ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
1201
2009
1224
Dronsch Strecker VogelEditorial des gekreuzigten Herrn her verstanden, so sieht Barth sie, Bonhoeffer nicht unähnlich, im unhintergehbaren Gekommensein der Herrschaft Christi begründet. Die von Eckart Reinmuth treffend eingeleitete »Kontroverse« unternimmt den Brückenschlag von der Ethik der Bergpredigt zur Politik des Evangeliums: Der Neutestamentler François Vouga bestreitet der Bergpredigt ein unmittelbares Wirksamwerden in der Sphäre politischer Programme, betont aber die erhebliche politische Brisanz einer von der Bergpredigt geformten existentiellen Haltung, die ihr Bild vom Menschen aus der unbedingten Anerkennung der Person bezieht, liegen hier doch zugleich die Grundlagen offener, pluraler und universaler Gesellschaften zugrunde. Die Politikwissenschaftlerin Tine Stein sieht gar, über Vouga hinausgehend, im Reich-Gottes- Bezug der Bergpredigt den kritischen Impuls, der die im römischen Imperium essenzielle politische Funktionalisierung von Religion untergräbt und auf eine auch institutionelle Trennung beider Bereiche hinausläuft. Der damit gewonnene Standpunkt jenseits politischer Handlungszusammenhänge ist nun aber geeignet, die Politik auf ein humanes Menschenbild zu verpflichten. Der Beitrag des Kulturwissenschaftlers Thomas Macho zeigt in der Rubrik »Hermeneutik und Vermittlung« auf, dass sich die Rede von der Politik der Bergpredigt einer topologischen Ethik verpflichtet weiß, die sich als nicht kompatibel mit dem Prozess der Temporalisierung einer Ethik erweist, die den Ethikdiskurs der Moderne prägt. Der Buchreport stellt eine aktuelle Monographie vor, die wichtige Stationen der Auslegung der Bergpredigt von der Antike bis zur Gegenwart behandelt und damit beispielhaft die steigende Bedeutung der Rezeptionsgeschichte für das Verständnis des Neuen Testaments dokumentiert. Wir hoffen, dass die Aufsätze des aktuellen Heftes der ZNT zu einem neuen Verstehen jener unerschöpften und uneinholbaren Rede Jesu beitragen, und wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre. Stefan Alkier Kristina Dronsch Manuel Vogel Liebe Leserinnen, liebe Leser, das vorliegende 24. Heft der ZNT, das die Bergpredigt zum Thema hat, ist einmal mehr interkonfessionell, interdisziplinär und international besetzt. Die den Aufsätzen beigegebenen Kurzbiographien unserer Autorinnen und Autoren sprechen für sich und seien zur interessierten Lektüre empfohlen. Aber auch inhaltlich und methodisch decken die Beiträge dieses Heftes ein breites Spektrum ab: Martin Leutzsch spitzt in seinem forschungsgeschichtlich fundierten Beitrag Themen der aktuellen Matthäusforschung auf die Bergpredigt - die Bergrede, wie er lieber sagt - zu und skizziert mehrere sozialgeschichtlich wichtige Fragestellungen. Besondere Aufmerksamkeit widmet er der Frage, ob und wie die Bergpredigt zu antiken Konstruktionen von Männlichkeit ins Verhältnis gesetzt werden kann. Zumal für die Rubrik »Neues Testament aktuell« ist sein Beitrag ein Gewinn, weil er zu einzelnen Versen der Bergpredigt detaillierte Vorschläge für weitere sozialgeschichtliche Forschungen macht. Daran schließt der Beitrag von Moisés Mayordomo an und ergänzt die Bergpredigt um die ethische Perspektive, zunächst anhand instruktiver Beispiele aus der bewegten Auslegungsgeschichte der Bergpredigt von Augustin bis zu den Täufern. Ohne die theologischen und literarischen Bezüge aus den Augen zu verlieren, skizziert er daran anschließend Wege zu einer Tugendethik der Gewaltvermeidung. Ansgar Wucherpfennig hingegen insistiert auf der theologischen Bedeutung Jesu als des Sohnes Gottes für das Verständnis der Bergpredigt, bindet aber darüber hinaus das vollmächtige Wort des Bergpredigers gleichermaßen konsequent in die Tradition der Tora Israels und des Glaubens der Kirche ein: Die Bergpredigt ist noch ganz Teil der jüdischen Tradition und bereits ganz Teil der kirchlichen. Einen anderen theologischen Akzent setzt Katherine Grieb, die uns mit der Bergpredigt-Auslegung Karl Barths eine eindrucksvolle Gegenstimme zu Lektüren in Erinnerung ruft, die in augustinischer Tradition zwischen der teilweisen oder gänzlichen Unerfüllbarkeit der Bergpredigt abwägen. Hatte Bonhoeffer die Bergpredigt vom unbedingten Ruf ZNT 24 (12. Jg. 2009) 1 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 1 2 ZNT 24 (12. Jg. 2009) 1. Drei Phasen sozialgeschichtlicher Annäherungen an die Bergrede Die 1920er Jahre Die sozialgeschichtliche Untersuchung der Bergrede hat sich in drei Phasen vollzogen. Im historischen Kontext der sozialen Probleme und Auseinandersetzungen der Weimarer Republik steht der Aufsatz des katholischen Exegeten Alphons Steinmann »Die Armen im Geiste«. 1 Die Geschichte Israels und des antiken Judentums habe von einer anfänglichen Gleichsetzung von reich und fromm über eine bei Propheten und Psalmen zu findende Identifikation von arm und fromm zur Gleichung gelehrt = fromm geführt. Jesus habe den religiösen Begriff der Armut bei den Propheten aufgenommen und transformiert: »Gerade der Teil der Frommen der späteren Zeit, der es jetzt zu Macht und Ansehen gebracht hatte, gehört als solcher nicht mehr zu den Armen. Hingegen jener andere Teil, auf den die Pharisäer so hochmütig herabsahen [sc. Zöllner und Sünder, der am ha-arez, M. L.], hat den ersten Anspruch auf diesen Titel. Indem Jesus so den religiösen Begriff der Armut steigert, hat er zugleich eine soziale Seite angeschlagen. Religiöse Armut, Seelennot mit demütigem Verlangen nach Hilfe, findet sich in allen Klassen und Ständen. Wenn daher Jesus gerade denen die Tore des Himmelreiches weit aufmacht, denen die Welt die ihrigen dicht macht, so liegt darin ein deutlicher sozialer Akzent. Die neu entstehende Gesellschaft wird ein wesentlich anderes Aussehen als die bisherige tragen.« Steinmanns sozialgeschichtliches Interesse zielte darauf ab, der Kirche, insbesondere der Karitas, den Blick für die Randgruppen seiner Zeit zu schärfen und diese Randgruppen zu einer Gesinnungsethik der Demut, des Gefühls völliger Hilflosigkeit als Bettler vor Gott aufzurufen. Damit ist implizit eine Grenze gegenüber Klassenkampf und religionslosem Proletariat gezogen. Sozialgeschichtliche Interpretation sollte aus dem Rekurs auf Jesus - Steinmann hält die Formulierung »Arme im Geist« Mt 5, 3 für jesuanisch - Normen zur Orientierung in und Gestaltung der Gegenwart gewinnen. Die 1970er Jahre Ein zweiter Impuls für sozialgeschichtliche Exegese artikulierte sich vor dem Hintergrund von Bürger-, Menschenrechts-, Studenten-, Umwelt- und Friedensbewegung in Europa und Nordamerika, von Transformationen des Kolonialismus in Afrika, Asien und Lateinamerika einschließlich der dortigen Befreiungsbewegungen. Exegetisch lag der Schwerpunkt weniger auf dem historischen Jesus als auf den Trägerkreisen jener in Mt 5-7 und anderswo verarbeiteten Überlieferungen, deren Radikalität seit jeher aufgefallen war. Gerd Theißen argumentierte für familien-, besitz- und heimatlose Wanderradikale als Trägerkreis des radikalen Ethos insbesondere der Logienquelle. 2 Theißen setzte die bewusste Entscheidung für einen radikalen Lebensstil nicht nur bei den Wanderradikalen voraus, sondern legte sie auch seinen LeserInnen in den 1970ern nahe: »Die Notwendigkeit des Friedens im Inneren und Äußeren bei gleichzeitiger Dringlichkeit sozialer Veränderung verlangt von uns vielleicht radikalere Veränderungen, als wir wahrhaben wollen.« Dem widersprach Wolfgang Stegemann, der in den einschlägigen Evangelientexten nicht eine radikale Forderung, sondern den Reflex der Lebenslage der Mehrheit der palästinischen Bevölkerung, nämlich radikales Leiden in Gestalt von Armut, Hunger und Gewalt sah. 3 Zwei unterschiedliche politische Optionen und Positionen zeichnen sich hier ab: Resultier(t)en soziale Erneuerungsbewegungen aus einer Solidarisierung mit den Armen oder aus einer Solidarisierung der Armen? Geht es in erster Linie um eine Werterevolution oder um eine politische Revolution? Im ersten Fall wäre Mt 5,3 auf eine demonstrativ von Wanderradikalen vollzogene Armut zu beziehen, im zweiten Fall als Umgestaltung eines Armutsbegriffs, der auf von vornherein Bettelarme zielte, zu verstehen. Neues Testament Aktuell Martin Leutzsch Sozialgeschichtliche Perspektiven auf die Bergrede 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 2 Martin Leutzsch Sozialgeschichtliche Perspektiven auf die Bergrede ZNT 24 (12. Jg. 2009) 3 Die 1990er Jahre Die Etablierung des sozialgeschichtlichen Paradigmas in der Exegese führte ab Mitte der 1980er Jahre in Theißens Schülerkreis und in den USA zu Forschungen, die überwiegend seit der weltpolitischen Wende von 1989 / 90 veröffentlicht wurden und deren Aufmerksamkeit sich nicht auf hypothetische Überlieferungsanfänge beim historischen Jesus oder auf Überlieferungsstadien wie die Logienquelle richtete, sondern auf die vorliegende Endgestalt biblischer Bücher. Nun galt es, das Mt insgesamt sozialgeschichtlich zu situieren. 4 Die verschiedenen Forschungsansätze - Lokalkoloritforschung, Ereignis- und Strukturgeschichte, Genderforschung, Soziorhetorik, Sozialanthropologie, Rezeptionsgeschichte, Religionsgeschichte - spiegeln die Methodenvielfalt des gegenwärtigen exegetischen Diskurses wider. Dem korrespondiert eine Wahrnehmung des Untersuchungsgegenstands, die Pluralitäten, Brüche, sich verschiebende Grenzen und Übergänge, Inter- und Multikulturalität hervorhebt und Identität als Konstruktion versteht. Das Wahrgenommene wird auf übergeordnete Fragestellungen bezogen: die Positionierung des Mt in einer Geschichte der Trennungsprozesse von Judentum und Christentum, in einer Gendergeschichte des entstehenden Christentums, in einer Sozialanthropologie der (antiken) Mittelmeergesellschaften, in einer kulturgeschichtlich ausgerichteten Religionsgeschichte der Antike, in einer Geschichte frühchristlicher Textproduktion. Wie die Bergrede sich im Horizont solcher Fragestellungen zeigt, soll im Folgenden skizziert werden. 2. Die RezipientInnen der Bergrede Wie ist der AdressatInnenkreis zu bestimmen, für den mit dem Mt insgesamt auch die Bergrede geschrieben ist? (1) Handelt es sich von ihrer Herkunft um jüdische oder um nichtjüdische RezipientInnen oder um beides? (2) Sind die AdressatInnen in ihrer Selbst- und aus der Außensicht Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft (was nichtjüdische SympathisantInnen einschließen könnte), sind sie im Verhältnis zum sich formierenden Mehrheitsjudentum eine deviante Gruppe - oder stehen sie außerhalb davon? (3) Wendet sich das Mt an Männer und Frauen in gleicher Weise, oder sind Frauen in der matthäischen Gemeinde marginalisiert? (4) Welche Bedeutung haben Haushalt, Familie und Ehe für die AdressatInnen des Mt? (5) Welche Rolle spielen in der matthäischen Gemeinde abhängige Mitglieder eines Haushalts wie Kinder und SklavInnen? (6) Ist die Gemeinde des Mt eher in einem ländlichen oder eher in einem städtischen Milieu zu situieren? (7) Sind die RezipientInnen des Mt durch bestimmte regionale Prägungen bestimmt? Diese Fragen haben Auswirkungen auf die sozialgeschichtliche Wahrnehmung der Bergrede. Prof. Dr. Martin Leutzsch, geboren 1956, studierte Evangelische Theologie in Erlangen und Bonn und absolvierte anschließend das Vikariat in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern. Promotion 1986 und Habilitation 1993 an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Professor für Biblische Theologie 1994-1998 an der Evangelischen Fachhochschule für Sozialarbeit Dresden, seither an der Universität Paderborn. Forschungsschwerpunkte: Sozial-, Gender- und Rezeptionsgeschichte der Bibel, Jesusvorstellungen der Neuzeit, Theorie und Praxis der Bibelübersetzung. Martin Leutzsch »Resultier(t)en soziale Erneuerungsbewegungen aus einer Solidarisierung mit den Armen oder aus einer Solidarisierung der Armen? « 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 3 Neues Testament aktuell 4 ZNT 24 (12. Jg. 2009) (1) Dass die Bergrede als Teil des gesamten Lehrstoffs Jesu auch für nichtjüdische Adressat- Innen bestimmt ist, schärft Mt 28,19f. ein. Befinden sich in der erzählten Welt des Mt auch unter den HörerInnen der Bergrede Nichtjuden und Nichtjüdinnen? Die Antwort hängt, da das Mt hier nicht explizit ist, von Annahmen über die ethnische Zusammensetzung der in Mt 4,25 genannten Bevölkerungsanteile ab: Werden aus Galiläa, der Dekapolis, Jerusalem, Judäa und Peräa ausschließlich jüdische Personen von Jesus angezogen, oder sollen »Dekapolis«, wo Juden in der Minderheit waren, und »Peräa«, wo es größere nichtjüdische Bevölkerungsanteile gab, andeuten, dass die Bergrede ein gemischtes Publikum hatte? Vollzieht sich die Torahinterpretation in Mt 5-7 vor Menschen, für die die Torah qua Herkunft und Erziehung verbindlich war, oder auch vor Leuten, auf die das nicht zutraf - auch wenn sie als SympathisantInnen Interesse an der Torah entwickelt haben konnten? Eine Antwort fällt nicht leicht. Wird das Mt insgesamt als an eine multikulturelle Gemeinde gerichtete interkulturelle Intervention aufgefasst (Wong), so kann Mt 5-7 als Rede an ein gemischtes Publikum verstanden werden, die den Torahkompetenten in 5,21-48 neue Interpretationen bietet und den Torahunkundigen mit der Goldenen Regel 7,12 einen Interpretationsschlüssel für die jüdische Bibel liefert (wie dies von Hillel überliefert ist: bSchabbat 31a). Ein Problem bei der These nichtjüdischer MithörerInnen sind die wiederholten Abgrenzungen gegenüber der Praxis der Völker (5,47; 6,7): Angehörige der Völker müssten »Völker« hier als »die anderen« verstehen (was keineswegs völlig ausgeschlossen wäre). Die Messlatte des Auditoriums der Bergrede sind jedenfalls die Schriftgelehrten (7,29). (2) Der Wettbewerb mit den Schriftgelehrten und Pharisäern, zu dem Mt 5,20 auffordert, zeigt, dass diesen als Orientierungsgrößen hohe Bedeutung zukommt. Ihre Lehre ist - anders als ihre Praxis - für die AnhängerInnen Jesu im Mt unmittelbar von Bedeutung (23,3). Auch der Bezugspunkt dieser Lehre, die Torah, gilt uneingeschränkt (5,17-19). Beides - die Offenheit gegenüber den Schriftgelehrten und Pharisäern und die Geltung der Torah - muss eigens eingeschärft werden, versteht sich also nicht (mehr? ) von selbst. Die Synagoge als öffentlicher Raum religiösen Lernens und Lebens (vgl. 6,2.5) wird nicht aufgegeben, jedoch als Sphäre nicht des Eigenen, sondern des Anderen wahrgenommen: Es sind »ihre«, der anderen, Synagogen (4,23; 9,35; 12,9; 13,54), für die Wir-Gruppe ein potentieller Ort der Bestrafung (10,17; 23,34). Der von Jesus im Mt wiederholt genutzte Tempel ist zur Abfassungszeit des Mt zerstört, seine Funktionen - einschließlich der Darbringung von Opfern (5,23f.) - unmöglich geworden. Die Tempelsteuer ist von den Römern zum fiscus Iudaicus umgewandelt und auf alle Juden und Jüdinnen ausgedehnt worden und stellt die davon Betroffenen vor die Frage, wie sie zu ihrem Judesein stehen (17,24- 27). 5 (3) Feministische Lektüre hat den Androzentrismus der Bergrede zum Vorschein gebracht. 6 Die androzentrische Sprache, mit der die Angeredeten als hyioi theou (»Söhne Gottes« 5,9; vgl. 5,45) bezeichnet werden, ist keineswegs zwangsläufig, da auch das geschlechtsneutrale tekna (»Kinder« 7,11) zum aktivierbaren Wortschatz gehört. Androzentrische Perspektive und Zielrichtung zeigen sich am deutlichsten in 5,28 und 5,32, wo dem männlichen Subjekt ein weibliches Objekt männlicher Blicke und männlicher Scheidungsabsichten gegenübergestellt wird. Inwieweit Frauen von den übrigen zahlreichen Ratschlägen der Bergrede in gleicher Weise wie Männer als Subjekte im Blick sind, ist angesichts des weitgehenden Fehlens einschlägiger sozialgeschichtlicher Untersuchungen (s. u. Abschnitt 4) eine offene Frage. Dass die Bergrede ein Plädoyer für eine alternative Männlichkeit darstellt, ließe sich Vers für Vers zeigen: Codierung von Männlichkeit als Gewalt, als Ostentation, als Hierarchie, im Kontext von Ehre und Schande, wird als sozialer Risikofaktor vorgeführt und abgelehnt. Vorgeschlagen wird ein Gewalt verminderndes, Gewalt unterbrechendes Ideal männlicher Gleichheit. (4) Zentrale Bezugsgröße dieser Neukonstruktion der männlichen Geschlechterrolle ist der Haushalt, als vorfindlicher sozialer Raum und als neu zu gestaltende ekklesiale Sphäre, als »house of disciples« (Crosby). Die Bettelarmen, die nicht über das vom Haushalt gebotene soziale Netz zum Überleben verfügen, werden im ersten Satz angesprochen (5,3). Der Haushalt als Produktionssphäre zur Befriedigung der Grundbedürfnisse Nahrung und Kleidung wird relativiert (6,25-34), sein Funktionieren als Überlebensraum 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 4 Martin Leutzsch Sozialgeschichtliche Perspektiven auf die Bergrede ZNT 24 (12. Jg. 2009) 5 im Vergleich vorausgesetzt (7,7-11). Er bietet die Möglichkeit zu mit Risiko behafteter Vorratshaltung (6,19-21). Am Umgang mit Familienangehörigen entscheidet sich vieles: Der Bruder ist vor eigener verbaler Aggression (5,22) und negativer Kritik (7,3-5) zu schützen, die belastende Beziehung mit ihm zu korrigieren (5,23f.), ihn zu grüßen eine Selbstverständlichkeit (5,47). Die fremde (5,28) und die eigene (5,32) Ehe ist zu achten. Die Versorgung eigener Kinder (7,11; auch hier wird zuerst an Söhne gedacht: 7,9) gehört zur nicht in Frage gestellten Rollenerwartung an die im Haushalt Mächtigen. Der im Mt anvisierte ekklesiale Haushalt, in dem Geschwisterlichkeit (und Mütterlichkeit: 12,50) die tragende Beziehungskategorie ist, kennt bis in auf Gleichheit abzielende Sprachregelungen hinein keine patriarchale menschliche Spitze (23,8-10). Ausschließliche Orientierungsgröße in diesem Haushaltsmodell ist der himmlische Vater, dessen Lobpreis durch das eigene Verhalten ermöglicht (5,16) werden soll, der in der positiven Gestaltung schwieriger menschlicher Beziehungen Vorbild ist (5,48), der auf Ostentation verzichtende soziale und religiöse Praxis würdigt (6,4.6.18), der um das den Menschen Lebensnotwendige weiß (6,8 in Verbindung mit 6,9-13) und es auch gewährt (6,26.32; 7, 11). (5) Die Bergrede richtet sich an Personen, die (zumindest gedanklich) eine Elternrolle einnehmen (können) (7,9) und als Erwachsene Opfer darbringen, Kredite aufnehmen, Eide schwören, Ehen eingehen, sexuelles Begehren zeigen, zu öffentlichen Zwangsdienstleitungen herangezogen und vor Gericht gestellt werden, die selbstständig über materielle Mittel verfügen können. Kinder sind im Mt AdressatInnen von Versorgung (18,1-5) und Zuwendung (19,13-15), mögliche Subjekte der Ratschläge der Bergrede anscheinend nicht. Entsprechendes gilt für SklavInnen: Auch sie werden nicht explizit angesprochen. Auch sie verfügen nicht über die Handlungsfreiheit, die in vielen der Ratschläge vorausgesetzt ist. Ihre Loyalitätskonflikte einschließende Lebensrealität kommt explizit nur im Vergleich 6,24 in den Blick. 7 (6) Während sich für das Mt insgesamt wahrscheinlich machen lässt, dass es eher in einem städtischen als in einem ländlichen Milieu anzusiedeln ist, 8 gibt die - außerhalb der Öffentlichkeit der Stadt wie des Dorfes situierte - Bergrede selbst keine eindeutigen Anhaltspunkte. Die Stadt auf dem Berg (5,14) wird als Vergleich herangezogen. Synagogen (6,2.5) und Gerichte (5,25f.40; vgl. 7,1) waren häufiger, aber nicht ausschließlich in Städten vorzufinden. Die überwiegend (nicht ausschließlich) männliche Feldarbeit (6,26) und die überwiegend weibliche Textilproduktion (6,28) wären eher in ein ländliches Milieu zu platzieren. Die horizontale Mobilität derer, die die Bergrede hören (4,25), kann die von Stadt- und DorfbewohnerInnen sein. (7) Die räumliche Lokalisierung des Mt ist in der Forschung umstritten. 9 Deshalb bleiben Konkretisierungen, die für einzelne Ratschläge der Bergrede und deren Voraussetzungen ein bestimmtes Lokalkolorit veranschlagen, in der Schwebe. Hinzu kommt, dass manche Problemlagen und Konfliktstoffe, auf die Mt 5-7 reagiert, keineswegs lokal oder regional eingegrenzt sind. Die öffentlichen Zwangstransportleistungen, auf die sich der Rat, freiwillig eine zweite Meile hinzuzugeben (5,41), bezieht, waren Ende des 1. Jh.s keineswegs speziell in Syrien ein Problem, das politisch geregelt werden musste (vgl. IGLSyr V 1998). Ein breiterer Überblick über das Phänomen der angareia 10 würde zeigen, dass überall und zu jeder Zeit, wo Militär und Verwaltung von der Zivilbevölkerung öffentliche Zwangstransportleistungen forderten, Konflikte und Missbrauch auftraten, Unmut und Protest seitens der Betroffenen artikuliert und politisch und juristisch interveniert wurde (oder auch nicht). Ein Problem, das in der Auslegungsgeschichte höchst unterschiedlich diskutiert wurde, nämlich ob die Bergrede an einen kleineren Kreis, eine Elite (oder Avantgarde) oder an alle gerichtet sei, stellt sich auf der Ebene des Mt m.E. nicht: Zwar werden in 5,1 nach den Volksmassen die Jünger(Innen? ) genannt, aber kann sich die Wendung »er lehrte sie« (5,2) exklusiv auf letztere beziehen und erstere ausschließen, wenn im Schlussteil der Bergrede wiederholt alle Hörenden benannt werden (7,21.24.26) und dann nur vom Volk (nicht den Jüngern) eine Reaktion beschrieben wird? Ohnehin soll das von Jesus »Bei näherem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass die Bergrede in erster Linie an erwachsene freie Männer jüdischer Herkunft gerichtet ist.« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 5 Neues Testament aktuell 6 ZNT 24 (12. Jg. 2009) im Mt Gelehrte universell verbreitet werden (28,19f.). Bei näherem Hinsehen zeigt sich allerdings, dass die Bergrede in erster Linie an erwachsene freie Männer jüdischer Herkunft gerichtet ist. Alle anderen, denen die Bergrede ja auch gelten soll, haben jeweils spezifische, auf ihre eigenen Rollen bezogene Transferleistungen zu erbringen, um die Ankündigungen und Ratschläge produktiv zu rezipieren. Die Konzentration auf Männer, der Appell an sie, an ihrem Mannsein zu arbeiten, hängt mit dem Medium Rede womöglich eng zusammen. 3. Die Bergrede als rhetorischer Ausdruck von und Appell an Männlichkeit Es gehört zu den Paradoxien der gegenwärtigen rhetorischen Erforschung des Neuen Testaments, dass die Kategorien der antiken Rhetorik mit besonderer Intensität an die Briefe herangetragen werden, während eine entsprechende Analyse der Reden der Evangelien und der Apg nur zögernd voranschreitet. 11 Hans Dieter Betz, der mit seiner rhetorischen Analyse des Gal einen Auftakt für eine ganze Forschungsrichtung gab, bleibt mit seiner Gliederung der Bergrede (5,3-16: exordium, 5,17-7,12: Hauptteil, 7,13-23: eschatologische Warnungen, 7, 24-27: peroratio) vergleichsweise allgemein und verzichtet für den größten Teil von Mt 5-7 überhaupt auf die Anwendung antiker rhetorischer Fachbegriffe. 12 Wie wäre die Rede als ganze einzuordnen? Von den drei Typen öffentlicher Rede, die griechische und römische Rhetorikhandbücher unterscheiden, gehört Mt 5-7 nicht dem dikanischen Typ, dem Plädoyer vor Gericht, an. Die Seligpreisungen und die Anreden »Salz der Erde« und »Licht der Welt« 5,3-16 entsprechen dem epideiktischen Typ, der in Lob und Tadel öffentlich Ehre und Schande austeilt. Was darauf folgt, lässt sich als symbuleutische Rede begreifen, die dem Publikum eine Orientierung für künftiges Verhalten und Leben bietet und insbesondere in den Sphären der Politik und der (philosophischen) Ethik zum Zug kommt. Als erste von mehreren Reden im Mt kann die Bergrede als Protreptikos wahrgenommen werden, 13 als Werbetext, insbesondere zugunsten einer bestimmten Philosophie und der damit verbundenen Lebensführung. Doch die Festlegung der Bergrede auf Ethik könnte eine Engführung sein. Wie David L. Balch gezeigt hat, nimmt die Wortwahl in Mt 5,17-20 einen politischen Topos auf, 14 und öffentliche, politische Dimensionen sind in Mt 5-7 direkt oder indirekt immer im Blick. Schon um ein Changieren zwischen Ethik und Politik nicht vorschnell zu vereindeutigen, ist es sinnvoll, von »Bergrede« statt von »Bergpredigt« zu sprechen. Mit der Wahrnehmung der Bergrede als einer antiken Rede kommt nun Männlichkeit mehrfach in den Blick. Untersuchungen zur Geschichte antiker Männlichkeiten haben Reden und Rhetoriken als wichtige Quellenbasis für die öffentliche Inszenierung von Männlichkeit genutzt. 15 Auch wenn antike Rednerinnen namentlich bekannt sind (Hortensia, Auphria) und politische Spitzenpositionen von Frauen in Polis und Provinz, vor allem in Kleinasien, auch deren öffentliches Reden impliziert haben dürften, sind die Rollen öffentlichen Redens und Lehrens in der Antike weitgehend männlich besetzt. Im Mt ist die Rednerrolle ein wichtiger Aspekt der Männlichkeit Jesu. 16 Auch wichtige Aspekte der Botschaft der Bergrede - Theißen sprach von Aggressionsausgleich (5,43f.) und Aggressionsrückwendung (5,22f.28f.39; 7,3ff.) 17 - lassen sich als Appell verstehen, ein in antiken Oberschichten verbreitetes Männlichkeitsideal zu befolgen: das der Selbstbeherrschung, der Bezähmung von Zorn, der Pathosdämpfung. 18 In der Bergrede wäre dieses in einer elitären - aristokratischen und philosophischen - Sphäre wurzelnde Männlichkeitsideal dann demokratisiert. Doch geht die Bergrede darüber hinaus. Selbstbeherrschung - gerade auch demonstrative - ist mit einem nicht nur in der Antike und nicht nur in Mittelmeergesellschaften verbreiteten Wertesystem kompatibel, das sozialanthropologisch als Polarität von Ehre und Schande auf den Begriff gebracht wird. Im Mittelpunkt steht dabei das Ansehen, das jemand bei den Mitmenschen hat. Hier setzt Jerome H. Neyrey an. Er liest die Bergrede als eine bewusste Umkehrung der Wertewelt von Ehre und Schande. Die Seligpreisungen 5,3-12 sind eine Ehrung derer, die entehrt sind oder denen Ehrung vorenthalten wird. In 5,21-48 werden detaillierte Vorschläge gemacht, auf die erlernten Spielregeln des gesellschaftlichen honor 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 6 Martin Leutzsch Sozialgeschichtliche Perspektiven auf die Bergrede ZNT 24 (12. Jg. 2009) 7 game und das mit dessen Vollzug erworbene symbolische Kapital zu verzichten. 6,1-18 ruft dazu auf, das Spielfeld der öffentlichen Inszenierung von Ehre zu räumen. Bei alldem geht es in erster Linie um eine Neuorientierung männlichen Verhaltens. 19 Neyreys Ansatz bietet Raum für Entdeckungen: Dass die männliche Domäne des Gerichts nach Möglichkeit vermieden werden soll, sei es in der Rolle des Angeklagten (5,25f.), des Klägers (5,39b impliziert Verzicht auf Klage wegen Ehrverletzung) oder des Richters (7,1), bedeutet die Nichtinanspruchnahme eines wichtigen gesellschaftlichen Regulativs von Ehre: Gesetzt wird auf nichtöffentliche Formen der Konfliktregelung ohne Hinzuziehung Dritter. Allerdings ist der Aufruf zum Ausstieg aus dem gesellschaftlichen Spiel um Ehre und Schande nicht völlig spannungsfrei. Wie verträgt sich der Impuls, das eigene Licht vor den Menschen leuchten zu lassen, und zwar mit Hilfe der sichtbaren schönen Taten (5,16), mit den detaillierten Vorschlägen, die Öffentlichkeit ja nichts davon merken zu lassen (6,1-18)? Wie verhält sich die Absage an den Code von Ehre und Schande zum Wettbewerbsappell (5,20) und zum Gestus der wertenden Abgrenzung (5,46f.; 6,32)? Hier scheinen Bestandteile männlicher Identitätskonstruktionen auf, auch wenn eine Umorientierung angestrebt ist, in der das Ansehen bei den Anderen durch das Ansehen bei Gott ersetzt ist. 4. Offene Fragen: Ungeschriebene Sozialgeschichten als Verständnishintergrund der Bergrede Im Einzelnen gibt es für eine sozialgeschichtliche Analyse der Bergrede noch viele Forschungsmöglichkeiten, sei es, weil einschlägige Untersuchungen noch nicht auf die Bergrede bezogen worden sind, sei es, dass solche Untersuchungen noch ausstehen. Ich nenne einige Beispiele: Zu 5,9 und 5,23f.: Wer konnte in den Provinzen des römischen Reichs in welchen Konfliktlagen von welcher Position aus mit welchen Mitteln Frieden stiften oder Frieden aufrecht erhalten? Welche Politiken, Strategien, Rituale der Versöhnung gab es in und unterhalb gesellschaftlicher Makroebenen? Zu 5,22: Wie müsste eine über die Auflistung und Analyse von Schimpfwörtern hinausgehende Geschichte der kommunikativen Gewalt, der verbalen Aggression für die Antike aussehen? 20 Wer hatte die Möglichkeit, andere zu beleidigen, zu beschimpfen, zu verspotten, verbal zu missbrauchen? Unter welchen Umständen und bei wem rief das Gegenaggression hervor, wo wurde verbale Degradierung und Verletzung ohnmächtig akzeptiert, wo gehörte Beleidigen - etwa in der literarischen Polemik - zum kommunikativen Spiel unter Gleichgestellten? Wo diente Tadel in der Lehrer-Schüler-Beziehung zur Erregung von Aufmerksamkeit, zur Motivation der Lernenden? (Wie sind die »Kleingläubigen« 6,30, wie der hypokrites 7,5 in dieses Spektrum einzuordnen? ) Welchen Einfluss hatten öffentliche und nichtöffentliche Kontexte? Welche sozialen Regeln und Rituale stehen dabei jeweils im Hintergrund? Zu 5,25f.40.42: Welche Rolle spielte Ver- und Überschuldung in unterschiedlichen sozialen Ebenen? Welche Bedeutung hatte sie für das Funktionieren des Wirtschaftssystems? Welche - nicht nur ökonomischen, sondern auch psychischen - Folgen und Implikationen für GläubigerInnen und SchuldnerInnen hatten Vergabe, Begehren und Inanspruchnahme von Darlehen? Welche sozialen Netzwerke kommen dabei und bei der Haftung ins Spiel? Welche gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, Regeln und Regelungsinstanzen spielen bei alldem eine Rolle? Welche Funktionen hatten bei Rückzahlungsunwilligkeit oder -unfähigkeit private oder öffentliche Gefängnisse, welche Lebensbedingungen herrschten in ihnen? 21 Zu 5,28: Sexuelle Gewalt, vor allem in Form von Vergewaltigung und als Ausnutzung des Gewaltverhältnisses von Herren gegenüber SklavInnen (und in anderen Abhängigkeitsbeziehungen), ist für die Antike mittlerweile ausführlich untersucht, noch kaum hingegen sexuelle Belästigung. 22 Wie sind die zahlreichen Paränesen, die den männlichen lüsternen Blick kritisieren, darauf zu beziehen? Welche Geschlechterrollenbilder (wie das der Gefährdung von Männern durch Frauenschönheit) werden dabei vorausgesetzt und transportiert? Zu 5,29f. (auch 19,12): Welche Anlässe, Motive, Formen und Funktionen gab es für Selbstverstümmelung? Wie verhält sich Selbstverstümmelung zu in derselben Gesellschaft existierenden 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 7 Neues Testament aktuell 8 ZNT 24 (12. Jg. 2009) Verstümmelungsstrafen? Welche Bilder von (individuellem, genderdefiniertem, gesellschaftlichem) Körper liegen dem zugrunde? Zu 5,31f.: Was hätte eine Sozialgeschichte der Ehescheidung im antiken Judentum - die auch die Forschungskontroverse um das Scheidungsrecht jüdischer Frauen einbeziehen müsste - über Scheidungsursachen, über die Lebenswirklichkeit geschiedener Frauen, über die Bewältigung wirtschaftlicher, rechtlicher, sozialer Probleme, die Beziehungen zur Herkunftsfamilie und zu in der Ehe geborenen Kindern, über Strategien und Schwierigkeiten von Wiederverheiratung zu sagen? Was war auf welcher sozialen Ebene leichter oder schwerer zu realisieren und zu ertragen? Zu 5,33f.: Welche sozialen Bedeutungen und Folgen hatten die verschiedenen Formen und Funktionen von Eiden in der Antike? Wie sind die hellenistisch-römischen Zeugnisse über das Unterlassen und Untersagen von Eiden und über Widerstand gegen Eidforderungen sozialgeschichtlich einzuordnen? Gab es im hellenistischrömischen Judentum eine Krise des Eides? Welche Folgen hatte es, den Loyalitätseid auf den jeweiligen römischen Kaiser, der den Provinzialen immer wieder auferlegt wurde, zu verweigern? 23 Zu 5,39b: Eine umfassende Geschichte von Schlagritualen in der Antike steht aus. Welche Schlagrituale setzen zwischen den Beteiligten gesellschaftliche Ungleichheit voraus (etwa: Eltern - Kinder, Herren - Sklaven, Ehemänner - Ehefrauen), sind daher gesellschaftlich anerkannt und mit der Erwartung der Duldung durch die geschlagene Person belegt - bis hin zu negativen Folgen bei Zuwiderhandeln? Welche gesellschaftlichen und rechtlichen Mechanismen greifen, wenn jemand eine sozial gleichrangige Person ohrfeigt? Womit muss rechnen, wer eine sozial über ihm oder ihr stehende Person schlägt? Was sagen solche teils anerkannten, teils abgelehnten Schlagrituale über Gewaltverhältnisse einer ganzen Gesellschaft aus? Zu 5,43f. (auch 5,23f.): Feindschaft ist eine wichtige soziale Nahbeziehung, aber (anders als Freundschaft) wenig untersucht. Welche Feindschaftsdiskurse und -praktiken gab es in antiken Gesellschaften, welche Rituale der Initiierung, des Austrags und der Beendung (oder Unterbrechung) von Feindschaftsbeziehungen? Wie war das Verhältnis von Norm und Normverletzung, wie stand es um die gesellschaftliche Billigung oder Ächtung bestimmter Formen und Verläufe von Feindschaft? Was an Feindschaft ist gender-, schicht-, gesellschafts-, kultur- und epochenspezifisch? Zu 6,16-18: Menschen, ihre Absichten und Handlungsweisen sind im Mt oft nicht von vornherein durchschaubar: Wer ist wahrer, wer falscher Prophet (7,15-19)? Wer gehört zum - vom Weizen kaum zu unterscheidenden - Taumellolch (13,24-30.36-43)? Wie verhält sich das in 6,17f. angeratene Sich-Verstellen zu abgelehnten Formen und Zielen von Verstellung (im Mt mit hypokrisis und hypokrites markiert)? Hier könnte eine differenzierte - schon im Blick auf das Mt auf Differenzierung angewiesene - Sozialgeschichte der Simulation in der Antike ansetzen, zu der es, von der Sozialgeschichte der SchauspielerInnen und der Gendergeschichte des Crossdressing abgesehen, noch kaum Vorarbeiten gibt. 24 Zu 6,19-21 (auch 19,16-30 und 5,3): Während die Sozialgeschichte der Armut im antiken Judentum in den letzten Jahrzehnten in der Forschung Aufmerksamkeit gefunden hat, gibt es noch keine Sozialgeschichte des Reichtums im östlichen Mittelmeerraum der römischen Kaiserzeit, die (neben archäologischen Zeugnissen, Inschriften und Urkunden) das jüdische Quellenmaterial auswerten würde. 25 Zu 7,1-5: Eine Sozialgeschichte des Vorurteils (und der Vorurteilskritik), die neben Ethnostereotypen (»Barbaren«; im Mt: »Völker«) und Gruppenstereotypen (»Pharisäer«) auch Genderstereotypen und Berufsstereotypen (»Steuereinnehmer« Mt 5,46) und Artikulationsformen wie Tiervergleiche (»Schweine« 7,6; »Wölfe« 7,15) einbeziehen und gesellschaftliche Meso- und Mikroebenen berücksichtigen würde, wäre ein wichtiger Beitrag zum Verständnis nicht nur antiker Gesellschaften. Ich breche hier ab und nenne noch drei übergreifende Untersuchungsgegenstände, deren Erforschung helfen könnte, die Bergrede (und zentrale Dimensionen des Mt insgesamt) sozialgeschichtlich zu kontextualisieren: - die gesellschaftliche(n) Konstruktion(en) und der gesellschaftliche Umgang mit dem Bösen (vgl. Mt 5,37.39.45; 6,13; 7,11); - die gesellschaftliche Selbst- und Fremdwahrnehmung von Schuld (Mt 6,12.14f.), Rituale und Strategien der Bewältigung von Sünde, Konver- 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 8 Martin Leutzsch Sozialgeschichtliche Perspektiven auf die Bergrede ZNT 24 (12. Jg. 2009) 9 genzen von Sündenvergebung und (ökonomischem) Schuldenerlass; 26 - der jeweilige soziale Horizont von Artikulationen (auch unterdrückten) von Angst und der Bewältigung von Ängsten - als Hintergrund für die Thematisierung von Zukunftsängsten (Mt 6,25-34), für Ratschläge, die dem Angstabbau förderlich sein können (woraufhin 5,21-48 zu lesen wäre), für das Beten als Artikulation und Delegation von Sorge (6,7-13), für das Aushalten von ängstigenden Situationen (5,11f.), aber auch für den Hinweis, auf der Hut zu sein (7,15) und für den Angstaspekt, der in der Artikulation des Tun- Ergehen-Zusammenhangs in Warnungen und Drohungen für jetzt (5,22.25f.) und später (5,29f.; 6,14f.; 7,1.21-23) mitschwingt. 27 5. Gerechtigkeit für die Bergrede, Gerechtigkeit jetzt Sozialgeschichtliche Wahrnehmung macht sensibel für Alltagsdimensionen jener hermeneutischen Differenz zwischen auslegendem Subjekt und ausgelegtem Text, die historisch-kritische Exegese von Anfang an zur Beachtung gab. Zugleich kann sozialgeschichtliches Fragen präzises Erkennen von Nähe ermöglichen. Umgang mit dem Bösen, mit Schuld(en), mit Angst sind auch heute, auch in den wirtschaftlich stärksten Gesellschaften der Erde bedrängende Themen. Solche Erkenntnis der Nähe sollte nicht dazu führen, die Bergrede pauschal auf »uns« mehr oder weniger gut (im Weltmaßstab: alle sehr gut) Abgesicherte zu beziehen, womöglich so, dass »wir« die Seligpreisungen willkommen heißen und die anschließenden Ratschläge allenfalls sehr selektiv und wenig folgenreich überdenken und beherzigen. Der Impuls, den ich in meiner sozialgeschichtlichen Lektüre in der Bergrede finde - an hegemonialer Männlichkeit zu arbeiten, von ihr abzurücken -, stellt Fragen an meine Identitätskonstruktion und Alltagspraxis. Diese Verunsicherung möchte ich nicht ausblenden, ebenso wenig Irritationen, die andere bei genauer Lektüre entdeckt und benannt haben. So lese ich in einem Kommentar zu Mt 6,11: »Die vierte Unservaterbitte gehört in eine Situation sozialer Bedrängnis, in der die Nahrung für den folgenden Tag nicht einfach selbstverständlich vorhanden ist. ›Brot‹ als wichtigstes Nahrungsmittel kann [...] für ›Nahrung‹ überhaupt stehen, aber nicht darüber hinaus auf irgendwelche Lebensbedürfnisse überhaupt ausgeweitet werden. Man kann etwa an die Situation eines Tagelöhners denken, der noch nicht weiß, ob er am folgenden Tag wieder eine Arbeit findet, wovon er mit seiner Familie leben kann.« 28 Es gibt dazu eine Fußnote. Dieser Fußnote wegen liebe ich diesen Kommentar: »Die starke Verwurzelung dieser Bitte in der Situation des Armen läßt natürlich fragen, wie denn überhaupt ein sozial gesicherter Bewohner einer Industrienation sie mitbeten kann.« Und der Versuch einer Antwort: »Meine Antwort: Eher so, daß er sie zur ›fremden‹ Bitte macht und in ihr sich mit den wirklich Armen und ihrer Not identifiziert, als so, daß er sie textfremd auf andere Bedürfnisse ausweitet.« 1985, als Ulrich Luz diese Sätze veröffentlichte, gab es in den Industrieländern noch eine vergleichsweise breite Solidaritätsbewegung, die mit den von Not, Gewalt und Unfreiheit Betroffenen in Afrika, Lateinamerika und Asien zusammenarbeitete. Mit den politischen Umbrüchen ab 1989 ist diese Solidaritätsbewegung sehr viel kleiner, ist es um sie ruhig geworden und sind ganze Erdteile aus den Medien - und aus den Fürbitten 29 - verschwunden. Still geworden ist es um »Gerechtigkeit« - Wort und Sache -, und hier gilt nicht, dass am meisten von dem gesprochen wird, was fehlt. Insofern artikuliert die Bergrede etwas, was in den hegemonialen Zentren der Weltgesellschaft ausgeblendet ist, ein Realitätsprinzip, das einem profitorientierten Realitätsverlust gegenüber steht: dikaiosyne ist in der Bergrede zentrales Stichwort, Objekt der Sehnsucht (5,9), Orientierung des Handelns (6,33), Gestalt und Ziel von Praxis (5,20). Nur ohne Wissen um die Begriffsgeschichte von z e daqah ließe sich theologisch ein Gegensatz zwischen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit konstru- »Still geworden ist es um ›Gerechtigkeit‹ - Wort und Sache -, und hier gilt nicht, dass am meisten von dem gesprochen wird, was fehlt.« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 9 Neues Testament aktuell 10 ZNT 24 (12. Jg. 2009) ieren. In Mt 6,1-4 werden dikaiosyne und eleēmosyne synonym verwendet, und auf die Seligpreisung derer, die nach dikaiosyne trachten, folgt nicht zufällig die der eleēmones (5,6.7). Als öffentliche Werberede zugunsten des Lernziels Solidarität ist die Bergrede zu lesen. Anmerkungen 1 Vgl. A. Steinmann, Die Armen im Geiste. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung, ThGl 14 (1922), 94-105; das folgende Zitat ebd. 105 (Hervorhebung im Original). 2 Vgl. G. Theißen, Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19), Tübingen 2 1983, 79-230; ders., Soziologie der Jesusbewegung. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Urchristentums (ThExh 194), München 1977 (das folgende Zitat ebd. 111). 3 Vgl. W. Stegemann, Wanderradikalismus im Urchristentum? Historische und theologische Auseinandersetzung mit einer interessanten These, in: W. Schottroff / W. Stegemann (Hgg.), Der Gott der kleinen Leute. Sozialgeschichtliche Auslegungen 2: Neues Testament, München / Gelnhausen / Berlin / Stein 1979, 94-120, bes. 115. 4 Vgl. M.H. Crosby, House of Disciples: Church, Economics, & Justice in Matthew, Maryknoll 1988; G. Theißen, Lokalkolorit und Zeitgeschichte in den Evangelien. Ein Beitrag zur Geschichte der synoptischen Tradition (NTOA 8), Freiburg / Göttingen 1989; J.A. Oberman, Matthew’s Gospel and Formative Judaism: The Social World of the Matthean Community, Minneapolis 1990; ders., Church and Community in Crisis: Gospel According to Matthew (New Testament in Context), Valley Forge 1996; D.L. Balch (Hg.), Social History of the Matthean Community. Cross-Disciplinary Approaches, Minneapolis 1991; K.-Ch. Wong, Interkulturelle Theologie und multikulturelle Gemeinde im Matthäusevangelium. Zum Verhältnis von Juden- und Heidenchristen im ersten Evangelium (NTOA 22), Freiburg / Göttingen 1992; A. Feldtkeller, Identitätssuche des syrischen Urchristentums. Mission, Inkulturation und Pluralität im ältesten Heidenchristentum (NTOA 25), Freiburg / Göttingen 1993; A.J. Saldarini, Matthew’s Christian-Jewish Community (Chicago Studies in the History of Judaism), Chicago / London 1994; J.H. Neyrey, Honor and Shame in the Gospel of Matthew, Louisville 1998; W. Carter, Matthew and the Margins: A Sociopolitical and Religious Reading, Maryknoll 2000; B.J. Malina / R.L. Rohrbaugh, Social-Science Commentary on the Synoptic Gospels, Minneapolis 2 2003. 