ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
0601
2008
1121
Dronsch Strecker VogelEditorial und Tal Ilan mit Recht gleichwohl als Kontinuität zu Israel und dem antiken Judentum behauptet werden. Was die jüdisch-christlichen Interdependenzen mit der Umwelt und Selbstverständnis als Lern- und Lehrgemeinschaft innerhalb - keinesfalls jenseits - der antiken Welt für unsere multikulturelle Gegenwart bedeuten könnten, halten die Autorinnen und Autoren offen und laden hier explizit zu weiteren fachwissenschaftlich, religionspädagogisch und lernpsychologisch ausgerichteten Forschungen ein. Der Dresdner Neutestamentler Matthias Klinghardt fokussiert die Leserlenkung in den Evangelien und veranschaulicht dies anhand zahlreicher Textbeispiele. Der Beitrag gipfelt in seiner bereits aus ZNT 12 bekannten These einer bewusst konzipierten kanonischen Ausgabe des Neuen Testaments und es gelingt ihm, dies anhand seiner Lektüre in überraschender Weise zu plausibilisieren. Die Kontroverse des Heftes ist dem Thema »Kinder als Exegeten der Schrift? - Kindertheologie auf dem Prüfstand« gewidmet. Stefan Alkier leitet die Kontroverse mit sehr grundsätzlichen kritischen Anfragen an die herrschende Universitätsexegese ein, die mit diesem Thema verbunden sind. Der Kontroverspartner und Religionspädagoge Gerhard Büttner trägt als Mitbegründer des Jahrbuches für Kindertheologie ein leidenschaftliches Plädoyer für Kindertheologie und -exegese vor. Er betrachtet sie als bereichernde existentielle Lesart und legitime Konstruktion von Bedeutung der Schrift. Die Kontroverspartnerin und Religionspädagogin Renate Hofmann dagegen richtet kritische Anfragen an das Konzept einer Kindertheologie. Sie mahnt u.a. die noch mangelnde Methodik und die unklaren Kriterien an, die eine Kindertheologie von der Erwachsenentheologie derjenigen zu unterscheiden vermag, die mit Kindern Theologie betreiben. Unter der Rubrik Hermeneutik und Vermittlung greift der Neutestamentler und Religionspädagoge Johannes Woyke das Problem der vielfach anzutreffenden »Enttäuschung über Gott als Liebe Leserinnen und Leser, in Zeiten von IGLU, PISA, G8 und der sukzessiven Abschaffung der Humboldtschen Universität ist Lernen und Lehren ein zentrales Thema des aktuellen gesellschaftlichen Diskurses. Diesem Thema widmet sich auch unser Heft, bezogen auf die Zeiten der Entstehung der Bibel sowie ihrer Rezeption in der Gegenwart. Es versucht nachzuzeichnen, was Bildung im Alten Testament, im Judentum, im frühen Christentum, ja in der hellenistisch-römischen Umwelt für Frauen, Männer und Kinder bedeutete. In der Kontroverse wird überdies die Frage diskutiert, ob und inwiefern Kinder heute als Lernende und Lehrende der Theologie fungieren können. Der gemeinschaftliche Beitrag der Alttestamentlerin Beate Ego und des Neutestamentlers Christian Noack eröffnet das Heft und stellt Lernen und Lehren als Thema der alt- und neutestamentlichen Forschung dar. Der Beitrag gibt einen sehr luziden Einblick in die vielgestaltige alt- und neutestamentliche Forschungslandschaft zum Thema. Vielschichtige Kontexte von Lernen und Lehren werden für das Alte und das Neue Testament aufgezeigt. Es wird festgestellt, dass spätestens seit der Seleukidenzeit das antike Judentum Synthesen mit hellenistischen Bildungseinflüssen eingeht und in unmittelbarer Kontinuität gilt dies auch für das frühe Christentum, welches im Kontext hellenistisch-römischer Einflüsse (ent)steht. Wie das griechisch-hellenistische Erbe von Lernen und Lehren konkret aussah, entwickelt der Beitrag des Neutestamentlers Tor Vegge sehr anschaulich mit vielen Einzelbeispielen. Auch er zeigt die unleugbaren Interdependenzen von hellenistisch-römischem und christlichem Erbe. Die Judaistin Tal Ilan konzentriert sich auf die in der Forschung vielfach übersehene Bildung von Mädchen und Lehre von Frauen im antiken Judentum und sie eröffnet eindrucksvolle Einblicke. Noack spricht sehr treffend vom frühen Christentum als Lern- und Lehrgemeinschaft und dies kann angesichts der Ausführungen von Beate Ego ZNT 21 (11. Jg. 2008) 1 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 13 Uhr Seite 1 In eigener Sache: Wir freuen uns, Prof. Dr. Richard B. Hays im ZNT-Herausgeberkreis begrüßen zu dürfen. Nachdem Richard B. Hays den Leserinnen und Lesern als Autor von Beiträgen für die ZNT bekannt ist, freuen wir uns sehr, dass seine Ideen und Perspektiven nun auch im Herausgeberkreis zum Tragen kommen. Eckart Reinmuth. Auf den Spuren der Reinmuthschen Lektüre des Neuen Testaments zeigt sie auf, dass in den neutestamentlichen Schriften zwar eine allgemeine Definition des Menschseins vergeblich gesucht wird, aber dass es durch den Perspektivenreichtum der neutestamentlichen Schriften viel über den Menschen zu lernen gibt. Stefan Alkier Kristina Dronsch Ute E. Eisen kindlich erwartetem Wunscherfüller« auf. Er betrachtet Ps 77 in diesem Zusammenhang als einen Text, der genau diese Thematik zum Gegenstand hat und für heutige Jugendliche neue Wege zu eröffnen vermag. Seine These flankiert er durch sein Plädoyer für das Verständnis der biblischen Wundererzählungen als real-symbolischer Rede. Das Heft wird abgeschlossen durch den anregenden Buchreport der katholischen Exegetin Uta Poplutz zu dem Werk »Anthropologie im Neuen Testament« des Rostocker Neutestamentlers 2 ZNT 21 (11. Jg. 2008) A Siri Fuhrmann Der Abend in Lied, Leben und Liturgie Studien zu Motiven, Riten und Alltagserfahrungen an der Schwelle vom Tag zur Nacht Pietas Liturgica Studia, Band 18 2008, XIV, 440 Seiten, [D] 88,00/ SFr 149,00 ISBN 978-3-7720-8258-0 Die christliche Tradition kennt für den Abend zwei Gebetszeiten: die Vesper und die Komplet. Beide Gebete beziehen sich durch ihre Psalmen, Hymnen und Cantica implizit und explizit auf naturhafte, psychische und soziale Phänomene des Abends und deuten diese heilsgeschichtlich. Die vorliegende Studie verbindet traditionelle hymnologische Methoden aus Theologie, Musik- und Sprachwissenschaft mit Forschungspraktiken der Qualitativen Sozialforschung: Ausgehend von Abendliedern des 20. Jahrhunderts werden unter Einbeziehung der traditionell geformten Abendliturgie Themen des Abends untersucht und evaluiert, wie diese liturgisch verwendeten Motive gegenwärtig wahrgenommen und gedeutet werden. A. Francke Verlag · Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Pietas Liturgica Studia Philipp Gahn Johann Michael Sailers Gebetbücher Eine Studie über den lebenslangen Versuch, ein Dolmetsch des betenden Herzens zu sein Pietas Liturgica Studia, Band 16 2007, X, 253 Seiten, zahlreiche Tabellen, [D] 58,00/ SFr 98,00 ISBN 978-3-7720-8192-7 Das Lese- und Betbuch von 1783 ist dasjenige der Werke Sailers, welches den gewiss größten katholischen Theologen seiner Zeit ebenso im gelehrten Deutschland wie bei den einfachen Gläubigen bekannt gemacht hat. Trotz dieses bemerkenswerten Erfolges ließ ihn der Text seines Buches bis kurz vor seinem Tod nie zur Ruhe kommen. Die letzte Überarbeitung muss heute als verschollen gelten; übrig blieb allein die Einleitung, welche aber im Verein mit den veränderten Auflagen des kleinen Gebetbuchs genaue Auskunft davon gibt, wie aufmerksam Sailer an den geistigen und geistlichen Auseinandersetzungen seiner Zeit teilnahm und sich durch den Zeitstrom hindurch immer tiefer in die ihm wesentlich erscheinende Aufgabe vertiefte: die Herzensbildung aller an Christus Glaubender. 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 13 Uhr Seite 2 Beate Ego / Christian Noack Lernen und Lehren als Thema alt- und neutestamentlicher Wissenschaft Neues Testament Aktuell sen. 4 Die Gegner der »Schulthese« wiederum sehen sich durch die unterschiedlichen Belege nicht überzeugt und verweisen zur Erklärung der Genese der Weisheitsliteratur auf ein Famulussystem bzw. auf die Weitergabe des Berufswissens innerhalb der Familie. 5 Die Diskussion wurde durch die Einbeziehung der Archäologie entschieden bereichert. Nach A. L EMAIRE sind Funde wie der Bauernkalender von Gezer oder verschiedene Abecedarien aus Lachisch, Arad oder Kadesh- Barnea Zeugnisse für die Entwicklung eines israelitischen Schulsystems, das zum Teil die alten kanaanäischen Schulen beerbte. 6 Kritiker wie D. J AMIESON -D RAKE verweisen darauf, dass die Anfänge der Literalität in Israel in das 8. Jh. zu datieren sind; Schriftfunde stehen in einem engen Bezug zur königlichen Administration, so dass im äußersten Fall für den Jerusalemer Königshof mit einer Schule gerechnet werden kann. 7 Der früheste explizite Beleg für ein Lehrhaus findet sich im Epilog des Weisheitslehrers Ben Sira, dessen Werk wohl um 190 v. Chr. in Jerusalem entstanden ist, und es ist anzunehmen, dass Ben Sira tatsächlich in seinem Hause einen Lehrbetrieb für junge Männer aus gehobener Schicht durchführte. 8 In engem Bezug zur Institution der Schule steht schließlich auch die Frage nach der personellen Institutionalisierung des Lehrens. Während der finnische Deuteronomiumsspezialist T. V EJOLA eine direkte Linie von den Tradentenkreisen der dtn.-dtr. Theologie hin zu den rabbinischen Lehrern ziehen möchte, 9 sehen andere im Priestertum der Zeit des Zweiten Tempels, insbesondere in den Leviten, die personellen Anfänge einer Unterweisung in der Schrift. 10 So kann wohl mit aller Vorsicht gesagt werden, dass die Existenz eines flächendeckenden Schulsystems in alttestamentlicher Zeit doch sehr unwahrscheinlich ist. Eine gewisse Plausibilität kommt freilich der Annahme zu, dass in der Nähe Teil I: Altes Testament (Beate Ego) Angeregt durch die aktuelle Bildungsdebatte sowie den Vormarsch der Kulturwissenschaften, die die Paradigmen der »Gedächtniskultur« 1 sowie der »Literacy« 2 in den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht haben, spielt das Thema »Lernen und Lehren« gegenwärtig in der alttestamentlichen Wissenschaft eine beachtliche Rolle. 3 Vor diesem Hintergrund sollen im Folgenden zentrale Themen des alttestamentlichen Forschungsdiskurses querschnittartig beleuchtet und gleichzeitig auf künftige Forschungsperspektiven hingewiesen werden. a) Die institutionelle Verortung des Lernens: Gab es Schulen in Israel? Für die Erziehung der Kinder spielte zunächst die Familie eine bedeutende Rolle (so u.a. Ex 12,26; 13,8ff.; Spr 1,8; 6,20; 31,1.26). Innerhalb der Familie konnte auch das Berufswissen der Schreiber weitergegeben werden (s. 1Kön 4,3a; 2Sam 20,25; 1Chr 18,16; Jer 36,10; vgl. 2Kön 22,8-10; 2Chr 34,15.20). Höchst kontrovers diskutiert wurde in der alttestamentlichen Wissenschaft seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Frage nach der Existenz von Schulen im Alten Israel. Die Problematik der Thematik besteht darin, dass es für die alttestamentliche Zeit keine expliziten Belege für einen Schulbetrieb gibt. Als Indizien, aus denen zumindest implizit die Existenz von Schulen hervorgehen soll, werden sowohl verschiedene biblische Belege - u.a. Spr 22,17-21, Jes 50,4-6, Jes 28,9- 13 (im Sinne einer Verballhornung) - angesehen als auch die Tatsache, dass es in Israel eine ausdifferenzierte Weisheitsliteratur gab und diese ja auch eines Produktionsortes bedurfte. Häufig wurde dabei als Analogon auf das Schul- und Bildungswesen in Babylonien und Ägypten verwie- ZNT 21 (11. Jg. 2008) 3 »So kann wohl mit aller Vorsicht gesagt werden, dass die Existenz eines flächendeckenden Schulsystems in alttestamentlicher Zeit doch sehr unwahrscheinlich ist.« 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 13 Uhr Seite 3 Prof. Dr. Beate Ego studierte Ev. Theologie, Germanistik, Judaistik und Vergleichende Religionswissenschaft in Tübingen und Jerusalem. Promotion 1987 und Habilitation 1994. Beate Ego ist seit 1998 Professorin für Altes Testament und Antikes Judentum an der Universität Osnabrück. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Religionsgeschichte bzw. Theologie des antiken Judentums, Schriftauslegung in der rabbinischen Literatur und im Targum, frühe jüdische Mystik. Zahlreiche Veröffentlichungen, auch zum Themenkomplex Lernen und Lehren. Weitere Informationen unter: www.ev-theologie.uni-osnabrueck.de/ lehrende/ ego.htm Beate Ego Neues Testament Aktuell 4 ZNT 21 (11. Jg. 2008) des Königshofes Schreiber und wohl auch Priester an einem wie auch immer strukturierten Unterrichtsgeschehen beteiligt waren. Wenn auch im Hinblick auf die Institutionen des Lernens für den Großteil der alttestamentlichen Zeit keine definitiven Aussagen gemacht werden können, so ist insgesamt aber doch deutlich, dass generell sowohl der mündlichen Traditionsweitergabe als auch dem Auswendiglernen eine große Bedeutung zukam. Schriftliche Zeugnisse dienten in diesem Zusammenhang wohl als Gedächtnisstütze und spielten für das eigentliche Unterrichtsgeschehen nur eine sekundäre Rolle. 11 Insgesamt ist auf die personale Dimension des Lerngeschehens abzuheben: Dieser Aspekt zeigt sich nicht nur im Verhältnis des Schülers zu seinem Lehrer, sondern auch in dessen Verhältnis zu seinem Stoff, der nicht als tote Materie erscheint, sondern vielmehr als eine lebendige Größe, die eine ganz eigene Faszination ausstrahlt. 12 b) Lehren und Lernen im Deuteronomium: Gedenken um der Zukunft Israels willen Einen bedeutenden Impuls erhielt die Beschäftigung mit der Thematik des Lehrens und Lernens im Alten Israel durch den katholischen Exegeten N ORBERT L OHFINK . Hier ist insbesondere auf seinen Beitrag »Der Glaube und die nächste Generation. Das Gottesvolk der Bibel als Lerngemeinschaft« in dem vom selben Autor herausgegebenen Band »Das Jüdische am Christentum. Die verlorene Dimension« (Freiburg / Basel / Wien 1987) zu verweisen. Lernen, dies ist der Grundtenor des Aufsatzes, soll nach dem deuteronomischen Programm intensiv in den Familien betrieben werden. Deshalb kann N. Lohfink Dtn 6,4-9 auch als »Schlüsseltext des Glaubens« bezeichnen. Dieses Lernen ist für das Leben und Überleben Israels ein eminent wichtiger Faktor, der letztendlich die Identität des Volks begründet. Israel wird damit der »lernende JHWH-Staat«. Der historische Rahmen für dieses Programm ist die josianische Zeit des ausgehenden 7. Jahrhunderts. Die exilischen Erweiterungen des Deuteronomiums fallen im Hinblick auf die historische Verankerung dieser Lernkonzeption insofern nicht ins Gewicht, da dadurch keine prinzipielle Weiterentwicklung erfolgt, sondern vielmehr »nur ein reflektierender Ausbau des Ansatzes aus der joschianischen Zeit«. 13 Mit dem Erscheinen von J AN A SSMANN s Buch »Das kulturelle Gedächtnis« erhielt Anfang der 90er Jahre der Terminus der Gedächtniskultur eine prominente Rolle im Forschungsdiskurs. J. Assmann selbst hat in der ihm eigenen eindrücklichen Sprache im Deuteronomium unterschiedliche Arten der Mnemotechnik festgemacht. So nennt er die Bewusstmachung und Beherzigung als Einschreibung in das eigene Herz (Dtn 6,6; 11,8) die Weitergabe an die folgenden Generationen (Dtn 6,7; 11,19), die Sichtbarmachung des Lernstoffes durch Denkzeichen auf Stirn und Hand (Dtn 6,8; vgl. Ex 13,9), die »limitische Symbolik« der Inschrift auf die Türzeichen (Dtn 6,9), die Speicherung und Veröffentlichung (Dtn 27,2- 8), die Feste der kollektiven Erinnerung (Dtn 16,1-3; 16,10 und Dtn 16,13), die mündliche Überlieferung in der Form von Poesie, die die Geschichtserinnerung kodifiziert (Dtn 31,21.22; 32,1-43) sowie die Kanonisierung des Vertragstextes (Dtn 31,9-13; 4,2) als Modi der Erinnerung. Lernen ist bei J. Assmann ein Erinnerungsgesche- 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 13 Uhr Seite 4 Beate Ego / Christian Noack Lernen und Lehren als Thema alt- und neutestamentlicher Wissenschaft ZNT 21 (11. Jg. 2008) 5 hen, das - so in Aufnahme eines Begriffes von G. Theißen - »kontrapräsentischen« Charakter hat. Gerade im Kulturland mit seinen zahlreichen Verführungen soll sich Israel seines Ursprungs in der Wüste erinnern. »Das Besondere und ›artifizielle‹ dieser Erinnerungskunst liegt darin, daß sie eine Erinnerung festhält, die in den Bezugsrahmen der jeweiligen Wirklichkeit nicht nur keine Bestätigung findet, sondern zu ihr in krassestem Widerspruch steht: die Wüste im Gegensatz zum Gelobten Land, Jerusalem im Gegensatz zu Babylon. Mit Hilfe dieser Mnemotechnik haben die Juden es seit dem Babylonischen Exil verstanden, über fast zwei Jahrtausende hinweg, in alle Weltgegen- Christian Noack, Jahrgang 1961, Studium der Evangelischen Theologie und Geschichte in Tübingen, seit 1992 Gymnasiallehrer in Darmstadt, Promotion in Frankfurt am Main 1998, seit 2003 Lehrbeauftragter an der Universität Gießen. Publikationen: Gottesbewußtsein. Exegetische Studien zur Soteriologie und Mystik bei Philo von Alexandria (WUNT II/ 116), Tübingen 2000; Haben oder Empfangen. Antithetische Charakterisierungen von Torheit und Weisheit bei Philo und bei Paulus, in: R. Deines / K.-W. Niebuhr (Hgg.): Philo und das Neue Testament. Wechselseitige Wahrnehmungen (WUNT 172), Tübingen 2004, 283-307; Der »Octavius« des Minucius Felix. Ein interreligiöser »Rechtsstreit« unter Freunden zur Beurteilung der römischen und christlichen religio, Spes Christiana 17 (2006), 7-20. Forschungsschwerpunkte: Soziologische Einbettung des frühen Christentums in die hellenistisch-römische Gesellschaft; Formen von Spiritualität im Urchristentum und in dessen religiösem Umfeld. Habilitationsprojekt: Die Eschatologie im Philipperbrief: soziologisch-systemtheoretische Zugänge. Christian Noack den verstreut, die Erinnerung an ein Land und an eine Lebensform, die zu ihrer jeweiligen Gegenwart in schärfstem Widerspruch standen, als Hoffnung lebendig zu erhalten.« 14 Eine direkte Auseinandersetzung mit J. Assmann und eine Weiterführung seines Ansatzes sowie der Darlegungen von N. Lohfink findet sich dann in einer Publikation G EORG B RAULIK s mit dem Titel »Das Deuteronomium und die Gedächtniskultur Israels. Redaktionsgeschichtliche Beobachtungen zur Verwendung von « (in: ders., Studien zum Buch Deuteronomium [SBS 24], Stuttgart 1997 [1993], 119-146). Während W. Lohfink wie auch J. Assmann aber innerhalb der einzelnen Lernaussagen im Deuteronomium nicht weiter differenzieren, versucht G. Braulik nun, die deuteronomisch-deuteronomistische Lernkonzeption in einen mehrstufigen diachronen Rahmen zu stellen. Dtn 6,6-9* als ein vor-dtr. Text möchte die gesamte Gesellschaft durch das ständige Rezitieren des Mosegesetzes sozialisieren, wobei ein besonderer Wert auf die Kinderunterweisung gelegt wird. Die Texte der Vorexilszeit (5,31; 6,1) wiederum autorisieren Mose als den von Gott beauftragten archetypischen Lehrer. Bedeutsam ist zudem das öffentliche Lernritual am Laubhüttenfest, bei dem die levitischen Priester und Ältesten dazu verpflichtet werden, die Toraschrift dem ganzen Volk vorzutragen und so die einst in Moab erfahrene Jahwefurcht neu zu erfahren (31,9-13). Um die Furcht vor JHWH geht es auch in den noch jüngeren Texten Dtn 14,23 und 17,19, die aus der Exilszeit stammen. Dtn 31,19.22 sowie Dtn 4 zeigen schließlich in der spätexilischen Zeit, dass Hören und Lernen für das Überleben Israels unabdingbar sind. Ausführlich wurde die Lernkonzeption des Deuteronomiums dann jüngst in zwei Monographien behandelt, die ungefähr zeitgleich entstanden sind und publiziert wurden. Hier ist zunächst auf K ARIN F INSTERBUSCH s Habilitationsschrift »Weisung für Israel. Studien zu religiösem Lehren und Lernen im Deuteronomium und in seinem Umfeld« (FAT 44), Tübingen 2005 zu verweisen. Auf der Basis von zahlreichen akribisch durchgeführten Einzelanalysen der Texte stellt die Autorin die Lehr- und Lernkonzeption des Deuteronomiums in ihrer Dimension zwischen Vergangenheit und Zukunft des Volkes mit ihren identitätserhaltenden Implikationen systematisch dar. Dabei 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 13 Uhr Seite 5 sönliche Gegenüber bei der Vermittlung« abzielt, will die Verschriftlichung die »Aufbewahrung der Texte angesichts des Generationenwechsels und dem Ende der Augenzeugenschaft«, »die ständige Vergegenwärtigung im Alltag durch den Schriftzug am Türrahmen oder im Buch, das der König mit sich trägt« sowie die »Präsenz der Texte neben der Lade und das visuelle Zeugnis durch das sichtbare Buch (31,26).« Im Zentrum der Lehre des Deuteronomiums steht die Verinnerlichung der Furcht Gottes, die wiederum zum rechten Handeln nach Gottes Gebot anleiten soll. Wichtig ist dabei das komplementäre Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit: »Schriftlichkeit ist, wie die Mündlichkeit, ein Mittel dazu, dieses Ziel zu erreichen. Auch der kanonisierte Toratext ist auf Mündlichkeit angewiesen. Die Stimme Gottes muss in immer wieder neuen Stimmen aktuell werden«. 16 c) Die Grenzen menschlichen Lernvermögens und die Belehrung als Gnadenakt: Gott als Lehrer Ein weiterer Schwerpunkt der Forschungen zum Lehren und Lernen bezog sich auf die anthropologische theologische »Binnenperspektive« von Lernvorgängen. Da das menschliche Lernvermögen letztendlich begrenzt ist, bedarf es einer göttlichen Unterstützung als einer Art Gnadengabe. Diese Motivik wurde erstmals in der 1979 erschienenen Dissertation von E. S CHAWE »Gott als Lehrer im Alten Testament. Eine semantische Studie« untersucht. 17 Da Schawe aber nur eine kurze Analyse der einzelnen Belegstellen liefert, die allerdings den weiteren Kontext nicht berücksichtigt, fand seine Arbeit in der Forschung zunächst nur wenig Resonanz. 18 Eine ausführliche Behandlung erfuhr das Konzept erst in zwei Aufsätzen in dem von B. E GO und H. M ERKEL herausgegebenen Sammelband »Religiöses Lernen in der biblischen, frühjüdischen und frühchristlichen Überlieferung« (WUNT 180), Tübingen 2005, in dem sich sowohl E. Z ENGER als auch B. E GO mit der Thematik auseinandersetzen. E. Z ENGER konzentriert seine Ausführungen in seinem Beitrag »JHWH als Lehrer des Volkes und als Lehrer der Einzelnen im Psalter« (47-67) auf Ps 50, Ps 111+112 sowie auf Ps 119. Er macht deutlich, dass die Meditation über JHWH als »Geber und Lehrer von kommt Mose als Lehrer der Tora eine bedeutende Rolle zu; seine Lehre ist freilich keine wortwörtliche Wiedergabe der von JHWH am Horeb mitgeteilten Worte, sondern »eine freie Rede des dtn Mose«, dessen Lehrautorität dadurch besonders hervorgehoben wird und der so Israel in besonderer Weise zum Tun der Tora motivieren kann. Moses Lehre konstituiert Israel als Lehr- und Lerngemeinschaft und soll künftig das Leben aller Generationen bestimmen. So wird insbesondere die Elterngeneration zum Lehren der Kinder verpflichtet. Durch intensives Erzählen sollen die Erlebnisse sichtbar gemacht werden, so dass sie für die Zuhörerinnen und Zuhörer zu eigenen Erlebnissen werden. Darüber hinaus sollen die Eltern mit ihren Kindern auch über die Gebote reden (so die dezidierte Auslegung von Dtn 6,7), d.h. dass sie »ihnen zum Verständnis der einzelnen Gebote Hintergrundwissen vermitteln und Fragen zu einzelnen Geboten beantworten« sollen (309). Sie müssen aber auch mit elterlicher Autorität dafür sorgen, dass die Kinder diese Gebote auch tatsächlich befolgen (Dtn 32,46). Der Aspekt des kollektiven Lernens kommt besonders in dem Tora-Lernritual in Dtn 31,10-13 zum Ausdruck, bei dem das Volk in jedem siebten Jahr beim Laubhüttenfest in Jerusalem versammelt wird. Hier verbinden sich die drei Lernorte »Horeb«, »Moab« und »Jerusalem« und die Identität Israels wird definiert: »Sie (sc. die Israeliten) lernen, wo sie herkommen: von der Versammlung vor JHWH am Horeb (Dtn 5,2), wo sie ›heute‹ stehen: in Moab vor dem dtn Mose, wo sie ›ab heute‹ sein werden: in dem von den Vätern zugeschworenen Land, und was sie ›ab heute‹ tun sollen: das von Mose gelehrte Gesetz zu befolgen. Die Versammelten lernen somit, dass sie Teil des Volkes sind, an dessen religiöser Identität sie partizipieren und für dessen Existenz sie verantwortlich sind«. 15 I SA B REITMAIER s Habilitationsschrift enthält wichtige Beobachtungen zum Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit im Kontext des Lernens. Mündliche Lehre und Verschriftlichung haben ganz unterschiedliche Ziele: Während die mündliche Lehre auf die verbale Präsenz des Gotteswortes im Alltag, auf die »Möglichkeit, neue Worte zu finden, die auf die aktuelle Situation bezogen sind«, auf die »rituelle Inszenierung des Horebereignisses« (31,9-13) sowie auf das »per- 6 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Neues Testament Aktuell 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 13 Uhr Seite 6 Literatur zum Weiterlesen • J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. • D. Carr, Writing on the Tablet of the Heart. Origins of Scripture and Literature, Oxford 2005. • J.L. Crenshaw, Education in Ancient Israel: Across the Deadening Silence, New York 1998. • B. Ego / H. Merkel (Hgg.), Religiöses Lernen in der biblischen, frühjüdischen und frühchristlichen Überlieferung (WUNT 180), Tübingen 2004. • R. Riesner, Jesus als Lehrer (WUNT II/ 7), Tübingen 3 1988 (Neuauflage 2008). • M. Ebner, Jesus - ein Weisheitslehrer? Synoptische Weisheitslogien im Traditionsprozeß (HBS 15), Freiburg i. Br. 1998. • A.F. Zimmermann, Die urchristlichen Lehrer. Studien zum Tradentenkreis der didaskaloi im frühen Christentum (WUNT II/ 12), Tübingen 2 1988. • Th. Schmeller, Schulen im Neuen Testament? Zur Stellung des Urchristentums in der Bildungswelt seiner Zeit (HBS 30), Freiburg 2001. • T. Vegge, Paulus und das antike Schulwesen. Schule und Bildung des Paulus (BZNW 134), Berlin u.a. 2006. • J. Christes u.a. (Hg.), Handbuch der Erziehung und Bildung in der Antike, Darmstadt 2006. finden, einer knappen, aber instruktiven Exegese unterzogen werden. In dieser Studie zeigt K. Finsterbusch, dass die Vorstellung zwar in der vorexilischen Zeit wurzelt, aber gerade in der Auseinandersetzung mit der Exilierung des Volkes besonderes Profil gewinnt. Der Gedanke vom lehrenden Gott dient dazu, auf die Ereignisse von 586 / 7 zu reflektieren und diese zu verarbeiten: Weil Israel konsequent JHWHs Lehre missachtet hat, wurde es von der Katastrophe des Exils getroffen; diese Gottesvorstellung dient aber auch der Neubesinnung im Hinblick auf die Beziehung des Volkes zu JHWH, denn »künftig wird JHWH lehren und weisen, und das Volk wird hören. In diesem Kontext ist wohl auch die Utopie der Völkerwallfahrt (Jes 2,2-4 par Mi 4,1-3) mit universaler göttlicher Wegweisung für die Völker formuliert worden - ein Ausdruck der Sehnsucht nach friedlichem Zusammenleben nach der Katastrophe von 586 v. Chr.«. Eine besondere Konzentration erhält die Vorstellung zudem in Texten, die einen Bezug zur Tora haben. JHWH hat seine Gebote seinem Volk in einmaliger geschichtlicher Stunde am Sinai bekannt gegeben, er kann aber auch - so Ps 94 - als Erzieher und Lehrer der Weltvölker erscheinen. Auch Finsterbusch betont schließlich, dass in Ps 119 die Vorstellung von JHWH als einem Toralehrer einen neuen Aspekt gewinnt, wenn »das betende Ich ... JHWH um Erschließung der verschiedenen Bedeutungsebenen des Gebotstextes« bittet (165). Ausblick aus alttestamentlicher Perspektive Leider ist es in dem hier zur Verfügung stehenden Rahmen nur möglich, exemplarisch auf einige zentrale Themen einzugehen, die im Kontext des Gebietes »Lehren und Lernen im Alten Testament« stehen. Diese Thematik wird die alttestamentliche Forschung sicher noch auf längere Zeit hin beschäftigen: Im Hinblick auf die praktische Seite des Lernens bereitet J OACHIM S CHAPER gegenwärtig eine Publikation mit dem Titel »Die Textualisierung der Religion« vor, die die Beiträge der von ihm initiierten Konferenz »Textualisierung der Religion. Juda und Jerusalem zwischen Kult und Text vom 7. bis 5. Jh. v. Chr.« (Tübingen 8.-10.7.2005) versammelt. 20 Auch im Hinblick auf das Deuteronomium ist eine umfassende Behandlung der Thematik noch ein Desiderat. Hier Tora« dem Beter Rettung »in einer feindlichen, ja geradezu chaotisch erlebten Welt« ist. B EATE E GO s Artikel »Zwischen Gabe und Aufgabe - Theologische Implikationen des Lernens in der alttestamentlichen und antik-jüdischen Überlieferung« (1-26) betont den Aspekt der Verinnerlichung der Tora durch die göttliche Unterweisung. Zudem enthält die Arbeit auch Ausführungen zu den anthropologischen und eschatologischen Implikationen des Motivs sowie einen Ausblick auf Qumran und die rabbinischen Quellen. Während in Psalm 119 die Bitte um Belehrung eine entscheidende Rolle spielt, deuten die Texte von Qumran darauf hin, dass diese göttliche Belehrung bereits erfolgt ist. Die Betenden markieren somit, dass sie sich bereits in der Gegenwart in einer besonders qualifizierten Zeit befinden. Die Vorstellung als solche dient nun auch dazu, die Lehrautorität eines menschlichen Lehrers zu untermauern. 19 Einen Überblick über die gesamte Motivik in der Hebräischen Bibel gab jüngst K ARIN F INSTERBUSCH in einer monographischen Studie, in der alle einschlägigen Belege von Gott als Lehrer, die sich in der Hebräischen Bibel be- ZNT 21 (11. Jg. 2008) 7 Beate Ego / Christian Noack Lernen und Lehren als Thema alt- und neutestamentlicher Wissenschaft 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 13 Uhr Seite 7 und Vorsteher) zu Lehrern der Gemeinde (1Tim 5,17f.; Tit 1,9), denen die »heilsame« Lehre anvertraut ist. In der lukanischen Apostelgeschichte wird Paulus zum souveränen Rhetor und Lehrer, der sich u.a. mit den Philosophen seiner Zeit misst (Apg 17) und in der Schule des Tyrannos zwei Jahre lang seine Schüler lehrt (Apg 19,9f.). Jakobus 3,1 warnt die Gemeinden: »Werdet nicht alle Lehrer! «, 25 während der Autor des Hebräerbriefes bedauert, dass die Hörer unmündige Anfänger geblieben sind, statt schon längst Lehrer zu sein (Hebr 5,11-13). Ignatius möchte mit allen Gläubigen als »Schüler Jesu Christi, unseres einzigen Lehrers« erfunden werden (IgnMagn 9,1). Seine polemische Ermahnung gegenüber Tendenzen, nach jüdischer Lebensweise zu leben, lautet: »Darum wollen wir, die wir seine Jünger geworden sind, lernen, nach christlicher Lebensweise (christianismos) zu leben.« (ebd.) Das Urchristentum - eine Lehr- und Lerngemeinschaft? Provokativ bezeichnete E.A. J UDGE in einem Artikel aus dem Jahr 1960 die frühen Christen als scholastische Gemeinschaft. 26 Damit stieß er eine noch immer aktuelle Forschungsdebatte an, in der kontrovers diskutiert wird, welche Erklärungskraft es hat, die frühchristliche Religion in die Nähe von philosophischen Schulen zu stellen. Zunächst aber stellt sich die Frage, ob die Zuschreibungen der 2. und 3. Generation in Hinblick auf Jesus und Paulus als Lehrer zutreffend sind. Damit sind weitere Fragestellungen verbunden: Wie lässt sich der historische Jesus angemessen als »Lehrer« verstehen? Lässt sich der Überlieferungsprozess der mündlichen Lehre Jesu bis hin zu den Evangelien mit Hilfe eines Lehreramtes in den urchristlichen Gemeinden erklären? War Paulus ein Lehrer, der bereits zu Lebzeiten eine »Schule« gründete, die in ihren Nachwirkungen besonders in den Deuteropaulinen zu greifen ist? a) Jesus als Lehrer Dass Jesus auch gelehrt hat, dass seine Anhänger von ihm auch gelernt haben, das ist unumstritten und wird in fast jeder Darstellung des »historischen Jesus« auch thematisiert. Die Frage jedoch müsste man - wie bereits G. Braulik eingefordert hat - den diachronen Aspekt mit bedenken und nach der konkreten historischen Verankerung der in den verschiedenen Schichten der im Dtn enthaltenen Lernkonzepte in ihrer Relation zueinander fragen. Nachdem die Thematik von Gott als Lehrer nun für die Hebräische Bibel monographisch aufgearbeitet wurde, gilt es, gleichsam »die Ränder« noch einmal differenziert zu untersuchen: So stellt sich die Frage nach der Verbindung der Motivik mit den Nachbarkulturen sowie ihrer Entwicklung in der hellenistischen Zeit. Eng verwandt mit der Vorstellung von Gott als Lehrer ist das Konzept, wonach Gott als Erzieher - sowohl des Volkes als auch des Einzelnen - fungiert. Dieses Konzept ist theologisch insofern besonders herausfordernd, da hier das für moderne Leser provokante Motiv des strafenden Gottes eine wichtige Rolle einnimmt. Sobald die Aufarbeitung dieses Komplexes publiziert ist, 21 wäre die Relation der Vorstellung von »Gott als Erzieher« zu der Thematik von »Gott als Lehrer« eingehender zu untersuchen. Gerade im Hinblick auf den theologischen Aspekt des Lernens werden künftig auch für die moderne Lebenswelt eher überraschende Konnotationen wie die doxologische Seite mit zu bedenken sein 22 sowie die Ritualisierung des Lernens, wie sie bereits in Neh 8 zu Tage tritt und dann bis in die rabbinische Zeit hinein von Bedeutung sein soll. 23 Auf die Bedeutung der Untersuchung der Lehr- und Lernthematik für die hellenistische Zeit wird am Ende dieses Beitrags noch eingegangen. Teil II: Neues Testament (Christian Noack) Christliche Texte der 2. und 3. frühchristlichen Generation (ca. 70-120 n. Chr.) verwendeten das Wortfeld »Lehrer / Schüler, lehren / lernen«, um einen markanten Charakterzug des neuen Glaubens hervorzuheben. Der Befund ist eindeutig: Die vier Evangelien beschreiben Jesus als vollmächtigen Rabbi und Lehrer, der einen Kreis von Schülern und Schülerinnen um sich sammelte. 24 Die Pastoralbriefe machen Paulus zum Lehrer der Völker (1Tim 2,7), die Gemeindeleiter (Presbyter 8 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Neues Testament Aktuell »Wie lässt sich der historische Jesus angemessen als ›Lehrer‹ verstehen? « 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 13 Uhr Seite 8 hang, auf die sich jeder einlassen muss, der sich Jesus dauerhaft anschließen will: den Wanderradikalismus.« 34 Die Ansätze von Ebner und Riesner sind von zwei weiteren Theorien zu unterscheiden: von der Deutung Jesu als antiapokalyptischen kynisch gesinnten Wanderlehrer, die vor allem von einigen amerikanischen Forschern 35 favorisiert wird, als auch von der These, Jesus sei vor allem nach Analogie der jüdischen (Proto-)Rabbinen zu verstehen. 36 Dennoch bleiben Gemeinsamkeiten zu den Lehr- und Lebensformen des Kynismus und des Rabbinismus für das Verständnis Jesu als Lehrer bedeutsam, weil sie Indizien dafür sein können, dass Jesus näher an den Hellenismus und damit an hellenistische Ausbildungs- und Bildungspraktiken herangerückt werden kann, als es in der Regel geschieht. Vor allem aber ist auch die altisraelitische Tradition des Propheten, der seine Schüler beruft und lehrt, zum Verständnis der Lehrtätigkeit Jesu heranzuziehen. 37 b) Die urchristlichen Lehrerinnen und Lehrer Eher beiläufig stößt man bei der Lektüre des Neuen Testaments auf ein sehr frühes »Gemeindeamt«, das der »Lehrer«. Paulus erwähnt es in 1Kor 12,28: »Gott hat in der Gemeinde zum ersten Apostel, zum zweiten Propheten, zum dritten Lehrer eingesetzt.« Nach Apg 13,1 soll es in der Gemeinde von Antiochia »Propheten und Lehrer« gegeben haben, zu denen auch Barnabas und Paulus gehörten. In Gal 6,6 (vgl. dazu 1Tim 5,17) ermahnt Paulus: »Wer im Wort (gr. logon) unterrichtet wird, soll dem Katecheten von allen Gütern etwas mitgeben (oder: an allen Gütern Anteil geben).« Mt 13,52 und Mt 23,34 erwähnen christliche Schriftgelehrte (gr. grammateis). Lassen sich die Aufgaben dieser Lehrer, die Probleme, die sie lösen sollten, näher bestimmen? Die Forschung ist auf Rückschlüsse angewiesen. A.F. Z IMMER - MANN hat in seiner Monographie »Die urchristlichen Lehrer« 38 die verschiedenen Vorschläge bis 1978 zusammengefasst: Sie hatten eine paränetische Aufgabe (bei der sie Jesuslogien verwendeten), sie praktizierten (christologische) Schriftauslegung, sie waren Tradenten des Evangelienstoffes und der frühchristlichen Bekenntnisformeln. Sein eigener sehr aufwendig hergeleiteter und auf die als didaskaloi bezeichneten Lehrer begrenzter ist, wie diese Lehrtätigkeit Jesu angemessen zu charakterisieren und in sein Gesamtwirken einzuordnen ist (Jesus als Prophet, als Wundertäter, als Exorzist, als Messias…). Eine Maximalposition ist von R. R IESNER entwickelt worden: Jesus sei als »messianischer Lehrer der Weisheit« zu verstehen. 27 Sein Wirken als Lehrer gehöre ins Zentrum seines Selbstverständnisses, da gerade die Lehrtätigkeit ein wichtiger Aspekt atl.-jüdischer Messiaserwartung gewesen sei. 28 Wenn Jesus als messianischer Lehrer von seinen Schülern wahrgenommen wurde, dann ist zu vermuten, dass für sie seine Sprüche (die nach Riesner als Lehrsummarien verstanden werden sollten) und Gleichnisse höchste Autorität besaßen. 29 Riesner möchte plausibel machen, dass Jesus selbst durch bewahrende Formung einen sorgfältigen Anfang für »gepflegte Überlieferung« gelegt hat: Einprägsamkeit durch Kürze, Bildhaftigkeit, Symbolzahlen, eindringliche rhetorische Stilmittel und poetische Formung (Parallelismen, Strophen, Rhythmen, Reime, Chiasmen, Paarung). 30 Den Schülerkreis habe Jesus schon zu Lebzeiten zu lernenden Lehrern gemacht, indem er sie zu Multiplikatoren seiner Verkündigung ausbildete (»Aussendung«). Dazu brauchten sie einen Vorrat an Jesus-Spruchgut. 31 Als Lernmethoden der Jünger diskutiert Riesner u.a. 32 wiederholtes Hören, imitatio magistri, Fragen, Auswendiglernen, Kantillieren. Eine Minimalposition markiert M. E BNER : 33 Jesus sei davon überzeugt gewesen, dass das Reich Gottes bereits begonnen habe. Darum habe er eine Lebensform praktiziert, die dem schon präsenten Reich Gottes entsprechen sollte: Nichtsesshaftigkeit, die ganz auf die Vorsorge Gottes vertraut. Jesu Lehre sei in erster Linie eine besondere Lebensführung. Die authentischen von der atl. Spruchweisheit beeinflussten Sprüche Jesu sind nach Ebner in diesem pragmatischen Kontext situative, schlagfertige Einfälle, die den provokativen Lebensstil begründen, verteidigen oder rechtfertigen sollen. Zu Lk 14,26 notiert Ebner: »Anstelle einer Aufforderung oder gar Werbung wird hier für den, der Jesu Schüler werden will, eine denkbar harsche Bedingung genannt: Hass gegenüber den engsten Familienangehörigen, die einzeln aufgezählt werden. Das ist der Preis für den Eintritt in die ›Schule‹ Jesu. Er lässt sich nicht durch die besonderen Lehrinhalte erklären, sondern steht mit der Lebensform im Zusammen- ZNT 21 (11. Jg. 2008) 9 Beate Ego / Christian Noack Lernen und Lehren als Thema alt- und neutestamentlicher Wissenschaft 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 13 Uhr Seite 9 c) Paulus als Lehrer und die Paulusschule Paulus beschreibt sich selbst als Apostel oder Knecht Christi, nie als Lehrer (gr. didaskalos). Möglicherweise hatte dies damit zu tun, dass diese Bezeichnung im Kontext jüdischer Lebensformen an den pharisäischen Gesetzeslehrer erinnerte, Paulus sich aber nicht als Lehrer des Gesetzes, sondern als Zeuge des Evangeliums von Jesus Christus verstand. Faktisch hat Paulus jedoch im Rahmen seiner Missionstätigkeit und in der Betreuung seiner Gemeinden als Lehrer gewirkt. 