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ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
1201
2008
1122 Dronsch Strecker Vogel
Editorial ein, wofür pars pro toto auf die Kontroverse hingewiesen werden soll, die die alte Frage von Ernst Käsemann, einem der einflussreichsten deutschen Neutestamentler des 20. Jahrhunderts, nach der Apokalyptik als Mutter der urchristlichen Theologie neu stellt und darüber den US-Amerikaner Dale C. Allison und den Italiener Mauro Pesce in ein interkontinentales Gespräch bringt. Dass apokalyptische Zeit- und Weltdeutungskonzepte eine bedeutende Rolle für die kulturellen Welten, in denen die frühchristlichen Schriften entstanden, spielen, wird an allen Beiträgen dieses Heftes deutlich. Die Differenziertheit und der Perspektivenreichtum der einzelnen Beiträge geben aber dazu Anlass, die simplifizierenden Assoziationsketten, die das Wortfeld Apokalyptik und Apokalypse(n) in der Pop- und Feuilletonkultur und in der biblizistischen und fundamentalistischen Szene gegenwärtiger Christentümer auslöst, zu verlassen und von Text zu Text, von Diskurs zu Diskurs danach zu fragen, wer mit welchen Interessen und Interpretationen apokalyptische Deutungselemente heranzieht. Wir wünschen Ihnen in diesem Sinne eine perspektivenreiche Lektüre! Stefan Alkier Kristina Dronsch Ute E. Eisen Liebe Leserinnen und Leser, »Apokalypse« - dieses Wort löst in unserer Gegenwartskultur mulmige Gefühle aus, die mit Angst und Schrecken kosmische und andere Katastrophen erwarten lassen. Ob Sänger wie Xavier Naidoo mit Zitatencollagen und Neudichtungen die Gegenwart als endzeitliche Krisensituation beschreiben, oder ob us-amerikanische Mega- Churches mit der Johannesapokalypse fundamentalistische Politik durchsetzen wollen, stets wird mit den Angst- und Schreckensszenarien dieser düstere Bereich des Themenfeldes Apokalyptik, Apokalypsen, Apokalypse ausgewählt - und man erreicht mit den Untergangsszenarien immer wieder große Massen. Das vorliegende Themenheft versucht, einen anderen Weg zu gehen. Es möchte die Vielzahl der Aspekte und Perspektiven aufzeigen, den Reichtum und auch die Gefahren apokalyptischen Denkens beleuchten, das seine gegenwärtige Faszination auch außerhalb theologischer Diskurse vor allem durch die Thematisierung von Zeitkonzepten, Machtkritik, politischen Entwürfen und metaphorischer Bildwelten erhält. Wir freuen uns sehr, dass es diesem Heft wie bisher keinem anderen Heft der ZNT gelungen ist, internationale Perspektiven einzubringen. Forscherinnen und Forscher aus Frankreich, Italien und den USA bringen ihre Diskurse in das Heft ZNT 22 (12. Jg. 2008) 1 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 1 2 ZNT 22 (12. Jg. 2008) 1. Zum Begriff »Apokalyptik« In der zeitgenössischen Bibelwissenschaft hat der Begriff »Apokalyptik« eine dreifache Bedeutung: er bezeichnet sowohl eine literarische Gattung (der Texte), eine soziale Bewegung (der Trägergruppen dieser Texte) und ein Welt- und Wirklichkeitsverständnis (eine Ideologie). 1.1. Eine literarische Gattung Als »apokalyptische Literatur« werden jüdische, gnostisch-christliche, griechische, lateinische und persische Schriften, die zwischen 250 vor und 250 nach Christus entstanden sind, bezeichnet, die gemeinsame Züge haben und die traditionell als Apokalypsen tituliert werden. Folgende Definition ist noch weitgehend konsensfähig: »Eine ›Apokalypse‹ ist eine Gattung der Offenbarungsliteratur, die eine von einem himmlischen Wesen zu einem menschlichen Adressaten überbrachte Offenbarung in einem erzählerischen Rahmen darstellt. Diese Offenbarung enthüllt eine transzendente Wirklichkeit, die gleichzeitig zeitlicher Ordnung ist, da sie das eschatologische Heil betrifft, als auch räumlicher Ordnung ist, da sie die Existenz einer anderen, übernatürlichen Welt voraussetzt. Einer solchen Offenbarung liegt das Ziel zugrunde, die gegenwärtigen und irdischen Umstände von der übernatürlichen Welt und von der Zukunft her zu beleuchten und zu interpretieren, um das Verständnis und das Verhalten der Adressaten mit der göttlichen Autorität zu beeinflussen.« 1 1.2. Eine soziale Bewegung Im Rahmen des Frühjudentums erscheint die apokalyptische Literatur in Zeiten der geistigen Krisen. So wird es bis zum 2. Jh. nach Christus sein. Mit dieser apokalyptischen Schreibweise können Minderheitsgruppen oder sektiererische Kreise innerhalb des Judentums der Überzeugung Ausdruck geben, dass eine Geschichte, eine Hoffnung und eine Zukunft noch vorhanden sind. Trotz jedes Scheines, trotz der verschlossenen Himmel, weil die Zeit der Propheten abgeschlossen ist, die das Gotteswort zur Buße und zu einer möglichen Veränderung verkündigten, trotz der verzweifelten Situation wendet sich der Geist Gottes zu den Visionären, um ihnen zu offenbaren, dass trotz widrigster Umstände und entgegen dem äußeren Schein nicht alles verloren ist: an »jenem Tag« wird er dem gegenwärtigen Zustand ein Ende setzen. Er wird eine neue Menschheit neu schaffen, indem er die Bösen richten und die Gerechten belohnen wird. Es handelt sich also um eine Litera tur des Widerstands, die sich der Tradition der alttestamentlichen Propheten anschließt und ein Wort der Hoffnung und der Ermahnung vermittelt. • Wort der Hoffnung: Es richtet sich an Gruppen, die in der Unsicherheit und unter einem realen oder empfundenen Druck leben. • Wort der Ermahnung: Die Visionen werfen immer einen kritischen Blick auf die Mächte dieser Welt und auf die etablierte Gesellschaft. 1.3. Eine Ideologie Die apokalyptische Literatur und die Bewegung, die ihr verbunden ist, sind durch die Überzeugung gekennzeichnet, dass die alte Welt zu ihrem Ende gekommen ist und dass die zukünftige Welt bald entsteht. Die Trennungslinie zwischen den beiden Größen bildet das Eingreifen Gottes, der am letzten Tag die Unfrommen richten wird und die Erwählten, die unter der Trübsal der Endzeiten gelitten haben, belohnen wird. Was macht jenseits dieser mythologischen Vorstellung der Welt und ihres Werdens das Wesen der Apokalyptik - nicht nur als Literatur, sondern auch als Denkbewegung - aus? Worin besteht ihre grundlegende Aussage? Was ist ihre wesentliche Aussage und welchen Erwartungshorizont setzt sie voraus? Es gibt keine einfache und vollständige Antwort auf diese Frage. Drei Teilantworten können gegeben werden, die sich gegenseitig ergänzen können. Neues Testament aktuell Elian Cuvillier Das apokalyptische Denken im Neuen Testament. Paulus und Johannes von Patmos als Beispiele 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 2 Elian Cuvillier Das apokalyptische Denken im Neuen Testament ZNT 22 (12. Jg. 2008) 3 a.) Die Apokalyptik ist durch die Frage nach dem Bösen und nach dem Sinn der Geschichte geprägt, die manchmal zu einer spekulativen Literatur führt. Den Autoren von Apokalypsen erscheint die Gegenwart als problematisch. Denn die Gegenwart wird wahrgenommen als eine Zeit, in der es den Bösen prächtig geht, während sich die Guten in Trübsal und Leid befinden. So eine Wahrnehmung ist nur allzu menschlich. Dafür bedarf es keiner zusätzlichen besonderen Umstände der Unterdrückung, um Konflikte auszulösen. Wie ist dann das Ärgernis der Welt zu ertragen? Wie kann man damit anders leben, als dass man versucht, es zu verstehen, indem man nach den Ursachen fragt und Auswege aus den Determinismen und Modalitäten der Befreiung - einschließlich eines Zeitplanes - sucht? Hier herrscht die esoterische Spekulation. Von einer solchen Perspektive ist die apokalyptische Literatur nicht frei. b.) Die Apokalyptik kann sich auch auf die Verheißung der Befreiung und der Erlösung konzentrieren. Die Apokalyptiker verkündigen eine mögliche Erlösung, indem sie die Vergangenheit neu auslegen und sich an die noch nicht erfüllten Verheißungen erinnern. Diese Erlösung wird aber in einer anderen, himmlischen Welt gegeben werden, nachdem die jetzige Welt vernichtet wurde. Das Wesen der Apokalyptik besteht in der Spannung zwischen dem Heil, das von Gott zugesprochen wurde, und der auswegslosen Situation, in der der Apokalyptiker lebt. »Das Wesen der Apokalyptik besteht im Verhältnis zwischen der Frage nach der Möglichkeit des Heils und der vorhandenen Antwort. Der Apokalyptiker denkt sich am Ende der Zeiten. Er sehnt sich angespannt nach der Vollendung dieser Welt und dem Kommen der neuen Welt. Seine Augen blicken auf die Welt, die kommt. Er ruft sie hervor. Er stellt sie sich vor, und dies hilft ihm, den Alltag zu ertragen. Seine Hoffnung erhält er von den Verheißungen, die Gott in der Vergangenheit gemacht hat und die unerfüllt geblieben sind: […] Diese Spannung auf das verheißene Heil, das bald in einer anderen Welt geschehen wird, konstituiert das Wesen der Apokalyptik […] Zur Frage: ›Wozu Apokalypsen in diesen Zeiten der Not und des Mangels? ‹ würde die Antwort lauten: um die Gegenwart zu beschwören, indem sie die Zukunft durch die Erinnerung an die Vergangenheit eröffnet.« 2 Hier ist der Trost vorrangig. Die Hoffnung auf eine Befreiung ist stärker als das Bedürfnis, die Zukunft präzise zu kennen. c.) Eine Variante dieser zweiten Antwort betrachtet als das Wesen der Apokalyptik die Verkündigung der Gerechtigkeit Gottes in der Welt als Herausforderung für die Erwählten. Nach dieser Hypothese bleiben die apokalyptische Literatur und die Bewegung, die mit ihr verbunden ist, durch die Überzeugung gekennzeichnet, dass die alte Welt zu ihrem Ende angelangt ist und dass die neue Welt dabei ist zu erscheinen. Die Dimension der Ermahnung und der Aufforderung herrscht aber über dem Moment des Trostes. Dieses besondere Verständnis der Apokalyptik bestimmte nach E RNST K ÄSEMANN das Selbstverständnis des frühen Christentums. 3 Die Apokalyptik sei die Mutter jeglicher christlichen Theologie. Für Käsemann ist die frühe christliche Theologie durch die apokalyptische Vorstellung des Konfliktes zwischen den beiden Äonen strukturiert. Die gegenwärtige Welt steht unter der Macht des Bösen. Die nahe gekommene Parusie bedeutet das Kom- Professor Dr. Elian Cuvillier, Jahrgang 1960, wurde 1991 promoviert und habilitierte sich 1999. Seit 1999 ist er Professor für Exegese des Neues Testaments an der Faculté de théologie protestante de Montpellier. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen u.a.: Naissance et enfance d’un Dieu. Jésus Christ dans l’Evangile de Matthieu, Paris 2005, Les apocalypses du Nouveau Testament (Cahiers Evangile 110), Paris 1999 sowie gemeinsam mit Daniel Causse: Mythes grecs, mythes bibliques. L’humain face à ses dieux (Lire la Bible 150), Paris 2007. Weitere Informationen unter: http: / / www.iptheologie.fr/ facmontpellier/ index.htm Elian Cuvillier 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 3 Neues Testament aktuell 4 ZNT 22 (12. Jg. 2008) men des neuen Äons verstanden als Aufbruch der neuen Welt, als radikale Infragestellung der alten Welt und als Herrschaft des Rechtes Gottes auf Erden. Der christliche Glaube ist die Botschaft, unter der Form eines Rufes zur Umkehr, der unmittelbaren Erscheinung dieser Offenbarung. Die durch die Apokalyptik gestellte Frage lautet: Wem gehört die Welt? Die christliche Botschaft antwortet: Gott und seinem Christus. Diese Botschaft als wahre Offenbarung ruft den Glaubenden zum erneuten Gehorsam. Wir befinden uns hier in der unmittelbaren Nähe der prophetischen Literatur, in der die Heilsbotschaft mit der Aufforderung zum Volk eng verbunden ist. Als Verkündigung des Heils und der Befreiung oszilliert die Apokalyptik zwischen Spekulation, Trost und Aufforderung. Inwiefern prägt sie das neutestamentliche Denken? Wir begrenzen unsere Untersuchung auf Paulus und auf Johannes von Patmos. 2. Paulus und die Apokalyptik 2.1. Der Stand der Diskussion Die hermeneutische Auseinandersetzung über die Bedeutung der Apokalyptik in der paulinischen Theologie darf als bekannt vorausgesetzt werden. Nach dem Impuls von E RNST K ÄSEMANN 4 betrachtet ein Teil der Paulusforschung 5 die paulinische Eschatologie - und die paulinische Theologie überhaupt - als durch das apokalyptische Denken geprägt: nämlich durch den kosmischen und historischen Dualismus der beiden Äonen und durch die unmittelbare Nähe der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes. In diesem begrifflichen Rahmen ist die Auferstehung Jesu als die Vorwegnahme des Endsieges Gottes über den Tod und über die Mächte zu verstehen. Als solche gibt sie dem christlichen Leben seinen Sinn. Und da die gegenwärtige Welt unter dem Gericht Gottes steht, bildet die Erwartung der Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes am letzten Tag als Hoffnung der Glaubenden und als Gericht der Welt den Horizont der paulinischen Ethik. Paulus muss vor diesem apokalyptischen Hintergrund, der sein Denken gestaltet, verstanden werden, und die kosmischen und futurischen Dimensionen der paulinischen Eschatologie müssen entsprechend hervorgehoben werden. In Amerika hat J AN C HRISTIAAN B EKER die Überzeugungen Käsemanns noch radikalisiert, 6 indem er die These vertreten hat, die paulinische Christologie sei der Apokalyptik unterordnet und nicht umgekehrt. Auf der anderen Seite vertreten R UDOLF B ULTMANN 7 und die Bibelwissenschaftler, die sich seiner existentialen Interpretation anschließen, 8 die Ansicht, dass sich Paulus vom apokalyptischen Rahmen, der in den traditionellen Formulierungen des 1. Thessalonicherbriefes noch sehr präsent ist, immer deutlicher entfernt hat. Der Ursprung seines theologischen Denkens befindet sich nicht in der Apokalyptik, sondern in der Bedeutung, die das »Kreuz«, die Offenbarung des Gekreuzigten als des Sohnes Gottes, für sein Verhältnis zu sich selbt als Subjekt entwickelte. Von dieser Erkenntnis her (Phil 3,4-11) bekam er die Freiheit, eine Vielfalt an eschatologischen Vorstellungen zu rezipieren. Wegen der Verzögerung der Parusie hat er vielleicht eschatologische Begriffe und Bilder übernommen, die der hellenistischen Welt, die den geographischen und kulturellen Bezugsrahmen seiner Mission bildete, angepasst waren. Die paulinische Eschatologie ist also eher von der hellenistischen Anthropologie her zu verstehen. Sie ist individuell und präsentisch gedacht. Im Zentrum der paulinischen Botschaft befindet sich die Erlösung und die Befreiung des Einzelnen, und die präsentische Dimension des Heils wird hervorgehoben. In diesem Zusammenhang nimmt die paulinische Ethik die Welt, in der die christlichen Gemeinden ihre Freiheit ausüben, wahr. Die Opposition zwischen jüdischer Apokalyptik und hellenistischer Eschatologie und, grundsätzlicher, die Opposition zwischen zwei Interpretationen der paulinischen Theologie ist lange eine interne Debatte der lutherischen Auslegungstradition gewesen. Der Paradigmenwechsel, der in der paulinischen Forschung stattgefunden hat, bietet eine gute Möglichkeit, um sich von einer wahrscheinlich falschen Alternative zu be- »Als Verkündigung des Heils und der Befreiung oszilliert die Apokalyptik zwischen Spekulation, Trost und Aufforderung.« 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 4 Elian Cuvillier Das apokalyptische Denken im Neuen Testament ZNT 22 (12. Jg. 2008) 5 freien. Beide Momente sind nämlich in denselben Briefen sichtbar. a.) Was die futurische und die präsentische Dimension der Eschatologie betrifft, kann Paulus sowohl die Hoffnung äußern, in die Wohnung, die für ihn in den Himmeln »nicht von Menschenhänden« bereitet worden ist, einzuziehen (2Kor 5,1-2), und einige Zeilen weiter kann er erklären, dass jeder, der in Christus lebt, eine »neue Schöpfung« ist, dass für ihn die alte Welt vergangen ist und dass eine neue Wirklichkeit für ihn da ist (2Kor 5,17). Es ist übrigens hinsichtlich der hermeneutischen Debatte überraschend, dass Paulus apokalyptische Vorstellungen verwendet, um das präsentische Moment der Erlösung zu betonen (»er ist eine neue Schöpfung«,»die alte Welt ist vergangen«), während die zukünftige Erwartung in den Kategorien der hellenistischen Anthropologie formuliert wird (»in die himmlische Wohnung einziehen«). b.) Das gleiche gilt für die scheinbare Alternative zwischen kosmischer und individueller Eschatologie. Paulus kann erklären, dass die Schöpfung in der Erwartung der Befreiung »seufzt« (Röm 8,19-22) und sofort hinzufügen, dass sie nicht allein steht, sondern dass auch »wir«, d.h. die Glaubenden, warten auf die Adoption und auf die Erlösung (Röm 8,23): Es gibt bei ihm keine Opposition zwischen Erwartung der Schöpfung und Erwartung der christlichen Gemeinde und auch keinen Widerspruch zwischen der individuellen Hoffnung und der Hoffnung der Gemeinde (Phil 1,21-25). c.) In einer ähnlichen Art und Weise stellt sich zwar die paulinische Ethik als eine Ethik des Provisorischen (die paulinischen Empfehlungen enthalten klare Hinweise darauf: »Die Zeit ist kurz..., die Gestalt dieser Welt vergeht« [Kor 7,29-31], »Die Stunde ist schon da,... der Tag ist genaht« [Röm 13,11-12]), aber sie ist gleichzeitig tief in der alltäglichen Wirklichkeit der Adressaten verwurzelt und baut einen positiven Blick auf die Welt und ihre Institutionen (Röm 13,1-7! ). 2.2. Der Galaterbrief als »Apokalypse« 9 Im Galaterbrief setzt sich Paulus mit heidenchristlichen Gemeinden auseinander, die er selbst gegründet hat und zur Zeit der Abfassung des Briefes von Missionaren besucht worden sind, die sie auffordern, sich beschneiden zu lassen (Gal 6,12-13). Die Beschneidung, die die Zugehörigkeit zum Volk des Bundes und die Erwählung Gottes symbolisiert, ist ein notwendiger Übergang für die Heiden, die sich in der Endzeit dem eschatologischen Gottesvolk der Kirche anschließen wollen. Diese Wanderprediger sind oft für legalistische Judenchristen gehalten worden, die sich gegen die Aufnahme der Heiden in die christliche Gemeinde sperrten. Die Argumentation des Briefes verweist aber auf eine andere Richtung (Gal 1,6-9; 3,1-2.5; 4,17; 5,7-12; 6,12-14). Sie setzt vielmehr voraus, dass die anderen Lehrer in Galatien messianische Judenchristen sind, die gegenüber den Heiden, mit denen sie problemlos verkehren, offen sind. Für sie und für die Freunde, die sie in der Gemeinde in Jerusalem haben, ist das Gesetz eine gute Nachricht für die ganze Welt, auch für die Heiden, die durch Israel Zugang zu Gott bekommen haben. In einer gewissen Hinsicht ist ihre Vorstellung der christlichen Mission genauso universalistisch wie die paulinische Mission: Das Gesetz Mose ist ein kosmisches Gesetz und eine göttliche Weisheit für die ganze Menschheit. In der Endzeit, die mit Christus begonnen hat, schenkt Gott den Völkern seinen Geist, wenn sie sein Gesetz beachten. Deshalb ist die Beschneidung, durch welche sie sich der Erwählung anschließen, die Bedingung, die die judenchristlichen Lehrer für die Teilnahme der Galater an den Verheißungen Abrahams und an der eschatologischen Gemeinschaft stellen. Denn Christus ist für sie der Messias, der das Amt des Mose vollendete. Ihre Christologie ist dem Gesetz untergeordnet. Sie verstehen den Tod Jesu im Rahmen einer klassischen, alttestamentlichen Opfertheologie: In Harmonie mit dem Gesetz ist er das Sühnopfer, welches das Verhältnis zu Gott auf der Basis des Gesetzes wiederherzustellen vermag. Zwischen Christus und dem Gesetz gibt es keinen Konflikt - anders wird natürlich in der paulinischen Argumentation verfahren, vgl. Gal 3,10-14! Christus ist für sie der Messias, der das Gesetz bestätigt. Sie vertreten einen für alle Heiden offenen »Bundes-Nomismus« (E. P ARISH S ANDERS ): Durch die Beschneidung (vgl. Gal 2,1-10) und die Einhaltung der Reinheitsgebote (Gal 2,11-14) werden die Heiden Mitglieder des Gottesvolkes, denn Christus hat ihnen durch seinen Sühnetod den Zugang zum Heil 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 5 Neues Testament aktuell 6 ZNT 22 (12. Jg. 2008) eröffnet. Ihre Identität ist nicht von Christus gegeben, sondern durch das Gesetz. Christus hat sie vor dem Gesetz qualifiziert, so dass sie nun auch verpflichtet sind, die »identity markers« einzuhalten (J AMES D UNN ). Für Paulus geht es in der Auseinandersetzung mit den judenchristlichen Lehrern nicht um die bloße Beachtung von rituellen Geboten, angesichts derer er mit der paulinischen Logik des »allen alles werden« (1Kor 9,22, vgl. 1Kor 9,20) hätte argumentieren können, sondern um die Wahrheit des Evangeliums: »Ich Paulus sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, wird Christus euch nichts nützen« (Gal 5,2). Dass Paulus diese Frage der Beschneidung der Heidenchristen für eine entscheidende Frage hält, wird durch die Radikalität der Argumentation und den dringlichen Ton des Briefes bestätigt (Gal 1,6; 3,1). Für Paulus bedeutet Christus und sein Tod den Anfang der neuen Zeit, in der die alte Wirklichkeit vergangen ist. Paulus ist weder von einem Menschen noch durch die Vermittlung oder durch die Traditionen von Menschen als Apostel berufen worden (Gal 1,1), sondern durch eine »Offenbarung« Gottes (Gal 1,16), die als Gegenstand Christus hat (Gal 1,12), der sein Leben dahingegeben hat, um uns von dieser bösen Welt zu befreien (Gal 1,4), und den Gott von den Toten auferweckt hat (Gal 1,1). Gott hat uns den Geist seines Sohnes gesandt (Gal 4,6) und uns in eine neue Schöpfung verwandelt (Gal 6,15). Das »Kreuz« bestimmt ein Zeit- und Geschichtsverständnis, in dem das Gesetz erfüllt ist (Gal 5,13) und nur noch seine ursprüngliche, politische Funktion beibehalten hat (Gal 3,19), so dass es von nun an weder Beschnittenheit noch Unbeschnittenheit gibt, sondern »neue Schöpfung« (Gal 6,15). Die Getauften sind erwachsen (Gal 4,1-7), vom Zuchtmeister befreit (Gal 3,23- 29). Sie befinden sich nicht mehr unter der Herrschaft des Gesetzes und des Fleisches - und sie sollen unter diese Herrschaft nicht zurückkehren -, sondern im Geiste leben (Gal 5,16-6,10). Gott hat sich in seinem Sohn geoffenbart, deshalb sind die alten Zeiten vorbei und die neue Zeit, die Zeit des Geistes, ist da. Die gesamte Debatte des Galaterbriefes lässt sich folglich in der Frage zusammenfassen: »Wieviel Uhr ist es« (J.-L OUIS M AR - TYN ), zu welcher Welt und zu welchem Äon gehört ihr? Der Christ ist zur Freiheit gerufen, und jede Rückkehr unter das Gesetz führt zu der alten Welt, zu der Welt des Fluches des Gesetzes. Daher die wiederholte Aufforderung des Paulus: »Für die Freiheit hat uns Christus frei gemacht; darum stehet fest und lasset euch nicht wieder unter das Joch der Knechtschaft bringen« (Gal 5,1); »Denn ihr seid zur Freiheit berufen, ihr Brüder...« (Gal 5,13). 2.3. Die »messianische Zeit« bei Paulus Der traditionelle Zeitrahmen der Apokalyptik unterscheidet zwei Epochen und zwei Welten (zwei olamim): die olam hazzeh, die Weltgeschichte von ihrer Schöpfung bis zu ihrem Ende, und die olam habba, die zukünftige Welt. 10 Im Griechischen werden zwei Äonen gegenübergestellt. Paulus hat zwar diese Unterscheidung der beiden Äonen übernommen, wie wir es im Galaterbrief festgestellt haben. Diese klassische Vorstellung erfährt aber bei ihm eine Problematisierung und eine Komplexitätssteigerung: Paulus unterscheidet nicht zwei, sondern drei Zeiten. In Anschluss an den italienischen Philosophen G IORGIO A GAMBEN 11 schlage ich vor, diese drei Zeiten als die »profane Zeit«, die »eschatologische Zeit« und die »messianische Zeit« zu bezeichnen. a.) Die »profane Zeit« entspricht der gegenwärtigen Zeit des apokalyptischen Denkens. Sie entspricht bei Paulus der Wirklichkeit der gegenwärtigen Welt, die mit der Schöpfung anfängt und mit dem Christusereignis endet. Der Begriff des »Äons« bezeichnet oft in den Paulusbriefen die gegenwärtige Welt, die Christus nicht erkannt hat (1Kor 1,20; 2,6.8; 2Kor 4,4; vgl. ebenfalls 1Kor 3,18; 10,11), und nach der sich die Glaubenden nicht richten sollen (Röm 12,2). Paulus spricht auch von »dieser Welt« (1Kor 3,19; 5,10; 7,31). Die »profane Zeit« kennzeichnet die Zeit, in der die Glaubenden weiterhin leben und von der sie aber errettet worden sind (Gal 1,4). Sie könnte als Menschheitsgeschichte, als »chronologische Zeit« definiert werden (vgl. Gal 4,4). Mit dem Kommen Christi ist die Zeit erfüllt worden (vgl. die »Fülle der Zeit«, Gal 4,4), das Ende der Zeiten (das »Ende« oder das »Ziel der Äonen«, 1Kor 10,11) ist gekommen. b.) Die eschatologische Zeit entspricht dem neuen Äon der Apokalyptik. Der Begriff kommt aber bei Paulus nie vor. Bezeichnenderweise spricht er nie von einer zukünftigen Welt, sondern 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 6 Elian Cuvillier Das apokalyptische Denken im Neuen Testament ZNT 22 (12. Jg. 2008) 7 er beschränkt sich darauf, auf ihren Anfang zu verweisen: Auf die »Parusie« Christi (1Thess 2,19; 3,13; 4,15; 5,23; 1Kor 15,23) oder auf den »Tag des Herrn« (1Kor 1,8; 5,5; 2Kor 1,14; Phil 1,6.10; 2,16; 1Thess 5,2). Jener »Tag« wird für Paulus der Auftakt des »für immer mit dem Herrn« - sein (1Thess 4,18), das heißt der Augenblick, an dem das »ewige Leben« (Röm 2,7; 5,21; 6,22-23; Gal 6,8), die Zeit der Verherrlichung mit Christus (Röm 8,17) und eine zukünftige Herrlichkeit (Röm 8,18), die der »profanen Zeit« folgen wird. c.) Zu dieser klassischen Unterscheidung hinzu führt Paulus die Vorstellung einer »Zeit« ein, die noch nicht die »eschatologische Zeit«, aber auch nicht mehr die »profane Zeit« ist, und die wir als die »messianische Zeit« bezeichnen werden. Sie steht mit der »Erfüllung der Zeit« (Gal 4,4), das heißt mit dem Kommen Christi oder, bei Paulus noch präziser, mit dem Osterereignis in einem Zusammenhang. Noch einmal: Diese Zeit ist weder die chronologische Zeit der vorhandenen Welt noch die Zeit der Welt, die noch kommen soll. Paulus nennt sie den »jetzigen Augenblick« (Röm 3,26, vgl. auch 8,18), in dem Gott seine Gerechtigkeit im Ereignis des Todes und der Auferstehung Christi offenbart. Die »messianische Zeit« ist weder mit dem Ende der Zeit und dem zukünftigen Äon identisch, noch ist sie der profanen Zeit der Chronologie verwandt, obwohl sie sich mit Letzterer überschneidet. Unsachgemäß wäre es auch zu sagen, dass sie mit der Auferstehung beginnt und bis zur Parusie dauert: Man würde sie dann objektiv und chronologisch festlegen, obwohl sie für Paulus nur für den Glauben fassbar ist. Diese messianische Zeit stellt sich nämlich als eine Offenbarung, als eine »Apokalypse« vor (Röm 1,17-18; vgl. 16,25; 1Kor 2,10; Gal 3,23), die auch Paulus selbst zuteil geworden ist (vgl. Gal 1,12.16), und die den Glauben schafft und verlangt (Röm 1,17-18). Wenn sich die »messianische Zeit«, der messianische Kairos mit der »profanen Zeit« überschneidet, weil sie sich nicht außerhalb der chronologischen Zeit ereignet, können wir auch sagen, dass sie sie erfüllt und qualifiziert. Und auch wenn sie mit der eschatologischen Zeit nicht identisch ist, gehört sie zu ihren Voraussetzungen und zu ihren Bedingungen. Die »messianische Zeit« führt in die traditionelle Unterscheidungen der beiden Äonen eine zweite Unterscheidung ein, die den durch die erste Unterscheidung geschaffenen Raum füllt. Diese zweite Unterscheidung wird durch das Christusereignis ausgelöst - weswegen ich sie nach Agamben als messianische Zeit tituliere. Die »messianische Zeit« ist keine chronologische oder messbare Zeit. Es ist keine Zeit, die sich zu der »profanen Zeit« addieren lässt. Es ist vielmehr eine Zeit, die der profanen Zeit gegenüber eine Verschiebung bewirkt und die Möglichkeit gibt, sie anders zu verstehen. 2.4. Zusammenfassung Die Frage, ob die Parusieverzögerung eine bewegende Rolle in der Entwicklung der paulinischen Eschatologie gespielt hat, muss ohne endgültige Antwort bleiben. Diese Aporie lässt die Debatte zwischen den Vertretern eines apokalyptischen Paulus und den Anhängern einer individuellen Eschatologie verschieben. Die eschatologischen Vorstellungen des Paulus haben sich auf der einen Seite nicht grundsätzlich verändert. Vielmehr hat der Apostel nie aufgehört, die apokalyptische Sprache wiederaufzunehmen, um sie von innen her neu zu gestalten. Auf der anderen Seite muss die futurische Dimension der paulinischen Eschatologie insofern relativiert werden, als sich die Aufmerksamkeit des Paulus trotz jeder zukünftigen Erwartung auf die Gegenwart des Glaubens richtet. Durch die Einführung des Begriffes der messianischen Zeit haben wir versucht, die paulinische Rezeption des apokalyptischen Schemas zu interpretieren. Diese »messianische Zeit« ist als Zeit zu verstehen, die »innerhalb der chronologischen Zeit erscheint und sie von innen her durchdringt und verwandelt«. 12 Sie ist für den Glaubenden die chronologische Zeit, die zu Ende geht, die Zeit, die vor dem Ende übrig bleibt. Paulus wertet die Gegenwart auf und grenzt sich in dieser Art und Weise sowohl von der Apokalyptik als auch vom Enthusiasmus ab: • Keine Flucht in die Zukunftserwartung. • Keine Verdrängung der Wirklichkeit. Die Gegenwart des Glaubens ist der Ort, in dem sich das Evangelium wahrhaftig verwirklicht. Die christliche Existenz gründet auf einem Ereignis, das als radikaler Bruch in der Menschheitsgeschichte verstanden ist (das Kreuz) und lebt in der Erwartung der eschatologischen Ruhe (das Heil). Sie wandelt vor Gott und vor den 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 7 Neues Testament aktuell 8 ZNT 22 (12. Jg. 2008) Menschen in dieser Welt, die vergeht, als Bürger eines Reiches, das sich »in den Himmeln« befindet (Phil 3,20). Sie hat ihren Grund außerhalb dieser Welt. Sie ist nicht mehr durch die Welt und durch ihre »profane Zeit« bestimmt: Weder die Handlungsweise noch die Prinzipien dieser Welt machen ihre Identität aus. Dem Glaubenden ist es vielmehr gegeben, die Welt frei zu verstehen und in der Welt frei zu handeln, weil seine eigentliche Heimat nicht in dieser Welt liegt (Gal 4,26). 3. Die Johannesapokalypse als Schrift des Widerstands 3.1. Die historische Situation Die Pax Romana, die im 1. Jh. herrscht, ist durch eine politische Stabilität und eine wirtschaftliche Konjunktur ohne Vergleich in der bisherigen Weltgeschichte begleitet. Rom nimmt das Ideal von Alexander dem Großen wieder auf und verwirklicht es mit dem Pragmatismus, der die kaiserliche Macht kennzeichnet. Die Entwicklung des Verkehrsnetzes und der Straßen, der allgemeine Wohlstand, der Lebensstil der Eliten der eroberten Gebiete und die lokale Wiederbelebung des Kaiserkultes als Symbol des politischen Patriotismus stellen sich als die Vollendung des Kosmopolitismus und des Universalismus, die Alexander der Große anstrebte, dar. Diese Epoche ist der erste Moment dessen, was man als »pensée unique« bezeichnen kann. Kein anderes System bietet sich als Alternative zu der kaiserlichen Verwaltung an, die politische und militärische Macht mit wirtschaftlicher Entwicklung und kulturellem Leben vereint und Bewunderung hervorruft. Die zeitgenössischen Zeugnisse sind vielsagend. Wir beschränken uns auf zwei Beispiele: a.) 9 v. Chr. fassen die Vertreter der asiatischen Städte einen Beschluss, der die Begeisterung der lokalen Eliten für die römischen Ideale, die sich im ganzen ersten Jahrhundert nicht verändern wird, zum Ausdruck bringt: » Da die unser Leben [auf göttliche Weise] ordnende Vorsehung, Eifer [an den Tag] legend und Großmut, das Leben mit dem Vollkommensten ausschmückt[e], indem sie Augustus hervorbrachte, den sie zum Wohl des Mensch[en]mit Tugend erfüllte, wodurch sie uns und denen nach uns [einen Retter] schickte, der Krieg beendete und [alles] ordnete; da [durch sein Erscheinen] [der] Kaiser die Hoffnungen [all] derer, die zuvor [gute Nachrichten vorweg] genommen hatten, überbot, weil er nicht nur die vor ihm lebend[en Wohltäter über-]traf, sondern auch für die künftig lebenden keine Hoffnung [auf Steigerung übrigließ]; da für die Welt der Anfang der durch ihn (veranlaßten) guten Nachricht[en] (griechisch: euangelia) [der Geburts]tag des Gottes war; […] Deshalb haben zu gutem Gelingen und zum Heil die Griechen in Asien den Beschluß gefaßt, daß der neue Jahresbeginn für all[e] Städte am neunten Tag vor den Kalenden des Oktober beginnt, welcher der Geburtstag des Augustus ist.« 13 b.) Gegen Ende der Epoche, mit der wir uns befassen, schreibt am Anfang des zweiten Jahrhunderts der Rhetor Aelius Aristides: »Was eine Stadt für ihre eigenen Grenzen und ihr Gebiet bedeutet, das bedeutet diese Stadt für den gesamten Erdkreis, da sie gleichsam zu einer gemeinsamen Hauptstadt gemacht wurde. (…) Wie bei einem Festtag hat der ganze Erdkreis sein altes Gewand, das Eisen, abgelegt und sich dem Schmuck und sämtlichen Freuden zugewandt, um sie zu genießen«. 14 Und er hält einen Romrede, die nicht versucht, dem römische Imperium zu schmeicheln, sondern seine vollkommene Verwaltung mit einer »gründlich gereinigten« Flöte, die »nur einen einzigen Ton erschallen« lässt, vergleicht und es als einen Organismus bezeichnet, der dem Kaiser als »höchstem Lenker« 15 einmütig gehorcht. Der Konsens, den diese Texte zum Ausdruck bringen, gibt sicher nicht den Alltag der gesamten Bevölkerungen des Imperiums wieder: Die alltägliche Wirklichkeit ist um so zufälliger und unsicherer, als man nicht zu den privilegierten Klassen der Gesellschaft gehört. Die Texte belegen aber die Einstellung der wichtigsten Zeugen und sozialen Akteure dieser Epoche, nämlich der politischen, wirtschaftlichen und intellektuellen Eliten. In der römischen Welt koexistiert zur gleichen Zeit ein extremer Anspruch auf Universalität und, auf der anderen Seite, eine klare Hierarchisierung und eine genauso extreme Abgrenzung innerhalb des sozialen Lebens. Der Mensch existiert nur aufgrund des Platzes, der ihm zusteht: Er ist ein freier Mensch oder ein Sklave, ein Mann oder eine Frau. Jedem diktiert das Imperium, welchen Platz er auf dem »globalisierten« Spielbrett des Mittelmeersbeckens zu belegen hat. 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 8 Elian Cuvillier Das apokalyptische Denken im Neuen Testament ZNT 22 (12. Jg. 2008) 9 3.2. Der Widerstand des Glaubens Die Johannesapokalypse ist wahrscheinlich unter dem Kaiser Domitian zwischen 90 und 95 nach Christus verfasst worden. Sie ist oft als die Botschaft einer Ermutigung gelesen worden, die für ein Christentum geschrieben wurde, das das Opfer der Unterdrückung eines totalitaristischen Systems war, dessen sichtbares Symbol der vom Seher als Götzenkult abgelehnte Kaiserkult war. Eine kritische, historische Überprüfung führt zu einer Relativierung der Vorstellungen einer aktiven Verfolgung der Adressaten der Apokalypse. 16 Die Historiker verweisen auf den Umstand, dass die Regierungszeit von Domitian durch gewisse Züge des Absolutismus geprägt wurde, dass der Kaiserkult weit verbreitet war und wahrscheinlich auch politisch instrumentalisiert wurde, aber dass keine systematischen und blutigen Verfolgungen der Christen in dieser Zeit stattgefunden haben. Von politischen, militärischen und ökonomischen Gesichtspunkten her ist seine Regierungszeit vielmehr durch Kontinuität und verstärkte Stabilität gekennzeichnet, und zur Frage der Verfolgungen erlaubt die Johannesapokalypse zwei ergänzende Beobachtungen: a.) Selbst wenn bedacht wird, dass der Aufenthalt von Johannes auf Patmos (Offb 1,9) als ein erzwungenes Exil zu verstehen ist, dann müsste die »Verfolgung« als einen Einzelfall der unter Domitian üblich gewordenen Praxis, bedeutende und störende Persönlichkeit von den städtischen Zentren zu entfernen, aufgefasst werden. Man könnte allenfalls darin ein Zeichen der Bedeutung und der Bekanntheit des Sehers in der römischen Verwaltung Asiens sehen. Auf jeden Fall hätten wir dadurch keinen Beleg für eine systematische Verfolgung der Christen, wie man sie im 3. Jh. und bis Diokletian kennt. b.) Johannes vermag keinen anderen Namen eines Märtyrers anzugeben als den von Antipas (Offb 2,13). Die Anspielungen auf Martyrien beziehen sich nicht auf die aktuelle Situation des Adressaten der Apokalypse. Sie verweisen des Öfteren auf Märtyrer der Vergangenheit, auf Märtyrer des AT oder der Zeit Neros oder gehören zur Idealisierung der Figur der Zeugen. Darüber hinaus müssen wir beachten, dass der Text der Apokalypse keinen Anlass gibt, die Tätigkeit des Johannes auf Patmos anders als eine freiwillige Predigtreise zu interpretieren. Man könnte sich auch einfach vorstellen, dass er dorthin gefahren ist, um sich zurückzuziehen und um Abstand zu nehmen. Von dort hätte er sich an die asiatischen christlichen Gemeinden richten wollen, um ihnen mit einem anderen Blick zu helfen, ihre aktuelle Situation zu deuten. Es ist offensichtlich nicht das Anliegen von Johannes aus Patmos, eine verfolgte Gemeinde zu ermutigen. Seine erklärte Intention ist es vielmehr, ihnen eine »Etablierung« in die heidnische Gesellschaft vorzuwerfen. Darauf zielen auf jeden Fall die scharfen Warnungen der sogenannten Sendschreiben in Offb 2-3. Indem er seine Leser auffordert, einen kritischen Blick auf die römische Gesellschaft und auf die kaiserliche Macht zu werfen, fährt Johannes gegen den Strom, dem die in den sieben Sendschreiben geschilderten Kirchen folgen. Die Apokalypse versucht, dem Druck entgegenzuwirken, unter welchem die christlichen Gemeinden stehen, aber auch der sie bedrohenden Versuchung, sich dem pro-römischen patriotischen Trend der asiatischen Provinzen anzupassen, Paroli zu bieten. 3.3. Die symbolische Neuschöpfung der Welt Eine doppelte Überzeugung liegt dem Schreiben von Johannes aus Patmos zugrunde: • Von außen her: eine theologische Kritik der menschlichen Mächte. • Von innen her: eine theologische Kritik der christlichen Gemeinde, sobald sie gedenkt, sich in der Welt zu etablieren und ihre wesentliche Aufgabe nicht mehr wahrnimmt, die Gegenwart der neuen Zeit, die inmitten der alten Welt durch den Tod und die Auferstehung Jesu angebrochen ist, zu verkündigen und zu bezeugen. Dieses kritische Moment geht mit einer Verteufelung der kaiserlichen Struktur einher, die in Offb 13 und Offb 17-18 veranschaulicht wird. Diese Verteufelung ergibt sich nicht aus apokalyptischen Spekulationen, sondern aus einer deut- »Es ist offensichtlich nicht das Anliegen von Johannes aus Patmos, eine verfolgte Gemeinde zu ermutigen.