunst- und religionsgeschichtliche Material einzuordnen versucht. Das Bildgedächtnis soll als das Medium der kulturellen Energieströme erfahrbar werden.« 22 Im Näheren ging Warburg davon aus, dass Affekte sich in Form von Ausdrucksgebärden prägend in den Körper einschrieben, wodurch dieser zum Erinnerungsträger der ihn ergreifenden Affekte werde. Die leibliche Spur der affektiven Krafteinwirkung, welche die affektive Energie zugleich über Zeit und Raum transportiere, bezeichnete Warburg als Engramm bzw. Dynamogramm. Kunst und Religion galten ihm dabei als jene zentralen sozialen Einrichtungen, in denen die affektiv-leiblichen Prägungen in kultivierter, d.h. die Affekte und den Leib meisternder Form vonstattengingen und in deren Bildgedächtnis die affektiven Energien Dauer und zugleich reflektierte Distanz erfuhren. In zahlreichen Studien griffen der Ägyptologe Jan und die Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann die Gedächtniskonzepte von Halbwachs, Warburg und anderen Denkern auf, entwickelten sie fort und systematisierten sie. 23 Bedeutsam ist zumal Jan Assmanns Unterscheidung zwischen dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis. Ersteres, das kommunikative Gedächtnis, bildet sich laut Assmann in der zwischenmenschlichen Alltagsinteraktion aus und umfasst die lebendige Erinnerung, d.i. »die Vergangenheit, die uns begleitet, weil sie zu uns gehört, weil ein lebendiges kommunikatives Bedürfnis besteht, sie gegenwärtig zu halten« 24 . Unter Berufung auf die Forschungen zur Oral History mit ihrer Methodik der mündlichen Befragung sieht Assmann diese Erinnerung jeweils auf einen mitwandernden Zeithorizont von etwa drei Generation (80-100 Jahre) begrenzt. Das kulturelle Gedächtnis sprengt diesen Rahmen. Mit ihm öffnet sich die Tiefe der Zeit. Auf die absolute Vergangenheit einer mythischen Urzeit ausgerichtet und damit den unmittelbaren und mittelbaren Erfahrungsraum transzendierend, wurzelt das kulturelle Gedächtnis in zeremonialer Kommunikation, symbolischen Kodierungen in Wort, Bild, Tanz u.ä. und ist an spezialisierte Traditionsträger gebunden. Wichtig ist, dass Assmann auch medientheoretische Aspekte berücksichtigt, v.a. die Differenz zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. So unterscheidet er zwischen ritueller und textueller Kohärenz. Rituelle Kohärenz begegnet vorwiegend in oralen Kulturen bzw. Kultreligionen, insofern die Vergegenwärtigung der mythischen Vergangenheit dort über rituelle Wiederholung vollzogen wird und darin soziale Bindung schafft (Bindungsgedächtnis). Textuelle Kohärenz begegnet dagegen zumal in skripturalen Kulturen bzw. Buchreligionen, wobei das Medium Schrift die Speicherung von Erinnerungsbeständen jenseits ihres rituellen Gebrauchs ermöglicht. An die Stelle der Wiederholung tritt so die Verstehenskunst. Das kulturelle Gedächtnis ankert schließlich im Lehren und Lernen, Lesen und Auslegen kanonischer Texte (Bildungsgedächtnis). Assmann exemplifiziert all diese und einige weitere Gedächtniskategorien an den frühen Hochkulturen Ägyptens, Israels und Griechenlands. Eine weitere wichtige Kategorisierung brachte Aleida Assmann ein, nämlich die Differenz zwischen dem Gedächtnis als ars (Kunst, Technik) und als vis (Kraft). Im ersten Fall wird das Gedächtnis als zuverlässiger Speicher bestimmt, wobei der Begriff ars für alle jene technischen Verfahren steht, die die Identität der in den Gedächtnisspeicher eingelagerten und nach einem gewissen Zeitintervall aus ihm wieder abgerufenen Information gewährleisten (Auswendiglernen in Analogie zum schriftlichen oder digitalen Speichern). Im zweiten Fall geht es um das lebendige, identitätsstiftende Erinnern, also um jene kulturellen Akte des Andenkens, Verewigens, Rückbezugs, die alle ein Moment des Vergessens mit einschließen und rekonstruktiv sind, insofern sie die Gedächtnisinhalte von der Warte der Gegenwart aus verschieben, erneuern, umwerten, verformen oder entstellen. Das Gedächtnis kommt hier als immanente Kraft, als Energie mit eigener 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 21 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 22 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Zum Thema Gesetzlichkeit zu stehen und nicht als Speicher. Dementsprechend schlägt Aleida Assmann vor, zwischen Speicher- und Funktionsgedächtnis als zwei aufeinander bezogenen Modi der Erinnerung zu unterscheiden. Ersteres nennt Assmann das »unbewohnte Gedächtnis«. Losgelöst von spezifischen Trägern, trennt es die Vergangenheit radikal von der Gegenwart und Zukunft ab und archiviert die Bestände des Gewesenen jenseits jeglicher Werthierarchie. Das Funktionsgedächtnis als »bewohntes Gedächtnis« ist dagegen an bestimmte Träger gebunden, schlägt eine Brücke über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, ist wertorientiert und selektiv und dient der Legitimation oder Delegitimierung von Machtverhältnissen sowie der Distinktion im Sinne der Profilierung kollektiver Identität. Nach Assmann sind beide Gedächtnisse verschränkt, denn »[s]o wie das Speichergedächtnis das Funktionsgedächtnis verifizieren, stützen oder korrigieren kann, kann das Funktionsgedächtnis das Speichergedächtnis orientieren und motivieren«. 25 Letztlich stelle das Speichergedächtnis das Reservoir zukünftiger Funktionsgedächtnisse dar. Diese Verschränkung ermögliche die Erneuerung kulturellen Wissens und kulturellen Wandel. Mit der besagten Verschränkungsthese wendet sich Aleida Assmann gegen die verbreitete dualistische Kontrastierung von Gedächtnis und Geschichte, Erinnerung und Historiographie. Bereits Maurice Halbwachs postulierte eine solche Opposition: Das kollektive Gedächtnis diene dem Selbstverständnis und der Identität partikularer Gruppen, existiere also im Plural, sei wertorientiert und akzentuiere Kontinuität. Geschichte sei dagegen universal, wertneutral, habe keine identitätssichernde Funktion und stelle Brüche und Veränderungen heraus. Der französische Historiker Pierre Nora unterstreicht die besagte Opposition. Anders als Halbwachs, der sich auf das Gruppengedächtnis konzentrierte, geht es Nora jedoch um die Geschichte der Nation als einer abstrakten Gemeinschaft. Als einheitliche, identitätsstiftende Größe sei die nationale Geschichte nicht zuletzt durch die Historiographie, die angeblich mit dem kollektiven Gedächtnis im Kampf stünde, verloren gegangen. Als künstliche Platzhalter fungierten heute lediglich noch plurale, sich einer kohärenten Erzählung entziehende Erinnerungsorte (lieux de mémoire; gemeint sind Denkmäler, Gebäude, Embleme, Feiern, historische Orte, Persönlichkeiten, Texte etc.). 26 Vor dem Hintergrund der aktuellen geschichtswissenschaftlichen Grundlagendebatte über die Möglichkeiten einer angemessenen historischen Repräsentation 27 erscheint eine allzu rigide Konfrontierung von Geschichte und Gedächtnis allerdings verfehlt. Das komplexe Thema bedarf freilich weiterer Diskussion, 28 v.a. auch die darin enthaltenen politischen Implikationen wie etwa die Rolle und Funktion von Erinnerungspolitik und die diesbezüglich entwickelten Thesen zur Erfindung von Nationen (Benedict Anderson) und der sie tragenden Traditionen (Eric Hobsbawm). 29 3. Historischer Jesus - Jesusüberlieferung - Jesusforschung Die voranstehenden Ausführungen eröffnen diverse Anknüpfungspunkte und Perspektiven für die Jesusforschung. Dies gilt in dreifacher Hinsicht, nämlich (1) mit Blick auf den sog. historischen Jesus selbst, (2) mit Blick auf die Jesusüberlieferung und die Entstehung der Evangelien sowie (3) mit Blick auf die Geschichte der Jesusforschung. Bevor dies entfaltet werden kann, sei generell vermerkt, dass das Thema Erinnerung im ntl. Jesusportrait mehrfach wörtlich zur Sprache kommt. So finden sich bei Lukas und Johannes und später im 2Petr immer wieder Aussagen, in denen die Erinnerung an Jesu Worte und Lehre zum Thema wird (Lk 24,6.8; Apg 11,6; 20,35; Joh 2,22; 12,16; 14,26, 15,20; 16,4; 2Petr 1,15; 3,2; s. aber auch 2Tim 2,8.14). 30 In Mk 8,18f. und Mt 16,9 schreiben die Evangelisten Jesus jeweils einen als Frage formulierten Erinnerungsappell an sein eigenes zurückliegendes Handeln zu. Das Gewicht der Erinnerung wird dann auch in Mk 14,9 und Mt 26,13 greifbar. Dort kündigt der irdische Jesus jener Frau, die ihn salbte, ein fortwährendes Gedenken in der weltweiten Evangeliumsverkündigung an. Am eindrücklichsten ist Jesu Wiederholungsbefehl in der lukanischen und paulinischen Version der Einsetzungsworte (1Kor 11,24f.; Lk 22,19: »Dies tut zu meinem Gedächtnis«), der indiziert, dass rituelle Praktiken des Erinnerns im frühen Christentum durchgeführt wurden. 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 22 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 23 Christian Strecker Der erinnerte Jesus aus kulturwissenschaftlicher Perspektive Ad 1: Hinsichtlich des im Einzelnen nur mehr schwer eruierbaren Wirkens Jesu von Nazareth gilt es zunächst zu beachten, dass sich dieses in einer primär oral geprägten Kultur vollzog. Auch wenn die Schrift im antiken Judentum als Kodifikation göttlicher Wahrheit einen herausragenden Stellenwert besaß und in diversen gesellschaftlichen Bereichen schriftliche Kommunikation selbstverständlich war, wäre es verfehlt, bei der Mehrheit der damaligen jüdischen Bevölkerung eine qualifizierte Alphabetisierung vorauszusetzen. Catherine Hezser gelangt in ihrer einschlägigen Studie zu dem Ergebnis, dass die Schreib- und Lesekundigkeit in der antiken jüdischen Gesellschaft in römisch-byzantinischer Zeit deutlich unter jenem Anteil von 10-15% lag, der für die römische Gesellschaft in imperialer Zeit veranschlagt wird, 31 und Meir Bar-Ilan kalkuliert für das römische Palästina im 1. Jh. n.Chr. gar nur einen Anteil von 3%. 32 In Anbetracht dieser als »Hypoliteralität« beschreibbaren gesellschaftlichen Situation 33 wird man davon ausgehen müssen, dass auch Jesus von Nazareth seine religiöse Bildung respektive seine Kenntnis der Tora auf mündlichem Weg erlangte, d.h. über die Einprägung und Memorierung von Gehörtem, zumal er aus dem einfachen dörflichen Milieu in Galiläa stammte und qualifizierte Literalität eher in höheren urbanen Schichten begegnete. 34 Selbst den Evangelien ist im Übrigen kein eindeutiger historischer Beleg für eine qualifizierte Schreib- und Lesekundigkeit Jesu zu entnehmen. 35 Vor diesem Hintergrund ist es problematisch, an Jesu Verkündigung Maßstäbe anzulegen, die letztlich der modernen literalisierten, durch Druckmedien geprägten Kultur entstammen. Dies geschieht überall dort, wo man den Nazarener als Autor einer identisch festgeschriebenen, gleichsam kodifizierten Botschaft charakterisiert und dementsprechend versucht, sein ursprüngliches Wort (ipsissimum verbum) aus der ntl. Überlieferung wortgetreu herauszudestillieren. Der Wanderprediger Jesus müsste danach an den verschiedenen Orten seines Auftretens letztlich dieselben Aussagen formuliert, d.h. über eine wortidentisch memorierte Botschaft verfügt haben, die er im Sinne kalter Erinnerung jenseits jeglicher Anpassung an die jeweils neuen Umstände allerorts wiederholt hätte. Diese Sicht der Dinge entspricht indes nicht dem in oralen Gedächtniskulturen überwiegend verbreiteten Umgang mit memoriertem Wissen, der durch situationsbedingte Variationen gekennzeichnet ist. Jan Assmann beschreibt das Profil mündlich memorierter kultureller Texte generell wie folgt: »Der Text ist die Summe seiner Variationen, er ist im Fluß. ... Der nicht-festgestellte, tiefenstrukturelle, sich immer wieder neuen Vergegenwärtigungen fügende Text, das ist die Form, in der der kulturelle Text unter den Bedingungen der Mündlichkeit existiert.« 36 In diesem Sinn ruhte wohl auch die auf der mündlichen Aneignung des kulturellen Gedächtnisses Israels basierende und in diversen oralen Aufführungen je und je neu proklamierte Botschaft Jesu einer dem jeweiligen sozialen Kontext angepassten kreativen und effektiven Erinnerung auf, 37 die im Sinne des Funktionsgedächtnisses von Aleida Assmann eine Brücke über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schlug, darin offenbar die Legitimität bestehender politischer Machtverhältnisse bedrohte bzw. aufweichte - was zu Jesu Tod am Kreuz führte -, und die schließlich - wie die Entstehung der frühen Jesusbewegung zeigt - der Profilierung einer eigenen kollektiven Identität Vorschub leistete. Nicht unerwähnt darf aber auch die somatisch-affektive Dimension bleiben. Orales Erinnern und Rezitieren erfolgt in der Regel in Form geprägter sprachlicher Muster und Rhythmen (Formeln, Redefiguren, Reime, Wiederholungen etc.), 38 denen Rhythmen des Körpers, d.h. Gesten, Mimiken und Bewegungen korrespondieren, die ihrerseits, wie Aby Warburg betonte, bestimmte Affekte transportieren. Auch wenn diese sprachlich-somatisch-affektive Dynamik mit Blick auf die oralen Performanzen Jesu von Nazareth im Detail nicht mehr zu eruieren ist, sollte nicht übersehen werden, dass Jesu Verkündigung offenkundig von besonderen Körperereignissen begleitet wurde, insbesondere von Heilungen und Exorzismen. 39 Seine Botschaft artikulierte sich also augenfällig somatisch und schrieb sich solcherweise wohl bei den Betroffenen ins Körpergedächtnis ein, so dass deren Körper in gewis- »[Jesu] Botschaft artikulierte sich also augenfällig somatisch und schrieb sich solcherweise wohl bei den Betroffenen ins Körpergedächtnis ein ...« 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 23 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 24 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Zum Thema ser Weise zum Erinnerungsträger wurde. Alles in allem wird man davon ausgehen dürfen, dass Jesu Agieren über Stimme und Körper Menschen auf vielfältige Weise nachhaltig zu prägen vermochte, was natürlich im besonderen Maß für seine Jünger gilt. 40 In gewisser Weise bildete sich der »erinnerte Jesus« so bereits zu Lebzeiten des Nazareners als nachhaltig prägende Figur aus. Ad 2: Was nun die Überlieferung der Worte und Taten Jesu anbelangt, steht die Frage im Raum, ob und inwieweit der tradierte Stoff - gemäß der von Aleida Assmann vorgeschlagenen Unterscheidung - eher dem Gedächtnis als ars oder dem Gedächtnis als vis zuzuschreiben ist. Sind die Jesusüberlieferungen mit anderen Worten von der antiken ars memorativa her zu verstehen? Kamen also Mnemotechniken zur Anwendung, die eine mehr oder weniger verlässliche Speicherung des überlieferten Stoffes garantierten und womöglich gar ein zutreffendes Bild von Jesus transportierten? Oder erklären sich die Jesusüberlieferungen primär aus rekonstruktiven, identitätsstiftenden Erinnerungen, die im Dienst aktueller Interessen und Glaubensvorstellungen der frühchristlichen Gemeinden standen, wodurch die überlieferten Inhalte vielfältig umgewertet, verformt oder gar neu konstruiert wurden? Beide Positionen finden sich bekanntlich in der klassischen ntl. Forschung, sei es dass man postulierte, Jesus habe als Lehrer seine Jünger in rabbinischer Manier zu einer wortwörtlichen Memorierung seiner Botschaft angeleitet, die dann über Jahrzehnte hinweg tatsächlich wortgetreu erhalten geblieben sei und in die Evangelien einging (Birger Gerhardsson), sei es dass man in der Jesusüberlieferung in erster Linie das konstruktive Schaffen der frühchristlichen Gemeinde am Werk sah, welches die von der Überlieferung strikt zu unterscheidenden und sich zusehends verflüchtigenden Erinnerungen weithin überlagerte (klassische Formgeschichte). Beide Positionen werfen zahlreiche Probleme auf, die an dieser Stelle nicht genauer erörtert werden müssen. 41 Für den hier verhandelten Sachverhalt mag die Feststellung genügen, dass die jüngeren kulturwissenschaftlichen Debatten auch mit Blick auf die Jesusüberlieferung eher ein komplexes Zusammengehen von mnemonischer ars und vis denn deren Opposition nahelegen, und zwar insofern, als das Gewesene als bewusst Bewahrtes grundsätzlich die Gegenwart mit bestimmt, während die jeweilige Gegenwart umgekehrt das Bewahrte in vielerlei Hinsicht maßgeblich mit gestaltet und konturiert. 42 Diesem Ineinander in der Jesusüberlieferung genauer nachzuspüren, ist freilich keine einfache Aufgabe. Der kulturwissenschaftliche Diskurs bietet aber in jedem Fall wichtige Orientierungsmarken für die Erforschung der Bedeutung der Jesusüberlieferung. So gilt es zunächst die soziale Determiniertheit des Gedächtnisses und die in kollektiver Hinsicht identitätsstiftende Rolle von Erinnerungen zu beachten und dementsprechend die Ausbildung unterschiedlicher frühchristlicher Erinnerungsgemeinschaften samt der in diesen jeweils vollzogenen Verschiebungen im kulturellen Gedächtnis Israels zu berücksichtigen. Diese soziokulturelle Dynamik des »erinnerten Jesus« ist dabei nicht nur auf der textuellen Ebene der Jesusüberlieferungen zu verfolgen, also in den darin eingelassenen formativen (d.h. das Selbstbild der Gruppe artikulierenden bzw. reflektierenden) und normativen (d.h. das Verhalten der Gruppe prägenden) Elementen, sondern ebenso auf der rituellen Ebene, also mit Blick auf die Vergegenwärtigung Jesu in den rituellen Vollzügen der Taufe und des Abendmahls, in denen das rituelle Subjekt mittels somatischer Praktiken affektiv in die Gruppe der Christusgläubigen eingebunden und die kollektive Erinnerung an Jesus körperlich erfahrbar bzw. in deren Körper eingeschrieben wurde, wobei der somatisch-affektiven Komponente eine das rituelle Subjekt transformierende Dynamis zukam. 43 Nicht übersehen werden darf bei alledem, dass die Erinnerung an Jesus sowohl auf der textuellen wie auch auf der rituellen Ebene im Dienst der Bewältigung einer traumatischen Erfahrung, nämlich der Bewältigung des schmachvollen Todes Jesu, stand, die im Übrigen politisch brisant war, insofern es sich beim Kreuzestod um einen römischen Straftod handelte. Die frühchristliche Erinnerung an Jesus ist folglich im Kontext dessen zu sehen, was man kollektives Opfergedächtnis nennt. 44 Seinen besonderen Ausdruck fand es im frühen Christentum darin, dass man Jesu Martertod durch die heilsgeschichtliche Einbindung in das kulturelle Gedächtnis Israels im Rahmen der Jesusüberlieferung 45 und durch die Umwertung in ein Heilsgeschehen im Ritual die Schmach nahm und darin zugleich den mit diesem Tod verbunde- 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 24 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 25 Christian Strecker Der erinnerte Jesus aus kulturwissenschaftlicher Perspektive nen politischen Macht- und Unterdrückungsmechanismus implizit unterminierte. Ein wichtiger und vieldiskutierter Aspekt ist sodann der medientheoretisch belangreiche Schritt zur Verschriftlichung der Jesusüberlieferung im Markusevangelium um das Jahr 70 n.Chr., also 40 Jahre nach Jesu Tod. 46 Darin mag man unter Rekurs auf die Assmannsche Typologie den Übergang vom kommunikativen Gedächtnis zum kulturellen Gedächtnis innerhalb der frühchristlichen Kommemoration erblicken. 47 Ob und inwieweit die Verschriftlichung der Jesusüberlieferung in den Evangelien aber einen manifesten Einschnitt darstellte, ist umstritten. Da die Evangelienschriften öffentlich verlesen wurden und der Prozess der mündlichen Überlieferung fortdauerte, wird man wohl kaum von einem radikalen Bruch sprechen dürfen. 48 Ein in diesem Zusammenhang bislang nur wenig beachteter Aspekt ist die mögliche Rolle des Gedächtnisses bei der Komposition der Evangelien. Von antiken Schriftstellern ist bezeugt, dass sie ihre Werke vor der schriftlichen Niederlegung im Gedächtnis konzipierten und aufgrund der damals schwierigen Handhabbarkeit schriftlicher Texte (scriptio continua; Fehlen von Punktierung, Kapiteleinteilungen, Überschriften; diverse Handschriftenstile; Unhandlichkeit der Papyrussollen etc.) auch Quellentexte aus dem Gedächtnis verarbeiteten. 49 Es ist nicht auszuschließen, dass Mt und Lk in ähnlicher Weise verfuhren und man insofern zumindest teilweise von einer oralen Komposition dieser Evangelien im Gedächtnis sprechen kann. 50 Ad 3: Angesichts der voranstehenden Ausführungen verwundert es zunächst, dass das Thema »Gedächtnis und Erinnerung« in der ntl. Forschung lange Zeit keine angemessene Berücksichtigung fand. Dies erklärt sich wohl nicht zuletzt daraus, dass die historisch-kritische Erforschung des Neuen Testaments ein Kind der Aufklärung ist und in jener oben beschriebenen Zeit aufkam, als sich die typographische Schriftkultur allgemein durchsetzte 51 und mit dem Niedergang der Rhetorik die klassische Gedächtniskultur verblasste. Wie ist nun aber der Ort der Jesusforschung im Raum der europäischen Geschichte näher zu bestimmen? Ist sie nicht vielleicht selbst als eine Art Erinnerungsort zu fassen, an dem sich eine bestimmte Identität festmacht? Kritische Überlegungen der chinesischen Theologin Kwok Piulan, die die Frage nach dem historischen Jesus mit der dynamischen Ausformung kultureller Identität im Westen korreliert, gehen in diese Richtung. 52 Kwok Piu-lan setzt das Aufkommen der modernen Jesusforschung in eine Beziehung zur europäischen Kolonialpolitik. Die kulturelle und politische Herausforderung, die mit der Begegnung der Fremden einherging, habe im Westen zu einer tiefen Verunsicherung und Verängstigung geführt. Vor diesem Hintergrund müsse das Aufziehen der Rückfrage nach dem historischen Jesus als Absicherung der eigenen westlichen, insbesondere männlichen Identität verstanden werden. Der moderne wissenschaftliche Rekurs auf den Nazarener sei insofern weniger aus dem emanzipatorischen Impuls einer Sprengung kirchlichdogmatischer Fesseln heraus zu erklären, wie landläufig immer wieder behauptet wird, vielmehr handle es sich um das Projekt einer identitätsstabilisierenden Ursprungskonstruktion mit massiven machtpolitischen Implikationen. Vor diesem Hintergrund ist dann auch mit Blick auf den jüngsten Boom der Jesusforschung (»Third Quest«) zu fragen, inwiefern und inwieweit die unzähligen vorgelegten wissenschaftlichen Publikationen über das vermeintlich wahre historische Profil Jesu von Nazareth nicht implizit im Dienst einer jeweils bestimmten Erinnerungsbzw. Identitätspolitik stehen. 53 Hier bricht freilich die komplexe Frage auf, ob Geschichtsschreibung im Allgemeinen und Jesusforschung im Speziellen - zumal, wenn sie von Theologinnen und Theologen verantwortet wird - überhaupt jenseits jeglicher memorialen Dimension betrieben werden kann und soll. 54 Ist nicht gerade in der theologischen Jesusforschung eine wissenschaftlich verantwortete Verschränkung von Speicher- und Funktionsgedächtnis unvermeidbar? Diese lange Zeit vernachlässigte Frage ist der Jesusforschung angesichts der aktuellen kulturwissenschaftlichen Debatte über das Thema »Gedächtnis und Erinnerung« vielleicht neu aufgegeben. »Ein in diesem Zusammenhang bislang nur wenig beachteter Aspekt ist die mögliche Rolle des Gedächtnisses bei der Komposition der Evangelien.« 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 25 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 26 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Zum Thema l Anmerkungen 1 J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, 11. 2 Vgl. zu den zentralen Paradigmen der Kulturwissenschaften insgesamt H. Böhme / P. Matussek / L. Müller, Orientierung Kulturwissenschaft. Was sie kann, was sie will, Reinbek bei Hamburg 2000, 104ff.; A. Nünning / V. Nünning (Hgg.), Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen - Ansätze - Perspektiven, Stuttgart / Weimar 2003; M. Fauser, Einführung in die Kulturwissenschaft, Darmstadt 2003. D. Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006 übergeht die Gedächtnistheorien indes weitgehend. 3 Die kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorien werden in der Exegese erst in jüngerer Zeit breiter rezipiert; vgl. A. Kirk / T. Thatcher (Hgg.), Memory, Tradition, and Text. Uses of the Past in Early Christianity (Semeia Studies 52), Leiden / Boston 2005; s. ferner die Beiträge in Heft 1 des 36. Jg.s (2006) der Zeitschrift Biblical Theology Bulletin. Zur Berücksichtigung der Kulturwissenschaften in der Exegese s. generell Chr. Strecker, »Turn, Turn, Turn! To Everything There is a Season«. Die Herausforderung des cultural turn für die neutestamentliche Exegese, in: W. Stegemann (Hg.), Religion und Kultur, Stuttgart 2003, 9- 42. 4 Vgl. zum Folgenden F.A. Yates, Gedächtnis und Erinnern. Mnemonik von Aristoteles bis Shakespeare, Berlin 3 1994; H. Blum, Die antike Mnemotechnik, Hildesheim 1969; J.P. Small, Wax Tablets of the Mind. Cognitive Studies of Memory and Literacy in Classical Antiquity, London / New York 1997; M. Carruthers, The Book of Memory. A Study in Medieval Culture, Cambridge 1990; O.G. Oexle, Memoria als Kultur, in: ders. (Hg.), Memoria als Kultur, Göttingen 1995, 9-78; vgl. auch J. Assmann, Gedächtnis, 163-292; ders., Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 2000; A. Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999. Dies ist freilich nur ein kleiner Ausschnitt aus der kaum mehr überschaubaren Sekundärliteratur zum Thema. 5 E. Braun, Art. »Parva naturalia«, in: F. Volpi (Hg.), Großes Werklexikon der Philosophie, Bd. 1: A bis K, Stuttgart 2004, 74f.: 75. 6 Näheres bei Oexle, Memoria, 35-37. 7 Vgl. dazu die aufschlussreiche Deutung von S. Goldmann, Statt Totenklage Gedächtnis. Zur Erfindung der Mnemotechnik durch Simonides von Keos, Poetica 21 (1989), 43- 66. 8 Genaueres bei Yates, Gedächtnis, 11-33. 9 Vgl. Small, Wax Tablets, 136. 10 So erwähnt etwa Xenophon Nikeratos, der in seiner Jugend alle Verse Homers auswendig beherrscht habe (Symp 3,5f.), Plinius d.Ä. berichtet von einem gewissen Charmadas, der angeblich jedes Buch, das man in der Bibliothek verlangte, auswendig zitieren konnte (NatHist 7,89), und Augustin nennt seinen Jugendfreund Simplicius, der Reden Ciceros und alle Bücher Vergils auswendig kannte und sogar rückwärts zitieren konnte (De anima et eius origine 4,7,9). 11 Näheres bei E. Flaig, Ritualisierte Politik. Zeichen, Gesten und Herrschaft im alten Rom, Göttingen 2003, 49-98. 12 Vgl. dazu Y. Yerushalmi, Zachor. Erinnere Dich, Berlin 1988, 16-40. 13 J. Assmann, Gedächtnis, 212-228 erblickt im Dtn den Gründungstext einer völlig neuartigen kollektiven Mnemotechnik, die eine von den »natürlichen« Rahmenbedingungen des kulturellen und kollektiven Gedächtnisses, nämlich Königtum, Tempel, Territorium, unabhängige Erinnerung ermögliche. Er verweist auf acht im Dtn erscheinende Verfahren kulturell geformter Erinnerung: 1. Beherzigung, d.h. die Einschreibung der Worte ins Herz (Dtn 6,6); 2. Erziehung, d.h. die Weitergabe an folgende Generationen (Dtn 6,7); 3. Sichtbarmachung durch die Tefillin (Dtn 6,8); 4. Limitische Symbolik durch die Mesusa an den Türpfosten (Dtn 6,9; vgl. 11,20); 5. Speicherung und Veröffentlichung durch Inschriften auf gekalkten Steinen (Dtn 27,2-8); 6. Feste kollektiver Erinnerung (Dtn 16), nämlich Mazzot (Passa), Schawuot (Wochenfest) und Sukkot (Laubhüttenfest) sowie die Darbringung der Erstlinge mit dem kleinen geschichtlichen Credo (Dtn 26); 7. Mündliche Überlieferung (Dtn 31,19-21); 8. Kanonisierung der Tora als Grundlage buchstäblicher Einhaltung (Dtn 31,9-14; vgl. 4,2, 12,32). 14 Genaueres zu den voranstehenden knappen Notizen bei Oexle, Memoria, 37ff.; Yates, Gedächtnis, 54ff. 15 H. Weinrich, Gedächtniskultur - Kulturgedächtnis, Merkur 45 (1991), 569-582: 579. 16 Vgl. zu all diesen Veränderungen P. Stein, Schriftkultur. Eine Geschichte des Lesens und Schreibens, Darmstadt 2006, 220ff.262ff.269ff. 17 Vgl. dazu insgesamt A. Assmann, Erinnerungsräume, bes. 89-113; Oexle, Memoria, 57-68. 18 Vgl. M. Halbwachs, Das Gedächtnis und die sozialen Bedingungen, Frankfurt a.M. 1985 (frz. Orig. 1925); ders., Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1991 (frz. Orig. 1950); ders., Verkündigte Orte im Heiligen Land. Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis, Konstanz 2002 (frz. Orig. 1941). 19 Halbwachs, Gedächtnis, 121. 20 Halbwachs, Gedächtnis, 55. 21 Vgl. A. Warburg, Gesammelte Schriften, hg. v. H. Bredekamp u.a., Berlin 1998ff. Die folgende Darstellung stützt sich auf H. Böhme, Aby Warburg (1866-1929), in: A. Michaels (Hg.), Klassiker der Religionswissenschaft, München 1997, 133-156. 22 Böhme, Aby Warburg, 151. 23 Vgl. dazu die gegen Ende von Anm. 4 genannten Literaturangaben. 24 J. Assmann, Religion, 37. 25 A. Assmann, Erinnerungsräume, 142. 26 Vgl. zum Gesagten P. Nora, Zwischen Gedächtnis und Geschichte, Berlin 1990, bes. 11-15. 27 Vgl. Chr. Strecker, Das Gewesene, das Fremde und die Exegese, in: ders. (Hg.), Kontexte der Schrift II, FS W. Stegemann, Stuttgart 2005, 120-131: 121-127 (dort weitere Literatur). 28 Vgl. dazu nur H. Bergenthum, Geschichtswissenschaft und Erinnerungskulturen, in: G. Oesterle (Hg.), Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, Göttingen 2005, 121- 162. 29 Vgl. dazu B. Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origins and Spread of Nationalism, London 1983; E. Hobsbawm, Das Erfinden von Traditionen, in: Chr. Conrad / M. Kessel (Hgg.), Kultur & Geschichte. 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 26 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 27 Christian Strecker Der erinnerte Jesus aus kulturwissenschaftlicher Perspektive Neue Einblicke in eine alte Beziehung, Stuttgart 1998, 97- 118. 30 Die Erinnerung an seine Worte ist auch Paulus wichtig (vgl. 1Kor 11,2; s. auch 2Thess 2,5). 31 Vgl. dazu W.V. Harris, Ancient Literacy, Cambridge / London 1989, 328; s. auch Stein, Schriftkultur, 86.90. 32 Vgl. C. Hezser, Jewish Literacy in Roman Palestine (TSAJ 81), Tübingen 2001, 496; M. Bar-Ilan, Illiteracy in the Land of Israel in the First Century C.E., in: S. Fishbane u.a. (Hgg.), Essays in the Social Scientific Study of Judaism and Jewish Society, New York 1992, 46-61; s. ferner R.A. Horsley / J.A. Draper, Whoever Hears You Hears Me. Prophets, Performance, and Tradition, Harrisburg 1999, 125-127. Anders A.R. Millard, Pergament und Papyrus, Tafeln und Ton. Lesen und Schreiben zur Zeit Jesu, Giessen / Basel 2000, 154-188. 33 Vgl. Stein, Schriftkultur, 22. Diese Situation lag im Übrigen im Interesse der römischen Besatzer, deren Macht nicht zuletzt in der Differenz zwischen schriftbasierter Herrschaft und verbreiteter Illiterarität gründete (vgl. ebd., 88-92). 34 Vgl. Hezser, Literacy, 474 u.ö. 35 Die Historizität der Mitteilung in Lk 4,16-20, wonach Jesus in der Synagoge in Nazareth aus der Jesajarolle las, ist zweifelhaft, da der gesamte Abschnitt Lk 4,16-30 als sekundäre lukanische Ausgestaltung von Mk 6,1-6a betrachtet werden kann. Die Notiz in Joh 8,6, wonach Jesus mit dem Finger auf die Erde schrieb, ist wenig aussagekräftig, da nicht Schriftzeichen im Blick sein müssen; überdies ist die Stelle textkritisch sekundär. In Joh 7,15 wundern sich die Ioudaioi, wie Jesus ohne entsprechendes Studium die Schriften kennen kann. Der Vers setzt keineswegs zwingend Jesu Lesekundigkeit voraus. 36 J. Assmann, Religion, 132; vgl. auch Stein, Schriftkultur, 15. 37 Vgl. dazu W. Kelber, The Generative Force of Memory: Early Christian Traditions as Processes of Remembering, in: BTB 36 (2006), 15-22: 18, der die situationsbedingt jeweils variierende Wiederholung von Aphorismen und Gleichnissen in Jesu Verkündigung als »lived and acted ... memory« beschreibt. 