47 Im 1Kor antwortet Paulus auf einige Fragen der Gemeinde, die sich durch diese Anfragen auf eine Schüler-Lehrer-Interaktion mit Paulus einlässt. Der von Paulus verwendete Stil der sogenannten Diatribe gehört, worauf S.K. S TOWERS hingewiesen hat, 48 in den Kontext von Lehrer-Schüler- Kommunikationen, wie sie für philosophische Schulen typisch waren. 49 A. M ALHERBE hat am Beispiel des 1. Thessalonicherbriefes gezeigt, dass Paulus in Analogie zur philosophischen Seelenführung als Seelsorger, als »Psychagoge« wirkte. 50 Diese Psychagogie kann im Philipperbrief den gesamten Briefkorpus durchziehen. 51 H. C ONZEL - MANN ist dafür eingetreten, dass Paulus bei der Erstellung der Briefe zum Teil auf vorgeprägte von jüdischer Weisheit bestimmte Argumentationsgänge zurückgreift, deren Aufarbeitung »ausgesprochenen Schulcharakter« 52 zeigt: »Man wird sogar noch einen Schritt weitergehen und annehmen können, daß im Hintergrund ein von Paulus bewußt organisierter Schulbetrieb, eine ›Schule des Paulus‹, zu erkennen ist, wo man ›Weisheit‹ methodisch betreibt bzw. Theologie als Weisheitsschulung treibt… Als Sitz der Schule bietet sich Ephesus an.« 53 In seiner umfangreichen Studie »Schulen im Neuen Testament« zeigt sich T H . S CHMELLER zwar skeptisch gegenüber der These Conzelmanns, Paulus habe einen Schulbetrieb eingerichtet, kann aber im Blick auf das Verhältnis von Paulus zu seinen Gemeinden positiv feststellen, dass der Vergleich mit den Praktiken im philosophischen Studium sehr erhellend ist: »Es hat sich gezeigt, daß in vielen Hinsichten die philosophische Schule tatsächlich ein angemessenes Modell ist, um die soziale Wirklichkeit der Tätigkeit und der Gemeinden des Paulus zu verstehen. Die Deutung der Christen als eine Schule, die Galen Vorschlag lautet: Sie bildeten im Judenchristentum einen »christlich-pharisäischen Kreis von Lehrern…, die einen judenchristlichen Protorabbinat darstellte(n).« 39 Sie seien für die »gepflegte« Jesusüberlieferung verantwortlich gewesen. Allerdings ist dabei unklar, in welchem Verhältnis diese Funktion zu der Rolle der apostolischen Augenzeugen der Jesusgeschichte stand. Papias schildert einen Jesusworte und -anekdoten lehrenden Petrus (Euseb, Historia Ecclesiastica III 39,15). Manche Indizien sprechen dafür, dass Petrus als theologischer Lehrer und Tradent von Jesusüberlieferung eine bedeutende Rolle gespielt hat. 40 Bei Zurückhaltung gegenüber solchen personalisierenden Deutungen des Traditionsprozesses muss dennoch gefragt werden, welche Rolle Lehr- / Lernprozesse bei der »Erinnerung« an Jesus gespielt haben. 41 In der Studie »Lehrende in den neutestamentlichen Schriften« von H. S CHÜRMANN 42 wird ein offensichtlicher, aber meist nicht thematisierter Tatbestand hervorgehoben: »…alle Neutestamentlichen Schriften (und schon die in ihnen verarbeiteten Traditionen) verdanken ihr Entstehen unverkennbar der überliefernden und applizierenden Lehrfunktion von urchristlichen Männern 43 , denen in besonderer Weise Lehrcharismen eigneten.« 44 Weiter: »Eine gründliche Untersuchung des Neutestamentlichen Schrifttums auf verfestigte Sprucheinheiten und ›frühe Kompositionen‹ sowie von stereotypen Lehrgehalten und von Formelgut könnte uns die urchristlichen Lehrer in der Werkstatt zeigen.« 45 Zu fragen wäre außerdem, welche Rolle Lehrer im Umfeld der Taufe spielten. Zu denken ist an eine vorbereitende und / oder nachbereitende Taufkatechese, die mit Jesuslogien, Jesusgeschichte und Deutung dieser Geschichte vertraut machte. 46 Grundsätzlich könnte noch intensiver untersucht werden, welche kommunikativen Probleme in den Gemeinden mit der Tätigkeit von Lehrerinnen und Lehrern gelöst wurden. Manches weist z.B. darauf hin, dass es in den frühen Gemeinden eine starke Inanspruchnahme von Lehre durch lernwillige, ja neugierige Schülerinnen (1Tim 5,13! ) und Schüler gab, was unter den Lehrern und Lehrerinnen u.a auch zu Autoritätskonflikten und zu streiterzeugenden Konkurrenzsituationen führte. Sehr deutlich spiegelt sich dies schon in den authentischen paulinischen Briefen wider. 10 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Neues Testament Aktuell 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 13 Uhr Seite 10 Ausblick aus neutestamentlicher Sicht Der historische Rückblick auf die erste frühchristliche Generation von Jesus bis Paulus zeigt, dass die Charakterisierungen der zweiten und dritten Generation zu Recht ein markantes Merkmal verstärken, das von Anfang an eine wichtige Rolle spielte: die Jesus- und Osterbewegung war auch eine Lehr- und Lerngemeinschaft, in der Lehren mit neuen »inkongruenten Perspektiven« und das Lernen einer riskanten »devianten« Lebensführung in einem wechselseitigen Anregungsprozess standen. Die Attraktivität der frühchristlichen Gemeinden bestand u.a. in den Bildungsmöglichkeiten, 59 die mit den christologischen und soteriologischen Entwürfen verbunden waren (Christus als Weisheit und Logos; Erlösung als Erkenntnis Christi und Teilhabe an seinem Geschick, Teilhabe am vollkommenen Gesetz der Freiheit usw. …). Zugespitzt formuliert handelte es sich bei diesen Lehr- / Lern-Kommunikationen um eine Form praxisorientierter »religiös-sittlicher Erwachsenenbildung«, die mit der tertiären Bildung der Philosophenschulen sehr gut vergleichbar ist. 60 Im Anschluss an Überlegungen von P. P ILHOFER und T H . S CHMELLER könnte genauer untersucht werden, ob eine doch eher kontinuierliche Entwicklung von diesen frühchristlichen Lehr- / Lernkommunikationen des 1. Jahrhunderts hin zu denen des 2. und 3. Jahrhunderts plausibilisiert werden kann. 61 Der Blick der ntl. Forschung hat sich bisher schwerpunktmäßig auf das Lehren gerichtet. 62 Bezüglich der Beobachtung des Lernens besteht weiterer Forschungsbedarf. Das betrifft die Methoden des Lernens im frühen Christentum (u.a. hören, fragen, lesen, memorieren, üben, den Lehrer beobachten und handelnd nachahmen, nachfolgen, prüfen, nachdenken, Grundhaltung der Aufmerksamkeit, des Gehorsams und des Respekts gegenüber der Lehrperson), die Medien des Lernens (mündliche Lehre wie Lesungen, Erzählungen, Gleichnisse, Vortrag, Lehrgespräche, Streitgespräch, Instruktion, Paränese, Lehrsummarien, Glaubensformeln, Psalmen / Hymnen; der Lehrer als Lehrender und als derjenige, der die Lehre vorlebt; schriftliche Lehre wie Brief, Schriftrolle, Notizbuch, Kodex, Bibliothek) oder auch Lerntheorien (z.B. Gott und der Heilige Geist als Lehrer). Was die Bildungsvoraussetzunim 2. Jh. vornimmt, ist insofern schon für die Mitte des 1. Jh.s passend. Hinter den Parteiungen in Korinth (1Kor 1-4) steht das Selbstverständnis von Gemeindegruppen als konkurrierende Schulen. Die christliche Botschaft wurde als eine Philosophie gedeutet, die Missionare als Lehrer, die Gemeindeglieder als unterschiedlich weit fortgeschrittene Schüler … Wenn Paulus sich als Vater und Pädagogen der Gemeinde bezeichnet (1Kor 4,14-21), präsentiert er sich damit als Lehrer mit klarem Vorrang gegenüber anderen Lehrern.« 54 Zu den schulischen Elementen in den paulinischen Gemeinden führt Schmeller aus: Die Mitarbeiter des Paulus können mit den fortgeschrittenen, am Lehrbetrieb aktiv beteiligten Studenten verglichen werden. Paulus mache den Eindruck, Schulgründer zu sein, wobei die hohe Verbindlichkeit, die er der Jesustradition zuschrieb, mehr darauf hindeute, dass Jesus die Rolle des Schulgründers innehatte. Schultypisch seien die erkennbaren Überlieferungs- und Auslegungstätigkeiten wie auch die Protreptik und Psychagogik des Paulus. 55 Können die Deuteropaulinen als Publikationen einer Paulusschule gedeutet werden, die nach dem Tod des Paulus weiterhin Bestand hatte? Der Kolosserbrief scheint in dieser Hinsicht besonders vielversprechend zu sein. Anregungen von Conzelmann aufnehmend, hat sich A. S TANDHAR - TINGER für die Deutung des Kol als Zeugnis einer Paulusschule eingesetzt. 56 Anstatt von schriftlichen Kenntnissen der Paulusbriefe auszugehen, postuliert sie eine mündliche Tradition, die sich in Diskussionen der Paulusgruppe ausgebildet habe und im Kol fruchtbar gemacht worden sei: »Die Hochschätzung mündlicher Überlieferung in der Antike läßt es als wahrscheinlich erachten, daß die paulinischen Reden und Diskussionen in den Gemeinden mündlich tradiert wurden.« 57 Die paulinische Theologie sei dabei nicht Ergebnis einer Einzelperson, sondern habe sich im Prozess gemeinsamen Überlegens und Diskutierens jüdischer Tradition und Überlieferung im Kreis der Mitarbeiter geformt: »Die ›Weisheitsschule‹ des Paulus…war mehr ein Diskussionszusammenhang als ein von einem Lehrer oder Meister dominiertes Phänomen.« 58 Darum kann der Kolosserbrief im Kontext paulinischer Schultradition selbstbewusst eigene Akzente setzen. ZNT 21 (11. Jg. 2008) 11 Beate Ego / Christian Noack Lernen und Lehren als Thema alt- und neutestamentlicher Wissenschaft 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 11 nisierten Judentums an und verwenden sie kritisch-kreativ für Anknüpfungswie Abgrenzungsstrategien, und zwar sowohl in Beziehung zu jüdischen wie auch zu römisch-hellenistischen Lebensformen. Schließlich stellt sich die hermeneutische Frage, welche Relevanz alttestamentliche, antikjüdische und neutestamentliche Lehr- und Lernkonzepte für die heutige pädagogische und kirchliche Arbeit haben können. 68 Dass hier keine vorschnellen Applikationen am Platze sind, liegt auf der Hand. Dennoch wäre es lohnend, diese Frage in Zusammenarbeit mit der Religionspädagogik und der Lernpsychologie einmal umfassender anzugehen. 69 l Anmerkungen 1 Vgl. hierzu die richtungsweisende Studie von J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. 2 Die Literatur zu diesem Themenbereich ist immens; vgl. die Hinweise bei W.J. Ong, Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen 1987 (englisch: Orality and Literacy. The Technologizing of the Word, London 1982); J. Goody, Entstehung und Folgen der Schriftkultur, Frankfurt 1986; L.D. Reynolds / N.G. Wilson, Scribes and Scholars. A Guide to the Transmission of Greek and Latin Literature, Oxford 1991; S. Niditch, Oral World and Written Word. Ancient Israel Literature Library of Ancient Israel, Louisville, KY 1996; W.M. Schniedewind, How the Bible became a Book. The Textualization of Ancient Israel, Cambridge 2004 u.a. Hochinteressant im Hinblick auf die theologische Bedeutung der Schriftlichkeit im Alten Israel ist der Beitrag von J. Schaper, A Theology of Writing: The Oral and the Written, God as Scribe in the Book of Deuteronomy, in: L.J. Lawrence / M.I. Aguilar (Hgg.), Anthropology and Biblical Studies. Avenues of Approach, Leiden 2004. 3 S. in diesem Kontext die Publikationen seit 1990 in chronologischer Reihenfolge: R. Borchert, Erziehung im Alten Testament, in: H. Mercker u.a. (Hg.), Ökumenisch Leben. Festgabe für Helmut Fox zum 60. Geburtstag (Landauer Schriften zur Theologie und Religionspädagogik 3), Mainz 1990, 21-41; D.W. Jamieson- Drake, Scribes and Schools in Monarchic Judah. A Socio-Archaeological Approach (JSOT 109), Sheffield 1991; R. Lux, Die Weisen Israels. Meister der Sprache - Lehrer des Volkes - Quelle des Lebens, Leipzig 2002; R. Liwak, »Was wir gehört und kennengelernt und unsere Väter uns erzählt haben« (Ps 78,3). Überlegungen zum Schulbetrieb im Alten Israel, in: E. Axmacher / K. gen bei den Lernenden / Lehrenden betrifft (Elementarunterricht, Synagogenlesung und -predigt, protorabbinisches Torastudium, Progymnasmata beim Grammatiker, Ephebie, rhetorisches oder philosophisches Studium) 63 liegen bereits eine Reihe von Untersuchungen vor. Was Paulus anbelangt, geht der Trend der Forschung dahin, mindestens eine Ausbildung beim Grammatiker inklusive progymnasmatischer Übungen anzunehmen, darüber hinaus ein intensives methodisches Torastudium als Pharisäer und Protorabbiner. 64 In der korinthischen Gemeinde scheint es Gemeindeglieder gegeben zu haben, die sich ein Urteil über die rhetorischen Fähigkeiten des Paulus erlaubten (ephebische Ausbildung). 65 Wie hoch der Prozentsatz analphabetischer Gemeindeglieder war, ist kaum abzuschätzen; Illiteralität musste aber kein Hindernis für Bildungsinteresse sein in einer Kultur, in der mündliche Formen des Lehrens im Vordergrund standen. 66 Ausblick aus alt- und neutestamentlicher Perspektive (Beate Ego und Christian Noack) Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Herausforderungen einer multikulturellen Lebenswelt wird künftig auch der Untersuchung von Lernkonzeptionen in der hellenistischen und römischen Zeit Bedeutung zu kommen. Das antike Judentum muss sich ab der Seleukidenzeit in immer stärkerem Maße gegenüber hellenistischen Bildungseinflüssen behaupten. Dabei kommt es freilich nicht zu einer absoluten Frontstellung gegenüber solchen Gedanken, sondern es findet vielmehr eine Integration hellenistischer Vorstellungen in die Denkwelt des antiken Judentums statt. Lehren und Lernen wird nun wieder - wie bereits zur Zeit der Entstehung des Deuteronomiums - lebenswichtig für die Identitätsbewahrung des Gottesvolkes. 67 Dieser Vorgang gehört auch zu den Voraussetzungen der Entstehung und Formation des frühen Christentums. Die sich hier erst konstituierende Identitätsfindung und die damit verbundenen Lernprozesse knüpfen an den vielfältigen Bildungstraditionen des antiken helle- 12 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Neues Testament Aktuell »Die Attraktivität der frühchristlichen Gemeinden bestand u.a. in den Bildungsmöglichkeiten, die mit den christologischen und soteriologischen Entwürfen verbunden waren.« 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 12 Hermeneutik der biblischen Gottesrede. FS Helen Schüngel-Straumann, Paderborn 2006, 215-225; K. Finsterbusch, JHWH als Lehrer der Menschen. Ein Beitrag zur Gottesvorstellung der Hebräischen Bibel (BTS 90), Neukirchen-Vluyn 2007. Für weitere Literaturhinweise s. die nun folgenden Ausführungen. 4 Vgl. u.a. H. Brunner, Altägyptische Erziehung, Wiesbaden 1957; P.D. Gesche, Schulunterricht im Babylonien im ersten Jahrtausend v. Chr. (AOAT 275), Münster 2001; S.N. Kramer, Die Sumerische Schule, WZ Halle-Wittenberg 5, (4 / 1956), 695-704. 5 Einen ausführlichen und instruktiven Forschungsüberblick zu dieser komplexen Diskussion gibt Breitmaier, Lehren, 49-87, sowie Delkurt, Erziehung nach dem Alten Testament, 240-246; Kieweler, Erziehung, 235- 240; s.a. die umsichtigen Ausführungen bei Lux, Die Weisen Israels, 63-71. Als Befürworter der Existenz von Schulen sind u.a. zu nennen: A. Klostermann, Schulwesen im Alten Israel, in: N. Bonwetsch u.a (Hg.), Theologische Studien. FS Theodor Zahn, Leipzig 1908; H.-J. Hermisson, Studien zur israelitischen Spruchweisheit (WMANT 28), Neukirchen 1968; Crenshaw, Education, 85-113; B. Lang, Schule und Unterricht im Alten Israel, in: M. Gilbert (Hg.), La Sagesse de l´Ancient Testament (BETL 51), Paris u.a. 1979, 186-201. Kritisch dagegen sind u.a. L. Dürr, Das Erziehungswesen im Alten Israel und im Alten Orient, MVAB 36 / 2, Leipzig 1932; G. Wanke, Der Lehrer im Alten Israel, in: J. Prinz von Hohenzollern / M. Liedtke (Hgg.), Schreiber, Magister, Lehrer. Zur Geschichte und Funktion eines Berufsstandes. Schriftenreihe zum Bayerischen Nationalmuseum Ichenhausen (Zweigmuseum des Bayerischen Nationalmuseums 8), Bad Heilbrunn / Obb. 1989, 50-59. Für weitere Literaturhinweise s. den Überblick bei Breitmaier und Delkurt. 6 A. Lemaire, Les écoles et la formation de la Bible dans l´Ancien Israël (OBO 39), Freiburg / Schweiz 1981; s. hierzu auch bereits Lang, Schule, 187f. 7 S. hierzu Jamieson-Drake, Scribes, 148ff. u.ö., der in seiner Darstellung darauf hinweist, dass bei der Untersuchung von Schriftlichkeit und der Frage nach der Existenz von Schulen immer auch das entsprechende sozioökonomische Umfeld mit zu betrachten ist. Zum Anwachsen der Literalität ab dem 8. Jh. bzw. 7. Jh. s.u.a. H.M. Niemann, Kein Ende des Büchermachens in Israel und Juda (Koh 12,12) - Wann begann es? , Bi- Ki 53 (1998), 127-134; Carr, Writing on the Tablet, 165; Schniedewind, How the Bible became a Book, 98-106; A. Knauf, Die Umwelt des Alten Testaments (NSK.AT 29), 216. Eine Schrift- und Buchkultur in einem umfassenderen Sinne entsteht freilich erst in hellenistischer Zeit s.a. Carr, Writing on the Tablet, 177-199; M. Hengel, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jh.s v. Chr. (WUNT 10), 3., durchgesehene Aufl., Tübingen 1988, 120-152. 8 So bereits Hengel, Judentum und Hellenismus, 145.243. Freilich gibt es auch Stimmen, die hier von einem metaphorischen Sprachgebrauch ausgehen wollen; s. z.B. Kaiser, Erziehung, 223; Lohmann, Erziehung, 215. Authentische Einblicke in das religiöse Lernen von Juden zur Zeit des Zweiten Tempels geben auch die Handschriften-Funde vom Toten Meer. Sie belegen, dass in der Gemeinde der Essener ein intensives Schwarzwäller (Hgg.), Belehrter Glaube. FS J. Wirsching, Frankfurt u.a. 1994, 175-193 (n.v.); F. Golka, Die israelitische Weisheitsschule oder »Des Kaisers neue Kleider«, in: ders., Die Flecken des Leoparden. Biblische und afrikanische Weisheit im Sprichwort (AzTh 78), Stuttgart 1994, 11-23; G.I. Davies, Where there Schools in Ancient Israel? , in: J. Day / R. Gordon / H.G.M. Williamson (Hgg.), Wisdom in Ancient Israel, Cambridge 1995, 199-211; J.L. Crenshaw, Education in Ancient Israel: Across the Deadening Silence, New York 1998; M. Reitemeyer, Weisheitslehre als Gotteslob. Psalmentheologie im Buch Jesus Sirach (BBB 127), Berlin / Wien 2000; M. Kepper, Hellenistische Bildung im Buch der Weisheit, Studien zur Sprachgestalt und Theologie der Sapientia Salomonis (BZAW 280), Berlin 1999; H.V. Kieweler, Erziehung zum guten Verhalten und zur rechten Frömmigkeit. Die Hiskianische Sammlung, ein hebräischer und griechischer Schultext (BEATAJ 49), Frankfurt / M. u.a. 2001; Chr. Hardmeier, Weisheit der Tora (Dtn 4,5-8). Respekt und Loyalität gegenüber JHWH allein und die Befolgung seiner Gebote - ein performatives Lehren und Lernen, in: ders. / A. Kessler / A. Ruwe (Hgg.), Freiheit und Recht. Festschrift für Frank Crüsemann zum 65. Geburtstag, Gütersloh 2003, 224-254; H. Delkurt, Erziehung nach dem Alten Testament, JBTh 17 (2002), 227-253; K. Finsterbusch, Die kollektive Identität und die Kinder. Bemerkungen zu einem Programm im Deuteronomium, JBTh 17 (2002), 99-120; F. Crüsemann, Die Bildung des Menschengeschlechts. Überlegungen zum Thema »Bildung« im Alten Testament, in: ders., Maßstab Tora. Israels Weisung für christliche Ethik, Gütersloh 2003, 269-288; I. Breitmaier, Lehren und Lernen in der Spur des Ersten Testaments. Exegetische Spuren zum 5. Buch Mose und dem Sprüchebuch aus religionspädagogischer Perspektive (Beiträge zum Verstehen der Bibel 8), Münster 2004; B. Ego / H. Merkel (Hgg.), Religiöses Lernen in der biblischen, frühjüdischen und frühchristlichen Überlieferung (WUNT 180), Tübingen 2004 (mit zahlreichen Aufsätzen, auf die im Folgenden noch verwiesen wird); O. Kaiser, Erziehung und Bildung in der Weisheit des Jesus Sirach, in: A. Kunz-Lübcke / R. Lux (Hgg.), »Schaffe mir Kinder ...« Beiträge zur Kindheit im Alten Israel und seinen Nachbarkulturen (Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte 21), Leipzig 2004, 223-251; D. Carr, Writing on the Tablet of the Heart. Origins of Scripture and Literature, Oxford 2005; K. Finsterbusch, Weisung für Israel. Studien zu religiösem Lehren und Lernen im Deuteronomium in seinem Umfeld (FAT 44), Tübingen 2005; I. Lohmann, Erziehung und Bildung im antiken Israel und im frühen Judentum, in: J. Christes / R. Klein / Chr. Lüth (Hgg.), Handbuch der Erziehung und Bildung in der Antike, Darmstadt 2006, 183-222; I. Müllner, »Schreibe auf die Tafel deines Herzens« (Spr 3,3). Aspekte des Lernens in der biblischen Weisheitsliteratur. Antrittsvorlesung gehalten am 11. Mai 2005, in: Biblisches Forum 2006 (http: / / www.bibfor.de? page_id=7); dies.: Das hörende Herz. Weisheit in der Hebräischen Bibel, Stuttgart 2006; dies., Lehrerin und Gegenstand zugleich. Didaktische Aspekte der personifizierten Weisheit in Spr 1-9, in: I. Riedel-Spangenberger / E. Zenger (Hgg.), »Gott bin ich, kein Mann.« Beiträge zur ZNT 21 (11. Jg. 2008) 13 Beate Ego / Christian Noack Lernen und Lehren als Thema alt- und neutestamentlicher Wissenschaft 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 13 2007; die verschiedenen Beiträge werden an unterschiedlichen Publikationsorten erscheinen. 21 Zu dieser Thematik vgl. die kurz vor dem Abschluss stehende Dissertation von D. Betz, Gott als Erzieher im Alten Testament. Eine semantisch-traditionsgeschichtliche Untersuchung der Begrifflichkeit jsr/ mûsa¯r; paideuo¯ mit Gott als Subjekt in den Schriften des AT. 22 S. zu diesem Aspekt die Arbeit von Reitemeyer, Weisheitslehre. 23 S. hierzu die Arbeit von Steins, Inszenierung. 24 Vgl. S. Byrskog, Das Lernen der Jesusgeschichte nach den synoptischen Evangelien, in: Ego / Merkel, Religiöses Lernen, 191-209. Zum MtEv vgl. S. Byrskog, Jesus the Only Teacher. Didactic Authority and Transmission in Ancient Israel, Ancient Judaism and the Matthean Community (ConBNT 24), Stockholm 1994; J.Y.-H. Yieh, One Teacher. Jesus’ teaching role in Matthew’s Gospel (BZNW 124), Berlin u.a. 2004; zum MkEv vgl. V.K Robbins, Jesus the Teacher: A Socio- Rhetorical Interpretation of Mark, Philadelphia 1984. Vgl. auch M. Karrer, Der lehrende Jesus, Neutestamentliche Erwägungen, ZNW 83 (1992), 1-20. 25 J. Wanke, Die urchristlichen Lehrer nach dem Zeugnis des Jakobusbriefes, in: R. Schnackenburg u.a. (Hg.), Die Kirche des Anfangs. FS H. Schürmann, Leipzig 1978, 489-511. 26 E.A. Judge, The Early Christians as a Scholastic Community, JRH 1 (1960-61), 4-15 und 125-137; deutsche Übersetzung in: W.A. Meeks (Hg.), Zur Soziologie des Urchristentums (TB 62), München 1979, 131-164. 27 R. Riesner, Jesus als Lehrer (WUNT II/ 7), Tübingen 3 1988, 499 (eine überarbeitete Neuauflage ist vom Verlag für 2008 angekündigt). 28 Riesner, Jesus als Lehrer, 304-352. 29 Riesner, Jesus als Lehrer, 352. 30 Riesner, Jesus als Lehrer, 392-404. 31 Vgl. dazu schon H. Schürmann, Die vorösterlichen Anfänge der Logientraditon. Versuch eines formgeschichtlichen Zugangs zum Leben Jesu, in: ders., Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zu den synoptischen Evangelien, Düsseldorf 1968, 39-64. 32 Riesner, Jesus als Lehrer, 430-453. 33 M. Ebner, Jesus - ein Weisheitslehrer? Synoptische Weisheitslogien im Traditionsprozeß (HBS 15), Freiburg i. Br. 1998; ders, Jesus von Nazareth in seiner Zeit. Sozialgeschichtliche Zugänge (SBS 196), Stuttgart 2003, 146 (Neuauflage Stuttgart 2007 unter dem Titel: »Jesus von Nazareth. Was wir von ihm wissen können«). 34 Ebner, Jesus von Nazareth in seiner Zeit, 146. 35 Z.B. G. Downing, The Social Contexts of Jesus the Teacher. Construction or Reconstruction? , NTS 33 (1987), 439-451; J.D. Crossan, Der historische Jesus, München 1994. 36 Vgl. B. Gerhardsson, Memory and Manuscript. Oral Tradition and Written Transmission in Rabbinic Judaism and Early Christianity (ASNU 22), Uppsala 1961; Tradition and Transmission in Early Christianity (CN 20), Lund 1964. 37 Vgl. z.B. D. Zeller, Die Entstehung des Christentums, in: ders. (Hg.), Christentum. Von den Anfängen bis zur konstantinischen Wende, Stuttgart u.a. 2002, 44; Riesner, Jesus als Lehrer, 277-298. Schriftstudium betrieben wurde. S. hierzu A. Steudel, »Bereitet den Weg des Herrn«. Religiöses Lernen in Qumran, in: Ego / Merkel, Religiöses Lernen, 99-116. 9 T. Vejola, Die Deuteronomisten als Vorgänger der Schriftgelehrten: Ein Beitrag zur Entstehung des Judentums, in: ders., Moses Erben: Studien zum Dekalog, zum Deuteronomium und zum Schriftgelehrtentum, Stuttgart u.a. 2000, 192-240. 10 Zur Rolle der Leviten als Vorläufer pharisäischer bzw. rabbinischer Lehrtradition s. J. Schaper, Priester und Leviten im achaemenidischen Juda. Studien zur Kult- und Sozialgeschichte Israels in achaemenidischer Zeit (FAT 31), Tübingen 2000, 300.305f. Vgl. zur gesamten Thematik die verschiedenen Beiträge in den Monographien von J.F. Gammie / L.G. Perdue, The Sage in Israel and the Near East, Winona Lake, Ind. 1990; J. Blenkinsopp, Sage, Priest, Prophet. Religious and Intellectual Leadership in Ancient Israel (Library of Ancient Israel), Louisville, Ky. 1995. 11 Vgl. hierzu u.a. die Hinweise bei L. Schwienhorst- Schönberger, Den Ruf der Weisheit hören. Lernkonzepte in der alttestamentlichen Weisheitsliteratur, in: Ego / Merkel, Religiöses Lernen, 141-156, 77; s.a. J. Eaton, Memory and Encounter: An Educational Ideal, in: H. McKay / D. Clines (Hgg.), Of Prophets’ Visions and the Wisdom of Sages. Essays in Honour of R. Norman Whybray on his Seventieth Birthday, Sheffield 1993, 179-191 (n.v.). 12 S. zu diesem Aspekt die instruktiven Ausführungen bei Schwienhorst-Schönberger, Ruf, 73f., sowie im Anschluss daran die Arbeiten von I. Müllner. 13 S.a. die früheren Aufsätze des Autors: Glauben lernen in Israel, KatBl 108 (1983), 84-99; Gottes Volk als Lerngemeinschaft. Zur Kirchenwirklichkeit im Buch Deuteronomium, BiKi 39 (1984), 96-100. 14 Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 227. 15 Finsterbusch, Weisung für Israel, 309f. Sehr instruktiv zum Paradigma der Erinnerung sind auch die Ausführungen von G. Steins, Inszenierung des Lesens und Lernens in Neh 8,1-12, in: Ego / Merkel, Religiöses Lernen, 83-98: 89ff. 16 Zum Ganzen s. Breitmaier, Lehren und Lernen, 162- 171. Breitmaier analysiert selbstverständlich auch andere Aspekte der dtn. Lehr- und Lernkonzeption; darüber hinaus behandelt sie auch das Thema: Erziehung im Buch der Sprüche. Ihre Arbeit ist letztendlich religionspädagogisch motiviert, wenn sie von der Auslegung der biblischen Texte eine »Didaktik des Hörens« entwirft. 17 E. Schawe, Gott als Lehrer im Alten Testament. Eine semantisch-theologische Studie, Fribourg 1979. 18 F. Diedrich, Lehre mich, Jahwe! Überlegungen zu einer Gebetsbitte in den Psalmen, in: J. Zimijewski (Hg.), Die alttestamentliche Botschaft als Wegweisung. FS Heinz Reinelt, Stuttgart 1990, 59-73; s.a. die Bemerkungen bei B. Ego, »In meinem Herzen berge ich dein Wort.« Zur Rezeption von Jer 31,33 in der Torafrömmigkeit der Psalmen, JBTh 12 (1997), 277-289: 286f. 19 Zu diesem Thema auch ganz knapp Breitmaier, Lehren, 95; Delkurt, Erziehung, 228ff.248; Crenshaw, Education, 239-254; Crüsemann, Bildung, 279f.284f. 20 Das Thema des »schriftgestützten Lernens« war auch Gegenstand des Konsultationstreffens der »Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie« vom März 14 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Neues Testament Aktuell 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 14 Tradition of Pastoral Care, Philadelphia 1987. 51 Vgl. P. Holloway, Consolation in Philippians: Philosophical Sources and Rhetorical Strategy (MSSNTS 112), Cambridge 2001. 52 H. Conzelmann, Paulus und die Weisheit, NTS 12 (1965 / 66), 231-244: 233. Conzelmann verweist auf 1Kor 1,18ff.; 2,6ff.; 11,2ff.; 13; 2Kor 3,7ff.; Röm 1,18ff. 53 Conzelmann, Paulus und die Weisheit, 233. Für die Historizität von Apg 19,9f. hat sich kürzlich P. Pilhofer, Von Jakobus zu Justin. Lernen in den Spätschriften des Neuen Testaments und bei den Apologeten, in: Ego / Merkel, Religiöses Lernen, 253-269: 259f., wieder eingesetzt. 54 Th. Schmeller, Schulen im Neuen Testament? Zur Stellung des Urchristentums in der Bildungswelt seiner Zeit (HBS 30), Freiburg 2001, 180. 55 Schmeller, Schulen, 151-180. 56 A. Standhartinger, Studien zur Entstehungsgeschichte und Intention des Kolosserbriefs (NT.S 94), Leiden 1999; vgl. auch dies., Colossians and the Pauline School, NTS 50 (2004), 572-593. 57 Standhartinger, Studien, 279. 58 Standhartinger, Studien, 280. 59 Vgl. G. Theissen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, 148-156. 60 E.A. Judge, Did the Churches Compete with Cult Groups? , in: J.T. Fitzgerald u.a. (Hg.), Early Christianity and Classical Culture: Comparative Studies in Honor of Abraham J. Malherbe, Leiden 2003, 501-524: »They constitute a movement of ideas, driven by argument and the interpretation of authoritative texts, a kind of adult re-education. Their intellectual premises are radically different from the naturalistic logic of the philosophical schools, turning on a re-orientation of world history towards the future.« Vgl. auch S.K. Stowers, Does Pauline Christianity Resemble a Hellenistic Philosophy? , in: T. Engberg-Pedersen (Hg.), Paul Beyond the Judaism / Hellenism Divide, Louisville 2001, 81-102: »…as early as Paul, certain types of Christianity focused on intellextual practises and ordered these around a totalizing unitary vision of the good. Even thogh Christianity did not derive from philosophy in any direct way, but from Judaism, it shared the structural features that made it philosopy-like.« (100); vgl. auch L.C.A. Alexander, Paul and the Hellenistic Schools: The Evidence of Galen, in: T. Engberg- Pedersen (Hg.), Paul in His Hellenistic Context, Minneapolis 1995, 60-83. 61 Vgl. P. Pilhofer, Von Jakobus zu Justin, 253-269. Vgl. auch Schmeller, Schulen, 129, gegen die Diskontinuitätsthese, die z.B. von U. Neymeyr, Die christlichen Lehrer im zweiten Jahrhundert. Ihre Lehrtätigkeit, ihr Selbstverständnis und ihre Geschichte (SVigChr 4), Leiden 1989, 237, vertreten wird. 62 Das gilt auch für Publikationen, die das Lernen im Titel führen, dann aber doch die Aufmerksamkeit vorwiegend auf das Lehren fokussieren; vgl. J. Blank, Lernprozesse im Jüngerkreis Jesu, ThQ 158 (1978), 163-177; oder das Themenheft »Rabbi Jesus und die Anfänge einer christlichen Lernkultur« der Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 2/ 2001 mit Artikeln von J. Schröter, K-.W. Niebuhr, A.-D. Bunke, K. Wegenast, H. Schröer und R. Kirchhoff. 38 A.F. Zimmermann, Die urchristlichen Lehrer. Studien zum Tradentenkreis der didaskaloi im frühen Christentum (WUNT II/ 12), Tübingen 2 1988. Vgl. auch H. Schürmann, ›…und Lehrer‹. Die geistliche Eigenart des Lehrdienstes und sein Verhältnis zu anderen geistlichen Diensten im neutestamentlichen Zeitalter, in: ders., Orientierungen am Neuen Testament. Exegetische Gesprächsbeiträge, Düsseldorf 1978, 116-156. 39 Zimmermann, Lehrer, 218. 40 Vgl. dazu M. Hengel. Der unterschätzte Petrus. Zwei Studien, Tübingen 2006, 43-58.85.129-145.162-166. 41 Zu diesem Forschungsfeld vgl. das Themenheft ZNT 20: »Der erinnerte Jesus«. 42 H. Schürmann, Lehrende in den neutestamentlichen Schriften, in: W. Baier u.a. (Hg.), Weisheit Gottes - Weisheit der Welt. FS J. Ratzinger, Bd. 1, St. Ottilien 1987, 419-440. 43 Dass auch Frauen Lehraufgaben übernommen haben (vgl. dazu u.a. U.E. Eisen, Amtsträgerinnen im frühen Christentum. Epigraphische und literarische Studien [FKDG 61], Göttingen 1996, 87-111) und dies umstritten war (was die vielsagenden Lehrverbote in 1Tim 2,11f. und 1Kor 14,33b-35 dokumentieren), sollte heute von männlichen Forschern nicht mehr »übersehen« werden. 44 Schürmann, Lehrende, 431. 45 Ebd., 428; vgl. H. Schürmann, Zur Kompositionsgeschichte der Redenquelle. Beobachtungen an der lukanischen Q-Vorlage, in: ders., Jesus - Gestalt und Geheimnis, Paderborn 1994, 398-419. 46 Vgl. dazu R. Riesner, Taufkatechese und Jesus-Überlieferung, in: V.A. Lehnert und U. Rüsen-Weinhold (Hgg.), Logos - Logik - Lyrik. Engagierte exegetische Studien zum biblischen Reden Gottes. FS K. Haacker, Leipzig 2007, 305-339: »Die Bedeutung der Worte Jesu in der urchristlichen Taufkatechese weist auf Lehr- und Lernsituationen, auf Tradition und Tradierung hin. Dabei war die Überlieferung der Worte Jesu, aus der die Paränese schöpfte, ein eigenständiger Vorgang (vgl. 1Kor 11,23-24), für den erst apostolische Ohrenzeugen (Lk 1,1-4) und dann auch andere ›Lehrer‹ als Überlieferungsträger verantwortlich waren.« (338f.). 47 K. Scholtissek, Paulus als Lehrer. Eine Skizze zu den Anfängen der Paulus-Schule, in: ders. (Hg.) Christologie in der Paulus-Schule: Zur Rezeptionsgeschichte des paulinischen Evangeliums (SBS 181), Stuttgart 2000, 11-36: 25. 48 S.K. Stowers, The Diatribe and Paul’s Letter to the Romans (SBL.DS 57), Chico 1981; von Th. Schmeller, Paulus und die »Diatribe«. Eine vergleichende Stilinterpretation (NTA NF 19), Münster 1987, relativiert. Die »Diatribe« könne in unterschiedlichen literarischen und sozialen Kontexten verwendet werden. 49 Vgl. A. Malherbe, Mê Genoito in the Diatribe and Paul, in: ders., Paul and the Popular Philosophers, Minneapolis 1989, 25-33: »….more characteristic of the type of schoolroom instruction in which Epictetus engaged than street corner preaching.« (32). Zum Haus als »Sitz im Leben« der Lehre vgl. S.K. Stowers, Social Status, Public Speaking and Private Teaching: The Circumstances of Paul’s Preaching Activity, NT 26 (1984), 59-82. 50 Malherbe, Paul and the Popular Philosophers, 67-77; ders., Paul and the Thessalonians: The Philosophic ZNT 21 (11. Jg. 2008) 15 Beate Ego / Christian Noack Lernen und Lehren als Thema alt- und neutestamentlicher Wissenschaft 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 15 63 Zu Erziehung und Bildung in der Antike vgl. J. Christes u.a. (Hg.), Handbuch der Erziehung und Bildung in der Antike, Darmstadt 2006, mit ausführlicher Bibliographie (296-312). 64 Vgl. u.a. T. Vegge, Paulus und das antike Schulwesen. Schule und Bildung des Paulus (BZNW 134), Berlin u.a. 2006; D. Sänger, Pagane Bildungsinstitutionen und die Kommunikation des Evangeliums. Erwägungen zu einem Aspekt der paulinischen Verkündigung, in: W. Härle u.a. (Hg.): Systematisch praktisch (FS R. Preul), Marburg 2005, 71-90; J.H. Neyrey, The Social Location of Paul: Education as a Key, in: D.B. Gowler u.a. (Hg.), Fabrics of Discourse, Harrisburg 2003, 126- 164; R.F. Hock, Paul and Greco-Roman Education, in: J.P. Sampley (Hg.), Paul in the Greco-Roman World, Harrisburgh / London / New York 2003, 198-224. 65 R.S. Dutch, The Educated Elite In 1 Corinthians: Education And Community Conflict In Graeco-Roman Context (JSNTSS 271), London / New York 2005. 66 H.A. Gamble, Books and Readers in the Early Church. A History of Early Christian Texts, New Haven / London 1995, 2-10. Zum rabbinischen Judentum vgl. C. Hezser, Jewish Literacy in Roman Palestine (TSAJ 81), Tübingen 2001. 67 Hier ist an die Arbeiten von M. Hengel und O. Kaisers anzuknüpfen. Vgl. hierzu exemplarisch Kepper, Hellenistische Bildung. Weiterführendes ist auch von der Dissertation von F. Ueberschaer zu erwarten, die Anfang 2008 unter dem Titel »Weisheit aus der Begegnung. Bildung nach dem Buch Ben Sira« erscheinen soll, zu erwarten. Zum Lernen in hellenistischer Zeit s.a. M. Mach, Lerntraditionen im hellenistischen Judentum unter besonderer Berücksichtigung Philons von Alexandrien, in: Ego / Merkel, Religiöses Lernen, 117-140. 68 Vgl. D. Korsch, Religionsbegriff und Gottesglaube. Dialektische Theologie als Hermeneutik der Religion, Tübingen 2005, 322, Anm. 86: »Auffällig ist ja, wie intensiv sich ›neue‹ oder in den Westen eingewanderte alte Religionen gerade über eine Methodik des religiösen Lernens profilieren - besonders deutlich am westlichen Neo-Buddhismus erkennbar. Welche Gestalt religiösen Lernens wäre von christlicher Seite aus naheliegend - und kulturell attraktiv? « 69 Wichtige Hinweise dazu finden sich bei Crüsemann, Bildung. 16 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Neues Testament Aktuell Vandenhoeck & Ruprecht 37070 Göttingen info@v-r.de www.v-r.de Gerhard Sellin Der Brief an die Epheser Die in diesem Kommentar vorliegende Interpretation des Epheserbriefs geht davon aus, dass diese Schrift von einem »Schüler« des Paulus verfasst worden ist. Sie ist also kein »echter« Paulusbrief. Die Auslegung zeigt, dass der unbekannte Verfasser das theologische Erbe des Paulus im Sinne der philosophisch beeinflussten Theologie weiterentwickelte, wie sie gegen Ende des ersten Jahrhunderts von jüdischen (Philo von Alexandrien) und christlichen Gelehrten, zu denen der Verfasser des Epheserbriefes gehört haben wird, verbreitet wurde. Eduard Lohse Das Urchristentum Ein Rückblick auf die Anfänge Ohne die Geschichte Jesu von Nazareth hätte es das Christentum nicht gegeben, aber wie sahen die Anfänge der christlichen Kirche aus? Unter welchen Bedingungen wuchs das Urchristentum heran? Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament, Band 8. 2008. 496 Seiten, Leinen € 78,90 D bei Abnahme der Reihe: € 71,- D ISBN 978-3-525-51550-1 2008. 173 Seiten, kartoniert € 14,90 D ISBN 978-3-525-53382-6 Neuerscheinungen Der neue Epheser- Kommentar! Eine Reise zu den Anfängen des Christentums i h N ng u in he sc r e Neu n r exegetischer ritischoommentar über das Neue D e g rhese e Ep r neu e D K r! a t n me m Ko S lli G h d Der Brief an die Epheser ieg rl o r v a t n me m Die in diesem Ko us on a v aav ht d e s g rbrief hese es Ep d Sellin Gerhard r ion t a et rpr te n e I d n e g t hrif s diese Sc as , d oommentar über das Neue e Band 8. estament, 0 Leinen Seiten, 496 008. 78,90 D e Abnahme der Reihe: ei 71,- D 1 - 550 51 - 525 3- - BN 978 g p us v l u a es P r« d hüle inem »Sc on e v usbrief l u a r« P hte in »ec lso ke t a s i a d r se as fa r e VVe te n n a k e nb u r e d s as d sc i h ilosop h r p e ne d us im Sin l u a P ie sie g te, w l ke ic w t n e r te i logie we il n (Ph he sc on jüdi ts v r e d n hrhu a J e n, zu d te hr le n Ge he ic tl s hri d c n u d ir n w e b aab t h hör e es g rbriefe hese Ep t. Sie s n i e d r t wo s as fa r ve igt, e ng z u usleg . Die A f es d e Erb he sc logi heo t as n Theo te s influs ee h b n te s r es e e d d n En e eg g n) rie d n on Alexa lo v es r d se as fa r e r VVe e n d ne e e. d r tet wu i e rbr d, ve 2200 €€ 14 IISBN EEin zzu des d kartoniert Seiten, 173 8. 