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ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
0601
2009
1223 Dronsch Strecker Vogel
Editorial zeigt nicht zuletzt der Beitrag Reinmuths. Er weiht in die in Deutschland wenig bekannte Methode der biographical exegesis ein, welche, höre und staune, die Lektürekompetenz (der Studierenden) stärken soll. »Textarbeit als Beziehungsarbeit« zu verstehen und »theologische Reflexion in Kontext personaler Identitätskonstruktion zu verantworten« ist für deutsche Ohren eine ungewohnte und höchst anregende These. Das Johannesevangelium ist ein Konflikttext des ersten Jahrhunderts ganz besonderer Güte. So bearbeitet es die tiefe und folgenreiche Kränkung des Synagogenausschlusses der »johanneischen« Christusgruppe. Das vierte Evangelium antwortet darauf höchst konstruktiv mit einer eigenständigen Christologie und Theologie, aber auch destruktiv mit schmerzhaft harter Polemik gegen die eigene Glaubensgemeinschaft (»die Juden«). So nah liegen zuweilen Identitätskonstruktion und Identitätsdekonstruktion beieinander - dies gibt wie so vieles im Johannesevangelium zu denken und ist von größter Aktualität. Stefan Alkier Kristina Dronsch Ute E. Eisen Liebe Leserinnen und Leser der ZNT, mit diesem Heft laden wir zu einer perspektivenreichen Reise in die Welt des Johannesevangeliums und seine bewegte Forschungsgeschichte ein. Das vierte Evangelium gilt im Vergleich zu den synoptischen Evangelien zu Recht als das theologischste, aber vielfach als fern und abgehoben. Diese Ansicht wird in diesem Heft vom Kopf auf die Füße gestellt: Das vierte Evangelium ist lebensprall und theologisch, es ist voller historisch zutreffender Reminiszenzen und fiktional - stets zugleich. Der affektiv höchst aufgeladene Paradigmenwechsel in der neutestamentlichen Methodik von den klassischen historisch-kritischen Methoden hin zu aktuellen literatur- und rezeptionsästhetischen Betrachtungsweisen ist auch in diesem Heft mit Händen zu greifen, mal als Gegeneinander, mal als Miteinander. Ein roter Faden ist in diesem Zusammenhang etwa, wie sehr eine traditionell begrifflich orientierte Exegese von einer die narratio als Ganzer in den Blick nehmenden ergänzt und bereichert werden kann. Und wie fruchtbar eine Ausweitung des exegetischen Blicks - hermeneutisch und methodisch - immer wieder ist, ZNT 23 (12. Jg. 2009) 1 In eigener Sache Im Herausgeberkreis haben sich einige personelle Änderungen ergeben. Die Zusammensetzung des Geschäftsführenden Herausgeberkreises hat sich turnusgemäß verändert. Im Namen des Verlages und im Namen der Herausgeber danken wir Frau Prof. Dr. Ute E. Eisen für ihren engagierten und ideenreichen Einsatz der letzten Jahre rund um die Belange von ZNT. Wir schätzen uns glücklich, dass wir auch weiterhin auf ihre Anregungen im erweiterten Herausgeberkreis zählen dürfen. Ihre Arbeit in der Geschäftsführung hat Prof. Dr. Manuel Vogel übernommen. Ausgeschieden aus dem erweiterten Herausgeberkreis sind Prof. Dr. Kurt Erlemann sowie Prof. Dr. Bernd Wander. Beiden sei für ihr langjähriges Engagement gedankt. Besonders Prof. Dr. Kurt Erlemann hat als Gründungsmitglied und mehrjähriger Geschäftsführender Herausgeber der ZNT das Gesicht dieser Zeitschrift ganz entscheidend mitgeprägt. Seinem Ideenreichtum und seiner Unterstützung verdankt die Zeitschrift sehr viel. Für die Herausgeberinnen und Herausgeber Stefan Alkier 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 18 Uhr Seite 1 2 ZNT 23 (12. Jg. 2009) »Dem aber, der an der Brust Jesu lag, vertraut [Gott] die größeren und vollkommeneren Worte über Jesus an. [...] Man kann deshalb unbedenklich sagen, die Evangelien seien die Erstlinge der Schrift, der Erstling der Evangelien aber sei das nach Johannes, dessen Sinn niemand fassen kann, der nicht an der Brust Jesu geruht und der nicht von ihm Maria angenommen hat, so dass sie auch seine Mutter geworden ist. So muss er von solchem geistigen Ausmaß werden, dass er ein zweiter Johannes sei, und gleichwie Johannes sich sozusagen als ein Jesus unter Jesus erweise.« 1 Diese Zeilen stammen von dem antiken christlichen Theologen Origenes (gest. ca. 254), der einen der ersten Johanneskommentare in der Geschichte des Christentums schrieb. Origenes hebt die Besonderheit des Johannesevangeliums hervor. Dass es »Erstling« nicht nur der Schrift, sondern sogar unter den Evangelien ist, betont, wie wichtig dieser Text ist - es geht hier nicht um eine besonders frühe Entstehung des Johannesevangeliums. Origenes meint zudem, man müsse sich an »Johannes« angleichen, sozusagen wie der Lieblingsjünger des Evangeliums an Jesu Brust liegen (vgl. Joh 13,23) und wie dieser ein Kind von Jesu Mutter werden (vgl. Joh 19,26f.), um den Sinn des Johannesevangeliums überhaupt erfassen zu können. So wird deutlich, dass Origenes eine besondere Beziehung zu diesem besonderen Evangelium hat. Seit der Zeit des Origenes ist eine kaum mehr übersehbare Anzahl von Kommentaren, Monographien und Artikeln zum Johannesevangelium erschienen. Die Faszination dieses Textes beruht dabei auch und gerade auf seiner Andersartigkeit in Bezug auf die drei anderen in unserem Kanon enthaltenen Evangelien: Während die drei sogenannten »synoptischen« Evangelien (Mt, Mk, Lk) demselben Grundaufbau folgen und viele Abschnitte bei ihnen in der Reihenfolge und zum Teil bis in die Einzelheiten der Wortwahl übereinstimmen, geht das Johannesevangelium oftmals sehr eigene Wege. Warum dies so ist, und was es für unser Verständnis der Entwicklungen des frühen Christentums bedeutet, wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Dabei gibt es bei den weitaus meisten Grundfragen der Johannesexegese keinen Konsens in der Forschung: Fragen wie die nach Entstehungszeit und -kontext, nach Quellen und möglichen Abhängigkeiten von anderen Texten, nach der Charakterisierung einzelner Personen und nach dem christologischen Entwurf, sind in höchstem Maße umstritten. Der folgende Artikel will einen Einstieg in diese kontroverse Diskussionslandschaft geben. Es ist keine »erschöpfende« Darstellung der gesamten Johannesforschung intendiert (was in diesem Rahmen nicht möglich wäre). 2 Vielmehr möchte ich eine orientierende »Landkarte« der Kontroversen entwerfen und ihre Verbindungslinien untereinander aufzeigen. Gemeinsam ist den behandelten Themen dabei, dass es nur selten einen dauerhaften Forschungskonsens gibt. Was sich verschiebt, sind oft nicht nur die Antworten, sondern das Interesse an bestimmten Themen und Fragestellungen: Während einige zeitweise in den Hintergrund treten, wird anderen mehr Aufmerksamkeit gewidmet. 1. Die äußeren Umstände: Zu Datierung, Lokalisierung und Verfasserschaft Wann das Johannesevangelium entstanden ist, wissen wir nicht. Der älteste erhaltene Papyrus überhaupt mit einem neutestamentlichen Text (mit der offiziellen Papyrusnummer 52) enthält einige Zeilen aus dem Johannesevangelium und wird auf die erste Hälfte des 2. Jahrhunderts datiert. Extreme Spätdatierungen, wie sie zum Teil in der älteren Forschung vertreten wurden, sind damit ausgeschlossen. Es bleibt aber immer noch ein Zeitraum vom denkbaren Beginn der schriftlichen Jesusüberlieferung bis zum Anfang des 2. Jahrhunderts, in dem das Evangelium - möglicherweise auch sukzessive - entstanden sein könnte. Alle in diesem Rahmen möglichen Alternativen sind auch in der Forschung vertreten; ent- Neues Testament Aktuell Silke Petersen Das andere Evangelium: Ein erster Wegweiser durch die Johannesforschung 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 18 Uhr Seite 2 Silke Petersen Das andere Evangelium ZNT 23 (12. Jg. 2009) 3 scheidend für diese Frage ist, wie jeweils das Verhältnis des Johannesevangeliums zum Judentum und zu der übrigen uns erhaltenen Jesusüberlieferung eingeschätzt wird: Wer meint, das Johannesevangelium hätte sich schon definitiv aus dem Judentum gelöst und sei überdies von den synoptischen Evangelien abhängig, hält es für später entstanden als jene, die es in einem innerjüdischen Konflikt verorten oder seine Unabhängigkeit von (oder sogar Priorität vor) den synoptischen Evangelien annehmen. 3 Auch über den Ort der Entstehung herrscht Ungewissheit: Manche folgen jenen Nachrichten bei den Kirchenvätern, die auf Ephesus verweisen, andere halten den syrischen Raum für wahrscheinlicher oder denken an eine Verbindung mit Ägypten, da sich im Johannesevangelium Verbindungslinien mit der alexandrinischen Theologie z.B. Philos aufzeigen lassen. 4 Spannender noch ist die Diskussion um die Verfasserschaft, da der Text des Johannesevangelium hier selbst Hinweise enthält: Nach Joh 21,24 ist der zuvor mehrfach auftretende »Jünger, den Jesus liebte« (vgl. 13,23-25; 18,15f.; 19,26f.34f.; 20,2-10; 21,7.20-24; ev. auch 1,37-40), Augenzeuge des Geschehenen und hat das Johannesevangelium geschrieben. Der Name »Johannes« wird im Text selbst nicht erwähnt; er findet sich erst in der sekundär hinzugefügten Überschrift. Im Text tritt aber gleichzeitig noch ein »wir« auf, das am Ende vom Lieblingsjünger sagt: »wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist« (21,24); und schon im Prolog des Johannesevangelium heißt es: »wir sahen seine Herrlichkeit« (1,14). Dies ist ein Indiz dafür, dass der Text des Johannesevangeliums in der uns vorliegenden Form nicht unbedingt auf eine Einzelperson zurückgeführt werden kann, sondern sich hier eine Gruppe artikuliert. Der »Lieblingsjünger« wäre dann der Traditionsgarant dieser Gruppe und würde durch seine Augenzeugenschaft die johanneische Jesusdarstellung glaubwürdig machen. Ob sich hinter dieser Jüngergestalt tatsächlich eine historische Person verbirgt, ist in der Forschung ebenso umstritten wie das Verhältnis zwischen dieser Gestalt und der Gruppe: Verbirgt sich hinter dem Text letztlich ein genialer Theologe oder ist das Johannesevangelium (und die drei Johannesbriefe, die diesem sprachlich sehr ähneln) Produkt einer eher egalitär gedachten »johanneischen Schule«? 5 In die jeweils vertretene Vorstellung fließen an dieser Stelle immer auch Grundkonzepte ein, wie die Entstehung von Texten unter antiken Voraussetzungen prinzipiell denkbar ist. Entscheidend ist dabei u.a., wie hoch man den Stellenwert mündlicher Überlieferungen veranschlagt. Zudem eröffnen die verschiedenen Entstehungstheorien den Raum für eine Textlektüre, die das Johannesevangelium als einen gewachsenen Text versteht; für eine solche Lektüre sprechen auch innertextliche Indizien. PD Dr. Silke Petersen, Jahrgang 1965, Studium der evangelischen Theologie in Hamburg, 1994- 1997 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Hamburg, 1998 Promotion, 1998-99 Postdoktorandenstipendium der DFG an der Universität Würzburg im interdisziplinären Graduiertenkolleg Wahrnehmung der Geschlechterdifferenz in religiösen Symbolsystemen; 1999-2003 Hochschulassistentin an der Universität Hamburg, 2005 Habilitation mit einer Arbeit über das Johannesevangelium, derzeit Privatdozentin für Neues Testament. Veröffentlichungen u.a.: »Zerstört die Werke der Weiblichkeit! « Maria Magdalena, Salome und andere Jüngerinnen Jesu in christlich-gnostischen Schriften (NHMS 48), Leiden u.a. 1999 (Dissertation); Brot Licht und Weinstock. Intertextuelle Analysen johanneischer Ich-bin-Worte (NT.S 127), Leiden u.a. 2008 (Habilitationsschrift); Die Evangelienüberschriften und die Entstehung des neutestamentlichen Kanons, ZNW 97 (2006), 250-274; Jesus zum Kauen. Das Johannesevangelium, das Abendmahl und die Mysterienkulte, in: J. Hartenstein / S. Petersen / A. Standhartinger (Hgg.), »Eine gewöhnliche und harmlose Speise«? Von den Entwicklungen frühchristlicher Abendmahlstraditionen, Gütersloh 2008, 105- 130. Silke Petersen 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 18 Uhr Seite 3 Neues Testament aktuell 4 ZNT 23 (12. Jg. 2009) 2. Vom Umgang mit Widersprüchen: Diachrone und synchrone Auslegungen Das Johannesevangelium bietet sich für Literarkritik geradezu an: Nicht nur am Ende des letzten Kapitels, sondern auch am Schluss des vorhergehenden steht eine Formulierung, die wie ein Buchschluss aussieht (vgl. 20,30f.); die Kapitel 5-7 scheinen in einer falschen Reihenfolge zu stehen (vgl. den Übergang von 5,47 zu 6,1) und die Aufforderung Jesu, aufzustehen und zu gehen (vgl. 14,31), wird erst drei Kapitel später wieder aufgenommen und eingelöst (vgl. 18,1). Zudem finden sich im Text des Evangeliums selbst einander anscheinend widersprechende Aussagen (vgl. z.B. 6,54 mit 6,63). Solche Indizien haben dazu geführt, eine Entstehung des Johannesevangeliums in mehreren Schichten anzunehmen. Klassisch ist Rudolf Bultmanns Modell, der von einer dreistufigen Entstehungsgeschichte ausgeht: Am Anfang stehen Quellen, in denen etwa Teile der Passionsgeschichte und Wundererzählungen enthalten waren. Diese Quellen verwendet der eigentliche »Evangelist«, in dessen Gefolge wiederum eine »kirchliche Redaktion« das Evangelium überarbeitet und dabei auch inhaltlich zähmt. 6 Seit Bultmanns Zeit sind allerdings so viele unterschiedliche Rekonstruktionen der Textschichten entwickelt worden, dass die Schwierigkeit einer diachronen Zugangsweise offensichtlich wurde, zudem scheint eine Quellenscheidung aufgrund sprachlicher Merkmale nicht möglich. 7 Viele Auslegungen wählen deshalb heutzutage eine synchrone Zugangsweise; sie interpretieren den Text also in der uns vorliegenden Gestalt. Es gibt jedoch auch nach wie vor diachron orientierte Untersuchungen. Ein in gewisser Weise vermittelndes Modell geht von einer aktualisierenden Fortschreibung in Passagen des Johannesevangeliums aus (bes. in Kap. 14-17 und 21) und bezeichnet diesen Prozess als »Relecture«. Hier tritt die Weiterschreibung nicht mehr - wie bei Bultmann - in einen Gegensatz zum vorherigen Text, sondern wird als Adaption und erneute Leseanweisung verstanden. 8 Die Frage nach den hinter dem Text stehenden Quellen oder Traditionen ist eng mit der Einschätzung verbunden, wie sich das Johannesevangelium zu den synoptischen Evangelien verhält. Da das Johannesevangelium nicht nur Unterschiede zu, sondern auch Gemeinsamkeiten mit der synoptischen Überlieferung aufweist, fragt man sich, wie es zu diesen Übereinstimmungen gekommen ist: Benutzt oder kennt das Johannesevangelium einige oder alle der anderen Evangelien? Kennt es nur die Gattung »Evangelium«, nicht aber einzelne solcher Texte? Oder sind die Übereinstimmungen letztlich auf die allen Texten vorausliegende mündliche Tradition zurückzuführen? Wer eine Kenntnis synoptischer Evangelien annimmt, braucht nicht unbedingt andere Quellen zu rekonstruieren; wer dagegen - z.B. aufgrund des Mangels an wörtlichen Übereinstimmungen - nicht an eine Benutzung oder Kenntnis anderer Evangelien glaubt, muss ein Modell entwickeln, wie etwa bestimmte Ähnlichkeiten im Ablauf und in der Wortüberlieferung erklärbar sind. 9 Die Situation verkompliziert sich noch, wenn man das Thomasevangelium in die Diskussion einbezieht, da sich auch hier bestimmte Berührungspunkte abzeichnen, etwa was die Hervorhebung der Thomasgestalt angeht. 10 Nach meiner Einschätzung werden sich die genannten Fragen auch in Zukunft nicht eindeutig beantworten lassen. Wichtig scheint es mir jedoch, zwei Aspekte festzuhalten: Das Johannesevangelium bietet wohl in manchen Fragen historisch zuverlässigere Angaben als die synoptischen Evangelien (so etwa was das Todesdatum Jesu angeht 11 ); daraus folgt, dass in diesem Text auf jeden Fall mehr Informationen enthalten sind, als eine ausschließliche Abhängigkeit von den synoptischen Evangelien erklären könnte. Und zweitens: Auch wenn wir vermuten können, dass es in der Entstehung des Johannesevangelium gewisse Prozesse des Textwachstums gab, so bedeutet dies doch keinesfalls, dass der Text in seiner uns vorliegenden Gestalt kein sinnvolles Ganzes ergibt, das als solches les- und interpretierbar ist (sonst müsste man die letzte Redaktionsstufe für ein Produkt geistiger Unzurechnungsfähigkeit halten). Neuere literaturwissenschaftlich orientierte Studien haben denn auch gezeigt, dass narrative Analyseverfahren am Gesamttext des Johannes- »Der derzeitige Referenzrahmen für ein kontextuelles Verständnis des Johannesevangeliums ist das antike Judentum.« 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 18 Uhr Seite 4 Silke Petersen Das andere Evangelium ZNT 23 (12. Jg. 2009) 5 evangelium höchst ergiebig sein können, sie bieten auch Möglichkeiten, die »dynamischen Spannungen« im Text produktiv auszuwerten. 12 3. Das religionsgeschichtliche Problem: »Gnosis«, Judentum, Antijudaismus Die Besonderheiten des Johannesevangeliums haben immer wieder zu Versuchen Anlass gegeben, diesen Text in die religionsgeschichtliche »Landschaft« seiner Zeit einzuordnen. Während in der älteren Forschung primär das Verhältnis zur sogenannten »Gnosis« debattiert wurde, werden derzeit eher die verschiedenen Ausprägungen des antiken Judentums in den Blick genommen. Schon Walter Bauer stellte in den verschiedenen Auflagen seines Johanneskommentars eine Fülle von antikem Vergleichsmaterial zusammen. Mitte des 20. Jahrhunderts war dann die Kontroverse zwischen Rudolf Bultmann und Ernst Käsemann forschungsprägend. 13 Während letzterer davon ausgeht, dass das Johannesevangelium ein gnostischer Text sei, der einen »naiven Doketismus« (also die Vorstellung, Jesus sei nur scheinbar ein menschliches Wesen geworden) vertrete und nur zu Unrecht in den neutestamentlichen Kanon gelangt sei, meint Bultmann, dass dem Johannesevangelium ein ausgeführter gnostischer Erlösermythos zugrunde liege, der jedoch »entmythologisiert«, also quasi auf seine Grundstruktur reduziert worden sei, wobei der kosmologische Dualismus der Gnosis (also die Zweiteilung in eine göttliche und eine weltliche Sphäre) ersetzt worden sei durch einen ethischen oder Entscheidungsdualismus (wobei es nun an jenen liegt, die Jesus begegnen, sich für die göttliche und nicht die weltliche Sphäre zu entscheiden). Anders gesagt: Bei der Interpretation des johanneischen Spitzensatzes in 1,14 (»das Wort wurde Fleisch ... und wir sahen seine Herrlichkeit«) betont Käsemann den zweiten Teil (also die »Herrlichkeit«), Bultmann jedoch den ersten Halbsatz (also die Inkarnation). Beides ergibt ein je vollkommen anderes Bild der Jesusdarstellung des Johannesevangeliums: Während in der Käsemannschen Deutung Jesus nie wirklich auf der Erde ankommt, tut er das nach Bultmann sehr wohl: S.E. ist die Menschwerdung Christi das entscheidende Heilsereignis im Johannesevangelium. An dieser Kontroverse wird sichtbar, wie eng die religionsgeschichtliche Einordnung und die Bewertung der Christologie des Johannesevangeliums miteinander zusammenhängen. Während die Einschätzung der Christologie weiterhin kontrovers diskutiert wird, ist das »gnostische« Vergleichsmaterial derzeit jedoch überwiegend aus der Diskussion verschwunden. 14 Dies liegt zum einen daran, dass die herangezogenen Texte entweder deutlich später als das Johannesevangelium sind (so die von Bultmann verwendeten mandäischen Quellen) oder ihre Datierung überhaupt ungewiss ist (so bei vielen der Bultmann noch nicht bekannten Texte), zum anderen hat sich der von Bultmann u.a. postulierte gnostische »Erlösermythos« weitgehend als Phantom erwiesen, d.h. ein solcher Mythos von einem »erlösten Erlöser« existiert in den »gnostischen« Texten nicht in der Form, in der die religionsgeschichtliche Forschung ihn angenommen hatte. 15 Und schließlich ist in der neueren Forschung die Kategorie »Gnosis« insgesamt in die Kritik geraten. 16 Festzuhalten bleibt m.E. allerdings, dass die Nähe der »gnostischen« Vergleichstexte zum Johannesevangelium weiterhin erklärungsbedürftig bleibt - selbst wenn die Datierungsfragen sich nicht eindeutig werden lösen lassen. Der derzeitige Referenzrahmen für ein kontextuelles Verständnis des Johannesevangeliums ist das antike Judentum. Das Johannesevangelium enthält streckenweise heftige Polemik gegen die Judaioi, 17 gleichzeitig werden jedoch jüdische Personen auch positiv gezeichnet, es wird konstatiert, dass Jesus Jude ist (4,9) und der johanneische Jesus spricht aus, dass die Erlösung von den Judaioi kommt (4,22). Wie ist dieses nebeneinander von Polemik und Verbindung zu erklären? Klaus Wengst findet die Antwort in der historischen Situation, in der das Johannesevangelium entstanden sei. Dreimal ist im Evangelium mit einem speziellen Wort die Rede davon, die AnhängerInnen Jesu würden »aus der Synagoge ausgeschlossen« werden (aposynagogos, vgl. 9,22; 12,42; 16,2). Dies verweise auf die Schwierigkeiten, in die die johanneische Gemeinde mit dem normativ werdenden pharisäisch-rabbinischen Judentum nach 70 n.Chr. (dem Jahr der Zerstörung des Jerusalemer Tempels) geraten sei. 18 Auf dem Hintergrund der Trennungserfahrungen lasse sich auch die Schärfe der Auseinandersetzungen erklären; der johanne- 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 18 Uhr Seite 5 Neues Testament aktuell 6 ZNT 23 (12. Jg. 2009) ische Antijudaismus ist in einem solchen Modell gerade ein Symptom der Nähe zum Judentum. 19 Teilt man mit Wengst u.a. diese Einschätzung der Entstehungssituation des Johannesevangeliums, so ist »Antijudaismus« dann eine eigentlich unpassende Bezeichnung zur Beschreibung der johanneischen Polemik, da es sich um einen innerjüdischen Konflikt handelt. Eine andere Forschungsrichtung sieht das Johannesevangelium in einer größeren Distanz zum Judentum. Das Johannesevangelium blicke auf den Synagogenausschluss als längst vergangen zurück, 20 der Bruch mit dem Judentum sei definitiv eingetreten und das Christentum im Johannesevangelium quasi zu sich selbst gekommen. 21 Tendenziell ist eine solche Position auch mit einer eher späten Datierung des Johannesevangeliums verbunden. Gemeinsam hat sie mit der innerjüdischen Kontextualisierung die Erkenntnis, dass die im Text sichtbaren Kontroversen die johanneische Gemeinde und ihre Geschichte spiegeln, sie passen nicht in die Zeit des historischen Jesus. Was jedoch darüber hinaus gleichzeitig verhandelt wird, ist das christliche Selbstverständnis in Abgrenzung zum Judentum: Ab wann kann man von einer separaten Religion reden? Was macht das Christentum zum Christentum, wodurch lässt es sich (systematisch) vom Judentum unterscheiden und ab wann ist es (historisch) plausibel, von einer endgültigen Trennung zu sprechen? Was definiert das antike Judentum als Judentum und welche Elemente in einem Text lassen diesen entweder als jüdischen oder als nicht (oder historisch nicht mehr) zum Judentum gehörigen erscheinen? Die Tragweite der gestellten Fragen zeigt schon, dass eine Entscheidung komplex ist. Hinweisen möchte ich noch auf einen weiteren Aspekt, nämlich den »Schriftgebrauch«. Während die Frage, ob Jesus der Messias sei, im Johannesevangelium kontrovers diskutiert wird, ist die Haltung zu den alttestamentlichen Schriften durchgehend positiv. Sie werden stets zustimmend zitiert und der johanneische Jesus äußert sich in der Diskussion mit seinen ebenfalls jüdischen Kontrahenten eindeutig: »die Schrift kann nicht aufgelöst werden« (10,35). Durchgehend wird mit »der Schrift« für - oder von »den Anderen« manchmal auch gegen - Jesus argumentiert; nicht jedoch mit Jesus gegen »die Schrift«. Diese zentrale Bedeutung der »Schrift« spricht eher für als gegen eine innerjüdische Kontextualisierung des Johannesevangeliums. Andererseits steht die Person Jesu in diesem Evangelium doch in einer Art und Weise im Zentrum des narrativen sowie des theologischen Entwurfs, die für jüdische Ohren - nicht nur der heutigen Zeit, sondern auch der Antike - schwer nachvollziehbar gewesen sein dürfte. Macht dies den Text zu einem Dokument des Christentums, das sich endgültig aus dem Judentum verabschiedet hat? Oder ist eine solche Einschätzung des Johannesevangeliums erst nachträglich und auf dem Hintergrund eines inzwischen etablierten Christentums überhaupt denkbar? 4. Jesus, die Frauen und die Weisheit: feministische Lektüren des Johannesevangeliums Auch in diesem Themenbereich ist die Einschätzung des Johannesevangeliums in gewisser Weise ambivalent. In keinem anderen Evangelium haben Frauen so viele Redebeiträge wie im Johannesevangelium; die »Frauen um Jesus« verweisen dabei jedoch stets und ausschließlich auf eben diesen (wie es allerdings auch die Männer tun). Im Verhältnis zu den synoptischen Evangelien fallen die langen Dialoge auf, die Jesus mit Frauen führt, so etwa mit der Samaritanerin am Jakobsbrunnen (4,5-42) und mit Martha und Maria bei der Auferweckung des Lazarus. Martha ist diejenige, die im Johannesevangelium das zentrale Bekenntnis zu Jesus formuliert (vgl. 11,27 mit 20,31). Maria Magdalena ist die erste, die dem auferstandenen Jesus begegnet, sie erhält von ihm den Auftrag zur Übermittlung dieses Geschehens (20,1-18) und lässt sich somit als Apostolin charakterisieren. 22 Das Johannesevangelium lässt die Mutter Jesu am Beginn seines öffentlichen Wirkens auftreten (2,1- 12) und platziert sie am Ende dieses Wirkens unter dem Kreuz (19,25-27; wohl eher gegen die Historie, aber mit immensen Folgen u.a. für die Kunstgeschichte). Andererseits verblasst die Botschaft der Samaritanerin hinter dem persönlichen Auftreten Jesu in ihrem Dorf (vgl. 4,39-42); Martha scheint nicht begriffen zu haben, was Jesus vorhat (vgl. 11,39); und auf die Begegnung Maria Magdalenas mit dem Auferstandenen (den sie zunächst für den Gärtner hält), folgen mehrere 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 18 Uhr Seite 6 Silke Petersen Das andere Evangelium ZNT 23 (12. Jg. 2009) 7 weitere Erscheinungen, die ihre Botschaft weiterführen und in gewisser Weise überholen (vgl. 20,19-29). Die Charakterisierung der Frauen scheint also doppelbödig: Sie sind nicht einfach positive Gestalten, die sich den Männern gegenüberstellen ließen, sondern genau wie diese anfällig für Irrtümer und nur vorläufiges Verstehen. Dabei lässt sich jedoch eine Tendenz zur Egalisierung ausmachen: In anderen Traditionen bedeutsame Personen wie etwa Petrus werden in ihrer Autorität partiell eingeschränkt; andere, wie etwa Maria Magdalena, werden aufgewertet. Diese Tendenz ist jedoch nicht geschlechtsspezifisch verteilt; und alle Gestalten verweisen letztlich auf Jesus, die Person, an der sich im Johannesevangelium der Zugang zum »Leben« entscheidet und die jenseits aller Tendenz zur Egalisierung steht. 23 Dieser Jesus aber, und das ist ein weiteres Thema nicht allein feministisch orientierter Auslegungen, wird in vielen Passagen des Textes mit Kategorien aus der frühjüdischen Weisheitsliteratur dargestellt. 24 Was in den älteren jüdischen Texten von Sophia gesagt wird, gilt nun (auch) für Jesus: Beide sind präexistent (Spr 8,22f., Sir 24,9; Joh 1,1f., 8,58), beide werden in die Welt gesandt und bringen Licht für die Menschen (vgl. Sir 24,8; Weish 7,29f.; Joh 1,1-14; 8,12), beide laden zum Mahl ein und geben sich selbst als Speise (Spr 9,5; Sir 24,19-21; Joh 6), beide stellen sich selbst mit Metaphern aus der Pflanzenwelt dar (so als Weinstock; Sir 24,17; Joh 15,1-8). Schon lange wird in der Forschung diskutiert, inwiefern der Prolog des Johannesevangeliums (1,1-18) mit der Weisheitsliteratur zusammenhängt: In der älteren Forschung werden sogar Vorlagen des Prologs - der ja eine Lektüreanweisung für das gesamte Johannesevangelium darstellt - angenommen, bei denen sich der Text auf Sophia und nicht auf Jesus bezogen haben soll, derzeit geht man eher von der Aufnahme von Traditionen aus. Die Verbindungslinien zur Weisheitsliteratur sind nun auch deshalb spannend, weil die Vorlage zur johanneischen Interpretation der Christusgestalt eine weibliche Figur ist. Die Weisheit wird dabei in einem doppelten Sinne »aufgehoben«: Sie bleibt einerseits in Christus anwesend, andererseits verschwindet sie auch in ihm: Das Wort Sophia kommt kein einziges Mal im Johannesevangelium vor; an die entsprechende Stelle im Prolog ist die Bezeichnung Logos getreten, ein grammatisch männlicher Ausdruck, der mit dem deutschen Begriff »Wort« nur unzureichend wiedergegeben werden kann. Nicht erst im Johannesevangelium, sondern schon bei dem jüdischen Philosophen Philo von Alexandrien sind Logos und Sophia nahezu synonym gebraucht (vgl. oben unter 1. zur Lokalisierungsfrage). 25 Während die Existenz der geschilderten Verbindungslinien in der Forschung kaum bestritten wird (sie bleiben nur teilweise unberücksichtigt), ist die Frage nach der Bewertung eher kontrovers: »Überbietet« der johanneische Jesus Sophia und macht sie damit entbehrlich - oder ist er lediglich eine (sicherlich ganz besondere) ihrer Möglichkeiten, sich in der Welt sichtbar zu machen? Das Besondere der johanneischen Christologie (sowohl im Verhältnis zur Weisheit als auch in Vergleich mit anderen neutestamentlichen Entwürfen) zeigt sich m.E. vor allem in der Betonung der Inkarnation, womit wir beim letzten Abschnitt dieser Einführung angekommen sind. 5. Kreuz, Inkarnation und Bildersprache: Zur Christologie des Johannesevangeliums Das Johannesevangelium war und ist ein entscheidender Text für die Entwicklung christologischer Vorstellungen. Noch mehr als in anderen Bereichen ist deshalb ein kurzer Überblick über die Forschungslage kaum möglich. Ich konzentriere mich deshalb vor allem auf zwei Aspekte: Auf das Verhältnis von Kreuz und Inkarnation sowie auf die Rolle der metaphorischen Sprache für die Christologie des Johannesevangeliums. Bei der Frage nach der christologischen Gesamtsicht sind immer noch weitere Texte explizit oder implizit in der Diskussion anwesend. Bei der Frage nach der Relation von Passion und Inkarnation betrifft dies vor allem die paulinischen Briefe und das Markusevangelium. Im Vergleich mit letzterem ist der johanneische Jesus ausgesprochen souverän: So fehlt eine Entsprechung zur Gethsema- »Das Johannesevangelium war und ist ein entscheidender Text für die Entwicklung christologischer Vorstellungen.« 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 18 Uhr Seite 7 Neues Testament aktuell 8 ZNT 23 (12. Jg. 2009) ne-Perikope, in der Jesus bittet, dass die Stunde an ihm vorübergehen möge (Mk 14,35; anders Joh 12,27); während der markinische Jesus am Kreuz Gott anruft und fragt, warum er ihn verlassen habe (Mk 15,34), konstatiert der johanneische: »Es ist vollbracht« (19,30). Der Jesus des Johannesevangeliums kennt von Anfang an die Absicht des Judas, er fordert ihn sogar dazu auf, schnell zu handeln (6,70f.; 13,27). Interpretamente für das Kreuzigungsgeschehen sind im Johannesevangelium Erhöhung (3,14; 8,28; 12,34) oder Verherrlichung (12,23; 13,31f. u.ö.). Andererseits ist aber nicht zu bestreiten, dass dieser Jesus tatsächlich Mensch wird; die johanneischen Formulierungen reden sogar davon dass er sarx - »Körper« oder »Fleisch« - wird und hat (vgl. 1,14; 6,51-58). Dieser Jesus kann zornig werden, er weint (11,35.38) und am Körper des Auferstandenen sind die Male der Kreuzigung sichtbar (20,27). Wird hier ein doketisches Verständnis (s.o. unter 3.) abgewiesen, eventuell in sekundären Fortschreibungen des Textes? Oder ist dieser Jesus zwar mit einem besonderen Wissen und einer besonderen Beziehung zu Gott ausgestattet, aber trotzdem immer auch ganz und gar menschlich? Deutlich scheint mir auf jeden Fall, dass der johanneische Jesus wirklich Mensch wird und auch nicht nur scheinbar stirbt. Die Inkarnation, die Menschwerdung (nicht Mannwerdung) Jesu, steht im Zentrum des Textes, 26 und auch die Kreuzigung ist ohne Inkarnation nicht denkbar. Dabei sind Inkarnation und Kreuz einander anders zugeordnet als es in den paulinischen Briefen der Fall ist. 27 Dies hat zu einer Kontroverse darum geführt, ob in Bezug auf das Johannesevangelium überhaupt von einer »Kreuzestheologie« gesprochen werden könne: Wird hier das Kreuz lediglich durch die Inkarnation interpretiert oder ist nicht eher die Inkarnation bestimmendes Strukturmoment auch des Kreuzes? Setzt man die paulinischen Ausführungen als Maßstab, so kann dies zu Sachkritik am Johannesevangelium führen - oder es wird gerade deshalb wichtig, auch im Johannesevangelium eine »Kreuzestheologie« zu finden. Mir scheint allerdings, dass dieser Begriff zu sehr von paulinischen Inhalten geprägt ist, um ihn auf das Johannesevangelium sinnvoll anzuwenden. Auch ist m.E. fraglich, inwiefern ein theologischer Entwurf innerhalb des Neuen Testaments dazu dienen sollte, den Maßstab für einen anderen - und anders gearteten - abzugeben, da doch eine Vielfalt christologischer Entwürfe auch als Bereicherung zu betrachten ist. Auffällig ist im Johannesevangelium die konsequent verwendete nachösterliche Perspektive, 28 in der das Weggehen Jesu (und damit auch das Kreuz) nicht lediglich als Verlust, sondern vor allem als Ermöglichung des Glaubens gesehen werden. Erst nachösterlich sind die AnhängerInnen Jesu in der Lage, wirklich zu verstehen (vgl. 2,22; 12,16; 20,9); und erst der Weggang Jesu ermöglicht das Kommen des Parakleten (vgl. 16,7), des »Geistes der Wahrheit« (14,17; 15,26), durch den die Verkündigung fortgeführt und aktualisiert wird; dieser wird, so der johanneische Jesus, »euch in die ganze Wahrheit führen« (16,13). Vermittels der Figur des Parakleten ist das hermeneutische Prinzip des Johannesevangeliums in den Text selbst eingeschrieben. Dabei dient der Paraklet als Ermöglichung der Vergegenwärtigung Jesu; was hier (und insgesamt in den Abschiedsreden) bewältigt werden muss, ist die Abwesenheit Jesu. Gerade dadurch, dass die Inkarnation im Zentrum johanneischer Christologie steht, verschärft sich die Frage nach der Abwesenheit des »Erhöhten« sowie nach den Möglichkeiten seiner bleibenden Vergegenwärtigung. Für diese Vergegenwärtigung sind nun nicht nur der Paraklet und der Lieblingsjünger als Traditionsgarant von Bedeutung, sondern auch ein weiteres Spezifikum der johanneischen Jesusdarstellung, nämlich die bildliche Rede. Die johanneische Sprache funktioniert auf mehreren Ebenen gleichzeitig, sie ist von Ironie, Zweideutigkeit und Doppelbödigkeit geprägt. Worte und Erzählungen, die sich auf irdische Sachverhalte beziehen, reden nicht nur von diesen, sondern haben eine Durchlässigkeit auf den himmlischen Bereich. 29 Auf diesem Hintergrund hat die Vielfalt der johanneischen Bilder- und Metaphernsprache in den letzten Jahren zunehmend an Interesse gewonnen. 30 Zwar fehlen im Johannesevangelium Gleichnisse wie sie in den synoptischen Evangelien zu finden sind, »Die johanneische Bildersprache begründet also die vielfachen Rezeptionsmöglichkeiten des Evangeliums, und die Metaphern verbinden die Offenbarergestalt mit der Welt.« 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 18 Uhr Seite 8 Silke Petersen Das andere Evangelium ZNT 23 (12. Jg. 2009) 9 aber der johanneische Jesus verwendet eine bildreiche Sprache, wenn er sich selbst in den Ich-bin- Worten etwa als »Brot«, »Tür«, »Leben« oder »Licht« bezeichnet (6,35; 10,9; 11,25; 8,12). Viele dieser Metaphern verweisen auf Sophia; der johanneische Jesus wird also in einer Art und Weise dargestellt, die in der Weisheitsliteratur vorgezeichnet ist (vgl. oben unter 4.). Die johanneischen Jesus-Metaphern sind mehrfach mit Erzählungen verbunden, in denen Jesus den Menschen das gibt, was er selbst ist (vgl. etwa die Relation von Brotvermehrung und Brotwort in Kap. 6 oder Blindenheilung und Lichtwort in Kap. 8f.). Die Bildersprache des Johannesevangeliums verwendet fast durchgehend allgemeinverständliche Metaphern und schafft so einen Zugang zu Jesus für RezipientInnen mit unterschiedlichsten kulturellen Vorbedingungen. Durch ihre Vielfalt entzieht sich die metaphorische Rede dabei einer eindeutigen Begriffslogik und verweist auf die Grenzen des Verstehbaren. Die johanneische Bildersprache begründet also die vielfachen Rezeptionsmöglichkeiten des Evangeliums, und die Metaphern verbinden die Offenbarergestalt mit der Welt: Jesus wird in konkreten Begriffen »geerdet«, er erfüllt konkrete menschliche Bedürfnisse. Dabei ergibt sich auf der Metaebene des Evangeliums eine interessante Kreisbewegung: Das »Wort« wird »Fleisch« in Jesus, wie im Prolog des Johannesevangelium zu lesen und in den Metaphern nachzuvollziehen ist -, und gleichzeitig wird bei der »Verschriftlichung« Jesu im Text des Evangeliums das »Fleisch« wiederum zum »Wort«. Die Metaphern sind zwar ebenfalls Worte, aber sie vermitteln nicht zuletzt durch ihren Bildcharakter und ihre Verbindung mit dem Alltäglichen die Verbindung von irdischer und himmlischer Sphäre, an deren Schnittpunkt der johanneische Jesus steht. Ein Zentrum der vielfältigen bildlichen Rede entsteht dadurch, dass alle Aussagen auf Jesus hin konzentriert sind. Die Symbolik wird christologisiert, wodurch die Gestalt Jesu mehr wird als eine geschichtliche Einzelgestalt, sie wird quasi zur »symbolischen Gesamtgestalt der Geschichte«, 31 in der sich die Begegnung zwischen göttlichem und menschlichem Bereich nicht nur ereignet hat, sondern immer wieder ereignen kann. l Anmerkungen 1 Origenes, Johanneskommentar I, 4, § 22f. (deutsche Übersetzung: R. Gögler [Übers.], Origenes: Das Evangelium nach Johannes, Einsiedeln u.a. 1959, 99f.; griechischer Text: SC 120,70). 2 Für einen tieferen Einstieg in die Probleme der Johannesexegese sind neben den Forschungsüberblicken vor allem thematische Sammelbände zu empfehlen; ich nenne hier exemplarisch: T. Söding (Hg.), Johannesevangelium - Mitte oder Rand des Kanons? (QD 203), Freiburg i.Br. 2003; R. Bieringer / D. Pollefeyt / F. Vandecasteele-Vanneuville (Hgg.), Anti-Judaism and the Fourth Gospel, Louisville KY 2001; M. Labahn / K. Scholtissek / A. Strotmann (Hgg.), Israel und seine Heilstraditionen im Johannesevangelium. FS J. Beutler SJ, Paderborn u.a. 2004; J. Frey / U. Schnelle (Hgg. unter Mitarbeit von J. Schlegel), Kontexte des Johannesevangeliums. Das vierte Evangelium in religions- und traditionsgeschichtlicher Perspektive (WUNT 175), Tübingen 2004; J. Frey / J.G. Van der Watt / R. Zimmermann (Hgg.), Imagery in the Gospel of John. Terms, Forms, Themes, and Theology of Johannine Figurative Language (WUNT 100), Tübingen 2006. 3 Für eine spätere Datierung (ca. 100-110) vgl. z.B. U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, 3. Aufl., Göttingen 1999, 485-487; zu früheren Datierungen vgl. K. Berger, Im Anfang war Johannes. Datierung und Theologie des vierten Evangeliums, Stuttgart 1997, 11 (ca. 60-70); K. Wengst, Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus. Ein Versuch über das Johannesevangelium, 3. Aufl., München 1992, 182 (ca. 80- 90). 4 Für Ephesus z.B. Schnelle; für den syrischen Raum Wengst (beide s. Anm. 3), für Ägypten und zur Diskussion vgl.: M. Frenschkowski, Tα` βαΐα τῶν φοινίκων (Joh 12,13) und andere Indizien für einen ägyptischen Ursprung des Johannesevangeliums, ZNW 91 (2000), 212-229. 5 Vgl. zum oben ausgeführten u.a.: J. Kügler, Der Jünger, den Jesus liebte. Literarische, theologische und historische Untersuchungen zu einer Schlüsselgestalt johanneischer Theologie und Geschichte (SBB 16), Stuttgart 1988; R.A. Culpepper, The Johannine School: An Evaluation of the Johannine-School Hypothesis Based on an Investigation of the Nature of Ancient Schools (SBL.DS 26), Missoula MT 1975; M. Hengel, Die johanneische Frage. Ein Lösungsversuch (WUNT 67), Tübingen 1993; J. Becker, Das Evangelium nach Johannes (ÖTK 4,1 / 2), 2. Aufl., Gütersloh 1985 / 84; bes. 2, 434-440. 6 Vgl. R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes (KEK), Göttingen 10 1941 u.ö.; ein vergleichbares Modell vertritt auch Becker, Evangelium. Zur Frage der sogenannten Semeia-Quelle und der Tradition der Wundergeschichten; vgl. z.B. R.T. Fortna, The Gospel of Signs. A Reconstruction of the Narrative Source Underlying the Fourth Gospel (MSSNTS 11), Cambridge 1970; M. Labahn, Jesus als Lebensspender. Untersuchungen zu einer Geschichte der johanneischen Tradition anhand ihrer Wundergeschichten (BZNW 98), Berlin u.a. 1999. 7 Vgl. E. Ruckstuhl, Die literarische Einheit des Johan- 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 18 Uhr Seite 9 Neues Testament aktuell 10 ZNT 23 (12. Jg. 2009) nesevangeliums. Der gegenwärtige Stand der einschlägigen Forschungen (NTOA 5), Freiburg (Schweiz) u.a. 1987; ders. / P. Dschulnigg, Stilkritik und Verfasserfrage im Johannesevangelium. Die johanneischen Sprachmerkmale auf dem Hintergrund des Neuen Testaments und des zeitgenössischen hellenistischen Schrifttums (NTOA 17), Freiburg (Schweiz) u.a. 1991. 8 Für eine synchrone Lektüre vgl. H. Thyen, Das Johannesevangelium (HNT 6), Tübingen 2005; für eine diachrone vgl. F. Siegert, Das Johannesevangelium in seiner ursprünglichen Gestalt. Ein Kommentar (Schriften des Institutum Judaicum Delitzschianum 6), Göttingen 2007; zum Relecture-Modell: A. Dettwiler, Die Gegenwart des Erhöhten. Eine exegetische Studie zu den johanneischen Abschiedsreden (Joh 13,31-16,33) unter besonderer Berücksichtigung ihres Relecture-Charakters (FRLANT 169), Göttingen 1995; J. Zumstein, Ein gewachsenes Evangelium. Der Relecture-Prozess bei Johannes, in: Söding (Hg.), Johannesevangelium, 9-37. 9 Vgl. etwa die unterschiedlichen Modelle bei M. Theobald, Herrenworte im Johannesevangelium (HBS 34), Freiburg i.B. u.a. 2002; J. Frey, Das vierte Evangelium auf dem Hintergrund der älteren Evangelientradition. Zum Problem: Johannes und die Synoptiker, in: Söding (Hg.), Johannesevangelium, 60-118 (mit einem Überblick zur Forschungsgeschichte). Vgl. auch die »Kontroverse« in diesem Heft. 10 Vgl. z.B. I. Dunderberg, John and Thomas in Conflict? in: J.D. Turner / A. McGuire (Hgg.), The Nag Hammadi Library after Fifty Years (NHMS 44), Leiden u.a. 1997, 361-380. 11 Vgl. G. Theißen / A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996 u.