38 Vgl. nur W.J. Ong, Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987, 39-41. 39 Zur Frage der Historizität der Therapien und Exorzismen Jesu s. ausführlich J.P. Meier, A Marginal Jew. Rethinking the Historical Jesus, Bd. II: Mentor, Message, and Miracles, New York 1994, 617-772. 40 J.D.G. Dunn spricht diesbezüglich vom »impact of Jesus«; vgl. ders., A New Perspective on Jesus. What the Quest for the Historical Jesus Missed, Grand Rapids 2005, bes. 22-28.44 Anm 31 u.ö. 41 Vgl. dazu nur T.C. Mournet, Oral Tradition and Literary Dependency (WUNT II/ 195), Tübingen 2005, 54-67; zu weiteren Positionen s. ebd., 67-99. 42 Vgl. dazu A. Kirk / T. Thatcher, Jesus Tradition as Social Memory, in: dies. (Hgg.), Memory, 25-42: 42 über »Continuity and Change in Early Christianity«. 43 Näheres bei G.M. Kneightley, Christian Collective Memory and Paul’s Knowledge of Jesus, in: Kirk / Thatcher (Hgg.), Memory, 129-150 und Chr. Strecker, Die liminale Theologie des Paulus (FRLANT 185), Göttingen 1999. 44 Vgl. dazu nur A. Assmann, Vier Formen des Gedächtnisses, EWE 13 (2002), 183-192: 187. 45 Vgl. dazu A. Kirk, The Memory of Violence and the Death of Jesus in Q, in: ders . / Thatcher (Hgg.), Memory, 173-190. 46 Ein anderes Bild ergibt sich, wenn man die Logienquelle weit vor 70 n.Chr. datiert. Die Entstehung, der schriftliche Charakter und sogar die Existenz von Q sind indes mehr denn je umstritten. 47 So Kirk / Thatcher, Jesus Tradition, 41; J. Schröter, Erinnerung an Jesu Worte. Studien zur Rezeption der Logienüberlieferung in Markus, Q und Thomas (WMANT 76), Neukirchen 1997, 464f. 48 Vgl. dazu J.D.G. Dunn, Jesus Remembered, Grand Rapids / Cambridge 2003, 199-204.210-254.881-884. 49 Vgl. Small, Wax Tablets, 177-201, mit zahlreichen antiken Belegen u.a. bei Plinius d.J. 9,36; DiodSic 1,3,4. 50 Verschiedentlich wurde dies bereits erwogen; vgl. R.A. Derrenbacker, Jr., Ancient Compositional Practices and the Synoptic Problem (BETL 186), Leuven u.a. 2005, 93ff. (für Lk; Goulder-These).234ff. (für Mt; Zwei-Quellen- Theorie); R.A. Horsley, Prominent Patterns in the Social Memory of Jesus and Friends, in: Kirk / Thatcher (Hgg.), Memory, 57-77: 61. 51 Vgl. dazu die mediengeschichtliche Betrachtung der Jesusforschung bei Chr. Strecker, Hic non est. Ein kultur- und medienhistorischer Blick auf das Christentum und den Jesusdiskurs, in: A. Nehring / J. Valentin (Hgg.), Religious Turns, Turning Religion (ReligionsKulturen 1), Stuttgart 2007 (im Erscheinen). 52 K. Piu-lan, On Color-Coding Jesus: An Interview with Kwok Pui-lan, in: R.S. Sugirtharaja (Hg.), The Bible and Postcolonialism I, Sheffield 1998, 176-188. 53 Vgl. E. Schüssler Fiorenza, Jesus and the Politics of Interpretation, New York / London 2000, 12: »[T]he boom in Historical-Jesus publications is not so much about history as about identity.« 54 Vgl. dazu den Disput zwischen A. Assmann und K. Pomian in A. Assmann, Erinnerungsräume, 143-145. 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 27 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 28 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Das Evangelium des Lieblingsjüngers stellt sich selbst als die Vermittlung einer Offenbarung vor, die nicht nur das Heil und das ewige Leben bringt, sondern auch die Möglichkeit, Heil und ewiges Leben im Glauben zu empfangen. Das ist sogar das ausdrückliche Ziel des Buchs, wie es der Evangelist seinen Adressaten in der 2. Pers. plur. explizit erklärt (Joh 20,31): Diese [Zeichen] sind geschrieben worden, damit ihr glaubt, daß Jesus der Christus, der Sohn Gottes ist, und damit ihr das Leben in seinem Namen habt, indem ihr glaubt. Diese Offenbarung ist von den vom Text des Evangeliums direkt angesprochenen Adressaten durch einen zeitlichen Abstand getrennt. Sie muß vergegenwärtigt werden, um für die Leser relevant und gültig zu werden. Die geographische und historische Distanz zwischen der Person Jesu, dem Grund des Evangeliums, und den Adressaten seiner Verkündigung erklärt die Entstehung der gesamten Schriften des Neuen Testaments. Sie sind verfaßt worden, weil die ersten Zeugen abwesend oder gestorben sind (Jakobus, Petrus und Paulus, drei der vier Säulen in Gal 2,1-10, sind fast gleichzeitig am Anfang der 60er Jahre hingerichtet oder verschwunden) und nur noch in der Form der Apostelbriefe und der Evangelien reden können. Das Lukasevangelium benennt das Problem (Lk 1,1-4), aber das Johannesevangelium ist das erste, das es bewußt reflektiert und es zum expliziten Thema des Evangeliums selbst - nicht nur eines konventionellen Prologes - macht. 1. Das hermeneutische Bewußtsein des Johannesevangeliums Die Aufgabe der Vergegenwärtigung wirft nach dem Johannesevangelium zwei verschiedene hermeneutische Fragen auf. 1.1. Die Erinnerung als Möglichkeit des Glaubens Die erste betrifft die Möglichkeit überhaupt, mit dem Fleisch gewordenen Gotteswort gegenwärtig zu werden. Kann ein Mensch glauben, wenn er Jesus nicht gesehen hat und ihn nicht mehr wird sehen können? Die Möglichkeit des Glaubens bildet das zentrale Thema der ersten österlichen Erzählungen und Dialoge (Joh 20,1-31). Der Sohn ist bereits am Kreuz erhöht worden (Joh 3,14; 8,28; 12,32) und er ist nun unterwegs zum Vater (Joh 20,17). Neun Szenen stellen die Schritte einer Kontaktwiederaufnahme vor: • Maria-Magdalena entdeckt das offene Grab (20,1), • Magdalena informiert Petrus und den geliebten Jünger über den Diebstahl (20,2), • Petrus und der geliebte Jünger im Grab (20,3- 10), • Jesus offenbart sich Maria-Magdalena (20,11- 18), • Jesus offenbart sich den zehn Jüngern (20,19- 23), die Osterbotschaft der zehn Jünger an Thomas (20,24-25), • Jesus offenbart sich den zehn Jüngern und Thomas (20,26-29) • Das Evangelium erklärt den Lesern die ihm zugrundeliegende Erzählabsicht, den Glauben zu veranlassen (20,30-31). Der vom Himmel gesandte Gottessohn bleibt oder wird präsent im Glauben, und der Glaube wird vom Auferstandenen und dann von dem Geist, den er auf seine Jünger pustet (20,22-23), gegeben. Die Verheißung des Heils und des ewigen Lebens gilt daher für alle, die glauben werden, selbst wenn sie ihn persönlich nicht gesehen haben (20,29). Diese Szenen sind durch die Reflexion vorbereitet, die in den Abschiedsreden stattgefunden hat (13,1-17,26). Die Erzählungen von Ostern materialisieren die Verheißungen des Sohnes, der zu seinen Jüngern nach seinem Tod zurückkommen wird und ihnen seinen Geist, den Paraklet, senden lassen oder senden wird (14,15-17; 14,25- Zum Thema François Vouga Erinnerung an Jesus im Johannesevangelium 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 28 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 29 François Vouga Erinnerung an Jesus im Johannesevangelium 26; 15,26-27; 16,7-15. Der Paraklet wird die Jünger an alles erinnern, was Jesus ihnen geoffenbart hat. 1.2. Die Erinnerung als Kontinuität des Zeugnisses Die zweite hermeneutische Frage, die mit der Möglichkeit des Glaubens eng verbunden ist, betrifft die irdische Kontinuität des Zeugnisses. Genauso wie Johannes der Täufer sind die Jünger nicht das Licht, das in der Welt gekommen ist und Fleisch wurde, sondern sie zeugen von dem Licht, damit alle durch sie glauben (1,5-8). Der Erhöhte, der unter ihnen am Ostertag erscheint, bestätigt den Auftrag der Abschiedsreden (20,21-23): (21) Er sagte ihnen wiederum: »Euch Friede! Wie der Vater mich gesandt hat, auch ich sende euch«. (22) Und als er dies gesagt hatte, pustete er und sagt zu ihnen: »Nehmet den Heiligen Geist! (23) Denen ihr die Sünden vergeben werdet, werden sie ihnen vergeben, denen ihr nicht vergebt, sind sie nicht vergeben worden«. In sieben Szenen wird die Frage der Kontinuität zwischen der Offenbarung des Sohnes und des Zeugnisses seiner Gesandten wiederaufgenommen (21,1-25). Die beiden Figuren des Petrus und des Lieblingsjüngers sind wiederum miteinander verbunden. Die Rollenverteilung hat aber eine andere Funktion als in den ersten Szenen. Reflektiert wird nicht mehr die Möglichkeit überhaupt des Glaubens, des Verstehens und der Überwindung des Unverständnisses (20,3-10), sondern die historische Kontinuität der Gottesoffenbarung des Sohnes in der Welt wird unter zwei verschiedenen Aspekten erzählerisch legitimiert und gesichert: Petrus wird mit der Aufgabe beauftragt, Symbol der Einheit der Schafe und der Lämmer des erhöhten Sohnes zu werden und zu bleiben (21,15-19), während der Jünger, den Jesus liebte, als die Autorität eingesetzt wird, unter welcher die johanneische Offenbarung ihre literarische Gestalt annimmt und die den Wahrheitsgehalt der Kontinuität ihres Zeugnisses garantiert (21,20- 25). Die beiden Figuren werden nicht einfach nebeneinander gestellt: Petrus, der nach der Fußwaschung und im leeren Grab auf das Verständnis des geliebten Jüngers angewiesen war (13,23-26; 20,3-10), ist von seinem Zeugnis weiterhin abhängig, um mit Verstand handeln zu können (21,7) 1 : • Petrus und die Jünger wollen fischen gehen (21,1-3), • Jesus sendet noch einmal die Jünger (21,4-6a), der geliebte Jünger versteht das Zeichen und Petrus folgt seinem Zeugnis, das ihn zu Jesus führt (21,6b-8), • Jesus offenbart sich den Jüngern, indem er ihnen das Brot und die Fische zu essen gibt (21,9-14), • Jesus gibt Petrus den Auftrag, seine Schafe und seine Lämmer zu weiden und zu hüten (21,15-19), François Vouga Prof. Dr. theol. Dr. theol. h.c. François Vouga geboren 1948 in Neuchâtel; 1973-1974 Assistent von Christophe Senft in Lausanne; 1975-1982 Gemeindepastor in Avully und Chancy (Genf); 1982-1985 Maître assistant in Montpellier; 1985 Thèse de doctorat und venia legendi im Fach Neues Testament in Genf; 1984-1985 Gastprofessor in Neuchâtel; 1985-1986 Professor in Montpellier, 1986 an der Kirchlichen Hochschule Bethel; Seit 1988 regelmäßige Gastprofessuren an der Facoltà Valdese di Teologia in Rom; 1998 Ehrendoktor der Universität Neuchâtel; 1999 und 2001 Gastprofessur an der Faculté de théologie et de sciences religieuses de Université Laval, Québec. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der frühchristlichen Literatur, Einheit und Vielfalt der neutestamentlichen Theologie, Paulus und die paulinische Theologie, die Petrusbriefe, Theologie und Ästhetik (Kunst und Musik), Theologie und Naturwissenschaften. Zahlreiche Veröffentlichungen zu diesen Gebieten, einzusehen unter: www.kihobethel.de/ lehrende/ vouga.html 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 29 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 30 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Zum Thema • Jesus stellt Petrus den geliebten Jünger als die Gestalt vor, die dableibt, bis Jesus präsent ist (21,20-23), • Der Erzähler zeugt im Namen der Träger der johanneischen Tradition (»wir«, 21,24, vgl. 1,14.16; 3,11; 4,22; 9,4) von der Wahrhaftigkeit des Zeugnisses des Lieblingsjüngers, der als der Autor des Buches vorgestellt wird (21,24-25). Genauso wie die ersten Osterberichte (20,1- 31), die die Möglichkeit des Glaubens offenbaren, zu einer indirekten Aufforderung an den Leser führen, um zu glauben (20,30-31), münden die zweiten (21,1-25), die die historische Kontinuität der Erinnerung begründen, in eine Beglaubigung des johanneischen Zeugnisses (21,24-25), in der sich das »Ich« des Erzählers auf das »Wir« der Offenbarungstradition und auf den geliebten Jünger beruft, um den Lesern eine zuverlässige Basis für den zukünftigen Erinnerungsprozeß zu bieten. 1.3. Das Argument der apostolischen Tradition Das Buch der Offenbarung, das mit einem Gedicht über die universale Bedeutung der absoluten Singularität der Fleischwerdung des Logos anfängt (Joh 1,1-18), endet logischerweise mit einer Reflexion über die Autorität des hermeneutischen Prozesses der Erinnerung, der die zeitlichen Abstände überbrücken kann. Diese Reflexion ist gleichzeitig nach hinten und nach vorne gerichtet. Sie ist nach hinten gerichtet, indem die Stimme der »Wir«-Gruppe als Träger der Erinnerung die Wahrhaftigkeit des Zeugnisses bezeugt, das im Buch aufgeschrieben ist (21,24): (24) Dies ist der Jünger, der über dieses zeugt und der dieses schrieb, und wir wissen, daß sein Zeugnis wahr ist. Der Lieblingsjünger, den die Abschiedsreden, die Passionsgeschichte (19,25-27) und die ersten Osterberichte als das Vorbild des Glaubens und des Verstehens darstellen, ist bekanntlich zur auktorialen Figur des Evangeliums geworden. Dadurch stellt sich das »Ich«, das sich selbst als Erzähler vorstellt, unter seine »apostolische« Autorität. Diese Strategie ist in mehrerer Hinsicht mit der Pseudepigraphie der Paulusbriefe verwandt. Auch die Verfasser des Kolosser- oder des Epheserbriefes stellen sich unter die Autorität des Paulus, um sein theologisches Denken in Form seiner Briefe fortzuführen. Der Unterschied ist jedoch ein doppelter: Die Autorschaft des Lieblingsjüngers, der »über dieses zeugt und dieses schrieb«, ist fiktional: Indem er sich als »Ich« vorstellt, unterscheidet sich der Verfasser von dem geliebten Jünger, den er in der dritten Person bezeichnet. Die Pseudepigraphie argumentiert mit der pragmatischen, impliziten und nicht-gesagten Berufung auf die Identität des Verfassers mit einer Autoritätsfigur: Sie behauptet nicht, im Namen einer Autoritätsfigur schreiben zu wollen oder zu dürfen, sondern sie schreibt unmittelbar unter ihrem Namen. Johannes verfährt anders: er stellt sich als »Ich« vor, das stellvertretend für die »Wir«-Gruppe der Zeugen schreibt und das den Wahrheitsanspruch seines Offenbarungsbuches durch den Verweis auf eine Autorität, die er selbst nicht ist, die aber das Buch durch ihn verfaßt, autorisiert. Ich stelle fest, daß das johanneische »Ich« als der Erfinder des Arguments der apostolischen Tradition betrachtet werden soll, weil es nicht nur behauptet, unter einem apostolischen Namen zu schreiben, sondern sich auf die Autorität eines Apostels argumentativ beruft, um die Wahrhaftigkeit seiner eigenen Erinnerung oder der Erinnerung der Offenbarungstradition, die es vertritt, zu begründen. Die hermeneutische Reflexion des Johannes sucht deswegen die Rückendeckung einer apostolischen Tradition, weil sie auch die Zukunft im Blick hat (21,22): (22) Jesus sagt zu ihm: »Wenn ich will, daß er bleibt, bis ich komme, was geht es dich an? Du [= Petrus] folge mir nach! « (23) Da verbreitete sich unter den Brüdern das Wort, daß jener Jünger nicht sterbe. Jesus hatte ihm nicht gesagt, daß er nicht sterbe, sondern: »Wenn ich will, daß er bleibt, bis ich komme, was geht es dich an? « Die nächstliegende Interpretation des Spruches Jesu ist in der Tat, daß der geliebte Jünger nicht 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 30 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 31 François Vouga Erinnerung an Jesus im Johannesevangelium sterben würde, bis Jesus kommen sollte. Aber der Erzähler warnt ausdrücklich vor diesem Mißverständnis: Es geht nicht um das Sterben des Jüngers, sondern um sein »Bleiben«. Der terminus ad quem seines Bleibens ist das Kommen Jesu, und das Kommen Jesu bezeichnet im Buch der Offenbarung die Präsenz des Sohnes bei seinen Jüngern (14,18-24). 2 Der Sinn scheint folglich klar zu sein: Der geliebte Jünger, der das Verständnis der Offenbarung verkörpert, soll in der Welt bleiben, bis die Erinnerung, die der Geist bewirken soll, dem Buch der Offenbarung seine Form gegeben hat. 3 Wenn die letzte Aussage Jesu diesen hermeneutischen Sinn hat, dann kann das »Ich« als der Erfinder des Arguments der apostolischen Tradition betrachtet werden, weil es den Text des Evangelium als das Buch gewordene Zeugnis des Lieblingsjüngers vorstellt. Wahr ist nicht das Buch, sondern das Zeugnis: Das Zeugnis ist wahr, weil die durch die Figur des geliebten Jüngers autorisierte Offenbarungstradition auf die absolute Singularität des fleischgewordenen Logos verweist, an der der Geist erinnern wird. 2. Der Heilige Geist und die Gegenwart des Evangeliums als »Sich-Erinnern« Die irdische Vergegenwärtigung der Offenbarung geschieht produktionsorientiert im Zeugnis der Offenbarungstradition der »Wir-Gruppe«, die durch das »Ich« des Erzählers vertreten ist (1,14.16; 3,11; 4,22; 9,4; 21,24). Diese Wir-Gruppe stellt sich sowohl als die bekennende Gruppe des Mensch gewordenen Logos (1,14.16) als auch die Stimme des Offenbarers dar, die im Buch und in den Selbsterläuterungen der Offenbarungstradition aktualisiert wird (3,11; 4,22; 9,4; 21,24). Die Vermittlung als aktuelle Annahme der Offenbarung geschieht durch das »Sich-Erinnern« der Jünger, das durch den Geist ermöglicht wird. 2.1. »Sich erinnern« als Vergegenwärtigung der Offenbarung »Sich erinnern« (2,17.22; 12,16) und »erinnern« (14,26) ist ein terminus technicus der johanneischen Hermeneutik, der auf eine diskontinuierliche Kontinuität der Jünger mit der Offenbarung des hinabgestiegenen Gottessohnes verweist. Der Gegenstand der Erinnerung ist die Geschichte des irdischen Jesus (12,16) und die Worte des Offenbarers (2,17.22; »was er gesagt hat«, 14,26). Das Subjekt vom »Erinnern« ist der Paraklet, der Heilige Geist (14,26), und die Subjekte des »Sich-Erinnern« sind die Jünger (2,17.22; 12,16). Dieses »Sich-Erinnern« der Jünger an die Worte und Taten Jesu wird aber dadurch problematisiert, daß die Erinnerung erst dann möglich sein wird, wenn Jesus von den Toten auferstanden sein wird (2,22), wenn er verherrlicht sein wird (12,18) und wenn der »Paraklet« sie belehren und daran erinnern wird (14,26). Daraus ist zu schließen, daß das johanneische »Sich-Erinnern« keine bloße Gedächtnisaufgabe ist, sondern daß es ein neues Verständnis der Vergangenheit impliziert. Die hermeneutische Reflexion der johanneischen Erinnerung ist in dieser Hinsicht nicht weit entfernt von der paulinischen Erkenntnis (2Kor 5,14-17): (14) Denn die Liebe Christi beherrscht uns, wenn wir dies urteilen, daß einer für alle starb; also starben alle; (15) und er starb für alle, damit die Lebenden nicht mehr sich selbst leben, sondern dem, der für sie starb und auferweckt wurde. (16) So daß wir von jetzt an niemand nach dem Fleisch kennen; wenn wir Christus nach dem Fleisch gekannt haben, aber wir kennen ihn nicht mehr so. (17) So daß, wenn jemand in Christus ist, er neue Schöpfung ist: das Alte ist vergangen, siehe Neues ist entstanden. In der Sprache der johanneischen Offenbarungstradition formuliert: Das richtige Verständnis der »Daraus ist zu schließen, daß das johanneische ›Sich- Erinnern‹ keine bloße Gedächtnisaufgabe ist, sondern daß es ein neues Verständnis der Vergangenheit impliziert.« 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 31 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 32 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Zum Thema Geschichte des irdischen Jesus und der Worte des Offenbarers wird erst nach seiner Auferstehung, durch seine Verherrlichung und durch die Lehre des Parakleten möglich. 2.2. »Sich erinnern« als Neudeutung »von oben her«: Joh 2,13-25 Die Erzählung stellt die Reinigung des Tempels so dar, daß sie nicht als eine Reform der Institution des Tempels interpretiert wird (so Mk 11,15-18: Der Tempel soll ein Gebetshaus für alle Völker werden), sondern als eine Selbstoffenbarung Jesu als Gottessohn (»das Haus meines Vaters«). Diese Offenbarung provoziert eine Diskussion mit den »Juden«, die ein Zeichen als Legitimation verlangen. Als Zeichen gibt Jesus das Tempelwort: »Zerstört diesen Tempel, und ich werde ihn in drei Tagen auferwecken« (2,19). Der Begriff des »Zeichens« warnt den Leser vor der Doppeldeutigkeit des Wortes. »Zeichen« sind weltimmanente Handlungen und ebenso Aussagen, die auf die Transzendenz der absoluten Singularität der Offenbarung Gottes hinweisen. Sie können »von unten her«, innerweltlich, zweidimensional auf Menschenhöhe mißverstanden werden. Oder ihr Sinn eröffnet sich denen, die »von oben her neu geboren sind« und die sie als Offenbarung der dritten Dimension, die »oben« von »unten«, »Gott« und »Welt« unterscheidet, verstehen. Johannes bietet drei Auslegungen des Tempelwortes: • Die »Juden« verstehen deswegen nicht, weil sie das Tempelwort im eigentlichen Sinne, »von unten her« zweidimensional verstanden haben: »dieser Tempel«meint den Tempel in Jerusalem. Die johanneische Darstellung enthält insofern ironische Züge, als die Zerstörung des Tempels vorausgesetzt ist: Nicht die Ankündigung der Zerstörung, sondern nur die Verheißung des Wiederaufbaus des Tempels erregt Anstoß. • Der Erzähler erklärt aber ausdrücklich, daß der Tempel im übertragenen Sinn als Bezeichnung des Leibes Jesu zu verstehen ist (2,21). Damit verweist er auf eine zweite Interpretation, die an das Verständnis der synoptischen Evangelien erinnert: Die Zerstörung und der Wiederaufbau »dieses Tempels« meint den Tod und die Auferstehung Jesu (Mk 14,58). • Diese metaphorische Interpretation des Tempelwortes als Ankündigung des Todes und der Auferstehung Jesu bleibt aber zweidimensional und innerweltlich: Denn der Todes und die Auferstehung Jesu sind nur als das irdische Zeichen der himmlischen Herkunft des Sohnes, den der Vater in die Welt gesandt hat und der Gott als seinen Vater bezeichnet. Die wahre Bedeutung des Zeichens, das der Glaube »von oben her« versteht, ist die Offenbarung des vom Himmel herabgestiegenen Gottessohnes. Sie ist deswegen erst durch eine Erinnerung möglich, die die Auferstehung Jesu von den Toten und seine Rückkehr zum Vater voraussetzt, weil der Sohn nicht aus dieser Welt ist: Er ist der Logos Gottes, der Fleisch wurde, der zu seinem himmlischen Ursprung zurückkehrt. Als solcher ist er der wahre Tempel (2,21). Das wahre, himmlische Passah ist die Erhöhung des von Gott gegebenen Lammes (2,13.23; 6,4; 11,55; 12,1; 13,1; 18,28.39; 19,14), und der Gottesdienst in Geist und in Wahrheit ist der Glaube an den Gottessohn (4,23). 2.3. »Sich erinnern« als neue Auslegung der Schrift: Joh 12,12-19 Mit der Verwendung von Ps 118,25-26 und mit dem Motiv der Akklamation des Königs Israels stellt die Erzählung den Einzug Jesu in Jerusalem als den Auftritt des Gesandten Gottes und des Messias dar. Das Zitat von Jes 40,9 und Sach 9,9 verstärkt die eschatologische Bedeutung dieser Mitteilung, die die Botschaft der synoptischen Evangelien wiederholt (Mt 21,1-11 / / Mk 11,1-11 / / Lk 19,29-38). Das Zitat der Propheten ist nicht neu. Johannes hat es in der matthäischen Fassung der Szene gefunden (Mt 21,5). Dort ist es aber als Erfüllungszitat eingeführt: »Dies geschah, damit erfüllt werde, was vom Propheten wurde, der sagte: Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir ...« (Mt 21,5). Johannes schließt sich zunächst daran an, indem das Zitat die Konformität der Erzählung mit dem, was geschrieben steht, zeigen soll: (14) Jesus fand einen jungen Esel und setzte sich darauf, wie es geschrieben steht: (15) »Fürchte dich nicht, Tochter Zion, siehe, dein König kommt, sitzend auf dem Füllen einer Eselin! « 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 32 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 33 François Vouga Erinnerung an Jesus im Johannesevangelium Der messianische Sinn der Szene und ihrer prophetischen Deutung ist klar, bis der Erzähler erklärt, daß die Jünger das Zitat nicht verstanden haben. Das Unverständnis der Jünger offenbart den zunächst mißverständlichen Charakter der Schrift. Der Erzähler ist allerdings präziser (12,16): (16) Dies erkannten seine Jünger nicht, zunächst, aber als Jesus verherrlicht wurde, dann erinnerten sie sich, daß dies über ihn geschrieben steht, und daß sie ihm das getan hatten. Johannes setzt zwar das hermeneutische Prinzip voraus, das dem matthäischen Erfüllungszitat zugrunde lag: Die Schrift findet ihren Sinn in Christus und muß von Ostern her gelesen werden. Aber er reflektiert explizit, was bei Matthäus implizit war, und führt in die hermeneutische Diskussion die Dreidimensionalität seines Offenbarungsverständnisses ein. • Die Doppeldeutigkeit der Schrift hängt nicht am Geschriebenen, sondern an der Möglichkeit zu erkennen, was geschrieben steht. Das sachgemäße Verständnis der Schrift verlangt eine Erinnerung, die mit der Zeit und dem Ort, von woher sie gelesen wird, zusammenhängt. • Gegenübergestellt werden zwei Zeiten: zunächst konnten die Jünger den Sinn nicht begreifen, aber später, dann erinnerten sie sich. Das Offenbarungsereignis der Verherrlichung Jesu gibt den notwendigen Schlüssel, um den Zugang zu der Aussage der Schrift zu finden. »Verherrlicht werden« ist ein terminus technicus der johanneischen Christologie und Theologie, der den Tod Jesu als Erhöhung und als Rückkehr des vom Himmel herabgestiegenen Gottessohnes zum Vater als eine doppelte Offenbarung des Vaters und des Sohnes interpretiert (7,39; 8,54; 11,4; 12,16.23.28; 13,31.32; 14,13; 15,8; 16,14; 17,1.4.5.10, vgl. 21,19). • Ich stelle fest, daß die johanneische Beschreibung der hermeneutischen Frage zwei Aufgaben unterscheidet und miteinander verknüpft: • Die erste Aufgabe betrifft das Verständnis des Lebens Jesu: Dann erinnerten sie sich, ... daß sie ihm das getan hatten. Die Geschichte des irdischen Jesus ist insofern mißverständlich, weil sowohl die »Juden« als auch die Jünger und die synoptischen Evangelien sie zweidimensional als ein innerweltliches Ereignis verstehen. Die Verherrlichung Jesu, die seine Erhöhung als Offenbarung seiner göttlichen Herkunft und Identität interpretiert (8,28), hebt insofern das Mißverständnis auf, als sie ihn als den himmlischen Erlöser kennzeichnet. In diesem Zusammenhang ist die Erinnerung ein Prozeß der Wiederentdeckung, die die Geschichte des historischen Jesus als Geschichte des Herabstiegs des himmlischen Gottessohnes in die Welt und der Rückkehr der eschatologischen Erlöser zum Vater erkennt und versteht. • Die zweite Aufgabe besteht in der richtigen Auslegung der alttestamentlichen Schrift: Dann erinnerten sie sich, daß dies über ihn geschrieben steht... Erst im Augenblick der Verherrlichung Jesu, in dem die ewige Distanz zwischen Himmel und Welt offenbar wird, ist den Jüngern die Möglichkeit gegeben, sich zu »erinnern«, daß diese Stelle der Propheten auf ihn als auf den Gottessohn, der zum Vater zurückkehrt, Bezug nimmt (12,16). Der Bedeutung der Erinnerung überrascht hier: »Sich erinnern« bedeutet nicht, daß die Jünger wiederfinden, was sie vergessen hatten, und bereits Bekanntes in ihrem Gedächtnis reaktivieren. Die Erinnerung ist vielmehr eine kreative Erinnerung. Sie ist aber kreativ, weil sie durch eine Offenbarung, die »von oben her kommt« gegeben wird, und weil sie die Bedeutung der Schrift, die vertraut war, »von oben her« neu entdecken und erkennen lässt. Zusammengefaßt: Die Erinnerung ist deswegen Vergegenwärtigung des Wortes des Offenbarers und die sachgemäße Erkenntnis des Glaubens, weil das »Sich-Erinnern« den zeitlichen Abstand zwischen der Fleischwerdung des Gotteswortes und den Jüngern von zweiter Hand überbrückt und weil sie die eschatologische Distanz zwischen dem himmlischen Gottessohn und der Welt offenbart. »Die Erinnerung ist vielmehr eine kreative Erinnerung.« 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 33 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 34 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Zum Thema 2.4. »Sich erinnern« als Gabe des Parakleten: Joh 14,25-26 Wenn das Verständnis der absoluten Singularität der Offenbarung in der Welt durch die Erinnerung gegeben wird, dann stellt sich die Frage der Möglichkeit der Erinnerung. Johannes macht diese Frage zum zentralen Thema der ersten Abschiedsreden (13,1-14,31). Die hermeneutische Antwort ergibt sich konsequent aus der Dreidimensionalität der Offenbarungstheologie: Die Möglichkeit der Gleichzeitigkeit mit dem Wort des Erlösers, das durch die Erinnerung verwirklicht wird, ist weder durch eine Vermittlung der Zeugen noch durch den Glauben, den die Erinnerung ermöglicht, gegeben, sondern durch den Heiligen Geist, den Johannes den »anderen Parakleten«, den anderen Herbeigerufenen, nennt (14,15-17 und 25-26): (15) Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten. (16) und ich werde den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Parakleten geben, damit er mit euch sei in Ewigkeit. - (17) den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn nicht sieht und nicht kennt. Ihr kennt ihn, weil er bei euch bleibt und er in euch sein wird. (25) Dies habe ich euch gesagt, während ich bei euch blieb. (26) Der Paraklet, der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, er wird euch alles lehren und wird euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe. Der Geist wird von Anfang an als »der andere Paraklet« vorgestellt (14,16). Die Definition des Geistes als der andere Paraklet setzt als nicht-ausgesprochene Aussage voraus, daß Jesus der erste war. Der Heilige Geist und der herabgestiegene Gottessohn werden damit als parallele Figuren beschrieben. Dem entspricht, daß der Heilige Geist parallel zum Sohn vom Vater zu den Jüngern gesandt wird (14,16 und 26), und daß das Verhältnis des Parakleten zu den Jüngern das gleiche ist wie das Verhältnis des Erlösers zu den Seinen, die er in die Wahrheit führt. Die Aufgabe, die der Geist erfüllen wird, ist nämlich eine doppelte: • Er wird die Jünger alles lehren, wie Jesus es in der Welt getan hat (6,59; 7,14.28.35; 8,20.28, vgl. 7,16.17; 18,19). • Seine Lehre besteht präzise darin, daß er die Jünger an alles, was Jesus ihnen gesagt hat, erinnern wird. Die Erinnerung ist aber weder als eine Auffrischung des Gedächtnisses noch als die Aufrechterhaltung einer zeitlichen Kontinuität zu verstehen: Auch im Bereich der Pneumatologie denkt Johannes dreidimensional: Der Paraklet wird die Offenbarung des Sohnes, der das ewige Leben gibt, als das Kommen des Logos in die Welt vergegenwärtigen. Die Tätigkeit des Parakleten besteht darin, daß er den Jüngern die Gleichzeitigkeit mit dem Wort des Erlösers, den Glauben und das ewige Leben vermitteln wird. Die Erinnerung kann deswegen Vergegenwärtigung des Wortes des Offenbarers und Möglichkeit des Glaubens sein, weil sie Gabe Gottes ist, die vom Parakleten, vom Geist der Wahrheit, den der Vater gesandt hat, geschenkt wird. 4 3. Der Paraklet als Subjekt der Erinnerung In der johanneischen Sprache bezeichnet der Geist das Leben (19,30) und das Verständnis Jesu (11,33; 13,21), aber auch die göttliche Bestimmung der neuen Existenz, die in der neuen Geburt von oben gegeben ist und lebendig macht (3,5.6.8.34; 4,23.24; 6,63), und den Heiligen Geist, der vom Himmel her herunterkommt, um mit Jesus zu bleiben (1,32.33), und den die Glaubenden empfangen werden, wenn er erhöht werden wird (7,39; 14,17; 15,26; 16,13). Die beiden letzten Bedeutungen müssen deswegen unterschieden werden, weil der Heilige Geist erst dann gesandt werden kann, wenn Jesus verherrlicht (7,39) und zum Vater zurückgekehrt ist »Der Paraklet ist der Anwalt, der Fürsprecher oder der Helfer, den der Vater mit der hermeneutischen Aufgabe der Erinnerung beauftragt.