4,90 D 6 53382- - 525 3- - N 978 se i ne Re n e n Anfäng e d ms tu n te s s Chri 37070 Göttingen Ruprecht && andenhoeck VVandenhoeck Eduard Lohse christentum Das Ur Anfänge k auf die kblic Ein Rüc O az on N hte Jesu v ic h hne die Gesc r w e b n, aab e b e eg ht g ic m n tu n te s Chri te us? Un he a n Kirc he ic tl s hri r c e d u g m tu n te s hri as Urc hs d c n wu e ng Eduard Lohse .de .v-r www .de info@v-r gen as te es d t ä h h et r za e n die Anfäng he a ie s w n Bedin he lc r we e n? ra m he 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 16 Tor Vegge Antike Bildungssysteme im Verhältnis zum frühen Christentum Zum Thema verbunden: erstens als Vermittlung der etablierten Werte einer Gesellschaft. Eltern hatten den Wunsch, dass ihre Kinder die von der Gesellschaft durch Wissensentwicklung und Erfahrung etablierten Werte lernen sollten, und Lehrer konnten den Wunsch haben, gute Bürger auszubilden, was Vertrautheit mit den etablierten Werten der Gesellschaft voraussetzte. Zweitens unterrichteten die Lehrer, was sie selbst gelernt hatten und in der Weise, wie sie selbst unterrichtet worden waren. Damit etablierte sich eine Kontinuität in Schule und Ausbildung in den von der griechischen und später griechisch-römischen Kultur beeinflussten Bereichen. Lehrpläne und Didaktik konnten dadurch ziemlich ähnlich in den unterschiedlichen Stadtstaaten sein. Das System der hellenistischen Ausbildung muss darum in ihrem Curriculum gesucht werden, in den Bildungsinhalten und der Progression des Lernens. Das System konkretisierte (und personifizierte) sich in Lehrern und Schülern / Studenten und in Lernstoff und Unterricht. Im griechischen Sprachraum existierte das Ideal, dass alle Kinder eine Ausbildung erhalten sollten, jedoch war man weit von einer Verwirklichung dieses Ideals entfernt. William V. Harris hat die Verbreitung der Lese- und Schreibfähigkeit in der Antike untersucht, die in engem Zusammenhang mit der Ausbreitung von Schulen steht. Lese- und Schreibfähigkeit kann als diejenige Fertigkeit definiert werden, die einen in den Stand setzt, einen einfachen Text über das tägliche Leben mit Verständnis zu lesen und zu schreiben. Die Elementarausbildung fand, laut Harris, zu hellenistischer Zeit in den griechischen Städten eine wachsende Verbreitung. Im Großen und Ganzen dürfte allerdings zu hellenistischer Zeit kaum mehr als 10% der Gesamtbevölkerung über eine Lese- und Schreibfähigkeit verfügt haben. 2 Dieser Prozentsatz rekrutierte sich überwiegend aus der Elite - aber nicht aus- Das frühe Christentum entstand in der Zeit der Hellenisierung, in der griechisch-hellenistische Bildungselemente dominierend waren. Die literarischen Texte der Christen legen es deshalb nahe, die Beziehungen zu antiken Bildungssystemen zu untersuchen. Bildungssysteme Deshalb ist mit einer Übersicht über antike Bildungssysteme, wie sie sich in einer hellenistischen Polis materialisiert haben können, zu beginnen. 1 In einer hellenistischen Polis gab es Eltern, die Ausbildung für ihre Kinder gesucht haben, Hausväter, die für ihre Sklaven Ausbildung suchten -, häufig wohl eine spezialisierte Berufsausbildung -, es gab Männer und auch einige Frauen, die eine Schule hinsichtlich ihrer eigenen Bildung besuchen wollten. Ferner gab es Lehrer, die auf unterschiedlichen Niveaus Ausbildung gegeben sowie Rhetoren und Philosophen, die Bildung im Rahmen ihrer Schulen angeboten haben. Allerdings stellen diese Bildungseinrichtungen keine Parallelen zu unserem öffentlichen Schulwesen dar. Der durchschnittliche Polisbürger fand in seiner Umgebung keineswegs so etwas wie ein institutionalisiertes Schulsystem vor, wo er eine Ausbildung mit einem gesellschaftlich normativen Inhalt erhalten konnte. Bildung und Schulung erforderten persönliche Initiative und Planung und mussten auf allen Stufen eigenfinanziert werden. Wenn hier im Folgenden von Bildungssystemen geredet werden wird, so sind diese nicht mit unseren europäischen Bildungssystemen auf der Grundlage einer staatlichen öffentlichen Schulpolitik zu verwechseln. Trotzdem kann von einer allgemeinen Systematik im Sinne einer Institutionalisierung von Bildung geredet werden. Schule und Ausbildung sind mit einem gewissen Grad von Traditionalität ZNT 21 (11. Jg. 2008) 17 »Im Großen und Ganzen dürfte allerdings zu hellenistischer Zeit kaum mehr als 10% der Gesamtbevölkerung über eine Lese- und Schreibfähigkeit verfügt haben.« 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 17 der durchschnittliche Schüler sich mit den literarischen Werken nicht in ihrer Ganzheit vertraut machte. Es wurden zunächst einige Ausschnitte - bisweilen sehr kurze Ausschnitte - gelesen. In der Schule wurden die Texte laut gelesen, rezitiert und vermutlich zumeist auch auswendig gelernt. Schon das Lesen eines Textes hat also Vorbereitung beansprucht; eine ausdrucksvolle Deklamation konnte deshalb erst nach eingehender Vorbereitung gelingen (Quintilian, institutio oratoria I.8). Die Ausbildung zum guten Lesen hat bis zu zwei Jahre schulischer Übung erfordert. 8 Auf die Exegese wurde aber noch mehr Zeit verwandt. In den klassischen Texten haben die Schüler unbekannte, archaische und poetische Wörter vorgefunden, die einer Erklärung bedurften. Der Lehrer erklärte die Wörter und die Tropen. Danach folgte historikon, die Erklärung des Inhalts (Quintilian, inst. I.8.13-21). Der Lehrer gab eine Auslegung, die dem Schüler Wissen über Personen, Orte und Ereignisse vermitteln sollte. Dabei wurde dem Mythologischen größeres Interesse entgegengebracht als dem, was wir als Historisches betrachten. Die Zerlegung des Textes wurde durch die krisis, Beurteilung, gekrönt, wobei das Anliegen in erster Linie ein moralisches war: Literatur galt als Fundgrube heroischer Beispiele menschlicher Perfektion. Hellenistische Lehrer haben versucht, aus den Klassikern, besonders aus Homer, einen moralischen Kodex herzuleiten. Diese Art der Interpretation haben die stoischen Lehrer am weitesten entwickelt. Für sie war Homer der weiseste aller Poeten. In den Mythen verbirgt sich ein System von Doktrinen, das sich in einer allegorischen Lesart freilegen lässt. Nach dieser Lesart ist Odysseus der kluge Mann, der den Sirenen entkommt, und uns damit lehrt, physischen und psychischen Versuchungen zu entfliehen. 9 Die Progymnasmata 10 Die weitere Einübung von literarischer Textkompetenz geschah durch die Progymnasmata, die schulischen Übungen der Textgestaltung. Wenn auch einige Grammatiklehrer einige Progymnasmata in ihren einfachen Formen lehrten, so ist dies der klassiche Bereich des Rhetoriklehrers. Der Arbeit mit den Progymnasmata liegt schlicht die Überzeugung zugrunde, dass sie inschließlich. Auch Handwerker sowie Sklaven waren schreibkundig. Die selbstständige und freie Beherrschung literarischer Sprache war allerdings einem weit kleineren Teil der Bevölkerung vorbehalten. Hier soll zunächst die literarische Bildung besprochen werden: Grammatik, Rhetorik und Philosophie. Auch wenn andere Fächer wie Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik Bedeutung hatten, lag wohl das Hauptgewicht sowohl bei den Griechen als auch bei den Römern auf der literarischen Bildung. 3 Die Gymnastik hatte ihren Ort in den Gymnasien. Die ersten Stufen literarischer Bildung Es war die Aufgabe des Grammatistes (gr. grammatistes), den Kindern die Buchstaben des Alphabets und das elementare Lesen und Schreiben beizubringen. Nach den Buchstaben wurden Silben gelernt und dann Wörter. Teilweise begann man aber auch sehr früh mit Wörtern zu üben, die schwer verständlich und schwierig auszusprechen waren. Denn es wurde gemäß dem Motto gelernt: Wenn man das Schwierige meistern kann, würde das Übrige von selbst folgen. 4 Im Elementarunterricht wurde nur das elementare Lesen und Schreiben gelernt. In der Schule bei dem grammatikos wurden dann Texte gelesen und erklärt, und es wurden einfache Texte selbst geschrieben. 5 Den Hauptteil des Unterrichtsstoffes bildeten die klassischen Autoren Homer, Euripides und Menander. 6 Die Textarbeit inkludierte Lesen, Exegese und Beurteilung (gr. anagnosis, exegesis, krisis). Das Lesen der Texte hat erhebliche Anforderungen an die Schüler gestellt, 7 da die Texte fortlaufend und ohne Interpunktion geschrieben waren. Beim Lesen mussten Fragevon Aussagesätzen durch Intonation unterschieden werden und die poetischen Texte mussten in Verszeilen unterteilt und nach metrischen Gesetzen skandiert werden. Hinzu kam, dass die Aussprache sich seit der klassischen Zeit geändert hatte und viele grammatische Formen in der täglichen Sprache unbekannt geworden waren. Es scheinen immer wieder die gleichen Textabschnitte benutzt worden zu sein, doch die Variation in der Auswahl ist mit der Progression des literarischen Studiums immer größer geworden. Ferner kann man davon ausgehen, dass 18 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Zum Thema 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 18 Tor Vegge Dr. Tor Vegge, Jahrgang 1956, studierte Theologie in Oslo, arbeitete als Pfarrer 1986-1990, Promotion an der Universität Oslo in 2004, unterrichtet seit 1990 an der Universität Agder. Forschungsschwerpunkte: Schule und Bildung im Hellenismus, Paulus und frühes Christentum. Theons kann vermutet werden, dass die folgenden Progymnasmata in mehreren Schulen des ersten nachchristlichen Jahrhunderts im Gebrauch waren: Chrie, Gnome (sententia), Fabel (mythos), Erzählung (diegesis), Topos, Beschreibung (ekphrasis), Prosopopoiie, Lob und Tadel (enkomion und psogos), Vergleich (synkrisis), Thesis und Nomos. 12 Das Wort Chreia bezeichnete allgemein einen kurzen Text. Hier zwei Beispiele von Diogenes: »Auf die Frage, was das Schönste für die Menschen sei, antwortete er, ›Die Freiheit des Wortes! ‹ Als er eine Schule betrat (eis didaskalou) und viele Musenstandbilder, aber wenig Schüler sah, meinte er: ›Mit den Göttinnen, mein lieber Lehrer (didaskale), hast du viele Schüler.‹« (Diog. Laert. VI.69) Solche Chrien fanden vielfältige Anwendung, etwa in Unterhaltung und in philosophischem Unterricht; ebenso konnten Chrien in Reden als Beweis eingefügt sein. In der Schulübung desselben Namens wurden diese kurzen Texte nach bestimmten Regeln erweitert und bearbeitet. Die typische Disposition einer solchen Bearbeitung beinhaltete: 1) Rezitation, 2) Flexion (in Numerus und Kasus), 3) Kommentar (in Bezug auf Wahrheit, Wohlgestalt und Nutzen der Chrie), 4) Erweiterung (bei der die Person weiter beschrieben und die Aussage weiter gefasst wiedergegeben wird) und Kompression (in der eine erweiterte Chrie auf die ursprüngliche kurze Form zurückgestutzt wurde), 5) Widerlegung und Bestätigung. Ähnliches galt für die weiteren Übungen Gnome und Fabel. Gnome bezeichnete allgemein eine Sentenz oder einen Sinnspruch und Fabel einen Text wie die bekannten Fabeln des Äsop. In den Schulübungen wurden die Bearbeitungsschritte einer Chrie auch hier benutzt. Durch diese Progymnasmata übte man Textkompetenz: Grammatik, Textgliederung, die Ausarbeitung von Argumenten, die Schilderung von Menschen und Situationen und man wurde mit dem philosophischen Inhalt des kurzen Textes vertraut. Die Übung Erzählung scheint mehr auf bestimmte Teiltexte von Reden oder Schriften zugeschnitten. Die Erzählung sollte geschichtliche Ereignisse so wahrheitsgetreu wie möglich - laut Quintilian jedoch nicht zu trocken und nüchtern - nerhalb eines Ausbildungsverlaufes die unentbehrlichen, vorbereitenden Übungen für die spätere Ausarbeitung von längeren Texten wie Reden und Briefe bilden. Durch die Progymnasmata wurden Fähigkeiten in dispositio (Stoffgliederung), inventio (Stoffauffindung) und elocutio (Stilisierung) geübt. Diese Übungen waren stark von Wiederholung und Imitation geprägt, während Originalität und persönlicher Stil zurückzustehen hatten. Durch eine minutiöse und handwerkliche Einübung der Formen sollte die Grundlage für Freiheit und Kreativität bei der späteren Ausarbeitung von Texten des ausgebildeten Redners oder Schriftstellers geschaffen werden, 11 wofür eben die Progymnasmata das aus der griechischen Tradition stammende Gerüst für die Textproduzenten der Antike bildete. Die älteste uns zugängliche Beschreibung der Progymnasmata findet sich in der im 1. Jh. n.Chr. in Rom geschriebenen Institutio oratoria des Quintilian, wo Quintilian als Redelehrer arbeitete. Aus etwa derselben Zeit stammt vermutlich das Progymnasmata-Lehrbuch des Theon aus Alexandrien. Ein ähnliches Handbuch wurde von Hermogenes von Tarsos im 2. Jh. n.Chr. verfasst. Bezeichnet wurden die Übungen als Gymnasmata oder als Progymnasmata. Aus den Darstellungen Quintilians und ZNT 21 (11. Jg. 2008) 19 Tor Vegge Antike Bildungssysteme im Verhältnis zum frühen Christentum 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 19 Dinge verglichen. »Es sind Personen wie Ajas und Odysseus, Abstrakta wie Weisheit und Mut« (Theon, Prog. 112). Die Leitfrage solcher Texte ist, welche der vergleichbaren Qualitäten und Tugenden die vorzuziehenden seien. Thesis gehörte zu den eher avancierten Übungen. In Thesen wurden ethische Dilemmas und ideologische Streitfragen in einer allgemeinen Form erörtert. Als Beispiele nennt Theon: »ob man heiraten sollte«, »ob man Kinder zeugen sollte«, »ob es Götter gibt« (Prog. 120). Der Schüler / Student lernte eine Reihe von Argumentationstypen (Topoi), die angewandt werden konnten, z.B. dass die vorgezogene Alternative möglich ist, der Physis und dem allen Menschen gemeinsamen Ethos und den gemeinsamen Gesetzen entspricht, dass es sich ziemt, dass es gerecht, heilig, notwendig, allgemein anerkannt und vorteilhaft ist (Theon, Prog. 121f.). Hinsichtlich der rhetorischen Gattungen hat das Progymnasma »Thesis« die größte Relevanz für die deliberative Form. Literarische Vorbilder für Thesen lassen sich laut Theon bei Aristoteles und Theophrast finden (Prog. 69). Damit markiert er auch die philosophische Ausrichtung der Thesis. In Hermogenes’ Progymnasmata werden politische und nicht-politische Thesen unterschieden. Nicht-politische Thesen sind solche, die eine spezialisierte Kenntnis enthalten, »z. B. ob der Himmel kugelförmig ist, ob es mehrere Welten gibt, ob die Sonne Feuer ist. Solche Fragen sind für Philosophen bestimmt, während Rhetoren sich in den anderen üben sollten« (Hermog., Progymnasmata 11). Eine politische Thesis wird auch »praktisch« genannt, die nicht-politische »theoretisch«. Die praktischen Theseis zielen - nach Hermogenes - auf Handlung, die theoretischen auf Erkenntnis (Hermog., Prog. 11). Die Thesis als literarische Gattung mag darum eher in den Philosophenschulen als in den Rhetorenschulen gepflegt worden sein. Die Übung Nomos übte Sprachkomptenz in Bezug auf zwei verschiedene Situationen: zum einen auf Einführung und Verabschiedung der Gesetze, zum anderen auf bereits vorliegende Gesetze. Im letzteren Fall ging es um die Interpretation der Gesetze. In der letzten Phase der literarischen Ausbildung wurden vollständige Reden zum Übungszweck geschrieben und vorgetragen. wiedergeben (Quintilian, inst. II.4.2-3). Erzählungen konnten in allen drei rhetorischen Gattungen eingesetzt werden, unentbehrlich jedoch war die narratio in einer iudizialen Rede. Als Grundlage der Übung Topos können wir uns eine Reihe von Handlungen vorstellen, ja im Prinzip die Reihe all jener Handlungen, die sich in gut vs. böse unterteilen lassen. In dem Progymnasma »Topos« wurde die Zusammenstellung einer Argumentationsreihe geübt, die begründen sollte, warum eine Handlung gut oder böse ist. Durch Ekphrasis (Beschreibung), in der eine Person, eine Handlung oder ein Ort lebhaft beschrieben werden sollte, wurde wohl besonders Stilisierung (elocutio) geübt. In der Prosopopoiie übte man die Fähigkeit einen Text so zu gestalten, wie der Text von einer anderen Person in einer bestimmten Situation geformt werden sein konnte. Die Prosopopoiie erforderte eine schauspielerische Einfühlung in den Charakter einer anderen Person, um so eine diesen Charakter ausdrückende Rede in Bezug auf einen besonderen Sachverhalt ausformen zu können. Diese Übung stellte die Kommunikationssituation in den Mittelpunkt und verlangte besonders die Einfühlung in den Charakter und die Situation einer anderen Person. Bei Theon gelten Brieftexte als für diese Übung besonders relevante Textformen (Theon, Prog. 115). Zu den einzuübenden Fähigkeiten gehörte dann auch das sich Hineinversetzen in die Stimmungen, Haltungen und Werte der Rezipienten. Obwohl die Anpassung an die Zuhörer in jeder Rede zu beachten ist, wird sie doch in »Beratung« und in »Brief« besonders dringlich. Die Schulübung Enkomion (Lob und Tadel) deckt sich mit der demonstrativen Gattung. Die Form des Enkomions wurde schon mit recht jungen Schülern durchgenommen. Die Bedeutung des Enkomions in der ganzen Ausbildung sollte nicht verkannt werden. Nach Quintilian wurde bei den Aufgaben laudare / Lob und vituperare / Tadel der Geist geübt, die Gesinnung gerüstet und die Sachkenntnis bereichert (Quintilian, inst. II.4.20). Man hat sich in dieser Übung besonders mit den Tugenden und vorbildlichen Eigenschaften eines Menschen beschäftigt. Eben darum hat die Übung nicht nur zur literarischen, sondern auch zur moralischen Bildung der Schüler beigetragen. Durch eine Synkrisis wurden Personen oder 20 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Zum Thema 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 20 Und »gut« hat hier neben der ästhetischen auch eine ethische Bedeutungskomponente. Quintilian geht auf die ideale (Redner-)Persönlichkeit ein und nennt dabei Kennzeichen wie iustitia, fortitudo, abstinentia, temperantia und pietas (Gerechtigkeit, Tapferkeit, Enthaltsamkeit, Maßhalten [Besonnenheit] und Frömmigkeit) (inst. XII.2.17). An anderer Stelle spricht er vom weisen Menschen (vir sapiens) (inst. I.Pro.18) und vom guten Menschen (vir bonus) (inst. XII.1.3). Quintilians Ideal ist der Mensch, der diese Tugenden »nicht nur als Worte kennt, und sich diese Benennungen nicht nur als Ohrenschmaus zum Gebrauch mit seiner Zunge zu eigen gemacht hat, sondern der die Tugenden selbst in seinen Geist aufgenommen hat und wirklich so fühlt« (inst. XII.2.17). Quintilian hat zweifelsohne seine Studenten dazu angehalten, sich diese Tugenden anzueignen. Und da die gute Beherrschung der Redekunst impliziert, dass der Redner ein guter Mensch sei, sieht Quintilian die Redekunst als Gottesgabe: Durch diese Gabe habe Gott den Menschen von den anderen Lebewesen am deutlichsten unterschieden (inst. II.16.11f.). Die Redegabe sei eine Himmelskraft des Geistes (animus caelestis). Wir haben nichts Besseres von den Göttern erhalten und in keiner Kunst werde sich die Mühe guter Ausübung besser auszahlen, als in der Kunst der Rede (inst. II.16.17f.). Wie schon bei Isokrates wurden bei Cicero und Quintilian die Tugenden ins Zentrum des Interesses gerückt, womit sie sich in Übereinstimmung mit den Philosophen befanden, die sie auf diesem Gebiet durchaus als autoritativ anerkannten. Sie befanden sich jedoch in Opposition zu den Philosophen ihrer eigenen Zeit. Angeprangert wurde vor allem, dass die Philosophen sich vom öffentlichen Leben zurückzogen, dass sie ihren Studenten viel mehr versprachen, als sie halten konnten und dass ihre Diskussionskunst für das menschliche Leben in der Polis völlig ohne Nutzen war. Das Lernen der Tugenden war von öffentlichem Interesse: Es sollte dem Leben in der Polis dienen. Die Redekunst bildete ja die Grundlage der Zivilisation, deren Verkörperung das Nach Theon aus Alexandrien sind die »Gymnasmata« seiner Schule nicht nur für werdende Redner, sondern auch für künftige Dichter oder Geschichtsschreiber unbedingt erforderlich sowie für jene, die sich irgendwie sonst der Schriftstellerei widmen möchten. Denn die Übungen seien als Fundament für jede Form von Text zu betrachten (Theon, Prog. 70). Seine Beispiele und den Stoff seines Unterrichts bezieht er aus zahlreichen Texten der unterschiedlichen literarischen und rhetorischen Gattungen. Durch die Progymnasmata wurden formale Sprachkompentenz wie Textgliederung und Stil erlernt. Weiter forderte die Stoffauffindung (inventio) eine größtmögliche Kenntnis der Literatur und aktueller Wissensbereiche. Eine wirkungsvolle Anwendung in Texten forderte Vertrautheit mit Werten und Tugenden. Diese Momente sind dann zentrale Bestandteile einer literarischen Bildung. Rhetorik und Philosophie Rhetorik wurde nicht zuletzt durch Isokrates (436-338 v.Chr.) die populärste Form der höheren Ausbildung; die gängige Auffassung von Bildung und den Tugenden eines gebildeten Menschen wurde zuerst durch sie bestimmt. Der Rhetorik wurde eine humanisierende Funktion zugemessen. Die Rhetorik sei Kultur schlechthin, sie gewährleiste die Tradierung humaner Werte und scheide den Menschen vom Barbaren. Voraussetzung der Kultur und also des guten Lebens sei die Sprache. Isokrates betont einen Zusammenhang zwischen Rede, Gedanke und Leben, der gerade durch die Redekunst hergestellt und gewährleistet wird und der für ihn eigentliche Bildung ausmacht. Diese Ideale der Bildung wurden von Cicero und Quintilian weitergeführt. Bei Isokrates ergibt sich aus dem engen Zusammenhalt zwischen Gedanken und Leben mit der Beredsamkeit, dass er der Rhetorik die Kraft zuschreibt, sittliche Bildung zu vermitteln. Ähnliches gilt auch bei Cicero (Isokrates, antidosis 256f.; Cicero, de oratore I.31-33). Nach Quintilian muss der Redner zunächst ein guter Mensch sein. Darum sei »die Rhetorik die Wissenschaft, gut zu reden« (inst. II.15.34). ZNT 21 (11. Jg. 2008) 21 Tor Vegge Antike Bildungssysteme im Verhältnis zum frühen Christentum »Und da die gute Beherrschung der Redekunst impliziert, dass der Redner ein guter Mensch sei, sieht Quintilian die Redekunst als Gottesgabe.« 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 21 Besonders unter Philosophen wurde der Bildungsprozess selbst ergründet. Bildung bestand im Fortschreiten auf einem Bildungsweg, der die Vollkommenheit als Endziel hatte. Der Prozess der Bildung bestand in einem sich vollziehenden psychischen, moralischen und intellektuellen Fortschritt, der »Prokope«. In Bezug auf diesen Fortschritt in der Bildung befanden sich Menschen laut den Philosophen auf unterschiedlichen Niveaus, die auch nach Kriterien beschrieben werden konnten. Wichtiger als eine solche Einstufung erschienen jedoch die Zeichen des Fortschrittes, die der Fortschreitende im eigenen Leben erkennen konnte oder die ihm sein Lehrer nachweisen konnte. Der Vollkommene hat die Furcht vor Göttern und Menschen abgestreift, steht auf festem Grund und hat das nützliche und notwendige Wissen zusammengefasst und Harmonie mit der Natur erlangt (Seneca, benef. VII.1.7). Fortschritt (Prokope) erforderte Konzentration auf das Innere. Der eigene Charakter sollte bearbeitet werden; wodurch Bildung als Übung von Wille und Entschlusskraft sinnfällig wurde. Laut einigen Philosophen führte dieser Fortschritt keineswegs zu einem gesteigerten Beifall der Mitbürger. Nach Epiktet konnte der Fortschreitende damit rechnen, als einfältig oder töricht aufgefasst zu werden (Epiktet, Ench. 13). Der Philosophielehrer konnte seine Schule als Rahmen anbieten, in dem sich Fortschritt und Bildung mit der Zielrichtung auf Vollkommenheit abspielen konnte. Ein weiteres Merkmal der Philosphenschulen war die literarische Arbeit. Nach Michael Erler reicht das Spektrum der antiken philosophischen Literaturformen von Aphorismus und Gnome über Lehrgedicht und philosophische Hymnen bis zum Dialog, zur Symposion- und Memorabilien-Literatur, es umfasst Essay, Diatribe, Protreptik, Paränese und Konsolationsliteratur ebenso wie Lehrbuch, Traktat und Briefliteratur. 13 Stanley K. Stowers hält fest »the letter was one of the most characteristic means of expression for ancient philosophy.« 14 Philosophische Briefe waren öfters für einen größeren Leserkreis gedacht und nicht nur an die direkt Angesprochenen adressiert. Die umfassende Aktivität des Briefegeordnete Zusammenleben in der Gesellschaft war. Der Bildung durch Philosophie kam seit Isokrates eine untergeordnete Rolle zu. Die Philosophenschulen verstanden sich auch mehr oder weniger als Alternative zu der von der Mehrheit gesuchten Bildung und wurden in hellenistischer Zeit auch als alternative Bildungsinstitutionen aufgefasst (Cicero, de orat. I.233). Die berühmten philosophischen Gestalten der Vergangenheit waren weit bekannt und viele hatten vielleicht auch einen Idee von dem, was Sokrates, Platon, Aristoteles, Epikur, Zenon und Diogenes unterrichtet hatten. Persönlich konnte man der Philosophie in den Philosophenschulen der Stadtstaaten begegnen. Diese waren meist nicht große oder pompöse Institutionen. Ein Lehrer und ein paar Schüler machten schon eine Schule aus. Die Schulen konnten verschiedene philosophische Schulrichtungen repräsentieren. In einigen Schulen gab es Bibliotheken, wo philosophische Schriften studiert werden konnten, man konnte den Unterricht eines Philosophen in einer Säulenhalle anhören oder auch sich einer Schule als Schüler anschließen. Nach dem Stoiker Seneca gibt es ohne Kenntnis keine Bildung (epist. 90.46). Die Philosophie ist die Liebe zur Weisheit und das Streben danach. Laut Seneca hatte das Streben nach Weisheit einen göttlichen Anstoß und war von entsprechenden Tugenden begleitet (epist. 89.4-5 und 90.1-3). So führt nach Seneca der Weg zur Weisheit über die philosophische Bildung. Die Kultur der Menschen, also das Zusammenleben in Gesellschaften sowie die Künste und Wissenschaften, sind nach Isokrates und Cicero durch die Sprache hervorgebracht und durch die Kunst der Rede entwickelt und veredelt worden (Isokrates, antidosis 254f.; Cicero, de orat. I.31- 34). In ähnlicher Weise argumentiert Seneca für die Überlegenheit der Philosophie. Diese gehe über die von der Klugheit und Erfindungsgabe der Menschen entdeckten oder gestifteten Künste, Wissenschaften und Handwerke hinaus und bestehe ausschließlich in der Suche nach der Wahrheit göttlicher und menschlicher Dinge (epist. 90). 22 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Zum Thema »Der Prozess der Bildung bestand in einem sich vollziehenden psychischen, moralischen und intellektuellen Fortschritt, der ›Prokope‹.« 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 22 ner entsprechenden kulturellen Intoleranz gepaart. Richard Klein zeichnet das größere Bild in folgender Weise: »Es ist bekannt, dass man auf christlicher Seite selbst bei zunehmender Gewinnung der höheren Schichten seit Konstantin d. Gr. auf die Entwicklung eines eigenen Schulwesens verzichtete und bis zum Ende des Altertums die eigenen Kinder in die heidnischen Bildungsstätten schickte.« 17 Es mag ferner eine richtige Erkenntnis sein, dass die Christusgläubigen der ersten Generationen sich als bunte, eher identitätslose und in den Augen ihrer Zeitgenossen der kulturell und politisch führenden Schicht als »aufsässige und undisziplinierte Haufen von Christen« und »als barbarische, verkommene und fanatische« 18 Abergläubige dargestellt haben und sich erst allmählich - analog den Philosophenschulen - zu einer anerkannten und moralisch akzeptierten Gemeinschaft entwickelt haben. Die ersten Christen können allerdings nicht ausschließlich lauter verkommene und ungebildete Leute gewesen sein. In diesem barbarischen Haufen entstanden ganz früh bemerkenswerte literarische griechische (also nicht-barbarische) Texte. Von Anfang an gab es Leute, mit der nötigen Fähigkeit und dem entsprechenden Interesse für die Formulierung der kognitiven Dimension des Glaubens und die Vermittlung durch Formen und Gattungen, die in der literarischen Bildung zu Hause waren. Unsere Quellen, die urchristlichen Schriften, repräsentieren einen kleinen Ausschnitt der Christusgläubigen. In den neutestamentlichen Schriften werden die Beziehungen zu antiken Bildungssystemen nicht thematisiert, die Schriften bezeugen aber indirekt solche Beziehungen für ihre Autoren und Leser. Dies ändert sich schon im zweiten Jahrhundert. Justin und Irenäus setzen sich mit griechisch-hellenistischer Religion, Literatur und Philosophie auseinander und Klemens von Alexandrien zeigt eine gediegene Kenntnis der griechisch-hellenistischen Bildung. Die Beziehungen zwischen den Bildungssystemen und dem frühen Christentum liefen zunächst über die einzelnen Personen. Einige wenige brachten eine Bildung mit, als sie sich einer Gruppe von Christusgläubigen anschlossen. Und schreibens der philosophischen Gruppen der Antike habe nach Stowers mit den Schülern des Sokrates angefangen. Davon sind nur die Briefe Platons erhalten. Darauf folgen die Briefe Epikurs, die Briefe der Stoiker, von denen die meisten verloren sind, die fiktiven kynischen Briefe, die Briefe Senecas und aus späterer Zeit die Briefe der Neuplatoniker und jene gebildeter Christen. 15 Gymnasien Zu jeder hellenistischen Polis gehörte ein Gymnasion, das neben Theater und Tempeln eine zentrale Funktion im kulturellen und religiösen Leben der Stadt hatte. Von zahlreichen Inschriften ausgehend kann man den Eindruck gewinnen, dass das Schulwesen auf die Gymnasien konzentriert war. Die Gymnasien sind jedoch in den Inschriften überrepräsentiert, wohl weil sie innerhalb der Poleis öffentliche, d.h. der Gemeinschaft gehörende Institutionen waren. Die Gymnasien spielten eine zentrale Rolle in den Kulten und Festen der Stadtstaaten, 16 und die Festivitäten konnten wohl ohne die Teilnahme der Jugendlichen nicht durchgeführt werden. Die Schulen der Grammatiker, Rhetoren und Philosophen waren meist private Stiftungen mit weit lockereren Bindungen an die Institutionen der Poleis und hatten vermutlich nicht die enge Verbindung zum kultischen Leben der Stadt. In jüdischen Schulen war der Bildungsinhalt durch die jüdische Tradition definiert. Hinsichtlich Didaktik und Lernmethoden gab es viele Ähnlichkeiten mit den griechischen und römischen Schulen. So gesehen gehörten die jüdischen Schulen zu den hellenistischen Ausbildungssystemen. Bildungssysteme und das frühe Christentum Im Laufe der ersten Jahrhunderte wurde das Christentum eine immer stärker werdende kulturelle Kraft. Vom Judentum erbte das Christentum eine gewisse Art von theologischer Intoleranz. Die Wirklichkeit bot keinen Platz für weitere Götter außer dem einen wahren Gott und jeder Ausdruck der Frömmigkeit sollte an diesen Gott gerichtet sein. Diese theologische Intoleranz war bei den meisten Juden und Christen nicht mit ei- ZNT 21 (11. Jg. 2008) 23 Tor Vegge Antike Bildungssysteme im Verhältnis zum frühen Christentum 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 23 traut. Wir kennen ja auch Leute, vielleicht ist Philon der überragendste unter ihnen, die mit jüdischer und griechischer literarischer Bildung gleichermaßen vertraut waren. Einige von diesen waren vermutlich für das erste Entstehen von christlicher Literatur verantwortlich. Sie haben Erzählungen und Chrien von Jesus gesammelt, geordnet und womöglich auch eine literarische Form gegeben oder sie in größere literarische Formen eingearbeitet ähnlich der Formen, in denen sie Chrien von Diogenes und anderen Philosophen vorfanden. Den Gleichnissen Jesu konnten ähnliche literarische Funktionen wie den Fabeln Äsops gegeben werden. Unter diesen literarisch Gebildeten dürften auch die zu finden sein, die die Jesustradition in die heute bekannte literarische Form gebracht haben. Und auch Jesus hat seinen Unterricht in literarisch gebildeter Form vermittelt, dass heißt: er hat literarische Formen benutzt und literarische Tradition bearbeitet. 19 Die späteren Christusgläubigen konnten es sich auch nicht anders vorstellen. Die oben besprochene literarische Bildung ist natürlich auch in Bezug auf die übrige neutestamentliche Literatur von Relevanz. Hier sollen schließlich einige Momente hinsichtlich der Briefe des Paulus kurz genannt werden. Durch Analysen von Form und Inhalt der Texte des Paulus lassen sich die Beziehungen zu antiken Bildungssystemen diskutieren. 20 Seine Briefe zeigen rhetorische Kompetenz in Bezug auf Stil (elocutio), 21 Stoffgliederung (dispositio) 22 und Bearbeitung von Argumenten. 23 Eine durch die Progymnasmata erlernte Sprachkompetenz lässt sich in den Briefen aufzeigen. 24 In 1Kor 7 hat Paulus literarische Verfahren einer Thesis zum Einsatz gebracht. Die behandelte Frage entspricht einer der beliebten Übungsfragen in der Schule: »ob man heiraten sollte« (siehe oben), und in der Argumentation nutzt Paulus Topoi, die durch das Progymnasma Thesis geübt wurden. Dies sei im Folgenden beispielhaft verdeutlicht: Paulus setzt voraus, dass die von ihm empfohlene Alternative, unverheiratet zu leben, möglich ist. Heiraten ziemt sich und ist gerecht, die von Paulus empfohlene Alternative sei jedoch die bessere (1Kor 7,36-38). Unverheiratet zu leben ist heilig (1Kor 7,34) und in der aktuellen Lage notwendig und vorteilhaft (1Kor 7,26.35). Diese Beispiele, die vermehrt werden können, zeigen, dass Paulus mit den für thetische später haben auch einige ihre Kinder in die Schule geschickt. Wir können annehmen, dass sich die soziale Gliederung dieser Gruppen nicht besonders von der übrigen Gesellschaft unterschieden hat, so dass davon auszugehen ist, dass auch nicht mehr als 10% der Christen über eine Lese- und Schreibfähigkeit verfügt haben. Vielleicht waren einige Sklaven literarisch gebildet und einige Christen mögen als Lehrer tätig gewesen sein. Einige, aber vermutlich sehr wenige, haben eine vollständige literarische Bildung durchgemacht und einige hatten sich in einer Philosophenschule aufgehalten. Schon im Sprachunterricht des Grammatikers begegneten den Schülern Abschnitte aus Homer, Euripides und Menander. Durch die Texte und die Auslegungen des Lehrers wurde der Schüler mit der Mythologie bekannt. Den Götterglaube sollte man sich natürlich nicht zu eigen machen und auch nicht die Handlungen der Götter und Gestalten der Mythen als moralisch nachahmenswert ansehen. Mit dieser Haltung waren allerdings die Juden und Christen nicht allein: ähnliche Vorbehalte wurden von Philosophen gemeldet. In Plutarchs De audiendis poetis wird der Unterricht poetischer Texte besprochen. Was den Texten der Poeten entnommen werden sollte, war keineswegs die faktische Nachahmung ihrer oftmals negativ zu beurteilenden Handlungsverläufe, sondern die Kunst, solche Handlungen in Texten nach- und abzubilden. Die Mythologie spielte auch eine Rolle in den Kulten der Stadt. Wie oben angedeutet haben vielleicht die Schulen der Sprachlehrer darin keine große Rolle gespielt und damit dürften auch nicht der Schulbesuch die Kinder und ihre Eltern in dieser Hinsicht vor größere Herausforderungen gestellt haben. Bemerkenswert ist die zentrale Stellung von literarischen Texten in den Gruppen von Christusgläubigen. Darin waren sie wohl am meisten den Synagogen und den Philosophenschulen gleich. Hier erhalten Texte und Bildung eine Bedeutung für die spezifische Gemeinschaft und ihre Identität. Zentral waren die heiligen Schriften der Juden und die neu geschaffenen christlichen Texte. Einige Christusgläubigen brachten eine literarische Bildung mit in die neue Gemeinschaft. Sie waren mit der literarischen Praxis der Synagogen oder auch der griechischen literarischen Bildung ver- 24 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Zum Thema 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 24 überraschen, dass in den Schriften des Paulus der jüdischen Literatur der Status zukommt, den die klassischen Texte der Antike bei den hellenistischen Autoren innehatten. Mit Blick auf die Schriften des Paulus ist davon auszugehen, dass die jüdische Literatur die griechische als die autoritative literarische Tradition ersetzen konnte. Dieser Gedanke plausibilisiert sich um so mehr, wenn beachtet wird, dass Paulus in seinen Schriften die jüdische literarische Tradition in derselben Weise behandelt, wie zeitgenössische griechische Autoren in ihren Schriften mit der klassischen griechischen Literatur umgehen. 30 Die Untersuchung von den Beziehungen zwischen antiken Bildungssystemen und dem frühen Christentum ist ein lohnendes Unternehmen, wo noch vieles untersucht werden kann. Literarische Texte bekamen sehr früh eine bemerkenswerte Funktion in den Gruppen der Christusgläubigen. Bald dürfte die intensive Verwendung von Literatur den Bedarf an literarischer Bildung die Zuwendung zu hellenistischen Bildungssystemen weiter gefördert haben. l Anmerkungen 1 Ausführliche Darstellungen finden sich u. a. in: H.-I . Marrou, Geschichte der Erziehung im klassischen Altertum, Freiburg / München 1957; J. Christes / R. Klein / C. Lüth (Hgg.), Handbuch der Erziehung und Bildung in der Antike, Darmstadt 2006; T. Vegge Paulus und das antike Schulwesen. Schule und Bildung des Paulus (BZNW 134), Berlin / New York 2006, 3-340. 2 W.V. Harris, Ancient Literacy, Cambridge 1989, 15-17, 137 und 329; T. Morgan, Literate Education in the Hellenistic and Roman Worlds, Cambridge 1998, 72- 73; Christes / Klein / Lüth, Handbuch, 17f. Zu Definitionen von Lese- und Schreibfähigkeit und den mit ihrer Formulierung verbundenen Schwierigkeiten vgl. Harris, Ancient Literacy, 3-8. Die Einschätzung wird auch durch moderne Vorverständnisse erschwert, wenn etwa ein hohes kulturelles Niveau vorbehaltlos mit Schrift (vgl. Harris, Ancient Literacy, 40-41) oder wenn Schrift und Schreibfähigkeit ebenso mit hohem Status verbunden wird. Ferner P.J.J. Botha, Greco-Roman Literacy as Setting for New Testament Writings, Neotestamentica 26 (1992), 195-215: bes. 196-199. 3 Christes / Klein / Lüth, Handbuch, 108. 4 Quintilian, inst. I 1,37; Marrou, Geschichte der Erziehung, 224. Zu den unterschiedlichen elementaren Schreibübungen vgl. besonders T. Morgan, Literate education. Zu Elementarunterricht vgl. ferner A.D. Booth, Elementary and Secondary Education in the Roman Empire, Florilegium 1, 1979, 1-14; R.F. Hock, Paul and Greco-Roman Education, in: J.P. Sampley Argumentationen geläufigen Topoi vertraut war. Das Progymnasma »Thesis« gehörte zu den letzten und komplexesten Übungen der Rhetorikschule und die Thesis fand als literarische Form in der Textproduktion der Philosophenschulen Verwendung. 25 Seine Briefe zeigen ferner Vertrautheit mit philosophisch gebildeter Redeweise wie der Diatribe. 