« 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 9 Neues Testament aktuell 10 ZNT 22 (12. Jg. 2008) lichen Analyse der politischen Situation, die am Ende des 1. Jh.s herrscht. Der Seher aus Patmos deutet nämlich die »globale« Form, die die kaiserliche Macht und ihre enthusiastische Rezeption bei den Eliten angenommen haben, als ein totalitäres und idolatrisches System, das religiöse Ansprüche erhebt und gesamte Bereiche der menschlichen Existenz kontrolliert. Diese Ansprüche offenbaren nicht so sehr den Stolz der Menschen und insbesondere der Kaiser als die Mächte des Bösen, denen sie unterworfen sind und die in der Schöpfung handeln. Deshalb fordert diese apokalyptische Interpretation der Wirklichkeit die Glaubenden auf, ihren Glauben als geistigen Widerstand gegen die Götzenverehrung und als die Erwartung des Gerichtes, das auf eine durch die Mächte beherrschte Welt gerichtet ist, zu verstehen. Diese Haltung des Widerstandes gründet nun im Ereignis der Aussendung des gekreuzigten Christus und des geschlachteten Lammes (Offb 5,4), der sich offenbart, um die Welt zu richten. Johannes erhebt seinen Protest gegen die Logik der Welt und gegen den Cäsar, der meint, die Identität jeder menschlichen Existenz zu bestimmen. Das Glaubensbekenntnis ist also ein politischer Akt geworden. Es baut ein neues Verständnis der eigenen Existenz und der Welt, in der die Gemeinde lebt, auf. Die Interpretation der Wirklichkeit ist aber weder eine Objektivierung noch eine Röntgenaufnahme dieser Wirklichkeit, sondern ihre Rekonstruktion von einem bestimmten Gesichtspunkt her. Sie stellt sich als ein Verständnis der Welt vor, das sich aus dem neuen Verständnis seiner selbst in der Welt, aus der neuen Interpretation seiner selbst, die in der Offenbarung des Christusereignisses gründet, ergibt. Johannes schafft sozusagen die Welt neu, er baut sie wieder von seinem Glauben an Gott her, wie Christus ihn offenbart, auf (vgl. Offb 1,1). Dafür braucht er eine symbolische Sprache, weil diese Sprache die Möglichkeit mit sich bringt, einen Bruch in der Wahrnehmung und im Verständnis der Wirklichkeit zu erzeugen. Das Osterereignis lässt etwas anderes, radikal Neues erscheinen, welches anders als die bestehende Situation, als die existierenden Meinungen und als die institutionalisierten Formen des Wissens ist. Es zerbricht den Konsens, um welchen herum sich die römische Gesellschaft organisiert, und schafft eine neue Welt, die jede vergangene Situation und ihre Logik in Frage stellt. Die Treue zum Gründungsereignis der Christusoffenbarung besteht im Zeugnis, dass die Wirklichkeit dieser Welt das letzte Wort weder hat noch haben kann. Das Motto der römischen Macht, dem alle aufgefordert oder gezwungen sind, zuzustimmen, ist trügerisch. Wie lautet dieses Motto? Man könnte es einfach mit folgenden Worten zusammenfassen: »Es gibt, was es gibt«. Die Sachverhalte, die sich zu sehen geben, stellen die Wahrheit der Wirklichkeit vor: die kaiserliche Macht, die kaiserliche Ordnung, die Pax Romana, die hierarchisierte Organisation der Welt. Das sei, was »es gibt«, und es sei gut so. Die Treue zum Gründungsereignis des Glaubens besteht in der Verkündigung des genauen Gegenteils: »Es gibt, was es nicht gibt«. Das heißt: Trotz jedem Schein und trotz der Evidenzen, die in der Welt gelten, hat Gott den Tod und die Mächte des Todes in Christus besiegt. Als Konsequenz besteht die vorhandene Wirklichkeit aus Lüge und Illusion. Anders formuliert: Die römische Macht und ihr Anspruch, die Totalität der menschlichen Existenz global zu kontrollieren, ist ein diabolischer Betrug. 3.4. Apokalyptischer Universalismus gegen römische Globalisierung In der Ordnung der römischen Welt werden alle festen Rollen, Funktionen und Klassen zugeordnet. Im Namen seines Gottes verkündigt der Seher aus Patmos dagegen, dass es in Christus keine Abgrenzungen zwischen den Personen mehr gibt. Der Einzelne, was auch immer er sei, wird unabhängig von seinen Funktionen, von seinen äußerlichen Eigenschaften und von seiner Herkunft anerkannt und geliebt. Diese Bedingungslosigkeit ist die einzige Begründung eines tatsächlichen Universalismus. Das Malzeichen, das das Individuum als Subjekt kennzeichnet, kann nicht das Malzeichen des Tieres sein, das vor allen Augen die Klas- »Johannes erhebt seinen Protest gegen die Logik der Welt und gegen den Cäsar, der meint, die Identität jeder menschlichen Existenz zu bestimmen.« 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 10 Elian Cuvillier Das apokalyptische Denken im Neuen Testament ZNT 22 (12. Jg. 2008) 11 se, zu welcher jeder gehört, bekannt gibt (Offb 13,16), sondern das unsichtbare Malzeichen des neuen Namens, der im »Buch des Lebens« (Offb 3,5) aufgeschrieben steht. Dieser Name ist verborgen und vor den Mächten geschützt, weil ihn nur derjenige kennt, der ihn bekommen hat (Offb 2,17). Das Osterereignis ist für Johannes die neue Geburt vor Gott, es ist die Geburt eines Subjektes in der ersten Person. Zusammen mit den Menschen aus allen Sprachen, Nationen und Völkern, die den Gottesdienst des Lammes feiern, bildet es das neue Gottesvolk, ein Volk von »Königen« und von »Priestern« (Offb 1,6). Diese buchstäblich »revolutionäre« Überzeugung, welche die die römische Gesellschaft strukturierenden Hierarchien umkippt, konstituiert den Glaubenden als Dissidenten mitten in dieser Welt. So kann Johannes verkünden: »Halleluja! Das Heil und der Ruhm und die Kraft ist unseres Gottes, denn wahr und gerecht sind seine Gerichte! Denn er hat die große Buhlerin gerichtet, die die Erde mit ihrer Unzucht verderbte, und hat das Blut seiner Knechte an ihr gerächt« (Offb 19,1-2). Folgendes muss noch unterstrichen werden: Der Gott der Apokalypse stellt die römische Macht in Frage, indem er sich unter der paradoxen Form des geschlachteten Lammes offenbart (Offb 5,6). Seine Kraft hat nichts mit der brutalen und uniformisierenden Macht des Imperiums, des »Tieres«, zu tun. Die Kraft Gottes ist in der Apokalypse eng verbunden mit einem Wort, das sich gegen die Evidenz und gegen die opinio communis erhebt. Wir können zusammenfassen: Der Widerstand des Sehers der Johannesapokalypse gegen den vermeintlichen römischen Universalismus gründet in einer theologischen Analyse der politischen Situation am Ende des 1. Jh.s. Johannes von Patmos interpretiert nämlich den römischen »Universalismus« als einen totalitären Anspruch. Die kaiserliche Macht wird als ein System enthüllt, das die Ganzheit der menschlichen Existenz zu regieren versucht, indem die Menschen der ganzen Erde einem bestimmten Platz je nach Eigenschaften, Besitz, Erbe und Geburt zugeordnet werden. Dieser Logik gilt der geistige Widerstand der Apokalypse und in diesem System werden die Glaubenden aufgefordert, sich als Zeugen des Universalismus des Gottes des Lammes, der jede Person bedingungslos, singulär, individuell und gleichberechtigt versammelt, als Dissidenten zu verstehen und zu verhalten. 4. Ausblick Sowohl in den Visionen von Johannes als auch im Denken des Paulus bildet die Apokalyptik einen bereits existierenden ideologischen Rahmen, in welchem das Christusereignis aufgenommen und interpretiert wird. Sie bietet dem christlichen Bekenntnis Interpretamente, die die Osterbotschaft ihrerseits umgestaltet und erneuert. Die kritische Vorstellungskraft der Apokalyptik liefert unter anderem einen fruchtbaren Boden für die paradoxe Verkündigung des Gottes Jesu Christi, eines Gottes im Namen dessen behauptet werden kann, dass »Großes klein und Kleines groß ist, Rechtes verkehrt und Verkehrtes recht, daß Hoffnungsloses Verheißung hat und und Hoffnungsvolles gerichtet wird. […] daß Kreuz Sieg bedeutet und Tod Leben«. 17 Der Beitrag wurde aus dem Französischen von Prof. Dr. Dr. h.c. François Vouga übersetzt. l Anmerkungen 1 Erster Teil der Definition: J.J. Collins (Hg.), Apocalypse: The Morphology of a Genre, Semeia 14 (1979), 9. Zweiter Teil: A.Y. Collins (Hg.), Early Christian Apocalypticism: Genre and Social Setting, Semeia 36 (1986), 7. 2 G. Rochais, L’influence de quelques idées-forces de l’apocalyptique sur certains mouvements messianiques et prophétiques populaires juifs du 1er siècle, in: D. Marguerat / E. Norelli / J.-M. Poffet (Hgg.), Jésus de Nazareth. Nouvelles approches d’une énigme, Genf 1998, 177-208, vgl. besonders 189-190. 3 E. Käsemann, Die Anfänge christlicher Theologie, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen II, Göttingen 1964, 82-104 und ders., Zum Thema der Urchristlichen Apokalyptik, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen II, Göttingen 1964, 105-131. 4 Käsemann, Apokalyptik, 105-131. 5 J.-L. Martyn, Apocalyptic Antinomies in Paul’s Letter to Galatians, NTS 31 (1985), 410-424; ders., Galatians, New York 1997, bes. 97-105 (»Apocalyptic Theology in Galatians«); ders., De-apocalypticizing Paul: An Essay Focused on »Paul and the Stoics« by Troels 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 11 Neues Testament aktuell 12 ZNT 22 (12. Jg. 2008) Engberg-Pedersen, JSNT 86 (2002), 61-102. Vgl. auch M.C. de Boer, Paul and Jewish Apocalyptic Eschatology, in: J. Marcus / M.L. Soards (Hgg.), Apocalyptic and the New Testament. Essays in Honor of J. Louis Martyn, Sheffield 1989, 169-190. 6 J.Chr. Beker, Paul the Apostle. The Triumph of God in Life and Thought, Edinburgh 1980; ders., Paul’s Apocalyptic Gospel. The Coming Triumph of God, Philadelphia 1982. 7 Vgl. zum Beispiel R. Bultmann, Geschichte und Eschatologie, Tübingen 1958, 46-50. 8 J. Becker, Erwägungen zur apokalyptischen Tradition in der paulinischen Theologie, EvTh 30 (1970) 593- 609; ders., Paulus: Apostel der Völker, Tübingen 2004 (? ), 509-520; J. Baumgarten, Paulus und die Apokalyptik, Neukirchen-Vluyn 1979. 9 Ich folge hier der Argumentation, die François Vouga in seinem Kommentar entwickelt: An die Galater, HNT 10, Tübingen 1998. 10 Vgl. 1Hen 71,15; 4Esra 7,50.112.119; 2Bar 44,8-15; 83,4-9. Vgl. dazu de Boer, Paul and Jewish Apocalyptic Eschatology, 172ff. und die Fußnoten. 11 G. Agamben, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt a.M. 2006, 75-85 (orig: Le temps qui reste, Paris 2000, vgl. besonders: 104-119). 12 Agamben, Zeit, 77. 13 Bei dem Text handelt es sich um Teile der Kalenderinschrift aus Priene in Ionien (Z.: 32-41.49-56) Übers. nach C. Ettl, Der Anfang der … Evangelien. Die Kalenderinschrift von Priene und ihre Relevanz für die Geschichte des Begriffs euangelion. Mit einer Anmerkung zur Frage nach der Gattung der Logienquelle, in: S. Brandenburger / T. Hieke (Hgg.), Wenn drei das gleiche sagen. Studien zu den ersten drei Evangelien, Münster 1998, 131. 14 Aelius Aristides, Die Romrede, hg. u. übers. v. R. Klein (Texte zur Forschung 45), Darmstadt 1983, 39.59. 15 Aristides, Romrede, 25. 16 Zum historischen Rahmen der Johannesapokalypse vgl. L.L. Thompson, The Book of Revelation : Apocalypse and Empire; T.B. Slater, On the Social Setting of the Revelation to John, NTS 44 (1998), 232-256. 17 D. Bonhoeffer, Bonhoeffer Brevier, hrsg. v. O. Dudzus, München 1963, 423. 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 12 ZNT 22 (12. Jg. 2008) 13 Die Johannesapokalypse (Offb) 2 ist heute eines der interessantesten Gebiete neutestamentlicher Forschung, da ihre Auslegung es erlaubt, viele methodische und hermeneutische Richtungen zu integrieren. 3 Sie beansprucht »Worte der Prophetie« zu sein, die Johannes durch die Vermittlung von Engeln erhalten hat, spricht aber die phantastische Sprache apokalyptischer Literatur. Ähnlich wie die prophetischen Bücher der Hebräischen Bibel beginnt die Offb mit einer sorgfältig ausgearbeiteten dreiteiligen Einleitung. Wie Amos (1,1-2) wird auch die Offb mit einer Überschrift (1,1-3) und einem Motto (1,7f.) eingeleitet, die sowohl Inhalt als auch Perspektive des Buches ankündigen. Der in die traditionelle Form des prophetischen Prologes eingefügte briefliche Gruß (1,4-6) ähnelt dem der paulinischen Briefe. 4 Diese sorgfältig komponierte Einleitung charakterisiert die Offb formal als ein Werk prophetisch-apokalyptischer Rhetorik, 5 das die Funktion eines an sieben christliche Gemeinden in Kleinasien adressierten offenen pastoralen Briefes hat. Der Prolog beschreibt also sowohl den Inhalt des Buches als auch die Autorität hinter seiner Kommunikation. Er definiert die Schrift des Johannes auf doppelte Weise als »Offenbarung (gr. apokalypsis) Jesu Christi« und als »Worte der Prophetie«. Das griechische Wort für Offenbarung apokalypsis taucht nur hier auf, wo es als Name für das gesamte Werk zu dienen scheint. Es ist jedoch wichtig zu sehen, dass der ursprüngliche Titel des Buches nicht »Offenbarung« des Johannes, sondern vielmehr »Offenbarung« Jesu Christi ist. Die populäre Bezeichnung »Offenbarung / Apokalypse des Johannes« wurde erst später hinzugefügt, als das Buch in den Kanon aufgenommen wurde. Sie wurde offensichtlich aus den ersten drei Versen abgeleitet und vermutlich in Analogie zu den Titeln der anderen jüdischen und christlichen Apokalypsen formuliert, die bekannten Personen der Vergangenheit, wie Abraham, Esra, Baruch oder Petrus, zugeschrieben wurden. I. Apokalyptische Sprache und Imagination 6 Dass die Worte G*ttes 7 und die »Offenbarung Jesu Christi« durch einen Engel 8 übermittelt werden, entspricht dem traditionellen apokalyptischen Stil. Dass darüber hinaus diese Prophetie nicht ausgesprochen, sondern »signifiziert« oder »gezeigt« wird, ist ebenfalls Kennzeichen apokalyptischen Stils. Solch apokalyptischer Stil ähnelt dem der Poesie, insofern er nicht logisch argumentiert, sondern seine Vision in literarischen Symbolen und Bildern auszudrücken sucht, die nicht nur den Intellekt der LeserInnen / HörerInnen ansprechen, sondern auch ihre Emotionen. Er könnte auch mit dem eines zukunftsorientierten Science-Fiction- Romans’ verglichen werden, der die gegenwärtige Situation erhellt, indem er die heutigen Ängste, Kämpfe und Hoffnungen in die Zukunft projiziert. So wie die apokalyptische Literatur im Allgemeinen 9 möchte auch Johannes seine gegenwärtige Welt, die die des römischen Imperiums ist, im Lichte der Transzendenz und der Zukunft verstehen. Dies erreicht er, indem er die himmlische Welt und die eschatologische Zukunft mit Hilfe des Wissens und der Sprache der Vergangenheit und der Gegenwart ausmalt. Johannes benutzt die Hebräische Bibel als Sprachpalette, um dämonische und himmlische Realität auszumalen. Er forscht nach Typologien und beispielhaften Gestalten, die ihm als Paradigmen seiner rhetorischen Komposition dienen können. Durch Anspielungen auf mythische und religiös-politische Traditionen sucht die Offb die Phantasie von Menschen anzuregen, die in jüdischer, aber auch in griechisch-römischer Tradition, Religion und Sprachwelt zu Hause sind. Johannes zitiert aber nicht, sondern nimmt traditionelle Symbole und mythologische Bilder aus ihrem ursprünglichen Kontext heraus, um sie wie Mosaiksteine in seine eigene Komposition einzufügen. Die Offb muss daher wie eine Symphonie von Bildern gelesen werden, soll die emotionale Kraft des Buches verstanden werden. 10 Zum Thema Elisabeth Schüssler Fiorenza Die Johannesapokalypse in kritisch-feministischer Perspektive 1 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 13 Zum Thema 14 ZNT 22 (12. Jg. 2008) Literarische und historische Analyse kann das mythologische pathos des Buches verständlich machen, aber nicht vermitteln. Apokalyptische Sprache ist nicht, wie literalistischer Fundamentalismus 11 annimmt, beschreibend und vorhersagend, sondern mythologisch-phantastische Sprache: Sterne fallen vom Himmel, die Welt ist ein Königspalast mit drei Stockwerken, Tiere sprechen, Drachen speien Feuer, der Löwe wird zum Lamm, Engel und Dämonen führen blutige Kriege. Die Überzeugungskraft der Offb liegt daher in ihrer die Imagination und Phantasie anregenden Bildwelt. Nach vorherrschender exegetischer Meinung sucht die Offb als prophetische Offenbarung Roms’ Leben zerstörende imperiale Macht der Leben spendenden Macht G*ttes entgegenzustellen. Die Macht- und Gerechtigkeitsfrage ist das zentrale rhetorische Problem der Offb. 12 Ihre theologische Schlüsselfrage lautet: Wem gehört die Erde? Wer regiert diese Welt? Da das Buch den Standpunkt derer einzunehmen scheint, die arm sind und wenig Macht haben, imaginiert es eine alternative Visionswelt, die es nicht nur in mythologischer, sondern auch in sozio-ökonomischer Sprache und politisch-symbolischer Bildlichkeit ausdrückt. 13 Das zentrale theologische Symbol der Offb ist der Kaiserthron, der entweder befreiende göttliche oder aber todbringende dämonische Macht signifiziert. Glaube an Jesus Christus als den »Herrn« (kyrios) der Welt musste notwendigerweise in Konflikt mit der Proklamation der römischen Staatsreligion geraten, die betonte: »Der Kaiser ist der Herr (kyrios)! « Johannes besteht darauf, dass nicht der römische Kaiser, sondern der, der »alles neu macht«, der »Herr der Herren und König der Könige« ist. Das Kommen und die Herr-schaft 14 G*ttes und Christi bringt nicht nur den ChristInnen Erlösung und Heil, sondern auch allen, die jetzt von politischen Gewalten unterdrückt und niedergemetzelt werden. Umgekehrt besteht die Offb darauf, dass das Gericht G*ttes und Christi die Zerstörung all derer mit sich bringen wird, »die die Erde verderben«. Die treibende Kraft, die hinter der politischen Herr-schaft der imperialen Weltmacht, die »die Erde zerstört«, steht, sind nicht bloß Menschen. Es ist Satan, die antigöttliche Macht par excellence. Der Drachenteufel hat dem Tier aus dem Meer, das wohl den römischen Kaiser symbolisiert, »seine Macht und seinen Thron und seine große Gewalt« (13,2) gegeben. Es scheint, dass diese Macht absolut und universal ist. Sie trifft ChristInnen und NichtchristInnen in gleicher Weise. Da die imperiale Macht Roms kultisch verstanden wurde, musste sich auch die rhetorische Symbolwelt der Offb auf kultisch-religiöse Symbole beziehen, um ihre Leser- / HörerInnen von den prachtvollen Symbolen und dem rituellen Drama des Kaiserkultes abzubringen. 15 Doch ein solch »christliches« Aufnehmen der Symbolsprache des Kaiserkultes war problematisch, da damit die imperiale Sprache und Kultsymbolik Roms’ Eingang in die christliche G*ttessprache fand. Weil ChristInnen am Ende des 1. Jh.s keine eigenen kultischen Institutionen, keine PriesterInnen, Opfer oder Tempel hatten, übernahm Johannes seine kultische Sprache und Symbolik sowohl aus dem traditionellen Tempelkult Israels, als auch aus den in Kleinasien populären imperialen Kultfeiern. Johannes spricht in traditionellen jüdisch-kultischen Symbolen, wie Tempel, Altar, Priester, Opfer, Gewänder, Hymnen, Weihrauch und kultischer Reinheit, um eine symbolische Alternative zum Glanz des Kaiserkultes zu entwerfen. Damit sucht er besonders seine Gemeinde von messianischen JüdInnen, die in dieser kultischen Tradition »zu Hause« sind, anzusprechen, um sie zu überreden, seine Visionswelt zu akzeptieren. Die Aufnahme der kultischen Symbole und Institutionen Israels durch die Offb dient somit rhetorischen Interessen. 16 Die kultischen Symbole der Offb beschreiben und verweisen nicht auf tatsächliche kultische Praktiken in Kleinasien, wie einige ApokalypseauslegerInnen annehmen. Vielmehr gebraucht der Autor die traditionelle Kultsymbolik als »evokative Sprache«, um eine alternative Welt zu der des Kaiserkultes zu beschwören. Die Offb borgt ihre Sprache und Symbole nicht nur von jüdischen Kulteinrichtungen, sondern »Apokalyptische Sprache ist nicht [...] beschreibend und vorhersagend, sondern mythologischphantastische Sprache.« »Die Macht- und Gerechtigkeitsfrage ist das zentrale rhetorische Problem der Offb.« 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 14 Elisabeth Schüssler Fiorenza Die Johannesapokalypse in kritisch-feministischer Perspektive ZNT 22 (12. Jg. 2008) 15 auch vom römischen Kaiserkult. 17 Die himmlische Liturgie, die im Thronraum G*ttes gefeiert wird (Offb 4f.), weist zugleich auffallende Ähnlichkeiten mit dem orientalischen Hofzeremoniell und Kaiserkult 18 auf. Genau wie G*tt beschrieben wird - eine Schriftrolle haltend -, wird in der römischen Kunst auch der Kaiser abgebildet: umgeben von seinem Rat, eine Petition oder einen Brief als offene Schriftrolle in der Hand haltend. Darüber hinaus spielen die Hymnen der Johannesapokalypse auf die im Hofzeremoniell erwähnten Lobeshymnen an. Hymnische Akklamationen und Zeichen der Ehrerbietung waren nicht dem Kaiser vorbehalten, sondern wurden auch seinen RepräsentantInnen bei den Feiern des Kaiserkultes in den Kolonialprovinzen erbracht. Außerdem waren sprechende und sich bewegende Götterbilder und feurige Lichtzeichen in kultischen Kontexten nicht unbekannt und wurden vermutlich auch im Kaiserkult gebraucht. Schließlich schildern die Visionen des Neuen Jerusalem die Erfüllung der idealen, hellenistischen, kosmopolitischen Stadt und der idyllischen Projektionen der Pax Romana. II. Imperiale Gegen-Sprache Als Widerstandsdichtung gelesen, fordert die Offb den symbolischen Diskurs der hegemonialen römischen Kolonialmacht heraus, indem sie einen symbolischen Gegendiskurs rhetorisch herstellt, der die imperiale Macht Roms als teuflisch zu entlarven sucht, um so für Leser- / HörerInnen die Überzeugungskraft des Kaiserkultes abzuschwächen. Die Offb sucht durch ihre Symbol- und Visionswelt ihre Leser- und HörerInnen dazu zu motivieren, nur G*tt - und nicht der imperialen Macht, Religion und Kultur Roms - zu dienen, selbst dann nicht, wenn eine solche Entscheidung ihr Leben und ihr Wohlergehen aufs Spiel setzen würde. Die Symbolwelt der Offb ist damit am besten als eine rhetorische Antwort auf ihre politischhistorische und religiös-kommunikative Situation zu verstehen. Doch wissen wir auch, dass andere frühchristliche Schriften wie z.B. der erste Petrusbrief 19 oder die Apostelgeschichte 20 dieser Situation am Ende des 1. Jahrhunderts’ u.Z. 21 ganz anders begegnet sind. Die theologische Perspektive und rhetorische Absicht der Offb können jedoch nur dann zu Tage treten, wenn die rhetorische Situation, die die johanneische Visionswelt bedingt hat, so rekonstruiert wird, dass die imperiale Symbolwelt der Offb als »treffende« Antwort auf ihre historisch-rhetorische Situation verstanden werden kann. Doch darf nicht übersehen werden, dass Anti- oder Gegensprache auch die Sprache und das Weltbild, das sie denunziert, immer wieder neu einschreibt. Eine solche historische Verortung der rhetorischen Macht der Offb bedeutet daher nicht, dass ihre Symbolsprache und ihre theologische Visionswelt heute unkritisch übernommen werden könnten. Als partielle theologische Antwort in einer imperialen sozio-historischen Situation verlangt die rhetorisch-symbolische Sprache der Offb vielmehr nach kritischer Beurteilung und theo-ethischer Bewertung in unserer heutigen rhetorischen Situation. Solch eine kritisch-ideologische Bewertung ist gerade deshalb notwendig, weil die Symbolwelt der Johannesapokalypse nicht nur ein theo-ethisches Modell ihrer eigenen sozio-politischen Welt, sondern auch ein theo-ethisches Modell für christlichsozio-politisches Handeln heute ist. Die Sprache und die Metaphern, die wir gebrauchen, bestimmen die Wahrnehmung der Welt, in der wir leben. Dadurch, dass die Offb G*ttes Herrlichkeit und Macht mit der Herrlichkeit und Macht des römischen Kaisers vergleicht und Christus als »göttlichen Krieger« und »König der Könige« darstellt, Elisabeth Schüssler Fiorenza ist eine international bekannte Bibelwissenschaftlerin und feministische Theologin. Sie lehrt als Krister Stendahl Professorin an der Harvard Universität und ist bekannt durch zahlreiche Veröffentlichungen zu feministischer Exegese, Hermeneutik und Theologie. Ihr neuestes Buch ist The Power of the Word: Scripture and the Rhetoric of Empire. Elisabeth Schüssler Fiorenza 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 15 Zum Thema 16 ZNT 22 (12. Jg. 2008) ist sie in Gefahr, göttliche Macht als »Macht über«, als »Herr-schaftsmacht« im Sinne des römischen Imperialismus zu verstehen. Obwohl Johannes diese Herr-schaftssprache und Bilder zu verändern suchte, ist es zweifelhaft, ob ihm dies gelungen ist. Bilder des Nährens und des Mitfühlens G*ttes, wie Offb 7,16f. und 21,3f., könnten als Korrektiv dienen. Doch sie sind nicht stark genug, um die Herr-schaftssprache und Symbolik der Offb über G*tt und Christus grundlegend zu verändern. Da die Offb nicht der einzige biblische Text ist, der das Bild G*ttes als das eines allmächtigen königlichkaiserlichen Herrschers zeichnet und dadurch Militarismus und Herr-schaft theologisch immer wieder als göttliche Herr-schaft neu einschreibt, ist es notwendig, die imperiale Anti-Sprache 22 und herr-schaftliche G*tt-Rhetorik der Offb kritisch ins Bewusstsein zu rufen und durch Symbole und Bilder für G*tt zu ersetzen, die Freiheit, demokratische Verantwortung und Widerstandsfähigkeit gegen alle entmenschlichenden und unterdrückenden Mächte fördern können. Ferner führt die rhetorische Visionswelt der Offb die sozio-politischen Symbole zweier Städte (Babylon / Rom - Neues Jerusalem) 23 ein, um den Gegensatz zwischen zwei Welten, der Welt von Herr-schaft und Ausbeutung und der Welt der Befreiung und des Wohlseins, zu betonen. Die Mächte hinter diesen beiden Städten werden durch Tierfiguren dargestellt (zwei Tiere / das Lamm). Die beiden kontrastierenden Stadtsymbolisierungen wiederum werden als weiblich (Hure / Braut) vorgestellt, so dass ein Gegensatz zwischen zwei Gruppen durch miteinander verbundene Bilder konstruiert wird: Hure-Tiere-Babylon auf der einen und Braut-Lamm-Neues Jerusalem auf der anderen Seite. 24 III. Misogynismus und Antijudaismus? Doch sind m.E. die weiblichen Bilder sowohl für die unterdrückende Herr-schaft als auch für die eschatologische befreite Gemeinschaft traditionell und konventionell. 25 Das prophetische Bild der Ehe Jahwes mit Israel (vgl. Hos 2,19; Jes 54,5f.; Ez 16,8) könnte dem Mythos der heiligen Hochzeit abgeschaut sein, der ein typisches Element im Mythos des heiligen Kriegs ist. Johannes borgt auch für das grausige Bild der Hure prophetisches Repertoire (vgl. bes. Ez 16 und 23). Städte wurden herkömmlicherweise weiblich dargestellt, da in der Antike, wie auch heute noch, das grammatische Geschlecht von »Stadt« weiblich war. Darüber hinaus greift die theo-ethische Rhetorik der Johannesapokalypse auf das prophetische Beschimpfungsarsenal zurück, wenn sie von Götzendienst als »Unzucht« und als »Befleckung mit Frauen« spricht. Ein solcher Gebrauch von weiblichen Symbolen zur Darstellung des Gegensatzes zwischen der Welt Roms und der Welt G*ttes verformt die Vorstellungskraft von Leser- / HörerInnen der Offb. Statt politische Mächte und soziale Realitäten anzusprechen, verzeichnet eine solche Sprache nicht nur das, worum es der Offb geht, sondern konstruiert auch Weiblichkeit in den kulturell-dualistischen Begriffen von gut und übel, rein und unrein, göttlich und dämonisch, hilflos und machtvoll, Braut und Verführerin, Ehefrau und Hure. Statt »Hunger und Durst« nach einer gerechten Welt zu erwecken, fördert eine solche dualistische Weiblichkeitssymbolisation, wenn sie nicht adäquat übersetzt wird, Vorurteile und Ungerechtigkeiten gegen Frauen. Die Gefahr, eine solche weibliche Symbolisation wörtlich zu verstehen, besteht besonders dann, wenn LeserInnen die beißende Polemik des Johannes gegen eine führende Prophetin, die er als Jezebel beschimpft (2,20ff.), nicht genau überprüfen und stattdessen den Gegensatz zwischen der Macht Roms und der Macht G*ttes durch weibliche Sprachfiguren naturalisieren und festschreiben. 26 Dasselbe gilt für die Auseinandersetzung des wohl jüdischen Autors Johannes mit Teilen der jüdischen Gemeinde in Kleinasien. In den sogenannten sieben Sendschreiben zu Beginn des Buches 27 erwähnt Johannes zweimal jene, die »behaupten, sie seien JüdInnen, es aber nicht sind« und nennt sie »Synagoge des Satans«. Archäologische und literarische Quellen geben Hinweise darauf, dass in jeder der in der Offb erwähnten Städte die jüdische Gemeinde gut in die koloniale römische und die einheimischen kleinasiatischen Kulturen integriert war. Römische Protektion und Privilegien - wie z.B. das Recht, sich in Synagogen zum G*ttesdienst und zum Studium zu versammeln, jüdische Gesetze und Bräuche einzuhalten, Synagogen zu bauen und Spenden anzunehmen, aber auch die Befreiung vom Militärdienst und von der Teilnahme an der römischen Zivilreligion - waren in der hel- 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 16 Elisabeth Schüssler Fiorenza Die Johannesapokalypse in kritisch-feministischer Perspektive ZNT 22 (12. Jg. 2008) 17 lenistischen und in der römischen Zeit den jüdischen Gemeinden in Kleinasien garantiert worden. Der Konflikt zwischen der jüdischen Gemeinde und einigen »christlichen« d.h. »messianischen« JüdInnen entstand anscheinend in sozialen Situationen, in denen diese benachteiligt wurde. Das Sendschreiben an Smyrna (2,8-11) spricht von der Drangsal und Armut der Gemeinde im Zusammenhang mit der Verleumdung derer, die »sich JüdInnen nennen, es aber nicht sind«. Johannes lobt die Gemeinde von Philadelphia dafür, dass sie das Wort Christi, des Messias, bewahrt und den Namen dessen, der den Schlüssel Davids hat, nicht verleugnet hat. Smyrna und Philadelphia haben angeblich »wenig Macht« und erdulden Verleumdung, Armut, Drangsal, Gefangenschaft und Lebensbedrohung. Sie sind die einzigen Gemeinden, die nur Lob und keinen Tadel erhalten. Es ist schwer zu sagen, ob diejenigen, die »behaupten, sie seien JüdInnen, es aber nicht sind, als JüdInnen im Allgemeinen oder als JüdInnen, die »ChristInnen« sind, zu verstehen sind. Letzteres ist möglich, weil zur Zeit der Johannesapokalypse »ChristInnen« wie Johannes noch Mitglieder der jüdischen Gemeinde waren und wohl eine besondere Partei oder Gruppe innerhalb des Judentums, ähnlich den PharisäerInnen oder den EssenerInnen, bildeten. Jedenfalls kommt die hohe Wertschätzung des Judentums durch Johannes nicht nur darin zum Ausdruck, dass er traditionelle jüdische Sprache und Symbolik wählt, sondern auch darin, dass er seinen RivalInnen den Ehrentitel »JüdIn« abspricht und sie stattdessen als »Synagoge des Satans« verunglimpft. IV. Hermeneutische Reflexion Nach dem politischen Aufstieg des Christentums als Erbinstitution des römischen Reichs, änderte sich die rhetorische Situation der LeserInnen der Offb drastisch. Christliche Prediger- Innen, die heute die Anklage des Johannes gegen »das Judentum« als der »Synagoge Satans« wiederholen, tun dies in einer rhetorischen Situation, in der ChristInnen in der kulturell-politischen Mehrheit sind und JüdInnen oft zu einer verleumdeten Minderheit gehören. Die auf Selbsterhaltung und jüdische Identität zielende defensive Rhetorik der Offb wird dann in eine Sprache des Hasses verdreht. Durch die Jahrhunderte hindurch und heute noch hat Johannes’ Verteufelung seiner GlaubensgenossInnen Hass, Verunglimpfung und Verfolgung des Judentums im Christentum hervorgerufen. Besonders nach der Shoah darf eine solche biblisch-theologische Sprache nicht mehr toleriert und vor allem nicht als »Wort G*ttes« gepredigt werden. Das symbolische Universum und die prophetische Visionswelt der Offb ist fraglos gewalttätig. Ich habe hier besonders auf die Gewalt hingewiesen, die in der Offb vom Throne G*ttes aus gegen die ganze Menschheit im Allgemeinen und Isebel im Besonderen entfesselt wird. Bevor daher, so wie ich es getan habe, argumentiert werden kann, dass das grundlegende theologische Paradigma der Offb nicht der heilige Krieg und die Zerstörung, sondern Gerechtigkeit und Gericht, nicht Vorhersage bestimmter Ereignisse, sondern Ermahnung und Drohung sind, ist es notwendig, sich mit theologischer Ideologiekritik zu befassen. Die von der Offb im Namen G*ttes verkündete Gewalt muss kritisch beim Namen genannt und bewertet werden. Es ist besonders wichtig für diejenigen, die die Schrift als das Wort G*ttes verkünden, zu lernen, wie eine solch kritisch-theologische Beurteilung formuliert werden kann, wenn wir nicht weiterhin G*tt als einen G*tt verkünden wollen, die / der entmenschlichende Unterdrückung und rachsüchtige Zerstörung legitimiert. Meine Erläuterung hat versucht, das theologische Verständnis der Offb und ihrer symbolischen Visionswelt kritisch zu präsentieren und zu bewerten. Die Weise, wie Johannes nachdrücklich auf der g*ttlichen Autorschaft der Apokalypse besteht, hat unser theologisches Verständnis von Schriftautorität entscheidend beeinflusst. 28 Seine Schilderung des Offenbarungsprozesses forciert ein Verständnis der Hl. Schrift als das eindeutige »von Engeln vermittelte Wort G*ttes«, das nicht verändert werden darf. Das Resultat ist ein Mangel theologischen Denkens und spiritueller Fähigkeit, die Texte der Hl. Schrift kritisch zu beurteilen. »Was das pneuma - Geist - uns an unserem partikularen, historischen, sozio-politischen Ort in unsere rhetorische Situation heute hineinsagt, muss in einer theo-ethischen Praxis rhetorischer Analyse und Ideologiekritik bewertet werden....« 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 17 Zum Thema 18 ZNT 22 (12. Jg. 2008) Was das pneuma - Geist - uns an unserem partikularen, historischen, sozio-politischen Ort in unsere rhetorische Situation heute hineinsagt, muss in einer theo-ethischen Praxis rhetorischer Analyse und Ideologiekritik bewertet werden, die in den heutigen politischen Kämpfen gegen Herr-schaftsunterdrückung die Macht G-ttes für Gerechtigkeit und Wohlsein aufspüren kann. Wenn wir, wie ich es tue, glauben, dass G*tt ein G*tt der Gerechtigkeit und Liebe ist und dass G*tt pornographische Gewalt und beißende Entwürdigung nicht will, müssen sowohl das Selbstverständnis biblischer Wissenschaft als auch die theologischen Aussagen biblischer Texte immer wieder ideologiekritisch hinterfragt und beurteilt werden. l Anmerkungen 1 Eine kritisch-feministische Analyse darf nicht auf eine Gender / Geschlechter Analyse reduziert werden. Sie muss auch die Herrschaftsideologien von Rasse, Klasse und Imperialismus kritisch in den Blick nehmen, da Frauen nicht nur durch Gender / Geschlecht, sondern auch durch Rasse, Klasse und Imperium bestimmt werden. 2 Zur neueren umfassenden Diskussion der Interpretation der Offb vgl. A.W. Wainwright, Mysterious Apocalypse. Interpreting the Book of Revelation, Nashville 1993; vgl. auch den Reviewartikel von T. Holtz, Literatur zur Johannesapokalypse 1980-1996, Theologische Rundschau 62 (1997), 368-413. Holtz scheint jedoch den rhetorischen Paradigmenwechsel in der Apokalypseforschung nicht zu verstehen. Für eine allgemeinere englische Übersicht vgl. F.J. Murphy, The Book of Revelation, Currents in Research 2 (1994), 181-225. 3 Siehe bspw. P. Richard, Apocalypse: A People’s Commentary on the Book of Revelation, Maryknoll, N.Y. 1995; B.K. Blount, Can I get a Witness? Reading Revelation through African American Culture, Louisville, Ky. 2005; D.L. Barr, The Reality of Apocalypse: Rhetoric and Politics in the Book of Revelation, Atlanta, Ga. 2006; H.O. Maier, Apocalypse Recalled: The Book of Revelation after Christendom, Minneapolis 2002; S.D. Moore, Empire and Apocalypse: Postcolonialism and the New Testament, Sheffield 2006; D. Rhoads (Hg.), From Every People and Nation: The Book of Revelation in Intercultural Perspective, Minneapolis, Minn. 2005. 4 Vgl. M. Karrer, Die Johannesoffenbarung als Brief. Studien zu ihrem literarischen, historischen und theologischen Ort, Göttingen 1986. 5 Zum rhetorischen Verständnis der Offb vgl. meine Bücher: Das Buch der Offenbarung: Vision einer gerechten Welt, Berlin u.a. 1994 (orig. 1991, aus dem amerikanischen English v. M. Graffam Minkus) und Rhetoric and Ethic: The Politics of Biblical Studies, Minneapolis, Minn. 1999. 6 Für eine ausführliche Diskussion dieses Problems siehe mein Buch: The Power of the Word. Scripture and the Rhetoric of Empire, Minneapolis, Minn. 2007. 7 Um die Unangemessenheit unseres Sprechens über G*tt kenntlich zu machen, hatte ich in meinen Büchern »Discipleship of Equals« und »But She Said« die jüdisch orthodoxe Schreibweise des Namens G-ttes übernommen. Jedoch haben mich jüdische FeministInnen darauf hingewiesen, dass eine solche Schreibweise auf sie negativ wirkt, weil sie einen sehr konservativen, wenn nicht gar reaktionären theologischen Bezugsrahmen nahe legt. Daher begann ich das Wort G*tt in dieser Form zu schreiben, um so in sichtbarer Weise unser Denken und unser Sprechen über das G*ttliche zu destabilisieren. 8 Für eine ausführliche Studie der Angelologie der Apokalypse in ihrem sozialgeschichtlichen Kontext vgl. P. Carrell, Jesus and the Angels. Angelology and the Christology of the Apocalypse of John, Cambridge 1997. 9 Vgl. U.H.J. Körner, Weltangst und Weltende. Eine theologische Interpretation der Apokalyptik, Göttingen 1988; B.U. Schipper , Endzeitszenarien im Alten Orient. Die Anfänge apokalyptischen Denkens, in: ders. / G. Plasger (Hgg.), Apokalyptik und kein Ende? , Göttingen 2007, 11-30; K. Koch, Daniel und Henoch. Apokalyptik im antiken Judentum, ebd., 31-50. 10 Zur politischen Interpretation der Offb siehe meine Arbeiten: Priester für Gott: Studien zum Herrschafts- und Priestermotiv in der Apokalypse, Münster 1972; Religion und Politik in der Offenbarung des Johannes, in: H. Merklein / J. Lange (Hgg.), Biblische Randbemerkungen: Schülerfestschrift für Rudolf Schnackenburg zum 60. Geburtstag, Würzburg 1974, 261-72; Redemption as Liberation: Apoc 1: 5 ff. and 5: 9 ff., CBQ 36/ 2 (1974), 220-232 sowie The Book of Revelation: Justice and Judgment, Philadelphia, Pa. 1998 (2nd edition with a new epilogue; original edition, 1985). 11 B. Rossing, The Choice Between Two Cities: Whore, Bride, and Empire in the Apocalypse, Harrisburg, Pa. 1999. 12 L.L. Thompson, The Book of Revelation. Apocalypse and Empire, New York / Oxford 1990, 185-195, argumentiert, dass die dualistische Rhetorik des Johannes nicht primär gegen Rom gerichtet sei, sondern »eine binäre Opposition und Grenzziehung - zur Unterscheidung von InsiderInnen und OutsiderInnen -« herzustellen suche. Sein Buch ist Teil eines entpolitisierenden Trends in der Apokalypseforschung, der weitverbreitete Akzeptanz gewonnen hat. Auf ähnliche Weise lehnt S.L. Cook, Prophecy and Apocalypticism. The Postexilic Social Setting, Minneapolis 1995, die besonders von O. Plöger und P. Hanson vertretene »Konventikel-Annahme« ab, die postuliert, dass apokalyptische Schriften von den VerliererInnen politischer Machtkämpfe stammen und argumentiert dagegen, dass apokalyptische Texte »keine Produkte entfremdeter, marginalisierter oder gar relativ ausgebeuteter Gruppen sind« (2). Dieser Trend zur Entpolitisierung in der Apokalypseforschung muss im Licht des konservativen politischen, fundamentalistischen Gebrauchs der Apokalypse im Besonderen und der apokalyptischen Symbolisierung im Allgemeinen problematisiert und kritisch diskutiert werden. 13 Vgl. J.N. Kraybill, Imperial Cult and Commerce in John's Apocalypse, Sheffield 1996. 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 18 Elisabeth Schüssler Fiorenza Die Johannesapokalypse in kritisch-feministischer Perspektive ZNT 22 (12. Jg. 2008) 19 14 Ich schreibe Herr-schaft mit Bindestrich, um zu markieren, dass Unterdrückungsmacht von Herren ausgeübt wird, was immer noch in der deutschen Wortform zum Ausdruck kommt. 15 Vgl. D. Aune, The Influence of Roman Imperial Court Ceremonial on the Apocalypse of John, Biblical Research 28 (1983), 5-26. 16 D. Barr weist durchgängig auf den oralen und narrativen Charakter des Buches hin. Vgl. D. Barr, Tales of the End, Santa Rosa 1998. 17 H. Giesen, Das Römische Reich im Spiegel der Johannes-Apokalypse, ANRW II/ 26 (1996), 2501-2614; H.J. Klauck, Das Sendschreiben nach Pergamon und der Kaiserkult in der Johannesoffenbarung, Bib. 73 (1992), 153-182; S.J. Friesen, Imperial Cults and the Apocalypse of John: Reading Revelation in the Ruins, Oxford 2001. 18 Vgl. S.R.F. Price, Rituals and Power: the Roman Imperial Cult in Asia Minor, Cambridge 1984; M. Clauss, Kaiser und Gott. Herrscherkult im römischen Reich, Stuttgart / Leipzig 1999. 19 E. Schüssler Fiorenza, The First Letter of Peter, in: F.F. Segovia / R.S. Sugirtharajah (Hgg.), A Postcolonial Commentary on the New Testament Writings, London / New York 2007, 380-403. 