« 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 34 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 35 François Vouga Erinnerung an Jesus im Johannesevangelium (16,7): Nach der Erhöhung Jesu bekommt der Geist, der »von oben her neu geboren sein läßt« und das ewige Leben von Gott her verleiht, eine neue Funktion, die mit der Abwesenheit Jesu von seinen Jüngern verbunden ist, die in den Abschiedsreden angekündigt (7,39; 14,17.26; 15,26; 16,13) und an Ostern aktuell wird (20,22). Obwohl Johannes den Begriff des Heiligen Geistes kennt (15,26; 20,22), um den Geist der Wahrheit zu bezeichnen, der bei den Jüngern präsent bleiben wird (14,17; 16,13), verwendet er in den Abschiedsreden quasi als ein Äquivalent die Bezeichnung des »Parakleten« (14,16.26; 15,26; 16,7). Das Substantiv, das sich in 1Joh 2,1 auf Jesus selbst als den Fürsprecher der Gläubigen beim Vater bezieht, ist im klassisch-griechischen Sprachgebrauch ein juristischer Begriff. Es ist von einem Verb abgeleitet, das ein umfangreiches semantisches Feld deckt: einladen, herbeirufen, zur Hilfe rufen, aufrufen, auffordern, anrufen, bitten, ersuchen, ermuntern, zusprechen, ermahnen, trösten. Der Paraklet ist der Anwalt, der Fürsprecher oder der Helfer, den der Vater mit der hermeneutischen Aufgabe der Erinnerung beauftragt. 3.1. Das Zeitalter des Geistes als Zeit der Erinnerung Das trinitarische Modell der johanneischen Offenbarung ist der Ausgangspunkt der Periodisierung der Weltgeschichte in die drei Reiche des Vaters, des Sohnes und des Geistes, die der süditalienische Apokalyptiker Joachim von Fiora (ca. 1130-1202) in das europäische 12. Jh. und in die philosophischen und politischen Vorstellungen des Abendlandes eingeführt hat: Die Zeit des Vaters ist durch die Zeit des Sohnes, die Zeit der institutionellen Kirche, abgelöst worden, und die Zeit des Parakleten hebt nun die beiden auf. Voraussetzung dieses Denkmodells ist die Verbindung der johanneischen Pneumatologie mit den tausend Jahren der Apokalypse (Offb 20,1-6). Seine Rezeptionsgeschichte setzt sich bis zur Geschichtsphilosophie von G.W.F. Hegel und bis ins 20. Jh. fort. 5 Sowohl die trinitarische Zeiteinteilung der drei Epochen, die sich ablösen, als auch das Bewußtsein, in einer letzten Zeit des Geistes zu leben, die angefangen hat und die Vergangenheit überholt, sind der johanneischen Hermeneutik nicht fremd. Die Fleischwerdung des Logos war zwar der Weg, die Wahrheit und das Leben (14,6), an die der Paraklet die Jünger erinnert, aber der Rückbezug auf die vergangene Zeit des Sohnes schließt eine Weiterentwicklung zur Wahrheit hin nicht aus (16,12-13): (12) Noch vieles habe ich euch zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht ertragen. (13) Wenn er kommen wird, der Geist der Wahrheit, wird er euch in die ganze Wahrheit hinführen. Denn er redet nicht von sich aus, sondern er wird euch verkündigen, was kommt. Die Verheißung, der Paraklet werde in die ganze Wahrheit hineinführen, die jetzt noch nicht verständlich sein kann, und die er den Jüngern in der für sie vorbereiteten Zukunft offenbaren wird, setzt eine prospektive Kraft der Erinnerung voraus. Der Heilige Geist wird nicht nur an die Vergangenheit und an die Jesusgeschichte erinnern, sondern die Erinnerung des Parakleten ist die Offenbarung einer Zeit, die für die Jünger noch nicht denkbar ist. In der Reflexion der johanneischen Offenbarungstradition zeigt sich wieder eine fiktionale Dimension, in der sich die Erfahrung der Erinnerung im hermeneutischen Rückblick widerspiegelt. Der Erzähler weiß, daß sich die Zeiten geändert haben und daß die Geschichte des johanneischen Zeugnisses eine Kontinuität bildet, die sich nur auf dem Hintergrund der Diskontinuität entwickeln konnte. Diese Spannung zwischen der Identität der Offenbarung mit sich selbst (das Zeugnis ist dasselbe geblieben) und den historischen Veränderungen (das Zeugnis kann aber nicht mehr das gleiche geblieben sein) wird im dialektischen Verhältnis des Parakleten zum Sohn thematisiert. • Zum einen hat der Paraklet ein einziges Thema, das mit Variationen und unter verschiedenen Formen wiederholt wird: Der Paraklet wird die Jünger erinnern, was Jesus ihnen gesagt hat (14,26), er wird auch von ihm zeugen (15,26), ihn verherrlichen und den Inhalt seiner Verkündigung von Jesus nehmen (16,14-15): (14) Er wird mich verherrlichen, weil er aus dem Meinigen nehmen wird und euch verkündigen. (15) Alles, was der Vater hat, ist mein. 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 35 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 36 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Zum Thema Deshalb sagte ich euch, daß er aus dem Meinigen nimmt und euch verkündigen wird. • Zum anderen ist der Paraklet Jesus dadurch verbunden, daß er entweder wie der Sohn aufgrund der Bitte des Sohnes (14,16) oder im Namen des Sohnes (14,26) vom Vater oder direkt vom Sohn selbst gesandt worden ist (15,26; 16,7; 20,22): Er verherrlicht deshalb Jesus, weil er von der Einheit des Vaters und des Sohnes herkommt, weil er von sich aus nicht redet (16,13) und weil er alles, was er sagt, vom Sohn nimmt (16,14-15). Der Paraklet hat seinen Ursprung und sein Ziel in der Einheit des Vaters und des Sohnes, die den Jüngern im Laufe der Weltgeschichte extraterritorial geoffenbart wird. Entsprechend besteht die Erinnerung darin, daß Jesus den Parakleten, den Heiligen Geist vom Vater hat senden lassen oder selbst gesandt hat, damit er bei seinen Jüngern in der sich verändernden Geschichte durch die Erinnerung, die er ermöglicht, gegenwärtig bleibt. 3.2. Die Erinnerung als Gericht Weil die Erinnerung, die der Paraklet ermöglicht, die Offenbarung des Sohnes vergegenwärtigt, nimmt sie die beiden Formen des Evangeliums an: nämlich das Leben geben und das Gericht bringen. Die ungläubige Welt, die den himmlischen Gottessohn nicht empfangen hat (vgl. Joh 15,18- 16,4a ) und weder sieht noch glaubt, wird den Parakleten auch nicht empfangen können (Joh 14,17 ). Der Paraklet wird deshalb das Werk des Offenbarers insofern aktualisieren, als er die Sünde der Welt, ihren Unglauben und ihre Ungerechtigkeit offenbart, da sie die Wahrheit und das Leben, das der vom Himmel hinabgestiegene Gesandte bringt, nicht anerkannt hat: (8) Und, wenn er kommt, wird er die Welt überführen in bezug auf die Sünde - und in bezug auf die Gerechtigkeit - und in bezug auf das Gericht. - (9) In bezug auf die Sünde, weil sie an mich nicht glauben. - (10) In bezug auf die Gerechtigkeit, weil ich zum Vater hingehe und ihr werdet mich nicht mehr sehen. - (11) In bezug auf das Gericht, weil der Herrscher dieser Welt gerichtet ist. Die Erinnerung des Parakleten offenbart in der Weltgeschichte, daß das, was die Welt für das Leben hält, das Leben nicht ist. 3.4. Die Erinnerung als (Johannes-)Evangelium Wer die Stimme des Vaters hören will, höre die Stimme des Sohnes, den er aus seiner Liebe in die Welt gesandt hat, und wer sich an seine Worte erinnern will, die der Paraklet vergegenwärtigt, lese das Johannesevangelium! Die Wir-Gruppe, die in der Dichtung des ersten Teils des Evangeliums bekennt, die Herrlichkeit des fleischgewordenen Logos Gottes gesehen zu haben (1,16) und alles von ihrer Fülle bekommen zu haben (1,18), erzählt im zweiten Teil (Joh 1,19-21,24), was sie mit Jesus »von oben her« weiß und gesehen hat (3,11; 4,22), obwohl die Welt es nicht erkennen kann. Sie arbeitet mit ihm, solange das Licht in die Finsternis leuchtet (9,4), und bezeugt für den Leser, daß das Zeugnis des Lieblingsjüngers, aufgrund dessen sie ihn auffordert, zu glauben (20,30-31), um das Leben zu haben, wahr ist (21,24). Literarisch setzt das Evangelium die Verheißung um, die mit der Figur des Parakleten und dem Verweis auf den geliebten Jünger (21,24) gegeben ist. (Johannes-)Evangelium, Paraklet und Leser bilden ein System der paradoxen Kommunikation, 6 das im Evangelium selbst explizit und hermeneutisch reflektiert ist: Das Evangelium des geliebten Jüngers und der Wir-Gruppe kann deshalb das wahre Zeugnis geworden sein, weil die bekennenden Stimmen, die die Herrlichkeit des Logos Gottes sahen (1,16) und die den Text des Evangeliums unterschrieben haben (21,24), vom Paraklet, den ihnen der Vater und der Sohn gesandt haben, in die ganze Wahrheit hingeführt worden sind (16,13). Das Evangelium ist aber kein toter Buchstabe, denn für den Leser gilt die Verheißung des Parakleten, die die schriftliche Erinnerung des (Johannes-)Evangeliums in die lebendige Erinnerung der Vergegenwärtigung des Logos Gottes verwandeln wird (16,14-15). Die johanneische Inspirationslehre des Parakleten ist eine doppelte: Produktionsorientiert ist sie Inspiration des Erinnert-Seins im Evangelium, rezeptionsorientiert ist sie Inspiration des Sich-Erinnerns des Lesers. Daraus folgt, daß die johanneische Erinnerung nicht als ein innerweltlicher Vorgang des konservativen und kreativen Ge- 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 36 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 37 François Vouga Erinnerung an Jesus im Johannesevangelium dächtnisses mißverstanden werden darf, sondern als eine Gabe des Geistes, der den Menschen von oben her neu geboren sein lässt, gedacht werden muß. Durch die Erinnerung, die der Paraklet allein ermöglicht, weil er der Geist der Wahrheit ist, den der Vater gibt und den die Welt nicht erkennen kann, werden alle Menschen zum Vater erhöht (12,32). Die Freiheit der Jünger, die von oben her neu geboren sind, ist Freiheit von dieser Welt - und deshalb auch Freiheit von sich selbst -, denn die sind zwar noch vorläufig in dieser Welt, aber nicht mehr von dieser Welt (17,9-19). Als Buch der Offenbarung gibt es der Präsenz des herabgestiegenen Gottessohnes in der Welt die Form einer hermeneutischen Erinnerung an, die ihn bei seinen Jüngern vergegenwärtigt und ihre Einheit mit dem Vater und dem Sohn vor der Welt bezeugt (13,24-25). So ist die johanneische Erinnerung keine Rekonstruktion einer vergangenen Wirklichkeit. Als einziges Lehramt hat sie die entscheidende Funktion, die Torheit der Worte Jesu in der christlichen Gemeinde zu aktualisieren und die Sache Gottes in der Welt zu vertreten: die Menschen in Kinder, die vom Vater gezeugt und geliebt sind, zu verwandeln. 7 l Anmerkungen 1 Das literargeschichtliche und hermeneutische Verhältnis dieser sieben Szenen (21,1-25) zu den neun ersten (20,1-31) ist parallel zum Verhältnis der zweiten Abschiedsreden (15,1-16,33) zu den ersten (13,1- 14,31): Die gleichen Themen werden unter einem neuen Aspekt wiederaufgenommen. Die Hypothese, die A. Loisy, Le quatrième évangile, Deuxième édition refondue, Paris 1921, 514, exemplarisch vertritt und die das Kapitel 21 für »un supplément ajouté, par lequel est dérangée l’économie de l’oeuvre« hält, setzt einen logischen Bruch zwischen der Entstehungsgeschichte der Abschiedsreden und derjenige der Oster-Erzählungen voraus. 2 Ausführliche exegetische Diskussion bei: R. Fabris, Giovanni, Rom 1992, 1087-1099. 3 H. Thyen, Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübingen 2005, 791. L. Schenke, Johannes. Kommentar, Düsseldorf 1998, 396, ist noch konsequenter: Die Erklärung der Wir-Gruppe (21,24) gehört nicht zum Buchschluss (21,25), sondern schließt sich unmittelbar an den Dialog mit Petrus an: Jesus hat nicht gemeint, daß der geliebte Jünger nicht sterben, sondern daß er im Buch Zeugnis ablegen würde. 4 Zur hermeneutischen und theologischen Bedeutung des trinitarischen Denkmodells des Johannesevangeliums s. P.-A. Stucki / F. Vouga, La trinité au musée? , EThR 61 (1986), 195-212; J. Becker, Johanneisches Christentum. Seine Geschichte und Theologie im Überblick, Tübingen 2004, 131-135. Zum Parakleten im Rahmen der johanneischen Christologie s. immer noch G. Bornkamm, Der Paraklet im Johannes-Evangelium, in: Glauben und Geschichte I, Gesammelte Aufsätze III (BevTh 48), München 1968, 68-89. 5 G. Bornkamm, Die Zeit des Geistes. Ein johanneisches Wort und seine Geschichte, in: Glauben und Geschichte I, Gesammelte Aufsätze III (BevTh 48), München 1968, 90-103. 6 G. Bateson, Steps to an Ecology of Mind I / II, New York 1971 / 1972. 7 Vgl. P. Ricca, Evangelo di Giovanni, a cura di Gabriella Caramore, Uomini et Profeti 15, Brescia 2005, 279- 280. 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 37 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 38 ZNT 20 (10. Jg. 2007) § 1 Prämisse Die Auseinandersetzung zwischen Juden und Christen über Jesus von Nazareth beginnt im 2. Jahrhundert mit Aristos »Altercatio Jasonis et Papisci« (um 140) und mit dem »Dialogus cum Tryphone Judaeo« von Justin (um 160). Diese christlichen Quellen überliefern eine theologische und religionsphilosophische Kontroverse, die dem Volk wahrscheinlich völlig fremd war, und die trotzdem einen glaubensrelevanten Standpunkt der involvierten Parteien beschreibt. Im Kampf mit dem Judentum erwähnen die christlichen Quellen niemals pharisäische, sondern immer und nur griechische Juden als Vertreter des Glaubens von Abraham. Die Schriftgelehrten und die Pharisäer schwiegen. Das Schweigen des rabbinischen Judentums ist jedoch nicht völlige Stummheit. Dieses Judentum tritt freilich nicht in eine offene Auseinandersetzung mit dem Christentum ein, legt aber dafür seine Ansichten in dem eigenen Schrifttum nieder. Tatsächlich ist der Talmud - im Besonderen der Babylonische - eine wichtige Quelle für das Studium des jüdischen Verhältnisses zum entstehenden Christentum. Die Stellung zum Christentum im Talmud ist auf Angriff und Verteidigung eingestellt und hat ihren Grund in dem früh einsetzenden ›christlichen Antisemitismus‹, wie diese Ablehnung der jüdischen Lehre am Anfang des 20. Jahrhunderts vom Historiker Jacob Klausner 1 genannt wurde. Da diese Ablehnung eine rein theologische, jedoch nicht rassistische Motivation hatte, bin ich der Meinung, dass sich die heutigen Historiker einen besser passenden Begriff dafür überlegen sollten. Die Äußerungen über Jesus sind nicht für sich alleinstehend zu betrachten, sondern sind in einen größeren Zusammenhang eingebettet, nämlich den Kampf des rabbinischen Judentums gegen gefährliche Häresien, vor allem den Gnostizismus, und später das Christentum selbst. Es gilt zunächst, den Tanakh - die Bibel - als jüdisches Besitztum zu verteidigen, während die Christen behaupten, dass die Weissagungen im Alten Testament durch Jesus erfüllt sind. Die Abwehrreaktion der Rabbiner ist durchaus verständlich, besonders deshalb, weil sie nicht nur im Christentum eine jüdische Häresie sehen, sondern vor allem, weil sie das Christentum als Bedrohung des Monotheismus durch die Trinitätslehre empfinden. Die talmudischen Quellen zeigen deutlich die Tendenz, die später dem Judentum in seinem Verhältnis zum Christentum und besonders zu dessen Stifter so eigen ist, nämlich die Neigung zur Isolierung und zum Schweigen. Dem entspricht, dass die Apologetik und die Polemik gegen das Christentum im Talmud oft anonym und indirekt geführt wird. Durch Nichterwähnung will man alle Häresien der Vergessenheit überliefern. Das hat zur Folge, dass der Talmud als Quelle des Lebens Jesu recht unergiebig ist. Man findet über Jesus äußerst wenig, und was geboten wird, ist ein Zerrbild, das keinerlei historischen Wert beanspruchen kann. Es ist aber der jüdischen Forschung daran gelegen, hervorzuheben, dass die Einstellung der Tannaiten zu Jesus freundlicher ist als die der Amoräer, dass m.a.W. die jüdische Feindseligkeit gegen Jesus hauptsächlich eine Frucht später eingetretener Verschlechterung im gegenseitigen Verhältnis der beiden Religionen ist. Während sich die rabbinische Literatur im Allgemeinen sehr negativ über Jesus von Nazareth ausdrückt, ist die jüdische Volksliteratur - die sogenannten Tol e doth Jeshu (Geschichten bzw. Legenden von Jesus), 2 deren ersten Spuren sich bis in das 2. Jahrhundert zurückverfolgen lassen - gar nicht ablehnend eingestellt. Wir wissen, dass die Tol e doth Jeshu, dessen Themen vor allem mit der Wundergeburt Jesu und mit seiner messianischen Rolle zu tun haben, bis zum 12. Jahrhundert Zum Thema Francesca Yardenit Albertini Die religiöse und geschichtliche Gestalt Jesus’ von Nazareth im Denken Moses Maimonides’ »Tatsächlich ist der Talmud - im Besonderen der Babylonische - eine wichtige Quelle für das Studium des jüdischen Verhältnisses zum entstehenden Christentum.« 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 38 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 39 Francesca Yardenit Albertini Die religiöse und geschichtliche Gestalt Jesus’ von Nazareth im Denken Moses Maimonides’ während der Adventszeit zwischen Bagdad und Kairo öffentlich gelesen wurden, in dem Versuch, die jüdische Identität von Jesus zu betonen und somit von den christlichen Gemeinden freundlicher behandelt zu werden. Als die muslimische Dynastie der Saladiner die Kontrolle dieser Gegend übernahm, verschwanden die Tol e doth Jeshu aus diesem Gebiet hin nach Spanien, Italien und Süd-Frankreich, wo sie bis ins Mittelalter geschrieben worden sind. Da die Tol e doth Jeshu heutzutage weder im jüdischen noch im christlichen Bereich besonders bekannt sind, möchte ich hier ihren Inhalt und Zweck kurz erläutern. Die ersten Tol e doth Jeshu entstanden im 2.-3. Jahrhundert, um die Messianität Jesu sowie seine Angehörigkeit zum jüdischen Volk durch eine Interpretation der evangelischen Erzählung aus den christlichen und jüdischen Häresien dieser Zeit zu bestreiten. Der Verfasser bzw. die Verfasser der Tol e dot Jeshu bezweckten mit diesen Schriften, Konversionen zum christlichen Glauben zu verhindern sowie das jüdische Volk gegen die falschen Messiasse (im Besonderen nach dem gescheiterten Widerstand von Bar Kochba) zu schützen. Die Tol e doth Jeshu waren also nicht ein literarisches Instrument gegen die Christen, sondern vielmehr eine ›Schutzwaffe‹ gegen die Angriffe der christlichen Missionisierung. Leider werden die Tol e doth Jeshu heute in vielen christlichen fundamentalistischen Bereichen benutzt, um die angebliche Bösartigkeit der Juden nachzuweisen und sogar die Legitimität und Notwendigkeit des Holocaust zu unterstützen. 3 An dieser Stelle kann ich weder einen Vergleich zwischen rabbinischer und Volksliteratur bezüglich Jesus von Nazareth noch eine Untersuchung der extrem differenzierten jüdischen Jesusgestalten aus beiden Traditionen anbieten. Ich bin vielmehr daran interessiert, zu analysieren, wie die Gestalt Jesu vom bekanntesten jüdischen Philosophen des Mittelalters - Moses Maimonides (1138 4 -1204) - übernommen worden ist, und inwieweit sich diese Rezeption der rabbinischen und der Volkstradition nähert bzw. distanziert. In der umfangreichen Bibliographie über Maimonides findet man lediglich zwei Aufsätze, die diesem Thema gewidmet worden sind 5 , und beide versuchen, die Gestalt Jesu nur innerhalb des religionsphilosophischen Horizonts Maimonides’ zu erklären. Hingegen ziele ich darauf ab, durch geschichtliche, religionswissenschaftliche und politische Instrumente die Gestalt Jesu im Denken von Maimonides zu interpretieren, damit man angebliche Widersprüche seiner Philosophie aus einer anderen - vielleicht vertiefend erläuternden - Perspektive zu beobachten vermag. § 2 Jesus im Werk von Moses Maimonides 1. Abhandlung über die Logik, 1158 Dreimal in seinem umfangreichen Werk kommt Maimonides explizit auf Jesus zu sprechen. Während er an der ersten Stelle nicht mehr tut, als gerade einmal dessen Namen zu erwähnen, weiß er an den beiden anderen Stellen durchaus etwas mehr von ihm zu berichten, wenn auch der Bericht beide Male vergleichsweise kurz ausfällt. Auf den ersten Blick erscheinen die Aussagen Maimonides’ über Jesus ebenso fragmentarisch wie inkonsistent und ergeben kein geschlossenes Bild. Zudem interessiert ihn Jesus nicht als Person, als der historische Jesus. Jesus dient ihm als ein Exempel, an dessen Person und Geschichte er wesentliche Gedanken über den Messias und die messianische Zeit einerseits und seine Sicht des Christentums andererseits veranschaulichen kann. Was also von Jesus gesagt wird, richtet sich stets nach dem geschichtlichen und intellektuellen Kontext jedwedes Werks von Maimonides. In chronologischer Hinsicht erwähnt Maimonides das erste Mal den Namen Jesu in der »Ab- Francesca Yardenit Albertini Francesca Yardenit Albertini, Jahrgang 1974, Studium der Philosophie und Judaistik in Rom, Promotion über Hermann Cohen in Freiburg, Habilitationsprojekt über die Einflüsse der frühmittelalterlichen islamischen Philosophie auf die Konzeption des Messias von Moses Maimonides. Lehrtätigkeit in Österreich, Schweiz und Deutschland. Forschungsaufenthalte in Israel und in den Vereinigten Staaten. Zur Zeit Vertretungsprofessorin für Jüdische Religionsphilosophie in Frankfurt. Forschungsgebiete: jüdische Ethik und Bioethik, Religionsphilosophie, Phänomenologie, politische Philosophie. 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 39 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 40 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Zum Thema handlung über die Logik«, 6 die er 1158, im Alter von nur 20 Jahren, bald nach Ankunft seiner Familie im marokkanischen Fes auf arabisch verfasst hat. Wieso wird Jesus in einem bloßen philosophischen Traktat erwähnt? Dort begegnet man dem Namen Jesu im Kapitel 12, und zwar in der Erklärung der fünf verschiedenen Bedeutungen von »früher und später« (anna sˇsˇay’a aqdamu mina sˇsˇay’i al-’ahar). Als Beispiel für »früher und später« im Sinne einer zeitlichen Abfolge führt Maimonides darin an: Mûsâ aqdam ’Isâ (»Moses ist früher als Jesus«). Da das ganze Kapitel ein Kommentar zu Aristoteles und zu seiner Theorie der Zeit ist, nach der die Zeit »die Meßzahl von Bewegung hinsichtlich des ›davor‹ und ›danach‹« 7 ist, nämlich die Zeit ist nicht eine empirische Sphäre, wo die Ereignisse ihre Verwirklichungsmöglichkeit finden, sondern vielmehr die messbare Ordnung der Bewegung, scheint die Erwähnung von Moses und Jesus in einem solchen Zusammenhang unverständlich zu sein. Wenn wir aber die Auseinandersetzung zwischen Christen und Juden seit dem 12. Jahrhundert in Marokko miteinbeziehen, 8 gewinnt die Aussage von Maimonides eine präzise geschichtlich-theologische Legitimität, wobei sie nicht nur als Polemik gegen die Schwesterreligion zu lesen ist. In einem Manuskript 9 des Rabbiners Samuel aus Fez über die Polemik zwischen Juden und Christen seit dem 12. Jahrhundert in seiner Heimatstadt liest man, dass die Christen den Juden das Evangelium als Weiterentwicklung der alttestamentlichen Weisheit vorstellen. Obwohl die jüdische Identität von Jesus in dieser Vorstellung keine Rolle spielte, scheinen die marokkanischen Christen vor allem an der Genealogie Jesu interessiert zu sein. In dem marokkanischen Kommentar zu Mt 2,16-18 wird der bethlehemitische Kindermord geschildert, bei dem die Ausführung des Motivs der Gefährdung und Errettung des Retterkindes zentral wird. Dann folgt als Abschluss der matthäischen Kindheitsgeschichte (Mt 2,19-23) der Bericht von zwei weiteren Engelserscheinungen an Josef, durch die motiviert werden sollte, warum die Familie Jesu nicht nach Bethlehem zurückgekehrt ist, sondern sich in Nazareth in Galiläa niedergelassen hat. Wichtiger aber noch ist in diesem Abschnitt ein unmissverständlicher Hinweis auf die Aufforderung Gottes an Moses in Midian. In Mt 2,20 heißt es, dass der dem Josef in Ägypten im Traum erscheinende Engel ihm gesagt hätte: »Die dem Kind nach dem Leben trachteten, sind gestorben«, was mit der Aufforderung der Rückkehr ins Land Israel verbunden war. Dies erinnert an Ex 4,19, wo die Stimme Gottes dem Moses sagt: »Die dir nach dem Leben trachteten, sind gestorben.« Jesus ist also nicht nur der neue David, der neue Exodus und das neue Israel, er ist auch der neue Moses. Nach Matthäus sagt die Kindheitsgeschichte, dass in Jesus endgültiges Heil geschehen ist, weil durch ihn alles erfüllt oder überboten wurde, was das Alte Testament als Heilsmöglichkeit gekannt hat. Diese christliche Interpretation von Matthäus, die im 12. Jahrhundert in Fez herrschte, erklärt die Aussage Maimonides im 12. Kapitel der »Abhandlung über die Logik«: Maimonides verleugnet nicht die jüdische Genealogie von Jesus, mit der das Evangelium von Matthäus anfängt (Mt 1,2-16), aber er erkennt und bestätigt noch einmal die Priorität von Moses im Vergleich zu Jesus. Diese Priorität ist nicht nur banal chronologisch zu verstehen: In Bezug auf die arabischen Kommentare zu Aristoteles, die den Hintergrund der »Abhandlung über die Logik« bilden, liegt das »Davor« der Wahrheit näher als das »Danach«. Während Moses das Gesetz direkt von Gott erhalten hat, ist Jesus lediglich ein Ausleger vom göttlichen Gesetz, das ihm nicht unmittelbar offenbart wurde. Maimonides scheint von derselben Sorge der talmudischen Gelehrten bewegt zu werden, die eigenartige Rolle von Moses als Wächter und Interpret des Gesetzes gegen spätere falsche Pro pheten zu verteidigen, und zugleich erkennt Maimonides Jesus als einen der Gelehrten der Torah an, die in die mosaische Tradition einzuordnen sind. 2 Iggeret Teman (Brief in den Jemen), 117210 Im zweiten Werk von Maimonides, wo wir einen Hinweis auf Jesus finden, ist das Bild des Stifters vom Christentum viel schärfer und polemischer: »Iggeret Teman« (Brief in den Jemen), im Jahr 1172 auf arabisch verfasst. Hier erscheint der Name Jesu im Zusammenhang einer Auflistung derer, die das Judentum zerstört haben bzw. zerstören wollen. Nach Maimonides hat es im Laufe der jüdischen Geschichte zwei Arten von Zerstörern Israels und dementsprechend auch zwei Ar- 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 40 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 41 Francesca Yardenit Albertini Die religiöse und geschichtliche Gestalt Jesus’ von Nazareth im Denken Moses Maimonides’ ten seiner Zerstörung gegeben: eine Zerstörung mit Gewalt (es werden in diesem Zusammenhang u.a. die Namen von Amaleq, Sisera, Sanherib, Nebukadnezar, Titus und Hadrian erwähnt) und eine Zerstörung mit den Mitteln des Geistes, der geistigen Auseinandersetzung bzw. religiösen antijüdischen Polemik. Als Beispiele für die zweite Art, das Judentum zu zerstören, nennt Maimonides »die Klugen der Völker und ihre Gelehrten (huddâq al-milal wa-’ulamâ’uhum) wie die Syrer, die Perser und die Griechen«, die »mit frei ersonnenen Argumenten und polemischen Auseinandersetzungen ebenso wie mit administrativen Maßnahmen die Abschaffung der Torah (naqd asˇsˇarî’a) und ihre Außerkraftsetzung bzw. Annullierung (fashuhâ) bewerkstelligen wollten.« 11 Der erste, der die Absicht und den festen Willen hatte, die Zerstörung des Judentums auf beide Weisen in die Tat umzusetzen, ist nach Maimonides »Jesus der Nazarener« gewesen, »seine Knochen mögen zu Staub zermahlen sein! (sˇehiq ’asamot)«. 12 Wenn wir uns den Zweck dieses Briefs vor Augen halten, ist die Stellungnahme Maimonides’ wohl verständlich. Der Ruhm und die Autorität, die Maimonides nach dem Beginn seiner medizinischen und rabbinischen Tätigkeit in Ägypten erlangte, brachten den Leiter der jemenitischen Gemeinde, Jacob ben Nathanel al-Fayyumi, 13 der gerade eine tiefe Krise innerhalb dieser Gemeinde bewältigen musste, dazu, Maimonides zu schreiben. Um 1150 kam eine fanatische muslimische Bewegung unter der Leitung von Schiihtem Ali ibn Mahdi an die Macht, welche die Existenz der jemenitischen jüdischen Gemeinde zu bedrohen begann. Die Lage verschlimmerte sich unter dessen Sohn ’Abd al-Nabi’ ibn Mahdi, der die Konversion aller Nicht-Muslime im Jemen forderte. Die Fragen, die Jacob Maimonides stellte, betrafen die Grundlagen des Lebens der jemenitischen Juden: Welches war die Bedeutung des aktuellen Leidens der Gemeinde? Wie musste man auf einen Konvertierten reagieren, der nun meinte, dass die Torah die Lehre von Mohammed vorwegnahm? Wie musste sich die Gemeinde gegenüber einem angeblichen Messias verhalten, der meinte, in den Jemen gekommen zu sein, um die Juden von ihren Verfolgern zu befreien? 14 War es möglich, das Datum der Ankunft des Messias genau zu berechnen? Maimonides war sich bewusst, dass das weitere Leben der jemenitischen Gemeinde und dessen Qualität von seiner Antwort abhingen, weshalb er den Brief mit einem langen und poetischen Lob der jemenitischen Gemeinde und von deren Leiter eröffnete. Tatsächlich war die Kunde von der Weisheit der Gelehrten dieser Gemeinde und der regelmäßigen Erfüllung der von der Torah vorgeschriebenen ethischen Pflichten bereits zur Zeit von Maimonides über die Grenzen des Jemen gelangt. 15 Das machte Maimonides’ Aufgabe noch schwieriger, nämlich zu erklären, wieso Gott das Leiden gerade einer so frommen Gemeinde zuließ. An dieser Stelle kann ich mich nur auf die Interpretation der Gestalt Jesu konzentrieren. Maimonides unterstreicht sofort Jesu Herkunft mit der Feststellung, dass »er ein Jude ist (wa-huwa min Yisrael)« und setzt unvermittelt fort mit der Erörterung der an entsprechende talmudische Überlieferungen anknüpfenden Frage, ob Jesus ein mamzer (illegitimer Sprössling) oder ein legitimes Kind gewesen ist. Dies ist bemerkenswert, da das Mamzer-Sein Jesu ein sehr häufiges Thema in den Tol e doth Jeshu - auch in denjenigen aus Jemen - war. Wenn Jesus nach dem jüdischen Gesetz (halakha) kein Jude ist, spielt seine angebliche Messianität für die Juden gar keine Rolle. Trotzdem behauptet Maimonides genau das Gegenteil. In der judäo-arabischen Version der Tol e doth Jeshu, von der allerdings nur eine einzige, bislang unveröffentlichte Handschrift bekannt ist (Manuskript Krupp) wird von Jesus immer wieder als einem mamzer gesprochen und dies damit begründet, dass er nicht nur ein außereheliches Kind, sondern ein ben ha-nidda (»während der Menstruation gezeugtes Kind«) ist. Jedenfalls werden in den Tol e doth Jeshu die beiden Begriffe mamzer und ben ha-nidda bzw. ben ha-zenut nicht nur regelmäßig wiederholt und stets nebeneinander gebraucht, sondern der erste (mamzer) wird gleichsam mit dem zweiten begründet: Weil Jesus ein ben ha-nidda ist, ist er eo ipso ein mamzer. Genau dieser Argumentation schließt sich Maimonides nicht an. Als Rabbiner muss er der halakha treu bleiben, nach der ein ben ha-nidda nicht unbedingt ein mamzer ist. Jedoch bleibt die Frage, warum Maimonides den Tol e doth Jeshu widerspricht, wenn er eindeutig nicht die Absicht hat, die Legitimität von Jesus als Messias anzuerkennen. Für Maimonides ist die jüdische Identität Jesu das eigentliche Problem: 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 41 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 42 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Zum Thema Als Gelehrter der Torah ist die Autorität Jesu nicht geringer als die der anderen Rabbiner. Die Kritik Maimonides’ an Jesus ist weniger religiöser, sondern vielmehr hermeneutischer Art, weswegen er im Hinblick auf die Lehre und Taten Jesu drei Gesichtspunkte ins Spiel bringt, welche die irreführende biblische Interpretation von Jesus zeigen sollen: »Er [Jesus] gab vor, daß er von Gott gesandt ist, die Probleme der Torah zu lösen, und daß er der von jedem Propheten angekündigte Messias ist. Dann legte er aber die Torah in einer Weise aus, die darauf hinausläuft, das ganze Gesetz abzuschaffen und alle seine Gebote aufzuheben, alle seine Verbote hingegen zu tun.