26 In 2Kor 10-13 lassen sich elliptische Stilelemente aufzeigen, die dem verkürzten Stil des philosophischen Unterrichts vergleichbar sind. Dialogische Elemente wie rhetorische Fragen gehören zu den Charakteristika dieses Stils. In 2Kor 10-13 finden sich solche Elemente in 11,7; 11,11; 11,22-23; 11,29; 12,13; 12,15 und 12,17-18. Der Stil kann als elliptisch gelten, wenn die intendierte Meinung nicht Wort für Wort ausgesprochen ist. Der erzielte Effekt ist, dass der Hörer / Leser das Ausgelassene ausfüllen und das Intendierte, aber nicht Gesagte, verstehen soll. Das vollständig ausgeführte logisch aufgebaute Argument des Syllogismus besteht aus Behauptung (Vordersatz / propositio), Prämissen und Konklusion. In Rede und Unterricht konnten Elemente ausgelassen sein, z.B. die Konklusion, und es wurde dem Zuhörer überlassen, das nicht Ausgesagte selbst zu ergänzen. Solche kurzgefassten (elliptischen) Argumente (Enthymeme oder rhetorische Syllogismen genannt) finden sich in 2Kor 10-13 in 10,3-5 (Vordersatz: »Wir kämpfen nicht auf fleischlicher Weise«); 11,13-15 (Vordersatz: »Solche sind falsche Apostel«) und 13,3-4 (Vordersatz: »Christus redet in mir«). 27 Als Quelle solcher Argumentationskunst boten sich philosophenschulenähnliche Kreise an, in denen religiöse und philosophische Themen verhandelt wurden und thematische Beziehungen lassen sich ebenfalls aufzeigen. 28 Zu den beliebtesten literarischen Formen der Philosophenschulen gehörte der Brief und die Form des philosophischen Briefes scheint besonders interessant in Bezug auf die frühchristlichen Briefe. 29 Literarische Bildung bedeutet Vertrautheit mit der literarischen Tradition und bei hellenistischen Autoren zeigte sich ihre Bildung im Zitieren aus und durch Verweise auf klassische Texte. Bei Paulus fällt zwar auf, dass direkte inhaltliche Hinweise auf diese Tradition in seinen Schriften so gut wie nicht vorhanden sind. Aber es kann nicht ZNT 21 (11. Jg. 2008) 25 Tor Vegge Antike Bildungssysteme im Verhältnis zum frühen Christentum 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 25 Quintilian, institutio oratoria. 13 M. Erler, Art. Philosophische Literaturformen, DNP 9, 871-877: 871. 14 S.K. Stowers, Letter Writing in Greco-Roman Antiquity (Library of Early Christianity 5), Philadelphia 1986, 38. 15 Stowers, Letter Writing, 39-40. Vgl. ferner K. Berger, Hellenistische Gattungen im Neuen Testament, ANRW 2.25/ 2, 1133, Anm. 87. 16 Zu Schule und Kulten vgl. M.P. Nilsson, Die hellenistische Schule, München 1955, 61f. 67-71; I. Hadort, Art. Gymnasion. Das hellenistische Gymnasion, DNP 5, 23-27: 24-25. 17 Christes / Klein / Lüth, Handbuch, 153. 18 R.L. Wilken, Kollegien, Philosophenschulen und Theologie, in: W.A. Meeks (Hg.), Zur Soziologie des Urchristentums, München 1979, 165-193: 167 und 169. 19 T. Vegge, The Literacy of Jesus the Carpenter´s Son. On the literary style in the words of Jesus, Studia Theologica 59 (2005), 19-37. 20 In vielen fachwissenschaftlichen Beiträgen, von denen hier in den Fußnoten nur eine kleine Auswahl berücksichtigt werden kann, sind Beziehungen zwischen Paulus’ Briefen und hellenistischer Bildung aufgezeigt und diskutiert worden. 21 J. Weiß, Beiträge zur Paulinischen Rhetorik, in: C.R. Gregory / A. Harnack u.a. (Hgg.), Theologische Studien, FS Bernhard Weiß, Göttingen 1897, 165-247. 22 H.D. Betz, Galatians (Hermeneia), Philadelphia 1979. 23 D. Hellholm, Enthymemic Argumentation in Paul: The Case of Romans 6, in: T. Engberg-Pedersen (Hg.), Paul in His Hellenistic Context, Minneapolis 1995, 119-179. 24 Siehe Hock, Paul and Greco-Roman Education. 25 Vegge, Schulwesen, 376-406. 26 Siehe S.K. Stowers, The Diatribe and Paul’s letter to the Romans (SBL.DS, Bd. 57), Chico 1981, und die Diskussion in T. Schmeller, Paulus und die »Diatribe«. Eine vergleichende Stilinterpretation. Münster 1987. 27 Siehe Vegge, Schulwesen, 406-423, wo auch Hinweise auf mehrere Forschungsbeiträge zu finden sind. 28 A.J. Malherbe, Paul and the Popular Philosophers, Minneapolis 1989; T. Engberg-Pedersen, Paul and the Stoics, Edinburgh 2000. 29 W.G. Müller, Art. Brief, HWdR 2, 60-76: 64; H. Görgemanns, Art. Epistolographie, DNP 3, 1166-1169: 1167; Stowers, Letter Writing, 36; Berger, Hellenistische Gattungen, 1133. 30 Vgl. C.D. Stanley, Paul and Homer: Greco-Roman Citation Practice in the First Century CE, NT 32 (1990), 48-78. (Hg.): Paul in the Greco-Roman World, Harrisburgh / London / New York 2003, 198-227: bes. 199-204. 5 Zum Schreibunterricht vgl. R. Cribiore, Writing, Teachers, and Students in Graeco-Roman Egypt, American Studies in Papyrology 36, Atlanta 1996; R.F. Hock, Homer in Greco-Roman Education, in: D.R. MacDonald (Hg.), Mimesis and Intertextuality in Antiquity and Christianity, Harrisburg 2001, 56-77: 59-63. 6 Quintilian, inst. I.8 und X. Vgl. besonders die Darstellung von Teresa Morgan, in der aufgrund von auf Papyri erhaltenen Schultexten die Verwendung der klassischen Autoren untersucht wird (Morgan, Literate Education). Ronald F. Hock weist auf die hervorragende Position von Homer in der literarischen Ausbildung sowohl im elementaren Lernen von Schreiben und Lesen als auch in den literarischen Übungen beim Grammatikos und in den Progymnasmata hin (Hock, Homer). 7 Zum Lesen im Unterricht des Grammatikers: Quintilian, inst. I.8. Quintilian gibt auch Empfehlungen zum Auswahl von geeigneter Literatur. 8 Vgl. W. Raible, Zur Entwicklung von Alphabetschrift- Systemen. Is fecit cui prodest (SHAW.PH, Jg. 1991, Bericht 1), Heidelberg 1991, 10; und J. Balogh, Voces Paginarum, Philologus 82 (1927), 84-109 und 202-240, der auf einen auf Papyrus erhaltenen Vertrag verweist, in dem ein zweijähriger Schulaufenthalt für einen Sklaven verabredet ist, damit er tadelloses Lesen lernen soll. 9 Plutarch schreibt von moralischer Exegese der Poeten und Homers in mor. (de audiendis poetis) 27A-B. 10 Zu Progymnasmata siehe D.L. Clark, Rhetoric in Greco-Roman Education, New York 1957, 177-212; S.F. Bonner, Education in Ancient Rome. From the Elder Cato to the younger Pliny, London 1977, 250-276; R.F. Hock / E.N. O´Neil, The Chreia in Ancient Rhetoric. Volume 1: The Progymnasmata (SBLTT, Bd. 27, Graeco-Roman Religion Series, Bd. 9), Atlanta 1986; G.A. Kennedy, Progymnasmata. Greek Textbooks of Prose Composition and Rhetoric, Translated with Introductions and Notes by George A. Kennedy (Writings from the Greco-Roman World, Bd. 10), Atlanta 2003; T. Vegge, Schulwesen, 121-185. 11 Vgl. D. Hellholm, Paulus fra Tarsos. Til spørsmålet om Paulus´ hellenistiske utdannelse, i T. Eide / T. Hägg (Hgg.), Dionysos og Apollon, Bergen 1989, 259-282: 262. 12 Eine ausführlichere Darstellung der einzelnen Progymnasmata findet sich in T. Vegge, Schulwesen, 137- 173. Quellen der folgenden Besprechung und Definitionen sind zunächst Theon, Progymnasmata und 26 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Zum Thema 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 26 Matthias Klinghardt Erlesenes Verstehen Leserlenkung und implizites Lesen in den Evangelien Zum Thema die im Begriff »Rezeptionsästhetik« miteinander verbunden sind: Auf der Seite der Textproduktion lässt sich die intendierte Lesestrategie an den ästhetischen Signalen des Textes ablesen; dafür stehen typische Parameter zur Verfügung, z.B. Lokalisierung (Zeit und Ort des Geschehens), Erzählstil, Charaktere, das Verhältnis von Erzählstimme (Diegesis) und Figurenrede (Mimesis), Erzählzeit und -tempo, Perspektive und vieles andere mehr. Auf der Rezeptionsseite geht es um den Prozess des Lesens selbst, also um die Frage, auf welche Weise aus diesen Signalen beim Lesen Sinn entsteht, welche Aktivitäten die Leser für diese Sinnkonstitution aufbringen müssen und wie sie ihre eigene Rolle in diesem Prozess bestimmen. »Verstehen« umfasst in rezeptionsästhetischer Hinsicht also sowohl das Wahrnehmen von Sachverhalten als auch ein Sich-Selbst-Verstehen der Leser - also genau die beiden Pole, die Bildung ausmachen: Lesen bildet. Es liegt auf der Hand, dass eine rezeptionsästhetische Beschreibung der Didaktik der Evangelien bei den (intendierten oder faktischen) Textsignalen einsetzen muss, die die Lektüre steuern, und klar ist auch, dass zwar erst die Summe aller Signale dieses Konzept konstituiert, aber nicht alle in derselben Weise dafür wichtig sind. Ich konzentriere mich daher auf besonders charakteristische Passagen, in denen das Verstehen und die Rolle der Leser selbst thematisiert werden. Und ich beschränke mich (aus Raumgründen) auf zwei Evangelien (Mt und Mk), die sehr verschiedene rezeptionsästhetische Konzepte erkennen lassen. Dass dies für Mk eine größere Ausführlichkeit erfordert als für Mt, ist sachlich durch die höhere Komplexität des mk literarischen Konzepts begründet. 2. Explizite Leser als Hörer Jesu: Mt Wie in den meisten Erzählungen ist auch in Mt gerade das Ende aufschlussreich für das literarische Konzept des Ganzen. Der sog. Tauf- und 1. Wie Lesen bildet Lesen bildet. Die Lektüre vermittelt zunächst Informationen, die selbst dann innovativ sein können, wenn sie das schon immer Gewusste aufs Neue bestätigen oder an Altbekanntem neue Aspekte zeigen. Aber Bildung ist mehr als die Mehrung eines Wissensbestandes. Bildung entsteht, wenn die Leser sich nicht nur irgendwelche Sachverhalte aneignen, sondern sich zu dem, was sie lesen, auch selbst in ein Verhältnis setzen. Für das Verstehen der Evangelien war dieser zweite Aspekt immer gegeben, wie die breite Wirkungsgeschichte zeigt. Die folgenden Überlegungen zur Leserlenkung der Evangelien gehen davon aus, dass dieser Aspekt von »erlesener Bildung« nicht nur eine gegenüber den Ausgangstexten beliebige Leistung kreativer Applikation darstellt, sondern von den Autoren intendiert war: Sie wollten nicht nur archivarisch Informationen (über Jesus, seine Geschichte usw.) sicherstellen, sondern auch das Selbstverständnis ihrer Leser verändern. Wenn die Auslegung damit rechnet, dass die Evangelien mit ihren Lesern rechnen, muss sie nach der impliziten Didaktik der Evangelien fragen, also nach den Wirkweisen, durch die sie bei ihren Lesern ein umfassendes Verstehen erzielen wollen. Nun ist die Antwort auf die Frage, auf welche Weise die Evangelien bei ihren Lesern Verstehen erzielen wollen, banal: Natürlich dadurch, dass sie ihre Geschichte gerade so erzählen, wie sie sie erzählen. Für die Beschreibung dieses »Wie« sind die grundlegenden Differenzierungen der Erzählanalyse, die in den letzten 20 Jahren in der Exegese Bedeutung gewonnen haben, ausgesprochen hilfreich. 1 Zunächst ist zwischen dem realen und dem impliziten Autor bzw. den realen und den impliziten Lesern zu unterscheiden: Über die Kommunikation zwischen dem realen Autor und den realen Lesern wissen wir so gut wie nichts, über die implizite Kommunikation dagegen eine ganze Menge, weil sie sich durch eine rezeptionsästhetische Analyse aus dem Text erheben lässt. Dabei sind die beiden Aspekte zu unterscheiden, ZNT 21 (11. Jg. 2008) 27 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 27 unmittelbar zusammen: Neben den (elf) Jüngern der Erzählung werden alle Völker genannt, die zu Jüngern gemacht werden sollen. Mt unterscheidet also die primären Apostel-Jünger, die Jesus berufen und ausgesandt hat - zuerst zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel (10,6), dann zu allen Völkern (28,19) - von den sekundären Jüngern, die erst durch diese Apostel zu Jüngern gemacht werden. Diese sekundären Jünger besitzen kein Referenzobjekt im Text; vielmehr weist die Aussendung der Elf über den Zeithorizont der Erzählung hinaus in die Zukunft und damit in die Gegenwart der Rezipienten: Diese »sekundären« Jünger sind die impliziten Leser des Mt. Unabhängig von der theologisch nicht unwichtigen Frage, ob panta ta ethne in Bezug auf das Volk Israel inklusiv oder exklusiv gemeint ist, 5 ist deutlich, dass Mt sich die Leserschaft seines Textes unter diesen Jüngern aus den Völkern denkt. Das Verhältnis dieser beiden Jüngergruppen ist komplex, aber deutlich reflektiert: Auf der einen Seite differenziert Mt genau zwischen diesen beiden Gruppen. Die Zwölf (Elf) begegnen nur in sehr bestimmten Situationen des Lebens Jesu und haben da ihren singulären, quasi historischen Ort: Im Rahmen der Aussendung zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel (10,1; 11,1), 6 im Zusammenhang der einmaligen, unwiederholbaren Konstellation der Passionsgeschichte (Einzug in Jerusalem, letztes Mahl und Verrat durch Judas) sowie in der abschließenden Sendung. Die Zwölf (Elf) sind eine unverwechselbare Gruppe, die aus der Perspektive der Leser unwiderruflich der Vergangenheit angehört. Daneben erwähnt Mt über 50 Mal die Jünger, ohne sie weiter zu spezifizieren; diese Belege schließen in der Regel die Zwölf mit ein, sind aber auf die impliziten Leser-Jünger hin transparent: Sie heißen alle unterschiedslos mathetai. Mt hat dadurch die impliziten Leser als Adressaten der Lehre Jesu mit einbezogen. 7 Ein Paradebeispiel für diese Inklusion ist die literarische Anlage der Bergpredigt: In ihr werden die Adressaten - nach dem Rahmen sind es seine Jünger (5,1) - wieder und wieder angesprochen; allerdings werden sie nicht direkt genannt, sondern nur durch Pronomina bzw. flektierte Verbformen aktualisiert. Die große Länge der Bergpredigt - hinsichtlich der dramatischen Erzählanlage ein schwerer Qualitätsmakel! 8 - erweist sich rezeptionsästhetisch als Missionsbefehl (Mt 28,16-20) fasst, wie die hier besonders dicht begegnenden Kohäsionssignale zeigen, wichtige Erzählstränge zusammen und vergegenwärtigt bei den Lesern die entscheidenden Elemente der ganzen Erzählung. Die Lokalisierung des Geschehens auf dem Berg in Galiläa verweist auf den Berg der Versuchung (4,8), den Ort der Bergpredigt (5,1) und der zweiten Speisung (15,29) sowie auf den Verklärungsberg (17,1.9) und etabliert eine theologische Höhenlinie, die die Zusammengehörigkeit dieser Elemente erweist. Wichtig ist ferner der Umstand, dass hier nicht von den Jüngern im Allgemeinen die Rede ist, sondern von den elf Jüngern: Die genaue Zahlenangabe reflektiert auf die Passionsgeschichte mit dem Verrat und dem Tod des Judas (26,14ff.; 27,1-10), der aus dem Kreis der Zwölf Apostel ausgeschieden ist. Das Vollmachtswort (28,18) bestätigt, dass Jesus die universale exousia nicht durch Proskynese vor dem Teufel (4,8), sondern durch die gehorsame Erfüllung aller Gerechtigkeit einschließlich seines Todes erlangt hat; zugleich werden die Leser daran erinnert, dass der Grundkonflikt, der dem Plot der mt Erzählung Spannung verleiht, vom Anfang bis zum Ende eine Geschichte konkurrierender Machtansprüche ist (Mt 2; 27,11ff.), die durch die Bestreitung der Vollmacht Jesu mehrfach aktualisiert wird (7,29; 9,6; 21,23-27). Die abschließende Zusage, dass Jesus alle Tage bis zur Vollendung des Äons mit den Jüngern ist (28,20), nimmt dagegen die grundlegende Bestimmung Jesu als des Immanuel nach 1,22f. wieder auf. Diese hier nur angedeuteten Kohäsionsmerkmale machen deutlich, dass »Matthäi am Letzten« die literarische Anlage und das theologische Profil des ganzen Evangeliums sehr reflektiert zusammenfasst. Erst in dieser Perspektive erhalten zwei weitere Beobachtungen Gewicht, die sich direkt auf die Frage der Leserlenkung und der Didaktik des Mt beziehen. Wichtig ist zunächst, dass Mt - im Unterschied zu den anderen Evangelien - nicht dem Erzähler (narrative voice), sondern Jesus selbst das letzte Wort gibt. Das ist insofern charakteristisch, als Mt der Figurenrede Jesu (Mimesis) im Vergleich zu den Berichten über ihn (Diegesis) deutlich mehr Raum gibt als die anderen Evangelien. Mt präsentiert Jesus in erster Linie als Lehrer, dessen Lehre in verbaler Instruktion besteht. Die zweite Beobachtung hängt damit 28 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Zum Thema 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 28 Matthias Klinghardt Prof. Dr. Matthias Klinghardt, Jahrgang 1957, 1986 Promotion und 1993 Habilitation (Neues Testament) in Heidelberg, 1988/ 89 Rice University, Houston (Tx), 1989 bis 1998 Assistent an der Universität Augsburg, seit 1998 Professor für Biblische Theologie an der TU Dresden. Missionsbefehl also ihrerseits zu Mission und Belehrung autorisiert. So gesehen ist das rezeptionsästhetische Konzept des Mt ebenso genial wie schlicht: Der erzählte Jesus belehrt nicht nur die erzählten Jünger, sondern auch die impliziten Leser: Seine Lehre ist für beide identisch. Das hat vor allem zwei Konsequenzen. Zunächst sind die intendierten Leser des Mt genau genommen keine impliziten, sondern explizite Leser. Denn Mt weist ihnen durch die Zuordnung zu den erzählten Jüngern eine explizite Rolle zu und macht deutlich, dass sie die gesamte Lehre des mt Jesus direkt auf sich applizieren können und sollen. Damit hängt ein Zweites zusammen: Die Normen, die die mt Erzählung mit der Lehre Jesu transportiert, sind mit den Normen identisch, die bei den intendierten Lesern in Geltung stehen sollen: Sie sollen als Regulative rezipiert werden, nicht aber die Normativität als solche thematisieren. Aufgrund der Identität der erzählten Jünger mit den »explizit implizierten« Lesern dürfen diese bei ihrer Lektüre auch keinen eigenen Sinn konstituieren, dessen Zielrichtung sich von dem der Erzählung abkehren würde. Dieser Eindeutigkeit, mit der die Rolle der Leser festgeschrieben ist, entspricht die Eindeutigkeit der Lehre Jesu: Indem der mt Jesus über die Jünger der Erzählung hinaus auch die Leser direkt anspricht und belehrt, muss seine Lehre auch verständlich, klar und unmissverständlich sein. Diese systembedingte Eindeutigkeit macht jene gewisse Humorlosigkeit unvermeidlich, mit der Mt auch noch die kleinste Pointe »weg-erklärt«, deren eigenständige Entschlüsselung dem Leser möglicherweise Vergnügen bereitet hätte. 9 Aber diese Eigenständigkeit hätte eine interpretatorische Freiheit sowohl vorausgesetzt als auch vermittelt: Sie würde den Leser dazu nötigen, seine eigenen Fähigkeiten gegenüber dem Text zu aktivieren und könnte ihn auf diese Weise den Restriktionen seiner Lebenswelt entheben. Aber diese Freiheit, die eigene Rolle im Prozess des Lesens selbst zu definieren oder gar zu verändern, überlässt Mt dem Leser nicht. Mt ist, unbeschadet der Fiktionalität des narrativen Gesamtcharakters, als Lehrbuch konzipiert. Sein Vorteil und als wichtiges Element des literarischen Konzepts: Die fehlende dramatische Rückbindung der Bergpredigt an die erzählte Situation bewirkt eine Entkontextualisierung, die zur Folge hat, dass die impliziten Leser-Jünger die Anrede »ihr« direkt auf sich beziehen müssen. Damit erklärt sich auch die Nivellierung des Autoritätsgefälles, das zwischen den beiden Gruppen von Jüngern besteht: Der Missionsbefehl verbindet sie nicht nur genealogisch miteinander, sondern setzt sie auch in eine Autoritätsbeziehung, indem die einen die anderen belehren sollen. Gleichwohl gilt für alle das Verbot, sich selbst Rabbi nennen zu lassen, denn nur einer ist euer Lehrer, ihr aber seid alle Brüder (23,8). Durch diese beiden Pole wird die Rezeption erkennbar gesteuert. Auf der einen Seite sind die Leser als direkte Adressaten der Lehre Jesu mit den erzählten Jüngern gleichursprünglich; da Jesus aber der einzige Lehrer ist, sind sie auch nicht von der Autorität ihrer missionarischen Lehrer abhängig. Auf der anderen Seite können und sollen die Rezipienten alles, was zu den Jüngern der Erzählung gesagt ist, auf sich selbst beziehen: Die Rezipienten-Jünger werden im Tauf- und ZNT 21 (11. Jg. 2008) 29 Matthias Klinghardt Erlesenes Verstehen »Aber diese Freiheit, die eigene Rolle im Prozess des Lesens selbst zu definieren oder gar zu verändern, überlässt Mt dem Leser nicht. ... Ihre Lese-Leistung besteht im gehorsamen Hören.« 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 29 ren und Lesehilfen vorenthalten: Um dem Text einen Sinn abzugewinnen, müssen sie selbst Zusammenhänge herstellen, innere Bezüge zwischen den Textsegmenten aufspüren, Mehrdeutigkeiten beseitigen und symbolische Konnotationen entschlüsseln. Gleichwohl sind die Sinnkonstitution und die Rolle, die die impliziten Leser in diesem Prozess einnehmen müssen, nicht beliebig, sondern durch eine narrative Strategie genau bestimmt, die sich anhand einer Reihe von Erzählsignalen auch nachzeichnen lässt. Als Beispiel wähle ich die Aussagen über das Nicht-Verstehen der Jünger, die ja schon seit W. Wrede als Angelpunkte der mk Darstellung erkannt sind. Unter diesen Texten ragen zwei besonders heraus (Mk 6,52; 8,17-21), die aufgrund einer Reihe von Gemeinsamkeiten deutlich aufeinander bezogen sind: An beiden Stellen werden die Jünger für ihr Nicht-Verstehen heftig getadelt (einmal durch den Erzähler, einmal durch Jesus), beide Male in Verbindung mit dem Vorwurf der Herzenshärte. In beiden Fällen bezieht sich das Nicht-Verstehen auf das Brot bzw. die Brote. Und in beiden Fällen lässt die Erzählung offen, was genau die Jünger eigentlich hätten verstehen sollen - ein erkennbarer Appell an den Leser, sich selbst einen Reim auf diesen Vorwurf zu machen. Da ich die Zusammenhänge an anderer Stelle ausführlicher begründet habe, 11 beschränke ich mich auf einige zusammenfassende Bemerkungen, die jedoch gleichwohl den Erzählfortschritt deutlich machen sollen. Diese beiden Unverständnistexte gehören zu der großen Erzähleinheit Mk 3,7-8,21, die rund um den See Genezareth spielt und durch die Berufung bzw. Aussendung der Jünger strukturiert ist. Der Erzähler erklärt (3,14), dass das Jünger- Sein durch die beiden Aspekte »Mit ihm sein« und »Aussendung (zu Verkündigung und Exorzismus)« bestimmt sei. Die Erzählung von der Aussendung der Jünger (6,6ff.) greift die Elemente der zweiten Bestimmung auf, so dass die ganze Einheit als narrative Einweisung in die Jüngerschaft zu verstehen ist. In diesem Rahmen sind die Jünger zunächst mit ihm. Die enge Gemeinschaft mit Jesus ist zunächst räumlich gefasst (3,20-35: im Haus; 4,1-34: im Boot) und unterscheidet die, die mit ihm sind, von denen draußen und qualifiziert sie als Adressaten seiner Lehre (3,31-35; 4,11): Sie sind zum Verstehen ausersehen, das ihrezeptionsästhetisches Konzept spielt nicht mit dem Imaginationsvermögen der Leser, sondern weist ihnen eine eindeutige und eng begrenzte Funktion bei der Sinnkonstitution zu: Ihre Lese- Leistung besteht im gehorsamen Hören. 3. Implizites Lesen und Verstehen: Mk Dass Mt dieses literarische Konzept der Eindeutigkeit bewusst gewählt hat, zeigt der Vergleich mit Mk, auf dem Mt ja zu einem guten Teil beruht. Denn das mk Konzept zur Leserlenkung ist in mancherlei Hinsicht ein genaues Gegenstück zu Mt. Das fängt am Ende an: Während Mt das letzte, gewichtige und die Leserrolle explizierende Wort seinem Jesus in den Mund legt, gehört bei Mk das letzte Wort der Erzählstimme. Charakteristischerweise erklärt diese Stimme nicht nur nichts, sondern wirft aufgrund der Abruptheit des Endes - Die Frauen sagten niemandem etwas, sie fürchteten sich nämlich (16,8) - Fragen über Fragen auf: Wie haben die Jünger der Erzählung, die ja wiederholt durch Unverständnis und Unvermögen aufgefallen waren, am Ende von der Auferstehung Jesu Kenntnis erhalten? Und: Wie gelangt die Botschaft von der Auferstehung zu den Lesern, wenn Petrus und die anderen Jünger sie ihnen nicht weitergeben konnten? Diese Fragen drängen sich auf, wenn man Mk von den Erscheinungsberichten bei Mt und den anderen Evangelien her liest. Liest man Mk für sich, dann bleibt hier bezüglich der impliziten Leser nur eine Unbestimmtheitsstelle, die darauf aufmerksam macht, dass der »implizite Leser« weniger eine Typologie der möglichen Leser bezeichnet als vielmehr den im Text vorgezeichneten Akt des Lesens selbst, der die Aufgabe der Sinnkonstitution in hohem Maß dem Leser zuweist. In der Tat ist Mk ein Paradebeispiel dafür, wie der Verzicht auf eindeutige Leserlenkung dazu führt, dass die Leser in dem offenen Prozess der Lektüre eine aktive Rolle einnehmen. Das zeigt bereits die fragmentarische Erzählweise des Mk: In sehr viel höherem Maß als die anderen Evangelien reiht Mk autarke Einzelepisoden durch einfache Parataxe aneinander, ohne sie durch den narrativen Rahmen oder andere Elemente erkennbar miteinander zu verbinden. 10 Auf diese Weise bleiben den Lesern offensichtliche Deutungsstruktu- 30 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Zum Thema 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 30 lich, dass der Umgang mit der Speise ein Problem der Überlieferung der Menschen 13 darstellt, an der die Kritisierten gegen Gottes Gebot festhalten: sie vertreten eine falsche Lehre. Sodann wird deutlich, dass nicht die Speisen einen Menschen verunreinigen, sondern das, was aus dem Menschen herausgeht (7,15). Im Zusammenhang mit dem vorangehenden Pharisäergespräch heißt das: Nicht Speise, sondern falsche Lehre verunreinigt; dass Jesus mit diesem Wort alle Speisen für rein erklärte (7,19b), ist eine Verstehenshilfe des Erzählers, die sich auf der Rezipientenebene erkennbar auf die Probleme der Heidenmission bezieht. Der entscheidende, hier nur angedeutete Sachverhalt wird im Folgenden narrativ entfaltet und von der syrophönizischen Frau metaphorisch auf den Punkt gebracht: Kindlein und Hündlein leben von demselben Brot (7,28). Die Frau hat ihr richtiges Verstehen gut formuliert: Jesus sieht sich wegen dieses Wortes zum Exorzismus veranlasst und befreit das Kindlein vom Dämon (7,29). Dass es hier tatsächlich um das richtige Verstehen und seine Formulierung geht (und nicht undifferenziert um Glauben wie in Mt 15,28), zeigt die anschließende Heilung des Taubstummen aus der Dekapolis, dem die Ohren geöffnet werden und der dann richtig redet (7,35): Diese Heilung verbindet die beiden Elemente, die in der Aufforderung Hört und versteht! (7,14) 14 bzw. in dem Wort (7,29) der Syrophönizierin noch getrennt benannt sind. Die Jünger hinken jedoch dieser Einsicht noch hinterher - und scheitern erneut bei der Sättigung der Menge (8,1-9). Allerdings sind sie nicht einfach unbelehrbar, sondern nur von der neuen Situation überfordert: Im Unterschied zur ersten Speisung wissen sie, dass es an ihnen ist, die Menge zu sättigen, und sie haben inzwischen auch verstanden, dass sie dazu nicht von Jesus weggehen müssen. Aber sie verstehen nicht, von wo her jemand diese hier in der Wüste mit Broten sättigen kann (8,4): Nach der Lokalisierung von 7,31 sind diese hier in der Wüste am ehesten Heiden in der Dekapolis. Der kompetente Leser ist den Jüngern hier einen Schritt voraus und weiß, dass Juden wie Heiden von ein und demselben Brot satt werden, wie denn auch der Fortgang der Geschichte erweist: Die Brote der Jünger reichen zur Sättigung auch dieser Menge aus. Die beiden folgenden Bootsfahrten (8,10- 13.14-21) verschieben das Lernziel für die Jünger nen durch die Belehrung Jesu zuteil wird. Nach dieser Belehrung folgt eine Art Hospitationsphase (4,35-6,6a): Die Jünger begleiten Jesus (und sind auf diese Weise mit ihm) quer über den See und zurück, sie beobachten ihn bei Exorzismen, Heilungen und Verkündigung - also bei genau den Tätigkeiten, zu denen sie später selbst ausgesandt werden -, nehmen aber zunächst selbst keine aktive Rolle ein. Was die Jünger an ihrem Vorbild Jesus lernen, ist auch, dass er trotz großer und unbezweifelbarer Machttaten abgelehnt wird (5,17; 6,1-6a). Nach dieser Hospitationsphase sendet Jesus die Jünger zu ihren ersten eigenen Missionsversuchen aus (6,6ff.), und in diesem Zusammenhang wird das erste Scheitern vermerkt. Es bezieht sich charakteristischerweise nicht auf die Fähigkeit zu Exorzismen und Heilungen (die nach 6,12f.30 kein Problem darstellen), sondern auf die Sättigung der großen Menge, unter der man sich nach dem Bericht 6,30f. die Adressaten der erfolgreichen Mission der Jünger vorstellt: Als Jesus die Jünger auffordert, die Menge zu sättigen, sehen sie nur die Möglichkeit, von Jesus wegzugehen, um … Brote zu kaufen und sie ihnen zu essen zu geben (6,37), was die Preisgabe der ersten Bestimmung des Jünger-Seins bedeuten würde. Erst als sie der Aufforderung Jesu nachkommen und ihre eigenen Brote austeilen, merken sie, dass diese für die Sättigung der großen Menge ausreichen. Spätestens von hier an wird die verbreitete Metaphorik Brot / Speise für Lehre 12 vorausgesetzt: Die Jünger lernen, dass ihre Verkündigung einer großen Menge Orientierung geben kann. Aber es ist nicht diese symbolische Konnotation der Brote, die die Jünger nicht verstehen. Der Tadel des Erzählers bezieht sich auf ihr Erschrecken, als Jesus plötzlich bei ihnen im Boot ist (6,45ff.): Hätten die Jünger bei den Broten verstanden (6,51f.), wären sie nicht über seine plötzliche Gegenwart im Boot erschrocken. Für die Leser bleibt zunächst unklar, was genau es bei den Broten zu verstehen gab. Anstelle einer Erklärung entwickelt Mk die Metaphorik des Brotes weiter: Die große Belehrung über Rein und Unrein (7,1-23), deren entscheidende Passage sich wieder an die Jünger allein richtet (7,17ff.), erhellt den Zusammenhang von Speise und Lehre auf komplexe Weise, an der zwei Aspekte wichtig sind: In der einleitenden Auseinandersetzung mit den Pharisäern und Schriftgelehrten wird deut- ZNT 21 (11. Jg. 2008) 31 Matthias Klinghardt Erlesenes Verstehen 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 31 Ende in sein Haus zurückschickt (8,26). Die Heilung des blinden Bartimäus führt dagegen sofort zu völliger Klarheit, die darin ihren Ausdruck findet, dass er Jesus auf dem Weg nach Jerusalem nachfolgt (10,52). Zwischen diesen beiden Blindenheilungen liegen die Belehrungen Jesu über die Notwendigkeit seines Leidens und über die Konsequenzen, die sich aus der Abfolge von Niedrigkeit und Herrlichkeit für die Jünger ergeben. Wie schon zuvor ist das, was Jesus sagt, nur im Kontext dessen verständlich, was über ihn erzählt wird (vor allem 9,1-8). Im Vergleich zu dem vorangehenden großen Abschnitt verschieben sich jedoch mit dem Gesamtthema auch die Topographie und die Basismetaphorik: Jesus ist nicht mehr am See als dem Ort der Jüngerberufungen (1,16-20; 2,13f.; 3,7-19), sondern auf dem Weg, 16 der ihn nach Jerusalem in die Passion führt und auf dem ihm die Jünger nachfolgen; auch in diesem Abschnitt begegnet das Unverständnis der Jünger (wenn auch in anderer Terminologie), aber es bezieht sich jetzt auf andere Sachverhalte. Wenn man die Leseerfahrungen aus Mk 3-8 auf diesen Abschnitt übertragen darf, dann liegt nahe, dass sich auch hier Unverständnis und Verstehen der Jünger weiter dynamisch entwickeln. 4. Metaphernspiel und Konsistenzbildung: Leseleistungen Diese Beschreibung der Textsignale erlaubt es, jetzt auch schärfer die für die Sinnkonstitution von den Rezipienten geforderten Lese-Aktivitäten ins Auge zu fassen. Im Grunde sind zwei voneinander unterschiedene, gleichwohl eng miteinander verbundene Leseleistungen erforderlich: Die Wahrnehmung des übergreifenden Erzählzusammenhangs hinter der fragmentierten Darstellungsweise und die Entschlüsselung der symbolischen Polysemie des gesamten Geschehens. Beide Aspekte sind im Verstehen der grundlegenden Leitmetaphern miteinander verknüpft: Für den vorgestellten Abschnitt sind dies neben dem Boot und später dem Weg vor allem das Brot. Allerdings besitzen diese Leitmetaphern neben der denotativen mehr als nur eine konnotative Bedeutung. So steht z.B. das Boot nicht nur - analog zum Haus in 3,20ff. - für den Ort der engen Gemeinschaft und der Belehrung, sondern auch für ein weiteres Mal: Die erste Fahrt konfrontiert sie mit der Forderung der Pharisäer nach einem Legitimationszeichen, was nach der Speisung der Heiden insofern nachvollziehbar ist, als es ihre schon als falsch erwiesene Position von 7,1ff. bestätigt: Im Unterschied zu den Jüngern haben die Pharisäer nichts dazugelernt, Jesus verweigert ein Zeichen. Die zweite Fahrt mit dem Gespräch zwischen Jesus und den Jüngern zeigt jedoch, dass das daraus resultierende Konfliktpotential dadurch noch nicht beseitigt ist: Während sich die Jünger darüber Gedanken machen, dass sie keine Brote außer dem Einen Brot bei sich im Boot hatten (8,14.16), warnt Jesus sie vor dem Sauerteig der Pharisäer und des Herodes (8,15). Die Abfolge der Äußerungen erweckt den Anschein, als würden Jesus und die Jünger aneinander vorbeireden. Tatsächlich aber thematisieren alle Äußerungen die Implikation des einen Brotes für Juden und Heiden. Obwohl die Jünger doch gelernt hatten, dass ihre eigenen Brote auch für die Sättigung von Heiden ausreichen und dass es also nur ein einziges Brot geben kann, hat die pharisäische Legitimationsforderung eine neue Dimension ins Spiel gebracht: Es ist für die Jünger gefährlich, für Juden und Heiden ein und dasselbe Brot zu haben. Deswegen warnt Jesus vor dem (ansteckenden und verunreinigenden) Sauerteig(brot) 15 der Pharisäer und des Herodes, der hier (nach 3,6 und 6,14-29! ) als Konkretisierung der Gefährdung zu verstehen ist. Die Jünger haben zwar die Lehre Jesu (7,17ff) gehört und seine Taten gesehen (8,1- 9), aber sie verstehen nicht (8,17), weil sie sich nicht an die beiden Speisungen erinnern (8,18), an denen sie hätten lernen können, dass es nur ein einziges Brot gibt: Das, das sie bei sich haben. Die abschließende Frage »Versteht ihr immer noch nicht? « (8,21) ist ein vorausweisendes Signal: Das Verstehen, das (den Jüngern? den Lesern? ) an dieser Stelle noch fehlt, bezieht sich nicht so sehr darauf, dass es nur ein einziges Brot gibt, als vielmehr auf die Frage, wie diese Einsicht angesichts der Bedrohung durch die Pharisäer realisiert werden kann. Der Lernprozess, der diese Einsicht vermittelt, ist durch die beiden Blindenheilungen (8,21-26; 10,46-52) gerahmt. Die erste Heilung, markiert den Anfang des Verstehensprozesses: Der Blinde von Bethsaida kann zunächst nur undeutlich sehen, die Heilung ist ein Prozess, in dem Jesus nachbessern muss - und den Geheilten am 32 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Zum Thema 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 32 sie in der Lage sind, eine große Menge zu sättigen = zu belehren, die Jünger vor dem Erschrecken über die plötzliche Gegenwart Jesu bei ihnen im Boot bewahren sollen? Das Verstehen, das die Leser für den Zusammenhang bei den Broten von 6,35-44 erlangen müssten, ist höchst spezifisch und lässt sich aus dem vorangehenden Kontext allein nicht erheben, sondern muss mehrere Aspekte berücksichtigen: Aus dem vorangehenden Kontext ist zu erinnern, dass im ersten Fall von Seenot (4,35ff.) Jesus bei den Jüngern im Boot war. Wenn die Leser diese Information mit der Einsicht aus der letzten Bootsfahrt verbinden, dass die Jünger ein einziges Brot bei sich im Boot haben und deshalb keine Furcht vor den Anfeindungen der Pharisäer zu haben brauchen (8,14ff.), dann wird erkennbar, dass dieses Brot ihre Verkündigung repräsentiert, die Jesus selbst zum Inhalt hat - eine Einsicht, die im Bericht vom letzten Mahl noch einmal aufgegriffen wird: Jesus selbst ist das eine Brot (14,22). Wenn Jesus selbst das Brot ist, mit dem die Jünger Juden wie Heiden sättigen, dann ist damit natürlich der Bericht über ihn gemeint - also nichts anderes als die Erzählung des Mk selbst. Aus diesen Überlegungen zur Entschlüsselung der enkodierten Metaphorik ergeben sich zwei Folgerungen. Zunächst ist klar geworden, dass die Leitmetapher Brot ihre komplexe Polysemie erst im Verlauf der Erzählung erhält: Das metaphorische Verstehen setzt die Wahrnehmung übergreifender Textstrukturen hinter der fragmentierten Textgestaltung voraus. Oder umgekehrt: Die Vielschichtigkeit der Metaphorik nötigt den Leser zur Konsistenzbildung. Beide Leseleistungen gehen Hand in Hand und etablieren die Sinngestalt des Textes. Vor allem aber ist deutlich, dass eine Erstlektüre diese Bedeutungsfülle gar nicht erschließen kann: Mk rechnet mit Mehrfachlesern, die zurückblättern bzw. noch einmal von vorne zu lesen beginnen. 18 Das aber heißt, dass bei der wiederholten Lektüre desselben Textes unterschiedliche Sinngestalten entworfen werden, die natürlich nie gleichzeitig realisiert werden können, wobei in der ästhetischen Strategie des Mk bereits eine Nötigung zur Mehrfachlektüre angelegt ist. Denn der zweimalige Hinweis, dass Jesus seinen Jüngern in die Gefährdung bei der Fahrt über den See im Rahmen der Aussendung (4,35ff.; 6,45ff.; 8,14ff.). Oder: Mit Brot ist durch die traditionelle Metaphorik Lehre konnotiert. Aber sowohl die Verzweigung des Wortfelds und seine Verbindung mit benachbarten Wortfeldern als auch die Dynamik der Erzählung machen eine einfache Dechiffrierung unmöglich und zeigen, dass die Bedeutungsebenen nicht einfach allegorisch aufeinander bezogen sind. Zunächst bestimmt die Leitmetapher Brot ein ganzes Wortfeld, 17 das seine Komplexität dadurch erhält, dass es durch - ebenfalls metaphorisch gebrauchte - benachbarte Begriffe erweitert ist: Diese beziehen sich beispielsweise auf die Subjekte des Essens (Kinder / Hunde) oder auf die unterschiedliche Qualität der Speise, wobei der metaphorische Gehalt von Sauerteig(brot) in zwei verschiedene Richtungen entfaltet werden muss (»durchdringen / anstecken«; »rein / unrein«). Ein einfaches Lexikon symbolischer Konnotationen wäre hier rasch überfordert. Sodann ist die metaphorische Bedeutungsebene in der kommentierenden Erläuterung des Erzählers in 7,19b verlassen: Der Hinweis, dass Jesus alle Speisen für rein erklärte, darf nicht als Metapher für Lehre verstanden werden, soll nicht der gesamte Zusammenhang ad absurdum geführt werden. Vielmehr müssen die Leser hier die denotative Bedeutung von Speisen substituieren und die Erläuterung - etwa im Sinn von Apg 10f. - auf das Problem der Tischgemeinschaft in gemischten Gemeinden beziehen. Immerhin sind der überraschende Wechsel zur denotativen Bedeutung der Leitmetapher sowie der Umstand, dass die Erklärung unvermittelt der Erzählstimme in den Mund gelegt wird, deutliche Signale, die die Leser auf die Spur einer textexternen Referenz führen können. Und schließlich verändern sich die konnotierten Bedeutungsaspekte von Brot mit dem Fortgang der Erzählung, und zwar auch dann, wenn die Basismetaphorik »Brot für Lehre« aktualisiert wird. So lässt sich der Vorwurf des Erzählers denn sie hatten bei den Broten nicht verstanden (6,52) allein mit dieser Basismetapher gar nicht verstehen: Denn inwiefern hätte das Wissen, dass ZNT 21 (11. Jg. 2008) 33 Matthias Klinghardt Erlesenes Verstehen »Mk rechnet mit Mehrfachlesern, die zurückblättern bzw. noch einmal von vorne zu lesen beginnen.