5 Vgl. M. Leutzsch, Frühchristliche Öffentlichkeit in den Paulusbriefen und den Evangelien, in: G. Binder / K. Ehlich (Hgg.), Kommunikation in politischen und kultischen Gemeinschaften (BAC 24), Trier 1996, 133- 165: 144f. 6 Nachweise in M. Leutzsch, Konstruktionen von Männlichkeit im Urchristentum, in: F. Crüsemann / M. Crüsemann / C. Janssen / R. Kessler / B. Wehn (Hgg.), Dem Tod nicht glauben. Sozialgeschichte der Bibel. Festschrift für Luise Schottroff zum 70. Geburtstag, Gütersloh 2004, 600-618: 614 mit Anm. 19; ebd. 614- 617 eine die Bergrede einbeziehende Skizze zur Konstruktion von Männlichkeit im Mt. 7 Die bis in jüngste exegetische Veröffentlichungen zu findende Annahme, Sklavenbesitz durch mehrere EigentümerInnen sei allenfalls eine Ausnahme gewesen, ist sozialgeschichtlich nicht haltbar. Belege gibt es für das Athen des 4. Jh.s v.u.Z. (z. B. Demosthenes, or. 40), das ptolemäische (z. B. PCZ 59355,133ff.) und römische Ägypten (z. B. POxy 332), das spätrepublikanische (z. B. Cicero, Pro Roscio) und kaiserzeitliche Rom (M. Bretone, Servus communis. Contributo alla storia della comproprietà romana in età classica [Pubblicazioni della Facoltà giuridica dell’Università di Napoli 30], Napoli 1958), das kaiserzeitliche Makedonien (Apg 16,16-18); für das kaiserzeitliche jüdische Palästina vgl. Mekhilta Mischpatim zu Ex 21,20; bBQ 90a. 8 Vgl. Leutzsch, Öffentlichkeit, 144.147; Crosby, House, 39-43. 9 Ein starkes Argument für das Ostjordanland ist m.E. Mt 19,1, wo das Bergland Judäas als jenseits des Jordan liegend bezeichnet wird. Ein Argument, das gern für eine Lokalisierung in Antiocheia angeführt wird - dass das Mt zuerst von Ignatios von Antiocheia zitiert wird - ist nicht stichhaltig: Nach dieser Logik müsste 1Kor statt in Ephesos (1Kor 16,8) in Rom abgefasst sein, weil er zuerst in 1Clem zitiert wird. 10 Eine umfassende Untersuchung fehlt; wichtig St. Mitchell, Requisitioned Transport in the Roman Empire: A New Inscription from Pisidia, JRS 66 (1976), 106- 131; B. Isaac, The Limits of Empire. The Roman Army in the East, Oxford 1990, 291-297. Syrisches Lokalkolorit vermutete Theißen, Lokalkolorit, 263, gefolgt von Feldtkeller, Identitätssuche, 17. 11 Dies gilt auch für die zahlreichen Vergleichstexte, insbesondere die in griechische und römische Biographien und Geschichtswerke inkorporierten Reden und für die Reden in antiken jüdischen Texten. Die Einsicht, dass es in einer Kultur konkurrierende Rhetoriken gab (im Hellenismus etwa die Konkurrenz von Attizismus und Asianismus), wäre durch die Frage nach der Kulturspezifik von (griechischen, römischen, jüdischen) Rhetoriken zu erweitern. 12 Vgl. H.D. Betz, The Sermon on the Mount. A Commentary on the Sermon on the Mount, including the Sermon on the Plain (Matthew 5: 3-7: 27 and Luke 6: 20- 49), Minneapolis 1995, 50-66. 13 Vgl. K. Berger, Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984, 70.218. 14 Vgl. D.L. Balch, The Greek Political Topos Peri nomōn and Matthew 5: 17,19, and 16: 19, in: ders. (Hg.), History 68-84. Für eine Lektüre von Mt 5-7 als politische Rede ist das von Louis Althusser inspirierte Buch von S. van Tilborg, The Sermon on the Mount as an Ideological Intervention. A Reconstruction of Meaning, Assen / Maastricht / Wolfeboro 1986, aufschlussreich. 15 Vgl. E. Gunderson, Staging Masculinity: The Rhetoric of Performance in the Roman World, Ann Arbor 2000; M. W. Gleason, Making Men: Sophists and Self-Presentation in Ancient Rome, Princeton 1995, bes. 103-158. 16 Vgl. C. M. Conway, Behold the Man: Jesus and Greco- Roman Masculinity, Oxford 2008, 107-125, bes. 113-115. 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 10 Martin Leutzsch Sozialgeschichtliche Perspektiven auf die Bergrede ZNT 24 (12. Jg. 2009) 11 17 Vgl. Theißen, Jesusbewegung, 93f.96-101. 18 Vgl. W.V. Harris, Restraining Rage: The Ideology of Anger Control in Classical Antiquity, Cambridge, Mass. / London 2001; N. Fisher, Violence, Masculinity and the Law in Classical Athens, in: L. Foxhall / J. Salmon (Hgg.), When Men Were Men: Masculinity, power and identity in classical antiquity, London / New York 1998, 68-97, bes. 80-86; Gunderson, Masculinity, 87-110; L. Giuliani, Bildnis und Botschaft. Hermeneutische Untersuchungen zur Bildniskunst der römischen Republik, Frankfurt 1986, 129-133.200-220; auf Mt 5-7 bezogen: Conway, Behold, 118-120. 19 Vgl. Neyrey, Honor, 164-228; zum Focus auf Männlichkeit bes. 211-222. 20 Anregend F. Kiener, Das Wort als Waffe. Zur Psychologie der verbalen Aggression, Göttingen 1983. 21 Eine ausführliche Untersuchung kaiserzeitlicher Gefängnisse liegt mittlerweile vor: J.-U. Krause, Gefängnisse im Römischen Reich (HABES 23), Stuttgart 1996. 22 Vgl. hierzu I. Stahlmann, Der gefesselte Sexus. Weibliche Keuschheit und Askese im Westen des Römischen Reiches, Berlin 1997, 54-58. 23 Zum Kaisereid grundlegend P. Herrmann, Der römische Kaisereid. Untersuchungen zu seiner Herkunft und Entwicklung (Hypomnemata 20), Göttingen 1968. Schon unter Herodes I. war der Loyalitätseid im Judentum ein Politikum: Essener und Pharisäer wurden davon entbunden (Josephus, ant. 15,370f.), die den Eid auf Herodes und Augustus verweigernden Pharisäer bei einer anderen Gelegenheit (ebd. 17,42) mit einer Geldstrafe belegt. Apion warf den alexandrinischen Juden vor, Gaius Ehre und Loyalitätseid verweigert zu haben (ebd. 18,258). 24 Zur Semiotik der Simulation vgl. E. Güttgemanns (Hg.), Das Phänomen der »Simulation«. Beiträge zu einem semiotischen Kolloquium (FThL 17), Bonn 1991; ebd. 71-85 auch die Studie von W. Stenger, Zur Semantik und Pragmatik von hypokrisis im Matthäusevangelium. 25 Zur Sozialgeschichte der Armut vgl. G. Hamel, Poverty and Charity in Roman Palestine, First Three Centuries C.E. (University of California Publications, Near Eastern Studies 23), Berkeley / Los Angeles / Oxford 1990; W. Stegemann, Das Evangelium und die Armen. Über den Ursprung der Theologie der Armen im Neuen Testament (KT 62), München 1981. Zur Sozialgeschichte des Reichtums vgl. S. Mratschek-Halfmann, Divites et praepotentes. Reichtum und soziale Stellung in der Literatur der Prinzipatszeit (Historia E. 70), Stuttgart 1993. 26 Einige Ideen dazu bei M. Leutzsch, Verschuldung und Überschuldung, Schuldenerlaß und Sündenvergebung. Zum Verständnis des Gleichnisses Mt 18,23-35, in: M. Crüsemann / W. Schottroff (Hgg.), Schuld und Schulden. Biblische Traditionen in gegenwärtigen Konflikten (KT 121), München 1992, 104-131. 27 Es ginge dabei um eine Sozialgeschichte der Angst, zu der A. Kneppe, Metus temporum. Zur Bedeutung von Angst in Politik und Gesellschaft der römischen Kaiserzeit des 1. und 2. Jhdts. n. Chr., Stuttgart 1994, einen wichtigen Beitrag geleistet hat. Die Untersuchung von E.R. Dodds, Pagan and Christian in an Age of Anxiety. Some Aspects of Religious Experience from Marcus Aurelius to Constantine. Cambridge 1965, ist anregend, bedarf aber der Differenzierung, vgl. R.C. Smith / J. Lounibos (Hgg.), Pagan and Christian Anxiety: A Response to E. R. Dodds, Lanham 1984. Für das Mk vgl. Th. Vogt, Angst und Identität im Markusevangelium. Ein textpsychologischer und sozialgeschichtlicher Beitrag (NTOA 26), Freiburg / Göttingen 1993. 28 U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus 1: Mt 1-7 (EKK I / 1), Zürich / Einsiedeln / Köln / Neukirchen- Vluyn 1985, 347; die folgenden Zitate ebd. Anm. 91. 29 Vgl. dazu M. Leutzsch, Unterlassene Fürbitte, Thema Gottesdienst 22/ 2004, 31-41. 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 11 12 ZNT 24 (12. Jg. 2009) Fragen von Gewalt und Gewaltvermeidung sind derart eng mit der Bergpredigt in Mt 5-7 verbunden, dass in der populären Verwendung »Bergpredigt« geradezu zum Inbegriff einer radikalen Form pazifistischer Lebenshaltung werden kann. Dabei konzentriert sich die Diskussion im Wesentlichen auf die Auslegungsprobleme um Mt 5,38-48. Angesichts der literarischen Kunst, mit welcher der Evangelist »Matthäus« die erste Rede Jesu komponiert und in den Gesamtrahmen seiner Erzählung integriert hat, birgt die Herauslösung eines einzelnen Textabschnitts die Gefahr, dass viele Sinnzusammenhänge, die der Gesamttext seinen Rezipienten anbietet, unerkannt bleiben. Da auch die Wirkungsgeschichte zu einem nicht unerheblichen Maß jede Annäherung an diesen Text prägt, möchte ich mich im Folgenden aus unterschiedlichen Richtungen der Gewaltfrage nähern. Was die definitorischen Probleme des Gewaltbegriffs anbelangt, 1 soll hier die grundlegendste Erfahrung von Gewalt im Vordergrund stehen: die physische Schädigung einer anderen Person. 1. Wirkungsgeschichtliche Typologien »So werden dann auch zweifellos die unchristlichen, ja teuflischen Waffen der Gewalt von uns fallen, als da sind Schwert, Harnisch und dergleichen und jede Anwendung davon, sei es für Freunde oder gegen die Feinde - kraft des Wortes Christi: Ihr sollt dem Übel nicht widerstehen.« (Mt 5,39) So formulierte 1527 der Schweizer Täuferführer und frühere Benediktinermönch Michael Sattler im Schleitheimer Bekenntnis (Art. 4). Noch im gleichen Jahr bezahlte er seine Glaubensüberzeugungen mit dem Leben. In den Wirren der Reformationszeit galt eine solche Form des Gewaltverzichts als staatsgefährdend. 2 Gegen diese radikalen Lehren haben die Reformatoren ihre Stimme erhoben. Stellvertretend sei Luther zitiert: »Vielleicht wollte nun jemand die Welt nach dem Evangelium regieren und alles weltliche Recht und Schwert aufheben... Bitte, rate einmal: Was würde ein solcher damit anstellen? Er würde den wilden bösen Tieren die Bande und Ketten auflösen, dass sie jedermann zerrissen und zerbissen... So würden die Bösen unter der Decke des Christennamens die evangelische Freiheit missbrauchen, ihre Bubenstücke treiben und behaupten, sie seien Christen und darum keinem Gesetz und Schwert unterworfen; so toll und närrisch sind jetzt schon einige.« (1523: Von weltlicher Obrigkeit, wieweit man ihr Gehorsam schuldig sei = WA 11,245-280) Verrückte Narren… Dieses Urteil gilt jenen, die sich in ihrem politischen Handeln nach dem einfachen Wortlaut der Bergpredigt zu richten versuchen. Wie beunruhigend diese Haltung wirkte, lässt sich der Anklageakte entnehmen, die in Mai 1527 in Rottenburg am Neckar Michael Sattler die Verurteilung zum Scheiterhaufen einbrachte. Der letzte von neun Anklagepunkten lautete: »Er hat gesagt: Wenn die Türken ins Land kämen, solle man keinen Widerstand leisten, und wenn Krieg führen recht wäre, wolle er lieber gegen die Christen als gegen die Türken ziehen, was doch ein starkes Stück ist, den größten Feind unseres heiligen Glaubens uns vorzuziehen.« 3 Wer damals Gewaltlosigkeit ins Zentrum christlicher Identität rückte, musste mit einem gewaltsamen Tod rechnen. Die historische Konstellation in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts war gewiss einmalig, aber die sachliche Auseinandersetzung um die Bergpredigt ist so alt wie das Christentum selbst. Über 1100 Jahre vorher, im Jahre 412, schrieb Flavius Marcellinus († 413), ein hoher Beamter am Kaiserhof, an den angesehenen Bischof und Theologen Aurelius Augustinus einen Brief mit der Bitte, Fragen eines befreundeten Nichtchristen namens Volusianus zu beantworten. Dieser hatte, unter anderem, als Einwand gegen die christliche Moral das Argument vorgebracht, dass sie ganz offensichtlich unvereinbar sei mit den staatlichen Rechten und Pflichten Zum Thema Moisés Mayordomo Gewaltvermeidung in der Bergpredigt 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 12 Moisés Mayordomo Gewaltvermeidung in der Bergpredigt ZNT 24 (12. Jg. 2009) 13 eines freien römischen Bürgers (Augustin, Ep. 136,2 = PL 33,515). Volusianus bezieht sich direkt auf Texte aus der Bergpredigt, besonders auch auf die Anweisung, die andere Wange hinzuhalten. Wer würde, so fragt der Christentumskritiker, ernsthaft davon Abstand nehmen wollen, einem Angreifer, der eine römische Provinz geplündert hat, diese Untat mit allen Übeln des Krieges heimzuzahlen? Augustin hat auf diese Frage geantwortet: Es geht bei dem Hinhalten der anderen Wange um die Ausübung von wahrer Tugendhaftigkeit, von Selbstbeherrschung und Geduld angesichts persönlicher Leiderfahrungen. Damit gelingt es ihm, die Worte Jesu im Rahmen spätantiker Wertvorstellungen neu zu verorten (Ep. 138,12 = PL 33,530). Er geht noch einen Schritt weiter: Die Anweisungen Jesu beziehen sich nicht auf das Gebiet äußerlich sichtbarer Handlungen, sondern auf die innere Charakterdisposition (Ep. 138,13). Selbstverständlich wird der Christ als vorbildhafter Bürger das Reich mit kriegerischen Mitteln zu verteidigen suchen, er wird jedoch der Anweisung Jesu dadurch gerecht, dass er barmherzig mit den Besiegten umgehen und von brutalen Vergel tungsaktionen Abstand nehmen wird (Ep. 138,14). Sattler, Luther, Augustin und der kritische Volusianus verkörpern unterschiedliche Positionen im Hinblick auf die direkten Implikationen christlicher Gewaltlosigkeit: die idealistische, beinahe jugendliche Radikalität der frühen Täufer; den verantwortungsethischen, beinahe abgebrühten Realismus Luthers; die tugendethische, beinahe beruhigende Verinnerlichung Augustins und die kritische und keineswegs böswillige Feststellung eines unauflösbaren Widerspruchs zwischen den Grundsätzen Jesu und den Erfordernissen politischen Handelns durch Volusianus. Es gibt in der bewegten Auslegungsgeschichte der Bergpredigt noch viele andere Positionen, 4 aber mit diesen vier Optionen möchte ich nicht nur historisch relevante Stationen markieren, sondern zugleich auf die unterschiedlichen Reaktionen aufmerksam machen, welche die Worte Jesu auch in der Neuzeit auszulösen vermögen. Für Max Weber war die Bergpredigt eine »Ethik der Würdelosigkeit« für Heilige, für Altkanzler Helmut Schmidt war sie angesichts von Verdichtungen des Bösen wie Hitler und Stalin ebenso naiv wie absurd, für Tolstoj, Mahatma Gandhi, Martin Luther King und einen Teil der frühen Friedensbewegung war sie ein Grundlagendokument des passiven Widerstands und der Kritik am Rüstungswettlauf. Insgesamt ist die Stabilität der Auslegungstypologien erstaunlich. Die Worte Jesu sind über die Jahrhunderte hinweg offenbar in der Lage gleichermaßen zu motivieren, zu irritieren und zu polarisieren. An den Rändern der Bergpredigt bilden sich stets die Gräben zwischen Idealisten und Realisten, zwischen alternativen Lebensent- Doz. Dr. Habil. Moisés Mayordomo, 1966 in Barcelona (Spanien) geboren, nach Schulausbildung in Mannheim Studium der Theologie in Gießen, Heidelberg, London (King’s College) und Bern, 1997 Promotion, 2004 Habilitation, von 1996-2006 Assistent und Oberassistent bei Prof. Dr. U. Luz, seit 2006 Dozent für Neues Testament und Antike Religionsgeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Bern. Veröffentlichungen u.a.: Den Anfang hören. Leserorientierte Evangelienexegese am Beispiel von Matthäus 1-2 (FRLANT 180), Göttingen 1998; Argumentiert Paulus logisch? Eine Analyse vor dem Hintergrund antiker Logik (WUNT 188), Tübingen 2005; mit W. Dietrich: Gewalt und Gewaltüberwindung in der Bibel, Zürich 2005; Konstruktionen von Männlichkeit in der Antike und in der paulinischen Korintherkorrespondenz, EvTh 68 (2008), 99-115; Gewalt in der Johannesoffenbarung als Problem ethischer Kritik, in: M. Mayordomo / P. Lampe / M. Sato (Hgg.), Neutestamentliche Exegese im Dialog: Hermeneutik - Wirkungsgeschichte - Matthäusevangelium (FS U. Luz), Neukirchen- Vluyn 2008, 45-70; Möglichkeiten und Grenzen einer neutestamentlich orientierten Tugendethik. Ein programmatischer Entwurf, ThZ 64 (2008), 213-257. Moisés Mayordomo 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 13 Zum Thema 14 ZNT 24 (12. Jg. 2009) würfen und der Bestrebung, bestehende Verhältnisse zu regeln, zwischen radikaler Nachfolge und Verantwortungsethik. Dabei sind alle »Lager« auf die diskursiven Grenzziehungen dieser Alternativen angewiesen. 2. Kontexte der Gewaltvermeidung im Matthäusevangelium 2.1. Friedenstugenden Im Sinne aktueller tugendethischer Fragestellungen lässt sich unter Tugend eine Charakterdisposition verstehen, die Urteile und Emotionen umfasst und dadurch moralisches Handeln intrinsisch motiviert. 5 Bevor die Frage nach abstrakten Normen oder nach konkreten Imperativen aufgeworfen wird, ist in der Bergpredigt und in ihrem Umfeld nach Spuren einer tugendethisch verwertbaren Auffassung zu suchen. 6 Der feierliche Auftakt der Bergpredigt mit einer Reihe von acht Seligpreisungen (5,3-12) beschreibt in paradoxer Sprache einen Zustand von Glückseligkeit, der in dieser Spannung nicht an kulturell akzeptierte Konzepte eines glücklichen Lebens anknüpft. Die Gottesherrschaft - oder wie es der Evangelist bevorzugt: die Himmelsherrschaft - in ihrer schwer fassbaren Spannung von jenseitiger und diesseitiger, zukünftiger und gegenwärtiger Existenz bildet den Rahmen, in dem sich das seltsame Zueinander von »Tugend« und »Glück« einzeichnet. Die typisch protestantische Alternative, ob es sich dabei um Heilsverheißungen oder um Einlassbedingungen handelt, legt dem Text ein binäres Raster auf, welches m.E. der Bergpredigt und dem Ethos des Matthäusevangeliums in dieser Form fremd ist. Es geht nicht um das Sollen, sondern um das Sein des Menschen. Die Frage ist nicht, wer aufgrund welcher Handlungen in die Himmelsherrschaft gelangt, sondern zu welcher Art Menschen die Himmelsherrschaft kommt. Für die Gewaltthematik sind einige Seligpreisungen direkt relevant: Die erste Seligpreisung (5,3) hat eine Reihe von ganz unterschiedlichen Auslegungen hervorgerufen. Die Wendung »Arme im Geiste« kann im gegenwärtigen Textzusammenhang und im Vergleich zu ähnlichen Texten auf Demut vor Gott bezogen werden. 7 Aus dieser Grundhaltung der Abhängigkeit entwickelt sich das gesamte moralische Charakterbild der Bergpredigt. Es stellt sich bereits hier die Frage, ob die Anwendung von Gewalt als Mittel eigenständiger Weltgestaltung und Durchsetzung des eigenen Machtwillens mit »geistlicher Armut« vereinbar ist. Die weiteren Seligpreisungen werden zeigen, dass dies in der Tat nicht der Fall ist. Die dritte Seligpreisung (5,5) nimmt durch den direkten Bezug auf Ps 37,11 die den ganzen Psalm leitende Gegenüberstellung von gewalttätigen Übeltätern und auf Gott vertrauenden Gerechten auf. Die »Armen im Geist« und die »Sanftmütigen« liegen damit inhaltlich auf einer Linie. Sanftmut schließt als soziale Tugend Gewaltlosigkeit mit ein. Bedenkt man die Definition des Aristoteles, Sanftmut sei »die Mitte beim Zorn« (vgl. Nik. Ethik IV 11 1125b27-1126b10), dann steht die dritte Seligpreisung in direktem Bezug zur ersten »Antithese« (5,21-26). Die fünfte Seligpreisung (5,7) hebt Barmherzigkeit hervor. Es geht dabei um konkrete Liebeswerke (wie etwa Almosen in 6,2-4) in der Hinwendung zu den Armen (9,27-31; 15,21-8; 17,14- 18; 20,29-34), aber auch um gegenseitige Vergebung (18,33). So steht im Matthäusevangelium die Barmherzigkeit über dem formellen Opfer (9,13; 12,7) und zählt zu den gewichtigsten Aspekten der Torahtreue in der Nachfolge Jesu (23,23). Die siebte Seligpreisung (5,9) spricht direkt das Gewaltproblem an: Ins Zentrum des »Glücks« werden diejenigen gerückt, die sich aktiv für zwischenmenschliche Versöhnung einsetzen (Friedensstifter). Die Verheißung der Gotteskindschaft knüpft zudem direkt an das Gebot der Feindesliebe in der letzten »Antithese« an (5,45). 8 Die letzte Seligpreisung (5,10) mit ihrer direkten Ausweitung auf die zweite Person Plural (5,11f.) führt die Abhängigkeit der ersten Seligpreisung bis zum Extrem der Erfahrung von öffentlicher Schmähung, übler Nachrede und physischer Schädigung. 9 Die Verfolgung des Gerechten ist ein Topos der weisheitlichen Tradition (Ps 37; SapSal 1,16-5,23), die auch in der Prophetenmordtradition zum Ausdruck kommt (vgl. Neh 9,26; Mt 23,34f.; Apg 7,52; 1Thess 2,14-16). Sie setzt die Wehrlosigkeit der Ausgegrenzten und Verfolgten voraus. 10 In diesem Sinne formuliert 1Petr 3,14a: »Aber wenn ihr auch leiden solltet um der Gerechtigkeit willen, glückselig seid ihr! « 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 14 Moisés Mayordomo Gewaltvermeidung in der Bergpredigt ZNT 24 (12. Jg. 2009) 15 Das Charakterbild der Seligpreisungen geht von der grundlegenden Erfahrung der Abhängigkeit des Menschen von Gott aus und damit zugleich vom Eingeständnis an die eigene Begrenztheit. Im Horizont dieser Selbstwahrnehmung entwickeln sich Sanftmut, Mitgefühl, Versöhnungsbereitschaft und Wehrlosigkeit trotz Anfeindungen als wesentliche Eigenschaften, die mit dem Glück der Himmelsherrschaft bedacht werden. Als feierliche Eröffnung der Bergpredigt sind die Seligpreisungen der »Charakterboden«, aus dem heraus die Befolgung der Anweisungen zum Sozialverhalten in 5,21- 48 (in den sog. »Antithesen«) natürlich herauswachsen kann. Der Spitzensatz in 5,48 (»Seid nun vollkommen / vollendet / ganzheitlich [gr. teleios], wie euer himmlischer Vater vollkommen / vollendet / ganzheitlich ist«) umfasst nicht nur das Sollen der »Antithesen«, sondern auch das Sein der Seligpreisungen. Auch die Zusammenfassung der Bergpredigt in der moralischen Maxime in 7,12 betont die Tugend der Empathie als Grundlage für eine Ethik der Reziprozität. Verfolgung und Martyrium waren für viele Täufer der konsequent zu Ende gedachte Weg der gewaltlosen Christusnachfolge. 