« 16 Die durch das Matthäus-Evangelium bekannte Aussage von Jesus: »Ich bin nicht gekommen, [das Gesetz] aufzulösen, sondern zu erfüllen« (Mt 5, 17-18) spielt keine Rolle, wenn dem Grundprinzip der Torah widersprochen wird. Dieses Grundprinzip wurde von Maimonides bereits in seinem »Kommentar zur Mishnah« ausgearbeitet, nämlich die göttliche Einzigkeit, die den Begriff vom Sohn Gottes automatisch ausschließt. Wenn man sich nicht an den Monotheismus hält, dann ist die Vollbringung aller anderen Gebote (613 nach der jüdischen Tradition) völlig bedeutungslos. Für Maimonides steht auch fest, dass Jesus sich selbst als Messias vorgestellt hat, wobei in den Tol e doth Jeshu sowie in der christlich-arabischen Literatur des Mittelalters (z.B. die arabische Version des sogenannten »Testimonium Flavianum«) die Anhänger Jesu diejenige sind, die seine Messianität behaupten. Für Maimonides steht hingegen fest, dass sich Jesus selber als Messias gesehen, als solcher ausgegeben und durch entsprechende Taten - vergeblich freilich -, auszuweisen versucht hat. Was dies für Taten waren, sagt Maimonides zunächst nicht. Nur summarisch spricht er davon, dass »er [Jesus] die Gabe der Prophetie zu haben und gewaltige Dinge zu tun vorgegeben habe.« 17 Erst am Ende seines Iggeret Teman lässt Maimonides »die Christen [an-nasârâ] diese gewaltigen Dinge als Wiederbelebung der Toten und jene anderen Wunder« erklären, fügt allerdings gleich hinzu, dass es sich dabei nur um Taten handelt, welche die Christen Jesus nachträglich zugeschrieben bzw. die sie erlogen haben. Es ist interessant, dass Maimonides die Wiederbelebung der Toten und sonstigen Wunder hier erwähnt, denn damit führt er jene beiden Geschehen auf, die der rabbinischen Überlieferung nach zu den Beglaubigungswundern des Messias zählen und nicht nur die messianische Zeit von dieser Zeit unterscheiden, sondern Zeichen der messianischen Zeit sind. 18 Wie Maimonides jedoch in seinem Mishneh Torah (Hilkhot Melakhim) 11 und 12 schreibt, lehnt er gerade diese rabbinische Ansicht entschieden ab. Vielmehr insistiert er mit allem Nachdruck darauf, dass auch in der messianischen Zeit die Weltordnung bleibt, wie sie ist. Der einzige Unterschied zwischen dieser Welt und der messianischen Zeit besteht darin, dass es in ihr »keinen Hunger und keinen Krieg, keinen Zank und keinen Streit« mehr gibt, sondern »die ganze Welt voll der Erkenntnis Gottes ist«. Der König- Messias, wie er von Maimonides mit Anspielung auf den König-Philosophen Platon beschrieben wird, ist der vollkommene politische Leiter, welcher die göttliche Gerechtigkeit auf Erden vollbringen wird. Vor seiner Ankunft müssen die Gemeinden sich gegen falsche Messiasse wie Jesus schützen, die sich durch angebliche Wundertaten und allegorische Interpretationen des Tanakh als Leiter der Gemeinden durchsetzen wollen. Zwei Elemente bestimmen nach Maimonides die falsche Identität Jesu als Messias: seine »gewaltigen Dinge« (wa-ta’âtihi l-umûra l-’azîma) - wahrscheinlich die Gewalt mit der Jesus die Händler vom Tempel wegstieß, obwohl es absolut verboten ist, unter irgendwelchen Umständen Gewalt auszuüben - und sein Tod. Nach Dan 11,14, den Maimonides sowohl in Iggeret Teman als auch in Hilkhot Melakhim zitiert, ist ein gescheiterter Messias auf keinen Fall der Gesandte Gottes. 3. Hilkhot Melakhim, 1180 ca. Die Definition des König-Messias im Kapitel 11 von Hilkhot Melakhim ist eine eindeutige Ablehnung von Jesus als Gesandten Gottes: »Die Kritik Maimonides’ an Jesus ist weniger religiöser, sondern vielmehr hermeneutischer Art ...« 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 42 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 43 Francesca Yardenit Albertini Die religiöse und geschichtliche Gestalt Jesus’ von Nazareth im Denken Moses Maimonides’ »Glaubt nicht, daß der König-Messias Wunder und Sonderzeichen vollbringen, etwas neues schaffen, die Toten wiederbeleben oder etwas ähnliches erledigen muß. […] Das allgemeine Hauptprinzip ist das folgende: unser Gesetz mit allen seinen Geboten und Vorschriften ist nicht der Änderung unterstellt. Es ist für immer und ewig. Nichts darf hinzugefügt oder weggenommen werden. Derjenige, der etwas hinzufügt bzw. wegnimmt, das Gesetz falsch auslegt und die Gebote von ihrer buchstäblichen Bedeutung abzieht, ist ein Hochstapler, ein bösartiger Mensch und ein Ketzer.« Und trotzdem - kurz vorher - gesteht Maimonides den Christen sowie den Muslimen nicht nur irgendeinen Platz in der Geschichte Gottes zu, sondern darin auch eine positive Rolle. In beiden nämlich, im Christentum wie im Islam, erkennt Maimonides eine Art praeparatio messianica: »Die Gedanken des Schöpfers der Welt - der Mensch hat nicht die Kraft, sie zu begreifen, denn unsere Wege sind nicht Seine Wege, und unsere Gedanken sind nicht Seine Gedanken. So alle diese Dinge, die von Jesus dem Nazarener und diesem Isameliten [Muhammad], der nach ihm aufgetreten ist, dienen allen dazu, dem König Messias den Weg zu ebnen und die ganze Welt auszurichten, gemeinsam dem Ewigen zu dienen. [...] Wie das? Schon jetzt ist die ganze Welt voll von Dingen, die den Messias betreffen, von Dingen, die die Torah betreffen, und von Dingen, die die Gebote betreffen, und man verhandelt diese Dinge auf entfernten Inseln und unter vielen Völkern unbeschnittenen Herzens, und die diskutieren über diese Dinge und über die Gebote der Torah. Die einen sagen: Diese Gebote waren Wahrheit, aber sie haben bereits jetzt ihre Gültigkeit verloren und sind nicht länger verbindlich. Die anderen sagen: Verborgene Dinge enthalten sie und sind nicht in ihrem Literalsinn zu nehmen, aber ein Messias ist bereits gekommen und hat ihre Geheimnisse enthüllt. Wenn jedoch der wahre König Messias auftreten, Erfolg haben, erhöht und erhaben sein wird [Jes 52,13], werden sie alle sofort umkehren und erkennen, dass Lüge ihre Väter vererbt [Jer 16,19] und ihre Propheten und ihre Väter sie in die Irre geführt haben [Ez 13,10].« 19 Obwohl diese Stellungnahme Maimonides’ nicht neu ist (man findet eine ähnliche messianische Lektüre von Christentum und Islam auch bei Yehuda ha-Lewi 20 , 1070 / 1075-1141), ist der politische Charakter dieser Stellungnahme eine absolute Neuheit im Rahmen der jüdischen Philosophie des Mittelalters. Wenn man die Geschichte als religiöse Ereigniskette beobachtet, haben auch Islam und Christentum eine präzise Rolle im Schöpfungsplan Gottes zu erledigen. Wenn wir aber die Messiasse, vor allem diejenigen, die zwischen dem 8. und 13. Jahrhundert von Marokko bis Ägypten sowohl in den christlichen als auch in den muslimischen Gemeinden hervorgetreten sind, als wahre Messiasse, nämlich als legitime politische Leiter wahrnehmen, führen sie durch ihre falsche Auslegung des Gesetzes zur kräftigen Auseinandersetzung der Gemeinde mit ihrem Milieu und somit zu ihrer Zerstörung. Ein angeblicher Gesandter Gottes wie Jesus, der auch nach seiner angeblichen Wiederauferstehung seine Gemeinde zwingt, unter Deckung und in ständiger Gefahr zu leben sowie Objekt politischer Verfolgung zu werden, darf auch keinen Fall der Messias der Heiligen Schrift sein. § 4 Schluss Aus dieser Vorstellung von Jesus in der Philosophie Moses Maimonides’ können wir kein einstimmiges Bild vom Stifter des Christentums gewinnen: Manchmal wird die jüdische Volkstradition (die Tol e doth Jeshu) kritisiert, um die jüdische Identität Jesu nach den Prinzipien der halakha zu bestimmen, manchmal wird hingegen die rabbinische Tradition kritisiert, um die Gestalt Jesu als Messias abzulehnen. Nur wenn man den geschichtlichen, religiösen und intellektuellen Hintergrund der einzelnen Werke von Maimonides kennt, ist es möglich - wie ich zu zeigen versucht habe -, aus diesem zersplitterten Bild die homogene Absicht von Maimonides als Rabbiner, als Philosoph und als Leiter einer Gemeinde zu erkennen: Jesus ist nicht der Messias, weil die Welt nach seiner Ankunft keinen Frieden und keine Gerechtigkeit erreicht hat, die allein ermöglichen, sich sorglos mit der Erkenntnis Gottes zu beschäftigen. Obwohl man sich »... Jesus [bleibt] für Maimonides ein Ausleger der Torah in der Kette der jüdischen Tradition.« 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 43 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 44 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Zum Thema stets von diesen falschen Messiassen schützen muss, die Unruhe und Unsicherheit statt Frieden und Gerechtigkeit bei ihren Anhängern stiften, bleibt Jesus für Maimonides ein Ausleger der Torah in der Kette der jüdischen Tradition. Seine jüdische Identität ist der Anhaltspunkt mit dem Christentum, aus dem nicht nur eine polemische und gegenseitig vernichtende Auseinandersetzung entstehen kann. l Anmerkungen 1 J. Klausner, Die messianischen Vorstellungen des jüdischen Volkes im Zeitalter der Tannaiten kritisch untersucht und im Rahmen der Zeitgeschichte dargestellt, Krakau 1903 / Berlin 1904; ders., Jesus von Nazareth. Seine Zeit, sein Leben und seine Lehre, 2.Aufl., Berlin 1934. 2 P. Schäfer, Jesus in the Talmud, Princeton 2007; J.-P. Osier (Hg.), Jésus raconté par les Juifs ou l’évangile du ghetto. La légende juive de Jésus du Iie au Xe siècle, Paris 1999; S. Krauss, Das Leben Jesu nach jüdischen Quellen, Nachdruck der Ausgabe Berlin 1902, Hildesheim 1977; G. Lindeskog, Die Jesusfrage im neuzeitlichen Judentum. Ein Beitrag zur Geschichte der Leben- Jesu-Forschung, Nachdruck der ersten Ausgabe Uppsala 1938, Darmstadt 1973, 9-28; S. Ben-Chorin, Jesus im Judentum, Wuppertal 1970; M. Steinschneider, Polemische und apologetische Literatur in arabischer Sprache zwischen Muslimen, Christen und Juden, Leipzig 1877, Nachdr. Hildesheim 1966; J. Imbach, Wem gehört Jesus? Seine Bedeutung für Christen, Juden und Moslems, Freiburg 1993, 34-39. 3 Vgl. u.a.: www.biblia.com/ jesusbible/ genealogy-toledot.htm: »The Toledot is a pernicious book mainly for the Jewish people: Jewish mothers know the false fiction-story and pass it to their children via voice, by word, and those little children are programmed against Christianity since their very early childhood, creating in them all kind of poisonous resentment and prejudice against Christians. […] The Rabbis also pass the false story by word.«; www.watch.pair.com/ HRChrist.html: »The Talmud and Cabala teachings of the Toledot Yeshu are representative of teachings regarding Christ which may be shocking to Christians. […] Contemporary Jewish thought reflects the same aversion to Jesus Christ as historical Judaism. […] If Jews reject the very concept of a divine Messiah, how are Christians to learn the ›true meaning‹ of Scripture from them, without repudiating the doctrines of Jesus Christ, salvation, sin and the entire New Testament? It is impossible. While the Hebrew or messianic movements urge us to embrace ›our foundational Hebrew roots‹, Scripture tells us that our foundation is none other than Jesus Christ: ›For other foundation can no man lay than that is laid, which is Jewish Christ‹, I Cor. 3: 11«; siehe auch: Rev. I. B. Pranaitis, The Talmud Unmasked: The Secret Rabbinical Teachings Concerning Christians, www.holywar.org/ txt/ talmud_unmasked.html 4 Das früher angenommene Geburtsdatum 14. Nissan 4895 (30. März 1135) ist von S.D. Goitein (Moses Maimonides, Man of Action: A Revision of the Master’s Biography in Light of the Geniza Documents, in: Gérard Nahon/ Charles Touati [Hgg.], Hommage à George Vajda: Études d’histoire et de pensée juives, Louvain 1980, 155-167) korrigiert worden. Zudem sagt Maimonides am Ende seines Kommentars zur Mischna selber: »Ich - Mose, Sohn des R. Maimon des Richters [...], habe diesen Kommentar zu schreiben begonnen, als ich 23 Jahre alt war, und ihn im Alter von 30 Jahren in Kairo im Jahre 1479 nach den Dokumenten [1167/ 1168] beendet«, was eindeutig auf den 14. Nissan 4898 (1138) als Geburtsdatum hinweist. 5 Ich beziehe mich ausschließlich auf Veröffentlichungen, wo die Figur von Jesus und nicht die allgemeine Konzeption des Christentums im Denken Maimonides’ überarbeitet worden ist: St. Schreiner, »Ein Zerstörer des Judentums...? « Moses ben Maimon über den historischen Jesus, in: G. Tamer (Hg.), The Trias of Maimonides / Die Trias des Maimonides. Jewish, Arabic, and Ancient Culture of Knowledge / Jüdische, arabische und antike Wissenskultur, Berlin / New York 2005, 323-345; H. Kreisel, Maimonides on Christianity and Islam, in: R.A. Brauner (Hg.), Jewish Civilization: Essays and Studies on Judaism and Christianity Honoring the Memory of Rabbi Arthur Gilbert, Philadelphia (Penn.) 1985, 153-162. 6 Moses Maimonides, Treatise on Logic: The Original Arabic and Three Hebrew Translations, hrsg. v. I. Efros, New York 1938; I. Efros, Maimonides’ Arabic »Treatise on Logic« - Introduction, in: Proceedings of the American Academy for Jewish Research 34 (1966), 155-160; Moses Maïmonide, Traité de logique. Traduction, présentation et notes, hrsg. v. R. Brague, Paris 1996. 7 Aristoteles, Physik, Buch IV, Kap. 11, 219b. 8 Vgl. u.a.: R. Le Tourneau, Fez in the Age of the Marinides, Norman / Oklahoma 1961; T. Burckhardt, Fes, Stadt des Islam, Olten / Freiburg 1960. 9 Samuel Marochitanus, Epistola contra Judaeorum errors, Köln 1499, Klau Library of Cincinnati (Hebrew Union College-Jewish Institute of Religion), CIN RBR Freidus AB66. 10 Für die Analyse des arabischen Originals habe ich die folgende Ausgabe benutzt: I. Shailat (Hg.), Letters and Essays of Moses Maimonides. A critical edition of the Hebrew and Arabic letters, 2 Bde., Maaleh Adumim 1988. Ich habe die folgenden Übersetzungen berücksichtigt: A. Halkin / D. Hartman, Crisis and Leadership: Epistles of Maimonides, Philadephia 1985, 91-149; R. Lerner, Maimonides’ Empire of Light. Popular Enlightment in an Age of Belief, Chicago 2000, 99-132 (Übersetzung von Joel L. Kraemer); Moses Maimonides, Der Brief in den Jemen. Texte zum Messias, übers. v. S. Powels-Niami und eingeleitet von F. Niewöhner, Berlin 2002. Im Verlauf dieses Abschnitts werde ich mich auf die Übersetzung von Abraham Halkin und David Hartman beziehen. 11 Vgl. die Übersetzung von Halkin / Hartman, Crisis, 8,16-18. 12 Vgl. die Übersetzung von Halkin / Hartman, Crisis, 12,7. 13 Es handelt sich um einen unbekannten Gelehrten (die einzigen Informationen, die man über ihn besitzt, 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 44 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 45 Francesca Yardenit Albertini Die religiöse und geschichtliche Gestalt Jesus’ von Nazareth im Denken Moses Maimonides’ stammen aus diesem Brief). Sein Vater Nathanel, der die jemenitische Gemeinde vor seinem Sohn leitete, schrieb einen philosophisch-theologischen Traktat, der damals einen gewissen Ruhm erreichte: Garden of Intelligences (vgl. J. Kafih, Iggerot. Letters, Jerusalem 1972, 11). 14 Man hat keine geschichtlichen Quellen, die sich auf diesen vermutlichen Messias beziehen. 15 Zur ausführlichen Geschichte der jüdischen Gemeinde im Jemen vgl.: T. Yôsef, The Jews of Yemen: Studies in their History and Culture, Leiden 1999. 16 Vgl. die Übersetzung von Halkin (12, 10-14). 17 Vgl. Die Übersetzung von Halkin (12, 16-18). 18 Mishnah, Sanhedrin 10: 1; Babylonischer Talmud, Ketubbot 111a-b. 19 Hilkhot Melakhim 9,4. 20 Y. Ha-Lewi, Kitâb ar-radd wa-d-dalîl fî d-dîn ad-alîl, hrsg. v. David Zvi Baneth und Haggai Ben-Shammai, Jerusalem 1977, 172; deutsche Auflage: Al-Chazarî, übersetzt von Hartwig Hirschfeld, Nachdr. der Ausgabe Breslau 1885, Wiesbaden 2000. 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 45 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 46 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Gibt es eine Kontinuität von der vorösterlichen Lehre Jesu hin zur nachösterlichen, später schriftlich fixierten Jesustradition? Gibt es überhaupt den einen Ausgangspunkt der Jesusüberlieferung? Oder schöpften die frühchristlichen Autoren aus einer Vielfalt von Traditionen, die letztlich von Jesu Lehre unabhängig waren? Diese Fragen bestimmen die nachfolgende Kontroverse zum Konzept des »erinnerten Jesus« zwischen James D.G. Dunn und Jens Schröter. Es ist spannend zu verfolgen, wie alte Gegensätze im methodischen Zugang zu Jesus sich bis in die neuesten Debatten hinein fortsetzen: Auf der einen Seite die Hochschätzung des (erinnerten) Jesus als der originären Traditionsquelle bereits vor Ostern und weiter in der frühchristlichen Ausbildung der Christologie (Dunn). Auf der anderen Seite die Hochschätzung der Autorität des auferstandenen und erhöhten Herrn als Legitimator frühchristlicher Lehre (Schröter). Abgesehen von den Differenzen im Detail, die ich hier nicht vorweg nehmen möchte, teilen die beiden Jesusforscher dieselbe hermeneutische und erkenntnistheoretische Grundlage, wie im gemeinsamen Abschlussstatement betont wird: Erstens, es gibt keinen Weg hinter die Texte zurück zu Jesus. Zweitens, die Rede vom »historischen Jesus« ist missverständlich und durch die vom »erinnerten Jesus« zu ersetzen. Drittens, alle Jesusbilder sind kreative Konstruktionen und bleibend revidierbar. Viertens, die Einbindung Jesu in das Judentum seiner Zeit ist unerlässlich. Die Frage nach Jesus dient heute nicht mehr dem (psychologischen) Nachvollzug seiner geistigen Entwicklung, nicht mehr die genauen biographischen Abläufe sind Ziel und Zweck der Jesusforschung. Im Fokus steht heute Jesus als Zentralfigur der historischen Erklärung für die Entstehung der Christologie. James D.G. Dunn und Jens Schröter führen durch ihre Kontroverse die Leserinnen und Leser dieser Zeitschrift in spannender Weise an den Stand der gegenwärtigen Jesusforschung heran. Kurt Erlemann Kontroverse Der erinnerte Jesus als Begründer des Christentums? Einleitung zur Kontroverse 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 46 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 47 Die folgenden Ausführungen setzen sich mit James Dunns Position innerhalb der sogenannten »dritten Frage« (third quest) nach dem historischen Jesus auseinander. Im Mittelpunkt steht dabei sein großes Werk »Jesus Remembered« 1 , das einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Diskussion um den historischen Jesus darstellt. Einbezogen wird darüber hinaus sein Aufsatz »Jesus Tradition in Paul« von 1998, anhand dessen sich Charakteristika seines Ansatzes verdeutlichen lassen, um die es im Folgenden gehen soll. 2 Von grundlegender Bedeutung für die gegenwärtige Diskussion, wie für die historisch-kritische Jesusforschung überhaupt, ist Dunns Anliegen, die irreführende Diastase zwischen »historischem Jesus« und »kerygmatischem Christus« zu überwinden. Damit wird ein wesentlicher Beitrag zur methodischen Diskussion innerhalb der »Third quest nach dem historischen Jesus« geleistet. Auch die »Third quest« teilt die in der historisch-kritischen Jesusforschung entwickelten und weithin anerkannten methodischen Voraussetzungen. Dazu gehört die Unterscheidung des Wirkens Jesu von seiner Deutung aus der Sicht des christlichen Glaubens. Wie dieses Verhältnis genau zu bestimmen ist, ist eines der am heftigsten diskutierten Probleme der Jesusforschung. Die zuerst von Hermann Samuel Reimarus formulierte These eines fundamentalen Bruchs zwischen Jesu Wirken und Geschick einerseits, der Christologie der frühen Kirche andererseits, steht dabei auch hinter etlichen Entwürfen der gegenwärtigen Jesusforschung. Deren Aufgabe wird entsprechend darin gesehen, durch die Herausarbeitung der historischen Tatsachen hinter den Texten eine durch dogmatische Prämissen dominierte Perspektive auf Jesus zu überwinden. Gegenüber einer solchen Sichtweise entwickelt Dunn in dem für die methodische Grundlage seines Buches zentralen sechsten Kapitel unter der Überschrift »History, Hermeneutics and Faith« (99-136) in Anlehnung an gegenwärtige geschichtstheoretische Konzepte die Unterscheidung von Material, Ereignis und Tatsache (102): Das historische Ereignis selbst gehört der Vergangenheit an und ist als solches nicht mehr unmittelbar zugänglich. Was dem Historiker zur Verfügung steht, sind dagegen die historischen Materialien, die von dem vergangenen Ereignis zeugen und auf deren Grundlage er sein Bild der Vergangenheit entwirft. Geschichte ist deshalb niemals mit der Vergangenheit, wie sie »wirklich« war, zur Deckung zu bringen. Vielmehr wird die Vergangenheit in einem Geschichtsentwurf stets unter den Bedingungen der jeweiligen Gegenwart angeeignet und erlangt gerade so Bedeutung für die Interpretation der eigenen Zeit als geschichtlich bestimmter Wirklichkeit. An die Stelle der Vorstellung, die vergangenen Ereignisse könnten so rekonstruiert werden, wie sie sich tatsächlich abgespielt haben, tritt deshalb die Auffassung von Geschichte als »erinnerter Vergangenheit«. Der Erinnerungsbegriff, der bereits im Titel des Buches von Dunn begegnet, weist dabei auf die Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart hin, die jeder Beschäftigung mit der Vergangenheit zugrunde liegt und diese erst zu einem für die Interpretation der Wirklichkeit relevanten Unternehmen werden lässt. Für Dunn folgt daraus - und darin ist ihm zweifellos zuzustimmen -, dass die Alternative zwischen einem dogmatischen Jesus der christlichen Tradition und einem Ansatz, der eine derartige »theologische« Perspektive durch eine »rein historische« Betrachtungsweise ersetzen möchte, methodisch unzureichend ist. Eine Darstellung des Wirkens und Geschicks Jesu muss vielmehr historisch plausibel machen können, wie aus den Ereignissen um Jesus das Christentum entstanden ist. Dunn spricht diesbezüglich von Jesus als dem »Begründer des Christentums« (founder of Christianity, 174). Damit ist gemeint, dass der »historische Glaube« (historical faith) als Antwort auf das Kontroverse Jens Schröter Der erinnerte Jesus als Begründer des Christentums? Bemerkungen zu James D.G. Dunns Ansatz in der Jesusforschung 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 47 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 48 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Kontroverse Wirken Jesu bereits an den Anfängen der Jesustradition festzustellen sei, die Ursprünge des Christentums deshalb bis in vorösterliche Zeit zurückgehen würden. Damit will Dunn nicht bestreiten, dass die Neuinterpretation dieser Tradition aus nachösterlicher Perspektive eine wichtige Entwicklung in der Geschichte des frühen Christentums darstellt. Es müsse aber von einer Kontinuität zwischen vorösterlicher Erinnerung und nachösterlichem Bekenntnis ausgegangen werden, um die Entstehung des Christentums historisch verständlich zu machen. In diesem Sinn bezeichnet Dunn bereits die ältesten Erinnerungen als »Glaube«. Christlicher Glaube als Reaktion der Nachfolger Jesu auf dessen Wirken habe seine Wurzeln demnach bereits in vorösterlicher Zeit und gründe nicht in einem nachösterlichen Kerygma. Damit vertritt Dunn eine pointierte Position, die etliche Fragen aufwirft. Eine der gravierendsten ist zweifellos, ob sich das in den Schriften des Neuen Testaments vorausgesetzte Verständnis christlichen Glaubens in die vorösterliche Zeit zurückprojizieren lässt, oder ob hier nicht wesentliche Entwicklungen aus nachösterlicher Zeit auf fragwürdige Weise für die Phase des irdischen Wirkens Jesu in Anspruch genommen werden. Der methodische Ansatz von Dunn hat somit einerseits den Vorzug, auf historische Plausibilität zu setzen und dadurch eine ahistorische Trennung von Wirken Jesu und nachösterlichem Kerygma hinter sich zu lassen. Er steht andererseits in der Gefahr, in undifferenzierter Weise das Bild einer kontinuierlichen Entwicklung von Jesus zum christlichen Glauben zu zeichnen, indem spätere Deutungen für das Wirken und Selbstverständnis Jesu selbst in Anspruch genommen werden. Im Folgenden wird diese Problematik anhand von drei Bereichen konkreter entfaltet. 1. In Kapitel 8 (»The Tradition«) führt Dunn aus, dass die frühe Jesustradition nicht zu Jesus selbst, sondern nur zur Erinnerung seiner ersten Nachfolger zurückführe. Daraus folgert er: »Die Eigenart der Tradition als gemeinsamer Erinnerung bedeutet, dass wir in vielen Fällen nicht genau wissen können, was genau Jesus getan oder gesagt hat« (241). Was uns zugänglich ist, sei vielmehr der Eindruck (impact), den seine Worte und Taten bei seinen ersten Anhängern hinterlassen haben. Dieser Zugang, der zunächst ganz im Sinne Rudolf Bultmanns den Blick von Jesus selbst auf das Zeugnis seiner frühen Anhänger lenkt, führt bei Dunn jedoch nicht zu der Konsequenz, zwischen dem Wirken Jesu und dessen Deutung durch seine Anhänger konsequent zu unterscheiden. Vielmehr lässt sich ihm zufolge von dem impact, den Jesus hinterlassen hat, auf das historische Profil seines Wirkens selbst zurückschließen. Damit werden jedoch wichtige Differenzierungen eingeebnet, die bei einer Jesusdarstellung zu berücksichtigen sind. Dies sei an folgender Beobachtung verdeutlicht. In etlichen frühchristlichen Schriften - etwa bei Paulus, im 1. Petrusbrief, im Jakobusbrief und in der Didache - begegnen Überlieferungen, die Analogien in den synoptischen Evangelien besitzen. Sie werden in diesen Schriften jedoch nicht auf Jesus zurückgeführt, sondern als allgemeine Ermahnungen innerhalb der jeweiligen Argumentationen verwendet, die unter der Autorität von Paulus, Petrus, Jakobus oder der zwölf Apostel stehen. In seinem eingangs erwähnten Aufsatz »Jesus Tradition in Paul« erklärt Dunn diesen Befund in Bezug auf Paulus folgendermaßen: »In Diskursgemeinschaften können bloße Anspielungen eine hohe Wirkung entfalten, weil sie weitergehende Assoziationen und gemeinschaftliche Erinnerungen auszulösen vermögen.« Die Jesustradition, aus der Paulus zitiert, sei dementsprechend »noch nicht endgültig fixiert« gewesen, weshalb Anspielungen auf sie genügt hätten, um die Autorität Jesu ins Feld zu führen. Des Weiteren argumentiert Dunn, es wäre eine »sonderbare Schlussfolgerung« anzunehmen, dass »die in der frühen Kirche rezipierten Traditionen aus dem Umfeld der Synoptiker nicht als von Jesus stammend erinnert wurden oder dass die frühen Gemeinden es zumindest nicht für notwendig erachtet hätten, in ihrer gemeinsamen Erinnerung an der Zuschreibung dieser Traditionen an Jesus festzuhalten« (173). Der genannte Befund »synoptischer« Überlieferungen außerhalb der synoptischen Evangelien weist jedoch in eine andere Richtung. Er führt zu der Beobachtung, dass es eine Form frühchristlicher Katechese gab, zu der die Lehre Jesu ebenso gehörte wie Schriftzitate und paränetische bzw. weisheitliche Traditionen des Frühjudentums. Dies sei an einigen Beispielen näher erläutert. 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 48 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 49 Jens Schröter Der erinnerte Jesus als Begründer des Christentums? (a) Bei der Berufung auf ein »Wort des Herrn« führt Paulus weder in 1Kor 7,10f. noch 1Kor 9,14 ein explizites Zitat an. Vielmehr verweist er im Kontext seiner eigenen Argumentationen auf die Autorität des Herrn. Charakteristisch für beide Passagen ist dabei weiter, dass die erwähnten Weisungen des Herrn so mit den eigenen Ausführungen des Paulus über die Ehescheidung bzw. das apostolische Unterhaltsrecht verbunden werden, dass sie als ein Argument unter anderen erscheinen. (b) In 1Kor 7,8-12 gibt Paulus den Unverheirateten, den Witwen sowie »den Übrigen« im Namen seiner eigenen Autorität Anweisungen, die er explizit von der Weisung des Herrn unterscheidet. In 1Kor 7,25 stellt er sodann im Zusammenhang der Mahnungen an die Jungfrauen ein »Gebot des Herrn« (gr. epitage kyriou) seiner eigenen Meinung (gr. gnome) gegenüber. Am Schluss des ganzen Abschnitts begründet er den autoritativen Anspruch seiner eigenen Weisung mit dem Hinweis, dass auch er den Heiligen Geist besitze (7,40). (c) In 1Kor 9,14 gründet Paulus sein Recht auf Unterhalt durch die korinthische Gemeinde auf ein Wort des Herrn (gr. ho kyrios dietaxen), sieht aber zugleich in seiner eigenen Entscheidung, diesen Unterhalt nicht in Anspruch zu nehmen, eine legitime Einstellung zu seinem Dienst am Evangelium. (d) In 1Thess 4,15 bezieht sich Paulus im Zusammenhang seiner Ausführungen über das Geschick der Lebenden und der Toten bei der Wiederkunft Jesu auf ein »Wort des Herrn«. Dies bezieht sich offenbar nicht auf ein Wort des irdischen Jesus, vielmehr beruft sich Paulus für seine eigenen Darlegungen auf die Autorität des Herrn. (e) In 1Kor 11,23-25 führt Paulus den Bericht über die Einsetzung des Herrenmahls mit der Bemerkung ein, dass er diesen vom Herrn empfangen und den Korinthern weitergegeben habe. Es ist offensichtlich, dass er sich auch hier nicht auf Worte des irdischen Jesus bezieht, sondern auf eine frühchristliche Überlieferung, die die Einsetzungsworte zum Herrenmahl in einem speziellen historischen Kontext (die Nacht, in der Jesus ausgeliefert wurde) platziert. Dies zeigt sich daran, dass die zitierte Überlieferung mit der für eine Traditionsübermittlung typischen Terminologie »empfangen« (gr. paralambanein) und »weitergeben« (gr. paradidonai) eingeführt wird (so auch in 1Kor 15,3). Paulus zitiert hier demnach eine frühchristliche Überlieferung über die Einsetzung des Herrenmahls durch Jesus selbst. Dass ihm verschiedene Überlieferungen über das Herrenmahl bekannt waren, zeigt sich dabei daran, dass er kurz zuvor eine weitere Tradition über das christliche Mahl anführt (1Kor 10,16). Die in 1Kor 11 zitierte Überlieferung gehört somit in ei- Prof. Dr. Jens Schröter, geboren 1961, 1998- 2003 Professor für Neues Testament am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg; seit 2003 Professor für Exegese und Theologie des Neuen Testamens an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte: Kanonische und außerkanonische Jesusüberlieferung, Geschichte des Urchristentums, Apostelgeschichte, Rezeptionsgeschichte und Theologie des Neuen Testaments. Gegenwärtige Forschungsprojekte: Neuausgabe des Werkes »Neutestamentliche Apokryphen« von Edgar Hennecke und Wilhelm Schneemelcher unter dem Titel »Antike christliche Apokryphen« (gemeinsam mit Christoph Markschies); Theologie des Neuen Testaments; Kommentar zur Apostelgeschichte. Zahlreiche Veröffentlichungen zum Themenfeld »Jesus« - darunter: Erinnerung an Jesu Worte. Studien zur Rezeption der Logienüberlieferung in Markus, Q und Thomas (WMANT 76), Neukirchen-Vluyn 1997; Jesus und die Anfänge der Christologie. Methodologische und exegetische Studien zu den Ursprüngen des christlichen Glaubens (BThS 47), Neukirchen-Vluyn 2001; Jesus von Nazareth. Jude aus Galiläa - Retter der Welt (Biblische Gestalten 15), Leipzig 2006; Der historische Jesus. Tendenzen und Perspektiven der gegenwärtigen Forschung (BZNW 114), Berlin / New York 2002 (hrsg. von J. Schröter und R. Brucker). Jens Schröter 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 49 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 50 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Kontroverse nen weiteren Kontext urchristlicher Herrenmahlstraditionen u nd ist für Paulus eine Möglichkeit, die Bedeutung dieses Mahles zu verdeutlichen. Dass sich Paulus an den genannten Stellen stets auf den »Herrn« (gr. kyrios) bezieht, nirgends jedoch auf ein »Wort Jesu«, zeigt, dass er unter einem »Wort des Herrn« eine Lehre versteht, die durch den Auferstandenen und Erhöhten legitimiert ist - denn mit der Bezeichnung »Herr« kennzeichnet Paulus denjenigen, den die Gemeinde im Gebet als den zu Gott Erhöhten anruft (vgl. etwa Röm 10,9) - und durch seine Apostel und Propheten in verschiedenen Situationen konkretisiert wird. Es geht Paulus also nicht um eine wörtliche Weitergabe von Worten des irdischen Jesus. Er bedient sich vielmehr solcher Überlieferungen, hinter denen die Autorität des Herrn steht, die sich damit als Basis frühchristlicher Lehre erweist. Dass dazu auch solche Worte gehören, die auf den irdischen Jesus selbst zurückgehen, steht für Paulus außer Frage, ist aber nur deshalb von Bedeutung, weil der irdische Jesus zugleich der von Gott Auferweckte und Erhöhte ist. Dieser Befund wird dadurch unterstrichen, dass sich bei Paulus über die genannten expliziten Bezugnahmen auf den Herrn hinaus eine Vielzahl von Analogien zu den synoptischen Evangelien findet, die von ihm (wie auch in anderen frühchristlichen Schriften) nicht als Herrenworte angeführt werden. Auch dazu einige Beispiele. a) Das Wort vom »Dieb in der Nacht« in 1Thess 5,2 findet sich auch in 2Petr 3,10 und ähnlich in Offb 3,3; 16,15. b) In Lk 12,39 / / Mt 24,43; EvThom 21,5-7 erscheint die Metapher vom Dieb als ein von Jesus verwendetes Bild. Den Kontext bildet jeweils die Mahnung zur Wachsamkeit angesichts der Tatsache, dass der Zeitpunkt der Wiederkunft Jesu zum Gericht unbekannt ist. c) Die Aufforderung zum Friedenhalten in 1Thess 5,13 (vgl. Röm 12,18) wird in Mk 9,50 (vgl. Mt 5,9) als ein Gebot Jesu angeführt. d) Der Aufruf in 1Thess 5,15 / / Röm 12,17, Böses nicht mit Bösem zu vergelten, sowie die verwandte Ermahnung in Röm 12,14, Verfolger zu segnen und nicht zu verfluchen, begegnen ähnlich in Bergpredigt und Feldrede (Lk 6,28 / / Mt 5,44) sowie in 1Petr 3,9. Dem liegt ein Topos frühchristlicher Paränese zugrunde, der in den synoptischen Evangelien und in der Briefliteratur auf jeweils eigene Weise rezipiert wurde. e) Das Wort über die positive Haltung gegenüber den Feinden in Röm 12,20, das Paulus dort als Zitat aus Spr 25,21 anführt, begegnet in der synoptischen Tradition als das Gebot Jesu, die Feinde zu lieben (Lk 6,27.35 / / Mt 5,44). f) Die Aussage in Röm 14,14, dass nichts aus sich selbst unrein ist, besitzt eine Analogie in dem Wort Jesu in Mk 7,15 / / Mt 15,11: »Es gibt nichts, was von außen in den Menschen hineingeht, das ihn unrein machen könnte«. g) Das Wort über den Berge versetzenden Glauben aus 1Kor 13,2 findet sich ähnlich in Mk 11,22f. / / Mt 17,20 (vgl. Lk 17,6; EvThom 48.106). Der dargestellte Befund zeigt, dass es bereits vor der Entstehung der Evangelien einen frühchristlichen Überlieferungsbereich gab, der Worte des irdischen Jesus, vom Herrn autorisierte frühchristliche Lehre, Topoi jüdisch-hellenistischer Ethik sowie Schriftzitate umfasste. Innerhalb dieses Bereiches, aus dem sich das entstehende Christentum eine eigene Tradition schuf, die sich historisch mit der in Apg 2,42 erwähnten »Lehre der Apostel« in Verbindung bringen lässt, spielte die Unterscheidung zwischen »echten« Jesusworten und anderen Traditionen offenbar keine entscheidende Rolle. Wichtig war vielmehr, dass die frühchristliche Lehre insgesamt als in der Autorität des Herrn begründet betrachtet wurde. Dies ist auch der Grund, warum Paulus wie auch der 1. Petrusbrief, der Jakobusbrief und die Didache häufiger Formulierungen ohne expliziten Bezug auf Jesus verwenden können, die in den synoptischen Evangelien als Jesusworte erscheinen. Die Konsequenz daraus lautet, dass die Evangelien bei der Abfassung ihrer biographischen Jesuserzählungen die urchristliche Lehre, die zuvor als allgemeine katechetisch-paränetische Tradition überliefert worden war, insgesamt der Autorität des irdischen Jesus unterstellt haben. Die Autorität des irdischen Jesus war dabei darin begründet, dass er zugleich als erhöhter Herr ver- »Wichtig war vielmehr, dass die frühchristliche Lehre insgesamt als in der Autorität des Herrn begründet betrachtet wurde.