« 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 33 daraus folgend, der implizierten Leseakte behandelt die beiden Evangelien als eigenständige und jeweils komplette Texte. Diese Annahme ist jedoch eine wissenschaftliche Fiktion, die zwar unter dem diachronen Gesichtspunkt der Textproduktion eine sinnvolle Annahme darstellt, die aber durch keinerlei Spuren in der Handschriftenüberlieferung erhärtet werden kann und der überlieferten Textgestalt nicht entspricht. Wichtiger ist: Für eine rezeptionsästhetische Fragestellung würde die Annahme, dass »Mt« und »Mk« eigenständige Texte seien, entscheidende Gesichtspunkte ausblenden. Denn tatsächlich »gibt« es beide Evangelien nur als Teiltexte des gesamten NT, in dessen Rahmen sie seit dem 2. Jh. auch ausschließlich gelesen werden: Die unterschiedlichen literarischen Konzepte begegnen also immer schon als komplementäre Modelle, von denen keines exklusive Geltung beanspruchen kann. Dieses Nebeneinander ist aber nicht das zufällige Produkt eines ungesteuerten Wachstums- oder Sammlungsprozesses, sondern wiederum Teil einer literarischen Strategie, in diesem Fall der Kanonischen Ausgabe des NT, die ihrerseits rezeptionsästhetisch beschrieben werden kann. 20 Die Wirkungsgeschichte des NT zeigt, dass die innerkanonischen Bezüge zwischen den einzelnen Schriften schon immer gesehen und interpretiert wurden. Erst die kritische Exegese hat mit ihrer »historischen« Herauslösung der einzelnen Schriften aus diesem Referenzrahmen diese Zusammengehörigkeit aus dem Blickfeld verschwinden lassen. 21 Um dem Vorwurf des Rückfalls in eine vorkritische Interpretation zu wehren, beschränke ich mich für die rezeptionsästhetische Würdigung des redaktionellen Konzepts der Kanonischen Ausgabe daher auf diejenigen Signale, die nachweislich von der Edition intendiert waren und führe nur drei Beispiele für die Leserlenkung durch das editorische Konzept an. Eine der wichtigsten Lesehilfen, die die Herausgeber ihren Texten beigegeben haben, sind die Titel, die ja in den Evangelien auch die Autoren - »Matthäus« und »Markus« - nennen. Beide Angaben sind fiktiv, und beide sind gut gewählt, weil sie die jeweiligen rezeptionsästhetischen Modelle stützen. Die Autorenangabe in Mt verweist bekanntlich auf den Jünger »Matthäus«, der zu den Zwölfen gehört (Mt 9,9; 10,3): Aus der Leserperspektive ist es ein wichtiges Element, dass ein Galiläa 19 vorausgeht (14,28; 16,7) und sie ihn dort sehen werden, ist eine Referenz, die durch die Erzählung ja gerade nicht eingelöst wird: Sie verweist, ähnlich dem Missionsbefehl bei Mt, über den Zeithorizont des Evangeliums hinaus in die Gegenwart der Leser, die diese Aufforderung auf sich selbst beziehen sollen. Die Leser müssen nur zum Anfang des Buches zurückblättern, der in Galiläa spielt (1,14ff.) - auf diese Weise werden sie selbst Jesus sehen und können ihm, wenn er ihnen vorausgeht, nachfolgen: nämich im Vollzug der wiederholten Lektüre und im immer komplexer werdenden Verstehen. 5. Kanonisches Lesen und Verstehen Diese Skizze hat die Unterschiede zwischen den literarischen Konzepten des Mt und des Mk deutlich werden lassen: Mt begrenzt die Interpretationsspielräume, expliziert die intendierte Rezeption, ist auf Eindeutigkeit bedacht und begründet den Anspruch des Textes gegenüber den Lesern mit maximaler Autorität: Mt lässt seinen Jesus direkt zu den Lesern sprechen. Der Text weist ihnen einen genau definierten Platz zu: Das Verhältnis zwischen beiden lässt sich als Kontrolle und Unterwerfung beschreiben. Mk steuert den Lesevorgang auf ganz andere Weise, ist aber nicht weniger effektiv: Sein literarisches Konzept ist durchaus elitär, weil es nur denen Zugang zum vollen Verstehen gewährt, die sich aktiv darum bemühen, die mehrfach lesen, die in der Lage sind, die Sinngestalt hinter der Textgestalt aufzuspüren und die Metaphern zu ergründen. Die Leser müssen ihren Platz gegenüber dem Text selbst finden und interpretierend erarbeiten. Aber wenn sie ihn gefunden haben, werden sie den Anspruch des Textes von sich aus bekräftigen, weil er sie durch seine ästhetischen Signale auf die Spur des Verstehens gelockt und im Entdeckungsprozess Freiheit gewährt hat. Der Text in ihrer Hand macht die Leser gleichursprünglich mit den Jüngern, sie hören nicht nur die Stimme Jesu, sondern sehen ihn selbst und folgen ihm verstehend nach. Die - zugestandenermaßen etwas holzschnittartig formulierten - Unterschiede zwischen diesen beiden Konzepten verweisen auf ein wichtiges Problem, das wenigstens noch angedeutet sei. Denn die Beschreibung der Textsignale und, 34 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Zum Thema 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 34 glementierende Lektüre-Strategie des Mt fungiert so als Propädeutik für die elitären Interpretationsaufgaben, die Mk den Lesern abverlangt. Umgekehrt aber - zweites Beispiel - wirkt der Schluss des Mk nach der Lektüre des mt Erscheinungsberichtes in der Tat höchst abrupt. Zwar wissen die Leser aus Mt 28 von der Erscheinung Jesu vor den Jüngern. Aber genau deswegen fällt das Fehlen einer Entsprechung bei Mk besonders ins Gewicht - und verstärkt die Wirkung der Erscheinungsankündigungen (Mk 14,28; 16,7) als Appelle an den Leser. Wie wirkungsvoll die Anordnung mit der Abfolge Mt --> Mk ist, könnte die Gegenprobe deutlich machen: die Auswirkung der Rezeptionssignale bei der Annahme einer Abfolge Mk --> Mt würde zeigen, dass die literarische Wirkung vor allem des Mk sehr deutlich leiden würde. Ein letzter Hinweis bezieht sich auf den Ausgleich von Unterschieden zwischen den Evangelien im Rahmen der Kanonischen Ausgabe. Denn auch wenn die kanonische Lektürefolge von Mt und Mk den jeweiligen literarischen Konzepten entspricht, so springen doch die inhaltlichen Unterschiede stärker ins Auge als die Gemeinsamkeiten. Die Frage, wieso es nur einen Jesus, aber vier unterschiedliche Berichte über ihn im NT gibt, wirft solange keine Fragen auf, als diese Berichte jeweils für sich als autarke Texte gelesen werden. Aber wenn die Evangelien Teile eines Gesamttextes sind, entsteht ein Problem, auf das die kanonische Redaktion mit dem Versuch reagiert hat, die Lektüre in eine bestimmte Richtung zu steuern. Besonders deutlich sind diese Signale im Lukasprolog (Lk 1,1-4) und im Johannesepilog (Joh 21,24f.). Wiederum gilt, dass diese Signale ihre Wirkung für die kanonische Lektüre auch dann entfalten, wenn sie nicht beabsichtigt waren, sondern nur ein zufälliges Sinnpotential eröffnen. In diesem Fall aber lässt sich die Nähe dieser beiden so entfernten Texte und ihre wechselseitige Beziehung auch literarhistorisch auf der Ebene der Kanonischen Redaktion wahrscheinlich machen; den entsprechenden Nachweis, dass Lk 1 (und 24) späte redaktionelle Texte sind, habe ich an anderer Stelle geführt und dort auch die Beziehung zwischen Lk 1 und Joh 21 erläutert. 23 Daher genügen hier nur Andeutungen. Kein anderer Text im NT macht die einzelnen Elemente, die den impliziten Lesevorgang konstituieren, in höherem Maß explizit als der Lukas- Begleiter Jesu, der fast ganz von Beginn an - nach der Berufung der beiden Brüderpaare (4,18ff.) ist Matthäus der fünfte namentlich Genannte - bei ihm war, als Gewährsmann die Richtigkeit dessen garantiert, was ich euch geboten habe (28,20). Das editorische Konzept der Kanonischen Ausgabe macht den impliziten Autor »Matthäus« explizit und zeigt ihn als einen der »primären« Jesusjünger, die am Ende im Missionsauftrag in ein Verhältnis zu den impliziten Lesern gesetzt werden. Im Unterschied zu »Matthäus« ist »Markus« kein Jünger Jesu und kommt auch im Text nicht selbst vor. Die Leser der Kanonischen Ausgabe können allerdings über ihn eine ganze Menge erfahren, wenn sie das ganze NT als einen kohärenten Text lesen, und ihn als Apostelschüler identifizieren, der sowohl mit Petrus als auch mit Paulus in Verbindung steht. 22 Die Distanz, die die Herausgeber auf diese Weise zwischen den Apostelschüler »Markus« als fingierten Autor und Jesus bringen, passt wiederum zum literarischen Konzept des Mk: Denn wie glaubwürdig - und: wie wirkungsvoll - hätte einer der erzählten Jünger Jesu (also etwa Petrus, Jakobus oder Johannes) als impliziter Autor des Mk das Nicht-Verstehen der Jünger formulieren können, ohne jeglichen Anspruch des Textes vollständig zu desavouieren? Mit der Zuweisung an den Apostelschüler Markus behalten die Unverständnistexte ihre Funktion für die implizite Lesestrategie, zugleich aber wird für die Leser deutlich, dass der »Verfasser« beste Verbindungen zu den ältesten und wichtigsten Aposteln besaß. Ein weiteres Element der Lesersteuerung der Kanonischen Ausgabe liegt in der Reihenfolge, in der sie die einzelnen Schriften anführt: Die Evangeliensammlung beginnt immer mit Mt, gefolgt von Mk. Dieses Element, das bei der Auslegung so gut wie nie gewürdigt wird, gibt den Lesern der gesamten Ausgabe wesentliche Verstehenshilfen, für die ich nur zwei Beispiele nenne. Das erste ist die Bändigung der mk Unverständnistexte und ihrer anarchischen Implikation: Bevor der Leser hier seine Fähigkeiten bei der Sinnkonstitution ausprobiert und in der Entschlüsselung des Metaphernspiels seine eigene Rolle entdeckt, ist er - vorausgesetzt, er hat das Buch von Anfang an gelesen - durch die Schule des Mt gegangen und hat dort in genau zugewiesener Hörerrolle gelernt, was Jesus »wirklich« gesagt hat: Die eng re- ZNT 21 (11. Jg. 2008) 35 Matthias Klinghardt Erlesenes Verstehen 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 35 tionsästhetisch verstehbaren Platz als Teile eines übergreifenden redaktionellen Konzeptes finden. Die ästhetischen Signale der Kanonischen Ausgabe intendieren eine komplementierende Lektüre, in der nicht nur die inhaltlichen Differenzen zwischen den einzelnen Evangelien aufgehoben sind, sondern auch die verschiedenen literarischen Konzepte als notwendige und sich ergänzende Leseweisen verstehbar werden. Wer die Evangelien auf diese Weise liest, wird nicht nur die unterschiedlichen Darstellungen Jesu kennen lernen und diverse Informationen über ihn aufnehmen und verarbeiten, er muss die Evangelien auch zueinander in Beziehung setzen und sich selbst in unterschiedlichen Leser-Rollen positionieren. Am Ende haben die Leserinnen und Leser im Verlauf ihrer Evangelienlektüre ganz neue Lese-Fähigkeiten erworben und stellen fest: Lesen - auch der Evangelien - bildet. l Anmerkungen 1 Zu den grundlegenden literaturwissenschaftlichen Arbeiten gehören S. Chatman, Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film, Ithaca (NY) 2 1980; G. Genette, Narrative Discourse Revisited, Ithaca (NY) 1988; W. Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung (UTB 636), München 3 1990; F. Kermode, Poetry, Narrative, History, Oxford 1990. Charakteristisch für die exegetische Rezeption in den Evangelien sind etwa: M.A. Powell, What Is Narrative Criticism? , Minneapolis 1990 (mit der älteren Lit. zum Narrative Criticism); R. Helms, Gospel Fictions, New York 1988; W.H. Kelber, Mark’s Story of Jesus, Philadelphia 5 1987; D. Rhoads / J. Dewey / D. Michie, Mark As Story. An Introduction to the Narrative of a Gospel, Minneapolis 2 1999; F. Kermode, The Genesis of Secrecy. On the Interpretation of Narrative, Cambridge (MA) / London 1979; J.D. Kingsbury, Conflict in Luke, Minneapolis 1991 E.S. Malbon, Narrative Space and Mythic Meaning in Mark, San Francisco u.a. 1986; Ch.H. Talbert, Reading Luke. A Literary and Theological Commentary, New York 1982. 3 Zum Redestoff bei MT gegenüber MK und Lk vgl. E.M. Boring (The Paucity of Sayings in Mark: A Hypothesis, SBL Seminar Papers 1977, Chico [Ca] 1977, 371-377: 377). 5 Vgl. dazu die Debatte zwischen H. Frankemölle (Die Sendung der Jünger »zu allen Völkern« [Mt 28,19]) und F. Wilk (Eingliederung von »Heiden« in die Gemeinschaft der Kinder Abrahams) in ZNT 15 (2005), 45-59. 6 Ausweislich dieser Differenzierung ist auch eindeutig, dass die Sendung zu Israel für Mt eine abgeschlossene Phase der Vergangenheit darstellt; vgl. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 26-28), EKK I/ 4, Neukirchen-Vluyn u.a. 2002, 451 zu 28,19. 7 U. Luz, Die Jesusgeschichte des Matthäus, Neukirprolog: Der implizite Autor, der als Apostelschüler »Lukas« fingiert wird und sich über das Querverweissystem der Kanonischen Ausgabe auch genau identifizieren lässt, spricht den impliziten Leser direkt mit dem sprechenden Namen Theophilos (»Gottesfreund«) an. 24 Der Prolog formuliert als Ziel der impliziten Kommunikation die Erkenntnis der Zuverlässigkeit des Wortes, in dem du unterrichtet wurdest (1,4), und untermauert seinen Geltungsanspruch durch die Versicherung, allem von Anfang an sorgfältig nachgegangen zu sein und es in der richtigen Reihenfolge aufgeschrieben zu haben (1,3). Der Grund für diesen markanten und die Zustimmung der Leser erheischenden Anspruch wird im allerersten Satz genannt, der die Existenz anderer Evangelienschriften - die dann wohl die Zweifel an der Zuverlässigkeit der eigenen Tradition geweckt haben - voraussetzt. Lk will als Text gegen diese »anderen Versuche«, hinter denen mit hoher Wahrscheinlichkeit das markionitische Evangelium steckt, verstanden werden und erklärt, dass es dazu eben eines weiteren, jetzt aber zuverlässigen Textes bedarf: Er begründet auf diese Weise die Vielfalt der kanonischen Evangeliensammlung. Der Johannesepilog dagegen begrenzt diese Vielfalt: Dass die ganze Welt die Bücher nicht fassen könnte, die man noch über Jesus schreiben müsste (21,25), bedeutet im Rahmen der Kanonischen Ausgabe: Vier sind aber wirklich genug! Diese Bemerkung erkennt daher einerseits die Vierfalt der kanonischen Evangelienüberlieferung an, schließt sie aber zugleich auch ab und reklamiert auf diese Weise, dass jetzt alles Entscheidende über Jesus selbst dann gesagt ist, wenn man noch endlos weiter schreiben könnte. So erklären diese beiden aufeinander bezogenen Texte, dass es zwar mehrere Evangelien in der Kanonischen Ausgabe gibt und geben muss, dass aber ihre Anzahl nicht beliebig, sondern abgeschlossen ist. Da beide Texte von einem Apostel und einem Apostelschüler stammen, bilden sie eine passende Ergänzung zu Mt und Mk. Die Kanonische Ausgabe hat also durch die typischen Zugaben zu den Texten (Titel mit Autorenangabe; Anordnung) sowie durch redaktionelle Bemerkungen innerhalb der einzelnen Texte (z.B. Lk 1; Joh 21) einen Referenzrahmen geschaffen, in dem die einzelnen Texte - in diesem Fall: die vier Evangelien - ihren sinnvollen, rezep- 36 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Zum Thema 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 36 mal mehr eine Andeutung durch Erklärung beseitigt; in diesem Fall wird die Ironie überspielt, dass gerade die auf Reinheit dringenden Pharisäer eine »verunreinigende« Lehre vertreten. 16 Mk 8,27; 9,33f; 10,17.32f.46.52. Zur Bedeutung des »Wegs« in 8,27-10,52 für die topographische Gliederung des Mk vgl. B.M.F. van Iersel, Locality, Structure, and Meaning in Mark, LingBibl 53 (1983), 45-54. 17 Außer Brot / die Brote gehören dazu etwa: essen; sättigen; Brocken; Speise; Sauerteig; Fische. 18 Vgl. W. Iser, Akt des Lesens, 53. 19 Zum diesem Verständnis von eis ten Galilaian vgl. B.M.F. van Iersel, Mark. A Reader-Response Commentary (JSNT.S 164), Sheffield 1998, z.St. 20 Der Terminus »Kanonische Ausgabe« verweist darauf, dass das NT in der heute bekannten Form in der Mitte des 2. Jh. von einem Herausgeber(kreis) ediert wurde, also ein redaktionelles Konzept besitzt. Vgl. dazu D. Trobisch, Die Endredaktion des Neuen Testaments (NTOA 31), Freiburg / Göttingen 1996; M. Klinghardt, Die Veröffentlichung der christlichen Bibel und der Kanon, ZNT 12 (2003), 52-57. 21 Das Phänomen wird an dem programmatischen Titel des für die historische Kritik grundlegenden Werkes von J.S. Semler deutlich: In seiner »Abhandlung von freier Untersuchung des Canon« (Halle 1771) besteht die »Freiheit« der Untersuchung darin, dass Semler die einzelnen Schriften aus der Verklammerung des kanonischen Konzepts herauslöste und historisch als autarke Einzeltexte verstand. Dass der redaktionelle Rahmen des Kanons nicht nur eine theologische Qualität darstellt (die für Semler und seine Zeitgenossen die historisch-individuelle Würdigung der einzelnen Schriften verhindert hat), sondern selbst einen eigenen, historischen Ort besitzt, ist darüber bis in die Gegenwart in Vergessenheit geraten. 22 Vgl. die kurze Zusammenfassung bei Klinghardt, Veröffentlichung, 60f. Wichtige Informationen über »Markus« gibt die Kanonische Ausgabe in Apg 12,12.25; 15,37ff.; Phlm 24; Kol 4,10; 2Tim 4,11; 1Petr 5,13. 23 M. Klinghardt, Markion vs. Lukas: Plädoyer für die Wiederaufnahme eines alten Falles, NTS 52 (2006), 484-513: 496-512; ders., »Gesetz« bei Markion und Lukas, in: D. Sänger / M. Konradt (Hgg.), Das Gesetz im frühen Judentum und im Neuen Testament. FS Chr. Burchard (NTOA 57), Göttingen / Fribourg 2006, 99- 128. 24 Die generalisierende, auf die impliziten Leser zielende Funktion von »Theophilos« ist schon früh erkannt worden, vgl. etwa Origenes, Hom. in Luc. 1,6 [FC 4/ 1, 69]: »Vielleicht meint jemand von euch, Lukas habe sein Evangelium für einen bestimmten Theophilus (Freund Gottes) geschrieben. Ihr alle jedoch, die ihr uns reden hört, seid ›Freunde Gottes‹, wenn ihr so seid, dass ihr von Gott geliebt werdet.« Ähnlich Ambrosius, Expos. Ev. Luc. 1,11 (CSEL 32, 4,18). chen-Vluyn 1993, 75ff., spricht deshalb von einer »inklusiven Geschichte«. 8 Eine derart lange (drei Kapitel! ), ununterbrochene Rede ist für dramatische Erzählformen ein non liquet. Eine Untersuchung der dramatischen Repräsentation der Bergpredigt im modernen Film hat ergeben, dass neben der Kürzung die Unterbrechung der Rede durch Handlungssequenzen das häufigste und wirksamste Mittel für eine dramatische Wiedergabe darstellt, vgl. M. Goodacre, The Synoptic Jesus and the Celluloid Christ: Solving the Synoptic Problem Through Film, JSNT 80 (2000), 31-44. 9 Neben den Reflexionszitaten gehören zu diesen Vereindeutigungen z.B. Mt 16,12 (Erklärung, dass mit dem Sauerteig der Pharisäer ihre Lehre gemeint sei); 17,13 (Erklärung, dass Eliah in Johannes dem Täufer gekommen sei); 22,46 (erklärender Abschluss der Davids-Sohn-Frage) oder die Beseitigung von Unbestimmtheiten in Mk, z.B. die Ersetzung von Mk 6,52 durch das Bekenntnis Mt 14,33; Umstellung von Mt 13,12 (par. Mk 4,25) zwischen 13,11.13 (par. Mk 4,11a.b) u.a.m. Zur hermeneutischen Bedeutung, die das ästhetische Vergnügen der Entdeckung bei der Lektüre besitzt, vgl. W. Iser, Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von Bunyan bis Beckett (UTB 163), München 3 1994, 9. 10 Vgl. C. Breytenbach, Das Markusevangelium als episodische Erzählung. Mit Überlegungen zum »Aufbau« des zweiten Evangeliums, in: F. Hahn (Hg.), Der Erzähler des Evangeliums (SBS 118 / 119), Stuttgart 1985, 139-169. 11 M. Klinghardt, Boot und Brot. Zur Komposition von Mk 3,7-8,21, BThZ 19 (2002), 183-202. 12 Am 8,1ff.; Jer 15,16; Jes 55,1ff.; Spr 9,2ff. (LXX); Sir 15,3; 24,21; Philo, LegAll II 86; III 175; Sacr 86; Joh 6; Did 10,2 u.v.ö. Vgl. P. Borgen, Bread from Heaven. An Exegetical Study of the Concept of Manna in the Gospel of John and the Writings of Philo, Leiden 2 1981, 99-146; M. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft (TANZ 13), Tübingen / Basel 1996, 433- 441. 13 Das Stichwort »Überlieferung« (paradosis / paradidomi) kommt gleich vier Mal vor: 7,5.8f.13. 14 Mit Blick auf die Bedeutung, die das Hören im Kontext des Verstehens in diesem Zusammenhang hat, habe ich erhebliche Zweifel, ob der »Weckruf« 7,16, der in einigen Textzeugen fehlt, tatsächlich eine sekundäre Eintragung ist: das Hören auf Jesus spielt hier wie in 4,9 in der Tat eine zentrale Rolle! 15 »Ansteckung« durch Sauerteig ist eine geläufige Metapher (vgl. Mt 13,33; Lk 13,21; 1Kor 5,6-8; Gal 5,9). Zum Aspekt der Verunreinigung durch Sauerteig vgl. Ex 12,15; 13,3-7; Lev 2,11; Dtn 16,3f. Dass der Sauerteig (zyme) mit dem daraus gebackenen Brot identisch ist und auf die Lehre (didache) der Pharisäer verweist, hat Mt durchaus richtig verstanden (16,11f) - und ein- ZNT 21 (11. Jg. 2008) 37 Matthias Klinghardt Erlesenes Verstehen 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 37 Spricht man von Bildung, 1 dann spielt eine Vielzahl von Themen eine Rolle. Zum einen beginnt die Ausbildung eines Menschen bereits mit dessen Geburt und der Erziehung eines Kindes, und setzt sich im Grunde ein Leben lang fort. Fast jede Handlung beruht auf Erlerntem, und Lernen ist Teil dessen, was wir als Bildung bezeichnen. Zu diesen erlernten Dingen gehört das Verhalten gegenüber anderen ebenso wie die Fähigkeit, auf sich selbst zu achten, die Einstellung zu Arbeit und zu Glaube, außerdem praktische Fähigkeiten wie Lesen und Schreiben. Ein in diesem Sinne gebildeter Mensch wird für fähig erachtet, als verantwortliches Mitglied in einer Gesellschaft zu leben. Zum anderen meinen wir mit Bildung aber die institutionalisierte Ausbildung und denken dabei an staatliche und religiöse Einrichtungen, in denen junge Leute in spezifischer Weise ausgebildet werden sollen. Diese Art der Ausbildung erfordert die Idee eines Curriculums und eines Corpus von Wissen, das es zu erlernen gilt - man könnte von einem »heiligen Kanon« sprechen. Dieser Aufsatz beschäftigt sich mit Erziehung und Bildung von jüdischen Frauen in der Antike, und wir werden bald sehen, dass dies vor allen Dingen den ersten der genannten Aspekte von Bildung betrifft, da von einem institutionalisierten Erziehungssystem und einem Curriculum für Mädchen praktisch keine Rede sein kann. Einige einführende Bemerkungen und Differenzierungen in der Geschlechterfrage scheinen hier angebracht. Obwohl in der Genderforschung selbstverständlich davon ausgegangen wird, dass Frauen und Männer, von sexuellen Unterschieden abgesehen, grundsätzlich ähnlich sind, und die meisten Unterschiede der Geschlechter kulturell bedingt sind, scheint es doch hinsichtlich dieser geschlechtsspezifischen Unterschiede und Erwartungen eine Übereinstimmung in vielen, wenn nicht in den meisten Gesellschaften zu geben. Dies hängt mit der Beobachtung zusammen, dass fast alle Gesellschaften patriarchalisch und hierarchisch aufgebaut sind. An der Spitze der gesellschaftlichen Pyramide steht ein männlicher Patriarch, von dem seine Frau, seine Kinder und alle Mitglieder des Haushalts abhängig sind. Dieses Modell folgt immer einer geschlechtsabhängigen Hierarchie, in der Frauen eine dienende, den Männern untergeordnete Funktion einnehmen. Sie sind zur Passivität verurteilt. Untersuchen wir also in einer patriarchalischen Gesellschaft die Bildungsformen für Männer, so werden sich diese offensichtlich von der für Frauen vorgesehenen Ausbildung unterscheiden. Von einem Mann wird erwartet, dass er die Tradition und die Werte der Gesellschaft, der er angehört, gut kennt, und ihr so dienen und sie gestalten kann. Von der Frau wird erwartet, dem Mann zu dienen. Sie am selben Wissen teilhaben zu lassen, könnte sogar als gefährlich gelten. Wissen, so heißt es oft, ist Macht. Damit Frauen machtlos bleiben, müssen sie also in gewissem Maß unwissend gehalten werden. Andererseits muss einer guten Dienerin eine gute Ausbildung zuteil werden. Eine andere Art der Ausbildung ist hier gefragt. Die meisten Gesellschaften fordern von Frauen Fähigkeiten wie Kochen, Backen, Haushaltsführung, Waschen, Weben, Schneidern und Kinderbetreuung. Wie wir gleich sehen werden, unterscheidet sich die jüdische Gesellschaft der Antike in dieser Hinsicht nicht von ihren Nachbarn. Unsere Quellen für die Bildung von Frauen (und Männern) in der Antike sind vielfältig, doch die normativen Aspekte finden sich am deutlichsten in den Schriften, die in den jüdischen Kanon Eingang gefunden haben: in der Hebräischen Bibel und der rabbinischen Literatur, in erster Linie in der Mischna und im Babylonischen Talmud. Wir können hier diese Literatur angesichts ihrer Fülle nicht umfassend behandeln. Es genügt vorerst festzuhalten, dass diese Texte aus nachbiblischer Zeit stammen, juristischen und oft exegetischen, auf die Hebräische Bibel Bezug nehmenden Charakters sind, und aus zwei Zentren jüdischen Lebens stammen, dem Land Israel und Babylonien. Bedenken müssen wir außerdem, dass der Talmud ein Kommentar zur Mischna ist und Zum Thema Tal Ilan Erziehung und Bildung von Frauen im antiken Judentum 38 ZNT 21 (11. Jg. 2008) 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 38 also nach ihr entstanden ist. Die Mischna wird im Allgemeinen auf das Ende des 2. Jahrhunderts der Zeitrechnung, der Talmud auf das 6. Jahrhundert datiert. Informelle Bildung Als Ausgangspunkt der Beschreibung dessen, was auf einer allgemeinen Ebene von Frauen an Kenntnissen im häuslichen Bereich erwartet wurde, kann uns die Wendung von der Eschet Chajil, der »tüchtigen Frau« aus Spr 31 dienen. Sie ist die ideale Beschreibung der guten Frau, an der sich das Herz ihres Ehemanns erfreut, der seinerseits mit den Ältesten vor den Toren der Stadt sitzen kann, während sie der Arbeit nachgeht (Spr 31,2.23). Zu ihren Fertigkeiten sollten die folgenden Elemente gehören: Spr 31 13 »Sie geht mit Wolle und Flachs um und arbeitet gerne mit ihren Händen. 14 Sie ist wie ein Kaufmannsschiff; ihren Unterhalt bringt sie von ferne. 15 Sie steht vor Tage auf, und gibt Speise ihrem Hause und dem Gesinde, was ihm zukommt. 16 Sie trachtet nach einem Acker und kauft ihn und pflanzt einen Weinberg vom Ertrag ihrer Hände. [...] 18 … ihr Licht verlischt des Nachts nicht. 19 Sie streckt ihre Hand nach dem Rocken und ihre Finger fassen die Spindel. [...] 21 … Ihr ganzes Haus hat wollene Kleider. 22 Sie macht sich selbst Decken; feine Leinwand und Purpur ist ihr Kleid. [...] 24 Sie macht einen Rock und verkauft ihn, einen Gürtel gibt sie dem Händler. [...] 27 Sie schaut, wie es in ihrem Hause zugeht, und isst ihr Brot nicht mit Faulheit.« (nach der Übersetzung Martin Luthers) Aus diesem Text wird deutlich, dass die allgemeine Bildung einer Frau zunächst das Herstellen von Textilien und darüber hinaus das für die Ernährung ihrer Familie notwendige Wissen umfasst. Sie sollte ständig arbeiten, und es trägt zum Ansehen ihrer Bildung bei, wenn sie auch mit einem Sinn für Hauswirtschaft und Geschäft ausgestattet ist. Die Ansprüche an eine ausgebildete Frau, wie sie fast ein Jahrtausend später in der Mischna formuliert werden, haben sich nicht entscheidend verändert. Der maßgebliche Text für diese Ansprüche findet sich in einem juristischen Absatz, der die vertraglichen Verpflichtungen einer Frau gegenüber ihrem Ehemann aufzählt: »Dies sind die Arbeiten, die die Frau für ihren Mann zu tun hat: sie muss mahlen, backen, waschen, kochen, ihr Kind säugen, ihm das Bett machen und in Wolle arbeiten. Hat sie ihm eine Magd mit (in die Ehe) gebracht, so braucht sie nicht zu mahlen, zu backen und zu waschen; (hat sie ihm) zwei (Mägde mitgebracht), so braucht sie nicht zu kochen und ihr Kind zu säugen; (hat sie ihm) drei (mitgebracht), so braucht sie ihm nicht das Bett zu machen und nicht in Wolle zu arbeiten; (hat sie ihm) vier (mitgebracht), so kann sie im Lehnstuhl sitzen. R. Elieser sagt: wenn sie ihm auch 100 Mägde mitgebracht, so kann er sie doch zwingen in Wolle zu arbeiten, denn der Müßiggang führt zur Unzucht.« (Mischna, Ketubot 5,5) Dieser Text behandelt die rechtlichen Ansprüche des Ehemanns an seine zukünftige Frau, die dieser vor der Hochzeit stellen kann. Dem biblischen Bild von der »tüchtigen Frau« folgend, wird von einer Frau, die von der Familie ihres Vaters zur Heirat vorgesehen ist, die Fähigkeit erwartet zu kochen, zu backen, zu putzen, zu waschen und Kleidung herzustellen. Man kann vermuten, dass diese Art informeller und allgemeiner Bildung für Frauen allein reserviert war, denn wir kennen keine analoge Beschreibung, in der vom Mann derlei Kenntnisse erwartet würden. Dies bedeutet nicht, dass jüdische Männer diese Tätigkeiten nicht ausgeübt haben. So ist beispielsweise der Beruf des Bäckers denselben jüdischen Quellen zufolge ein männlicher Beruf. Das hebräische Wort für Bäcker (nachtom) ist ausdrücklich maskulin und hat keine feminine Entsprechung. Weber werden in den rabbinischen Texten sowohl in der maskulinen Form (orgim, siehe beispielsweise Mischna Sawim 3,2) als auch in der femininen Form erwähnt (orgot, beispielsweise Tosefta Schekalim 2,6). Beim Mann lag diesen Arbeiten jedoch eine Berufsausbildung zu Grunde, sie verdankten sich nicht, wie bei der Frau, der alltäglichen Routine. Dies können wir einem weiteren normativen Text der Mischna entnehmen, der die Pflichten eines ZNT 21 (11. Jg. 2008) 39 Tal Ilan Erziehung und Bildung von Frauen im antiken Judentum 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 39 Vaters gegenüber seinem Sohn benennt: »Was sind die Pflichten eines Vaters gegenüber seinem Sohn? Er sollte ihn beschneiden … ihm die Tora lehren, einen Beruf beibringen, und ihm eine Frau finden… Rabbi Juda sagt: Wer seinem Sohn keinen Beruf lehrt, der lehrt ihm das Rauben.« (Tosefta Kidduschin 1,11) Diese Überlieferung handelt von formaler Ausbildung. Hier ist nicht von Kindern im Allgemeinen die Rede - nicht nur, weil die maskuline Form »Sohn« (ben) verwendet wird, sondern auch, weil ausdrücklich die Beschneidung und das Finden einer Frau erwähnt werden. Die Art formaler Ausbildung, die ein Vater verpflichtet ist, seinem Sohn zu gewährleisten, wird hier genau benannt. Eine entsprechende Überlieferung für eine Tochter existiert nicht. Daher können wir schließen, dass eine Tochter, von der erwartet wird, dass sie bei ihrer Heirat kochen, waschen und nähen kann, ihre Fähigkeiten nicht in einem wie auch immer gearteten Rahmen erwarb. Ein Sohn hingegen erlernt - beispielsweise - das Backen stets als Teil einer beruflichen Ausbildung. Die oben erwähnte Beschreibung führt zu einer Art Zweiteilung zwischen männlichen Gewerbetreibenden und weiblichen Laien: was für erstere der Broterwerb ist, bleibt für Letztere auf den häuslichen Bereich beschränkt. Dieses zweigeteilte Bild wollen uns unsere normativen Quellen vermitteln, doch in Wirklichkeit lagen die Dinge nicht eindeutig. Frauen konnten in ihrer Eigenschaft als Herstellerinnen von Nahrungsmitteln und Textilien auch professionell arbeiten, wie es bereits die »tüchtige Frau« der Bibel vormacht. Sie produziert einen Überschuss von Textilprodukten und verkauft diesen an einen Händler. Mit dem Gewinn ist sie in der Lage, Land zu kaufen und Weinberge anzulegen, ganz zu schweigen von der Einstellung von Mägden. Oft werden in der rabbinischen Literatur Frauen erwähnt, die als Ladenbesitzerinnen arbeiten (z.B. Mischna Ketubbot 9,4) und ihre eigenen eingelegten Oliven oder selbst hergestellten Kleidungsstücke vor ihrer Haustür oder auf dem Markt verkaufen (z.B. Mischna Bava Qama 10,9). Institutionalisierte Ausbildung In der einflussreichen Reihe The Jewish People in the First Century (1976) findet sich ein Kapitel zur Bildung und Erziehung, das mit »Education and Torah Study« überschrieben ist. Der Autor Shmuel Safrai beginnt mit den Worten: »The main component of Jewish education in the first century C.E. is the study of Torah.« (S. 945). Wie wir oben gesehen haben, zählt der Toraunterricht zu den wichtigen Pflichten des jüdischen Vaters gegenüber seinem Sohn, und daher lässt sich Safrais Aussage leicht durch biblische und rabbinische Quellen unterstreichen. Doch wie sich zeigen lässt, dachte Safrai bei seinen Ausführungen zur Bildung nur an die der Männer. So schreibt er: »During the Second Temple period and even more after the destruction of the Temple in 70 C . E . the entire Jewish community, from its public institutions to the individual families, developed into an education-centered society which paid particular attention to the education of children. An illustration of this is found in the Passover seder, in which questions for the Tal Ilan, Jahrgang 1956, ist seit 2003 Professorin für Judaistik an der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Geschichte des antiken Judentums; Rabbinische Literatur; jüdische Onomastik der postbiblischen Zeit; Gender Studies. Zahlreiche Publikationen zu diesen Themengebieten. Weitere Informationen unter: www.geschkult.fu-berlin.de/ e/ judaistik/ mitarbeiter/ 01ProfessorInnen/ ilan.html Tal Ilan »Die Tora gehörte zu den Dingen, die ein Vater seinen Sohn lehrte, nicht seine Tochter.« 40 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Zum Thema 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 40 children are incorporated into the service to encourage their interest and participation. It states that ›Here the son asks his father and if the son lacks intelligence his father instructs him‹ (Mishnah Pesahim 10: 4)« (Safrai, S. 946). Der von Safrai zitierte Text veranschaulicht deutlich, dass wir nicht von Kindern im Allgemeinen, sondern nur von Jungen, von Söhnen sprechen. Der Sohn fragt und der Vater antwortet. Tatsächlich sind es zwei Verse aus dem Buch Deuteronomium, die die biblische Grundlage des rituellen Fragens durch den Sohn beim Pessachmahl bilden. Es heißt dort ausdrücklich: »Wenn dich nun dein Sohn (bincha) morgen fragen wird: was sind das für Vermahnungen, Gebote und Rechte, die euch der Herr, unser Gott, geboten hat? So sollst du deinem Sohn (le-bincha) sagen: Wir waren Knechte des Pharao in Ägypten, und der Herr führte uns aus Ägypten mit starker Hand« (Dtn 6,20-21). Moderne Übersetzungen dieser Verse neigen dazu, »Kind« statt »Sohn« zu übersetzen, doch die Rabbinen, die später das Buch Deuteronomium interpretierten, waren in dieser Frage sehr genau. Mit Bezug auf einen weiteren Vers in dem Buch, »und lehre sie (d.h. die Gesetze der Tora) deinen Söhnen (bnechem)«, erklärt einer der rabbinischen Texte mit Bestimmtheit: »es heißt: ›deine Söhne‹, nicht: ›deine Töchter‹« (Sifre Deuteronomium 46). Die Tora gehörte zu den Dingen, die ein Vater seinen Sohn lehrte, nicht seine Tochter. Die Fragen an Pessach werden vom Sohn gestellt, nicht von der Tochter. Und was taten die Frauen (Mütter und Töchter), wenn Vater und Sohn das Ritual für die Pessachfeier studierten, die drängende Pflicht erfüllend, die Tora zu studieren und zu halten? Vermutlich kochten und servierten sie das Essen. Die Bibel, so wird deutlich, sieht ein System vor, in dem der Vater dem Sohn seine Religion und seine religiösen Pflichten lehrt, wobei keine entsprechenden Anweisungen die Töchter betreffend gegeben werden. Deren Erziehung wird als private und innerfamiliäre Angelegenheit gesehen. Die Bibel selbst unterweist nicht das jüdische Volk als Ganzes, ein öffentliches Bildungssystem zu errichten, das die Einhaltung der jüdischen Lebensweise derer gewährleisten soll, die an ihm teilhaben. Interessanterweise werden an der einzigen Stelle in Deuteronomium, wo eine öffentliche Toralesung für das ganze jüdische Volk angesetzt wird, die Frauen ausdrücklich eingeschlossen: »Und Mose gebot ihnen und sprach: Jeweils nach sieben Jahren, zur Zeit des Erlaßjahrs, am Laubhüttenfest, wenn ganz Israel kommt, zu erscheinen vor dem Angesicht des Herrn, deines Gottes, an der Stätte, die er erwählen wird, sollst du dies Gesetz vor ganz Israel ausrufen lassen vor ihren Ohren. Versammle das Volk, die Männer, Frauen und Kinder und den Fremdling, der in deinen Stätten lebt, damit sie es hören und lernen und den Herrn, euren Gott, fürchten und alle Worte dieses Gesetzes halten und tun« (Dtn 31,10-12). Dieses Ereignis wird nur an einer weiteren Bibelstelle berichtet, im Buch Nehemia, das die Festlichkeiten nach der Rückkehr aus dem Babylonischen Exil beschreibt. Auch dort wird die Anwesenheit von Frauen explizit erwähnt: »Als nun der siebente Monat herangekommen war und die Kinder Israel in ihren Städten waren, versammelte sich das ganze Volk wie ein Mann auf dem Platz vor dem Wassertor, und sie sprachen zu Esra, dem Schriftgelehrten, er solle das Buch des Gesetzes des Mose holen, das der Herr Israel geboten hat. Und Esra, der Priester, brachte das Gesetz vor die Gemeinde, Männer und Frauen und alle, die es verstehen konnten, am ersten Tage des siebenten Monats und las daraus auf dem Platz vor dem Wassertor vom lichten Morgen an bis zum Mittag vor Männern und Frauen und wer’s verstehen konnte. Und die Ohren des ganzen Volkes waren dem Gesetzbuch zugekehrt« (Neh 8,1-3). Diese biblischen Texte hätten als Vorlage für die Errichtung eines gleichberechtigten Bildungssystems für Jungen und Mädchen dienen können. Doch die Frage, ob das Torastudium überhaupt erstrebenswert für Mädchen sei, wurde in den rabbinischen Akademien der Spätantike heiß diskutiert. Die Stelle im Buch Deuteronomium, wo Moses ganz Israel, Männer und Frauen zugleich, anweist, die Tora zu studieren, wird von einem Rabbi mit den Worten kommentiert: »die Männer kommen, um zu lernen, die Frauen, um zu hören« (Babylonischer Talmud, Chagiga 3a). Dieser Interpretation zufolge sind die Erwartungen an Männer und Frauen nicht die gleichen, obwohl die Bibel die Anwesenheit beider fordert. Männer versenken sich in ihr Studium, sie verstehen das ZNT 21 (11. Jg. 2008) 41 Tal Ilan Erziehung und Bildung von Frauen im antiken Judentum 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 41 Gelernte und verinnerlichen es. Frauen, so die Ansicht, sind lediglich zur Schau anwesend. Sie hören zu, sind aber nicht aktiv in ihrem Lernprozess. Die Mischna berichtet von einer Debatte zweier Rabbis darüber, ob ein Vater nicht auch seine Tochter in der Tora unterrichten solle. Während einer der beiden meint, der Vater sei dazu verpflichtet, lehnt der andere es rundweg mit der Begründung ab, dies bedeutete, ihr Unsinn beizubringen (Mischna, Sota 3,4). Spätere Quellen nehmen diese Meinung als selbstverständlich an. Im Talmud Jeruschalmi werden wir unterrichtet, dass Töchtern im Gegensatz zu Söhnen erlaubt wird, griechische Weisheiten zu lernen, da die Söhne dafür schlicht keine Zeit haben. Sie sind angehalten, jede wache Stunde über der Tora zu brüten (Jeruschalmi Sota 9,15 u. 24c). Töchter hingegen, die nicht zum Torastudium verpflichtet sind, können es halten, wie sie möchten. Im Babylonischen Talmud steht das Torastudium an der Spitze einer Liste von Geboten, von denen Frauen befreit sind (Babylonischer Talmud Kidduschin 34a). Was haben Frauen wirklich gelernt? Alle bislang besprochenen Texte sind normativ. Sie lehren die Juden, wie sie sich zu verhalten haben. Diesen Texten zufolge sollen Frauen im Haus unterrichtet werden, um gute Hausfrauen zu werden. Ein formales Bildungs- und Erziehungssystem, sei es zu Hause oder in der Schule, ist den Jungen vorbehalten. Trotzdem haben wir eine Fülle von Dokumenten und Texten, die darauf hinweisen, dass das Leben nicht immer so aussah, wie die Gesetzesbücher es vorsahen. Im folgenden Abschnitt möchte ich eine Reihe von weisungsbasierten Unternehmungen darstellen, bei denen jüdische Frauen der Antike eine Rolle spielten, und die weit über das Aufziehen von Kindern und die Sorge um den Haushalt hinaus gehen. Zu allererst sollten wir festhalten, dass drei der meistgefeierten biblischen Gedichte mutmaßlich von Frauen verfasst wurden: das Lied der Debora (Ri 5), das Gebet Hannas (1Sam 2) und vielleicht auch das Loblied nach dem Durchqueren des Roten Meeres, als Miriam mit ihrem Bruder Mose am Jubel teilhatte. Die Frauen, die voranzogen, um den Sieg Davids über Goliath zu feiern, sollen auch ein Lied verfasst haben (1Sam 18,7). Das Hohelied Salomos hat die Form eines Dialogs zwischen Mann und Frau. All diese Beispiele zeigen, dass zumindest in biblischer Zeit Frauen als seriöse Dichterinnen angesehen waren. Einen ebenso starken Eindruck hinterlassen die Aussagen des Buches der Sprüche, wo die Mutter in gleichem Maße wie der Vater einen erzieherischen Part übernimmt. An zwei Stellen werden die Belehrungen der Mutter ausdrücklich als »Tora« bezeichnet (Spr 1,8 und 6,20), und das Kapitel 31 (das die Eigenschaften der bereits erwähnten »tüchtigen Frau« aufzählt) wird uns als eine Anweisung an König Lemuel (wer immer das ist) durch seine Mutter vorgestellt. Dies sind alles Anhaltspunkte dafür, dass Frauen nicht prinzipiell für ignorant und ungebildet erachtet wurden. Die rabbinische Literatur hat, als Fundgrube von Volksweisheit und -praktiken, oft als Quelle der Volksmedizin gedient, die manchmal fälschlich mit Magie identifiziert wurde. Dort werden mehrere (vermutlich jüdische) Frauen erwähnt, die ausgesprochene Expertinnen auf diesem Feld sind. Im Talmud Jeruschalmi hören wir von einer Frau namens Timtinis, deren medizinische Expertise so groß ist, dass der Weise Rabbi Jochanan sich ihrer heilenden Kräfte bedient (Jeruschalmi Schabbat 14,4 u. 14d). Im babylonischen Talmud wird von einer Frau namens Martha berichtet, die Literatur zum Weiterlesen • B. Brooten, Women Leaders in the Ancient Synagogue. Inscriptional Evidence and Background Issues (BJSt 36),Chicago 1982. • C. Hezser, Jewish Literacy in Roman Palestine (TCAJ 81), Tübingen 2001. • M. Peskowitz, Spinning Fantasies. Rabbis, Gender and History, Berkley 1997. • H. Cotton, Subscription and Signitures in the Papyri from the Judaean Desert: the Cheirochrestes, Journal of Juristic Papyrology 25 (1995), 23-40. • T. Ilan, Silencing the Queen. The Literary Histories of Shelamzion and Other Jewish Women (TSAJ 115), Tübingen 2006. • T. Ilan, Integrating Women into Second Temple History (TSAJ 76), Tübingen 1999. • T. Ilan, Mine and Yours are Hers. Retrieving Women's History from Rabbinic Literature (Arbeiten zur Geschichte des antiken Judentums und des Urchristentums 41), Leiden 1997. 