ö., 152-155, 375f. Zum Gesamtproblem der historischen Zuverlässigkeit vgl. den Beitrag von P.N. Anderson in diesem Heft. 12 Für die literaturwissenschaftliche Zugangsweise grundlegend ist: R.A. Culpepper, Anatomy of the Fourth Gospel. A Study in Literary Design, Philadelphia 1983; vgl. auch M.W.G. Stibbe (Hg.), The Gospel of John as Literature. An Anthology of Twentieth- Century Perspectives (NTTS 17), Leiden u.a. 1993; zu den »dynamic tensions« vgl. P.N. Anderson, The Christology of the Fourth Gospel. Its Unity and Disunity in the Light of John 6 (WUNT II / 78), Tübingen 1996, 161 u.ö. 13 Vgl. W. Bauer, Das Johannesevangelium (HNT 6), Tübingen 1912, 2 1925, 3 1933; E. Käsemann, Jesu letzter Wille nach Johannes 17, Tübingen 1966 u.ö.; R. Bultmann, Die Bedeutung der neuerschlossenen mandäischen und manichäischen Quellen für das Verständnis des Johannesevangeliums, ZNW 24 (1925), 100-146; ders., Evangelium; ders., Theologie des Neuen Testaments, 9. Aufl., Tübingen 1984 (1. Aufl.: 1953). 14 Vgl. dazu z.B. U. Schnelle, Das Evangelium nach Johannes (ThHKNT 4), Leipzig 1998; U. Wilckens, Das Evangelium nach Johannes (NTD 4), Göttingen 1998; L. Schenke, Johannes. Kommentar, Düsseldorf 1998; F.J. Moloney, The Gospel of John (Sacra Pagina), New York 1998. 15 Vgl. C. Colpe, Die religionsgeschichtliche Schule. Darstellung und Kritik ihres Bildes vom gnostischen Erlösermythus (FRLANT 78), Göttingen 1961. 16 Vgl. M.A. Williams, Rethinking »Gnosticism«. An Argument for Dismantling a Dubious Category, Princeton 1999; K.L. King, What Is Gnosticism? , Cambridge MA 2003. 17 Ich bevorzuge hier die antike griechische Bezeichnung, um auch sprachlich deutlich zu machen, dass die antijüdische Polemik des Johannesevangeliums nicht gegen alle jüdischen Menschen zu allen Zeiten gerichtet ist, ein einfaches Nachschreiben der johanneischen Aussagen hat schon zu oft und zu lange antijüdische Stereotypen befördert; vgl. zum dahinter stehenden hermeneutischen Problemfeld: A. Reinhartz, A Nice Jewish Girl Reads the Gospel of John, in: Semeia 77: Ethics and Reading the Bible, Atlanta 1997, 177-193. 18 Vgl. K. Wengst, Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus. Ein Versuch über das Johannesevangelium, München 3 1992; sowie: ders., Das Johannesevangelium, 2 Bde (ThKNT 4,1 / 2), Stuttgart u.a. 2000 / 2001 u.ö.; J.L. Martyn, History and Theology in the Fourth Gospel, New York 1968; T. Nicklas, Ablösung und Verstrickung. »Juden« und Jüngergestalten als Charaktere der erzählten Welt des Johannesevangeliums und ihre Wirkung auf den impliziten Leser (RSTh 60), Frankfurt a. M. u.a. 2001. 19 Vgl. zur Diskussion u.a. E.W. Stegemann, Die Tragödie der Nähe. Zu den judenfeindlichen Aussagen des Johannesevangeliums, KuI 4 (1989), 114-122; D. Rensberger, Anti-Judaism and the Gospel of John, in: W.R. Farmer (Hg.), Anti-Judaism and the Gospels, Harrisburg PA 1999, 120-157; sowie Bieringer u.a. (Hg.), Anti-Judaism; Labahn u.a. (Hg.), Israel. 20 So votieren etwa Hengel, Frage, 298-300; Schnelle, Einleitung, 490. 21 In diesem Sinne schon F.Chr. Baur, Das Christenthum und die christliche Kirche der drei ersten Jahrhunderte, Tübingen 1860 (Nachdruck Stuttgart 1966), 169-172; vgl. auch G. Theißen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, Gütersloh 2000, 255-280; R. Hakola, Identity Matters. John, the Jews and Jewishness (NT.S 118), Leiden u.a. 2005, bes. 232- 238. 22 Vgl. A. Taschl-Erber, Maria von Magdala - erste Apostolin? Joh 20,1-18: Tradition und Relecture (HBS 51), Freiburg i.B. u.a. 2007; sowie insgesamt zum Thema: A.-J. Levine / M. Blickenstaff (Hgg.), A Feminist Companion to John, 2 Bde, Feminist Companion to the New Testament and Early Christian Writings 4.5, London u.a. 2003. 23 Vgl. J. Hartenstein, Charakterisierung im Dialog. Maria Magdalena, Petrus, Thomas und die Mutter Jesu im Johannesevangelium im Kontext anderer frühchristlicher Darstellungen (NTOA / StUNT 64), Göttingen u.a. 2007; A. Fehribach, The Women in the Life of the Bridegroom. A Feminist Historical-Literary Analysis of the Female Characters in the Fourth Gospel, Collegeville MN 1998. 24 Vgl. u.a. S. Vollenweider, Christus als Weisheit. Gedanken zu einer bedeutsamen Weichenstellung in der frühchristlichen Theologiegeschichte, EvTh 53 (1993), 290- 310; M. Scott, Sophia and the Johannine Jesus (JSNT.S 71), Sheffield 1992; S.H. Ringe, Wisdom’s Friends. Community and Christology in the Fourth Gospel, Louisville KY 1999; S. Petersen, Die Weiblichkeit Jesu Christi, in: E. Klinger / S. Böhm / T. Franz (Hgg.), Die zwei Geschlechter und der eine Gott, Würzburg 2002, 97-123; zum Hintergrund vgl. I. Fischer, Gotteslehre- 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 18 Uhr Seite 10 Silke Petersen Das andere Evangelium ZNT 23 (12. Jg. 2009) 11 rinnen. Weise Frauen und Frau Weisheit im Alten Testament, Stuttgart 2006; S. Schroer, Die Weisheit hat ihr Haus gebaut. Studien zur Gestalt der Sophia in den biblischen Schriften, Mainz 1996. 25 Zu Philo und dem Johannesevangelium vgl. z.B. P. Borgen, Bread from Heaven, An Exegetical Study of the Concept of Manna in the Gospel of John and the Writings of Philo (NT.S 10), 2. Aufl., Leiden 1981; sowie die »Logos«-Aufsätze von F. Siegert und J. Leonhardt-Balzer in: Frey u.a. (Hg.), Kontexte, 277-319. 26 Vgl. z.B. J. Beutler, »Und das Wort ist Fleisch geworden ...« Zur Menschwerdung nach dem Johannesprolog, in: ders., Studien zu den johanneischen Schriften (SBAB 25), Stuttgart 1998, 33-42: 37. 27 Zum Folgenden vgl. E. Straub, Kritische Theologie ohne ein Wort vom Kreuz. Zum Verhältnis von Joh 1-12 und 13-20 (FRLANT 203), Göttingen 2003; divergierende Entwürfe z.B. bei H. Kohler, Kreuz und Menschwerdung im Johannesevangelium (AThANT 72), Zürich 1987; U. Schnelle, Theologie als kreative Sinnbildung. Johannes als Weiterbildung von Paulus und Markus, in: Söding (Hg.), Johannesevangelium, 119-145. 28 Vgl. Ch. Hoegen-Rohls, Der nachösterliche Johannes. Die Abschiedsreden als hermeneutischer Schlüssel zum vierten Evangelium (WUNT II / 84), Tübingen 1996. 29 Vgl. Bultmann, Evangelium, 95; vgl. auch: J. Rahner, Mißverstehen um zu verstehen. Zur Funktion der Mißverständnisse im Johannesevangelium, BZ 43 (1999), 212-219; K. Scholtissek, Ironie und Rollenwechsel im Johannesevangelium, ZNW 89 (1998), 235- 255; P.D. Duke, Irony in the Fourth Gospel, Atlanta 1985; M. Davies, Rhetoric and Reference in the Fourth Gospel (JSNT.S 69), Sheffield 1992; C.R. Koester, Symbolism in the Fourth Gospel: Meaning, Mystery, Community, 2. Aufl., Minneapolis 2003. 30 Vgl. zum Folgenden O. Schwankl, Licht und Finsternis. Ein metaphorisches Paradigma in den johanneischen Schriften (HBS 5), Freiburg u.a. 1995; J.G. Van der Watt, The Family of the King. Dynamics of Metaphor in the Gospel of John (BIS 47), Leiden u.a. 2000; R. Zimmermann, Christologie der Bilder im Johannesevangelium. Die Christopoetik des vierten Evangeliums unter besonderer Berücksichtigung von Joh 10 (WUNT 171), Tübingen 2004; J. Frey u.a. (Hg.), Imagery; S. Petersen, Brot, Licht und Weinstock. Intertextuelle Analysen johanneischer Ich-bin-Worte (NT.S 127), Leiden u.a. 2008. 31 Vgl. Schwankl, Licht, 366f. Dagmar Fenner Ethik Wie soll ich handeln? UTB basics 2008, VIII, 244 Seiten, €[D] 16,90/ SFr 31,00 ISBN 978-3-8252-2989-4 Immer wieder sehen wir uns vor die ethische Grundfrage gestellt: „Wie soll ich handeln? “ Dagmar Fenner definiert alle wichtigen Begriffe der philosophischen Ethik und stellt die bedeutendsten Konzepte vor. Der Band gibt damit einen systematischen Überblick über die ethischen Grundbegriffe und ihre Zusammenhänge untereinander. Eine Fülle von Beispielen aus der ethischen Alltagspraxis und zahlreiche Abbildungen und Tabellen erleichtern den Zugang ebenso wie die unkomplizierte Sprache. Übungsaufgaben mit Lösungen dienen der Kontrolle des Lernfortschritts. UTB Philosophie A. Francke 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 18 Uhr Seite 11 12 ZNT 23 (12. Jg. 2009) Das Johannes-, Jesus- und Geschichtsprojekt entstand aus der Sorge, dass bislang weder Studien zum Johannesevangelium noch zum historischen Jesus der geschichtlichen Dimension des Joh genügend Aufmerksamkeit geschenkt haben. In der Tat ist das Joh das theologischste der vier kanonischen Evangelien, andererseits bietet es jedoch mehr archäologische und topografische Details als alle anderen Evangelien zusammen genommen. Hinzu kommt, dass allein dieses Evangelium direkte Begegnungen mit Jesus und Erinnerungen von Augenzeugen an sein Wirken als Quellen für sich beansprucht. Dieser Anspruch mag falsch sein, auch falsifizierbar, aber wie kann man das mit Sicherheit sagen? Wenn man bedenkt, dass negative Gewissheit noch schwieriger zu erlangen ist als positive, sind dann die Gründe, die kritische Forscher in den letzten zwei Jahrhunderten angeführt haben, um fast alle joh Angaben von der Suche nach dem historischen Jesus auszuschließen, wirklich tragfähig? Dies sind nur einige der Fragen, mit denen sich das »John, Jesus, and History«-Projekt beschäftigt. Im Folgenden sollen die Fragehorizonte, Methoden und die Ergebnisse dieses Projektes vorgestellt werden. Zunächst ist eine Einführung in das Projekt vonnöten. Im Jahre 2000 traf ich Tom Thatcher, Felix Just und Eldon J. Epp auf der amerikanischen Konferenz der Society of Biblical Literature (SBL) in Nashville. Wir besprachen das Problem, dass das Joh in den vergangenen Jahren als historische Quelle unterbewertet worden ist, was zu seiner weitgehenden Ignorierung in der Jesusforschung führte. Wir luden R. Alan Culpepper, Mary Coloe, D. Moody Smith und Jaime Clark-Soles ein, sich an einem Leitungsgremium zu beteiligen. Auf diese Weise war nun eine Bandbreite von Ansätzen zur Erforschung der joh Tradition vertreten. Tom Thatcher beantragte dann eine neue »Konsulation« beim Programmkommitee der SBL, die ein Jahr später tatsächlich in das offizielle Programm aufgenommen wurde. Diese Konsultation wurde drei Jahre darauf aufgewertet und erhielt den Status einer »Gruppe«, d.h., wir durften zwei Sitzungen pro Jahr durchführen anstatt nur einer. Mit dem Begriff »Projekt« bezeichnen wir neben den offiziellen Sitzungen auf den SBL Konferenzen auch unsere Publikationen sowie andere Unternehmungen. In den ersten drei Jahren (2002-2004) erarbeiteten wir methodologische Fragestellungen, zwischen 2005 und 2007 wandten wir uns dann den Fragen nach der Historizität des vierten Evangeliums zu. Inzwischen sind die drei letzten Jahre (2008-2010) des Projekts angebrochen, in denen wir Beobachtungen zum historischen Jesus durch die joh Brille miteinander austauschen. Dies verspricht, die eigentliche Ernte des Projekts zu werden. Wir planen die Veröffentlichung dreier substantieller Bände mit Beiträgen, die zuerst in unseren Seminaren (2007, 2009, 2011) vorgestellt und diskutiert wurden. 1 Dabei sollen international führende Johannes- und Jesusforscher zur Sprache kommen, die zentrale Themen bearbeiten. Hinzu kommen eine Reihe begleitender Projekte und Ableger, von denen einige sich auch schon in Publikationen niedergeschlagen haben. Unsere Konferenzsitzungen verzeichnen eine recht starke Teilnehmerzahl - im Schnitt zwischen 200 und 300 - und eine internationale Gruppe von mehr als 500 Forschern empfängt unsere Vorträge per Email. Dies ist eine der Unternehmungen, die einigen Einfluss entwickeln können und das Interesse ist in der Tat stark. 1. Die Anliegen des »John, Jesus, and History«-Projektes Die Notwendigkeit, ein solches Projekt ins Leben Zum Thema Paul N. Anderson Das »John, Jesus, and History«-Projekt Neue Beobachtungen zu Jesus und eine Bi-optische Hypothese »Das Johannes-, Jesus- und Geschichtsprojekt entstand aus der Sorge, dass bislang weder Studien zum Johannesevangelium noch zum historischen Jesus der geschichtlichen Dimension des Joh genügend Aufmerksamkeit geschenkt haben.« 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 18 Uhr Seite 12 Paul N. Anderson Das »John, Jesus, and History«-Projekt ZNT 23 (12. Jg. 2009) 13 zu rufen, haben viele Forscher schon seit geraumer Zeit empfunden, jedoch war zunächst einmal zu klären, wie die entsprechenden Fragestellungen anzugehen seien. Auf der einen Seite: Da Joh sich so sehr von den drei synoptischen Evangelien unterscheidet, hat die Forschung dazu tendiert, den Synoptikern den historischen Vorrang zu geben. Das Joh stand gewissermaßen eins-gegendrei und blieb außen vor als historischer Verlierer. Jesu Gleichnisrede vom Reich Gottes ist ein offensichtlicher Fall, in dem die synoptische Darstellung Jesu gegenüber den hochtheologischen Ich-bin-Worten des joh Jesus historisch vertrauenswürdiger erscheint. Zudem treibt der Jesus der Synoptiker Dämonen aus, das vierte Evangelium dagegen kennt keine Exorzismen. Ebenso problematisch erscheint, dass, während der synoptische Jesus kurze, prägnante Aphorismen gebraucht, der joh sich in langen Reden über eine Vielzahl von Themen ergeht, die deutlich die theologischen Interessen den Evangelisten widerspiegeln. Aus diesen und anderen Gründen ist die Forschung zu der Überzeugung gekommen, dass das charakteristische joh Material die theologisierenden Interessen des Evangelisten reflektiert, nicht aber das historische Wirken Jesu. Andererseits hat schon länger der Eindruck geherrscht, dass einige Eigenarten der joh Jesusdarstellung Anspruch auf Historizität besäßen, selbst wenn sie im Widerspruch zum synoptischen Zeugnis stehen. So erscheinen beispielsweise die mehrfachen Jerusalemreisen Jesu gemäß Joh realistischer als der eine Jerusalembesuch, von dem die Synoptiker berichten. Auch ist es plausibler, mit Joh anzunehmen, dass Jesu Wirken sich über eine Periode von zwei bis drei Jahren erstreckte und nicht, wie die Synoptiker voraussetzen, nur über den Teil eines Jahres, das dann in dem Passahfest kulminiert, an dem Jesus stirbt. Weiterhin deuten topografische Details (etwa die Lokalisierung des Täufers »jenseits des Jordan« [Joh 1,28; 3,26; 10,40] und in Änon bei Salim [Joh 3,23], die fünf Säulenhallen am Teich von Betesda [Joh 5,2], das Steinpflaster, auf dem der Richterstuhl des Pilatus steht [Joh 19,13], die samaritanische Gebetsstätte auf dem Berg Garizim [Joh 4,20] sowie die Erwähnung des Jakobsbrunnens in Sychar [Joh 4,6]) auf Vertrautheit aus erster Hand mit dem Palästina der Zeit vor 70 n.Chr. 2 Hinzu kommen politische und religiöse Züge, die historischen Realismus in der joh Erinnerung ganz greifbar werden lassen: Spannungen zwischen Juden und Samaritanern (Joh 4,9) und Bedenken bezüglich ritueller Verunreinigung vor dem Passahfest (Joh 18,28; 19,31) deuten auf Vertrautheit mit den Lebensbedingungen in Palästina und seiner Umgebung, trotz der Tatsache, dass diese Züge in einem späteren hellenistischen Kontext überliefert wurden. Schließlich gibt es mehr als nur ein paar Merkmale im Joh, die das markinische Zeugnis gerade zu rücken scheinen. Diese und andere Beobachtungen haben Forscher veranlasst, darüber nachzudenken, wie die Historizität des Joh untersucht werden kann, insbesondere unter Berücksichtigung der Gemeinsamkeiten wie der Unterschiede zwischen der joh und der synoptischen Darstellung Jesu. In der Tat können einige der Unterschiede in der Darstellung zwischen Joh und den Synoptikern nicht ausgeglichen werden, so etwa die Frage, ob die Tempelreinigung am Ende des Wirkens Jesu stattfand (Synoptiker) oder am Anfang (Joh). Prof. Dr. Paul N. Anderson ist Professor of Biblical and Quaker Studies an der George Fox Universität in Newberg, Oregon. Prof. Anderson ist Mitbegründer der John, Jesus, and History Gruppe der Society of Biblical Literature und ist Mitherausgeber der Tagungsbände dieser Gruppe. Seinen Ph.D. hat er an der Universität von Glasgow erworben, längere Forschungsaufenthalte führten ihn an die Universitäten von Tübingen und Cambridge. Seine beiden Monographien The Christology of the Fourth Gospel (1996) und The Fourth Gospel and the Quest for Jesus (2006) erschließen maßgeblich ein neues Verständnis der in den Evangelien aufgenommenen Traditionen und speziell des Johannesevangeliums. Paul N. Anderson 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 18 Uhr Seite 13 Zum Thema 14 ZNT 23 (12. Jg. 2009) Diese Art von Beobachtungen führt die meisten Forscher dazu, die Synoptiker für die verlässlichere historische Quelle zu halten. Wenn jedoch Mt und Lk tatsächlich auf Mk fußen, haben wir es dann tatsächlich mit einer 3: 1 Dichotomie zu tun oder nicht vielmehr mit einem Mk-gegen-Joh- Verhältnis? Bedenkt man weiterhin, dass Mk alle Streitgespräche Jesu mit religiösen Autoritäten und seine Gerichtsaussagen am Ende des Evangeliums präsentiert, nachdem Jesus in Jerusalem angekommen ist, kann man dann wirklich noch behaupten, Mk ordne sein Material in Kenntnis der tatsächlichen Abfolge der Ereignisse und nicht vielmehr einem mutmaßlichen erzählerischen Höhepunkt entsprechend? Das Problem der Historizität ist im Mk genauso irritierend wie im Joh und falls Mk falsch liegt, dann tun es auch Mt und Lk. Ähnliche Probleme stellen sich bei der Datierung des letzten Mahles Jesu. Gemäß Joh findet es am Tag vor dem Passahfest statt (Joh 13,1; 19,31.42), nach Mk ist das letzte Mahl ein Passahmahl voll kultischer Bedeutung (Mk 14,12.14.16). Sicher führen manche Exegeten die joh Datierung des Mahles auf theologisches Interesse zurück (das Mahl fand statt am Tag des Vorbereitung auf das Passahfest, als die Passahlämmer geschlachtet wurden, wie Mk 14,12 und Lk 22,7 berichten, allerdings nicht Joh), aber soll man wirklich annehmen, dass die Römer Jesus und die beiden anderen am Passahfest gekreuzigt haben? Warum hätte nicht Mk seine Darstellung von kultischen Interessen leiten lassen sollen, dabei in Konkurrenz zum Judentum tretend, indem er das letzte Mahl als eine Art der Passahobservanz präsentiert, ohne dass dies streng als historische Referenz zu interpretieren wäre? Der entscheidende Gesichtspunkt hier ist, dass auch Mk hochtheologisch ist, nicht nur Joh, daher kann man nicht behaupten, dass das Verhältnis von Historie und Theologie nur in einer der beiden kanonischen Traditionen problematisch ist. Jedoch sind dies die Aspekte, die Exegeten dazu bewegen, entweder der synoptischen oder der joh Darstellung den historischen Vorrang einzuräumen. Das eigentliche Ergebnis der Forschung der letzten zwei Jahrhunderte ist allerdings die »De- Historisierung« des Joh und, daraus resultierend, die »De-Johannifizierung« der Jesusforschung. Obwohl im Einzelnen manch exzellente Forschungsarbeit solch extremen Schlüssen widersprochen hat, bleibt doch das triumphalistische Hochhalten »kritischer« Exegese gegenüber »traditioneller« Exegese insgesamt dominant. So schloss sich die frühe Jesusforschung des 19. Jahrhunderts David Friedrich Strauß’ Urteil an, dass Bretschneider der »Mann der Wissenschaft« sei und nicht Schleiermacher, obwohl ersterer seine Bewertung des Joh als eines »zusammengebrauten Evangeliums« später relativierte und obwohl Strauß Schleiermachers kluge (und wissenschaftliche) literarkritische Würdigung der Kohärenz und Einheit des Joh im Gegensatz zum Mosaikcharakter der Synoptiker nicht anerkannte. Albert Schweitzers Zusammenfassung des ersten Jahrhunderts historischer Jesusforschung folgend und seiner Geringschätzung des Joh als historischer Quelle, haben die zweite Phase der Jesusforschung in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts und auch die dritte Phase in neuester Zeit das vierte Evangelium vom Sammelbestand historischen Materials für die Jesusforschung ausgeschlossen. 3 Das Jesus Seminar hat aufgrund seiner Kriterien für Historizität sogar fast alles joh Material ausgeschlossen, andererseits aber fast vierzig Mal so viel Spruchmaterial aus dem Thomasevangelium des zweiten Jahrhunderts akzeptiert, trotz dessen deutlicher gnostischer Neigungen. 4 In der Folge haben sich kritische Forscher die folgenden Annahmen zu eigen gemacht, 5 obwohl jede einzelne für sich genommen nicht haltbar ist: • »Weil das Joh deutlich von theologischen Interessen geleitet ist, kann es nicht historisch zuverlässig sein.« Falsch. Schließt die theologische Bedeutung des Kreuzes Jesu aus, dass Jesus am Kreuz gestorben ist? • »Folgerungen bezüglich der Entwicklung einer Tradition implizieren zugleich Aussagen über den Ursprung dieser Tradition.« Nicht notwendig. Wenn eine Tradition sich an einen zeitlich späteren Adressatenkreis richtet, bedeutet das zugleich, dass ihr Ursprung eher in Rhetorik als in historischer Erinnerung zu suchen ist? »Das eigentliche Ergebnis der Forschung der letzten zwei Jahrhunderte ist allerdings die ›De-Historisierung‹ des Joh und, daraus resultierend, die ›De-Johannifizierung‹ der Jesusforschung.« 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 14 Paul N. Anderson Das »John, Jesus, and History«-Projekt ZNT 23 (12. Jg. 2009) 15 • »Die rhetorische Gestaltung einer Erzählung impliziert den fiktiven Ursprung des darin verwendeten Materials.« Einen Moment! Jegliche historische Aussage ist doch auch zugleich rhetorisch geprägt. Zu beurteilen, ob sie historisch zuverlässig ist, ist eine andere Sache. • »Geschichtsschreibung ist stets objektiv und distanziert und nicht subjektiv und persönlich involviert.« Unsinn! Objektivität mag dem Historiker helfen, verlässliche Urteile zu treffen, aber die subjektiven Bestandteile in geschichtlicher Erinnerung zu leugnen, würde bedeuten, das Erinnernswerte aus der geschichtlichen Erinnerung auszuschließen. • »Unterschiede in der Perspektive, im Einschluss und Ausschluss von Information machen es erforderlich, eine Tradition auf Kosten der anderen zu bevorzugen.« Nicht so schnell! Manchmal kann eine alternative Perspektive auch Historizität für sich beanspruchen. Eine alternative Darstellung eines Ereignisses ergänzt oft Struktur und Perspektive. • »Die synoptischen Evangelien sind nicht theologisch im Blick auf ihren Charakter, ihren Ursprung oder ihre Entwicklung, nur Joh ist theologisch.« Wieder falsch! Alle kanonischen Evangelien sind theologisch und historisch zugleich. Es fragt sich nur, wie? • »Wenn die Synoptiker gegen Joh übereinstimmen, bedeutet dies eine dreifache Dezimierung der historischen Zuverlässigkeit des Joh.« Nein. Die meisten Unterschiede verdienen es, als Differenzen allein zwischen Joh und Mk analysiert zu werden. • »Zwei oder mehr Evangelientraditionen würden nicht in Widerspruch zueinander stehen, wenn sie tatsächlich historische Erinnerungen widerspiegelten.« Wirklich? Könnte es nicht sein, dass eine alternative Erinnerung gepredigt und bewahrt wurde, gerade weil sie einen anderen Blickwinkel auf ein bestimmtes Detail des Wirkens Jesu ermöglichte? • »Alle authentischen Jesustraditionen müssen in allen oder doch den meisten Hauptaspekten übereinstimmen und auch in nebensächlichen Aspekten; Uneinigkeit deutet entweder auf Ungeschichlichtkeit oder Irrtum hin.« Wessen Geschichte? Diese Annahme kann zutreffen, muss aber nicht, denn eine bestimmte Sichtweise ist auch immer ein Bestandteil geschichtlicher Erinnerung. • »Verschiedene Perspektiven und Reflektionen desselben Ereignisses können nicht alle geschichtlich zutreffend sein.« Doch was ist mit »Geschichte« gemeint? Wie es sich mit der Theologie verhält, so verhält es sich auch mit der Geschichte: eine Darstellung eines Ereignisses erfasst niemals das Gesamt. Kritische Wissenschaft benötigt einen dialektischen Zugang zur Geschichte, wie auch die moderne Theologie einen dialektischen Zugang zur Theologie gefordert hat. • »Daher muss man zwischen den Synoptikern und Joh wählen, denn ihre Darstellungen Jesu sind radikal verschieden.« Ja und nein. In manchen Fällen muss man eine solche Wahl treffen, jedoch stimmt Joh in weiten Teilen mit den Synoptikern überein, ohne andererseits identisch mit ihnen zu sein. • »Weil Mk das früheste der Evangelien ist, sind die von ihm gebotene Chronologie und Darstellung den späteren überlegen.« Vielleicht, aber nicht notwendig. Falls Mk den Niederschlag der Predigt des Petrus und anderer enthält (und deshalb die traditionelle, weniger die originelle Sicht begünstigt), ist Mk sowieso nur eine zweitrangige Sammlung. • »Weil Joh das späteste Evangelium ist, ist seine Chronologie und Darstellung den früheren unterlegen.« Vielleicht, jedoch nicht notwendigerweise. Kann nicht das joh Zeugnis ein Korrektiv und eine Ergänzung zu Mk darstellen? • »Weil Mk und die auf ihm basierenden Evangelien historisch zuverlässiger sind, sind sie die Basis für die Frage nach dem historischen Jesus.« Gut, aber was ist mit den Ausnahmen? Was soll man mit dem offensichtlich zuverlässigen Material bei Joh tun? • »Beinahe alles frühchristliche Evangelienmaterial kann als Quelle für die Jesusforschung herangezogen werden, auch apokryphe und gnostische Evangelien, aber nicht Joh.« Wenn wir es auf Inklusivität anlegen, warum ist dann nicht auch das vierte Evangelium einzuschließen? Joh programmatisch auszuschließen, ist methodisch hochproblematisch, deshalb muss Joh nun auch in die historische Forschung einbezogen werden. • »Daher ist Joh uninteressant für historische und Jesusstudien.« Dies ist in der Tat die dominante kritische Sichtweise und daher müssen kritische Sichtweisen kritisch betrachtet werden, ebenso wie auch traditionelle Sichtweisen. 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 15 Zum Thema 16 ZNT 23 (12. Jg. 2009) Angesichts der Tatsache, dass alle diese problematischen Einschätzungen weiter in der Bibelwissenschaft der letzten Jahrzehnte kursieren, auch wenn nicht alle von allen geteilt werden, haben sich viele kritische Forscher auf die Suche nach einer differenzierteren Sichtweise begeben. Besonders erwähnenswert sind hier die meisten der führenden Johannesforscher, darunter Raymond Brown, Rudolf Schackenburg, D. Moody Smith, Martin Hengel, Barnabas Lindars, Craig Keener, Craig Koester und viele andere. Während es in den letzten vier Jahrzehnten eine beachtliche Tendenz gibt, das vierte Evangelium als auf einer unabhängigen und zusammenhängenden Tradition basierend zu sehen, ist man in der Johannesforschung noch weit von einem Konsens darüber entfernt, wie man die verwirrenden joh Rätsel angehen soll. 6 Könnte es sein, dass diese Situation dafür verantwortlich zu machen ist, dass das vierte Evangelium als historisch weniger verlässliche Quelle angesehen wird? Immer wieder behaupten Exegeten, die die Synoptiker dem Joh vorziehen, dies geschehe, weil die mk Traditionen mit größerer Gewissheit angegangen werden könnten als die joh. Das ist insofern verständlich, als in der Tat soviel Uneinigkeit darüber herrscht, wie die joh Probleme in Angriff zu nehmen seien. Doch wie stünde es, wenn es gelänge, eine plausible Theorie über den joh Ursprung und die Entwicklung dieser Tradition zu formulieren? Würde dies eine Änderung im wissenschaftlichen Denken heraufführen darüber, wie mit dem joh Material umzugehen sei? Obwohl das »John, Jesus, and History«-Projekt sich nicht der Hoffnung hingibt, auch nur die drängendsten Fragen der Johannesforschung zu beantworten, werden literarische Theorien zur Komposition, Traditionsentwicklung und Autorschaft ohne Zweifel bei der Bearbeitung der historischen und theologischen Fragen eine wichtige Rolle spielen. So gesehen steht die »John, Jesus, and History«-Gruppe irgendwo zwischen den SBL Sektionen zur joh Literatur und zum historischen Jesus. Da wir uns auch mit den Forschungsfragen des Jesus Seminars überschneiden, ist diesem ebenfalls einige Aufmerksamkeit zu widmen, auch wenn die Unterschiede beachtlich sind: Mitgliedschaft im Jesus Seminar ist fixiert, in unserem Fall offen; die Methoden des Seminars sind klar definiert, unsere ergeben sich im Gang der Forschung; der Schwerpunkt des Jesus Seminars ist weiter gefasst, unserer auf das Joh gelegt; die Ergebnisse des Seminars sind sehr klar, unsere haben eher einen Charakter, der weitere Forschung anregen soll. Am wichtigsten vielleicht: Während der Ansatz des Jesus Seminars kritisch allen traditionellen Ansätzen gegenüber war, wendet sich die Kritik unseres Ansatzes gegen traditionelle und kritische Ansätze. Wir verlangen, dass Exegeten erklären, warum eine bestimmte Aussage im Joh als historisch zuverlässig gewertet werden darf und warum eine andere nicht als historisch akzeptiert werden kann. Daher ist das vornehmliche Interesse unseres Projekts, kritisch zu etablieren, welche Aspekte des Joh als historisch akzeptiert werden können, dabei die Plausibilität einzelner Urteile zu überprüfen und zu verstehen, welches Licht all dies auf die Frage nach dem historischen Jesus wirft. Vorträge, die im Rahmen unseres Projekts gehalten werden, können die anstehenden Fragen aus den verschiedensten Blickwinkeln beleuchten, aber wir erwarten, dass erklärt wird, warum ein Argument, unter Beachtung seiner Stärken und Schwächen, gültig ist. Da wir gerne Ansätze sehen, die die kritische Forschung analysieren und kritisieren, hat man uns vorgeworfen, dass unser Projekt eigentlich konservativ ausgerichtet sei. Ich weise diesen Vorwurf aus drei Gründen zurück: 1. Wir akzeptieren Kritiken traditioneller Ansätze ebenso wie solche kritischer Ansätze. 2. Verdienen kritische Ansätze, die ihrerseits nicht ebenso kritisch untersucht werden dürfen wie sie selbst die traditionellen Auffassung kritisieren, die Beschreibung »wissenschaftlich und kritisch« oder haben sie Schutz unter einem Deckmantel kritischer Wissenschaft gefunden, wo eigentlich unkritische Zustimmung gefordert wird? 3. Sind wirklich konservative Interessen leitend, wenn ein Ansatz nachweisen kann, dass Aspekte des Joh als historisch zu beurteilen sind, während die Synoptiker dagegen falsch liegen? Das ist doch sehr zweifelhaft. Das Projekt ist zutiefst kritisch und analytisch angelegt und Gleiches gilt für auch seine Methoden und Ansätze. 7 Wenn wir die dritte Phase unseres Projekts beenden, werden mehr als 100 führende Wissenschaftler zu einem internationalen Unternehmen beigetragen haben, das Einfluss auf die Geschichte sowohl der Johannesals auch der Jesusfor- 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 16 Paul N. Anderson Das »John, Jesus, and History«-Projekt ZNT 23 (12. Jg. 2009) 17 schung haben könnte. Entscheidend für unseren Ansatz ist, dass wir den Anhängern traditioneller Ansätze keine kritische Immunität gewähren. In unserer Einladung zur SBL Konferenz 2009 habe ich das folgendermaßen formuliert: »Erfolgreiche Anträge sollten beinhalten: (a) eine Stellungnahme zum Grad der Gewissheit mit der eine bestimmte Darstellung im Joh zur Jesusforschung beiträgt (z.B.: sicher nicht, wahrscheinlich nicht, vermutlich nicht, fraglich, möglich, plausibel, wahrscheinlich, sicher) und (b) eine Darlegung, warum die vorgelegte These haltbar ist. Alle Sichtweisen sind willkommen, aber alle Urteile, negative sowie positive, müssen kritisch untermauert sein.« Wenn diese beiden Vorgaben von den beteiligten Wissenschaftlern beherzigt werden, werden wir der Idee einer »Begegnung« hinsichtlich dessen, in dem wir übereinstimmen, näher kommen und, ebenso wichtig, wir werden besser verstehen, warum wir nicht übereinstimmen. Wenn wir dies erreichen, wie immer auch unsere Ergebnisse im Einzelnen lauten, wird unser Projekt allen denen einen Dienst erwiesen haben, die die Wahrheit suchen - und die Wahrheit, in der Tat, macht frei (Joh 8,32)! 2. Eine Bi-optische Hypothese in der Arbeit des »John, Jesus, and History«- Projektes Als einer der Vorsitzenden der »John, Jesus, and History«-Gruppe und als Mitherausgeber der oben erwähnten drei Bände zögere ich etwas, meine eigenen Ansichten hier zu vertreten, denn ich bin nur einer von vielen Johannes- und Jesusforschern, die sich im Projekt zusammenfinden. Da die Herausgeberinnen und Herausgeber der ZNT mich jedoch gebeten haben, meinen eigenen Ansatz darzulegen, will ich dem gerne nachkommen. Ich muss jedoch deutlich sagen, dass mein Ansatz nicht für das »John, Jesus, and History«- Projekt insgesamt steht, ebenso wie ich nicht mit allen Aspekten der Vorträge, die in unserer Gruppe vorgestellt werden, übereinstimme. Andererseits: Würden wir warten, bis wir volle Übereinstimmung hinsichtlich unserer Methodologie erreichten, bevor wir uns mit unserem Material befassen, käme das Projekt gar nicht in die Gänge. Und schließlich: Wenn wir versuchten, all die verschiedenen Bemühungen, die joh Probleme anzugehen, zu katalogisieren, so fürchte ich (mit Joh 21,25), dass alle Büchereien der Welt die Bücher nicht würden fassen können! Nichtsdestoweniger habe ich natürlich meine Ansichten und versuche, die plausibelsten Paradigmen auf Basis der besten Textevidenz zu entwickeln, und diese schlagen sich selbstverständlich direkt in meinen Arbeiten nieder. Im Folgenden werde ich auf ausführlichere Diskussionen an anderen Orten verweisen, auch meine eigenen Auseinandersetzungen mit anderen Forschern finden sich anderswo detaillierter. An dieser Stelle will ich nach kritischen Bemerkungen zu führenden Theorien der Johannesforschung eine Zusammenfassung der Ergebnisse meiner Arbeit präsentieren sowie der Forschungsperspektiven, die ich für die Zukunft sehe. Dies geschieht in vier Schritten: A) eine These zur Komposition des Joh, B) eine These über das Verhältnis des Joh zu anderen Traditionen, C) eine These zur Situation des Joh und D) eine Synthese zur sinnvollen Interpretation des Joh. 8 A) Johanneische Komposition: Synchrone Tradition, diachrone Situation Wie Ernst Haenchen etwa zwei Jahrzehnte nach der Veröffentlichung von Rudolf Bultmanns epochemachendem Kommentar beobachtete, wirkte dessen Paradigma wie ein gigantischer Eichbaum, der allen neuen Wuchs durch seinen Schatten verhinderte. 9 Mit den Kommentarwerken Raymond Browns, Rudolf Schnackenburgs, Barnabas Lindars und anderer begannen sich die Dinge jedoch zu ändern. Diachrone Theorien der Entwicklung der joh Tradition wurden ersetzt durch eher synchron orientierte und die meisten Johannesforscher betrachten die joh Tradition nun als eine unabhängige, die sich neben anderen entwickelte, und nicht als ein Amalgam disparater Quellen. Daher ist fraglich, ob man überhaupt nicht-joh Tradition im vierten Evangelium entdecken kann, obwohl die Tradition eine länger währende Entwicklung zunächst in Palästina und dann im hellenistischen Milieu vielleicht Kleinasiens durchlief. Daher haben wir in der Komposition des Joh eine Synchronie der Tradition vorliegen bei Diachronie der Tradition. Meine eigene Analyse 10 hierzu ist wie folgt: 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 17 Zum Thema 18 ZNT 23 (12. Jg. 2009) 1. Wenn alle stilistischen Kriterien Bultmanns zur Bestimmung der verschiedenen Quellen des Joh (Zeichenquelle, Offenbarungsredenquelle, Passionsquelle, Werk des Evangelisten, Ergänzungen des Redaktors) auf Joh 6 angewandt werden, wo vier der fünf Quellen begegnen sollten, zeigt es sich, dass ihre Verteilung zufällig und nicht aussagekräftig ist. Aber auch an und für sich betrachtet ist Bultmanns Quellentheorie stilistisch nicht zwingend (Anderson, Christology, S. 72- 89). 2. Bultmanns Unordnungs- / Neuordnungstheorie lässt sich bei kritischer Analyse nicht halten. Sie setzt falsch voraus, dass ediertes Material einfach nebeneinander lag (wie auf dem Schreibtisch eines Redaktors) und nicht komponiert mit späteren Ergänzungen versehen vorlag. Es ist wahrscheinlicher, dass antike Texte durch Anlagerung wuchsen, als das Fragmente in einem Experimentierverfahren hin- und hergeschoben wurden. Eine Theorie der Unordnung zudem, die Brüche nur zwischen Sätzen annimmt, ist auch aus theoretischer Perspektive problematisch (Anderson, ebd.). 3. Kontextuelle Merkwürdigkeiten weisen oft auf den Gebrauch von Ironie oder anderer rhetorischer Mittel hin und nicht auf eine andere redaktionelle Hand. Während Bultmann zahlreiche Brüche wahrnahm und das Material rearrangierte, so dass er ihm im Grunde eine poetische Form aufzwang, verletzen solche massiven Maßnahmen antike Texte eher, als dass sie sie erhellen (Anderson, Christology, S. 90-109). 4. Theologische Spannungen im Joh zeigen, dass der Evangelist ein dialektischer Denker war, sie reflektieren innere Dialoge eher denn äußere. Freilich haben sie die moderne Forschung dazu veranlasst, imaginäre Dialoge und hypothetische literarische Quellen zu erfinden. Paradoxerweise nahm Bultmann zwar an, dass moderne Theologen dialektisch zu denken imstande seien, gestand jedoch dem vierten Evangelisten diese Fähigkeit nicht zu. 11 5. Die plausibelste Lösung für die meisten Textprobleme im Joh ist, (mit Barnabas Lindars) eine Erstausgabe anzunehmen, die später redigiert wurde. Es scheint, dass der Prolog (Joh 1,1-18), die Kapitel 6, 15-17 und 21, ebenso wie die Verweise auf Augenzeugenschaft und den Lieblingsjünger von einem späteren Kompilator zu einem früheren Text hinzugefügt worden sind (Anderson, Christology, 44-46). 6. Wahrscheinlicher als seine Quellentheorie ist Bultmanns Annahme, dass der Autor der joh Briefe der Endredaktor des Joh gewesen ist (gegen Lindars, der meint, dass die Endredaktion vom Evangelisten selbst durchgeführt wurde); doch scheint die Redaktionsarbeit eher konservativ (mit Brown; um die Arbeit des Evangelisten nicht zu zerreißen) denn zudringlich vorgenommen worden zu sein. Daher sind die Quellen für die theologischen Spannungen im Joh anderswo zu suchen. Auf der Grundlage dieser und anderer Beobachtungen kann eine vorsichtige Theorie zur Komposition des Joh folgendermaßen formuliert werden: Eine Zwei-Editionen Theorie johanneischer Komposition 12 • Nach einigen Jahrzehnten joh Predigttätigkeit (und vielleicht auch schon schriftlichen Niederlegungen) wurde eine erste Ausgabe des Joh zwischen 80 und 85 fertiggestellt, die in mancher Hinsicht als Antwort auf Mk konzipiert war. Dieses »zweite« (chronologisch gesehen) Evangelium wurde nicht weit verbreitet. Es begann mit dem Wirken des Täufers (1,15.19-42) und endete mit 20,31, der Formulierung des Verkündigungszweckes. • Der Lieblingsjünger (und eventuell auch andere führende Gestalten des joh Kreises) setzte seine Lehrbzw. Predigttätigkeit über das folgende oder die beiden folgenden Jahrzehnte fort und während dieser Zeit (85-100 n.Chr.) wurden die drei joh Briefe von dem Presbyter geschrieben (85, 90, 95 n.Chr.). • Nach dem Tod des Lieblingsjüngers (ca. 100 n.Chr.) stellt der Presbyter das Evangelium in seiner endgültigen Fassung zusammen, indem er den Prolog voranstellt (1,1-18), die Speisungs- und Seewandelgeschichte (Joh 6) zwischen die Kapitel 5 und 7 einflicht, sowie zusätzliches Redenmaterial (Joh 15-17) zwischen Jesu Aufforderung »Steht auf und lasst uns von hier weggehen« (Joh 14,31) und seine Ankunft mit seinen Jüngern im Garten (Joh 18,1) schiebt. Er hat offenbar auch zusätzliche Erscheinungsgeschichten angeschlossen (Kap. 21) ebenso wie Augenzeugen / Lieblingsjünger- Passagen und er gestaltete ein zweites Ende 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 18 Paul N. Anderson Das »John, Jesus, and History«-Projekt ZNT 23 (12. Jg. 2009) 19 (21,24-25) nach dem Muster des ersten. Dann verbreitete er das vollendete Zeugnis des Lieblingsjüngers, dessen »Zeugnis wahr ist! « als Ermutigung und Herausforderung für die größere christliche Bewegung. B) Johanneisch-synoptische Beziehungen - Wechselseitig beeinflussend, nicht abgeleitet Ebenso unzutreffend ist die Annahme, die joh Erzählung sei von den Synoptikern abgeleitet, wie C.K. Barrett, Tom Brodie und Franz Neyrinck behauptet haben. Keine der Berührungen zwischen Joh und den Synoptikern ist wörtlich; daher ist eine prinzipielle Unabhängigkeit des Joh (mit P. Gardner-Smith und D. Moody Smith) vorauszusetzen. 13 Unabhängigkeit bedeutet jedoch nicht automatisch Isolation. Kontakt zwischen Joh und den Synoptikern ist wahrscheinlich und in seinen Einzelheiten zu bestimmen. Wenn man alle Kontaktpunkte mit Blick auf die einzelnen synoptischen Traditionen betrachtet, ergibt sich folgendes Bild: 1. Wenn man die Kontaktpunkte zwischen Joh 6 und den mk Parallelen analysiert, zählt man 24 Ähnlichkeiten mit Mk 6 und 21 mit Mk 8. Identisch ist hier allerdings nichts. Darüberhinaus scheint Joh die vollständigste Version dieser drei traditionellen Darstellungen von Speisung, Seewandel, Gespräch über die Speisung und Petrusbekenntnis zu bieten (Anderson, Christology, 97-108). 2. Charakteristische Ähnlichkeiten zwischen Joh und Mk umfassen nicht-symbolgeladene, illustrative Details (grün / viel Gras, 200-300 Denare) - exakt die Art Material, die Mt und Lk auslassen. Daher sollte man annehmen, dass Joh und Mk dramatisierte Historie reflektieren und nicht (wie Bultmann annahm) solche Details einer Erzählung hinzufügen und sie so zu »historisiertem Drama« werden lassen. Sollte der Kontakt zwischen Joh und Mk schon auf der mündlichen Ebene stattgefunden haben, kann man unmöglich Einfluss aus nur einer Richtung auf die andere postulieren. Diese Kontaktpunkte legen daher wechselseitigen Einfluss während der mündlichen Entwicklungsstufe der vor-mk und frühen joh Tradition nahe (Anderson, Christology, 1996, 170-93). 3. Es scheint wahrscheinlich, dass Joh mit dem schriftlich vorliegenden Mk vertraut war (mit Bauckham und McKay). So sieht es z.B. so aus, als wollte Joh Mk korrigieren, wenn er Geschehnisse berichtet, als hätten sie sich ereignet, bevor der Täufer ins Gefängnis geworfen wurde (Joh 3,24 gegen Mk 1,14) oder wenn von den empfänglichen Samaritanern und Galiläern im Unterschied zu den Nazarenern aus Jesu Heimatort die Rede ist (Joh 4,44 gegen Mk 6,4). Ist dies der Fall, dann könnten die ersten beiden »Zeichen« in Galiläa (Joh 2,11; 4,54) den Anfang von Jesu Wirken markieren (und zwar zeitlich vor den in Mk 1 erwähnten Zeichen), die drei judäischen Wunder nach Joh könnten das südliche Wirken Jesu in paralleler Weise bezeichnen. Der erste Abschluss des Joh scheint sogar die Tatsache, dass der mk Inhalt ausgelassen und durch das joh Zeugnis ergänzt wurde, zu »erklären«: »Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch. Diese aber sind geschrieben, …« (Joh 20,30-31) - als wollte der Evangelist sagen: »Ich weiß, dass es Mk gibt, hört auf, euch zu beschweren, dass ich Dinge auslasse - Ich habe meine eigene Geschichte zu erzählen! « Die erste Ausgabe des Joh war daher vermutlich das zweite schriftlich niedergelegte Evangelium. 