« 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 50 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 51 Jens Schröter Der erinnerte Jesus als Begründer des Christentums? ehrt wurde. Die Unterscheidung zwischen »authentischen« Jesusworten und anderem katechetischem Material war dagegen kein vordringliches Interesse und auch kein gravierendes Problem des frühen Christentums. Dies erklärt auch, warum in den synoptischen Evangelien »echte« Jesusworte neben solchen Überlieferungen stehen können, die in anderen Schriften als anonyme Tradition angeführt oder unter anderer Autorität zitiert werden. Methodisch folgt daraus, dass deutlicher, als dies bei Dunn geschieht, in Rechnung gestellt werden muss, dass wir bereits in den frühen Erinnerungen an Jesus auf einen Überlieferungsbereich stoßen, in dem sich »echte« Jesusworte mit weiteren Überlieferungen verbunden haben, die diese auf den Glaubens- und Lebenskontext der frühchristlichen Gemeinden hin auslegen. Die Autorität des irdischen Jesus ist dabei in seiner Auferweckung und Erhöhung begründet. Mit der Kategorie des »Eindrucks« (impact), die bei Dunn eine entscheidende Rolle für die Beschreibung des Zusammenhangs von Impulsen Jesu und deren Rezeption im frühen Christentum spielt, darf also nicht verundeutlicht werden, dass zu diesem impact eine Deutung des Wirkens Jesu im Licht der nachösterlichen Glaubensbekenntnisse untrennbar dazugehört. 2. Meine zweite Anfrage betrifft Dunns These, ein Jesus, der keinen Glauben geweckt habe, sei nicht vorstellbar. Bereits die Verwendung des Begriffes »Glaube« steht hier in der Gefahr, ein vielfältiges Spektrum von (in diesem Fall: positiven) Reaktionen auf Jesus zu vereinheitlichen, die in den frühchristlichen Schriften als vielfältiges Phänomen mit unterschiedlichen Akzentuierungen erscheinen. Gänzlich unberücksichtigt bleiben bei dieser Sicht zudem ablehnende und gleichgültige Reaktionen auf Jesus. Dass Jesus »Glauben geweckt« hat, ist jedoch nur eine Konsequenz seines Wirkens neben anderen (und zur Zeit seines irdischen Auftretens zweifellos nicht die am weitesten verbreitete). Historisch ebenso bedeutsam war, dass er Widerspruch und Ablehnung hervorgerufen hat. Auch dies ist im Neuen Testament erkennbar, etwa wenn Jesu jüdische Gegner oder solche Menschen in den Blick treten, die seinem Anspruch, in der Autorität Gottes zu wirken, ablehnend oder gleichgültig begegneten. Dazu zwei Beispiele: a) Die Beelzebul-Kontroverse, eine Markus und Q gemeinsame und demnach offenbar sehr alte Tradition, erwähnt Zeitgenossen Jesu, die die Überzeugung, er sei der Sohn Gottes und Träger des Geistes Gottes, nicht teilen. Seine Vollmacht über die Dämonen wird stattdessen auf Beelzebul, den Herrscher der Dämonen, zurückgeführt. Des Weiteren wird bei Markus im unmittelbaren Kontext dieser Episode die Familie Jesu erwähnt, die ihn für verrückt hält und ihn deshalb an seiner Wirksamkeit hindern will (Mk 3,21). Diese Episode macht deutlich, dass die exorzistische Praxis Jesu nicht automatisch positive Reaktionen hervorrief - geschweige denn »Glauben« -, sondern es sich um ein irritierendes, gerade nicht eindeutiges Phänomen handelte, das sehr unterschiedliche Bewertungen erfuhr. b) Ein zweites Beispiel: Des Öfteren wird davon berichtet, dass Jesus mit seinem Aufruf zur Umkehr sowie mit seiner Verkündigung des anbrechenden Gottesreiches keinen Erfolg hatte. In Mk 6,6 ist er verwundert über den Unglauben (gr. apistia) der Leute von Nazareth. In Lk (Q) 10,13- 15 werden Wehrufe Jesu über die galiläischen Dörfer Chorazin, Bethsaida und Kapernaum wegen ihrer Weigerung umzukehren überliefert. In Mk 4,10-12 wird ein innerer Kreis von Jüngern, der in die Geheimnisse des Reiches Gottes eingeweiht wird, von der Volksmenge unterschieden, die nur in Gleichnissen belehrt wird, deren tiefere Bedeutung ihnen jedoch verschlossen bleibt. Diese Texte reflektieren die Ablehnung oder Gleichgültigkeit, auf die Jesu Nachfolger bei ihrer Mission gestoßen sind. Historisch ist durchaus wahrscheinlich, dass sich darin auch vorösterliche Konstellationen der Ablehnung Jesu durch seine jüdischen Zeitgenossen widerspiegeln. Es gibt demnach in den Evangelien selbst Hinweise darauf, dass Jesus nicht nur Akzeptanz, Sympathie oder gar »Glauben« hervorgerufen, sondern auch Reaktionen ganz anderer Art ausgelöst hat - Reaktionen, die ebenfalls historisch erklärt werden müssen. Jesus nachzufolgen war also offenbar nur eine mögliche Form, auf sein Wirken zu reagieren - und zwar eine solche, zu der die meisten seiner Zeitgenossen offensichtlich nicht bereit waren. Es ist deshalb keineswegs unsachgemäß, sich einen Jesus vorzustellen, der keinen »Glau- 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 51 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 52 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Kontroverse ben geweckt« hat. Dunns Bemerkung »There is no such Jesus« (126) kann deshalb nicht überzeugen. Zu einer historischen Jesusdarstellung gehört auch, andere Reaktionen auf sein Wirken als diejenigen von Nachfolge und Glaube einzubeziehen und plausibel zu machen. Dabei ist zu bedenken, dass das, was das Neue Testament als »Glaube« bezeichnet, die Ausbildung der nachösterlichen Bekenntnisse bereits voraussetzt. Die Rede von einem »historischen Glauben«, der mit dem irdischen Jesus in Verbindung zu bringen sei, erscheint dagegen wenig plausibel. In diesem Zusammenhang ist auch auf die nichtkanonischen Texte hinzuweisen. Anders als in der neueren Forschung mitunter behauptet, sind diese Texte nicht deshalb von Interesse, weil sie uns zum »wirklichen Jesus« zurückführen würden. Diesbezüglich ist Dunns Einschätzung durchaus zuzustimmen. Die apokryphen Texte sind jedoch als Zeugnisse des Christentums des zweiten und dritten Jahrhunderts von Interesse, die eine Vielfalt von Anknüpfungen an Jesus zeigen, die über das Spektrum, welches das Neue Testament zu erkennen gibt, hinausgehen. Das Thomasevangelium etwa illustriert, auch wenn es in ein nachsynoptisches Stadium der Jesusüberlieferung gehört, die Vielfalt der Rezeptionen der Jesustradition und sollte deshalb nicht vorschnell mit Hinweis auf »die entwickelte Form des gnostischen Erlösermythos« (so Dunn, 164) beiseite geschoben werden. Ein solches Urteil ist schon von daher zu hinterfragen, als ein solcher Mythos für das Thomasevangelium nicht zu erweisen ist. Zudem sollte gerade ein Zugang, der auf dem Konzept des »erinnerten Jesus« basiert, Quellen wie das Thomasevangelium nicht zu schnell aus dem Bestand der für eine historische Darstellung zu berücksichtigenden Erinnerungen an Jesus ausschließen. Es ist durchaus möglich, dass auch eine Schrift wie das Thomasevangelium alte Überlieferungen enthält. Das kann nur im Einzelfall, jedoch nicht durch ein Pauschalurteil entschieden werden. Dunns Darstellung steht hier somit in der Gefahr, ein Jesusbild zu entwerfen, das sich stärker auf die kanonischen Schriften stützt, als es der Quellenbefund zulässt. 3. Meine dritte Anfrage bezieht sich auf das Problem, wie die Jesustradition in den ersten Jahrzehnten nach Jesu Tod überliefert wurde. Dunn beruft sich hierzu methodisch auf die Erforschung mündlicher Traditionsprozesse seit Johann Gottfried Herder sowie auf Kenneth Baileys Konzept der »informal controlled tradition«. Er stellt zu Recht heraus, dass die synoptische Tradition mit dem Modell literarischer Redaktion(en) nicht angemessen erklärt werden kann. Hinter den verschiedenen Versionen einer synoptischen Überlieferung seien vielmehr mündliche Fassungen anzunehmen, die zwar keinen fixierten Wortlaut besaßen, bei denen jedoch zwischen fixierten und variablen Elementen unterschieden werden könne (253). Dem ist zunächst durchaus zuzustimmen. Es dürfte unstrittig sein, dass ein ausschließlich literar(krit)isches Modell die Überlieferungsprozesse der frühen Jesustradition nur höchst unzureichend erfasst. Darüber hinaus wurde schon häufig darauf hingewiesen, dass für mündliche Traditionsprozesse die mehrfache Präsentation einer Überlieferung charakteristisch ist, die nicht mit der Unterscheidung von »Original« und davon abhängigen, sekundären Versionen beschrieben werden kann. Der formkritische Ansatz der Unterscheidung von »Tradition« von »Redaktion« ist hier also untauglich, weil er mit der Vorstellung literarischer »Schichten« arbeitet, die in einem analytischen Prozess voneinander separiert und in einer chronologischen Abfolge von Entwicklungsstufen eines Textes dargestellt werden könnten. Die Überlieferung der frühen Jesustradition kann mit einem solchen Modell, wie Dunn zu Recht bemerkt, nicht erfasst werden. Dessen ungeachtet sind an Dunns Beschreibung der Überlieferung und Verwendung der Jesusüberlieferung im Urchristentum einige kritische Fragen zu richten. Dunn spricht von den drei »Säulen«, Petrus, Jakobus und Johannes, als »apostolischen Wächtern«, die eine personale Kontinuität von der vorösterlichen Zeit bis zur Jerusalemer Gemeinde garantierten (180f.). Er verweist auf Stellen bei Paulus, im Jakobusbrief und im 1. Petrusbrief, um zu belegen, dass die Jesustradition in unterschiedlichen Überlieferungssträngen des frühen Christentums bewahrt und verwendet wurde. Schließlich nennt er das biographische Interesse der Verfasser der Evangelien, die die Erinnerungen an Jesus in Form biographischer Erzählungen bewahrt haben. 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 52 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 53 Jens Schröter Der erinnerte Jesus als Begründer des Christentums? Einige Anfragen an dieses Bild sind in den vorangehenden Bemerkungen bereits zur Sprache gekommen. Hier sei Folgendes ergänzt: Die von Dunn gezeichnete Entwicklung des Christentums der ersten Jahrzehnte beruht im Wesentlichen auf der Darstellung der Apostelgeschichte. Die Kontinuität zwischen dem irdischen Jesus und der Jerusalemer Urgemeinde, die Aufnahme des Paulus in den Kreis der Zeugen der Jesustradition sowie die Fortsetzung der Geschichte Jesu durch die Entstehung der von den Aposteln geleiteten frühen Kirche - all dies sind substantielle Elemente des lukanischen Bildes der frühchristlichen Geschichte. Dabei ist nicht strittig, dass die Apostelgeschichte eine wichtige - oft sogar die einzig verfügbare - Quelle für Informationen über Personen, Ereignisse und Entwicklungen der ersten Jahrzehnte des Christentums ist. Gleichzeitig steht jedoch die Notwendigkeit einer kritischen Lektüre der Apostelgeschichte als historischer Quelle außer Frage. Die lukanische Beschreibung der Entwicklung von Jesu vorösterlichem Wirken zum nachösterlichen Zeugnis der Apostel kann nicht einfach einer historischen Darstellung zugrunde gelegt, sondern muss einer historisch-kritischen Analyse unterzogen werden. Es ist deshalb durchaus problematisch, wenn Dunn relativ unvermittelt von der Perspektive der Apostelgeschichte auf eine Kontinuität der historischen Entwicklung schließt, die angeblich von frühester Zeit an eine tragende Rolle gespielt habe (180). Eine kritische Lektüre der Apostelgeschichte führt zu einem differenzierteren Bild der Anfänge des Christentums. Die Hellenisten, Barnabas, Petrus, Paulus, Jakobus und Apollos sind vermutlich als urchristliche Autoritäten mit je eigenen Perspektiven auf das Wirken Jesu und sicher mitunter auch divergierenden Auffassungen über dessen Bedeutung zu betrachten. Zudem darf nicht übersehen werden, dass Lukas etliche Personen und Gemeinden der Frühzeit des Christentums überhaupt nicht erwähnt, die in anderen Schriften in den Blick treten. Es ist deshalb durchaus fragwürdig, wenn Dunn die Apostelgeschichte als Zeugin für einen »erinnerten Jesus« ins Feld führt. Das dabei entstehende vergleichsweise harmonische Bild einer Entwicklung von Jesus zu Paulus dürfte sich bei einer kritischen Lektüre der Apostelgeschichte differenzierter darstellen, als es bei Dunn den Anschein hat. Ich schließe mit einer grundsätzlichen Bemerkung zum Projekt des »historischen« oder »erinnerten« Jesus. Vielleicht ist die exegetische und theologische Forschung zu sehr auf den einen Impuls hinter den Texten und - analog dazu - auf den einen Text hinter den verschiedenen Manuskripten fixiert. Es könnte sich jedoch herausstellen, dass das Modell einer anfänglichen Pluralität von Erinnerungen, die nicht auf die eine »originale« Textversion hinter den Manuskripten, nicht auf den einen Jesus hinter den vielfältigen Erinnerungen und nicht auf den einen Ursprung der vielfältigen Ausprägungen christlichen Glaubens zurückgeführt wird, den Quellen angemessener ist. Historisch gesehen gab es natürlich den einen irdischen Jesus hinter den verschiedenen Erzählungen, die ihn als den »erinnerten Jesus« repräsentieren. Daraus folgt jedoch nicht notwendig, dass die Reduktion der vielfältigen Texte und Erinnerungen auf das eine Jesusbild - das mit dem tatsächlichen, irdischen Jesus ohnehin niemals zur Deckung zu bringen ist - uns der »Wirklichkeit« oder gar der »Wahrheit« über Jesus näherbringt. Der eine Jesus hinter den mannigfaltigen Jesuserzählungen - der »wirkliche Jesus« hinter den Erinnerungen, in denen sich sein Wirken bricht - ist im Zeitalter der historischen Kritik an die Stelle des neutestamentlichen Kanons getreten, der als göttlich inspirierte Schriftensammlung zuvor die Grundlage christlicher Glaubensgewissheit darstellte. Das Projekt »historischer Jesus« wird damit nicht grundsätzlich obsolet. Es sollte aber in einen weiteren theologischen, hermeneutischen und erkenntnistheoretischen Rahmen gestellt werden. James Dunns Jesusbuch ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung. l Anmerkungen 1 J.D.G. Dunn, Jesus Remembered (Christianity in the Making, Bd. 1), Grand Rapids 2003. 2 J.D.G. Dunn, Jesus Tradition in Paul, in: B. Chilton / C.A. Evans (Hgg.), Studying the Historical Jesus. Evaluations of the State of Current Research (NTTS 19), Leiden / New York / Köln 1994, 155-178. »Vielleicht ist die exegetische und theologische Forschung zu sehr auf den einen Impuls hinter den Texten und - analog dazu - auf den einen Text hinter den verschiedenen Manuskripten fixiert.« 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 53 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 54 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Ich freue mich über die Gelegenheit, mein Gespräch mit Jens Schröter fortzusetzen. Vielen Dank auch für seine freundlichen Reaktionen auf meine wissenschaftliche Arbeit und für die wertvollen Anregungen, die ich durch frühere Äußerungen und unsere bisherigen Gespräche erhalten habe. Die geschätzten Leserinnen und Leser werden verstehen, dass ich mich im vorliegenden Beitrag auf jene Punkte konzentrieren werde, an denen unsere Ansichten sich unterscheiden. Lassen Sie mich die These meines Buches »Jesus Remembered « 1 noch einmal kurz zusammenfassen: Ich beginne mit einer grundsätzlichen Wahrscheinlichkeit: 1. Die synoptische Tradition der Sendung Jesu bietet eine außergewöhnlich kohärente und konsistente Darstellung Jesu. Selbst wenn man die unterschiedliche Zusammenstellung des Materials und deren individuelle Eigentümlichkeiten berücksichtigt, so kommt man doch unweigerlich zu dem Schluss, dass der dargestellte Jesus ein und derselbe ist. 2 Zusätzlich weise ich auf die folgenden, mit hoher Wahrscheinlichkeit vorauszusetzenden Grundannahmen hin: 2. Die Mission Jesu hinterließ bei seinen unmittelbaren Anhängern, sowohl was ihren Charakter als auch was die damit verbundene Lehre betrifft, einen beträchtlichen Eindruck. 3. Dieser Eindruck schlug sich mehr oder weniger von Anfang an bei seinen Schülern in Form von Geschichten über Jesus und von Lehrinhalten nieder, die sowohl vor Jesu Tod als auch nach dessen Auferstehung wesentlicher Bestandteil von deren eigener Verkündigung waren. 4. Die Menschen, die sich durch die Taufe »im Namen Jesu« der neuen religiösen Gruppierung anschlossen und (bald) die Bezeichnung »Christen« akzeptierten, wollten natürlich etwas über diesen Jesus wissen, mit dessen Namen sie bezeichnet wurden. 3 5. Ich behaupte schließlich, dass wir die Verbindung zwischen der grundsätzlichen Wahrscheinlichkeit (1.) und den obigen Grundannahmen (2.-4.) am besten in der mündlichen Verkündigung und Überlieferung von Jesu Aussprüchen und Taten erkennen können, das heißt entsprechend dem Muster von Übereinstimmung und Variation, das für die mündliche Überlieferung und deren wiederholte Performanz typisch ist. 6. Dies legt wiederum nahe, dass die synoptische Tradition, die eben diesen Charakter aufweist, diesen bereits in der Zeit der mündlichen Überlieferung, also mehr oder weniger bereits von Anfang an, annahm. Ich bin von Schröters Gegenargument nicht überzeugt, dass es keinerlei Interesse daran gegeben habe, sich an die Lehren Jesu als Lehren Jesu zu erinnern, und dass die synoptische Tradition aus Sammlungen katechetischer Lehrmaterialien hervorgegangen sei, von denen nur einige wenige (zufällig) auf Jesus selbst zurückgingen. Dies lässt viel zu wenig Raum für die oben dargelegten, mit hoher Wahrscheinlichkeit vorauszusetzenden Grundannahmen (2.-4.), nämlich dass der Eindruck, den Jesus hinterließ, in der Verkündigung und der Katechese der frühen Gemeinden bewahrt und weitergegeben wurde und zwar gerade mit Hilfe des Materials bzw. als das Material, das schließlich zur synoptischen Überlieferung wurde. Anders gesagt, meiner Meinung nach ist es sehr wahrscheinlich, dass die Jesusüberlieferung (die synoptische Tradition) direkt auf Jesus selbst zurückzuführen ist, weil ihre Herkunft von Jesus Kontroverse James D.G. Dunn Remembering Jesus »...meiner Meinung nach ist es sehr wahrscheinlich, dass die Jesusüberlieferung (die synoptische Tradition) direkt auf Jesus selbst zurückzuführen ist...« 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 54 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 55 James D.G. Dunn Remembering Jesus und seinen ersten Jüngern bekannt war. 4 Schröter verweist auf die Anonymität der Echos (er verwendet das Wort »Analogien«) der Jesustradition bei Paulus, Jakobus usw. hin. Daraus schlussfolgert er, dass es den ersten Christen nicht darum gegangen sei, solche Lehren gerade als Lehren Jesu in Erinnerung zu behalten. 5 Doch diese Antwort weist zwei Schwachpunkte auf: (a) Trotz seiner gegenteiligen Beteuerungen scheint Schröter nach wie vor eine Unterscheidung zwischen dem nachösterlichen Christus des Glaubens und dem vorösterlichen Jesus vorauszusetzen. Darauf zu bestehen, dass Texte wie 1Kor 7,10-11 für Paulus nur als Gebote des erhöhten Herrn autoritative Verbindlichkeit genießen, schließt für mich die deutlich einleuchtendere Möglichkeit aus, dass Paulus diese Lehrsätze kannte und sie deshalb als jene Lehrsätze zitieren konnte, an die man sich als vom gegenwärtigen Herrn während seiner Zeit auf Erden mitgeteilte erinnerte. Die formalen Abweichungen, mit denen Paulus die Gebote des Herrn verkündigt, entsprechen ganz und gar der Art von Abweichungen der mündlichen Jesusüberlieferung (wie sie durch die Art der synoptischen Tradition bestätigt wird). 6 Erstaunlich ist Schröters Argument, dass Paulus in 1Kor 11,23-25 »sich auch hier nicht auf Worte des irdischen Jesus bezieht, sondern auf eine frühchristliche Überlieferung«. Diese Behauptung stützt sich auf Schröters Beobachtung, »dass die zitierte Überlieferung mit der für eine Traditionsübermittlung typischen Terminologie ›empfangen‹ (gr. paralambanein) und ›weitergeben‹ (paradidonai) eingeführt wird«, die eine frühchristliche Tradition über das Abendmahl zitiere. Dieses Argument ignoriert und lässt ohne Begründung die wahrscheinlichere Überlegung außer Acht, dass diese Tradition eben als von Jesus selbst her »empfangene« und »weitergegebene« (diese Begriffe werden für die Übertragung mündlicher Tradition benutzt) Verkündigung verstanden wurde. (b) Aus meiner Sicht liegt ein großer Schwachpunkt der Argumentation Schröters darin, dass er die Funktionsweise einer mündlichen Gemeinschaft unberücksichtigt lässt. Die Darbietungen von Überlieferung wählen in einer mündlichen Gemeinschaft in typischer Weise immer aus einem größeren, reichhaltigeren Repertoire aus und sie beinhalten Anspielungen auf vertraute Motive dieses Repertoires. Dadurch wird beabsichtigt, das Bewusstsein der Zuhörer für diese Motive anzusprechen und deren Wertschätzung für diese und ähnliche Motive anzuregen. 7 Deshalb ist keine individuelle Darbietung oder Darstellung als die umfassende oder definitive Form der Überlieferung anzusehen. Die Überlieferung ist Teil des gemeinsamen Gedächtnisses der Gemeinschaft. Es wird von den anerkannten Lehrern oder den Ältesten einer Gemeinschaft bewahrt und sogar gehütet. Als Konsequenz sollten wir die »Echos« (oder Analogien) bzw. Spuren der Jesusüberlieferung, die sich in den neutestamentlichen Briefen finden, als Anspielungen auf eine Menge von Jesusüberlieferungen ansehen, die in den frühen Gemeinden bewahrt wurden. Diese Jesusüberlieferungen Prof. emeritus Dr. James Dunn ist aufgewachsen in Glasgow. Er promovierte 1968 in Cambridge. In der Zeit von 1970-1982 war Prof. James Dunn Dozent für Neues Testament an der Universität Nottingham, bevor er Lightfoot Professor of Divinity in Durham wurde. Prof. Dunn hat über 20 Bücher verfasst - darunter: »Baptism in the Holy Spirit«, »Jesus and the Spirit«, »Unity and Diversity in the New Testament«, »Christology in the Making«, »Jesus, Paul and the Law«, »The Partings of the Ways«, »The Theology of Paul the Apostle«, »Jesus Remembered«, »The New Perspective on Paul and A New Perspective on Jesus«. Darüber hinaus hat Prof. Dunn mehrere Kommentare verfasst (zum Römerbrief, zum Galaterbriebrief, zum Kolosser- und Philemonbrief sowie zur Apostelgeschichte) und um die 200 Artikel geschrieben. Seine Schüler lehren in vielen verschiedenen Ländern. Prof. James Dunn ist verheiretat mit Meta Dunn, sie haben zusammen drei Kinder und zwei Enkelkinder. James Dunn 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 55 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 56 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Kontroverse waren den Gemeindegliedern bereits vor und unabhängig von den Briefen bekannt, deren Autoren ihrerseits darauf anspielen konnten. Eben diese größere Menge von Jesusüberlieferungen war sehr wahrscheinlich ausdrücklich als Lehre Jesu (und Geschichten über Jesus) bekannt und sie tauchen deshalb in der synoptischen Überlieferung auf. Anders ausgedrückt: Solange wir keine Lücke zwischen dem Eindruck Jesu, den er mit seinem Leben und seiner Lehre hinterließ, und der Entstehung der synoptischen Überlieferung annehmen, ist die offensichtliche Schlussfolgerung: Die frühesten Gemeinden verfügten über ihre eigenen Jesusüberlieferungen, die der synoptischen Tradition ähnelten. Diese hatten sie von den Aposteln überliefert bekommen, auf sie konnten sich die frühesten christlichen Briefschreiber beziehen - und das taten sie auch. 8 Bei einem solchen internen Wechselspiel von Andeutungen und Querverweisen muss man nicht gesondert auf die Autorität hinter diesen Lehrinhalten hinweisen, auf die man sich bezog. Würde man das ausdrücklich tun, so verstieße man damit gegen den intern geltenden Verhaltenskodex und den davon ausgehenden Identifikationseffekt, den eine so sorgfältig gepflegte Tradition für eine Gemeinschaft besitzt und die entsprechend Folgendes voraussetzt: »Natürlich wissen wir, wer uns das gelehrt hat! Das müsst ihr uns nicht mitteilen.« Mit den alttestamentlichen Anspielungen verhält es sich ganz ähnlich: Jedem, der mit der Septuaginta vertraut war (wie Paulus von vielen seiner Adressaten offenbar annahm), musste man nicht erst sagen, dass Passagen wie 1Kor 2,16; 5,13 und 6,16 Zitate aus der Schrift sind oder 1Kor 8,6 eine Anspielung auf Dtn 6,4 ist. 9 Schröters Sicht der Dinge - und noch mehr die seiner Vorgänger, die er an dieser Stelle aufgreift -, verrät zu sehr die Verwurzelung in einer an literarischen Zeugnissen orientierten Geisteshaltung, in der das Urheberrecht eine minutiöse Kennzeichnung jedes nicht originären Gedankens erfordert. In vorliterarischen Gesellschaften ging es jedoch deutlich anders zu. Zweitens kritisiert Schröter meine These, dass wir (wenn überhaupt, dann) nur durch den »Glauben«, den Jesu Sendung bei den ersten Jüngern weckte, Zugang zu Jesus von Nazareth finden können. Ich gebe zu, ich verwende den Begriff »Glaube« in einem ziemlich weiten Sinne. Der Grund dafür liegt darin, dass ich die Grundannahmen der historischen Jesusforschung des 20. Jahrhunderts bestreite, nach denen (christlicher) Glaube erst mit dem Osterereignis begann und dieser Osterglaube spätere Historiker daran hindere, Jesus so zu sehen und zu hören, wie er in seinem vorösterlichen Wirken gesehen und gehört wurde. Deshalb benutze ich den Begriff »Glaube« für den Eindruck, den Jesus bereits vor Ostern auf seine ersten Jünger machte, eben weil ich besonders die Kontinuität zwischen der vorösterlichen Antwort der ersten Jünger sowie ihrem daraus abgeleiteten Engagement und ihrem nachösterlichen Glauben betonen möchte. Darüber hinaus kann ich in der synoptischen Tradition in ihrem typisch galiläischen Milieu und den individuellen Traditionen keine Auswirkungen des Osterglaubens ausmachen; ein Umstand, der darauf hinweist, dass ein Großteil der Jesustradition noch vor den Osterereignissen bereits seine bleibende (synoptische) Form erhalten hatte. Der Hauptpunkt der zweiten kritischen Anmerkung Schröters ist jedoch, dass dieser Eindruck, den Jesus bei seinen Jüngern hinterließ, nicht die einzige Antwort und Reaktion waren, die Jesus hervorrief. Er schreibt: »Dass Jesus ›Glauben geweckt‹ hat, ist jedoch nur eine Konsequenz seines Wirkens neben anderen (und zur Zeit seines irdischen Auftretens zweifellos nicht die am weitesten verbreitete). Historisch ebenso bedeutsam war, dass er Widerspruch und Ablehnung hervorgerufen hat«. Ich bin mir nicht sicher, ob Schröter glaubt, ich würde dies bestreiten, da ich ja gerade in meinem Buch »Jesus Remembered« deutlich hervorgehoben habe, dass es selbstverständlich völlig verschiedene Reaktionen gegenüber Jesus gab (vgl. S. 131-132). Natürlich gibt es Anzeichen dafür »dass Jesus nicht nur Akzeptanz, Sympathie oder gar ›Glauben‹ hervorgerufen, sondern auch Reaktionen ganz anderer Art ausgelöst hat - Reaktionen, die ebenfalls historisch erklärt werden müssen. Jesus nachzufolgen war also offenbar nur eine mögliche Form, »Zuerst einmal haben wir keine anderen Quellen für unser Wissen über Jesus als das Material derjenigen, die an ihn glaubten.