11 So schreibt Conrad Grebel (ca. 1498-1526), eine der wichtigsten Gestalten des süddeutsch-schweizerischen Täufertums, 1524 in einen Brief an Thomas Müntzer: »Man soll auch das Evangelium und seine Anhänger nicht mit dem Schwert schirmen, und sie sollen es auch selbst nicht tun. Wie wir durch unsern Bruder vernommen haben, ist das auch Deine Meinung und Haltung. Rechte gläubige Christen sind Schafe mitten unter den Wölfen, Schafe zum Schlachten, müssen in Angst und Not, Trübsal, Verfolgung, Leiden und Sterben getauft werden, sich im Feuer bewähren und das Vaterland der ewigen Ruhe nicht durch Erwürgen leiblicher Feinde erlangen, sondern durch Tötung der geistlichen. Auch gebrauchen sie weder weltliches Schwert noch Krieg. Denn bei ihnen ist das Töten ganz abgeschafft - es sei denn, wir gehörten noch dem alten Gesetz an. Aber auch dort [im Alten Testament] ist (wenn wir es recht überlegen) der Krieg, nachdem sie das gelobte Land erobert hatten, nur eine Plage gewesen. Von dem nicht mehr.« 12 Es ist ein besonders perfider Angriff gegen das Täufertum, wenn Calvin in seiner Auslegung der Seligpreisungen die Täufer ausdrücklich von der letzten Seligpreisung ausschließt: »Zu beachten sind dagegen diese Zusätze um meinetwillen oder um des Menschensohnes willen und ebenso: wenn sie euch schmähen, so sie daran lügen. Es soll sich nur nicht gleich als Märtyrer Christi brüsten, wer durch eigene Schuld Verfolgung leidet (ne se protinus Christi martyrem esse iactet, qui sua culpa sustinet persequutionem); einst gaben sich die Donatisten nur mit diesem Titel zufrieden, weil sie die Obrigkeit gegen sich hatten. Und heute bringen die Wiedertäufer das Evangelium in Verruf, wenn sie mit ihren Phantasien die Kirche verwirren; dennoch rühmen sie sich, die Wundmale Christi zu tragen, wo sie doch zu Recht verdammt werden (Et hodie Anabaptistae, quum perturbant suis deliriis ecclesiam, evangelium infamant, gloriantur tamen se ferre Christi insignia, ubi iuste damnantur). Aber Christus preist nur die selig, die seine Sache in rechter Weise verteidigen.« 13 2.2. Gemeinschaftliche Existenz als Aufgabe Das Doppelbildwort vom Salz und Licht wirkt zwischen den Seligpreisungen (5,3-12) und den sog. »Antithesen« (5,17-48) wie ein unscheinbarer Übergangsblock. Es umschreibt jedoch das Programm wenn nicht der gesamten Bergpredigt so doch zumindest der Anweisungen in 5,21-48. 14 Die in den Seligpreisungen beschriebene Menschengruppe wird als das »Salz der Erde« und das »Licht der Welt« herausgehoben. Die Voranstellung der Personalpronomina im Griechischen dient einer besonders starken Betonung: »Ausgerechnet ihr - die ihr verfolgt und geschmäht werdet - ihr seid das Salz der Erde.« Die in den Seligpreisungen zugesprochene Identität soll sich nun in der Praxis bewahrheiten. 15 Die merkwürdige Spannung zwischen bereits angebrochenem Himmelreich und künftiger »Erbschaft«, zwischen Trauer und Verfolgung hier und Lohn im Himmel ist deswegen auszuhalten, weil die Gemeinschaft eine Funktion in und für die Welt hat. Auf der Bildebene werden zwei Elemente herausgegriffen, die durch ihre charakteristische Beschaffenheit eine eindeutige Funktion haben: Salz und Licht. Salz kann nicht anders als salzen und eine beleuchtete Stadt kann nicht verborgen »Auch die Zusammenfassung der Bergpredigt in der moralischen Maxime in 7,12 betont die Tugend der Empathie als Grundlage für eine Ethik der Reziprozität.« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 15 Zum Thema 16 ZNT 24 (12. Jg. 2009) bleiben. Es geht an dieser Stelle jedoch nicht um konkretes moralisches Handeln, sondern um so etwas wie »funktionale Identität«. Dass es hier um eine Funktion geht, die nur die Jünger und Jüngerinnen wahrnehmen können, macht der bestimmte Artikel deutlich: »Ihr seid das Salz und das Licht - und niemand anderes.« Die vielen Bildkonnotationen, die sowohl Salz als auch Licht hervorrufen können, sollen hier nicht weiter interessieren, denn jeder Versuch, diese im Sinne einer materialen Ethik aus sich selbst heraus zu füllen, ist zum Scheitern verurteilt. Was Salz- und Lichtsein konkret bedeutet, ist aus 5,17-48 präzise zu erheben. Negativ malt 5,13b die absurde Situation aus, dass Salz nicht mehr salzt. Es hätte dann jegliche Daseinsberechtigung verloren (der bedrohliche Ton der Bilder ist offensichtlich). Dass das Salz wörtlich dumm wird (griech. mōrainō), kann ein Vorverweis auf das Abschlussgleichnis sein (7,24- 27: ein dummer Mann [griech. mōros] baut auf Sand). Ebenso absurd wie das geschmacklose Salz wäre es, ein Licht unter einen Scheffel zu stellen (5,15). Stellt man die Lampe - man wird wohl an eine Öllampe zu denken haben - unter einen solchen Behälter, wird sie nicht nur ihre Leuchtkraft einbüßen, sondern mit der Zeit auch ausgehen. Es ist selbstverständlich, dass man die Lampe auf den dafür vorgesehenen Leuchter stellt, damit alle im Haus davon profitieren. Ebenso soll die Existenz der Nachfolgegemeinschaft eine Existenz-für-die- Welt sein. Diese Thematik wird, verbunden mit der Lichtmetaphorik, wieder im Gleichnis von den »zehn Jungfrauen« aufgenommen (25,1-13). Positiv formuliert schließlich 5,16, was in 5,13- 15 gemeint ist. Die Lichtmetapher dient bereits im AT zur Beschreibung des Lebenswandels: »Aber der Pfad der Gerechten ist wie das glänzende Morgenlicht, heller und heller erstrahlt es bis zur Tageshöhe.« (Spr 4,18) In diesem Fall ist ausdrücklich geboten, das eigene Licht vor den Menschen leuchten zu lassen. Damit sind alle Außenstehenden gemeint. 16 Der allgemeine Hinweis auf die Menschen stellt die Jüngergemeinde der Welt gegenüber und mutet dieser eine besondere Rolle zu. Das »Leuchten« besteht konkret in den »guten Werken«, von denen in 5,21-48 die Rede sein wird. Auffällig ist der dreifache Genitiv: Die Jünger und Jüngerinnen sollen ihr Licht leuchten lassen, damit die Menschen ihre guten Werke sehen, aber dann nicht sie, sondern ihren himmlischen Vater loben. Das Sehen der guten Werke verhilft nicht ihnen zu Ruhm und Anerkennung (vgl. 6,1-18; 23,5), sondern regt zum Gotteslob an. In ihrem Verhalten sind sie »transparent«, d.h. sie weisen auf Gott hin; sie sind offene Fenster, durch welche Gottes Licht erkennbar wird. Ihr Licht ist nicht eigene Gerechtigkeit, sondern Spiegelung von Gottes Licht. Die Verschiebung von 5,14a (Licht = die Jünger) zu 5,16 (Licht = ihre Werke) ist »nur eine scheinbare; die Person ist nicht eine Größe, die außerhalb ihrer Werke existent ist. Im Bild: das Licht ist nicht von der Lichtquelle zu lösen.« 17 Die Verhältnisbestimmung zwischen »Licht sein« und »gute Werke tun« ist »nicht so, dass die Jünger dadurch ihr Licht leuchten lassen, dass sie gute Werke tun, sondern wenn sie ihr Licht leuchten lassen, tun sie gute Werke.« 18 Der Verzicht auf Gewalt ist Teil einer bezeugenden, hinweisenden, geradezu »semiotischen« Existenz von Menschen, welche Jesus in der Welt nachfolgen. Dass dies das Ziel der Jüngerschaft ist, macht auch der Abschluss in 28,18-20 deutlich. Das Gebot, alles zu halten, was »ich euch geboten habe«, ist ein Rückverweis auf die großen Reden im Matthäusevangelium besonders aber auf die erste und grundlegende unter ihnen: die Bergpredigt. 2.3. Das Gericht als Horizont menschlichen Handelns Die Bergpredigt endet mit einem Ausblick auf das Gericht (7,13-27). Segen am Anfang und Gericht am Ende stehen keineswegs in Spannung zueinander. Gericht und Ethik bilden im Matthäusevangelium einen ganz engen Zusammenhang. So warnt Jesus am Ende des Gleichnisses vom unbarmherzigen Knecht: »So wird auch mein himmlischer Vater euch tun, wenn ihr nicht ein jeder seinem Bruder von Herzen vergebt.« (18,35) In der großen Endgerichtsszene in 25,31-46 werden die Menschen danach gerichtet, ob sie karitativ mit anderen umgegangen sind. Auch in der Bergpredigt bildet das göttliche Gericht den Horizont des Handelns (vgl. 5,22b; 6,16; 7,1; usw.). Der Gerichtsgedanke zielt keineswegs auf das Erzeugen lähmender Angst vor Bestrafung. Vielmehr wird menschliches Handeln in der Gegenwart in den Horizont eines jenseitigen Urteils eingezeichnet. 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 16 Moisés Mayordomo Gewaltvermeidung in der Bergpredigt ZNT 24 (12. Jg. 2009) 17 Der Gerichtsgedanke fokussiert moralisches Handeln auf ein Entweder-Oder: Es gibt nur zwei Wege (7,13-14), zwei Früchte (7,15-20), zwei Haltungen vor Gott (7,21-23) und zwei Fundamente (7,24-27). Diese Form von »Schwarzweißmalerei«, die der Ethik zwei deutlich ausdifferenzierte Wege vorzeichnet, erscheint heute vielleicht naiv. Es geht jedoch darum, im Horizont göttlichen Richtens zu moralischen Entscheidungen zu motivieren. Menschliches Handeln und Sein unterliegt damit dem göttlichen Urteil. Dass die guten Taten jedoch nicht aus reiner Pflichterfüllung geschehen, macht die metaphorische »Logik« von Baum und Frucht deutlich. Ein guter Baum kann keine schlechten Früchte hervorbringen - und umgekehrt (7,18). Der moralische Wert einer Tat leitet sich von ihrem personalen Ursprung her, dem moralisch fühlenden, denkenden und handelnden Menschen. Umgekehrt lässt sich von den Taten auch auf das Gutsein eines Menschen schließen. Diese Einheit von Hören und Tun wird in der Abschlussparabel von den beiden Hausbauern in Bilder gefasst (7,24-27). Der vorbildhafte Erbauer wird als »zielgerichtet klug und besonnen« (griech. phronimos) bezeichnet (7,24; s.a. 10,16; 24,45; 25,2.4.8f.) und damit gerade in seiner Charakterdisposition hervorgehoben. 19 Für die Frage der Gewalt hält die matthäische Gerichtsperspektive jedoch einen beunruhigenden Befund parat. Das Gerichtshandeln Gottes ist nicht frei von Bildern der Gewalt. So enden einige Gleichnisse mit Gewalthandlungen gegen die Bösen, die an plastischer Brutalität wenig zu wünschen übrig lassen (13,41f.49f.; 18,35; 21,41.44; 22,7.13f.; 24,48-51; 25,30). 20 Hinzu kommt die Verstärkung der Rede von der Hölle im Matthäusevangelium, die zu einer ethischen Kritik drängt. 21 2.4. Der erzählte Jesus Die Bergpredigt ist zwar ein Text, dessen Geschlossenheit die Auslegung manchmal dazu führt, dass die gesamte matthäische Jesusgeschichte als literarische Rahmenvorgabe in Vergessenheit gerät. 22 Sie ist jedoch im Sinne des Erzählers eine Sprachhandlung Jesu und ist damit eingebettet in das Gesamtbild der narrativen Hauptfigur. Wenn in 7,28f. die Menschenmenge als Reaktion auf das Gehörte ins Staunen verfällt, dann soll damit auch die Reaktion der externen Rezipienten vorstrukturiert werden. Sie sollen an dieser Stelle über Jesu Worte mitstaunen. Es gibt also deutlich eine christologische Dimension in der Bergpredigt; sie ist insgesamt ein Mittel der Charakterisierung Jesu. Die Einsicht der Menge, dass Jesus - im Gegensatz zu ihren Lehrern - mit Vollmacht lehre, dient der Abgrenzung von den jüdischen Lehrern, die bereits in 5,20 leitend war. Grundlage der überragenden Lehre Jesu ist seine Vollmacht (exousía). Von der Vollmacht Jesu ist am Ende des Evangeliums auch die Rede: »Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf Erden.« (28,18b; vgl. 11,27) Die Bergpredigt erweist sich damit als eine Manifestation der in Jesu wirksamen Macht Gottes. Diese Macht gibt sich in anderen Lehrhandlungen (21,23f.27), in der Sündenvergebung (9,6.8) und in seinen Heilungen (8,9; 10,1) zu erkennen. Die Reaktion der Menge und der Vergleich mit anderen Lehrern erweist letztendlich die überragende Qualität des Lehrers und seiner Lehre. Der Blick über die Bergpredigt hinaus auf die matthäische Gesamterzählung zeigt eine Jesusfigur, die sich als Modell zum Nachahmen eignet. Jesus selbst lädt alle durch Gesetzesrigorismus Beladenen dazu ein, in seiner Anwesenheit zur Ruhe zu kommen. Dabei charakterisiert er sich selbst als »sanftmütig und von Herzen demütig« (11,28-30) und begründet damit seine Position als Lehrer. Jesus dient als Modell für den in der Bergpredigt geforderten Charakter. 23 Nachfolge in Gemeinschaft wird zum eigentlichen Ort der Charakterbildung. 3. Mt 5,38-48: Gewaltverzicht und Feindesliebe Die konkreten Weisungen zum Umgang mit Gewalt sind in der Bergpredigt vernetzt mit Friedenstugenden, einer spezifischen Aufgabe für die Gemeinschaft in der Welt, dem narrativen Vorbild Jesu und dem Gerichtswirken Gottes als Horizont menschlichen Handelns. Relevante Texte wären 5,21-26 (Umgang mit Zorn und Versöhnungsbereitschaft), 7,1-5 (nicht richten) oder 7,12 (die »Goldene Regel«). Im Folgenden möchte ich mich jedoch auf den Abschnitt konzentrieren, der am deutlichsten (überhaupt von allen neutestamentlichen Texten) mit dem Thema der Gewalt- 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 17 Zum Thema 18 ZNT 24 (12. Jg. 2009) überwindung verknüpft wird: Mt 5,38-48. Dieser Abschnitt gilt zu Recht als die für Jesus charakteristische Position zum Problem der Gewaltüberwindung und verdient daher besondere Aufmerksamkeit. 3.1. Widersteht nicht dem Bösen! (Mt 5,38-42) 38 Ihr habt gehört, dass gesprochen wurde: »Auge um Auge« und »Zahn um Zahn«. 39 Ich sage euch: Widersteht nicht dem Bösen! Sondern wer auch immer dich schlägt auf deine rechte Wange: Halte ihm auch die andere hin! 40 Und dem, der dir vor Gericht dein Unterkleid nehmen will: Überlass ihm auch den Mantel! 41 Und wer auch immer dich zu einer Meile (als Lastenträger) zwingt: Geh’ mit ihm zwei. 42 Dem, der dich bittet, gib! Und den, der von dir borgen will, weise nicht ab! Wie in den anderen Weisungen dieser Reihe setzt Jesus mit einem Hinweis auf eine Rechtssatzung aus der Torah ein: Das Auge-um-Auge-Prinzip (Ex 21,23-25; Lev 24,19-21; Dtn 19,18-21) ist ursprünglich eine juristische Maßnahme zur Humanisierung legaler Sanktionierungsmittel. 24 Eine Legitimierung privater Vergeltung ist damit zwar nicht intendiert, dennoch muss angesichts der »natürlichen« Neigung zur Vergeltung genau eine solche Fehldeutung ausgeschlossen werden. 25 Die absolute Weisung Jesu, dem Bösen nicht zu widerstehen (5,39a), ist m.E. in den thematisch vorgegebenen Rahmen der Vergeltung einzuordnen. Nicht widerstehen bedeutet, dem Bösen nicht mit gleichen Mitteln entgegenzutreten. 26 Dieses »Basisprinzip« wird durch eine Reihe übertriebener Illustrationen pädagogisch einprägsam ausgeleuchtet. Darin wird auch deutlich, dass es sich bei dem »Bösen« nicht abstrakt um das Böse handelt, sondern konkret um Menschen, die sich anderen gegenüber böse verhalten (schlagen, pfänden, zwingen). Die Illustrationen in 5,39b-42 haben in der Wirkungsgeschichte häufig als Angriffsfläche für all jene gedient, die dem Christentum Naivität und Realitätsverlust vorwerfen wollen. Sie sind im gegenwärtigen Textzusammenhang m.E. am sinnvollsten als Illustrationen für den Verzicht auf Vergeltung zu verstehen. a) Die Ohrfeige (5,39b): Der Schlag mit dem Handrücken auf die rechte Wange ist eine öffentliche Ehrverletzung. Als eine Form von Demütigung bringt eine solche Handlung nicht nur das Gefüge von Ehre und Schande durcheinander, sie eignet sich auch psychologisch als Auslöser von Gegengewalt. In allen Kulturen ist Gewalt als Antwort eine geradezu erforderliche Form, um den Statusverlust wieder herzustellen. Die Aufforderung, die andere Wange hinzuhalten, ist in erster Linie nichts anderes als ein Aufruf zum Verzicht auf Rache. Es ist zugleich eine Absage an die geltende »Grammatik der Gewalt«, die in den meisten Kulturen derart eingeschrieben ist, dass sie das Zerstörerische an der Anwendung physischer Gewalt kaum erkennbar werden lässt. Die andere Wange ist eine Provokation, die »weder die eigene Ehre zu erhalten, noch die eigene Machtstellung durchzusetzen sucht«. 27 b) Das Pfänden des Gewandes (5,40): Die zweite Illustration situiert die Rezipienten in einen Gerichtskontext, in dem (wieder) die Akteure als Männer vorzustellen sind. Damals (wie heute) diente das Strafrecht dazu, den Wunsch nach persönlicher Rache in (halbwegs) geordnete Bahnen zu lenken. Für einen armen Menschen gab es im römischen Rechtssystem jedoch keine Rechtssicherheit. Jesus konstruiert den Fall, dass jemand das Gewand pfänden will. Statt auf Rache zu sinnen, soll man ihm das noch kostbarere Obergewand dazu geben. Das Pfänden des Obergewandes ist in der Torah aus humanitären Gründen - weil der Arme sich nachts damit zudeckt - verboten (Ex 22,26; Dtn 24,12f.). Wörtlich sollte man diese Anweisung nicht nehmen, denn damals kleideten sich die Männer mit diesen beiden Kleidungsstücken. Die Aussagerichtung ist wie im Falle der Ohrfeige: Zahle nicht mit gleicher Münze zurück! Setze Zwang und Gewalt (auch aus einer Situation der Unterlegenheit) etwas Kreatives entgegen! c) Nötigung (5,41): In der dritten Illustration kommt eine Situation ins Blickfeld, die auf das Problem der römischen Besatzungsmacht anspielt. Römische Soldaten und öffentliche Beamte hatten das Recht, Menschen der von ihnen besetzten Gebiete zu kleinen Abgaben (z.B. Verpflegung) und Dienstleistungen (z.B. als Lastenträger) zu zwingen. Aus der Passionsgeschichte ist ein Fall bekannt: Simon von Kyrene wird von Solda- 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 18 Moisés Mayordomo Gewaltvermeidung in der Bergpredigt ZNT 24 (12. Jg. 2009) 19 ten gezwungen, das Kreuz Jesu zu tragen (Mk 15,21). Wieder wird der Verzicht auf gewaltsame Vergeltung für eine solche Verletzung des Nationalgefühls durch eine »unnatürliche« Reaktion illustriert: eine freiwillige zweite Meile. Damit stellt der Text zugleich die unbequeme Frage, ob der Eifer für das eigene Volk und die berechtigte Sehnsucht nach Freiheit vor politischer Unterdrückung ausreichende Gründe darstellen, um Gewalt mit Gewalt zu beantworten. Diese Frage hat nichts an Aktualität eingebüßt ... d) Mahnung zu Großzügigkeit (5,42): Man soll je nach Bedarf geben und leihen (selbstverständlich ohne Zins). Auch diese Anweisung ist eine Richtungsanweisung, denn wir würden bald alle eigenen Ressourcen aufbrauchen, wenn wir alle Bedürfnisse zu beheben suchten. Jesus erinnert aber daran, auf dem Weg der Gewaltüberwindung etwas so Elementares wie die Nöte der Anderen nicht zu vergessen. Hält man sich den Zusammenhang zwischen Gewalt und Armut vor Augen, dann ist der Hinweis auf einen großzügigen Güterausgleich vielleicht keine Beiläufigkeit im Gedankengang von Mt 5,38-42. Es ist durchaus bedeutsam, welche Kontexte in den vier Illustrationen aufgerufen werden: Die Spielregeln der Ehre, das Unrecht der Rechtspraxis, die Verletzlichkeit ethnischer Identitäten und die Dynamik des ökonomischen Gefälles. All diese Kontexte waren und sind ausgesprochen produktive Brutstätten für zwischenmenschliche Rache- und Gewaltakte. Im Grundsatz gibt Jesus in übertriebenen Bildern eine Ahnung dessen, was es bedeutet, Böses nicht mit Bösem zu vergelten. Gewaltlosigkeit kann sich jedoch nicht in einfachen Regeln zur Sprache bringen, sondern bewegt sich außerhalb des Reglementierbaren auf der Ebene kreativer Überraschung. Dieser »symbolische […] Protest gegen den Regelkreis der Gewalt« 28 setzt den Menschen dem Risiko der Lächerlichkeit aus, denn zur »Grammatik« der Gewalt gehört, dass Vergeltung als mannhaft, vernünftig und angemessen erscheint. 3.2. Liebt eure Feinde! (Mt 5,43-47) 43 Ihr habt gehört, dass gesprochen wurde: »Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.« 44 Ich sage euch: Liebt eure Feinde, und betet für die, die euch verfolgen, 45 so dass ihr Kinder eures himmlischen Vaters werdet. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und bringt Regen über Gerechte und Ungerechte. 46 Wenn ihr nämlich die liebt, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr? Tun die Zöllner nicht auch dasselbe? 47 Und wenn ihr nur eure Geschwister grüsst, was macht ihr Besonderes? Tun die von den Nationen nicht auch dasselbe? Die letzte »Antithese« ist der Kulminationspunkt der gesamten Reihe. Das Thema des konkreten Verhaltens in sozialen Konfliktsituationen wird in diesem letzten Abschnitt auf das Gebot der Feindesliebe zugespitzt. Lev 19,18 dient dabei als Themen-Vorgabe. Ohne auf die Einzelheiten dieser grundlegenden Torah-Weisung einzugehen, lässt die Formulierung offen, wer der »Nächste« ist und wie man sich gegenüber »Nicht-Nächsten« zu verhalten habe. Die Weisung Jesu argumentiert aus der Perspektive einer Gemeinschaftserfahrung, in der Feindschaft in erster Linie als »Verfolgung« (5,43f.) wahrgenommen wird. Die Gemeinde steht also nicht jenseits der Kategorien von Freund und Feind, sondern sie anerkennt die Realität von Feindschaft und nimmt damit unweigerlich auch eine politische Haltung ein. Die Pointe der Anweisung Jesu liegt daher nicht darin, dass man Feinde wie Freunde behandelt, sondern dass man den Feinden als Feinden mit Liebe begegnet. 