14 4. In nicht weniger als sechs Dutzend Fällen entfernt sich Lk von Mk und stimmt mit Joh überein, eine Tatsache, die sehr für lk Vertrautheit mit und Abhängigkeit von joh Tradition spricht und zwar vermutlich in deren mündlicher Entwicklungsstufe. Der Fischfang, die Frauen Maria und Martha, der »Satan«, der in Judas fährt, das abgeschlagene rechte Ohr des Malchus - all dies sind joh Details, die Lk übernimmt. Dazu bevorzugt Lk hier und da die joh Darstellung: Er verschiebt das Bekenntnis des Petrus und kombiniert es mit der anderen Speisung (der 5000, wie in Joh), er berichtet von der Salbung der Füße Jesu (wie in Joh), nicht der seines Kopfes, und er bietet ein kombiniertes Petrusbekenntnis, das die Lesart sowohl des Mk als auch des Joh berücksichtigt (»der Christus« + »der Heilige Gottes« = »der Christus Gottes«). Somit diente die joh Tradition dem Lk als eine maßgebliche Quelle, aus der auch die Darstellung der Frauen, der Samaritaner und des Heiligen Geistes für seine Erzählung übernahm. 15 5. Die Q Tradition (wenn es sie denn gab) scheint wenigstens ein bisschen joh Detail zu enthalten. Insbesondere das, was lange bereits als 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 19 Zum Thema 20 ZNT 23 (12. Jg. 2009) »der Blitz aus dem johanneischen Blauen« bekannt ist (Mt 11,27; Lk 10,22; vgl. Joh 3,35; 5,19-27; 6,27) enthält einige joh Themen - und nicht anders herum! Natürlich könnten diese Themen auf Jesus selbst zurück gehen, man gibt sich jedoch weniger bloßen Mutmaßungen hin, wenn man einfach annimmt, dass ein joh Standardthema in die Q Tradition übernommen wurde, was seine Ursprünglichkeit nahelegen würde (Anderson, Quest, 117-19). 6. Das Material, das die Erstausgabe des Joh (des zweiten niedergeschriebenen Evangeliums) ergänzt, legt einen Schwerpunkt auf egalitäre Ekklesiologie und geistgewirkte Autorität und zwar in dialektischer Spannung mit der mt Tradition. Daher erscheint wechselseitiger Einfluss zwischen den joh und mt Traditionen als eine gute Erklärung für diese charakteristischen Ähnlichkeiten und Unterschiede. Auf der Basis dieser Beobachtungen (und die Kontakte zwischen der joh und anderen Traditionen sind offenbar komplexer als das, was oben dargelegt wurde), kann man die folgende Theorie von Johannes’ Interdependenz mit anderen Traditionen aufstellen. Da Mk und Joh als die »Bi-optischen Evangelien« bezeichnet werden können, kann man die Theorie die »Bi-optische Hypothese« nennen. C) Die johanneische Situation - Dialektisch eher als sektiererisch Der vielleicht wichtigste Fortschritt in der Johannesforschung des letzten halben Jahrhunderts ist der Versuch, den historischen Hintergrund des Joh zu rekonstruieren. Hier ist die These von J. Louis Martyn in ihrer Weiterentwicklung durch Raymond Brown maßgeblich, dass Joh 9,22; 12,42 und 16,2 ein dialektisches Verhältnis zwischen johanneischen Gläubigen und der lokalen Synagogengemeinde spiegeln. Kritiker haben der Martyn-Brownschen Hypothese entgegengehalten, dass die Birkat ha-Minim (der »Segen« gegen die Häretiker - die »dem Nazarener« folgen -, formuliert auf der Synode von Jamnia im späten 1. Jh. n.Chr.) kein universal gültiges Exkommunikationsprogramm darstellte; dennoch waren die Spannungen real. Selbst das Argument, dass die Beziehungen zwischen Christen und Juden im späten 1. Jh. recht eng gewesen seien, deutet eher auf Konflikt hin, als davon weg: Konflikt gerade aufgrund der großen Nähe. Territorialität gibt es nur zwischen Exemplaren derselben Spezies. Allerdings waren die christlich-jüdischen Spannungen nicht die einzigen im Kontext des Joh. Hinzu kamen Spannungen mit Christen, die eine an Petrus orientierte Hierarchie vertraten (mit Käsemann), sodann Spannungen, die aus der Disziplinierung doketisierender Gläubiger entstanden (mit Borgen) und Spannungen, die aus dem Assimilationsdruck angesichts der römischen Forderung zum Kaiserkult herrührten (mit Cassidy). Diese drei Problemkomplexe folgten (überlappten sich allerdings teilweise auch mit) Spannungen mit jüdischen Autoritäten in Kleinasien. Die Situation, die das Joh spiegelt, weist allerdings auch Spuren des Palästina vor 70 n.Chr. auf (mit Brown). Angesprochen werden hier Jünger des Täufers, die Jesus als den Christus anerkennen sollen; dies begleitet von Nord-Süd-Spannungen zwischen Galiläern und Judäern (Ioudaioi = »Judäer«, nicht: »Juden« - der Autor und seine Mitstreiter waren in der Tat selbst Juden). Wenn dies so der Fall ist, sind die folgenden sechs (sieben, s.u.) dialogischen Beziehungen (zwei in jeder von drei Phasen) wahrscheinlich und zwar meistens aufeinanderfolgend, aber dabei auch überlappend. 16 1. Nord-Süd-Spannungen sind in der frühjoh Situation auszumachen, als religiöse Autoritäten aus Jerusalem und Judäa (die Ioudaioi) nicht nur Skizze entnommen aus: Paul N. Anderson, The Fourth Gospel and the Quest for Jesus, London 2006, 126. 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 20 Paul N. Anderson Das »John, Jesus, and History«-Projekt ZNT 23 (12. Jg. 2009) 21 den nördlichen Propheten aus Galiläa verwerfen, sondern auch seine Anhänger. Jesus wird von den Autoritäten nicht anerkannt, weil er nicht aus Davids Stadt (Bethlehem, vgl. Joh 7,4-52) kommt und die Art, wie erklärt wird, dass Jesus die Mose- und Eliatypologie erfüllt, ist galiläisch (parallel auch zu samaritanischen Sichtweisen) eingefärbt. 2. Teilweise verschränkt mit dem erstgenannten Problem, wird die Erinnerung an den Täufer stilisiert, um zu zeigen, dass Jesus der Messias ist und nicht Johannes. Dies sollte Anhänger des Täufers Jesus zuführen und zwar in Palästina ebenso wie in Kleinasien. In Palästina lag die Betonung auf Jesu Identität als Messias / Christus; in Kleinasien auf der Taufe Jesu (mit dem Heiligen Geist, Joh 3,5) im Unterschied zur Johannestaufe (wie sie von den Anhängern des Apollos vertreten wurde, Apg 18,24-19,7). 3. Nachdem er, wahrscheinlich um die Zeit der Zerstörung Jerusalems (67-70 n.Chr.), nach Kleinasien umgesiedelt war, schloss sich der Johannesevangelist einer der Missionskirchen an. Es ist naheliegend, dass das in Ephesus oder in der Umgebung dieser Stadt geschah. Dort bildete sich die joh »Gemeinde« auf der Basis der starken paulinischen Mission und anderer Jesusanhänger. Der Zustrom von Jesusgläubigen und die Beobachtung, dass Jesu Prophezeiung der Tempelzerstörung sich erfüllt hatte (womit Jesus in den Augen seiner Anhänger als der gemäß Dtn 18,15-22 zu erwartende Prophet-wie-Mose erwiesen war) führte zur Reaktion unter jüdischen Autoritäten dergestalt, dass Ausschluss aus der Synagoge nun in dem Fall drohte, dass Anhänger Jesu die jüdische Definition von Monotheismus verletzten. Obwohl das Ziel dieser Drohung darin bestand, Proto-Ditheisten zu disziplinieren, kam es vermutlich zu Fällen, in denen Jesusgläubige, die Jesus offen als den Messias / Christus bekannten, von ihren jüdischen Familien und Freunden verstoßen wurden (Joh 9,22). Als sich diese Gruppierungen anderen Jesusanhängern, teils jüdischer, teils heidnischer Herkunft, anschlossen, mag mancher die Konsequenzen als zu schwerwiegend empfunden und sich seiner Synagogengemeinde wieder angeschlossen haben, sich an den Vater haltend auf Kosten des Sohnes (1Joh 2,18-25). Um weitere Abspaltungen zu verhindern und Abtrünnige zurückzubringen, bezeichnet der joh Presbyter die Abtrünnigen als »Antichristen« und argumentiert, dass, wer den Sohn verleugnet, den Vater verliert (da der Sohn ihn wahrhaft repräsentiert, Joh 5-10), wer aber im Sohn bleibt, sich das Wohlwollen des Vaters erhält. 17 4. Zeitlich überlappend mit den anderen Krisen in der zweiten und dritten Phase der joh Situation (70-100 n.Chr.) begann der Kaiserkult unter Domitian (81-96 n.Chr.) sein hässliches Gesicht zu zeigen. Zwar ist es die Johannesoffenbarung, die diese Situation ausführlicher in ihrem Bild vom zweiten Tier (bes. Offb 13) anspricht, jedoch lässt sich insgesamt für Kleinasien sagen, dass die Erwartung an römische Bürger, ihre Unterstützung für das Reich und seine Schirmherren zu zeigen (Bekenntnis »Caesar ist der Herr«, Weihrauchopfer vor der kaiserlichen Statue, Teilnahme an Festen zu Ehren römischer Herrscher und Götter und andere Aktivitäten zu Ehren des Kaisers) bedeutend wuchs. Mitglieder jüdischer Synagogen waren davon ausgenommen, solange sie an Rom das Äquivalent der Tempelsteuer zahlten (zwei Drachmen), aber wer sich aus dem Schutz der Synagoge begab, war auf sich allein gestellt. Thomas’ Bekenntnis Jesu als »mein Herr und mein Gott« (Joh 20,29) unterstreicht die anti- Domitianische Haltung des Joh. Angesichts von Domitians Forderung, als »Herr und Gott« tituliert zu werden (Sueton, De vita Caesarum, Domitian 13.2), behielten die joh Autoritäten diesen Titel Christus alleine vor (Anderson, Christology, 110-36). 5. In der dritten Phase der joh Situation, und den Übergang von einer lokal begrenzten Gruppe von Gemeinden zur Auseinandersetzung mit anderen entstehenden christlichen Gruppen markierend, entwickelte sich eine fünfte Krise, die durch heidenchristliche Doketisten entstand. Als sich christliche Juden zu Judenchristen entwickelten, waren die meisten unter ihnen wahrscheinlich willig, für ihren Glauben zu leiden und sogar zu sterben. Heidenchristen waren da vermutlich zögerlicher. Sie mögen den Kaiserkult als unverfänglich oder jedenfalls nicht als sonderlich problematisch betrachtet haben, besonders wenn sie ihn lediglich als Äußerlichkeit wahrnahmen. Der Verfasser des 1Joh jedenfalls hatte an dieser Stelle wesentliche Schwierigkeiten und macht daraus keinen Hehl, wenn er am Ende seines Briefes die Adressaten anweist: »Kinder, hütet euch vor den Abgöttern! « (1Joh 5,21). Aus dieser Perspektive 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 21 Zum Thema 22 ZNT 23 (12. Jg. 2009) betrachtete der Presbyter christliche Wanderprediger, die mit Berufung auf einen nicht-leidenden Herrn Anpassung predigten, als zweite Bedrohung durch den Antichrist (1Joh 4,1-3; 2Joh 7). Sie waren für ihn nicht Schismatiker, sondern Invasoren und Irrlehrer. Von den joh Gläubigen sich entfernend, wurden sie später zu den Gnostikern des 2. Jh.s, die das Joh mit sich nahmen. 18 6. Eine sechste Krise trat im Zuge des Versuchs auf, Irrlehrer in Kleinasien durch Stärkung institutionell verankerter Gemeindeleiter abzuwehren. Nach dem Tod des Petrus wurde aus seinem Vermächtnis ein strukturiertes apostolisches Leitungsprinzip in Gestalt kirchlicher Ämter entwickelt (Mt 16,17-19). Diotrephes, der gerne »der Erste sein will« (3Joh 9-10) scheint einer dieser proto-ignatianischen Leiter gewesen zu sein. Nicht nur hatte er joh Christen aus seiner Gemeinschaft ausgeschlossen, sondern auch die aus seiner eigenen Gemeinde, die joh Christen willkommen hießen. Der joh Presbyter folgt den Anweisungen aus Mt 18,15-17, indem er Diotrephes zunächst direkt konfrontiert und dann an »die Kirche« schreibt, der Diotrephes seine Autorität verdankt. Nach dem Tod des Lieblingsjüngers dann bringt der Presbyter das Joh in seine Endfassung, ergänzt Passagen, die den leidenden Herrn hervorheben sowie einen in seine Schranken verwiesenen Petrus, den Lieblingsjünger als Beispiel von Treue und den universalen Zugang zu Christi Herrschaft durch die Gegenwart des Geistes (Joh 1,1-18; 19,34-35 und 6,15-17 sowie Kap. 21). 19 7. Eine siebte Gruppe von Dialogen repräsentiert weniger eine Krise als eine fortwährende Auseinandersetzung mit parallelen christlichen Traditionen wie sie die Synoptiker und andere repräsentieren. Dies zusammen mit Dialogen, die Themen innerhalb der joh Tradition aufnehmen, trägt zu Position- und Gegenposition-Darstellungen innerhalb der joh Schriften auf zahlreichen Ebenen bei. Von Kritik an Petrus’ falschem Verständnis von Jesu Ansage der Parusie (Joh 21,23), über Korrekturen am Verständnis der Speisungserzählung (sie aßen und waren satt, Joh 6,26), bis hin zu einer weniger formellen Ekklesiologie und Sakramentenlehre: das joh Zeugnis setzt sich dialektisch mit anderen christlichen Erinnerungen an Jesu Wirken auseinander. Ein Längsschnitt der johanneischen Situation 20 : • Periode I: Palästinische Periode (ca. 30-70 n.Chr.) Krise A - Nord/ Süd Spannungen (Galiläer / Judäer) Krise B - Ansprache der Johannesjünger (mündliche joh Tradition entwickelt sich) • Periode II: Kleinasien Periode I, Gemeindebildung (ca. 70-85 n.Chr.) Krise A - Auseinandersetzung mit jüdischen Familien und Freunden Krise B - Umgang mit der römischen Präsenz (Fertigstellung der ersten Ausgabe des Joh) • Periode III: Kleinasien Periode II, Beziehungen zwischen Gemeinschaften (ca. 85-100 n.Chr.) Krise A - Auseinandersetzung mit doketisierenden Heidenchristen und deren Lehren Krise B - Auseinandersetzung mit christlichen Tendenzen zur Institutionalisierung (Diotrephes und andere) Krise C - dialektische Auseinandersetzung mit christlichen Darstellungen Jesu und seines Wirkens (in Wirklichkeit ein Dialog, der alle drei Perioden umfasst) (Briefe des Presbyters und durch ihn Endredaktion und Verbreitung des Evangeliums als Zeugnis des Lieblingsjüngers nach dessen Tod) D) Die dialogische Autonomie des vierten Evangeliums - Ein Interpretationsmodell Eines der wesentlichen Probleme neuerer Interpretationsansätze zum Joh ist, dass sie sich auf nur eine Dimension konzentrieren, anstatt literarische, historische und theologische Aspekte zugleich in den Blick zu nehmen. Das hier vorgestellte Interpretationsmodell hat dagegen gleich eine Reihe attraktiver Eigenschaften. Erstens basiert es auf den überzeugendsten der neueren Studien zum Joh und es bemüht sich um eine Gesamtschau der joh Tradition (Entwicklung, Kontext, Bedeutung) über sieben Jahrzehnte. Als eine unabhängige Tradition spiegelt das vierte Evangelium eine eigenständige Erinnerung an »Eines der wesentlichen Probleme neuerer Interpretationsansätze zum Joh ist, dass sie sich auf nur eine Dimension konzentrieren, anstatt literarische, historische und theologische Aspekte zugleich in den Blick zu nehmen.« 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 22 Paul N. Anderson Das »John, Jesus, and History«-Projekt ZNT 23 (12. Jg. 2009) 23 Jesus und sein Wirken, einerseits beschäftigt mit Themen des joh Kontextes, andererseits in Auseinandersetzung begriffen mit parallelen Traditionen und ihrer Jesusdarstellung. Zweitens fügt es Thesen zur joh Komposition, Geschichte und zum synoptischen Dialog zu einem bedeutungsvollen Ganzen zusammen. Drittens bietet es eine Grundlage, um Johannes’ historische Erinnerung an Jesus in Verbindung mit seiner theologischen und rhetorischen Zeichnung Jesu als Christus zu verstehen. Viertens zeigt es, wie die apologetischen Elemente der Erstedition des Evangeliums (als Aufruf zum Glauben im Sinne von erstmalig zum Glauben kommen) mit dem späteren pastoralen Material (Aufruf zum Glauben als Bleiben in Jesus und in der Gemeinschaft) zusammengesehen werden können. Fünftens macht es den Zusammenhang von Evangelium und Briefen verständlich, indem es alle wesentlichen Aporien in einer recht effizienten und geradlinigen Weise angeht. Folgende Elemente machen den dialogischen Charakter des Joh aus 21 : Zunächst haben wir einen dialektischen Denker, der sich nicht in »entwederoder«-Denkmustern einfangen lässt. Als ein Denker, der das Verbindende sucht (und auf Stufe 5 von James Fowlers Stages of Faith operiert), arbeitet der vierte Evangelist in »sowohl-als auch« Kategorien. Daher muss man scheinbare Widersprüche zwischen den Themen des Joh dialektisch und nicht monologisch interpretieren. Der Evangelist war kein Dogmatiker und man sollte ihn auch nicht als solchen verstehen. Zweitens hilft der dialektische Charakter der joh Situation zu verstehen, wie der Evangelist die Themen bearbeitet, mit denen seine Adressaten beschäftigt sind. Mit anderen Worten: Wenn der Inhalt des Joh im Rahmen der Kontexte gesehen wird, in denen er entstanden ist, kann er besser verstanden werden. Drittens - inhaltlich betrachtet - wird durch den Sohn der menschlich-göttliche Dialog der Offenbarung konstituiert; Jesus vermittelt den Willen des Vaters an die Welt und fordert die Antwort des Glaubens auf die göttliche Initiative heraus. Darum sind er und der Vater eins; Jesus ist das Mittel, durch das die Menschheit zu Gott gezogen wird und er wirkt auch durch den Heiligen Geist an allen, die glauben. 22 Das letzte hier zu nennende dialogische Element betrifft die literarische Arbeit des Erzählers, der die Leser in einen imaginären Dialog mit Jesus stellt, indem er literarische Mittel wie Ironie, Missverständnis, Wiederholung / Variation einsetzt. Der Text des Joh schreitet wie eine sich nach vorne bewegende Spirale fort, er wiederholt bekannte Themen in neuen Kontexten und neu entstehenden Strukturen. Er verdankt sich der Begegnung und sucht, Begegnung zu bewirken. Die joh Erzählung weist allerdings auch Elemente von Autonomie auf. Sie ist nicht von fremden Quellen abhängig, auch nicht von den Synoptikern, sondern erhebt ihre eigene Stimme und stellt bekannten Konventionen eine mutige Präsentation Jesu als des Christus gegenüber. Sie fügt sich nicht nahtlos jüdischen oder hellenistischen Konventionen ein, sie übernimmt Typologien von Erlöserfiguren, ohne sich an sie zu binden und präsentiert so historische Erinnerung in provozierender Verpackung. Das joh Zeugnis beschränkt sich nicht auf Erzählung, sondern präsentiert eingangs eine hymnische Stellungnahme bekennenden Glaubens (Joh 1,1-18), die die Leserinnen und Leser für die dann folgende Geschichte Jesu gewinnen will. Das joh Zeugnis ist nicht beschränkt auf die synoptische Darstellung von Jesu Lehre und Taten, sondern präsentiert gezielt eine differierende und manchmal auch gegenläufige Erinnerung an Jesus. Messianisches Geheimnis? Nein - messianische Offenbarung! Rätselhafte Gleichnisse? Wie wäre es dagegen mit einem unmittelbar verständlichen Jesus? Seltsame Exorzismen und Geschichten von Aussätzigen? Das Unwohlsein des Zebedaidensohnes (Mk 9,39; Lk 9,49) spiegelt sich im Joh durch die selektive Materialauswahl (Joh 21,25). Eine offizielle Berufung der Zwölf? Dagegen hält Joh eine realistische Erzählung von Jüngern, die einander gegenseitig dazu animieren, dem Herrn zu folgen (Joh 1,35-51). Das letzte Mahl als ein Passaritual? Wie wäre es hier mit einem weniger formellen Anlass, um das Ideal des Einander-Dienens zu unterstreichen? Nur eine Reise nach Jerusalem, wo Jesus dann gefangen genommen und getötet wird? Mehrfache Besuche und ein mehrjähriges Wirken Jesu anzunehmen, ist dagegen realistischer, wobei der Zwischenfall im Tempel durchaus am Beginn und nicht am Ende gestanden haben mag. Jesu Jünger ausnahmslos Männer und Petrus die zentrale Autorität? Joh hält die Bekenntnisse Marthas und Nathanaels dagegen und bietet eine wesentlich stärker geist- 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 23 Zum Thema 24 ZNT 23 (12. Jg. 2009) gewirkte Zeichnung von Jesu Lehre und seinem Dienst insgesamt. Auf diese und viele andere Weisen gibt Joh mutig seinen eigenen Bericht von Jesus, hochtheologisch, sicherlich, aber das allein bedeutet nicht zugleich ahistorisch. Eher könnte man sagen, dass Joh einen anderen Eindruck von Jesus vermittelt, der dazu angelegt ist, sowohl die synoptische Darstellung zu ergänzen, als auch sie zu erfüllen. Während das oben Ausgeführte gültig und zweckdienlich ist, unabhängig davon, wer an Niederschrift und späterer Überarbeitung des vierten Evangeliums beteiligt war, gibt es ein Detail, das in meinen Untersuchungen zum Vorschein kam und das ich nicht andernorts in der Sekundärliteratur besprochen gefunden habe. 23 Weil Joh anonym überliefert wurde und erst um 180 n.Chr. durch Irenäus einem Autor zugewiesen wurde, haben viele Exegeten angenommen, dass der Autor unbekannt ist, oder jedenfalls nicht Johannes, der Sohn des Zebedaiden oder einer der Zwölf ist. Die joh Kritik am Zwölferkreis und die Entgegensetzung von Petrus und dem Lieblingsjünger gab Exegeten wie Brown und Schnackenburg ebenfalls einen Grund in die Hand, den Apostel Johannes als Autor auszuschließen. Jedoch gibt ein zufälliges Detail aus Apg 4,19-20 ein Indiz, das von den Diskutanten aller Seiten völlig übersehen worden ist. Es ist nur einmal in Apg und zwar in diesen Versen, dass der Apostel Johannes spricht und hier haben wir zwei Aussagen. Die erste »wir müssen Gott mehr gehorchen als den Menschen« wird von Petrus zweimal im Verlaufe der Apg wiederholt (5,29 und 11,17) - es ist die Art Aussage, die nach dem Zeugnis des Lk typisch für Petrus ist. Aber die folgende Aussage könnte nicht johanneischer sein: »Wir können’s ja nicht lassen, von dem zu reden, was wir gesehen und gehört haben.« Die nächste grammatische Parallele ist 1Joh 1,3, nicht etwa andere Passagen in Lk / Apg, und diese Verbindung des Sohnes des Zebedaiden mit einem joh Wort wird ein volles Jahrhundert vor Irenäus’ Zuordnung der beiden zueinander gemacht. Das mag die Autorschaft des Johannes nicht beweisen, aber es stärkt doch sehr die Zweifel an der Behauptung, dass der Apostel Johannes nicht vor Irenäus um 180 n.Chr. mit der joh Tradition in Verbindung gebracht worden sei. Apg 4,19-20 jedenfalls bietet diese Verbindung ein gutes Jahrhundert zuvor. Lk mag falsch gelegen haben oder sich gar hat fehlleiten lassen, dennoch kommt diese Verbindung einer Tatsache gleich. Das oben Gesagte umreißt meinen Ansatz zur joh Tradition und ihrer Entwicklung in dem Bemühen, die Arbeit anderer weiterzuführen. Eines möchte ich dabei klarstellen: Bultmann war in der Tat der Meinung, dass im vierten Evangelium historische Tradition greifbar sei. Er war nur einfach nicht daran interessiert. Sein Interesse galt den theologischen und literarischen Elementen und im Blick auf diese Aspekte ist sein Werk von unschätzbarem Wert. In der Benennung von Spannungen und Nuancen, im Erheben der existentiellen Bedeutung von Passagen, in der Bestimmung von Parallelen aus der antiken religiösen Literatur und der Aufnahme von Ergebnissen führender moderner Exegeten sind Bultmanns Arbeiten zum Neuen Testament von unvergleichlichem Gewicht. Hätte er seinen Kommentar ein oder zwei Jahrzehnte nach dem Fund der Qumrantexte geschrieben, wären manche seiner Urteile wohl anders ausgefallen. Wie dem auch sei, in jedem Fall schuldet die hier vorgelegte Zusammenstellung von Paradigmen den Arbeiten von Bultmann, Brown, Schnackenburg, Barrett, Lindars, Borgen und anderen großen Dank. 3. Schluss Abschließend möchte ich darauf hinweisen, dass jeder, der die Vorträge der »John, Jesus, and History«-Gruppe in elektronischer Form erhalten möchte, sich per Email an Tom Thatcher (tom.thatcher@ccuniversity.edu) wenden kann. Alle interessierten Wissenschaftler sind eingeladen, die Sitzungen bei der nationalen SBL Konferenz zu besuchen (in New Orleans am 20.-24. Nov. 2009 und in Atlanta am 19.-23. Nov. 2010), kritische Einlassungen von allen Seiten und Perspektiven sind willkommen. Insgesamt betrachtet: Welchen Einfluss mögen das Projekt und die hier vorgelegten Paradigmen auf die biblische Wissenschaft und unser Wissen von Jesus haben? Das wird man erst im Laufe der Zeit sagen können. Zumindest werden kritische Analysen kritischer Ansätze unsere Methodologien und Ansätze verbessert haben; die Historizität des Joh wird neben seinen theologischen Aussageabsichten mehr Aufmerksamkeit erhalten und die Eindrücke, die 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 24 Paul N. Anderson Das »John, Jesus, and History«-Projekt ZNT 23 (12. Jg. 2009) 25 man durch die joh Linse von der Gestalt Jesu bekommt, werden ein klareres und strukturierteres Verständnis dessen bieten, wer Jesus war und was zu bewirken er kam. In diesem Sinne kann man sagen, dass das Ziel, ehrlich zu Jesus zu sein, unterstützt wird durch den Versuch, ehrlich zu Johannes zu sein! 24 Der Beitrag wurde übersetzt von Frau Dr. Gabriele Faßbeck (Redlands [USA]) Hinweis: Eine erweiterte Version des Beitrages von Paul. N. Anderson findet sich auf www.zntonline.de l Anmerkungen 1 Die drei Bände, z.T. bereits veröffentlicht, z.T. in Planung, lauten folgendermaßen: John, Jesus, and History, Vol. 1: Critical Appraisals of Critical Views (2007); John, Jesus, and History, Vol. 2: Aspects of Historicity in the Fourth Gospel (voraussichtlich 2009); John, Jesus, and History, Vol. 3: Glimpses of Jesus through the Johannine Lens (voraussichtlich 2011); die ersten beiden Bände werden von P.N. Anderson, F. Just, S.J. und T. Thatcher herausgegeben (Atlanta, GA: SBL Press; Leiden: E.J. Brill). 2 Auf in Joh erwähnte archäologische Details machten aufmerksam: W.F. Albright, Recent Discoveries in Palestine and the Gospel of St John, in: W.D. Davies / D. Daube (Hgg.), The Background of the New Testament and Its Eschatology: In Honour of Charles Harold Dodd, Cambridge 1956, 153-71 und R.E. Brown, The Problem of Historicity in John, CBQ 24 (1963), 1-14. Vgl. auch die Aufsätze in: J. Charlesworth (Hg.), Jesus and Archaeology, Grand Rapids 2006 von P.N. Anderson, Aspects of Historicity in John: Implications for the Investigations of Jesus and Archaeology, 587-618 sowie U. von Wahlde, Archaeology and John’s Gospel, 523-86. 3 Für einen Forschungsüberblick vgl. P.N. Anderson, The Fourth Gospel and the Quest for Jesus; Modern Foundations Reconsidered (LNTS 321), New York 2006, 8-37. 4 So bedachte das Jesus Seminar in seinen Wahlgängen etwa 40 Sprüche Jesu aus dem Thomasevangelium mit einer roten oder rosa Farbkodierung (für wahrscheinlich oder vermutlich auf Jesus zurückgehend), während Joh nur eine solche Farbkodierung zugestanden wurde (R.W. Funk / R.W. Hoover [Hg.], The Five Gospels: What Did Jesus Really Say? , Santa Rosa, CA 1993). Vgl. weiter Robert Funks Beschreibung des Vorgangs: »Der erste Schritt ist zu verstehen, welche geringe Rolle das Joh für die Suche nach dem historischen Jesus spielt. Die beiden Bilder, die Joh und die Syoptikern malen, können nicht beide historisch zuverlässig sein. ... Der Unterschied zwischen den beiden Darstellungen zeigt sich in dramatischer Weise in der Bewertung der Worte, die das Joh Jesus zuschreibt, durch das Jesus Seminar: Die Mitglieder des Seminars sahen sich nicht in der Lage, auch nur ein Wort mit Sicherheit dem historischen Jesus zuzubilligen.«(10) 5 Die ersten Sätze jedes Listeneintrags sind der Einleitung zu Johannes-, Jesus- und Geschichtsprojekt entnommen, Bd. 1 (2007), 4-5 entnommen; Erweiterungen spiegeln weitere Ausführungen im Korpus des Werkes wider. 6 In meiner eigenen Analyse von Bultmanns Quellentheorie (The Christology of the Fourth Gospel; Its Unity and Disunity in the Light of John 6 [WUNT II / 78], Tübingen 1996, 70-169) wandte ich alle seine Kriterien (stylistische, kontextuelle, theologische Evidenz) an, um die Quellen für Joh 6 zu erschließen. Dort sollten vier der fünf großen Quellen feststellbar sein. Die Analyse zeigte jedoch eine willkürliche und nicht aussagekräftige Verteilung. Es gibt in der Tat einen Erzähler, aber keinen zwingenden Beweis, dass er fremdes Material verwendet hätte. Wenn man dann alle Ähnlichkeiten zwischen Joh und den Synoptikern betrachtet, ist deren keine identisch oder verbatim, daher ist auch ein Ansatz, der von einer Abhängigkeit des Joh von den Synoptikern ausgeht, unangebracht. 7 Eine vollständigere Beschreibung, die auch Methoden und Ergebnisse des Johannes-, Jesus- und Geschichtsprojekts umfasst, ist in der elektronischen Fassung dieses Beitrags auf der Webseite ZNT online zugänglich. 8 Die auf der Webseite der ZNT abrufbare längere Version meiner Ausführungen bietet zudem Abschnitt E), in dem ich erkläre, wie mein Paradigma der historischen Forschung mit Blick auf spezielle Themen und Texte dient. Ich beziehe mich dort wo angemessen auch auf Ergebnisse des Johannes-, Jesus- und Geschichtsprojekts. 9 Für einen Überblick zur Johannesforschung der letzten 50 Jahre vgl. P.N. Anderson, Beyond the Shade of the Oak Tree: Recent Growth in Johannine Studies, Expository Times 119 (2008), 365-73. 10 Zu den Einzelheiten dieser Analyse vgl. Anderson, Christology, 1-69 und Anderson, Quest, 1-41. 11 Für eine Anwendung der kognitiv-kritischen Analyse auf die Frage, wie die menschlichen Quellen der joh und mk Tradition zu dialektischem Denken gekommen sein mögen, vgl. Anderson, Christology, 137-65. Vgl. auch ders., The Cognitive Origins of John’s Christological Unity and Disunity, 127-49, in: J.H. Ellens / W. Rollins (Hgg.), Psychology and the Bible; A New Way to Read the Scriptures, Bd. 3, Westport / London 2004; zuerst veröffentlicht in: Horizons in Biblical Theology 17 (1995), 1-24. 12 Diese Skizze einer Kompositionsthese ist Anderson, Quest, 40 entnommen. Eine ausführlichere Skizze findet sich in Appendix I, 193-95. Die meisten der Einsichten von Lindars sind hier übernommen, jedoch ist seine Idee, die Lazarusgeschichte Joh 11 ersetze eine spätere Tempelepisode, die dann vom Evangelisten nach vorne (Joh 2) verlegt worden sei, ganz spekulativ. 13 Für eine Diskussion dieser und anderer Positionen vgl. Anderson, Christology, 1-109, 170-93. 14 Meine Bestimmung des Verhältnisses Joh-Synoptiker ist in Gänze dargelegt in Anderson, Quest (in Anlehnung an den unten aufgeführten Aufsatz in Hofrichter), 101-26. Für andere Behandlungen des Themas vgl. 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 25 Zum Thema 26 ZNT 23 (12. Jg. 2009) ders., Mark and John - the Bi-Optic Gospels, in: R. Fortna / T. Thatcher (Hgg.), Jesus and the Johannine Tradition, Philadelphia 2001, 175-88; ders., Interfluential, Formative, and Dialectical - A Theory of John’s Relation to the Synoptics, in: P. Hofrichter (Hg.); Für und Wider die Priorität des Johannesevangeliums (Theologische Texte und Studien 9), Hildesheim / Zürich / New York 2002, 19-58 (vgl. auch die Diskussion am Ende des Buches, 281-318); ders., Aspects of Interfluentiality between John and the Synoptics: John 18- 19 as a Case Study, in: G. Van Belle (Hg.), The Death of Jesus in the Fourth Gospel. Colloquium Biblicum Lovaniense LIV 2005 (BEThL 200), Leuven 2007, 711- 728. 15 Dies habe ich zuerst ausgeführt in Appendix VIII am Ende von Anderson, Christology, 274-77. 16 Die grundlegenden Bestandteile dieser Theorie sind dargelegt in Anderson, Christology, 110-36 und 194- 250, sowie Quest, 195-99. Vgl. weiter: ders., The Sitz im Leben of the Johannine Bread of Life Discourse and its Evolving Context, in: A. Culpepper (Hg.), Critical Readings of John 6 (BIS Series 22), Leiden 1997, 1-59; ders., You Have the Words of Eternal Life! ’ Is Peter Presented as Returning the Keys of the Kingdom to Jesus in John 6: 68? , Neotestamentica 41 (2007), 6- 41; ders., Antichristic Errors - Flawed Interpretations Regarding the Johannine Antichrists, in: J.H. Ellens (Hg.), Text and Community Bd 1. Essays in Commemoration of Bruce M. Metzger, Sheffield 2007, 196- 216, sowie den meinen Beitrag in demselben Band: Antichristic Crises: Proselytization Back into Jewish Religious Certainty - The Threat of Schismatic Abandonment, 217-40, sowie ders., Bakhtin’s Dialogism and the Corrective Rhetoric of the Johannine Misunderstanding Dialogue: Exposing Seven Crises in the Johannine Situation, in: R. Boer (Hg.), Bakhtin and Genre Theory in Biblical Studies (Semeia Studies 63), Atlanta 2007, 133-59. 17 Zusätzlich zu Anderson, Christology, 194-220 vgl. Anderson, Sitz im Leben, 32-40 und Anderson, Antichristic Crises, 218-25. 18 Vgl. Anderson, Christology, 194-220; Anderson, Sitz im Leben, 41-50; Anderson, Antichristic Crises, 225- 40. 19 Zusätzlich zu Anderson, Christology, 221-50, und Anderson, Quest, 119-25, vgl. auch Anderson, Sitz im Leben, 50-57, sowie Anderson, Returning the Keys. 20 Diese Skizze von sieben Krisen ist entnommen Anderson, Quest, 64; für eine vollständigere Skizze vgl. Appendix II, 197-99. 21 Diese vier dialogischen Aspekte der theologischen Spannungen in Joh sind am Schluss von Anderson, Christology, 252-65, entwickelt; vgl. auch P.N. Anderson, On Guessing Points and Naming Stars - The Epistemological Origins of John’s Christological Tensions, in: R. Bauckham / C. Mosser (Hgg.), The Gospel of St. John and Christian Theology, Grand Rapids 2007, 311-345. 22 Das joh Sendungsmotiv ist eher jüdisch als gnostisch. Das Vater-Sohn-Verhältnis ist nicht aus den hellenistischen Religionen zu erklären, sondern wurzelt im Gesandtenschema des Propheten - wie - Mose aus Dtn 18,15-22; jedes der Elemente des repräsentierenden Propheten, wie der Septuagintatext sie benennt, ist klar im Joh aufzufinden. Vgl. P.N. Anderson, The Having- Sent-Me Father - Aspects of Agency, Encounter, and Irony in the Johannine Father-Son Relationship, Semeia 85 (1999), 33-57. 23 Dieses Detail ist erstmals ausgeführt in Appendix VIII am Ende von Anderson, Christology, 274-77. Die Monographie ist nicht auf einen Vorschlag zur Autorschaft des Joh angewiesen, falls aber die joh Tradition wenigstens teilweise auf Kenntnis von Jesu Wirken aus erster Hand zurückgeht, kann dieses Detail einen Hinweis darauf geben, wie es dazu gekommen sein könnte. 24 Diesen Titel habe ich in Reaktion auf eine ganze Anzahl sehr stimulierender Besprechungen von Anderson, Quest gewählt; veröffentlicht in: The Journal for Greco-Roman Christianity and Judaism 5, 2008, 125- 164 (online: http: / / www.jgrchj.net/ volume5/ JGRChJ5- 7_Anderson.pdf). Neues Testament aktuell: Ansgar Wucherpfennig, Die Bergpredigt als Thema neutestamentlicher Wissenschaft Zum Thema: Katherine A. Grieb, Die Bergpredigt in amerikanischer Exegese Moisés Mayordomo Marin, Gewaltvermeidungsstrategien in der Bergpredigt Martin Leutzsch, Sozialgeschichtliche Perspektiven auf die Bergpredigt Kontroverse: Bergpredigt - Politik des Evangeliums? François Vouga versus Tine Stein Hermeneutik und Vermittlung: Thomas Macho, Mit der Bergpredigt Politik machen. Anregungen und Anfragen in kulturwissenschaftlicher Perspektive Buchreport: (N.N.) Vorschau auf Heft 24 Themenheft: »Bergpredigt« 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 26 ZNT 23 (12. Jg. 2009) 27 Im Johannesevangelium kann die Frage nach der Sünde auf zwei verschiedenen Ebenen gestellt werden. 1 Entweder steht die Thematik der Sünde im Vordergrund. In diesem Fall wird untersucht, wie das vierte Evangelium das in die Krise geratene Verhältnis zwischen Gott und seinen Geschöpfen inszeniert. Aus dieser Perspektive wird die Aufmerksamkeit auf den plot des Evangeliums fokussiert. Die erzählte Geschichte Jesu wird zum Rahmen, in welchem gleichzeitig die Manifestation der Sünde und - als Alternative dazu - das Angebot des Heils thematisiert werden. Oder die Untersuchung konzentriert sich auf die Terminologie der Sünde. Von diesem Gesichtspunkt her ist zu überprüfen, wie der Begriff »Sünde« je nach seinem literarischen Kontext inhaltlich zu bestimmen ist. Werfen wir zuerst einen kurzen Blick auf den thematischen Aspekt. Der Prolog des Evangeliums (1,1-18) setzt auf programmatische Weise den hermeneutischen Rahmen fest, in welchem die Geschichte Jesu, und von daher die Thematik der Sünde, verstanden werden soll. Dieser Hymnus, der der Erzählung vorangeht, lädt die Leserin und den Leser ein, in dem Schicksal des Nazareners das Kommen des göttlichen Logos in die Welt wahrzunehmen. Diese Welt wird jedoch durch die Finsternis beherrscht, so dass das sich offenbarende Licht abgelehnt wird. Die Ablehnung ist die Manifestation der Sünde. Mit anderen Worten: Das Kommen des Logos löst ein entscheidendes Geschehen aus, nämlich die Sünde bzw. den Aufstand gegen Gott, welcher Gestalt annimmt und manifestiert wird. Diese Aussage über die Sünde ist keine objektive Feststellung. Nur der Glaube ermöglicht eine solche Interpretation der Menschenwelt. Diese glaubende Perspektive impliziert aber, dass die Enthüllung der Sünde von dem Angebot einer Alternative nicht zu trennen ist: Das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen ist zwar in eine Krise geraten, es soll aber wiederhergestellt werden. Offenbarung der Sünde und des Heils fallen zusammen. Der Prolog bringt diese Asymmetrie, die für das vierte Evangelium typisch ist, zum Ausdruck, nämlich dass Gnade und Liebe größer als Sünde sind. Somit wird die menschliche Existenz nicht einem tragischen Verhängnis preisgegeben, sondern wird ganz im Gegenteil unter das Zeichen einer Lebensverheißung gestellt. Der Prolog ist ein Hymnus, der zum Repertoire der ersten Christen gehörte. Es geht um eine retrospektive, bekennende Lektüre des Heilsgeschehens. In Bezug auf die Sünde sind zwei Elemente hervorzuheben. Der Prolog zeigt zuerst, dass die Sünde bei Johannes ein relationaler Begriff ist. Es geht nicht in erster Linie um die Übertretung einer moralischen Norm, sondern um den Bruch des Verhältnisses zwischen Gott und dem Menschen. In diesem Sinn steht der Sündebegriff im Zentrum des christologischen Plots, der das Evangelium entfaltet. Zweitens: Die Sünde gehört nicht nur zur Zeit der Inkarnation, sondern sie kennzeichnet mit einer vergleichbaren Relevanz die nachösterliche Zeit. Auf dem Hintergrund dieser Gesamtperspektive kann die klassische Terminologie der Sünde nachgeprüft werden (vgl. den Begriff hamartia 2 ). Diese Begrifflichkeit erscheint nur auf beschränkte Weise im Johannesevangelium. Sie kommt in den folgenden Kontexten vor: - In der programmatischen Erklärung von 1,29 sagt der Täufer: »Seht das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt«. Diese Aussage weist auf die Passionsgeschichte hin und stellt von vornherein die Sündenproblematik in einen Zusammenhang mit dem Kreuz. - Die Sündeproblematik kommt dann in zwei Wundergeschichten vor. Zuerst im Kap. 5, wo das Verhältnis zwischen Sünde und Tod angedeutet wird. Dann in der Wundererzählung von Kap. 9. Deren lange Entfaltung schildert zwar das Entste- Zum Thema Jean Zumstein Die Sünde im Johannesevangelium »Der Prolog bringt diese Asymmetrie, die für das vierte Evangelium typisch ist, zum Ausdruck, nämlich dass Gnade und Liebe größer als Sünde sind.« 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 27 Zum Thema 28 ZNT 23 (12. Jg. 2009) hen des Glaubens im geheilten Blinden, gleichzeitig aber auch das Aufkommen des Unglaubens in den Pharisäern. Der Gegensatz zwischen Blindsein und Sehen gipfelt in der berühmten Aussage: »Wäret ihr blind, hättet ihr keine Sünde. Jetzt aber sagt ihr: Wir sehen. Darum bleibt eure Sünde« (9,41). - Das 8. Kap. enthält in der Auseinandersetzung zwischen Jesus und seinen jüdischen Widersachern eine argumentative Erklärung des johanneischen Christus. Sie beinhaltet in knapper Form die wesentlichen Elemente der johanneischen Auffassung des Sündenbegriffs. - Das Vorkommen des Sündenbegriffs in den Abschiedsreden (15,22.24; 16,8.9) ist von besonderem Interesse, weil es die nachösterliche Relevanz dieser Problematik erhellt. Der erste Abschnitt handelt von der Gemeinschaft der Jünger, die mit dem Hass der Welt konfrontiert wird. (Variation des Motivs: »Wäre ich nicht gekommen, so hätten sie keine Sünde«). Der zweite Abschnitt enthält den vierten Parakletspruch und verkündigt, dass der Paraklet wie Jesus das Kommen des eschatologischen Gerichts vollzieht. - In der Passions- und Ostergeschichte geht es schließlich einerseits um die Sünde derjenigen, die Jesus an Pilatus auslieferten (19,11), und andererseits um die den Jüngern verliehene Ermächtigung, Sünden zu vergeben (20,23). Ein kurzer Überblick über diese Texte lässt entdecken, wie der implizite Autor den Sündebegriff ausgearbeitet hat. 1. Der erste große Zeuge (1,29) Der erste Kontext, in welchem die Thematik der Sünde um Ausdruck kommt, ist besonders interessant, denn es handelt sich um den ersten Auftritt des johanneischen Christus in der Erzählung. Dieser Auftritt wird von Johannes dem Täufer begrüßt. Während dieser bis zu diesem narrativen Zeitpunkt nur ein negatives Zeugnis abgelegt hatte (1,19-28), kommt er zu einer positiven und direkten Erklärung: »Seht das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt«. Von vornherein versteht der Leser / die Leserin, dass »Lamm Gottes« eine Metapher ist, die als christologischer Titel verstanden werden soll. Dieser Titel kommt nur hier vor - dies gilt sowohl für das Johannesevangelium wie auch für die gesamte urchristliche Tradition (vgl. jedoch 1Kor 5,7-8 und Offb 17,14) und ist mit der Passion in Verbindung zu setzen. Seine soteriologische Tragweite ist offensichtlich. Zwei alttestamentliche Traditionen tragen zur Entzifferung dieser Metapher: Die Passatradition (Ex 18,28; 19,33.36 [Zitat von Jes 12,1-10.46]) und das Motiv des »Gottesknechtes« in Jes 53,7 (der »leidende Knecht« wird mit einem Lamm in Beziehung gesetzt) und Jes 53,4.1112 (»Er hat die Sünden vieler getragen«). Diese beiden Hintergründe sind nicht als Alternative zu begreifen. Es ist auch nicht angebracht, in dieser Metapher eine profilierte Deutung des Todes Jesu hineinzulesen (Sühnetod! ). Der entscheidende Punkt ist, dass die erste öffentliche und positive Bestimmung der Identität Jesu auf das Kreuz hinweist (s. die Inklusion mit 19,14). Erst die Fortsetzung der Erzählung wird enthüllen, wie dieser Tod zu interpretieren ist. Die soteriologische Aussage, welche der Metapher »Lamm Gottes« folgt (»das die Sünde der Welt hinwegnimmt«), benutzt das Wort »Sünde« im Singular. Selbstverständlich geht es nicht um eine einzelne moralische Übertretung, sondern ganz grundsätzlich um das gebrochene Verhältnis zwischen Gott und der Menschenwelt. Der johanneische Christus wird somit programmatisch als derjenige dargestellt, der einen neuen Zugang zu Gott eröffnet, indem er die Welt von ihrer Schuld befreit. Dieses entscheidende Zeugnis des Täufers skizziert auf Anhieb den Horizont, vor welchem das Kommen des Logos zu interpretieren ist. Der Auftrag des johanneischen Christus besteht in der Wiederherstellung einer gebrochenen Beziehung (die Sünde der Welt hinwegnehmen), und diese Verwandlung geschieht am Kreuz. 