20 H. Omerzu, Das Imperium schlägt zurück. Die Apologetik der Apostelgeschichte auf dem Prüfstand, ZNT 18 (2006), 26-36. 21 Diese Datierung der Offb ist vorherrschend. Für eine Frühdatierung argumentieren jedoch z.B. K. Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen 1995, 616ff.; J.C. Wilson, The Problem of the Domitianic Date of Revelation, NTS 39 (1993), 587-605. 22 Anknüpfend an M.A. Halliday, Language as Social Semiotic. The Social Interpretation of Language and Meaning, London 1978, definiert J.E. Hurtgen, Anti- Language in the Apocalypse of John, Lewiston 1994, 50f. Anti- oder Gegen-Sprache folgendermaßen: »Anti- Sprache ist die Sprache des sozialen Widerstands. Sie ist eine Sprache wie jede andere Sprache, die dazu dient, die sozialen Strukturen auszudrücken und aufrechtzuerhalten. ... Gruppen, die sich auf die äußeren Ränder der Gesellschaft verwiesen sehen (die Apokalypse des Johannes passt hierhin), bietet Anti-Sprache eine Form des Protests gegen die Standardgesellschaft, der sie oppositionell gegenüberstehen, an.« Nach Halliday (165f.) ist Anti-Sprache bestimmt durch Re-Lexikalisierung, d.h. neue Wörter für alte, und Über-Lexikalisierung, d.h. mehrfache Wörter für dasselbe Konzept. Beides ist charakteristisch für die Sprache der Johannesapokalypse. 23 Zu Offb 17-18 siehe B. Rossing, The Choice. J. Økland, Why Can’t The Heavenly Miss Jerusalem Just Shut Up? , in: C. Vander Stichele / T. Penner (Hgg.), Her Master’s Tools. Feminist and Postcolonial Engagements of Historical-Critical Discourse, Atlanta, Ga. 2005, 311-332; A.D. Callahan, Revelation 18: Notes on Effective History and the State of Colombia, in: S. Matthews / C. Briggs Kittredge / M. Johnson-DeBaufre (Hgg.), Walk in the Ways of Wisdom: Essays in Honor of Elisabeth Schüssler Fiorenza, Harrisburg, PA 2003, 269-85; C.J. Martin, Polishing the Unclouded Mirror. A Womanist Reading of Revelation 18: 13, in: From Every People and Nation, 82-109: 86; K. Wengst, Babylon the Great and the New Jerusalem. The Visionary View of Political Reality in the Revelation of John, in: H. Graf Reventlow / Y. Hoffman / B. Uffenheimer, Politics and Theopolitics in the Bible and Postbiblical Literature, Sheffield 1994, 189-202; J.K. Kim, Uncovering Her Wickedness. An Inter(con)textual Reading of Revelation 17 from a Postcolonial Feminist Perspective, JSNT 73 (1999), 61-81. 24 Vgl. bes. das Werk von T. Pippin, Death and Desire: The Rhetoric of Gender in the Apocalypse of John (Literary Currents in Biblical Interpretation), Louisville 1992; dies., The Heroine and the Whore. Fantasy and the Female in the Apocalypse of John, Semeia 60 (1992), 69; dies., The Revelation to John, in: E. Schüssler Fiorenza (Hg.), Searching the Scriptures, New York 1994, 109- 130 (vol. 2) sowie dies., Eros and the End. Reading for Gender in the Apocalypse of John, Semeia 59 (1992); 193-210. Vgl. auch A. Yarbro Collins, Feminine Symbolism in the Book of Revelation, Biblical Interpretation 1 (1993), 20-33. C. Vander Stichele, Just A Whore: The Annihilation of Babylon According to Revelation 17: 16, The internet journal lectio difficilior 1 (2000), 1-13. 25 Wie die femininen Bilder der Offb zu verstehen sind, wird feministisch heiß diskutiert. Siehe meinen Artikel: Babylon the Great. A Rhetorical-Political Reading of Revelation 17-18, in: D.L. Barr (Hg.), The Reality of Apocalypse. Rhetoric and Politics in the Book of Revelation, Atlanta 2006, 243-269. 26 Vgl. auch mein Kapitel: The Rhetoricality of Apocalypse and the Politics of Interpretation, in: The Book of Revelation. Judgment and Justice, Philadelphia 1985 (2nd ed. with a new epilogue, 1998), 205-236. 27 Vgl. C.J. Hemer, The Letters to the Seven Churches of Asia in Their Local Setting, Sheffield 1986. 28 Siehe mein Kapitel: Das Wort G*ttes? Die Apokalypse feministisch-theologisch lesen, in: E. Schüssler Fiorenza, Grenzen überschreiten: Der theoretische Anspruch feministischer Theologie, Münster 2 2007, 216-235. 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 19 20 ZNT 22 (12. Jg. 2008) 1. Die Zeit, als Augustus Kaiser war … Die Zeit, als Augustus Kaiser war, war für Juden und Römer eine besondere Zeit. Es ist viel geschrieben worden über die apokalyptischen Naherwartungen und die damit verbundenen Hoffnungen vieler Juden auf die messianische Zeit, in der das Reich Israel wieder hergestellt würde als ein Friedensreich, wie es Jesaja so wunderbar beschrieb; ein Friedensreich, in dem Gerechtigkeit herrschen und das von Zion aus Heil für alle Völker bringen würde (vgl. 2,1-5; 9,1-6; 11,1-10). Nur selten wird darauf hingewiesen, dass diese Zeit auch für die Römer eine besonders qualifizierte Zeit war, und wenn vom saeculum aureum, dem goldenen Zeitalter, das Augustus 17. v.Chr. ausrief, die Rede ist, dann wird dies im bibelwissenschaftlichen Diskurs zumeist allein als politische Propaganda eingeschätzt, die Augustus zur Durchsetzung seiner ureigensten Interessen benutzte. Innerhalb der Altertumswissenschaft wird das Imperium Romanum recht unterschiedlich bewertet. Nicht selten gelten die Sympathien der Republik, während schon Julius Cäsar und dann in Fortsetzung Octavian die demokratischen Strukturen der res publica aufgrund ihres eigensüchtigen Machthungers zerschlagen und an die Stelle des guten alten, zumindest ansatzweise demokratischen Roms eine zunächst noch mit republikanischen Feigenblättern getarnte Monarchie aufgebaut hätten, die nur noch wenig mit der Sache des Volkes zu tun hatte. Im Hintergrund dieser Bewertung steht wohl auch die eigene demokratische Überzeugung westlicher Staatsbürger, denen die res publica zumindest ihrer Idee nach entschieden näher ist, als das römische Kaisertum. Besonders augenfällig ist es, dass die große Mehrheit der bibel- und altertumswissenschaftlichen Kritiker der römischen Kaiserzeit sich darin treffen, den religiösen Überzeugungen, die mit dem 17. v.Chr. proklamierten goldenen Zeitalter einhergingen, entweder kaum Beachtung zu schenken, oder aber die Religion der Römer und insbesondere die des Augustus allein als politisches Machtkalkül wahrzunehmen. Michael Mann wandte demgegenüber ein, dass der enorme politische Erfolg des Imperium Romanum nicht monokausal mit der unterdrückenden Macht militärischer Gewalt zu erklären sei. Er zeigt vielmehr das komplexe Ineinander von militärischer, wirtschaftlicher, politischer und ideologischer Macht auf und kommt bezüglich des Imperium Romanum zu einer differenzierten Neubewertung, die die militärische Machtausübung des Römischen Reiches nicht verharmlost, zugleich aber auf ihre alle Bevölkerungsteilen zu Gute kommenden Erfolge in der Institutionalisierung von rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen hinweist, wovon etwa der enorme Ertragsquotient 1 der Landwirtschaft und die im ganzen Römischen Reich wachsenden Bevölkerungszahlen 2 zeugen. Sowohl der landwirtschaftliche Ertragsquotient, als auch die Bevölkerungszahlen gehen nach Mann mit dem Ende des Römischen Reiches zurück. »Angesichts dieser beträchtlichen Aktivposten ist es falsch, das Römische Reich, wie einige Klassizisten dies tun, schlicht und einfach als ›ausbeuterisch‹ zu bezeichnen; es ist falsch, ganz gleich, ob darunter Ausbeutung einer Klasse durch eine andere Klasse oder Ausbeutung der Landregionen durch die Stadt verstanden wird. Es gab Ausbeutung, daran kann kein Zweifel bestehen, aber das […] System der Zwangskooperation profitierte auch von ihr. Worin dieser Profit bestand? Wie die dünnen Bande aussahen, die die Ausbeutung und ihr Nutzen zwischen den bäuerlichen Produzenten und der weiteren Welt knüpften, jene Bande, die so viele Menschen in so dichten Konzentrationen über ein so weites Gebiet verteilt oberhalb des Existenzminimums leben ließen? Es gab sie in zweierlei Form: einmal als horizontale, ›freiwillig‹ eingegangene Verknüpfungen in der Form des Austauschs und Handels von Gütern und zum andern als vertikale, unfreiwillige Zwangsver- Zum Thema Stefan Alkier Leben in qualifizierter Zeit Die präsentische Eschatologie des Evangeliums vom römischen Novum Saeculum und die apokalyptische Eschatologie des Evangeliums vom auferweckten Gekreuzigten 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 20 Stefan Alkier Leben in qualifizierter Zeit ZNT 22 (12. Jg. 2008) 21 knüpfung in Form der Abpressung von Pachten und Steuern.« 3 Herfried Münkler hat mittlerweile auf überzeugende Art und Weise aus politologischer Sicht die sozialwissenschaftliche Analyse der römischen Machtstrukturen Manns unterstützt und bei aller angebrachten Kritik die politische Leistungsfähigkeit des Römischen Imperialismus als Konflikte reduzierende Ordnungsmacht hervorgehoben. 4 Ich möchte nun im Folgenden auf einige religiöse Überzeugungen hinweisen, die zur Ausrufung des goldenen Zeitalters im Jahr 17 v.Chr. geführt haben und die weit über Rom hinaus auch in den Provinzen auf positive Resonanz stießen. Dabei teile ich die Grundthese Manns, dass jede Machtanalyse auf vier Hauptquellen der Macht zu achten hat, nämlich ökonomische, militärische, politische und ideologische Ressourcen. Die religiösen Überzeugungen gehören zu den ideologischen Ressourcen in dem Sinne, dass es sich bei Ideologien um Weltdeutungssysteme handelt. Der Begriff des Ideologischen ist hier also nicht pejorativ, sondern deskriptiv aufzufassen. Die Weltdeutung des antiken Judentums oder die des Frühen Christentums ist nicht weniger ideologisch als die der Römer, sondern ihre Sicht auf Gott und die Welt bietet nicht mehr, aber auch nicht weniger an als eine andere Weltdeutung. Worin sich die römische von der frühchristlichen Weltdeutung unterscheidet, soll hier skizzenhaft an der je verschiedenen Art und Weise aufgezeigt werden, wie sich das Leben in qualifizierter Zeit aus der römischen Sicht der frühen Kaiserzeit von derjenigen des Frühen Christentums unterscheidet . 2. Octavian bringt Rom den inneren Frieden Als Gaius Octavius am 23. September 63 v.Chr. in Rom geboren wurde, hatte sein Vater »den Sprung auf die Bühne der stadtrömischen Politik« 5 soeben geschafft. Als Quaestor wurde er 70 v.Chr. Mitglied des Senats auf Lebenszeit. Von besonderem Einfluss, der den außergewöhnlichen Lebensweg des späteren Augustus bereits hätte vorzeichnen können, war das Elternhaus Octavians aber nicht. Nach dem Tod des Vaters im Jahr 59. v.Chr. heiratete die Mutter im Jahr 56 v.Chr. Lucius Marcius Phillipus, ebenfalls ein Angehöriger der Nobilität, aber auch sein politischer Einfluss kann mit Blick auf die Karriere des Octavius vernachlässigt werden. Im Jahr 63 v.Chr. deutete nichts daraufhin, dass Octavius einst zum Augustus, dem göttlichen Friedensbringer und Neugründer Roms werden würde. Im Geburtsjahr Octavians wurde sein Großonkel Cäsar zum pontifex maximus, also zum höchsten Priester Roms gewählt. Pompeius gab nach dem Krieg gegen Mithridates Kleinasien eine neue Ordnung und errichtete die Provinzen Cilicia und Syria. In diesem Zusammenhang zog er 63 v.Chr. mit seinen Truppen in Jerusalem ein und gliederte Judäa im Zuge seiner Neuordnung des Ostens als Vasallenstaat in das Römische Reich ein. Cicero deckte im selben Jahr in seinem Konsulat die Catilinische Verschwörung in Rom auf, die erneut den inneren Frieden Roms aufs Schwerste belastete. Seit dem Bürgerkrieg und der darauf folgenden Diktatur P. Cornelius Sullas (82-81 v.Chr.) stand den außenpolitischen Erfolgen die voranschreitende innere Zerrüttung Roms gegenüber. Pompeius, Caesar und Crassus verabredeten im Jahr 60 v.Chr. das 1. Triumvirat, das jedoch die komplexe Konfliktlage nicht zu lösen vermochte. Die verschiedenen Interessen und politischen Optionen der Triumvirn wurden immer offen- Prof. Dr. Stefan Alkier, Jahrgang 1961, Studium der Evangelischen Theologie in Münster, Bonn und Hamburg. Promotion 1993 in Bonn, Habilitation 1999 in Hamburg. 1993-1999 Wiss. Assistent für Neues Testament in Hamburg. Von 2000-2001 Vertretungsprofessur für Bibelwissenschaften an der Universität Gesamthochschule Kassel. Seit 2001 Professor für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche an der Goethe- Universität / Frankfurt. Weitere Informationen unter: www.evtheol.uni-frankfurt.de. Stefan Alkier 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 03 Uhr Seite 21 Zum Thema 22 ZNT 22 (12. Jg. 2008) sichtlicher und führten schließlich 49 v.Chr. durch Caesars Überschreitung des Rubikon erneut in einen blutigen Bürgerkrieg, den Caesar für sich entschied. Bis zu seiner Ermordung durch eine senatorische Gruppe, die Cäsars Diktatur ein Ende bereiten wollten, um den Senat wieder zu stärken, konnte Cäsar seine Machtposition ausbauen und festigen. Um so chaotischer waren die Zustände nach Cäsars Ermordung am 15. März 44 v.Chr. Die Mörder Cäsars wurden zunächst nicht zur Rechenschaft gezogen. Es war unklar, ob sie als Verteidiger der res publica einen Tyrannen gestürzt oder als Staatsfeinde Hochverrat begangen hatten, und diese nicht vermittelbare Einschätzung mündete in einen weiteren blutigen Bürgerkrieg, nachdem M. Antonius, M. Lepidus und der von Cäsar adoptierte und zur Überraschung der gesamten römischen Öffentlichkeit zum Haupterben Cäsars eingesetzte gerade erst einmal 20 jährige Octavian im Oktober des Jahres 43 v.Chr. das zweite Triumvirat bildeten. Aber die Siege der Triumvirn über die Cäsarmörder M. Brutus und C. Cassius bei Philippi im Oktober 42 v.Chr. bedeuteten keineswegs das Ende der Gewalt. Wie schon das erste Triumvirat, so führten auch die unterschiedlichen Interessen und Machtansprüche der Triumvirn des zweiten Triumvirats das Imperium Romanum in eine tiefe Krise, die wieder zu einem Bürgerkrieg führte, den Octavian schließlich 31. v.Chr. in der Schlacht bei Actium gegen Antonius und Kleopatra für sich entscheiden konnte. Octavian war damit auf der Höhe seiner Macht angelangt. M. Lepidus wurde zwar pontifex maximus und blieb es auch bis zu seinem Tode, aber Einfluss hatte er nur wenig. An der Saecularfeier 17. v.Chr. war er nicht beteiligt. Octavians Macht basierte bis dahin wesentlich auf seinen Legionen, die er als Haupterbe Julius Cäsars mit eigenen Geldmitteln unterhalten konnte. Diese militärische und wirtschaftliche Basis erweiterte sich nach dem Sieg gegen Antonius und Kleopatra nochmals erheblich, weil er das reiche Ägypten in eine ihm direkt unterstellte römische Provinz verwandelte und so über unermesslichen Reichtum verfügen konnte. Es hätte wohl niemanden überrascht, wenn Octavian sich nun auf der Basis seiner wirtschaftlichen und militärischen Macht zum König hätte ausrufen lassen und den Senat von Rom damit endgültig entmachtet hätte. Octavian aber wählte einen anderen Weg, mit dem er es vermochte, das von Bürgerkriegen zerrissene Rom innerlich zu befrieden und so zu restituieren. Er gibt das Imperium, also die ihm vom Senat verliehene Befehlsgewalt, an den Senat zurück und dieser dankte es ihm mit der Verleihung des Ehrentitels »Augustus«. In seinem Tatenbericht, den Res Gestae, beschreibt Augustus selbst die Bedeutung der beiden Staatsakte vom 13. und 16. Januar 27 v.Chr.: »Nachdem ich die Bürgerkriege ausgelöscht hatte, habe ich, im Besitz der (mir dafür) unter allgemeiner Zustimmung verliehenen umfassenden Vollmachten, in meinem sechsten und siebten Konsulat den Staat aus meiner Verfügungsgewalt in das freie Ermessen von Senat und Volk zurückgegeben. Für dieses mein Verdienst bin ich durch Senatsbeschluß Augustus genannt worden, und die Türpfosten meines Hauses wurden von Staatswegen mit Lorbeer umkleidet, ein Bürgerkranz über meine Haustür angebracht und ein goldener Schild in der Curia Iulia aufgestellt, den mir, wie durch die Inschrift des Schildes bezeugt ist, Senat und Volk aufgrund meiner Tapferkeit, Milde, Gerechtigkeit und Pflichtreue widmeten. Seit dieser Zeit überragte ich alle an Einfluß, Amtsgewalt aber besaß ich um nichts mehr als diejenigen, die meine Kollegen in den jeweiligen Ämtern gewesen sind.« 6 Damit - ob von Octavian mit politischem Kalkül intendiert oder nicht, kann wohl niemand mit Sicherheit sagen - verstetigte Augustus seine politische, wirtschaftliche und militärische Macht durch ihre Übersetzung in ideologische Macht. Augustus berichtet: »Mein Name wurde auf Beschluß des Senats in das Kultlied der Salier aufgenommen, und durch Gesetz wurde festegelegt, dass meine Person heilig und unantastbar ist.« 7 Der Senat ordnet Spiele zu Ehren des göttlichen Retters des Staates an und weiht auf dem Marsfeld den Altar der Pax Augusta. Augustus, der Erhabene wird als göttlicher Friedensbringer geehrt, dem die restitutio, »die Wiederherstellung der res publica - des guten verlorenen Zustandes des gesamten Staatswesens«, 8 gelungen ist. 3. Augustus, die sibyllinischen Orakel und der Beginn einer neuen Heilszeit Gaius Octavius begann seine öffentliche Lauf- 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 22 Stefan Alkier Leben in qualifizierter Zeit ZNT 22 (12. Jg. 2008) 23 bahn als Priester. Sein erstes öffentliches Amt wurde ihm bereits im Jugendalter von 15 Jahren übertragen. Er wurde Mitglied des 15 Männer Kollegiums, das im Auftrag des Senats über die sibyllinischen Bücher zu wachen hatte. »Nichts bewahren die Römer als so göttlichen und heiligen Besitz auf wie die sibyllinischen Sprüche. Sie bedienen sich ihrer, so oft der Senat es beschließt, wenn innerer Aufruhr im Staat ausbricht, wenn sie ein großes Unglück im Kriege trifft, oder wenn gewisse Wunder und andere große, unerklärliche Zeichen ihnen erscheinen, wie dies oft geschah.« 9 Die sibyllinischen Bücher der Römer waren zunächst einmal Anweisungen für den Kult angesichts jeglichen Unglücks, dass die römische Gesellschaft traf. Sie hatten weniger etwas mit Prophezeiungen als vielmehr mit Sühnehandlungen ex eventu zu tun. Dies änderte sich aber, nachdem 83 v.Chr. beim Brand des Kapitols die sibyllinischen Bücher verloren gingen. Der Senat schickte Gesandte aus, um aus anderen Überlieferungen und Gedächtnissen zumindest einiges wieder herzustellen. Doch auch diese neue Sammlung kam unter Verschluss, was jedoch nicht davor schützte, dass in den inneren politischen Wirren Roms immer wieder vermeintliche Sprüche der sibyllinischen Bücher als geheime Weissagungen zur Stützung politischer Interessen in Umlauf gebracht wurden. Daher mahnt Cicero: »Deshalb wollen wir die Sibylle unter Verschluß und verborgen halten, so dass - wie schon auch von unseren Vorfahren überliefert ist - die Bücher ohne Auftrag des Senats nicht einmal gelesen werden und ihre Geltung sich darauf beschränken soll, dass religiöse Bräuche eher abgeschafft als angenommen werden.« 10 Die fragmentarisch erhalten gebliebene Augustusbiographie des Nikolaos von Damaskus, eines einflussreichen Diplomaten am Hofe Königs Herodes des Großen, weiß von dem späteren Augustus zu erzählen, dass er - vergleichbar mit dem 12-jährigen Jesus im Jerusalemer Tempel, Lk 11,46-52 - die Befähigung des Protagonisten zu seiner späteren göttlichen Aufgabe bereits in seinem Knabenalter vorgezeichnet findet: »Als Octavian etwa neun Jahre alt war, erregte er bei den Römern kein geringes Aufsehen, da er in so jungen Jahren eine hohe Begabung erkennen ließ. Großen Beifall gab es bei den Erwachsenen, als er vor zahlreichem Publikum eine Rede hielt. [...] Seine Auffassungsgabe […] war schneller als die seiner Lehrer«. 11 Diese besonderen Fähigkeiten des jungen Octavian sind durchaus glaubwürdig, da seine enorme Auffassungsgabe von vielen antiken Darstellungen hervorgehoben wird, und es liegt der Schluss nahe, dass ihm diese auch die Sympathien seines Großonkels Julius Cäsar einbrachten. Octavian gehörte also seit seinem 15. Lebensjahr zu den Priestern, die die sibyllinischen Bücher verwalten und im Auftrag des Senats deuten durften. Nach und nach wurde er mit allen bedeutenden Priesterämtern betraut, zuletzt - 12 v.Chr. - nach dem Tod des Lepidus, endlich auch mit dem Amt des Pontifex Maximus. Mit seinen priesterlichen Kenntnissen trieb Octavian nach dem Tode seines Großonkels dessen Göttlichsprechung voran. Da er von Julius Cäsar adoptiert worden war, wurde er mit dessen Divinisierung offiziell Sohn eines Gottes. Der ihm 27 v.Chr. vom Senat verliehene Name »Augustus« war ebenfalls mehr als eine Auszeichnung eines verdienstvollen Menschen. Der Name Augustus hebt Octavian weiter in die Sphäre des Göttlichen. Als nach dem Sieg über Antonius und Kleopatra der äußere und innere Friede weitgehend und für alle spürbar in Form von wachsendem Wohlstand, Arbeit, Bauprogrammen und öffentlichen Spielen wahrnehmbar wurde, trieb Cäsar Augustus, der Gottessohn und Priester, auch die ideologische Bearbeitung der überstandenen Krisenzeit voran: »Beim Nachdenken über die Ursachen der Krise Roms hatte sich der Glaube verfestigt, dass die Vernachlässigung der religiösen Pflichten den Götterfrieden gestört habe und dadurch die Voraussetzung für das Gedeihen von Staat und Reich verloren gegangen sei. Deshalb begann er mit einer religiösen Restauration, die vernachlässigten Tempel wurden erneuert, uralte Rituale wieder zelebriert und Sorge für die Belebung oder Erhaltung priesterlicher Institutionen getragen.« 12 Augustus restaurierte aber nicht nur, vielmehr transformierte er die römische Staatstheologie. In ihren Mittelpunkt stellte er Apollo, der die tradi- 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 23 Zum Thema 24 ZNT 22 (12. Jg. 2008) tionelle Vormachtstellung Jupiters übernahm. Die enge Verbindung zwischen Augustus und Apollo wird schon daran ersichtlich, dass Augustus sein eigenes Wohnhaus tempelförmig bauen und direkt neben seinem Wohnbereich einen Tempel für Apollo errichten ließ. Die Sprache dieser Gebäude brachte deutlich zum Ausdruck, dass der Friedensbringer Augustus mit den Göttern und insbesondere mit Apollo im Bunde stand, ja diesen auf Erden repräsentierte. 13 Paul Zanker hat in seiner einflussreichen Monographie, Augustus und die Macht der Bilder, aufgezeigt, wie das »Programm der kulturellen Erneuerung« gerade auch durch neue Bildprogramme durch Gebäude, Statuen und Münzserien nachhaltig verbreitet wurde. 14 Den sinnfälligsten Ausdruck des neuen Lebensgefühls in einer durch Frieden, Recht, Wohlstand und Sicherheit qualifizierten Zeit, die die zerstörerischen Bürgerkriege hinter sich gelassen hat, gab dann die Saecularfeier vom 31.5.-3.6. des Jahres 17 v.Chr. Mit ihr wurde nicht weniger als ein neues Zeitalter eröffnet, und zwar das goldene Zeitalter, von dem bereits Vergil in seiner Aeneis schrieb: »Hierhin wende du jetzt deinen Blick, schau an dieses Volk hier, / Deine Römer: Caesar ist hier und des Jules gesamte / Nachkommenschaft, die einst aufsteigt zum Himmelsgewölbe. / Der aber hier ist der Held, der oft und oft dir verheißen, / Caesar Augustus, der Sproß des Göttlichen. Goldene Weltzeit / Bringt er wieder für Latiums Flur …« 15 . Vergil, geb. 70 v.Chr., hatte die verheerenden Bürgerkriege des 1. und 2. Triumvirats miterlebt und seine Ansage des mit dem Weltheiland Augustus kommenden goldenen Zeitalters als einer von Frieden, Recht und Wohlstand geprägten Heilszeit dürfte nicht nur seiner Sehnsucht Ausdruck verliehen haben. Als Horaz beauftragt wird, ein Lied für die Saecularfeier zu dichten, greift er eben auch auf Vergil zurück und besingt die neue Zeit als dauerhaften Frieden zwischen Götter und Menschen, der die alten Tugenden Roms neu zum Erblühen bringt: »Schon wagt Treue, Frieden und Ehre wieder, / Alte Zucht und Tugend, so lang verachtet, / Sich zurück und zeigt sich mit vollem Horne / Selige Fülle. / Ja, der Seher Phöbus […] / Trifft sein Blick voll Huld Palatin und Altar, / Wird Roms Macht und Latium sicher fördern / In ein neu Jahrhundert des Glücks und immer / Schönere Zeiten; / Und dem Aventine, der Fünfzehnmänner / Fleh´n bedenkt sie, leiht dem Gebet des Knaben / Freundlich Gehör auch. / Ja! So dünkt´s mit Jupiter allen Göttern. / Froh und sicher tragen wir heim die Hoffnung, die im Chor Apolls und Dianens Loblied / lernten zu singen.« (57-76). 16 Das Carmen Saeculare bekundet nicht nur die große Hoffnung auf die neue Heilszeit, sondern zeugt auch von der Transformation römischer Theologie durch Augustus, der eben Apoll und nicht mehr Jupiter in das Zentrum der Staatsreligion rückte. In dessen Tempel, der ja unmittelbar neben seinem eigenen tempelförmigen Wohnsitz neu errichtet worden war, ließ er 28 v.Chr. die sibyllinischen Bücher bringen und zu den 15 Männern, die sie lesen und auslegen durften und die Horaz hier benennt, gehörte Augustus selbst. Tatsächlich wurde die Saecularfeier nicht auf die Idee des Augustus und schon gar nicht als Einfall irgendeines gewöhnlichen Sterblichen, sondern auf einen Sibyllenspruch zurückgeführt, wovon auch das Carmen Saeculare selbst Zeugnis ablegt: »Da Sibyllenspruch es gebot, den Göttern / Die der sieben Hügel sich freuen, solle / Von erles´nen Mädchen und keuschen Knaben / Schallen ein Hymnus! «(5-9). Augustus, der seine öffentliche Laufbahn als mit der Deutung der sibyllinischen Bücher beauftragter Priester begann, diese Bücher dann im Apollotempel neben seinem eigenen Haus aufbewahren ließ, sich selbst mehr und mehr als irdischer Repräsentant Apollos darstellte, greift auf die römische Hoffnung auf ein goldenes Zeitalter zurück, das alles Schlechte hinter sich lässt und nun Frieden, Wohlstand, Recht und ein an den alten Tugenden orientiertes, im Einklang mit den Göttern befindliches frommes Leben ermöglicht. Ohne die machtpolitischen Dimensionen der römischen Staatsreligion und ihrer Ausformung und Transformation durch Cäsar Augustus zu vernachlässigen, besteht dennoch kein Anlass dazu, an der aufrichtigen Frömmigkeit des Priesters Augustus und seines Wunsches zu zweifeln, ein im Einklang mit den Göttern befindliches Rom zu bauen, dessen Macht für Recht, Frieden und Wohlstand für alle eingesetzt wird und allen Bürgern Roms im 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 24 Stefan Alkier Leben in qualifizierter Zeit ZNT 22 (12. Jg. 2008) 25 Gegenzug ein an den alten Tugenden, die mores maiorum, orientiertes Leben abzuverlangen. Die Saecularfeier des Jahres 17 v. Chr. wird in der religiösen Überzeugung gefeiert, dass die endgültige, die letztliche Heilszeit für das Imperium Romanum gekommen ist. Nicht die Hoffnung auf etwas noch zu Erwartendes, etwas noch Ausstehendes, Zukünftiges, sondern die Hoffnung darauf, dass diese präsentische Heilszeit nun ewig währt und Glückseligkeit für alle gewähren wird, die zum Imperium Romanum gehören oder sich ihm noch anschließen werden, prägt diese religiöse Deutung der Zeit. Die Ausrufung des neuen saeculum beendet zugleich die Schrecken und das Unrecht der nun vergangenen Zeit. Die dreitägige kultische Feier mit zahlreichen Opferhandlungen und Gebeten ist auch eine Sühnefeier, die die Verletzung des Rechts bearbeitet, damit das neue goldene Zeitalter mit Unschuld begonnen werden kann. Zugleich aber und mehr noch handelt es sich um die Gründungsfeier des neuen Roms, das im Einklang mit den Göttern und der Bewahrung des Rechts ewigen Bestand erbittet. Paul Zanker schildert eindrücklich die aufwendige und gut vorbereitete Inszenierung der Saecularfeier: »Das Fest selbst war eine Abfolge von großartigen bildhaften Inszenierungen, die an verschiedenen Heiligtümern und Kultplätzen aufgeführt wurden. […] In der ersten Nacht bekamen die Schicksalsgöttinnen 9 Schafe und 9 Ziegen. Augustus rezitierte dabei ein mit archaischen Wendungen durchsetztes Gebet für imperium und maiestas des Römervolkes, für Heil, Sieg und Gesundheit von Volk und Legionen, für die Mehrung des Reiches, für die Priesterschaften und endlich ausdrücklich auch für sich selbst, sein Haus und seine Familie. In den beiden folgenden Nächten wurden die Eileithyien als Geburtshelferinnen und die Terra Mater als Göttin der Fruchtbarkeit angerufen. Dieser opferte Augustus sodann eigenhändig eine trächtige Sau. Wer dabei war, vergaß die Szene nicht! Eine dieser archaischen Opfer-Schlachtszenen erschien dann auch auf einer der nächsten Münzserien«. 17 Dass eine gute Inszenierung nicht als Indiz einer mangelhaften religiösen und / oder politischen Aufrichtigkeit der daran Beteiligten bewertet werden sollte, bevor man nicht andere Argumente liefern kann, die den Zweifel begründen, sollte einer vorurteilsfreien religionsgeschichtlichen bzw. religionswissenschaftlichen Interpretation eine Selbstverständlichkeit sein. Die Saecularfeier qualifiziert in Kontinuität und Diskontinuität zur römischen Tradition die gegenwärtig erlebte Zeit als Heilszeit und führt damit die rechtliche, politische und wirtschaftliche Macht Roms in eine Sinn konstituierende religiöse Deutung über, die aufgrund des Ineinanders von Recht, Politik, Wirtschaft und Religion weit über die kleine Gruppe der Machthabenden und weit über die Grenzen Roms hinaus Plausibilität erreichen und deshalb erheblich zur Dauer des Römischen Imperiums beitragen konnte. Die Saecularfeier des Jahres 17 v.Chr. steht ganz im Zeichen einer präsentischen Eschatologie. Das Imperium Romanum unter der Herrschaft des Cäsars Augustus, des Gottessohnes und Priesters, ist nicht nur ein politisches, rechtliches und wirtschaftliches Gebilde, es verstand sich vielmehr nach all den Bürgerkriegswirren als das ersehnte und endlich von den Göttern gewährte und bewahrte Friedensreich, die Erfüllung Roms: eine neue Zeit, die Heilszeit hatte begonnen. 4. Das Evangelium von Augustus: Die präsentische Eschatologie der Kalenderreform in der Provinz Asia Diese Sicht auf die religiöse Qualität der neuen Zeit kann keineswegs nur als politische Propaganda des Augustus und derjenigen Römer verstanden werden, die ihn unterstützten. Vielmehr stieß das ausgerufene goldene Zeitalter auch in vielen Provinzen auf positive Resonanz. Gabriele Faßbeck weist auf den kulturellen Einfluss des römischen »novum saeculum« hinsichtlich der Berücksichtigung »eschatologischer Tempelbauentwürfe« hin mit Blick auf den Neubau des Jerusalemer Tempels durch Herodes den Großen, der wohl der einflussreichste Klientelkönig zur Zeit des Augustus war. Damit »gelang ihm der fugenlose Anschluß an die augustäische Religionspolitik mit ihrer Botschaft vom ›novum saeculum‹. Jüdische Eschatologie und römische Imperialideologie hätten sich auf das für Herodes Vorteilhafteste in seinem Tempelbau miteinander verschränkt und ihm Achtung von allen Seiten eingetragen.« 18 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 25 Zum Thema 26 ZNT 22 (12. Jg. 2008) Nun könnte man einwenden, dass Herodes Sonderstellung, dem Augustus seine amicitia, seine Freundschaft, hatte zuteil werden lassen, ihn kaum als Zeugen für die These geeignet erscheinen lässt, dass die Rede vom neuen Zeitalter nicht lediglich machtpolitische Propaganda der Herrschenden war, sondern Ausdruck religiöser Zeitdeutung, die von Menschen aller gesellschaftlichen Gruppen in Rom und auch in vielen Provinzen getragen wurde. Dass aber eine ganze Provinz aus eigenem Antrieb eine Kalenderreform durchführt, um Augustus für die neue Heilszeit zu danken und ihn zu ehren, sollte als Beleg für die breite Akzeptanz der präsentischen Eschatologie des goldenen Zeitalters auch außerhalb Roms gelten können. Jörg Rüpke hat in seiner Monographie Kalender und Öffentlichkeit. Die Geschichte der Repräsentation und religiösen Qualifikation von Zeit 19 auf die besondere Bedeutung von Kalendern und Kalenderreformen hingewiesen, da mit den Kalendern die Zeit gegliedert und mit Bedeutung versehen wird. Dies trifft in herausragender Weise für die Kalenderreform in der Provinz Asia im Jahre 9 v.Chr. zu. Bereits zwanzig Jahre zuvor bat der Provinziallandtag der Asia darum, einen Tempel für Octavian errichten zu dürfen. Dieser stimmte unter der Bedingung zu, dass in diesem Tempel zugleich der Dea Roma gehuldigt wird. In diesem Zusammenhang lobte der Provinziallandtag einen Wettbewerb aus, der vor die Aufgabe stellte, den Kaiser in unüberbietbarer Weise zu ehren. Den Wettbewerb gewann der Prokonsul Paullus Fabius Maximus mit seinem Vorschlag mit dem Geburtstag des Augustus, den 23. September, das Jahr beginnen zu lassen. Die Begründung dafür und die Inschriften, mit denen der diesbezügliche Beschluss veröffentlicht wurde, sind von erheblicher Bedeutung für den vorliegenden Zusammenhang. 20 Die Inschriften von Priene überliefern sowohl das Edikt des Prokonsuls als auch die beiden Dekrete der Provinzialversammlung. Im ersten Dekret heißt es: »Es erschien den Griechen Asiens gut, auf Antrag des Oberpriesters Apollonius […]: Da die unser Leben [auf göttliche Weise] ordnende Vorsehung, Eifer [an den Tag] legte und Großmut, das Leben mit dem Vollkommensten ausschmückt[e], indem sie Augustus hervorbrachte, den sie zum Wohl der Mensch[en] mit Tugend erfüllte, wodurch sie uns und denen nach uns [einen Retter] schickte, der Krieg beendete und [alles] ordnete; da [durch sein Erscheinen] [der] Kaiser die Hoffnungen [all] derer, die zuvor [gute Nachrichten vorweg]genommen hatten, überbot, weil er nicht nur die vor ihm lebend[en Wohltäter über-] traf, sondern auch für die künftig lebenden keine Hoffnung [auf Steigerung übrigließ]; da für die Welt der Anfang der durch ihn (veranlassten] guten Nachricht[en] [der Geburts]tag des Gottes war; da - nachdem (die Provinzialversammlung) Asiens in Smyrna […] den Beschluß gefasst hatte, demjenigen einen Kranz zuzuerkennen, dem die größten Ehrungen für den Gott einfielen, - Paullus Fabius Maximus […] das bis jetzt Unbekannte bei den Griechen zur Ehrung des Augustus fand: dass mit dessen Geburt für das Leben die Zeitrechnung beginnt: Deshalb haben zu gutem Gelingen und zum Heil die Griechen in Asien den Beschluß gefasst, dass der neue Jahresbeginn für all[e] Städte am neunten Tag vor den Kalenden des Oktober beginnt, welcher der Geburtstag des Augustus ist«. 21 Deutlicher noch als das erste Dekret zeigt das zweite die kosmologische Dimension des Augustus auf: »da die ewige und unsterbliche Natur des Alls das größte Gut aus überschäumender Freundlichkeit den Menschen schenkte, indem sie Caesar Augustus hervorbrachte, den / Z.5/ Vater für ein glückseliges Leben bei uns und Vater seiner einheimischen Göttin Roma, den einheimischen Zeus und Retter des Menschengeschlechts, dessen Wünsche in allem die Vorsehung nicht nur erfüllte, sondern übertraf; denn Land und Meer leben in Frieden, Städte glänzen in gesetzlicher Ordnung, / Z. 10/ Eintracht und Überfluß, es ist ein förderlicher Höhepunkt für jedes Gut, für gute Hoffnungen auf die Zukunft, für guten Mut für die Gegenwart der Menschen, die mit Festen, Standbildern, Opfern und Liedern … erfüllen …«. 22 Die Inschriften von Priene legen Zeugnis von der überregionalen Plausibilität der realisierten Eschatologie des augusteischen Zeitalters ab. Die Geburt des Augustus wird als gute Nachricht, als Evangelium, vom Neubeginn der Welt gefeiert. Nicht menschliche Leistung, sondern die göttliche Vorsehung hat es gut mit den Menschen gemeint und ihnen den Heiland, den Retter, den Soter, geschickt. Dieser hat den Krieg überwunden und einen kosmischen Frieden hergestellt, der 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 26 Stefan Alkier Leben in qualifizierter Zeit ZNT 22 (12. Jg. 2008) 27 nun Sicherheit und Wohlstand für alle in einem bisher nicht erreichten Ausmaß ermöglichte. Augustus wird als Gott und Retter des Menschengeschlechts gefeiert, die Heilszeit ist realisiert. Was noch zu hoffen bleibt, ist ihre immerwährende Dauer. Spätestens seit Michael Manns Untersuchungen zur Geschichte der Macht sollten die von ihm zusammengetragenen und ausgewerteten Daten davor bewahren, die positive Bewertung der Zeit des Augustus, die sich hier und auch in den Res Gestae des Augustus ausspricht, allein als politische Propaganda der ausbeutenden Klasse zu begreifen. Frieden, Sicherheit und Wohlstand waren für weite Bevölkerungsteile reale Lebensqualitätszuwächse nach den vielen gewaltsamen Auseinandersetzungen. Erst recht sollte man aber in der Bewertung der religiösen Deutungen dieser Zeit den Respekt vor den anderen auch denjenigen gegenüber walten lassen, die das novum saeculum als Geschenk der Götter, vermittelt durch den Gottessohn und Heiland Augustus wahrgenommen haben. »In diesen Documenten spricht sich die Religion aus, der die Tempel errichtet wurden, und niemand darf diese Religion in ihrer Aufrichtigkeit bezweifeln. […] Im Hintergrund steht die stoische pronoia, die der Welt den Heiland sendet, den man als Zeus patrios bezeichnet, weil er in Rom pater patriae heisst. Wenn vor seinem Erscheinen die Menschen in dem Chaos der Revolution nur wünschten, nicht geboren zu sein, so ist es jetzt eine Freude zu leben. Und mit der Freudenbotschaft der euangelia hat der Tag begonnen, wo der Welt der Heiland geboren ward. Dass diese Anschauung und dieser Ausdruck griechisch ist, dass grade Asien um Christi Geburt in diesem Glauben lebt, dürfte keine geringe Bedeutung haben.« 23 5. Grundzüge der apokalyptischen Eschatologie des Evangeliums vom auferweckten Gekreuzigten im Anschluss an das paulinische »Wort vom Kreuz« (1Kor 1,18) Auch wenn man wohl kaum eine direkte literaturgeschichtliche Linie von der Verwendung des Begriffs »Evangelium« in den Inschriften von Priene zu den neutestamentlichen Evangelien ziehen kann - obwohl es einige erwägenswerte Parallelen gibt - so kann religionsgeschichtlich nicht in Abrede gestellt werden, dass die Inschriften von Priene, die ja auch an anderen Orten in der Asia aufgestellt waren, zusammen mit dem Tatenbericht des Augustus, der nicht nur in Rom, sondern auch in Ankara, also in der Provinz Galatien errichtet wurde, zum enzyklopädischen Wissen im gesamten Imperium Romanum gehörte. Das ist um so bedeutender, als wohl die Mehrzahl der neutestamentlichen Schriften direkt mit Kleinasien in Verbindung stehen und viele Schriften sogar hier entstanden oder an dort ansässige Gemeinden gerichtet wurden. Das gilt insbesondere für Briefe des Apostel Paulus und für die johanneischen Schriften, die Johannesapokalypse eingerechnet. Darauf machte bereits Adolf von Harnack aufmerksam: »In der Tat - diese Inschrift ist für die Geschichte des ›Christentums‹ ungleich wichtiger als die meisten christlichen Inschriften. Sie lehrt uns aufs neue und eindrucksvoller als irgendein früheres Dokument, welchen Umfang wir dem Satze ›Als die Zeit erfüllt war‹ zu geben haben. Als der Apostel Paulus seine große Mission in Asien unternahm, da konnte man schon seit fast zwei Menschenaltern auf den Marktplätzen aller bedeutenden Städte Asiens diese Inschrift lesen von dem Weltheiland (d.h. Augustus), der erschienen sei, der die sehnsüchtigen Wünsche aller erfülle, der dem Menschengeschlecht den Frieden bringen, ja das Leben erst lebenswert mache«. 