42 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Zum Thema 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 42 ein Amulett hergestellt haben soll, um ihren Sohn vor der Tollwut zu beschützen (Babylon. Talmud Joma 84a). Doch am meisten beeindruckt die umfangreiche Sammlung von Volksmedizin wie sie im Babylonischen Talmud erhalten ist. Sie wird mit einer als Em bezeichneten Frau in Verbindung gebracht, die den Weisen Abbayye bei der Anwendung dieser Medizin eingewiesen haben soll (siehe insbesondere Babylon. Talmud Schabbat 133b-134a). Das medizinische Rezept einer jüdischen Frau, Salome, schaffte es gar, in die Schriften der griechischen ärztlichen Autorität Galen aufgenommen zu werden (Composition Medicamentorum 2,7). Sie alle waren professionell ausgebildete Frauen. Irgendwie wurde diese Art von Wissen weitergegeben, vielleicht von einer Frau zur anderen. Hierbei handelte es sich nicht um das, was üblicherweise unter Torastudium verstanden wurde, doch mit Sicherheit erforderte diese Art medizinischer Praxis eine höhere Bildung. Dies führt uns zur Frage, ob jüdische Frauen im Allgemeinen lese- und schreibkundig waren, oder ob es überhaupt lese- und schreibkundige jüdische Frauen gab. Die meisten Untersuchungen zur Lese- und Schreibfähigkeit in der Antike behaupten, dass die große Mehrheit der Bevölkerung analphabetisch war - auch Frauen werden in der Forschung dieser Mehrheit zugerechnet. Es sollte jedoch festgehalten werden, dass dieser universale Allgemeinplatz in der rabbinischen Literatur nicht vorausgesetzt werden kann. An keiner Stelle wird gesagt, dass Männer lesen lernen sollten, Frauen jedoch nicht. In einem Text heißt es beispielsweise, dass »alle in der Lage sind, eine Scheidungsurkunde zu schreiben…eine Frau schreibt ihre eigene Scheidungsurkunde« (Mischna Gittin 2,5). Ein anderer Abschnitt der Mischna betont, dass »eine Frau keine Schreiber unterrichten darf« (Mischna Kidduschin 4,13). Diese juristische Beschränkung, die den Wirkungsbereich von Frauen begrenzen soll, setzt voraus, dass Frauen so gut schreiben konnten, dass sie als professionelle Schreiberinnen hätten arbeiten und andere in dieser Fähigkeit hätten ausbilden können. Dies bedeutet, da die Kunst des Lesens und Schreibens in jedem Fall nur eine Beschäftigung der Oberschicht war, dass zumindest dort die Geschlechterfrage nicht notwendigerweise ein trennender Faktor war. In diesem Zusammenhang können wir zur oben diskutierten Stelle zurückkehren, derzufolge wenigstens einem Rabbi gemäß den Frauen das Studium griechischer Weisheiten gewährt wurde. Ich nehme an, dass diese Form der Wissenserlangung auch auf die Elite der jüdischen Gesellschaft beschränkt war, sei sie männlich oder weiblich. Daher schließe ich diese kurze Bestandsaufnahme, indem ich versuche, mich dem rabbinischen Allerheiligsten zu nähern: dem Studium der Tora. Waren jüdische Frauen nicht immer schon an Tätigkeiten beteiligt, die direkt damit im Zusammenhang standen? Betrachten wir zunächst ein Beispiel jenseits des Spektrums rabbinischer Literatur. Der jüdische Philosoph Philo von Alexandria aus dem 1. Jahrhundert, ein Philosoph der Allegorie, erwähnt einen seiner Lehrer namentlich - es handelt sich um eine Frau, die er Skepsis nennt. Viele haben Zweifel über die Historizität dieser Frau wegen ihres Namens, der in sich allegorisch ist. Doch ungeachtet der Tatsache, ob sie wirklich existierte, berichtet Philo, wie sie ihm bei der Lektüre eines Bibelverses anleitete (Fug. 55-58). Die Idee, dass eine Frau ihm die Tora lehrte, war für ihn nicht unmöglich. Diese Art von beiläufiger Bemerkung erlaubt es uns, jenseits normativer Äußerungen, die monolithische, ideologische Sicht zu durchbrechen, die Frauen das Recht die Tora zu studieren verweigert, und das helle Licht der Realität zu betreten, in dem die Dinge vielfältiger und überraschender liegen. Philo war kein großer Frauenfreund. Dass er zugibt, von einer Frau unterrichtet worden zu sein, ist bei ihm ein echter ideologischer Ausrutscher. Damit steht er aber nicht allein. Auch die Rabbinen sprechen in unachtsamen Momenten von Frauen, die ins Torastudium involviert waren. Von ihnen wird gesagt, dass sie Bibelverse zitierten, um zu tadeln (wie im Midrasch Lamentationes Rabba 1,19), um die Unwissenden zu belehren (wie im Babylon. Talmud Sanhedrin 39a) oder um Märtyrertum zu rechtfertigen (Midrasch Sifre zu Deuteronomium »... obwohl Frauen nach ideologischer Maßgabe unwissend bleiben sollten und obwohl institutionelle Bildung Männern vorbehalten blieb, erreichten einige jüdische Frauen auf informellem Wege ... eine jüdische Bildung ...« ZNT 21 (11. Jg. 2008) 43 Tal Ilan Erziehung und Bildung von Frauen im antiken Judentum 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 43 307). Häufige Erwähnung findet eine Frau namens Matrona, die Rabbi Jose zum Inhalt des Buches Genesis befragt (z.B. Midrasch Genesis Rabba 4,6; 17,7; 25,1 usw.). Dabei hat sie die Funktion eines Toragelehrten. In der Rabbinischen Literatur findet sich sogar eine Frau mit Namen Bruria, die selbst eine versierte Toralehrerin war. Eine ihrer Auskünfte zur rabbinischen Gesetzgebung hat überlebt (Tosefta Kelim Bava Mezia 1,6). Spätere rabbinische Gelehrte wussten nicht, was sie von ihr halten sollten. Der Babylonische Talmud erklärt sie zur größtmöglichen Toragelehrten (Babylon. Talmud Psachim 62b) und zur Toralehrerin, eine Art Rabbi (wie in Berachot 10a oder Eruvin 53b). Diese Textstellen ergeben, liest man sie zusammen, folgendes Bild: obwohl Frauen nach ideolo- 44 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Zum Thema Renate Banschbach-Eggen Gleichnis, Allegorie, Metapher Zur Theorie und Praxis der Gleichnisauslegung Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter, Band 47 2007, XII, 312 Seiten, ca. [D] 68,00/ SFr 102,00 ISBN 978-3-7720-8238-2 Auf der Grundlage einer ausführlichen Auseinandersetzung mit Adolf Jülichers Gleichnistheorie widerspricht die Autorin dem Allegorisierungsverbot und hinterfragt die Rolle des Allegoriebegriffs in der Gleichnisforschung. In einem zweiten Teil setzt sie sich mit dem ebenfalls von Jülicher eingebrachten Begriff der Metapher und seiner Anwendung in unterschiedlichen Entwürfen zur Gleichnistheorie kritisch auseinander. A. Francke Verlag · Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen · www.francke.de Neue Fachbücher Stefan Scholz Ideologien des Verstehens Eine Diskurskritik der neutestamentlichen Hermeneutiken von Klaus Berger, Elisabeth Schüssler Fiorenza, Peter Stuhlmacher und Hans Weder Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie, Band 13 2007, 396 Seiten, [D] 58,00/ SFr 91,50 ISBN 978-3-7720-8246-7 Die Studie untersucht die Ansätze von Berger, Schüssler Fiorenza, Stuhlmacher und Weder, befragt sie nach den diskursiven Triebfedern (Ideologien) ihrer Themenauswahl und Argumentationsweisen und stellt die Ergebnisse vergleichend nebeneinander. Dadurch entsteht ein kulturwissenschaftlich orientiertes Gesamtbild des jüngeren Diskurses zur Bibelhermeneutik. gischer Maßgabe unwissend bleiben sollten und obwohl institutionelle Bildung Männern vorbehalten blieb, erreichten einige jüdische Frauen auf informellem Wege, vielleicht zu Hause und vermutlich in elitären Kreisen, eine jüdische Bildung, und die Erinnerung an einen kleinen Teil dieser Frauen ist auf uns gekommen. (Der Beitrag wurde aus dem Englischen übersetzt von Johannes Gockeler) l Anmerkungen 1 Der Titel des Aufsatzes im englischen Original lautet Women’s Education in Ancient Judaism, wobei das Bedeutungsspektrum des Wortes education sowohl Erziehung als auch Bildung und Schulbildung umfasst (A. d. Ü.) 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 44 Die Kontroverse zwischen Gerhard Büttner und Renate Hofmann beruht auf einer gemeinsamen Überzeugung: Kinder als hermeneutische Subjekte wahrzunehmen ist ein aussichtsreiches, sinnvolles Projekt. Aber - und an dieser Stelle entsteht die Kontroverse -, welchen Status haben die interpretativen Handlungen und die Interpretationsergebnisse von Kindern? Handelt es sich um Exegese und Theologie oder aber um ein spontanes und präkritisches interpretatives Verhalten als hermeneutische Grundeigenschaft des Menschseins, das von sich aus aber keinerlei wissenschaftliche Verortung beanspruchen kann? Das enorme Interesse an der Kindertheologie wurde wesentlich durch das Jahrbuch für Kindertheologie befördert, das von Anton Bucher, Gerhard Büttner, Petra Freudenberger-Lötz und Martin Schreiner herausgegeben wird. Der erstaunliche Erfolg dieser Jahrbücher liegt sicher zum einen darin begründet, dass hier wunderbare Lesefrüchte von kindlichen Formulierungen zu ernten sind, die nicht nur ein vergnügliches Leseerlebnis zeitigen, sondern auch zum eigenen Nachdenken anregen. Weit darüber hinaus aber werden hier kritische Grundfragen an das Selbstverständnis professioneller Exegese und Universitätstheologie gestellt, die gegenwärtige Exegese- und Theologiediskurse im Kern treffen. Wie steht es mit dem Universalitätsanspruch und dem Deutungsmonopol professioneller Exegese im Speziellen und wissenschaftlicher Theologie im Allgemeinen? Welchen theoretischen Nachholbedarf hat wissenschaftliche Exegese, um ihre universitäre und interdisziplinäre Diskursfähigkeit wiederzugewinnen? Welche wissenschaftlichen Entwicklungen und Diskurse sind zu berücksichtigen, wenn die hermeneutische Frage auf der Höhe der Zeit reflektiert werden soll? Bedarf die professionelle Universitätsexegese und -theologie (zumindest auch) einer empirischen und kontextuellen Neuorientierung? Wie muss konfessionelle Theologie als universitäre Wissenschaft konzipiert werden, wenn Sie nicht lediglich als apologetisch-kirchliche Selbstimmunisierung vor wissenschaftlichem, universitärem Denken benutzt werden soll, wie das wohl dem Ein oder anderen landeskirchlichen Meinungsmacher unserer Zeit (wieder bzw. noch immer) vorschwebt? Die Fragen, die die Protagonisten der Kindertheologie aufwerfen, und ihre dabei notwendig werdenden Differenzierungen fordern die professionelle Exegese heraus, ihr Selbstverständnis, ihre Theoriefähigkeit und ihre Interessen zu reflektieren und neu zu verorten. Dass auch professionelle Exegetinnen und Exegeten von und mit Kindern lernen können, bringen beide Kontroverspartner in die Debatte ein. Es unterscheidet sie aber grundlegend ihr jeweiliges Theologieverständnis. Stefan Alkier Kontroverse Kinder als Exegeten der Heiligen Schrift? Kindertheologie auf dem Prüfstand Einleitung zur Kontroverse ZNT 21 (11. Jg. 2008) 45 Neue Wege durch ein weites Feld: Hermann Steinthal Was ist Wahrheit? Die Frage des Pilatus in 49 Spaziergängen aufgerollt 2007, XII, 206 Seiten, €[D] 24,90/ Sfr 41,70, ISBN 978-3-89308-395-4 Aus der Presse: » D ie 49 Kapitel belohnen die Mühe der Lektüre mit manchem Erkenntnisgewinn ... Der Verfasser muss jedenfalls viel erfahren und lange nachgedacht haben, um ein solches Buch zu schreiben.« NZZ Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen · Fax (07071) 979711 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 45 46 ZNT 21 (11. Jg. 2008) 1. Kinder machen sich ihren Reim auf die Sache (wie Erwachsene auch) Die Neutestamentler Peter Müller und Ruben Zimmermann haben sich im Zusammenhang des kindertheologischen Diskurses als erste Gedanken darüber gemacht, wie die unbestreitbare Fähigkeit der Kinder, sich mit biblischen Texten auseinanderzusetzen, zu bewerten sei. 1 Es ging dabei letztlich um den Titel »Exeget«, den Müller einem bestimmten methodischen Procedere vorbehalten möchte, wohingegen Zimmermann angesichts der nachvollziehbaren eigenen Erkenntnisse am Text bereit ist, auch Kinder als Exegeten anzusehen. Die Frage der Bezeichnung ergibt sich letztlich aus der Beobachterperspektive. Wenn ich den Standard und das Methodenrepertoire der Universitätstheologie als Ausgangspunkt meiner Überlegungen zur Exegese für bestimmend halte, dann geraten letztlich alle Auslegungsversuche von Lai / innen und Kindern in den Status zwar eigenständiger, aber letztlich defizitärer Zugänge. Die Religionspädagogik hat sich übrigens über Jahre hinweg genau diese Sichtweise zu Eigen gemacht und versucht, den historisch-kritischen Zugang zu Bibeltexten möglichst bis in die Grundschulen hinein unterrichtlich zu verankern. Dies führte dann zu Überlegungen, dass es für einen Großteil der biblischen Texte problematisch sei, wenn Kinder sich mit ihnen beschäftigten und damit zu »falschen«, weil wörtlich genommenen Deutungen kommen (z.B. bei Wundergeschichten oder den Texten zur Weltschöpfung). Besonders die Studien von Anton Bucher zu Gleichnissen und von Heike Bee-Schroeter zu Wundergeschichten machten aus entwicklungspsychologischer Perspektive klar, dass es offenbar Verstehensschemata gibt, in die hinein die Textinhalte interpretiert werden. 2 So lässt sich erklären, warum Grundschüler / innen eine Wundergeschichte Jesu problemlos wörtlich verstehen, während spätere Altersstufen sie als unhistorisch ablehnen oder versuchen, eine symbolische Deutung zu gewinnen. Lässt man nun aber diese Perspektive zu, dann drängt sich der Gedanke förmlich auf, die Bemühungen der wissenschaftlichen Exegese nicht bloß nach ihren Resultaten zu beurteilen, sondern auch sie nach dort bestimmenden Verstehensschemata einzuordnen. Schließt man sich dieser Sichtweise an, dann sind »wissenschaftliche Exeget / innen« kein »Sonderfall« mehr, sondern eine Variante des Zugangs zu Bibeltexten. Dabei handelt es sich beim dahinter liegenden Weltbild, bei Grundannahmen des Zugangs und bei den Ergebnissen der Auslegung meist nicht um exklusive Modi der »Exegeten«, sondern diese mischen sich weitgehend mit denen der »Nicht- Exegeten«. Von daher ist die Reservierung dieses Titels auf den universitären Zugriff zumindest fragwürdig und die Vorstellung von »Kindern als Exegeten« gut zu rechtfertigen. 2. Kindertheologie als »kontextuelle Theologie« Wenn Kindern bei der Auslegung des Ich-bin- Wortes vom Brot die Konnotation »Lutscher des Lebens« kommt, 3 dann mag dies zunächst befremden. Doch zeigt eine nähere Betrachtung, mit welchem Geschick sie sich dieser Metapher annehmen und für ihr eigenes Leben verstehbar machen. Es ist der Verdienst der kontextuellen Theologien (der Frauen, der Befreiung etc.), deutlich gemacht zu haben, dass die biblische Botschaft nur dort bedeutsam wird, wo sie in den konkreten Horizont der Menschen eindringen kann. Von dieser Perspektive aus verliert die akademische Exegese den Nimbus der Universalität und wird hingewiesen auf ihren spezifischen »Sitz im Leben«. Da nun Jesus selber die Perspektive der Kinder mehrfach in ihrer Bedeutung herausge- Kontroverse Gerhard Büttner Kinder als Exeget / innen der Heiligen Schrift 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 46 stellt hat, wird man gut daran tun, deren Verstehen der biblischen Texte nicht gering zu schätzen. So verweisen Theologen aus gutem Grund auf die Notwendigkeit, die Perspektive der Kinder stark zu machen. In der Diskussion um das Philosophieren mit Kindern wurde immer wieder auf das »Staunen« als besondere Qualität des kindlichen Weltzugangs verwiesen. Und wenn die Kinder in ihrer Begegnung nur dieses Staunen als Beitrag in den theologischen Diskurs einzubringen hätten, dann lohnte bereits dies, um den Stellenwert der kindlichen »Exegese« hochzuschätzen. Kindertheologische Exegese gehört als kontextuelle Theologie in den theologischen und kirchlichen Diskurs, der ohne sie zweifellos ärmer wäre. 4 Dies ist keine Aussage allein der Haltung, sondern erweist sich im Detail als fruchtbar, wo es Kindern manchmal gelingt, wirklich originelle, auch die Erwachsenentheologie irritierende oder inspirierende Einsichten zutage zu fördern. 3. Rehabilitierung existenzieller Lesarten; Metaphysik statt Geschichte Grundlegend für wissenschaftliche Herangehensweisen an die Bibel ist der Vergleich. Die Entdeckung zahlreicher außerbiblischer Quellen gehörte zu den Schlüsselerfahrungen der historisch-kritischen Forschung. Auch Überlieferungs- und Redaktionsgeschichte machen deutlich, dass der biblische Text (bzw. sein Inhalt) sich offenbar in verschiedenen Zeiten in einem unterschiedlichen Zustand befand. Beide Beobachtungen führen zu seiner Relativierung, nämlich dazu, dass ein bestimmter Status des Textes in Beziehung gesetzt wird zu anderen Möglichkeiten. So gesehen könnte man das exegetische Arbeiten als einen Diskurs auf der Metaebene beschreiben: Wir reden darüber, wie andere mit dem Text oder Teilen von ihm umgegangen sind. Um dem Text wieder existenzielle Bedeutung abzugewinnen, bedarf es dann wieder so etwas wie einer »zweiten Naivität« (Ricoeur). Im Lichte dieser Überlegungen sind dann die kindlichen Zugänge zu bedenken. Kinder betrachten Texte auf der Objekt-Ebene und sind in der Regel nicht in der Lage zu Operationen auf der Meta-Ebene. Von daher befragen sie die Texte anders. Sie wollen wissen, »wie« etwas ist! Von daher sind sie geborene Metaphysiker. 5 Sie sind durchaus in der Lage, Spannungen innerhalb einer Perikope zu erkennen. Sie vergleichen auch Texte und prüfen kritisch, ob sich der Protagonist »bibelgemäß« verhält. Exegeten neigen dazu, Anstößiges als sekundär wegzuinterpretieren, Kinder müssen gleichsam »immanente« Interpretationen finden und sie tun dies auch. Von daher verwundert es nicht, dass der biblische Text dann näher bei ihnen und ihrer Lebenswelt bleibt, als dies bei den erwachsenen Exeget / innen zwangsläufig der Fall sein muss. Während die klassische Bibelexegese immer diachron angelegt war und die synchrone Perspektive erst allmählich wieder Raum gewinnt, ist der Zugang der Kinder von ihrem Denken her immer schon eher synchron. 4. Die Regelhaftigkeit des kindlichen Procedere Wir sind es gewohnt, Wissenschaft zu allererst durch ihre Methoden zu definieren. Nun lassen sich wissenschaftliche Methoden in gewisser Weise als Extensionen von Zugangsweisen der Alltagswelt deuten. Auch dort wird beobachtet, verglichen, sortiert etc., nur geschieht dies eher pragmatisch und weniger regelbewusst. Nun kann man den Gedanken in der Weise weiterführen, dass man zeigt, dass auch Wissenskonstruktionen von großer Prägnanz außerhalb des wissenschaftlichen Denkens möglich sind. So besticht etwa das Werk von Claude Lévi-Strauss durch den Aufweis höchst komplexer Denkoperationen bei der Konstruktion der Mythenwelt etwa südamerikanischer Indianervölker. D.h., dass auch das sog. »Wilde Denken« nicht ohne System und Regel ist. 6 Geht man von dieser Prämisse aus, dann ist es legitim, auch das kindliche Operieren mit biblischen Texten nach solchen impliziten Regelhaftigkeiten zu befragen. Dabei ließ sich zeigen, dass Kinder bei ihrer Konstruktion der Christologie »Kindertheologische Exegese gehört als kontextuelle Theologie in den theologischen und kirchlichen Diskurs, der ohne sie zweifellos ärmer wäre.« ZNT 21 (11. Jg. 2008) 47 Gerhard Büttner Kinder als Exeget / innen der Heiligen Schrift 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 47 Kontroverse 48 ZNT 21 (11. Jg. 2008) auf bestimmte typische Merkmale zurückgreifen wie Verwandtschaftsmodi (Vater-Sohn) oder auf Oben-unten-Metaphern oder beim Nachdenken über Dubletten im Text auf ähnliche Hypothesen stoßen wie die Bibelwissenschaft. 7 Die Frage von Differenz und Gemeinsamkeit zwischen »kindlicher Methodik« und der der Wissenschaft ist also eine Frage der Beobachterperspektive. Für konstruktivistische Wissenssoziologen sind die Gemeinsamkeiten wohl größer als die Unterschiede. Ansonsten lässt sich zeigen, dass es möglich ist, auf der Basis von Unterrichtsexperimenten, sukzessive Muster zu skizzieren, die bei der Wiederholung der Gespräche mit altersgleichen Kindern zu sehr ähnlichen Antwortmustern führen werden. Wir haben dies zeigen können im Hinblick auf das Bild von »Gott als Marionettenspieler« mit Affinität zu der Frage nach dem freien bzw. unfreien Willen und zur Frage der Christologie, wo die Schüler / innen selbst zu der Fragestellung von Chalzedon gefunden haben. 8 Zumindest für systematisch-theologische Fragestellungen lässt sich zeigen, dass die Lösungen der theologischen Tradition einen Antwortpool bilden, dem auch ein Großteil der Kinderantworten entspricht. 5. Die empirische Dimension In der neueren exegetischen Diskussion ist es durchaus üblich, rezeptionsästhetische Aspekte im Sinne der Literaturwissenschaft zu berücksichtigen. Dabei verbindet beide Wissenschaften zumindest im deutschsprachigen Raum eine große Scheu vor der Empirie. Zwar wird die Bedeutung der Rezeption eines Textes erkannt, doch eher theoretisch behandelt. Kindertheologie ist dem gegenüber eine zutiefst empiriegestützte Angelegenheit. Das bedeutet zunächst einmal, dass die Sammlung und Veröffentlichung zahlreicher Äußerungen von Kindern so etwas wie die materielle Basis der Kindertheologie darstellt. Das hat den unschätzbaren Vorteil, dass es möglich wird, implizite Annahmen über das, was Kinder können oder können sollten, anhand der vorliegenden empirischen Daten zu prüfen. So hat sich inzwischen die begründete Einsicht verbreitet, dass es sinnvoll und möglich ist, einfache Gleichnisse Jesu bereits im Grundschulalter zu behandeln, wenn dabei eine kindgemäße Unterrichtsstrategie gewählt wird. 9 Selbst Daten, die unter - wissenschaftlich gesehen - fragwürdigen Bedingungen erhoben wurden, können immer wieder als Hypothesen für weitere Untersuchungen dienen. Viele Daten zur Kindertheologie sind relativ praxisnah erhoben worden. Das relativiert vielleicht ihren - wissenschaftlich gesehen - objektiven Charakter, andererseits geschieht die Datengewinnung in der Regel ja mit der Absicht, das Gesprächsmaterial gewissermaßen im selben Kontext wieder einzusetzen. Wenn ich mit Kindern im Religionsunterricht über eine Jesusgeschichte spreche, dann ist damit ein Rahmen vorgegeben, innerhalb dessen das Gespräch abläuft. Es ist dann durchaus anzunehmen, dass das Religionsstunden-Ich die Antworten »frömmer« ausfallen lässt als in einem Gespräch in einem ganz anderen Setting. Dies enthebt die kindertheologische For- Prof. Dr. Gerhard Büttner, Jahrgang 1948, lehrt Ev. Theologie mit dem Schwerpunkt Religionspädagogik und Didaktik des RU an der Fakultät für Humanwissenschaften und Theologie der Technischen Universität Dortmund. Arbeitsschwerpunkte: Kindertheologie, Konstruktivistische Religionsdidaktik, Religionspädagogik und Entwicklungspsychologie, Religionsdidaktik und Allg. Didaktik. Gerhard Büttner »Indem rezeptionstheoretische Ansätze in der Exegese Eingang finden, werden empirisch arbeitende Zugänge wie die Kindertheologie auch für die wissenschaftliche Theologie interessant.« 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 48 schung nicht von der Notwendigkeit, sich an den üblichen sozialwissenschaftlichen Standards zu orientieren. 10 Zu bedenken ist allerdings, dass wir den Diskurs im Rahmen der biblischen Exegese führen, die in diesem Feld noch nicht einmal bis zum Problembewusstsein vorgedrungen ist. 6. Annäherungen und Erleichterungen anhand der neueren Exegese Martin Schreiner und ich haben in einem Sammelwerk, in dem Bibelwissenschaftler und Religionspädagogen biblische Perikopen exegesiert haben und ihre Auslegung mit der von Kindern verglichen haben, darüber nachgedacht, wieso es überhaupt möglich ist, dass Kindertheologie und Exegese in einen Diskurs eintreten können. 11 Wir haben dabei vier Tendenzen in der Exegese ausgemacht, die dem Unternehmen zugute kommen: a.) In der Bibelwissenschaft gibt es eine Tendenz zur Letztgestalt. Solange die Exegese letztlich nur an herauspräparierten Einheiten arbeitete, hatte der laienhafte Ausleger keine wirkliche Chance, seine eigenen Beobachtungen und Überlegungen ins Spiel mit den wissenschaftlich gewonnenen Auslegungen zu bringen. Dies wird beim gemeinsamen Blick auf die Letztgestalt der Texte einfacher. b.) Indem rezeptionstheoretische Ansätze in der Exegese Eingang finden, werden empirisch arbeitende Zugänge wie die Kindertheologie auch für die wissenschaftliche Theologie interessant. c.) Vereinzelt arbeiten Exegeten mit konstruktivistischen Ansätzen (Peter Lampe). Von einer solchen Prämisse her ist eine Integration des kindertheologischen Zugangs in das exegetische Setting zumindest sehr nahe liegend. d.) Mit der Einbeziehung dekonstruktivistischer Formen der Auslegung ist es nun fast zwingend, auch die Lesarten der Kinder als legitim gelten zu lassen. Nur unter der impliziten oder expliziten Annahme zumindest einzelner der hier genannten Aspekte ist ein Gespräch zwischen Exegese und Kindertheologie sinnvoll und möglich. l Anmerkungen 1 P. Müller, »Da mussten die Leute erst nachdenken …« Kinder als Exegeten - Kinder als Interpreten biblischer Texte, JaBuKi 2 (2003), 19-30; R. Zimmermann, Jakobs Begegnung am Jabbok (Gen 32,23-33). Der ›Kampf‹ der Exegeten und die Auslegungskunst der Kinder, JaBuKi 2 (2003), 31-45. 2 A.A. Bucher, Gleichnisse verstehen lernen. Strukturgenetische Untersuchungen zur Rezeption biblischer Parabeln (PTD 5), Freiburg / Schweiz 1990; H. Bee- Schroeter, Neutestamentliche Wundergeschichten im Spiegel vergangener und gegenwärtiger Rezeption (SBB 39), Stuttgart 1998. 3 M. Zimmermann / R. Zimmermann, Lutscher des Lebens? Kindertheologische Zugänge zu Johannes 6, KatBl 132 (2007), 336-340. 4 W. Härle, Was haben Kinder in der Theologie verloren? Systematisch-theologische Überlegungen zum Projekt einer Kindertheologie, JaBuKi 3 (2004), 11-27. 5 P. Harris, On Not Falling Down to Earth: Children’s Metaphysical Questions, in: K.S. Rosengren / C.N. Johnson / P. Harris (Hgg.), Imagining the Impossible, Cambridge / UK, 157-178. 6 C. Lévi-Strauss, Das wilde Denken (stw 13), Frankfurt a.M 1973. 7 G. Büttner, »Halb Mensch, halb nicht, das weiß man nicht so sehr, denn Jesus ist ja eigentlich Gottes Sohn! «. Kindliche Versuche, die Paradoxien der Christologie bildhaft auszudrücken, in: J. Frey / J. Rohls / R. Zimmermann (Hgg.), Metaphorik und Christologie (TBT 120), 399-416; G. Büttner / J. Thierfelder, Handwerkszeuge kindlicher Bibeldeutung, Loccumer Pelikan 3/ 2005, 106-110. 8 G. Büttner, How theologizing with children can work, BJRE 29 (2007), 127-139; P. Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche mit Kindern. Untersuchungen zur Professionalisierung Studierender und Anstöße zu forschendem Lernen im Religionsunterricht, Stuttgart 2007, 188ff. 9 Freudenberger-Lötz, Gespräche, 146ff. 10 M. Zimmermann, Methoden der Kindertheologie. Zur Präzisierung von Forschungsdesigns im kindertheologischen Diskurs, Theo-Web 5 (1/ 2006), 99-125. 11 G. Büttner / M. Schreiner, Im Spannungsfeld exegetischer Wissenschaft und kindlicher Intuition: Mit Kindern biblische Geschichten deuten, in: dies. (Hgg.), »Man hat immer ein Stück Gott in sich«. Bd. 1 AT (JaBuKi SB), Stuttgart 2004, 7-16. ZNT 21 (11. Jg. 2008) 49 Gerhard Büttner Kinder als Exeget / innen der Heiligen Schrift 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 49 Gerhard Büttner hat in sechs Punkten dargelegt, worin das Innovationspotential der Kindertheologie zu sehen ist. Ich möchte im Folgenden aufzeigen, wo Desiderate und Probleme dieses Konzeptes liegen. 1. Vom hermeneutischen Zugang von Kindern zu biblischen Texten Natürlich machen sich Kinder Gedanken zu ihrer Welt, ihren Sachen, ihren Lebenskontexten. Auch ExegetInnen machen sich diese Gedanken. Der Versuch, die Welt zu verstehen und ihr Sinn zuzuschreiben, gehört elementar zum Menschsein. Dieses Verstehen der Welt ist Hermeneutik, denn diese wird abgeleitet vom griechischen Wort hermeneuein, welches erklären, auslegen, übersetzen heißt. Kinder erklären ihre Welt, legen sie aus und übersetzen ihnen Fremdes in ihre Sprache. Sobald ExegetInnen sich mit biblischen Texten, deren Welten und Kontexten beschäftigen, tun sie dies jedoch auf ganz spezifische Weise. Dieses Vorgehen ist eingebettet in ein Wissenschaftssystem, das sich mit diesen Zugängen zum einen primär, durch das direkte Anwenden, zum anderen sekundär, mit der Reflexion dieser Zugänge, beschäftigt. »Exegese« ist die nach bestimmten Kriterien vorgehende Beschäftigung mit biblischen Texten und schließt einen kriterienlosen bzw. intuitiven Weg aus. Das große Verdienst der Exegese liegt darin, dass für jeden und jede nachvollziehbar ist, wie die Auslegung von Texten zustande kommt und welche Vorannahmen bzw. Rahmenbedingungen der Arbeit mit den Texten zugrunde liegen. Kinder gehen hier einen anderen Weg: Sie nähern sich Texten ohne Kriterien, ohne theologische Vorannahmen an, aber mit festgesetzten Rahmenbedingungen (Elterngespräch, Klassengespräch, Kindergartengespräch) und bringen ihre je spezifischen intuitiven Theorien der Welt in Beziehung zu den Texten. 1 Im Sinne der Rezeptionsästhetik machen erst die LeserInnen aus einem Text ihren Text und es gehört nachgerade zum Prozess des Lesens und Aneignens von Texten, dass der Horizont des Textes mit dem eigenen Lebenshorizont verschmilzt - Hans-Georg Gadamer nennt das »Horizontverschmelzung«. 2 Dies ist, was in der Kindertheologie passiert. Dieses unverstellte Herangehen an Texte bringt viele Vorteile mit sich, da dadurch Perspektiven auf Texte zum Vorschein kommen, die in der Exegese sonst oft eine marginale Rolle spielen. Aber wie werden die Ergebnisse der Kinder in ein theologisches System bzw. eine Kriteriologie eingebettet? Hier liegt meines Erachtens ein Desiderat der Kindertheologie, die doch - so zeigen das die mittlerweile sechs Jahrbücher und zwei Sonderbände des Jahrbuches für Kindertheologie 3 - stetig mehr Material zu bestimmten theologischen Topoi erhebt, aber bisher nicht den Versuch unternommen hat, dieses Material im Sinne einer Systematik auszuwerten und zu bündeln. Kinder als ExegetInnen zu bezeichnen, weil sie ihre Meinung zu biblischen Texten äußern, ist meines Erachtens zu hoch gegriffen, weil eine Systematik bzw. ein Bezug zu einem Wissenschaftssystem fehlt. Die Kindertheologie kann es nicht geben, weil keine Einheitlichkeit vorhanden ist! Es müsste daher von Kindertheologien oder vom Theologisieren mit Kindern gesprochen werden. 2. Von der Kontextualität der Kindertheologie Gerhard Büttner bezeichnet die Kindertheologie als kontextuelle Theologie. Kinder entwickeln Kontroverse Renate Hofmann Kindertheologie auf dem Prüfstand Kritische Anfragen an das Konzept der Kindertheologie »Kinder als ExegetInnen zu bezeichnen, weil sie ihre Meinung zu biblischen Texten äußern, ist meines Erachtens zu hoch gegriffen ...« 50 ZNT 21 (11. Jg. 2008) 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 50 Kontroverse ihre Ansichten zu theologischen Themen in ihrem je individuellen Lebenskontext. Karl Ernst Nipkow fragt an, welche theologische Disziplin (biblische, systematische oder praktische) den Bezugspunkt der Kindertheologie darstelle. 4 Es ist zu beobachten, dass die KindertheologInnen - also die TheologInnen, die sich mit den kindlichen Äußerungen zu theologischen Fragen beschäftigen - größtenteils ReligionspädagogInnen bzw. praktische TheologInnen sind. Dies könnte dazu führen, dass Methodik bzw. Didaktik eine größere Rolle für die Kindertheologie spielen als Systematik oder Exegese. Die feministische Theologie als andere kontextuelle Theologie hat sich mit allen theologischen Disziplinen und Fragestellungen auseinander gesetzt und ihre je kontextabhängigen Positionen herausgearbeitet. Kontextuelle Theologie lebt davon, dass sie von den BeobachterInnen ausgehend theologische Fragen bearbeitet. In der feministischen Theologie wird zum Beispiel die Frage nach angemessenen Gottesbildern von Frauen bearbeitet. Dies geschieht im Interesse der Frauen, die sich als feministische Theologinnen bezeichnen. In der Kindertheologie wird nicht nur über angemessene Gottesbilder von Kindern reflektiert, sondern zugleich werden Kinder darum gebeten, ihre Gottesbilder zum Ausdruck zu bringen. Meines Erachtens verwischt hier die schon von Friedrich Schweitzer präzise eingeführte Unterscheidung einer Theologie der Kinder, einer Theologie mit Kindern und einer Theologie für Kinder. 5 Kindertheologie erschöpft sich in weiten Teilen in einer Theologie der oder einer Theologie mit Kindern, dies auch aus methodischen Gründen (vgl. dazu 5.). Die Büchertische zu Publikationen zur theologischen Arbeit mit Kindern, zur religiösen Früherziehung etc. biegen sich unter der großen Anzahl der Materialien, dennoch fehlt eine Verknüpfung der Erkenntnisse über die Zugangsweisen der Kindertheologie mit den praktisch daraus folgenden Ideen für eine Theologie für Kinder. So bleiben die Ansätze oft unvermittelt nebeneinander stehen. Eine Perspektive der Kindertheologie müsste meines Erachtens auch darin bestehen, die bisherigen Erkenntnisse und Ergebnisse aus den einzelnen Jahrbüchern für Kindertheologie zu bündeln und zu strukturieren, um systematisch an die Topoi der Theologie zu gelangen und damit ein Konzept zu verfolgen, dass alle theologischen Disziplinen berücksichtigt. Bisher stehen zahlreiche »Kindertheologien« nebeneinander, umso schwieriger ist es daher, von der Kindertheologie zu sprechen. Erst nach und mit einer Bündelung und Strukturierung ließe sich meines Erachtens wirklich von »Kindertheologie« als eigenständiger Theologie sprechen. Kindertheologie, wie sie sich momentan zeigt - hier kann und will ich Gerhard Büttner durchaus zustimmen -, ist kontextuelle Theologie - nicht weniger, aber auch nicht mehr! 3. Von der Synchronie kindlicher Textlektüre Kinder lesen biblische Texte synchron - auch dieser These Gerhard Büttners kann ich zustimmen. Zu prüfen ist jedoch, was dies für das Konzept einer Kindertheologie impliziert. Sowohl Synchronie als auch Diachronie sind sprachwissenschaftliche, systematische Perspektiven, die ein Thema oder eine Fragestellung in einer bestimmten Hinsicht betrachten. Synchronie bezieht sich dabei auf einen parallelen Zugang der Sprache zu den im Sprachsystem existierenden Phänomenen. Diachronie geht weiter: sie betrifft auch den Sprachwandel und damit eine dynamische Sicht auf Sprache. In der Exegese wurde lange Zeit der diachrone Ansatz bevorzugt, weil die historischkritische Exegese auch nach dem Sitz im Leben von Texten fragt, ohne den Text sofort auf die heutige Wirkung zu übertragen. Der synchrone Ansatz, den Kinder in ihrem Zugang auf Texte haben, entspricht ihrem Wunsch nach sofortiger Sinngenerierung für ihre jetzige Lebenssituation. Dies wird eindrücklich bei der Verstehensweise von »Hefata« als »He, Vater! « deutlich. 6 Das theologisierende Kind versteht das Wort nicht, kennt es auch nicht aus anderen Zusammenhängen, möchte es aber in sein aktuelles Sprachsystem assimilieren und interpretiert es daher als Anrede Jesu: »He, Vater! «, weil es synchron mit Texten umgeht und sie dementsprechend rezipiert. Kinderexegese als synchrone Exegese hat daher ihren Platz als eine mögliche Form, mit Texten zu arbeiten, wohl aber muss weiterhin geprüft werden, ob sie damit Ex-egese und nicht Eis-egese ist. Ex-egese wäre sie, wenn sie aus den Texten etwas ZNT 21 (11. Jg. 2008) 51 Renate Hofmann Kindertheologie auf dem Prüfstand 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 51 Kontroverse herausarbeiten würde, Eis-egese, wenn sie in die Texte etwas hineinbringt - in diesem Fall die Deutung der Kinder. 