2. Die Sünde in den Wundergeschichten (5,1-16; 9,1-38) Die Heilung am Teich Bethesda umfasst zwei »Der Auftrag des johanneischen Christus besteht in der Wiederherstellung einer gebrochenen Beziehung (…), und diese Verwandlung geschieht am Kreuz.« 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 28 Jean Zumstein Die Sünde im Johannesevangelium ZNT 23 (12. Jg. 2009) 29 Momente. Während die V. 1-9a die Wunderhandlung schildern, wird in den V. 9b-16 die daraus hervorgehende Kontroverse berichtet. Der johanneische Christus hat auf souveräne Weise die Initiative der Heilung ergriffen, ohne dass der Gelähmte eine Bitte formuliert hätte. Übrigens gibt es nach der Heilung seitens des Geheilten nicht das geringste Zeichen der Dankbarkeit oder des Glaubens. Die Aufmerksamkeit wird auf die Person Jesu fokussiert: das durchgeführte Zeichen enthüllt seine Vollmacht über Leben und Tod. Dieses Wunder löst jedoch eine Kontroverse aus, weil es am Sabbat vollzogen wurde (V. 9b). In der nomistischen Perspektive, die durch »die Juden« vertreten wird, ist die Heilung des Gelähmten gesetzeswidrig. Sie ist eine klare Übertretung des Gotteswillens, weil sie einen entscheidenden identity marker des jüdischen Glaubens ignoriert. Konfrontiert mit dieser Situation lehnt der Geheilte eine etwaige Verantwortung ab und schiebt »dem, den er nicht kennt« (V. 12) die Schuld zu. Als Jesus wieder auftritt und den Geheilten »findet« (V. 14), spricht er zu ihm dieses geheimnisvolle Wort: »Du siehst, du bist gesund geworden. Sündige nicht mehr, damit dir nicht etwa Schlimmeres widerfährt! «. Jesus diskutiert zuerst nicht die durch »die Juden« erhobene Anklage (s. jedoch V. 17). Seine Mahnung ruft auch nicht zu einem toratreuen Verhalten. Offensichtlich verlässt er die nomistische Auffassung der Sünde und argumentiert auf einem anderen Niveau. Die wiedererlangte Gesundheit ist als das Zeichen des neuen Lebens zu begreifen, ein echtes Leben, wo die Sünde keinen Platz mehr hat, d.h. ein in Treue vor Gott geführtes Leben. Sollte der geheilte Gelähmte gegen diesen Aufruf taub bleiben, würde er die Gelegenheit nicht ergreifen, eine positive Beziehung mit Gott zu knüpfen, dann wäre er in Gefahr, etwas Schlimmeres zu erleiden: nämlich den Tod. Hier erscheint für das erste Mal ein Motiv, das in der Fortsetzung der Erzählung entfaltet wird, nämlich das Verhältnis zwischen Sünde und Tod. Die der Heilung des Blindgeborenen gewidmete große Sequenz (9,1-38) ist durch einen Plot strukturiert, der den klassischen Sündebegriff umdeutet. Der Text geht von einer traditionellen Auffassung der Sünde aus (die Sünde als Übertretung des Gesetzes, s. V. 9), um den Leser / die Leserin zu der spezifisch johanneischen Konzeption der Sünde zu führen (die Sünde als Unglaube bzw. als Ablehnung der christologischen Offenbarung). Diese Bedeutungsverschiebung ist für die Adressaten hoch aktuell, insofern diese Wundergeschichte die österliche Zeit in zweifacher Weise evoziert. Erstens - das ist das einzige Mal im vierten Evangelium - findet der Konflikt über die richtige Interpretation des Wunders in der Abwesenheit Jesu statt (der johanneische Christus verlässt die Szene im V. 7 und tritt erst in V. 35 wieder auf). Zweitens wird die Auseinandersetzung zwischen dem geheilten Blinden und den theologischen Behörden, die zum Ausschluss des Geheilten führt, durch einen Transparenzeffekt gekennzeichnet: durch diese Episode des Lebens Jesu hindurch wird die Konfrontation zwischen den johanneischen Gemeinden und der Synagoge angedeutet. 3 Die traditionelle Auffassung der Sünde wird auf doppelte Weise zum Ausdruck gebracht. Sie Prof. Dr. Jean Zumstein, Jahrgang 1944, studierte Evangelische Theologie und war von 1975 bis 1990 Ordinarius für neutestamentliche Theologie an der Universität Neuchâtel/ Schweiz. Seit 1990 ist er Ordinarius für neutestamentliche Wissenschaft an der Universität Zürich/ Schweiz. Zu seinen derzeitigen Forschungsgebieten zählen besonders das Johannesevangelium, neutestamentliche Hermeneutik sowie die Anwendung literaturwissenschaftlicher Modelle in der neutestamentlichen Exegese. Zahlreiche Veröffentlichungen zu diesen Themen, darunter: Kreative Erinnerung. Relecture und Auslegung im Johannesevangelium (AThANT 84), 2. überarb. Aufl., Zürich 2004; L’Evangile selon Saint Jean (13-21); CNT IVb, Genf 2007. Für weitere Informationen: http: / / www.theologie.uzh.ch/ faecher/ neuestestament/ jean-zumstein.html Jean Zumstein 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 29 Zum Thema 30 ZNT 23 (12. Jg. 2009) begegnet zuerst im Munde der Jünger (V. 2), die Sünde und Krankheit assoziieren. Die Blindheit wird als Folge der Sünde dargestellt. Für die Jünger besteht die einzige verbleibende Frage darin zu wissen, wer gesündigt hat. Die Eltern? In diesem Fall wäre der Blindgeborene Opfer einer Übertretung, die er nicht selbst begangen hätte. Der Fluch würde durch die Generationen hindurchgehen. Oder der Blindgeborene selbst? In diesem Fall würde er mit seiner Blindheit die Schuld sühnen, für die er verantwortlich ist. Der kleine hermeneutische Prolog der V. 3-5 zeigt, dass der johanneische Christus diese Logik ablehnt. Das vorgetragene Argument verdient Aufmerksamkeit. Jesus lehnt keineswegs die Realität der Blindheit ab, an der dieser Mann leidet, und - wenn der Leser / die Leserin auf die metaphorische Ebene hinübergeht - Jesus bestreitet in keiner Weise, dass die Menschen in der Finsternis leben. Er verzichtet jedoch auf eine retrospektive Erklärung, in welcher er das Verhältnis zwischen Blindheit und Sünde thematisieren würde. Im Gegenteil besteht sein Auftrag darin, die befreiende Präsenz Gottes zu verwirklichen und den Menschen aus dieser Entfremdung zu entreißen. Der Akzent ist klar und eindeutig soteriologisch orientiert: Der johanneische Christus kommt nicht, um die Sünde zu bestrafen, sondern um davon zu befreien. Die zweite traditionelle Auffassung der Sünde erscheint in der ersten Konfrontation zwischen dem geheilten Blindgeborenen und den Pharisäern (V. 13-17): Es geht um die nomistische Konzeption. Wie schon im Kap. 5 fand die Heilung an einem Sabbat statt (V. 14). Gefährdet diese Übertretung das Verhältnis des Heilers mit Gott (V. 16)? Ist Jesus ein Sünder? Diese durch die Pharisäer gestellte Frage stellt die klassische Bindung zwischen Gesetzesgehorsam und Verhältnis mit Gott her. Die Spaltung unter den Geistern zeigt aber, dass die Antwort auf diese Frage keineswegs eindeutig und selbstverständlich ist. Die zweite Konfrontation (9,24-34) wird als Gerichtsszene konzipiert. Die »Juden« in der Rolle der Richter erklären Jesus als »Sünder« (V. 24). Sie entscheiden als Jünger Mose, der im Namen Gottes gesprochen hat. Sie berufen sich auf eine anerkannte Autorität, während die Legitimität Jesu - ihrer Meinung nach - nicht nachweisbar ist. Nach dem impliziten Autor begehen sie aber einen fatalen Irrtum, indem sie denken, die Offenbarung nach ihren eigenen Kriterien bemessen zu können. Der geheilte Blinde lässt sich aber nicht überzeugen - nicht, weil er die von den theologischen Behörden angeführten Kriterien widerlegen würde, sondern weil er sie auf eine andere Weise interpretiert. Er stellt eine Verbindung zwischen der Schrift und der Handlung Jesu her. Das vollzogene Wunder beweist, dass Jesus nicht der Feind Gottes ist, sondern dass er seinen Willen erfüllt und von daher mit seiner aktiven Unterstützung rechnen kann. Die Legitimität der alttestamentlichen Tradition wird nicht in Frage gestellt, sondern sie wird kontrovers interpretiert. Während die einen in ihr das Werkzeug der Verurteilung Jesu sehen, ist sie für den Blinden die Referenz, welche die Anerkennung des johanneischen Christus ermöglicht. In jedem Fall hat sich aber der Schwerpunkt der Debatte verschoben. Die Person Jesu wird zum Kriterium, wonach die Frage der Sünde entschieden wird. Die Endszene bestätigt diese Verlagerung. Dem Bekenntnis des geheilten Blingeborenen steht das Urteil Jesu über die Pharisäer entgegen (V. 39-41). Das semantische Feld »sehen - nicht sehen - blind sein« hat eine metaphorische Tragweite. Das Kommen Jesu weist eine eschatologische Bedeutung auf. In der Begegnung mit dem Offenbarer enthüllt sich die Identität jedes Menschen. »In der Finsternis sein« ist das Geschick aller. Dagegen wird die Sünde zum Verhängnis für diejenigen, die behaupten zu sehen und gleichzeitig den Gottesgesandten ablehnen. Die Erzählung der Heilung des Blindgeborenen leistet eine erhebliche theologische Arbeit. Auch wenn sie die Verlorenheit jeder menschlichen Existenz anerkennt, lässt sie die traditionelle Auffassung der Sünde fallen - sei es die Konzeption, die einen klaren Zusammenhang zwischen Tat und Ergehen herstellt, sei es die Sicht, welche Sünde mit der Toraübertretung identifiziert. Die ursprüngliche und grundlegende Auffassung der Sünde, d.h. der Bruch des Verhältnisses zwischen Gott und dem Menschen, wird in den Vordergrund gestellt. Der implizite Autor macht jedoch einen zusätzlichen Schritt: Von nun an wird die Ablehnung Gottes mit der Ablehnung der christologischen Offenbarung gleichgesetzt. Der Sündebegriff wird eindeutig christologisiert. Von nun an 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 30 Jean Zumstein Die Sünde im Johannesevangelium ZNT 23 (12. Jg. 2009) 31 kann die Sünde als Unglaube definiert werden. Die christologische Offenbarung wird zur Stunde, wo die Sünde sich manifestiert. Diese Enthüllung setzt die Menschen vor eine Alternative: Entweder nehmen sie das befreiende Kommen Gottes im Glauben an oder sie lehnen die christologische Offenbarung ab. In diesem Fall wird die Sünde zu einem destruktiven Verhängnis 4 . 3. Die Sünde in den Streitgesprächen Der Sündebegriff wird auf entscheidende Weise im Kap. 8 vertieft. In dieser Sequenz, die eine Reihe von Streitgesprächen zwischen und Jesus und seinen Opponenten 5 umfasst, wird die Sünde sukzessiv mit dem Tod (8,21-30), mit der Sklaverei (8,31-36) und mit der Wahrheit (8,31-47) in Verbindung gesetzt. Sünde und Tod. In dem Streitgespräch über seine Herkunft und Bestimmung (8,21-30) eröffnet Jesus die Debatte mit der Ankündigung seines bevorstehenden Todes (V. 21: »Ich gehe fort«). Während sein Tod seine Rückkehr zum Vater ermöglicht, zeitigt er fatale Konsequenzen für seine Gesprächspartner. Auf rätselhafte Weise verweigert nämlich der johanneische Christus seinen Opponenten die Fähigkeit, ihm zu folgen. Diese unmögliche Nachfolge hat eine verhängnisvolle Konsequenz: »Ihr werdet in eurer Sünde sterben« (8,21). Das nachstehende Missverständnis führt zu einer Klärung und Vertiefung dieser Aussage. Seine Gesprächspartner sind nicht in der Lage, eine Beziehung mit ihm aufzunehmen, weil sie ein unterschiedliches »Woher« haben. Während Jesus von oben ist und nicht zu dieser Welt gehört, sind seine Gegner von unten und gehören zu dieser Welt. Es handelt sich nicht um eine metaphysische Gegenüberstellung, wobei das göttliche Wesen Jesu gepriesen und das niedere Wesen der Menschen gebrandmarkt wäre. Im Johannesevangelium bezeichnet das »Woher« das, worauf der Mensch sein Leben gründet, das, worauf er sich verlassen kann. Wenn sich das Leben Jesu durch eine vollkommene Gemeinschaft mit Gott kennzeichnet, wenn der johanneische Christus als Gesandter Gottes den Vater unter den Menschen vollkommen vertritt, wenn sein Tod seine Rückkehr zu ihm ermöglicht, befindet sich der Mensch nie in einer solchen vollendeten Beziehung mit dem Schöpfer. Das unmittelbar Verfügbare und Zugängliche, d.h. die weltliche Wirklichkeit, die Immanenz, ist seine entscheidende Referenz. Indem sich der Mensch jedoch von Gott trennt, trennt er sich gleichzeitig von der Quelle des Lebens. Er ist zum Tod bestimmt. »In der Sünde sterben« heißt sterben an der Trennung von Gott, der in der alttestamentlich-jüdischen Tradition der Schöpfer ist. Der Text macht jedoch noch einen zusätzlichen Schritt: Wo ist dieser Gott, Quelle des Lebens? Die Formel »Ich bin«, die im Alten Testament den sich offenbarenden und lebensspendenden Gott kennzeichnet, wird hier auf Jesus angewendet (V. 24: »Wenn ihr nicht glaubt, dass ›Ich bin‹«). Die Gleichsetzung des göttlichen Prädikats mit der Person Jesu bedeutet, dass sich die Gestalt Gottes voll und endgültig in ihm manifestiert, dass der Zugang zum Leben von nun an sich von dem Glauben an ihn nicht trennen lässt. Die Anfangsthese ist auf diese Weise ausführlich begründet. Wer Jesus sucht, ohne ihn zu finden, wer nicht in der Nachfolge steht, ist von dem echten Leben getrennt, er ist zum Tode bestimmt. Einmal mehr beschreibt der Sündebegriff den Bruch des Verhältnisses mit Gott. Nach dem vierten Evangelium erliegt der Mensch nicht der Sünde und von daher dem Tode, weil er das Gesetz übertreten hätte, sondern weil er sich verweigert, in der Person des johanneischen Christus die volle und lebensspendende Präsenz Gottes anzuerkennen. Die Sünde ist nicht in erster Linie Übertretung, sondern Unglaube. Sünde und Knechtschaft. In dem nachfolgenden Streitgespräch (8,31-36) wird ein weiterer Aspekt der Sünde zum Ausdruck gebracht: die Knechtschaft. Die vom johanneischen Christus vertretene These besagt, dass die Sünde den Menschen versklavt. Es geht jedoch nicht um ein unabwendbares Verhängnis, denn das Wort Christi, insofern es die Wahrheit mitbringt, bewirkt die Freiheit. Damit diese Debatte über Wahrheit, Knechtschaft und Sünde nicht falsch verstanden wird, muss sie in den richtigen sozial-religiösen Zusammenhang eingeordnet werden. »Die Sünde ist nicht in erster Linie Übertretung, sondern Unglaube.« 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 31 Zum Thema 32 ZNT 23 (12. Jg. 2009) Zunächst ist an eine anthropologische Voraussetzung zu erinnern: Jeder Mensch strebt nach Freiheit. Jedoch ist der im Text verwendete Freiheitsbegriff deutlich unterschieden von dem, was die Moderne unter diesem Konzept versteht. Um die Argumentation des johanneischen Christus sachgemäß zu verstehen, soll der Leser / die Leserin zwei wichtige kulturelle Vorstellungen einbeziehen, die im Judentum von Bedeutung waren. Zunächst sind für die Juden des ersten Jahrhunderts nobilitas und libertas 6 nicht voneinander zu trennen. Die Freiheit hängt von dem sozialen Status ab, d.h. von der Zugehörigkeit zu einer anerkannten und respektierten Familie. Die Geburt bestimmt die soziale Stellung einer Person und von daher ihre Freiheit. Nun können alle Juden behaupten, dass sie zu einem berühmten Geschlecht gehören, insofern sie die Nachkommen eines eminenten Vorfahren sind, nämlich Abraham. Der Erzvater wurde von Gott als Gründer des Gottesvolkes erwählt. Somit bleibt jedes Mitglied des Bundesvolkes, auch wenn es eine bescheidene soziale Stellung hat oder politisch unterdrückt ist, ein Sohn oder eine Tochter Abrahams und dadurch eine freie Person. Die Abrahamskindschaft garantiert nobilitas und libertas. Zweitens wäre es jedoch ein Irrturm, diese gehobene Sohnschaft nur in einem genealogischen Sinn zu verstehen. In der alttestamentlich-jüdischen Tradition ist Abraham der erste Anbeter des einzigen Gottes, er steht am Ursprung des jüdischen Monotheismus. Als die Gesprächspartner Jesu, die als »Juden, die an ihn glaubten« 7 (8,31a) kennzeichnet werden, erwidern: »Wir sind Nachkommen Abrahams und nie jemandes Sklaven gewesen. Wie kannst du sagen: Ihr werdet frei werden? «, berufen sie sich auf ihre religiöse Identität. Offensichtlich sind sie nicht im Begriff zu behaupten, dass sie niemals politisch unterdrückt worden sind. Ihre Knechtschaft in Ägypten, in Babylon oder die derzeitige römische Besatzung würde eine solche Behauptung lächerlich machen. Sowohl Knechtschaft als auch Freiheit sind mit dem monotheistischen Glauben in Verbindung zu setzen. Die Mitglieder des »auserwählten Volkes« sind frei, weil sie nie Götzen gedient haben, weil sie immer Anbeter des wahren Gottes geblieben sind. Wie kann sich Jesus einem solchen Glaubensbekenntnis widersetzen? Im Grunde stellt er nicht das Faktum in Frage, dass, unter einem historischen Gesichtspunkt, die »Juden« die Nachkommenschaft Abrahams sind. Hingegen bildet die Art und Weise, wie dieses Erbe übernommen wird, den springenden Punkt. Hier tritt die Bruchstelle zwischen dem jüdischen und dem jesuanischen Monotheismus auf. Für den Nazarener heißt dies, dass derjenige, der sich in Wahrheit auf Abraham beruft, nur seine Identität als Gottesgesandten anerkennen kann. Dass die meisten seiner Gesprächspartner ihn verwerfen, beweist, dass sie nicht mehr die Werke Abrahams erfüllen. Sie haben sich von dem Gott, den sie öffentlich verehren, entfernt, sie haben ihre Sohnschaft verspielt, sie sind Sklaven geworden. Nur die Anerkennung des Sohnes (8,36) kann ihnen die Knechtschaft ersparen und sie in die Freiheit zurückführen. Sünde und Wahrheit (8,31-47). In demselben und in dem nachfolgenden Streitgespräch wird die Sünde mit einem dritten Begriff, nämlich mit der Wahrheit in Verbindung gebracht. Wie im Fall der Freiheit, soll auch die johanneische Auffassung der Wahrheit nicht im Sinne der griechischen Philosophie verstanden werden. In der alttestamentlich-jüdischen Tradition bezeichnet die Wahrheit die wahre Grundlage aller Dinge, d.h. letztendlich die göttliche Wirklichkeit. Somit wird die Wahrheit nicht durch eine geistige Anstrengung erreicht, die zu einer sachgemäßen Beschreibung der Wirklichkeit führen würde, sondern sie geschieht als Offenbarung. Die berühmte Aussage von 8,31-32 (»Wenn ihr in meinem Wort bleibt, seid ihr wirklich meine Jünger und ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen«) setzt die vorgeschlagene Überlegung zur Freiheit fort. Mit dieser Ermahnung lädt der johanneische Christus »die Juden, die an ihn geglaubt haben« ein, sich sein Wort dauerhaft anzueignen und sich dadurch dem Kommen der göttlichen Wirklichkeit zu öffnen. Nun ist es gerade die Aufnahme der göttlichen Wirklichkeit in ihrem Leben, die sie befreien wird. Die Wahrheit ist also die Alternative zur Sünde. Während die Sünde das gebrochene Verhältnis mit Gott kennzeichnet, vertritt die Wahrheit die göttliche Wirklichkeit im Horizont der Welt. Diese Wahrheit, die sich der Sünde gegenüberstellt, wird christologisiert. Wie 8,40 andeutet, ist die durch Christus vermittelte Wahrheit diejenige, die er bei Gott gehört hat. Somit ist sie mit der 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 32 Jean Zumstein Die Sünde im Johannesevangelium ZNT 23 (12. Jg. 2009) 33 christologischen Offenbarung gleichzusetzen. Von daher ist es nicht erstaunlich, dass im Streitgespräch der V. 39-47 der Teufel der Wahrheit entgegengesetzt und mit der Lüge assoziiert wird. Wie ist das Auftreten des Teufels in diesem Kontext zu verstehen? Das Problem, mit dem sich der implizite Autor auseinandersetzt, besteht in dem folgenden Dilemma: Wie ist es möglich, dass die Söhne Abrahams, die Erben der Verheißung, die Vertreter des Glaubens an den einen Gott, sich weigern, an den johanneischen Christus, der den Anspruch hat, der Vertreter dieses Gottes zu sein, zu glauben? Wie ist es zu erklären, dass die Vertreter der höchsten religiösen Tradition angeklagt werden, das Verhältnis mit dem Gott, den sie vehement beanspruchen, gebrochen zu haben und in der Sünde zu leben? Die Gestalt des Teufels ermöglicht die Aufklärung dieser unverständlichen Kehrtwendung, dieses plötzliche Aufkommen der Negativität innerhalb des Glaubens. Das Paradigma dieses Umschwungs ist die Szene des Sündenfalles in Gen 2-3, worauf der Text wahrscheinlich anspielt (8,44). Die Sünde entsteht in dem Augenblick, in dem der Mensch seine Selbständigkeit gegenüber dem Gott, den er doch anerkennt, beansprucht. Dieser Autonomieanspruch führt zur Lüge. Sünde und Lüge sind aber eng verbunden, denn in dem Moment, wo sich der Mensch nicht mehr auf das stützt, was seine Existenz wirklich trägt, ist er das Opfer einer Täuschung: Er nimmt die Wahrheit auf nicht angemessene Weise wahr und lebt in der Lüge. 4. Die Sünde in den Abschiedsreden Die Thematik der Sünde taucht auf profilierte Weise in der zweiten Abschiedsrede (15,1-16,33) wieder auf. Diese Wiederaufnahme der Reflexion über die Sünde ist von Bedeutung, denn sie enthüllt, wie sich die Sünde in der nachösterlichen Zeit manifestiert. Sie erscheint in der berühmten Passage über den Hass der Welt (15,18-25). In diesem Kontext wird die Sünde als konstitutives Merkmal der »Welt« dargestellt. Der Ausgangspunkt der Argumentation besteht in der folgenden Aussage: Die Ablehnung, die den irdischen Jesus getroffen hat, wird sich nach Ostern wiederholen. Der Hauptgrund der Verfolgung, welche die Jünger seitens der Welt erleben werden, besteht in ihrem christologischen Glauben. Der Sündebegriff wird erneut christologisiert. Sünde wird als Ablehnung der Person Jesu als Gottesgesandter und Inkarnation der göttlichen Wirklichkeit unter den Menschen, resp. der nachösterlichen Missionare definiert. Die V. 22-25 bestimmen die Sünde unter einem doppelten Gesichtspunkt. Die Sünde (der Terminus wird immer im Singular benutzt) entsteht durch die Entscheidung, die der Mensch der christologischen Offenbarung gegenüber fasst. Vor dem Kommen Jesu entbehrte die Rede über die Sünde jeglicher Relevanz. Erst das durch den Offenbarer ausgesprochene Wort führt auf eindeutige Weise zur Manifestation der Sünde. Die Ablehnung des Christusgeschehens ist aber unentschuldbar, denn den Offenbarer abzulehnen, heißt, Gott selbst zurückzuweisen. Das zweite Element, das mit der Sünde verbunden wird, ist der Hass. Dieses Motiv ist wichtig, denn es zeigt, dass für Johannes die Sünde nicht einfach eine falsche intellektuelle Einstellung und Entscheidung ist. Im Grunde genommen zerstört der Unglaube seinen Verfechter. Der Hass nimmt Besitz von seiner Person und kennzeichnet sich durch einen Gewaltausbruch. Das Zitat: »Sie haben mich ohne Grund gehasst« (15,25) zeigt das Ausmaß der Entfremdung, die durch die Sünde ausgelöst wird. Die Sünde verdunkelt die Einsicht in einem solchen Maß, dass derjenige, der die Offenbarung ablehnt, nicht mehr in der Lage ist, sein Verhalten zu regeln oder zu rechtfertigen. Die Trennung von Gott - so Johannes - führt zu einer radikalen Verschlimmerung der Existenz. Das vierte Wort über den Parakleten (16,6-11) unterstützt noch einmal die mehrmals in der Analyse aufgestellte Hypothese. Als Ankläger wird der Paraklet die Welt ihrer Sünde überführen (16,8). Diese Sünde ist nicht mit einer moralischen Verfehlung in Verbindung gesetzt, sondern mit dem Unglauben (16,9: »Sünde: dass sie an mich nicht glauben«). 5. Die Sünde in der Ostergeschichte Der in 20,19-23 seinen Jüngern erscheinende Christus eröffnet die österliche Zeit. Mit seiner 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 33 Zum Thema 34 ZNT 23 (12. Jg. 2009) Lehre bestimmt er die Qualität der neu beginnenden Zeit - es handelt sich um eine unter das Zeichen des Friedens und der Freude gestellte Zeit -, er bestimmt auch den den Jüngern anvertrauten Auftrag. Seine Lehre umfasst drei Punkte. Erstens werden die Jünger gesandt, um Christus in der Welt zu vertreten. Wie der vom Vater Gesandte Gott unter den Menschen zu vertreten hat, so sind die Jünger dazu berufen, den johanneischen Christus, wo immer sie leben, zu bezeugen. Zweitens werden die Jünger für den Vollzug dieses Auftrags ihrem Schicksal nicht preisgegeben, sondern empfangen die Gabe des Heiligen Geistes, um ihre neue Verantwortung auf sich zu nehmen. Schließlich bekommen sie die Vergebungsvollmacht (s. auch Mt 16,19: 18,18). Diese überraschende Aussage, 8 nämlich die Ermächtigung die Sünden zu vergeben, soll innerhalb des johanneischen Kontextes interpretiert werden, was vier Konsequenzen mit einschließt. Erstens: Unter dem Gesichtspunkt der Argumentation ist diese Vergebungsvollmacht die Verwirklichung des Sendungsauftrags und der Gabe des Heiligen Geistes. Zweitens: Der Sündebegriff ist nicht im traditionellen Sinne als moralische Übertretung, sondern als Ablehnung der christologischen Offenbarung zu verstehen. Drittens: Diese johanneische »Schlüsselgewalt« ist Texten wie 3,19-21, 9,40-41, 15,22-24 näher zu bringen, wo es um die Offenbarung des Heils und des Gerichtes geht. Viertens: Diese »Schlüsselgewalt« ist nicht einem Amt oder einer Institution vorbehalten, sondern gehört allen Gläubigen. Wie soll dann diese den Jüngern anvertraute Vergebungsvollmacht verstanden werden? Wichtig ist festzustellen, dass nur das Prinzip vorgestellt wird, während die Anwendungsregeln nicht definiert werden. Anstatt an eine institutionelle Ausübung zu denken, ist es vernünftiger, diese Vergebungsvollmacht mit der Proklamation der christologischen Offenbarung unter den Menschen in Verbindung zu setzen. Indem die Jünger die Welt mit der christologischen Offenbarung konfrontieren, ermöglichen sie jedem Menschen, entweder die Vergebung und das ewige Leben zu empfangen, oder durch eine Ablehnung sich in der Sünde einzuschließen. Indem die Jünger so handeln, werden sie das Werk des johanneischen Christus unter der Führung des Parakleten fortsetzen. 6. Schluss Im Rahmen des Urchristentums hat die johanneische Schule die Reflexion über die Sünde auf profilierte Weise gefördert und weitergeführt. Hervorzuheben sind zuerst die literarischen Mittel, die benutzt worden sind, um diese zentrale Frage zum Ausdruck zu bringen. Das vierte Evangelium schlägt keine thetischen und fertigen Definitionen der Sünde vor, sondern die volkstümliche und traditionelle Auffassung wird im Rahmen größerer Zusammenhänge geprüft, kritisiert und umgedeutet. Die beiden Wundergeschichten (Kap. 5 und 9), die Kontroversen des Kap. 8 oder die zweite Abschiedsrede (Kap. 15-16) sind die besten Beispiele dieser dynamischen Denkprozesse. Was kommt dadurch zum Ausdruck? Die erste große Leistung besteht in dem Verzicht auf die nomistische Auffassung der Sünde. Diese wird nicht mehr in erster Linie als Übertretung einer moralischen Norm betrachtet, sondern wird theozentrisch gedacht. Sie besteht in dem Bruch des Verhältnisses zwischen Gott und den Menschen. Diese radikale Krise zeitigt verheerende Wirkungen. Der von Gott getrennte Mensch wird dem Tode ausgesetzt, er wird Opfer einer falschen Wahrnehmung der Wirklichkeit, er verliert die Kontrolle über sein Leben, zerstört sich selbst und seine Mitmenschen. Die zweite große Leistung ist mit der Christologisierung des Begriffes gegeben. Im vierten Evangelium kann Gott nicht mehr unabhängig von seinem Vertreter inmitten der Welt getroffen werden. Die Konsequenz liegt auf der Hand: Das Verhältnis mit Gott und das Verhältnis mit dem johanneischen Christus fallen zusammen, so dass von nun an Sünde als Unglaube an die christologische Offenbarung definiert werden kann. Der dritte große Gewinn besteht in der konsequenten Unterscheidung zwischen der Zeit der Inkarnation und der nachösterlichen Zeit. Wenn die Sünde als Ablehnung der christologischen Offenbarung konzipiert wird, was geschieht, wenn der Offenbarer die Menschenwelt verlassen hat? Wie vertreten die Jünger den abwesenden Christus und welches ist der Stellenwert der abgeschlossenen Offenbarung für die nächsten Generationen? Sowohl die zweite Abschiedsrede als auch die Ostergeschichte zeigen, wie das Phäno- 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 34 Jean Zumstein Die Sünde im Johannesevangelium ZNT 23 (12. Jg. 2009) 35 men der Sünde in dieser neuen Situation wahrnehmbar und überwindbar wird. Schließlich ist auf die berühmte johanneische »Asymmetrie« hinzuweisen. Die Rede über die Sünde ist immer in eine Heilsperspektive integriert. Die Sünde wird zwar gebrandmarkt, ihre Entlarvung ist aber nur die Kehrseite der Manifestation der Gnade. l Anmerkungen 1 Ein guter Überblick über die johanneische Auffassung der Sünde ist bei R. Metzner, Das Verständnis der Sünde im Johannesevangelium (WUNT 122), Tübingen 2000, zu finden. 2 Zwei ergänzende Begriffe müssen hier noch hinzugefügt werden. Der Begriff »Sünder« (hamarto¯ los) erscheint nur im Kap. 9 und ausschliesslich in polemischer Verwendung gegen Jesus. Cum grano salis ist Christus die einzige Person, die im Johannesevangelium Sünder genannt wird. Im übrigen bezeichnet das Verb »sündigen« (hamartano¯) einerseits die sündige Vergangenheit des Gelähmten am Teich Betesda, andererseits aber die vermutete Ursache der Erkrankung des von Geburt an Blinden (9,2.3). Wir lassen 7,53-8,11 außer Acht, denn wie aus der Textkritik hervorgeht, handelt es sich dabei um einen späteren Einschub in den Text des Evangeliums. 3 Joh 9,22 evoziert den etwaigen Synagogenausschluss der johanneischen Judenchristen (vgl. auch 12,42; 16,2). Während die Trennung zwischen den johanneischen Gemeinden und der pharisäischen Synagoge am Ende des ersten Jahrhunderts außer Zweifel steht, bleibt in der Forschung stark umstritten, ob ein Synagogenausschluss der Judenchristen beschlossen wurde, und wenn ja, in welcher Form und an welchem Ort. 4 Im Kap. 8 wird zwar die Sünde mit ihren katastrophalen Wirkungen gebrandmarkt, aber die apokalyptische Perspektive, d.h. die Drohung des Endgerichtes, spielt keine Rolle in der Argumentation (s. zum Beispiel Joh 8,15! ) 5 Der Begriff »Juden« wird in Joh 8,22.31.48.52.57 benutzt. Nirgendwo im Kap. 8 benennt er das jüdische Volk als ethnische oder nationale Größe. Während dieser Terminus in V. 31 die »Judenchristen« (= »Juden, die an ihn glaubten«) bezeichnet, verweist er in den anderen Passagen auf die theologischen Behörden. 6 Vgl. K. Berger, Art. Abraham, TRE I, 377-378. 7 In Bezug auf die Frage des etwaigen johanneischen »Antijudaismus«, ist es von Bedeutung festzustellen, dass das folgende Streitgespräch nicht Jesus den Vertretern der Synagoge frontal entgegensetzt, sondern dass sich Jesus in dieser Diskussion mit seinen eigenen Anhängern auseinandersetzt. 8 Der Ausdruck »die Sünden vergeben« erscheint nur hier im Johannesevangelium. Lesetipp: Jakob Frohschammer: Religionsphilosophie Mit textkritischem Apparat sowie Namen- und Sachregister Editorisch bearbeitet, eingeleitet und herausgegeben von Raimund Lachner Nachgelassene Schriften Band 1 2009, X, 665 Seiten, €[D] 118,00/ SFr 187,00 ISBN 978-3-7720-8321-1 Nach seinem Tod am 14. Juni 1893 hinterließ der Münchener Theologie- und Philosophieprofessor Jakob Frohschammer neben den gedruckten wissenschaftlichen Arbeiten zahlreiche Archivalien, darunter eine Reihe ungedruckter Vorlesungshandschriften. Die Handschrift mit dem Titel Religionsphilosophie ist von ihren ersten Teilen her die älteste und zugleich eine der umfangreichsten Vorlesungshandschriften. Die vorliegende textkritische Edition macht diesen bedeutenden Quellentext der wissenschaftlichen Öffentlichkeit zugänglich und versteht sich damit als Beitrag zur Erforschung der Philosophie und der Theologie Frohschammers und der Philosophie- und Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts allgemein. A. Francke Verlag, Tübingen 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 35 36 ZNT 23 (12. Jg. 2009) »Die meisten Menschen sind im Verhältnis zu sich selbst Erzähler.« R. Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek 1978, 650 »... seit ein Gespräch wir sind und hören können voneinander« Friedrich Hölderlin, Friedensfeier Reifeprüfung 1 Studieren ist schwieriger geworden. Lehren auch. Studierende der Theologie und Religionspädagogik zeigen zunehmend unterschiedliche Vorkenntnisse, während die Anforderungen ihrer künftigen Berufspraxis z.B. hinsichtlich interkultureller und interreligiöser Befähigungen steigen. 2 Wie kann die Gestaltung neutestamentlicher Lehrveranstaltungen diesem sich wandelnden Bedarf entsprechen? Nach meinen Eindrücken wird es immer wichtiger, trotz zunehmender Vereinfachung von Studieninhalten und Elementarisierung von Wissensbeständen die kritische Lektürekompetenz der Studierenden zu stärken. Das historisierende Insistieren auf dem ›garstigen breiten Graben‹ ist hier kaum ausreichend, in vielen Fällen nicht einmal hilfreich. Vielmehr bildet die intensive Auseinandersetzung mit den Texten selbst, ihren Grenzen und Widersprüchen, eine erste Voraussetzung für die Wahrnehmung der Autonomie und Fremdheit neutestamentlicher Texte und ihrer theologischen Gehalte, aber auch für die Begegnung mit den gegenwärtigen Lebensfragen der Studierenden. Die Selbständigkeit und Solidität theologischen Argumentierens, speziell im Kontext neutestamentlicher Textinterpretation, ist ein dringendes Ausbildungsdesiderat, das mit personalen Reflexionsaufgaben nicht vermengt oder verwechselt werden darf, andererseits von ihnen aber auch nicht zu trennen ist. Dass theologische Kompetenz im Kontext personaler Identitätskonstruktion erworben wird, ist kaum zu bestreiten. Wie weit aber kommen unsere Lehrveranstaltungen auch den sehr verschiedenen persönlichen Konstellationen und Identitätsfragen der Studierenden entgegen? 3 Wie sehr kommt die Fraglichkeit ihrer / unserer eigenen Lebenserfahrung dabei ins Spiel? Was kann die Arbeit an den Texten hier leisten? Kann es gelingen, eine Brücke zu bauen, die sowohl (auto-)biographischem Reflexionsbedarf als auch hermeneutischen Erfordernissen gleichermaßen Rechnung trägt? Zu diesen gehört auch die Frage, wieweit ein Verständnis dieser Texte an konfessorische Vorbedingungen, kirchliche Sozialisation oder subjektive Glaubenshaltungen gebunden ist. 4 Situationen, in denen Christen unterschiedlicher Bekenntnisse und Nichtchristen verschiedener Prägung gemeinsam Bibeltexte lesen und diskutieren, sind keineswegs mehr die Ausnahme gegenwärtiger Bibellektüre - weder an der Universität, noch in der Schule oder kirchlichen Gesprächskreisen, noch in anderen Kontexten, z.B. ehrenamtlichen Engagements in Telefonseelsorge oder kirchlicher Hospizarbeit. Unter dem Stichwort ›biographical exegesis‹ bzw. ›autobiographical biblical criticism‹ wurde in den letzten Jahren eine Perspektive biblischer Hermeneutik ins Spiel gebracht, die diese und ähnliche Fragen in den Mittelpunkt stellt. Es geht um den Versuch, literarisch konstruierte Figuren biblischer Texte neu zum Sprechen zu bringen und auf diese Weise eigene und fremde Lebensgeschichten so zu verbinden, dass sie sich gegenseitig beleuchten und so literarisch manifeste mit lebendig gemachten Erfahrungen kommuniziert werden können. 5 Sollen Studierende erfahren können, dass ihre persönliche Auseinandersetzung mit den Studieninhalten auch ihrer Arbeit mit den neutestamentlichen Texten zu integrieren ist, so konditioniert das die Integration von (auto-)biographischem Reflexionsbedarf in die Arbeit am Text. Das ist Zum Thema Eckart Reinmuth Biographisches Erzählen und theologische Reflexion im Johannesevangelium »Die Selbständigkeit und Solidität theologischen Argumentierens, speziell im Kontext neutestamentlicher Textinterpretation, ist ein dringendes Ausbildungsdesiderat …« 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 36 Eckart Reinmuth Biographisches Erzählen und theologische Reflexion im Johannesevangelium ZNT 23 (12. Jg. 2009) 37 Beziehungsarbeit. Wer sich darauf einlässt, hat einen Kommunikationsprozess mit offenem Ausgang zu gewärtigen. Textarbeit und Beziehungsarbeit haben hinsichtlich dieser prinzipiellen Offenheit einiges gemeinsam. Die ›Reifeprüfung‹, ein Filmklassiker, der vor 40 Jahren, im Herbst 1968, zum ersten Mal in Deutschland gezeigt wurde, endet mit einem denkwürdigen Bild. Zwei Menschen sitzen nebeneinander, auf der letzten Bank eines Busses, aber nur einer von beiden fällt durch seine Kleidung auf. Es ist die Braut in ihrem Brautkleid, die soeben in einem wilden Spontanentschluss den Traualtar mit dem jungen Mann verließ, der sie in letzter Sekunde für sich gewinnen konnte. Zwei Lebensgeschichten treffen aufeinander; ihre gemeinsame Geschichte hat kaum begonnen. Ihr Mienenspiel könnte vielsagender kaum sein. Triumph, Nachdenklichkeit, verstohlenes Lächeln, Beiseiteschauen, den verwunderten Blicken der Mitreisenden standhalten - und in all diesen Facetten die Ahnung, dass jetzt etwas kaum Absehbares, Kalkulierbares, Gesichertes beginnt. Was wird geschehen, wenn die Erfahrungen und Geschichten dieser beiden Menschen sich einander ausgesetzt sehen? Wie wird es ihnen gelingen, Ei genes und Fremdes im ›Hören voneinander‹ zu entdecken, zur Verfügung zu stellen, zu verstehen? So anders die Auseinandersetzung mit Texten auch sein mag - all die Momente der Offenheit, Unabsehbarkeit, Unkalkulierbarkeit, die diese kurze Filmsequenz sichtbar macht, spielen auch da eine Rolle, wo wir mit Texten arbeiten und leben. Ich komme mit meiner Lebensgeschichte ins Spiel, wenn ein Text mich anspricht. 6 Mir werden eigene Erfahrungen (neu) bewusst, geraten in ein neues Licht, lassen sich anders ansehen. Ich entdecke Eigenes im Fremden und das Fremde im Eigenen. 7 Textarbeit. Beziehungsarbeit Das Johannesevangelium bietet sich in besonderer Weise für den Versuch an, eigene und erzählte Lebensgeschichten aufeinander zu beziehen. Je mehr dieser Versuch gelingt, desto deutlicher wird, dass die narrative Gestaltung der erzählten Figuren im Johannesevangelium 8 auf die Kommunikation der Lebenserfahrungen ihrer Rezipienten abzielt. Dabei geht es keineswegs nur um ›positive‹ Erfahrungen, offensichtlich aber, und darauf zielt die narrative Gestaltung des Evangeliums ab, um eine konstruktive, selbstbestimmte Auseinandersetzung mit ihnen. Die erzählten Erfahrungen der Protagonisten werden der Leserin, dem Hörer so zur Verfügung gestellt, dass sie sich mit ihnen - ana- Prof. Dr. Eckart Reinmuth, 1951 in Rostock geboren, studierte Evangelische Theologie in Greifswald, wurde 1981 in Halle promoviert und habilitierte sich 1992 in Jena. Er war Gemeindepastor in Mecklenburg und Professor für Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Naumburg und der Universität Erfurt. Seit dem Sommersemester 1995 lehrt er an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock. Seine Hauptforschungsgebiete sind die antik-jüdische Literatur und ihre Hermeneutik sowie moderne Literatur- und Geschichtstheorien in ihrer Bedeutung für die Auslegung des Neuen Testaments heute. Veröffentlichungen unter: http: / / www.theologie.uni-rostock.de/ reinmuth.htm. Letzte Buchveröffentlichungen: Hermeneutik des Neuen Testaments (UTB 2310), Göttingen 2002; Neutestamentliche Historik - Probleme und Perspektiven (ThLZ.F 8), Leipzig 2003; Paulus. Gott neu denken (BG 9), Leipzig 2004; Der Brief des Paulus an Philemon (ThHK 11/ II), Leipzig 2006; Anthropologie im Neuen Testament (UTB 2768), Tübingen 2006; zusammen mit K.-M. Bull: Proseminar Neues Testament. Texte lesen, fragen lernen, Neukirchen- Vluyn 2006. Eckart Reinmuth »Das Johannesevangelium bietet sich in besonderer Weise für den Versuch an, eigene und erzählte Lebensgeschichten aufeinander zu beziehen.« 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 37 Zum Thema 38 ZNT 23 (12. Jg. 2009) log zu ihren eigenen - auseinandersetzen können. 9 Die narrative Form ist eine unerlässliche Bedingung für das Gelingen solcher Prozesse. Es geht nicht darum, eine Erfahrung begrifflich zu den Akten zu legen, abzubuchen oder wegzuschließen, sondern sie über die Alterität, die Fremdheit und Andersartigkeit des Erzählten aufzuschließen, sie zu entdecken und namhaft zu machen. Es ist ein Unterschied, ob das Nachtgespräch mit Nikodemus (Joh 3) begrifflich oder narratologisch bearbeitet wird, 10 und es ist ebenfalls ein Unterschied, ob das Brunnengespräch Jesu mit der samaritanischen Frau (Joh 4) über die verwendeten Begriffe und Inhalte oder über die erzählte Dynamik erschlossen wird. Der namenlosen Wasserträgerin kann eine eigene Stimme gegeben werden, um so aus der Perspektive dieser fiktionalen Figur einerseits Ergebnisse der exegetischen und narratologischen Analyse einfließen zu lassen, andererseits aber die Kommunikation der Fragen, Erfahrungen und Vermutungen anzuregen, die vom Text angeschnitten werden. 11 Dabei kann es durchaus lohnend sein, einzelne Geschichten zueinander in Beziehung zu setzen, zu vergleichen, zu spiegeln. Ein intratextueller Vergleich zwischen der Nikodemusperikope (Joh 3) und Jesu Gespräch mit der samaritanischen Frau (Joh 4) 12 kann z.B. zeigen, wie beide Perikopen einander in ihrer Analogizität und Gegensätzlichkeit spiegeln. Die Gesprächspartner Jesu sind repräsentative Figuren, die einen Prozess durchlaufen. Das Aufzeigen ihrer Offenheit wie ihrer Grenzen ist als Provokation der Leser gedacht, eigene Grenzfragen als Lebensfragen zu reflektieren. Dieser Ansatz ermöglicht es, Spielarten narrativer Identitätskonstruktion in reflexiver Distanz bewusst zu machen und zugleich in der Beziehungsarbeit mit dem Text zu würdigen. Die Auseinandersetzung mit der narrativen Konstruktion der Protagonisten erschließt neue Erfahrungsräume, indem eigene Erfahrungen von (Nicht-)Identität in neuen Perspektiven sichtbar werden. 13 Schulderfahrungen Neben solchen Möglichkeiten intratextueller Exploration und Diskussion sind intertextuelle Bezüge zu erschließen. Sie erweitern die ›Beziehungsarbeit‹ mit den Texten und damit die Möglichkeiten, eigene Erfahrungen in die Textarbeit einzuspielen. Die Verwendung des Begriffs ›Intertextualität‹ setzt angesichts der unklaren Diskussionslage und z.T. missbräuchlichen Verwendung eine klare Konzeption voraus. 