24 Paulus war von dieser Botschaft aber nicht überzeugt. Als Jude in Tarsos aufgewachsen und als junger Mann in Jerusalem der Treue zur Tora verpflichteten pharisäischen Richtung zugehörig, kann er nicht glauben, dass der römische Kaiser mehr ist, als ein von Gott mit Regierungsgewalt ausgestatteter Mensch. Der aufgrund der Verheißungen erwartete Retter wird einst der Gesandte Gottes, der Messias aus dem Hause Davids sein. Dass aber diese Zeit, die messianische Zeit nicht in weiter Ferne liegt, sondern bald kommen wird, davon dürfte Paulus wie viele seiner Zeitgenossen auch überzeugt gewesen sein. Dass er apokalyptische Erwartungen kennt und in ihren Vorstellungen zu Hause ist, zeigt allein schon die so genannte kleine Apokalypse aus 1Thess 4,13-18. Im Zentrum seiner pharisäischen Auffassung der To- 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 27 Zum Thema 28 ZNT 22 (12. Jg. 2008) ra dürfte die Apokalyptik aber kaum gestanden haben. Paulus zeichnet seine Herkunft viel stärker vom Eifer um die Erfüllung der Tora geprägt und weniger von apokalyptischen Erwartungen, die nicht zuletzt die Befreiung Israels durch den davidischen Messias im Blick hat und daher vergleichbar mit der präsentischen Eschatologie des römischen novum saeculum starke politische Akzente aufweist, allerdings im Gegensatz zur römischen präsentischen Eschatologie futurisch ausgerichtet ist. Der Messias ist noch nicht da, die Königsherrschaft Gottes wird erst aufgerichtet werden, wenn der Davidide gekommen ist, der Fremdherrschaft ein Ende setzt und das von Jesaja und den anderen Propheten vorhergesagte neue Israel errichten wird zum Wohle aller, die sich dann an Jerusalem orientieren werden. Auch die Reich Gottes Botschaft, die der in den Evangelien erinnerte Jesus von Nazareth verkündete, gehört in den Bereich der futurischen Eschatologie. Erst aus der Perspektive der Überzeugung von seiner Auferweckung durch den Gott Israels entsteht eine neue Eschatologie, die das Schema von präsentischer Eschatologie hier und futurischer Eschatologie da zerbricht. Paulus jedenfalls legt großen Wert darauf, dass er keine Veranlassung sah, seinen jüdischen Lebensweg zu verändern. Von den Angeboten des Kaiserkults ist bei ihm ebenso wenig Positives zu lesen, wie von irgendeiner anderen Götterverehrung. Sie gelten ihm allesamt als Götzen, als Nichtskönner im Vergleich zu dem Einen Gott, von dem das »Höre Israel« Kunde gibt. Dieser eine Gott Israels hat die Welt geschaffen, Israel erwählt, aus Ägypten gerettet und die Tora als Anweisung zum guten Leben geschenkt. Diejenigen, die den als Verbrecher hingerichteten Jesus von Nazareth als Gottessohn und Messias verehren, verfolgt er und plädiert für ihre Verstoßung aus der jüdischen Gemeinschaft. Doch dann geschieht etwas Unerwartetes, das alles anders werden lässt: Paulus nimmt den gekreuzigten Jesus als Lebenden wahr. Er löst die kognitive Dissonanz des Wissens um den Kreuzestod Jesu und das Erlebnis seiner Lebendigkeit durch die Sprache der Apokalyptik. Ihm wurde das Evangelium, die gute Nachricht von der durch Gottes Handeln geschaffenen Möglichkeit der Rettung aller Menschen vor dem kommenden gerechten Zorn Gottes, durch eine »Apokalypsis Jesu Christi«, Gal 1,12b, also durch die Entbergung des lebendigen Gottessohnes, zuteil. Gleichursprünglich begreift er dieses offenbarende Handeln Gottes an ihm als prophetische Beauftragung und in der Verwendung der Sprache der prophetischen Berufungsberichte teilt er den galatischen Gemeinden mit, dass er durch die Apokalypsis selbst zum Boten Jesu Christi geworden ist. Er zieht nicht nach Jerusalem, um sich das leere Grab zeigen zu lassen und sich auf diese Weise von der Wirklichkeit seiner Wahrnehmung zu überzeugen. Er ist so sicher, von Gott den auferweckten Gekreuzigten offenbart bekommen zu haben, dass er direkt von Damaskus aus zu predigen beginnt (vgl. Gal 1, 10-24). Die Auferweckung der Toten zählt zum festen Repertoire apokalyptischer Erwartungen. Sie wird am Tag des Herrn stattfinden, der noch aussteht. Die Toten werden erweckt, damit Gott Recht walten lassen kann. Er wird sein Gericht halten. Wenn die Toten auferweckt werden, dann ist das Ende dieser Welt gekommen und die neue Welt Gottes kann beginnen. Durch die Überzeugung von der Auferweckung des Gekreuzigten ändert sich dieses Nacheinander von dieser Welt und der kommenden. Paulus interpretiert die Auferweckung Jesu Christi nicht als Wiederbelebung eines Toten in der Jetztzeit, die den so wieder Belebten dann unter denselben Bedingungen seines vormaligen Lebens erneut in diese Welt schickt. Paulus begreift die Auferweckung Jesu als Anfang der eschatologischen Auferweckung der Toten. Die Ewigkeit Gottes ist damit in die Jetztzeit der Welt eingebrochen. Ewigkeit und Jetztzeit, Zukunft und Gegenwart sind nun gleichzeitig da, wenn auch nur für diejenigen sichtbar, die dem Evangelium vom auferweckten Gekreuzigten glauben können. Damit aber ist ein neues Denken der Zeit geboren, das man nicht mehr als präsentische oder futurische Eschatologie begreifen kann, sondern vielmehr als offenbarte Verschränkung der Zeiten, als apokalyptische Eschatologie. Diese apokalyptische Eschatologie des frühen Christentums ist nicht die messianische Zeit, von der einige Philosophen unserer Gegenwart sprechen in der Sehnsucht nach einer qualifizierten Zeit, die durch das Zwischen, durch die Differenz in einer anhaltenden Spannung bleibt und sich an diesem erregenden Zustand ergötzt und fast panische Angst vor ihrer Erfüllung hat, 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 28 Stefan Alkier Leben in qualifizierter Zeit ZNT 22 (12. Jg. 2008) 29 da sie damit ja gerade den Kitzel verlöre, den sie eigentlich sucht. 25 Die apokalyptische Eschatologie des frühen Christentums sieht vielmehr in der Auferweckung Jesu durch den Gott Israels, den gerechten und barmherzigen Schöpfergott, den Anfang der neuen Zeit bereits als realisiert an und erwartet im selben Augenblick voller Sehnsucht das zukünftige Reich Gottes. Diese apokalyptische Eschatologie sieht die Welt unter einer doppelten Perspektive. Sie nimmt ohne jede Beschönigung die Realität dieser Welt wahr und sieht zugleich in der Jesus-Christus-Geschichte den Himmel geöffnet (Offb 19,11a). Sie erwartet das eschatologische Gericht Gottes in der Zukunft, weiß aber schon von der endgültigen Rettung aller, die der Jesus-Christus- Geschichte vertrauen. Diese apokalyptische Eschatologie ist nicht ein Spezifikum paulinischer Theologie. Sie gehört zu den Grundzügen frühchristlicher Theologie, wie sie sich in den Schriften des Neuen Testaments darstellt. Die apokalyptische Eschatologie ist die entbergende Sicht des Endgültigen in der vorläufigen Jetztzeit. Dadurch schafft sie eine Distanz zu jedem gegenwärtigen Totalitätsanspruch, und sie fordert mit ihrem futurischen Blick das Gedächtnis für alle Opfer dieser Welt ein, die wie Jesus am Kreuz Opfer menschlicher Gewalt wurden. Während die präsentische Eschatologie des römischen novum saeculum die Opfer vergisst, ja bewusst vergessen möchte, damit sie den gegenwärtigen Frieden nicht stören, schreiben sich durch die Jesus-Christus-Geschichte alle Opfer dieser Welt in das Gedächtnis derjenigen ein, die in dem am Kreuz hingerichteten Jesus von Nazareth den Sohn Gottes sehen. Sie wissen, dass Gott sich nur noch als derjenige Denken lässt, der der Vater des am Kreuz Ermordeten ist und der diesen vom Tod erweckt hat und ihn als Ersten der Auferweckten in das ewige Leben Gottes hineingeholt hat. Die apokalyptische Eschatologie vertraut keiner präsentischen Eschatologie, weil sie nicht nur am kosmologischen Frieden der Gegenwart und der nahen Zukunft interessiert ist, sondern mehr, nämlich das Ganze im Blick hat. Ihr geht es um das Heil der ganzen Schöpfung Gottes. Deshalb ist ihr der apokalyptische Gerichtsgedanke unaufgebbar. Gott erweist seine Gerechtigkeit durch sein eschatologisches Gericht. Niemand wird vergessen. Kein Opfer, das nicht zur Sprache käme, kein Verbrechen, das nicht in das Licht des göttlichen Gerichts gestellt würde. Die apokalyptische Eschatologie vertraut auf den gerechten Gott und misstraut allen Heilsangeboten, die über ihre partiellen Erfolge das Leiden der Verlierer, der Benachteiligten, der Entrechteten und Gedemütigten verdrängen. Sie ist in der Lage, die Verdienste der Wirtschaft, der Rechtsprechung, der Politik anzuerkennen, aber sie verweigert ihnen die göttliche Verehrung. »Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist« (Mk 12,17b; vgl. Röm 13,6f.), muss zugleich als Anerkennung und Kritik verstanden werden. Die Verdienste des Kaisers sind durchaus zu würdigen und die Steuern sind durchaus zu zahlen, göttliche Verehrung aber kommt ihm nicht zu. Die apokalyptische Eschatologie hat nichts mit einer lebensfeindlichen, hinterwäldlerischen Schwärmerei zu tun. Sie ist vielmehr realistisch und weiß deshalb zu unterscheiden. Sie ist dabei getragen von der Gewissheit, dass das endgültige Heilsgeschehen sich bereits ereignet hat und deshalb die Schrecken dieser Welt als Vorletztes gelten müssen. Paulus drückt das so aus: »Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? Wie geschrieben steht: ›Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wir sind geachtet wie Schlachtschafe.‹ Aber in dem allen überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.« (Röm 8,35-39) 6. Grundzüge der apokalyptischen Eschatologie der Johannesapokalypse Was Paulus mit dem Syntagma »Wort vom Kreuz« (1Kor 1,18) zur Sprache bringt, bezeichnet die Jo- »Die apokalyptische Eschatologie ist die entbergende Sicht des Endgültigen in der vorläufigen Jetztzeit« 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 29 Zum Thema 30 ZNT 22 (12. Jg. 2008) hannesapokalypse gut 50 Jahre später als »Zeugnis Jesu Christi« (vgl. 1,2; 1,9). Dass sie sicherlich in viel stärkerem Maße als Paulus in Opposition nicht nur zu den religiösen Ansprüchen des Herrscherkultes, sondern auch zur Politik des Imperium Romanum steht, zeigt sich schon an den Sendschreiben in Kapitel 2 und 3 und an der massiven Kritik an Rom mittels der Metapher von der Hure Babylons in Kap. 12. Bei aller Verschiedenheit der theologischen Ansätze und Denkstile treffen sie sich doch darin, dass der neuen Grund legende eschatologische Ereigniszusammenhang von Tod, Auferweckung und Erhöhung Jesu Christi seine soteriologische Kraft durch das dieses Ereignis geistvoll bezeugende Wort entfaltet. Die dadurch zustande gekommene Beziehung zwischen dem ersten Zeugen und seinen Nachfolgern wird als Herrschaftsverhältnis verstanden, das aber nicht durch gewaltvolle Machtausübung geprägt wird, sondern von der Liebe, die der neue Herrscher zu den Seinen hat und sie sogar selbst »zu Königen und Priestern« (1,6) einsetzt. Der neue Herrscher liebt die Seinen und gibt ihnen Anteil an seiner Macht. Zur Zeit des Schreibens aber ist der auferweckte, gekreuzigte und erhöhte Zeuge Gottes noch nicht allen sichtbar geworden. Noch üben die »Könige der Erde« ihre Gewalt aus, aber bald wird er kommen: »Siehe, er kommt mit den Wolken und es werden ihn sehen alle Augen und alle, die ihn durchbohrt haben, und es werden wehklagen um seinetwillen alle Völker der Erde. Ja. Amen.« (1,7). Die Zeit des Schreibens ist Zwischenzeit. Der auferweckte Gekreuzigte ist schon Herrscher über die Könige der Erde, aber noch üben sie ihre Gewaltherrschaft aus. Die Jesus Christus Bezeugenden sind schon »Könige und Priester vor Gott« (1,6), aber noch erdulden sie die Gewalt der »Könige auf Erden« (1,5). Dass die Hoffnung auf das baldige Kommen Jesu Christi und damit die Hoffnung auf ein Ende des Unrechts und den Anfang unzerstörbaren neuen Lebens keine billige Vertröstung, sondern wirksamer Gottestrost ist, garantiert Gott, der Allherrscher selbst: »Ich bin das A und das O, spricht Gott der Herr, der da ist und der da war und der da kommt.« (1,8). Die Zeugenschaft des Johannes, die bereits als wesentlicher Identitätsmarker in 1,2 eingeführt wurde, wird in 1,9 konkretisiert. Johannes befindet sich in leidvoller Bedrängnis (gr. thlipsis) auf der Insel Patmos, »um des Wortes Gottes und des Zeugnisses Jesu willen.« Aber die Bedrängnis ist nicht das einzige Merkmal seiner Situation. Vielmehr ist er zugleich Mitgenosse am Reich Gottes und der »Geduld in Jesus«. Genau diese Selbstcharakterisierung schreibt er auch den angeschriebenen »Geschwistern« in Kleinasien zu. »Die Reihenfolge der Begriffe ist bemerkenswert. Die verfolgten, leidenden Christen haben schon Anteil an der Gottesherrschaft.« 26 Sie befinden sich demzufolge wie auch Johannes selbst in einer paradoxen Situation. Ihre gemeinschaftliche Anteilhabe am Reich Gottes bewahrt sie nicht vor leidvoller Bedrückung. Diese paradoxe Situation halten sie nur »in der Geduld Jesu« aus. Diese Geduld Jesu aber ist kaum etwas anderes als die hoffnungsvolle Beharrlichkeit, mit der Jesus seinen Weg der Zeugenschaft bis ans Kreuz gegangen ist, so, wie es etwa das Johannesevangelium erzählt. Wie Gott auf die Treue und Beharrlichkeit seines Zeugen Jesu mit dessen Auferweckung von den Toten geantwortet hat, so können auch Jesu Nachfolger in ihrer Zeugenschaft darauf getrost hoffen, von Gott neues Leben geschenkt zu bekommen. Die Auferweckung des Gekreuzigten ist ihnen Vorbild und hermeneutischer Schlüssel zur Deutung ihrer eigenen Bedrückungserfahrungen und zur Verarbeitung der dadurch verursachten Ängste. Welche Bedrückungen Johannes auf Patmos zu erleiden hat, wird nicht erzählt. Diese semantische Unterbestimmung ermöglicht die Identifikation mit jeglicher Art der Bedrückung, die dann ja auch auf je unterschiedliche Weise in den Sendschreiben ausdifferenziert wird. Aber auch alle anderen Leserinnen und Leser, die durch das Proömium in 1,1-3 mit in die Leserschaft der prophetischen Worte hinein genommen werden, können sich nun mit ihrer jeweiligen Bedrängniserfahrung in die Gemeinschaft der bedrängten Zeugen und damit ebenso in die Gemeinschaft derjenigen, die Anteil haben am Reich Gottes, integriert fühlen. Die einzelnen Schreiben lassen vollends das parakletische Anliegen der Johannesoffenbarung erkennen. Alle Gemeinden in Kleinasien stehen in bedrückender Anfechtung, die sie vom Weg der Zeugenschaft Christi abbringen könnte. In dieser Situation spricht durch die prophetischen Worte 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 30 Stefan Alkier Leben in qualifizierter Zeit ZNT 22 (12. Jg. 2008) 31 des Briefes der auferweckte und mit kosmischer Macht ausgestattete erhöhte Gekreuzigte mahnend und tröstend zugleich, um sie zu stärken. Der jeweiligen Selbstvorstellung des auferweckten und erhöhten Gekreuzigten in den einzelnen Briefen ist dessen Selbstvorstellung in der Vision des Johannes vorangestellt, die Johannes im einleitenden Brief allen angeschriebenen Gemeinden mitteilt in 1,17bf.: »Fürchte Dich nicht. Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige. Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle.« Kraft seiner Auferweckung von den Toten erhält der auferweckte Gekreuzigte Anteil am ewigen Leben Gottes und kann nun in abgewandelter Weise die Selbstprädikation Gottes als das A und das O in 1,8 auf sich selbst beziehen. Sein wesentlicher Identitätsmarker ist deshalb die Aussage »Ich war tot und siehe ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit«. Dabei wird das Totsein mit Hilfe des Aorists als in der Vergangenheit liegende abgeschlossene Handlung markiert. Jesus war tot, ganz tot, aber er blieb nicht in diesem Tod. Er wurde auf eine Weise lebendig, die ihn in der Durchbrechung der zeitlichen irdischen Ordnung als lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit ausweist. Er wurde also nicht lediglich innerhalb des Zeitstrahls irdischer Zeit wiederbelebt, um dann dementsprechend auch den Gesetzen der irdischen Zeit folgend wieder zu sterben, sondern er wurde mit einem Leben begabt, das von Ewigkeit zu Ewigkeit reicht. Dieses Leben aber ist allein das Leben Gottes, des Schöpfers, des Pantokrators, der sich in 1,8 vorgestellt hat. Jesus wurde auferweckt in das ewige Leben Gottes hinein und zugleich wurde er ausgestattet mit kosmischer Macht (vgl. 1,6). Richten sich die Briefe des auferweckten und erhöhten Gekreuzigten an die sieben Gemeinden zur Zeit der Abfassung der Johannesapokalypse, so betreten wir mit 4,1 vollends die Zukunft. Gegenwart und Zukunft sind aber keineswegs strikt voneinander abgetrennte Wirklichkeitsbereiche, sondern gemäß der apokalyptischen Eschatologie ineinander verschränkt. Das Buch der Visionen soll die Gemeinden in der Gegenwart des Schreibers Johannes und darüber hinaus alle Leserinnen und Leser in ihrer jeweiligen Gegenwart trösten und sie in ihrer durch die Zeugenschaft Christi erlittenen Bedrängnisse bestärken, die Anfechtungen zu überwinden, die zum Verlassen der Nachfolge des vorbildlichen Zeugen führen könnten. Weil die Zukunft den endgültigen Sieg über die Feinde Gottes und das ewige Leben für die Freunde Jesu Christi bringen wird, deshalb lohnt es sich, in der Gegenwart auszuharren. Im Wesentlichen wird Johannes in den Visionen auf vielfache Weise die endgültige Vernichtung der widergöttlichen Mächte durch das geschlachtete Lamm und das ewige Leben der Auferweckten in der goldenen Stadt gezeigt. Die Visionen sind also Nahrung im prophetischen Wort begründeter Hoffnung in der bedrückenden Gegenwart. Worauf die angeschriebenen Gemeinden hoffen dürfen, ist nicht etwa eine sofortige Beendigung ihrer bedrohten Situation: „Wenn jemand ins Gefängnis soll, dann wird er ins Gefängnis kommen; wenn jemand mit dem Schwert getötet werden soll, dann wird er mit dem Schwert getötet werden.“ (13,9). Die Johannesapokalypse malt das Unheil nicht schön. Sie vernebelt auch nicht die Gefahr, die von den Feinden Gottes ausgeht. Die Apokalypse des Johannes weiß um die Tränen, die von Unrecht und Gewalt verursacht werden. Sie ruft aber nicht zu Gegengewalt auf und begegnet dem Unrecht nicht mit neuem Unrecht. Sie vertraut vielmehr darauf, dass der Zorn Gottes und der Zorn des mit dem Gericht beauftragten auferweckten und erhöhten Gekreuzigten alles Unrecht und jede Gewalt vernichten wird (vgl. 6,17) und die, die sich mit dem »Blut des Lammes«, mit dem Kreuzestod des unschuldigen Opfers der Gewalt identifizieren und so zu seinen Zeugen werden, von ihm »zu den Quellen des lebendigen Wassers« geführt werden »und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen.« (7,17). Die Johannesapokalypse verdrängt die Gewalt dieser Welt nicht, aber sie überlässt die Gewalt dem gerechten göttlichen Zorn, weil sie sich am Zeugen Jesus Christus orientiert. Aus der durch die Nachfolge in der Zeugenschaft Christi resultierenden Gewissheit der Teilhabe am Reich Gottes wird die Hoffnung geschöpft, ewiges Leben nach dem erlittenen Tod »Die Apokalypse des Johannes weiß um die Tränen, die von Unrecht und Gewalt verursacht werden.« 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 31 Zum Thema 32 ZNT 22 (12. Jg. 2008) neu geschenkt zu bekommen. Dreh- und Angelpunkt dieser Wirklichkeitsdeutung ist die soteriologisch gedeutete Christologie und die damit verbundene apokalyptische Eschatologie, in deren Zentrum die bereits geschehene Auferweckung und Erhöhung des Gekreuzigten steht. Die Johannesapokalypse zeigt, dass die Auferweckung der Toten ganz an die Überzeugung der Auferweckung und Erhöhung Jesu Christi gebunden unabtrennbar mit der Hoffnung auf das Ende des Unrechts verwoben ist. Auf unbequeme und gerade deshalb unverdrängbare Weise bringt die Johannesapokalypse zum Ausdruck, dass mit der Rede von der Auferweckung des Gekreuzigten und der Auferweckung der Toten immer auch die Machtfrage und damit auch die Frage nach Gottes Gerechtigkeit gestellt ist. Welche Macht wirkt und bestimmt letztendlich das Geschick dieser Welt und der auf ihr und von ihr Lebenden? Die Antwort der Johannesapokalypse ist schockierend eindeutig. Es ist die Macht des allmächtigen Schöpfergottes, von dem auch die Heiligen Schriften Israels gültig erzählen. Die Johannesapokalypse schreckt nicht davor zurück, in der Konsequenz der theologischen Rede vom Schöpfergott als Allherrscher, letztendlich auch die destruktive Gewalt im Kosmos und damit eben auch auf Erden zumindest als von Gott für eine gewisse Zeit als geduldet zu verstehen. Wohl gemerkt: geduldet, nicht gewollt. Gott lässt seinen Geschöpfen die Wahl und in dieser gewährten Freiheit liegt der Grund der Möglichkeit und Wirklichkeit allen Unrechts und jeder Verfehlung des von Gott gewollten Lebens in der Solidarität der göttlichen Geschöpfe. Gott selbst ist daher in die Sünde verstrickt. Sein eschatologisches Gericht ist notwendig, um seinem Recht letztgültige und ewige Geltung zu verschaffen. Deshalb ist die eschatologische Auferweckung der Toten kein selbstloser Gnadenakt eines unbeteiligten Herrschers, sondern der Erweis der Theodizee, der Gerechtigkeit Gottes. Diesen Zusammenhang apokalyptischer Eschatologie macht die Johannesapokalypse so deutlich wie keine andere Schrift des Neuen Testaments und hält damit als unbequemes Buch im Kanon das christliche Denken wach. 7. Die präsentische Eschatologie des novum saeculum und die apokalyptische Eschatologie der Jesus-Christus- Geschichte - Ein kurzes Resümee Mit der präsentischen Eschatologie des römischen novum saeculum und der apokalyptischen Eschatologie des Evangeliums stehen sich zwei nicht vermittelbare Konzepte religiöser Zeitdeutung gegenüber. Erst ein religionsgeschichtlicher Blick auf die Begründung des römischen Evangeliums von Augustus, dem Retter des Menschengeschlechts, lässt die erfahrungsgesättigte Plausibilität der religiösen Dimension des novum saeculum in den Blick geraten. Es handelt sich um das Gefühl, in einer von den Göttern geschenkten Heilszeit zu leben, die durch das Leben und Wirken des Augustus zum Wohle der Menschheit gewährt wurde. Diese präsentische Eschatologie feiert Frieden und Wohlergehen für viele in der Jetztzeit und hofft auf einen ewig währenden Bestand dieses beglückenden Weltzustands. Einen Blick für die Opfer der Vergangenheit und für diejenigen, die nicht am Wohlergehen partizipieren und erst recht nicht für die Opfer machtpolitischer Auseinandersetzungen hat diese religiöse Weltdeutung nicht, weil sie keine das Ganze umgreifenden Visionen einer noch ausstehenden Zukunft kennt. Sie dankt für das realisierbare und realisierte Glück, Hoffnung auf Gerechtigkeit darüber hinaus hat sie nicht. Sie ist erfolgsorientiert und gerade darin liegt ihre Überzeugungskraft. Jeder kann die Macht des Augustus und den Wohlstand und Frieden, der durch ihn gekommen ist, sehen und ihm und den Göttern dafür danken. Die apokalyptische Eschatologie des Evangeliums vom auferweckten Gekreuzigten geht einen anderen Weg. In ihrem Zentrum steht nicht die gute Nachricht von den erfolgreichen guten Taten des mächtigsten und reichsten Mannes weit und breit, sondern der ungerechte Kreuzestod eines Zimmermanns aus Galiläa. Mit dessen Auferweckung durch den Gott Israels, den barmherzigen und gerechten Schöpfergott, beginne die endgültige, heilvolle Wirklichkeit der Schöpfung und allen Lebens (vgl. Röm 3,21). Das Evangelium vom »Welche Macht wirkt und bestimmt letztendlich das Geschick dieser Welt und der auf ihr und von ihr Lebenden? « 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 32 Stefan Alkier Leben in qualifizierter Zeit ZNT 22 (12. Jg. 2008) 33 auferweckten Gekreuzigten sieht schon jetzt alles Unrecht und alles Böse als überwunden an, auch wenn es noch sichtbar herrscht und Leid und Tränen verursacht. Es stiftet ein Gedächtnis für alle Opfer der Gewalt, weil sich am Kreuz Jesu Gott mit ihnen ein für allemal solidarisiert hat. Seine eigene Gerechtigkeit steht im Gedenken der Opfer auf dem Spiel und deswegen wird er sein Recht durchsetzen. Kein Unrecht wird vergessen, denn das hieße, die Opfer zu vergessen. Die kosmische Vision von der neuen Schöpfung, die mit der Auferweckung des Gekreuzigten inmitten dieser Weltzeit bereits begonnen hat, erlaubt den schonungslosen Blick auch in die Vergangenheit und auf die eigene Gegenwart. Wer sich aber schon jetzt durch den Geist der Jesus-Christus- Geschichte die Augen öffnen lässt, sieht den Himmel geöffnet. l Anmerkungen 1 M. Mann, Geschichte der Macht: Vom Römischen Reich bis zum Vorabend der Industrialisierung, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1991, 33. 2 Mann, Geschichte, 35f. 3 Mann, Geschichte, 36. 4 H. Münklers Monographie Imperien. Die Logik der Weltherrschaft - vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005, eröffnet mit einer differenzierten Neubewertung der politischen Leistungsfähigkeit und Grenzen von Imperien einen neuen Blick auf das Imperium Romanum, der auch trefflichere Einschätzungen der Konfliktlagen zwischen den frühen christlichen Gemeinden und ihren kulturellen, religiösen, politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen ermöglicht. Zur Einführung in die komplexe römische Religions- und Rechtsgeschichte sei auf J. Rüpke, Die Religion der Römer. Eine Einführung, München 2001, und auf U. Manthe, Geschichte des Römischen Rechts, München 2000, verwiesen. Während Rüpkes Darstellung das Verständnis römischer Frömmigkeit um ihrer selbst willen jenseits von christlicher Polemik erheblich fördert, führt das schmale Bändchen von Manthe die kulturelle Leistung der Gesetzgebung des Imperium Romanum vor Augen, auf deren Tradition auch unsere gegenwärtige westliche Kultur noch maßgeblich gründet. Eine theologische, religions- und kulturgeschichtliche Auseinandersetzung mit dem Imperium Romanum macht nur Sinn, wenn man bereit ist, sich auf das Andere, das Fremde des Untersuchungsgegenstandes und damit vor allem auf die Komplexität historischer Erkenntnis einzulassen. Der Respekt vor dem Anderen darf nicht auf den christlich-jüdischen Dialog beschränkt werden. Die interpretationsethischen Kriterien, die ich in meinem Beitrag, Fremdes Verstehen - Überlegungen auf dem Weg zu einer Ethik der Interpretation biblischer Schriften. Eine Antwort an Laurence L.Welborn, ZNT 11 (2003), 48-59, formuliert habe, gelten auch für das Imperium Romanum. Nur so wird sich schärfer zeigen lassen, wo die unvermittelbaren Differenzen der unterschiedlichen Weltsichten der verschiedenen Religionen und Kulturen bestehen. 5 K. Bringmann, Augustus, Gestalten der Antike, Darmstadt 2007, 17. 6 Augustus, Res Gestae 34, in: Augustus, Schriften, Reden und Aussprüche, hg., übers. u. komm. v. K. Bringmann u. D. Wiegandt (TzF 91), Darmstadt 2008, 260. 7 Augustus, Res Gestae 10. 8 M. Strothmann, Augustus - Vater des res publica. Zur Funktion der drei Begriffe restitutio - saeculum - pater patriae im augusteischen Prinzipat, Stuttgart 2000, 17. 9 Dionys von Halikarnass, Ant, 4,62 (5), zit. nach Sibyllinische Weissagungen, gr.-dt., auf d. Grundl. der Ausg. v. A. Kurfeß neu übers. u. hg. v. J.-D. Gauger (Sammlung Tusculum), Düsseldorf / Zürich 1998, 397. 10 Cicero, div. 2,112., zit. nach Sibyllinische Weissagungen, a.a.O., 396. 11 Nikolaos von Damaskus, Leben des Kaisers Augustus, hg., übers. u. komm. v. J. Malitz, (TzF 80), Darmstadt 2003, III,4.6 (S. 29) 12 Bringmann, Augustus, 116. 13 Vgl. M. Claus, Kaiser und Gott. Herrscherkult im römischen Reich, Stuttgart / Leipzig 1999, 62f. 14 Vgl. P. Zanker, Augustus und die Macht der Bilder, 3. Aufl., Sonderausg., München 1997. 15 Vergil, Aeneis, übers. v. J. Götte in Zusammenarb. m. M. Götte, Bibliothek der Anike, München 1990, 6. Buch, 788-794a., vgl. dazu auch die 4. Ekloge Vergils, insbesondere 5-9. 16 Horaz, Carmen Saeculare. 17 Zanker, Macht, 173. 18 G. Faßbeck, »Unermesslicher Aufwand und unübertreffliche Pracht« (bell 1,401). Von Nutzen und Frommen des Tempelbaus unter Herodes dem Großen, in: Stefan Alkier / J ürgen Zangenberg (Hgg.), Zeichen aus Text und Stein. Studien auf dem Weg zu einer Archäologie des Neuen Testaments (TANZ 42), Tübingen / Basel 2003, 222-249: 246. 19 RVV 40, Berlin / New York 1995 20 Vgl. dazu C. Ettl, Der »Anfang der Evangelien«. Die Kalenderinschrift von Priene und ihre Relevanz für die Geschichte des Begriffs euangelion. Mit einer Anmerkung zur Frage nach der Gattung der Logienquelle, in: S. Brandenburger / Th. Hieke (Hgg.), Wenn drei das gleiche sagen - Studien zu den ersten drei Evangelien, Münster 1998, 121-139.Th. Witulski, Kaiserkult in Kleinasien. Die Entwicklung der kultisch-religiösen Kaiserverehrung in der römischen Provinz Asia von Augustus bis Antonius Pius (NTOA 63), Göttingen / Fribourg 2007, 18-32. 21 Zitiert nach Ettl, Anfang, 131. Die eckigen Klammern mit drei Punkten zeigen meine Auslassungen aus der Inschrift an. Die Buchstaben in eckigen Klammern sind von Ettl übernommen. Sie zeigen Ergänzungen an bei schlecht oder nicht mehr lesbaren Stellen der Inschrift von Priene. Die runden Klammern sind ebenfalls von Ettl übernommen. 22 Zit. nach Ettl, Anfang, 134. 23 U. von Wilamowitz-Möllendorff, Die Einführung des asianischen Kalenders, in: Th. Mommsen / U. von Wilamowitz-Möllendorf, Die Einführung des asianischen Kalenders, MDAI.A 24 (1899), 275-293: 293. 24 A. von Harnack, Als die Zeit erfüllet war, in: ders., Reden und Aufsätze 1, 2. Aufl., Gießen 1906, 301-306: 306. 25 Vgl. dazu A. Gignac, Neue Wege der Auslegung. Die Paulus-Interpretation von Alain Badiou und Giorgio Agamben, ZNT 18 (2006), 15-25. Vgl. auch den Buchreport von Eckart Reinmuth in diesem Heft. 26 D. Pezzoli-Ogliati, Täuschung und Klarheit. Zur Wechselwirkung zwischen Vision und Geschichte in der Johannesoffenbarung (FRLANT 175), Göttingen 1997, 22. 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 33 »Alle Apokalyptik ist Phantasie, Wunschbild, nichtiger Traum.« 1 Weil »wir wissen, dass es im Kosmos kein Oben und kein Unten gibt«, 2 haben sich die geheimnisvollen Himmelsreisen, die Kämpfe im und die Zeichen am Himmel, die geheimen Offenbarungen, deren Bilder und Einsichten überholt. Weil ihre Autoren nicht mehr unser Weltbild teilen, können wir ihnen keinen theologischen Wert mehr beimessen. Sie können uns kein Gotteswort sagen, da ihre Wahrheit lediglich die Vertröstung der »Zukurzgekommenen der Geschichte« 3 ist. Falls diese Wertungen zutreffen, stellt sich die Frage, wie wir mit apokalyptischen Texten umgehen sollen, die kanonischen Status haben. Welche Bedeutung haben solche Texte für unsere Gegenwart? Um diese Frage zu beantworten, muss methodisch neu überlegt werden. Damit wird ein zweites Problemfeld betreten. Während die Aufmerksamkeit der exegetischen Forschung lange Zeit fast vollständig von dem gefesselt war, was der Autor mit seinem Text zum Ausdruck bringen wollte, 4 kommt nun dem Interpreten, seinen Voraussetzungen, seinen Interessen und schließlich auch seiner Mitarbeit am Text gesteigerte Beachtung zu. 5 Dies bedeutet gleichzeitig aber auch eine Abkehr von der Suche nach dem einen wahren bzw. richtigen Sinn eines Textes. Ein Text hat demnach nicht nur einen Sinn, sondern der Sinn eines Textes wird beim Lesen generiert. 6 Ist dies erkannt, wird die Rede von dem Sinn eines Textes, der gleichsam objektiv benennbar scheint, abgelöst und zugunsten von Begriffen wie semantisches Potential, Bedeutungsfeld, Sinneffekt oder Sinnhorizont aufgegeben. 7 Zwar hat auch schon die Alte und Mittelalterliche Kirche mit ihrer Lehre vom dreibzw. vierfachen Schriftsinn ein Bewusstsein dafür ausgebildet, dass ein Text mehrere Sinnebenen hat, doch war dies eingezeichnet in die Überzeugung, dass Gott sich auf diesen verschiedenen Ebenen verschiedenen Menschen mit unterschiedlichen Geistesgaben offenbart. Die neuere Forschung hingegen setzt mit ihrer Überzeugung des semantischen Feldes eines Textes nicht dogmatisch-theologisch, sondern sprachphilosophisch bzw. literaturwissenschaftlich an. 8 Weil der Interpret in diesem Zuge eine besondere Aufmerksamkeit genießt, stellt sich das Problem der Textinterpretation neu. 9 Nimmt man die durch die potentiell unzähligen Leser entstehenden potentiell unendlichen Auslegungsweisen eines Textes ernst, kommt schnell der beunruhigende Verdacht auf, der Sinn eines Textes sei allein von dessen Produktion durch den Leser abhängig. Damit fiele aber jegliche normative Kraft des Textes. Für die Auslegung der biblischen Schriften, in denen sich Gottes Offenbarung niederschlagen soll, ist dies besonders problematisch. Werden nämlich die verschiedenen Bedeutungen eines Textes vollkommen in der Lektüre des Lesers verankert, wird in konsequenter Fortführung des Gedankens der göttlichen Offenbarung im Wort Gott selbst den Lesern der biblischen Texte ausgeliefert. Kreieren sie die Textbedeutungen, kreieren sie zugleich auch Gottes Offenbarung. Mit dieser stark verkürzt dargestellten Problematik ergibt sich die Notwendigkeit, nach den Grenzen einer Interpretation zu fragen. 10 Wenn es keinen eindeutigen Sinn mehr gibt, sondern nur noch semantische Potentiale oder Bedeutungsfelder, dann muss nach den Rändern dieser Felder oder nach der Begrenzung der Potentiale gefragt werden. Diese Frage ist dabei gleichzusetzen mit der Suche nach der Kraft des Textes und nach seinen Schutzmechanismen, die verhindern, dass die Willkür des Lesers seine Aussagen und Bedeutungen bestimmt. Da dies im vorliegenden Rahmen nicht zu leisten ist, soll das zuvor nur theoretisch beschriebene Problem anhand eines gewichtigen Verses aus der Offenbarung des Johannes aufgezeigt werden. Offb 12,12 wird zunächst klassisch historisch-kritisch untersucht. Es wird folglich danach gefragt, was der Text zu seiner Zeit in seinem Kontext zum Ausdruck bringen wollte. Ist dies im Gespräch mit der exegetischen Tradition erhoben, kann die historisch-kritische Interpretation mit einer philosophischen Lesart des Verses konfron- Zum Thema Paul Metzger »Der Teufel hat wenig Zeit« (Offb 12,12) - Hans Blumenberg, die Wahrheit der Apokalyptik und die Legitimität der Auslegung 34 ZNT 22 (12. Jg. 2008) 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 34 ZNT 22 (12. Jg. 2008) 35 Paul Metzger »Der Teufel hat wenig Zeit« (Offb 12,12) tiert werden. Dabei wird sich zeigen, dass die philosophische Interpretation des Verses der historisch-kritischen nicht widerspricht, sie aber geradezu ausblendet und dem Text einen anderen Sinn beilegt. Zugleich scheint aber damit die Frage nach der Relevanz apokalyptischer Texte beantwortet. Da sie bzw. ihre Interpretation auf dem Hintergrund der historisch-kritischen Methode für den modernen Leser keinen Sinn mehr zu ergeben scheinen, muss offensichtlich eine philosophische Interpretation sie davor bewahren, einen rein musealen Wert anzunehmen. Müssen apokalyptische Texte demnach neu und anders interpretiert werden als andere biblische Texte? Besteht zwischen einer historischen und einer philosophischen Interpretation ein unhintergehbarer Gegensatz oder dürfen beide als legitime Auslegungen des Textes gelten? 1. Offb 12,12 in historischer Perspektive 11 Um einen biblischen Vers zu verstehen, muss man ihn rekontextualisieren. Soweit es möglich ist, muss man ihn dort aufsuchen und verstehen, wo er in seiner ursprünglichen Situation laut wurde. Dies ist zwar ein methodisches Ideal und aus hermeneutischer Sicht unmöglich, doch versucht die historische Forschung den Kontext biblischer Texte möglichst genau zu erfassen, um diesem Ideal nahe zu kommen. Konkret bedeutet dies, dass man danach trachtet, die Kommunikationssituation zu erhellen, in der ein Text zur Sprache kommt, also in den Dialog zwischen Sprecher und Hörer bzw. Autor und Leser eintritt. Hierzu werden die Kontexte von Autor und Leser untersucht, ihre soziale Situation, ihre (Vor-)Bildung, ihre sprachliche Ausdruckskraft, ihre Intention usw. Die historische Forschung versucht also, den Horizont abzuschreiten, in dem der Text entstanden ist. Erst in diesem ursprünglichen Horizont ist der Sinn eines Textes zu verstehen. 12 Soll ein Vers der Offb verstanden werden, bedeutet dies dementsprechend, dass die Forschung zunächst Rechenschaft über ihre Vorstellung der Entstehungsverhältnisse des Textes geben muss. Deshalb müssen also zunächst die so genannten Einleitungsfragen geklärt werden, wenn ein Text nach historisch-kritischem Verständnis interpretiert werden soll. 1.1. Der historische Kontext von Offb 12,12 13 Zunächst ist der historische Kontext der Offb zu beschreiben. Nach dem weitgehenden Konsens der exegetischen Forschung ist die Offb gegen Ende der Regierungszeit Domitians entstanden, was etwa in das Jahr 95 / 96 n.Chr. führt. 14 Zwar ist eine allgemeine Christenverfolgung für diesen Zeitraum nicht belegt, doch lässt die Offb selbst erkennen, dass die Christen, an die sie sich richtet, zumindest unter lokalen Übergriffen und Bedrängnissen leiden. In einer religiösen Umwelt zu leben, von der man sich abgrenzen soll, wie es der Visionär fordert (vgl. Offb 14,9- 14; 18,4), bringt für eine Minderheit also viele Probleme mit sich. Gerade der von Domitian vor allem in den östlichen Provinzen des Reichs forcierte Kaiserkult dürfte Christen dabei in soziale wie wirtschaftliche Schwierigkeiten gebracht haben. Zunächst ist dabei an die soziale Situation des alltäglichen Lebens zu denken. Da das gesamte private wie gesellschaftliche Leben wesentlich stärker durch die verschiedenen Kulte und Religionen durchdrungen war, wurden Christen stigmatisiert und mussten zu sozialen Außenseitern werden, sobald sie nicht an der öffentlichen Religionsausübung teilnahmen. 15 Weil Johannes von seinen Gemeinden eine strikte Trennung von deren Umwelt fordert, müssen verschiedene Probleme im alltäglichen Leben aufbrechen. Zunächst kann hierbei ganz profan an das Einkaufen von (Opfer-) Fleisch auf dem Markt 16 oder an das Handeln in den üblichen Gewerbevereinigungen (Offb 13,17) gedacht werden. Beides wird für Christen unmöglich. Auch der Austritt bzw. der Ausschluss aus diversen Vereinen, die verschiedenen Gottheiten gewidmet waren, hängt damit zusammen. Sowohl das berufliche wie auch das private Leben werden damit für Christen schwierig. Wahrscheinlich haben sich Christen zwar mit ihrer Umwelt arrangiert, doch wird gerade dies von dem Propheten Johannes angeprangert (Offb »Müssen apokalyptische Texte demnach neu und anders interpretiert werden als andere biblische Texte? « 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 35 Zum Thema 36 ZNT 22 (12. Jg. 2008) 3,16). 17 Von der Umwelt misstrauisch und ablehnend beobachtet, liegt die Gefahr der Denunziation nicht fern. Die Verweigerung des Opfers vor der heidnischen Götterwelt und insbesondere vor dem Kaiserbild kann sodann tödliche Konsequenzen haben. In diese Situation hinein spricht der Autor der Offb. Er gibt sich selbst als Knecht Christi und als Mitglied eines Prophetenkreises zu erkennen (Offb 22,9). Offensichtlich ist er in den angeschriebenen Gemeinden also legitimiert und seine Prophetie findet Gehör. So ausgewiesen, nimmt er sich das Recht, verschiedene Gemeinden anzuschreiben und ihnen seine Deutung der Geschichte vorzulegen. 