4. Von den Voraussetzungen der Kindertheologie Gerhard Büttner hat die These aufgestellt, dass der Kindertheologie - gerade was ihre Arbeit mit biblischen Texten anbelangt - Regelhaftigkeit zuzusprechen ist. Aber was besagt Regelhaftigkeit? Ist ein Herangehen an Texte immer dann regelgeleitet, wenn es nicht willkürlich ist? In den Jahrbüchern für Kindertheologie werden zahlreiche Zugänge zu mannigfaltigen Themen und Texten publiziert, die - zumindest in einer Metaanalyse - gewissen Regeln unterliegen. Woher aber kommen diese Regeln? Hängen diese nicht viel mehr als mit einer intrinsischen Theologie der Kinder mit einer relativ gleich strukturierten religiösen Erziehung der Kinder zusammen? In vielen Beiträgen der Jahrbücher für Kindertheologie wird der Eindruck erweckt, dass die Kinder von sich aus ihre eigenen theologischen Vorstellungen darlegen. Bei einer genauen Auswertung der Impulse bzw. Fragen der Erwachsenen, die mit den Kindern »theologisieren«, wird aber allzu oft deutlich, dass diese sie in eine bestimmte Richtung lenken. Der sog. Versuchsleiter- oder Rosenthaleffekt 7 besagt, dass suggestive Fragen bzw. Erwartungen des/ der Interviewerin/ s die Antworten der Interviewten beeinflussen. Gerade was die Fragetechnik bzw. die Gesprächsführungstechnik der AnleiterInnen betrifft, ist kritisch zu prüfen, inwieweit durch rhetorische oder suggestive Fragen nicht gewisse »Kindertheologien« avisiert werden. Dies wirft die erwachsenen KindertheologInnen immer wieder in dilemmatische Situationen, denn gerade kleinere Kinder theologisieren selten von sich aus und benötigen dazu gute Impulse bzw. Fragen. Wenn diese jedoch zu eng formuliert sind, werden Kinder schnell in eine Richtung gedrängt, die nicht intrinsisch geprägt ist. Die bloße Reproduktion bzw. Imitation Erwachsener bzw. kultureller Vorstellungen scheint in vielen Kinderstimmen in den Jahrbüchern für Kindertheologie durch und reagiert daher auf die Erwachsenenwelt, die die Fragen bzw. Impulse vorgibt. Wenn zum Beispiel nach dem Aussehen des lieben Gottes gefragt wird, werden zwei Präsuppositionen gemacht, die die Kinder aufgreifen können: Gott hat ein Aussehen und Gott ist lieb. Hiermit werden die Antworten der Kinder in eine bestimmte Richtung gelenkt, ohne zum Ziel zu haben, dass diese je für sich überlegen, wie sie sich Gott vorstellen. Wenn der Kindertheologie also eine Regelhaftigkeit zugesprochen werden soll, dann sind zuvorderst die theologischen Regeln der fragenden Erwachsenen bzw. der erwachsenen GesprächspartnerInnen zu betrachten. Die Vorstellungen der Kinder und deren sprachliche Ausdruckskompetenz entwickeln sich in Imitation ihrer Lebenskontexte und spiegelt diese wider. Kindertheologie müsste diese beiden Bereiche, also Kinderwelten und dazugehörige Erwachsenenwelten, immer wieder miteinander in Beziehung setzen und Kongruenzen und Abweichungen dieser Theologien prüfen, um dann in diesem Abgleich festzustellen, was wirklich von den Kindern theologisiert wird und was lediglich die Imitation der Erwachsenentheologie ist. Nur dann kann m.E. von eigenständiger Kindertheologie gesprochen werden! Dr. Renate Hofmann, Jahrgang 1976, Studium der Evangelischen Religionspädagogik, Theologie und Psychologie in Augsburg, Magister Artium 2000, Promotion zur Dr. phil. 2001. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Praktische Theologie / Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bildungsreferat der EKD. Derzeit ist sie Lektorin im Gütersloher Verlagshaus. Renate Hofmann 52 ZNT 21 (11. Jg. 2008) 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 52 5. Von der Schwierigkeit, die Äußerungen der Kinder empirisch zu bearbeiten Seit langer Zeit - und nicht erst angestoßen durch die Kindertheologie - wird in Theologie und Religionspädagogik empirisch gearbeitet. Innovativ an der Kindertheologie ist, dass sie das Forschungssubjekt und -objekt »Kind« gewählt hat. Kinder werden in der Kindertheologie als ExpertInnen ihrer Theologien befragt bzw. in Gespräche verwickelt und dazu aufgefordert, ihre Meinungen zu theologischen Themen zu äußern. Diese Methode des Theologisierens ist ein wichtiger Zugang zu religiösen Vorstellungen und Einstellungen von Kindern und Jugendlichen und daher ohne Einschränkungen für alle religionspädagogisch Arbeitenden von höchster Relevanz. Die Arbeit von Petra Freudenberger-Lötz 8 zu theologischen Gesprächen mit Kindern hat darüber hinaus aufgezeigt, dass Lehrende dazu gewisse Kompetenzen benötigen, die in ihrer Ausbildung initiiert und entwickelt werden müssen. Bezugnehmend auf Punkt vier meiner kritischen Prüfung der Kindertheologie ist die Theologie der Lehrenden bzw. derer, die die Gespräche mit Kindern anleiten, von großer Bedeutung für das Gelingen dieser Gespräche. Nur, wenn die GesprächspartnerInnen theologisch in ihren Positionen gesichert sind, können gute Gespräche stattfinden - so zeigt das auch die große Bandbreite sowohl geals auch misslingender theologischer Gespräche, die in den Jahrbüchern für Kindertheologie publiziert sind. Hierbei ist aber oft der Umgang mit empirischen Methoden zu bemängeln. Einerseits ist natürlich zu begrüßen, dass sich immer mehr TheologInnen und ReligionspädagogInnen zutrauen, empirische Methoden der Sozialforschung anzuwenden. Oft jedoch werden Interpretationen der Kinderstimmen schon vorgenommen, bevor überhaupt die Schritte der Beschreibung (Paraphrase) und Kategorisierung erfolgen. Empirische Methoden sind wie exegetisches Herangehen an Texte nicht willkürlich, sondern unterliegen Regeln, die Objektivität, Validität und Reliabilität empirischer Forschung garantieren sollen. In vielen Beiträgen werden wie auch immer zustande gekommene Ergebnisse präsentiert, ohne die verwendeten Erhebungs- und Auswertungsmethoden transparent darzulegen. Manche Ergebnisse scheinen konstruiert oder werden normativ gesetzt und nicht aus dem empirisch erhobenen Material hergeleitet. Viele der dargestellten »Studien« sind daher mehr Erfahrungsberichte denn empirische Forschung! Das Vorgehen kindertheologischer Forschung geht in vielen Fällen einen »klassischen Vierschritt«: (1) Es wird eine Forschungsidee entwickelt, die im Zusammenhang mit einem theologischen Topos steht. (2) Es werden durch Gespräche bzw. Interviews mit Kindern Kinderstimmen gesammelt. (3) Die erwachsenen KindertheologInnen rezipieren die erhaltenen Kinderstimmen, interpretieren diese in Bezug auf ihre Forschungsfrage und bewerten Antworten, die nicht den bereits bekannten theologischen Zugängen entsprechen, als Kindertheologie - ohne zu fragen, wie diese entstanden sind. (4) Die Ergebnisse werden gebündelt auf die gesuchte Forschungsfrage zusammengestellt und publiziert. Um explizit und den Regeln empirischer Sozialforschung folgendes empirisches Forschen handelt es sich hierbei nicht! Die Kinder sind in diesem vierschrittigen Forschungsprozess Subjekte der Inhalte, nicht aber der Deutung ihrer Theologie, denn diese erfolgt durch Erwachsene. Erst in jüngster Zeit haben einige ForscherInnen dieses Desiderat erkannt und legen den Kindern Kinderstimmen anderer Kinder vor und bitten sie, sich dazu zu äußern. Erst dadurch werden Kinder zu HermeneutInnen ihrer spezifischen Theologie. Die Ergebnisse, die als vierter Schritt von den erwachsenen KindertheologInnen publiziert werden, gleichen dabei in vielen Teilen Alltagstheorien bzw. intuitiven Theorien zu theologischen Fragestellungen. Kindertheologie ist daher in vielen Bereichen Laientheologie, die durch Impulse von außen angeregt werden muss und nach dem Schema »Aktion - Reaktion« funktioniert. Darüber hinaus wird auch der enge Zusammenhang von Sprachentwicklung und kognitiver Entwicklung vernachlässigt. Dies zeigt das schon erwähnte Beispiel zum »Hefata«. Hier ist die kindertheologische Deutung des Kindes - dass es sich um die Anrede Jesu »He, Vater! « handle - fragwürdig. Liegt hier nicht einfach ein Verhören bzw. eine Sinngenerierung des Kindes vor, ein Phänomen, dass Axel Hacke schon im »weißen Neger Wumbaba« 9 ironisch aufgegriffen hat? In seinem Handbuch des Verhörens beschreibt Hacke, wie Verhörer zu interessanten Neudeutungen ZNT 21 (11. Jg. 2008) 53 Renate Hofmann Kindertheologie auf dem Prüfstand 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 53 V führen, etwa wenn ein Kaplan als Kind in einer Messe das »speravimus in te« als »Sperr ab, i muss in d’Höh« verstanden hat. Der Wunsch nach der Zuschreibung von Sinn zu Dingen des Lebensalltags führt zu Neudeutungen, die aber nicht nur von Kindern, sondern auch von LaiInnen vollzogen werden (siehe 1.). Im Gegensatz zu feministischer Theologie, die von Frauen initiiert und betrieben wird, und Befreiungstheologie, die in einem bestimmten Kontext entstanden sind, ist bei Kindertheologie zu fragen, ob Kindertheologie eine Erwachsenentheologie von ReligionspädagogInnen ist, die Kinder zu den verschiedensten theologischen Themen befragen, oder ob sie von Kindern für Kinder ist. Dann müsste sie auf das Material für die religionspädagogische Arbeit mit Kindern direkt bezogen sein. Statt bewusst eigenständig Theologie zu treiben, wie dies von Friedrich Schweitzer als Kriterium der Kindertheologie postuliert wurde, braucht das Theologisieren des Anstoßes von außen. Das Theologisieren mit Kindern ist m.E. daher eine Methode, mit Kindern über theologische Themen Gespräche zu führen, aber kein eigenständiges theologisches Konzept. Im Gegenüber zur Mathematik oder Physik, wo es auf die meisten Fragen eindeutige Antworten gibt, liegt in der Theologie und der Philosophie in theologischen und philosophischen Gesprächen der Schwerpunkt auf der Suche, auf dem Weg nach plausiblen Antwortmöglichkeiten. Es gibt keine letztgültigen Antworten auf bestimmte Fragen, der Weg ist das Ziel. Das griechische Wort met-hodos bezeichnet den Weg, etwas zu erreichen, den Gang einer Untersuchung. Kindertheologie ist ein solcher Weg, ein Gang auf der Suche nach Antworten und ist eine Methode im ursprünglichen Sinn des Wortes. 6. Von den Chancen einer Kontroverse zur Kindertheologie Die neuere Exegese erleichtert es, den kindlichen Zugängen zu biblischen Texten einen Raum in der Theologie zu offerieren. Sie geht im Zuge der Konstruktivismusdiskussion 10 davon aus, dass die Frage nach der Letztgestalt von Texten nicht ein für allemal gültig geklärt werden kann. Annäherungen zwischen Kindertheologie und Exegese sind daher immer mehr möglich. Der Paradigmenwechsel, der die Theologie und hierbei speziell die Exegese prägt, schlägt sich auch in dieser Kontroverse nieder. Vor vielleicht zwanzig Jahren wäre eine Kontroverse zu diesem Thema sicherlich in einer Zeitschrift für Neues Testament so nicht möglich gewesen. In der Multiperspektivität der Postmoderne wird immer wieder deutlich, dass Differenzen die Forschung befruchten und anregen, dass Grenzen geklärt und Desiderate aufgezeigt werden müssen, dass jedoch die Differenzen nicht dazu führen, dass überhaupt kein Diskurs stattfinden kann. Die vorliegende Kontroverse ist ein wichtiger Schritt auf diesem Weg. l Anmerkungen 1 Vgl. G. Büttner, Kinder - Theologie, EvTheol 67 (2007), 228. 2 Vgl. H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, 3. Aufl., Tübingen 1972. 3 Vgl. A.A. Bucher / G. Büttner / P. Freudenberger-Lötz / M. Schreiner (Hgg.), Jahrbücher für Kindertheologie. Bände 1 bis 6, Stuttgart 2002ff. 4 K.E. Nipkow, Theologie des Kindes und Kindertheologie, ZThK 103 (2006), 422-442. 5 F. Schweitzer, Was ist und wozu Kindertheologie? , in: A.A. Bucher / G. Büttner / P. Freudenberger-Lötz / M. Schreiner (Hgg.), »Im Himmelreich ist keiner sauer.« Kinder als Exegeten (JaBuKi 2), Stuttgart 2003, 9-18. 6 Vgl. G. Büttner & P. Freudenberger-Lötz, »He Vater, heil den Mann«. Die Heilung des Taubstummen (Mk 7, 31-37) in der Interpretation von Siebenjährigen, in: ders. / Martin Schreiner (Hgg.), »Man hat immer ein Stück Gott in sich«. Mit Kindern biblische Geschichten deuten. Teil 2: Neues Testament, Stuttgart 2006, 85-94. 7 Vgl. R. Rosenthal / L.F. Jacobson, Teacher expectations for the disadvantaged, Scientific American 218 (1968), 19-23. 8 Vgl. P. Freudenberger-Lötz, Theologische Gespräche mit Kindern. Untersuchungen zur Professionalisierung Studierender und Anstöße zu forschendem Lernen im Religionsunterricht, Stuttgart 2007. 9 Vgl. A. Hacke / M. Sowa, Der weiße Neger Wumbaba. Kleines Handbuch des Verhörens, München 2004. 10 Vgl. G. Büttner, Kindertheologie - beobachtet. Dekonstruktive Ansichten, Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 6 (2007), 2-11. »Die Kinder sind in diesem ... Forschungsprozess Subjekte der Inhalte, nicht aber der Deutung ihrer Theologie, denn diese erfolgt durch Erwachsene.« 54 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Kontroverse 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 54 1. Ausgangspunkt: Befindlichkeiten im Gottesglauben von Schülern und Schülerinnen Vor fast 25 Jahren befragte der Religionspädagoge Robert Schuster Berufsschülerinnen und Berufsschüler in Württemberg danach, was sie glauben. Dies ist 1984 als umfangreiche Sammlung veröffentlicht worden 2 und zur Grundlage für eine bis heute einflussreiche These des bekannten, emeritierten Tübinger Professors für Religionspädagogik, Karl Ernst Nipkow, geworden. Nipkow schreibt 1986 3 : »Die erste Einbruchstelle für den Verlust des Glaubens an Gott - vielleicht die zentrale - scheint die Enttäuschung über Gott als Helfer zu sein, in jüngeren Jahren die Enttäuschung über Gott als kindlich erwarteten Wunscherfüller, der stets zur Stelle sein sollte, später besonders die Enttäuschung über die ausgebliebene Hilfe angesichts von unverschuldetem Leiden und unerklärlichem Sterben, des weiteren die ausgebliebene Hilfe angesichts der Ungerechtigkeit in der Welt überhaupt. In verschiedenen Facetten zeigt sich die Theodizeeproblematik als die erste und wahrscheinlich größte Schwierigkeit in der Gottesbeziehung.« Bei einer Untersuchung des Leipziger Religionspädagogen Helmut Hanisch zur zeichnerischen Entwicklung des Gottesbildes bei Kindern und Jugendlichen Mitte der 90er-Jahre 4 bestätigt sich diese These Nipkows zumindest hinsichtlich einiger Schülervoten. Betrachten wir die Zeichnung eines 12-jährigen Mädchens, das nach eigenen Angaben nicht religiös erzogen wurde: Auf einer Erdkugel breiten sich Ungerechtigkeit, Krieg, Hunger, Umweltverschmutzung, Staatenspaltung, Regenwaldabholzung in alle Himmelsrichtungen aus. Darüber auf einer Wolke steht ein alter, bärtiger Mann mit geschlossenen Augen, die Hände untätig in den Hosentaschen. Neben ihm befindet sich ein Schild mit der Aufschrift »Ruhe! Ich schlafe! «. Dazu kommentiert die Schülerin: »Ich glaube nicht an Gott. Denn wenn es ihn gibt, schläft er wohl die ganze Zeit. Es würde doch sonst keine Kriege geben, keinen Hunger, Staatenspaltung, Rassenhaß, Regenwaldabholzung, Umweltverschmutzung, Ungerechtigkeit usw. […]« Ganz ähnlich die Aussage einer 15-jährigen, ebenfalls nach eigenem Bekunden nicht religiös Erzogenen: »Ich sehe das Leid und die Gewalt, die Umweltzerstörung und Gleichgültigkeit auf dieser Welt und frage mich: Wo ist Gott, der ›Allmächtige‹? Als Kind habe ich an ihn geglaubt, bis ich die Welt näher kennengelernt hatte.« Die in diesen Aussagen eindrücklich artikulierte »Enttäuschung über Gott als Helfer«, wie Nipkow es nennt, hängt sicherlich mit einer kon- Hermeneutik und Vermittlung Johannes Woyke »Darunter leide ich, dass die rechte Hand des Höchsten sich so ändern kann« (Ps 77,11) Erwägungen zur Relevanz eines alttestamentlichen Klagemotivs für die Didaktik neutestamentlicher Wundergeschichten 1 ZNT 21 (11. Jg. 2008) 55 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 55 Hermeneutik und Vermittlung kreten Erwartungshaltung an ein Handeln, ein Eingreifen Gottes zusammen - sei es in den Lauf der Welt oder aber in das eigene Leben - und zwar einer Erwartungshaltung, die gespeist ist von traditionellen Aussagen über Gott wie etwa das Gottesepitheton »Allmächtiger«. Und die Jugendliche, die danach fragt, wo denn Gott, der Allmächtige, sei angesichts des Elends auf der Welt, muss dabei nicht unbedingt einen ›Hyperzauberer-Alleskönner‹ im Blick haben. Vielmehr scheint sie an dem Gott zu verzweifeln, von dem wir Christen bekennen, dass er als Souverän die ganze Welt in seiner Hand hält, für uns sorgt. 5 Nun spitzt sich diese Problematik in besonderem Maße zu im Zusammenhang des Erzählens biblischer, zumal neutestamentlicher ›Wundergeschichten‹. Auch dies ist hinreichend dokumentiert, so zuletzt von Tobias Ziegler in einer Untersuchung zu Zugängen Jugendlicher zur Christologie. 6 So schreibt die 17-jährige Gymnasiastin Martina: »Jesus war der Sohn Gottes. Er wollte Frieden schaffen. [...] Durch Jesus hat man erfahren, dass Gott wirklich existiert, da er ihn wieder auferstehen lassen hat, und da Jesus während seines Lebens viele ›Wunder‹ vollbracht hat, die nur durch Gottes Hilfe geschehen konnten. Jesus hat während seines Lebens viel von Gott erzählt. Aber ich frage mich, wenn Gott Frieden auf der Welt schaffen wollte, warum es auf der ganzen Welt dann immer zu Kriegen kommen kann [...] Warum lässt Gott zu, dass es so viel Schlechtes auf der Welt gibt und in vielen Ländern Hungersnot herrscht [...].« Oder, mit etwas anderer Akzentsetzung, der gleichaltrige Thomas: »Ich vermisse weitere Zeichen von Gott, oder schickt er sie uns dauernd, aber wir sind nicht aufnahmefähig? Mein Glaube würde enorm gefestigt, wenn Gott wieder Zeichen senden würde wie vor 2000 Jahren. Ich finde es beachtlich von Jesus, dass er Menschen ›mit seinen Händen heilen konnte‹ [...] Mit den Geschichten, die von Wundern erzählen, habe ich Probleme, dies zu glauben, da sie oft widersprüchlich sind. Ich würde sehr gerne ein Wunder von Gott und Jesus selber miterleben. Gott würde dadurch den Glauben von allen stärken.« Hier haben wir es offenkundig mit einer Verknüpfung, ja Konditionierung des Glaubens an Gott mit Erfahrungen zu tun, die den biblischen ›Wundererzählungen‹ analog sind. Angesichts dessen wird eine nicht geringe Anzahl ›Wunderkundiger‹ ExegetInnen und DidaktikerInnen Einspruch erheben müssen: Liegt in dieser Äußerung des Elftklässlers Thomas nicht ein grobes Missverständnis vor - eine Interpretation nämlich, welche die biblischen Wundererzählungen als historische Fakten und Gottvertrauen als Mirakelglauben missversteht? Wird nicht dadurch die Ablehnung des Glaubens an Gottes Mitsein - zumal in Jesus Christus - geradezu forciert? 7 Erkunden wir also in einem nächsten Schritt Erkenntnisse der neutestamentlichen Zunft und widmen wir uns anschließend sich daraus ergebenden didaktischen Überlegungen! 2. Wundererzählungen als unterhaltsame Mut-mach-Geschichten sog. ›kleiner Leute‹ und als zeitlos gültige Bilder der Hoffnung: Exegetische Perspektiven Zunächst einmal ist der bereits mehrfach verwen- Dr. Johannes Woyke, Studium der ev. Theologie von 1991-98 in Tübingen, Vancouver (Kanada) und Heidelberg,1. Theologische Dienstprüfung, Ev. Kirche von Westfalen. Promotion 2004 mit einer Arbeit über »Götter, ›Götzen‹, Götterbilder in der Theologie des Paulus« (BZNW 132). Seit 2003 Assistent am Lehrstuhl für Didaktik der Ev. Theologie, Universität Siegen, im WS 06 / 07 Vertretungspro fessur für Religionspädagogik, Universität Kassel. Forschungsschwerpunkte: Paulinische Theologie, Hermeneutik neutestamentlicher Wundererzählungen, Religionsdidaktik (bes. Bibeldidaktik). Johannes Woyke 56 ZNT 21 (11. Jg. 2008) 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 56 dete Begriff »Wundergeschichten« zu spezifizieren. Umstritten ist in der Fachwissenschaft, ob überhaupt ein Motivinventar existiert, das es rechtfertigt, von Wundererzählungen als einer eigenständigen antiken Gattung zu sprechen - so bekanntlich die bis heute einflussreiche These Gerd Theißens -, oder ob es sich bei der Benennung von ›Wundergeschichten‹ lediglich, wie Klaus Berger kritisch bemerkt, um eine »moderne Beschreibung eines antiken Wirklichkeitsverständnisses« handelt. 8 Ohne an dieser Stelle ausführlich auf die Fachdiskussion eingehen zu können oder andererseits die Unterschiede zwischen Theißen und Berger nivellieren zu wollen, möchte ich auf ein Merkmal hinweisen, das Theißen »Admiration und Akklamation« nennt und das nach Berger gattungsbildend für die antike Großgattung ›Epideixis / Demonstratio‹ ist: In den Evangelien begegnen uns demnach eine Reihe von Texten, in denen »ein Geschehen so berichtet wird, daß am Ende die (Augen- oder Ohren-) Zeugen darauf mit Verwunderung, Staunen oder Fragen reagieren«. 9 Einige Beispiele aus dem Markusevangelium seien zur Veranschaulichung genannt: Die Menschen in der Synagoge von Kafarnaum reagieren auf Jesu vollmächtiges Lehren wie auch auf eine Dämonenaustreibung mit Entsetzen und dem fragenden Erstaunen: »Was ist das? Eine neue Lehre in Vollmacht! Er gebietet auch den unreinen Geistern und die gehorchen ihm! « (Mk 1,27). Ähnlich, allerdings mit wesentlich mehr Skepsis, lauten die Voten nach Jesu Predigt in Nazareth: »Und viele, die zuhörten, verwunderten sich und sprachen: ›Woher hat er das? Und was ist das für eine Weisheit, die ihm gegeben ist? Und solche mächtigen Taten, die durch seine Hand geschehen? ‹« (Mk 6,2). Angesichts der Sturmstillung ergreift die perplexen Jünger im Boot die Furcht, und sie fragen sich: »Wer ist der? Auch Wind und Meer sind ihm gehorsam! « (Mk 4,41). Und schließlich reagieren nach der Heilung eines Taubstummen die Umherstehenden mit übermäßigem Staunen: »Er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend! « (Mk 7,37). Nach Berger hängen all diese auf eine Reaktion des Staunens, Entsetzens oder der Furcht hinauslaufenden Texte, die - und das spricht für Bergers These - nicht auf ›Wundererzählungen‹ begrenzt sind (vgl. z.B. Mk 1,22; 10,23-27.32), mit dem Motiv der Epiphanie bzw. der Theophanie zusammen. In einer geheimnisvollen Weise manifestiert bzw. offenbart sich Gott in diesen Worten und Taten Jesus von Nazareths. Diese Begegnung mit Gott, dieses Hereinbrechen der göttlichen Macht in die menschliche Wirklichkeit ruft Furcht und Entsetzen hervor. Zugleich bieten die in den Evangelien geschilderten Worte und Taten Jesu etwas gegenüber allem Bekannten grundlegend Neues (vgl. Mk 1,22), etwas jenseits des zu Erwartenden (vgl. Mk 2,12) oder Menschenmöglichen (vgl. Mk 10,23-27), ja - wenn man so will - etwas in gewisser Weise Sensationelles. 10 Darüber hinaus muss noch auf eine (immer noch) geläufige Unterscheidung 11 hingewiesen werden: die nämlich zwischen Heilungen einerseits und so genannten Naturwundern andererseits. Eine außergewöhnliche Heilungstätigkeit Jesu, zu denen ich der Einfachheit halber auch die Dämonenaustreibungen zähle, wird vielfach als historisch wahrscheinlich angenommen. Trotzdem müsse man in den Evangelienberichten mit einer steigernden, deutenden oder aktualisierenden Ausgestaltung rechnen. 12 Grundlegend anders verhalte es sich bei den in der früheren Exegese als ›Naturwunder‹ bezeichneten Erzählungen. Als solche wären etwa, in der seit langem maßgeblichen Terminologie Gerd Theißens, 13 zu nennen: Geschenkwunder wie die Speisung der 5000, das Weinwunder zu Kana oder der Fischzug des Petrus, Rettungswunder wie die Sturmstillung und Epiphanien wie der Wandel Jesu auf dem See. In diesen werde so offensichtlich auf die Erscheinungsweise Jesu als des von den Toten Auferstandenen Bezug genommen; so offenkundig würden sie »im Rückgriff auf ältere urchristliche oder biblische Traditionen ausgeformt oder gar gebildet«, dass - so Jörg Frey - die »Frage nach der Historizität dieser Berichte […] deshalb eher negativ zu beantworten sein« dürfte. 14 Zwar weist Frey in wünschenswerter Deutlichkeit darauf hin, dass dies kein weltanschauliches Urteil sein dürfe, sondern sich stets an der Motivik der Texte selbst zu erweisen habe. Dennoch ist es hermeneutisch durchaus problematisch, historische Wahrscheinlichkeitsurteile über Sachverhalte zu fällen, die nach der Erzählintention der Evangelisten in Jesus von Nazareth eine noch nie da gewesene Vollmacht herausstellen, 15 und zwar ohne diesbe- ZNT 21 (11. Jg. 2008) 57 Johannes Woyke »Darunter leide ich, dass die rechte Hand des Höchsten sich so ändern kann« (Ps 77,11) 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 57 züglich zwischen ›Heilungen‹ und ›Naturwundern‹ zu unterscheiden. Zudem spielt es in der Religionsdidaktik letztlich keine Rolle, ob man etwa gegenüber dem Seewandel oder der Sturmstillung die Historizität von Jesu heilendem und exorzistischem Handeln plausibilisieren kann, wenn Jugendliche gerade daraus die enttäuschte Erwartung eines helfend eingreifenden Handelns des Christus praesens ableiten. 16 Wer aber erzählt solche Geschichten weiter? Wer überliefert sie an die kommende Generation? Und wozu schließlich werden sie erzählt? Hier geht der von Gerd Theißen maßgeblich geprägte Forschungsstrang davon aus, dass solche ›Sensationsgeschichten‹ - um diesen Begriff nochmals zu verwenden - besonders bei ungebildeten, volkstümlichen Menschen Fuß fassen konnten. Dort, in den zumeist perspektiv- und hoffnungslosen unteren Schichten seien sie Geschichten der Grenzüberwindung geworden, »Symbolhandlungen der kleinen Leute, mit denen diese ihrer Not entgegenwirken und Zuversicht für deren Überwindung gewinnen«. 17 Theißen veranschaulicht diese gängige, allerdings nicht unumstrittene These 18 sehr eindrücklich in seinem in zigfacher Auflage erschienenen Jesus-Roman »Der Schatten des Galiläers«. Die Rahmenhandlung des Romans ist fiktiv: Ein junger Jude aus der gesellschaftlichen Oberschicht namens Andreas wird von Pilatus dazu erpresst, Material über neue religiöse Bewegungen in Palästina zu sammeln. Dabei stößt er auf Jesus und reist ihm hinterher, ohne ihn allerdings jemals zu treffen. Im Zuge seiner Recherchen kommt Andreas nach Kafarnaum zu einer einfachen Fischerfamilie. Deren Tochter, die 12-jährige Mirjam, liegt todkrank danieder. Theißen erzählt aus der Sicht des Andreas: 19 »Die älteren Geschwister bewegten sich nur leise im Hause. Alles war gedämpft und still. Ich kannte diese Stimmung. Es war die Stimmung einer Familie, die den Tod fürchtete. Keiner wagte es auszusprechen. Aber jeder wußte es. Sobald man das Haus betrat, spürte man den Schatten des Todes - und die trotzige Hoffnung auf Rettung.« Mirjams Mutter Hanna berichtet Andreas von Jesus, von dem erzählt wird, dass Blinde sehen, Lahme gehen, ja sogar Toten auferweckt werden. »›Wenn er doch käme! ‹, flüsterte das Kind. Hanna wickelte ihre Tochter in ein Tuch und nahm sie auf den Schoß: ›Ich kann ihn nicht herbeiholen. Glaub mir, ich kann es nicht. Aber ich kann dir eine Geschichte von ihm erzählen, willst du? ‹ Mirjam nickte [...].« Und so erzählt Mirjams Mutter Geschichte um Geschichte. Theißen lässt Andreas reflektieren: »Mirjam sog jede Geschichte in sich hinein. Es waren ihre Geschichten. Sie war blind und wurde sehend. Sie war lahm und konnte wieder gehen. Sie wurde krank und wurde wieder gesund. Aus jedem Wort schöpfte sie neue Hoffnung. - Auch ich hörte gebannt zu: Manches in diesen Geschichten stieß mich ab. Es klang abergläubisch und primitiv. Aber ich wurde mit der Zeit nicht weniger von ihnen gepackt als Mirjam. Ich merkte: In diesen Geschichten lag die ganze Hoffnung dieser armen Leute. Ich hörte aus ihnen ihr Aufbegehren gegen Leid und Tod. Ich spürte: Solange diese Geschichten erzählt wurden, würden sie sich nicht damit abfinden, daß Menschen hungern und dürsten, daß sie verstümmelt und behindert, daß sie krank und hilflos sind. Solange sie diese Geschichten hatten, würden sie Hoffnung haben. - Ich fragte mich, ob Hanna all ihre Geschichten von Jesus, die sie Mirjam erzählte, gehört hatte. Oder ob sie nicht einige erfand, um die kleine Mirjam zu trösten? Ich glaube, wenn ihr die Geschichten ausgegangen wären, ich hätte mich selbst hingesetzt und einige hinzu erfunden. Ich weiß, Geschichten allein machen nicht gesund. Aber ich hatte das Gefühl, ohne diese Geschichten würde Mirjam nicht geheilt.« In der Faszination, die die Heilungsberichte über Jesus auf Theißens ›Andreas‹ ausüben, wird deutlich: Die Tradenten der Wundergeschichten liegen zwar bei den einfachen Leuten. Ihr Inhalt jedoch wird auch für Gebildete und Betuchte wichtig als »zeitlos gültige Bilder der Hoffnung«, welche »eine bessere Welt ein[klagen]«, wie Bernd Kollmann 20 treffend formuliert. Allerdings ist dabei - anders als bei der Romanfigur ›Andreas‹ - mit Stefan Alkier einzufordern: »Den W[undern] kommt im Wirklichkeitsverständnis des NT nur dann symbolische Kraft zu, wenn sie als real geschehen gelten können. Ihr materieller und leiblicher Bezug verhindert jegliche Spiritualisierung und Entkörperlichung des Glaubens.« 21 Hinzuzufügen ist: Nicht im Erzählen der ›Wundergeschichten‹ bzw. im Glauben an die darin zum 58 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Hermeneutik und Vermittlung 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 58 Ausdruck kommende Hoffnung an sich liegt deren Grenzen überwindende Kraft, sondern in der »charismatischen Vollmacht« dessen, von dem erzählt wird: Jesus von Nazareth. 22 3. Wundergeschichten als real-symbolische Hoffnungsgeschichten für Heute: Didaktische Perspektiven Vor 80 Jahren ging man wie selbstverständlich davon aus, dass - um einen Lexikonartikel von 1927 zu zitieren, 23 »dem naiven Alter die Erscheinung des Göttlichen im äußerlich Wunderbaren besonders zugänglich« sei. Biblische Wundergeschichten sollten daher im Religionsunterricht früh behandelt werden. Etwa 20 Jahre später, in den 40erjahren des 20. Jahrhunderts, hat sich Martin Rang in seinem »Handbuch für den biblischen Unterricht« energisch für eine frühere Bearbeitung der Historizitätsproblematik ausgesprochen. Es sei »verantwortungslos gehandelt, wenn sich der Lehrer bei den Kleinen mit ihrem naiven Wunderglauben zufrieden gibt, statt den Blick früh schon - und ehe der Zweifel einsetzt! - unermüdlich vom Wunderzeichen fort auf den Inhalt der Offenbarung zu lenken«. 24 In den 70erjahren sekundierte Rudolf Vandré in seinem Buch zu »Wundergeschichten im Religionsunterricht«: 25 Zwar könnten »Schüler bis zu einem bestimmten Alter durch die naiv historisch verstandenen Erzählungen hindurch das bezüglich des Glaubens Gemeinte vernehmen«; zwar pflege die Ablehnung des »hinter den Texten stehende[n] mythische[n] Weltbild[es]« »erst mit einer bei den Schülern erwachenden kritischen Rationalität aufzutreten«. Doch bestehe zu diesem Zeitpunkt die »Gefahr, daß [...] die Texte als Ganze« abgelehnt werden - »und damit eben auch die darin zur Sprache gebrachten Glaubensaussagen«. Als Konsequenz stelle sich die Aufgabe, »bereits von Anfang an zu einem differenzierten Verstehen der Texte anzuleiten«. Die Schülerinnen und Schüler müssten »von Anfang an lernen, diese Geschichten nicht als historische Berichte zu hören, sondern als Geschichten, in denen sich in je verschiedener Weise der Glaube der frühen Erzähler ausspricht«. Wiederum 20 Jahre später schreibt der Bibeldidaktiker Günter Scholz 26 : In der Grundschule gehe es darum, »mit dem Schüler zusammen die Bildersprache als Möglichkeit zu entdecken, existentielle Erfahrungen mitzuteilen«. Die Schülerin, der Schüler solle angeleitet werden, »sich selbst, seine Verfaßtheit (Blindheit, Lahmheit, Taubheit) und seine Ängste (Verlassenheit), in den Geschichten von menschlicher Not und deren Überwindung« wiederzuerkennen. »Ziel des Unterrichts« müsse es sein, »das eindimensionale historisch-faktizistische Denken zu überwinden und zu der Erkenntnis zu führen, daß Wahrheit mehrschichtig ist«. Indes: Umfangreiche Befragungen von Schülerinnen und Schülern haben ergeben, dass die Kompetenz, »biblische Geschichten nicht nur konkret wortwörtlich, sondern als übertragbar oder symbolisch zu verstehen, [...] nicht zwingend« verbürgt, »dass Heranwachsende ihr Lebensrelevanz attestieren«. Die »Zunahme von nichtbuchstäblichem Verstehen biblischer Geschichten« gehe vielmehr »mit einem verblüffend parallelen Anstieg an Ablehnung derselben einher[...]. Wer biblische Geschichten nicht (mehr) wortwörtlich« auffasse, neige »infolgedessen dazu, sie für unglaubwürdig, märchenhaft oder - im abwertenden Sinn - als ›nur symbolisch‹ = ›nicht wirklich‹ aufzufassen« 27 . Soll man also Wundergeschichten ganz aus den Lehrplänen von Grundschule und Orientierungsstufe streichen? Solches wird bekanntlich immer wieder in die Lehrplandiskussion eingebracht. 28 Oder soll man die bisherigen symboldidaktischen Bemühungen, wie sie Günter Scholz exemplarisch vorschlägt, nurmehr intensivieren? Immerhin kritisiert der Bibeldidaktiker Ingo Baldermann die eben erwähnte exegetische wie bibeldidaktische Praxis: nämlich »die Eigenarten symbolischer Sprache aus ihrem Kontrast zum Tatsachenbericht zu entwickeln«. Gerade solches führe bei Schülerinnen und Schülern zu dem Ergebnis: »Also nur ein Symbol? , und das meint: Also nicht wirklich geschehen? «. Die Wundergeschichten seien »eben nicht symbolisches Verpackungsmaterial für theologische Aussagen, sondern Geschichten, die erzählt sein wollen«. 29 Baldermann selbst setzt auf eine Bibeldidaktik, die sich an elementaren Klagen und Fragen der Psalmen orientiert - Motive, die bereits die Evangelisten in ihre Wundererzählungen eingearbeitet haben. 30 Mit solcher Vorgehensweise hofft Baldermann freilich, die bleibende Relevanz der Evangeliener- ZNT 21 (11. Jg. 2008) 59 Johannes Woyke »Darunter leide ich, dass die rechte Hand des Höchsten sich so ändern kann« (Ps 77,11) 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 59 zählungen vom Wundertäter Jesus von Nazareth bei Kindern und Jugendlichen gewährleisten zu können, ohne dass die Frage nach dem Geschehensein überhaupt aufkommt. Dies wiederum halte ich - zumindest auf Dauer - für problematisch: Steht nicht, didaktisch wie theologisch, das Vertrauen auf ein reales Wirken Gottes auf dem Spiel? Liegt der Debatte, ob es sich bei den biblisch erzählten Wundern um Fakt oder Fiktion handelt, nicht letztlich die Frage zugrunde, was wir heute noch von Gott bzw. vom gegenwärtigen Christus erwarten und erhoffen dürfen? Die eingangs zu Wort gekommenen Schülerinnen und Schüler jedenfalls sehen eine solche Verbindung. Und schließlich: Die so genannte Theodizeefrage - die Frage, wie ein allmächtiger und gütiger Gott Leid zulassen kann; ob es angesichts von Leid, Unrecht und Gewalt überhaupt einen allmächtigen und gütigen Gott geben kann - hatte Karl Ernst Nipkow ja vor 20 Jahren als vielleicht die zentrale Einbruchstelle des Glaubens Jugendlicher bezeichnet. Eine vor kurzem in Leipzig und Nürnberg / Erlangen durchgeführte Untersuchung konnte diesen Befund so nicht mehr bestätigen. Vielfach trete - sogar bei religiös erzogenen Schülerinnen und Schülern - ein Gottesbild zutage, welches gar nicht mehr damit rechnet, dass »Gott [...] geschichtsmächtig wirksam« ist. Gott werde häufig nicht mehr als jemand gedacht, »der in menschliches Leben und in die Wirklichkeit eingreifen kann«. 31 Gerade solches Begraben des »Vertrauen[s] auf Gottes Mitsein im real gelebten Leben« aber lässt, nach Ansicht des Systematikers Michael Beintker, den »christliche[n] Glauben [...] zum verzagten Kleinglauben verkümmern«. 32 Worin besteht also die bibeldidaktische Aufgabe? Doch nicht zuletzt darin, die biblischen Wundergeschichten zwar nicht historisch-objektivierend, wohl aber als »real und zugleich symbolisch« verstehen zu lernen, wie die Bibeldidaktikerin Gisela Kittel vorschlägt. In den biblischen Texten werde von »Geschehnissen« berichtet, »die nach Meinung der Erzähler auch in der geschichtlichen Wirklichkeit wahrgenommen und erfaßt werden konnten«. Gleichwohl weisen sie »über sich hinaus in eine Wirklichkeit, die, wenn auch verborgen, alles Leben in dieser Welt hintergründig bestimmt: die Wirklichkeit Gottes, aber auch die Realität der chaotischen Mächte«. 33 Um ein solches realsymbolisches Verständnis biblischer Wundergeschichten didaktisch anzustoßen - ein Verständnis nämlich, das einerseits mit Gottes geschichtlichem Eingreifen rechnet, das aber andererseits auch zum Umgang mit nichterfahrener Hilfe Gottes anleitet: Dazu kann, so die These dieses Beitrags, Ps 77 verhelfen. 4. »Darunter leide ich, dass die rechte Hand des Höchsten sich so ändern kann«: Bibeldidaktische Impulse aus Ps 77 34 Hervorstehendes Motiv des Psalms ist die Erinnerung, das Gedenken an frühere Zeiten. Genauer: das Gedenken der vergangenen Heilstaten Gottes in gegenwärtiger Bedrängnis. Ein Erinnern, das provokanterweise nicht in ein Lob der großen Taten Gottes einmündet, sondern in Irritation: »Ich denke an Gott - und bin betrübt« (V. 4). Psalm 77 thematisiert, so Frank-Lothar Hossfeld und Erich Zenger in ihrem Kommentar, das »Leiden an der Gottesferne und an der Wesensänderung Gottes in der Gegenwart«, an der »Diskrepanz zwischen göttlichem Wirken in der Vergangenheit und [dem] Defizit seines Eingreifens in der Gegenwart«. 35 Ganz deutlich wird im Text auf die Exodustradition angespielt: das Wunder des Durchzugs durch das Schilfmeer, aber auch die Offenbarung Gottes an Mose auf dem Sinai. Damals hatte Gott sein Wesen offenbart als »Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue« (Ex 34,6). Nun, in der - nicht weiter spezifizierten - bedrängten Situation von Psalm 77, plagen den Beter oder die Beterin Zweifel: 8 Wird denn der H ERR auf ewig verstoßen und keine Gnade mehr erweisen? 9 Ist’s denn ganz und gar aus mit seiner Güte, und hat die Verheißung für immer ein Ende? 10 Hat Gott vergessen, gnädig zu sein, oder sein Erbarmen im Zorn verschlossen? Die Zweifel und Fragen münden ein in die kla- »Um ein solches real-symbolisches Verständnis biblischer Wundergeschichten didaktisch anzustoßen, … (d)azu kann … Ps 77 verhelfen.« 60 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Hermeneutik und Vermittlung 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 60 gende theologische Reflexion: »Darunter leide ich, dass die rechte Hand des Höchsten sich so ändern kann! « (V. 11). Oder, nach der Arbeitsübersetzung von Rudolf Mosis: »Dies ist mein ›Siechtum‹: dass sich die Rechte des Höchsten geändert«. 