14 Im Unterschied zu Versuchen, Intertextualität als aktuelle Etikettierung diachroner Frageperspektiven (z.B. Quellen-, Traditions- und Literarkritik) zu verwenden bzw. zu Auffassungen, die unter Intertextualität lediglich die vom Autor verwendeten Zitate und beabsichtigten Anspielungen verstehen, 15 sollte m.E. die Unterscheidung zwischen produktions- und rezeptionsorientierter Intertextualität favorisiert werden. 16 Diese Differenzierung entspricht einem Textmodell, das die Entstehung der neutestamentlichen Texte im kommunikativen, auf die Geschichte Jesu Christi bezogenen Zusammenspiel von Rezeption und Produktion versteht. Die Autoren des Neuen Testaments rezipierten ihre auf die Jesus-Christus-Geschichte 17 bezogenen Nachrichten, Traditionen usw. im Kontext vielfältiger Texte und Botschaften und vor dem Horizont der Schriften Israels. Was sie davon anklingen lassen, zu erkennen geben, gezielt aufrufen, ist Teil der produktionsseitigen Intertextualität. Zu ihr gehört auch die der intendierten Rezipienten. Die rezeptionsseitige Intertextualität bezieht sich demgegenüber auf die Textwelten realer Rezipienten. Sie können als historische Kontexte (re)konstruiert werden, sind aber auch als gegenwärtige Kontexte heutiger Wahrnehmungen des Neuen Testaments zu berücksichtigen. Dieses Intertextualitätskonzept ermöglicht die aktuelle Konstruktion intertextueller Bezüge und respektiert zugleich die autonome Intertextualität der Texte. Für den hier exemplarisch skizzierten Vorschlag, Textarbeit als Beziehungsarbeit zu verstehen und so theologische Reflexion im Kontext personaler Identitätskonstruktion zu verantworten, eröffnet diese Intertextualitätskonzeption neue Dimensionen. Sie wirken sich nach meinen Erfahrungen in der Lehre stimulierend und motivierend für das Studium des Neuen Testaments aus. Die Unterscheidung zwischen produktions- und rezeptionsseitiger Intertextualität erschließt neue Verständnismöglichkeiten; sie ermöglicht es, neutestamentliche Texte nicht auf ein einseitig 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 38 Eckart Reinmuth Biographisches Erzählen und theologische Reflexion im Johannesevangelium ZNT 23 (12. Jg. 2009) 39 historisch orientiertes Verständnis zu reduzieren, dieses jedoch nicht aktualisierenden Interpretationen, fundamentalistischen Kurzschlüssen oder simplifizierenden Missverständnissen zu opfern. Ich erläutere diese Überlegungen am Beispiel der Geschichte des Gelähmten am Teich Bethesda, seiner Heilung und anschließenden Denunziation. Sie enthält mit der Warnung Jesu an den Geheilten, nicht mehr zu sündigen, damit ihm nicht Schlimmeres widerfahre (5,14), eine deutliche Provokation, die offensichtlich auf seine Lebensumstände vor der Heilung verweist. 18 Dafür spricht die Dauer von 38 Jahren, die als Anspielung auf Dtn 2,14 zu lesen ist. Hier geht es um die Zeit der Sünde Israels. 19 Der Geheilte wird von Jesus nicht auf eine seiner Lähmung vorausliegende Schuld angesprochen; vielmehr werden die zurückliegenden 38 Jahre als Zeit seiner Schuldverstrickung interpretiert. Was bedeutet das? Wie kann man sich die von Johannes skizzierte Situation am Teich vorstellen? Für einen Versuch, die Situation des Gelähmten in Joh 5,2ff. zu imaginieren, lässt sich Franz Kafkas Erzählung ›In der Strafkolonie‹ heranziehen. Dadurch wird es möglich, die Exposition der johanneischen Erzählung nicht in quasi-historischer Neutralität, sondern als intendierte Rezeption einer verhängnisvollen, aussichtslosen und menschenverachtenden Situation zu bewerten. Es geht dabei nicht um einen Vergleich beider Erzählstränge, sondern ihrer expositionellen Voraussetzungen. Steht auf der einen Seite die unerträgliche Vorstellung der beklemmenden Situation am Teich, an dessen Rand eine ungenannte Zahl Versehrter auf übernatürliche Heilung hofft und sich dabei in ein rücksichtsloses Konkurrenzsystem gebunden sieht, so steht auf der anderen Seite die Situation einer Bestrafung, deren Grund dem Delinquenten undurchsichtig bleiben muss und ihm doch mit dem Ziel seiner Tötung auf den Leib geschrieben wird. Die Konstruktion eines solchen intertextuellen Bezugs kann dazu dienen, Sensibilität und Empathie für die erzählerisch lediglich angedeutete Perspektive der Opfer in beiden Erzähltexten zu entwickeln. Für das Verständnis der erzählten Identität des Gelähmten und die Möglichkeit, seine Geschichte mit Elementen eigener Identitätskonstruktion in Verbindung zu bringen, ist das von wesentlicher Bedeutung. Kafkas Text, der im Oktober 1914 entstand, 20 führt in das Rechts- und Bestrafungssystem einer Strafkolonie ein, das einem Forschungsreisenden erläutert und vorgeführt werden soll: »›Es ist ein eigentümlicher Apparat‹, sagte der Offizier zu dem Forschungsreisenden und überblickte mit einem gewissermaßen bewundernden Blick den ihm doch wohlbekannten Apparat. Der Reisende schien nur aus Höflichkeit der Einladung des Kommandanten gefolgt zu sein, der ihn aufgefordert hatte, der Exekution eines Soldaten beizuwohnen, der wegen Ungehorsam und Beleidigung des Vorgesetzten verurteilt worden war. Das Interesse für diese Exekution war wohl auch in der Strafkolonie nicht sehr groß. Wenigstens war hier in dem tiefen, sandigen, von kahlen Abhängen ringsum abgeschlossenen kleinen Tal außer dem Offizier und dem Reisenden nur der Verurteilte, ein stumpfsinniger breitmäuliger Mensch mit verwahrlostem Haar und Gesicht, und ein Soldat zugegen, der die schwere Kette hielt, in welche die kleinen Ketten ausliefen, mit denen der Verurteilte an den Fuß- und Handknöcheln sowie am Hals gefesselt war und die auch untereinander durch Verbindungsketten zusammenhingen. Übrigens sah der Verurteilte so hündisch ergeben aus, dass es den Anschein hatte, als könnte man ihn frei auf den Abhängen herumlaufen lassen und müsse bei Beginn der Exekution nur pfeifen, damit er käme.« 21 Der »Apparat« dient als Instrument und Metapher einer undurchsichtigen Bestrafung. Der verurteilte Soldat zeigt eine merkwürdige Ignoranz und Ergebenheit; er nimmt dieses sein Ende offensichtlich fraglos hin. Die erzählerische Gestaltung dieser Figur lädt nicht zur Identifikation mit ihr ein. 22 »... Der Reisende sah flüchtig auf den Mann hin; er hielt, als der Offizier auf ihn gezeigt hatte, den Kopf gesenkt und schien alle Kraft des Gehörs anzuspannen, um etwas zu erfahren. Aber die Bewegungen seiner wulstig aneinander gedrückten Lippen zeigten offenbar, dass er nichts verstehen konnte. Der Reisende hatte verschiedenes fragen wollen, fragte aber im Anblick des Mannes nur: ›Kennt er sein Urteil? ‹ ›Nein«, sagte der Offizier und wollte gleich in seinen Erklärungen fortfahren, aber der Reisende unterbrach ihn: ›Er kennt sein eigenes Urteil nicht? ‹ ›Nein‹, sagte der Offizier wieder, stockte dann einen Augenblick, als verlange er vom Reisenden eine nähere Begründung seiner Frage, und sagte 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 39 Zum Thema 40 ZNT 23 (12. Jg. 2009) dann: ›Es wäre nutzlos, es ihm zu verkünden. Er erfährt es ja auf seinem Leib.‹ Der Reisende wollte schon verstummen, da fühlte er, wie der Verurteilte seinen Blick auf ihn richtete; er schien zu fragen, ob er den geschilderten Vorgang billigen könne. Darum beugte sich der Reisende, der sich bereits zurückgelehnt hatte, wieder vor und fragte noch: ›Aber dass er überhaupt verurteilt wurde, das weiß er doch? ‹ ›Auch nicht‹, sagte der Offizier und lächelte den Reisenden an, als erwarte er nun von ihm noch einige sonderbare Eröffnungen. ›Nein‹, sagte der Reisende und strich sich über die Stirn hin, ›dann weiß also der Mann auch jetzt noch nicht, wie seine Verteidigung aufgenommen wurde? ‹ ›Er hat keine Gelegenheit gehabt, sich zu verteidigen‹, sagte der Offizier und sah abseits, als rede er zu sich selbst und wolle den Reisenden durch Erzählung dieser ihm selbstverständlichen Dinge nicht beschämen. ›Er muss doch Gelegenheit gehabt haben, sich zu verteidigen‹, sagte der Reisende und stand vom Sessel auf.« Im Vergleich mit der Exposition des Johannestextes lassen sich mühelos Analogien entwickeln, die dazu dienen können, die Situation am Teich und damit die narrative Herkunft des Gelähmten zu imaginieren. Die Fraglichkeit seiner Schuld wird, obwohl sie - anders als etwa in der Erzählung vom Blindgeborenen (9,1-3) - in der Exposition nicht gestellt wird, schlagartig mit der Warnung Jesu deutlich, die Schlimmeres als das bisher Erlebte in Aussicht stellt (5,14). Dieser Satz nimmt auf das bisherige Leben des Gelähmten explizit Bezug (s.o.). Die Anstößigkeit der Äußerung Jesu besteht u.a. in der Zumutung, dieses bisherige Leben als angeblich selbstverschuldet zu bewerten. Der Gelähmte hat sein Leben mit einer fundamentalen Behinderung verbracht, ohne den Grund zu kennen. Jesu Zumutung scheint ein retrospektives Sinnangebot zu enthalten, das nicht akzeptierbar ist, weil es auf einer unzumutbaren Logik basiert. Erzählerisch wird damit eine Unentschiedenheit hergestellt, die durch die anschließende Denunziation seitens des ehemals Gelähmten paradox weitergeführt wird. Er, der nicht wusste, wer ihn geheilt hat (5,12f.), weiß es nun, und er zögert nicht, ihn behördlich anzuzeigen (5,15), obwohl er um die Konsequenzen für Jesus wissen muss (5,10-12.16.18). Zum ersten Mal im Evangelium wird von einer Tötungsabsicht seitens der Gegner Jesu gesprochen. Sie ist unmittelbare Folge der Denunziation. Wann hat dieser Mann je Gelegenheit, sich zu verteidigen, sein Urteil zu kennen, seine Fragen zu stellen? Durch Jesu Warnung werden seine beiden Lebensstränge - die Zeit bis zur Heilung und die Zeit danach - so miteinander verschränkt, dass der offene Ausgang eine lebensgeschichtliche Unentschiedenheit markiert, die in einem fiktionalen Text aus der Sicht des Gelähmten formuliert werden kann. »Ein bisschen flau war mir ja. Ich hatte erst gar nicht gemerkt, was ich da tue. Wenn man gefragt wird, soll man antworten. Aber als ich merkte, wie sie reagieren, wurde mir ehrlich ein bisschen flau. Umbringen sollte man den Mann, tuschelten sie (v18); und mich, dachte ich, hat er gesund gemacht. Ich habe immer gehorcht. Und gehofft. Und gehofft und gehorcht. Und als sie wissen wollten, wer mir da befohlen hat, mein Feldbett am hellerlichten Sabbat durch die Gegend zu tragen, da wusste ich es ja gar nicht. Ich wollte ihn nicht verraten, ich habe nur meine Pflicht getan. Das war doch keine Anzeige, und eine Denunziation schon gar nicht, das war doch nur ein Tip. Aber gut, ein bisschen flau ist mir immer noch. Damit Dir nicht noch Schlimmeres widerfahre, hat er gesagt - und, ehrlich gesagt, manchmal befühle ich meine alten Glieder, ob sich noch alles gut bewegt, oder ob die Lähmung zurückkehrt. Man kann ja nie wissen; vielleicht bereut er jetzt seine großherzige Heilung und schickt mich wieder an den Teich, gelähmt für den Rest meines Lebens. Apropos Teich. Die Teiche hier in Jerusalem haben es mir angetan. Da bin ich am liebsten. Hab ja nichts zu tun, sammle Almosen wie die anderen, meist bei den Teichen, wo es ein bisschen kühler ist. Neulich hab ich ihn wieder gesehen, mit seinen Leuten. Das war am Teich Siloa; der ›Gesandte‹ soll das heißen. Na ja, es gibt so viele Gesandte heutzutage. Ich hab mich natürlich nicht gezeigt, aber ich konnte sie hören. Ich seh sie bei einem Blinden stehen. Ich höre sie diskutieren. Mit dem Blinden? Nein, sie streiten über irgendwas untereinander. Seine Leute stellen die Schuldfrage. Sie wollen wissen, wer überhaupt Schuld hat an dieser Blindheit. Seine Eltern? Vielleicht er selbst? Irgendjemand muss es ja sein. Und dann sagt er, und ich habe mich nicht verhört: Weder er selbst noch seine Eltern. Keiner hat Schuld. Was Gott tut, soll sich an ihm zeigen. Das war alles. Ich habe mich nicht verhört.« Sein Übergang 23 von der Situation am Teich in die Freiheit des Geheilten ist misslungen. Das skiz- 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 40 Eckart Reinmuth Biographisches Erzählen und theologische Reflexion im Johannesevangelium ZNT 23 (12. Jg. 2009) 41 zierte Vorgehen macht es Lesern und Hörerinnen möglich, anhand des Textes die Frage nach (Un-) Gerechtigkeitserfahrungen im eigenen Leben zuzulassen und an den Text zu richten. Dieser wird so befragbar. Er wird aus der Position eines unhinterfragbaren Rechthabens befreit und gleichsam beziehungsfähig; seine narrative Konstruktion wird einer einlinigen Lektüre entzogen und für die Reflexion biographischer Identität geöffnet. Selbstsein narrativ Identität bedeutet nach allgemeinem Verständnis, mit sich selbst identisch zu sein, man selber zu sein, authentisch sein, sich selbst gleich bleiben, mit sich einverstanden sein ... - offensichtlich ein Zielwert, der narrative Kommunikation erfordert 24 und nur in mehrfachen Relationen konstruiert werden kann. 25 Dazu gehört die zeitliche Relation - Identität gibt es nur auf Zeit - und die soziale Relation. Die Kommunikation individueller Identität erfordert eine differenzierende Reflexion von Selbst- und Fremdzuschreibungen. 26 Der Wunsch nach Identität als Selbstübereinstimmung realisiert sich als reflexiver Prozess, der auf Interaktion und Narrativität angewiesen ist. 27 Wir konstruieren inmitten von unkalkulierbaren Differenzerfahrungen unsere personale Identität, indem wir von uns erzählen. 28 Die Tätigkeit des Erzählens ist ständige Sinnrezeption und -produktion. Diese Tätigkeit hat ihren Ort da, wo wir zwischen unseren Erfahrungen und ihrer Kommunikation vermitteln müssen. Immer da, wo wir unsere Erfahrungen von Wirklichkeit kommunizieren, verständigen wir uns über Sinn. Das aber setzt die Fähigkeit zur Selbstdistanz voraus. 29 Wir erzählen - und wir erzählen, weil wir nicht alles wissen können. Wir können nicht nichterzählen. Mit der Narrativität (etymologisch geht das Wort auf gnarum facio ›kund tun, Kenntnis geben‹ zurück) handelt es sich um ein Kenntnis-Geben bzw. Kenntnis-Erhalten, um die Kommunikation von Kenntnissen, die wir auf keine andere Weise erlangen oder gar produzieren können. Diese Unersetzlichkeit bedeutet Kenntnisgabe und -entzug in einem. Die konkrete Narrativität personaler Identität offenbart und verbirgt zugleich, u.zw. jenseits aller intendierten Täuschungsversuche. Menschen können von sich in aller Offenheit erzählen und dennoch keineswegs vorgeben, ›alles‹ zu sagen. Vielmehr verhält es sich so, »dass jedem Wesen etwas Irreduzibles eignet, das in den verschiedenen Geschichten deutlich wird, die wir zu erzählen haben«, 30 dass aber eben dies Irreduzible als Ungesagtes jeder unserer Erzählungen eigen ist. Die Einzigkeit und Unersetzbarkeit jedes Menschen geht in dem, was einander mitgeteilt werden kann, nicht auf. Menschen sind sich in diesem Sinn unverfügbar und undurchschaubar; sie bleiben einander in einem letzten Sinn entzogen. Dieses Phänomen der Entzogenheit scheint mir für die vorgeschlagene Lektüre des Johannesevangeliums von besonderer Bedeutung zu sein. Es spiegelt sich nicht nur in den Elementen des Nichterzählten, die Figuren wie die des Gelähmten dem eigenen Erfahrungsbezug öffnen, sondern ist konstitutives Element seiner narrativen Identitätskonstruktion insgesamt. Diese Überlegung kann auf das Verständnis der Grundrelation angewendet werden, in der Johannes seine Erzählfiguren konstruiert. Im Johannesevangelium wird als entscheidende Relation narrativer Identitätsbildung die Beziehung zu Jesus diskutiert. Folglich ist zu fragen, wie diese Beziehung im Zuge des vorgeschlagenen Modells zu reflektieren ist. Erzählfigur Jesus Die narrativ konstruierte Figur Jesu repräsentiert im Johannesevangelium die Geschichte Jesu Christi, wie sie von Johannes verstanden und intendiert wird. Die Jesus- Christus-Geschichte ist das Grundmuster für die Prozesse der Rezeption und Produktion, der Kommentierung, Rahmung und Auswahl der Erzählinhalte, mit denen Johannes die personale Identität Jesu konstruiert. Das bedeutet, dass die Jesusfigur denselben Bedingungen narrativer Identitätskon- »Die narrativ konstruierte Figur Jesu repräsentiert im Johannesevangelium die Geschichte Jesu Christi, wie sie von Johannes verstanden und intendiert wird.« 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 41 Zum Thema 42 ZNT 23 (12. Jg. 2009) struktion unterliegt wie die übrigen Erzählfiguren im Evangelium. Dieser Konstellation verdankt sich die Möglichkeit, die (auto-)biographische Reflexion eigener Lebenserfahrungen hinsichtlich ihrer Relation zu Jesus zu erweitern. Der Überlegenheitsgestus, mit dem Johannes das Reden und Handeln Jesu schildert, scheint die Möglichkeit solcher reflexiver Relationen zu konterkarieren. Die Überlegenheit Jesu ist jedoch für Johannes das narrative Gestaltungsmittel, diese Erzählfigur als Repräsentant seiner (Gottes-)Geschichte zu autorisieren. Werden die Autorisierungsstrategien im Evangelium als narrative Verfahren verstanden, mit der Figur Jesu seine Geschichte und damit die Behauptung zu thematisieren, dass mit dieser Geschichte Gottesrede kommuniziert werde, dann liegt hier der Grund dafür, dass die Identität Jesu sowohl auf gleiche Weise wie die der übrigen Protagonisten als auch als ihnen überlegen konstruiert wurde. Wird auch Jesus als Erzählfigur im narrativen Gefüge des Johannesevangeliums ernst genommen, so ergibt sich die Aufgabe, die narrative Konstruktion seiner Identität als theologische Interpretationsarbeit ihres Autors zu verstehen. Sachlich bedeutet das, die narrative Provokation des Erzählers aufzunehmen, mit seiner Geschichte Jesu Christi werde Gott in je konkreten Kontexten kommuniziert. Johannes bietet seinen Lesern und Hörerinnen an, in der Auseinandersetzung mit seiner Erzählung konkret die Frage nach Gott vor dem Horizont eigener (auto-)biographischer Reflexion zu thematisieren. Es ist gerade die bereits für die imaginierten Zeitgenossen anstößige Behauptung der Selbstidentifikation Gottes mit Jesus, 31 die diesen Kommunikationsraum öffnet. Das erzählerische Interesse des Johannes gilt nicht der theologischen Abstraktion, sondern der narrativen Konkretion; es lässt sich offensichtlich von dem am Ende des Prologs formulierten Grundsatz leiten: Niemand hat Gott je gesehen. Der einziggeborene Gott (aber), der im Schoß des Vaters ist, der hat (von ihm) erzählt (1,18). Der vollkommenen Unsichtbarkeit Gottes steht die erzählte Geschichte Jesu Christi gegenüber, seine Praxis in Wort und Tat, die unabschließbare Geschichte seines Lebens. Das bedeutet: Die konkrete und kontingente Geschichte Jesu Christi, wie sie in der narrativen Form des Evangeliums kommuniziert wird, will auf unhintergehbare und unersetzbare Weise den in dieser Geschichte handelnden unsichtbaren Gott präsentieren. Sie erzählt von ihm, indem sie seinen Identitätsträger in den Kategorien narrativer Identität konstruiert. Johannes besetzt folglich mit der Gottesrede die Dimension der irreduziblen Entzogenheit in der narrativen Präsenz seiner Jesusfigur. 32 Diese Dimension ist für ihn inhaltlich bestimmt durch die Geschichte des Gottes Israels. Johannes geht es um die narrative Konstruktion der Identität dessen, der mit ihr die Identität Gottes zu verstehen geben wollte. Deshalb insistiert das Johannesevangelium auf der irdischen Abkunft Jesu und betont unmissverständlich seine leibliche Präsenz. Bereits mit der Feststellung des Prologs (1,14), dass der Logos Fleisch wurde und unter uns zeltete, wird dieser Akzent eindringlich gesetzt. Der Logos geht in die Wirklichkeit des Leiblichen ein - er wird nichts als ein Mensch. Und er wird ja auch als Mensch von denen wahrgenommen, die ihm als Mensch - und nicht als Gottessohn - begegnen - bis zu dem ecce homo (»Siehe [das ist] der Mensch« - gr. idou ho anthrōpos 19,5). Man kennt schließlich seinen Vater und seine Mutter (6,42) - sein Anspruch will dazu nicht passen. So wirft man ihm vor, ›sich selbst zu Gott zu machen‹ (gr. su anthrōpos ōn poieis seauton theon, 10,33). Das Geschehen, von dem 1,14 spricht, verläuft in entgegengesetzter Richtung. Hier heißt es betont: Das Wort ward Fleisch, der Logos wurde Mensch (gr. ho logos sarx egeneto). Nur so ist (14b) von der Herrlichkeit (gr. doxa) des Fleischgewordenen zu reden. Die Glaubenden erfassen die Präsenz Gottes nicht als Herrlichkeit (gr. doxa), die sich das Menschsein wie eine Maske angelegt hätte, sondern die doxa als den Menschgewordenen: Die Herrlichkeit, die Präsenz Gottes, ist für den Glaubenden in der Niedrigkeit des Mensch gewordenen Logos zu erkennen. Dieser Gedanke liegt dem Johannesevangelium wie ein cantus firmus zugrunde. 33 Vor diesem Hintergrund wird es möglich, die Präsenz und Entzogenheit Jesu in der narrativen Präsentation des Johannesevangeliums zusammen zu denken. Das eröffnet neue Möglichkeiten (auto-)biographischer Reflexion, insofern das personale Verhältnis von (Selbst-)Entzogenheit und narrativer Konstruktion in Beziehung und Analo- 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 42 Eckart Reinmuth Biographisches Erzählen und theologische Reflexion im Johannesevangelium ZNT 23 (12. Jg. 2009) 43 gie zur Präsenz und Entzogenheit Gottes in der johanneischen Geschichte Jesu Christi reflektiert werden kann. Unter dieser Voraussetzung wird es möglich, die in den Texten thematisierten Relationen angemessen zu reflektieren. Sie werden dann nicht als entmündigende, partiell unverständliche Konstellationen rezipiert, sondern werden in aktiver, selbständiger Interpretationsarbeit zum Anstoß für die konstruktive Reflexion eigener Identität. Jesus wird als Erzählfigur so zum Reflexionsfeld, auf dem die Grundkonstituente der Selbstentzogenheit bei der Konstruktion personaler Identität konstruktiv gewürdigt und metaphorisch erfasst werden kann. Johannes bietet z.B. mit seinen Ich-bin-Worten Vorschläge, die in diesem Zusammenhang weiter führen. 34 Es sind die Metaphern einer Verheißung, die denen gilt, die in den Konstruktionen ihrer personalen Identität nicht aufgehen. 35 l Anmerkungen 1 Ich danke meiner Kollegin Martina Kumlehn, Professorin für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät Rostock, für die inspirierende Zusammenarbeit bei der Gestaltung eines Seminars zu den theologischen Dimensionen biographischer Reflexion im Johannesevangelium an unserer Fakultät; vgl. dies., Geöffnete Augen - gedeutete Zeichen. Historisch-systematische und erzähltheoretisch-hermeneutische Studien zur Rezeption und Didaktik des Johannesevangeliums in der modernen Religionspädagogik, Berlin / New York 2007. Siehe hierzu auch den Buchreport in diesem Heft. 2 Vgl. dazu W.G. Jeanrond / A. Lande (Hgg.), The Concept of God in Global Dialogue, Maryknoll / New York 2005; W.A. Meeks, Why Study the New Testament? , NTS 51 (2005), 155-170: 164ff. 3 Immerhin lässt sich beobachten, dass der »Verlust der religiösen und moralischen Konsense ... zu einem gesellschaftlichen und politischen Unbehagen (führt), in dem sich die Frage der persönlichen Identität akut stellt« (A. Gignac, Neue Wege der Auslegung. Die Paulus-Interpretation von Alain Badiou und Giorgio Agamben, ZNT 18 [2006], 15-25: 21). Vgl. grundlegend z.B. S.H.-G. Soeffner, Zeitbilder. Versuche über Glück, Lebensstil, Gewalt und Schuld, Frankfurt / New York 2005. 4 Vgl. z.B. J. Berlinerblau, The Secular Bible. Why Nonbelievers Must Take Religion Seriously, Cambridge 2005. 5 Vgl. einführend J.C. Anderson / J.L. Staley, Einführung zum Themenband ›Taking it personally‹, Semeia 72 (1995), 7-18; Ph.R. Davies, Introduction: Autobiography as Exegesis, in: ders. (Hg.), First Person. Essays in Biblical Autobiography, Sheffield 2002, 11-24; vgl. weiterführend J.L. Staley, Reading with a Passion: Rhetoric, Autobiography, and the American West in the Gospel of John, New York 1995; I.R. Kitzberger (Hg.), The Personal Voice in Biblical Interpretation, New York 1998; I.R. Kitzberger (Hg.), Autobiographical Biblical Criticism: Between Text and Self, Leiden 2002. 6 Vgl. A. Cavarero, Relating Narratives. Storytelling and Selfhood, London / New York 2000. 7 Vgl. zur hermeneutischen Reflexion T. Cohn Eskenazi / G.A. Philips / D. Jobling (Hgg.), Levinas and Biblical Studies (SBLSS 43), Atlanta 2003 mit der instruktiven Einführung der Herausgeber Facing the Text As Other: Some Implications of Levinas’s Work for Biblical Studies von Tamara Cohn Eskenazi (1-16). 8 Vgl. dazu D. Tovey, Narrative Art and Act in the Fourth Gospel (JSNTSS 151), Sheffield 1997 sowie einführend R.F. Hock / J.B. Chance / J. Perkins (Hgg.), Ancient Fiction and Early Christian Narrative (SBL Symposium Series 6), Atlanta, Ga., 1998; D. Rhoads / K. Syreeni, (Hgg.), Characterization in the Gospels. Reconceiving Narrative Criticism (JSNTSS 184), Sheffield 1999; J.P. Fokkelman, Reading Biblical Narrative. A Practical Guide, transl. by I. Smit, Leiden 1999. 9 Zum Zusammenhang von Identitätskonstruktion, sozialer Interaktion und der literarischen Konstitution von Identifikationsfiguren in antiken Texten vgl. Chr. Ronning, Soziale Identität - Identifikation - Identifikationsfigur. Versuch einer Synthese, in: B. Aland / J. Hahn / Chr. Ronning (Hgg.), Literarische Konstituierung von Identifikationsfiguren in der Antike, Tübingen 2003, 233-251: 242ff. Zu religiösen Konstitutionsbedingungen personaler Identität in der Antike vgl. D. Brakke / M.L. Satlow / St. Weitzman (Hgg.), Religion and the Self in Antiquity, Bloomington 2005. Im Blick auf das Johannesevangelium vgl. P. Dschulnigg, Jesus begegnen. Personen und ihre Bedeutung im Johannnesevangelium, Münster 2000; J. Hartenstein, Charakterisierung im Dialog. Die Darstellung von Maria Magdalena, Petrus, Thomas und der Mutter Jesu im Kontext anderer frühchristlicher Traditionen (NTOA / SUNT 64), Göttingen / Freiburg 2007. Hartenstein stellt fest: »Literarische Identifikationsfiguren öffnen das Werk gegenüber der Erfahrungswelt des Rezipienten et vice versa.« (246, Kursivierung original). 10 Vgl. E. Reinmuth, Anthropologie im Neuen Testament (UTB 2768), Tübingen / Basel 2006, 151-160. 11 Vgl. E. Reinmuth / K. Scharnweber, Credo. Fünf Stimmen nach Johannes, München 2008 (SV 6497; im Druck), zweite Kantate. 12 Vgl. z.B. M.M. Beirne, Women and Men in the Fourth Gospel. A Genuine Discipleship of Equals (JSNTSS 242), Sheffield 2003, 67ff. 13 Hier finden Übertragungsprozesse statt, die als wechselseitige Bildgebungsverfahren bezeichnet werden können: Eine narrative Konstellation im Text kann zur Metapher eigener Situiertheit werden; eine eigene Erfahrungssituation kann zur Metapher des mit dem Text narrativ Thematisierten werden. Vgl. zu dieser Fragestellung hinsichtlich des Johannesevangeliums E. Reinmuth, Lazarus und seine Schwestern - was wollte Johannes erzählen? Narratologische Beobachtungen zu Joh 11,1-44, ThLZ 124 (1999), 127-138. 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 43 Zum Thema 44 ZNT 23 (12. Jg. 2009) 14 Vgl. E. Reinmuth / K.-M. Bull, Proseminar Neues Testament. Texte lesen, fragen lernen, Neukirchen- Vluyn 2006, 65-73. 15 Vgl. die kritische Analyse bei Th.R. Hatina, Intertextuality and Historical Criticism in the NT Studies - Is There a Relationship? , Bibl. Int. 7 (1999), 28-43. 16 Vgl. S. Holthuis, Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption (Stauffenberg-Colloquium 28), Tübingen 1993. Dass diese Unterscheidung nur eine arbeitshypothetisch vorläufige sein kann, liegt auf der Hand. Schließlich werden auch die Elemente einer produktionsseitigen Intertextualität in Abhängigkeit von Quellen und Kenntnissen auf Seiten heutiger Rezipienten erfasst und rekonstruiert; vgl. zu diesem Problemkomplex z.B. W. Hallet, Intertextualität als methodisches Konzept einer kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft, in: M. Gymnich / B. Neumann / A. Nünning (Hgg.), Kulturelles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextualisierung von Literatur, Trier 2006, 53-70. 17 Zum Terminus ›Jesus-Christus-Geschichte‹ vgl. E. Reinmuth, Narratio und argumentatio - zur Auslegung der Jesus-Christus-Geschichte im ersten Korintherbrief. Ein Beitrag zur mimetischen Kompetenz des Paulus, ZThK 92 (1995), 13-27; Hermeneutik des Neuen Testaments. Eine Einführung in die Lektüre des Neuen Testaments (UTB 2310), Göttingen 2002, 11ff. u.ö.; Neutestamentliche Historik - Probleme und Perspektiven (ThLZ.F 8), Leipzig 2003, 35-40.59-63; In der Vielfalt der Bedeutungen - Notizen zur Interpretationsaufgabe neutestamentlicher Wissenschaft, in: U. Busse (Hg.), Die Bedeutung der Exegese für Theologie und Kirche (QD 215), Freiburg 2005, 76-96. 18 Vgl. Reinmuth, Anthropologie, 163ff. 19 Näheres bei H. Thyen, Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübingen 2005, 299.305. 20 A. Honold, In der Strafkolonie, in: B. von Jagow / O. Jahraus, KafkaHandbuch, Göttingen 2008, 477-503: 481. 21 F. Kafka, Drucke zu Lebzeiten, krit. Ausgabe, hg. v. W. Kittler / H.-G. Koch / G. Neumann, Frankfurt a.M. 1994. 22 Vgl. R. Ammicht-Quinn, Franz Kafkas und Alexandar Tišmas Strafkolonien: Ethik, Offenheit und Verbindlichkeit, in: D. Mieth (Hg.), Erzählen und Moral. Narrativität im Spannungsfeld von Ethik und Ästhetik, Tübingen 2000, 215-236. 23 Johannes thematisiert mit seinen erzählerischen Mitteln Erfahrungen, die z.B. aus der sozialpsychologischen Perspektive der Transitionsforschung diskutiert werden können; vgl. dazu grundlegend H. Welzer, Transitionen. Zur Sozialpsychologie biographischer Wandlungsprozesse, Tübingen 1993. Mit Transitionen sind Übergänge im Lebenslauf gemeint; es geht um »Ereignisse, die den scheinbar gleichmäßigen Verlauf des Lebens unterbrechen und zu Verwerfungen und Brüchen führen, an deren Bewältigung die Subjekte Erfahrungen machen, also spezifische Sozialisationsprozesse durchlaufen.« (8). 24 Bereits 1953 prägte der Philosoph Wilhelm Schapp den Begriff vom ›Verstricktwerden in Geschichten‹ (ders., In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, [Hamburg 1953] Wiesbaden 1976). Vgl. zur Aktualität seines Entwurfs jetzt die konstruktiven Überlegungen bei Th. Rolf, ›Die Geschichte steht für den Mann‹. Ethische Aspekte der narrativen Repräsentation, in: K. Joisten (Hg.), Narrative Ethik. Das Gute und das Böse erzählen, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Sonderband 17, Berlin 2007, 151-167, 160ff.; vgl. Th.R. Wolf, Leben in Geschichte(n). Zur Hermeneutik des historisch-narrativen Subjekts, in: S. Deines / S. Jaeger / A. Nünning (Hgg.), Historisierte Subjekte - Subjektivierte Historie. Zur Verfügbarkeit und Unverfügbarkeit von Geschichte, Berlin 2003, 47-61: 56ff. Einleitend zu seiner Philosophie der Geschichten (Leer 1959) hatte Wilhelm Schapp programmatisch festgestellt: »Wenn wir uns unserem Selbst nähern wollen, so können wir das nicht über die Wissenschaften, nicht über Sachverhalte, sondern nur über Geschichten« (a.a.O. XIII). 25 Vgl. W. Kraus, Falsche Freunde. Radikale Pluralisierung und der Ansatz einer narrativen Identität, in: J. Straub / J. Renn (Hgg.), Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst, Frankfurt 2002, 159-183, v.a. 178ff.; H. Haker, Narrative und moralische Identität, in: D. Mieth (Hg.), Erzählen und Moral. Narrativität im Spannungsfeld von Ethik und Ästhetik, Tübingen 2000, 37-65. 26 George Herbert Mead (1863-1931) hatte die soziale Konstitution des Menschen und die Sprachförmigkeit des Bewusstseins herausgearbeitet. Sein Hauptwerk »Mind, Self and Society from the Standpoint of a Social Behaviorist« erschien postum 1934. Der Mensch ist ein soziales Wesen, das durch seine Sprache sich selbst gegenübertreten und so denken kann. Die Gesellschaft geht dem Individuum voraus, weil nach Mead sonst so etwas wie Sozialisation gar nicht möglich wäre. Zugleich konstituiert der Mensch durch sein Handeln Gesellschaft - es geht ihm um eine wechselseitige Konstitution, die die Offenheit des Menschen nicht verhindert, sondern begründet. Mead unterschied im Gefolge dieser Voraussetzung zwischen I- und Me-Perspektive (Selbst- und Fremdperspektive auf mich). 27 Vgl. in diesem Zusammenhang die grundlegenden Überlegungen bei A. Ferrara, Reflexive Authenticity. Rethinking the Project of Modernity, London 1998. 28 Wolfgang Kraus verweist zu Recht darauf, dass das »Erzählen über sich selbst als Generalthema der Identitätstheorie« mittlerweile »beinahe - ein Gemeinplatz« sei (Kraus, Freunde, 161). 29 Th.R. Wolf resümiert im Anschluss an die Philosophie Wilhelm Schapps (Schapp, Geschichten, 61): Das historisch-narrative Subjekt findet sich »nicht einfach als Produkt vergangener Geschichte(n) vor, sondern konstituiert sich im Prozess wechselseitiger Verständigung. Die verschiedenen Geschichten, in die das jeweilige Subjekt verstrickt ist, fungieren daher im Sinne der multiperspektivischen Repräsentation und Rekonstruktion eines individuellen Lebenszusammenhangs, die in einen kulturellen Rahmen eingelassen ist bzw. diesen zu seiner Verwirklichung verlangt. Die Authentizität der Person wird damit in ein diskursives und regulatives Projekt transformiert, da die eigenen mit den anderen Geschichten in Einklang zu bringen sind. ›Leben‹ und ›Geschichte‹ fallen dann nicht einfach zusammen, sondern werden als Lebensgeschichte zur praktischen Aufgabe, bei der eine theoretische Distanz zu uns selbst gewahrt werden kann.« 30 J. Butler, Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt a.M. 2003, 46. Zum Zusammenhang vgl. Reinmuth, Anthroplogie, 22-33. 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 44 Eckart Reinmuth Biographisches Erzählen und theologische Reflexion im Johannesevangelium ZNT 23 (12. Jg. 2009) 45 31 Sie wird z.B. in der Metaphorik der ›Sendung‹ artikuliert; vgl. 7,25-30; 8,21-29 u.ö (s.u.). 32 Die Entzogenheit bedeutet, dass die konkrete und kontingente Gestalt Jesu von Gott ›erzählt‹, Gott aber darin nicht aufgeht. Vgl. nur 14,12; die Parakletsprüche; 20,30f. 33 Vgl. für die Reflexion der leiblichen Präsenz Jesu u.a. 2,19; 6,35ff.; 20,17.27. Für das Tempelwort (2,19) ist auf den Zusammenhang mit dem Bild vom Lebenswasser (7,37-39) und den Reziprozitätsaussagen (14,23f.; 15,9; 17,26) hinzuweisen; vgl. dazu E.E. Popkes, Jesus als der neue Tempel (Joh 2,19), in: R. Zimmermann (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 711-718: 717. Das an den Anfang der Praxis Jesu gesetzte Bildwort selbst akzentuiert ganz auf der Linie der Inkarnationsaussage des Prologs die Leiblichkeit der Hinrichtung und Auferstehung Jesu. Zu den Herrlichkeitsaussagen im Johannesevangelium vgl. N. Chibici-Revneanu, Die Herrlichkeit des Verherrlichten: Das Verständnis der doxa im Johannesevangelium, (WUNT II / 231), Tübingen 2007. 34 Jesus ist das Brot des Lebens (6,35.48.51), das Licht der Welt (8,12), die Tür (10,9), der gute Hirte (10,11), die Auferstehung und das Leben (11,25), der Weg, die Wahrheit und das Leben (14,6), der echte Weinstock (15,1). 35 Vor diesem Hintergrund treten die drei prädikatlosen Wendungen ›Ich bin (es)‹ in neues Licht (vgl. 4,26; 8,58; 18,5.6.8). Mit der direkten Rede ›Ich bin (es)‹ werden Identifikationsaussagen getroffen, die auf die narrative Präsenz Gottes in der Welt (vgl. 20,28) zielen. Eckart Reinmuth Anthropologie im Neuen Testament UTB M 2006, 346 Seiten, €[D] 24,90/ SFr 43,70 ISBN 978-3-8252-2768-5 Anthropologische Fragestellungen liegen im zentralen Interesse aktueller theologischer Forschung. In einer klar verständlichen Sprache geht das Buch der Frage nach, wie neutestamentliche Perspektiven in die aktuelle Wirklichkeit der Menschen einzubringen sind. Menschsein wird im Neuen Testament im Zuge der vielfältigen Interpretationen der Jesus-Christus- Geschichte thematisiert. Hier werden anthropologische Perspektiven sichtbar, die an ausgewählten Texten der Synoptiker, der johanneischen und paulinischen sowie der übrigen neutestamentlichen Texte dargestellt werden. Ein Stichwort- und ein Stellenregister sorgen für einen gezielten, textorientierten Zugriff, so dass sich das Buch gut für Lehre und Prüfungsvorbereitung einsetzen lässt. Aus dem Inhalt: Vorwort · Einführung · Anthropologie in den synoptischen Evangelien · Anthropologie im Johannesevangelium · Paulus · Übrige Schriften · Nachwort · Bibliographie, Stichwortregister, Neutestamentliche Stellen (in Auswahl) UTB Theologie A AA AA. .. .. Fr Fr Fr Fr Franc anc anc anc anck kk kke ee ee 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 45 46 ZNT 23 (12. Jg. 2009) Die Kontroverse zwischen Hartwig Thyen und Michael Theobald hat eine Frage zum Gegenstand, die nicht nur nach einer klaren Antwort ruft, sondern auch nach einer abschließenden Klärung. Beide Kontroverspartner werden ihrer Rolle darin gerecht, dass sie die gestellte Frage eindeutig beantworten, und dies gegensätzlich: Während Thyen davon ausgeht, dass der vierte Evangelist die Synoptiker kannte und diese Kenntnis auch bei den Lesenden voraussetzt, spielt Theobald die These durch, dass das Johannesevangelium ein eigenständiger Entwurf ist, der u.a. auf Überlieferungen fußt, die unabhängig von ihrer johanneischen Rezeption auch in die synoptische Tradition eingeflossen sind. Das Johannesevangelium wäre dann nicht mehr notwendig ein „Evangelium der dritten Generation“ und somit mindestens dem Lukas- und dem Matthäusevangelium nicht nach-, sondern beizuordnen. Die abschließende Klärung der Frage im Sinne der Quellenanalyse unterbleibt jedoch bei beiden Autoren, bei Theobald aus der forschungsgeschichtlichen Einsicht heraus, dass bisher keine quellenkritische Hypothese den Textbefund zwingend und restlos auf ihre Seite zu bringen vermochte, bei Thyen dagegen in der Haltung einer fundamentalen Ablehnung einer auf Fragen der Textentstehung fixierten Exegese. Beide Autoren sehen die Gefahr, dass die Quellenfrage zu einer Endlosschleife wird, die ihren Gegenstand (das Evangelium! ) desto gründlicher verfehlt, je detaillierter sie sich mit ihm beschäftigt, jedoch nimmt Thyen dieses methodologische Problem zum Anlass für eine sehr grundsätzliche Problematisierung eines historisch-kritischen Umgangs mit dem biblischen Text. Im Gefolge von Schleiermacher, Gadamer und Levinas konstatiert er eine Diastase von Historie und Wahrheit, die methodologisch zum Oppositum von »Genese« und »Exegese« führt. Eine sachgemäße Auslegung des Johannesevangeliums fragt nicht nach literarischen Vorstadien, sondern sie lässt sich in ein vom Text selbst angestoßenes intertextuelles Spiel mit der ganzen Bibel verwickeln. Die Mitte dieses weiten Horizonts bildet das vierte Evangelium, von dem die divinatorische Interpretation je und je ausgeht, um je und je zu ihm, in dessen Zentrum die Figur Jesu als des fleischgewordenen Logos steht, zurückzukehren, ein Interpretationsgeschehen, das nicht mit der Bultmann’schen Existenzialanalyse seine Grenze im sich selbst verstehenden Subjekt hat, sondern auf das Vernehmen der »fremde[n] und ins Eigene unassimilierbare[n] Stimme des Evangeliums« zielt. Thyen sieht etwa in der frühen Handschriftenüberlieferung, die die kanonischen Evangelien nie einzeln tradiert, einen Hinweis darauf, dass die Synoptiker für das Johannesevangelium einen originären intertextuellen Verweiszusammenhang bilden, und er mag sich nicht von der Quellenanalyse vorschreiben lassen, man müsse ausgerechnet um diesen Bereich - quasi vor der Haustür des vierten Evangeliums - einen Bogen machen. So steht in dieser Kontroverse unversehens viel mehr auf dem Spiel als ein Teilproblem der Johannesexegese. Die Kontroverse zwischen Thyen und Theobald indiziert vielmehr extreme Verschiebungen auf dem Feld elementarer Begriffe der neutestamentlichen Wissenschaft, etwa »Text«, »Geschichte« oder »Wahrheit«. Die gegenseitigen Vorhaltungen - hermeneutische Unbedarftheit auf der einen Seite und die deplatzierte Verabschiedung bewährter wissenschaftlicher Methoden auf der anderen - könnten grundsätzlicher kaum sein. In dieser Zuspitzung mögen die beiden folgenden Beiträge zu einer Neubesinnung auf das Phänomen »Text« das Ihre beitragen. Manuel Vogel Kontroverse Einleitung zur Kontroverse »Kannte Johannes die Synoptiker? « 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 46 ZNT 23 (12. Jg. 2009) 47 Kannte »Johannes« die Synoptiker (oder zumindest einen von ihnen) oder verfasste er sein Werk unabhängig von ihnen? 1 Die Antwort auf diese »Gretchenfrage« der Johannesforschung scheint auch von Stimmungslagen abzuhängen, die kippen können, wenn sich Plausibilitäten unversehens auflösen. Jahrhunderte lang herrschte konkurrenzlos die Abhängigkeitstheorie, bis ihr in den 30er Jahren des letzten Jh.s die Annahme der Unabhängigkeit des Vierten Evangelisten von den Synoptikern den Rang ablief. Schien der errungene kritische Konsens zunächst stabil, so ließ ihn die Löwener Schule um F. Neirynck in den 70er Jahren schon bald wieder kippen, ohne dass die Sachlage freilich wirklich geklärt wurde. 2 Wenn zuweilen die Antworten auf die »Gretchenfrage« Bekenntnischarakter annehmen, dann zeigt das nur, dass die Kluft zwischen den ausweisbaren literarischen Befunden und der jeweiligen Rahmenhypothese, in die sie eingestellt werden, sich letztlich nicht wirklich schließen lässt. Mehr als Wahrscheinlichkeiten sind nicht zu erreichen, so oder so. Vielleicht empfiehlt es sich deshalb auch, der viel grundsätzlicheren Frage: Mit wem ist der Evangelist im Gespräch und worüber? , den Vorrang einzuräumen, und erst, wenn über diese Frage Einverständnis erzielt ist, die diachrone nach der Entstehung des Buches ins Auge zu fassen. 