« 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 56 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 57 James D.G. Dunn Remembering Jesus Kontroverse auf sein Wirken zu reagieren - und zwar eine solche, zu der die meisten seiner Zeitgenossen offensichtlich nicht bereit waren«. Dies wird von mir keinesfalls in Frage gestellt. Aber mein Ausgangspunkt ist ein ganz anderer. Zuerst einmal haben wir keine anderen Quellen für unser Wissen über Jesus als das Material derjenigen, die an ihn glaubten. Die Beispiele von Schröter zur Widerlegung meiner Ansicht stammen alle aus den Evangelien selbst und das heißt konkret aus Texten, die eben nicht unabhängig von diesen Quellen waren, die in positiver Weise auf Jesus Bezug nahmen. Abgesehen davon sind die Hinweise auf Jesus bei nichtchristlichen Autoren recht dünn gesät. Doch weiterführende Überlegungen, wie wir das Thomas-Evangelium und die anderen nichtkanonischen Evangelien bewerten müssen, würden den Rahmen dieser Debatte sprengen. Sicherlich bestätigt Thomas beides, nämlich dass sich die Jesusüberlieferung auch neben der kanonischen Entwicklungslinie ausbreitete dass diese Überlieferung sehr vielfältig war und sich unterschiedlich weiter entwickelte. Das Thomasevangelium ist in erster Linie interessant, um die Vielfalt der Überlieferung zu demonstrieren, die es auch mit den Synoptikern teilt. Es sollte jedoch nicht als Zeuge für eine von der synoptischen Tradition unabhängige Jesusüberlieferung angesehen werden. Meiner Meinung nach ist vielmehr daran festzuhalten, dass die synoptische Tradition die Hauptverbindung zu den frühesten Reaktionen auf Jesus und zu den frühesten Formen der Jesusüberlieferung bietet. Zum Zweiten halte ich folgenden Sachverhalt für ziemlich einfach und offensichtlich: Wenn wir den Jesus »finden« wollen, von dem her das Christentum letztendlich entstanden ist, dann haben wir außer den kanonischen Evangelien keinen anderen Zugang zu eben diesem Jesus. Dies war meiner Meinung nach das Hauptziel der Frage nach dem historischen Jesus: herauszufinden, was diesen Jesus ausmachte, mit dem alles anfing. Wie ich bereits gesagt habe, um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir berücksichtigen, welchen Eindruck er bei seinen ersten Jüngern hinterließ (welchen Glauben er hervorrief) und wir müssen das etwas alberne Argument bei Seite lassen, dass dieser Glaube bei einer Suche nach dem »wirklichen« Jesus außen vor gelassen werden müsse - sprich, nach einem Jesus zu fragen, der keinen Glauben hervorrief. Meiner Meinung nach werden wir mittels der synoptischen Tradition keinen anderen Jesus finden als den, der einen Eindruck hinterließ, der nach wie vor in und durch die synoptische Tradition belegt ist. Ich hege keine allzu große Hoffnung für alle jene, die einen Jesus des Pilatus oder einen Jesus des Kaiphas suchen. Und all jene, die auf der Jagd nach einem neutralen oder objektiven und von christlichen Vorurteilen befreiten Jesus sind, den wir dann für uns selber leidenschaftslos beurteilen können, halte ich für Traumtänzer. Schröters dritter Kritikpunkt ist, dass meine Darlegung zu sehr von der Apostelgeschichte abhinge, wie sein Zitat verrät: »Die Kontinuität zwischen dem irdischen Jesus und der Jerusalemer Urgemeinde, die Aufnahme des Paulus in den Kreis der Zeugen der Jesustradition sowie die Fortsetzung der Geschichte Jesu durch die Entstehung der von den Aposteln geleiteten frühen Kirche - all dies sind substantielle Elemente des lukanischen Bildes der frühchristlichen Geschichte.« Zugegebenermaßen bin ich ein wenig überrascht von dieser Kritik, da ich mir bisher einer solchen Abhängigkeit von der Apostelgeschichte nicht bewusst war. Wie eingangs angedeutet, stützt sich mein Argument auf einen direkten Zusammenhang zwischen dem dauerhaften Charakter der synoptischen Tradition und der wahrscheinlichen Annahme, dass Jesus einen Eindruck hinterließ, der unverzüglich in mündlichen Geschichten und in unterschiedlichen Versionen seiner Lehre Gestalt annahm. Es ist nicht nur die Apostelgeschichte, sondern es sind auch Paulus und Jakobus, die von Lehrern in den frühesten Gemeinden sprechen. Diese Lehrer waren vermutlich dafür zuständig, die in diesen Gemeinden vorhandene Überlieferung zu vermitteln. Und nicht nur die Apostelgeschichte betont die Bedeutung von Jerusalem und Petrus, sondern auch Paulus erkennt besonders in Gal 1-2 (auch für die Bestätigung seiner eigenen Botschaft) deren Bedeutung an. Ich stimme natürlich zu, dass die Apostelgeschichte die Vielfalt bestätigt, die die neue religiöse Gruppierung von Anfang an erlebte. Doch umso interessanter ist für mich die Beobachtung, dass die Unterschiede der synoptischen Tradition verglichen mit dem Johannesevangelium oder den übrigen außerkanonischen Schriften so gering sind. Ich fand es sehr interes- 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 57 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 58 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Kontroverse sant, dass die nachhaltigen Bemühungen der letzten Jahre, einen anderen Zugang zu den christlichen Ursprüngen abseits der Apostelgeschichte - und in bewusster Abgrenzung von ihr - zu rekonstruieren, schon bald im Sande verliefen. 10 In Schröters letztem Vorstoß stellt er Überlegungen an, ob »[v]ielleicht […] die exegetische und theologische Forschung zu sehr auf den einen Impuls hinter den Texten und - analog dazu - auf den einen Text hinter den verschiedenen Manuskripten fixiert [ist]. Es könnte sich jedoch herausstellen, dass das Modell einer anfänglichen Pluralität von Erinnerungen, die nicht auf die eine ›originale‹ Textversion hinter den Manuskripten, nicht auf den einen Jesus hinter den vielfältigen Erinnerungen und nicht auf den einen Ursprung der vielfältigen Ausprägungen christlichen Glaubens zurückgeführt wird, den Quellen angemessener ist«. Dies ist ein kleines bisschen keck, bemühe ich mich doch besonders, den Prozess mündlicher Überlieferung von dem einer literarischer Textentstehung (mit ihren sukzessive anwachsenden Editionen) zu unterscheiden; und ich bin ja gerade auf der Grundlage der Ergebnisse von Experten der Oralitätsforschung zu dem Schluss gelangt, dass die Rede von einer originalen und ursprünglichen Version im besten Falle irreführend ist. 11 Kernpunkt meiner Argumentation in »Jesus Remembered« ist, dass man sich an Jesus von Anfang an auf verschiedene Weisen erinnert hat: er lehrte vermutlich die gleichen Inhalte mehrfach bei verschiedenen Gelegenheiten in unterschiedlicher Form. Verschiedene Zeugen desselben Ereignisses werden es unterschiedlich nacherzählen; diejenigen, die Jesu Lehren weiterverbreiteten, empfanden es als vollkommen angemessen, einzelne Details und den Aufbau zu variieren. Also müssen wir zwischen der »Originalversion« und dem ursprünglichen Eindruck unterscheiden. Es gibt keine ursprüngliche Version dessen, was Jesus tat und sagte, so als ob es nur eine authentische Fassung gäbe, von der alle nachfolgenden Versionen abgeleitet und gegenüber dieser sekundär seien (wie es das literarische Modell suggeriert). Aber es gab eine ursprüngliche Quelle - wie auch Schröter zustimmend ausführt: »Historisch gesehen gab es natürlich den einen irdischen Jesus hinter den verschiedenen Erzählungen, die ihn als den ›erinnerten Jesus‹ repräsentieren«. Dennoch bleibt Schröter die Formulierung eines Ergebnisses aufgrund dieser Annahme leider schuldig, das für mich jedoch nahezu unmittelbar aus der oben genannten grundsätzlichen Wahrscheinlichkeit (1) folgt, nämlich dass es durch die verschiedenen, tradierten Erinnerungen an Jesu Taten und Worte hindurch eine auffallende Konsistenz und Kohärenz gibt. Diese Konsistenz und Kohärenz können am besten durch den Charakter des ursprünglichen Eindrucks erklärt werden; es handelt sich dabei um die Konsistenz und Kohärenz der Wirkung, die Jesus auf seine Jünger hatte. Es ist die Art und Weise, wie sie sich an ihn erinnerten. Ich gestehe zu, dass wir nicht näher an Jesus herankommen, und damit zu keinem anderen Jesus als zu dem, der einen solchen Eindruck hinterließ. Das ist einer der Hauptpunkte, die ich in meinem Buch »Jesus Remembered« herausgearbeitet habe; aber die Wiederentdeckung des Jesus, der offensichtlich gerade einen solchen Eindruck bei seinen Jüngern hinterließ, - dies ist sicherlich das eigentliche Ziel für einen an den Anfängen des Christentums interessierten Historiker. (Der Beitrag wurde aus dem Englischen übersetzt von Dr. Carsten Claußen und stud. theol. Christoph Maser) l Anmerkungen 1 J.D.G. Dunn, Christianity in the Making: Vol.1. Jesus Remembered, Grand Rapids 2003. Ich sollte an dieser Stelle ebenfalls auf meine kürzere Abhandlung »A New Perspective on Jesus: What a Quest for the Historical Jesus Missed« (Grand Rapids 2005) hinweisen, die außerdem als Anhang meinen Vortrag beinhaltet, den ich als Präsident der SNTS auf deren Jahrestagung im Jahre 2002 gehalten und unter dem Titel »Altering the Default Setting: Re-envisaging the Early Transmission of the Jesus Tradition«, (NTS 49 [2003] 139-175) publiziert habe. 2 Diesen Umstand bringt C.H. Dodd, The Founder of Christianity, London 1971, gut zum Ausdruck: »The first three gospels offer a body of sayings on the whole so consistent, so coherent, and withal so distinctive in manner, style and content, that no reasonable critic should doubt, whatever reservations he may have about individual sayings, that we find here reflected the thought of a single, unique teacher« (21f.). 3 Es fällt mir schwer, die Schlussfolgerung zu vermeiden, dass dies ein oder gar der hauptsächliche Grund für Paulus war, im Anschluss an seine Bekehrung bei seinem ersten Besuch in Jerusalem mit Petrus so viel 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 58 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 59 James D.G. Dunn Remembering Jesus Zeit zu verbringen (Gal 1,18). Paulus wollte Petrus in seiner Rolle als der führende Jünger Jesu und entsprechend als die Primärquelle für Geschichten über Jesus und dessen Lehrinhalte kennen lernen. 4 Siehe hier auch die Argumente von R. Bauckham, Jesus and the Eyewitnesses: The Gospels as Eyewitness Testimony, Grand Rapids 2006, mit denen ich größtenteils sympathisiere jedoch nicht völlig übereinstimme. 5 Deshalb hält Schröter fest, »dass die Evangelien bei der Abfassung ihrer biographischen Jesuserzählungen die urchristliche Lehre, die zuvor als allgemeine katechetisch-paränetische Tradition überliefert worden war, insgesamt der Autorität des irdischen Jesus unterstellt haben. Die Autorität des irdischen Jesus war dabei darin begründet, dass er zugleich als erhöhter Herr verehrt wurde. Die Unterscheidung zwischen ›authentischen‹ Jesusworten und anderem katechetischen Material war dagegen kein vordringliches Interesse und auch kein gravierendes Problem des frühen Christentums. Dies erklärt auch, warum in den synoptischen Evangelien ›echte‹ Jesusworte neben solchen Überlieferungen stehen können, die in anderen Schriften als anonyme Tradition angeführt oder unter anderer Autorität zitiert werden.« 6 Eine Hauptthese meines Buches » Jesus Remembered« ist, dass der Gebrauch und die Weitergabe der Jesustradition zeigen, dass die ersten Überlieferer sich mehr mit dem Stoff und dem Kern der individuellen Überlieferung befassten als mit dem Versuch, eine Originalversion Wort für Wort zu reproduzieren. Daher bin ich überrascht, dass Schröter eine »Wort für Wort«- Übertragung zur einzigen Alternative zu seiner eigenen These macht, nach der sich die frühesten Tradenten schlicht und ergreifend nur »solcher Überlieferungen [bedienen], hinter denen die Autorität des Herrn steht, die sich damit als Basis frühchristlicher Lehre erweist«. Ich habe im Zusammenhang mit verschiedenen Kontexten die Beobachtung gemacht, dass Paulus Jesus bei ethischen Angelegenheiten nur dann zitiert, wenn er eine etwas andere Sichtweise vertritt (1Kor 7,10-11 und 9,14). Ich sollte darüber hinaus anmerken, dass ich 1Thess 4,15 nicht als einen von der Jesustradition verschriftlichten Ausspruch ansehe, sondern vielmehr als eine prophetische Äußerung, die in den Zusammenhang mit den Belangen in Thessalonich zu stellen ist. 7 Vgl. J.M. Foley, Immanent Art: From Structure to Meaning in Traditional Oral Epic, Bloomington, IN 1991. Kapitel 1 und 2 stellen fest, dass das Bewusstsein eines Vortragenden (Performer), das einer Gemeinschaft bereits vertraut ist, ein grundlegender Bestandteil seiner Darbietung ist. Der Vortrag wird innerhalb des »Erwartungshorizontes« der Gemeinschaft rezipiert. Die Lücken in der Darbietung können dadurch vom Publikum durch dessen Vorkenntnis der Tradition gefüllt werden. Was Foley als »metonymic reference« eines Vortrags bezeichnet, befähigt den Vortragenden zu einer ganzen Reihe von Anspielungen auf den gemeinschaftlichen Sprachgebrauch der eigenen Überlieferung und befähigt diese Gemeinschaft, die Konsistenz der Darbietung als Ganzes zu erfassen (vgl. besonders S. 6-13 und 42-45). Foley nimmt Bezug auf die Überlegungen von H.R. Jauss und W. Iser. Gründlich ausgeführt ist dieses Argument außerdem in den ersten drei Kapiteln von: The Singer of Tales in Performance, Bloomington, IN 1995. 8 Mit Bezug auf diese Überlegung führt Bauckham, Jesus and the Eyewitnesses, 7, treffend den berühmten Kommentar von V. Taylor; The Formation of the Gospel Tradition, London 1935, 41, an: »If the Form- Critics are right, the disciples must have been translated to heaven immediately after the Resurrection«. 9 Dieser Punkt ist mit Blick auf die alttestamentlichen Anspielungen und Textzitate bei Paulus grundlegend von R.B. Hays, Echoes of Scripture in the Letters of Paul, New Heaven 1989, sowie von F. Watson, Paul and the Hermeneutics of Faith, London 2004, entwickelt worden; allerdings unterscheide ich mich von diesen Untersuchungen dahingehend, dass es mir weniger um das Phänomen Intertextualität geht, sondern um eine mündliche Lehrsituation, die an eine hörende Erschließung der Schrift gekoppelt ist. 10 Vgl. R. Cameron / M.P. Miller (Hgg.), Redescribing Christian Origins (Symposium 28), Atlanta 2004. Meine Rezension findet sich in JBL 124 (2005), 760-764. 11 Dies war eine der wichtigsten Erkenntnisse von A.B. Lord, The Singer of Tales, Cambridge 1978, 100f.: »In a sense each performance is ›an‹ original, if not ›the‹ original. The truth of the matter is that our concept of ›the original‹, of ›the song‹, simply makes no sense in oral tradition«. 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 59 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 60 ZNT 20 (10. Jg. 2007) In der voranstehenden Kontroverse haben wir vor allem diejenigen Aspekte thematisiert, an denen unsere Auffassungen bezüglich der Erstellung eines Jesusbildes voneinander abweichen. Gerade deshalb ist es uns wichtig, im Anschluss an diese Auseinandersetzung noch einmal deutlich zu machen, wo wir Gemeinsamkeiten in unseren Ansätzen sehen. Wir sind der Auffassung, dass die neue Phase der Jesusforschung nur dann fruchtbar sein wird, wenn sie sich nicht einfach als Wiederaufnahme der alten Frage von Reimarus versteht (Wie ist ein »historischer Jesus« hinter den neutestamentlichen Texten zu finden? ), sondern ihr Vorgehen erkenntnistheoretisch und geschichtshermeneutisch reflektiert. Dies hat einerseits zur Folge, dass sich die Jesusforschung darüber im Klaren sein muss, dass sie mit ihren historisch-kritisch entworfenen Jesusbildern niemals hinter die Texte gelangt, sondern sich immer vor diesen bewegt. Was uns von Jesus und seiner Zeit heute noch zugänglich ist, sind fragmentarische, zum Teil zufällig erhaltene Zeugnisse, die wir oft nicht einmal vollständig kennen - oder die durch neue Funde erweitert werden können -, und aus denen wir uns mit Hilfe unseres jeweiligen Kenntnisstandes ein Bild der Person Jesu erstellen. Wie bei aller Beschäftigung mit der Vergangenheit gilt also auch bei der historisch-kritischen Jesusforschung, dass ihre Ergebnisse vorläufig und wandelbar sind und niemals mit der Wirklichkeit hinter den Zeugnissen gleichgesetzt werden dürfen. An dieser Stelle scheint uns der Begriff der »Erinnerung« eine produktive hermeneutische Kategorie zu sein, die eben diesen Befund zum Ausdruck bringt. Obwohl gelegentlich geäußert wurde, die Erinnerungskategorie sei zu unpräzise und tendiere dazu, die Trennschärfe der in der kritischen Jesusforschung entwickelten »Kriterien der Rückfrage nach Jesus« zu verundeutlichen, sind wir weiterhin davon überzeugt, dass es sich um eine sinnvolle Kategorie handelt. Der Erinnerungsbegriff soll dabei in keiner Weise eine kritische Beschäftigung mit den historischen Materialien in den Hintergrund treten lassen. Wir haben in unseren Publikationen immer wieder deutlich gemacht, dass wir eine derartige kritische Analyse für unverzichtbar halten. Die Kategorie der Erinnerung bringt aber zum Ausdruck, dass historisch-kritische Rekonstruktionen der Person Jesu immer auch Konstruktionen sind, in die die Interpretationen und das Wirklichkeitsverständnis derjenigen, die Jesusbilder zeichnen, einfließen. Jesusbilder sind an Zeugnisse der Vergangenheit gebundene und darum an ihnen überprüfbare Entwürfe, aber es sind zugleich kreative Schöpfungen ihrer Autoren und Autorinnen, die darum immer zugleich eine Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit darstellen. Die geschichtshermeneutisch verstandene Kategorie der Erinnerung soll eben dies zum Ausdruck bringen. Die Bezeichnung »erinnerter Jesus« erscheint uns deshalb treffender zu sein als »historischer Jesus«, zumal letztere nicht selten so verstanden wurde, als sei damit der »wirkliche« Jesus hinter den Texten gemeint, obwohl es sich de facto um ein mit den Mitteln der historischen Kritik erstelltes Jesusbild eines Forschers oder einer Forscherin handelt. Dieser Zugang bedeutet auch, dass ein Entwurf des Wirkens und Geschicks Jesu so erfolgen muss, dass sowohl sein Wirken als ein Jude aus Galiläa in der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts als auch die durch sein Wirken und Geschick ausgelösten Reaktionen, die schließlich zur Entstehung des christlichen Glaubens geführt haben, verständlich werden. Auch dies bedeutet wiederum keine Verabschiedung einer kritischdifferenzierenden Beurteilung des Materials. Es bedeutet allerdings, dass wir es als eine unverzichtbare Aufgabe der historischen Jesusforschung ansehen, die Einbindung Jesu in das - in sich vielfältige - Judentum seiner Zeit so genau wie möglich zu beschreiben und zugleich die Entstehung der Christologie historisch verständlich werden zu lassen. Dabei ist von vornherein deutlich, dass dies auf unterschiedliche Weise geschehen kann, da die Einzelurteile über historische Kontroverse Gemeinsames Statement von James D.G. Dunn und Jens Schröter: Der »erinnerte« und der »historische« Jesus 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 60 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 61 Gemeinsames Statement von James D.G. Dunn und Jens Schröter: Der »erinnerte« und der »historische« Jesus Befunde und der Grad der Wahrscheinlichkeit, mit dem eine Überlieferung mit Jesus selbst in Verbindung gebracht wird, differieren können. Es wäre nach unserer Auffassung jedoch kein plausibles historisches Szenario, das Wirken Jesu unverbunden neben die frühchristliche Christologie zu stellen. Dies würde die Entstehung der letzteren auf externe, also mit dem Wirken und Geschick Jesu nicht vermittelte Faktoren zurückführen und damit letztlich unverständlich machen. Wir sind somit der Auffassung, dass der Neuaufbruch in der Jesusforschung, den wir ausdrücklich begrüßen, nur dann wirklich weiterführend ist, wenn er sich nicht einfach als Fortsetzung der historisch-kritischen Jesusforschung auf verbreiterter Quellenlage versteht, sondern sein Vorgehen in einen geschichtshermeneutisch reflektierten Rahmen stellt. In der historischkritischen Jesusforschung stehen sich seit ihren Anfängen zwei Linien gegenüber. Die eine Linie beginnt bei Hermann Samuel Reimarus, setzt sich über die liberalen Leben-Jesu-Darstellungen des 19. Jahrhunderts fort und findet gegenwärtig in etlichen Darstellungen, die sich der »Third Quest« zurechnen, eine Wiederaufnahme. Auf dieser Linie wird versucht, die frühchristlichen Quellen rational zu erklären oder aber, den historischen Jesus kritisch von den frühen Quellen abzusetzen. Die andere Linie beginnt bei David Friedrich Strauß und setzt sich über Martin Kähler und Rudolf Bultmann ebenfalls in neuere Ansätze hinein fort. Auf dieser Linie tritt die Bedeutung des historischen Jesus zugunsten des geglaubten Christus in den Hintergrund. Nach unserer Überzeugung ist die Jesusforschung nur dann fruchtbar weiterzuentwickeln, wenn es gelingt, diese Diastase methodisch und hermeneutisch zu überwinden und ihre Aufgabe in der Erstellung plausibler, an die Quellen gebundener und zugleich vorläufiger, revidierbarer Entwürfe der Person Jesu zu sehen. James D.G. Dunn und Jens Schröter 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 61 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 62 ZNT 20 (10. Jg. 2007) »Der Mensch bedarf des Bildes, welches die Ordnungen der Sichtbarkeit selbst sichtbar werden lässt, denn nur so kann er sich darüber aufklären, was es heißt, im Medium seiner Sinne eine Erfahrung zu machen.« Maurice Merleau-Ponty Einleitung: Das Bild von Jesus im Kontext der neumedialen Wahrnehmung Mediale Bedingungen der Erinnerung verweisen auf die Verortung des Menschen in einem neumedialen und hochfiligranen Wahrnehmungs- und Erkenntnisraum. Dabei spielen die Sozialisation sowie die grundlegende Episteme einer Kultur eine basalhermeneutische Rolle. Generell kann man die Frage nach den Medien als Bestimmungsversuch des Weltverhältnisses des Menschen verstehen. Medientheoretisch ist alles Sein und Agieren in der Welt unter dem Vorzeichen von Begegnung und Erkenntnis - und damit stets von medialer Interaktion 1 - gegeben. Ein solcher Medienbegriff rückt schnell in die Rolle von Sprachlichkeit als Erkenntnisgrund von Wirklichkeit. 2 Auf der anderen Seite könnte man Medialität schlicht unter dem Vorzeichen von Druck-, Digital- und Screen-Medien verstehen, was ebenso eine Abweichung von einer balancierten Mediensicht darstellt. In der Mitte zwischen diesen beiden angedeuteten Extremwerten liegt wohl eine sinnvolle Bezeichnung von Medien, die nicht nur auf „die Medien“ reduziert ist und es vermeidet, den Begriff der Medien als zentral-generelle Deutekategorie menschlicher Welt- und Wirklichkeitserfahrung anzusehen. Bilder gestalten Welt, und Bilder von Jesus - an Wänden, in Winkeln, auf Wegen und Kreuzungen des Lebens - prägen unsere Art, diesem Jesus zu ver- oder misstrauen. Bilder haben eine wechselvolle Geschichte im Laufe christlicher Welt- und Christuswahrnehmung durchlaufen, 3 und jedes neue Medium bringt eine Phalanx neuer Jesusdarstellungen mit sich. Es gibt eine Website mit dem »Winking Jesus« 4 : Der Betrachter sieht das Jesusangesicht - und wenn er Glück hat … blinzelt ihm Jesus zu. Manche haben einen Jesus-Bildschirmschoner, und die Jesusbilder zwischen den Cartoons und Comics, den ernsten und humorvollen Jesusbildern unserer heutigen Kultur und der Kultur der zwei Jahrtausende Jesusbilder prägen uns bis heute. Wer sich fünfzig Jesusfilme per DVD-Player an einen Screen anschließt, kann im Schnelllauf die verschiedenen Kamerablicke auf den Gottessohn richten, kann Jesus-Zapping betreiben und sich durch das Meer kollektiver Gedächtnisimpulse 5 zum Jesusthema navigieren. Im Internet kann man stundenlang Jesus-Ikonographie studieren und zwischen den Downloads tausendfache Zwischentöne zwischen den Jesusrezeptionsmustern im Individuellen wie im Kollektiven vernehmen. Bilder bilden Welt. 6 Im Bild erkennen wir uns selbst und Gott. Und in Bildern zeigt sich etwas von dem, was jenseits der Sprache Wirklichkeit ist. Wenn Bilder konstitutiv für Identität sind, dann ist das Jesus- / Christusbild konstitutiv für die christliche Identität. Bilder sind ferner Organisationsplattformen für Wirklichkeit; die Wirklichkeit selbst ist eine Hyper-Plattform, die sich aus Bildern und Begriffen, aus Medien und Machtkomplexen zusammensetzt. Diese(s) Bricolage(ge)sicht der Wirklichkeit liegt meinem Beitrag zugrunde. Dabei spielen nicht zuletzt die nicht nur in der praktisch-theologischen Diskussion virulenten Modelle des Konstruktivismus eine wesentliche Rolle als Referenzrahmen und als Deutevorgabe für eine heuristische Weltsicht, die auch das Jesusbild nicht in fixe Repräsentationen einbunkert, sondern als dynamisch-offenen Prozess versteht. 1. Jesus im Medien-Prisma 1.1. Die plurale Gestalt des Jesusbildes Jesus im Prisma der Medien zu sehen, ist kein einfaches Vorhaben. 7 Zumal Medien sehr weit, sehr eng oder einfach nur im Sinne umgangssprachli- Hermeneutik und Vermittlung Thomas Nisslmüller Jesusbilder: Mediale Bedingungen der Erinnerung 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 62 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 63 Thomas Nisslmüller Jesusbilder: Mediale Bedingungen der Erinnerung cher Begriffsdichte gefasst werden können. Es gibt schöne, kritische und schreckliche Jesusdarstellungen. Wir finden moderne, postmoderne, barocke, antike, realistische, fiktionale, fingierte und palimpsesthafte Jesus-Ikonizität in der Geschichte der Jesus-Depiktionen. Der Jesus John Hicks ist ein anderer als der Jesus von Tillich; Jesus durch das literarische »Medium« Martin Luther Kings ergibt ein anderes Bild als das Bild von Jesus, das wir bei Luther, Bultmann oder Guardini finden. Das Jesusbild der Befreiungstheologie ist ein anderes als das orthodoxe oder mystische oder Jesusfreaks-Bild von Jesus, dem Meister, dem Lehrer, dem Menschen, dem Vor-Bild. Paulus »mahnt« und macht damit die christliche Grundhaltung deutlich: »Seid ihr nun mit Christus auferstanden, so sucht, was droben ist, wo Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes. Trachtet nach dem, was droben ist, nicht nach dem, was auf Erden ist.« (Kol 3,1f.) In dieser Dynamik des Aufblicks zu Christus ist die ganze christliche Identität geborgen und gesichert. Der Blickkontakt zum Auferstandenen ist sozusagen die geistliche Verbindung zum geglaubten Herrn, zum antizipierten Wiederkommenden. Die Augen des Glaubens antworten gleichsam auf die Frage Horst Georg Pöhlmanns: »Wer war Jesus von Nazareth? « ( 8 2002) Der glaubende Blick ist die wache Aufmerksamkeit für Christus, und die medialen Darstellungen in Kunst, Literatur, Wissenschaft, in Belletristik und Plastik, in neumedialen Kontexten und in kineastischen wie musikalischen Sequenzen und Pattern zeigen Facetten dessen an, wer dieser Jesus ist, der als der geglaubte und im Glauben geschaute Christus in uns und an uns wirkt. War Jesus ein »Reisender ohne Gepäck« (Henry Miller) oder hatte er ein Antlitz, das nichts und niemand verletzen konnte (Shusako Endo)? War er schönster Mensch und zugleich ein Spiegel(bild) Gottes (Fjodor M. Dostojewski)? 1.2. Bilder als »Ansprache« durch anderes Medien sind Transmissionsriemen, die uns als Brückenglieder zu neuen Ufern und Deutehorizonten, zu ungeahnten Erkenntnissen führen. Medien bilden reale und kognitive Foren, in denen sich Christusbegegnung und die Erfahrung eines aktuellen Jesus-Bildes ereignen und auch als rhythmische Melodie, d.h. als »Liturgie« bzw. Ritual einspielen kann. Ich träume von Menschen, die sich in turbulenten Zeiten der Bricolage, ferner des »positiven Prekariats« (M. Horx) sowie prekärer Desorientierungen neu oder erstmals einen Jesus »einbilden«, der analog zu urchristlicher Erfahrung Menschen prägt und ihnen Profil verleiht. Dies alles unter dem Vorzeichen: Bilder bringen Informationen. 8 Und Bilder sind Anstoß zu Kritik und Krise, zu Anfängen neuer Welt-Wahrneh- PD Dr. Thomas Nisslmüller, MBA, geb. 1964, Theologiestudium in London, Mainz, Hamburg, Promotion 1995, Habilitation 2006. 1996-2002 pastoraler Dienst und Wahrnehmung von Lehraufträgen an der Universität Dortmund sowie an der Privaten Universität Witten-Herdecke. Lehrtätigkeiten in Sofia und Moskau. Gastprofessuren am Saint Mary´s College of California in Moraga, CA, USA (2003 und 2004). 2002 einjähriges MBA-Studium zum Medienmanager an der Universität St. Gallen sowie an der Haas School of Business der University of California, Berkeley, USA (Executive MBA Media and Communication). 2004-2005 Radiomoderator in Charlotte, North Carolina, USA, daneben ehrenamtliche Tätigkeit als Pfarrer der Deutschen Kirche in Charlotte sowie als Fußballtrainer des Charlotte Soccer Club. Forschungsschwerpunkte: Kulturhermeneutik, Ästhetik, Medien, theologische Anthropologie und Neurokognitionsforschung. Thomas Nisslmüller »... Bilder sind Anstoß zu Kritik und Krise, zu Anfängen neuer Welt-Wahrnehmung und zur Wahrnehmung Gottes wie des Menschen in erneuerter Perspektive.« 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 63 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 64 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Hermeneutik und Vermittlung mung und zur Wahrnehmung Gottes wie des Menschen in erneuerter Perspektive. Wahrgenommene (externe) Bilder können gleichsam zu Perspektiv-Agenten avancieren, die unser Portfolio »hausgemachter« mentaler Bildergalerien herausfordern und zugleich irritieren. Im Begegnen von anderen Bildern als den selbst ersonnenen wird die Besinnung auf das Du, die Ansprache von außen, deutlich. In dieser »Ansprache« durchs Bild gewinnt in und für uns eine andere Wirklichkeit Macht und löscht u.U. auch bisherige Deutungs- und Bildmuster aus. 1.3. »Gedächtnis-Piktotop« Im Piktotop des Gedächtnisses sitzen viele Antlitze und »Begegnungen«; im Horizont unserer kleinen Welt von Wahrnehmungsspielen und ästhetischer Selektionsprozesse geht es stets auch um die Differenz zwischen Oberflächen und »Gesichtern« im weitesten Sinne. Das Jesusantlitz ist insofern Teil der weiten Gedächtnislandschaft, Mosaikstein im Piktotop unseres Erinnerungsarchivs sowie unserer aktualen Bewusstseinsprozesse in der Beschäftigung mit dem Christus- / Jesus-Bild-Topos. Medien könnte man als Gesicht der Wirklichkeit (durchaus im Sinne der Huizingschen »Antlitzphänomenologie« 9 ) begreifen, als wirkungsvolle und transmittierende Oberflächen, deren Signalcharakter von ihren codierten Messages nicht immer sofort erkannt wird. Im Gesicht zeigen sich die Weite und Tiefe der Fragen und Sorgen, in denen wir stecken. Und die vielen Gesichter Gottes wie Christi 10 spiegeln sich in den diversen Rezeptionsleistungen des Christusbildes wider. Im Schein der Begegnung mit dem Gekreuzigten und Auferstandenen in der heutigen Welt erinnern wir angesichts des »garstigen Grabens« der Historie (Lessing) Jesus nicht als historisches Faktum, sondern als gegenwärtige Gestalt, die uns aus dem Traum des Vergangenen in die Realität des Augenblicks entlockt. 