1.2. Der literarische Kontext von Offb 12,12 18 Der literarische Kontext von Offb 12,12 wird oft als das Herzstück der Offb bezeichnet. Hier zeichnet der Seher ein Gesamtbild seiner Geschichts- und Weltdeutung. Eine Gliederung lässt sich dabei leicht anhand der verschiedenen Orte vornehmen, an denen die Vision spielt. Offb 12,1-6 enthalten die Vision der Himmelsfrau und des Drachen am Himmel. Der Drache fegt einen Teil der Sterne auf die Erde (12,3), wohin auch die Frau schließlich flieht (12,6). Während das Kind, das sie geboren hat, zu Gott entrückt wird, verbirgt sich die Frau in der Wüste. Diesen Strang der Vision nimmt der Seher allerdings erst wieder in 12,13 auf, wenn der Drache sich selbst auf der Erde wieder findet und dort die Frau verfolgt. Dazwischen wird in 12,7-12 geschildert, wie der Drache auf die Erde geworfen wird. Nachdem die Frau in die Wüste geflohen ist, entbrennt ein himmlischer Kampf, in dem der Drache und seine Engel gegen Michael und dessen Engel streiten. Die Schilderung des eigentlichen Kampfes ist dabei auffallend kurz. Lediglich V. 7 berichtet nüchtern von dem Kampf, während V. 8 dann schon die Niederlage des Drachens feststellt. V. 9 schildert sogleich die Konsequenz, die aus dieser Niederlage resultiert: der Drache und seine Engel werden aus dem Himmel geworfen und finden sich in V. 13 dann auf der Erde wieder. Gleichzeitig wird der Drache näher vorgestellt. Er ist die alte verführende Schlange aus Gen 3 und wird identifiziert mit dem Teufel und Satan (vgl. Offb 12,14f.; 20,2). Im Drachen sind also alle widergöttlichen Gewalten verkörpert, so dass dessen Niederlage die aller widergöttlichen Mächte darstellt. VV. 10-12 stellen einen hymnischen Einschub in die Schilderung der himmlischen Ereignisse dar. Eine nicht näher bestimmte große Stimme, die der Seher hört, obwohl sie ausdrücklich nur im Himmel spricht, kommentiert das Geschehen. Sie stellt fest, dass jetzt, in dem Augenblick, in dem der große Drache aus dem Himmel geworfen ist, die Rettung, die Kraft, das Reich Gottes und die Vollmacht des göttlichen Christus da ist. Mit der Reihung dieser theologisch gefüllten Begriffe drückt die große Stimme aus, dass dies der entscheidende Augenblick der Weltgeschichte ist. Die Häufung an positiven Begriffen zeigt die entscheidende Wende der Heilsgeschichte an. Der Sturz des Drachen stellt die letztgültige Weiche für das Leben der Christen - sofern sie treu bleiben. Hier zeigt sich schon in der Theologie der Offb eine signifikante Nuance. Sie kennt offensichtlich keine Allversöhnung oder eine wirkmächtig und endgültig geschehene Versöhnung des Individuums mit Gott. Während man z.B. bei Paulus aufgrund von 2Kor 5,17 oder Röm 5,1 bei allen sich damit verbindenden theologischen Schwierigkeiten wohl daran denken muss, dass das In-Christus-Sein nicht mehr verloren werden kann, verkündigt der Seher zwar die bereits erfolgte zum Heil geschehene Wende der Weltgeschichte, doch sagt dies zunächst nichts über das Schicksal des Einzelnen aus. Immerhin ist er sich aber sicher, dass seine Brüder den Drachen überwunden haben. In Aufnahme des Motivs von der verführenden Schlange (vgl. V. 9) und von der Rolle des Satans bei Hiob (Hi 1,7ff.) wird der Drache als der Ankläger der Brüder vor Gott gekennzeichnet. Dieser Ankläger ist nun selbst verurteilt und bereits gerichtet. Die Brüder hingegen haben ihn überwunden durch das Opfer Christi, durch ihr Bekennen und durch ihre (Bereitschaft zur) Lebenshingabe. Eingezeichnet sowohl in seinen historischen wie literarischen Kontext kann der Vers nun selbst interpretiert werden. 1.3. Die Interpretation von Offb 12,12 in historischer Perspektive Zunächst ruft die große Stimme im Himmel zum Jubel auf. Als Konsequenz aus dem Sturz des 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 36 Paul Metzger »Der Teufel hat wenig Zeit« (Offb 12,12) ZNT 22 (12. Jg. 2008) 37 Drachen und dem Sieg der göttlichen Mächte wird der Hymnus abgeschlossen mit dem Appell zum Jubel. Die Himmel und alle, die darin wohnen, sollen sich freuen. Dieser Aufruf findet mehrfache Parallelen in der biblischen Literatur. Zum Beispiel wird in Jes 44,23 und Jes 49,13 ähnlich dazu aufgerufen, sich zu freuen. Allerdings betrifft dieser Aufruf nicht nur den Himmel, sondern auch die Erde und deren Bewohner. Sie sollen sich freuen, weil Gott sich seines Volkes erbarmt hat. Damit ist die göttliche Zusage des Beistandes verbunden und Deuterojesaja weist über seine Gegenwart in die heilvolle Zukunft des Gottesvolkes hinaus. Hier zeigt sich also bereits ein signifikanter Unterschied zu Offb 12,12. Hier betrifft der Aufruf zum Jubel nur die Himmel und deren Bewohner. Der Erde hingegen wird ein »Wehe« entgegengeschleudert. Der Sieg Gottes betrifft also scheinbar noch nicht die Erde. Im Gegenteil: ihr steht eine harte Zeit bevor, die vom Teufel beherrscht wird. Denn der Drache, der Teufel, ist aus dem Himmel ausgestoßen worden, er ist auf die Erde hinab gestiegen. Deutlich kennzeichnet die 3. Person Indikativ Aorist Aktiv, die einen punktuellen Aspekt anzeigt, dass der Teufel zu einem bestimmten Zeitpunkt, nämlich nach seiner Niederlage, auf die Erde gekommen ist und in der Konsequenz nun da, also in der Welt ist. Hier zeigt sich ein wichtiger Aspekt der Botschaft des Sehers an seine Gemeinde. Da er damit konfrontiert ist, dass sich seine Gemeinde offensichtlich in der Welt einrichten muss, kommt ihm die Aufgabe zu, die Erfahrungen seiner Gemeinde zu deuten. Gerade angesichts einer als negativ wahrgenommenen Welterfahrung bricht ein Zwiespalt auf. Eigentlich sollten die Christen doch bereits erlöst sein. Eigentlich ist das Opferlamm (vgl. Offb 5) doch bereits geschlachtet und hat damit die Seinen befreit und losgekauft von der Macht des Teufels. Wie kann es dann sein, dass dieser Äon immer noch fortbesteht? Wie kann es sein, dass die Auserwählten Gottes in dieser Welt immer noch leiden müssen? Warum ist das himmlische Jerusalem, die Vollendung des Heils immer noch nicht eingetreten? Religiöse Überzeugung und Welterfahrung treten auseinander und der Seher muss nun die christliche Botschaft so verkünden, dass sie diesen Zwiespalt erklären kann. Er fängt dieses Problem auf mit seiner Konzeption der Weltgeschichte. Er trennt das göttliche Handeln in eine himmlische und eine irdische Sphäre und ordnet dies Handeln in ein zeitliches Nacheinander. So kann er die Gegenwart seiner Gemeinde dahingehend deuten, dass der göttliche Sieg zwar schon errungen ist, aber erst im Himmel und für dessen Bewohner. Die Erde und damit auch seine Gemeinde müssen sich zunächst noch gedulden. Sie haben die Konsequenz des himmlischen Kampfes jetzt auszuhalten. Gerade weil der himmlische Sieg schon errungen ist, muss seine Gemeinde in der Gegenwart leiden. Denn die Niederlage des Teufels im Himmel ist der Grund, warum er sich nun auf Erden austobt und an der Gemeinde des Sehers seinen großen Zorn abreagiert. So verknüpft der Seher einerseits die in seinen Augen richtige Überzeugung vom geschehenen Sieg Gottes über das Böse mit der bösen Gegenwart seiner Gemeinde. Die grundsätzlich positive Botschaft von der geschehenen Rettung hält er also fest, andererseits erklärt er aber auch, dass die als negativ erlebte Gegenwart nur so erfahren werden kann, weil der Teufel in ihr am Werk ist. Ein erster und vordringlicher Sinn des Verses ist damit benannt: es geht dem Seher um die Bewältigung der Gegenwart, um Deutung der Erfahrungen seiner Gemeinde in einem himmlischen Horizont. Dr. Paul Metzger studierte von 1993-2000 Evangelische Theologie in Bethel, Marburg, Rom und Heidelberg. In der Zeit von 2001-2005: Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Mainz. 2003: Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Saarbrücken. 2005-2008: Vikariat in der Evangelischen Kirche der Pfalz. Seit 2008 ist er Lehrkraft für besondere Aufgaben (Neues Testament und Bibeldidaktik) an der Universität Koblenz-Landau (Campus Koblenz). Paul Metzger 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 37 Zum Thema 38 ZNT 22 (12. Jg. 2008) Damit eng verbunden tritt ein zweites Element der Interpretation in den Blick. Wie bereits kurz angedeutet, impliziert diese Geschichtsdeutung einen weiteren wichtigen Aspekt. Weil und wenn der Vers seine Gegenwart auf dem Hintergrund des göttlichen Geschehens überzeugend deutet, hat er existentielle Kraft. Mit ihm und seiner Stichhaltigkeit verbindet sich der Trost, dass die leidvolle Gegenwart nicht mehr lange dauern wird. Das Wortspiel mit dem großen Zorn und der kleinen Zeit des Teufels ist hier zu beachten. Durch die erlittene Niederlage ist der Teufel natürlich extrem gereizt und was die Gemeinde als Bedrohung durch den Kaiserkult und sonstige Bedrängnisse erfährt, kann als Auswuchs dieses Zornes verstanden werden. Allerdings liefert der Vers eine weitere Erklärung für den großen Zorn des Teufels. Mit einer begründenden Konjunktion (»weil«) wird nämlich die letzte Erklärung angeschlossen: Der Teufel hat deshalb einen so großen Zorn, weil ihm nur noch eine kurze Zeit bleibt. Hier drückt sich die allgemeine Überzeugung der Offb aus, dass der Welt insgesamt nur noch wenig Zeit bis zur Wiederkehr Christi bleibt (vgl. Offb 1,3; 22,10). Dem Teufel und seinem Treiben ist also eine Frist gesetzt. Der göttliche Heilsplan wird nicht verzögert oder aufgehalten. Er läuft - im Hinblick auf den Teufel - gnadenlos bzw. - im Hinblick auf die Gemeinde - gnadenvoll ab. Das bedeutet aber, dass die Gemeinde sich nicht mehr lange der teuflischen Bedrohung ausgesetzt sieht. So weckt die Geschichtsdeutung des Sehers gleichzeitig den Trost, dass die Geschichte bald an ihr Ende kommen wird. Er zeichnet die Gemeinde in den göttlichen Heilsplan ein und nimmt dabei eine in der apokalyptischen Erwartung geprägte Vorstellung auf. So kennt die Apokalyptik nämlich die Vorstellung, dass vor der Wende der Äonen die Wehen der Zeit besonders groß werden und einem Höhepunkt zutreiben, der sich durchaus in einem endzeitlichen Krieg entladen kann. Wie z.B. die Offb selbst einen letzten großen Krieg erwartet (Offb 19), so kennt auch die synoptische Apokalypse (Mk 13par) diese Erwartung. Wenn also die erlebten Bedrängnisse dezidiert als Auswirkungen teuflischen Zorns gedeutet werden und gleichzeitig die Zeit des Teufels als kurz gekennzeichnet wird, dann darf die Gemeinde die Hoffnung hegen, dass das Gericht nicht länger verzögert wird, der letzte Krieg bald beginnt und das himmlische Jerusalem nicht länger auf sich warten lässt. Die Geschichtsdeutung des Sehers impliziert damit eine Perspektive der Hoffnung und des Trostes. Schließlich ist noch ein weiterer Aspekt anzusprechen. Wenn die Geschichtsdeutung des Sehers überzeugt hat, wenn die Gemeinde in ihrer Gegenwart aufgeklärt, getröstet und mit neuer Hoffnung erfüllt wurde, dann muss eine dritte Nuance des Verses angesprochen werden. Wenn die Zeit des Leidens nur noch kurz ist, dann kann der Seher natürlich auch darauf bestehen, dass die Gemeinde sich nicht der Welt anpasst, sondern in ablehnender Opposition verharrt. Geschäfte mit und in der Welt müssen dann unterlassen werden und - was eigentlich wichtiger ist - können auch unterlassen werden, weil die Notwendigkeit nicht gegeben ist, in der Welt so weiter zu leben, dass noch an eine weitere Zukunft gedacht werden muss. Nur aufgrund der beiden ersten Aspekte des Verses ist deutlich und verständlich, warum der Seher eine solche Ethik entfalten und solche Forderungen stellen kann und warum seine Darlegungen Gehör fanden. So kann er seine Ethik zum Prüfstein des Heils machen. Nur wer seinen Weisungen Gehorsam schenkt, wird letztlich wirklich zu den 144.000 Versiegelten gehören, deren Identität ja noch nicht definiert ist. Hier schwingt die Forderung mit, sich der Erwählung und der Heilstat Christi würdig zu erweisen. Notfalls - wie Offb 12,11 angedeutet hat - bis zum Tod. Neben Geschichtsdeutung und Trost tritt damit als weiterer Sinn des Verses, die Ermahnung der Gemeinde zum standhaften Bekennen. Die historische Interpretation hat damit zum einen gezeigt, dass in dem Vers viele theologische Überzeugungen und Anschauungen der Offb zusammenlaufen, zum anderen auch klar aufgewiesen, dass man nicht von dem einen Sinn des Verses reden sollte, sondern immer mehrere Aspekte im Blick haben muss, sodass es wirklich angebracht erscheint, von semantischen Potentialen bzw. einem semantischen Feld zu sprechen. Ist mit dieser Interpretation das semantische Potential des Verses erschöpft oder lassen sich durch andere Herangehensweisen weitere Bedeutungen finden? Und wenn ja: Ist dieses erweiterte semantische Feld durch den Text legitimiert? 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 38 Paul Metzger »Der Teufel hat wenig Zeit« (Offb 12,12) ZNT 22 (12. Jg. 2008) 39 2. Offb 12,12 in philosophischer Perspektive Ein Text hat nicht nur einen Sinn, ein Text erzeugt viele Sinne. Besonders interessant nimmt der deutsche Philosoph Hans Blumenberg Offb 12,12 in seinem Buch »Lebenszeit und Weltzeit« 19 auf. Um seine Aufnahme des biblischen Verses besser zu verstehen, soll zunächst das Gesamtwerk Blumenbergs kurz vorgestellt werden. 2.1. Grundlinien der Philosophie Blumenbergs 20 Man darf Hans Blumenberg wohl durchaus als Aufklärer bezeichnen. Mit einem scharfen, klaren Blick deckt er Verhaltens- und Denkweisen des Menschen auf und zeichnet sie in dessen Entwicklungsgeschichte ein. Dabei entwickelt er zwei grundlegende Gedanken. Zunächst erkennt er durch sein überwiegend phänomenologisches Vorgehen, dass der Mensch durch die Welt, in der er lebt, überfordert ist. Die Welt und die Wirklichkeit übersteigen das Leben des Individuums. Dem zuweilen poetischen Werk Blumenbergs angemessen, darf gesagt werden, dass Blumenberg den neuzeitlichen Menschen in eine Himmelswüste einzeichnet. Die Krone der Schöpfung wird dem Menschen vom Kopf gerissen und er selbst wird reduziert auf ein Sandkorn in der Unendlichkeit des Alls. Der Mensch wird seiner tradierten Stellung im Kosmos beraubt und zurückgeworfen auf sein für die Welt unerhebliches Dasein. Diese Problematik beschreibt Blumenberg und macht dafür vor allem zwei geschichtliche Entwicklungen verantwortlich. Erstens ist dies eine Leistung der klassischen Naturwissenschaften. Deren Forschungen haben die Welt entmythologisiert und entzaubert. Die Einsicht in einen Kausalzusammenhang der Dinge, in Ursache und Wirkung, aber auch die Erkenntnis der Dimension von Raum und Zeit, die das menschliche Leben weit übersteigen, haben den Menschen seiner Selbstvergewisserung beraubt. Er ist nicht mehr Zentrum und Zielpunkt des Lebens, sondern er lebt als Produkt eines evolutionären Zufalls auf einem unbedeutenden Planeten eines sich unter Umständen unendlich ausdehnenden Weltalls. Radikaler kann die menschliche Existenz also kaum in ihre natürlichen Grenzen verwiesen werden. Doch weitet Blumenberg den Raum, in dem der Mensch sich vorfindet nicht nur ins Unermessliche, sondern entzieht dem Menschen auch noch dessen Herkunft. Dies ist die zweite Bewegung, die den Menschen laut Blumenberg in seine Grenzen verweist. Er führt hier den Historismus an, der die Vergangenheit des Menschen als bloße Konstruktion erweist. Wo sich der Mensch noch wenigstens seiner Vergangenheit bewusst war und darin einen festen Halt erblickte, hat der Historismus nach Blumenberg die Brüchigkeit dieses Halts erwiesen. Er kennzeichnet die Geschichtsschreibung als sprachliche Konstruktion, die aus der jeweiligen Perspektive des Historikers erfolgt, und beraubt so den Menschen der bloßen Tatsachen, auf die er seine Herkunft gründen konnte. So verliert sich der Mensch in einem Strom aus Zeit. Er ist getrieben von der Sorge um seine Zukunft und seine Vergangenheit erstreckt sich im Dunkeln hinter ihm. Deshalb findet der Mensch keinen festen Grund mehr, auf dem er seine Existenz aufbauen kann. Insofern ist der Mensch nicht nur in dem Raum verloren, den die Naturwissenschaften ausgeleuchtet und damit ausgeweitet haben, sondern er ist auch in der Zeit haltlos, weil es weder Zukunft noch Vergangenheit als objektive Größen gibt, über die er sich definieren kann. Der Mensch ist damit gleichsam zweifach in die Wüste seines unbedeutenden Lebens geschickt. Wie der Mensch aber dennoch in einer solchen Wüste leben kann, beschreibt Blumenberg in verschiedenen Veröffentlichungen. Darin enthüllt er die Praktiken, die der Mensch benutzt, um seine Wüste bewohnbar zu machen. Zum einen nennt Blumenberg hier die Technik. Die Technik erlaube es dem Menschen, die eigentlich unkontrollierbare und ihn formende Natur scheinbar zu beherrschen. Durch den technischen Fortschritt kann der Mensch sich eine Behausung schaffen. Er kann sich ein Haus bauen, das ihm begrenzt Schutz gewährt vor der gnadenlosen Natur. So kreiert er die Illusion, dass er behütet ist vor der Wirklichkeit, die er - buchstäblich - vor die Tür gesetzt hat. So schafft sich der Mensch eine Lebenswelt, die ihn abschirmt von den vielen Mög- »Ein Text hat nicht nur einen Sinn, ein Text erzeugt viele Sinne.« 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 39 Zum Thema 40 ZNT 22 (12. Jg. 2008) lichkeiten und Unwägbarkeiten der Wirklichkeit. Mit dem Begriff der Lebenswelt führt Blumenberg eine weitere Sicherungsmaßnahme des Menschen ein. Die Lebenswelt, die eine kulturelle Leistung des Menschen darstellt, ist begrenzt und zumindest im Ansatz überschaubar. Der Mensch kennt die Wege, die er gehen muss, er kennt die Menschen, mit denen er in der Regel zu tun hat. So kreiert er eine Welt, die von ihm beherrscht werden kann, die von ihm bewältigt wird. Dass er dabei den Rest der Welt und der Wirklichkeit ausblendet, ist scheinbar nur ein kleiner Preis, den er für seine Lebenswelt zahlen muss. Ihre Herkunft und ihre Vergangenheit beziehen Technik und Lebenswelt aus der erzählten und damit gedeuteten Geschichte. Der Mythos bekommt bei Blumenberg so eine ätiologische Funktion. Er beschafft dem Menschen eine bestimmte und sinnvolle Herkunft, die einem kritischen Zugriff entzogen ist. So begründet er die Lebenswelt des Menschen, indem er sie der Zufälligkeit entzieht und planvoll erscheinen lässt. Werden die verschiedenen Konzepte zur Distanzierung der Wirklichkeit zusammen gesehen - Technik, Kultur, Lebenswelt, Mythos -, so zeigt sich, dass der Mensch letztlich darauf angewiesen ist, sich in der unbarmherzigen Wirklichkeit der Welt, der Himmelswüste, einzurichten und sich zu beheimaten. Diese Praktiken aufzudecken, sie durchsichtig zu machen, ist ein großes Ziel der Philosophie Blumenbergs. 2.2. Offb 12,12 bei Hans Blumenberg Zu Beginn des 2. Teils von »Lebenszeit und Weltzeit« - überschrieben mit dem Titel »Apokalypse und Paradies« - zitiert Blumenberg den letzten Teil von Offb 12,12: »Der Teufel weiß, daß er wenig Zeit hat.« Blumenberg bestreitet, dass dieser Vers gegenwärtig noch eine Trostfunktion haben kann. Diese sei hinfällig, weil zum einen die Existenz des Teufels an sich bestritten wird, aber auch zum anderen nicht geglaubt wird, dass die Zeit des Bösen begrenzt sei. Allerdings offenbare der Vers »ein Grundmuster für die Erfassung der menschlichen Großlage« (71). Für Blumenberg lässt sich dieses Grundmuster so auf den Punkt bringen: »Enge der Zeit ist die Wurzel des Bösen« (71). Auch hier kann wieder der aufklärende Zug der Philosophie Blumenbergs entdeckt werden. Die absolute Zeit der Welt übersteigt den Menschen und dessen Fassungsvermögen. Seine Lebenszeit ist verglichen mit der Weltzeit verschwindend gering. Und das Übel dabei ist, dass der Mensch - als einziges Lebewesen - dies auch weiß. Diese letzte Grenze, die der Mensch nicht überwinden kann, ist ihm ein Ärgernis und geradezu eine Beleidigung seiner Autonomie. Die menschliche Bosheit soll damit laut Blumenberg aus dem »Mißverhältnis entstehen, daß ein Wesen mit endlicher Lebenszeit unendliche Wünsche hat« (71f.). Während das Paradies Paradies sein konnte, weil es dort keinen Tod gab, weil es dort also viel Zeit gab, so entsteht das Böse in der Welt durch den Tod, der unsere Zeit begrenzt. Im Paradies waren also Lebenszeit und Weltzeit identisch (72), ebenso waren auch Lebenswelt und tatsächliche Welt identisch (73). Die von Blumenberg beobachtete Einsicht, »daß die Welt so wenig mit dem eigenen Leben endet, wie sie mit ihm begonnen hat«, hat die Auflehnung des Menschen gegen seine eigene Mortalität zur Folge. Dies ist die teuflische Verführung, der der Mensch zuweilen erliegt, die mythische Verführung, »mit Mitteln der Magie, der Gewalt oder der Illusion die Weltzeit auf die Maße der Lebenszeit zu zwingen, die Lebensgrenze auf den Augenblick eingestandener Weltsättigung zu fixieren« (73). Der Teufel ist damit das personifizierte Wissen um die Kürze der Lebenszeit und gleichzeitig der daraus folgenden Daseinsform, der es ständig darum geht, »Zeit zu gewinnen, um mehr von der Welt zu haben«, denn: »Die Welt kostet Zeit« (73). Der Mensch sieht sich also ständig damit konfrontiert, keine Zeit zu haben für seine vielen Wünsche. Gleichzeitig erlebt er »die Gleichgültigkeit der Welt gegen ihn« (75). Die Welt war, bevor der Mensch geboren wurde, und die Welt wird sein, wenn der Mensch schon längst gestorben ist. Das Wissen um diesen Sachverhalt, das Wissen um die Differenz von Lebenszeit und Weltzeit ist also der Stachel im Geist des Menschen. »Die aufbrechende Divergenz von Lebenszeit und Weltzeit durch Auflösung der Passung zwischen dem Horizont der Bedürfnisse und dem der Bedingungen ihrer Befriedigung« (76) stellt damit eine Herausforderung an den Menschen dar, der es zu begegnen gilt. 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 40 Paul Metzger »Der Teufel hat wenig Zeit« (Offb 12,12) ZNT 22 (12. Jg. 2008) 41 3. Die Legitimität der Auslegung Zwei Problemfelder überschneiden sich. Zum einen wurde zu Beginn nach der Relevanz der Apokalyptik gefragt. Hat sie eine andauernde Bedeutung oder kann sie uns kein Gotteswort sagen? Hans Blumenberg hat mit seiner Interpretation von Offb 12,12 gezeigt, dass sie sehr wohl grundlegende Wahrheiten über - in diesem Fall - den Menschen und seine Welt enthält. Allerdings interpretiert er den Vers nicht in historischer, sondern in philosophischer Perspektive. Damit ist der zweite Problemkreis angesprochen: Ist eine solche Auslegung legitim? Hilfreich ist hier die Unterscheidung von intentio auctoris, intentio operis und intentio lectoris, wie sie bei Umberto Eco zu finden ist. 21 Die grundsätzliche Frage ist dabei, was bei einer Interpretation eines Textes untersucht werden soll. Will der Interpret zur Sprache bringen, was der Autor eines Textes sagen wollte, dann setzt er sich die Suche nach der intentio auctoris zum Ziel. Will er dagegen - durchaus unter Absehung des Autors - auslegen, was der Text als solcher zu erkennen gibt, dann ist er auf der Suche nach der intentio operis. Hierbei muss dann weiter differenziert werden. Erstens: Was sagt der Text hinsichtlich seines eigenen Verweissystems, also innerhalb seiner eigenen Kohärenz, was liegt also in seiner Textwelt. Und zweitens ist davon wieder zu unterscheiden, was der Leser in Bezug auf seinen eigenen Kontext in dem Text findet. Hier kommt dann die Frage nach der intentio lectoris in den Blick. Will man also einen Text als solchen verstehen, muss man sich in seine Textwelt begeben und die angemessene Interpretation an ihrer Kohärenz messen, die wiederum durch den Text bereit gestellt wird. Verlässt man die Textwelt und deren Verweissystem bzw. deren Enzyklopädie, und greift auf andere Quellen außerhalb des zu interpretierenden Textes zurück, muss man damit rechnen, den Text gegen seine Intention zu lesen. Will man gar den Text nicht um seiner selbst willen interpretieren, sondern um ihn etwa lediglich als Anregung zu verwenden oder um ihn seiner eigenen Gedankenführung dienstbar zu machen, dann hat man die Interpretation des Textes verlassen und ordnet die intentio operis seiner eigenen Leseintention unter. Damit hat die intentio lectoris gegenüber der intentio operis die Oberhand gewonnen. Dies bezeichnet Eco dann nicht mehr als Interpretation eines Textes, sondern als dessen Benutzung. Eingedenk der Überzeugung, dass nicht die Autoren der Heiligen Schrift die Grundlage des christlichen Glaubens und Lebens sind, sondern die Schrift selbst, soll es also hier nicht um die Suche nach dem gehen, was der Autor sagen wollte, sondern es soll nach der intentio operis gefragt werden. Die historische Interpretation des Verses wurde im Kontext des Gesamttextes erstellt, welcher das Sinnpotential des Verses auffächerte und erhellte. Damit ist von Beginn an sicher gestellt, dass der Vers nicht isoliert vom Gesamtwerk gelesen wird. Überblickt man das Gesamtwerk, wird man sagen dürfen, dass keine andere Textpassage der Offenbarung der vorgelegten Interpretation widerspricht. Ebenso ist kein anderes, das Lesen leitende Interesse zu erkennen gewesen, was gegen eine bloße Benutzung des Textes spricht. Damit dürfte die historisch-kritische Interpretation wesentliche Aspekte des Sinnpotentials von Offb 12,12 zur Sprache gebracht haben. Die philosophische Interpretation Blumenbergs beachtet im Gegensatz zur historisch-kritischen den historischen Kontext nur ganz am Rande. Sie sieht davon ab und erkennt in diesem Vers eine weitere Sinnebene, indem sie ihn im Kontext der von ihm analysierten Gegenwart des Menschen deutet. Blumenbergs Interpretation erfolgt damit in einem anderen Horizont. Er entreißt den Vers seinem mythologischen Hintergrund und schreibt ihm »eine Wahrheit [zu], auf die es dem Apokalyptiker kaum angekommen sein mag.« 22 Damit ist zum einen deutlich, dass Blumenberg den Autor vernachlässigt, zum anderen, dass er in apokalyptischen Texten sehr wohl eine Wahrheit über den Menschen erkennen kann. Zwar verlässt seine Interpretation die antike (Gedanken-)Welt, indem er z.B. »Daraus folgt, dass die exegetische Aufgabe sich nicht mit der Erhellung des historischen Horizontes und der Auslegung der biblischen Texte in historischer Perspektive erschöpft....« 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 41 Zum Thema 42 ZNT 22 (12. Jg. 2008) den Teufel nicht als den Gegenspieler Gottes versteht, sondern als Symbol für das Angebot der absoluten Identität von Lebenszeit und Weltzeit, doch deckt das semantische Potential der Rede vom Teufel als »Verführer« im Neuen Testament diese Interpretation durchaus (1Thess 3,5; 2Joh 1,7; Offb 12,9; 20,3), sodass Blumenbergs Interpretation des Teufels dem antiken Denken des Textes nicht widerspricht. 23 Blumenberg schafft es mit seiner Deutung des Teufels den menschlichen Versucher jenseits mythologischer Vorstellungen plausibel zu machen. Obwohl er den Text also scheinbar isoliert von seinem Kontext liest, stellt seine Auslegung augenscheinlich die historische nicht in Frage. Also hat er - nach Eco - die intentio operis nicht verlassen. 24 Damit dürfte seine Interpretation durchaus als legitim gelten und Offb 12,12 eine weitere Sinnebene hinzugefügt haben. Daraus folgt, dass die exegetische Aufgabe sich nicht mit der Erhellung des historischen Horizontes und der Auslegung der biblischen Texte in historischer Perspektive erschöpft, sondern darüber hinausgeht. Soweit möglich muss sie versuchen, die Wahrheit der Texte für die Gegenwart zu erheben und unter deren Bedingungen auszusagen. Deshalb greift das eingangs zitierte Urteil zu kurz, nach dem apokalyptische Texte per se keine Wahrheit enthielten. 25 Die Aufgabe der exegetischen Forschung ist vielmehr, diese neu zur Sprache zu bringen und deren Relevanz aufzuzeigen. Erst in dieser Hinsicht wird die exegetische Forschung ihrer theologischen Aufgabe gerecht. l Anmerkungen 1 So beschreibt J. Frey, Die Apokalyptik als Herausforderung der neutestamentlichen Wissenschaft. Zum Problem: Jesus und die Apokalyptik, in: M. Becker / M. Öhler (Hgg.), Apokalyptik als Herausforderung der neutestamentlichen Wissenschaft (WUNT II/ 214), Tübingen 2006, 23-94: 33, die theologische Wertung der Apokalyptik bei Rudolf Bultmann. Vgl. R. Bultmann, Das Verständnis der Geschichte im Griechentum und im Christentum, in: ders., Glaube und Verstehen IV, Tübingen 1965, 91-103: 100: »Das apokalyptische Gemälde vom Ende der Welt und vom Weltgericht, die Vorstellung von dem mit den Wolken des Himmels wiederkehrenden Jesus als Richter erscheint uns heute als Mythologie; denn die alte Vorstellung vom Himmel über uns ist vergangen.« 2 Bultmann, Verständnis, 100. 3 F. Siegert, Die Apokalyptik vor der Wahrheitsfrage - Gedanken eines Lesers zum vorstehenden Artikel von Klaus Koch, ZNT 3 (1999), 50-52: 50. 4 Vgl. z.B. M. Hengel, Aufgaben der Neutestamentlichen Wissenschaft, NTS 40 (1994), 321-357: 351. 5 Vgl. E.-M. Becker, Die Person des Exegeten. Überlegungen zu einem vernachlässigten Thema, in: O. Wischmeyer (Hg.), Herkunft und Zukunft der neutestamentlichen Wissenschaft (NET 6), Tübingen / Basel 2003, 207-243. 6 Vgl. St. Alkier, Die Bibel im Dialog der Schriften und das Problem der Verstockung in Mk 4. Intertextualität im Rahmen einer kategorialen Semiotik biblischer Texte, in: St. Alkier / R.B. Hays (Hgg.), Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre (NET 10), Tübingen / Basel 2005, 1-22. 7 Vgl. z.B. St. Alkier, Intertextualität, in: K. Erlemann / K.-L. Noethlichs/ K. Scherberich/ J. Zangenberg (Hgg.), Neues Testament und Antike Kultur (NTAK 1), Neukirchen-Vluyn 2004, 60-65; Ch. Landmesser, Wahrheit als Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft (WUNT 133), Tübingen 1999. 8 Vgl. O. Wischmeyer, Hermeneutik des Neuen Testaments. Ein Lehrbuch (NET 8), Tübingen / Basel 2004. 9 Vgl. U. Eco, Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München 3 1998. 10 Vgl. U. Eco, Die Grenzen der Interpretation, München 2 1999, bes. 35ff. 11 Zum Überblick über die Apokalypse vgl. O. Böcher, Die Johannesapokalypse (EdF 41), Darmstadt 4 1998; ders., Johannes-Apokalypse, RAC 18, Stuttgart 1998, 595-646. 12 Vgl. z.B. H. Conzelmann / A. Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, Tübingen 14 2004, 1ff. 13 Vgl. zum historischen Kontext der Offb F.W. Horn, Leiderfahrung, Leidbewältigung und Leidüberwindung in der Johannesapokalypse, in: H.-J. Barkenings u.a (Hg.), Tun und Erkennen. Theologisches Fragen und Vermitteln im Kontext des jüdisch-christlichen Gesprächs. FS Adam Weyer, Duisburg 1994, 182-190; zum Kaiserkult: H.-J. Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums II. Herrscher- und Kaiserkult, Philosophie, Gnosis, Stuttgart u.a. 1996, 17ff. 14 Vgl. W.G. Kümmel, Einleitung in das Neue Testament, Heidelberg 21 1983, 414; P. Pokorný / U. Heckel, Einleitung in das Neue Testament. Seine Literatur und Theologie im Überblick, Tübingen 2007, 613. 15 Vgl. M. Clauss, Kaiser und Gott. Herrscherkult im römischen Reich, Darmstadt 2001, der von einer »Omnipräsenz des Herrschers« (430) spricht. 16 Vgl. den differenzierteren Umgang des Paulus mit dieser Frage: 1Kor 8,4ff. 17 Vgl. U.B. Müller, Die Offenbarung des Johannes, ÖTK NT 19, Gütersloh-Würzburg 2 1995, 136; H-J. Klauck, Das Sendschreiben nach Pergamon und der Kaiserkult in der Johannesoffenbarung, Bib. 73 (1992), 153-182: 181. 18 Zur folgenden Exegese vgl. besonders W. Bousset, Die Offenbarung Johannis, KEK 16, Göttingen 1906; 335ff.; Müller, Offenbarung, 225ff.; P. Busch, Der gefallene Drache. Mythenexegese am Beispiel von Apokalypse 12 (TANZ 19), Tübingen u.a. 1996, passim; J.U. Kalms, Der Sturz des Gottesfeindes. Traditionsgeschichtliche Studien zu Apokalypse 12 (WMANT 93), Neukirchen-Vluyn 2001, passim. 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 42 Paul Metzger »Der Teufel hat wenig Zeit« (Offb 12,12) ZNT 22 (12. Jg. 2008) 43 19 H. Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a.M. 3 1986. 20 Vgl. F.J. Wetz, Hans Blumenberg zur Einführung, Hamburg 1993. 21 Eco, Lector, 224ff. 22 Blumenberg, Lebenszeit, 71. 23 Vgl. zum Überblick O. Böcher, Teufel III. Neues Testament, TRE 33 (2002), 117-121. 24 Eco, Grenzen, 47f. 25 Siehe Anm. 1-3. Vandenhoeck & Ruprecht 37070 Göttingen info@v-r.de www.v-r.de Die neue Kommentare Traugott Holtz Die Offenbarung des Johannes Neubearbeitung Mit einem Vorwort und herausgegeben von Karl-Wilhelm Niebuhr. Das Neue Testament Deutsch. NTD, Band 11. Neubearbeitung 2008. VIII, 158 Seiten, gebunden € 39,90 D bei Abnahme der Reihe: € 35,90 D ISBN 978-3-525-51387-3 Eine allgemein verständliche Auslegung der Johannes- Offenbarung auf der Grundlage aktueller Forschung. Akira Satake Die Offenbarung des Johannes Redaktionell bearbeitet von Thomas Witulski. Kritisch-exegetischer Kommentar über das Neue Testament, Band 16. 2008. 429 Seiten, gebunden € 79,90 D bei Abnahme der Reihe: € 71,90 D ISBN 978-3-525-51616-4 Satake verdeutlicht die großen Linien der Komposition der Johannesoffenbarung. Er stellt die sachlichen und inhaltlichen Bezüge dar und legt die Struktur offen, die der Johannesoffenbarung zugrunde liegt. Folker Siegert Das Evangelium des Johannes in seiner ursprünglichen Gestalt Wiederherstellung und Kommentar Schriften des Institutum Judaicum Delitzschianum, Band 7. 2008. 856 Seiten, gebunden € 149,- D ISBN 978-3-525-50147-4 Der neue Kommentar zum Johannesevangelium! Übersetzung und Kommentierung durch Folker Siegert illustrieren den geschlossen vorliegenden Entwurf einer vorwiegend dialogischen Theologie. 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 43 Die Fragestellung »Ist die Apokalyptik die Mutter der neutestamentlichen Theologie«, unter der sich Rudolf Bultmann 1964 mit Ernst Käsemann (1960 und 1962) auseinandersetzt, ist theologiegeschichtlich präzise verortet. Sie ist zum einen durch die geistige Tradition der dialektischen Theologie geprägt, die die historische Frage der gedanklichen Voraussetzung des frühchristlichen Denkens nach einem theologischen Leitinteresse stellt. Die als historisch gestellte Frage ist eigentlich sowohl für Käsemann als auch für Bultmann eine theologische. Zum anderen gehört sie zum kontroversen Dialog, den Bultmann und Käsemann über den Zusammenhang zwischen der existentialen Interpretation und der Entmythologisierung geführt haben. Für Bultmann ist die Entmythologisierung Bestandteil des hermeneutischen Programms der existentialen Interpretation, weil sie die Sprachform des Mythos, die die Präsenz der Transzendenz in der menschlichen Sprache zum sachgemäßen Ausdruck bringt, von der Immunisierungsstrategie - von der Verobjektivierung - der Mythologie befreit. Käsemann sah die Aufgabe, die Perspektive - nicht zuletzt aufgrund seiner Erfahrung des Kirchenkampfs - zu erweitern: Die Notwendigkeit der Entmythologisierung besteht nicht nur in der existentialen Interpretation, sondern im Kampf des Evangeliums gegen die dämonischen Mächte, die in der Welt zu herrschen glauben. Fast ein halbes Jahrhundert später nehmen Dale C. Allison und Mauro Pesce die Frage wieder auf. Die Perspektive hat sich geographisch und intellektuell verschoben: Ihre Beiträge kommen nicht zufällig aus Amerika und aus Italien - zwei Zentren der neueren Forschung zur Geschichte des frühen Christentums -, sie orientieren sich nicht an theologischen, sondern an literaturgeschichtlichen und kulturanthropologischen Ansätzen, und ihre Antworten bestehen in zwei neuen Formulierungen der von Bultmann an Käsemann gestellten Frage. Den beiden gemeinsam ist eine Problematisierung der Begriffe: - Der Begriff der Apokalyptik hat an Eindeutigkeit verloren und verlangt Differenzierungen und Präzisierungen. - Die christliche Theologie, deren Vielfalt Bultmann und besonders Käsemann programmatisch hervorgehoben hatten, lässt sich nach der Entdeckung des Textkorpus von Nag Hammadi nicht mehr als Einheit betrachten. - Die Metapher der Mutter erweist sich nicht mehr als sachgemäß und relevant, weil sie das Verhältnis von einfachen Kausalitäten impliziert, wo nur das Zusammenwirken von vielfältigen Voraussetzungen festzustellen ist. Der Beitrag von Dale C. Allison endet mit der Stellung einer kulturanthropologischen Aufgabe, die Mauro Pesce in Anschluss an mehreren Essays, die er mit der Literaturwissenschaftlerin und Anthropologin Adriana Destro veröffentlicht hat, mit einer profilierten Interpretation erfüllt. François Vouga Kontroverse Ist die Apokalyptik die Mutter der neutestamentlichen Theologie? Eine alte Frage neu gestellt. Einleitung zur Kontroverse 44 ZNT 22 (12. Jg. 2008) 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 44 ZNT 22 (12. Jg. 2008) 45 Ist die Apokalyptik die Mutter der neutestamentlichen Theologie? Ich bin der Einladung gefolgt, auf diese Frage zu antworten, stoße dabei aber auf mindestens drei Probleme: Erstens ist sich die Forschung bis heute nicht einig darüber, was »apokalyptisch« bedeutet. Die Antwort auf die gestellte Frage kann je nach Definition einem »ja« und dann wieder »nein« lauten. Auch die Rede von der »neutestamentlichen Theologie« bedarf der Rückfrage, weil sie den Singular »Theologie« verwendet, während wir heute besser von »Theologien« in der Mehrzahl sprechen. Die neutestamentlichen Schriften sind theologisch überaus vielgestaltig. Bestimmte frühchristliche Kreise mögen einer wie auch immer zu definierenden »Apokalyptik« viel verdankt haben, während andere sich in eine ganz andere Richtung orientierten. Und drittens: Auch der Singular »Mutter« ist problematisch. Historische Bewegungen sind nie monokausal auf eine einzige Ursache zurückzuführen. Wenn wir unsere Frage mit »ja« beantworteten, würden wir von der falschen Voraussetzung ausgehen, dass das frühe Christentum hier eine Ausnahme darstellt. Wir können die genannten Schwierigkeiten jedoch umgehen und zugleich mehr aus unserem Thema herausholen, wenn wir die Frage anders stellen. Ich möchte deshalb »Apokalyptik« durch »apokalyptische Eschatologie« ersetzen und darunter ein ganzes Bündel an Themen und Erwartungen fassen, die im nachexilischen Judentum bestimmend waren und die auf ältere Traditionen der hebräischen Bibel zurückzuführen sind: Eine bald oder unmittelbar bevorstehende Zeit nie dagewesener Not, das dramatische Erscheinen und Eingreifen Gottes und / oder eines »messianischen« Mittlers, die Auferstehung der Toten, das göttliche Gericht über die Menschheit und die Erneuerung oder die Neuschöpfung der Welt. Anstatt die Mutter der neutestamentlichen Theologie zu finden, möchte ich lieber fragen, in welchem Maße apokalyptische Eschatologie im eben beschriebenen Sinn in das theologische Denken der kanonischen Verfasser und der frühchristlichen Gruppen eingegangen ist, wie sie uns in den christlichen Quellen des 1. Jh.s begegnen. Wir nähern uns unserem Thema mit vier Feststellungen an, die vielen so selbstverständlich erscheinen, dass man sie zumeist gar nicht weiter beachtet: (1) In den neutestamentlichen Schriften wird deutlich, dass viele von denen, die Jesus nachfolgten, die eschatologische Wende für gekommen hielten. Die Jesustradition enthält Logien, die offen erklären, dass die Sanduhr der gewöhnlichen Zeit so gut wie abgelaufen ist: Mk 9,1; 13,13; Mt 10,23 (vgl. EvTh 111 und Lk 18,8: »Er wird ihnen Recht schaffen in Kürze«). Ob diese Aussprüche nun auf Jesus selbst zurückgehen oder nicht, sie wurden jedenfalls von frühen christlichen Kreisen tradiert, weil sie die Inhalte dieser Aussprüche für überaus ansprechend hielten. In Übereinstimmung damit bezeugt Lk 19,11 und Apg 1,6 die Anschauung, dass die eschatologische Klimax in naher Zukunft bevorsteht (vgl. Apg 3,19-21). Das hohe Alter dieser Hoffnung ist durch den vorpaulinischen aramäischen Gebetsruf »Maranatha« (»Unser Herr, komm! «, vgl. 1Kor 16,22; Did 10,6) belegt, und zusätzlich dadurch gestützt, dass sich die Jesusbewegung auf Johannes den Täufer mit seiner ihm eigenen Naherwartung (Mt 3,7-12; Lk 3,7-9.16f.) zurückführte. Außerdem sollten wir uns verdeutlichen, dass der früheste erhaltene christliche