3 1. »… damit ihr glaubt: Jesus ist der Messias, der Sohn Gottes« (Joh 20,31) Texte sind immer in eine Kommunikationssituation eingebettet, auch wenn sie das zuweilen verbergen. Auch das Vierte Evangelium gehört in eine konkrete Situation hinein mit prägnanten Erfahrungen im Hintergrund, die es verarbeitet. Dennoch erhebt sein Autor einen umfassenden Wahrheitsanspruch. Die im »johanneischen Kreis« gemachten Erfahrungen hält er für so grundsätzlich, dass sie auch andere angehen. Mit anderen Worten: Das johanneische Gemeindebuch will nicht nur die eigenen Mitglieder in ihrem Glauben an den Messias und Gottessohn Jesus stärken, es hat darüber hinaus alle möglichen an Jesus glaubenden Leser im Blick - to whom it concerns! 4 Worum geht es? Im Hintergrund steht der Synagogenausschluss der »johanneischen« Christen, der durch ihr Bekenntnis zu Jesus dem präexistenten Gottes- und Menschensohn verursacht wurde. Pharisäische Autoritäten der Synagoge erkannten darin eine blasphemische Verletzung des biblischen Grunddogmas von der Einheit Gottes. Diese Anklage verarbeitet der Vierte Evangelist, indem er mittels der Sendungsvorstellung die Einbettung des Christusglaubens in den Gottesglauben aufzeigt. Dessen Transformation durch die hohe Sohneschristologie, die schon im »johanneischen Kreis« gewachsen sein muss, nimmt er aber nirgends zurück. Ihm liegt es auch fern, die Trennung seiner Gemeinden von der Synagoge zu bedauern. Vielmehr sucht er seine Leserschaft im Gegenteil von der Notwendigkeit ihrer christlichkirchlichen Identität abseits der Synagoge zu überzeugen - zu einer Zeit, in der die Grenzziehungen zwischen Synagoge und messianischen Jesus-Gemeinden keineswegs überall klar waren. Das wirft Licht auf eine oft übersehene johanneische Erzählfigur, die »der vielen (Juden), die an Jesus glaubten«, die siebenmal im Buch begegnet, durchweg im Jerusalem-Kontext (2,23; 7,31; 8,30f.; 10,42; 11,45; 12,11.42). Diesen Juden vertraut sich Jesus nicht an (wie 2,24 programmatisch erklärt), und der Erzähler stellt ihren Glauben auch durchgängig als defizient hin. Diese Erzählfigur steht wohl für messianische Jesus-Gläubige, die nach wie vor an der heiligen Stadt als ihrem geistigen Mittelpunkt festhielten, an Jesus den messianischen Propheten und Wundertäter glaubten und ihre jüdische Beheimatung nicht aufgeben wollten. Ihnen will die dramatische Erzählung des Kontroverse Michael Theobald »Johannes« im Gespräch - mit wem und worüber? 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 47 Kontroverse 48 ZNT 23 (12. Jg. 2009) Evangelisten sagen: Was Jesus widerfuhr, seine Verstoßung als »Gotteslästerer« aus der Tempelgemeinschaft der Juden, das bleibt auch seinen Anhängern in vergleichbaren Situationen nicht erspart (vgl. Joh 9). Das Bekenntnis zu Jesus dem präexistenten Menschen- und Gottessohn, dem wahren und einzigen »Tempel« Gottes in dieser Welt - dieses Bekenntnis begründet eine eigene christliche Identität, die aus der Synagoge herausführen muss. Damit wird die Gesprächssituation des Evangelisten transparent: Er schreibt für seine Gemeinden, die er in ihrem Angefochtensein stützen will durch Klärung ihrer Identität - dies angesichts der keineswegs überall abgeschlossenen Trennungsprozesse zwischen »Kirche« und »Synagoge«. Vom Gründungsgeschehen Jesu zu erzählen ist für ihn ein gemeinschaftsbildender wie identitätsstiftender Akt! 2. Stützt sich der Evangelist im Gespräch mit seinen Lesern auf Referenztexte? 2.1. Der Evangelist steht mit Menschen im Gespräch - auch mit Texten, die seiner Leserschaft und ihm etwas bedeuten und auf die er deshalb um der gemeinsamen Verständigung willen Bezug nehmen muss? Die jüngere Intertextualitätsdebatte lehrt uns, bei dieser Frage Verweissignale auf vorausgesetzte Prätexte zu beachten. Und tatsächlich werden wir beim Vierten Evangelisten in einem Falle fündig, nämlich bei seinem Rekurs auf die »Schrift« in Gestalt markierter Zitate oder Anspielungen. Weil die Schrift für ihn und seine Leserschaft hohe Autorität besaß, musste er auch an ihr den Christus-Glauben bewähren - zumal angesichts ihrer konkurrierenden Beanspruchung durch die Synagoge. Gibt es darüber hinaus weitere Bücher, mit denen er in seiner Jesus-Vita im Gespräch steht? 2.2. Mit den synoptischen Evangelien, meint H. Thyen und erklärt, der Evangelist habe diese nicht nur als Reservoir der Jesus-Erinnerung für die Produktion seines Buches genutzt, sondern auch ein kontinuierliches Gespräch mit ihnen im Buch selbst geführt. Die ersten Rezipienten hätten die Prätexte gekannt und wären deshalb auch in der Lage gewesen, seinem permanenten »intertextuellen Spiel« mit ihnen in allen Variationen möglicher Bezugnahmen zu folgen. 5 Danach ist es das Gespräch mit den Synoptikern, das die Kommunikationssituation des Vierten Evangelisten konstituiert; in ihm verdeutlicht er seine Sicht der Vita Jesu. Zwei Fragen möchte ich an dieses Modell stellen: (a) Synoptisches Lesen konnte die frühe Kirche erst erlernen, als zwei oder mehrere Evangelien (in Kodizes) gemeinsam greifbar wurden, was ab dem 2. Jh. der Fall war - ob gegen Ende des Jh.s oder früher, ist umstritten. Die Frage lautet, ob wir eine analoge Situation schon für die Adressaten des Vierten Evangeliums voraussetzen können oder ob das nicht anachronistisch ist. Wer dieser Annahme dennoch folgt, hat die Beweislast. Gestützt auf Kriterien zur zweifelsfreien Identifikation von Anspielungen auf synoptische Prätexte muss er zeigen, dass der Evangelist diese nicht nur gekannt, sondern auch tatsächlich als ständige Gesprächspartner in seinem Buch mit im Blick hatte. 6 Ansonsten bleibt der Eindruck eines unkontrollierbaren ästhetischen Spiels, das vielleicht für die Nachgeborenen, die das Neue Testament in Händen halten, von spirituellem Nutzen sein mag, aber über die Erstleser nichts verrät. Übrigens war das synoptische Lesen der vier Evangelien in der frühen Kirche keineswegs ein ungetrübter Genuss, sondern nicht selten ein anstrengendes Geschäft. Es gab genug Gegner des Christentums, die die Glaubwürdigkeit der Evangelien dadurch zu erschüttern suchten, dass sie die Widersprüche zwischen ihnen genüsslich vor ihrem Publikum ausbreiteten. (b) Die zweite Frage betrifft grundsätzlich die Idee eines Gesprächs mit den mutmaßlichen Vorgängerbüchern. Setzt diese Idee nicht voraus, dass die Synoptiker für die Adressaten in Geltung standen, weshalb sie der Vierte Evangelist zur Klärung der von ihm favorisierten Perspektive auf die Vita Jesu mit hinzuziehen musste? Schon die Art und Weise, wie Matthäus und Lukas mit ihrer Hauptquelle, dem Markusevangelium, umgehen, rät hier eher zur Vorsicht. Beide strebten - vereinfacht gesprochen - eine »ergänzte und verbesserte Auflage« des Markusevangeliums an, wollten es also ersetzen. Überzeugt davon, dass ihr Buch nun ausreiche, weil es alles Wissenswerte enthielte, waren sie nicht daran interessiert, dass ihre Adressaten das neue Buch mit der »Erstauflage« verglichen. Wenn das Markusevangelium dennoch überlebte, dann nur deshalb, weil es eine 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 48 Michael Theobald »Johannes« im Gespräch - mit wem und worüber? ZNT 23 (12. Jg. 2009) 49 anhängliche Leserschaft besaß, eine starke Lobby - wahrscheinlich die römische Gemeinde, deren Buch es war. Anders bekanntlich das Schicksal der von Matthäus und Lukas geschluckten sog. »Logienquelle«! Sie ging unter, wie die Welt der »Wandermissionare« auch, der sie entstammte. Von hierher wird man die Evangelien-Produktion als einen internen Verdrängungsprozess deuten, als ein Ringen um die bessere und vollständigere Darstellung des Jesusgeschehens sowie die damit verbundene Interpretationshoheit: Welches Buch bringt das Jesusgeschehen wirklich angemessen zur Sprache? Matthäus und Lukas sind je für sich von einer solchen Überbietung des Markus her zu begreifen. Die Frage ist, ob man auch den Vierten Evangelisten in diesen literarischen Verdrängungsprozess mit einbeziehen kann - jetzt möglicherweise sogar angesichts von drei schon vorliegenden Büchern? Dass er das eine oder andere von ihnen gekannt und für sein eigenes Werk genutzt hat, ist nicht von vornherein auszuschließen. Sein eigenes mit seinem gänzlich anderen Profil wäre dann aber keinesfalls eine »ergänzte und verbesserte Auflage« der Vorgänger, sondern eine völlige Neubearbeitung der Thematik. Gesetzt den Fall, er hätte jene oder mindestens einen von ihnen gekannt: Nicht die Absicht, mit ihnen als anerkannten Entwürfen ein Gespräch zu führen, sondern der schlichte Wille, sie zu ersetzen, hätte ihm die Feder geführt. Das Gespräch, das sein Buch bestimmt, weist aber, wie wir oben gesehen haben, in eine ganz andere Richtung. 3. Enthält das Evangelium alles, was die Leser wissen müssen, oder rekurriert es auch auf außertextliche Wissensbestände? 3.1. Halten wir zunächst fest: »(E)ine gezielte intertextuelle Intention im Rückverweis auf die Synoptiker, die im Text verankert wäre«, ist »weniger wahrscheinlich«. 7 Auch der erste Buchschluss 20,30f. belegt eine derartige Intention nicht. Ihm liegt nicht an dem Gegensatz, Jesus habe noch »viele andere Zeichen getan, die nicht in diesem Buch aufgeschrieben sind« (wohl aber in anderen! ), sondern er betont, die »vielen anderen Zeichen«, die er getan habe, seien »nicht aufgeschrieben« (V. 30), im Unterschied zu denen, die auf eine bestimmte Absicht hin (V. 31) von ihm tatsächlich »aufgeschrieben sind«. Die parallele Notiz des (nachträglichen) zweiten Buchschlusses 21,25 bestätigt dies: »Es scheint mir eindeutig«, so M. Frenschkowski, »dass hier der Herausgeber mit dem Selbstbewusstsein auftritt, das einzige Buch über Jesus vorzulegen, das es gibt (denn die anderen sind ja bloß mögliche), und nicht etwa ein weiteres Exemplar einer schon etablierten Gattung Evangelium«. 8 Beiden Stellen liegt derselbe Topos zugrunde: Die unbeschreibliche Fülle dessen, was der Gottessohn auf Erden gewirkt habe, kann das geschriebene Wort nicht ausschöpfen! 3.2. Zuweilen spart der Evangelist in seiner Erzählung Vorgänge aus, über die seine Erstleser anderweitig Bescheid gewusst haben dürften. Deutet das auf ihre Synoptiker-Kenntnis hin, die es ihnen erlaubte, derartige »Leerstellen« zu füllen, wie Prof. Dr. Michael Theobald, Jahrgang 1948, studierte katholische Theologie in Bonn und Münster. 1979 Promotion in Bonn und 1985 Habilitation in Regensburg. Von 1985 bis 1989 Ordinarius für Biblische Theologie an der FU Berlin. Seit 1989 Ordinarius für Neues Testament an der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Tübingen. Zu den Arbeitsschwerpunkten von Prof. Dr. Theobald gehören das Johannesevangelium sowie die neutestamentliche Briefliteratur. Zur Zeit arbeitet er am 2. Bd. seines Kommentars zum Johannesevangelium in der Reihe Regensburger Neues Testament sowie einem Forschungs- und Literaturbericht zum Johannesevangelium in der Reihe Erträge der Forschung (Darmstadt). Weitere Informationen unter: www.kath-theol.uni-tuebingen.de/ Lehrstuehle/ NT/ Prof_Theobald/ index.html. Michael Theobald 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 49 Kontroverse 50 ZNT 23 (12. Jg. 2009) manche Autoren meinen? Bei den beiden zunächst zu nennenden Fällen liegt wohl ein absichtsvolles Verschweigen vonseiten des Evangelisten vor. (a) Dass Johannes Jesus getauft hat, lässt sich der Erzählung Joh 1 nicht entnehmen. Diese teilt lediglich mit, dass der Täufer die Herabkunft des Geistes in Gestalt einer Taube auf Jesus gesehen habe, verschweigt aber die Gelegenheit seiner Vision. Weil die Leser um Jesu Taufe aus mündlicher Tradition gewusst haben dürften (eines literarischen Werks bedurfte es dazu nicht), werden sie in der Lage gewesen sein, in der »Leerstelle« eine (christologische) Absicht des Evangelisten zu erkennen (er selbst wird übrigens die Erzählung von Jesu Taufe in der »Zeichenquelle« vorgefunden haben). (b) Ähnlich liegen die Dinge bei 18,24. Der Evangelist erwähnt zwar eine Überstellung Jesu an den amtierenden Hohenpriester Kajaphas, verschweigt aber mit Absicht, was vor ihm verhandelt wurde (der Prozess gegen Jesus, seit Kap. 5 im Gang, ist längst abgeschlossen! Vgl. 18,20f.). Dabei erwartete er von den Erstlesern, dass sie seine literarische Strategie durchschauten. Wahrscheinlich waren diese über die Inhalte der Verhandlung vor Kajaphas bzw. dem Hohen Rat im Bild. Daraus auf ihre Kenntnis der Synoptiker zu schließen, wäre allerdings kurzschlüssig, da sie von der in 18,24 / 28 ausgesparten Synhedriumssitzung durch die vorjohanneische Passionserzählung gewusst haben werden. Diese enthielt nämlich die Szene, deren Kern der Evangelist mit Bedacht nach 10,24f.36 vorgezogen hat - gemäß seinem Konzept, nach dem die Auseinandersetzungen Jesu mit »den Juden« in den Kapiteln zuvor insgesamt den Prozess enthalten! (c) Drei außertextliche Verweise machen einen etwas aufgesetzten Eindruck. 3,24: »denn er (sc. Johannes) war noch nicht ins Gefängnis geworfen«, scheint ein 3,22f. zuwiderlaufendes Geschichtsbild korrigieren zu wollen, das von einem Nacheinander im Wirken von Täufer und Jesus ausgeht, wie Markus es propagiert (Mk 1,14). Allerdings muss diese Periodisierung nicht durch den ältesten Evangelisten, sie kann auch mündlich vermittelt sein (vgl. Apg 13,24f.). Die externe Analepse 4,44 erinnert an ein früheres Wort Jesu, das dieser in Joh allerdings nie gesprochen hat. Es findet sich ähnlich auch in synoptischer Überlieferung und im Thomasevangelium. Da es mit keiner dieser Fassungen wörtlich übereinstimmt, dürfte es - so die Majorität der Kommentatoren - aus mündlicher Überlieferung stammen. Die Notiz 11,2 weist weniger aus dem Text heraus, als vielmehr nach vorne (12,1-8). Die Glosse soll wohl die Verzahnung der Erzählungen von den drei Geschwistern Lazarus, Maria und Martha vorweg anzeigen. 4. Hat der Vierte Evangelist die Synoptiker (oder zumindest einen von ihnen) benutzt? Ohne Zweifel stimmt das Vierte Evangelium in wichtigen Passagen mit den Synoptikern überein, so dass sich trotz der voranstehenden Überlegungen die Frage nicht umgehen lässt, ob sein Autor sie nicht doch benutzt hat? Um hier klarer zu sehen, bedarf es allerdings einer präzisen Wahrnehmung des Befundes vor allem in struktureller Hinsicht. 4.1. Bei einer Bestandsaufnahme der Synoptiker-Bezüge ist zwischen den literarischen Blöcken und deren Gattungen im Vierten Evangelium zu unterscheiden. Dann ergibt sich ungefähr folgendes Bild: (a) Bei den Täuferüberlieferungen (1; 3,23-30; 4,1f.; 10,40-42) gibt es nur zu 1,19-34* synoptische Parallelen, alles andere ist Sondergut. (b) Nur zu drei der sieben Wundererzählungen existieren synoptische Parallelen, ansonsten ist die johanneische Überlieferung sehr eigen (sie enthält z.B. keine Exorzismen Jesu und erzählt im Unterschied zu den Synoptikern sehr eindrücklich von seinem Wunderwirken in Jerusalem). (c) Von den vielen Worten Jesu besitzen nur sehr wenige synoptische Parallelen. Das johanneische Eigenprofil ist überwältigend: Fehlanzeige bei allen synoptischen Gleichnissen, keine Spur der Bergpredigt, keine synoptischen Streitgespräche, um nur diese Punkte zu nennen! 9 (d) In der Passions- und Osterüberlieferung begegnen die Parallelen zu den Synoptikern gehäuft; auffällig sind die Affinitäten zu Lukas. Dieser Übersicht lässt sich entnehmen: Nähe und Ferne des Vierten Evangelisten zu den Synoptikern bleiben im Verlauf seines Buches nicht konstant auf einem Durchschnittslevel, was bei seiner direkten Abhängigkeit von ihnen zu erwarten wäre, sondern wechseln von Textblock zu 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 50 Michael Theobald »Johannes« im Gespräch - mit wem und worüber? ZNT 23 (12. Jg. 2009) 51 Textblock, von Gattung zu Gattung. Am besten lassen sich diese Schwankungen damit erklären, dass der jeweilige Überlieferungsstrom des Evangelisten für sie verantwortlich ist. Bei den Mono- und Dialogen Jesu strebt die Nähe zu den Synoptikern gegen null. Die vom Evangelisten verarbeiteten »Herrenworte« bestätigen die Eigenständigkeit seiner Überlieferung. Daraus ergibt sich eine wichtige Folgerung für das exegetische Vorgehen: Es wäre verkehrt, wollte man von stark überlieferungsgebundenen Partien, also von der Passions- und Osterüberlieferung oder den Täuferstoffen in Joh 1 her über die Synoptikernähe des Evangelisten generell urteilen. So geht es z.B. auch nicht an, die Speisungs- und Seewandelerzählung 6,1-21 oder die Salbungserzählung 12,3-8 wegen ihrer Nähe jeweils zu Markus zu maßgeblichen Testfällen in dieser Frage hochzustilisieren. Für ein Gesamturteil reichen einzelne Perikopen nicht aus. Dafür müssen alle Textpartien und alle Gattungen des Buches berücksichtigt werden mit der Folge, dass dann die überraschende Divergenz der einzelnen Teile hinsichtlich ihrer Synoptikernähe bzw. -ferne stark ins Gewicht fällt. 4.2. Stützt man sein Urteil auf das Buch insgesamt, dann rücken auch die folgenden strukturellen Befunde angemessen ins Bild: Der Zeitindex der »dramatischen Erzählung« (der jüdische Festkalender als strukturierendes Prinzip) wie der damit zusammenhängende Ortsindex (Galiläa - Jerusalem in mehrfachem Wechsel) weichen vom synoptischen Erzählaufriss völlig ab. Dies unter der Voraussetzung erklären zu wollen, dass der Vierte Evangelist eines oder mehrere der synoptischen Evangelien zum Vorbild hatte, fällt schwer. 4.3. Es gibt eine ganze Reihe von Widersprüchen zwischen dem Vierten Evangelium und den Synoptikern, die zwar wir mit dem Neuen Testament in der Hand als solche ausmachen können, von denen der Vierte Evangelist selbst aber gar nichts zu wissen scheint. Z.B. ist ihm die Vorstellung von der jungfräulichen Geburt Jesu aus dem Geist unbekannt, nach 6,42 ist an Jesu Geburt nicht Besonderes. Nach Mk 1,16-20 erwählt Jesus seine Jünger von sich aus und holt sie aus ihrem Berufsleben heraus, nach Joh 1,35ff. gehen Täufer-Jünger auf Veranlassung ihres Lehrers zu Jesus über, ohne dass hier von der Aufgabe ihres Berufs die Rede ist. Nach den Synoptikern geschieht die Tempelreinigung beim letzten Jerusalem-Besuch Jesu, bei Joh steht sie am Anfang. Nach Mt 10,5f. befiehlt Jesus den Aposteln, Samaria zu meiden, nach Joh 4 missioniert er selbst dort, und zwar höchst erfolgreich usw. »In sämtlichen Fällen«, so zu Recht J. Becker, steht das Evangelium »in gar keinem expliziten Dialog mit den Synoptikern, redet es also ganz selbstverständlich eigenständig«. 10 5. Die Frage nach den Überlieferungen und Quellen des Evangeliums Die Kehrseite der bisherigen Ausführungen ist: So kreativ der Vierte Evangelist insgesamt arbeitet, er schöpft doch auch aus Quellen und mündlichen Überlieferungen. Bewährt hat sich das Modell, das mit drei Komponenten arbeitet: (1) einer wohl schon schriftlich fixierten Passions- und Ostererzählung, 11 (2) der sogenannten »Zeichen-« oder »Wunderquelle« sowie (3) mündlicher Überlieferung (darunter vor allem »Herrenworte«). Dass die »Möglichkeit der Rekonstruktion außersynoptischer schriftlicher Quellen« heute oft »nicht mehr so zuversichtlich« gesehen werde, 12 spricht nicht gegen die Annahme ihrer Existenz, sondern gemahnt nur zur Zurückhaltung überzogenen Rekonstruktionsversuchen gegenüber, welche ihre Hypothetik vergessen machen. Dazu noch zwei Anmerkungen: Wörtliche Übereinstimmungen zwischen dem Vierten Evangelisten und den Synoptikern sind aus der hier verfolgten Perspektive dann unerheblich für die Hypothese direkter Abhängigkeit, wenn sie in fixierten Überlieferungen wie z.B. der (mit Markus in einem gemeinsamen Urahn sich treffenden) Passionserzählung begegnen. Für strukturelle Parallelen genügt die Annahme gemeinsamer mündlicher Erzählzusammenhänge (die oft ins Feld geführten stofflich parallelen Akoluthien in Joh 6 und in Mk 6,32-52 / 8,11-13.27-30.33 sind uneinheitlich [Joh 6,41f. entspricht Lk 4,22], nicht eindeutig und betreffen etwa in Joh 6,69 älteres Material als das bei Mk vorfindliche). »So kreativ der Vierte Evangelist insgesamt arbeitet, er schöpft doch auch aus Quellen und mündlichen Überlieferungen.« 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 51 Kontroverse 52 ZNT 23 (12. Jg. 2009) 6. Mangelnde Plausibilität der Unabhängigkeitsannahme schon aus gattungskritischen Gründen? Die Annahme, dass der Vierte Evangelist die Synoptiker nicht benutzt hat, hat vieles für sich. Dass er zumindest das Markusevangelium irgendwie gekannt oder von seiner Existenz gehört haben muss (was niemand ausschließen kann), scheint aber einigen Forschern schon aus Gattungsgründen das Gegebene zu sein: Markus habe die neuartige Gattung Evangelium geschaffen, der sich der Vierte Evangelist angeschlossen habe. Mir scheint dieses Argument aus verschiedenen Gründen nicht durchzuschlagen: Zum einen gilt nach wie vor (und heute angesichts unserer Einsichten in Entstehung und Bedeutung der alten Passionserzählungen noch viel mehr), dass nicht nur das Markusevangelium »eine Passionserzählung mit verlängerter Einleitung« (M. Kähler) ist, sondern auch und erst recht das Johannesevangelium, in dem der Prozess Jesu vor den jüdischen Autoritäten ja zur Grundfigur der Kap. 2-12 erhoben worden ist - ein völlig anderes Konzept als das des Markus! Warum sollte neben und unabhängig von diesem nicht auch ein weiterer Theologe auf die Idee gekommen sein, den großen Erzählzusammenhang der Leidens- und Ostererzählung - sozusagen den ihnen beiden in ihren Gemeinden vorgegebenen Nukleus der Jesus-Erinnerung! - zu einer »Vita Jesu« auszubauen? Deren Einsatz beim Täufer bzw. der Taufe Jesu war in der allgemeinen Jesus-Erinnerung vorgegeben (neben der Logienquelle vgl. auch Apg 10,37; 13,24f.). Hinzu kommt, dass die Gattung der Biographie, die in unterschiedlicher Ausformung gut in der hellenistischen Literatur etabliert war, für die spezifisch christliche Evangelienwerdung als Drittfaktor durchaus mit veranschlagt werden kann. 7. Konsequenzen der Unabhängigkeitshypothese? Unser Bild von der Abfolge der vier Evangelien ist nach wie vor stark durch die Kanon-Architektur bestimmt, wie sie sich in der antiken Kirche herausgebildet hat: Am Ende steht das »geistliche Evangelium« (Clemens von Alexandrien), das der Zebedaide Johannes in Kenntnis der anderen - ihrer Darstellung Jesu sozusagen seine Innensicht zur Seite stellend - als letzter verfasst hat. Ohne dass der Spieß nun umgedreht und der Frühdatierung des Evangeliums durch J.A.T. Robinson oder K. Berger das Wort geredet werden müsste (11,48 setzt die Zerstörung des Tempels, des heiligen »Ortes«, durch die Römer wohl voraus! ), hat die Unabhängigkeitshypothese aber doch nicht unerhebliche Folgen für die Datierung des Buches. Es ist jetzt zu berücksichtigen, dass die synoptischen Evangelien in seinem Umkreis noch keine Wirkung zeigten. Warum sollte das Vierte Evangelium also nicht zeitgleich mit dem Lukas- oder Matthäusevangelium entstanden sein, was möglich und denkbar ist, seitdem die Forschung auch den Synagogenausschluss der johanneischen Christen vom späteren Jamnia-Prozess und der Neugestaltung der birkat ha-minim abgekoppelt hat? ! Mir scheint, wir müssen hier umdenken! l Anmerkungen 1 Einen Forschungsüberblick bietet J. Frey, Das Vierte Evangelium auf dem Hintergrund der älteren Evangelientradition. Zum Problem: Johannes und die Synoptiker, in: T. Söding (Hg.), Johannesevangelium - Mitte oder Rand des Kanons? Neue Standortbestimmungen (QD 203), Freiburg 2003, 60-118, bes. 61-76. 2 Auch H. Thyen (Das Johannesevangelium [HNT 6], Tübingen 2005) schwimmt im Löwener Fahrwasser, wobei seine Position (siehe unten) nur der Umschlag von einem Extrem (seiner früher exzessiv praktizierten diachronen Literarkritik) ins andere Extrem ist. 3 Das ist meine Weise, der konkreten Streitfrage ihren literarisch-hermeneutischen Ort zuzuweisen. H. Thyen dagegen wird in seinen hermeneutischen Auslassungen derart systematisch und prinzipiell, dass nicht deutlich wird, wie die konkreten Anmerkungen zur Streitfrage am Ende seines Beitrags sich aus jenen ergeben. Schade, dass er sich nicht auf einen Dialog mit mir (entsprechend seiner emphatischen Hermeneutik des Anderen qua Anderen) eingelassen hat. Von »unserer hermeneutischen Differenz« zu reden, scheint mir im Übrigen voreilig und vereinnahmend zu sein. Denn mit ihm bin auch ich der Meinung, dass es auf »die fremde und ins Eigene unassimilierbare Stimme des Evangeliums als »Unser Bild von der Abfolge der vier Evangelien ist nach wie vor stark durch die Kanon- Architektur bestimmt, wie sie sich in der antiken Kirche herausgebildet hat.« 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 52 Michael Theobald »Johannes« im Gespräch - mit wem und worüber? ZNT 23 (12. Jg. 2009) 53 Botschaft« ankommt, denke aber, dass der historischliterarische Zugang notwendig ist, um sie zu erheben. Deshalb verfalle ich aber nicht dem Wahn, der historisch-literarische Zugang würde auch schon über die Wahrheit der Texte befinden; mir liegt vielmehr an einem interdisziplinären Zusammenspiel von exegetischer und systematisch-theologischer Arbeit. - Zur Begründung meiner Position vgl. M. Theobald, Das Evangelium nach Johannes. Bd. 1: Joh 1-12 (RNT), Regensburg 2009. 4 Vgl. R. Bauckham (Hg.), The Gospels for All Christians: Rethinking the Gospel Audiences, Grand Rapids 1997. 5 Mit dieser literar-historischen Erklärung der Genese des Buches bewegt sich H. Thyen auf dem genuinen Feld der diachron arbeitenden historisch-kritischen Exegese, ohne dies freilich zuzugeben. Er verschleiert es nicht nur, sondern verdammt in seinem Kontroversbeitrag sogar den historisch-kritischen Zugang zur Schrift als dem Wahrheitsanspruch der biblischen Texte unangemessen. Was sein Vertrauen in die Synchronie betrifft, sei E. Blum zitiert, der feststellt: »nicht weniger als bei diachronen Analysen stehen Ausleger auch in subtil-poetischen Lesungen des Vorliegenden (sc. Werkes) in der Gefahr, sich Texte ›nach ihrem Bild‹ zu schaffen« (Notwendigkeit und Grenzen historischer Exegese. Plädoyer für eine alttestamentliche »Exegetik«, in: B. Janowski [Hg.], Theologie und Exegese des Alten Testaments / der Hebräischen Bibel. Zwischenbilanz und Zukunftsperspektiven [SBS 200], Stuttgart 2005, 11-40: 32). 6 Diesen Beweis bleibt H. Thyen schuldig. So ist es auch kein Zufall, dass sein Kommentar keine »Einleitung« bietet, in der er klipp und klar die Gründe für seine historisch-genetische Hypothese nennen müsste. Stattdessen werden wir in ein ästhetisches Spiel verwickelt, dessen Voraussetzung - das Vierte Evangelium sei ein »poetisches, durch und durch literarisches« Werk - , nirgendwo begründet wird. Dass diese These, die es seiner außersprachlichen, geschichtlichen Bezogenheit beraubt, im Widerspruch zu seinen Darlegungen zu Joh 1,14 im vorliegenden Beitrag steht, scheint ihm entgangen zu sein. 7 S. Schreiber, Kannte Johannes die Synoptiker? Zur aktuellen Diskussion, VuF 51 (2006), 7-24: 23. 8 M. Frenschkowski, TA BAIA TΩN ΦOINIKΩN (Joh 12,13) und andere Indizien für einen ägyptischen Ursprung des Johannesevangeliums, ZNW 91 (2000), 212-229: 218 (mit Hinweis auf die damit kontrastierende Passage Lk 1,1-4! ). 9 Vgl. insgesamt M. Theobald, Herrenworte im Johannesevangelium (HBS 34), Freiburg etc. 2002. 10 J. Becker, Das vierte Evangelium und die Frage nach seinen externen und internen Quellen, in: Fair Play. Diversity and Conflicts in Early Christianity (FS H. Räisänen) (NT.S 103), Leiden 2002, 217. 11 Vgl. zuletzt nachdrücklich F. Schleritt, Der vorjohanneische Passionsbericht. Eine historisch-kritische und theologische Untersuchung zu Joh 2,13-22; 11,47- 14,31 und 18,1-20,29 (BZNW 154), Berlin etc. 2007. 12 So Frey, Evangelium, 78, wobei auch er mit vorjohanneischen Überlieferungen rechnet. Umfassende Einführung in das Gesamtwerk: Karl-Josef Kuschel Walter Jens. Literat und Protestant Aktualisierte Neuausgabe Mit einem bisher unveröffentlichten Text von Walter Jens: Über die Freude. Schiller und Beethoven 2008,248 Seiten, €[D] 24,90/ SFr 44,00 ISBN 978-3-89308-405-0 Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen · Fax (07071) 979711 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 53 54 ZNT 23 (12. Jg. 2009) »... Doch ›Gott ist tot‹ heißt Ende der Auslegungen, der Erklärungsfunktion von Mythen, Geschichten, Symbolen an der Universität; Tod der sinntragenden Buchstaben, Tod dessen, was man allgemein - aber auch sehr exakt - Heilige Schriften nennen kann. Aufgrund einer bemerkenswerten Ausnahmeregelung blieben einige olympische Mythen von der Entmythologisierung verschont, thronen, wie der Ödipus-Mythos, weiterhin dort oben, regen das Denken an, zu neuen Dimensionen vorzustoßen, und ›geben zu denken‹. Doch eine Exegese der Heiligen Schrift als ganzer findet nicht mehr statt. Statt ihrer Exegese betreibt man das Studium ihrer Genese. Man sucht nach ihrer Ursache, Urformel oder Struktur, als gehörte sie in den Bereich ethnologischer Tatsachen.« 1 Der Titel dieses Essays kann zugleich als Motto und Quintessenz meines Johanneskommentars angesehen werden. Da ich vieles an der Art meiner Lektüre dieses Evangeliums dem Werk des großen jüdischen Philosophen Emmanuel Levinas verdanke, soll der mit dem folgenden Zitat aus seinem Artikel Judaisme aus der Encyclopaedia Universalis sogleich noch einmal zu Wort kommen: »Das Ausnahmewesen des Judentums - niedergelegt in quadratischen Buchstaben (der hebräischen Schrift) und den Gesichtern der Lebenden Klarheit gebend, indem es zugleich alte Lehre und Zeitgeschichte ist - läuft es nicht Gefahr, eine mythische Vision nahezulegen, deren Spiritualität zugleich der Analyse zugänglich bleibt? Die objektive Wissenschaft - Soziologie; Geschichte, Philologie - ist bemüht, das Ausnahmewesen auf eine Regel zurückzuführen. Die okzidentalen Juden waren die Initiatoren dieser Forschung. Der Theologisch-politische Traktat Spinozas am Ende des 17. Jahrhunderts begann mit der kritischen Lektüre der Schriften. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts transformierten in Deutschland die Begründer der berühmten Wissenschaft des Judentums die Heiligen Schriften in bloße Dokumente. Die Paradoxien eines unvergleichlichen Schicksals und einer absoluten Unterweisung wurden leicht in die wissenschaftlichen Kategorien eingereiht, die für alle spirituellen Realitäten und für alle anderen menschlichen Partikularismen bereitgestellt wurden. Alles erklärt sich durch Ursachen. Vieles Ursprüngliche löst sich auf in Einflüsse, die methodisch erforscht und entdeckt werden. Das Judentum geht daraus vielleicht bewusster über seine Geschichte hervor, aber zugleich stets unsicherer über seine Wahrheit. Allerdings kann man sich fragen, ob die wissenschaftliche Thematisierung einer spirituellen Bewegung uns ihren wahren Beitrag und ihre wahrhafte Deutung eröffnet. Zeigt die Weisheit ihr Inneres und gibt sie ihr Geheimnis preis, wenn sie nicht die Kraft besessen hat, als Botschaft zu ertönen oder als Ruf zu ergehen? Das jüdische Bewusstsein findet - trotz der Vielfalt der Formen und der Niveaus, in denen es existiert - seine Einheit und seine Einzigkeit in den Stunden der großen Krisen wieder, wenn die ungewöhnliche Verbindung von Texten und Menschen, die öfters die Sprache dieser Texte nicht kennen, sich im Opfer und in der Verfolgung erneuert. Die Erinnerung an diese Krisen dient als Nahrung für die Zwischenzeiten der Ruhe.« 2 Ich denke, was Levinas hier über die berühmte Wissenschaft des Judentums sagt, gilt mutatis mutandis auch von der gegenwärtigen protestantischen Theologie, soweit auch in ihr die Heiligen Schriften zu bloßen Dokumenten und Gegenständen wissenschaftlicher oder psychologischer Analysen verkommen sind und im Anschluss an Spinozas Traktat die historisch-kritische Methode zur Heiligen Kuh des Exegeten geworden ist. Die historistische Devise: »Etwas zu verstehen, heiße zu verstehen, wie es geworden ist«, hat Herbert Schnädelbach darum völlig zu Recht den morbus hermeneuticus genannt. 3 In eben diesem Sinn hatte Karl Barth einst gefordert: »Kritischer müssten mir die Historisch-Kritischen sein« und die historische Frage nach der möglichen Genese der biblischen Bücher als eine Arbeit bezeichnet, »die vorher zu tun ist«. In ähnlichem Sinn hatte schon Nietz- Kontroverse Hartwig Thyen Das Johannesevangelium als literarisches Werk und Buch der Heiligen Schrift 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 54 Hartwig Thyen Das Johannesevangelium als literarisches Werk und Buch der Heiligen Schrift ZNT 23 (12. Jg. 2009) 55 sche derart »genetische Kurzschlüsse«, als sei die Wahrheit einer Sache identisch mit deren Entstehung und nur mit dieser aufzuklären, als »historische Krankheit« diagnostiziert. 4 Dieses Problem hat auch Christian Link sehr klar erkannt: »Soll also der Theologie der Durchbruch in die eigene Gegenwart gelingen, so muss sie mehr sein als historische Theologie. Aus der Geschichte erklären, auf sie gleichsam abschieben lässt sich ja alles, gerade auch die biblischen Aussagen. Solches ›Historisieren‹ aber bedeutet allemal, sich den verbindlichen Charakter von Aussagen, ihren Wahrheitsanspruch, vom Leib zu halten.« 5 Link zitiert dazu Gadamer: »Der Text, der historisch verstanden wird, wird aus seinem Anspruch, Wahres zu sagen, förmlich herausgedrängt.« 6 Damit komme ich zum entscheidenden Punkt meiner Kritik an der historischen Kritik und des naiven Vertrauens in ihre Leistungsfähigkeit. Wie wir seit der Wiederentdeckung und Interpretation des Schleiermacherschen Werkes durch Manfred Frank wissen, verdankt sich jede Interpretation überlieferter und zumal literarischer Texte der erratenden Divination ihrer Interpreten. Das Angewiesensein auf solche ingenuity und ihre Ausübung ist darum kein Mangel, den man als vorwissenschaftlich zu beklagen hätte, sondern nichts weniger als die Bedingung der Möglichkeit jeglicher Interpretation überhaupt. Erst, wo die Intention des Autors von den Zeichen seiner Schrift abgesprungen ist, sind sie frei, durch ihre Leser mit neuen Interpretanten besetzt und so verstanden zu werden. 7 Eine unfehlbare wissenschaftliche Methode, einen Text im Geiste der neuzeitlichen Analyse adäquat zu verstehen, ist nicht denkbar. Denn alle Texte sind stets die Summe ihrer möglichen Deutungen, deren Zahl unvorhersehbar ist. Sie appellieren an die Freiheit ihrer Leser, ihren toten Zeichen divinatorisch Sinn und neues Leben einzuhauchen. Wohl können aufgrund der grammatischen Verfasstheit von Texten methodisch unmögliche Deutungen ausgeschlossen werden. Doch auch die Überprüfung der nach Graden zu unterscheidenden Plausibilität möglicher Interpretationen ist deshalb nicht subjektiver Willkür ausgeliefert, sondern bedarf angemessener Verfahren. Deshalb »lassen sich Textauslegungen zwar motivieren, aber keineswegs, wie Schleiermacher sagt, ›mechanisieren‹. Man muss alsdann die Illusion eines ursprünglichen, mit sich identischen Textsinnes fahrenlassen und sehen, dass Text und Interpretation nicht zwei Seiten einer teilbaren Arbeit - der Produktion und der Rezeption - sind, sondern dass bereits die im Text selbst verwobenen Ausdrücke nur kraft einer Interpretation bestehen, d.h. den Status von Zeichen erwerben. Nicht die Auslegung verfehlt also - wie es die Theoretiker einer objektiven Interpretation (Betti, Hirsch u.a.) wollen - den ursprünglichen Sinn der Textäußerung; der Text selbst besitzt Sinn nur hypóthesin, nur vermutungsweise«. 8 Für jede individuelle Sprachäußerung (parole) - und das heißt zumal: für jeden literarischen Text - gilt, dass allein in ihnen Sprache wirklich existiert. Abgesehen davon ist Sprache (langue) nur ein stummes, abstraktes und bloß virtuelles Regelsystem. Obwohl jeder Sprecher und Hörer natürlich Prof. Dr. Hartwig Thyen, Jahrgang 1927, studierte von 1947 bis 1951 Evangelische Theologie zunächst in Mainz und seit 1948 in Marburg. 1951 Erstes Theologisches Examen vor dem Oberkirchenrat der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Oldenburg. 1953 Zweites Theologisches Examen in Oldenburg und Promotion zum Doktor der Theologie unter der Ägide von Rudolf Bultmann in Marburg. Seit 1951 zunächst Vikar und danach Pastor in Brake / Unterweser und von 1959-1963 Militärpfarrer in Oldenburg. Seit 1963 Wissenschaftlicher Assistent in Heidelberg, 1966 Habilitation ebd. anschließend ebd. Privatdozent und seit 1967 Professor. Im Oktober 1992 pensioniert. Zu seinen jüngsten Buchveröffentlichungen zählen: Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübingen 2005 sowie Studien zum Corpus Iohanneum (WUNT 214), Tübingen 2007. Hartwig Thyen 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 55 Kontroverse 56 ZNT 23 (12. Jg. 2009) notwendig den Regeln der Sprache folgen muss, wenn er verstanden werden will, so kann doch seine individuelle und schöpferische Anwendung der Regeln nicht ihrerseits wiederum von Regeln bestimmt sein. Darum ist natürlich auch das Verstehen literarischer Texte nicht normierbar. Es gibt dafür keinen Code, der bloß decodiert werden müsste. Das literarische Werk lässt sich vielmehr nur begreifen als Appell an das von seinem Autor vorausgesetzte und zugemutete freie und schöpferische Verstehen des Lesers, der, angeleitet von seinen graphischen Zeichen und der Art ihrer Verknüpfung, ihren Sinn erraten muss. Dieses Erraten nennt Schleiermacher divinieren. Obgleich alle literarischen Werke als den Regeln der Sprache und der literarischen Konventionen ihrer Zeit folgernde Produkte natürlich auch besondere Fälle des Allgemeinen der Literatur sind, sind sie doch zugleich und unaufhebbar Individuen, wie ihre Autoren, und als solche »keinem Begriff zu unterwerfen und jeder Definition entzogen«. 9 Hatte Levinas in seinem oben vorangestellten Artikel über das Judentum zu der Auflösung der Heiligen Schriften in bloße Dokumente geäußert, dass das Judentum daraus »vielleicht bewusster über seine Geschichte ... aber zugleich stets unsicherer über seine Wahrheit« hervorgegangen sei, und gefragt, ob die Weisheit denn ihr Inneres zeige und ihr Geheimnis preisgebe, »wenn sie nicht die Kraft besessen hat als Botschaft zu ertönen oder als Ruf zu ergehen«, so ist diese Frage auch an die gegenwärtig weithin auf eine zur »Wissenschaft des Christentums« reduzierte christliche Theologie zu richten. Auch von ihr muss gelten, dass nur da, wo die fremde und ins Eigene unassimilierbare Stimme des Evangeliums als Botschaft ertönt und als Ruf ergeht und mit dem Glauben beantwortet wird, sie jeden, der Ohren hat zu hören, von den Fesseln der eigenen Vergangenheit und Schuldverfallenheit zu befreien vermag. 10 Ist das richtig, dann darf man aber die Frage nach der Wahrheit des Evangeliums und deren Begründungsanspruch nicht einfach mit derjenigen nach dem »legitimen Selbstverständnis« identifizieren, wie Bultmann das unter Berufung auf Heidegger unternimmt. Wobei freilich zu beachten ist, dass Heidegger schon in Sein und Zeit im Interesse am Sein darum bemüht ist, die idealistische Subjektivität hinter sich zu lassen, während Bultmann geradezu umgekehrt die existentialen Strukturen des Daseins zur Konstruktion einer Anthropologie der transzendentalen Subjektivität benutzt. Aber die freimachende Wahrheit, von der Johannes redet (8,31ff.), liegt nicht am Grunde eines durch seine ontologische Zirkelstruktur determinierten Seienden, dem es als In-der-Welt sein »um sein Sein selbst, um seine Eigentlichkeit und Identität mit sich ginge«, sondern vielmehr in dem unvorhersehbaren äußeren Wort, das in Jesus Fleisch geworden ist und diesen vitiösen Zirkel heilsam sprengt: »Nicht der Sinn unserer Existenz, sondern die Erfahrungen, die der Glaube an Jesus macht, werden im Johannesevangelium besprochen. Diese Erfahrungen sind Erfahrungen mit dem Wort, auf das der Glaube gehört hat, und gehören insofern zu der eschatologischen Existenz in Gott« 11 Die in Joh 1,14 redenden Wir-Akteure bezeugen, dass diese Wahrheit nirgendwo anders wahrzunehmen ist als an der Gestalt und Geschichte des fleischgewordenen Logos, des jüdischen Mannes Jesus. Von ihm sagen sie: »Und wir sahen seine Herrlichkeit, voller Gnade und Wahrheit«. Darum ist die Wahrheit, von der der Prolog spricht und die das Evangelium entfalten wird, nicht eine jenseitige göttliche Wirklichkeit im Gegensatz zu der bloßen »Scheinwirklichkeit« der phänomenalen Welt, wie Bultmann 12 - und ganz ähnlich Dodd 13 - interpretieren, sondern die höchst diesseitige und konkrete Wirklichkeit und Wirksamkeit des Juden Jesus. Diese jedem philosophischen Wahrheitsbegriff - sei er nun griechischer oder hellenistisch-gnostischer Provenienz - schlechthin skandalöse Implikation der Aussage von der Fleischwerdung des Logos und ihr buchstäbliches Paradox besteht doch darin, dass hier von einem zufälligen Moment der Geschichte, nämlich von dem Auftreten der unverwechselbar singulären »Das literarische Werk lässt sich vielmehr nur begreifen als Appell an das von seinem Autor vorausgesetzte und zugemutete freie und schöpferische Verstehen des Lesers, der, angeleitet von seinen graphischen Zeichen und der Art ihrer Verknüpfung, ihren Sinn erraten muss.« 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 56 Hartwig Thyen Das Johannesevangelium als literarisches Werk und Buch der Heiligen Schrift ZNT 23 (12. Jg. 2009) 57 Person Jesu behauptet wird, sie sei die ewige Wahrheit (14,6). Von den frühen Apologeten an über Origenes und die ihm folgenden Logos- Theologien sowie die Spekulationen über die zwei Naturen Christi bis hin zu Lessings schroffem Diktum, dass »zufällige Geschichtswahrheiten der Beweis von notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden« können, liegt hier das ungelöste Problem. Haben die Logos-Theologen argumentiert, der historische Christus sei allein darum die ewige Wahrheit, weil er als der Logos Gottes zugleich auch derjenige der Schöpfung sei, so würde die Wahrheit nicht durch die Inkarnation in fundamentaler Weise allererst gestiftet, wie das »er wurde« (gr. egéneto) von 1,14 und 1,17 unüberhörbar erklärt, sondern der Inkarnierte wäre lediglich der Offenbarer einer präexistenten Wahrheit. 