29 »Nicht die Leugnung oder Verharmlosung der Feindschaft ist in der Feindesliebe gemeint, sondern eine Zuwendung, die erkannt hat, dass gerade der Hassende der Liebe am meisten bedarf. Jesu Gebot zielt auf eine ungeteilte Liebe […], die auf die Einseitigkeit der erfahrenen Feindschaft mit einer unkalkulierten Einseitigkeit der »Die Gewaltlosigkeit kann sich jedoch nicht in einfachen Regeln zur Sprache bringen, sondern bewegt sich außerhalb des Reglementierbaren auf der Ebene kreativer Überraschung.« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 19 Zum Thema 20 ZNT 24 (12. Jg. 2009) Liebe antwortet. In dieser das natürliche Ethos überschreitenden Einseitigkeit liegt das ›Ausserordentliche‹ (perisson, Mt 5,47), durch das sich das Handeln des Jüngers auszeichnet.« 30 Als konkretes Beispiel für Feindesliebe nennt Jesus die Fürbitte. Das ist insofern bedeutsam, als durch das Gebet die Wahrnehmung des »Feindes« geändert wird. Der Text stellt jedoch nicht in Aussicht, dass sich die Person in ihrer Feindseligkeit durch Liebe ändert (zu einer solchen »Entfeindungsliebe« vgl. Röm 12,21; 1Petr 2,12; Justin, Apol. I,14,3). Als Ziel der Feindesliebe gibt 5,45 die Transparenz des Familienbezugs zum himmlischen Vater an (in Wiederaufnahme von 5,9). Nicht-selektive Liebe ist jene Verhaltensweise, durch welche die Jünger und Jüngerinnen als Gottes Kinder erkennbar und damit als Salz und Licht wirksam werden. Nicht-selektive Liebe verweist auf Gott, weil Gott selbst uneingeschränkt Gutes schenkt: »Er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte« (45b; vgl. Ps 145,9). Regen und Sonne werden damit zu Symbolen der Liebe Gottes zu seiner gesamten Schöpfung, zu Menschen, Tieren und Pflanzen gleichfalls. Die selektive und eigennützige Liebe wird in 5,46f. in Frage gestellt. Grüßt man nur jene, die einen selbst grüßen, dann hat man nichts auffällig anderes gemacht. Im Himmelreich geht es aber um den Einbruch des »auffällig Anderen« in den Alltag dieser Welt. Licht der Welt kann die Nachfolgegemeinschaft nicht sein, indem sie so handelt wie alle anderen - wie die Heiden und Zöllner -, sondern nur, indem sie »außergewöhnlich« handelt (vgl. perisson in 5,47 und perisseuō in 5,20). In dieser Liebe kommt der Mensch (nach 5,48) zur Vollendung (vgl. die Parallelen in Lk 6,36 und Justin, Apologie I,15,13). 4. Abschlussüberlegungen Die verschiedenen Haltungen, die aus der Wirkungsgeschichte erkennbar werden (s.o.), sind nicht nur exegetisch im Lichte von Mt 5,38-48 zu bedenken, sondern auch in Auseinandersetzung mit dem gesamten theologischen Feld des Matthäusevangeliums zu reflektieren. 31 Die Bergpredigt präsentiert keine leicht operationalisierbaren Modelle zur Gewaltüberwindung. Die schillernden Illustrationen in 5,39b-42 eignen sich kaum als kasuistische Einzelgebote zur wörtlichen Befolgung. Sie dienen eher der kritischen Analyse der Entstehungsmuster von gesellschaftlich anerkannter Gewalt. Damit provozieren sie zu einer Haltung, welche in Entsprechung der »Andersheit« der Gottesherrschaft vermeintliche Sachzwänge von Gewalt und Gegengewalt kreativ außer Kraft setzt. Die Bergpredigt arbeitet damit an der theologischen Grundlegung einer gewaltfreien Lebenspraxis. Das literarische Verknüpfungsraster des gesamten Evangeliums lässt daher jede Isolierung von 5,38-48 als Einzelweisung unsinnig erscheinen. Die Absage an Gewalt steht im Zusammenhang mit dem Charakterbild der Seligpreisungen, mit der bezeugenden Existenz der Gemeinschaft in und für die Welt, mit dem Gerichtswirken Gottes, mit der narrativen Charakterisierung Jesu, mit der göttlichen Vollendung des Menschen in der Praxis nicht-selektiver Liebe und mit dem Prinzip der Reziprozität in der »Goldenen Regel«. Anmerkungen 1 Vgl. W. Dietrich / M. Mayordomo, Gewalt und Gewaltüberwindung in der Bibel, Zürich 2005, 11-23; zusammenfassend in: W. Dietrich / M. Mayordomo, Art. Gewalt, Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh 2009, 210f. Ich danke Raphael Reift für seine Korrekturarbeiten. 2 Eidesverweigerung und Pazifismus galten als »besonders staatsgefährdende[s] Ärgernis« und wurden daher mit Todesstrafe verfolgt (vgl. C. Bauman, Gewaltlosigkeit im Täufertum, Leiden 1968, 33). 3 Text in modernem Deutsch nach U. Bister / U.B. Leu, Verborgene Schätze des Täufertums. Seltene Dokumente zur Täufergeschichte des 16. Jahrhunderts, Herborn 2001, 24. 4 Vgl. an neuerer Literatur: J.P. Greenman, u.a. (Hg.), The Sermon on the Mount through the Centuries. From the Early Church to John Paul II, Grand Rapids 2007; U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, Bd. 1 (EKK I / 1), Neukirchen-Vluyn 5 2002, 252-265; M. Stiewe / F. Vouga, Die Bergpredigt und ihre Rezeption als kurze Darstellung des Christentums (NET 2), Tübingen 2001. 5 Ausführlich dazu M. Mayordomo, Möglichkeiten und »Im Himmelreich geht es aber um den Einbruch des ›auffällig Anderen‹ in den Alltag dieser Welt.« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 20 Moisés Mayordomo Gewaltvermeidung in der Bergpredigt ZNT 24 (12. Jg. 2009) 21 Grenzen einer neutestamentlich orientierten Tugendethik. Ein programmatischer Entwurf, ThZ 64 (2008), 213-257. 6 Versuchsweise in Mayordomo, Tugendethik, 248-252. Zum Präventivcharakter von Tugenden in der Bibel s. W. Dietrich / M. Mayordomo, Vertrauen schaffen - Sanftmut üben - Gerechtigkeit suchen. Wege der Gewaltprävention in der Bibel, in: W. Dietrich / W. Lienemann (Hgg.), Gewalt wahrnehmen - von Gewalt heilen, Stuttgart 2004, 168-185: 175-179. 7 Ps 34(33),19: »zerbrochenen Herzens«; Pred 7,8: »stolz im Geist«; 1QM 14,7: »Und er verleiht denen, deren Knie wanken, festen Standort und Festigkeit der Lenden den zerschlagenen Nacken. Und durch die, die demütigen Geistes sind [....] das verstockte Herz. Und durch die, die vollkommenen Wandels sind, werden alle Völker des Frevels vertilgt.« 8 Gotteskindschaft erscheint im Matthäusevangelium nur an diesen beiden Stellen; vgl. R. Schnackenburg, Die Seligpreisung der Friedensstifter (Mt 5,9) im mattäischen Kontext, BZ 26 (1982), 161-178. 9 Vgl. allgemein dazu: W. Dietrich / M. Mayordomo, Art. Verfolgung, Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel, Gütersloh 2009, 604-608. 10 Dass die Boten schutzlos sind, ist sowohl an den Ausstattungsregeln in Mt 10 als auch an den Leidenskatalogen des Paulus (2Kor 4,7-10; 6,4-10; 11,21-29) ablesbar. 11 E. Stauffer, Märtyrertheologie und Täufertum, ZKG 42 (1933), 545-598. 12 Zitiert nach H. Fast (Hg.), Der linke Flügel der Reformation. Glaubenszeugnisse der Täufer, Spiritualisten, Schwärmer und Antitrinitarier (Klassiker des Protestantismus 4), Bremen 1962, 20. 13 Johannes Calvins Auslegung der Evangelien-Harmonie, übers. H. Stadtland-Neuland / G. Vogelbusch (Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift 12), Neukirchen-Vluyn 1966, Teil 1, 174f. (lat.: CR 73: 165). 14 Dafür spricht der Kontrast zwischen 5,16 und 6,1, der eine differenzierte Bedeutung des matthäischen Gerechtigkeitsvokabulars nahe legt. 15 R. Heiligenthal, Werke als Zeichen. Untersuchungen zur Bedeutung der menschlichen Taten im Frühjudentum, Neuen Testament und Frühchristentum (WUNT II / 9), Tübingen 1983, 115f. 16 In 5,10-12 wird bereits eine außen stehende Menschengruppe impliziert, die auf der Erzähloberfläche eine Leerstelle bildet. Hier wird explizit von »Menschen« gesprochen (vgl. auch 5,19; 6,1.2.5.14-16.18; 7,12; dazu: 23,4-5.7.13-28). Die »Menschen« können als Verfolger auch eine Bedrohung darstellen (10,17: »Hütet euch vor den Menschen! «; 17,22). Die Gruppe der Pharisäer und Schriftgelehrten setzt sich deutlich von den »Menschen« ab (5,19-20; 6,1-5). 17 H. Conzelmann, Art. Phōs , ThWNT 9, Stuttgart 1973, 302-349: 335 / 28-30 und Anm. 271. 18 S. Aalen, Der Begriff des Lichtes in den synoptischen Evangelien, SEA 22 / 23 (1957 / 58), 17-31: 31. 19 Vgl. zu diesem Gleichnis und zu Mt 25,1-13 M. Mayordomo, Einstürzende Neubauten (Hausbau auf Fels oder Sand) Q 6,47-49 (Mt 7,24-27 / Lk 6,46-49), in: R. Zimmermann u.a. (Hg.), Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 92-99; Kluge Mädchen kommen überall hin… (Von den zehn Jungfrauen) - Mt 25,1-13, in: Ebda., 488-503. 20 Vgl. B.E. Reid, Violent Endings in Matthew’s Parables and Christian Nonviolence, CBQ 66 (2004), 237-255. 21 Vgl. H. Räisänen, Matthäus und die Hölle. Von Wirkungsgeschichte zur ethischen Kritik, in: M. Mayordomo (Hg.), Die prägende Kraft der Texte: Hermeneutik und Wirkungsgeschichte des Neuen Testaments. Ein Symposium zu Ehren von Ulrich Luz (SBS 199), Stuttgart 2005, 103-124. 22 Augustin war bekanntlich der erste, der die Bergpredigt als in sich geschlossenen Einzeltext kommentiert hat. 23 Vgl. z.B. zur Sanftmut den Einzug in Jerusalem (21,5) und zur Barmherzigkeit seine Heilungen (9,27-31; 15,21-8; 17,14-18; 20,29-34). 24 Vgl. zum antiken Bereich H.D. Betz, A Commentary on the Sermon on the Mount (Hermeneia), Minneapolis 1995, 275-277. 25 Warnungen vor Vergeltung begegnen häufig in der jüdisch-christlichen Literatur; vgl. Ps 7,5f.; Spr 20,22; 24,29; 25,21-22; 1QS 10,17f. (»Nicht will ich jemandem seine böse Tat vergelten, mit Gutem will ich jeden verfolgen. Denn bei Gott ist das Gericht über alles Lebendige, und er vergilt dem Mann seine Tat.«); JosAs 19,3; 23,9; 28,5.10.14; Röm 12,17-19; 1Thess 5,15; 1Petr 3,9. 26 Das griech. anthistēmi wird hier negativ-feindlich im Sinne von »wider-stehen«, »gegen jemanden stehen« gebraucht. 27 G. Strecker, Die Bergpredigt. Ein exegetischer Kommentar, Göttingen 1984, 87. 28 Luz, Matthäus, 388. 29 Ansätze zur Feindesliebe sind auch in der alttestamentlich-jüdischen Tradition nicht selten: M. Ebersohn, Das Nächstenliebegebot in der synoptischen Tradition (MThS 37), Marburg 1993, 16-142; M. Konradt, »…damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet«. Erwägungen zur »Logik« von Gewaltverzicht und Feindesliebe in Mt 5,38-48, in: Dietrich / Lienemann, Gewalt wahrnehmen, 70-92: 71-77; L. Schottroff, Gewaltverzicht und Feindesliebe in der urchristlichen Jesustradition. Mt 5,38-48; Lk 6,27-36, in: G. Strecker (Hg.), Jesus Christus in Historie und Theologie (FS H. Conzelmann), Tübingen 1975, 197-221: 204- 213; G.M. Zerbe, Non-Retaliation in Early Jewish and New Testament Texts (JSP.S 13), Sheffield 1993, 34- 173. 30 W. Huber, Feindschaft und Feindesliebe. Notizen zum Problem des ›Feindes‹ in der Theologie, ZEE 26 (1982), 128-158: 153. 31 Vgl. zur Praxis Dietrich / Mayordomo, Gewalt, 211-217. 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 21 22 ZNT 24 (12. Jg. 2009) Die gewaltigste Rede, die ich kenne Die Bergpredigt ist die erste Rede, die Jesus im Neuen Testament hält. »Die gewaltigste Rede, die ich kenne« 1 hat der Schweizer Dramatiker und Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt über sie gesagt. Keine Frage, in der Bibel, dem Buch der Bücher, ist die Bergpredigt die »Rede der Reden». 2 Wohl kaum eine andere Rede Jesu hat das Profil des Christlichen so geprägt wie die Bergpredigt. Das erstaunt, weil die Bergpredigt alles andere als leicht verdaulich ist. Sie ist keine auf ein »niederschwelliges Angebot« heruntergedrechselte marktfeile Rede eines Gutmenschen. Sie ist eher das Magenbitter, das dem Seher der Offenbarung als das Wort Gottes gereicht wird (Offb 10,10): In seinem Mund ist es vielleicht noch süß, aber in seinem Magen räumt es kräftig auf und reinigt das gesamte Innere. Kompromisslose Sprache Wer würde an Sätzen Jesu wie diesem nicht kräftig zu schlucken haben (Mt 5,29-30): »Wenn dich dein rechtes Auge zum Bösen führt, dann reiß es aus, und wirf es weg! Denn es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verloren geht, als dass dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird. Und wenn dich deine Hand zum Bösen verführt, dann hau sie ab und wirf sie weg! Denn es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verloren geht, als dass dein ganzer Leib in die Hölle kommt.« Sicherlich spricht Jesus hier redegewandt in der Form der Hyperbole, der literarischen Übertreibung. Aber diese rhetorische Beschreibung fängt die Wirkung seines Wortes nicht ein. Jesus beobachtet gut. Sein Wort erinnert an Männergruppen auf südländischen Straßen, deren Köpfe wie magisch von einem vorbeilaufenden Frauenrock gelenkt werden. Er spricht vom Auge, dem Wahrnehmungsorgan, und der Hand, dem Organ der Tat. Sein Wort passt zur kompromisslos leiblichen Sprache seiner Rede. Jesus spricht hier von der Versuchung, einer Versuchung, bei der man verweilt, weil sie sich nicht sofort ablegen lässt. Diese Versuchung drängt vom Auge weiter zur Hand. Vom Blick, über den sie in den Leib einfällt, führt die Versuchung zur Tat. Die Versuchung muss unterbrochen werden. Um des Ganzen willen muss man sich von dem Teil trennen, der der Versuchung die Türen öffnet. Man muss auf seinen Teildienst verzichten, um das Ganze des Leibes zu retten. »Es gibt kein Spiel mit der Versuchung, keine Möglichkeit, einem Teil der Versuchung freien Lauf zu lassen, um sie sicher im gewünschten Moment einzufangen und abzubrechen.« So schreibt die Schweizer Mystikerin und Konvertitin Adrienne von Speyr zur Erklärung dieses Wortes. 3 1948 sind ihre Betrachtungen zur Bergpredigt erschienen. In ihren Betrachtungen legt Adrienne von Speyr Wort für Wort der Rede der Reden aus und entdeckt dabei gerade aus nicht-exegetischer Perspektive vieles, was dem eingespurten Blick von Fachleuten entgeht. 4 Einäugige, Einhändige und Leute mit Brett vorm Kopf Die leiblich konkrete Sprache ist auch typisch für den Humor Jesu. Das zeigt ein anderes Wort Jesu in der Bergpredigt (Mt 7,4-5): »Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen! - und dabei steckt in deinem Auge ein Balken? Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du versuchen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen.« Jesus verwendet hier ein Bild, das aus der Welt seines eigenen Handwerkerberufs stammt. Zweifellos, der Dichter Jesus hatte Sprachgewalt. Beide Worte wirken wie ein in Worten gemalter Zum Thema Ansgar Wucherpfennig SJ Die Bergpredigt: Elementarunterricht des Gottessohnes »Die leiblich konkrete Sprache ist auch typisch für den Humor Jesu.« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 22 Ansgar Wucherpfennig SJ Die Bergpredigt: Elementarunterricht des Gottessohnes ZNT 24 (12. Jg. 2009) 23 Cartoon: Das erste spricht von lauter Einäugigen und Einhändigen, aber in ihrem Herzen sind sie rein geblieben. Deshalb sind sie im Himmelreich. Im zweiten Wort lässt Jesus seine Zuhörer alle mit einem langen Brett vor dem Kopf herumlaufen. Das Bild stammt aus der Welt seines Handwerkerberufes: Die Sünde ist wie eine lange Zimmermannsbohle. Mit ihrer Kurzsichtigkeit würden seine Hörer einen Splitter im Auge des Anderen nur tiefer hereindrücken, anstatt ihn zu entfernen. Jesus zu folgen, bedeutet nicht, dass einem der Balken ein für alle Mal genommen wäre, weil man auf die Sünde aus eigener Kraft verzichtet hätte, sondern meint die ständige Bereitschaft und Übergabe: »sich von Gott noch tiefer ausbrennen und ausschneiden zu lassen«. 5 Die Bergpredigt als Summarium der Lehre Jesu Das sind nur zwei der kraftvollen Worte Jesu in der Bergpredigt. Woher hat diese erste Rede Jesu die Kraft, die sie zur gewaltigsten Rede macht? Die Bergpredigt hat Jesusworte zusammengestellt und zu einer Rede komponiert. Sie geht auf die Kompositionsarbeit des Evangelisten Matthäus zurück. 6 Als Vorlagen haben ihm dabei vor allem das Markusevangelium und andere Quellen von Worten Jesu gedient. Mehr als in den anderen drei Evangelien im Neuen Testament ist Jesus bei Matthäus Lehrer. Nur bei ihm findet sich das Wort davon, dass Jesus der einzige Lehrer ist (Mt 23,8-10): »Ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen; denn nur einer ist euer Meister, ihr alle aber seid Brüder.« Jesus verwendet das Zahlwort »eins«. Im Sch e ma Israel, dem dreimal am Tag zu betenden Glaubensbekenntnis, drückt es das jüdische Bekenntnis zum ächad, zum einen Gott Israels aus (Dtn 6,4). Nach den Worten Jesu gilt es nicht nur für den himmlischen Vater, sondern auch für den einzigen Lehrer Christus: »Auch sollt ihr euch nicht Lehrer nennen lassen; denn nur einer ist euer Lehrer, Christus.« Das Matthäusevangelium selbst ist für die christliche Lehre geschrieben. Es richtet sich an Christen, die sich als Erben des Auftrags Jesu an seine Jünger sehen, alle Menschen zu Jüngern - mathētai - Jesu zu machen. So trägt Jesus seinen Jüngern am Ende des Evangeliums auf. 7 Das schriftliche Evangelium des Matthäus war ihnen Erinnerungsstütze, um dem Auftrag Jesu an seine Jünger nachzukommen (Mt 28,20): »Lehrt sie, alles zu befolgen, was ich euch geboten habe«. Diese erste Rede Jesu in der Bergpredigt war für sie daher der Elementarunterricht in der Lehre Jesu, nicht nur eine vereinzelte Lehre, sondern seine ganze Lehre ursprünglich und in einem Zusammenhang. 8 In der Tat ist sein Elementarunterricht so gewaltig, dass er Menschen weiter in den Bann zieht. Auch Dürrenmatt schreibt von seinem Wunsch, bei seiner Fahrt durch Israel auf den Berg heraufzusteigen, auf dem diese Rede gehalten wurde. Nur in der letzten Sekunde hält ihn etwas zurück: »Und ich kann mir vorstellen, daß ich auf den Berg hinaufgerannt wäre, nur um mir vorstellen zu können: Hier geschah es. Hier hat er geredet.« Was ihn abhält, ist die orthodoxe Kirche, die in Galiläa heute auf dem Berg der Seligpreisungen in das Land schaut. Dürrenmatt steigt nicht mit den Jüngern Jesu herauf. Unten am Fuß des Berges lässt er seinen Freund Tobias weiterfahren. Prof. Dr. Ansgar Wucherpfennig SJ. Geboren 1965. Studium der katholischen Theologie 1986-1991 in Frankfurt Sankt Georgen und Tübingen. 1994-1996 Lizenziat in Bibelwissenschaften am Bibelinstitut in Rom. 1996-2000 Dissertation bei Hans-Josef Klauck in Würzburg (Heracleon Philologus. Gnostische Johannesexegese im zweiten Jahrhundert). 2008 Habilitation in Mainz (Josef der Gerechte. Eine exegetische Untersuchung zu Mt 1-2). Seit 2003 Dozent, seit 2008 Professor für Neues Testament an der Hochschule Sankt Georgen, Frankfurt Main. Ansgar Wucherpfennig SJ 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 23 Zum Thema 24 ZNT 24 (12. Jg. 2009) »Der Jude Jesus von Nazareth leuchtet mir ein als der Sohn eines Menschen, nicht eines Gottes, wie ich meinem Zweifel zuliebe annehme«, kommentiert Dürrenmatt seinen Zugang. Damit hat er einen verbreiteten Ansatz historischer Erklärungen der Bergpredigt wiedergegeben: All diese Ansätze versuchen, sie als Rede des Juden Jesus zu erklären. Es ist das große Verdienst ihrer Exegese der letzten Jahre, gezeigt zu haben, wie sehr Jesus seine Rede jüdischer Tradition und allen voran der jüdischen Schrift verdankt. Nichts in dieser Rede kann ohne den Juden Jesus erklärt werden. Nichts darin kann nicht als Weiterführung der Lehre verstanden werden, mit der Gott sein Volk durch die Tora und die Propheten unterwiesen hat, und aus der jüdischen Geschichte heraus erklärt sie sich vollständig. Lehre des Gottessohnes Und dennoch: Diese Rede ist von vornherein mit der Absicht der Katechese komponiert und soll nicht ein zufälliges historisches Redeereignis Jesu wiedergeben. Aber bereits das lässt fragen, ob eigentlich das verbreitete krypto-arianische Verständnis ausreicht, das sie bloß als gewaltige Rede des Juden Jesus versteht, wie es Dürrenmatt in seiner Wertschätzung der Bergpredigt bezeugt. 9 Sie ist Teil des Kompendiums, von dem Jesus am Ende des Matthäusevangeliums wünscht, dass darin alle Völker der Welt unterwiesen werden. Ihre Lehre richtet sich an alle Völker, nicht allein wegen ihrer Sprachgewalt, sondern weil Gottes Sohn darin seine Lehre formuliert. Auch ein historisches Verständnis wird dieser Rede nur gerecht, wenn es diesen Anspruch voraussetzt. 10 Die Bergpredigt verlangt gerade für ein historisches Verständnis nach einer theologischen Deutung, und mit theologischer Deutung ist gemeint, dass ein Verständnis zu kurz greift, dass sie nicht als Lehre des Sohnes sieht, der sie im Angesicht des Vaters empfangen hat, als rettende Lehre eines Gesalbten für sein Volk. Jedes Wort Jesu hat daher unbenommen seiner geschichtlich gewordenen Bedeutung eine Relevanz und Kraft für das Heute. Die Auslegung der Bergpredigt muss Menschen verändern und zu Jüngern Jesu machen, auch heute. Das ist ihr Kriterium. Papst Benedikt hat deshalb in seinem Jesusbuch geschrieben, dass die Geschichte der Heiligen eine lebendige Auslegung der Bergpredigt sei: »Die Heiligen sind die wahren Ausleger der Heiligen Schrift.« 11 Der Papst selbst hat der Bergpredigt in diesem Sinn weite Teile seines Jesusbuches gewidmet. 