Text, der um 50 / 51 n.Chr. entstandene 1. Thessalonicherbrief, voll von apokalyptischer Erwartung ist (1,10; 2,12.19- 21; 3,4.13; 4,13-5,11.24). Offenbar hat Paulus diese intensiven apokalyptischen Erwartungen Mitte der dreißiger Jahre von anderen Christen übernommen, und wenn er in Gal 2,1.10 betont, dass er sich mit den Autoritäten in Jerusalem im Grundsatz einig war, dann bezieht sich dies fraglos auch auf die elementaren eschatologischen Kontroverse Dale C. Allison, Jr. Apokalyptische Eschatologie und die Anfänge des Christentums 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 45 46 ZNT 22 (12. Jg. 2008) Grundannahmen, wie wir sie in nichtpaulinischen Quellen vorfinden, etwa die in Mk 13,30; Hebr 10,37; Jak 5,8; 1Petr 4,17; Offb 22,20 bezeugte Naherwartung. Man wird also kaum in Zweifel ziehen können, dass in vielen frühchristlichen Gemeinden eschatologische Erwartungen vorherrschten, und zwar seit den ersten Anfängen der Jesusbewegung. (2) Jesus wurde von seinen Anhängern schon früh »(der) Messias« bzw. »Christus« (gr. ho christos; hebr. ma¯schîah) genannt. Was bedeutete diese Bezeichnung für sie? Bei aller Vielfalt des antiken Judentums war doch die Hoffnung auf einen künftigen davidischen König (Jes 11,1-16; Jer 23,5; 33,17-22; Ez 34,23; 37,24) weit verbreitet, und »(der) Messias« wie auch »(der) Spross« konnte im NT und auch sonst (vgl. 1QSa 2,12; 4Esra 12,32; syrBar 29,3; 30,1) bei passender Gelegenheit auf diese eschatologische Gestalt bezogen werden. Zwar war »Christus« in heidenchristlichen Gemeinden schon bald kaum mehr als ein Eigenname, aber dies war gewiss nicht sein ursprünglicher Sinn. Als jüdische Christen diesen Titel erstmals auf Jesus übertrugen, krönten sie ihn als Israels königlichen Befreier, machten ihn zu ihrem eschatologischen König, gerade so, wie später Simon bar Kosiba als »Messias-König« gefeiert wurde (jTaan 68d; bTaan 93b). Die vorpaulinische Tradition in Röm 1,3f.; 1Kor 15,3 zeigt, dass dieses Bekenntnis zumindest in Teilen der frühen christlichen Gemeinden grundlegend war. (3) Die Synoptiker, das Johannesevangelium, die Apostelgeschichte, Paulus, der Hebräerbrief und die Johannesapokalypse sind sich einig über die weitreichende Bedeutung des Glaubens, dass Gott Jesus von den Toten erweckt hat. Dieser Befund ist erstaunlich, wenn wir bedenken, dass sich die jüdische Auferstehungshoffnung ganz überwiegend oder ausschließlich nicht auf die Auferstehung eines Individuums vor dem Ende, sondern auf eine allgemeine Auferstehung am jüngsten Tag bezieht, sei es nur der Gerechten oder aller Menschen, der Guten wie der Bösen. Dass Jesu Auferstehung in dieser Weise, d.h. im engeren Sinne eschatologisch verstanden wurde, wird terminologisch in der Wendung anastasis nekro¯ n explizit (vgl. Apg 4,2; Röm 1,4; 1Petr 1,3), die als ein terminus technicus für die endzeitliche Auferstehung (vgl. Mt 22,31; Lk 20,35; Apg 17,32; 23,6; 24,21; 26,23; 1Kor 15,12-13; Hebr 6,2; Did 16,6) verwendet wurde. Jesu Auferstehung galt also zumindest in einem frühen Stadium nicht als isoliertes Geschehen inmitten der Geschichte, sondern als Auftakt zur allgemeinen Auferstehung. Aus diesem Grund konnte Paulus von Jesus als dem »Erstling der Entschlafenen« sprechen (1Kor 15,20; vgl. 15,23). Auch die Überlieferung von einer Auferstehung »vieler Heiliger« in Mt 27,51-53 gehört hierher. (4) Die frühen Christen waren vielerorts intensiv damit befasst, Beziehungen zwischen biblischen Aussagen über die eschatologische Zukunft und Ereignissen des Lebens und Sterbens Jesu herzustellen. Nach Mt 11,10 / Lk 7,27 (ein sog. Q- Text) hat sich Mal 3,1 (»Siehe, ich will meinen Boten senden, der vor mir her den Weg bereiten soll«) in Johannes dem Täufer erfüllt. Ebenso wird Sach 13,7 (»Schlage den Hirten, dass sich die Herde zerstreue«) in Mk 14,27 auf die Passion Jesu bezogen. Die Rede des Petrus in Apg 2 sieht in Joel 3,1 (»Und nach diesen Tagen will ich meinen Geist ausgießen auf alles Fleisch …«) eine Vorhersage des Pfingstereignisses. Die vorpaulinische Formel in 1Kor 15,3-7 gebraucht im Hinblick auf Jesu Tod und Auferstehung an zwei Stellen die Wendung »nach der Schrift«. Diese Beispiele ließen sich mühelos vermehren. Die frühchristliche Literatur ist voll von expliziten und impliziten Aussagen über erfüllte Prophetie. Wir haben es hier mit einem weit verbreiteten Phänomen zu tun. Wie ist das zu erklären? Zum Teil liegt die Antwort, warum die Geschichte Jesu und der werdenden Kirche als Erfüllung biblischer Prophetien gedeutet wurde, in der frühchristlichen Daseinsauffassung, in »den letzten Tagen« zu leben (vgl. Apg 2,17; 27,20; Hebr 1,2; Jak 5,3; 2Petr 3,3; Did 16,3; Barn 4,9). Dies hatten die frühen Christen mit den Verfassern der Texte vom Roten Meer gemein, die ebenfalls biblische Prophetien auf sich bezogen und der Auffassung waren, in den »letzten Tagen« zu leben. Zu den bisherigen Beobachtungen (Naherwartung in den frühen Gemeinden einschließlich Paulus, dem Verfasser der ältesten erhaltenen christlichen Dokumente, deren Glaube an Jesus als Messias, an die Auferstehung der Toten, an eschatologische Prophetien, die in Erfüllung begriffen sind und sich in unmittelbarer Zukunft werden) möchte ich anmerken, dass es sich hier- Kontroverse 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 46 Dale C. Allison, Jr. Apokalyptische Eschatologie und die Anfänge des Christentums ZNT 22 (12. Jg. 2008) 47 bei überwiegend um keineswegs marginale Anschauungen handelt. Vielmehr berührten sie den Glauben der Menschen, die ihnen anhingen, in zentraler Weise. Dazu in aller Kürze: Die Erwartung der Wiederkunft Jesu ist prägend in den synoptischen Evangelien, in den Reden der Apostelgeschichte und in den Paulusbriefen, hier besonders im 1. Thessalonicherbrief. Das Bekenntnis zur Messianität Jesu spielt eine herausragende Rolle im Handlungsgang der synoptischen Evangelien (Mt 16,16-20; Mk 8,27-30; Lk 9,18-21) und der Christus-Titel ist in dem alten Bekenntnis 1Kor 15,3-7 belegt, während »Same Davids« in der in Röm 1,3f. erhaltenen Tradition vorliegt. Der Christus-Titel ist ebenfalls in einigen Reden der Apostelgeschichte von zentraler Bedeutung (Apg 2,31. 36. 38; 3,18.20; 4,10; 5,42; 8,5; u.ö.). Die tragende Rolle der Auferstehung ist evident in den Leidensweissagungen, in den Schlusskapiteln der Evangelien, in den Reden der Apostelgeschichte und in der paulinischen Argumentation in 1Kor 15, besonders in der frühen Bekenntnistradition 15,3-7. Hier findet sich auch die Wendung »nach der Schrift«, und die Jesustradition und die Apostelgeschichte enthalten zahlreiche Aussagen über die Erfüllung eschatologischer Prophetien. Paulus, für den das baldige Ende außer Frage stand, war der Überzeugung, dass die Schriften »um unsertwillen« (1Kor 10,9) geschrieben waren; Röm 9-11 ist als eine ausführliche Überlegung zu verstehen, in der Paulus über seine Besorgnis reflektiert, dass sich einige eschatologische Erwartungen, die mit Israel in Zusammenhang stehen, noch nicht erfüllt haben. Nach den vorangegangenen Beobachtungen ist der Einfluss apokalyptischer Eschatologie auf weite Bereiche frühchristlichen Denkens schwerlich zu leugnen. Das heißt natürlich nicht, dass sich die Anfänge christlicher Theologie monokausal allein auf diesen Impuls zurückführen lassen. Vieles ist von apokalyptischer Eschatologie unberührt, etwa die prominente Stellung des Liebesgebotes. Überhaupt wird man nicht sagen können, dass frühchristliche Ethik von Eschatologie gespeist wurde. Das nahe Ende selbst und als solches bringt keine Sollens-Sätze hervor. Dafür braucht es eine traditionelle Moral. Zwar sind im Neuen Testament einige ethische Imperative durch Naherwartung motiviert - man vergleiche nur 1Kor 7,25-31 - und fraglos verstärken eschatologische Erwartungen die Dringlichkeit ethischer Unterweisung. Im Großen und Ganzen orientierte sich aber die frühe Jesusbewegung an der jüdischen und griechisch-römischen Ethik. Gleichwohl: Die Feststellung, dass nicht alle wichtigen Elemente frühchristlichen Denkens mit apokalyptischer Eschatologie in Zusammenhang stehen, bestreitet nicht ihre unleugbare Bedeutung. Hinzu kommt, dass ja nicht nur das frühe Christentum, sondern auch das Judentum des ersten Jahrhunderts ein starkes apokalyptischeschatologisches Gepräge aufweist. Der neutestamentliche Befund ist insofern noch nicht einmal eine Überraschung. Nicht nur in der autoritativen Schriftensammlung des späteren Bibelkanons gab es apokalyptische Texte - hierzu zählen Texte wie Jes 24-27, Dan, Sach 9-14 - sondern etwa auch Teile des 1. Henochbuches, einige der Sibyllinischen Orakel und das Testament des Mose waren vor der Zeit Jesu und des Paulus im Umlauf; und Dale C. Allison, Jr., ist seit 1997 am Pittsburgh Theological Seminary und ist dort Errett M. Grable Professor of New Testament Exegesis and Early Christianity. Vorher war er an der Texas Christian University (Fort Worth, Texas) und an der Friends University (Wichita, Kan.) tätig. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen das Judentum zur Zeit des Zweiten Tempels, er ist Verfasser von Büchern zur frühchristlichen Eschatologie, zum Matthäusevangelium, zur sogenannten Redequelle, zum historischen Jesus und zum Testament Abrahams. Seine jüngsten Buchveröffentlichungen sind: Resurrecting Jesus: The Earliest Christian Tradition and Its Interpreters (2005), Studies in Matthew: Interpretation Past and Present (2005). Zur Zeit arbeitet Prof. Allison an einem Kommentar zum Brief des Jakobus. Dale C. Allison 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 47 Kontroverse 48 ZNT 22 (12. Jg. 2008) Jahrzehnte später, zumal in Zeiten des eschatologisch inspirierten Aufstands unter Simon bar Kosiba, las man das 4. Esrabuch, die syrische Baruchapokalypse oder die Apokalypse Abrahams. Auch die Texte vom Toten Meer, die in den Jahren des Wirkens Jesu und des Paulus zirkulierten, waren voll von apokalyptischen Erwartungen. Nicht zuletzt die Popularität des später kanonisierten Danielbuches, wie sie in den Qumrantexten, in der frühchristlichen Tradition und sogar bei Josephus (Ant. 10,268) greifbar ist, lenkt unser Augenmerk darauf, dass das Christentum in einer Blütezeit apokalyptischer Eschatologie die Bühne der Geschichte betrat. Eine starke apokalyptischeschatologische Prägung der frühen christlichen Gemeinden ist also keineswegs verwunderlich. Die ersten beiden Kapitel des Lukasevangeliums spiegeln die verbreitete Erwartung, »dass einer aus ihrem Lande die Weltherrschaft erlangen werde« (Flav. Jos. Bell. 6,312). In der Wahrnehmung des Tacitus waren im Vorfeld des jüdischen Krieges die meisten Juden »überzeugt von dem in den alten priesterlichen Aufzeichnungen enthaltenen Wort, dass zu eben dieser Zeit das Morgenland erstarke und dass man von Judäa aus sich der Weltherrschaft bemächtigen werde« (Tacitus, Hist. 5,13). Zieht man all dies in Betracht, ist die Annahme einer starken apokalyptisch-eschatologischen Prägung des frühen Christentums historisch plausibel und sie erklärt auch einiges, das sonst nicht leicht zu verstehen wäre. Dreierlei dazu: (1) Warum akzeptierten einige Christen kurz nach Jesu Weggang Nichtjuden in ihrer Mitte, ohne dass diese zum Judentum übertraten, sich beschneiden ließen und die Gesetze des Mose beachteten? Eine mögliche Antwort lautet, dass dies in erster Linie dem Einfluss des Paulus und seiner besonderen Theologie (Rettung allein durch Glauben) zuzuschreiben ist. Oder man verweist auf die liberale Theologie der sogenannten »Hellenisten« in Jerusalem, von denen in den ersten Kapiteln der Apostelgeschichte die Rede ist. Andere nehmen an, dass Jesus selbst auf Nichtjuden zugegangen ist, wie die Evangelien mehrfach andeuten, oder dass seine Zuwendung zu »Zöllnern und Sündern«, Menschen also, die notorisch nicht nach der Tora lebten, den Grund für eine gesetzesfreie Mission gelegt hat. So bedenkenswert diese Antworten sein mögen, so wenig darf doch außer Acht gelassen werden, dass die frühe Heidenmission frühjüdische eschatologische Erwartungen reflektiert. Zwar gibt es auch alte Traditionen über die endzeitliche Vernichtung der Heiden, etwa im Jubiläenbuch, aber man erwartete auch das Hinzukommen der Heiden zum Gottesvolk (Jes 2,1-3; 25,6; 60,6; Sach 8,23; äthHen 91,14; PsSal 17,31; Sib 3,710- 20; 5,493-500), und zwar - wie Paula Fredriksen gezeigt hat - keineswegs in der Weise einer Einverleibung in das jüdische Volk durch die Beschneidung als Zeichen des Abrahambundes. Man erwartete vielmehr »die geistig-moralische ›Umkehr‹ der Völker, ihre Abkehr von der Idololatrie und den damit verbundenen Sünden und die Hinwendung zum lebendigen Gott. Aber moralische Umkehr ist keine halachische Umkehr, und Heiden, die der Idololatrie abgeschworen haben, sind gleichwohl Heiden. Wenn Gott seine Herrschaft aufrichtet, werden diese beiden Größen miteinander ›sein Volk‹ sein: Israel, befreit aus dem Exil, und die Heiden, befreit von der Idololatrie. Heiden werden als Heiden errettet. Sie werden nicht eschatologisch zu Juden.« 1 Genau dies ereignete sich in der Auffassung vieler Christen vor ihren Augen: Heiden schwörten ihren heidnischen Göttern ab und bekehrten sich zum dem wahren Gott, dem Gott Israels (1Thess 1,9), ohne dass sie damit observante Juden wurden. Diese Position, die freilich keineswegs unumstritten war, wurde nach der Darstellung von Apg 15 auch beim sogenannten »Apostelkonzil« vertreten, als sich Jakobus mit einem Mischzitat alttestamentlicher Prophetien aus Jes 45,21; Jer 12,15 und Am 9,11-12 zu Wort meldet und es kommentiert: »›Danach will ich mich wieder zu ihnen wenden und will die zerfallene Hütte Davids wieder bauen (…), damit die Menschen, die übrig geblieben sind, nach dem Herrn fragen, dazu alle Heiden, über die mein Name genannt ist‹ (…). Darum meine ich, dass man denen von den Heiden, die sich zu Gott bekehren, nicht Unruhe mache« (Apg 15,16- »Die Aufnahme von Heiden in das Volk Gottes wurde im Rahmen apokalyptischeschatologischer Vorstellungen als Erfüllung von Prophetien über ›die letzten Tage‹ gedeutet...« 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 48 Dale C. Allison, Jr. Apokalyptische Eschatologie und die Anfänge des Christentums ZNT 22 (12. Jg. 2008) 49 18). Mit anderen Worten: Diese »Heiden« müssen nicht Juden werden. Hier kommt eine Position einflussreicher frühchristlicher Missionare zur Sprache, ganz gleich, wie die historische Detailtreue der lukanischen Darstellung zu bewerten ist: Die Aufnahme von Heiden in das Volk Gottes wurde im Rahmen apokalyptisch-eschatologischer Vorstellungen als Erfüllung von Prophetien über »die letzten Tage« gedeutet - mit der Folge, dass für diese Heiden die Forderung der Toraobservanz entfiel. (2) Aus den Paulusbriefen und bestimmten in der Apostelgeschichte verarbeiteten Traditionen ist ersichtlich, dass das frühe Christentum sein Zentrum mindestens während der ersten zwei bis drei Jahrzehnte in Jerusalem hatte. Die jüdische Hauptstadt war das Hauptquartier des neuen Glaubens. Das ist aus zwei Gründen überraschend: Erstens war die Jesusbewegung galiläischen Ursprungs. Jesus und seine Familie stammten aus dem Norden, ebenso die meisten von denen, die ihm nachgefolgt waren. Warum siedelten dann viele von ihnen - man denke an Petrus, die Zebedäussöhne oder den Herrenbruder Jakobus - zumindest zeitweise nach Jerusalem über? Warum sind sie, die Jesus nach Jerusalem nachgefolgt waren, dort geblieben? Die in Mk 16,7 und Joh 21 notierte Rückkehr nach Galiläa unmittelbar nach der Kreuzigung Jesu war offenbar nur von kurzer Dauer. Obwohl es sich um Galiläer handelte, sind sie bald wieder nach Jerusalem gezogen und dort auch geblieben. Dies ist - zweitens - auch deshalb überraschend, weil Jesus in Jerusalem zu Tode gekommen ist, es dort also nicht nur starken Widerstand gegen ihn und sein Gefolge gab, sondern auch eine reale Gefahr. Wiederum: Aus welchem Grund sind die Nachfolger Jesu nicht nach Galiläa zurückgekehrt? Die vorhandenen Quellen beantworten diese Frage nicht, doch liefert die Prominenz apokalyptischer Eschatologie in der frühen Jesusbewegung eine plausible Erklärung. Ziehen wir nämlich die unter den frühen Christen verbreitete Erwartung der baldigen Wiederkunft Jesu in Betracht, fällt die Wahl des Ortes seiner Parusie von selbst auf Jerusalem, war doch die judäische Hauptstadt von jeher Mittelpunkt von Endzeit-Szenarios, etwa in Jesaja 60-62 oder Ezechiel 40-48. Nach Jer 17,25 wird Gott in Jerusalem Davids Thron aufrichten. In Tob 14,5; äthHen 90,28-38 stoßen wir auf die Vision eines endzeitlichen Tempels in der Heiligen Stadt, und in Sach 8,7f.; Bar 5,5; PsSal 12 auf die Erwartung einer eschatologischen Sammlung der Diaspora in Jerusalem. Nach dem Targum zu Sach 14,4-5 rollen die Gebeine der Toten durch unterirdische Tunnel zum Ölberg, um dort am jüngsten Tag auferweckt zu werden, u.s.w. Die eschatologischen Ereignisse weisen immer wieder auf Jerusalem. Wenn nun die frühen Christen von eschatologischen Erwartungen erfüllt waren und mit der baldigen Parusie Jesu in der Heiligen Stadt rechneten, ist es nicht verwunderlich, dass sie sich dort niederließen. (3) Die frühchristliche Literatur handelt an zahllosen Stellen von »Gottes Geist« bzw. vom »heiligen Geist«. Verglichen mit Häufigkeit und Gewicht der Texte in der Hebräischen Bibel sowie der zwischentestamentlichen und der rabbinischen Literatur lässt der frühchristliche Befund in aller Deutlichkeit die herausragende Rolle der Rede vom »Geist« erkennen. Wie ist das zu erklären? Bedenkt man die biblische Assoziation des Geistes mit Charismen und Wundern (Ex 31,3; Ri 14,6.19; 15,14; 1Sam 10,6.10), dann liegt es nahe, an intensive und spektakuläre religiöse Erfahrungen zu denken. Darüber hinaus ist aber einmal mehr auf die frühchristliche Bedeutung apokalyptischer Eschatologie zu verweisen. In den jüdischen Quellen ist der Geist vielfach Gegenstand eschatologischer Hoffnung (vgl. etwa Jes 32,15; 44,3; Ez 11,19; 36,25-27; Joel 2,28-29; Sach 12,10; Jub 1,23; TestJud 24,3). Für die frühen Christen war die Fülle des Geistes nicht eine Sache der Zukunft, sondern der messianischen Gegenwart. Nach Apg 2,17 sahen sie die Weissagung aus Joel 3,1f (»Und nach diesem will ich meinen Geist ausgießen über alles Fleisch …«) als erfüllt an. Die Rede des Petrus in Apg 2 reflektiert, wie immer dieser Text ansonsten zu beurteilen ist, mit der Auffassung von der Erfüllung der Joel-Weissagung frühchristliches Denken. Die Gegenwart des Geistes bedeutete die Gegenwart des Endes: »Wenn ich aber die bösen Geister durch den Geist Gottes austreibe, so ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen« (Mt 12,28). Man könnte auch umgekehrt formulieren: »Die Gegenwart des Endes bedeutete die Gegenwart des Geistes.« 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 49 Kontroverse 50 ZNT 22 (12. Jg. 2008) Die Gegenwart des Endes bedeutete die Gegenwart des Geistes. Jedenfalls verstanden Christen ihre eigenen Erfahrungen innerhalb dieses wechselseitigen Zusammenhangs. Ich habe bisher Argumente dafür vorgebracht, dass vieles von dem, was wir über die frühe Jesusbewegung wissen, auf die zentrale Bedeutung apokalyptischer Eschatologie innerhalb ihres religiösen Universums schließen lässt. Außerdem habe ich zu zeigen versucht, dass auf der Grundlage dieser These vieles, was für das frühe Christentum kennzeichnend ist, eine plausible Erklärung findet, etwa die beschneidungsfreie Heidenmission sowie die Deutung religiöser Erfahrungen als Ausdruck göttlicher Geistmitteilung. Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass die vorgetragene These auch aus der Sicht moderner Kulturanthropologie erhellend ist. Unterschiedlichste religiöse Systeme verschiedener Epochen kennen die Hoffnung auf eine baldige Überwindung der existierenden Sozialordnung durch eine neue Wirklichkeit. Die sogenannten Cargo-Kulte im Pazifik, messianisch-jüdische Gruppen, prophetische Bewegungen in Amerika und christliche Sekten, die in unmittelbarer Naherwartung leben, sind Beispiele dafür. 2 Zahlreiche für diese »milleniaristischen« Gruppen typische Merkmale finden wir auch in der frühchristlichen Literatur: • die Auffassung der eigenen Gegenwart als einer Zeit des Leidens und der Katastrophe • die Vorstellung von einer übernatürlichen Macht, die alles Übel beseitigt und die ungerechten Verhältnisse überwindet • die Erwartung einer baldigen und endgültigen Heilswende • Konzepte von Erweckung und Evangelisierung • Tendenz zum Egalitarismus • die Einteilung der Welt in Gerettete und Verlorene • Tendenz zum religiösen Tabubruch • Konzentration auf die indigene Kultur und Tradition (Nativismus) und auf die Rettung der eigenen Gemeinschaft • Substitution traditioneller verwandtschaftlicher und sozialer Zugehörigkeit durch eine ideale Familie • neue Medien des Sakralen • Forderung konsequenter Hingabe und bedingungsloser Loyalität • Ausrichtung auf einen charismatischen Anführer • der Besitz von Sonderoffenbarungen • Erwartung des wiederhergestellten Paradieses und die Wiederkehr der Ahnen • das Insistieren auf der Realisierbarkeit von Utopien Alle diese Elemente finden sich - den detaillierten Nachweis muss ich aus Platzgründen schuldig bleiben - wiederholt auch im Neuen Testament und der übrigen frühchristlichen Literatur. Meine Erklärung dafür lautet, dass Jesus selbst ein millenaristischer Prophet und das frühe Christentum in seinen Anfängen auf weite Strecken eine millenaristische Bewegung war. 3 Wir kehren zu unserer Ausgangsfrage zurück: War die »Apokalyptik« die Mutter der neutestamentlichen Theologie? Obwohl ich - wie gesagt - mit der Formulierung der Frage nicht ganz glücklich bin, zögere ich doch nicht zu behaupten, dass jüdische apokalyptische Eschatologie frühchristliches Denken wesentlich geprägt hat. Dazu passt, dass Elemente apokalyptischer Eschatologie mehr oder weniger gehäuft in allen frühchristlichen Texten des ersten Jahrhunderts vorliegen, mit Ausnahme des Philemonbriefes und des 2. und 3. Johannesbriefes, dreier notorisch kurzer Texte. In der Physik gibt es die These, dass am Anfang aller natürlichen symmetrischen Strukturen (Muscheln, Kristalle, Galaxien) die originäre Symmetrie des Urknalls steht. Ganz ähnlich dürfte die nahezu flächendeckende Omnipräsenz apokalyptisch-eschatologischer Elemente in den frühchristlichen Quellen auf einen gemeinsamen apokalyptischen Ursprung bei Jesus und seinen ersten Nachfolgerinnen und Nachfolgern zurückgehen. 4 Der Beitrag wurde übersetzt von PD Dr. Manuel Vogel/ Frankfurt a.M. l Anmerkungen 1 P. Fredriksen, Judaism, the Circumcision of Gentiles, and Apocalyptic Hope: Another Look at Galatians 1 and 2, JTS 42 (1991), 547. 2 Ausführlich dazu D.C. Allison, Jr., Jesus of Nazareth: Millenarian Prophet, Minneapolis 1998, 78-94 und übereinstimmend G. Theißen, Jesus - Prophet einer millenaristischen Bewegung? Sozialgeschichtliche 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 50 Dale C. Allison, Jr. Apokalyptische Eschatologie und die Anfänge des Christentums ZNT 22 (12. Jg. 2008) 51 Überlegungen zu einer sozialanthropologischen Deutung der Jesusbewegung, in: A. Merz (Hg.), Jesus als historische Gestalt: Beiträge zur Jesusforschung, Göttingen 2003, 197-228. 3 Allison, Jesus. Vgl. weiter J. Frey, Die Apokalyptik als Herausforderung der neutestamentlichen Wissenschaft. Zum Problem: Jesus und die Apokalyptik, in: M. Becker / M. Öhler (Hgg.), Apokalyptik als Herausforderung neutestamentlicher Theologie (WUNT II/ 214), Tübingen 2006, 23-94. 4 Vgl. weiter die hilfreichen Beobachtungen bei F. García Martínez, Is Jewish Apocalyptic the Mother of Christian Theology? , in: E.J.C. Tigchelaar (Hg.), Qumranica Minor I: Qumran Origins and Apocalyptic, Leiden / Boston 2007, 129-51. Er kommt im Wesentlichen zu den selben Ergebnissen wie ich. 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 51 I. Das Problem 1. Ernst Käsemann stellte sich in seinem berühmten Aufsatz aus dem Jahre 1960 und im folgenden von 1962 1 das Problem des Ursprungs der christlichen Theologie. Seiner Meinung nach war die These Albert Schweitzers zurückzuweisen, »die älteste Geschichte der Dogmen von der Parusieverzögerung ausgehend zu erklären«. Nach Schweitzer wurde die Kontinuität mit der eschatologischen Sichtweise Jesu (der das bevorstehende Ende der Zeit erwartete) im frühen Christentum gebrochen, als sich die Parusie zu verzögern begann. Käsemann zufolge liegt das Zentrum der Erfahrung Jesu jedoch nicht in der Erwartung des bevorstehenden Kommens des Gottesreiches, sondern in der Erfahrung der »Unmittelbarkeit des nahen Gottes«. 2 Die Predigt Johannes des Täufers war apokalyptisch, so aber nicht die Predigt Jesu, der die Verkündigung nicht in zeitlicher Dimension las. »Apokalyptisch« ist dagegen die älteste christliche Theologie, die sich genau darin von Jesus entfernt: Durch ihr apokalyptisches Wesen. Diese interpretiert nämlich die österliche Erfahrung, d.h. die Auferstehung Jesu, mit verschiedenen zeitlichen Kategorien jüdischer Eschatologie: Sie wendet auf Jesus die Kategorie des »Menschensohnes« an (was Jesus nicht tat) und erwartet seine Wiederkehr, sie erwartet die Wiederaufrichtung des Volkes Israel und in dieser Erwartung versteht sie sich selbst als die Gemeinschaft der letzten Zeiten, als den heiligen Rest. Die christliche Theologie ist somit Nachfolgerin der jüdischen Apokalyptik, während Jesus dies nicht war. Im Gegenteil, die Predigt Jesu kann nach Käsemann nicht einmal unter die Kategorie »Theologie« gerechnet werden. Er betont ausdrücklich: »Man kann die Predigt Jesu nicht im eigentlichen Sinne als Theologie definieren.« Einige Aspekte der Analyse Käsemanns sind eindeutig veraltet: (a) Käsemann arbeitet ausschließlich mit kanonischen Texten des Neuen Testaments (auch wenn er die Didache in Betracht zieht) und dies ist heute historisch unmöglich. Man kann unter Auslassung des Thomasevangeliums, der Himmelfahrt des Jesaja, der Papiasfragmente, der judenchristlichen Evangelien und vieler anderer Texte des 2. Jh.s, die auf Strömungen schließen lassen, die in den ersten Jahrzehnten der Geschichte der Jesusbewegung wurzeln, nicht über die Zeit der ersten christlichen Theologien sprechen. (b) Die Entstehung der christlichen Theologie ist Teil des größeren Problemfeldes der Entstehung des Christentums, das im Zentrum der aktuellen exegetischen und historischen Debatte steht. Die historischen Hypothesen, die mir am überzeugendsten scheinen, begreifen die Gestalt Jesu innerhalb der jüdischen Kultur und Religion; viel mehr als dies Käsemann macht, der dagegen meint, Jesus habe einen Bruch mit seinem jüdischen Umfeld bewirkt. Ferner setzt die aktuelle Forschung die Entstehung des Christentums zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt an als Käsemann dies tat. Das in den Thesen Käsemanns implizite Hauptproblem ist jedoch fundamental und noch immer höchst aktuell: Es ist das Problem der Kontinuität oder Diskontinuität zwischen Jesus und der ersten christlichen Theologie. Die Entstehung der christlichen Theologie ist für Käsemann eine beträchtliche Neuheit im Bezug auf Jesus, die dazu zwingt, sich dem historischen Problem der Diskontinuität zwischen den ersten christlichen Gemeinden und Jesus zu stellen. Eine erste notwendige Beobachtung ist terminologischen Charakters. Käsemann definiert »apokalyptisch« auf eine Weise, die den Definitionen der aktuellen Forschung (und auch der Forschung zu seiner Zeit) entgegensteht. F. Garçia Martinez hat auf überzeugende Weise gezeigt, dass das, wovon Käsemann spricht, nicht »apokalyptisch« ist. 3 Allison hat zu Recht festgestellt, dass man heute nicht mehr von Apokalyptik spre- Kontroverse Mauro Pesce Die Lebenspraxis Jesu am Anfang seiner Theologie und der Theologie seiner Jünger 52 ZNT 22 (12. Jg. 2008) 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 52 ZNT 22 (12. Jg. 2008) 53 Mauro Pesce Die Lebenspraxis Jesu am Anfang seiner Theologie und der Theologie seiner Jünger chen kann, wie dies Käsemann tat, denn »die Forschung [ist] bis heute nicht einig darüber, was ›apokalyptisch‹ bedeutet«. Schon Bultmann bemerkte, dass es besser gewesen wäre, einfach von jüdischer Eschatologie zu sprechen. 4 Eigentlich meint Käsemann mit christlicher Apokalyptik nicht einfach die verschiedenen jüdisch-eschatologischen Konzeptionen, sondern das Abhängigmachen des christlichen Glaubens von der Tatsache, dass die eschatologischen Ereignisse sich in zeitlich bestimmten Momenten ereignen. Es ist die untrennbare Verknüpfung einer eschatologischen Konzeption mit ihrem zeitlich präzisen Eintreten, die Käsemann als »apokalyptisch« definiert. Die Tatsache, dass die Forschung diese Konzeption nicht als Apokalyptik anerkennt, ist im Grunde zweitrangig. Der Hauptpunkt der These Käsemanns besteht nämlich nicht im Gebrauch des Begriffes »Apokalyptik«, sondern in drei wesentlichen Aussagen: 1. dass Jesus nicht Theologe war; 2. dass die christliche Theologie nach dem Tode Jesu in Verbindung mit dem Osterereignis und der Auferstehung Jesu ihren Anfang nimmt; 3. dass die Mutter dieser ersten christlichen Theologie die Idee ist, dass die Auferstehung Jesu im Lichte verschiedener jüdischeschatologischer Erwartungen zu interpretieren ist, die sich in determinierten Zeiten, Gelegenheiten und Personen ereignen würden. 2. Ich bekräftige mein Einvernehmen mit Allison, wenn er schreibt, dass »die Forschung bis heute nicht einig darüber [ist], was ›apokalyptisch‹ bedeutet«. Ich füge hinzu, dass der Begriff »Apokalyptik« Ende des 19. Jahrhunderts entstand und dass er auf den Text der Apokalypse des Johannes ausgerichtet ist. Begriffe können entstehen, aber glücklicherweise können sie auch aussterben. Ich glaube, dass es dringend nötig wäre, für immer darauf zu verzichten, von Apokalyptik zu sprechen. Auf jeden Fall ist es immer vonnöten, wenn man diesen Ausdruck dennoch benutzen möchte, genau zu definieren, was man darunter versteht. Für eine Definition sind bei wissenschaftlicher Vorgehensweise einige wesentliche Unterscheidungen notwendig. Im Bereich verschiedener Strömungen des Judentums des 1. Jh.s ist es immer nötig zu unterscheiden, ob man (a) von einer literarischen Gattung oder (b) einer religiösen Gruppierung oder Gemeinschaft sprechen möchte, oder ob man (c) an einen Begriff oder an ein theologisches »Motiv« denkt, oder schließlich ob es sich (d) um eine religiöse Praxis handelt. Die Existenz von theologischen Motiven oder von Begriffen, die einige »apokalyptisch« definieren, bedeutet allerdings nicht, dass Gruppen oder Gemeinschaften, die als apokalyptisch definiert werden können, tatsächlich existiert haben. Denn verschiedene religiöse Gruppierungen können einige Ideen teilen, sich in anderen jedoch unterscheiden. Die Tatsache, dass sich in einer religiösen Gruppierung eine Praxis findet, berechtigt durchaus nicht dazu, diese Praxis als Charakteristikum allein dieser Gruppe zu definieren. Das Gebet ist eine religiöse Praxis, die sich bei den Pharisäern, den Täufern und bei allen nicht-jüdischen Religionen des 1. Jh.s findet. Die Praxis der »Himmelreise« findet sich weit verstreut in vielen Religionen und religiösen Gruppierungen von Rom nach Griechenland, nach Israel, bis in den Mittleren Osten der Antike: sie ist keine »jüdi- Mauro Pesce, Jahrgang 1941, ist Professor für die Geschichte des Christentums an der geschichtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Bologna/ Italien. Gegenwärtige Forschungsschwerpunkte sind: Historischer Jesus; in Zusammenarbeit mit der Anthropologin Adriana Destro die Erarbeitung einer Kulturanthropologie des frühen Christentums; die biblische Hermeneutik von Galileo Galilei. Zu seinen jüngsten Veröffentlichungen zählen: Le parole dimenticate de Gesù, Mailand 2004; L‘ermeneutica biblica di Galileo e le due strade della teologia cristiana, Rom 2005; Gemeinsam mit Adriana Destro: Forme culturali del cristianesimo nascente, 2. Aufl., Brescia 2008; L’Uomo Gesù, Mailand 2008. Weitere Informationen siehe unter: http: / / www.mauropesce.net. Mauro Pesce 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 53 Kontroverse 54 ZNT 22 (12. Jg. 2008) sche« Praxis. Käsemann spricht überwiegend von theologischen Begriffen. Theologische Begriffe sind aber kulturelle Produkte, die in verschiedenen religiösen Gruppierungen benutzt werden können und die schwerlich eine Strömung, eine soziale Gruppierung oder Gemeinschaft charakterisieren. Allison kommt der Verdienst zu, die eschatologischen Begriffe, die einige für apokalyptisch halten, auch in prophetischen Texten der hebräischen Bibel wiedergefunden zu haben und dies zeigt deutlich, dass es sich vielmehr um ein mythologisch-eschatologisches, in verschiedenen religiösen Gruppierungen des 1. Jh.s weit verbreitetes Erbe handelt. 3. Nach Käsemann wird im Matthäusevangelium ein »gar nicht anders als konfessionell zu bezeichnender Streit der ältesten Christenheit« 5 zwischen zwei Parteien, die sich »zweifellos auf die vom Pneuma ihnen geschenkte Einsicht« berufen, sichtbar. Zum ersten Mal in der Kirchengeschichte steht »Geist wider Geist«. 6 Die einen bemängeln bei den anderen die Aufgabe des Gesetzes, die anderen beanstanden an den ersteren die Errichtung kirchlicher Autoritäten, die Gott ersetzen. Für die einen ist die Konversion der Heiden allein Gottes Werk und darum muss die Mission sich auf die »verlorenen Schafe des Hauses Israel« beschränken, für die anderen ist seit »der Geistbegabung der Gemeinde das Ende der Welt angebrochen [...], die Heidenmission insofern den Charakter eines eschatologischen Wahrzeichens trage«. 7 Die beiden sich gegenüberstehenden Gruppen sind die liberale hellenistische Tendenz und das palästinische Judenchristentum. Ihre Eschatologie ist unterschiedlich. Sie haben jedoch (a) den Enthusiasmus, d.h. den Besitz des Geistes und (b) »die glühende Naherwartung« 8 gemein. Käsemann schließt daraus, dass der »Enthusiasmus und die apokalyptische Theologie sich bei ihr darum mit innerer Notwendigkeit vereinen« 9 in diesen beiden Strömungen. Für Käsemann - sei es sowohl in der christlich-palästinischen Apokalyptik, als auch in der hellenistisch-mysterischen Version des Glaubens - garantiert »die Gabe des Geistes die Wirklichkeit des eschatologischen Ereignisses«. 10 Der Punkt, auf den ich in dieser These Käsemanns meine Aufmerksamkeit richte, betrifft vor allem die Funktion des Geistes. II. Mein Widerspruch an der These Käsemanns 1. Wir betrachten nun die These Käsemanns näher, zumindest was die apokalyptische Theologie der ersten judenchristlichen Gemeinschaft in Pälästina betrifft. Wir haben gesehen, dass für Käsemann »Apokalyptik« eigentlich die Überzeugung der Nähe oder des Kommens des Endes der Zeiten und den Glauben in alle Phänomene, die sich in Verbindung mit dem Ende ereignen sollen, bedeutet. Die Apokalyptik ist die erste Form christlicher Theologie, weil sie die erste Interpretation der Auferstehung Jesu - verstanden »als Anbruch der allgemeinen Totenauferweckung, also apokalyptisch gedeutet« 11 - ist. Die Jünger wenden nach Ostern auf Jesus den Titel des Menschensohnes an und erwarten seine Wiederkehr. Im Grunde genommen verstehen sie die Auferstehung Jesu, indem sie denken, dass er der Menschsohn sei und folglich seine Wiederkehr als Richter erwarten, und darum teilen sie ihm eine göttliche Funktion zu (was im Laufe der Zeit zur dogmatischen Definition von Chalkedon führen wird). Die allgemeine Auferstehung wird beginnen, wenn der Menschensohn wiederkehrt. 12 Die Zwischenzeit, die Geschichte, ist bestimmt durch die kosmische Funktion Jesu vor dem finalen Moment. Die christliche Gemeinde versteht sich selbst als Mittlerin zwischen dem alten Bund und der Wiederaufrichtung des Volkes der zwölf Stämme. »Sie repräsentiert auf der Erde den neuen eschatologischen Bund«. Die Gegenwart des Geistes verleiht den Propheten, die »die Gemeinden kraft himmlischen Rechts« 13 leiten, eine richtungsweisende Funktion. Die eschatologische Mission ist zentrale Aufgabe der Kirche und bringt sie dazu, die Worte Jesu im Bezug auf seine eschatologische Mission der »verlorenen Schafe des Hauses Israels« (Mt 10,5; 15,24) neu zu interpretieren. Es bildet sich auch eine neue Beziehung zum Gesetz 14 aufgrund des Erfolgs der Predigt unter den Völkern, nicht als Reflexion über die Predigt Jesu. Diese Gemeinschaft bleibt im Innern der »religiösen jüdischen Gemeinschaft«. Sie verhält sich nicht exklusivistisch wie die Qumrangruppe, aber sie bricht auch nicht mit dem Gesetz des Mose. Und darin folgt sie dem historischen Verhalten Jesu. 15 Allein die Hellenisten werden von der jüdischen Gemeinschaft zurückgewiesen, weil sie mit Gesetz und Kult brechen. 16 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 54 Mauro Pesce Die Lebenspraxis Jesu am Anfang seiner Theologie und der Theologie seiner Jünger ZNT 22 (12. Jg. 2008) 55 2. Meine Uneinigkeit mit Käsemann betrifft drei Punkte: (a) Ich glaube nicht, dass für Jesus der zeitliche Aspekt des nahen Bevorstehens des Gottesreiches zweitrangig war. (b) Ich glaube, dass die Theologie nicht nur in Gruppen von Jüngern Jesu nach seinem Tode entstand, denn schon Jesus interpretiert die eigene Erfahrung im Lichte typischer Konzeptionen seiner jüdischen Kultur. Er hatte sich in gewisser Weise schon mit der Figur des Menschensohnes aus dem Danielbuch identifiziert und erwartete von Seiten Gottes die Wiederaufrichtung des Reiches Israels über allen Völker. (c) Es ist der Verdienst Käsemanns erkannt zu haben, dass die Funktion des Geistes und der Propheten in den ersten christlichen Gemeinden der Jünger Jesu nach seinem Tod absolut zentral war. Aber dies stellt keine Neuigkeit im Bezug auf Jesus dar. Die Kontaktpraktiken mit dem Übernatürlichen sind schon typisch für Jesus und sie stellen ein Element der Kontinuität zwischen Jesus und seinen Jüngern dar. Die Kontinuität besteht jedoch in der Praxis und nicht so sehr in ihren Inhalten. III. Antwort an Dale C. Allison 1. Ich sage sogleich, dass ich mit Allison in vielem übereinstimme. Dennoch sind meine Gesichtspunkte von seinen verschieden und dies lässt mich andere Aspekte sehen als diejenigen, die er beleuchtet hat, und andere Schlüsse ziehen. (a) Ich werde mir nicht die Frage nach dem Ursprung der Theologie des Neuen Testaments stellen, denn das Neue Testament existiert sicher nicht vor Ende des zweiten Jahrhunderts. Von einer neutestamentlichen Theologie im ersten und zweiten Jh. zu sprechen, ist ein Anachronismus. In den ersten zweihundert Jahren besaß nicht jede einzelne Gruppierung von Nachfolgern Jesu alle vier Evangelien, die später kanonisch werden sollten, sondern meistens nur ein einziges Evangelium und oft war dieses Evangelium nicht eines der Vieren. Eine große Zahl von Gemeinden benutzte das Thomasevangelium, andere das Petrusevangelium, andere das Hebräer- oder Nazaräerevangelium usw. Keines der später kanonisch gewordenen Evangelien genoss eine normativere Geltung als die anderen. Die Paulusbriefe waren nur in einem begrenzten Teil der Gruppierungen und Gemeinden bekannt, die jedoch keine anderen Schriften lasen, die später kanonisch werden sollten. Das gilt ebenso für die Apokalypse, für den Hebräerbrief und für den Jakobusbrief etc. Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Wir kennen nicht einmal den Gebrauch, den die einzelnen Gruppierungen von diesen Schriften machten. Einige der Gemeinden der Jünger Jesu lasen nach seinem Tod als normative Schriften die heiligen hebräischen Schriften und manchmal auch jüdische nichtkanonische Werke. Zu rekonstruieren, welche Schriften in einer jeden der vielen Gemeinden der Jünger Jesu im Mittelmeerraum und im Mittleren Orient im ersten und zweiten Jh. in Gebrauch waren, wäre von höchstem Interesse für die Historiker, aber ich glaube, es wird ein unbefriedigtes Bedürfnis bleiben. Was wir jedoch mit Sicherheit wissen können, ist, dass es methodologisch falsch ist, die Schriften des Neuen Testaments zu benutzen, um einige wesentliche Elemente der Theologie der ersten Gruppen von Jüngern Jesu zu rekonstruieren, als gäbe es einen gemeinsamen urchristlichen Nenner. (b) Ich stimme mit Allison in zwei seiner Punkte zu Anfangs seines Aufsatzes überein: Nämlich seiner Aussage: »Die neutestamentlichen Schriften sind theologisch überaus vielgestaltig. Bestimmte frühchristliche Kreise mögen einer wie auch immer zu definierenden ›Apokalyptik‹ viel verdankt haben, während andere sich in eine ganz andere Richtung orientierten.« Sowie mit seiner Aussage: »Auch der Singular ›Mutter‹ ist problematisch. Historische Bewegungen sind nie monokausal auf eine einzige Ursache zurückzuführen«. Bei diesen beiden Aussagen geht Allison von der Anerkennung der Pluralität, die die Jesusbewegung von Anfang an charakterisiert, aus: es gibt viele neutestamentlche Theologien und viele Mütter der christlichen Theologie. »Ich glaube, dass die Theologie nicht nur in Gruppen von Jüngern Jesu nach seinem Tode entstand, denn schon Jesus interpretiert die eigene Erfahrung im Lichte typischer Konzeptionen seiner jüdischen Kultur.« 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 55 Kontroverse 56 ZNT 22 (12. Jg. 2008) Damit stimme ich überein. Allison kommt allerdings, nachdem er die Pluralität anerkannt hat, darauf zurück, beinahe ausschließlich singularisch von einer christlichen Theologie zu sprechen, von einer Eschatologie, von einer einzigen Mutter der christlichen Theologie. Nach Allison existiert »ein ganzes Bündel an Themen und Erwartungen [...], die im nachexilischen Judentum bestimmend waren und die auf ältere Traditionen der hebräischen Bibel zurückzuführen sind: Eine bald oder unmittelbar bevorstehende Zeit nie dagewesener Not, das dramatische Erscheinen und Eingreifen Gottes und / oder eines ›messianischen‹ Mittlers, die Auferstehung der Toten, das göttliche Gericht über die Menschheit und die Erneuerung oder die Neuschöpfung der Welt«. Allison korrigiert Käsemann, indem er vertritt, dass dieses »Bündel an Themen« nicht »die Apokalyptik« ist, sondern vielmehr als »apokalyptische Eschatologie« definiert werden muss. Ich stimme mit ihm überein, den Akzent von der Apokalyptik auf die Eschatologie zu verlagern. Aber der Ausdruck »apokalyptische Eschatologie« ist nicht klar. Er scheint vorauszusetzen, dass im Judentum des ersten Jh.s auch eine nicht apokalyptische Eschatologie existiert habe, er beschreibt jedoch nie diese anderen, nicht-apokalyptischen Eschatologien und er benennt nicht die Gruppen, die diese andere Eschatologie geteilt hätten. Weil Allison festhält, dass »sich die Forschung bis heute nicht einig darüber ist, was apokalyptisch bedeutet«, scheint es mir daher merkwürdig, dass er den Ausdruck »Apokalyptik« benutzt, ohne zu erklären, in welchem Sinn. Akzeptiert Allison die Theorie von Gröningen? Oder die These G. Boccacinis? Oder die morphologische Klassifizierung J.J. Collins’? Er sagt uns nicht, wie die anderen nicht-apokalyptischen Eschatologien »Mütter« verschiedener christlicher Theologien geworden sind. Denn Allison behauptet, dass alle vier Elemente der »apokalyptischen Eschatologie« im Neuen Testament vorhanden seien. 17 Die Anerkennung der Pluralität jüdischer und christlicher Theologien ist wichtig, aber dem entspricht kein bestimmter Inhalt. Beispielsweise behauptet Allison: »Das heißt natürlich nicht, dass sich die Anfänge christlicher Theologie monokausal allein auf diesen Impuls zurückführen lassen. Vieles ist von apokalyptischer Eschatologie unberührt, etwa die prominente Stellung des Liebesgebotes. Überhaupt wird man nicht sagen können, dass frühchristliche Ethik von Eschatologie gespeist wurde«. Aber diesem Thema widmet Allison nur wenige Zeilen. Die reductio ad unum manifestiert sich deutlich in der Schlussfolgerung Allisons: In Analogie zu der Vorstellung einer originären Symmetrie des Urknalls »dürfte die nahezu flächendeckende Omnipräsenz apokalyptisch-eschatologischer Elemente in den frühchristlichen Quellen auf einen gemeinsamen apokalyptischen 18 Ursprung bei Jesus und seinen ersten Nachfolgerinnen und Nachfolgern zurückgehen«. Am Ende wird der Begriff Eschatologie totgeschwiegen und es bleibt nur die Apokalyptik. Im frühen Christentum gibt es einen apokalyptischen Ursprung und dieser apokalyptische Ursprung ist Jesus selbst. Hier stimme ich nicht überein mit Allison, wie ich später zeigen werde. Ich meine im Gegensatz zu Allison, dass die vier eingangs seines Beitrages angesprochenen Punkte, die er im »Neuen Testament« und in verschiedenen anderen frühchristlichen Schriften findet, nicht typisch oder ausschließlich apokalyptisch sind. Das Thema der Auferstehung ist nicht in besonderer Weise apokalyptisch. Der Glaube an die Auferstehung wurde tatsächlich auch von den Pharisäern geteilt. Aber dieser Umstand macht die Pharisäer nicht zu Apokalyptikern. Wenn es so wäre, würde der Ausdruck »apokalyptisch« tendenziell synonym zu »jüdisch«. Das Thema des Messias ist vielen Gruppierungen gemein. Auch das Thema des Endes der Zeiten ist nicht ausschließlich apokalyptisch und so auch die Tendenz, in bestimmten Ereignissen die Erfüllung der biblischen Prophezeiungen zu sehen. Ich bin mit vielen Aussagen Allisons einverstanden unter der Bedingung, das Adjektiv »apokalyptisch« vom Substantiv »Eschatologie« zu entfernen und den verschiedenen jüdischen und frühchristlichen Strömungen in ihrer Vielfalt größere Bedeutung zu verleihen. Anstelle von »apo- »Anstelle von ›apokalyptischer Eschatologie‹ halte ich es für nötig, von jüdischer Eschatologie zu sprechen.« 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 56 Mauro Pesce Die Lebenspraxis Jesu am Anfang seiner Theologie und der Theologie seiner Jünger ZNT 22 (12. Jg. 2008) 57 kalyptischer Eschatologie« halte ich es für nötig, von jüdischer Eschatologie zu sprechen. Des Weiteren habe ich den Eindruck, dass Allison selbst bereits entschieden in diesem Sinn davon spricht, sei es, weil er in seinem ganzen Artikel (außer am Schluss) den Akzent von der Apokalyptik auf die Eschatologie verlagert, sei es, weil er hauptsächlich Texte der hebräischen Bibel zitiert, mehr als Texte der sogenannten apokalyptischen Tradition. Die christlichen Gruppierungen des ersten und zweiten Jahrhunderts waren nicht alle überzeugt vom Kommen des Endes. Wie bekannt ist, gab es eine große Debatte darüber. Der zweite Thessalonicherbrief (2Thess 2,1-4) präsentiert eine andere Sichtweise als diejenige, die Paulus in 1Thess 4,15-17 vertritt, ein Text, in dem die vierte von Allison für apokalyptisch gehaltene Thematik scheinbar völlig fehlt: »die Erneuerung oder die Neuschöpfung der Welt«. Die Auferstandenen gelangen nämlich direkt in den Himmel, um dort für immer mit dem Herrn zu leben, während das Schicksal der Welt, in der sie bis dahin gelebt hatten, nicht erwähnt wird. Das Markusevangelium schreibt Jesus selbst einen Satz zu, demgemäß nicht einmal der Sohn weiß, wann das Ende kommen wird (Mk 13,32). Die Widersacher in der Himmelfahrt des Jesaja scheinen die Erwartung des Endes ebenfalls zu übersehen. Das Thomasevangelium scheint den Begriff des Gottesreiches, mit dem das Thema des Endes eng verbunden ist, auf radikale Weise zu enthistorisieren und zu entzeitlichen. Das Johannesevangelium bezeugt eine Strömung, in der die zeitliche Gegenüberstellung »vorher-nachher« ersetzt wird durch die räumlich-kosmologische Gegenüberstellung »obenunten«. Das Thema des Messias ist eines der kontroversesten. Wir wissen nicht, ob Jesus sich je als Messias betrachtet hat, Paulus nennt Jesus freilich christós, Messias, aber dann wird kyrios der christologische Haupttitel. Die Nachfolger Jesu waren geteilter Meinung, ob Jesus als Prophet zu verstehen ist (z.B. die Tradition, die hinter den pseudoclementinischen Schriften steht), als Messias, als Menschensohn oder als Gottessohn. Wir kön nen Rabbi Akiba nicht als Apokalyptiker betrachten, nur weil er dachte, Bar Kochba sei der Messias. Allison zieht in seinem Artikel nicht die bei Käsemann fundamentale These in Betracht, nach welcher die christliche Theologie erst nach Jesus entsteht, während man bei Jesus nicht von Theologie sprechen könne. Für mich jedoch ist es vorrangig, vor allem dieses Problem zu diskutieren. Der Grund, weswegen Allison dieses Problem nicht diskutiert, hängt wahrscheinlich mit seiner anderen Sichtweise zusammen, die andere Aspekte betont. Doch am Ende seines Beitrags scheint Allison mehr die Kontinuität zwischen christlicher Theologie und Jesus zu betonen als deren Diskontinuität und scheint deshalb mit Käsemann nicht einig zu sein. IV. Ist der Vorschlag von E. Käsemann noch brauchbar? 1. Um die Entstehung der verschiedenen Theologien der Jünger Jesu nach seinem Tod zu verstehen, ist es notwendig, eine Interpretation der historischen Figur Jesu vorzunehmen. Die ganze Theorie Käsemanns ruht auf seiner Interpretation der Figur Jesu. Meiner Meinung nach war Jesus nicht vorrangig Theologe oder Denker, sondern ein religiöser Mensch, der in der Lebenspraxis und in den religiösen Praktiken das zu verwirklichen versuchte, was er für seine Pflicht und Aufgabe hielt. Im Fall des frühen Christentums war die Theologie Übersetzung und Bearbeitung, in kulturell anerkannten Begriffen, einer religiösen Erfahrung und / oder einer religiösen Praxis. Ich will hier nicht in die Frage einsteigen, ob die Praxis immer die Theorie bestimmt oder umgekehrt. Denn die Antwort auf die Frage hängt von den konkreten Fällen ab. Oftmals bestimmt das begriffliche System die Praxis und führt dazu, bestimmte Erfahrungen zu machen. Dies geschieht, wenn eine begriffliche Struktur einer starken institutionellen und breit anerkannten Struktur entspricht. In anderen Fällen jedoch sind es Praxis und Erfahrung, die die Bildung eines theoretisch-begrifflichen Systems bestimmen. Im Fall von Jesus stehen wir vor einer starken innovativen Erfahrung und vor ungewöhnlichen religiösen Praktiken, die auf einige eine starke Anziehung haben und bei anderen zu heftiger Ablehnung führen. Es handelt sich dabei um seine Wundertätigkeit, um seinen durch Nichtsesshaftigkeit gekennzeichneten Lebensstil, um den Kontrast zwischen der Jüngergruppe und den 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 57 58 ZNT 22 (12. Jg. 2008) Kontroverse verwandtschaftlichen Strukturen, um die Handlungen in der Synagoge und im Tempel. Hierbei handelt es sich um einen typischen Fall, bei dem die Praxis und die Erfahrung eine theologische Bearbeitung bewirken. 2. Die Lebenspraxis Jesu 19 kann im Wesentlichen wie folgt beschrieben werden: a.) Der erste Aspekt wird konstituiert durch eine Reihe religiöser Praktiken: das einsame und lange Gebet, Visionen, Offenbarungen und verschiedene Arten des Kontakts mit dem Übernatürlichen (wie in der Taufe, in den Versuchungen, in der Verklärung). b.) Der zweite Aspekt seiner Lebenspraxis ist die Heil- und Wundertätigkeit. c.) Ein anderer Aspekt seiner Lebenspraxis ist die Aufgabe der Familie, der Arbeit und eines jeden Besitzes, um ein Wanderleben ohne festen Wohnsitz zu führen. Jesus ist ohne Unterlass unterwegs, er wohnt in den Häusern der Anderen und besitzt nichts, außer den Dingen, die er am Körper trägt. d.) Schließlich ist die Praxis der bedingungslosen Tischgemeinschaft mit einem jeden charakteristisch für Jesus. Die Offenbarungen und Visionen auf der einen und die Heil- und Wundermacht (gr. dynamis), die in seinem Körper ansässig war, auf der anderen Seite zwangen Jesus eine Erklärung zu suchen. Und hier hat die theologische Reflexion Jesu ihren Ursprung. Er verwendete einige jüdische eschatologische Konzeptionen: diejenigen des Gottesreiches, der Sündenvergebung und des Menschensohnes. Für Jesus war das Reich Gottes das fünfte Reich, das im Danielbuch erwartet wird. Das Reich Gottes ist das abschließende Reich, das Gott selbst anbrechen lassen wird und das kein Ende haben wird. Es ist die Herrschaft Israels über die ganze Menschheit. Es handelt sich dabei um ein universales und ewiges Reich. In der Errichtung dieses Reiches kommt einer besonderen Figur - nämlich dem Menschensohn - eine bestimmende Funktion zu. Unter den Stellen in den Evangelien, in denen vom Menschensohn die Rede ist (30-mal in Mt, 13-mal in Mk, 24-mal in Lk, 12-mal in Joh und 1-mal in Apg 7,56) gibt es viele, in denen Jesus sich auf den Menschensohn bezieht, so als identifiziere er sich mit ihm oder als habe er eine enge Beziehung zu ihm. Es ist schwierig sich der geschichtlichen Gewissheit zu entziehen, dass Jesus in dieser geheimnisvollen Beziehung mit der Figur des Menschensohns den Sinn seiner Mission, seiner Aufgabe gesehen habe. In dieser Konzeption von Gottesherrschaft bildet die Idee, dass nach der Herrschaft der Völker endlich die Herrschaft Israels kommen werde, die wesentlich mit der Herrschaft Gottes selbst zusammenfällt, das Zentrum. Nach dieser Auffassung sind mit dem zentralen Ereignis des Kommens des Reiches Gottes (und Israels) andere Ereignisse eng verbunden: das Endgericht über Israel und die ganze Menschheit, die Hinwendung aller Völker zu dem einzig wahren Gott, ein irdisches Reich mit schwerlich zu definierender Dauer, die Auferstehung der Körper aller Menschen der Vergangenheit. Meine Zusammenfassung der »Theologie« Jesu unterscheidet sich gewiss von derjenigen Allisons, auch von derjenigen M. Hengels 20 oder F. Garçia Martinez’ in ihrer Kritik an Käsemann. Aber das ist vollkommen zweitrangig. Wie es für mich zweitrangig ist, diesen Ideenkomplex als apokalyptisch oder einfach eschatologisch zu definieren. Ich bin nämlich nicht mit Käsemanns Vorstellung einverstanden, dass Jesus keine Naherwartung des Reiches Gottes hatte. 21 Und deshalb unterstreiche ich den eschatologischen Aspekt der Theologie Jesu so sehr. Jedoch sind, wie ich später genauer erklären werde, nicht alle Begriffe der Theologie Jesu eschatologische oder ausschließlich solche. Sogar im Begriff des Gottesreiches Jesu konvergieren mindestens zwei Aspekte: der für die orientalische Souveränität typische, der die Überlegenheit der Gerechtigkeit gegenüber dem Gesetz festlegt (vor allem durch Schuldenerlass zu Beginn der Herrschaft) und der des levitischen Ideals des Jubeljahres. Gewiss, es existierte eine eschatologische Interpretation des Jubeljahres verbunden mit dem Erlass der Sünden (vgl. 11QMelch), aber dies geht eher zu Gunsten der Fähigkeit zur Synthese verschiedener theologischer Elemente als zu Gunsten einer unilateralen »apokalyptischen« Bewertung jedes Elements. 22 Aber die Herkunft dieser theologischen Ideen, dieser traditionellen Konzeptionen, dieser Aspekte jüdischer Mythologie erklärt nicht, warum Jesus sich vom bevorstehenden Ende und von seiner zentralen Funktion im Kommen des Gottesreiches überzeugen ließ. Die Herkunft 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 58 Mauro Pesce Die Lebenspraxis Jesu am Anfang seiner Theologie und der Theologie seiner Jünger ZNT 22 (12. Jg. 2008) 59 dieser Ideen erklärt ebenso wenig, warum die Jünger Jesu nach seinem Tod die Sache Jesu weiterführten, ohne sich durch sein Scheitern aufhalten zu lassen. Meine Hauptthese ist, dass die Erklärung des Handelns Jesu und seiner Jünger nicht in ihrer Theologie zu finden ist, sondern in ihrer Erfahrung, für welche die verschiedenen Theologien nicht mehr waren, als ein Erklärungsversuch. Vor allem erklärt der Ideenkomplex, den ich soeben zusammengefasst habe, nicht alle Aspekte der Praxis Jesu. Der Bruch mit der Familie, mit der Arbeit, dem Besitz und dem eigenen Haus, wie auch seine Worte über die Unvereinbarkeit von Gott und Mammon haben ihre Wurzel in einer konfliktgeladenen Sichtweise menschlicher Beziehungen und der Existenz, die nicht zwangsläufig mit der Eschatologie verbunden ist. Die Wahrnehmung des Körpers, die Jesus hat, seine Suche nach Einsamkeit, die ihn zeitweise von den Menschen und selbst den Jüngern isoliert (Mk 1,35; 6,46) sind nicht in erster Linie mit der Eschatologie in Verbindung zu bringen. Ebenso sein Bedürfnis ausschließlich direkte, persönliche Beziehungen mit den Menschen zu führen, sein Bemühen Zusammenkünfte in der Intimität der Häuser, in der Teilhabe der Tischgemeinschaft stattfinden zu lassen, haben wohl eine Wurzel in der Wahrnehmung, dass sein Charisma sich nur durch eine direkte Beziehung entfalten konnte, in der die körperliche Gegenwart unersetzbar war. 23 Die Wahrnehmung der dynamis seines Körpers, die in seiner ganzen Erfahrung zentral war, hat keine eschatologische Wurzel. Im jüdischen Umfeld Jesu gab es nur die Möglichkeit einer religiösen Erklärung: Die Heilmacht konnte nur von Gott kommen. Aber diese »theologische« Erklärung hat nichts Eschatologisches an sich. Viele Unterweisungen Jesu zeigen eine rationale und weisheitliche Tendenz, die nicht eschatologisch ist. In Jesus selbst gab es also unterschiedliche »theologische« Erklärungen der eigenen Erfahrung und verschiedene theologische Tendenzen, von denen einige eschatologisch waren und andere nicht. Die Pluralität der Theologien ist schon in Jesus. 3. Jesus wies der Theorie und der Theologie nie erstrangige Wichtigkeit zu. Das beweist die Tatsache, dass er seine Gesprächspartner nie dazu aufforderte, bestimmten Ideen zuzustimmen. Jesus verlangte jedoch Gehorsam gegenüber seinen radikalen Forderungen in der Lebenspraxis: die Arbeit aufzugeben, die Familie, das Hab und Gut. Jesus lud dazu ein, Vergebung zu praktizieren. Er verlangte von niemandem, an bestimmte Konzeptionen zu glauben. Es ist das Johannesevangelium, das wesentliche Änderungen einführte: Es lässt die radikalen Forderungen Jesu an die Jünger in der Lebenspraxis komplett aus und führt erste Formen eines Glaubensbekenntnisses in theoretisch-abstrakter Form ein (vgl. z.B. Joh 11,25-26). Bei Jesus hatte die Praxis entschieden Vorrang vor der theologischen Theorie. Die Theorie diente dazu, Erklärungen zu liefern für das, was in ihm geschah. Er fand die Antwort - wie bereits gesagt - im Kommen des Reiches Gottes, das sich in der dynamis seines Körpers und vielleicht in der mysteriösen Beziehung mit der Figur des Menschensohnes äußert. Vorrangig ist nicht, dass Jesus an das Reich Gottes des Danielbuches und an den Menschensohn Daniels glaubte (und deshalb Apokalyptiker war), sondern dass er Erfahrungen als Heiler und Wundertäter hatte sowie Erfahrungen im Kontakt mit dem Übernatürlichen, die er aufgrund von Konzeptionen interpretierte, die ihm seine Kultur bot. Das vorrangige Problem ist nicht, zu wissen von welcher theologischen Strömung des Judentums seiner Zeit er Gebrauch machte, sondern welche konkrete religiöse Erfahrung er gelebt hat. Dass dies die vorrangige Frage ist, beweist die Tatsache, dass Jesus seinen Jüngern keine theologischen Theorien gelehrt hat, sondern zu befolgende Praktiken: 1. die schon genannte Aufgabe von Familie-Arbeit-Haus-Besitz, 2. das Gebet, 3. wie man Heilungen vollbringt, 4. wie man mit dem Übernatürlichen in Kontakt tritt, 5. mit welchem konkreten Lebensstil man das Reich verkündigt. Die Hauptprobleme, um den Ursprung der verschiedenen christlichen Theologien zu verste- »Meine Hauptthese ist, dass die Erklärung des Handelns Jesu und seiner Jünger nicht in ihrer Theologie zu finden ist, sondern in ihrer Erfahrung, für welche die verschiedenen Theologien nicht mehr waren, als ein Erklärungsversuch.« 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 59 Kontroverse 60 ZNT 22 (12. Jg. 2008) hen, sind folglich diejenigen der Diskontinuität / Kontinuität mit Jesus, des Warums der Pluralität der theologischen Antworten, der Beziehung von Praxis und Erklärung oder des theologischen Verständnisses. 4. Die Frage nach der Kontinuität bzw. Diskontinuität zwischen Jesus und seinen Jüngern nach seinem Tod kann nicht auf eine einfache theologische Frage verkürzt werden aufgrund folgender Punkte: Die ersten Gemeinden der Jünger Jesu sind nicht Gemeinden von Theologen oder Denkern, sondern Gemeinden, die durch einen Lebensstil und genauen religiösen Praktiken charakterisiert sind. Das Gebet, die Heil- und Wunderpraktiken und die Erfahrungen im Kontakt mit dem Übernatürlichen konstituieren ein wesentliches Charakteristikum der ersten Gemeinden der Nachfolger Jesu. Dies konstituiert eine Kontinuität mit der historischen Praxis Jesu. Käsemann hat klar die absolute Zentralität der Erfahrung des Geistes (gr. pneuma) in den ersten christlichen Gemeinden unterstrichen, die Autoritätsfunktion der Propheten und die prophetische Bearbeitung der Worte des historischen Jesus. Die Gegenwart des Geistes ist aber keine theologische Theorie, sondern vielmehr eine religiöse Erfahrung des Kontaktes mit dem Übernatürlichen mittels Ekstase, Visionen, Prophetien und auch Heilspraktiken. Nun ist es eben diese Praxis der Vergegenwärtigung des Geistes, die die Kontinuität zwischen der Praxis der ersten Gemeinden und der jesuanischen Praxis konstituiert. 24 Gleichzeitig ist es jedoch - und das ist fundamental - genau diese Praktik, die die Jünger Jesu dazu bringt, sich von ihm zu differenzieren und sich untereinander zu unterscheiden. Das, was nämlich typisch ist für jede Beziehung mit dem Übernatürlichen mittels des Geistes, ist, dass jeder eine persönliche, direkte Beziehung mit der Welt des Göttlichen hat. Jesus fand in dieser Beziehung die eigene Legitimation und so ging es auch den frühchristlichen Propheten. Aber die Tatsache, dass ihre Legitimation direkt von einem Kontakt mit dem Göttlichen kam, brachte sie zwangsläufig dazu, sich einander entgegenzustellen und zu differenzieren. Die gemeinsame Praxis schuf die theologische Verschiedenheit. 25 An einem bestimmten Punkt entstanden in den Gruppierungen der Jünger Jesu nach seinem Tod jedoch Theologien. Die Paulusbriefe sind voll von Theologie und so wird es auch das Johannesevangelium circa ein halbes Jahrhundert später sein. Warum? Meine Antwort ist, dass verschiedene Theologien nicht nur wegen des unvermeidlichen Kontrastes verschiedener Inspirationen und Offenbarungen eines jeden Propheten entstehen, sondern auch weil Jesus keine Anweisungen für viele Fragen, die sich zwangsläufig nach seinem Tod und wegen seines Todes stellten, gegeben hatte. Man muss jedoch zwei Dinge berücksichtigen: Zum einen, die jüdisch-eschatologischen Konzeptionen Jesu waren zwangsweise vage. Es ist mehr als offensichtlich, dass niemand, nicht einmal Jesus, genau wissen konnte, was im künftigen Gottesreich geschehen würde. Das ist ein Proprium jeder religiösen und mythologischen Konzeption, die Gott und sein Handeln oder das Jenseits und die Zukunft betrifft. Wenn Paulus z.B. von der Auferstehung der Körper (1Kor 15) spricht, sagt er, dass der auferstandene Körper ein »pneumatischer Körper« (gr. so¯ma pneumatikon) (1Kor 15,44) sei, ein beinahe widersprüchlicher Ausdruck, der gut zeigt, wie wenig Paulus von der Auferstehungswirklichkeit weiß, von der zumal niemand Erfahrung haben kann. Im Übrigen hat Jesus mit seinen Jüngern wenig über sich selbst und über seine Theologie gesprochen. Die Jünger wussten sehr wenig darüber, wie Jesus seine Erfahrung theologisch interpretierte. Das Drama der Geschichte Jesu besteht in der Tatsache, dass er ermordet wurde und sich das Reich Gottes über alle Völker mit ihrer Bekehrung nicht in seiner Lebenszeit ereignete. Das Markus-, Matthäus- und Lukasevangelium erzählen uns von der Schwierigkeit Jesu, das Schicksal seines Todes zu akzeptieren und von dem Konflikt zwischen dem eigenen Willen und dem Willen Gottes. Der Satz »nicht was ich will, sondern was du willst« (Mk 14,36) setzt einen Konflikt zwischen den Wünschen Jesu und der Entscheidung Gottes voraus. Der Tod unterbricht die Reihe von Ereignissen, die zum Reich Gottes hätten führen sollen. Jesus verlässt die Szene ohne das Kommen des Reiches, das er gepredigt und geträumt hat, gesehen zu haben. Anstelle des Reiches Gottes kam der Tod Jesu. Seine Jünger fanden sich vor der Tatsache, dass 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 60 Mauro Pesce Die Lebenspraxis Jesu am Anfang seiner Theologie und der Theologie seiner Jünger ZNT 22 (12. Jg. 2008) 61 Jesus nicht mehr und das Reich Gottes noch nicht war. Dies bildete ein enormes Problem, aber bezeichnete nicht das Ende der Jesusbewegung. Sein Tod wurde von vielen seiner Jünger tatsächlich nicht wie das Ende seiner Geschichte erlebt. Alles beruht darauf, dass diese beiden Faktoren zusammenpassen: eine Gewissheit, die sie dazu brachte, die Jesusbewegung in der Erwartung des Gottesreiches weiterzuführen und der Mangel an Anweisungen von Jesus für dieses Unterfangen. Denn Jesus hatte zu mindestens drei Problemen keine Weisung gegeben: a.) Wie sollten die Gemeinden der Jünger organisiert werden (Jesus hatte seiner Gruppe keine Organisation gegeben, denn sein Ziel war die Vereinigung der ganzen Menschheit unter dem einzigen Gott durch die Initiative Gottes selbst und nicht die Gründung einer separaten Gruppe)? b.) Wie sollte man sich angesichts des Problems der Bekehrung der Nicht-Juden verhalten? c.) Wie sollte man sich angesichts der Tatsache verhalten, dass das Gottesreich sich nicht ereignete? Dieser Mangel an Weisungen ist einer der Gründe, nicht der einzige, für die Pluralität der Antworten und für die Pluralität der Tendenzen, die sofort bei den Jüngern Jesu nach seinem Tod eintraten. Die Bewegung trat von Beginn an in einer Pluralität von Formen auf. Im Übrigen hatten die Jünger Jesu nicht viele Informationen über den Willen Jesu verfügbar. Dieser hatte keine Schriften hinterlassen. Während seines öffentlichen Lebens, hatte er sich einem zu engen Kontakt selbst mit seinen nächsten Jüngern entzogen, indem er sich in die Einsamkeit zurückzog. Von sich hatte er mit ihnen nur sehr wenig gesprochen und verschiedene seiner Lehren und einige seiner Erfahrungen waren auf esoterische Art und Weise nur einigen von ihnen mitgeteilt worden. Neuen Problemen gegenüberzustehen zwang also die Jünger nach dem Tod Jesu dazu, Entscheidungen zu treffen, die sich zuvor nicht als nötig erwiesen hatten. Sie konnten natürlich die Erfahrung Jesu befragen und so mussten sie Interpretationen geben, die oft davon divergierten, was er gesagt und gemacht hatte. Der Beitrag wurde übersetzt von stud. theol. Christina Schäfer/ Auggen l Anmerkungen 1 E. Käsemann, Die Anfänge christlichen Theologie, ZThK 57 (1960), 162-185; ders., Zum Thema der urchristlichen Apokalyptik, ZThK 59 (1962), 257-284; vgl. ders., Paulus und der Frühkatholizismus, ZThK 60 (1963), 75-89. 2 Käsemann, Anfänge, 179. 3 Vgl. F. García Martínez, Is Jewish Apocalypticism the Mother of Christian Theology? , in: E.J.C. Tigchelaar (Hg.), Qumranica Minora I: Qumran Origins and Apocalypticism (Studies on the Texts of the Desert of Judah 63), Leiden / Boston 2007, 129-151. 4 Vgl. R. Bultmann, Ist die Apokalyptik die Mutter der christliche Theologie? . Eine Auseinandersetzung mit Ernst Käsemann, in: APOPHORETA. Festschrift für E. Haenchen (BZNW 30), Göttingen 1964, 64-69; K. Koch, Ratlos vor der Apokalyptik, Gütersloh 1970, 69-80. 5 Käsemann, Anfänge, 166. 6 Käsemann, Anfänge, 166. 7 Käsemann, Anfänge, 167. 8 Käsemann, Anfänge, 168. 9 Käsemann, Anfänge, 171. 10 Käsemann, Zum Thema, 277. 11 Käsemann, Zum Thema, 263. 12 Vgl. zum Beispiel die paulinischen Ausführungen dazu in 1Thess 4,16-18. 13 Käsemann, Zum Thema, 265. 14 Käsemann, Zum Thema, 266. 15 Käsemann, Zum Thema, 268. 16 Käsemann, Zum Thema, 266. 17 Vgl. dazu die Punkte 1-4 in dem ersten Abschnitt von Allisons’ Kontroversebeitrag. 18 Kursivsetzung durch M.P. 19 Zu dieser Fragestellung vgl. auch A. Destro / M.Pesce, L’uomo Gesù, Mailand 2008. 20 Vgl. M. Hengel, Paulus und Jakobus. Kleine Schriften III, Tübingen 2002, 332-343. 21 Vgl. Hengel, Paulus, 334. 22 Vgl. M. Pesce, La remissione dei peccati nell'escatologia di Gesù (con la collaborazione di Adriana Destro), Annali di Storia dell'Esegesi 16 / 1 (1999), 45-76. 23 Vgl. zu dieser Überlegung die Ausführungen von A. Destro in Kapitel 6 von Destro/ Pesce, L’uomo Gesù. 24 Ausführlicher dargelegt in: A.Destro / M.Pesce, Continuity or Discontinuity Between Jesus and Groups of his Followers? Practices of Contact with the Supernatural, in: S.Guijarro-Oporto (Hg.), Los comienzos del cristianismo (Bibliotheca Salmaticensis. Estudios 284), Salamanca 2006, 53-70. 25 Ausführlicher dargelegt in: M. Pesce, La funzione delle parole. Rivelazioni dopo l'ascensione di Gesù, in: L. Padovese u.a. (Hg), Atti del Decimo Simposio Paolino. Paolo tra Tarso e Antiochia.Archeologia / Storia / Religione, Roma 2007, 79-94. 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 61 62 ZNT 22 (12. Jg. 2008) Ausgangsfrage Die Naherwartung der Wiederkunft Christi, mit allen dazugehörigen Einzelvorstellungen, war das Kernstück frühchristlicher Zukunftshoffnung. 1 Es gibt keinen Text im Neuen Testament, in dem diese Erwartung grundsätzlich negiert wird. Selbst in späten Texten wie in der Apostelgeschichte oder im 2. Petrusbrief ist die Naherwartung präsent. Die Erfahrung der so genannten »Parusieverzögerung« führt jedoch zu ihrer Modifikation. Wir finden im Neuen Testament eine große Bandbreite von Aussagen, die von der Zukunftshoffnung der frühen Christinnen und Christen handeln. Diese sahen in ihrer Gegenwart die Zeit der eschatologischen Erfüllung alttestamentlicher Prophezeiungen bzw. die durch die frühjüdische Apokalyptik beschriebene Endzeit. Ausgangspunkt war das Geschehen um Jesus Christus, in welchem das von Gott herbeigeführte eschatologische Ereignis schlechthin gesehen wurde. Die frühchristliche Endzeitstimmung war auf Dauer so nicht aufrecht zu erhalten. Schon in neutestamentlicher Zeit wurden die Ansagen Jesu und der Apostel von Spöttern als billige Vertröstung empfunden (2Petr 3,3f.). Im weiteren Verlauf der Geschichte ist sie dann zur Floskel vom »St.- Nimmerleinstag« verkommen. Mit dem nahen Ende der Welt oder dem unmittelbar bevorstehenden Anbruch des Reiches Gottes rechnet heute niemand mehr ernsthaft. Der seelsorgerliche und homiletische Wert der frühchristlichen Endzeithoffnung ist drastisch gesunken, da sie sich, historisch gesehen, von selbst ad absurdum geführt hat. An die Stelle vager endzeitlicher Vorstellungen ist der Hinweis auf die individuelle Auferstehung von den Toten und das ewige Leben getreten. Das »Memento Mori« ersetzt den warnenden Zeigefinger, der in der christlichen Antike mit der Ankündigung des nahen Endgerichts verbunden war. Selbst diejenigen, die der Kirche die Treue halten, setzen eher auf Lebensversicherungen und Altersvorsorge als auf apokalyptische Spekulationen. Damit stehen, und das nicht erst nach zweitausend Jahren Kirchen- und Rezeptionsgeschichte, die Endzeitaussagen des Neuen Testaments auf dem theologischen und hermeneutischen Prüfstand. Die Grundfrage ist: Sind die neutestamentlichen Endzeitaussagen heute überhaupt noch theologisch vermittelbar? Kommt ihnen, gegen alle äußeren Fakten, aufgrund ihrer kanonischen Stellung ein bleibender Wahrheitsanspruch zu? Anders gefragt: Können die eschatologischen Aussagen des Neuen Testaments noch immer echte Hoffnung begründen oder ist den Spöttern des 2. Petrusbriefes Recht zu geben in ihrem Verdikt, die Ansagen Jesu und der Apostel seien billige Vertröstung? Motive der frühchristlichen Naherwartung Es ist davon auszugehen, dass die Naherwartung ein gemeinsames Merkmal der frühen christlichen Gemeinden war. Dafür sprechen viele Warnungen vor so genannten »Pseudopropheten« und »Pseudochristussen«, die unter Hinweis auf die zeitgeschichtlichen Ereignisse und auf ihre eigene Person die Wiederkunft Christi proklamierten (Mk 13parr; 2Thess 2; weiter Ios. bell. Iud. 2,57-59. 258-263 u.a.). 2 Dass diese Messiasprätendenten mit ihrer Botschaft auf fruchtbaren Boden stießen, wird aus den genannten Texten deutlich. Der Grund hierfür lag zum einen an den äußeren ökonomischen Verhältnissen; der hohe soziale und politische Leidensdruck gegenüber Juden und Römern nährte die Sehnsucht nach baldiger, grundsätzlicher Verbesserung der Lage. Zum anderen lag der Grund in den religiösen Hoffnun- Hermeneutik und Vermittlung Kurt Erlemann Endzeitvorstellungen zwischen Hoffnung und Vertröstung »Die Naherwartung der Wiederkunft Christi, mit allen dazugehörigen Einzelvorstellungen, war das Kernstück frühchristlicher Zukunftshoffnung.« 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 62 Kurt Erlemann Endzeitvorstellungen zwischen Hoffnung und Vertröstung ZNT 22 (12. Jg. 2008) 63 gen des Judentums, nach denen ein königlicher, priesterlicher oder prophetischer Messias dereinst die Heilszeit für Israel heraufführen sollte. 3 Für die frühen Christen galten die alttestamentlichen Messiasverheißungen mit dem Kommen Jesu als erfüllt. Die Naherwartung der Wiederkunft Jesu wurde durch Aussagen Jesu selbst und des Paulus genährt. Nach ihnen war das Ende noch zu deren Lebzeiten bzw. zu Lebzeiten der ersten Generation zu erwarten (Mk 9,1; Mk 13,30; 1Thess 4,15; 1Kor 15,51f.). Hinzu kam die Gewissheit, dass Gott zum Mord an seinem Sohn nicht schweigen, sondern die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen werde (vgl. das Winzergleichnis Mk 12,1- 12parr; weiter Mt 22,7; Mt 23,34-36). Andere Texte bezeugen, dass die Sehnsucht nach Veränderung zu überspannten Erwartungen führte. So spricht 2Thess 2 von Christen, die die Parusie Christi als unmittelbar bevorstehend proklamierten. Die Pseudochristusse in der Ölbergrede Mk 13parr brachten die Parusie Christi mit aktuellen Ereignissen ihrer Zeit oder mit ihrer eigenen Person in Verbindung. Die Krise der frühchristlichen Naherwartung Diese überspannten Erwartungen konnten rasch in die Erfahrung sich über Gebühr dehnender Zeit umschlagen (so genannte »Parusieverzögerung«). Als Beispiele seien die Gleichnisse in Mt 24 und Mt 25 genannt, die das Problem der Wartezeit und der scheinbaren Verzögerung des Kommens des Herrn zum Thema haben. Die Naherwartung wurde aber nicht nur von innen, durch überspannte Erwartungen und falsche Ankündigungen, in die Krise gestürzt. Die christlichen Gemeinden sahen sich mit ihrer Endzeitstimmung auch Spott und Polemik von außen ausgesetzt. Die Spötter, die in 2Petr 3 erwähnt werden, sind dafür der beste Beleg: »Wo bleibt die Verheißung seines Kommens? Denn nachdem die Väter entschlafen sind, bleibt es alles, wie es von Anfang der Schöpfung gewesen ist.« (2Petr 3,4). In der Reaktion auf die überspannten Erwartungen kam es zur Modifikation der Naherwartung, die letztlich zum eingangs erwähnten »Memento Mori« als Ersatz für die kollektiv-kosmische Hoffnung führte. Letzteres stellt eine Verschiebung dar, die sich bereits im Neuen Testament, und noch deutlicher in der Alten Kirche, abzeichnete. Der Schwung und die erste Euphorie, dass Jesus bald wiederkommen und Gott sein Gericht vollziehen werde, ließen spätestens mit dem Aussterben der Generation der Augenzeugen Jesu nach. Neutestamentliche Strategien zum Umgang mit der Hoffnungskrise Das Neue Testament räumt ein, dass sich die ersehnte Wende hinauszieht, bietet aber auch Erklärungen dafür. Eine Standardauskunft besagt, dass die angebliche Verzögerung gar keine sei, sondern ein Zeichen für Gottes Langmut mit den Sündern (2Petr 3,9). Was die Aussagen Jesu und des Paulus anbelangt, wird kein Irrtum unterstellt; vielmehr werden sie neu interpretiert. So findet Mk 9,1 in der darauf folgenden Verklärungsgeschichte eine Voraberfüllung: Mose und Elia erscheinen den Jüngern als Repräsentanten des Gottesreiches. Und Mk 13,30 (»Diese genea [Geschlecht, Generation] wird nicht vergehen, bis dies alles geschieht«) wird durch V.32 ergänzt: Professor Dr. Kurt Erlemann, Jahrgang 1958, Studium der Evangelischen Theologie in München, Zürich und Heidelberg. Promotion 1986, Habilitation 1994, seit 1996 Universitätsprofessor für Neues Testament und Alte Kirchengeschichte an der Bergischen Universität Wuppertal. Seine derzeitigen Forschungsschwerpunkte sind: Auslegung der Gleichnisse Jesu, Studien zur neutestamentlichen Rede vom Heiligen Geist, das jüdisch-christliche Gottesbild sowie der jüdisch-christliche Trennungsprozess. Weitere Informationen unter: http: / / www2.uniwuppertal.de/ FB2/ ev.theol/ personal/ erlemann.htm Kurt Erlemann 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 63 64 ZNT 22 (12. Jg. 2008) Niemand weiß exakt Zeit und Stunde, nicht einmal der Sohn. 1Kor 15,51 (»Wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden«) ist uneindeutig und könnte auf alle Menschen zu beziehen sein. Allein 1Thess 4,15 (»wir, die wir leben und übrig bleiben bis zur Ankunft des Herrn«) belegt eindeutig die konkrete Erwartung des Apostels, das Ende selbst noch mitzuerleben. Doch wird erstaunlicherweise selbst diese Aussage nicht aus dem Text getilgt. Es hat den Anschein, als ob ihr ein bleibender Wahrheitsanspruch zugebilligt wurde, auch gegen die äußeren »Fakten«. Der Wahrheitsanspruch wird nicht auf den vordergründigen, informativen Gehalt des Wortes (der durch den Gang der Dinge falsifiziert wurde) reduziert, sondern bezieht seinen ebenso wichtigen expressiv-emotionalen und den praktischen Aussagegehalt ein: Die Ankündigung der baldigen Wende zum Guten setzt Hoffnung, Sehnsucht, Erwartung und Gewissheit frei. Und diese Emotionen motivieren ihrerseits eine bestimmte Einstellung bzw. ein bestimmtes Verhalten: Die Besinnung auf das rechte Tun - nicht irgendwann, sondern möglichst heute schon; denn die Gegenwart erhält durch diese Ansagen eine besondere Qualität: als geschenkte Zeit, die aktiv zu nutzen ist; als Zeit der Umkehr, der Befolgung des Liebesgebots, der Missionsarbeit. Diese ethische Grundhaltung aber ist letztlich unabhängig von konkreten Nahaussagen. Die Hoffnungskrise führte damit zu einem intensiven Nachdenken über den Sinn der Worte Jesu und des Paulus sowie zu einer Konzentration auf die Gegenwart als die entscheidende, von Gott geschenkte Zeit. Der Begriff der Nähe Das Überleben der frühchristlichen Endzeithoffnung wurde auch dadurch begünstigt, dass die meisten Auskünfte überhaupt keinen exakten zeitlichen Rahmen benennen, sondern schlicht von der »Nähe« des erhofften Geschehens sprechen. »Nähe« ist ein dehnbarer Begriff, der allenfalls eine relative Auskunft gibt: In der Zeit seit Jesus ist die Gottesherrschaft näher als jemals zuvor gerückt. Sie ist in Anfängen sichtbar und spürbar geworden, ihre Durchsetzung erscheint absehbar, auch wenn sie nicht berechenbar ist. Überhaupt ist mit dem zeitlichen Verständnis von »Nähe« längst nicht alles gesagt. Genauso denkbar ist ein räumliches Verständnis: Die Gottesherrschaft ist uns nahe gekommen; es geht darum »in sie einzugehen« (Mt 5,20; Mk 10,15; Lk 13,24 u.a.). Oder auch ein personales Verständnis: In bzw. mit Jesus ist die Gottesherrschaft nah - wo er ist und konkret da, wo er Dämonen austreibt, ist die Gottesherrschaft präsent (Mt 12,28par Lk 11,20). Den Blick in eine ganz andere Richtung lenkt Lk 17,20f: Das Himmelreich ist mitten, in bzw. zwischen uns Menschen; es ist nicht berechenbar oder zu beobachten, sondern ein Ereignis, das sich auf einer ganz anderen Ebene vollzieht. Zur Berechnung des Endes taugt der Begriff »Nähe« nicht. Dennoch lässt sich auf seiner Grundlage vieles an Emotionen und praktischen Konsequenzen erreichen. Und er ermöglicht die Tradierung der nachösterlichen Endzeithoffnung in spätere Zeiten. Leitend ist dabei die Vorstellung, dass Gottes Zeitmaß mit dem der Menschen unverrechenbar ist (vgl. Ps 90,4 und 2Petr 3,8: Tausend Jahre sind wie der Tag, der gestern vergangen ist). 