2. Medien-Theologie und Medienwissenschaft 11 In Zeiten der online-Welt »Second Life« (www.secondlife.com, kreiert von Linden Research, Inc., meist kurz »Linden Lab«) müssen selbst die Medien ihre eigene Geschichte neu denken, wenn etwa rein für diese Plattform designte Medienformate ins Leben gerufen werden, was als Produktion von Meta-Medien anzusprechen wäre. Es ist damit zu rechnen, dass sich viele Zeitgenossen in Zukunft eher mittels ihrer Avatare bzw. »Zweitidentitäten« in virtuelle Andachtskapellen, Meditationsforen und Kirchen setzen und dort ein Jesusbild meditieren (und womöglich dafür einiges zu zahlen bereit sind), als in der »realen Welt« mit eigenen Sinnen Jesusbilder zu imaginieren. Am 09.06.2007 hatte Second Life bereits 7.086.120 »Residents«; der Cash Flow lag immerhin bei 1.641.066 USD innert der letzten 24 Stunden bei Abruf am gleichen Tag. Für einen markanten Ersteindruck dieses Zweit-Welt-Booms s. www.wikipedia.org/ wiki/ Second_Life. Die Medien-Matrix wird gerade »neu gemischt«, und wir sind Zeugen eines Umbruchs im kollektiven wie individuellen Wahrnehmungshaushalt, dessen Auswirkungen auf die Perzeption von Jesusbildern noch nicht wirklich absehbar ist. Zumal (wie am 08.06.2007 in den Newsforen gemeldet) sich die Second-Life-Anhänger nun auch (in Deutschland, bereits geschehen in den USA) in der realen Welt vis-á-vis treffen wollen und so ein Crossover von Imaginationskulturen und Real Life eintritt, die Second-Life- Welt gleichsam in den prioritären »wirklichen Kosmos« entzaubert wird. Auch und gerade die Erfahrung des Heiligen wäre fast hundert Jahre nach R. Otto einmal neu auf die Frage der wahrnehmungspraktischen Ermöglichungsstruktur hin zu überprüfen. Medien bieten Vorlagen und offerieren Versuchsspiele auf immer neue Wahrnehmungen und Neuvertextungen von Wirklichkeit. Medien sind nicht die Botschaft (cf. McLuhans These vom Medium als Message), sondern bieten gleichsam eine offene Kluft für die eigenen Vertextungs- und Wahrnehmungsoperationen. Parallelwelten sind en vogue. Sie können uns in unserer Wahrnehmung flankieren und die Weite des normalen Alltags verdeutlichen, der zwischen den Ambivalenzen des Daseins spielt. Die Jesus-Ikonizität ist in den wahrnehmungskulturellen Feldern einer sich selbst verkennenden Neuauflage von Moderne (Horx) im Set der Werbe- und Markenikonen unterzubringen, ihr 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 64 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 65 Thomas Nisslmüller Jesusbilder: Mediale Bedingungen der Erinnerung spezifisches Profil ist nicht zu Hause in den Räumen der religiös codierten Seele (wie in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Weltwahrnehmungen noch deutlich vorausgesetzt), sondern im Konsumnetz der Labels und Marken-Launches gibt es auch Jesusikonizität, die sich durchaus noch als solche - etwa in Kreuzform (wie schön zu sehen im Piktogrammkatalog der minipops 12 ) - zu erkennen gibt. In alarmistischen Zeiten, die man (laut Zukunftsforscher M. Horx) heute allzu stark hofiert, wäre es geraten, eine optimistische Optik einzuüben, eine »Future Mind«, in der wir auch die Medialisierung als Einüben in neue Komplextechniken und erweiterte symbiotische Wahrnehmungsräume und nicht als Bedrohung begreifen. 13 Medien und Theologie bilden andere Interaktionsmuster aus, wenn man sich etwa in durchmedialisierten Umgebungen bewegt, wieder andere, wenn man von medial eher unerreichten Gegenden spricht. Kinder, die ohne religiöse Sozialisation in Afrika etwa Jesusgeschichten hören und Bilder davon malen, haben einen sehr unterschiedlichen Wahrnehmungs»background« im Vergleich mit medialisierten und u.U. intensiv religiösen Kontexten. Die Jesuserinnerung ist eine message-Dimension, die gerade in Zeiten eines digitalen Weltentwurfs immer mehr an Bedeutung gewinnt. Rafael Capurro wäre hier mit einem Diktum in Erinnerung zu rufen: »›The medium is the message‹ (MacLuhan). Wir scheinen inzwischen zu wissen, was Medien sind. Was ist aber eine message? Die digitale Weltvernetzung hat zwei Seiten, eine angeletische und eine hermeneutische. Wir leben in einer message society.« 14 3. Jesusbilder als identitätsstiftende Signaturen Die Beschäftigung mit Jesusbildern ist eine Auseinandersetzung sowohl mit der eigenen Religiosität als auch mit den Codierungsversuchen der Jesusgestalt in historischer und / oder aktueller Perspektive. Dabei markiert jedes Jesus-Bild eine konkrete Zuweisung von Identität an die Gestalt Jesu, ferner aber auch die Rückfrage an die Identität des Betrachters, der im Bild Jesu so etwas wie eine Spiegel- und Appellfläche wahrnehmen kann. Der Kanon der Christussymbole 15 kann als eine Art »Vorbildspiegel« für geistliche Reflexionsprozesse, aber auch schlicht als Attributenkatalog der Person Jesu in diawie synchroner Sicht »gelesen« werden. Die Palette der Jesusattribute / -bilder animieren quasi das eigene Bilderpatchwork, das wir in uns tragen im Blick auf die Fragen von Welt- und Wirklichkeitskonstruktion. Jesusbilder können Formgeber für Identität sein, sie entlocken in Zonen potentieller wie provozierender Muster möglicher Welten. Das dynamisierte Bewusstseins»ethos« der aktuellen Welt wirkt dabei auch auf die Art und Weise, wie wir Christus wahrnehmen. Einerseits ist die Rückkehr zu basalen Meditationserfahrungen, Stille, Reduktion u.a.m. unverkennbar virulent, andererseits sind Jesusbilder heute eingereiht in die »fast moving society«, gleichsam als »tableaux vivants«: Jesus als »moving image« im Kontext von Clip-Legenden, i-phone-mobility (die i-pod-Gesellschaft lässt grüßen), Comics und Commerce Philosophies. Die weite Verbreitung der Volxbibel (mit Anwenderhandbuch), die bereits einen markanten Up-date erfahren hat (Volxbibel 2.0; April 2007) zeigt sich als ein Open-Source-Projekt, das jede(n) einlädt, dieses Projekt mitzugestalten und somit am biblischen Jesusbild aus der Perspektive heutiger Sprachverstehensmuster mitzuwirken. Martin Dreyer hat hier mit der intendierten Verzahnung von aktueller »Volkssprache« und biblischer Überlieferung ein m.E. nur schwach positiv thematisiertes und meist nur pejorativ bedientes Projekt vorgelegt. In der Tat als identitätsstiftend im Sinne leiblicher Depiktion Christi ist das breite Portfolio von Christustattoos zu verstehen, die es in vielen Variationen in Sachen Farbe, Form und »message« gibt. Hierzu (und generell zu »christlichen Tattoos«) s. etwa: www.scotcrone.co.uk/ christian_tattoos.html; www.religioustattoos.net. Die Motive für Jesus- Tattoos sind Legion und reichen vom Wunsch, en-vogue zu sein, bis zu Träumen inniger Verbundenheit mit dem Geglaubten: In einem Chatroom sucht etwa jemand nach einem Bibelvers, den er als Gottes- / Jesuserinnerung an sich tragen möchte (und zwar in arabischer Sprache, da diese ästhetischer sei): www.forum.ref.ch/ thread.php? threadid=14222&boardid=58&styleid=1&sid=6860d6 b0ce87a8081d292b291d6575ae. 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 65 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 66 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Hermeneutik und Vermittlung Man beachte auch: www.jesuschrist.net (Note: »very basic«) oder die Übersichten zu diversen »Jesus Websites« unter: www.world-faiths.com/ Year%209%20Projects/ jesus_websites.htm und www.feltd.com/ jesus.html, ebenso die stark frequentierte Website www.jesus.de, die gewiss eine Art »Mantra-Forum« für manche postmodernen Gläubigen ist, in dem sich die Ikonizität Jesu in diversen Facetten entfaltet und vertieft. Ob man gar mit Raimon Panikkar (Christophanie. Erfahrungen des Heiligen als Erscheinung Christi, Freiburg i.Br. 2006) die christophane Symbolik als »mysterium coniunctionis der göttlichen, menschlichen und kosmischen Wirklichkeit« (ebda. 236ff.) begreifen kann - und dabei wohl mutatis mutandis im Fahrwasser de-Chardinscher Semantik auf der Trendgeistwelle surft -, ist wohl eher zu hinterfragen. Sine dubio ist allerdings eine solche Sicht für nicht wenige Zeitgenossen eine wichtige Folie von Christusvorstellungen, die sich auch und gerade an heiligen Orten manifestieren. Die Idee der Konstruktion von Wirklichkeit in der Frage nach Identität stellt auch und gerade für die Begegnung mit dem Jesusbild eine wichtige Dimension dar. 16 Im Wahrnehmungshaushalt des einzelnen evozieren Jesusbilder häufig Konnotate von Erziehungskontexten, u.U. eingebettet in machtdynamische Verhältnisse, die damit einhergehen können. Eine aktive Begegnung mit Jesusbildern - bei Ausstellungen, in Kirchen, beim Surfen auf GOOGLE/ BILD, beim Blick auf einen »Jesus- Bildschirmschoner«, im Durchblättern eines Bildbandes, beim Verfolgen eines Videoclips oder Films - fordert und fördert Identifikationsmuster, seien diese nun ablehnender oder akzeptierender Natur. Im Karussell der identitätsbildenden Signale unserer Umwelt kann die Adaption von Jesusbildern markante Wirkungen auf emotionale und dezisionale Lebensmuster ausüben, dies alles vor dem Hintergrund einer heutigen MindSphere (M. Horx), die sich im Medienkosmos als Erinnerungsplattform zu behaupten sucht. 4. Der Medienkosmos als Plattform der Erinnerung »Als ›Gesicht‹ (Charakteristikum; Wesen; Individualität; Offenbarung) einerseits und als ›Figur‹ (Modell eines Modells) andererseits zeigt sich die wohl wichtigste theologische Aufgabe der Bildkategorie: im Diesseits Gottes Jenseits evident werden lassen.« Rainer Volp 17 4.1. Jesus als Bricolagemodell In Bricolagekontexten ist auch unsere Jesuserinnerung aufgehoben. Der »homo inveniens« der aktuellen Kulturszene schickt sich an, den Bildern und Begegnungsforen seiner Welt etwas abzugewinnen, das »Sinn macht« und die Sinne nicht nur füttert, sondern auch bleibende Lebensrelevanz generiert. Trotz dieses scheinbar »relativen Rahmens« von Bildern bei der Rede von Bricolage sind nichtsdestoweniger Bilder als Handlungsmaximen beschreibbar; das piktograph-kognitive Verstehen kann ferner als imaginatives Simulieren gefasst werden, das nicht »repräsentiert«, sondern simulative Imaginationen generiert. 18 Jesusbildbricolagen sind Irritationen im Bilderwald der Marken. Doch die Fiktionsressourcen, 19 in denen wir uns in Zeiten virtueller Weltformatierung bewegen, lassen offenbar nicht nur eine gewisse »Durchlässigkeit« für die traditionsinnovativen Gestalten von Jesusbildern an den Tag treten, sondern die Bastelexistenz des spätmodern / postmodern codierten Bewusstseins des homo digitalis generiert Mixgestalten, in denen Jesus eben nicht als singuläre Größe, sondern als Medienformat unter weiteren medial konfigurierten Formaten erscheint. Das ist in gewisser Weise die Crux der Nach-Gutenberg-Ära: die Message, die den Medienverkehr in Gang gebracht hat, ist mittlerweile zu einem Clusterpartikel im Wald der Marken avanciert, aber gerade hier liegt ihre unverhohlen schöne Chance für die Zukunft. 20 4.2. »Jesus auf dem Handy«, oder: Jesusbilder als Kokon im Markenwald Jesusbilder werden an vielen »Orten«, in physisch-realen, semi- und vollvirtuellen Foren, auf Displays, in Tattoo-Studios und in kirchlichen wie mondänen Kunstforen angeboten. Jesus bildet eines unter vielen globalen Markenmustern und reicht von der Handy-Präsenz bis hin zu großangelegten Konzeptwelten. Jesus 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 66 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 67 Thomas Nisslmüller Jesusbilder: Mediale Bedingungen der Erinnerung gleichsam als ein Kokon im weiten Wald der Markenidentitäten und Designpattern. Da es in den kontemporären Erlebnis- und Wahrnehmungswelten gesteigert um die beiden Pole Competition und Erfolg geht, ist zu überlegen, wie eine künftige »Vermarktung« der Jesus- Chiffre auch und gerade unter diesem Vorzeichen des »Gewinners« aufgezogen wird. Der Tübinger Künstler Martin Burchard jedenfalls bringt in seinem Oeuvre die »positive Energie« 21 Jesu - oder, wenn man so will: die Victory-Qualität des Auferstandenen - zum Ausdruck, indem er Kreuz und Kreativität, den Crucifixus mit dem Ressurectus eng zusammen denkt, ja bis Pfingsten die Linie auszieht. Seine Installationen rund ums Kreuz markieren Aufsprengungen gewohnter Wahrnehmungen und helfen, angesichts vieler Power Images der Marketing- und Werbungsbranche einen Blick zu gewinnen für die eigentümliche Wirklichkeit Christi inmitten des Markenwaldes. M. Burchard/ Tübingen: Jesus - das Licht der Welt (mit freundlicher Genehmigung des Künstlers). 4.3. Jesusbilder als »Lebensschnittstellen« medialer Erinnerung In Zeiten einer de facto erkennbaren digital divide (digitale Spaltung) bilden Medien eine markante »Schnittstelle«, die auch und gerade für Figuren der Jesusrezeption virulent ist. Die virtualisierte Welt zwischen Blackberrybenutzern und Chatroombewohnern formatiert unsere Weltwahrnehmung neu und gibt uns einen Einblick in eine digitalisierte wie artifizielle Weltbewältigung, die nicht zuletzt auch Auswirkungen auf unsere Art des Generierens und Verarbeitens von Jesusbildern besitzt. Wir dürfen das mediale Habitat als Forum der Christus(bild)rezeption begreifen und dabei den Horizont der Medientheologie als eine Art Metareflexion zum Interaktionsdiskurs zwischen christlicher Weltgestaltung und weltlicher Wirklichkeitswahrnehmung entdecken. Dabei gilt das Dictum des Stuttgarter Medienwissenschaftlers R. Capurro: »Als Weltbildner haben wir eine auf das physische und digitale Wohnen ausgerichtete ethische Aufgabe bei der semantischen und pragmatischen Konstruktion des Netzes. Ich nenne diese Aufgabe artifizielle Hermeneutik.« 22 »Und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit wie des Einziggeborenen vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.« (Joh 1,14) Damit ist bereits angedeutet, was Romano Guardini unnachahmlich in der Ouvertüre eines seiner Bücher zu Jesus formuliert: »Für den Christen hängt alles davon ab, ob in ihm das Bild des Herrn ursprünglich und kraftvoll lebt oder aber abgegriffen und matt ist.« 23 Bilder bilden zwar Bewegung ab, und gerade deshalb sind sie letztlich kartographisch relevante Größen. Man könnte in diesem Kontext von einem Piktotop oder auch von einer Inszenierungssemantik im Imagotop sprechen. Gewiss gibt es dabei literarische und graphische Grenzen des Jesusbildes. Evangelien »zeichnen« ihre Sichtweise des Lebens bzw. der Geschichte Jesu; die Jesusdarstellungen des Mittelalters oder Rembrandts setzen andere Akzente als ein Lovis Corinth (cf. etwa »Der rote Christus« von 1922) oder Bettina Rheims und Serge Bramly (cf. ihren legendären Fotozyklusband: I.N.R.I., München 1998). 5. Der Piktotop der Jesuserinnerung »Einer sehr einflussreichen Zeitdiagnose zufolge leben wir in einer ›Gesellschaft des Spektakels‹. Jede Situation muß in ein Spektakel verwandelt werden, damit sie für uns wirklich - das heißt, interessant - wird. Die Menschen selbst sind bestrebt, Bilder aus sich zu machen - Prominente mit einem ›Image‹ zu werden. Die Wirklichkeit hat abgedankt. Es gibt nur noch Repräsentationen: die Medien.« Susan Sontag 24 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 67 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 68 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Hermeneutik und Vermittlung 5.1. Das fragmentarische Bild Jede Form der Erinnerung ist ein Puzzlestein im Mosaik der Mimesis: »Evaluating pictures as pictures requires seeing them and thereby seeing in them the scenes they depict. As part of this, we normally see in them the emotions, feelings, and moods the scenes express. Expression therefore gives rise to an analogue of the puzzle of mimesis.« 25 Bilder bilden Puzzlesteine des Bewusstseins, sie sind nie »eindeutig«, sondern markieren stets Chiffrenfelder pluriformer Deutungszuweisung. Unfreiheit und Freiheit des Deutens, 26 das Spiel der Hermeneutik, liegt in dieser weltbildenden »offenen Wahrheit« des Bildes begründet. Im Fragment des Bildes, das selbst expressiver Mosaikstein von Weltdarstellung und Weltempfindung ist, gewinnt die Freiheit der Spiegelung eine konkrete Gestalt. Ob wir nun mit abstrakten oder realistischen Bildern / Bildmotiven, mit antiken Darstellungen oder postmodernen Graffitikunstwerken zu tun haben, eins bleibt gleich: Bilder sind Spuren von anderem, Verweisort und im Verweis selbst »aufgehoben«, damit Anzeige von Transit, Aufweis von Energieübertragungen des Offenen ins Gestalt gewinnende Konkrete (sei dies, wie gesagt, abstrakter oder pointiert »wirklichkeitsnaher« Natur). Optische und akustische Qualitäten spielen im semantischen (und konkret erfahrbaren) Kosmos des Sinnlichen eine tragende Rolle; und Bildchiffren sind häufig die Einstiegspforte zu auditiven Annäherungen. Die Wahrnehmung Jesu ist so durchaus in ihrer doppelten ikonischauditiven Dynamik zu begreifen: Gott im Jesusbild »hören« heißt dabei vor allem, dass wir Jesus inmitten der vernetzten, digitalen, virtuell konfigurierten Stimmungen und Befindlichkeiten neu hören. Denn im Hören gewinnt Sehen Gestalt, und nicht zuletzt die moderne Hirnforschung verweist uns darauf, dass alle »Bildsequenzen« in unserem Gehirn zunächst über auditive Spuren / Prozesse verlaufen und somit eigentlich jedes »Bild« in uns ein »gehörtes Bild«, ein übers Hören eingespieltes Visibile ist. »Rede, dass ich dich sehe« (Hamann) oder »ut pictura poiesis« (was das Reversum des eben Gesagten anzeigt) meinen: In der Medienwelt einer durchdigitalisierten Moderne kann das Medium Mensch sich der Gotteswirklichkeit qua Jesusbild und Jesuserinnerung annähern; im Jesusbild scheint die Schönheit Gottes auf, die imago Christi ist das Forum, in dem sich der Glanz der göttlichen Wirklichkeit zeigt. 5.2. Die Kunst der Jesuserinnerung Jesuserinnerung ist Kunst, basale Kunst, Rückkehr und Einkehr, Innehalten und Werden, Wandlung und Erfahrung von Tiefe: Gottesbegegnung. Im Bild Jesu tritt uns Gott entgegen, wird »Heil montiert«. Jesuserinnerung ist und bleibt als Erinnerung an die Schönheit Kunst. Mit dem Songpoeten Michael Card gesprochen: »God is beautiful. His beauty demands a response that is shaped by that beauty. And that is art.« 27 Bilder besitzen eine autoritative Qualität, sie verkörpern gleichsam Autorität (wobei mit Werner Zager zwischen »formaler Autorität« und »Autorität im Vollzug« zu unterscheiden wäre). 28 Das Bild Jesu ist eine »Offenbarungsfolie«, ein Abgleichort, an dem sich die Wirk-lichkeit Gottes, sein Bilden und Schaffen des ihm Wohlgefälligen auf prävalente Weise »abspielt«. Diese aleatorische Notiz (mit Wolfgang Iser und dessen rezeptionsästhetischem Spiel-Gedanken) hat nicht zuletzt eine Affinität zum Offenbarungsbegriff (bzw. zur praesentia Dei) der biblischen Textwelt, der als ein Ort der konstruktiven Kontingenz »je jetzt« eine eigentümlich-besondere Gestalt annimmt. Peter Lampe ist diesem Aspekt in seinem neueren Werk »Die Wirklichkeit als Bild« präzise nachgegangen und formuliert an einer Stelle treffend: «Die (private oder gottesdienstliche) Traditionsaufnahme, der Lese-, Hör- oder Erinnerungsvorgang, vermittelt Gottespräsenz. Der so umrissene Offenbarungsbegriff stellt das Rezeptionsgeschehen in den Mittelpunkt, das das Konstruieren der eigenen Wirklichkeit beeinflusst. Offenbarung, die Erfahrung von Anwesenheit Gottes, ergibt sich im Hör- oder Leseerlebnis. Sie ereignet sich, während biblische Inhalte angeeignet werden, im Vollzug des Wirklichkeitskonstruierens.« 29 Wir sollten neu fragen nach Jesusbildern, die uns nicht nur in unseren aktuellen (»Präsenz«) rezeptiven und kreativen Vernetzungs- und Konstruktionsaktivitäten »treffen«, sondern die ferner 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 68 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 69 Thomas Nisslmüller Jesusbilder: Mediale Bedingungen der Erinnerung auch das Eintauchen des Bildes in unser Selbst- Bild, in das Umgestaltetwerden ins »Bild Christi« gewährleisten, damit ein wahrhaft erinnerndes Verstehen ermöglicht wird und wir so begreifen, was es auf sich hat mit der memoratio Christi, mit der Erinnerung an den, der eigentliches Verstehen erst möglich und tragfähig macht! Der Medienkosmos ist der Pulsgeber für die Jesuserinnerung. Im semantischen Profil der Jesuserinnerung zeigen sich die vielfältigen Plattformen, die in der Internet- und Cyberspacewelt nicht nur für Furore und Futureskes sorgen, sondern auch und vor allem das Dasein des homo digitalis (et medialis) im Sinne eines Zuhauseseins in Parallel- und Vertikalwelten - sozusagen im Höhenrausch einer Multi- Tasking-Existenz - codieren und seinem virtuellen Codiertsein den Stempel der Entwirklichung aufdrücken. Bilder sind nicht nur optische Repräsentanzen von Äußerem, von Symbolen und Begegnungen mit Materiellem, sondern sie sind gleichsam der Stoff, aus dem unsere Weltdeutungsfähigkeit sowie unsere Beziehungsstrukturen ihren Sinn und Zweck erhalten. Bilder bilden dabei nicht nur Folien, auf denen Bedeutungsbildung generative Spuren hinterlässt, sondern zugleich auch Anstoß und Konturgeber für semantische Potentiale. »Mediale Bedingungen der Erinnerung«, wie hier der Untertitel anzeigt, verweist vor allem auch auf die Fähigkeit, im Rahmen gegebener Medienkonstellationen Erinnerungslandschaften aufzubauen und konkrete Handlungen einzuspielen in der Auseinandersetzung mit inneren Bildern. Dabei haben wir es mit einem Multi-Level- Prozess zu tun, bei dem die wahrgenommene äußere Gestalt eines Bildes in die innere Bewusstseinslandschaft eingespeist wird und im Abgleich damit bewertet wird. Wir haben es dabei mit Prozessen zu tun, die gleichsam vertikal und horizontal das individuelle Bildarchiv berühren und je jetzt (also: akt-uell) piktogene Performanzstrukturen im Bewusstseinshaushalt hervorrufen. Bilder generieren mentale Konfigurationen. Solche Konfigurationen im Kontext des aktuellen Medienkosmos sind Legion, und wir können uns gewiss auch in Zukunft auf eine sich weiter ausdifferenzierende Medienszene und ihre Erscheinungsformen einstellen. Der jeweils aktuelle »Piktotop« unseres Lebens und Denkens ist durch vielerlei Eindrücke, Erfahrungen und Antizipationsfolien geprägt. In diesem »Webteppich« der inneren Bildbühne ist auch das Bild Jesu mit eingewebt, sofern wir denn eine Vorstellung bzw. einen auditiven oder visuellen Eindruck von der Jesusgestalt auf irgendeinem Wege haben gewinnen können. Dieser Eindruck ist in der Tat ein Aspekt der vielen Eindrücke und Empfindungen, die wir im optischen Bilderwald der Seele gespeichert haben. Dabei spielt das Motiv der »hörenden Augen« keine unwichtige Rolle, denn nur das wirklich »empfangende« Gewahren ist ein echtes Erkennen, nur das hörende Herz »zählt« (zumindest coram Deo). Wenn wir auf die Bilder Jesu in uns zu sprechen kommen, dann geht es auch vor allem um die Frage, welche eher konstitutive oder eher figurative Dynamik sich damit jeweils verbindet. 5.3. Epilogische Thesen: Jesuspräsenz im aktuellen Wahrnehmungshaushalt Jesus heute zu sehen umreißt einen Sprung in die Geschichte der Rezeption der Jesusbilder unter spätmodernen Voraussetzungen und neumedialer Codierung des Bewusstseins. Dabei lebt die Vergegenwärtigung des Bildes maßgeblich von ansprechenden Erfahrungsimpulsen, die nicht nur, aber doch wesentlich durch Medien und Orte der Jesuserinnerung ermöglicht werden. Präsenz als Plattform neuer Jesusbildmontagen spielt sich in einer multioptionalinszenierungsfixierten Welt auf verschiedensten Ebenen ein. Hierzu nun abschließend einige Thesen zur Relevanz, Reflexion und Rationalität der Wahrnehmung von Jesusbildern: These 1: J e s u s p r ä s e n z spielt sich durch mediale Begegnungsforen, wie Wort, Bild, symbolische Darstellungen i.w.S., sowie durch Erinnerungs- »Der Medienkosmos ist der Pulsgeber für die Jesuserinnerung.« »Jesuspräsenz spielt sich durch mediale Begegnungsforen, wie Wort, Bild, symbolische Darstellungen i.w.S., sowie durch Erinnerungserfahrungen ein.« 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 69 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 70 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Hermeneutik und Vermittlung erfahrungen ein. Der Bricolagecharakter jeder Begegnung gilt dabei auch für die Auseinandersetzung mit und der Rezeption von Jesusbildern. In den ureigenen inneren Verbildlichungsprozessen stellen sich die Facetten unserer Jesusbilder als filigrane Montage mit prozeduralem Versatzstückcharakter dar. Im Horizont dieser »Bricolagesemantik« zeigt sich die Begegnung mit dem Jesusbild als eine offene, heuristisch codierte Aufgabe. These 2: Jesusdarstellungen treten nicht zuletzt von der Dimension der Bricolage her als inszeniertes Bild in den Blick: das Jesusbild und unser Bild von der Welt konvergieren; anders gesagt: in der Wahrnehmung Jesu ist unsere Wahrnehmung von Welt in nuce aufgehoben - et vice versa. These 3: Jesusbilder sind Offerten, etwas von der eigentlichen Wirklichkeit Gottes wie des Menschen zu entziffern und zu entdecken. These 4: Die Botschaft ist das Bild: und dies trotz der auf der semantischen Ebene oft vollzogenen, aber letztlich unsinnigen Schwarz-Weiß- Differenzierung zwischen message und Bild (welches Bild böte keine »message«, welche message wäre bildlos? ) These 5: Besprochene und erzählte Welt (H. Weinrich) bilden auch für die Rezeption von Jesusbildern in neumedialen Kontexten den Rahmen von individuellen Aktualisierungsleistungen. Zwischen den Zeilen analytisch-pragmatischer Blicke und weltdeutender Antlitzerkenntnis changieren die Facetten und Figuren unserer bildlichen Wahrnehmung. Die Imagination von Jesusbildern lehrt uns etwas über den Umgang mit Geschichten in unserem Leben wie mit unserer Lebensgeschichte insgesamt. Letztlich könnte man die Frage nach dem Jesusbild im Kontext »Lebenskunst und Evangelium« verorten. 30 These 6: Narrative Welterschließung meint für die Rezeption von Jesusbildern, dass wir innerhalb lebensweltlicher Erfahrungs- und Deutungsmuster Bilder von Jesus entwerfen, die semantische Leerstellen besetzen, ohne dass uns dabei meist bewusst wäre, wie und woher sich die Gestalt des jeweiligen Jesusbildes in uns speist. 31 Im narrativen Horizont findet Erkenntnis als dynamischer Akt statt, als Entzifferung und Entwurf von Welt. 32 These 7: Jesusbilder sind aus dem Blickwinkel einer auditiven Ästhetik 33 Verweis auf und Erweis von Gotteswirklichkeit sub specie vocis. In Erzählungen wird uns eine Stimme nahegebracht. Jedes rezipierte Jesusbild generiert eine auditive Spur im Rezipienten, verweist als akustisches Signal in den Raum der Christuserkenntnis, die ihrerseits unter dem Vorzeichen von Anruf und Hören steht. Jesusbilder sind Übersetzungsleistungen, zunächst von Künstlern, dann der medialen Vermittlungs»agencies« (von digital-medialen Producern bis zu Ausstellungsagenturen), aber letztlich zielen sie auf die Vergegenwärtigung einer Stimme. l Anmerkungen 1 J.F. Jensen hat ein ausdifferenziertes Konzept von Interaktivität vorgelegt (»Interactivity« - Tracking a New Concept in Media and Communication Studies, in: P.A. Mayer (Hg.), Computer Media and Communication, New York 1999, 160-187). Er unterscheidet dabei vier Aspekte / Ausprägungen von medialer Interaktivität: »transmissional interactivity« (Ein-Weg-Verkehr, etwa Teletext, multi-channel systems), »consultational interactivity« (Wahl aufgrund eines bestimmten Angebots, z.B. Video-on-Demand, Online-Informationsdienste), »conversational interactivity« (E-Mails, Videokonferenz et alia), »registrational interactivity« (wozu jede Form von Monitoring, Info-Registration und digitaler Überwachung zählt). S. dazu auch: I. de Feijter, The Art of Dialogue: Religion, Communication and Global Media Culture, Berlin 2007, 63-65. 2 S. dazu S. Blank, Martin Seel - Medialität und Welterschließung, in: A. Lagaay / D. Lauer (Hgg.), Medientheorien: Eine philosophische Einführung, Frankfurt am Main 2004, 249-272: 270. Der Band von Lagaay / Lauer bietet eine gute Perspektive und Einführung zum Kosmos der Medien wie zur Deutung von Medialität als Metapher von Wirklichkeitserfahrung, ferner auch zur Palette der Medienkonzepte, die heute im allgemeinen Mediendiskurs wirksam sind. Die Relation Medien-Wirklichkeit fängt sehr schön der von S. Krämer herausgegebene Band »Medien - Computer - Realität: Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien« (Frankfurt am Main 1998) ein. S. ferner auch: D. Giles, Media Psychology, Mahwah, N.J. 2003; B. Wyss, Die Welt als T-Shirt. Zur Ästhetik und Geschichte der Medien, Köln 1997. 3 H. Fendrich, Glauben. Und Sehen. Von der Fragwürdigkeit der Bilder, Bonn 2003, 5-20 zeichnet hier in lebendigen Zügen ein »Bild« vom Umgang der Christen mit dem Medium Bild. 4 Cf. www.winkingjesus.com (Abruf: 09.04.2007). 5 Zur Differenzierung des »collected memory« in die zwei »Basis-Register« kommunikatives und kulturelles Gedächtnis s.: A. Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen: Eine Einführung, Stuttgart 2005, 112-122 (Erll unterscheidet hier bei den modi memorandi kulturtheoretisch und vom Zeitbewusstsein her den sozialen Nahhorizont vom ›kulturellen‹ Fernhori- 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 70 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 71 Thomas Nisslmüller Jesusbilder: Mediale Bedingungen der Erinnerung zont, ferner kulturgeschichtlich die synchrone von der diachronen Pluralität). 6 Eine konzise und facettenstarke Skizze der Geschichte des Bildes findet sich bei O.R. Scholz, Art. Bild, Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 2000, 618- 669. 7 Neben der Erzählung war die schriftliche Gestalt der Botschaft von Jesus gleichsam der erste Versuch, »Bilder« zu entwerfen; insbesondere das Johannesevangelium ist hier aus semiotischer Perspektive eine Fundgrube für eine »Bilderchristologie«. Cf. hierzu die minutiöse Studie von R. Zimmermann, Christologie der Bilder im Johannesevangelium: Die Christopoetik des vierten Evangeliums unter besonderer Berücksichtigung von Joh 10 (WUNT 171), Tübingen 2004. Der Autor unterscheidet zunächst im zweiten Teil seiner Abhandlung (Kap. 4-9; 91ff.) metaphorische, symbolische, titulare, narrative und konzeptuelle Bildlichkeit, um dann im vierten und letzten Teil zunächst das Mosaik der Christusbilder (Kap. 14; 407ff.) - mit den Kompositionsprinzipien Bildcluster, Bildvariation, Bildnetzwerk - und anschließend die Wirkung der Christusbilder (Kap. 15; 425ff.) zu betrachten. Hier unterscheidet er bei den »Dimensionen christologischer Imagination« die vier Teilbereiche Spiegelbild (anthropologische Dimension), Erinnerungsbild (geschichtliche Dimension), Abbild (theologische Dimension) und Vorbild (ekklesiologischethische Dimension). 8 Eine kritische Reflexion dieses auch für die theologische Durchdringung medialer Deutungs- und Distributionsmuster so wichtigen Begriffs der Information liefert P. Janich, Was ist Information? Kritik einer Legende, Frankfurt am Main 2006. 9 Cf. etwa: K. Huizing, Das erlesene Gesicht. Vorschule einer physiognomischen Theologie, Gütersloh 1992. 10 S. dazu M. Oberle, Jesus hat viele Gesichter. Vom Sinn moderner Jesusbilder, Essen 1996. Zum Verstehen christlicher Bilder im Allgemeinen s. ferner auch M.L. Goecke-Seischab, unter Mitarbeit von F. Harz, Christliche Bilder verstehen: Themen - Symbole - Traditionen. Eine Einführung, München 2004 (zur kreativen Aneignung von Bildern s. ebda. 147). 11 Generell zum Geflecht von Religion / Medien / Kirche s.: Th.H. Böhm, Religion durch Medien - Kirche in den Medien und die »Medienreligion«: Eine problemorientierte Analyse und Leitlinien einer theologischen Hermeneutik, Stuttgart 2005. Böhm steuert in dieser eher synoptisch angelegten Studie auf ein »existentielles« Medienverständnis zu, das im Aufbrechen der »mimetischen Spirale« (ebda. 270) seine eigene theologische Strahlkraft entfaltet. 12 C. Robinson, minipops. Berühmte Leute kleingepixelt, Frankfurt am Main 2006, 97 (Christus Crucifixus; die Seiten davor und danach zieren u.a. die Pixel»größen« Ah-a und Queen). 13 »Vor uns liegt nicht die Auswanderung in den Cyberspace ohne Rückfahrkarte. Die virtuellen Räume, in die wir unsere Intelligenz weiterentwickeln, sind nur ›Übungsräume‹ für den neugierigen, erweiterungsfähigen menschlichen Geist. Nicht der digitale Zombie ist unsere Zukunft, sondern der Wanderer zwischen den Realitäten. Einloggen und ausloggen, Schnittstellensurfen, das ist die zentrale Kulturtechnik des 21. Jahrhunderts.« (M. Horx, Anleitung zum Zukunfts-Optimismus: Warum die Welt nicht schlechter wird, Frankfurt am Main 2007, 135). 14 R. Capurro, Ansätze zur Begründung einer Netzethik, in: K. Huizing / H.F. Rupp (Hgg.), Medientheorie und Medientheologie, Münster 2003, 122-137: 136. 15 S. hierzu die konzise Übersicht bei M. Frenschkowski, Art. Christussymbole, RGG 4 2 (1999), 340-343. 