12 Adrienne von Speyrs Betrachtungen von 1948 folgen genau diesem Anspruch der Bergpredigt als wirkmächtigem Wort des Gottessohnes. Ganz ähnlich wie Papst Benedikt schreibt sie zu Beginn ihrer Auslegung: »Je mehr eines seiner Worte gebraucht, benützt worden ist, je mehr ihm nachgelebt wurde, desto mehr Kraft ist ihm geblieben in uns, weil die, die das Wort aufnahmen und in sich lebendig werden ließen, es lebendig zu uns herübergetragen haben. Es bildete sich wie eine Kette der Wortträger, eine Kette, die in der Kirche immer neu geschmiedet wurde, deren Material immer das Wort des Herrn war, deren Glieder aber durch die Glaubenden gefestigt und ineinandergefügt wurden.« 13 Eine solche Betrachtung weitet die Grenzen ihrer exegetischen Erklärung. Die Seligpreisungen Die Kirche auf dem Berg der Seligpreisungen hatte Dürrenmatt gestört. Jesu Bergpredigt sei »eine Rede aus dem Judentum geboren« hält er mit der Exegese der letzten Jahrzehnte übereinstimmend fest, und ergänzt »sicher hat er nicht in einer Kirche geredet«. Diese Feststellung ist banal. Aber setzt die Bergpredigt Jesu bei Matthäus nicht schon Kirche voraus? Die Bergpredigt entspricht der Feldrede bei Lukas. Beide beginnen mit Seligpreisungen. Allerdings stehen bei Lukas vier Seligpreisungen vier Weherufen gegenüber (Lk 6,20-26). Auch sind die Seligpreisungen und Weherufe bei Lukas prägnanter. Ein historischer Vergleich der beiden Texte macht wahrscheinlich, dass Lukas hier Jesu Wortlaut näher ist als Matthäus. Dies mag auch für andere Teile der Berg- »Diese Rede ist von vornherein mit der Absicht der Katechese komponiert und soll nicht ein zufälliges historisches Redeereignis Jesu wiedergeben.« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 24 Ansgar Wucherpfennig SJ Die Bergpredigt: Elementarunterricht des Gottessohnes ZNT 24 (12. Jg. 2009) 25 predigt gelten, etwa für das Vaterunser im Vergleich zu seiner Fassung bei Lukas. Aber bedeutet dies, dass wir deshalb mit der Bergpredigt auch vom Sohn Gottes weiter entfernt sind? Modernem Autorendenken würde diese Annahme entsprechen, aber nicht den Vorstellungen von Heiliger Schrift, so wie sie bereits in der Antike verbreitet sind. Die Schrift ist Wort Gottes und als Wort Gottes hat sie eine Vielfalt von Versionen oft auch ein und desselben Ereignisses überliefert. Nach jüdisch-christlichem Denken widerspricht dies gerade nicht ihrem Charakter als Wort Gottes. Wenn ein einziger Autor ein Recht auf diesen Text hätte, dann dürfte er nicht verändert werden, es wäre sein Text. Aber Gott hat sein Wort durch seinen Sohn in diese Welt hineingesprochen und es menschlicher Überlieferung anvertraut. Durch die Zeugen, die es weitertragen, wird es nicht abgenutzter, sondern lebendiger. Es gilt eben von diesem Wort, was wir schon von Adrienne von Speyr zitiert haben: »Je mehr eines seiner Worte gebraucht, benützt worden ist, je mehr ihm nachgelebt wurde, desto mehr Kraft ist ihm geblieben in uns, weil die, die das Wort aufnahmen und in sich lebendig werden ließen, es lebendig zu uns herübergetragen haben.« Die Überlieferung der Kirche entzieht dem Wort Gottes nicht seine Essenz, sie gibt ihm mehr Kraft. Diese Kraft durch Überlieferung und Interpretation der Kirche lässt sich bereits in den Seligpreisungen am Anfang erkennen. In der neutestamentlichen Exegese ist mehrfach überlegt worden, ob die Seligpreisungen bei Matthäus im Unterschied zu Lukas nicht schon ein liturgischer Text geworden sind. Einiges spricht dafür, vor allem die ebenmäßige Form der ersten acht Seligpreisungen: In der ersten und der achten Seligpreisung spricht Jesus den Glücklichen das »Himmelreich« zu. Die erste und die achte Seligpreisung enthalten im Griechischen genau zwölf Wörter, die Zahl der Stämme Israels. In der vierten und in der achten Seligpreisung spricht Jesus von der Gerechtigkeit, jeweils am Abschluss einer Viererreihe. Die beiden Viererreihen bilden zwei Strophen. Sie enthalten im Griechischen genau 36 Wörter. Auch ist der griechische Text durch Alliterationen verziert: makarioi hoi ptôchoi … makarioi hoi penthountes … makarioi hoi praeis … makarioi hoi peinôntes. Jesus spricht hier zu seinen Hörern, die seine Jünger werden sollen, und die er gleich am Anfang »glücklich« - makarioi - preist. Achtmal spricht er zu Beginn seiner Rede von verschiedenen Gruppen, die zu den Glücklichen gehören. Und beim neunten Mal spricht er seine Hörer sogar direkt an: »Glücklich seid ihr …« Und er fordert sie zum Freudentanz auf (Mt 5,12): »Freut euch und jubelt: Euer Lohn im Himmel wird groß sein.« Selig die Armen im Geist Die Form der Seligpreisungen ist biblisch. 14 Auch das Buch der Psalmen beginnt in Psalm 1 mit einer Seligpreisung. Vielfach kommen sie in den Psalmen wieder, schon am Ende des zweiten Psalms folgt die nächste. Aber selbst wenn die Seligpreisungen schon durch einen liturgischen Gebrauch geformt gewesen sind, ihre Form war auch für alltägliche Glückwünsche verbreitet. Eine Frau preist die Mutter Jesu glücklich, weil sie sieht, welch heilende Kraft von ihm selber ausgeht; Jesus antwortet, indem er die glücklich preist, die das Wort Gottes hören und tun (Lk 11,27-28). Elisabeth preist Maria, die Jesus in ihrem Mutterleib trägt (Lk 1,42 - dort allerdings entsprechend zu makarios wörtlich eulogēmenē sy! ). Jüdische Rabbinen können einer Frau kondolieren, weil sie mit einem Gerber verheiratet ist, einer Frau hingegen gratulieren, wenn sie einen Parfumfabrikanten geheiratet hat. 15 Jesus gratuliert daher seinen Hörern zu Beginn seiner Rede. Und er gratuliert als erstes den »Armen dem Geist nach«. Bei Lukas spricht Jesus einfach von »Armen«, von wirtschaftlich Armen, wohl auch hier bei Matthäus: von Armen, denen alles genommen wurde. Anders als bei Lukas ergänzt Jesus nach Matthäus aber »dem Geist nach« - tō(i) pneumati. Die Bedeutung dieser Ergänzung ist notorisch umstritten. Luther hat übersetzt: »Selig sind, die da geistlich arm sind«. Die sozialkritische Exegese der 68er hat in dieser Ergänzung daher oft negativ eine Spiritualisierung der Seligpreisung des Lukas sehen wollen. Aber Luthers Übersetzung ist hier nicht wörtlich genug. Jesus meint nicht eine ins Spirituelle verdünnisierte »geistliche Armut«. Wie bei den »Reinen im Herzen« in der vorletzten Seligpreisung gibt der Dativ hier die Rücksicht an. Wie bei der Rück- 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 25 Zum Thema 26 ZNT 24 (12. Jg. 2009) sicht des Herzens ist auf der menschlichen Seite ein Organ gemeint, das sich dem Wirken Gottes öffnen kann. Es ist also auch nicht einfach der »Geist Gottes« gemeint. So hat es offenbar die Einheitsübersetzung verstanden, die ganz unwörtlich wiedergibt: »Selig, die arm sind vor Gott«. Mit »dem Geist« meint Jesus den Sitz menschlichen Wollens, das sich dem Geist Gottes öffnen kann. So spricht Jesus auch am Ölberg vom willigen Geist, welcher dem schwachen Fleisch entgegensteht. Die Armen sind die, denen alles genommen wurde, aber auch die, die in der Kraft ihres Geistes auf alles verzichtet haben, und nicht mit ihrem menschlichen Geist dem Heiligen Geist widerstehen. Das ist keine Spiritualisierung, sondern eine Konkretisierung der Armut auf die Nachfolge Jesu hin. Wirtschaftliche Not allein muss im Sinne Jesu nicht glücklich machen. Sie kann sogar zu noch größerer Abhängigkeit von materiellen Gütern führen. Glücklich macht allein die Freiheit, sich dem Himmelreich ganz in die Hände zu geben. Deshalb sind die Armen glücklich. Adrienne von Speyr erklärt: »Sie sind selig, weil sie nichts haben, was sie von der Seligkeit trennt; sie sind offen, sie sind preisgegeben, sie sind nackt und widerstandslos. Sie sind frei, um selber aufgenommen zu werden. « 16 Deshalb eröffnet diese Seligpreisung das Lehren Jesu im gesamten Neuen Testament: Jesu Lehre macht solche Hörer glücklich, die ihren Geist leer werden lassen von menschlichen Phantasien und ihn für den Geist Gottes öffnen. »Der Berg« bei Markus Die Bergpredigt ist die erste von fünf Reden Jesu im Matthäusevangelium. Der Evangelist hat die fünf Reden Jesu gekennzeichnet, indem er sie jeweils durch dieselben Worte ausgeleitet hat: »und es geschah, als Jesus diese Worte beendet hatte …« in 7,28; 11,1; 13,53; 19,1 und beim letzten Mal in 26,1 schreibt er sogar: »und es geschah als Jesus alle diese Worte beendet hatte«. Diese fünf Reden entsprechen der Anlage des Pentateuchs, der Tora der Juden. Bereits Franz Delitzsch hat 1853 im Matthäusevangelium eine Anordnung nach dem Vorbild der fünf Bücher der Tora erkennen wollen. 17 Ihren Namen hat die Bergpredigt von dem Ort, wo Matthäus sie im Unterschied zu Lukas situiert. Jesus steigt für seine Rede auf einen Berg. Es sieht so aus, als ob Matthäus hier das Markusevangelium voraussetzt. Wörtlich schreibt Matthäus nicht, dass Jesus auf »einen«, sondern dass er auf »den Berg« steige (eis to oros). Markus schreibt fast wortgleich (3,13). Hier kann zwar eine allgemeine griechische Ausdrucksweise gemeint sein, wie man im Deutschen davon spricht, dass man in »die Berge« geht. Aber beide Evangelisten sprechen sicher nicht von irgendeinem, sondern von »dem Berg«, weil dieser eine besondere Bedeutung hat. Wenn Jesus bei Markus auf den Berg geht, wählt er aus den Jüngern »die Zwölf« aus. Sie sind seine besondere task force, um die Ankunft des Reiches Gottes zu verbreiten. Zwölf ist eine Zahl für eine kampagnenfähige Gruppe. Sie passen gut in ein Fischerboot, wie es auf dem See Genesaret üblich war und das ihnen mit Jesus als Reisegefährt diente, aber genauso gut auch für den Privatunterricht in den Geheimnissen des Gottesreichs in ein damals übliches Ein-Raum-Haus. Zwölf sind noch nicht zu viele, um leicht von Ort zu Ort ziehen, und genug, um sie in kleinen Pioniergruppen ins Land vorauszuschicken. Aber »die Zwölf« und »der Berg« erinnert jeden Leser, der mit dem Alten Testament nur halbwegs vertraut ist, auch an die Versammlung der zwölf Stämme Israels auf dem Berg Sinai. Markus schreibt kai epoiēsen dōdeka. Das klingt holperig »er schuf Zwölf«, erinnert aber wohl gezielt an Gottes Schaffen, an seinen Bundesschluss auf dem Berg Exodus. Auf dem Berg Sinai erhält Mose von Gott das Bundesgesetz und schreibt alle Worte des Herrn auf. Am nächsten Morgen steigt er vom Berg herab und errichtet am Fuß des Berges zwölf Steinmale für die zwölf Stämme Israels. Die zwölf Stelen sind steinerne Zeugen, die an den Bund Gottes mit den zwölf Stämmen erinnern. Die zwölf Jünger, die Jesus bei Markus auf dem Berg auswählt, sind hingegen lebendige Zeugen seiner Lehre. Er sendet sie wie bevollmächtigte Botschafter des Himmelreiches aus, ausgestattet mit der Vollmacht, Dämonen auszutreiben. »Der Berg« bei Matthäus Matthäus hat die besondere Bedeutung erkannt, die der Berg bereits bei Markus hatte, aber den 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 26 Ansgar Wucherpfennig SJ Die Bergpredigt: Elementarunterricht des Gottessohnes ZNT 24 (12. Jg. 2009) 27 Akzent seinem Evangelium entsprechend anders gesetzt. Die Auswahl der Zwölf erfolgt erst viel später (10,1-4). Matthäus betont den Unterricht der Jünger. Sie brauchen erst Elementarunterricht (Mt 5,1-7,27) und darauf einige Zeit des Anschauungsunterrichts (8,1-9,38), ehe Jesus Zwölf von ihnen auswählen kann. Bei Matthäus ist Jesus der eine Lehrer, der in die Einzigkeit Gottes hineingehört. Jesus steigt auf den Berg und setzt sich. Natürlich ist das auch ein bequemer Sitz für eine so lange Rede. Aber vor allem ist das Sitzen in Eretz Israel die übliche Haltung für autoritatives Sprechen. Dies setzt andere als die heutigen Gewohnheiten voraus. Heute spricht das Gericht sein Urteil in der Regel im Stehen. Diejenigen, über die es ergeht, sitzen. Anders im antiken Orient: Wenn Pilatus das Urteil über Jesus spricht, setzt er sich dazu auf dem Richterstuhl nieder. Jesus steht vor ihm. Wenn sich Jesus auf dem Berg hingegen setzt, nimmt er also die Haltung einer Autorität ein. Der Berg ist seine Kathedra. Später spricht Jesus von den Schriftgelehrten, die die Kathedra des Mose eingenommen haben (Mt 23,2), obwohl ihr Leben der Tora widerspricht. Aber wenn Jesus auf dem Berg seine Kathedra einnimmt, geht seine Autorität noch weiter als die des Mose. Auf dem Berg Sinai ist es nicht Mose, der lehrt, sondern er ist es, der belehrt wird. Mose wird aus dem Wolkendunkel heraus belehrt, in dem Gott ihm erscheint. Das Volk soll Gott hören, wenn er mit Mose redet, darf sich aber Gott nicht nahen. Nur Mose darf ihm unter den schweren Wolken auf dem Berg nahen (Ex 19,18): »Der ganze Sinai war in Rauch gehüllt, denn der Herr war im Feuer auf ihn herabgestiegen. Der Rauch stieg vom Berg auf wie Rauch aus einem Schmelzofen. Der ganze Berg bebte gewaltig.« In der Bergpredigt hat die Lehrsituation gewechselt. Jetzt sitzt Jesus, der Sohn Gottes, auf dem Berg auf der Kathedra. Der Evangelist schreibt, dass Jesus die Volksmenge sieht und sich auf den Berg setzt. Vorher hatte er geschrieben, woher die Volksmenge kommt. Aus ganz Israel, Galiläa im Norden und Judäa, aber auch aus der Dekapolis, von jenseits des Jordan also (4,25), und sogar aus »ganz Syrien« (4,24). Jesus sieht die Volksmenge, und die Jünger kommen ihm näher. Man hat deshalb oft gemeint, Jesus würde sich mit der Bergpredigt an seine Jünger wenden, und ihnen eine Jüngerethik verkünden im Unterschied zu einer Volksethik. Am Ende ist aber das ganze Volk von seiner Lehre betroffen. Im Unterschied zu ihren Schriftgelehrten erkennen sie seine Vollmacht, später, nachdem sie ihm weiter gefolgt sind, sagen sie sogar: »So etwas ist in Israel noch nie geschehen« (Mt 9,33). Jesus sieht diese Volksmengen, steigt auf den Berg und die Jünger kommen zu ihm. Sie nähern sich von selbst, wie ungerufen. »Denn (…) mit dem Wort ›Jünger‹ grenzt Matthäus den Kreis der Adressaten dieser Rede nicht ein, sondern weitet ihn aus. Jeder, der hört und das Wort annimmt, kann ein ›Jünger‹ werden.« 18 Jesus nimmt dem Volk gegenüber den Platz des Lehrers ein, von dem aus jeder sein Jünger werden kann. Damit spricht er so, wie er es selber später im Evangelium über Gottes Gesalbten als dem einen Lehrer sagt: Jesu Unterschied zu den Schriftgelehrten ist nicht, dass er gebildeter, wohlgefeilter, klüger spricht. Im Unterschied zu ihnen spricht er mit Vollmacht. Er hat Teil an der Einzigkeit Gottes als der eine Lehrer seines Volkes, das die Grenzen von Eretz Israel bereits überschritten hat. Jesus der Immanu-el Man könnte einwenden: Überfordert ein solches Verständnis nicht die Sicht Jesu im Matthäusevangelium? Tritt Jesus dort nicht einfach als Mensch auf? Ist nicht gerade das Charakteristikum des Matthäus und der synoptischen Evangelien, dass sie Jesus in seiner Menschlichkeit darstellen? Ist nicht die Betrachtung Jesu in seiner Gottheit eine Sichtweise Jesu, die sich erst in Spätschichten des Neuen Testamentes zeigt? Etwa im Johannesprolog oder im Bekenntnis des Thomas zu Jesus als »mein Herr und mein Gott« im gleichen Johannesevangelium, das man dann sehr spät datiert? Tatsächlich beginnt Matthäus mit dem Stammbaum Jesu und stellt ihn so in die gesamte Geschichte des Volkes Israel mit Gott hinein. So hält Irenäus sogar noch im zweiten Jahrhundert über das Matthäusevangelium fest (Irenäus, Adversus Haereses III 11): »Matthäus verkündet seine menschliche Geburt mit den Worten: ›Buch der Abstammung Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams ... Und mit der Geburt Jesu Christi verhielt es sich folgendermaßen‹ (vgl. Mt 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 27 Zum Thema 28 ZNT 24 (12. Jg. 2009) 1,2 und 1,18) Dieses Evangelium hat also die menschliche Gestalt, und in seinem ganzen Verlauf ist der sanfte und demütige Mensch beibehalten worden.« Müsste man daher nicht zumindest in Einzelworten der Bergpredigt die gewaltige Macht der Rede geschichtlich erklären können? Eine geschichtliche Erklärung ist sicherlich erfordert, aber sie kann ohne die theologische Voraussetzung der Gottheit Jesu der eigentlichen Macht der Rede Jesu nicht gerecht werden. Ein theologiegeschichtliches Modell, das von Jesus als »bloßem Menschen« ausgeht, wie es die Arianer im 4. Jahrhundert taten, wird kein Wort der Bergpredigt verstehbar machen können. So fragt Joseph Ratzinger in seinem Jesusbuch: »Ist es nicht auch historisch viel logischer, dass das Große am Anfang steht und dass die Gestalt Jesu in der Tat alle verfügbaren Kategorien sprengte und sich nur vom Geheimnis Gottes her verstehen ließ? « 19 Bei Matthäus ist Jesus tatsächlich ein sanftmütiger und demütiger Lehrer. Wie ein wandernder Volkslehrer zieht er durch die Straßen, sammelt liebevoll seine Zuhörer um sich (Mt 11,28-30). Wenn er den Menschen sein »süßes Joch« 20 anpreist, wirbt er mit einem verbreiteten jüdischen Bild für seine Lehre der Tora. Sie lässt die Menschen Gottes Tora als Weg des Lebens erfahren. Aber unmittelbar vorher spricht Jesus von der Autorität, die er zu diesem Lehren hat. Im himmlischen Thronrat hat er den Ratschluss des Vaters erfahren, die Strategie der königlichen Regierung Gottes, all die Menschen mit einem einfachen Herzen für sich zu gewinnen (Mt 11,28-30). Von dieser Autorität des sanftmütigen Gottessohnes spricht das Matthäusevangelium von Anfang an: Die Kette der Zeugungen, die mit Abraham begonnen hat, bricht im Stammbaum mit Josef ab. Josef zeugt Jesus nicht. Seine Verlobte Maria ist schwanger, weil sie vom Heiligen Geist empfangen hat. Der Engel des Herrn, ein Diener des Angesichts Gottes, kennt den Namen ihres Kindes. Er teilt Josef den Namen mit, der in der himmlischen Gegenwart des Vaters schon bekannt ist. Und er sagt ihm gleichzeitig das Geheimnis dieses Kindes: Er ist der Immanu-el - »der Gott mit uns«, den der Prophet Jesaja dem König Achas verheißen hat (Mt 1,23). Von nun an spricht Gottes Weisheit durch seinen Mensch gewordenen Sohn, und die Bergpredigt ist die erste Rede, die er hält. Wie der Vater die Propheten gesandt hat, so sendet jetzt der Sohn »Propheten, Weise und Schriftgelehrte« (Mt, 23,34). Dazu unterweist er sie selbst in den fünf zusammenhängenden Reden des Evangeliums. »Antithesen«? Eine solche Sicht der Bergpredigt hat vor allem Konsequenzen in dem Abschnitt, der gewöhnlich als »Antithesen« der Bergpredigt bezeichnet wird. Der Begriff »Antithese« setzt einen populär-idealistischen Gedanken der Höherentwicklung der Menschheit voraus, die sich über These, Antithese und Synthese auf immer höhere Stufen hinausschraubt. 21 Die Bezeichnung ist hochproblematisch und sollte aus der Exegese der Bergpredigt verschwinden. Jesu Intention in seiner ersten Rede entspricht sie nicht. Sechsmal wendet sich Jesus in diesem Abschnitt seiner Rede an seine Zuhörer und zitiert ihnen Worte aus der Tora (Mt 5,21-6,48). Zweimal leitet er sie dabei mit »Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt worden ist …« (5,21. 31) ein, dreimal einfach nur mit »Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist« (5,27.38.43), ein sechstes Mal darunter sogar nur mit »es ist gesagt worden« (5,31). Hinter diesen Einleitungen steckt System: Die Fünfzahl, die im Matthäusevangelium besonders wichtig ist, gibt auch hier wieder die Struktur vor. Fünfmal zitiert Jesus ein Wort aus den fünf Büchern der Tora. Er zitiert allerdings nicht wahllos aus allen fünf Büchern, sondern wählt die Zitate offenbar gezielt aus. Die ersten beiden Zitate sind Dekaloggebote: »Du sollst nicht töten« (Mt 5,21 = Ex 20,13) und »Du sollst nicht ehebrechen« (Mt 5,27 = Ex 20,14). Die letzten drei Zitate sind Gebote aus dem Buch Leviticus: »Du sollst keinen Meineid schwören« (Mt 5,33 = Lev 19,12), »Auge für Auge und Zahn für Zahn« (Mt 5,38 = Lev »Eine geschichtliche Erklärung ist sicherlich erfordert, aber sie kann ohne die theologische Voraussetzung der Gottheit Jesu der eigentlichen Macht der Rede Jesu nicht gerecht werden.« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 28 Ansgar Wucherpfennig SJ Die Bergpredigt: Elementarunterricht des Gottessohnes ZNT 24 (12. Jg. 2009) 29 24,20) und »Du sollst deinen Nächsten lieben, und deinen Feind hassen« (Mt 5,43 = Lev 19,18). Das sechste Zitat mit der abgekürzten Einleitung (Mt 5,31 aus Dtn 24,1) ergänzt das Thema des Ehebruchs aus dem Dekalog, es ist eigentlich nur eine Parenthese und fokussiert ein Specificum der Lehre Jesu: Jesus ist der einzige Lehrer der Antike, der das Verbot der Ehescheidung auch auf den Mann ausweitet und somit ein beidseitiges Scheidungsverbot lehrt. Dekalog und das Buch Leviticus, die Fundorte der Zitate sind nicht von ungefähr. Jesus führt seine Hörer mit der Reihenfolge seiner Torazitate vom Dekalog, der als jüdisches Menschheitsgesetz verstanden wurde, in das Herz der Gesetzgebung Israels, das Buch Leviticus. Bereits auf der Ebene der Komposition ihrer fünf Bücher bildet das Buch Leviticus die Mitte der Tora. Fast die Hälfte (247) der 613 Gebote Israels stammt aus dem Buch Leviticus. Es war das erste Buch, in dem Kinder in der jüdischen Schule unterrichtet wurden (LevR 7, 3). Die Tannaiten, die jüdischen Schriftgelehrten des ersten und zweiten Jahrhunderts, nennen es in ihrem Kommentar einfach nur »das Buch« (Sifra). Es galt als die Tora der Priester, die der kultischen Heiligkeit Israels dienten. Gerade so garantierte es die Heiligkeit Israels vor allen Völkern. Aber Jesus zitiert aus dem Herzen der Tora keine priesterlich kultischen Ritualgebote, sondern nur solche, die eine allgemein verbindliche Heiligkeit im Menschen einpflanzen. Als Letztes zitiert er das Gebot der Nächstenliebe, das er selbst als das zentrale Gebot der Tora gelehrt hat, das doppelte Hauptgebot, an dem das gesamte Gesetz hängt samt den Propheten (vgl. 22,40). »Amen, ich aber sage euch« - »ich aber sage euch« Die fünf bzw. sechs Gebote der Tora führt Jesus darauf mit einem egō de legō hymin weiter. Im Deutschen wird es oft mit »Ich aber sage euch« übersetzt. Wenn die Tannaiten in ihren schriftgelehrten Diskussionen ihre unterschiedlichen Meinungen gegenüberstellen, klingt das ganz ähnlich. Ihre Gegenrede leiten sie mit »ich aber sage« (wa- ᾽anî ᾽ômer) ein. 22 Wenn man das griechische de mit »aber« übersetzt, könnte Jesus tatsächlich in einem adversativen Sinn seinen eigenen Kommentar dem von ihm zitierten Gebot der Tora entgegenstellen. Die Bezeichnung »Antithese« mit ihren Haftpunkten in der idealistischen Philosophie legt ein solches Verständnis nahe. Jesus stellt dem Gebot der Tora sein eigenes Gegengebot gegenüber. Aber schon ein oberflächlicher Blick in Jesu Worte, die diesen Einleitungen folgen, zeigt, dass er hier an keiner Stelle dem Gebot der Tora etwas gegenüberstellt. Wenn Jesus in seinen Worten zum fünften Gebot auch den Zorn untersagt, verfolgt er den Mord zurück bis in seine innersten Herkünfte und deckt auf, dass »die gleiche Essenz des Bösen« 23 im Zorn wie im Mord lebt. Seine Lehre gibt kein Gegengebot, sondern geht dem Bösen, das die Tora bereits umsichtig einschränkt, an seine innerste Wurzel. 24 Das griechische de in egō de legō hymin ist mit einer adversativen Bedeutung zu scharf verstanden. Im Stammbaum ist es bei jeder Zeugung im Sinne einer gewöhnlichen Aufzählung genannt. Man kann besser mit »und ich sage euch« übersetzen, und hätte den Anschein einer »Antithese« herausgenommen. Jesus führt die Tora weiter, er führt sie bis auf ihren Grund und setzt ihr nichts entgegen. Im Zusammenhang seiner Rede hatte Jesus seinen Worten zur Tora in diesem Abschnitt seinen Grundsatz vorangestellt (5,17-18): »Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht ein Iota und ein Häkchen des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist.« Das ist die Sendung Jesu: In seinem Leben geschieht Erfüllung, von Anfang an. Sie beginnt nicht erst hier. Die Schriftzitate, mit denen Matthäus das Wirken Jesu reflektiert, sind so eingeleitet: »Dieses ist geschehen, damit sich erfülle, was (…) geschrieben steht.« Es sind zehn, also wiederum 2 x 5 Schriftzitate, die Matthäus so einleitet. Sie beginnen bereits in Mt 1,22. Aber nun bezeichnet Jesus dies auch als seine Sendung. Alles, was Mose, Jesaja (1,23), Hosea (2,15) und Jeremia (2,18) und jeder einzelne Prophet getan, gesagt und geschrieben, aber auch alles, woraufhin Abraham, Isaak, Jakob, Juda und seine Brüder, Tamar, Rachab, Rut, David, Batscheba, Urija bis Jojachin, Jojachin bis Jakob, Josef und Maria (1,2-16) gelebt 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 29 Zum Thema 30 ZNT 24 (12. Jg. 2009) haben, kommt in Jesus zur Erfüllung. Adrienne von Speyr hat Jesus hier mit dem Bild eines Dirigenten verglichen, der die verschiedenen Stimmen seines Orchesters beim Publikumsapplaus aufstehen und zeigen lässt, was sie einzeln zu dem aufgeführten Musikwerk beigetragen haben: »Er nimmt dabei das Alte mit hinein, wie ein Dirigent, dem man Beifall spendet und der das ganze Orchester aufstehen lässt und in den Jubel hineinzieht, wie ein Forscher, der die Arbeiten der Früheren in sein Werk einbaut und lobend erwähnt.« 25 Im folgenden Satz konkretisiert es Jesus noch: Erde und Himmel werden vergehen, alles wird geschehen, aber auch dann wird weder ein einzelnes Jota noch ein Häkchen von dem weggefallen oder vergangen sein, was geschrieben ist. In die Mitte dieses Grundsatzes stellt er sein Amēn de legō hymin. Mit dem egō de legō hymin (»und ich sage euch«) führt er dieses Amen-Wort fort. Was Jesus in Kapitel 5,21-48 zu den Geboten der Tora sagt, ist aber auch nicht einfach eine Auslegung. Jesus gibt keinen wissenschaftlichen oder schriftgelehrten Kommentar. Es sind Anwendungsfälle des Grundsatzes in 5,17-20: »Lehrfälle«, mit denen der Lehrer seinen Grundsatz den Schülern demonstriert. Es ist Teil seiner Lehre, Teil seiner exemplarischen Tora, die von seinen Schülern weitergeführt werden kann: Bei ihm erhält jeder kleinste Buchstabe seine neue göttliche Bedeutung. Nicht so, als ob die Buchstaben vorher nutzlos gewesen wären, aber so, dass Jesus mit seiner Tora die Erfüllung beginnt, in der alle kleinen Buchstaben und Häkchen am Ende ihren endgültigen Platz finden werden. Tora des Gottessohnes für Gotteskinder Dem Immanuel, dem Gottessohn, ist jedes Jota und jedes Häkchen der Tora wichtig. Das griechische iōta meint das hebräische yod. Es ist der kleinste Buchstabe in der hebräischen Schrift. Innerhalb des Quadrats, in dem sich die hebräischen Buchstaben darstellen lassen, nimmt es nur den Raum eines Viertelquadrates ein. Das Häkchen, eine keraia, ist wohl das »hängende Bein«, der Beistrich, des hebräischen he 26 , nur noch ein kleiner Buchstabenstrich. Jesus hat diese Liebe für das konkrete Kleine. Er schätzt Lehrer, die auch die kleinste Gebote Gottes in ihrer Lehre ehren und nicht jede kniffelige Differenz in den Einheitsbrei ihrer eigenen Lehre unterrühren (Mt 5,19). In dieser Liebe Jesu zum kleinsten Buchstaben der Tora liegt das schwerwiegendste Problem, wenn seine Lehre in Mt 5 in der modernen Exegese als »Antithese« bezeichnet wird. Dies könnte implizieren, dass der Sohn Gottes sich gegen seinen Vater stellen könnte, der dem Volk Israel die Tora gegeben hat. Durch die höher entwickelte Antithese des Sohnes Gottes würde die These des Vaters entwertet. Dass dies inhaltlich der Bergpredigt nicht gerecht wird, ist schon gezeigt. Theologisch würde es einen Bruch mit dem Monotheismus und der Geschichte Gottes mit Israel bedeuten. Dies wäre ein antisemitischer Di-theismus, in dem sich Jesus als neuer Lehrer gegen den Gott Israels positioniert. Adrienne von Speyr hat in ihrer Betrachtung der Stelle gezeigt, wie Jesu Lehre hier die trinitarische Beziehung des Vaters zum Sohn voraussetzt. »Der Vater hatte ja das Gesetz und die Propheten nur um des Sohnes willen gesendet, damit sie ihm den Weg bereiten und seine Sendung ermöglichen. Die ganze Liebe des Vaters gilt dem Sohn und geht durch die Gesetze und Propheten hindurch auf den Sohn. Der Sohn aber kommt, um den Vater in Liebe zu verherrlichen, um zu zeigen wie vollkommen die Werke des Vaters sind. Und so hebt er in Liebe und Ehrfurcht jeden kleinsten Buchstaben auf als ein Zeichen und eine Spur seines Vaters, mit einer so großen Liebe und Ehrfurcht, wie der Vater sie noch nie erlebte, und wie sie gerade das unerhört Neue und Erfüllende ist.« 27 Wenn Jesus in seiner ersten Rede die Tora zitiert und kommentiert, wird jedes kleinste Gebot in ihr aus der Liebe zum Vater zur Tora des Gottessohns. Nach der Gliederung von Ulrich Luz steht das Vater-Unser im Zentrum der Bergpredigt. 28 Sicherlich steht das Vater Unser den Seligpreisungen als anderer Pol gegenüber. Es ist ähnlich wie sie bereits liturgisch geformt, sehr wahrscheinlich den Hörern bereits durch das eigene Gebet vertraut. Am Anfang von Kapitel 6 steht es tatsächlich auch weitgehend in der Mitte der Rede. Das Königreich der Himmel, das die Seligpreisungen rahmt, steht im Vater Unser wiederum in der Mitte. In der dritten Bitte lehrt Jesus beten: »Vater 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 30 Ansgar Wucherpfennig SJ Die Bergpredigt: Elementarunterricht des Gottessohnes ZNT 24 (12. Jg. 2009) 31 Unser … dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden.« Hier bittet ein dem Geiste Armer, dass sich der Wille Gottes an seinem Flecken Erde erfülle. Das Stück Erde des Armen wird mit dem Himmel verbunden, weil sich dort der Wille des Vaters erfüllt. So wird der Arme zum Erben des Himmelreichs. Mit dem kleinsten Buchstaben der Tora des Vaters, den er erfüllt, führt er Gottes himmlisches Reich weiter seiner Vollendung entgegen. Dies geschieht hier allerdings nur unter Verfolgungen. So steht die Seligpreisung der Verfolgten am Ende der Seligpreisungen: »Selig die wegen der Gerechtigkeit verfolgt werden, denn ihrer ist das Himmelreich … jauchzt und jubelt, denn euer Lohn im Himmel ist groß! « Anmerkungen 1 F. Dürrenmatt, Zusammenhänge, Diogenes 1980, 15f. Hans Weder beginnt mit diesem spannungsvollen literarischen Zeugnis seine Monographie über die Bergpredigt (ders., Die ›Rede der Reden‹. Eine Auslegung der Bergpredigt heute, 3. Aufl., Zürich 1994, 11f). 2 Vgl. den Titel bei Weder, Anm. 1, eine solide allgemein verständliche Einführung in die Bergpredigt. Vgl. dazu die Bemerkungen bei M. Hengel, Zur matthäischen Bergpredigt und ihrem jüdischen Hintergrund, in: ders., Judaica, Hellenistica et Christiana. Kleine Schriften II, unter Mitarbeit von J. Frey u. D. Betz u. mit Beiträgen von H. Bloedhorn u. M. Küchler (WUNT 109), Tübingen 1999, 219-292 (urspr. ThR 52/ 4 [1987], 327-400). 3 A. von Speyr, Bergpredigt. Betrachtungen über Matthäus 5-7, Einsiedeln 1948, 100. 4 Vgl. oben Anm. 3. 5 Speyr, Bergpredigt, 238. 6 Vgl. die vorsichtige Beurteilung der Verfasserfrage von R. Deines, Die Gerechtigkeit der Tora im Reich des Messias: Mt 5,13-20 als Schlüsseltext der matthäischen Theologie (WUNT 177), Tübingen 2004, 653f., Anm. 19. 7 Vgl. auch Mt 13,52. 8 Gleich im Anfangsteil der Bergpredigt spricht Jesus zu Jüngern, die andere in seiner Lehre unterrichten (Mt 5,19). Vgl. hierzu Deines, Gerechtigkeit, 407-412. 9 So auch Weder, Rede der Reden, 15: »Ist es sinnvoll, Gott von diesem Redner fern zu halten? Wer anders könnte denn die Rede der Reden gesprochen haben, wenn nicht der Gottessohn, Gott in Person? « 10 Vgl. J. Ratzinger - Papst Benedikt XVI., Jesus von Nazareth. Erster Teil: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg / Basel / Wien 2006, 20-21. Mein Beitrag greift die Anregungen dieses Jesusbuches auf und versucht, von ihnen aus weiterzudenken. Sicherlich gibt es auch kritische Stellungnahmen dazu, vgl. etwa M. Ebner / R. Hoppe / Th. Schmeller, Der »historische Jesus« aus der Sicht Joseph Ratzingers. Rückfragen von Neutestamentlern zum päpstlichen Jesusbuch, BZ 52 (2008), 64-81. 11 Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, 108. 12 Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, 93-203. 13 Speyr, Bergpredigt, 7f. 14 Vgl. Weder, Rede der Reden, 41f. und vor allem Hengel, Zur matthäischen Bergpredigt, 224-233. 15 Vgl. die Nachweise bei Hengel, Zur matthäischen Bergpredigt, 224-233. 16 Speyr, Bergpredigt, 10. 17 F. Delitzsch, Die pentateuchische Anlage des Matthäus-Evangeliums nach dem Vorbilde der Thora, in: Neue Untersuchungen über Entstehung und Anlage der kanonischen Evangelien. Erster Theil. Das Matthäus-Evangelium, Leipzig, 1853. Vgl. Deines, Gerechtigkeit, 48, Anm. 138. 18 Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, 95. 19 Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, 21. 20 Vgl. die lateinische Vulgata-Übersetzung von Mt 11,30: Iugum meum suave et onus meum leve est. 21 Vgl. D. Schellong, Christus fides interpres Legis. Zur Auslegung von Mt 5,17-20, in: Ch. Landmesser / H.-J. Eckstein / H. Lichtenberger (Hgg.), Jesus Christus als die Mitte der Schrift. Studien zur Hermeneutik des Evangeliums (BZNW 86), Berlin u.a.1997, 659-687: 659. 22 Vgl. E. Lohse, ›Ich aber sage euch‹, in: Der Ruf Jesu und die Antwort der Gemeinde. Exegetische Untersuchungen J. Jeremias zum 60. Geburtstag gewidmet, Göttingen 1970, 189-203. 23 Speyr, Bergpredigt, 76. 24 Dieter Schellong hat daher von »Radikalisierung« gesprochen (vgl. ders., Christus fides interpres Legis, 679), aber auch dieser Ausdruck ist in der politischen Sprache anders konnotiert, als es der Absicht Jesu hier entspricht. 25 Speyr, Bergpredigt, 61. 26 Vgl. Deines, Gerechtigkeit, 332f. 27 Speyr, Bergpredigt, 62. 28 Vgl. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, EKK I/ 1, 5. völlig neubearbeitete Auflage, Neukirchen- Vluyn u. a. 2002, 254. Vgl. zu anderen Vorschlägen Deines, Gerechtigkeit, 183, Anm. 240. Luz’ Vorschlag mag etwas zu feingliedrig sein, um für einen Leser ohne gründliche Recherche noch nachvollziehbar zu sein (Vgl. den Kommentar von Deines, a.a.O.). 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 31 32 ZNT 24 (12. Jg. 2009) Von dem Theologen Karl Barth können Bibelwissenschaftler viel über die Strategien lernen, wie man die Bergpredigt verstehen kann. Wie ich an anderer Stelle im Blick auf 1Kor im Besonderen 1 und auf die Schrift im Allgemeinen 2 ausgeführt habe, klammern Barths theologische Exegese und sein Ansatz einer christologischen Schriftlektüre - zumindest in seinem reifen Werk »Kirchliche Dogmatik« - den historischen Rahmen, Wortstudien oder die literarische Analyse nicht aus, die das tägliche Brot der meisten Bibelwissenschaftler sind. Barth ist eindeutig auch an solchen Fragen interessiert. Der Unterschied liegt darin, dass Barth sich konsequent weigert, sich auf diese Fragen zu beschränken, wie es so viele Bibelwissenschaftler tun, als ob der Bibelwissenschaftler eine andere Aufgabe als der Theologe zu erledigen hätte. Barth setzt sich mit historischen, philologischen und literarischen Fragen auseinander, soweit es nötig ist, oft als Einführung. Er formuliert Fragen, während er tiefer in das Textstück eindringt, es in ein Gespräch mit anderen biblischen Texten bringt, Tendenzen der Auslegungsgeschichte bedenkt, die sich als hilfreich oder schädlich erwiesen haben; er beschäftigt sich direkt oder indirekt mit anderen Auslegern des Textstücks und legt uns schließlich eine Lektüre vor, die zutiefst christologisch ist, so dass wir durch die Lektüre des Bibeltexts stärker mit Jesus Christus verbunden werden. Nach einem kurzen Überblick zur augustinischen Lektüretradition, in der Barth steht, werde ich - wenigstens kurz - Barths Lesart der Bergpredigt besprechen, wie sie uns in einem kurzen, kleingedruckten Abschnitt in KD II / 2 begegnet. Ich werde zeigen, dass sie einige exegetische Züge aufweist, die für seine gesamte theologische Exegese charakteristisch sind und dass hier ein wichtiger Unterschied zwischen Barth und Bonhoeffer sichtbar wird. Abschließend werde ich einige Beobachtungen zu der Frage anstellen, warum Barths theologische Exegese für gegenwärtige Studien der Bergpredigt immer noch wichtig ist. Die augustinische Auslegungstradition: Wichtige Vorläufer und Gesprächspartner für Barth Die Bezeichnung »Bergpredigt« (De Sermone Domini in monte) und das erste Buch (oder besser die ersten zwei Bücher) zu Mt 5-7 als Texteinheit (verfasst zwischen 392 und 396 n.Chr.) werden in der Regel Augustinus zugeschrieben. Er beginnt seinen Kommentar zur Bergpredigt, indem er ihr »die höchste Moral, das perfekte Maß des menschlichen Lebens« 3 zuschreibt. Augustinus war nicht der einzige Kirchenvater, der die Bergpredigt schätzte oder kommentierte: »Kein Abschnitt der Schrift wurde von den vornicänischen Vätern häufiger zitiert und herangezogen als die Bergpredigt. Das fünfte Kapitel des Matthäusevangeliums kommt häufiger in ihren Werken vor als jedes andere einzelne Kapitel, und Mt 5-7 häufiger als beliebige andere drei Kapitel der gesamten Bibel.« 4 Die Bergpredigt wurde durch Jahrhunderte beinahe mit der Lehre Jesu für die Kirche identifiziert. Und dennoch war die Bergpredigt für die Kirche während des größten Teils ihrer Geschichte und besonders in der Neuzeit eine Herausforderung. Wie G.K. Chesterton satirisch bemerkte: »Das christliche Ideal wurde nicht ausprobiert und unzureichend gefunden. Es wurde schwierig gefunden und lieber nicht ausprobiert.« 5 Jesu Lehre wird in der Bergpredigt in Imperativen ausgedrückt: Sie scheint Regeln festzulegen, denen man gehorchen muss. Diese Anweisungen erscheinen radikal, kompromisslos und (manchmal) extrem. Man hat die Meinung vertreten, dass keine einzige menschliche Gemeinschaft, die in der Welt, wie wir sie kennen, lebt, ihnen vollständig und allgemein »Gehorsam leisten« kann. Heißt das, dass alle, die Jesus nachfolgen möchten, für immer zu einer Existenz im Unrecht verdammt sind? 6 Zum Thema A. Katherine Grieb »Lebendige Gerechtigkeit«: Karl Barths christologische Exegese der Bergpredigt 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 32 A. Katherine Grieb »Lebendige Gerechtigkeit«: Karl Barths christologische Exegese der Bergpredigt ZNT 24 (12. Jg. 2009) 33 Ja, antwortet eine Tradition der augustinischen Exegese, alle potentiellen Nachfolger Jesu Christi werden durch die Bergpredigt verurteilt. Es geht ihr darum, uns unsere völlige Verderbtheit und unseren Ungehorsam gegenüber dem Willen Gottes zu enthüllen und uns zu zwingen, uns auf das gnädige Erbarmen Gottes zu werfen. 7 Diese Anwendung des Gesetzes ist eine Vorbereitung auf das Evangelium. Für Martin Luther und andere reformatorische Ausleger spielt die Bergpredigt die rhetorische Rolle von Röm 1,18-3,20, nämlich die einer perfekten und ausnahmslosen Anklage der ganzen Menschheit vor Gott. Nein, antwortet eine andere Tradition, diese Gebote waren nie für alle gedacht, sondern nur für die, die ein Leben vollständigen Verzichts auf sich nehmen können 8 (vgl. Thomas von Aquin, Summa 2,1 qu.10 art.4, wo dieser doppelte Standard klar artikuliert wird). Manche Exegeten sehen in der Geschichte vom reichen Jüngling, der sich von der Nachfolge Jesu abwandte, eine Stütze dieser Position. Jesus hatte zu dem Mann gesagt: »Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkaufe, was du hast, und gib es den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben und komm, folge mir! « (Mt 19,21). Eine Andeutung dieser Tendenz findet sich schon in der Didache, einer frühchristlichen Schrift, die kurz nach Matthäus und ebenfalls irgendwo in Syrien erschienen sein könnte. In 6,2 heißt es dort: »Wenn du fähig bist, das ganze Joch des Herrn zu tragen, wirst du vollkommen sein; wenn du nicht dazu fähig bist, tu, was du tun kannst.« 9 Eine weitere Tradition vertritt die Auffassung, es sei eine falsche Lektüre, wenn man die Bergpredigt so liest, als fordere sie spezifische Taten des Gehorsams. Jesus sprach nicht von Taten, sondern von inneren Ausrichtungen. Wir »gehorchen«, wenn wir unseren Willen so disziplinieren, dass wir zu solchen Handlungen bereit sind, falls notwendig. 10 Wieder wird auf die Geschichte vom reichen Mann verwiesen, dieses Mal in Verbindung mit dem Rat von 1Tim 6,10, wonach nicht Geld, sondern die Liebe zum Geld die Wurzel alles Bösen ist. Der reiche Mann hätte gerettet werden können, vielleicht sogar mit seinem Reichtum, wenn er es gelernt hätte, sich von seiner unmäßigen Liebe zum Geld zu befreien. Die Antithesen der Bergpredigt richten sich auf unseren inneren Zustand, wie es in Ps 51,6 heißt: »Du begehrst Weisheit im Inneren.« Das war die Ansicht Abaelards und in neuerer Zeit von Wilhelm Herrmann (der sowohl Barths wie Bultmanns Lehrer war) und E.F. Scott. Martin Dibelius hat diese Position folgendermaßen zusammengefasst: Die Bergpredigt »verlangt nicht von uns, dass wir etwas tun, sondern dass wir etwas sind.« 11 Dass Reinhold Niebuhr die Bergpredigt als absolute Ethik behandelte, zeigt das folgende Zitat aus Christianity and Power Politics: »Die Anweisungen ›Leiste dem Bösen keinen Widerstand‹, ›Liebe deine Feinde‹, ›Wenn ihr die liebt, die euch lieben, was für einen Dank habt ihr dafür? ‹, ›Sorgt euch nicht um euer Leben‹ und ›Seid deshalb vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist‹ gehören alle zusammen und sind kompromisslos und absolut.« 12 Dr. A. Katherine Grieb ist seit 1994 Professorin für Neues Testament am Virginia Theological Seminary / USA. Von 1992-1994 lehrte sie am Bangor Theological Seminary in Maine / USA. Neben ihrer akademischen Tätigkeit ist sie außerdem ordinierte Pfarrerin der Diözese von Washington. Regelmäßig unterrichtet sie zudem an der Servant Leadership School of the Church oft the Savior und am Cathedral College of Washington National Cathedral. Katherine Grieb war außerdem eine der sieben in den USA durch den amtierenden Bischof angefragten TheologInnen, die die Schrift »To set our hope on Christ« als Antwort auf den Windsor Report verfassten. Veröffentlichte Monographien: The Story of Romans. A Narrative Defense of God’s Righteousness, Westminster 2002. Zurzeit verfasst Katherine Grieb ein Buch zum Hebräerbrief sowie ein Buch zur Bergpredigt. Für weitere Informationen: www.vts.edu/ podium/ default.aspx? t=105591. A. Katherine Grieb 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 33 Zum Thema 34 ZNT 24 (12. Jg. 2009) Seine eigene Lösung des Problems findet sich in seinem Essay »Die Relevanz eines unmöglichen ethischen Ideals«, einem Kapitel in seinem Buch An Interpretation of Christian Ethics. 