4 In der Folge führt diese Einsicht zum apokalyptischen Denkmuster des Millenniums bzw. des Chiliasmus. 5 Das frühchristliche Geschichtsbild Für die Frage, ob die neutestamentliche Endzeithoffnung eine billige Vertröstung darstellt oder die Grundlage für hilfreichen Trost bis heute sein kann, ist ein Blick auf ihre Begründung sinnvoll. Zum einen gründet sie in den Auskünften Jesu und der Apostel. Was sie gesagt haben, ist wahr, auch wenn es sich, äußerlich betrachtet, erledigt haben mag. Zum anderen speist sich die Hoffnung aus der Deutung des Todes Jesu und die Wahrnehmung gegenwärtiger »Zeichen der Endzeit«. Der Tod Jesu in seiner eschatologischen Deutung markiert nicht nur für Paulus den Beginn der allgemeinen Totenauferstehung (1Kor 15,20: Jesus als »Erstling« der Auferstandenen; vgl. Kol 1,18; Röm 8,29) und stellt das Paradigma für die Auferstehungshoffnung überhaupt dar (1Kor 15: weil Jesus auferstanden ist, ist unsere Hermeneutik und Vermittlung 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 64 Kurt Erlemann Endzeitvorstellungen zwischen Hoffnung und Vertröstung ZNT 22 (12. Jg. 2008) 65 Hoffnung begründet). Der Osterglaube ist demnach für Paulus der Ausgangspunkt der Endzeithoffnung. Aber auch Mt 27,52f. bringt das Geschehen in einen direkten Zusammenhang mit den eschatologischen Ereignissen: Die Gräber der Toten öffnen sich im Moment des Todes Jesu. Neben dem Blick zurück auf das Osterereignis begründet der Blick auf gegenwärtig sichtbare Zeichen der Endzeit die Endzeithoffnung. Dazu gehört zu allererst die Gabe des Heiligen Geistes. Pfingsten gilt als das Signal der Endzeit schlechthin (Apg 2,17: »in diesen letzten Tagen […]«). Die Charismen in der paulinischen Ausprägung (1Kor 12 und 14; Röm 12) sind sichtbare und spürbare Zeichen der Endzeit, denn an ihnen wird das Wirken des Geistes manifest. Überhaupt gilt der Heilige Geist für Paulus als »Vorschuss« auf die Erlösung; mit seiner Gabe hat sich Gott auf die »Auszahlung« des gesamten Heils festgelegt (2Kor 1,22; 5,5; Eph 1,14). 6 Wer nach dem Geist lebt (gr. kata pneuma), entzieht der Sünde ihr Terrain und fördert damit aktiv die Durchsetzung der Gerechtigkeit Gottes (Röm 6,18). Neben der Gabe des Geistes gibt es weitere sichtbare Anfänge, die das Ganze des Heils verbürgen: Der Glaube in der Definition von Hebr 11,1 stellt selbst bereits einen substanziellen Teil des ersehnten Gutes dar. Die Verkündigung des Evangeliums ist die »Aussaat«, die viel Frucht bringen wird (Mk 4,3-9). Die Initialgaben der Taufe sind ein Vorgeschmack auf das, was Gott den Menschen zugesagt hat (Hebr 6,4-6); selbst die Leiden der Christinnen und Christen sind Grund zur endzeitlichen Hoffnung, denn sie sind als Beginn des endzeitlichen Gerichts über die Welt zu deuten (Mk 13,8: Bild von den Geburtswehen; 1Petr 4,12-19: Freude angesichts des Leidens). 7 Die frühchristliche Endzeithoffnung lebt demnach vom Blick zurück auf Ostern, von der Interpretation der Gegenwart als Zeit voller untrüglicher Hinweise auf die Endzeit sowie von den Aussagen Jesu und der Apostel. Im Hintergrund steht ein Geschichtsbild, welches das der frühjüdischen Apokalyptik weiterführt, dieses aber an einer entscheidenden Stelle verändert. Während Letztere der Gegenwart nichts Gutes abgewinnen kann und sämtliche Hoffnung auf Gottes »Revolution von oben« in der nahen Zukunft setzt, hat sich für die frühen Christinnen und Christen diese »Revolution« an Karfreitag und Ostern bereits ereignet. Die entscheidende Wende ist bereits geschehen, die neue Heilszeit hat schon begonnen. Gleichwohl richtet sich auch die christliche Endzeithoffnung nach vorne, in die Zukunft, denn die Auswirkungen des Kreuzesgeschehens sind auf Erden bislang noch nicht allgemein sichtbar geworden. Noch seufzt die Kreatur unter ihrer Vergänglichkeit und darunter, dass das Neue noch nicht offenbar geworden ist (Röm 8,18ff.). Das frühchristliche Geschichtsbild bringt Paulus in V.24 auf den Punkt: »Wir sind (zwar) gerettet, aber auf Hoffnung hin«. Das heißt, die Gegenwart ist eine Zeit, die bereits unter dem Vorzeichen des Neuen steht, aber noch mit den Ausläufern des Alten kämpfen muss. Was noch aussteht, der so genannte »eschatologische Vorbehalt«, ist im Kern die generelle Sichtbarwerdung dessen, was sich kosmisch schon verändert hat (1Kor 15,23-28). Statt Hoffnung auf »Revolution« bestimmt die Hoffnung auf »Revelation« (Sichtbarwerdung) das christliche Geschichtsbild. Die Begriffe »Trost« und »Hoffnung« Auch ein Blick auf die Verwendung der Begriffe Trost (gr. epainesis bzw. parainesis u.a.) und Hoffnung (gr. elpis u.a.) im Neuen Testament kann dazu beitragen, die Ausgangsfrage zu beantworten; beide Begriffe nämlich sind untrennbar mit den frühchristlichen Endzeitvorstellungen verbunden. Im heutigen Sprachgebrauch ist mit Trost häufig der Beistand in einer schweren Situation verbunden. Der Begriff kann aber auch die Beschwichtigung aufkeimender Zweifel beinhalten. Trost kann in Form verbaler Tröstung oder körperlicher Zuwendung erfolgen. Führt die Tröstung nicht zur gewünschten Ermutigung bzw. zu einem neuen, weiterführenden Blick auf die Situation, ist von »schwachem Trost« oder von Vertröstung die Rede. 8 Dieser Form des Trostes haftet das Moment des Unglaubwürdigen an. Hoffnung gilt heutzutage als eine Kraft, die durchtragen kann, selbst wenn die nüchterne Betrachtung der Situa- »Zur Berechnung des Endes taugt der Begriff ›Nähe‹ nicht.« 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 65 Hermeneutik und Vermittlung 66 ZNT 22 (12. Jg. 2008) tion keine günstige Prognose mehr zulässt. »Die Hoffnung stirbt zuletzt«, heißt es im Volksmund. Solche Hoffnung auf die Verbesserung der Lage kann den Ausschlag geben, dass der Hoffende bis zur erhofften Wende des Geschicks durchhält, und zwar gegen alle anders lautenden Prognosen und scheinbaren Fakten. Solche Hoffnung kann sich allerdings auch als trügerisch herausstellen. Ein Urteil darüber, ob die Hoffnung berechtigt war oder nicht, ist allenfalls im Nachhinein zu fällen. 9 Doch was meinen die Begriffe im neutestamentlichen Kontext? Hoffnung meint, bezogen auf das Handeln von Personen, das Rechnen damit, die Erwartung, das Wünschen und Ersehnen, dass der Andere etwas Positives tut (so in Lk 6,34; Apg 16,19; 1Kor 9,10 etc.). 10 Mit Blick auf ein Handeln Gottes dominieren hingegen die Aspekte des Vertrauens und der Geduld. Denn im Unterschied zum Menschen ist die Vorstellung leitend, dass Gott prinzipiell unberechenbar und unverfügbar ist. 11 Mit dem Aspekt des Vertrauens verbunden ist die Einsicht, dass sich das Erhoffte nicht erzwingen oder herbeireden lässt. Da es von Gott erhofft wird, ist es menschlicher Machbarkeit entzogen. Alles Andere wäre Illusion oder, wie oben schon anders gesagt: überspannte Erwartung, die ins Leere läuft und für Enttäuschung sorgt. Dagegen ist Geduld (gr. hypomone) die Haltung, die sich aus der Hoffnung auf Gottes Tun ergibt (Röm 8,25: »Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld«). Hoffnung ist für Paulus dann echte Hoffnung, wenn sie auf etwas hofft, was man nicht sehen kann, also Hoffnung contra facta (Röm 8,24b). Paradebeispiel für diese Hoffnung ist Abraham, der par´ elpida ep´ elpidi (wörtlich: gegen Hoffnung auf Hoffnung hin, Röm 4,18) geglaubt hat. Gerade in solcher Hoffnung zeigt sich das Vertrauen auf den Gott, der selbst aus dem Tod etwas Neues schaffen kann. Hoffnung auf Dinge, die man sehen kann, ist nach Paulus keine Hoffnung. Selbst Leidenserfahrungen widersprechen dem nicht, im Gegenteil: Gerade die Leiden sorgen für Geduld und Bewährung und stärken damit letztlich die Hoffnung (Röm 5,1-5). Mit dieser Argumentation entzieht Paulus Skeptikern und Spöttern die Grundlage. Zugleich stabilisiert er mit ihr die Gemeinde, die in der Unsichtbarkeit des Neuen gerade ihr Problem hat. 12 Doch Paulus hat in Sachen Hoffnung mehr zu bieten als ontologische Feinsinnigkeit. Volles Vertrauen auf den Gott, der gegen alle Fakten die überraschende Wende herbeiführen kann, ist die eine Seite. Die andere ist christologisch begründet: Da eben dieser Gott in der Auferweckung Jesu bereits gezeigt hat, dass er sogar aus dem Tod heraus neues Leben schaffen kann, ist die christliche Hoffnung keine billige Vertröstung. Neben dem vertrauensvollen Blick nach vorn untermauert der Blick zurück auf Ostern die Berechtigung der christlichen Hoffnung (1Kor 15,20). Und ein Drittes bestärkt Paulus in seiner Überzeugung: Der Blick auf die Zeichen der Endzeit, die sichtbar und spürbar das Erhoffte verbürgen (s.o.). Die frühchristliche Hoffnung ist demnach tripolar begründet: In Ostern, in den Zeichen der Gegenwart und im grundsätzlichen Glauben an die Schöpfungskraft Gottes. Entscheidend ist nach Hebr 11,1 der letztgenannte Aspekt: Wer diesen Glauben hat, hat bereits einen Teil des erhofften Gutes und dazu einen Beweis für die unsichtbaren Dinge in der Hand. Hoffnung und Ethik Die christliche Hoffnung hat nicht zuletzt eine ethische Dimension: Wer sie teilt, gewinnt ein neues Verhältnis zur Welt und zur Geschichte. Hoffnung im frühchristlichen Sinne zeigt sich unter anderem in parrhesia (Mut zum freien Bekenntnis, Zuversicht 2Kor 3,12; vgl. Phil 1,20; Hebr 3,6) und in bereitwillig ertragenem Leid (2Kor 4,17-5,10; 1Petr 4,12-19). Diese Haltung steht konträr zu der, die die Zäsur zwischen Jetzt und Dann verwischt, wie es die Gegner des Paulus nach 1Kor 15 offensichtlich tun. Christliche Hoffnung ist dementsprechend nach H. Weder eine »Zukunftseinstellung«, die nicht in die Zukunft flieht, sondern das Künftige ins Jetzt hereinholt und also den Menschen einlässt in das, was jetzt an der Zeit ist.“ 13 Die Endzeithoffnung, wie sie etwa in 1Thess 4 zum Ausdruck gebracht wird, ist nicht Lehre als Selbstzweck, sondern dient der Ermunterung und dem Trost der Gemeindeglieder (V.18: gr. parakaleite allelous). Trost steht hier in Opposition zur Sorge der Thessalonicher und zur Traurigkeit der Nichtgläubigen, »die keine Hoffnung haben« 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 66 Kurt Erlemann Endzeitvorstellungen zwischen Hoffnung und Vertröstung ZNT 22 (12. Jg. 2008) 67 (V.13). Ähnlich verhilft die Gewissheit, den Heiligen Geist als »Vorschuss« (gr. arrabon) auf die noch ausstehenden Verheißungen zu besitzen, dem Apostel aus der Depression heraus zu einer mutigen, positiven Lebenseinstellung (2Kor 5,1- 9). 14 Geduld und Trost bzw. Aufmunterung sind Gaben Gottes und dienen dazu, bis zur Einlösung der christlichen Hoffnung durchzuhalten (Röm 15,4f.; vgl. 2Thess 2,16f.). Wie die Hoffnung, so wird auch der Trost durch Leidenserfahrungen intensiviert (2Kor 1,3-7; Hebr 12,5; vgl. Mt 5,4). Der Trost, der sich aus der Verheißung und ihren Vorzeichen ergibt, steht für Lukas im Gegensatz zum (vergänglichen) Trost, den irdischer Reichtum bieten kann (Lk 6,24). Verzicht in diesem Leben bringt Trost im kommenden Leben (Lk 16,25). Nicht nur die Aussicht auf die Erfüllung der eschatologischen Verheißungen, sondern auch der Blick auf das Wirken und Geschick Jesu schenken Trost (Lk 2,25; Hebr 6,18). Nach Joh 14-16 fungiert der Heilige Geist als Tröster (gr. parakletos) der christlichen Gemeinde, was in Affinität zur Rede vom Geist als »Vorschuss« bei Paulus steht. Das heißt, dass Trost, Aufmunterung und Hoffnung aufs Engste miteinander verzahnt sind. Hoffnung zielt auf einen konkreten Hoffnungsgegenstand, Trost und Aufmunterung zielen auf eine positive Lebenseinstellung. Hoffnung und Aufmunterung sind gerade in Leidenssituationen die Motoren des Durchhaltens. Zwischenfazit: Hoffnung und Illusion im Neuen Testament Die neutestamentliche Endzeithoffnung zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich contra facta bewährt und durchsetzt. Sie ignoriert nicht, dass die gegenwärtige Situation wenig vom Gegenstand der Hoffnung erkennen lässt. Sie sieht in Jesu Auferstehung, in der Gabe des Geistes und in Leidenserfahrungen Anfänge, die die Verheißungen Gottes verbürgen. Die Texte des Neuen Testaments warnen vor illusionärem Denken, nach dem die Zäsur zwischen dem Zustand des Hoffens und des Sehens aufgehoben ist. Ebenso warnen sie vor überspannten Erwartungen und vor einer Berechnung des Endes. Gott lässt sich nicht berechnen, aber er ist der Herr der Zeit, auch der allernächsten Zukunft. Und so darf darauf vertraut werden, dass er seine Verheißungen einlöst, auch wenn, äußerlich gesehen, nichts dafür spricht (vgl. 1Thess 5,1-3). Christliche Hoffnung äußert sich dementsprechend in geduldigem Warten und ethischem Handeln in der Zwischenzeit. Die neutestamentliche Endzeithoffnung ist nur für diejenigen ein »billiger Trost«, die diese Geduld nicht aufbringen und den Wahrheitsgehalt der Aussagen Jesu und der Apostel auf ihren informativen Gehalt reduzieren. Die weitere Entwicklung Die neutestamentliche Endzeitstimmung setzt sich, unter teils veränderten Vorzeichen, bis zur Konstantinischen Wende im 4. Jh. nach Christus weiter fort. Die Christenverfolgungen lassen die Sehnsucht nach baldiger Erlösung immer wieder aufleben. Immer dann, wenn die Lage sich zuspitzt, erhalten apokalyptische Stimmungen und Spekulationen neuen Nährboden. Dabei wird der zeitliche Rahmen der Erwartungen ausgedehnt: Die Zeit Jesu wird in einen größeren apokalyptischen Vorstellungsrahmen gestellt. Unter Rückbezug auf Ps 90,4 und 2Petr 3,8 wird die Dauer der Weltgeschichte auf 7000 Jahre berechnet (so genannte »Schöpfungswochenanalogie«). Jesu Geburt bzw. sein Tod werden hierin als Beginn der letzten Periode der Weltgeschichte angesehen, sei es der letzten tausend Jahre (Millennium) oder der letzten 500 Jahre (als letzte »dreieinhalb Zeiten«, die dem Satan vorbehalten sind; vgl. Dan 12,7). Dementsprechend wird in den apokalyptischen Texten der Alten Kirche das Ende in eine größere, aber nicht zu große Distanz zum Standort des Betrachters gebracht. Auch hierdurch kann die Endzeitstimmung weitertransportiert werden. 15 Zugleich verwahren sich die meisten Stimmen vehement gegen eine Berechnung des Endes. 16 Eine andere Tendenz ist die der Individualisierung der Endzeiterwartung: Nicht das kollektive Ende ist mehr Fluchtpunkt der Hoffnung, vielmehr gilt der Tod des Einzelnen als entscheidender Zeitpunkt. Der Einzelne erlebt bei seinem Tod das Endgericht (2Clem 8,3; 9,7; ApkPaul 13-16). Mit dem Tod ist das Zeitempfinden aufgehoben; wer stirbt, erfährt de facto bereits die Gemeinschaft mit Christus (vgl. ntl. 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 67 Hermeneutik und Vermittlung 68 ZNT 22 (12. Jg. 2008) schon Phil 1,23; Lk 23,43: »Heute wirst du mit mir im Paradies sein«). Erst mit der Konstantinischen Wende vollzieht sich eine grundlegende Abkehr von apokalyptischem Denken. Augustin (Civ. XX) identifiziert schließlich das ersehnte Millennium Christi mit der Zeit der Kirche. Neben dieser grundsätzlichen Neubesinnung und der Entwicklung eines »evolutionistischen« Geschichtsbildes (stetiger Trend hin zum Besseren; vgl. die Rede in Eph und Kol vom »Wachstum hin zur Fülle Christi« bzw. die Wachstumsgleichnisse in Mt 13) feiern apokalyptische Denkmuster überall dort fröhliche Urständ, wo symbolträchtige Anniversarien, bedrückende Notlagen oder Naturkatastrophen die allgemeine Stimmung nach unten ziehen. Zuletzt hatten Endzeitspekulationen zur Jahrtausendwende Konjunktur; aber auch Ereignisse wie der Irakkrieg oder das zunehmende Bewusstsein des ökologischen Wandels können apokalyptische Stimmungen aufputschen, wie die erfolgreiche Vermarktung entsprechender Katastrophenfilme zeigt. Ausblick: Christliche Endzeithoffnung - Trost oder Vertröstung? Der Wahrheitsbegriff der Aufklärung knüpft das Urteil über wahr oder falsch an experimentelle Beweisbarkeit und an historische Evidenz. Die Naturgesetze geben den Rahmen dessen vor, was als »wahr« angenommen werden kann. Das gilt für die Wunderüberlieferung der Evangelien genauso wie für die neutestamentlichen Endzeitaussagen. Wer sich dem rationalistischen Wahrheitsbegriff verpflichtet weiß, kann in den Ankündigungen Jesu und des Paulus nur einen historischen Irrtum erkennen. Die Rede von der nahen Erfüllung göttlicher Verheißungen unterliegt unter diesem Vorzeichen der Sachkritik und erscheint als unzeitgemäße Vertröstung. Es ist jedoch deutlich, dass sich die biblischen Aussagen dem Wahrheitsbegriff der Aufklärung entziehen. Anders ist es nicht zu erklären, weshalb offenkundig durch die Historie falsifizierte prophetische Ankündigungen nicht frühzeitig ausgeschieden wurden. Die Hochachtung vor der Vollmacht der Autoren ließ solche Sachkritik nicht zu. Stattdessen wurde das interpretierende Verstehen hinterfragt, es wurden Möglichkeiten der Re-Interpretation ausgelotet. Diese sind im Einzelnen: 1. Neben dem informativen Gehalt der Aussagen wurde deren Potenzial, Hoffnung zu wecken und ein bestimmtes Verhalten zu motivieren, wahrgenommen. Die Ankündigung der baldigen Parusie war für die frühchristlichen Ausleger ein Ausdruck dafür, dass Gott jederzeit in die Geschichte der Welt und jedes einzelnen Menschen eingreifen kann. Da das Ende nah ist - kollektiv wie individuell - erhält die verbleibende Zeit eine besondere Wertigkeit: Alles kommt darauf an, sie im Sinne Gottes zu nutzen, sie »auszukaufen«, wie Kol 4,5 und Eph 5,16 es ausdrücken. 2. Weiterhin wurde in den Endzeittexten der deutliche Hinweis gesehen, dass das Ende von Menschen nicht erzwungen oder herbeigeredet werden kann; die Rede von der Nähe bringt stattdessen die Unverfügbarkeit Gottes zum Ausdruck. 3. Sodann ist die Individualisierung der Endzeithoffnung ein wichtiger Schritt, um ihre bleibende Aktualität zu sichern. Wenn auch die Parusie Christi, die allgemeine Totenauferstehung und das Ende der Welt auf sich warten lassen und heutzutage ferner denn je erscheinen, ist der individuelle Tod doch ein stetiger Hinweis auf die absehbare, aber unverfügbare Nähe des Endes. Das »Memento Mori« erfüllt in expressiv-praktischer Hinsicht dieselben Funktionen wie die kollektiven Aussagen des Neuen Testaments. 4. Die Endzeitaussagen werden in den Kontext der Christologie gestellt. Damit werden sie in ihrer Bedeutung für die christliche Hoffnung relativiert. Nicht nur der Blick nach vorn, sondern auch der Blick zurück auf Karfreitag und Ostern begründet christliche Hoffnung. 5. Zuletzt werden die Endzeitaussagen durch Hinweise auf sichtbare Zeichen der eschatologischen Situation flankiert und gestützt. Das Wirken des Geistes, das Phänomen des unbeirrbaren Glaubens, die immer weiter fortschreitende »Die neutestamentliche Endzeithoffnung zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich contra facta bewährt und durchsetzt.« 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 68 Kurt Erlemann Endzeitvorstellungen zwischen Hoffnung und Vertröstung ZNT 22 (12. Jg. 2008) 69 Verkündigung und selbst die Leiden der Christen gelten als Hinweise auf die neue Heilswirklichkeit, die mit dem Wirken Jesu begonnen hat. Unter diesen hermeneutischen Vorgaben behalten die Endzeittexte ihre tröstende, Hoffnung stiftende Funktion. Sie verweisen auf den Gott, der die Situation der Menschen kennt und ihnen dazu verhilft, Durststrecken im Leben in Geduld und Hoffnung zu überwinden. Und sie verweisen auf den Gott, der selbst dann, wenn alle Hoffnung vergeblich zu sein scheint, eingreifen und die Not beenden kann. Die Endzeitvorstellungen können auch heute noch Trost spenden, sofern man auf den unverfügbaren, aber jederzeit fürsorglichen und geschichtsmächtigen Gott vertrauen kann. Die Hoffnung contra facta visibilia und auf Gott als den, der selbst aus dem Tod heraus neues Leben schaffen kann, ist die Nagelprobe des christlichen Glaubens. l Anmerkungen 1 Ausführlich habe ich dazu Stellung genommen in: Naherwartung und Parusieverzögerung im Neuen Testament. Ein Beitrag zur Frage religiöser Zeiterfahrung (TANZ 17), Tübingen / Basel 1995, sowie in: Endzeiterwartungen im frühen Christentum (UTB 1937), Tübingen 1996. 2 Dazu vgl. meinen Beitrag: Propheten und Messiasse, in: K. Erlemann u.a. (Hgg.), Neues Testament und Antike Kultur (NTAK) Bd.3, Neukirchen-Vluyn 2005, 40-44. 3 PsSal 17f.; 4Esr 12,31f.; 1QS 9,9-11; CD 12-14; 19f. u.a. 4 Dazu K. Erlemann, Art. Zeit: IV. Neues Testament (TRE Bd. 36), Berlin 2004, 523-533. 5 Millennium (lat. mille, 1000) meint die tausendjährige Herrschaft Christi nach seiner Wiederkunft (Offb 20), Chiliasmus (von gr. chilia, 1000) bezeichnet die Erwartung derselben. 6 Ders., Der Geist als »arrabon« (2Kor 5,5) im Kontext der paulinischen Eschatologie, ZNW 83 (1992), 202-223. 7 Ders., Anfänge, die das Ganze verbürgen. Überlegungen zu einer frühchristlichen Metapherngruppe, ThZ 57 (2001), 60-87. 8 Duden - Deutsches Universalwörterbuch A-Z, 5., überarbeitete Auflage. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich: Dudenverlag 2003: Trost = »was jmdn. in seinem Leid, seiner Niedergeschlagenheit aufrichtet.« Ein schwacher Trost ist demnach eine ironische Umschreibung für etwas, was gar nicht hilft. 9 Def. Hoffnung nach Duden (vgl. Anm. 8): »das Hoffen; Vertrauen in die Zukunft; Zuversicht, Optimismus in Bezug auf das, was [jmdm.] die Zukunft bringen wird« und »positive Erwartung, die jmd. in jmdn., etw. setzt«. 10 Zum Folgenden vgl. R. Bultmann, Art. elpis ThWNT Bd. II (1935), 515-531, sowie H. Weder, Art. Hoffnung II (NT), TRE Bd. 15 (1986), 484-491; G. Nebe, Art. Hoffnung / Furcht / Sorge, ThBL Bd. 1 (1997), 993-1004. 11 Dazu K. Erlemann, Wer ist Gott? Antworten des Neuen Testaments, Neukirchen-Vluyn 2008, S.8f. 12 Ders., Alt und neu bei Paulus und im Hebräerbrief. Frühchristliche Standortbestimmung im Vergleich, ThZ 54 (1998), 345-367. 13 Weder, Hoffnung, 487. 14 Erlemann, arrabon. 15 Für die Annahme, dass Endzeitstimmung das frühe Christentum weitgehend prägte, sprechen auch Ausführungen der Apologeten, die das Gebet pro mora finis (zur Verzögerung des Endes) als staatstragende Maßnahme propagieren (Justin Apol I 28,2; II 7,1; Aristides Apol 16,6; Tertullian Apol 30,4 u.a.). 16 Hippolyt Ref. 9,13ff.; Comm in Dan 4,18f. u.ö.; Euseb h.e. 6,7. Neues Testament aktuell: Silke Petersen, Perspektiven der Johannesforschung Zum Thema: Paul N. Anderson, Das Johannesevangelium als historische Quelle Jean Zumstein, Sünde im Johannesevangelium Eckart Reinmuth, Biographisches Erzählen und theologische Reflexion im Johannes-Evangelium Kontroverse: Kannte Johannes die Synoptiker? Michael Theobald versus Hartwig Thyen Hermeneutik und Vermittlung: Kristina Dronsch, Das Johannesevangelium in Kinderbibeln Buchreport: Martina Kumlehn Geöffnete Augen - gedeutete Zeichen. Historisch-systematische und erzähltheoretisch-hermeneutische Studien zu Rezeption und Didaktik des Johannesevangeliums in der modernen Religionspädagogik, Berlin 2007 Vorschau auf Heft 23 Themenheft: »Johannes« 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 69 70 ZNT 22 (12. Jg. 2008) Buchreport Dominik Finkelde Politische Eschatologie nach Paulus. Badiou - Agamben - Žižek - Santner Wien 2007, 141 S. Preis: 15,00 Euro ISBN: 978-3-85132-481-5 Die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Apokalypse enthält eine außertheologische Komponente, die in der Moderne ihren eigenen Verlauf genommen hat. Zu Beginn des neuen Jahrtausends kam es vor diesem Hintergrund zu überraschenden Perspektiven, die sich vor allem auf das Denken des Paulus richteten. Diente die Auseinandersetzung mit dem letzten Buch der Bibel bereits in der Zeit vor dem ersten Weltkrieg dazu, seismographisch Schwingungen eines irritierten Zeitgefühls zu erfassen, das auf diese Weise Eindrücke und Vorahnungen gesellschaftlicher Instabilität zu artikulieren versuchte, so sah die Zeit zwischen den Weltkriegen eine modernitätskritisch motivierte politisch-theologische Rezeption mit unterschiedlicher Couleur und ambivalenten Wirkungen. Zu nennen sind neben Resonanzen in apokalyptischen Elementen nationalsozialistischer (Brokoff) und kommunistischer (Ley) Ideologie v.a. Namen wie Carl Schmitt und Walter Benjamin (Brokoff / Jacob). Ihre theoretischen Überlegungen zur politischen Philosophie stoßen folgerichtig in gegenwärtigen Überlegungen zur politiktheoretischen Relevanz des paulinischen Messianismus auf erneutes Interesse und kritische Relektüren. Diese Zusammenhänge gehören durchaus zur Vorgeschichte eines neuen Interesses für Paulus, das sich keineswegs rein akademischen oder historischen Fragestellungen verdankt, sondern auf die aktuelle Bedeutung des Apostels in den Diskursen politischer Theorie und Philosophie zielt. Wird hier das Denken des Paulus als fundamental für das abendländische, ›westliche‹ Denken verstanden, so verbindet sich damit zugleich die Erwartung, in seinem eschatologischen Messianismus als konkreter apokalyptischer Denkform alternierendes Potential für die Grundierungs- und Gestaltungsmöglichkeiten des Politischen zu entdecken. Dominik Finkelde hat jetzt in einer konzentrierten Studie gezeigt, wie Paulus in der gegenwärtigen politischen Philosophie interpretiert wird. Seine Darstellung konzentriert sich auf Alain Badiou, Giorgio Agamben, Slavoj Žižek und Eric Santner. Gemeinsamer Nenner der Pauluslektüren dieser Autoren ist ihr Verständnis der messianischen Zeit »als Endzeit, die nicht das Ende aller Zeiten in Form einer angehängten Apokalypse meint, sondern die ›die Zeit, die bleibt‹ als Durchtränktsein von Jüngstem Gericht und banalstem Alltag versteht.« (11). Ihnen geht es nicht um eine religiöse Interpretation des paulinischen Denkens. Ihre Frage nach seiner politisch-philosophischen Bedeutung führt sie zu einer konsequent immanenten Interpretation, bei der die vertikale, transzendente Dimension »höchstens noch Metapher für die Undurchschaubarkeit reiner Immanenz« ist (12). Finkelde fragt in seinem Buch, wie konsequent diese ›horizontale‹ Beschränkung durchgehalten wird. Er will zugleich zeigen, dass die neuen Pauluslektüren »als Neubestimmung der politischen Philosophie zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu verstehen« sind (12). Im Vordergrund der neuen Pauluslektüren steht die Frage nach dem globalen Verhältnis von Partikularität und Universalität, die ungelöste Frage also, wie unterschiedliche Kulturen und Gesellschaften, Religionen und Politiken sich friedlich begegnen und konstruktiv die Herausforderungen gemeinsamen Lebens auf dieser Welt bestehen können. Paulus ist in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse, weil er einen Universalismus entwickelt hat, der ohne die Negation partikularer Identitäten auskommt. Unentschieden scheint gegenwärtig, ob die ›westliche Welt‹ die eigenen Werte als global verbindlich voraussetzt oder die Pluralität und Disparatheit unterschiedlicher Wertegemeinschaften anerkennt. An das Denken des Paulus richtet sich nun die Erwartung, ein Modell jenseits dieser aussichtslosen Alternative zu entwickeln, das zugleich Perspektiven für den Umgang mit Minoritäten und die Kommunikation unter Partikularitäten enthält und die Anerkennung des Anderen, Fremden, gelingen lässt, ohne dass der Maßstab des Einen als allgemein gültig in Anschlag gebracht wird. Die Frage nach der Begründung des Universalismus angesichts unabschließbarer Partikularitäten ist folglich hochaktuell. Sie ist ein wesentlicher Grund, der zu einer erneuten Rückfrage nach Paulus führt. So sieht Alain Badiou »in Paulus den Urheber einer universalistischen Wahrheitslehre, die gerade aus einer radikalen und subjektiven Innerlichkeit heraus sich über ethnische, religiöse und politische Gren- 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 70 ZNT 22 (12. Jg. 2008) 71 Buchreport zen hinwegsetzt.« (15). Nach Giorgio Agamben begründet Paulus »keine universelle Religion, die durch eine neue christliche Identität und eine neue Berufung definiert wird, sondern er widerruft jede Identität und jede Berufung an sich.« (15). Slavoj Žižek konzentriert sich auf das Modell der Selbstentäußerung Christi am Kreuz und geht davon aus, »dass die Inkarnation Gottes den Abgrund zwischen Gott und Mensch in einen immanenten Abgrund verkehrt und die Gottähnlichkeit des Menschen dort betrifft, wo dieser unfähig ist, mit sich selber identisch zu sein.« (16). Eric Santner schließlich steuert eine psychoanalytisch geprägte Metaebene bei. Er »erweitert die Paulinische Auseinandersetzung mit dem Gesetz der Thora hin zu einer Auseinandersetzung mit Begehrensstrukturen des Menschen, die das Subjekt in einer Abhängigkeit gegenüber gesellschaftlichen Institutionen halten.« (17). Finkeldes Darstellung bietet eine ausgezeichnete Einführung in die z.T. sehr komplizierten Begründungsstrukturen dieser vier Paulusinterpreten. So gelingt es ihm im Abschnitt über Badiou (19-39), dessen eigenwillige mathematische Ontologie - Badious auf ihr basierender Ereignisbegriff nimmt in seinem philosophischen Werk eine zentrale Stellung ein (Badiou 2005) - mit klaren Strichen zu skizzieren und in ihrer grundlegenden Funktion für seine Paulusinterpretation vorzustellen. Ist die Auferstehung Christi in paulinischer Perspektive für Badiou das Ereignis schlechthin, so wird sie gleichwohl als fiktives Ereignis, als »mythologische Behauptung« verstanden, der zugleich jedoch universale Bedeutung zugemessen wird. Diese Bedeutung realisiert sich, weil und indem das Ereignis »in der Folgezeit von unendlich vielen Subjekten übernommen oder verkörpert wurde. Dabei sind es die Subjekte, die durch ihre Treue (fidélité) die universelle Singularität des Ereignisses verkünden und somit nur rückwirkend und nachträglich seine Wahrheit konstituieren, indem sie sie beglaubigen.« (Rölli 32). Badiou übergeht jedoch die inhaltliche Irreduzibilität, die die paulinische Rede von der Auferstehung Jesu beansprucht. Der Verdacht, die Einzigartigkeit des Ereignisses ›Auferstehung‹ könne dann ebenso gut auf subjektiver Einbildung beruhen, die sich in einem dezisionistischen Akt für seine politisch verwertbare Bedeutung entscheide, liegt allzu nahe. Im Kapitel über Agamben (41-73) sticht u.a. die Darstellung seiner Auseinandersetzung mit Badiou hervor (44-48). Im Blick auf Agambens Studie zum Homo sacer verfolgt Finkelde die These, »dass Agamben den Paulinischen Messianismus als Gegenkonzept zu einem Leben im ›Bann‹ entwirft, so wie es der Homo Sacer als Modell kreatürlicher, dem Gesetz ausgelieferter Existenz verkörpert.« (57; vgl. dazu die hervorragende, weit ausgreifende Analyse 58-70). Agamben liest Paulus mit der Erwartung, dass das Denken der messianischen Zeit wesentliche Anstöße für ein neues Durchdenken der Grundlagen politischen Handelns bietet, das die autoritären Voraussetzungen gegenwärtiger Politik (sc. »Biopolitik«) überwindet. Agambens Pauluslektüre stellt den Versuch dar, die Naherwartung, unter der Paulus lebte, nachzubuchstabieren und sie zu einer politischen Anfrage zu transformieren. Agamben geht es darum, das messianische Denken des Paulus als fundamental für das abendländische, ›westliche‹ Denken aufzuweisen und zugleich daraus alternierendes Kapital zu schlagen. Er deutet die messianische Botschaft des Römerbriefes als die Ermöglichung einer Alternative, die von den Polaritäten praktischer Politik nicht erfasst wird. Paulus ist für Agamben der Prototyp des messianischen Denkers. Im Mittelpunkt des Abschnitts über Žižek steht dessen Buch ›Die Puppe und der Zwerg‹ (Frankfurt a.M. 2003), das zwar keine eigenständige Paulusinterpretation bietet, sich aber substantiell auf ihn (und die Positionen Badious und Agambens) bezieht. Finkelde gelingt es, die überraschenden Wendungen im Denken Žižeks verständlich zu skizzieren. Finkelde zufolge verteidigt Žižek »das christliche (sc. paulinische) Erbe als das aus der Perspektive des historischen Materialismus einzig vertretbare Fundament einer Kritik gegen Unrechtsstrukturen in der Welt. Nur von einem auf Universalität ausgerichteten Wahrheitsbegriff, der vom konkreten Subjekt ausgeht und vom militanten Wahrheitskämpfer vertreten wird, könne man das materialistische (nicht das ideologische) Erbe des Marxismus neu beleben und der alternativlos erscheinenden liberaldemokratischen Gesellschaftsform Opposition bieten.« (84). Die Konsequenzen, Stärken und Schwächen dieser Position werden von Finkelde deutlich aufgezeigt (vgl. bes. 95- 97). Der amerikanische Literaturwissenschaftler Eric Santner setzt sich sowohl mit Žižek, als auch mit Badiou und Agamben auseinander. Seine Würdigung des jüdisch-christlichen Erbes bildet »einen Gegenpol zu Žižeks atheistischer Apologie des Christentums.« (99). Agambens im Zusammenhang der Interpretation des Gesetzes verwendeter Begriff des ›Banns‹ wird von ihm psychoanalytisch verstanden und mit Blick auf »unbewusste, das Begehren erzeugende Strukturen in der menschlichen Psyche« interpretiert (100). Damit wird die Analyse, die Paulus in Röm 7 vorlegt - sie spielt sowohl für Badiou als auch für Agamben eine maßgebliche Rolle - in einer psychoanalytischen Perspektive erfasst. Sie ermöglicht es, das Begehren und seine Projektionen, die sich als Bedeutungsüberschuss symbolisierter Gegenstände, Personen, Umgebungen und Ordnungen manifestiert, zu einem gesellschaftsanalytischen Modell zu verbinden. Dieser Bedeutungsüberschuss kann als tiefgreifende Alterität, als »die Fremdheit, ja Unheimlichkeit des Anderen« (102) verstanden werden; sie steht bei Santner »für eine nahezu ›göttliche‹ Anfrage an das Subjekt« (102), insofern es hier um »eine nicht-repräsentierbare Fremdheit, die den Sinn-Horizont um uns immer wieder zerbrechen kann« (103), 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 71 Buchreport 72 ZNT 22 (12. Jg. 2008) geht. Auf dieser Grundlage betont Santner, dass die im Zuge gesellschaftlicher Symbolisierungsprozesse hergestellten Bedeutungsüberschüsse in individueller bzw. politischer Praxis nie aufgehen, sondern als anspruchsvolle Reste, gleichsam als Meta-Imperative im Rang göttlicher Beauftragung tradiert und kommuniziert werden. Die Vielzahl von Defensivstrategien, die individuell und gesellschaftlich ihnen gegenüber entwickelt und konventionalisiert werden, kennzeichnet Santner zufolge menschliche Wirklichkeit. Vor diesem Hintergrund beschreibt Santner die Moderne als »chronischen Alarmzustand eines permanenten Legitimationsdefizits« (108), das alle großen Institutionen betreffe. Sie gründet in »der offenbar gewordenen Grundlosigkeit von Legitimität« und führe dazu, dass »das Ausgeliefertsein gegenüber der symbolischen Autorität noch viel stärker« empfunden werde (108). Hier liegt nicht nur ein Verweis auf das Werk Franz Kafkas (107ff.), sondern auch auf den erwähnten Paulustext nahe. »Für Santner verweist Paulus’ Kritik am Gesetz auf einen mit Tod und Sünde in Verbindung stehenden Mechanismus, der Abhängigkeiten bis in unser Unbewusstes hinein produziert. Paulus’ Rede vom Gesetz (Röm 7,7-9) dient daher in Santners Interpretation als Kritik an Gesetzesstrukturen und ihren Auswirkungen auf die subkutanen Begehrensstrukturen des Menschen insgesamt.« (110). Das damit freigelegte analytische Potential kann genutzt werden, um »die uns deformierenden symbolisch verbürgten Gesellschaftsformen als solche zu erkennen und zu suspendieren.« (115). Finkeldes gut lesbare, unterschiedliche Positionen klar differenzierende und kritische wie weiterführende Fragen entwickelnde Einführung macht die Relevanz deutlich, die das Denken des Paulus für Versuche einer Reformulierung politischer Philosophie am Beginn des 21. Jahrhunderts gewonnen hat. Die Faszination dieses Denkens beruht offensichtlich auf seiner eschatologischen und messianischen Grundierung. Sie scheint nicht nur sinnvolle Perspektiven freizulegen, unter denen die Wurzeln von Recht und Politik aufgehellt werden können, sondern auch kritische Positionen zu ermöglichen, in denen sich das Subjekt in seinen gesellschaftlichen und politischen Relationen neu justiert und zu alternierenden Entwürfen sowie einer selbstbestimmten Praxis befreit und ermutigt sieht. Will sich eine theologische Paulusinterpretation diesen Herausforderungen stellen, so hat sie sich kaum an der ›radikalen Immanenz‹ dieser Entwürfe abzuarbeiten, sondern die Konkretheit der Geschichte Jesu Christi ins Spiel zu bringen. Paulus geht es nicht um eine eschatologische Denkform, sondern um den Versuch, die Geschichte Jesu als des Christus angemessen zu interpretieren. Ihre politischen Implikationen auszufalten, dürfte zu den aktuellen Aufgaben dieser Arbeit gehören. Eckart Reinmuth Literatur zur Vertiefung • Giorgio Agamben, Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief (es 2453), Frankfurt a.M. 2006 (orig. Il tempo che resta, Turin 2000) • Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben (es 2068), Frankfurt a.M. 2002 (orig. Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita, Turin 1995) • Alain Badiou, Paulus. Die Begründung des Universalismus, München 2002 (orig. Saint Paul - La fondation de l’universalisme, Paris 1997) • Alain Badiou, Das Sein und das Ereignis, Berlin 2005 (orig. L’Être et l’Événement, Paris 1988) • Jürgen Brokoff, Die Apokalypse in der Weimarer Republik, München 2001 • Jürgen Brokoff / Joachim Jacob (Hgg.), Apokalypse und Erinnerung in der deutsch-jüdischen Kultur des frühen 20. Jahrhunderts, Formen der Erinnerung Bd. 13, Göttingen 2002 • Dominik Finkelde, Streit um Paulus. Annäherungen an die Lektüren von Alain Badiou, Giorgio Agamben und Slavoj Žižek, PhR 54 (2006), 303-332 • Michael Ley, Apokalypse und Moderne. Aufsätze zu politischen Religionen, Wien 1998 • Eric Santner, Miracles Happen: Benjamin, Rosenzweig, Freud, and the Matter of the Neighbor, in: Žižek / Santner / Reinhard (Hgg.), The Neighbor. Three Inquiries in Political Theory, Chicago / London 2005, 76-134 • Marc Rölli, Einleitung: Ereignis auf Französisch, in: M. Rölli (Hg.), Ereignis auf Französisch, München 2004, 7-40 • Eric Santner, The Psychotheology of Everyday Life. Reflections on Freud and Rosenzweig, Chicago / London 2001 • Slavoj Žižek, Die Puppe und der Zwerg. Das Christentum zwischen Perversion und Subversion, Frankfurt a.M. 2003 (orig. The Puppet and the Dwarf. The Perverse Core of Christianity, Cambridge/ MA 2003) 081208 ZNT 22 - Inhalt 07.10.2008 16: 04 Uhr Seite 72