14 Im Prinzip urteilt noch Bultmann ganz ähnlich wie der Metaphysiker Origenes, auch wenn er Lessings Frage in der existenz-dialektischen Modifikation Kierkegaards aufnimmt. Zunächst ermäßigt er dazu die Behauptung der absoluten Bedeutung eines zufälligen historischen Ereignisses - das Skandalon für alles aus Prinzipien konstruierende Denken! - dadurch, dass er Jesus aller konkreten Züge seines irdischen Daseins und Weges entkleidet und ihn auf das leere Abstraktum des »Bloßen-Dass-seines-Gekommenseins« reduziert. Und sodann reduziert er die schöpferische Macht Jesu als des fleischgewordenen Logos dadurch, dass er ihr fundamental-ontologisch die Bedingung ihrer Verstehbarkeit vor-ordnet: »Das Kerygma ist als Kerygma nur verständlich, wenn das durch es geweckte Selbstverständnis als eine Möglichkeit menschlichen Selbstverständnisses verstanden wird.« 15 Für diese Möglichkeit beruft er sich auf den Johannesprolog: »Der Prolog aber sagt, dass die Bedeutung, die der Logos als Fleischgewordener hat, ihm von je eigen war: er war das Licht der Menschen. Und wenn er dies war als der Schöpfer, als die zoé (das Leben), so heißt das, dass in dem Ursprung der Existenz die Möglichkeit der Erleuchtung der Existenz, das Heil des definitiven Verständnisses ihrer selbst, gegeben war. Die Schöpfung ist zugleich Offenbarung, sofern das Geschaffene die Möglichkeit hatte, um seinen Schöpfer zu wissen und so sich selbst zu verstehen«. Bezeichnenderweise muss Bultmann zu dieser Prologlektüre aber anmerken: »Vorausgesetzt sind im Grunde die Gedanken, die im Sinne der Quelle in V.5.9-11 ausgesprochen waren«. Diese vermeintlich gnostische Quelle des Johannesprologs erscheint mir wie Bultmanns gesamte literarische Theorie der Genese des vierten Evangeliums höchst fragwürdig. 16 Aber wird hier nicht aus der Not eine Tugend gemacht? Wird hier nicht die schmerzliche Grenzerfahrung, dass ich das Anderssein des Anderen immer nur - und auch das nur hypothetisch! - in dem Maß zu begreifen vermag, indem er es mir gerade erschließt, kurzschlüssig zum hermeneutischen Prinzip allen geschichtlichen Verstehens gemacht? Wenn aber gerade dieses Unbegreifliche und Fremde, dieses Unsagbare und auf keine Weise ins Eigene auflösbare Andere des Anderen die eigentlich bewegende Kraft aller Geschichte ist 17 und hermeneutischer Klärung bedarf, dann ist dieses »hermeneutische Prinzip« Bultmanns ebenso wie jedes andere Prinzip ausgesprochen kontraproduktiv, weil es sich in letzter Konsequenz das Andere unterwirft und ins Selbe und Eigene auflöst. 18 Diese Einsicht von E. Levinas muss dann aber auch der fremden, fernen und unassimilierbaren Stimme unseres Evangeliums gegenüber gelten. Denn Jesus ist in ihm der Logos nicht als dem Bewusstsein immanentes Prinzip, sondern als die - durch das literarische Werk Johannesevangelium vermittelte - liebende Stimme des Schöpfers, demgegenüber gilt: »Heute, so ihr seine Stimme höret, so verstocket euer Herz nicht« (Ps 95,3). Solches Hören und Hörenkönnen entspringt nicht der Intentionalität des Bewusstseins und nicht dem Können eines Daseins, dem es als In-der- Welt-Sein um sein Sein selbst ginge, sondern es wird allererst durch das Sagen des Anderen zum Ich erweckt und unterhalten: »Die Herrlichkeit verherrlicht sich durch den Ausgang des Subjekts aus den dunklen Winkeln seiner Selbstbezogenheit, die - wie die Büsche des Paradieses, in denen Adam sich versteckte, als er die Stimme des Ewigen vernahm, der von Osten von dorther, wo der Tag anhebt und das Licht, durch den Garten kam - eine Ausflucht bieten angesichts der Vorladung, durch die die Stellung des Ich am Anfang und selbst die Möglichkeit des Ursprungs ins Wanken geraten. Die Herrlichkeit des Unendlichen ist die anarchische Identität des Subjekts, des Aufgescheuchten, Vertriebenen, der sich seiner Vertreibung nicht entziehen kann, ich, zur Aufrichtigkeit gelangt, indem ich dem Anderen - für den ich und vor 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 57 Kontroverse 58 ZNT 23 (12. Jg. 2009) dem ich verantwortlich bin - Zeichen gebe von ebendiesem Zeichengeben, das heißt dieser Verantwortung: ›hier, sieh mich! ‹ Sagen vor allem Gesagten, Zeugnis der Herrlichkeit. Zeugnis, das wahr ist, aber von einer Wahrheit, die nicht rückführbar ist auf die Wahrheit der Enthüllung und die nichts Sichtbares berichtet. Sagen ohne noematische Korrelation, im reinen Gehorsam gegenüber der Herrlichkeit, die gebietet ohne Dialog, in einer Passivität, die von vorneherein dem ›hier, sieh mich! ‹ untersteht …«. 19 Dass solches von dem anarchisch Gehörten selbst allererst gestiftete Hören und Hörenkönnen aller Reflexion als der Stoff, ohne den sie buchstäblich nichts zu beißen hätte, immer schon vorausgeht und sie umfängt, hatte schon Hamann in seiner Metakritik der Kritik der reinen Vernunft Kants gegen dessen bis in Bultmanns »existentiale Metaphysik« (Bayer) wirksam gebliebene unselige Trennung der reinen von der praktischen Vernunft geltend gemacht und gegen Kants Rede von der selbstverschuldeten Unmündigkeit als die Herrschaftsgebärde einer »selbstverschuldeten Vormundschaft« bloßgestellt. In seinem Setzen auf das äußere Wort und seine festen Buchstaben als das allem Denken notwendige historische und als solches »unreine Apriori« hat er damit auf seine Weise bereits den »linguistic turn« der Philosophie unseres Jahrhunderts antezipiert. 20 - In seinen beiden Essays Towards a Hermeneutic of the Idea of Revelation und The Hermeneutic of Testimony hat Paul Ricœur eindrucksvoll erwiesen, dass alle Reflexion immer schon durch ein Universum von Zeichen vermittelt und darum nie ursprünglich, sondern stets eine solche »zweiter Ordnung« ist. Darum ist das Hören auf das fremde Wort des Anderen auch nicht der regressive Verzicht auf Autonomie und auf das Wagnis, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, sondern im Gegenteil gerade die Bedingung von deren Möglichkeit. Durch die Kategorie des »Zeugnisses« hat Ricœur in seine Hermeneutik die Dimension historischer Kontingenz eingeführt, die seinem trans- oder ahistorischen Konzept der »Welt des Textes« als dem Gegenstand der Interpretation noch gefehlt hatte. Dadurch, dass es ein zufälliges Moment der Historie mit absoluter Bedeutung bekleidet, stellt erst das Zeugnis die Reflexion vor das Paradox. Doch zum unüberwindlichen Skandal wird dieses Paradox erst einem Bewusstsein, das sich in der illusionären Prätention sonnt, sich selbst begründen und mit sich identisch werden zu können. Aber »this paradox ceases to be a scandal as soon as the wholly internal movement of letting go, of abandoning the claim to found consciousness accepts being led by and ruled by the interpretation of external signs which the absolute gives of itself. And the hermeneutic of testimony consists wholly in the convergence of these two exegeses: the exegesis of self and the exegesis of external signs«. 21 Als Frucht seiner breiten und tiefgründigen Auseinandersetzung mit dem Werk S. Freuds 22 ist Ricœur jedoch genötigt, sowohl die überzogenen Prätentionen des Selbst als auch deren Entsprechungen im Gottesbild als Illusionen der Kritik zu unterwerfen. »Reden wir vom Menschen und von seinen reflexiven Erfahrungen, dann benennen wir den menschlichen Wunsch zu sein (le désir d’être)«. Ricœur schaltet damit die ontologische Reflexionsebene nicht einfach aus. Die Kernsätze der Ontologie sind aber Sätze des Wunsches und allenfalls Sätze über die Möglichkeit. Die Möglichkeit innerhalb des Wunsches zu sein, wird aber der Abarbeitung in vollständige Gewissheit entzogen. Die Sätze der Ontologie werden zugleich bestätigt als Sätze über die Illusion. 23 Darum fordern die beiden genannten ›Exegesen‹ - nämlich diejenige des Selbst und diejenige der ›Zeichen des Absoluten‹ - einander zu wechselseitiger Kritik heraus: Zur Illusionskritik der überzogenen Prätentionen des Selbst einerseits und zu einer Kriteriologie des Göttlichen auf den Spuren der biblischen Frage nach dem wahren im Unterschied zum falschen Propheten, sowie der Forderung: »Prüfet die Geister! « (1Joh 4,1) andererseits. Allein die hier geforderte Konvergenz und wechselseitige Kritik dieser beiden Exegesen vermag auch zu verhindern, dass die existentiale Interpretation Bultmanns von einem dienenden Mittel zum Ziel der Interpretation wird. Dadurch verkennt sie ihr Beschränktsein auf das existential Analogisierbare verkennt und damit zum Instrument der Herrschaft über das nicht analogisierbare Zeugnis des Anderen gerät. 24 Nach diesen breiten, aber notwendigen Ausführungen zur Hermeneutik meiner integrativen Lektüre des vierten und letzten unserer kanonischen Evangelien, die die Redaktion der ZNT aber ausdrücklich erbeten hat und deren Praxis 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 58 Hartwig Thyen Das Johannesevangelium als literarisches Werk und Buch der Heiligen Schrift ZNT 23 (12. Jg. 2009) 59 ich in meinen Kommentar im Detail vorgeführt habe, 25 muss jetzt noch ausdrücklich von der Frage Johannes und die Synoptiker die Rede sein. Da die Kontroverse zur üblichen und auch von Herrn Kollegen Theobald reproduzierten These der Unabhängigkeit des vierten Evangeliums von seinen drei synoptischen Vorläufern bereits in unserer hermeneutischen Differenz grundgelegt ist, kann ich mich jetzt auf einige Thesen zum Thema beschränken: 26 1. Schon im ältesten Textzeugen unseres vierten Evangeliums, in dem Papyrus p 66 , erscheint die seltsame Unterschrift (subscriptio) »Evangelium nach Johannes«. Analoge Zuschreibungen - sei es als Überschrift (inscriptio) oder sei es am Ende als subscriptio -, nämlich Evangelium nach Matthäus, nach Markus, nach Lukas und nach Johannes, zeichnen alle vier kanonischen Evangelien aus. Sie müssen der Feder eines nicht unvermögenden Herausgebers und Verlegers unseres Vier-Evangelien-Kanons entstammen, der durch diese einheitlichen Bezeichnungen zum einen das Wort Evangelium zum Namen einer literarischen Gattung gemacht und zum anderen die vier Evangelien voneinander unterscheidbar und damit zitierbar gemacht hat. 2. Schon weil dann die literarische Gattung Evangelium zufällig mindestens gleich doppelt geschaffen worden sein müsste und weil wir zudem keine einzige Evangelien-Handschrift kennen, die nur eines unserer kanonischen vier Evangelien enthielte, ist mir die Unabhängigkeit des Johannesevangeliums von seinen drei synoptischen Vorläufern höchst fragwürdig. 3. Martin Hengel vermutet, dass schon die Urschrift unseres Evangeliums die Subscriptio Evangelium nach Johannes enthalten habe. 27 Ich muss das bezweifeln. Denn in den Anspielungen auf die Person des Evangelisten in der Gestalt des Jüngers, den Jesus liebte, die das ganze Evangelium von seinem ersten Kapitel an durchziehen und erst in seinem Epilog (Joh 21) zum Ziel kommen, sieht Overbeck treffend »zwei ganz entgegengesetzte Interessen des Verfassers unzertrennlich ineinandergeflochten, von denen das eine darauf ausgeht, uns den Evangelisten ebenso sicher zu verbergen, wie das andere, ihn uns erraten zu lassen«. 28 4. Ich betrachte das Johannesevangelium darum als ein anonymes Pseudepigraph, das heißt als ein Buch, das als Denkmal für einen verfasst wurde, der in der Nachfolge seines Herrn als Märtyrer gestorben ist (Mk 10,35ff.). Die alten Väter haben dessen Namen richtig erraten. Aber sie haben nicht beachtet, dass der Zebedäussohn Johannes wegen seines frühen Martyriums nicht der reale, sondern nur der fiktionale Autor unseres Evangeliums sein kann. 5. Johannes der Täufer wird als »von Gott gesandter Mann namens Johannes« - sein verbreiteter Beiname Der Täufer wird im Johannesevangelium nirgendwo genannt - gleich im Prolog als der von Gott autorisierte Zeuge Jesu eingeführt. In der Nachfolge dieses Johannes, der über den, der nach ihm kommen sollte, über Jesus, bezeugt hatte: »Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen«, hat sich der reale Evangelist bis zur völligen Selbstaufgabe in die von ihm geschaffene Figur des geliebten Jüngers, des geheimen Namensvetters jenes Johannes, und in sein Werk entäußert. 29 Damit hat er dem Wort Umberto Ecos entsprochen, der »Texte Maschinen zur Erzeugung von Bedeutungen« nennt und erklärt: »Der Text ist da und produziert seine eigenen Sinnverbindungen ... Der Autor müsste das Zeitliche segnen, nachdem er geschrieben hat, damit er die Eigenbewegung des Textes nicht stört.« 30 Und auch die primären Erstleser befinden sich dem objektiven Text gegenüber in keiner grundsätzlich anderen Lage als alle späteren. »Denn in Wirklichkeit kann keine Theorie der hermeneutischen Legitimation legitim sein, außer durch den Prozess des hermeneutischen Lesens. Am Ursprung der hermeneutischen Praxis steht ein Zirkel und es ist ganz unerheblich, wie heilig oder wie vitiös er ist.« 31 6. Ist schon für die synoptischen Evangelien, deren ältestes wohl schwer bestreitbar das Markusevangelium ist, mit dessen Text Matthäus und »Schon weil dann die literarische Gattung Evangelium zufällig mindestens gleich doppelt geschaffen worden sein müsste und weil wir zudem keine einzige Evangelien-Handschrift kennen, die nur eines unserer kanonischen vier Evangelien enthielte, ist mir die Unabhängigkeit des Johannesevangeliums von seinen drei synoptischen Vorläufern höchst fragwürdig.« 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 59 Kontroverse 60 ZNT 23 (12. Jg. 2009) Lukas intertextuell spielen, das Modell der älteren Formgeschichte, wonach diese als die evolutionären Produkte von Kollektiven innerhalb eines breiten Prozesses der mündlichen Weitergabe von Jesusüberlieferung quasi naturwüchsig entstanden sein sollen, höchst problematisch, 32 so erscheint es mir gänzlich unmöglich, in Analogie dazu für einen derart poetischen und durch und durch literarischen Text wie unser Johannesevangelium eine ähnlich kollektive Vorgeschichte konstruieren zu wollen. In der Mündlichkeit folkloristischer Überlieferung gibt es den einen fixierbaren und idealen Urtext zudem überhaupt nicht. Der existiert vielmehr nur virtuell und jede seiner neuen Realisierungen durch mündlichen Vortrag ist auf ihre Weise ein neuer »Urtext«. l Anmerkungen 1 Emmanuel Levinas, Außer sich. Meditationen über Religion und Philosophie. München/ Wien 1991, 81. 2 Aus dem französischen Original übersetzt von B. Taureck in: ders., Levinas zur Einführung. Hamburg 1991, 15f. 3 Vgl. H. Schnädelbach, Vernunft und Geschichte (stw 683), Frankfurt 1987, wo der Autor Variationen über die hermeneutische Maxime vorträgt, wonach »Etwas verstehen heiße, verstehen, wie es geworden ist« (125- 151). Ebd. 126 zitiert er A. von Feuerbach: »Die Geschichte erklärt nur, wie etwas nach und nach geworden ist, wie und was dieses Etwas sei, lehrt die Geschichte nicht. Was der Geschichte angehört, ist dem Leben abgestorben«. 4 F. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Kritische Gesamtausgabe, 8. Abt, I. Band, Berlin / New York 1974, 209-284. 5 Chr. Link, In welchem Sinn sind theologische Aussagen wahr? , EvTh 42 (1982), 518-540: 525. 6 H.G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 2. Aufl., Tübingen 1965, 287. 7 M. Frank, Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und -interpretation nach Schleiermacher, Frankfurt 1977; ders. (Hg.), Schleiermacher. Hermeneutik und Kritik (stw 211), Frankfurt 1977; ders. (Hg.), Schleiermacher, Dialektik. 2 Bde: (stw 1529), Frankfurt 2001 (Mit ausführlicher Einleitung von M. Frank. Bd: 1. 10-136); ders., Was ist Neostrukturalismus? (es 1203), Frankfurt 1984. Nach Peirce gehört zum Funktionieren eines Zeichens diese Triade: (1) das Zeichen selbst, (2) sein Objekt und (3) sein Interpretant als dasjenige, was das Zeichen in seinem Leser kraft dessen Divination erzeugt. 8 M. Frank, Die Grenzen der Beherrschbarkeit der Sprache, in: Ph. Forget (Hg.), Text und Interpretation (UTB 1257), München 1984, 181-213, ebd. 202. Vgl. ferner: Frank, Neostrukturalismus. 9 M. Frank, Das Sagbare und das Unsagbare (stw 317), Frankfurt 1990, 541; vgl. ders., Was ist ein literarischer Text und was heißt es, ihn zu verstehen? Ebd. 121-195. 10 Vgl. H. Thyen, Studien zum Corpus Iohanneum (WUNT 214), Tübingen 2007, 435ff. 11 E. Fuchs, Marburger Hermeneutik, Tübingen 1968, 157. 12 R. Bultmann, Johannesevangelium, KEK, 10.Aufl., Göttingen 1968, 332f., 133 u. 234; ders., Art. aletheia (Wahrheit), ThWNT I (1933), 239-251. 13 C.H. Dodd, The Interpretation of the Fourth Gospel, 8. Aufl., Cambridge 1968, 170ff. 14 Vgl. J.D. Zizioulas, Truth and Communion in the Perspective of Greek Patristic Thought, Iren 44 (1971), 465-470. u. I. de la Potterie, La verite dans Saint Jean (AnBib 73 u. 74), Rom 1977, II, 1025. 15 R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, 9. Aufl., Tübingen 1984, 589; vgl. O. Bayer, Theologie (HSystTh 1), Gütersloh 1994, 475ff.: Weil Bultmann in der Nachfolge Kants den Kosmos als das vermeintlich Verfügbare strikt von der unverfügbaren und nur im Augenblick der Entscheidung wirklichen Existenz trennt, darf das Kerygma keinen Inhalt haben, der erzählt werden kann, sondern muss auf das »Bloße Dass« seines Lautwerdens reduziert werden. Aber: »Die Existenz lässt sich ohne Selbstzerstörung nicht aus dem Kosmos lösen; eine ›Entweltlichung‹, die nicht eine Bekehrung zur Welt, eine neue Weltwahrnehmung wäre, ist eine tödliche Abstraktion. Dass Bultmann weder eine Schöpfungslehre noch eine Eschatologie - sieht man von seinem Konstrukt des Augenblicks ab - entwickelt hat, ist ganz verständlich. Er konnte es von seinem Ansatz nicht - und er wollte es auch nicht« (Bayer, Theologie, 483). 16 Bultmann, Theologie, 27, Anm. 1. Im Gegensatz zu meinem Kommentar, in dem ich mich bemüht habe, das kanonische Johannesevangelium als einen kohärenten poetischen Text zu interpretieren, so dass selbst wenn Bultmanns Quellen je existiert haben sollten - was mir aber als äußerst fragwürdig erscheint -, so muss von ihnen m.E. das entsprechend modifizierte Pauluswort (2Kor 5,17) gesagt werden: »Sind sie erst im Evangelium, so gilt von ihnen, das Alte ist vergangen, siehe Neues ist geworden«. 17 F.-W. Marquardt, Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden. Eine Christologie; Bd. 2, München / Gütersloh 1992, 270f. 18 E. Levinas, Die Spur des Anderen, hg. u. übers. v. W.N. Krewani, 2. Aufl., Freiburg / München 1987, 188ff. 19 E. Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, übers. v. Th. Wiemer, 2. Aufl., Freiburg / München 1998, 317f. Vgl. zum Verständnis das erhellende Nachwort zu Levinas, Die Zeit und der Andere, Hamburg 1989, von L. Wenzler, Zeit als Nähe des Abwesenden - Diachronie der Ethik und Diachronie der Sinnlichkeit nach E. Levinas, ebd. 67-92. 20 Vgl. dazu O. Bayer, Zeitgenosse im Widerspruch. Johann Georg Hamann als radikaler Aufklärer, München 1988, 193; vgl. ders., Theologie, 475ff. 21 P. Ricœur, Essays on Biblical Interpretation, 2. Aufl., London 1981, 112; vgl. ebd. 119ff. 22 P. Ricœur, Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt 1969; vgl. auch P. Ricœur, Interpretation Theory. Discourse and the Surplus of Meaning, Fort Worth 1976. 23 M. Raden, Das relative Absolute. Die theologische 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 60 Hartwig Thyen Das Johannesevangelium als literarisches Werk und Buch der Heiligen Schrift ZNT 23 (12. Jg. 2009) 61 Hermeneutik P. Ricœurs, Frankfurt / Bern / New York / Paris 1988, 244f. Das entspricht in etwa der oben erörterten Kritik an der Identifikation von Wahrheit und Erschlossenheit. 24 Vgl. L. Steiger, Die Hermeneutik als dogmatisches Problem. Gütersloh 1961, 169ff. und W. Stegemann, Der Denkweg Rudolf Bultmanns, Stuttgart 1968, 136ff. Siehe ferner: K.E. Løgstrup, Auseinandersetzung mit Kierkegaard, in: K.E. Løgstrup / Harbsmeier (Hgg.), Kontroverse um Kierkegaard und Grundtvig Bd. 2, München 1968, 42ff. u. 226ff.; sowie K.E. Løgstrup, Systematische Theologie I, ThR 23 (1955), 259- 293. Dieser letztere Beitrag bietet eine breite und sehr grundsätzliche Auseinandersetzung mit Bultmanns Aufsätzen im zweiten Band von Glauben und Verstehen (Tübingen 1952). 25 H. Thyen, Das Johannesevangelium (HNT 6), Tübingen 2005. 26 Vgl. dazu H. Thyen, Johannes und die Synoptiker, in: ders., Studien zum Corpus Iohanneum (WUNT 211), Tübingen 2007, 155-181. Darin habe ich mich kritisch mit der literarkritischen sowie mit der redaktionsgeschichtlichen Methode auseinandergesetzt und vorgeschlagen, im Anschluss an die Beiträge von Julia Kristeva statt der ungeeigneten und vorwiegend an der Genese interessierten Kategorien Abhängigkeit versus Unabhängigkeit diejenige der Intertextualität zu erproben .(Siehe: J. Kristeva, Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman. Deutsch in: J. Ihwe (Hg.), Literaturwissenschaft und Linguistik 111, 345-375, sowie dies., Probleme de la structuration du texte. Deutsch in: Ihwe (Hg.), Literaturwissenschaft und Linguistik Bd. 2, 84-507). Vgl. zum Problem: U. Broich / M. Pfister (Hgg.), Intertextualität, Tübingen 1985. 27 M. Hengel, Die johanneische Frage (WUNT 67), Tübingen 1993. Wie E. Betti und E.D. Hirsch scheint auch Hengel auf die vermeintliche Autorenintention als die einzige objektive Sinninstanz von Texten zu setzen, die er historisch-kritisch zu eruieren sucht. Er unterscheidet nicht den Autor im Text von dem realen Autor des Textes, der sich aller historischen Nachfrage entzogen hat. Ja selbst der Autor im Text ist auch nur kraft der erratenden Divination des Lesers (also nur hypothetisch) fassbar. Doch Hengel stellt die Frage nach dem realen Autor, den er mit dem papianischen Presbyter Johannes als dem Schulhaupt einer spezifisch johanneischen Gemeinde identifiziert. Aber die gab so wenig wie ihr vermeintliches Schulhaupt. 28 Franz Overbeck, Das Johannesevangelium, hg. v. C.A. Bernoulli, Tübingen 1911, 239. 29 Von dem realen Autor können wir und sollen wir darum nichts wissen; vgl. dazu Overbeck, Johannesevangelium, 417, und zur Sache noch meine Studien in: H. Thyen, Studien zum Corpus Iohanneum (WUNT 211), Tübingen 2007: Das Johannesevangelium als literarisches Werk, 351-369; Die Erzählung von den bethanischen Geschwistern (Joh 11,1-12,9) als Palimpsest über synoptischen Texten, 182-212; Noch einmal: Johannes 21 und der Jünger, den Jesus liebte, 252-293; sowie Der Jünger, den Jesus liebte, 603-622. 30 U. Eco, Nachschrift zum ›Namen der Rose‹, München / Wien 1984, 9f. u. 13f. 31 U. Eco, Semiotik und Philosophie der Sprache, München 1985, 222. Eco fährt ebd. fort: »Die einzig mögliche Antwort auf diese Frage war praktischer Natur: die Regeln für gute Interpretationen wurde von den Türhütern der Orthodoxie geliefert, und die Türhüter der Orthodoxie waren die Sieger (politisch und kulturell gesehen) im Kampf um die Durchsetzung ihrer eigenen Interpretation.« 32 Vgl. E. Güttgemanns, Offene Fragen zur Formgeschichte des Evangeliums (BEvTh 54), München 1970, 341-360, der nachdrücklich auf die Problematik der organizistischen Wachstums-Metaphorik hingewiesen hat, die seit Herder das historische Denken und zumal die Formgeschichte beherrscht. Siehe auch W. Schmithals, Einleitung in die drei ersten Evangelien, Berlin / New York 1985, 246ff. Neue Wege durch ein weites Feld: Hermann Steinthal Was ist Wahrheit? Die Frage des Pilatus in 49 Spaziergängen aufgerollt 2., durchges. Aufl. 2008, 206 Seiten, €[D] 24,90/ SFr 41,70 ISBN 978-3-89308-409-6 Aus der Presse: » D ie 49 Kapitel belohnen die Mühe der Lektüre mit manchem Erkenntnisgewinn ... Der Verfasser muss jedenfalls viel erfahren und lange nachgedacht haben, um ein solches Buch zu schreiben.« NZZ Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen · Fax (07071) 979711 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 61 62 ZNT 23 (12. Jg. 2009) Jede Kinderbibel beruht auf Wahlentscheidungen, denn jede Kinderbibel wählt aus den Erzählungen der biblischen Schriften aus, indem bestimmte Teile der biblischen Texte aufgenommen werden und andere eben nicht. Dass in einer Kinderbibel Erzählungen aus dem Johannesevangelium ausgewählt werden, ist keine Selbstverständlichkeit. Vielmehr ist in der großen Mehrzahl der gegenwärtig sich auf dem Büchermarkt befindlichen Kinderbibeln zu beobachten, dass einer Textauswahl aus den Synoptikern der Vorzug gegeben wird. Vorsichtig formuliert, kann gesagt werden, dass Kinderbibeln als Indikator der religionspädagogischen Großwetterlage dienen: Die sich dort seit den 60er Jahren beobachtete Marginalisierung des Johannesevangeliums zugunsten der Synoptiker findet in Kinderbibeln ihre Fortsetzung. 1 Doch gegenwärtig lässt sich in diversen aktuellen Kinderbibeln, die für Kinder ab 8-10 Jahre geeignet sind, auch die Tendenz finden, Texte des Johannesevangeliums aufzunehmen. Wie dies geschieht, soll anhand von drei aktuellen Kinderbibeln, die sich auf dem Büchermarkt etabliert haben und die in der gegenwärtigen aktuellen religionspädagogischen Diskussion zu Kinderbibeln berücksichtigt werden, dargelegt werden. Nicht nur hinsichtlich der Frage, was in einer Kinderbibel aufgenommen wird bzw. was nicht aus dem biblischen Erzählbestand aufgenommen wird, ist eine Frage der Auswahl. Auch hinsichtlich der Frage, wie etwas erzählt wird, wird eine Wahl getroffen. Diese betrifft nicht nur die Art und Weise der Darstellung der Erzählung, sondern auch die Art und Weise, wie Elemente der erzählten Handlung aufgenommen werden: Durch Tilgung, Ergänzung, Umformung, Umordnung, Gewichtung und Komposition werden in Kinderbibeln Transformationen der biblischen Erzählung(en) vorgenommen. Mit Blick auf die 27 Schriften des Neuen Testaments ist es also ein Proprium einer Kinderbibel, dass nicht alle 27 Schriften aus dem kanonischen Textbestand der Bibel aufgenommen werden, sondern dass sowohl hinsichtlich der aufgenommenen Schriften insgesamt als auch hinsichtlich der aufgenommenen biblischen Textpassagen und deren narrativer Gestaltung in einer Kinderbibel Wahlentscheidungen getroffen werden. Im Folgenden sollen anhand der Kinderbibeln von: a.) Irmgard Weth: Neukirchener Erzählbibel. Die Bücher der Bibel neu erschlossen und erzählt. Mit Bildern von Kees und Michiel de Kort, 2. neu durchgesehene Auflage, Neukirchen Vluyn 2008, von b.) Regine Schindler / Stepan Zavrel: Mit Gott unterwegs. Die Bibel für Kinder und Erwachsene neu erzählt, 6. Aufl., Zürich 2004 sowie c.) anhand der Gütersloher Erzählbibel von Diana Klöpper / Kerstin Schiffner, Gütersloh 2004 in einem ersten Schritt die von den Autorinnen und Autoren vorgenommenen Wahlentscheidungen deskriptiv erfasst werden, indem aufgezeigt wird, a) was aus dem Johannesevangelium aufgenommen wird im Kontext der jeweiligen Kinderbibel und b.) wie dies geschieht. Im Anschluss daran folgen c.) evaluativ Überlegungen, die die Frage aufnehmen, wie dieser Befund zu bewerten ist und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. I. Irmgard Weth: Neukirchener Erzählbibel. Die Bücher der Bibel neu erschlossen und erzählt. Mit Bildern von Kees und Michiel de Kort, 2. neu durchgesehene Auflage, Neukirchen Vluyn 2008. Die Bibel, die durch ihre langen, zweispaltig gesetzten Textpassagen auffällt, ist für Kinder ab 10 Jahre. Die »Neukirchener Hermeneutik und Vermittlung Kristina Dronsch Am Anfang war die Übersetzung. Die Übersetzung des Johannesevangeliums als Interpretation in drei exemplarisch ausgewählten, aktuellen Kinder- und Jugendbibeln. »Jede Kinderbibel beruht auf Wahlentscheidungen ...« 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 62 Kristina Dronsch Am Anfang war die Übersetzung ZNT 23 (12. Jg. 2009) 63 Erzählbibel« kann als eine Fortsetzung der »Neukirchener Kinderbibel« verstanden werden; neue und größtenteils in der Kinderbibel unberücksichtigt gebliebene biblische Geschichten sind in der Erzählbibel zusammengestellt (für die alttestamentlichen Geschichten z.B.: Hiob, Ezechiel, Esra und Nehemia). In den insgesamt 200 Erzählungen aus dem Alten und Neuen Testament finden sich kaum zusätzliche erzählerische Elemente, vielmehr geht es der Verfasserin darum, »die Vielfalt biblischer Bücher und biblischer Erzählformen« 2 zur Sprache zu bringen, indem die einzelnen Schriften des Alten und Neuen Testaments stärker als eigenständige literarische Einheiten berücksichtigt werden. In die aufgenommenen biblischen Geschichten in der Erzählbibel kommen auch vom Druckbild her abgesetzte biblische Zitate vor, die sich am revidierten Luthertext und der Einheitsübersetzung orientieren. In insgesamt 21 Kapiteln wird in die Vielfalt biblischer Erzählformen eingeführt, wobei meistens in jeweils einem Kapitel eine Textauswahl aus einer altbzw. neutestamentlichen Schrift dargeboten wird. Die Kapitel 18 bis 21 bieten Texte aus Schriften des Neuen Testaments. Zu den Auffälligkeiten dieser Erzählbibel gehört es, dass bei der Auswahl der Erzählungen aus den Evangelien ausschließlich das Johannesevangelium Berücksichtigung findet, welchem gegenüber den Synoptikern der Vorzug gegeben wird. In Kapitel 18 unter der Überschrift »Das Evangelium von Jesus Christus« werden insgesamt 28 einzelne Erzählungen präsentiert, die dem Erzählfaden des Johannesevangeliums folgen, beginnend beim Prolog und endend mit der Erzählung aus Joh 21. Kapitel 19 (»Die Ausbreitung des Evangeliums«) und Kapitel 20 (»In alle Welt«) der Erzählbibel bieten Geschichten der Apg und Kapitel 21 unter der Überschrift »Botschaft der Hoffnung« einige ausgewählte Erzählungen aus der Offb. Die Briefliteratur bleibt unberücksichtigt. Hinsichtlich der konsequenten Berücksichtigung des Johannesevangeliums entsteht ein den johanneischen Erzählfaden aufnehmendes »Miniaturevangelium« von Jesus Christus, welches den Plot des Johannesevangeliums narrativ so entfalten will, »dass Menschen im Lesen und Hören des Evangeliums Jesus Christus selber begegnen, dass sie erkennen, wer er in Wahrheit ist, und dass sie selber zum Glauben an ihn finden, so wie es die Menschen erlebt haben, denen Jesus begegnet ist«. 3 Eingespannt in dieses Dreigestirn von Begegnung - Erkenntnis - Glauben, welches schon in dem in der Erzählbibel aufgenommenen Prolog zu finden ist, werden vorrangig die Erzählungen aus dem Johannesevangelium aufgenommen, bei denen es um eine euphorische Begegnungsgeschichte mit Jesus geht, in deren Verlauf es über die Begegnung mit Jesus zu einer positiven Erkenntnis kommt, die im zum Glauben-Kommen mündet. Repetierend wird über das ganze Kapitel 18 verstreut festgehalten, dass die Menschen, die Jesus begegnen, erkennen und glauben, dass Jesus »der Messias [ist], der Sohn Gottes, das wahre Opferlamm, der zu den Menschen kam, um sein Leben für sie hinzugeben« (S. 333). Als mit diesen Werten des Evangeliums vollkommen kongruent werden die Jünger in der »Neukirchener Erzählbibel« dargestellt: Sie sind es, die die Trias Begegnung - Erkenntnis - Glauben vollziehen (vgl. z.B. S. 350.367). Konsequent ist in diesen euphorischen Erzählstrang ein dysphorischer Erzählstrang eingeflochten, der durch die Gegner Jesu (tituliert als »Gegner«; »Gesetzeslehrer«, »Pharisäer«, »Priester« und »Leviten«, als »Juden« werden die Gegner signifikanter Weise nur bei Jesu Verurteilung titu- Kristina Dronsch, Jahrgang 1971, studierte Evangelische Theologie in Bon, Göttingen, Zürich, Neuchâtel und Hamburg. Seit 2001 wissenschaftliche Mitarbeiterin für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche am Fachbereich Ev. Theologie an der Goethe- Universität in Frankfurt und wurde dort 2006 promoviert. Forschungsschwerpunkte: Markusevangelium, Gleichnisse, Bedeutungstheorien. Kristina Dronsch 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 63 Hermeneutik und Vermittlung 64 ZNT 23 (12. Jg. 2009) liert [S. 378]) vorangetrieben wird. Diese treten schon gleich zu Beginn der Erzählungen in Opposition zu Jesus und seiner Botschaft auf (S. 332). Sie sind die Opponenten Jesu, weil sie nicht erkennen, dass Jesus der Sohn Gottes ist und deshalb beschließen, »Jesus zu töten« (S. 364). Dass dieser Plan gelingen kann, liegt daran, dass einer aus der Gruppe der Jünger zum Verräter wird (»Die Jünger starrten ihn an. Judas war der Verräter! Jesus hatte ihn durchschaut. Aber was hatte Judas vor? Was wusste Jesus von seinen Plänen? «). Judas ist die Figur, der die Werte des Evangeliums von Jesus Christus verrät und mit dem sich die Leser/ innen nicht identifizieren sollen. Als Identifikationsangebot gilt vielmehr »der Jünger, den Jesus lieb hatte« (S. 379) und der Jesus auch angesichts von Kreuzigung und Tod nicht verlässt, denn »bis zur letzten Stunde, wusste er sich von Jesus geliebt. Selbst noch am Kreuz hat ihm Jesus seine Liebe erwiesen« (S. 379). Im Gegensatz zum johanneischen Erzählfaden (vgl. Joh 19,35-37) bezeugt dieser Jünger in der »Neukirchener Erzählbibel«: »Ja, es ist wahr. So starb Jesus am Kreuz, damit auch ihr glaubt: Er ist es, den Gott für uns alle dahingab, das wahre Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt« (S. 379). Unter der Überschrift »Der neue Auftrag« wird Joh 21 transformiert in eine Beauftragungsgeschichte von Petrus und den übrigen Jüngern, welche zugleich eine Scharnierfunktion zu dem folgenden Kapitel 19 unter der Überschrift »Die Ausbreitung des Evangeliums« hat. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass in der »Neukirchener Erzählbibel« der Versuch unternommen wird, die Geschichte von Jesus Christus ausschließlich anhand des Johannesevangeliums zu erzählen unter Ausklammerung der übrigen Evangelien. Die insgesamt 28 Erzählungen, die den Erzählfaden des Johannesevangeliums aufnehmen, bieten zahlreiche »Begegnungsgeschichten«, in denen die Jesus Begegnenden entsprechend der signifikanten Trias von Begegnung - Erkenntnis - Glauben ihr persönliches Zeugnis von dieser Begegnung ablegen. Besondere Exponenten einer glückenden Begegnungsgeschichte sind die Jünger, mit denen sich die Leser/ innen identifizieren sollen. Ihnen gegenübergestellt werden die Gegner Jesu, die sich durch ihr Nichterkennen, wer Jesus ist, auszeichnen. Regine Schindler / Stepan Zavrel: Mit Gott unterwegs. Die Bibel für Kinder und Erwachsene neu erzählt, 6. Aufl., Zürich 2004. Diese Bibel, die sich explizit sowohl an Kinder als au ch an Erwachsene richtet, zeichnet sich durch eine Textauswahl, die den Reichtum biblischer Sprache hervorhebt, sowie durch eine perspektivenreiche Erzählsprache aus. In 88 Erzählungen spannt die Zürcherin Regine Schindler einen Bogen mit »Geschichten vom Anfang« bis zur Reise des Paulus nach Rom. Die 39 Geschichten aus dem Neuen Testament beginnen mit einem kursiv gesetzten Introtext, der unter der Überschrift »Warten auf eine neue Zeit« eine Verbindung zwischen den vorher erzählten Texten aus dem Alten Testament und den nun folgenden Texten aus dem Neuen Testament schafft. In ähnlicher Weise schließt die Kinderbibel mit einem »Ausgangstext«, wo unter der Überschrift »Wie es weitergeht« im Anschluss an die Reise des Paulus nach Rom ein Ausblick gegeben wird, wie es mit der Kirche bzw. frühen Christenheit weitergehen wird. Hinsichtlich der Evangelienerzählungen aus dem Neuen Testament, die sich in dieser Kinderbibel finden, wird versucht, keine »Evangelienharmonie« zu bieten, sondern die Texte bewusst nach einem Evangelium zu erzählen. So sind »Jesu Abschiedsmahl« und »Getsemani« nach dem Matthäusevangelium erzählt, »Pontius Pilatus« und »Golgata« folgen dem Markusevangelium. Die Geschichte von der Auferstehung unter der Überschrift »Jesus lebt« wird nach dem Johannesevangelium erzählt. Innerhalb der aufgenommenen Texte aus dem Neuen Testament werden thematische Bündelungen vorgenommen. So werden Wunder- oder Gleichnistexte zu größeren Einheiten zusammengeschlossen. Während die Offenbarung des Johannes gänzlich fehlt und auch kein eigenes Kapitel zu den Paulusbriefen vorhanden ist, sondern innerhalb der Paulus betreffenden Erzählungen partiell Briefteile integriert werden, wie z.B. der Philipper-Hymnus, finden jedoch einige Texte aus dem Johannesevangelium Aufnahme in der Kinderbibel. 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 64 Kristina Dronsch Am Anfang war die Übersetzung ZNT 23 (12. Jg. 2009) 65 Unter der Überschrift »Woher hat er solche Macht? « werden die Wundergeschichten aus Mk 2,1-12; Lk 5,17-26 sowie Joh 2,1-11 gebündelt. Erzählt aus der Perspektive von vier Feldarbeitern, die einen Gelähmten auf der Tragbahre bei sich haben, wird die johanneische Erzählung von dem Weinwunder als Auftakterzählung einer weiteren Wundergeschichten eingeführt. Einer der Männer erzählt bei einer Pause während der Feldarbeit, bei der ein Wasserbeutel herumgereicht wird, dass man sich erzählt von einem Jesus aus Nazareth, der Wasser zu Wein gemacht hat. Sie kennen zwar Jesus (noch) nicht, aber einer von ihnen kennt zwei seiner Jünger und er habe auch gehört, dass er Kranke heilen soll. Nach beendeter Arbeit kehren die Männer, die den Gelähmten tragen, vom Feld zurück in ihr Dorf und sehen eine Menschentraube sich vor einem Haus versammeln. Nachdem sie erfahren, dass Jesus von Nazareth da ist und im Haus predigt, beschließen die vier Männer, den kranken Mann zu Jesus zu bringen. Die Heilung des Gelähmten wird in Verknüpfung markinischer und lukanischer Elemente der Handlung erzählt. Zum Ende des Kapitels wird von fünf Arbeitern auf dem Feld berichtet, die während einer Pause den Wasserbeutel herumreichen und von Jesus erzählen, »der von Gott solche Macht bekommen hat« (S. 180). D.h. die Erzählung von dem Weinwunder zu Kana wird in einen neuen Erzählzusammenhang eingefügt, der thematisch unter der Frage, woher Jesus solche Macht hat, zwei Wundergeschichten miteinander verbindet. Des Weiteren ist in der Kinderbibel unter der Überschrift »Eine Frau in Samaria« Joh 4,1-42 aufgenommen, als eine Geschichte, dass auch Frauen zu Jesus gehören. Dies wird noch unterstrichen durch die Einordnung dieser Geschichte in den Erzählzusammenhang der Kinderbibel, denn nach diesem Kapitel der Begegnung zwischen Jesus und der Frau in Samaria wird unter der Überschrift »Zwei Schwestern« die Erzählung von Maria und Martha, wie diese beiden Jesus in ihrem Haus als Gast beherbergen, erzählt. Das Gespräch zwischen Jesus und der Frau am Brunnen wird aus der Sicht der Frau erzählt und konzentriert sich auf ihre Wahrnehmungen und Aktionen. Es steht ganz im Dienste des Erkennens, wer Jesus ist, welches die Frau am Ende dazu führt, in ihrer Stadt zu verkünden, dass Jesus Christus da ist, der von Gott kommt. Unter der Überschrift »Fünf Brote und zwei Fische« wird Joh 6,1-15 aufgenommen, jedoch erweitert um einzelne Momente der Speisungserzählung aus Mk 6,30-44 (z.B. Mk 6,34). Geschickt wird das in Joh 6,9 erwähnte Kind zu dem Haupthandlungsträger der Erzählung in der Kinderbibel. Es wird von seinem Weg in die nahe gelegene Stadt berichtet, wo es seinen Korb mit den fünf Broten und zwei Fischen verkaufen soll. Auf seiner Reise trifft es auf Kinder und Erwachsene, die auf dem Weg zu einer Seebucht sind, wo Jesus ist. Es schließt sich ihnen an und wird Zeuge, wie Jesus die Menschenmenge mit seinen fünf Broten und den zwei Fischen satt werden lässt, indem viele Hände »teilen und brechen, teilen und brechen« (S. 200f.). Auch hier steht am Ende wieder die Erkenntnis - diesmal der großen Menschenmenge, die Jesus satt gemacht hat -, wer Jesus ist, nämlich dass er von Gott kommt und ein Prophet ist. Am Ende der Erzählung kehrt das Kind mit seinem nun um einiges schwereren, mit Brot und Fischen gefüllten Korb zurück nach Hause, um von Jesus zu erzählen. Unter der Überschrift »Jesus lebt« wird die Erzählung der Ereignisse am leeren Grab aus Joh 20,11-23 aufgenommen. Im Vordergrund steht die Begegnung des auferstandenen Jesus mit Maria am Grab. Schon in der Erzählung vorher unter der Überschrift »Golgota« wird Maria als Handlungsträgerin eingefügt, die mit dem Hauptmann am Kreuz steht , wo beide erkennen, dass Jesus Sohn Gottes ist. Auch in der Erzählung »Jesus lebt« wird wieder im Rahmen des Dialogs zwischen Maria und Jesus eine Erkenntnisgeschichte erzählt, bei der die Trauer von Maria verwandelt wird in Freude und in der Erkenntnis endet: »Jesus ist nicht mehr tot. Sie weiß: Ich habe ihn als erster gesehen. Ich darf es den anderen erzählen. Ich habe einen wichtigen Auftrag« (S. 242). Maria wird nicht nur zur ersten Zeugin der Auferstehung, sondern auch zur ersten Botin der Verkündigung der frohen Botschaft, die sie sodann den sich ängstlich versteckt haltenden Jüngern berichtet. Insgesamt werden in der Kinderbibel »Mit Gott unterwegs« vier Erzählungen aus dem Johannesevangelium aufgenommen. Es findet sich die nicht immer stringent durchgehaltene Tendenz bestimmte Geschichten nach einem Evangelium zu erzählen, aber dennoch ist bei dieser 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 65 Hermeneutik und Vermittlung 66 ZNT 23 (12. Jg. 2009) Kinderbibel das Bemühen zu finden, »die Auswahl unter den unterschiedlichen Erzählweisen der vier Evangelisten« 4 hervorzuheben. Bei den ausgewählten Texten nach dem Johannesevangelium fällt auf, dass sie narrativ so inszeniert werden, dass sie alle der Klärung der Frage dienen, wer Jesus ist. Der sich in dieser Kinderbibel häufig findende Perspektivwechsel, der die biblische Geschichte aus der Perspektive einer der Handlungsträger erzählt, lässt diesen gnoseologischen Aspekt als eine Frage, die die Erzählfiguren begleitet, auch für die Leserinnen und Leser dieser Kinderbibel zu einer offenen Frage werden. Diana Klöpper / Kerstin Schiffner, Gütersloher Erzählbibel. Mit Bildern von Juliana Heidenreich, Gütersloh 2004. Der »Gütersloher Erzählbibel« liegen drei grundlegende Wahlentscheidungen zugrunde, die am Ende der Kinderbibel entfaltet werden: 1. Es soll die Fremdheit biblischer Texte wahrgenommen werden und keine »Heile-Welt-Bibel« den Kindern geboten werden; 2.) es sollen keine Geschlechterrollenklischees fortgeschrieben werden, stattdessen soll die Vielfalt von Handlungsmustern in den biblischen Texten für Jungen und Mädchen fruchtbar gemacht werden. Auf »der Ebene der Auswahl der zu erzählenden Geschichten ist auf die in den biblischen Geschichten vorkommenden Frauengestalten angemessen Rücksicht zu nehmen«. 