16 Zum Prozess der Identitätsbildung s. H. Keupp u.a., Identitätskonstruktionen: Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne, Reinbek bei Hamburg, Dezember 1999, 189-271; R. Eickelpasch / C. Rademacher, Identität, Bielefeld 2004, 21-54. Zur visuellen Codierung von Identität und Kultur insgesamt s. auch das neue Werk von J. Naisbitt, Mind Set! Wie wir die Zukunft entschlüsseln, aus dem Amerikanischen von T. Halek und D. Naisbitt, München 2007, 239-286. 17 Art. Bilder VII. Das Bild als Grundkategorie der Theologie, TRE VI (1980), 557-568: 567. 18 Cf. hierzu: K. Sachs-Hombach, Das Bild als kommunikatives Medium: Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft, Köln 2003, 281 (Bilder als Handlungsmaximen); 302-307 (Verstehen und Imaginieren). 19 An dieser Stelle möchte ich einmal mehr auf den im Januar 2007 verstorbenen Konstanzer Literaturwissenschaftler und »Pionier« der Auseinandersetzung mit der Erfahrung des Fiktiven/ Fiktionalen verweisen: Wolfgang Iser (22. Juli 1926-27. Januar 2007). Nach wie vor eine der wichtigsten Arbeiten zum Verhältnis von Menschsein und Weltkonstruktion ist sein »Das Fiktive und das Imaginäre: Perspektiven literarischer Anthropologie« (Frankfurt am Main 1991). 20 S. hierzu meinen Beitrag: Th. Nisslmüller, Die »Marke Zukunft« und die Gottesmarke: Anmerkungen zum Zukunftsmanagement, ZThG 9 (2004), 66-71. 21 So in einem Brief des Künstlers an mich vom 14.01.2007. Im Jahr 2003 gestaltete Burchard die Christuswand im Bibelmuseum der DBG in Stuttgart mit einer lebensgroßen blattvergoldeten Christusfigur und erhielt die »Auszeichnung für Kunst im Jahr der Bibel 2003«. Momentan arbeitet er am »Weiterweg«, einem Land-Art-Projekt mit christlichen Impulstexten. 22 Capurro, Ansätze, 134. 23 R. Guardini, Das Bild von Jesus dem Christus im Neuen Testament, Freiburg 1961, 19. 24 S. Sontag, Das Leiden anderer betrachten, München / Wien 2003, 126. 25 D. McIver Lopes, Sight and Sensibility: Evaluating Pictures, Oxford / New York 2005, 49. 26 Wobei Freiheit sich auch und gerade über die Begegnung mit Kunst »einspielt«, wie Ernst Müller in Anspielung auf ein Hegelzitat treffend formuliert: »Die Erfahrung kann es denn auch beweisen, daß die Frömmigkeit, sofern sie Bilder anbetet, weit weniger echte Kunstwerke verehrt. Denn diese führen zu einer inneren Befriedigung und Freiheit, dahingegen jene Frömmigkeit mehr in dumpfer, bewußtloser Abhängigkeit schweben will.« (E. Müller, Religion und Ästhetik, in: Religion in der modernen Lebenswelt: Erscheinungsformen und Reflexionsperspektiven, hg. B. Weyel und W. Gräb, Göttingen 2006, 256-276: 276. 27 M. Card, Scribbling in the Sand: Christ and Creativity, Downers Grove / Leicester 2002, 27. 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 71 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 72 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Hermeneutik und Vermittlung 28 W. Zager, Jesus aus Nazareth - Lehrer und Prophet: Auf dem Weg zu einer neuen liberalen Christologie, Neukirchen-Vluyn 2007, 106-109; ebda. 110: »Vielmehr kommt Jesus allein eine ›Autorität im Vollzug‹ zu. Indem er uns eine tiefere Wahrheit aufschließt, werden wir von ihm überwunden.« 29 P. Lampe, Die Wirklichkeit als Bild: Das Neue Testament als ein Grunddokument abendländischer Kultur im Lichte konstruktivistischer Epistemologie und Wissenssoziologie, Neukirchen-Vluyn 2006, 165. Wie Hollywood unter der Ägide von James Cameron aus wenig Material eine pseudowissenschaftliche »Wahrheit« entwirft, zeigt Lampe in seinem Beitrag »Jesu DNS-Spuren in einem Ossuar und in einem Massengrab seine Gebeine? Von medialer Pseudowissenschaft und zuweilen unsachgemäßen Expertenreaktionen« (ZNT 19 [2007], 72-76). Zur tv-medialen Umsetzung des Jesusfilmgenres (»Jesus Movies as Biopics«) s. zuletzt die Studie von A. Reinhartz, Jesus of Hollywood, Oxford 2007. 30 Im Blick auf praktisch-theologische Reflexion und Lebenswelt hat dies Wilfried Engemann eindrücklich vorgeführt: Die Lebenskunst und das Evangelium: Über eine zentrale Aufgabe kirchlichen Handelns und deren Herausforderung für die Praktische Theologie, in: ThLZ 129 / 9 (2004), 876-896. 31 Cf. hierzu W. Magass, Der Raum, die Mythen und die Riten, in: Th. Nisslmüller / R. Volp, Raum als Zeichen: Wahrnehmung und Erkenntnis von Räumlichkeit, Münster 1998, 91-96: 96: »De lejos, ›von weither‹ kommt das Wasser zur Mühle, von weither kommen die Besetzer der (räumlichen / semantischen) Leerstellen. Signifikanzen sich einzuverleiben ist ein imperialer Trieb, solche vor sich herzuschieben, ist ein imperium sine fine.« 32 Anhand der Acta pointiert porträtiert von U.E. Eisen, Die Poetik der Apostelgeschichte: Eine narratologische Studie (NTOA 58), Göttingen 2006. 33 S. hierzu demnächst: Th. Nisslmüller, Der hörende Mensch (Habilitationsschrift; Druck in Vorbereitung). Neues Testament aktuell: Beate Ego/ Christian Noack: Religiöses Lernen und Lehren in den Schriften des Alten Testaments und im Neuen Testament Zum Thema: Tor Vegge, Antike Bildungssysteme im Verhältnis zum Christentum Matthias Klinghardt, Die Didaktik der Evangelien - wie die biblischen Schriften ihre Leser belehren Tal Ilan, Eine gender-orientierte Perspektive auf Lesen und Lernen im antiken Judentum Kontroverse: Kinder als Exegeten der Schrift? Kindertheologie auf dem Prüfstand Gerhard Büttner versus Renate Hofmann Hermeneutik und Vermittlung: Johannes Woyke, »Darunter leide ich, dass die rechte Hand des Höchsten sich so ändern kann« (Ps 77,11). Erwägungen zur bibeldidaktischen Relevanz des Motives der Irritation angesichts der Reminiszenz vergangener Wundertaten Gottes Buchreport: Eckart Reinmuth, Anthropologie im neuen Testament (TUB 2768), Tübingen 2006 (rez. v. Uta Poplutz) Vorschau auf Heft 21 Themenheft: Lernen und Lehren 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 72 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 73 Elena Esposito Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft. Aus dem Italienischen von Alessandra Corti. Mit einem Nachwort von Jan Assmann, stw 1557, Frankfurt a.M. 2002, S. 418; ISBN: 3518291572; Preis: 14,00 € »Täglich kommen 3,5 Millionen Bits neuer Information in der Library of Congress in Washington an und werden in die ungeheuren Speicher des elektronischen Gedächtnisses eingespeist. Das Wort Gedächtnis hat jetzt schon einen ganz anderen Sinn. ... Meiner Ansicht nach verändern sich durch die Multimedialisierung der Welt die Grundsätze der Schrift, des Empfangs der Schrift und damit der Gebrauch der Literatur und die Vorstellungskraft.« 1 George Steiners Eindruck ist symptomatisch - mit der Potenzierung elektronischer Speichermöglichkeiten bekommt die Bedeutung des Gedächtnisses zunehmend »einen ganz anderen Sinn«. Zwar war mit der Reflexion des Erinnerns als einer grundlegenden kulturellen Tätigkeit des Menschen von Anfang an das Nachdenken über die Bedeutung des Vergessens verbunden. Es gibt kein Erinnern ohne Vergessen, wie es kein Vergessen ohne Erinnern gibt. Das Erinnerte lebt vom Vergessenen. Das gilt auch für die kollektiven Gedächtnisse unterschiedlicher Kulturen und Zeiten. Das Stichwort ›kulturelles Gedächtnis‹ und seine Geschichtlichkeit sind längst Teil unserer medialen Alltagskultur geworden. Jedoch ist die Frage zunehmend in das Interesse kulturwissenschaftlicher Forschung gerückt, wie sich das Gedächtnis mit dem geschichtlichen Wandel seiner Speichermedien und Archive ändert. Steiners Interviewäußerung ist ein Hinweis darauf, dass unser kollektives Gedächtnis Bedingungen unterliegt, die sich in rapiden Umbildungsprozessen befinden. Insofern ist die Frage nach der Materialität der Repräsentationssysteme des Vergangenen hochaktuell. Die Voraussetzung, dass Vergangenheit nicht sprachunabhängig zu erfassen ist, erfordert die Konsequenz, auch nach der Geschichtlichkeit ihrer Repräsentations-, Speicher- und Kommunikationsmöglichkeiten zu fragen. Der italienischen Soziologin Elena Esposito geht es um den Zusammenhang von Erinnern und Vergessen im Verhältnis zur Aufbewahrungs- und Kanonisierungspraxis unterschiedlicher Gesellschaften. Sie geht von der Beobachtung aus, dass sich von archaischen Gesellschaften bis heute eine grundlegende Veränderung der Relationen zwischen Gedächtnis, Vergangenheit und Gegenwart vollzogen habe. Zwar spielt einerseits z.B. für antike Gesellschaften das Gedächtnis eine grundlegende Rolle, andererseits war ihnen eine Vergangenheit in modernem Sinn gar nicht vorstellbar sie setzten sich mit ihrer Gegenwart in einer Weise auseinander, die von der unseren grundlegend unterschieden ist. Für Esposito besteht die Problematik des Gedächtnisses jedoch nicht in einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, »sondern in seinem Verhältnis zur Gegenwart; denn nur in der Gegenwart kann man sich erinnern oder vergessen.« (7). In archaischen und antiken Gesellschaften stellte das Gedächtnis »diejenige Instanz dar, die dem Kosmos eine Ordnung gab und damit dem Handeln einen Sinn verlieh; es regelte das Verhältnis zwischen Kontingenz und Notwendigkeit, zwischen dem Veränderbaren und dem Ewigen, zwischen den begrenzten und ungeordneten menschlichen Angelegenheiten und den letzten Dingen der Welt. In dieser Hinsicht waren temporale Bezüge von untergeordneter Bedeutung: das Gedächtnis war Erinnerung, aber auch Vorwegnahme, Wiederbelebung der Vergangenheit, aber auch Vergessen und vorausdeutende Darstellung der Zukunft - es war vor allem die Bestätigung und Herstellung einer allgemeinen Ordnung, die von einem gegebenen Zeitpunkt und Zusammenhang ausging« (8). Esposito beginnt ihren Gedankengang mit folgender Überlegung: »Die Beschäftigung mit dem Gedächtnis entspricht nicht der Beschäftigung mit der Vergangenheit. Man erinnert nicht, was gewesen ist, sondern liefert lediglich eine Rekonstruktion dessen, was man in der Vergangenheit - bereits selektiv - beobachtet hatte; nur das also, was man vor dem Hintergrund all dessen, was man vergessen hat, erinnert. Wer erinnert, hat mit anderen Worten nicht mit der Welt zu tun, sondern nur mit sich selbst und den Bedingungen seines eigenen Seins; und die Erinnerung vollzieht sich in der Gegenwart, nicht in der Vergangenheit« (12). Vergessen und Erinnern sind nicht dem eigenen Willen unterworfen. Was ich vergessen habe, kann ich nicht erinnern. Was sich mir als unauslöschliche Erinnerung eingebrannt hat, kann ich nicht willentlich vergessen. Das Ich ist nicht Souverän seines Gedächtnisses. Das kann man zunächst am individuellen Gedächtnis verdeutlichen: Ich erinnere nicht alles. Ich erinnere nicht das Gleichmaß der Linearität einer abgelaufenen Zeit, sondern Einzigartiges, Hervorgehobenes, Unvergleichliches - und all das konstituiert meine jetzige Identität. Mein Ich basiert auf einer solchen - narrativ verfassten - Art von Geschichte. Sie ist unverwechselbar und nicht austauschbar. Und - sie kann Erinnerungsstücke zu Hilfe nehmen: Kalender, Tagebücher, alte Briefe, Bilder. In analoger Weise verlagern Gesellschaften die Kapazitäten ihres Erinnerns nach außen, in die Medien ihres sozialen Gedächtnisses (Archive, Datenbanken, Filme etc). Dabei ist jedoch systematisch die Unterschiedenheit zwischen Individuum und Gesellschaft zu beachten. Esposito, die von der Systematik Niklas Luhmanns her denkt, geht hier von einer strikten Trennung aus; sie fokussiert soziologische Forschung nicht auf Personen, sondern auf Kommunikationen. 2 Mit dem Prozess, den Esposito historisch nachzeichnet, kann immer mehr erinnert und immer mehr vergessen werden. Vergessenes wird medial, also unter Zuhilfenahme des sozialen Gedächtnisses, erinnert. Weil im Verlauf dieses Prozesses immer mehr vergessen wird, kann immer mehr erinnert werden (man lernt nicht mehr auswendig, was man nachschlagen oder -googlen kann). Buchreport 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 73 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 74 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Buchreport Mit der Verlagerung des Erinnerns in das soziale Gedächtnis wandelt sich auch die Struktur des individuellen Gedächtnisses; sie wird komplexer (der Index nimmt zu) und ärmer (die gewussten Inhalte nehmen ab). Entsprechend lautet eine der zentralen Thesen dieser Arbeit, »dass das Gedächtnis der Gesellschaft von den verfügbaren Kommunikationstechnologien [...] der jeweiligen Gesellschaft abhängt: diese beeinflussen dessen Formen, Reichweite und Interpretation. Man könnte auch sagen [...], dass das Gedächtnis der Gesellschaft die Voraussetzung für die Durchsetzung und Verbreitung bestimmter Mittel der Kommunikation darstellt.« Es geht also um einen »zirkuläre(n) Zusammenhang gegenseitiger Beeinflussung zwischen Gedächtnis und Kommunikationsmedien«, der v.a. am Grad der begrifflichen Abstraktion, der Art der Umweltauseinandersetzung und v.a. der Selbstreflexivität zu verdeutlichen ist (10; vgl. 38). Die Akte des Zugreifens auf das soziale Gedächtnis erfolgen immer im Präsens. Das aktuelle Gedächtnis führt nicht in die Vergangenheit, sondern gaukelt die Erinnerung an vergangene Ereignisse vor. Medialisierte Erinnerung wird zur individuellen »eigenen Erinnerung«. Die Erinnerung kennt folglich keinen Weg in die Vergangenheit, sondern realisiert sich als Aktualisierung. Das impliziert eine soziale Gegebenheit: Ohne soziales Gedächtnis einschließlich seines Vergessens wäre überhaupt keine Aktualisierung von Erinnerung möglich - also auch keine soziale Identität. Es gibt keine soziale Identität ohne Konstruktion von Vergangenheit. Esposito formuliert eine ihrer Grundannahmen mit einem lapidar wirkenden Satz: »Man erinnert sich an das, was man erinnert, und nicht an das, was man vergessen hat« (13); er ist vor dem Hintergrund des Sachverhalts zu lesen, dass ausschließlich die Gegenwart der (Nicht-)Ort 3 ist, an dem Vergangenheit (und Zukunft) kommuniziert, erforscht, präsentiert werden kann (Augustin sprach bekanntlich von einer ›Gegenwart von Vergangenem‹, einer ›Gegenwart von Gegenwärtigem‹ und einer ›Gegenwart von Zukünftigem‹ [Confessiones 11,XX.26: Tempora sunt tria: praesens de praeteritis, praesens de praesentibus, praesens de futuris]). Esposito stellt fest: »Alles geschieht in einer Gegenwart, die Vergangenheit als Bedingung der eigenen Operationsfähigkeit rekonstruiert« (13). Das Paradoxon lautet also: Ohne Vergangenheit und Gedächtnis kann keine Gesellschaft existieren, und doch geschieht alles in der Gegenwart. Die Frage nach Rolle, Bedeutung und Funktion des sozialen Gedächtnisses liegt auf der Hand. Der Gedächtnisbegriff wird in der Gegenwart einer Gesellschaft und ihren konkreten Bedingungen lokalisiert. Er beschreibt die Differenz von Erinnern und Vergessen. Soziales Gedächtnis speichert folglich nicht »Vergangenheit«, sondern erzeugt stets aktuell Vergangenheit für die Gegenwart einer Gesellschaft. Von diesem Prozess - und damit von der sozialen Interaktion von Bedürfnissen und Interessen - hängt ab, was als Vergangenheit erinnert und vergessen wird, und welche Bedeutung es für die Gesellschaft hat. Gespeichert, archiviert und aufbewahrt ist unermesslich viel; entscheidend ist, wovon Gebrauch gemacht wird. Letztlich ist es die mediale Präsenz des Internets und seiner Suchmaschinen, die ständig an die Gegenwartsbezogenheit des Vergangenen erinnert; schließlich ist jeder Suchvorgang das Ergebnis einer jetzt stattfindenden, einmaligen Datenverarbeitung. Entscheidend für Espositos Gedankengang ist ein weiterer Gesichtspunkt, nämlich der Umstand, dass man über Gedächtnis nur sprechen kann, wenn man imstande ist, zwischen Erinnern und Vergessen zu unterscheiden, also das Gedächtnis gleichsam von außen zu beobachten, zu reflektieren. »Das Gedächtnis kann als eine Form der Selbstbeobachtung in der Gegenwart angesehen werden, das heißt als etwas Unmögliches: als unmittelbare Selbstreferenz. [...] Ein solcher Umstand ist offensichtlich paradox und der Reiz, der vom Gegenstand des Gedächtnisses ausgeht, ergibt sich daraus, dass darin das Unbeobachtbare zum Vorschein kommt: die Beobachtung der Bedingungen von Beobachtung« (12f.). Mit dieser Überlegung ist der Leitgedanke formuliert, mit dem Esposito eine diachrone Unterscheidung verschiedener Gedächtniskulturen wagt. Sie unterscheidet drei Stadien der Entwicklung, die der gegenwärtigen Internetkultur vorausgingen, und bezeichnet sie als Divination (Archaik: frühe Hochkulturen, z.T. Antike), Rhetorik (Traditionale Gesellschaften: Antike und Mittelalter), Kultur (Moderne: Neuzeit). In divinatorischen Kulturen geht es - im Gegensatz zu modernen Polaritäten wie Realität / Fiktion oder Transzendenz / Immanenz - um ein ungeteiltes Weltkonstrukt, das jedoch voraussetzt, dass Wirklichkeit auch in ihren verborgenen und rätselhaften Dimensionen wahrgenommen werden soll. Das divinatorische Gedächtnis ist eine Ordnungsmacht, die für die Einheit des Weltganzen bürgt, indem sie über Bedeutung und Integrationsfähigkeit von Nachrichten, Ereignissen und Beobachtungen entscheidet. Das rhetorische Gedächtnis beruhte auf ontologischen Grundannahmen, die zu einer anderen Wahrnehmung der diskursiv verfassten Wirklichkeit führten und einen neuen Wahrheitsbegriff erforderten, für den die Unterscheidung zwischen wahr / falsch, Sein / Schein usw. konstitutiv war. Das kulturelle Gedächtnis ist z.B. dadurch gekennzeichnet, dass man von Texten nicht mehr die Wiederholung des Bekannten, Gesicherten, sondern Neues erwartete. Es geht zudem nicht mehr um »die Sammlung aller Bücher«, sondern um die »Verfügbarmachung alles Geschriebenen« (243). Mit dem Übergang zum kulturellen Gedächtnis verband sich der Wechsel vom Speichermodell zum Archivmodell: Wurde im Speicher alles ohne Medium der Verfügbarmachung gesammelt, so ist das Archiv als um ein Zugriffsmedium (Index) erweiterter Speicher zu verstehen. Es liegt auf der Hand, dass die Überlegungen und Analysen Espositos für die neutestamentliche Wissenschaft Bedeutung haben. Zwar problematisiert das Neue Testament die Frage nach Erinnerung und Gedächtnis nicht; es geht ganz selbstverständlich davon aus, dass nur erinnert, also im Diskurs jeweiliger Identitätsbildung nur verwendet werden kann, was nicht vergessen wurde. Zugleich wissen wir, dass mit den Erzähltexten des Neuen Testaments Auswahlprozesse verbunden waren, die zur Festschreibung der Grenzen zwischen Erinnertem und Vergessenem führten. Espositos Beitrag unterstreicht die historische und theologische Aufgabe, die Bedeutung der Präsentation des Vergangenen für die diskursiven Prozesse der Identitätsbildung im frühen Christentum zu untersuchen. Vor allem aber verweist dieses Buch eindringlich auf die Notwendigkeit, die antike Medialität der Kommunikation von Vergangenem und seine reflexiven Bedingungen genauer zu erforschen. Die Interpretationsarbeit am Neuen Testament kann so diese ganz anderen Voraussetzungen im Rahmen ihrer antiken Diskursivität berücksichtigen und vor dem 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 74 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% ZNT 20 (10. Jg. 2007) 75 Buchreport Hintergrund unserer gegenwärtigen Wirklichkeitsverständnisse hermeneutisch reflektieren. Eckart Reinmuth l Anmerkungen 1 George Steiner in einem Interview aus Anlass seines 70. Geburtstages, Frankfurter Rundschau vom 17.4.99, S. ZB 2. 2 Zur Differenz zwischen dem Entwurf Espositos und den Thesen zum »kollektiven Gedächtnis« von Maurice Halbwachs, die erst in den 80er Jahren wirkungsvoll rezipiert wurden, vgl. das aufschlussreiche Nachwort von Jan Assmann, 400-414. Im Gefolge der durch Niklas Luhmann geprägten soziologischen Unterscheidung personaler und sozialer Systeme wird die Position von Halbwachs im Blick auf die individuelle Trägerschaft kollektiver Gedächtnisse nachhaltig relativiert. 3 Vgl. zur Frage der temporalen Lokalisierbarkeit von Gegenwart die erhellenden Ausführungen in: E. Esposito, Die Verbindlichkeit des Vorübergehenden. Gesellschaftliche Voraussetzungen der Mode, in: Th. Rathmann, Ereignis: Konzeptionen eines Begriffs in Geschichte, Kunst und Literatur, Köln et al. 2003, 137-149: 138ff. Peter Lampe Die Wirklichkeit als Bild. Das Neue Testament als ein Grunddokument abendländischer Kultur im Lichte konstruktivistischer Wissenssoziologie. Neukirchener Verlag, Neukirchen 2006, 246 S.; ISBN 978-3-7887-1624-0 (broschiert); Preis: 24,90 € . Ist die neutestamentliche Wissenschaft sexy? Schon diese Frage lässt den seriösen Vertreter des Fachs ob ihrer Unwissenschaftlichkeit die Augenbrauen heben. Na gut, nennen wir es: attraktiv? Eine breite Masse einladend? Massiv ansteckend? Seien wir ehrlich: wohl kaum. Die letzten großen Neuorientierungen in der Jesus- und Paulusforschung (Third Quest, New Perspective) sind nun auch schon in die Jahre gekommen und wurden außerhalb der Szene so gut wie nicht rezipiert. Seit Bultmanns genialischer Aneignung der zeitgenössischen Existentialphilosophie - man mag heute dazu stehen wie man will - hat es keinen philosophischen Grundansatz neutestamentlicher Exegese mehr gegeben, der den Nerv der Zeit wirklich trifft und die Fragen hart am Pulsschlag eines breiten kulturellen Milieus stellt. Das vorliegende Buch des Heidelberger Ordinarius für Neues Testament Peter Lampe könnte hinsichtlich der Tuchfühlung zu einem breiten kulturellen Milieu unserer Tage ein Stück Avantgarde sein. Seinem Selbstzeugnis nach begegnet dem Leser auffallend oft das Wort »Skizze«, und tatsächlich haben manche Passagen eher den Charakter gedanklicher Anregung denn sich breit absichernder Detailargumentation. Seine Diktion changiert zwischen der Massivität fachterminologischer -Ismenhäufungen und einem lockeren akademischen Plauderton, behält aber insgesamt die Obertönung des Werbenden, Darbietenden, Leserfreundlichen. Worum geht es also in diesem Buch? Ganz einfach: um das ganz Schwierige. Die alten ungelösten Fragen zur Wirklichkeit Gottes, zur Wahrheit des biblischen Zeugnisses und zu dem, was uns Heutige das christliche Glaubenssystem eben so alles zumutet, sind Thema. Fragen, die nicht nur der christliche Insider sich in existentieller Nähe stellt, sondern gerade der Außenstehende in interessierter Distanz. Lampe benutzt hier das alte Bild von dem einen Boot, in dem »Naturwissenschaftler, Theologen, Psychologen, Alltagsmenschen, Atheisten« (S. 98) sitzen. Schon diese Reihung (der »Alltagsmensch« macht lediglich ein Fünftel aus! ) zeigt den primär akademischen Adressatenkreis. In dem für Neutestamentler zentralen und etwa ein Drittel des Textumfangs abdeckenden Kapitel VII werden diese zentralen Fragen beispielhaft an einzelnen Überlieferungen des NT festgemacht. Es reizt hier den Rezensenten, sie jenseits der eigentlichen Diktion dieses Buches auf das etwas vernachlässigte »Fünftel« der Alltagsmenschen herunterzubrechen, auf die Stimme der Konfirmanden oder der Teilnehmer am Religionsunterricht: »Was hat das mit mir zu tun, dass vor 2000 Jahren ein Mensch am Kreuz gestorben ist? Ist die Gleichheit nach Gal 3,28 nicht ein frommes Märchen? Was passiert bei der Taufe noch, außer dass man nass wird? Ist ein Christ etwa ein anderer Mensch? « Die eigentliche Wortwahl Lampes ist nüchterner, weil er für Akademiker schreibt. Statt von »Gleichheit nach Gal 3,28« etwa ist die Rede von »Irrelevanz menschlicher Unterschiede« oder von »neuer Kontext von Gal 3,28«. Doch zu den akademisch geprägten Hauptadressaten Lampes gesellt sich in unserer Zeit eben ein anderer Chor, die oben skizzierten Halbwüchsigen, die Teilnehmer an den unzähligen kirchlichen Fortbildungseinrichtungen, die Ausgetretenen, die sich dennoch in den Weihnachtsgottesdienst schleichen, die Kulturprotestanten beim Genuss der h-moll Messe oder die weltoffenen Atheisten bei der Besichtigung der Dresdner Frauenkirche. Es ist ein breites Milieu, das in seinen Fragen abgeholt wird und mit Antworten bedient werden soll. Der eigentliche »Clou« des Buches besteht darin, dass diese Fragen nicht Marke Eigenbau abgearbeitet werden. Es wird dagegen ein unserer Tage entsprechendes, allgemeines und relativ geschlossenes Sinnbildungssystem bemüht, dessen neue Anwendung auf die alten Fragen einen hohen Grad von Plausibilität verspricht, und dieses ist der Konstruktivismus. Vielleicht ist hier ein Wort zum konstruktivistischen Ansatz angebracht, obwohl dieser schon seit längerer Zeit aus seinem Urquell des philosophischen bzw. soziologischen Diskurses in die Nachbarwissenschaften, auch in die Theologie und die Pädagogik, eingeflossen ist. P. Lampe kennt die Diskussion gründlich, wie letztendlich seine mit »k« gekennzeichneten Literaturreferenzen im Literaturverzeichnis und auch seine früheren Veröffentlichungen zum Thema gut zeigen. Für den Konstruktivisten entsteht die Welt im Kopf. Sicherlich gibt es so etwas wie eine »ontische Realität«, die sich uns aber, radikal gesagt, nur als »ontologische Schranken« zeigt: Wenn ich an einen Baum stoße oder vom Auto überfahren werde, dann bin ich an etwas gestoßen, das mir Schranken weist. Die Interpretation als »Baum« oder als »Auto« habe ich als Teil mei- 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 75 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100% 76 ZNT 20 (10. Jg. 2007) Buchreport nes Kommunikationsmilieus dagegen selbst konstruiert. Und auf diese Weise gewinnen nicht nur die Gegenstände und Personen um mich Konturen durch die Kommunikation meines Milieus, sondern die gesamte Sinngebung und Bewertung der Dinge funktioniert so. Etwas ist nicht rot, weil es rot ist, sondern weil es als rot kommuniziert und konstruiert wird. Trotz der vom Objekt absehenden, subjektiven und rezeptionsorientierten Stoßrichtung dieses Ansatzes ist der Konstruktivismus alles andere als ein Ausbund an solipsistischer Beliebigkeit. Denn die Interpretation ist stets an das jeweilige Kommunikationsmilieu gebunden und damit intersubjektiv. Wichtig ist nur, dass diesem Milieu die jeweiligen Konstruktionen evident sind, und die Analyse der Evidenz in emotionaler, kognitiver, sozialer und empirischer Hinsicht macht den zentralen Teil konstruktivistischer Diskussion aus. Auf das Neue Testament übertragen, kann Lampe nicht von »urchristlichen Theologen«, sondern von »urchristlichen Konstrukteuren« reden. Diese konstruierten die Gesamtheit der urchristlichen Sinnzusammenhänge von Jungfrauengeburt bis Auferstehung in ihrem Kommunikationsmilieu und erweiterten dies durch die Verschriftlichung zum NT zu dem Milieu, an dem wir heute noch teilhaben. Beispielsweise das »Urkerygma«, aus den vorpaulinischen Formeln Röm 4,24; 8,11 oder Gal 1,1 rekonstruiert: »Gott erweckte Jesus von den Toten«. Lampe schlägt folgende Entstehungsgeschichte dieses Kerygmas durch die »urchristlichen Konstrukteure« vor: Die frühen Christen hatten Wissenselemente (1.: Der Gekreuzigte ist eine Elendsgestalt, 2.: Das Gottesbild des historischen Jesus: Gott, der sich gerade den Elenden zuwendet; 3.: die Verkündigung Jesu: Gott errichtet seine Gottesherrschaft gerade jetzt und zunächst unsichtbar auf; 4.: die jüdische Tradition, etwa Dan 12; Shemone Esre: Es gibt eine allgemeine Totenauferstehung am jüngsten Tag). Diese Wissenselemente waren Grundlage für die Konstruktion dieses Kerygmas, das der Referenzgruppe der frühen Christen in vierfacher Weise evident war: empirisch durch die Visionen, kognitiv durch innere Stimmigkeit der Wissenselemente mit dem Urkerygma, sozial durch die scheinbare Wiederholbarkeit und Intersubjektivität der Visionen (500 Brüder nach 1Kor 15) und emotional durch ihre enge Bindung an Jesus. Was die »urchristlichen Konstrukteure« also machten, konstruiert seinerseits Lampe wie folgt (S. 180): »Ein toter Jesus stand zum Leben auf, weil Gott ihn erweckte. Er konnte sich deshalb nach Ostern den Hinterbliebenen in Selbstoffenbarungen, in mehreren Visionen innerhalb eines begrenzten Zeitraums, zeigen. Mit seiner Auferweckung nahm er einen Ort der Herrlichkeit an der Seite Gottes ein. Als Kyrios ist er im Gebet anrufbar.« Er kontrastiert dies mit seiner konstruktivistischen Konstruktion, die wie folgt lautet (S. 184f.): »Jesus von Nazareth starb und wurde begraben. Wenig später sah Petrus in einer Vision einen lebendigen Jesus. Auch andere Kulturen kennen solche Erscheinungen von Toten. Diese Gesichte werden von der Psyche des Visionärs generiert; ihnen korrespondiert nichts außerhalb der Psyche. Petrus' Psyche war von Schuldkomplexen geplagt (dreimaliges Verleugnen), vom Wunsch, den Zusammenbruch der Jesusbewegung rückgängig zu machen. So generierte die Psyche einen Ausweg: Sie produzierte ein visuelles Erleben. Petrus interpretierte das Gesicht nicht als Gespenstererscheinung, sondern deutete es mittels der in der jüdischen Religion vorgegebenen Kategorie der Auferstehung: Der Tote geistert nicht als Gespenst, sondern ist lebendig. Einmal intersubjektiv vermittelt, ließ sich das visionäre Erleben aufgrund der suggestiven Kraft des Petrus im Kreise mehrerer Jünger wiederholen, sogar in einer Massensuggestion von etwa fünfhundert Jesusanhängern. Der als wieder lebendig begriffene Jesus wurde schließlich mit Hoheitsprädikaten ausgestattet: Sein neuer Status wurde im Lichte alttestamentlicher Texte (z.B. Ps 110,1: ›Setze dich mir zur Rechten‹) definiert. Und so fort.« Im Sinnsystem Lampes haben beide Aussagen über die Auferstehung Jesu, die (rekonstruierte) urchristliche und die des modernen Konstruktivisten, den gleichen Stellenwert. Welche der beiden die »ontische Realität« besser abbildet, ist nicht aussagbar - und dies ist der Grund, warum der Konstruktivist nach Lampe sich mit einem breiten Publikum verständigen kann: Man unterhält sich über Konstruktionen und Sätze, weder der Atheist noch der Theologe können dabei Aussagen über die ontische Realität jenseits dieser Sätze treffen. Diese hier freilich nur in aller Grobheit referierte Sicht der Dinge bietet Lampe also als konsensfähiges Interpretament für die oben paraphrasierten schwierigen Fragen der christlichen Tradition an. Wer sich freilich in postmoderner Zersplittertheit aller Sinngebungsversuche kismethaft verstrickt fühlt, mag ein derartiges Vorhaben belächeln: Konsensfähigkeit im Sinngebungsgeschäft! - ist solches heutigentags überhaupt möglich? Man kann diese Frage unterschiedlich beantworten, doch Peter Lampes Antwort ist positiv. Er stellt den Konstruktivismus als einen Ansatz vor, der in unterschiedlichen Denksystemen konsensfähig ist. Konkret: Was wir unter »Wahrheit« und »Wirklichkeit« und »Realität« verstehen, wird im Blick auf mehrere voneinander scharf getrennte Fachdisziplinen durchdekliniert und die konstruktivistische Sicht der wirklichkeitsproduzierenden anstelle der wirklichkeitsabbildenden Denk- und Sprechvorgänge wird als kleinster gemeinsamer Nenner angeboten. Dabei steht ein Durchmarsch durch die Philosophiegeschichte an erster Stelle, zudem mutige Ausflüge in die Neurologie und die Physik nach-Heisenbergscher Prägung, alles mit dem Ziel, dass unsere Welt eben im Kopf entsteht und nicht eine außersubjektive Welt (getreu) abbildet. Damit liegt ein Vorschlag für eine Gesprächsbasis vor, auf der sich viele Menschen unterschiedlicher Prägung mit dem frühen Christentum und der Botschaft des NT auseinandersetzen können. Eine Basis, die eine Auseinandersetzung über die christlichen Inhalte vielleicht nicht unbedingt sexy, aber auf jeden Fall ungezwungen und attraktiv macht. Schon deswegen ist dieses Buch der Lektüre zu empfehlen. Peter Busch 061607 ZNT 20 03.10.2007 7: 32 Uhr Seite 76 User: Steffen Hack Lpi: 175 Scale: 100%