36 Die Rechte des Höchsten: das ist die Macht Gottes, mit der er, nach dem so genannten Moselied Exodus 15, in den Fluten des Schilfmeers die ägyptischen Verfolger des Volkes Israel ertränkt hat; die Macht Gottes, mit der er sein Volk sicheren Fußes hindurchgeführt und ins verheißene Land gebracht hat (vgl. Ps 44,4). Diese rechte Hand Gottes hat sich für den Beter von Ps 77 geändert - eine ungeheuerliche Aussage! In dieser Provokation liegt der erste bibeldidaktische Gewinn von Psalm 77. Die Befindlichkeiten des Beters, seine Not und Bedrängnis, die Erfahrung eines augenscheinlich abwesenden, schweigenden, untätigen Gottes: Auf dies alles wird nicht um einer ›Rechtgläubigkeit‹ willen verzichtet, dies alles wird nicht einer dogmatisch vermeintlich angemessenen Rede von Gott geopfert. Vielmehr kommt es in seiner ganzen Schroffheit und Irritation zur Sprache - und vermag gerade dadurch den anfangs zitierten Jugendlichen Worte zu geben. Wie aber geht es weiter? Verse 12 und 13: »Darum« - also weil ich darunter leide, dass sich die Rechte des Höchsten augenscheinlich geändert hat - »darum denke ich an die Taten des H ERRN , ja ich denke an deine früheren Wunder und sinne über alle deine Werke und denke deinen Taten nach.« Fast unmerklich ist der Verfasser des Psalms von der theologischen Reflexion in die direkte Anrede Gottes übergegangen. Allerdings baut sich unserem Verständnis an dieser Stelle ein Stolperstein auf: Wenn gerade das Gedenken an Gottes vergangenes Wirken die Diskrepanz zu seinem augenscheinlichen So-anders-sein in der Gegenwart aufdeckt: Wie kann der in dem Psalm zu Wort kommende Theologe (die Theologin) dann sein (ihr) Heil wiederum in dieser Rückwärtsgewandtheit finden? Dies indes wäre ein vorschneller Schluss, ein Fehlurteil. Das Gedenken (hebräisch: zakar) wird nun als ein Nachsinnen (hebräisch: hagah; šiyh.), als beharrliches Nachfragen vollzogen. Der Verfasser des Psalms sucht in den Erzählungen von Gottes großen Heilstaten der Vergangenheit, von seinen Wundern seit Anbeginn, einen Schlüssel zu finden, der es ihm erlaubt, auf Gottes Mitsein in seinem eigenen, gegenwärtigen, real gelebten Leben zu vertrauen. 37 Und dabei fällt ihm »ein neues Licht auf die alten Worte seines Glaubens«! 38 Er stößt auf die Erkenntnis der Undurchschaubarkeit der Wege Gottes auch im vergangenen Heilshandeln Gottes. So Vers 14: »Gott, dein Weg ist heilig« - Gottes Macht vollzieht sich jenseits dessen, was menschlichem Begreifen zugänglich ist. Im Bild gesprochen: »Dein Weg ging durch das Meer und dein Pfad durch große Wasser; doch niemand sah deine Spur« (V. 20). Rudolf Mosis deutet diese neu gefundene Erkenntnis des Psalmisten so: 39 »In der Not seiner Gegenwart, im Blick auf das Gottesvolk seines ›Tages der Bedrängnis‹ erinnert er an die alten Wunder, sieht nun aber, daß auch damals Gottes ›Spuren‹ ›unkund‹ blieben. Er erkennt, daß es ein Mißverständnis der konventionellen Rede von Gott wäre, wenn man darin eine Art Beschreibung von Vorgängen sehen wollte, die einfach und vordergründig gegeben wären, sozusagen als ›objektive Tatbestände‹, deren Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von jedermann einfach festgestellt werden könnte. Er erkennt, daß dieses ›Unkundbleiben‹ der ›Spuren‹ Gottes nichts daran ändert, daß Gott den Weg mit seinem Volk durch die ›gewaltigen Wasser‹ in der Tat gegangen ist.« Diese Einsicht ist zugleich eine Einsicht in die Unzulänglichkeit unseres Redens von Gott: Die »Wundertaten Gottes seit Urbeginn« wollen zwar erzählt werden. Gleichwohl reichen die Möglichkeiten unserer Sprache dazu nicht aus; das Wesentliche bleibt vielfach ungesagt. Eine Sprachform muss gefunden werden, um beides zu ermöglichen: dem tatsächlichen Handeln Gottes Ausdruck zu verleihen und gleichzeitig die Undurchschaubarkeit seiner Wege zu bewahren. Diese eigentlich unmögliche Möglichkeit versucht der Psalmbeter mit einer besonderen Sprachform zu realisieren: mit einem Gewebe von fast sachlicher Nüchternheit - nämlich in der Phrase »durch die Hand des Mose und Aaron« - und mythologischer Rede: 17 Die Wasser sahen dich, Gott, die Wasser sahen dich und ängstigten sich, ja, die Tiefen tobten. 18 Wasser ergossen sich aus dem Gewölk, die Wolken donnerten, und deine Pfeile fuhren einher. ZNT 21 (11. Jg. 2008) 61 Johannes Woyke »Darunter leide ich, dass die rechte Hand des Höchsten sich so ändern kann« (Ps 77,11) 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 61 19 Dein Donner rollte, Blitze erhellten den Erdkreis, die Erde erbebte und wankte. [...] 21 Du führtest dein Volk wie eine Herde, durch die Hand des Mose und Aaron. Hier wird auf ein Motiv zurückgegriffen, das wohl aus dem kanaanäischen Chaoskampf- Mythos stammt und in die alttestamentliche Rede von der Schöpfung wie auch vom Königtum Gottes Eingang gefunden hat: Der überlegene Königsgott konfrontiert die den Kosmos bedrohenden Chaoswasser. 40 Eine ähnliche Verknüpfung von Exodus- und Chaoskampf-Motivik findet sich im Übrigen auch bei Deuterojesaja (Jes 51,9-10): Wach auf, wach auf, zieh Macht an, du Arm des H ERRN ! Wach auf wie vor alters zu Anbeginn der Welt! Warst du es nicht, der Rahab zerhauen und den Drachen durchbohrt hat? Warst du es nicht, der das Meer austrocknete, die Wasser der großen Tiefe, der den Grund des Meeres zum Wege machte, dass die Erlösten hindurchgingen? Im Ereignis des Schilfmeerwunders manifestiert sich demnach das seine Schöpfung gegen das Chaos erhaltende Handeln des Königsgottes. Zugleich bietet die mythologisch gestaltete Sprachform die Chance, auch das gegenwärtige Heilshandeln Gottes als ebensolche Manifestation des Schöpfergottes zu erhoffen und einzufordern. Wiederum stellt sich die Frage nach der bibeldidaktischen Chance, die sich von Psalm 77 her auftut. Da wäre zunächst die Gelegenheit zu nennen, das biblische, angemessene Reden von Gott als ein Verwobensein von sachlich-berichtender und mythisch-erzählender Sprache zu entdecken: dass nämlich ein pures historischobjektivierendes Verständnis des Handelns Gottes in dieser Welt und mit uns völlig unzureichend, ja ein Missverständnis ist. Andererseits aber eröffnet sich die Chance, im wahrsten Sinn des Wortes zu realisieren, dass die Hoffnung auf das Eingreifen Gottes, der seine Schöpfung gegen das Chaos erhält, eine Hoffnung auf ein reales Handeln Gottes ist - dass zugleich aber solches Erfahren des Handelns Gottes häufig kontrafaktisch, gegen den Augenschein, kreuzesgestaltig ist. Doch es geht dabei nicht bloß um eine abstrakte Bestimmung religiöser Rede als real-symbolische Rede. Nein: Das konkrete Motiv der Chaoswasser kann für das Erleben auch des Einzelnen von Bedrängnis und Angst bedeutsam werden. Darin liegt ja die Entdeckung Ingo Baldermanns: dass Erwachsene und Jugendliche, ja sogar bereits Grundschulkinder sich wiederfinden in elementaren Worten der Psalmen: 41 Gott, hilf mir! Denn das Wasser geht mir bis an die Kehle! [...] Errette mich [...], dass ich errettet werde von denen, die mich hassen und aus den tiefen Wassern; dass mich die Flut nicht ersäufe und die Tiefe nicht verschlinge. […] So in Psalm 69 (V.2.15f.). Und dann auch aus Psalm 18 (V.5.7.17): Es umfingen mich des Todes Bande, und die Fluten des Verderbens erschreckten mich. [...] Als mir angst war, rief ich den H ERRN an und schrie zu meinem Gott. Da erhörte er meine Stimme von seinem Tempel, und mein Schreien kam vor ihn zu seinen Ohren. [...] Er streckte seine Hand aus von der Höhe und fasste mich und zog mich aus großen Wassern. 5. Resümee Ziehen wir nun abschließend die Summe aus dem bis hierhin Ausgeführten! Ausgangspunkt war für uns die Beobachtung, dass Schülerinnen und Schülern der Glaube an einen mächtigen und helfenden Gott zwischen den Fingern zerrinnt: in der Diskrepanz zwischen dem, was im Rückgriff besonders auf biblische Wunderberichte über Gott und Jesus erzählt wird, und der gegenwärtigen Welterfahrung. Allerdings - auch das sahen wir - kann von einer solchen zentralen Einbruchstelle des Gottesglaubens Jugendlicher nur gesprochen werden, sofern diese überhaupt noch an ein eingreifendes Handeln Gottes glauben. »Die in der Natur der Sache liegende Irritation von heranwachsenden Schülerinnen und Schülern angesichts der biblischen Erzählungen einerseits und ihrer Welterfahrung andererseits wird nicht ausgeblendet oder verdrängt.« 62 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Hermeneutik und Vermittlung 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 62 Sodann haben wir die exegetische und wunderdidaktische Problemlage auszuloten versucht. Es wurde betont, dass die biblischen Wundererzählungen symbolisch und zugleich real verstanden werden wollen. Der schulische Religionsunterricht steht also vor der Aufgabe, von dem vordergründig geschilderten Verstehen zu einem hintergründigen, inneren Erkennen anzuleiten. Indes wurden wir auch der Gefahr gewahr, dass im ständigen Warnen vor einem faktizistischen, objektivistischen Missverständnis der Wundertexte ihre Bedeutsamkeit für ein Vertrauen auf Gottes reales Mitsein abhanden kommen kann. Vor diesem Hintergrund seien nochmals die bibeldidaktischen Impulse aufgezählt, die in dieser Gemengelage von Psalm 77 ausgehen können: 1. Die in der Natur der Sache liegende Irritation von heranwachsenden Schülerinnen und Schülern angesichts der biblischen Erzählungen einerseits und ihrer Welterfahrung andererseits wird nicht ausgeblendet oder verdrängt. Vielmehr kann sie ausdrücklich zur Sprache kommen - und zwar bevor den Jugendlichen abverlangt wird, die realsymbolische Sprachform der Wunderberichte intellektuell nachzuvollziehen. 2. Das Berichten von Gottes realem Eingreifen in einem Gewebe von sachlich Berichtetem und mythisch Erzähltem vermag Einsicht in das Geheimnis des Welthandelns Gottes - in Offenbarung und Verborgenheit - zu geben. Dadurch können Schülerinnen und Schüler zugleich ihre eigenen Erwartungen an Gott, ihre Hoffnungen auf sein Eingreifen, kritisch reflektieren und sondieren. 3. Die didaktische Stärke von Ps 77 liegt nicht zuletzt darin, dass in ihm »die Diskrepanz zwischen göttlichem Wirken in der Vergangenheit und Defizit seines Eingreifens in der Gegenwart« gerade nicht »aufgehoben bzw. gelöst wird« (Hossfeld / Zenger). Zugleich gibt dieser Psalm den Weg frei, angesichts der vergangenen Wundertaten Gottes mit Jesaja 51,9-10 auch sein Heilshandeln in der Gegenwart einzuklagen. Und schließlich eröffnet sich dadurch der Horizont, dieses Eingreifen Gottes glaubend selbst zu erfahren und wahrzunehmen, wie es Diethard Zils im Evangelischen Gesangbuch Nr. 648 (Westfälischer Teil) formuliert: Wir haben Gottes Spuren festgestellt / auf unsern Menschenstraßen, / Liebe und Wärme in der kalten Welt, / Hoffnung, die wir fast vergaßen. / / Zeichen und Wunder sahen wir geschehn / in längst vergangnen Tagen, / Gott wird auch unsre Wege gehn, / uns durch das Leben tragen. l Anmerkungen 1 Diesem Aufsatz liegt ein für die Veröffentlichung überarbeiteter Vortrag zugrunde, der im Rahmen einer vom Kirchenkreis Siegen und dem Fach Evangelische Theologie der Universität Siegen veranstalteten Themenreihe zur »Anwesenheit Gottes in einer unordentlichen Welt« am 13. Juni 2007 gehalten wurde. Der mündliche Vortragsstil wurde, zumal im Hinblick auf die ZNT- Rubrik »Hermeneutik und Vermittlung«, weitgehend beibehalten. 2 R. Schuster, Was sie glauben. Texte von Jugendlichen, Stuttgart 1984. 3 K.E. Nipkow, Erwachsenwerden ohne Gott? Gotteserfahrung im Lebenslauf, Birkacher Beiträge 3 (1986), 7-41: 19. Vgl. die überarbeitete und erweiterte Fassung in Form einer Monographie mit demselben Titel von 1987 (KT 6), 5. Aufl., Gütersloh 1997: 56. 4 H. Hanisch, Die zeichnerische Entwicklung des Gottesbildes bei Kindern und Jugendlichen. Eine empirische Vergleichsuntersuchung mit religiös und nichtreligiös Erzogenen im Alter von 7-16 Jahren, Stuttgart / Leipzig 1996. Die im Folgenden zitierten Äußerungen finden sich a.a.O. 153.161, die Zeichnung auf einer CD-ROM des Instituts für Religionspädagogik der Universität Leipzig. (© Archiv Hanisch) 5 Das traditionelle dogmatische Allmachtsverständnis, nach dem Allmacht als Eigenschaft Gottes, alles zu vermögen, interpretiert wird, ist von Michael Bachmann zu Recht kritisiert und durch den Vorschlag korrigiert worden, angemessener sei vom All-Herrscher zu sprechen, der seine Souveränität noch eschatologisch durchzusetzen hat (knapp: M. Bachmann, Göttliche Omnipotenz: eine religionspädagogisch und bibeltheologisch angemessene Kategorie, entwurf 1 / 2003, 65; ausführlich dargelegt in der Monographie: Göttliche Allmacht und theologische Vorsicht. Zu Rezeption, Funktion und Konnotationen des biblisch-frühchristlichen Gottesepithetons pantokrator [SBS 188], Stuttgart 2002). 6 T. Ziegler, Abschied von Jesus, dem Gottessohn? Christologische Fragen Jugendlicher als religionspädagogische Herausforderung, in: G. Büttner / J. Thierfelder (Hgg.), Trug Jesus Sandalen? Kinder und Jugendliche sehen Jesus Christus, Göttingen 2001, 106-139. Die im Folgenden angeführten Zitate finden sich a.a.O. 115f. Vgl. die umfangwie kenntnisreiche Dissertation Zieglers, Jesus als »unnahbarer Übermensch« oder »bester Freund«? Elementare Zugänge Jugendlicher zur Christologie als Herausforderung für Religionspädagogik und Theologie, Neukirchen-Vluyn 2006 (dokumentierte und kategorisierte Schüleräußerungen a.a.O. 216-284) sowie meine Bemerkungen dazu: Der historische Jesus der Bibelwissenschaft und der lebensbedeutsame Christus der Religionsdidaktik. Bemerkungen zu zwei neuen Studien zur »Christologie« von Kindern und Jugendlichen, ThB 38 (2007), 94-98. In ZNT 21 (11. Jg. 2008) 63 Johannes Woyke »Darunter leide ich, dass die rechte Hand des Höchsten sich so ändern kann« (Ps 77,11) 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 63 der Untersuchung von H. Hanisch / S. Hoppe-Graff, »Ganz normal und trotzdem König«. Jesus Christus im Religions- und Ethikunterricht, Stuttgart 2002, spielt der Konnex von neutestamentlichen Wundererzählungen und gegenwärtigen Erwartungen von Gottes Eingreifen keine Rolle. 7 Vgl. Ziegler, Abschied, 115: »Die Erwartung an Jesu Hilfe ist nun auffallend häufig in solchen Aufsätzen [sc. von Jugendlichen] zu finden, in denen seine Rolle als Helfer und Wundertäter in historischer Perspektive besonders stark herausgestellt wurde. Oftmals wird sein Wirken auch ganz darauf reduziert. Dies kann zur Folge haben, dass statt der Hoffnung auf Jesu Hilfe eine regelrechte Erwartungshaltung entsteht, die letztlich immer enttäuscht werden wird und negative Folgen für den eigenen Glauben hat.« Ein solches, »sich dem mythisch-wörtlichen Glauben verdankendes Verlangen nach selbst erfahrbaren Wundern droht […] letztlich die weitere Glaubensentwicklung zu erschweren bzw. zu blockieren.« Jedoch muss Ziegler auch konstatieren (ebd.): »Die meisten Jugendlichen haben diese Erwartung jedoch nicht mehr.« Sie leiden gleichwohl an dem gedanklichen Widerspruch, dass »Jesus als Verkörperung eines guten und gerechten Gottes verstanden wird, der durch seine Allmacht in Jesus diese Wunder gewirkt hat, es heute aber nicht mehr tut« (a.a.O. 116). 8 G. Theißen, Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien, 7. Aufl., Gütersloh 1998, bes. 57-89; ders. / A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, 3., durchges. und um Literaturnachträge erg. Aufl., Göttingen 2001, 258f. K. Berger, Formen und Gattungen im Neuen Testament (UTB 2532), Tübingen 2005, 362(-367). 9 Berger, Formen, 367 (Erzählungen mit Wundermotiven lassen sich nach Berger allerdings auch anderen Großgattungen zuordnen). Vgl. Theißen, Wundergeschichten, 78.80: »Das Admirationsmotiv umfasst alle erzählerischen Momente, die ein Staunen, Fürchten, Sich-Entsetzen, Verwundern zum Ausdruck bringen.« »Der Unterschied [sc. der Akklamation] zur Admiration liegt darin, daß immer sprachlich artikulierte Stellungnahme zum Wunder bzw. zum Wundertäter vorliegt […].« 10 Zum Begriff des »Sensationellen« als einer angemessenen Charakterisierung ›wunderhafter‹ Motive in der antiken Historiographie siehe E. Plümacher, Terateia. Fiktion und Wunder in der hellenistisch-römischen Geschichtsschreibung und in der Apostelgeschichte (1998), in: ders., Geschichte und Geschichten. Aufsätze zur Apostelgeschichte und zu den Johannesakten, hg. v. J. Schröter / R. Brucker (WUNT 170), Tübingen 2004, 33-83. 11 Wiederum ist damit kein Urteil über den formgeschichtlichen Status von ›Wundererzählungen‹ getroffen. Vielmehr wird dem forschungsgeschichtlichen wie religionsdidaktischen Einfluss Rechnung getragen, den die im Folgenden genannten Differenzierungen auch heute noch ausüben. 12 Vgl. zusammenfassend und im Hinblick auf eine religionsdidaktisch interessierte Leserschaft J. Frey, Zum Verständnis der Wunder Jesu in der neueren Exegese, ZPT 51 (1999), 3-14; dann auch A. Merz, Jesus als Wundertäter: Konturen, Perspektiven, Deutungen, ZNT 1 (1998), 40-47; ausführlicher B. Kollmann, Neutestamentliche Wundergeschichten. Biblisch-theologische Zugänge und Impulse für die Praxis (UT 477), 2., durchges. und erg. Aufl., Stuttgart 2007; jüngst G. Theißen, Die Wunder Jesu. Historische, psychologische und theologische Aspekte, in: W.H. Ritter / M. Albrecht (Hgg.), Zeichen und Wunder. Interdisziplinäre Zugänge (BTSP 31), Göttingen 2007, 30-52; mit deutlich anderer Akzentsetzung St. Alkier, Wen wundert was? Einblicke in die Wunderauslegung von der Aufklärung bis zur Gegenwart, ZNT 7 (2001), 2-15. An dieser Stelle sei wenigstens auf die Anfänge der formgeschichtlichen Erforschung (auch) der ›Wundergeschichten‹ durch Martin Dibelius verwiesen: Dibelius unterschied »Heilungen gewisser, häufig psychogener, Krankheiten durch Überwältigungstherapie« als nach heutigem Urteil auch im Bereich des Naturgesetzlichen wahrscheinlichen Wundern Jesu, die allerdings von den Tradenten nicht als therapeutische Akte erklärt, sondern zur Erbauung als übernatürliche Eingriffe Gottes akzentuiert würden, von Erzählungen, die »ganz oder teilweise nach kultischen oder mythischen christlichen Gesichtspunkten geformt« wurden, um »Jesu übermenschliche heilsgeschichtliche Bedeutung in Geschichte umgesetzt darzustellen«, darunter Sturmstillung, Seewandel und Brot-, Wein- und Fischwunder (M. Dibelius, Art. Wunder III. Im NT, RGG V, 2. Aufl., Tübingen 1931, 2040-2043). Diese Unterscheidung spiegelt sich formgeschichtlich in der Gattungszuweisung zu »Paradigmen« einerseits und »Novellen« andererseits (ders., Die Formgeschichte des Evangeliums, 5. Aufl., hg. v. G. Bornkamm, Tübingen 1966, 34-66). 13 Theißen, Wundergeschichten, 94-120; ders. / Merz, Jesus, 265-269. 14 Frey, Verständnis, 13. 15 Vgl. Mk 1,27: »eine neue Lehre in Vollmacht (gr. didache kaine kat’ exousian)», oder Mk 2,12: »so etwas haben wir noch nie (gr. oudepote) gesehen«. Die beschriebene Problematik gilt ebenfalls für die der Differenzierung in Heilungs- und Naturwunder verwandte Unterscheidung von Jesus- und Christusgeschichten bei W.H. Ritter, Wundergeschichten, in: R. Lachmann u.a. (Hgg.), Elementare Bibeltexte. Exegetisch - systematisch - didaktisch (TLL 2), Göttingen 2001, 275-301. 16 Siehe neben den oben bei Anm. 6 und 7 angeführten Zitaten Jugendlicher auch die bei H.-J. Blum, Biblische Wunder - heute. Eine Anfrage an die Religionspädagogik (SBTB 23), Stuttgart 1997, 145 dokumentierte Aussage der 15-jährigen Britta: »Daß man einen Blinden einfach, also nicht durch Ärzte, sondern einfach so zum Sehen bringt, das kann ich mir nicht vorstellen. Ich halt das irgendwie für unglaublich, daß der einfach sagt: ›Geh! ‹ und dann sieht der auf einmal wieder. […] Es ist schon soviel passiert irgendwie und wenn Gott wirklich da wäre, hätte er auch was dagegen gemacht, gegen manche Sachen. Ich mein, das kann ja nicht sein, daß der dann halt irgendwo ist und das alles so zuläßt, also wenn er da wäre. Aber ich glaub halt nicht, daß er da ist.« 17 B. Kollmann, Art. Wunder IV. Neues Testament, TRE 34, Berlin / New York 2004, 389-397: 391. 18 Eine solche soziologisch differenzierende Sicht kann 64 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Hermeneutik und Vermittlung 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 14 Uhr Seite 64 sich auf die Diskussion um die Verwendung von terateia, ›wunderhaften Sensationsgeschichten‹ (vgl. o. Anm. 10) in der antiken Historiographie berufen (z.B. Polybius nach Strabo, Geogr I.2.8, aber auch Philo, Mos. I.173f. [Letzterer freilich geht vom tatsächlichen Geschehensein solcher Machttaten durch den von der geschöpflichen Welt in Wesen und Macht kategorial verschiedenen Schöpfergott aus]). Darauf, dass es indes methodisch problematisch ist, die Position skeptischer Historiographen unkritisch als angemessenes soziologisches Urteil zu übernehmen, hat P. Brown, Aufstieg und Funktion des Heiligen in der Spätantike, in: Die Gesellschaft und das Übernatürliche. Vier Studien zum frühen Christentum. Aus dem Englischen von M. Pfeiffer, Berlin 1993 [engl. Original: 1982], 21-47: 41, hingewiesen. Kritisch auch St. Alkier, Art. Wunder III. Neues Testament, RGG VIII, 4. Aufl., Tübingen 2005, 1719-1722: 1719. 19 G. Theißen, Der Schatten des Galiläers. Jesus und seine Zeit in erzählender Form, 16. Aufl., Gütersloh 2004. Die im Folgenden präsentierten Erzählabschnitte entstammen dem 11. Kapitel (a.a.O. 138-141). Zur religionsdidaktischen Verwendung dieser Erzählung zur Umwelt des Neuen Testaments siehe G. Nagel, Ein Jesus-Roman als Denkschule, KatBl 131 (2006), 271-278. Die Problematik einer solchen Umwelterzählung tritt allerdings gerade in der Person des Andreas deutlich zutage: Inwieweit kommt hier eine authentische jüdische Stimme des 1. Jahrhunderts zu Wort und inwiefern wird ›Andreas‹ zum Sprachrohr für die kritische Faszination, die Jesus auf Theißen selbst als modernen Jesus-Forscher ausübt? Zur Kritik hinsichtlich der didaktischen Glaubwürdigkeit solcher Umwelterzählungen siehe auch I. Baldermann, Erzählen als Notwendigkeit. Zum Verhältnis von Erzählung und Erfahrung, JRP 6 (1989), 93-110: 103f. 20 Kollmann, Wunder, 391. 21 Alkier, Wunder, 1721. 22 So Berger, Formen, 367. 23 K. Eger, Bibel IV. Im Unterricht, RGG I, 2. Aufl., Tübingen 1927, 999-1004: 1003. 24 M. Rang, Handbuch für den biblischen Unterricht. Theoretische Grundlegung und praktische Handreichung für die christliche Unterweisung der evangelischen Jugend, 2. Halbbd.: Neues Testament, 2. Aufl., Tübingen 1947, 86f. 25 R. Vandré, Wundergeschichten im Religionsunterricht. Hilfen für den Unterricht in der Primar- und Sekundarstufe (APRU 6), Göttingen 1975, 15. 26 G. Scholz, Didaktik neutestamentlicher Wundergeschichten (ARPäd 10), Göttingen 1994, 154.160. 27 H. Hanisch / A.A. Bucher, Da waren die Netze randvoll. Was Kinder von der Bibel wissen, Göttingen 2002, 96-98. In der jüngsten Studie Hanischs ließ sich eine kritisch-rationale Haltung bei Jugendlichen hinsichtlich der Faktizität und der Erfahrbarkeit eines wunderbaren Eingreifens Gottes nicht nachweisen (Wunder und Wundergeschichten aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen. Eine empirische Annäherung, in: Ritter / Albrecht [Hgg.], Zeichen und Wunder, 130-160). Dies mag, so Hanisch, an der besonderen Situation des Religionsunterrichts im Osten Deutschlands und insbesondere mit den Frömmigkeitsstrukturen der Region Chemnitz, wo die Befragung erfolgte, zusammenhängen. 28 Mit grundlegenden Vorbehalten aufgrund der Gefahr eines kindlichen »Mißverständnis[ses] Jesu als immer schon auf seine Gottheit hin durchschaubares Überwesen« hat sich, neben anderen, immer wieder Klaus Wegenast zu Wort gemeldet (Wundergeschichten der Bibel in der Grundschule? , in: ders., Glaube - Schule - Wirklichkeit. Beiträge zur Theorie und Praxis des Religionsunterrichts, 1970, 156-160: 156; vgl. ders., Wundergeschichten im Unterricht - ein religionspädagogisches Problem. Zur Wunderdidaktik seit dem Zweiten Weltkrieg, ZPT 51 (1999), 32-46. Mit entwicklungspsychologischen Argumenten für eine bewusste Behandlung neutestamentlicher Wundererzählungen bereits in der Grundschule siehe insbesondere W.H. Ritter, Wundergeschichten für Grundschulkinder? Aspekte einer religionspädagogischen Kontroverse und weiterführende religionsdidaktische Überlegungen, in: F. Harz / M. Schreiner (Hgg.), Glauben im Lebenszyklus. FS H.-J. Fraas, München 1994, 139-159; ders., Kommen Wunder für Kinder zu früh? Wundergeschichten im Religionsunterricht der Grundschule, KatBl 120 (1995), 832-842. 29 I. Baldermann, Einführung in die biblische Didaktik, Darmstadt 1996, 76f. 30 Vgl. dazu insbesondere R. Glöckner, Neutestamentliche Wundergeschichten und das Lob der Wundertaten Gottes in den Psalmen. Studien zur sprachlichen und theologischen Verwandtschaft zwischen neutestamentlichen Wundergeschichten und Psalmen (WSA- MA.T 13), Mainz 1983. Welche didaktischen Chancen eröffnen sich wohl daraus, wenn man solche Befindlichkeiten von Schülerinnen und Schülern wie die eingangs vorgestellte Gotteszeichnung einer 12-Jährigen mit einem Psalmwort wie Ps 44,24 (»Wach auf, JHWH, warum schläfst du? ! «), Jes 51,9 (»Wach, auf, wach auf, zieh Macht an, Arm JHWHs etc.«) oder aber mit der Sturmstillungserzählung Mk 4,35-41 par konfrontiert? ! Zur genannten bibel- und religionsdidaktischen Herausforderung siehe jüngst auch Ch. Hoegen- Rohls, Im Gespräch mit Gott. Neutestamentliche Wundergeschichten auf dem Hintergrund alttestamentlicher Psalmen exegetisch lesen und didaktisch vermitteln, in: K. Finsterbusch (Hg.), Bibel nach Plan? Biblische Theologie und schulischer Religionsunterricht, Göttingen 2007, 91-118. 31 W.H. Ritter / H. Hanisch u.a., Leid und Gott. Aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen, Göttingen 2006, 160. 32 M. Beintker, Die Frage nach Gottes Wirken im geschichtlichen Leben, ZThK 90 (1993), 442-461: 453. 33 G. Kittel, Historisch-faktisches oder real-symbolisches Verstehen? Thesen zum angemessenen Lesen und Verstehen der Schrift, in: dies., Befreit aus dem Rachen des Todes. Tod und Todesüberwindung im Alten und Neuen Testament, Göttingen 1999, 198-206: 199. Vgl. oben bei Anm. 21. 34 Wo nicht explizit anders vermerkt, werden die folgenden Bibeltexte in der revidierten Lutherübersetzung von 1984 geboten. 35 F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Psalmen 51-100. Übersetzt und ausgelegt (HThK), Freiburg u.a. 2000, 412. S.a. C. Westermann, Ausgewählte Psalmen. Übersetzt und erklärt, Göttingen 1984, 79, der vom »Kontrast zwischen ZNT 21 (11. Jg. 2008) 65 Johannes Woyke »Darunter leide ich, dass die rechte Hand des Höchsten sich so ändern kann« (Ps 77,11) 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 15 Uhr Seite 65 der trostlosen Gegenwart und den großen Taten Gottes an seinem Volk in der Vergangenheit« spricht. - Zur Übersicht über die Struktur des Psalms siehe neben dem oben erwähnten Kommentar ebenfalls von F.- L. Hossfeld / E. Zenger, Die Psalmen II. Psalm 51-100 (NEB), Würzburg 2002, 435-438, aufbauend auf der Analyse von B. Weber, Psalm 77 und sein Umfeld. Eine poetologische Studie (BBB 103), Bonn 1995. Gewöhnlich wird als konkrete Situierung des Psalms entweder die Zerschlagung des Nordreichs durch die Assyrer oder aber das babylonische Exil angenommen (s. dazu B. Weber, Werkbuch Psalmen II. Die Psalmen 73 bis 150, Stuttgart 2003, 43). 36 R. Mosis, Reden und Schweigen. Psalm 77 und das Geschäft der Theologie, TThZ 108 (1999), 85-107: 88. 37 Vgl. Mosis, Reden, 95: »Unser Psalmist bleibt jedoch nicht beim Nachsprechen alter Formeln und historisch gewesener Rede von Gott […]. Er will vielmehr beim Nachsinnen und Bedenken der alten Gotteszeugnisse Gott suchen im Gang seiner gegenwärtigen Welt, will ihn finden im gegenwärtigen Geschick dieses Volkes, das von den alten Taten der Rechten des Höchsten erzählt«. 38 Mosis, Reden, 105. 39 Mosis, Reden, 105f. (kursiv JW). Siehe jüngst E. Otto, Eine Theologie der Wundererzählungen im Alten Testament, in: Ritter / Albrecht (Hgg.), Zeichen und Wunder, 17-29. 40 Hossfeld / Zenger, Psalmen, 410. Vgl. ders./ ders., Psalmen II, 437: Der kosmologische Einschub von V. 17- 19.20 »knüpft an das Meerwunder der Exodusüberlieferung an, hebt aber auf die mythisch-kosmische Konfrontation des überlegenen Königsgottes mit den Chaoswassern ab, um Gottes stabile gubernatio der Schöpfung zu demonstrieren«. 41 So grundlegend I. Baldermann, Wer hört mein Weinen? Kinder entdecken sich selbst in den Psalmen, 8. Aufl., Neukirchen-Vluyn 2006. Hoegen-Rohls, Gespräch, 97-101, demonstriert die Relevanz der Psalmen für die Wunderdidaktik an Ps 38 und Ps 130. Neues Testament aktuell: Elian Cuvillier, Apokalyptik als Thema neutestamentlicher Wissenschaft Zum Thema: Elisabeth Schüssler Fiorenza, Die Johannesapokalypse Stefan Alkier, Die Eschatologie des augusteischen Zeitalters Paul Metzger, Der Teufel hat wenig Zeit (Offb 12,12) - Hans Blumberg und die Legitimität der Auslegung Kontroverse: Ist die Apokalyptik die Mutter der neutestamentlichen Theologie? Eine alte Frage neu gestellt. Dale C. Allison versus Mauro Pesce Hermeneutik und Vermittlung: Kurt Erlemann, Christliche Konzeptionen von Endzeiten zwischen Trost und Vertröstung Buchreport: Wolfram Brandes/ Felicitas Schmieder (Hgg.), Endzeiten. Eschatologie in den monotheistischen Weltreligionen, de Gruyter 2007 (rez. von Manuel Vogel) Vorschau auf Heft 22 Themenheft: »Apokalypse« 66 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Hermeneutik und Vermittlung 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 15 Uhr Seite 66 Eckart Reinmuth Anthropologie im Neuen Testament UTB 2768, Tübingen 2006, S. 338; ISBN: 978-3-8252-2768-5; Preis: 24,90 € Mit der anzuzeigenden Publikation wendet sich Reinmuth einem Themenkomplex zu, der durch die Infragestellung überkommener Menschenbilder einer immer drängender werdenden Verunsicherung ausgeliefert ist. Besonders die den öffentlichen ethischen Diskurs dominierenden Debatten um die Bestimmung von Anfang und Ende menschlichen Lebens oder das Verhältnis von Determination und Willensfreiheit offenbaren, wie sehr das jeweils zugrunde gelegte Menschenbild die Kommunikation und damit die Wahrnehmung dieser auch gesellschaftspolitisch relevanten Problemfelder bestimmt. Die darin greifbare Infragestellung des Menschen ist jedoch keine moderne Irritation, sondern ein anthropologisches Phänomen, das zutiefst in die Definition des Menschseins gehört: »Anthropologische Reflexion setzt ein, wo Menschen nach sich selbst fragen, wo das Gegebene aufhört, selbstverständlich zu sein, wo Menschsein reflexiv wird« (S. 8). Die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit anthropologischen Fragen beschäftigen, führen zu recht unterschiedlichen Bestimmungen des Menschseins. Allen ist jedoch gemeinsam, dass sie - wenn sie seriös arbeiten - niemals zu einer finalen Definition vorstoßen, die ein für alle mal festzulegen vermag, was und wer der Mensch denn nun sei. Diese Einsicht in die Unabgeschlossenheit und Vielschichtigkeit anthropologischer Zuordnungen teilt auch die theologische Anthropologie, der es ebenfalls nicht darum gehen kann, sich in endgültigen Antworten zu erschöpfen, sondern die versuchen muss, biblisch begründete Sinnlinien aufzuzeigen, die ein christliches Menschenbild grundlegen. Die Offenheit für den interdisziplinären ethischen Diskurs ist auf einer solchen Basis angezeigt und liegt im Interesse der vorliegenden Monographie. So ist es die klar formulierte Absicht des Verfassers, »einen Horizont anthropologischer Lektüren des Neuen Testaments aufzuspannen, der diese Dialogsituation zu verbreitern hilft« (S. 39). Neutestamentliche Anthropologie präzisiert die allgemeine Frage nach dem Menschen und spitzt sie theologisch zu: »Ist der Mensch seine eigene Erfindung, kann er sich selbst produzieren, ist er in diesem Sinne frei - oder beruht sein Menschsein darauf, dass er selbst Geschöpf und damit Adressat einer Liebe ist, die er selbst nicht aufbringt? « (S. 7). Reinmuth organisiert seine Abhandlung nicht nach thematischen Kriterien, sondern legt bewusst exemplarische Textstudien vor, die sich an der chronologischen Abfolge der neutestamentlichen Schriften orientieren. Dieser methodische Ansatz, keine enzyklopädisch abrufbaren Themenbereiche zu behandeln, sondern exemplarisch vorzugehen, hängt mit dem Textverständnis des Verfassers zusammen, das sich dezidiert gegen eine schematische Systematisierung oder Vereinnahmung zur Wehr setzt: »Werden sie [sc. die neutestamentlichen Texte] für allgemeine, zeitlos gültige Aussagen verwendet, liegt die Gefahr einer ideologischen Nutzung nahe. Ihre Wahrheit ist konkret. Sie erschließt sich nur, wenn Menschen sich mit ihnen auseinandersetzen. Abstrakte Destillate allgemein gültiger Richtigkeiten helfen kaum, den Texten und ihren Fragen nach dem Menschen auf den Grund zu gehen« (S. 39). Nach einer umfangreichen Einleitung (S. 1-44), die sich gezielt mit kulturwissenschaftlichen Positionen auseinandersetzt und die gesellschaftliche Aktualität und Brisanz der Rede vom Menschen in den Mittelpunkt der Reflexion stellt, folgt ein Durchgang durch die einzelnen neutestamentlichen Schriften, die der Verfasser in vier großen Kapiteln vorlegt: »Anthropologie in den synoptischen Evangelien« (S. 45-135), »Anthropologie im Johannesevangelium« (S. 137-184), »Paulus« (S. 185-243), »Übrige Schriften« (S. 245-313). Am ausführlichsten stellt Reinmuth die anthropologischen Perspektiven der vier Evangelien dar, was sich einer hermeneutischen Grunderkenntnis verdankt: Menschsein definiert sich vorrangig in Geschichten und vermittelt sich narrativ (S. 42). Fragt man nun, inwiefern Menschsein im Neuen Testament überhaupt thematisch wird, zeigt sich, dass es vor allen Dingen im Zuge der vielfältigen Interpretationen der Geschichte Jesu in den Blick kommt (S. 40). Mit anderen Worten: Die fundamentale theologische Bewegung, die das Neue Testament als Ganzes prägt, ist, dass die Geschichte Jesu und die Geschichte Gottes in der Jesus-Christus- Geschichte miteinander verbunden sind: »Gerade das Grundstürzende dieser Geschichte führte dazu, dass sie immer wieder erzählt und interpretiert wurde« (S. 41). Der vorliegende Entwurf einer neutestamentlichen Anthropologie setzt inhaltlich und methodisch an diesem Buchreport ZNT 21 (11. Jg. 2008) 67 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 15 Uhr Seite 67 Punkt an: Er ist in allen Aspekten der Jesus-Geschichte verpflichtet, die bereits bei den neutestamentlichen Autoren als Interpretationsaufgabe verstanden wurde und jedwede abstrahierende Anthropologie untergräbt. »Der Geltungsanspruch neutestamentlicher Anthropologie steht und fällt deshalb mit der Perspektive der Jesus-Christus- Geschichte« (S. 41). Was Menschsein heißt, haben die neutestamentlichen Autoren im Licht der Jesus- Geschichte neu zu begreifen versucht. Aus diesem Grund sind die Evangelien von besonderer Relevanz und nehmen den größten Raum der vorgelegten Analysen ein. Aber auch der Durchgang durch die wichtigsten paulinischen Textpassagen folgt diesem Konzept, indem gefragt wird, wie sich das theologische Denken des Paulus auf die Jesus-Geschichte bezieht. »Dazu kommt es darauf an, die narrativen Strukturen seines Argumentierens zu erkennen. Sie spielen für seine Interpretation der Jesus-Christus- Geschichte die entscheidende Rolle« (S. 185). Ohne auf die repräsentativ ausgewählten und in Einzelstudien behandelten Texte einzugehen, lässt sich als wichtigste Erkenntnis der vorliegenden Untersuchung resümieren, dass sich die neutestamentlichen Texte gegen eine allgemeine Definition des Menschseins sträuben und stattdessen vielfältige, zum Teil recht widersprüchliche Perspektiven aufzeigen, die der Widersprüchlichkeit des Menschen selbst entsprechen. Die Texte »entwerfen kein Wunschbild des Menschen, sondern thematisieren seine Wirklichkeit, indem sie die Geschichte Jesu Christi interpretieren« (S. 315). Es ist das Verdienst der vorliegenden Abhandlung, diese Widersprüchlichkeit methodisch und inhaltlich ernst zu nehmen. Und so legt Reinmuth in einer angenehmen und klaren Sprache ein Buch vor, das sich gezielt in die gesellschaftliche Diskussion um die Frage nach dem Menschen einmischt und versucht, neutestamentliche Perspektiven für diesen Dialog fruchtbar zu machen. Wer ein kompaktes Nachschlagewerk zu zentralen anthropologischen Themen des Neuen Testaments sucht, ist mit diesem Werk schlecht beraten. Es erschließt sich nicht dem schnellen Blick. Wer sich jedoch die Mühe macht, dieses Buch wie jedes gute Buch von Anfang bis Schluss durchzulesen, dem werden Einsichten erlaubt, die erfrischend aktuell präsentiert werden und eine Perspektive entwickeln, die die theologische und interdisziplinäre Diskussion bereichert. Uta Poplutz 68 ZNT 21 (11. Jg. 2008) Buchreport Universitätsverlag w i n t e r Heidelberg Häufig gilt es als unmöglich, eine Literaturgeschichte der neutestamentlichen Schriften im Rahmen der urchristlichen Literatur zu schreiben. Man begnügt sich mit „Einleitungen“ zu einzelnen Schriften. Der hier vorgelegte Grundriss einer Literaturgeschichte zeigt, dass man bei der Entstehung der literarischen Formensprache des Neuen Testaments eine Entwicklung in Phasen erkennen kann: Zwei charismatische Gestalten, Jesus und Paulus, geben den Anstoß zur Entstehung der beiden Grundformen Evangelium und Brief; diese werden in einer pseudepigraphen Phase nachgeahmt, in einer dritten Phase durch funktionale Gattungen ergänzt und zu einer Zeit im Kanon gesammelt, als eine apokryphe Jesusliteratur eine neue Blütezeit erlebte. In der Formensprache des Urchristentums werden dabei viele Grenzen überschritten: zwischen Judentum und der nichtjüdischen Welt, Ober- und Unterschicht, mündlicher und schriftlicher Überlieferung. theißen, gerd Die Entstehung des Neuen Testaments als literaturgeschichtliches Problem 2007. 371 Seiten. (Schriften der Philosophisch-historischen Klasse der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, 40/ 07) Geb. 48,- isbn 978-3-8253-5323-0 D-69051 Heidelberg · Postfach 10 61 40 Tel. 0 62 21/ 77 02 60 · Fax 0 62 21/ 77 02 69 Internet: www.winter-verlag-hd.de E-mail: info@winter-verlag-hd.de 004608 ZNT 21 19.03.2008 21: 15 Uhr Seite 68