5 Das Anliegen der Nichtfestschreibung von Rollenbzw. Geschlechterklischees betrifft auch die Schreibung des Gottesnamens in dieser Kinderbibel, das durch den häufig sich findenden Genuswechsel im Gottesnamen forciert werden soll; 3.) es soll dem Anliegen des christlich-jüdischen Dialogs Genüge getan werden. Das Coverbild, welches nicht noch einmal in der Kinderbibel auftaucht und an den Exodus erinnert, kann als Programm dieser Kinderbibel gelesen werden: Die Erfahrung der Befreiung wird für die Jüdinnen und Juden als die Grunderfahrung mit ihrem Gott ausgemacht und die neutestamentlichen Texte werden in diese Erfahrung der Befreiung eingeschrieben: »Das Kommen Jesu bedeutet für sie eine Aktualisierung dieser Erfahrung, als Befreite zu leben - und diesmal gilt die Einladung verstärkt denen, die nicht zu Israel gehören, aber zu Israels Gott eine Beziehung haben wollen« (S. 385). Es finden sich in der umfänglichen neutestamentlichen Textauswahl, die überwiegend dem kanonischen Aufbau folgt, nicht nur Texte aus den Evangelien, sondern auch aus der Apg, der Offb und der Briefliteratur. Bei den Evangelienerzählungen werden hauptsächlich Texte aus dem Lukasevangelium ausgewählt und der Erzählfaden dieser Kinderbibel folgt dem Lukasevangelium. Jedoch werden die lukanischen Texte ergänzt um eine kleine Auswahl von zehn Texten aus Mt, Mk und Joh. Die Evangelientexte außerhalb des Lukasevangeliums sind als ein Textblock eingefügt und zwar bevor nach dem Lukasevangelium Jesus in Jerusalem einzieht. Aufgenommen aus dem Joh sind unter der Überschrift »Die Frau am Brunnen« Joh 4,1-42, unter der Überschrift »Jesus - Auferstehung und Leben für Lazarus« Joh 11,1-46 sowie unter der Überschrift »Die so genannten ›Ich-bin-Worte‹« verschiedene Ichbin-Worte aus dem Evangelium. Die Erzählung in der Kinderbibel von der Begegnung zwischen Jesus und einer Frau am Brunnen wird durch einen kurzen Introtext, der sich in der Schriftart vom übrigen Text abhebt, eingeleitet. Hier wird hervorgehoben, dass im Johannesevangelium von einer Frau berichtet wird, die am Brunnen mit Jesus ein Streitgespräch führt und nach dieser Begegnung allen Menschen von Jesus, »der für sie zum Messias geworden ist« (S. 313), berichtet. Die Kinderbibel setzt erzählerisch ein, indem die Geschichte der Begegnung mit Jesus aus der Retrospektive von der Frau bei ihrer Rückkehr in ihr Dorf erzählt wird. Hier steht nicht der gnoseologische Aspekt im Vordergrund, sondern die Erzählung der Frau von ihrer Begegnung mit Jesus am Brunnen wird zu einer Befreiungsgeschichte, in der die Frau bekennt: »Jetzt bin ich frei [...]! Vertraut mir, dieser Mann bringt die Befreiung, auf die wir alle hoffen! « (S. 315) Die darauf folgende Erzählung unter der Überschrift »Jesus - Auferstehung und Leben für Lazarus« stellt wieder Begegnungen von Frauen mit Jesus in der Vordergrund, diesmal sind es Maria und Martha. Im Zentrum ihres Gesprächs mit Jesus steht Jesu Selbstoffenbarung mit den 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 66 Kristina Dronsch Am Anfang war die Übersetzung ZNT 23 (12. Jg. 2009) 67 Worten »Ich bin die Auferstehung und das Leben«, denen die angesprochene Martha vertraut (das Wort »glauben« wird nicht verwendet). Nachdem Jesus vor den Anwesenden den schon vier Tage im Grab liegenden Lazarus, den Bruder der beiden Frauen, aus seinem Grab herausruft, vertrauen auch »viele der Frauen und Männer, die dabei gewesen waren, auf Jesus und das, was er lehrte« (S. 316). Diese Transformation gegenüber dem Johannesevangelium, wo am Schluss hervorgehoben wird, dass viele sahen, was Jesus tat und deshalb an ihn glaubten (vgl. Joh 11,45), stellt zugleich eine Überleitung zu den folgenden aufgenommenen Bildworten dar, die in der Kinderbibel ebenfalls mit einem kurzen, im Schrifttyp abgesetzten Intro-Text versehen sind. In diesem Intro- Text wird rückwirkend eine Erklärung gegeben, wie die Erzählung von Lazarus und seiner Auferweckung zu verstehen ist: Jesu Aussage »Ich bin die Auferstehung und das Leben« habe eine übertragene Bedeutung. Bei der Lazaruserzählung geht es nicht um eine Totenauferweckungserzählung, sondern es handelt sich um eine das Wunder marginalisierende individualisiert zugesprochene Hoffnungsweckungserzählung, die die Grunderfahrung der Befreiung fortschreibt. Das Ich-bin- Wort steht für die Aussage: »Für mich ist Jesus das Leben: Ich kann aufstehen und lasse mich nicht länger von der Angst vor denen, die stärker sind als ich und die mir ans Leben können, niederdrücken! « (S. 317) Die folgenden, aus ihrem Erzählzusammenhang herausgeschälten Bildworte aus Joh 6,35; 8,12; 10,11.14; 14,6; 15,1.5 werden dementsprechend immer mit der im Schrifttyp abgesetzten von den Autorinnen eruierten übertragenen Bedeutung geboten, die dominant der Grundentscheidung die Kinderbibel folgt, dass mit Jesu Kommen die schon in den alttestamentlichen Texten zugesprochene Befreiungserfahrung aktualisiert wird. Dies kann jedoch erweitert werden um ein zweites Grundanliegen dieser Kinderbibel, nämlich die Verkündigung Jesu in ihrer Verbindung zu Israel zu stellen und somit einen Beitrag zum jüdisch-christlichen Dialog zu liefern. So ist beispielsweise für das Bildwort »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben« aus Joh 14,6 folgende übertragene Bedeutung angegeben: »Für mich ist Jesus der Weg zu Israels Gott, durch ihn wird für mich wahr, was den Völkern in der Schrift versprochen ist. So kann ich leben und teilhaben an der Freiheit, die GOTT seinem Volk Israel geschenkt hat« (S. 317). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die »Gütersloher Erzählbibel« nur eine - gemessen an der Größe der Textauswahl dieser Kinderbibel - geringe Anzahl von Texten aus dem Johannesevangelium aufnimmt zu Gunsten des lukanischen Erzählfadens, der im Mittelpunkt der Evangelienerzählungen steht. Die ausgewählten Texte aus Joh werden entsprechend dem Grundanliegen dieser Kinderbibel transformiert, nämlich die Erfahrung der Befreiung, die durch Jesus, den Messias, aktualisiert wurde, in das Zentrum der Aussagen johanneischer Texte zu stellen und stellt das Bindeglied der aus dem Johannesevangelium aufgenommenen Texte dar. Dieses Grundanliegen einer das Individuum betreffenden weltlich verstandenen Befreiung ist so dominant, dass sogar die aus ihrem narrativen Kontext entbundenen »Ich-bin-Worte« in dieses Zusammenhang eingeordnet werden. II. Das Ergebnis dieses Durchgangs anhand dreier aktueller Kinderbibeln bezüglich der getroffenen Wahlentscheidungen zu johanneischen Texten in den Kinderbibeln könnte sowohl hinsichtlich der Frage, Was ausgewählt wird und Wie ausgewählt wird aus dem Johannesevangelium, nicht heterogener sein und ließe sich beliebig durch weitere Kinderbibeln in diesem Tenor der Inhomogenität erweitern. Alle drei vorgestellten Kinderbibeln bieten eine Auswahl von johanneischen Texten, die je unterschiedlichen Umfanges ist und sich nur dahingehend auf einen gemeinsamen Nenner bringen lässt, dass keine der vorgestellten Kinderbibeln alle Texte des Johannesevangeliums bietet. Auch das »Wie« der Gestaltung der aufgenommenen johanneischen Texte ist inhomogen. Alle Kinderbibeln bieten Transformationen der johanneischen Texte. Während die »Neukirchener Erzählbibel« darauf verzichtet, den johanneischen Erzählfaden umzuordnen, nimmt sie dennoch Ergänzungen und Umformungen der johanneischen Texte vor (beispielsweise, dass Erkennen der Jünger, dass Judas der Verräter ist) und gewichtet die aufgenommenen Erzählungen hinsichtlich der Trias Begegnung - Erkenntnis - 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 67 Hermeneutik und Vermittlung 68 ZNT 23 (12. Jg. 2009) Glauben. Bei der Bibel »Mit Gott unterwegs« werden die aufgenommenen johanneischen Erzählungen auch umgeordnet, indem beispielsweise mehrere Wundergeschichten aus verschiedenen Evangelien in einen Erzählzusammenhang gestellt werden. Dementsprechend liegt bei dieser Kinderbibel ein Schwerpunkt auf dem Aspekt der Komposition, der besonders dadurch unterstrichen wird, dass die johanneischen Texte in einen neuen Erzählzusammenhang integriert werden. Aber auch Aspekte der Ergänzung (z.B. der Wasserbeutel, den die fünf Feldarbeiter herumreichen), Umformung (beispielsweise durch die Erzählperspektive) und Gewichtung (es handelt sich durchgängig um »gnoseologische« Erzählungen) werden deutlich. Auch bei der »Gütersloher Erzählbibel« finden sich Ergänzungen (z.B. was die Ich-bin-Worte bedeuten), Umformung (z.B. die Zusammenstellung der Ich-bin-Worte) und besonders der Gewichtung, über die nicht nur das Nachwort in der Erzählbibel Auskunft gibt, sondern die auch in den einzelnen ausgewählten johanneischen Erzählungen durch die dominante Akzentuierung als Befreiungsgeschichten zum Tragen kommen. Während auf der einen Seite implizit die Vielfalt des »Was« und »Wie« der Auswahl in Kinderbibeln begrüßt wird, weil es gerade ein Proprium dieser Gattung ist - beispielsweise hält Tschirch in seinem RGG-Artikel zu Kinderbibeln fest, dass sich Kinderbibeln dadurch auszeichnen, dass sie »eine Auswahl mehr oder weniger frei in kindgemäßer Sprache nacherzählter [...] bibl. Texte« 6 bieten -, ist auf der anderen Seite eine »Verwirrung über die Variationsbreite der vorliegenden Kinderbibeln« 7 zu konstatieren. Die folgenden Ausführungen verdanken sich deswegen dem grundlegenden Interesse, die positiv anerkannte Pluralität und Heterogenität, die sich bei der Aufnahme johanneischer Texte in Kinderbibeln gezeigt hatte, ernst zu nehmen und sind daher von der Überzeugung getragen, dass gerade die den Kinderbibeln zugrundeliegenden Wahlentscheidungen zu einer Frage nach der Ethik von Kinderbibeln drängt. Während die Frage nach der »Moral in Kinderbibeln« 8 zu einem gängigen wissenschaftlichen Topos in der Kinderbibelforschung avanciert ist, ist die Frage nach der Ethik von Kinderbibeln eine thematisch vielfach gestreifte, jedoch nicht explizierte Frage, die häufig in Form einer Kriteriologie für gute versus schlechte Kinderbibeln zur Anwendung kommt. Das dabei häufig repetierte Basiskriterium lautet: »Die Frage, wann eine Kinderbibel gut ist, kann mit Hilfe der zentralen Kriterien der Didaktik beantwortet werden: Wenn sie den biblischen Text ernst nimmt und ihm gerecht wird und wenn sie das Kind in seinem Subjektsein respektiert und ihm gerecht wird«. 9 In einer Kinderbibel kommen somit idealtypisch »zwei konstitutive Bezugsgrößen zum Ausgleich. Zum einen die Beziehung auf die Vollbibel - sie ist das Werk, das ohne substantiellen Verlust tradiert werden soll -, zum anderen der Bezug auf den Rezipienten. Die Bibel soll dem Verständnis von Kindern erschlossen werden«. 10 Es geht um das Verhältnis von Text- und Kindgemäßheit bei Kinderbibeln. Die Textgemäßheit und Kindgemäßheit sind somit die ethischen Schlüsselbegriffe für die Beurteilung der Qualität einer Kinderbibel. Jedoch, wenn nach einer näheren Entfaltung der beiden Begriffe gefragt wird, stellt sich eine gewisse Verlegenheit ein: Textgemäßheit sei »eine theologisch verantwortete Bearbeitung des biblischen Stoffes. Die Übertragung der biblischen Texte geschieht auf der Grundlage bibelwissenschaftlicher Erkenntnisse. Sie entspricht den biblischen Aussagen über Gott, über Jesus, über uns Menschen und ist gleichzeitig erfahrungsbezogen sowie von aktueller Bedeutung« 11 - so Lauther- Pohl. Braun fragt demgegenüber: »Werden Eigenart, ursprüngliche Intention, Sinnpotential und Kontext des Bibeltextes respektiert, so dass er unverstellt das zur Sprache bringen kann, was in ihm angelegt ist? « 12 Für Tschirch zeige sich die Textgemäßheit, wenn der Autor einer Kinderbibel über verlässliche bibelwissenschaftliche Kriterien verfügt, »die verhindern können, daß dem lesenden Kind unter der Hand etwas anderes als die Mitte der Schrift, als das, was ›Christum treibt‹, als Sinn und Sache Jesu vermittelt wird, als der Glaube an Gott, den Vater, wie ihn Jesus bezeugt hat.« 13 Der Textgemäßheit konterkarierend zur Seite gestellt wird die Kindgemäßheit. So soll eine Kinderbibel im gleichen Maße, wie sie theologisch fundiert sein soll, auch pädagogisch verantwortet sein. Dies zeige sich an der Erzählsprache, die theologische Fachausdrücke, wie Reich Gottes, zu vermeiden habe und spannend zu erzählen 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 68 Kristina Dronsch Am Anfang war die Übersetzung ZNT 23 (12. Jg. 2009) 69 weiß, sowie an der Geschichtenauswahl und an den Illustrationen - so Lauther-Pohl. 14 Bei Braun wird die Kindgemäßheit eingelöst, wenn folgende Fragen positiv beantwortet werden: »Werden die Heranwachsenden als mündige LeserInnen ernst genommen [...]? Werden die Lebenssituation, die entwicklungsbedingten Verstehensvoraussetzungen und Interessen der Heranwachsenden berücksichtigt? « 15 Das, was als textgemäß gilt, ist ebenso kriteriologisch unscharf, wie das, was als kindgemäß gilt. Diesen beiden Leitkriterien fehlt, was sie voraussetzen: nämlich eine verbindliche Kriteriologie, die die Textgemäßheit und Kindgemäßheit als vermeintlich inhärente Eigenschaft von Kinderbibeln ausweisen kann. Im Hintergrund dieser beiden vermeintlichen Kriterien steht letztlich ein Parameter, das im Zusammenhang mit der Frage von Übersetzungen verhandelt wird: Es geht um den Komplex von Treue und Verrat. Er steht im Hintergrund der Frage nach dem Verhältnis von Textgemäßheit und Kindgemäßheit: Einerseits soll der biblische Text ohne Verlust und Verfälschung in einer Kinderbibel entfaltet werden, andererseits in die Worte gekleidet werden, die den heutigen Kindern als Rezipienten zugänglich sind unter Wahrung der Treue zum Text. Es ist allerdings gerade der Parameter der Texttreue und des Textverrates, welcher sich als nicht tauglich, weil nicht ethisch erweist. Denn er beruht auf einer Grundvoraussetzung, die sich als nicht haltbar erweist. Er verdankt sich einem letztlich technologischen Modell von Enkodierung und Dekodierung von Botschaften und setzt somit eine ideale, reine Sprache voraus, die sich jedoch als sprachtheoretisch unhaltbar erwiesen hat. Es gibt nicht die Herauslösung einer Art idealen oder ideellen Sinn-Kerns, eines objektivierbaren Gehaltes des biblischen Textes, der im Zuge der Übersetzung in Kinderbibeln unbeschadet weiter gegeben wird und jeweils nur in ein anderes Kleid gewandert ist. Vielversprechend für den ethischen Diskurs ist es hingegen, Kinderbibeln als Übersetzungen zu verstehen - jedoch losgelöst von dem unethischen Parameter von Treue und Verrat. 16 Kinderbibeln sind Über-setzungen im eigentlichen Sinn des Wortes. Nach Jörn Albrecht ist das Wort »übersetzen« eine Lehnübersetzung aus dem lateinischen »traducere«, das eine geographische und navigative Bedeutung besitzt: traducere navem, das Schiff ans andere, ans fremde Ufer steuern. 17 D.h. wenn man übersetzt, hat man es also - wie beim Seefahren - mit dem Anderen, mit dem Fremden zu tun, das den Ausgangspunkt für eine Begegnung darstellt. Diese Begegnung mit dem Fremden stellt sich bei einer Kinderbibel in zweifacher Weise ein, so dass von einer doppelten Radikalisierung der Fremdheit gesprochen werden kann: a.) die Fremdheit biblischer Texte; b.) die Fremdheit der Welt der Kinder. Die biblischen Texte sind fremde Texte. Sie funktionieren nach Regeln, die uns nicht vertraut sind und entstammen »einem andern kulturellen Kontext, der uns zunächst fremd ist. Unsere Gewöhnung und Vertrautheit mit biblischen Texten mag uns dies Faktum zwar verdecken und uns zu dem falschen Eindruck verführen, wir könnten unmittelbar verstehen, was die Texte sagen wollen«. 18 Gerade, weil Kinderbibeln durch die Beziehung auf ihre Rezipienten, die Kinder, bestimmt werden, ist diese Adressatenorientierung von grundlegender Relevanz. Entscheidend ist nun, dass diese Adressierung an Kinder jedoch nicht im Sinne einer realen sozialen Beziehung zu verstehen ist, sondern eine imaginäre Repräsentation einer sozialen Beziehung darstellt, die durch die vorgenommenen Wahlentscheidungen in einer Kinderbibel Gestalt gewinnt. Dies ist ein wichtiger Punkt, denn er hält fest, dass die Adressierenden - als Verfasser einer Kinderbibel - und die Adressierten - die Kinder - eben nicht aus einer sozialen Gruppe stammen: denn Kinderbibeln werden von Erwachsenen geschrieben. Dies macht die unhintergehbare Fremdheit der Welt der Kinder aus, mit der die Adressierenden einer Kinderbibel sich auseinandersetzen müssen. Es sind nun gerade die beiden Aspekte der Fremdheit, die eine Übersetzung erforderlich machen. Eine Kinderbibel ist somit eine Übersetzung, die sich zu der doppelten Fremdheit - der Fremdheit biblischer Texte und der Fremdheit der Welt der Kinder - verhält. Dieses »Verhalten-zu« einer Kinderbibel-Übersetzung hat zwei Aspekte. In Bezug auf den biblischen Text möchte ich es mimetisch interpretativ nennen. Es wird »Kinderbibeln sind Übersetzungen im eigentlichen Sinn des Wortes.« 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 69 Hermeneutik und Vermittlung 70 ZNT 23 (12. Jg. 2009) forciert durch die kulturell, gesellschaftlich und historisch bedingten Methoden der Interpretation und des Textverstehens, die bei der Übersetzung einer Kinderbibel zum Tragen kommen. In Bezug auf die Rezipienten möchte ich es mimetisch kommunikativ nennen. Es wird forciert durch die kulturell, gesellschaftlich und historisch bedingten Überzeugungen und Wissensannahmen der Adressatenorientierung, die ebenfalls bei der Übersetzung einer Kinderbibel zum Tragen kommen. Beide Aspekte spielen in jeder Kinderbibel- Übersetzung eine Rolle. Das heißt jede Übersetzung einer Kinderbibel ist immer zugleich Interpretation und Kommunikation. Damit jedoch bei diesem mimetischen Verhalten nicht nur das Eigene im Fremden wiedergefunden wird, bedarf es der Formulierung von Kriterien, die die herausgearbeitete doppelte Fremdheit bewahren. In Abwandlung der von Stefan Alkier in ZNT 11 (2003) dargelegten drei Kriterien einer Ethik der Interpretation (dem Realitätskriterium, dem Kontextualitätskriterium sowie dem Sozietätskriterium) möchte ich als ethische Kriterien für die Übersetzung von Kinderbibeln reformulieren: a.) Eine Kinderbibel ist eine gute Übersetzung, wenn sie danach strebt, sowohl den biblischen Text als Interpretationsgegenstand als auch die Adressaten als Kommunikationsgegenstand als real vom Übersetzer Unterschiedenes in gewisser Weise darzustellen, und diesem anderen mit Respekt gegenübertritt. Eine Kinderbibel, die das Fremde des biblischen Textes oder der Rezipienten aufhebt oder ausblendet, verfehlt dieses ethische Kriterium. Wenn besonders die »Gütersloher Erzählbibel« die johanneischen Texte darauf hin befragt, inwiefern sie im Interesse einer (geschlechter)gerechten Welt eine Befreiungsbotschaft haben, so ist dies im Sinne einer gerechteren Welt sicherlich förderlich, aber es verlangt nicht, »sie nicht mehr als real vorgegebenes Anderes in den Blick zu nehmen«, 19 wie dies beispielsweise bei den johanneischen »Ich-bin-Worten« in dieser Kinderbibel geschieht. Auch halte ich durch die Beifügung der von den Verfasserinnen eruierten Bedeutung der johanneischen Ich-bin-Worte die Beachtung der Adressaten für verfehlt. Als nächstes Kriterium ist zu nennen: b.) Eine Kinderbibel ist eine gute Übersetzung, wenn sie sich als ein Beitrag zu einer gemeinschaftlichen Wahrheitssuche versteht, und andere Übersetzungen, auch wenn sie inhaltlich nicht geteilt werden, als Beitrag zu dieser Wahrheitssuche versteht. Der damit angesprochene Plural möglicher Übersetzungen wird hier ausdrücklich vorausgesetzt. So ist kritisch an die »Neukirchener Erzählbibel« die Frage zu stellen, ob sie in der einseitigen Darstellung des »Evangeliums Jesu Christi« nach dem Johannesevangelium unter Ausklammerung der anderen Evangelien dieses Kriterium unterläuft. Das Markus-, Lukas und das Matthäusevangelium sind genauso zu verstehen als Evangelium Jesu Christi. Mit der alleinigen Aufnahme johanneischer Texte in dieser Kinderbibel wird die Vielfalt der möglichen Übersetzungen des Evangeliums Jesu Christi unterbunden und die Übersetzung auf der Grundlage der johanneischen Texte in dieser Kinderbibel mit einem Alleinanspruch versehen, der eine gemeinschaftliche Wahrheitssuche eher unterbindet als fördert. Das letzte Kriterium für eine Kinderbibelübersetzung lautet: c.) Eine Kinderbibel ist eine gute Übersetzung, wenn sie ihre kulturelle Verortung offen legt und sich als ein Beitrag zur kommunikativen Erschließung der Welt präsentiert. Für eine Ethik der Übersetzung von Kinderbibeln ist es überaus wünschenswert, wenn nicht nur über das hermeneutische und methodische Vorgehen in einer Kinderbibel reflektiert wird, sondern wenn die getroffenen Wahlentscheidungen nachvollziehbar gemacht werden. Die Kinderbibel »Mit Gott unterwegs« ist dahingehend zu kritisieren, dass sie es unterlässt, ihr hermeneutisches und methodisches Vorgehen sowie die übrigen Wahlentscheidungen darzulegen. So wird bei dieser Kinderbibel nicht bedacht, dass auch Kinderbibeln immer die Möglichkeit bergen müssen, zu einer kritischen Auseinandersetzung mit ihr zu gelangen. Gerade, weil Kinderbibeln eine lebensgeschichtliche Relevanz haben, ist dieser Punkt von unaufgebbarer Wichtigkeit. In der Fokussierung auf die Übersetzung des Johannesevangeliums in Kinderbibeln wird ein diskursiver Rahmen für ethische Kriterien bezüg- »Das heißt jede Übersetzung einer Kinderbibel ist immer zugleich Interpretation und Kommunikation.« 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 70 Kristina Dronsch Am Anfang war die Übersetzung ZNT 23 (12. Jg. 2009) 71 lich der in Kinderbibeln getroffenen Wahlentscheidungen geschaffen, bei der der Pluralität der Wahlentscheidungen Raum gegeben wird. Vielleicht gibt es gerade in dieser Hinsicht vom Johannesevangelium noch einiges zu lernen. Denn wie kein anderes Evangelium gibt diese Schrift zu erkennen, dass sie sich einer Wahlentscheidung verdankt: »Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch. Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen« (Joh 20,31). l Anmerkungen 1 Allerdings soll auch nicht verschwiegen werden, dass sich in jüngster Zeit eine Trendwende hinsichtlich der Berücksichtigung des Johannesevangeliums in religionspädagogischen Zusammenhängen beobachten lässt: Nicht nur die in diesem Heft rezensierte Studie von M. Kumlehn, Geöffnete Augen - gedeutete Zeichen. Historisch-systematische und erzähltheoretischhermeneutische Studien zur Rezeption und Didaktik des Johannesevangeliums in der modernen Religionspädagogik (Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs 1), Berlin / New York 2007 ist hier zu nennen, sondern auch die jüngst erschienenen religionspädagogischen Bücher: M. u. R. Zimmermann, Bibel verstehen. Am Beispiel des Johannesevangeliums. Unterrichtsmaterialien Religion betrifft uns 2, Aachen 2003, sowie G. Büttner / H. Roose, Das Johannesevangelium im Religionsunterricht. Informationen, Anregungen und Materialien für die Praxis, Stuttgart 2007, sind ein Anhaltspunkt dafür, dass sich eine Trendwende hinsichtlich der Beachtung des Johannesevangeliums in religionspädagogischen Zusammenhängen anzukündigen scheint. 2 So im Vorwort zur Neukirchener Erzählbibel. 3 So Weth, Neukirchener Erzählbibel, 473. 4 R. Schindler, »Mit Gott unterwegs« - Vorgeschichte - Textauswahl - Entstehen des Buches, in: G. Adam / R. Lachmann / R. Schindler (Hgg.), Inhalte von Kinderbibeln. Kriterien ihrer Auswahl (Arbeiten zur Religionspädagogik 37), Göttingen 2008, 219-238: 232. 5 K. Schiffner, Kinderbibeln - (k)ein Platz für feministische Theologie / Gender-Studies? ! , in: D. Klöpper / K. Schiffner / J. Taschner (Hgg.), Kinderbibeln - Bibeln für die nächste Generation? Eine Entscheidungshilfe für alle, die mit Kindern Bibel lesen, Stuttgart 2003, 66- 77: 74. 6 R. Tschirch, Art. Kinderbibel, RGG Bd. 4, 4. Aufl., Tübingen 2001, 973. 7 I. Renz, Kinderbibeln als theologisch-pädagogische Herausforderung. Unter Bezugnahme auf die Analytische Psychologie nach C.G. Jung, Göttingen 2006, 127. 8 Vgl. dazu beispielsweise die gleichnamige Broschüre von der dritten Trierer Kinderbibeltagung 1997, die vom Katechetischen Institut des Bistums Trier und der Katholischen Akademie Trier 1998 herausgegeben wurde. 9 G. Adam, Kinderbibeln - Von Luther bis heute, in: Jahrbuch für Kindertheologie 2 (2003), 157-169: 177. 10 Th. Erne, Die Kinderbibel als Medium religiöser Überlieferung, in: G. Adam / R. Lachmann (Hgg.), Kinderbibeln. Eine Lese- und Studienbuch (Schriften aus dem Comenius-Institut Bd. 1), Münster 2006, 19-30: 20. 11 M. Lauther-Pohl, Die empfehlenswerte Kinderbibel - wie sieht sie aus? Kriterien der Qualitätsprüfung, in: D. Klöpper / K. Schiffner / J. Taschner (Hgg.), Kinderbibeln - Bibeln für die nächste Generation. Eine Entscheidungshilfe für alle, die mit Kindern Bibel lesen, Stuttgart 2003, 10-25: 13. 12 J. Braun, Mit kritischem Blick auf Kinderbibeln heute. Übersicht, exemplarische Fehlformen, Beurteilung, in: Adam / Lachmann, Kinderbibeln, 140-144: 142. 13 R. Tschirch, Kinderbibeln kritisch gelesen. Vergleich verschiedner Kinderbibelerzählungen, in: Adam / Lachmann, Kinderbibeln, 119-126: 125. 14 Lauther-Pohl, Kinderbibel, 19ff. 15 Braun, Kinderbibeln heute, 142f. 16 Soweit ich sehe, ist Ch. Dohmen, Der Gott der Bibel - der Gott der Kinder? Alttestamentliche Gottesvorstellungen in Kinderbibeln, in: H.-G. Wirtz, Der Glaube der Kinder und das Gottesbild in Kinderbibeln, 37-55: 54, einer der wenigen, der explizit von Kinderbibeln als Übersetzungen spricht: »Da die Bibel selbst kein Kinderbuch ist, geht es in der Kinderbibel vor allem darum, biblische Glaubenserfahrungen für Kinder umzusetzen und die Kinder mit den biblischen Geschichten vertraut zu machen. Kinderbibeln sind folglich Übersetzungen von hochtheologischer Literatur in das Kinderbuch hinein. Dies impliziert, daß all die Probleme, Fragen und Schwierigkeiten, die uns bei Bibelübersetzungen begegnen, in besonderer Form auch bei Kinderbibeln gegeben sind.« 17 Vgl. J. Albrecht, Literarische Übersetzung - Geschichte, Theorie, Kulturelle Wirkung, Darmstadt 1998, 40.Vgl. auch A. Dimova, Das Wort »Übersetzung«, in: dies. u.a. (Hgg.),Wort und Grammatik. Festschrift für Pavel Petkov anlässlich seiner Emeritierung (Germanistische Linguistik 171-172), Hildesheim 2003, 307- 331. 18 R. Tschirch, Biblische Geschichten erzählen, in: Klöpper / Schiffner / Taschner (Hgg.), Kinderbibeln, 26-43: 31. 19 St. Alkier, Fremdes Verstehen - Überlegungen auf dem Weg zu einer Ethik der Interpretation biblischer Schriften. Eine Antwort an Laurence L. Welborn, ZNT 11 (2003), 48-59: 52. 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 71 72 ZNT 23 (12. Jg. 2009) Buchreport Martina Kumlehn Geöffnete Augen - gedeutete Zeichen. Historisch-systematische und erzähltheoretisch-hermeneutische Studien zur Rezeption und Didak tik des Johannesevangeliums in der modernen Religionspädagogik. Reihe: Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs Bd. 1, Walter der Gruyter: Berlin / New York 2007, 419 S., ISBN: 1865-1658, Preis: 98,00 Euro Die in der neuen Reihe des Verlages Walter der Gruyter erschienene Habilitationsschrift von Martina Kumlehn bringt trefflich das Anliegen dieser Reihe - nämlich die Praktische Theologie im inner- und außertheologischen Wissenschaftsdiskurs zu verorten - zur Geltung. Ihr Buch ist gleichermaßen sowohl für die Religionspädagogik als auch für die Exegese von grundlegendem Wert, denn es zeigt im Verlauf der Studie nicht nur die unter theologiegeschichtlichen Aspekten enge Verwobenheit dieser beiden theologischen Disziplinen, sondern vor allem auch wie sehr beide Disziplinen unter Einbeziehung eines außertheologischen Wissenschaftsdiskurses an gemeinsamen Arbeitsfeldern und Aufgaben gewinnen können und so das innertheologische Gespräch in Zeiten starker Fächerausdifferenzierung perspektivenreich belebt wird. Dass Martina Kumlehn als Religionspädagogin diese Aufgabe explizit im Spiegel einer neutestamentlichen Schrift - nämlich des Johannesevangeliums - entwirft, zeigt nicht nur die Bereitschaft, das innertheologische Gesprächsangebot konkret werden zu lassen, sondern auch ihr Zutrauen, dass dieses Gespräch auch mit der in der klassischen historisch-kritischen Exegese häufig als sperrig und enigmatisch charakterisierten johanneischen Erzählung gelingt. Hierfür partizipiert Kumlehn an dem Perspektivenwechsel, der sich in der gegenwärtigen Johannesexegese beobachten lässt: nämlich »die literarästhetisch wahrgenommene Textwelt des Evangeliums« (S. 2) in den Mittelpunkt der Interpretation zu stellen. Die an diesem Perspektivwechsel partizipierenden exegetischen Arbeiten werden ertragreich im Verlauf der Studie immer wieder eingebunden. Mittels der hermeneutischen Erzähltheorie von Paul Ricœur soll die johanneische Textwelt in bibeldidaktischer Hinsicht erschlossen werden, um das Johannesevangelium »aus seinem religionspädagogischen Stiefkinddasein zu befreien« (S. 3). Ganz im Duktus der von Martina Kumlehn ausgewählten außertheologischen Bezugstheorie von Ricœur wird den Leserinnen und Lesern ihres Werkes der lange Weg der Interpretation zugemutet: von einer historisch-systematischen Interpretation zur Aufnahme des Johannesevangeliums in religionspädagogischen Konzeptionen des 20. Jahrhunderts (S. 8-241) hin zu einer erzähltheoretisch-hermeneutischen Interpretation, die in Auseinandersetzung mit der Erzähltheorie von Paul Ricœur sich der Textwelt des Johannesevangeliums annähert und diese didaktisch fruchtbar macht (S. 242-381). Es ist deshalb die diesem Buch zu Grunde liegende Überzeugung, dass erst über diesen langen Weg der Interpretation ein Erkenntnisfortschritt erreicht werden kann, der die didaktischen Potentiale des Johannesevangeliums wahrnehmbar werden lässt. Der erste historisch-systematische Teil gliedert sich in fünf Einzelstudien, der einen Bogen von der liberalen Religionspädagogik hin zur Symboldidaktik Peter Biehls aufspannt und die wechselvolle Rezeption des Johannesevangeliums in der Religionspädagogik nachzeichnet. Friedrich Niebergalls Rezeption des Johannesevangeliums bildet den Auftakt (S. 8-40). Als Vertreter der liberalen Religionspädagogik wird dieser in seinen zeit- und theologiegeschichtlichen Horizont eingezeichnet, und trotz notwendiger Kritik an seinem Persönlichkeits- und Wertbegriff weiß Kumlehn die Ausführungen Niebergalls zu würdigen, weil ein »dynamisches, wechselseitiges Verhältnis zwischen Tradition und Gegenwart« (S. 21) als didaktischer Grundsatz auch für gegenwärtige religionspädagogische Diskurse von Relevanz ist, die »erneut nach einem adäquaten Verständnis von Religion, Kultur und den Möglichkeitsbedingen subjektorientierter religiöser Bildung« (S. 11f.) fragen. Wenn Kumlehn sodann den Begriff des Lebens als bestimmend in Niebergalls Didaktik herausarbeitet und diesen auch in seinem Umgang mit dem Johannesevangelium wirksam sieht, weil er als Grenzbegriff im Bereich des Selbstverständlichen und Voraussetzungslosen zu verorten ist und bei den Schülerinnen und Schülern »kulturell und individuell vielfältige Assoziationen frei setzt, die mit dem johanneischen Verständnis diskursiv in Verbindung gesetzt werden können« (S. 40), so wird implizit deutlich, dass in der Konzeption der vorliegenden Studie der Beginn mit Niebergall strukturgenetisch mit Bedacht gewählt worden ist, denn die Vorordnung der Frage nach dem Sein wird auch in dem Eingangskapitel zum Denken Rico- 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 72 Buchreport ZNT 23 (12. Jg. 2009) 73 eurs als grundlegend herausgearbeitet werden. Anhand von Marianne Timms Unterrichtswerk »Lektüre des Johannesevangeliums«, die »in dieser Weise bis heute die einzige religionspädagogisch-monographische Arbeit zum Johannesevangelium« (S. 45) sei, wird die Perspektive der evangelischen Unterweisung erschlossen und in den Denkhorizont der Vertreter der Wort-Gottes- Theologie eingezeichnet (S. 41-81). Umsichtig gelingt es Kumlehn, den offenbarungstheologischen Ansatz Timms hinsichtlich der didaktischen Konsequenzen darzustellen, die zwar vor dem Hintergrund des radikalen Entscheidungspathos zu einer Marginalisierung einer eigenständigen Didaktik und den soziokulturellen Bedingungen der Schülerwirklichkeit führt, aber zugleich mit ihrem Anliegen, »wie die neutestamentlichen Schriften den Schülerinnen und Schüler adäquat so als ›Christuszeugnisse‹ nahe gebracht werden können, dass sie Christus als Subjekt der Verkündigung in diesen Texten wahrnehmen« (S. 63), die notwendige Aufgabe der Textinterpretation in den Fokus didaktischer Überlegungen rückt. Hans Stocks Elementarisierungskonzept wird im Spannungsfeld von hermeneutischem und problemorientiertem Religionsunterricht wahrgenommen (S. 82-131). Kumlehn zeigt auf, wie Stocks Konzentration auf eine interpretative Erschließung des Geistes Jesu und seiner Wirkungen in Vergangenheit und Gegenwart es ihm ermöglicht, zu einer ausdrücklichen Würdigung des didaktischen Potentials johanneischer Texte zu gelangen. Im Gespräch mit der existential-hermeneutischen Tradition zeigt sie den bleibenden Wert des didaktischen Ansatzes von Stock auf: nämlich eine hermeneutische Rückkopplung von (biblischen) Text- und Selbstverständnis vorgenommen zu haben, das auf einen »Ruf ins Leben« (S. 131) zuläuft. Anhand von Ingo Baldermanns Rekonstruktion johanneischer Sprache und ihrer impliziten Didaktik (S. 132-161) rückt das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit in den Mittelpunkt und wird von Kumlehn dahingehend gewürdigt, dass hier die johanneische Sprach- und Denkbewegung in den Fokus didaktischer Überlegungen einbezogen wird, die zu einer engen Kopplung von Text und Leser - respektive Bibel und Schüler - führt. Hinsichtlich der Berücksichtigung der rezipierenden Instanz wirft Kumlehn diesem Ansatz jedoch eine Inkongruenz vor, die im Beharren auf der Objektivität - bzw. im Baldermannschen Sinne: der Subjektivität - des Textes als Sprachmodus seiner impliziten Didaktik liegt. »Erstaunlich bleibt jedoch, dass Baldermann durch die rezeptionsästhetischen Impulse und das beschriebene dynamische Wechselverhältnis von Textvorgabe einerseits und kreativen Aneignungsprozessen andererseits […] nicht dazu geführt wird, das Postulat einer von den Rezeptionsvorgängen unabhängigen, den Texten als solchen inhärenten Didaktik noch einmal kritisch zu bedenken« (S. 147). Die letzte und umfänglichste Studie innerhalb des ersten Teiles erfolgt zu Peter Biehls Symboldidaktik (S. 162-241). Sie hat gewissermaßen eine Scharnierfunktion, denn sie führt vermittelt über die Darstellung des Metaphern- und Symbolverständnisses von Ricœur hin zum zweiten Teil der Arbeit von Kumlehn: der Erzähltheorie des späten Ricœur. In der Konzentration auf die Leistung von symbolischer und metaphorischer Kommunikation wird das Werk von Biehl dahingehend gewürdigt, dass es das hermeneutische Grundanliegen der Vermittlungsproblematik ins Zentrum didaktischer Überlegungen gestellt habe. Die in der Didaktik von Biehl geleistete umfassende Erschließung des Symbolverständnisses von Ricœur für die Religionspädagogik, die in der berühmten Formel »das Symbol gibt zu denken« auf den Punkt gebracht werden kann, sowie die Darlegung seines Metaphernverständnis, das eine Substitutionstheorie hinter sich lässt und statt dessen Metaphern als ein surplus an Bedeutung, die zu einem »Sehen als« und »Sein wie« einladen, versteht, wird von Kumlehn als Ausgangspunkt genommen, um die dort geleistete Ästhetisierung auf die Ebene komplexer Narrationen, wie sie das Evangelium nach Johannes darstellt, hin auszuweiten. In gründlicher und kenntnisreicher Erarbeitung der Erzähltheorie Ricœurs wird das Johannesevangeliums im Gespräch mit gegenwärtigen textzentrierten exegetischen Arbeiten als eines der wichtigsten Symbolbereiche erarbeitet, in denen eine existentielle Sinnbewältigung geleistet werden kann, weil sie ähnlich wie das »Sehen als« bzw. »Sein wie« bei der Metapher durch »das fiktionale ›als ob‹ eben nicht einfach nur einen Bruch zur vorfindlichen Realität« darstellt, sondern »immer auch ein Verbindungsfunktion zur Praxis tatsächlicher Handlungen« (S. 252) erfüllt. Das narrative Inventar des Evangeliums wird als ein Entwurf von Welt dargestellt, der nicht »hinter« dem Text - im Sinne der Autorintention - verborgen ist, sondern sich »vor dem Text« finden lässt. Den Text zu verstehen heißt nicht, die Sache des Textes verstehen, sondern sich selbst vor dem Text verstehen, indem »bisher Selbstverständliches in Bezug auf das eigene Selbstverständnis« hinter sich gelassen wird, um in der Lektürearbeit zu einem »veränderte[n] Selbst- und Weltverhältnis« (S. 276) zu gelangen. Als der positiv von Kumlehn gewürdigte Hauptzug von Ricœurs hermeneutischem Modell des Textverstehens wird nicht nur die Ablehnung der Homologie und die Betonung der Vielfalt und Polysemie von Texten hervorgehoben, sondern auch die von ihm geleistete umfassende Verhältnisbestimmung von Text und Leser, die in gegenseitiger Bezogenheit gründet, denn der Leser kann sich angesichts des spezifischen Entwurfs von Welt- und Gottesbezug vor dem johanneischen Text neu verstehen, »seine eigenen Wahrnehmungsweisen der Wirklichkeit und dessen, was er für möglich hält, kritisch befragen und so im Prozess einer hermeneutisch rückgebundenen Refiguration zu der Einsicht kommen, 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 73 Buchreport 74 ZNT 23 (12. Jg. 2009) wer Jesus Christus für ihn ›bleibend ist‹« (S. 331). Spätestens hier wird deutlich, dass für die Verfasserin die Einspeisung der Erzähltheorie Ricœurs in den didaktischen Diskurs auch die Möglichkeit darstellt, die positiv gewürdigten Elemente der im ersten Teil der Studie vorgestellten bibeldidaktischen Entwürfe zum Johannesevangelium aufzugreifen und fortzuschreiben. Im Sinne einer offenen Summe skizziert die Verfasserin am Ende unter der Überschrift »das Johannesevangelium als Wahrnehmungsschule« (S. 369-380) die Schnittstellen der didaktischen Konkretion für die gymnasiale Oberstufe, die sich im Zusammenhang mit dem theoretischen Rahmen hinsichtlich der johanneischen Erzählung anbieten. Indem hier eine altersmäßige Begrenzung erfolgt, »weil die rezipientenorientierte, induktive Erschließung dieser hochkomplexen, diffizilen Erzählwelt« (S. 370) ein fortgeschrittenes Differenzierungsvermögen voraussetzt, muss die Verfasserin selbst die einschränkenden Möglichkeiten ihres didaktischen Ansatzes eingestehen. Ob diese allerdings einseitig nur dem Johannesevangelium angelastet werden können oder nicht auch in der gewählten Referenztheorie begründet liegen, sollte zumindest mitbedacht werden. Allerdings eines macht diese lehrreiche und lesenswerte Studie sehr deutlich: Die alte bibeldidaktische Gretchenfrage »Bibel oder Schüler? « kann vor dem Hintergrund der Erzähltheorie Ricœurs jenseits einer diastatischen Verhältnisbestimmung neu und äußerst fruchtbar - auch für die Bibelwissenschaften - in Beziehung gesetzt werden. Es ist die Anmerkung von Walter Benjamin, der sagt, dass es Texte gibt, die erst »nach uns« übersetzt sein werden, die im Gegenüber zu der gewählten Referenztheorie zu einer Rückfrage herausfordert: So überzeugend die hermeneutische Rückkopplung von Text- und Weltverständnis anhand Ricœurs Erzähltheorie dargelegt wird, so ist doch zu bezweifeln, dass dieses ä s th e ti s c h-p h ä n o m e n olo g i s c h e Konzept so einfach mit jedweder Semiotik kongruent ist, wie es Kumlehn vorschwebt, wenn sie von einer »ästhetisch-phänomenologischen und semiotisch ausgerichteten Religions- und Bibeldidaktik« (S. 2) als zu etablierende Zielvorstellung spricht, denn mit dem Peirceschen Gedanken eines finalen Interpretanten - verstanden als die universale Zweckvoraussetzung einer »Wahrheit« von Zeichenprozessen - kann der Hermeneutiker Ricœur nichts anfangen. Kristina Dronsch Otfried Höffe Aristoteles: Die Hauptwerke Ein Lesebuch 2009, XXIV, 536 Seiten, geb. €[D] 19,90/ SFr 35,90 ISBN 978-3-7720-8314-3 Aristoteles beginnt seine Metaphysik mit dem Satz, dass alle Menschen von Natur aus nach Wissen streben. Diese Wissbegier führt bei ihm zu einem geradezu enzyklopädischen Werk, das im Laufe der Jahrhunderte nicht nur Philosophen maßgeblich beeinflusst hat, sondern ebenso Naturforscher und Theologen, Literatur- und Politikwissenschaftler, Juristen, Psychologen und Ökonomen. Das Aristoteles-Lesebuch schließt eine Lücke auf dem deutschen Markt: Es bietet eine sorgfältige Auswahl der zentralen Texte des Aristoteles, die aus den fundiertesten deutschen Übersetzungen der entsprechenden Schriften zusammengestellt wurden. Dadurch erschließt sich dem Leser das umfassende Werk eines des wichtigsten Philosophen der Weltgeschichte. Durch Berücksichtigung auch der kleineren Schriften werden die von Aristoteles behandelten Themen, die von der Logik, von Biologie über Physik, Metaphysik bis hin zur Ethik und Politik reichen, sowohl in ihrem Zusammenhang als auch in ihrer jeweiligen Eigenständigkeit deutlich. Neue Einführung in das Werk des großen Philosophen: A. Francke Verlag · Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen · www.francke.de 020009 ZNT 23 Inhalt 03.04.2009 16: 19 Uhr Seite 74