13 Hier erklärt Niebuhr, dass die prophetische Ethik Jesu über die Forderungen eines rationalen Universalismus hinausgeht. Sie stellt eine »unmöglichere Möglichkeit« dar als der Universalismus der Stoa. »Der Glaube, der das Liebesgebot als eine einfache Möglichkeit und nicht als eine unmögliche Möglichkeit ansieht, wurzelt in einer fehlerhaften Analyse der menschlichen Natur«, denn das menschliche Wesen bleibt ein begrenztes Geschöpf. »Jesus erhob also Forderungen an den menschlichen Geist, die kein begrenzter Mensch erfüllen kann.« 14 Die Bergpredigt führt uns damit zur »Buße, dem Tor zum Reich Gottes.« Aus der Verzweiflung entsteht Glauben. Niebuhr liest die Bergpredigt in Verbindung mit Röm 7,19: »Denn ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.« Diese sehr knappe Skizze traditioneller augustinischer Lektürestrategien legt nahe, dass der größte Teil der Auslegungsgeschichte der Bergpredigt die Geschichte von Versuchen ist, wenn möglich, sie loszuwerden oder sie wenigstens irgendwie zu isolieren, so dass sie in der Theorie geschätzt und geehrt werden kann, dass man ihr aber aus dem einen oder anderen Grund nicht gehorchen muss. Die bemerkenswerte Ausnahme von diesem Muster innerhalb der augustinischen Tradition ist Dietrich Bonhoeffer. Bonhoeffer übernahm den Ausdruck von Reinhold Niebuhr und stellte ihn auf den Kopf, als er von »der unmöglichen Möglichkeit« eines einfachen Gehorsams gegenüber Gottes »Mandaten« sprach, aber es ist auch hilfreich, sein Denken mit Barth in Verbindung zu bringen. Andreas Pangritz stellt in »Karl Barth in der Theologie Dietrich Bonhoeffers« die These auf, die theologischen Unterschiede zwischen Barth und Bonhoeffer seien übertrieben worden. 15 Bonhoeffers Nachfolge basiert auf Vorlesungen, die er in Finkenwalde zwischen 1935 und 1937 gehalten hat. Sie beinhalten einen umfangreichen Kommentar zur Bergpredigt mit keinem oder geringem Bezug zur Philologie oder zu den üblichen Gegenständen historischer Kritik. Jesus spricht in der Bergpredigt direkt zu jedem Jünger oder vielleicht zu jedem moralisch handelnden Wesen mit Anweisungen, die ebenso eindeutig wie nicht verhandelbar sind. Bonhoeffer fürchtete, die Interpretation der Bergpredigt könne ein Ersatz dafür werden, sie zu tun: »Wer mit Jesu Wort irgendanders umgeht als durchs Tun, gibt Jesus unrecht, sagt Nein zur Bergpredigt, tut sein Wort nicht. Alles Fragen, Problematisieren und Deuten ist Nichttun.« 16 In seinem Kapitel »Der einfältige Gehorsam« erzählt Bonhoeffer ein Gleichnis: Wenn in anderen Lebensbereichen Anordnungen ausgegeben werden, gibt es überhaupt keinen Zweifel an ihrer Bedeutung. Wenn ein Vater seinen Sohn ins Bett schickt, weiß der Junge sofort, was er zu tun hat. Aber nehmen wir an, er hat ein paar Brocken Pseudo-Theologie aufgeschnappt. In diesem Fall würde er mehr oder weniger so argumentieren: »Der Vater sagt: Geh ins Bett. Er meint, du bist müde; er will nicht, dass ich müde bin. Ich kann über meine Müdigkeit auch hinwegkommen, indem ich spielen gehe. Also, der Vater sagt zwar, Geh ins Bett! , er meint aber eigentlich: Geh spielen. Mit einer solchen Argumentation würde das Kind beim Vater, würde der Bürger bei der Obrigkeit auf eine sehr unmißverständliche Sprache stoßen, nämlich auf Strafe. Nur dem Befehl Jesu gegenüber soll das anders sein. [...] Wie ist das möglich? « 17 In seiner Ethik schreibt Bonhoeffer: »Die Bergpredigt ist dazu da, daß sie getan wird (Mat. 7,24ff.). Im Tun allein geschieht die Unterwerfung unter Gottes Willen.« 18 Bethge erläutert, Bonhoeffer habe vor seinen Studien in den Vereinigten Staaten im Jahr 1932 die Bergpredigt auf eine der traditionell »lutherischen« Weisen gelesen, nämlich, dass ein wörtliches Verständnis bedeute, sie zu einem Gesetz zu machen, und dass in Christus das Gesetz aufgehoben sei. Später las Bonhoeffer die Bergpredigt zwar immer noch christologisch, aber er hatte sich von einer Gesetz-Evangelium- Hermeneutik zu einer Kreuzestheologie bewegt. Man muss »Jesus nachfolgen« durch »Gemeinschaft mit dem Gekreuzigten«. Es ist das Kreuz, das einen dazu befähigt, die Bergpredigt »zu tun«. 19 Zu Jesu Verbot des Schwörens sagt Bonhoeffer: 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 34 A. Katherine Grieb »Lebendige Gerechtigkeit«: Karl Barths christologische Exegese der Bergpredigt ZNT 24 (12. Jg. 2009) 35 »Das Kreuz ist Gottes Wahrheit über uns, und deshalb ist es die einzige Macht, die uns wahrhaftig machen kann. Wenn wir das Kreuz kennen, haben wir keine Angst vor der Wahrheit. Wir brauchen keine Eide mehr, um unsere Äußerungen zu bekräftigen, denn wir leben in der absoluten Wahrheit Gottes.« Was Jesu Wort über den Widerstandsverzicht betrifft, so ist das Kreuz die einzige Rechtfertigung für diese Vorschrift, denn das Kreuz allein macht einen Glauben an den Sieg über das Böse möglich, der jemanden befähigen kann, diese Anordnung zu befolgen. Ebenso bringt uns die Feindesliebe auf dem Weg des Kreuzes voran und in Gemeinschaft mit dem Gekreuzigten, weil wir dort sicher sind, dass die Liebe über den Hass des Feindes siegt. 20 Die Eindeutigkeit der göttlichen Entscheidung: Barth und die Bergpredigt Barth hielt Vorlesungen zur Bergpredigt in Göttingen im Sommer 1925 und in Bonn während des Winters 1933 / 34. 21 Im Unterschied zu Bonhoeffer hat er nie eine Abhandlung über sie geschrieben, allerdings gibt es zahlreiche Bezugnahmen auf sie in seiner »Ethik« und besonders in der »Kirchlichen Dogmatik«. Die längste umfasst etwa 16 Seiten Kleindruck in Band II / 2, 766-782. Barth überschreibt § 38 mit »Das Gebot als Gottes Entscheidung«. Im zweiten Unterabschnitt, »Die Bestimmtheit der göttlichen Entscheidung«, finden wir Barths Diskussion der Bergpredigt. Im vorangehenden Kontext hat Barth Gottes Gnadenerweis uns gegenüber in Jesus Christus als einen totalen göttlichen Anspruch auf unseren Gehorsam und eine totale Entscheidung bezüglich gut und böse bei der Wahl unserer Entscheidungen erläutert (Gottes Souveränität). Er besteht darauf, dass die ganze Bibel voll von Ethik ist, aber wir sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht, wenn wir »allgemeine Grundsätze« suchen, die es dort nicht gibt (750). Das Thema der Bibel ist nicht die Proklamation ethischer Prinzipien, ob uns das passt oder nicht (759). Tatsächlich ist das, was wir in den Zehn Geboten und in der Bergpredigt vor uns haben, eine Zusammenfassung oder Sammlung früherer spezifischer Gebote Gottes. Diese Zusammenfassungen oder Sammlungen zielen nicht darauf ab, die Eindeutigkeit, mit der Gott spezifische konkrete Gebote gibt, zu trüben. Stattdessen sollten wir eher sagen, dass sie eine verdichtete Form des göttlichen Gebotes darstellen, wie wenn mehrere Lichtstrahlen durch eine Linse gebündelt oder mehrere Drähte zu einem Kabel verbunden werden (760f.). Hier beginnt Barth den ausgedehnten Exkurs in Kleindruck. Auf den ersten paar Seiten behandelt er die Zehn Gebote und wendet sich dann auf S. 766ff. der Bergpredigt zu. Auf diesen Seiten finden sich mehrere wichtige exegetische Schritte, die darauf hinauslaufen, unsere Lesart der Bergpredigt von der Reihung allgemeiner Regeln oder Prinzipien, die wir vielleicht erwartet haben, in die verdichtete Form des göttlichen Gebots zu transformieren, die er kurz zuvor beschrieben hat. Barths Lesart der Bergpredigt im Gespräch mit anderen biblischen Texten Das ist für Leser der Bergpredigt kein unerwarteter Schritt. Die Bergpredigt wurde von Thomas von Aquin und anderen in Verbindung mit der Geschichte vom reichen Mann und mit Jesu Wort an ihn (»Wenn du vollkommen sein willst ...«) gelesen, um sie auf Ratschläge zur Vollkommenheit für diejenigen zu beschränken, die eine besondere Berufung haben. Abaelard, Herrmann und Dibelius lasen die Bergpredigt mit Ps 51,6 (»Du begehrst Weisheit im Inneren«) oder ähnlichen Texten zusammen, um sie als die Empfehlung von Haltungen statt von Handlungen zu sehen. Niebuhr las die Bergpredigt in Verbindung mit Röm 7,19: »Ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich«, einem Wort, das die Annahme, man könne ihre Gebote nicht erfüllen, unterstützte. Welche anderen biblischen Texte bringt Barth in Verbindung mit der Bergpredigt und warum? Der wichtigste intertextuelle Schritt, den Barth bei der Bergpredigt geht, ist, sie neben den Deka- »Der wichtigste intertextuelle Schritt, den Barth bei der Bergpredigt geht, ist, sie neben den Dekalog zu stellen.« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 35 Zum Thema 36 ZNT 24 (12. Jg. 2009) log zu stellen. Hier folgt er Matthäus, der schon früher im Evangelium eine Jesus-Mose-Typologie erstellt hat und sie hier fortführt, indem er Jesus als den neuen Mose zeigt, der den Berg hinaufgeht und uns die Gebote gibt. Indem er Ex 20 neben Mt 5-7 stellt, widmet sich Barth der Frage nach der literarischen Gattung und dem theologischen Zweck dieser Texte als Sammlungen oder Zusammenfassungen der Gebote Gottes. Barth nimmt hier auch einen exegetischen Kontext für die Bergpredigt an: in diesem Fall die Erfüllung des Bundes der Gnade in Jesus Christus. Röm 10,4 scheint im Hintergrund zu stehen, wenn Barth sagt: »Jesus ist selber das Reich des neuen Menschen […] Indem die Bergpredigt von diesem dreimal Einen redet, redet sie von der Vollendung des Gnadenbundes und damit vom Telos des Gesetzes, der Zehn Gebote« (768). Es ist nicht überraschend, dass Barth einen alternativen Schrifttext benutzt, um der Diskussion einen neuen christologischen Rahmen zu geben: Es sind Jesus Christus, die Herrschaft Gottes, die neue Menschheit, alle drei, auf die das Gesetz letztlich abzielt. Im Folgenden führt Barth ein Wort aus Joh 15 an, um eine weitere christologische Realität zu unterstreichen: »Ohne mich könnt ihr nichts tun«. Dieses Wort dient dazu, die Behandlung des Gebets in der Bergpredigt und das Vaterunser einzuführen. Es ist wichtig wahrzunehmen, dass Barth nicht andere biblische Texte mit der Bergpredigt ins Gespräch bringt, um ihre Autorität oder ihren Skopus zu beschränken. Genau das tun viele seiner exegetischen Vorläufer. Stattdessen benutzt er andere biblische Texte, um seine christologische Lesart der Passage zu stützen. »Wie ein gebotenes Schachmatt«: Realität und Illusion in Barths Lesart der Bergpredigt Barth besteht darauf, dass die Bergpredigt wie jeder andere biblische Text im Licht ihres Kontexts gelesen werden muss, das heißt in einer besonderen Verbindung mit dem Thema der Herrschaft Gottes, wie sie in der Person Jesu Christi als Erfüllung der alttestamentlichen Prophetie gekommen ist. Jetzt ist es Jesus selbst, der die Sphäre definiert, in der er bei denen gegenwärtig ist, die er ruft. Die Ordnung, die das Leben des Volkes Gottes bestimmt - denn die Bergpredigt ist genau dies, indem sie die Zehn Gebote und den Rest des Gesetzes wiederholt und bestätigt - ist jetzt durch Gott in Christus zur Rettung der Menschen erfüllt (767). Selbst wenn die Bergpredigt sich mit Problemen des menschlichen Lebens zu beschäftigen scheint (Ehe, Schwören, Almosengeben, Beten und Fasten), ist das also nur nebensächlich und dient der Illustration - das ist der Grund, warum es sich immer als unmöglich erwiesen hat, aus diesen Wegweisungen ein Bild des christlichen Lebens zu erstellen. Das Bild, das sie anbieten, ist das Bild des Einen, der diese Wegweisungen gibt, und des anderen, der sie empfängt. Das Bild zeigt Gottes Herrschaft, Jesus Christus und die neue menschliche Schöpfung. Die Wegweisungen der Bergpredigt verweisen wie die Zehn Gebote auf das, was Gott in Jesus Christus getan hat und tut (768). Deshalb kann Barth sagen: »Wenn die Zehn Gebote sagen, wo der Mensch vor Gott und mit Gott stehen darf und soll, so sagt die Bergpredigt, daß er durch Gottes Tat wirklich dorthin gestellt ist. Wenn die Zehn Gebote eine Vorschrift sind, so ist die Bergpredigt gewissermaßen eine Nachschrift und Abschrift« (768). Die einzige Frage ist jetzt, ob die Kirche in der Fülle des Lebens, die ihr schon gewährt ist, lebt. Die Bergpredigt erklärt: Gott hat unwiderruflich und unauflöslich die Herrschaft seiner Gnade aufgerichtet, »das Reich, das als solches allen jenen anderen Machtbereichen überlegen ist, dem sie trotz ihres Widerstreites angehören und auch dienen müssen« (769). Barth bietet einen Vergleich: Es ist »vergleichbar einem schon gebotenen Schach-Matt [in einem Schachspiel, in dem ein Spieler praktisch gewonnen hat], nach welchem sich dann der geschlagene Gegner, wenn er nicht verständig genug ist, das zu unterlassen, noch einige Minuten überlegen mag, ob da wirklich gar keine Rettung mehr vorhanden sein möchte. Sofern dieser Unverstand des schon geschlagenen Gegners allerdings Tatsache ist, scheint die Partie noch weiter gehen zu wollen und zu 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 36 A. Katherine Grieb »Lebendige Gerechtigkeit«: Karl Barths christologische Exegese der Bergpredigt ZNT 24 (12. Jg. 2009) 37 können, scheint das Himmelreich noch nicht gekommen, erst nahe herbeigekommen zu sein, scheint es erst als Zukunft im Lebensraum des Menschen zu stehen. Diesem allerdings gewaltigen und folgenschweren Schein trägt die Bergpredigt (Matth. 5,4f.) damit Rechnung, daß sie von den Trauernden sagt: sie werden getröstet werden, von den Sanftmütigen: sie werden das Land besitzen, von den nach Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden: sie werden satt werden usw. Daß dieser Schein ein bloßer Schein ist, bezeugt sie (5,3,10) damit, daß sie das Entscheidende und Übergreifende nicht im Futurum, sondern im Praesens sagt, von den geistlich Armen: ihrer ist das Himmelreich und wieder von den um der Gerechtigkeit willen Verfolgten: ihrer ist das Himmelreich. [...] Indem sie hoffen auf das, was ihnen durch die Verkündigung verheißen wird, haben sie es schon. Indem sie begriffen haben, daß das Himmelreich in ihre direkte Nachbarschaft gerückt ist, sind sie schon berufen zu seinen Bürgern« (769). Was Barth hier tut, ist bemerkenswert. Realität wird definiert als das, was Gott in Jesus Christus schon gewonnen hat, während Illusion die temporäre Blindheit oder Verwirrung ist, durch die wir Menschen und alle anderen Widerstand leistenden Mächte nicht sehen können, dass das Schachspiel eigentlich schon vorbei ist. Es stehen nur noch ein oder zwei Züge aus, und das Ergebnis ist in Gottes gnädiger Bundesliebe festgelegt. Die Seligpreisungen legen von dieser Realität Zeugnis ab und rufen uns dazu auf, sie zu feiern, indem wir in die Herrschaft Gottes hineinleben. Der andere bemerkenswerte Aspekt von Barths Exegese ist seine Personifikation der Bergpredigt, fast als wäre sie ein Handlungsträger in der Geschichte. Die Bergpredigt »sagt«, dass Gottes gnädige Herrschaft begonnen hat; sie »rechnet« mit der Macht der Illusion, dass diese Herrschaft noch nicht angekommen ist; sie »bezeugt«, dass dieser Anschein in Wirklichkeit nur eine Illusion ist. Während das Matthäusevangelium wenig Anhaltspunkte für dieses hermeneutische Mittel enthält, könnte Barth bewusst den Apostel Paulus nachahmen, der die Schrift an Schlüsselstellen seiner Argumentation ebenfalls personifiziert und sogar einen Handlungsträger erfindet (»die Glaubensgerechtigkeit»), dem erlaubt wird, seine eigene Interpretation der Tora zu geben. Vielleicht war gerade die hohe Konzentration des Wortes »Gerechtigkeit« im Paulusbrief an die Römer und im Matthäusevangelium der Grund dafür, dass Barth die Verbindung von Matthäus zu Paulus hergestellt hat. »Die Gnade verfügt selbst darüber, was in ihrem Bereich ordentlich ist«: Die »anstrengenden Gebote« der Bergpredigt Barth weicht der hermeneutischen Frage nicht aus, die für so viele Versuche verantwortlich ist, die Bergpredigt in der Theorie zu ehren, in der Praxis aber zu umgehen: nämlich die scheinbare Unmöglichkeit, ihre Gebote in normalen Lebenssituationen zu erfüllen. Was soll man mit den »anstrengenden Geboten«, wie Harvey sie genannt hat, tun, den rigorosen Vorschriften, jedem, der bittet, zu geben, sich dem Bösen nicht zu widersetzen, seine Feinde zu lieben, keine unwillkommenen sexuellen Gedanken zu haben? Barth schreibt dazu: »Man hat gelegentlich etwas zu laut und zu sicher gesagt, daß die in jenen Beispielen 5,21-48 formulierten Radikalisierungen des alttestamentlichen Gesetzes nicht gesetzlich, d.h. nicht als buchstäblich von uns zu erfüllende Vorschriften gemeint und zu verstehen seien. Es war doch gut, daß es zu allen Zeiten auch immer wieder sogenannte Schwärmer gegeben hat, die jene Forderungen und die der ganzen Bergpredigt nun gerade als buchstäblich zu erfüllendes Gesetz verstanden haben. Denn es ist wohl wahr, daß es sich hier nur um Beispiele handelt. Es ist aber nicht minder wahr, daß an diesen Beispielen klar gemacht werden soll, daß gerade die Gnade Jesu Christi, die Gnade des nahe herbeigekommenen Himmelreichs den ganzen Menschen ganz in Anspruch nimmt. Es ist auch wahr, daß der, der das so verstandene Gesetz wirklich erfüllt, Jesus ganz allein ist [...]. Die Beunruhigung, die von dieser Tatsache ausgeht, ist real und darf nicht wegdiskutiert werden. Wie könnte der mit Jesus beten, der sich dieser Beunruhigung verschlösse oder der sich so mit ihr auseinanderzusetzen wüßte, daß sie für ihn keine Beunruhigung mehr wäre? Diese Forderungen weisen in ihren Spitzen - nochmals: wie sollte es anders sein? - auf außerordentliche Möglichkeiten hin. Es wäre nicht gut, auch nur eine von ihnen und wäre es die vom Ausreißen des Auges und vom Abhauen der rechten Hand (5,29) [...] unter Berufung darauf als für uns Andere ungültig zu erklären, daß sie nun eben durch Jesus erfüllt, von uns also nicht mehr zu erfüllen sei, daß wir 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 37 Zum Thema 38 ZNT 24 (12. Jg. 2009) hier nur zu lesen oder zu hören hätten, wie groß unser Abstand von Jesus und unsere Sündhaftigkeit sei. Allzuviel auch in der übrigen Bergpredigt und im ganzen übrigen Evangelium könnte nach dieser Regel und Auskunft praktisch ebenfalls unter den Tisch fallen! [...] [D]iese Forderungen [...] nehmen [...] uns [...] als Sünder - aber eben als solche, für die Jesus betet und die er zum Beten mit ihm auffordert - in Anspruch. Sie wollen den Gehorsam der Ungehorsamen, dem sich diese mit keiner Berufung auf das Maß und die Schranken ihres Könnens entziehen können. Das Maß ihres Könnens ist in dem Augenblick eine uninteressante Frage, wo wirklich das, was Jesus der Herr an ihrer Stelle kann und tut, in die Mitte des Bildes getreten ist, dem sich auch ihr eigenes Lebensbild einzuordnen hat. Gerade mit der Gnade Gottes läßt sich nicht scherzen: als ob das Außerordentliche, das uns in ihr gegeben ist, nun auf einmal doch nur nach unserem Maßstab ordentliche Konsequenzen haben dürfte. Was in ihrem Bereiche ordentlich ist, darüber verfügt sie selbst. Und so muß man es sich wohl gefallen lassen, daß mit jenen Forderungen - ob ihre Erfüllung uns möglich oder unmöglich erscheint - Handlungsweisen bezeichnet werden, die für den, der die Worte Jesu hören und tun will, auch in ihrem buchstäblichen Sinn möglich und notwendig werden könnten«. 22 Barths Worte sind für jeden ernüchternd, der über die gegenwärtige Fixierung exegetischer und homiletischer Kreise auf das Phänomen »schwieriger Texte« in der Bibel nachdenkt. Natürlich kann ein Text auf verschiedene Weisen für »schwierig« gehalten werden, die zu unterscheiden sich lohnt: (1) Er kann begrifflich schwer zu verstehen sein: Was meint er? (2) Er kann schwer als Gottes Wort zu verstehen sein (Texte, die offensichtlich unsensibel, faktisch falsch oder entstellt, naiv oder blind, vielleicht sogar grausam sind). (3) Er kann schwer zu verstehen sein im Sinne von kontraintuitiv, nicht vernünftig: Kann der Text wirklich so etwas intendieren? (4) Er kann in unserer Vorstellung schwer zu leben oder zu verkörpern sein: Ist eine solche Empfehlung möglich? Ist sie weise? Und (5) kann er wie eine Last schwer zu tragen sein: Die empfohlene Handlung kann ein Ruf sein, auf dem Weg des Kreuzes zu gehen, der viel kostet oder sogar Angst macht. Einige dieser heuristischen Unterscheidungen dürften wohl zusammenfallen, wenn sie praktisch angewendet werden, aber es ist bereits klar, dass es in der Bergpredigt Beispiele für alle gibt. Auf jeder Ebene der Diskussion wird das Gebet wichtig sein, wie Barth deutlich macht. Unerwartete Kraft könnte zur Verfügung stehen, sowohl für das Verstehen wie für das Leisten dessen, was beim ersten Lesen schwierig oder unmöglich scheint. »Lebendige Gerechtigkeit«: Ein Unterschied zwischen den christologischen Lesarten Barths und Bonhoeffers Sowohl Barth wie Bonhoeffer weigern sich hartnäckig, die radikalen Forderungen der Bergpredigt aufzuheben. Barth versichert, dass Bonhoeffer mit den Kosten der Jüngerschaft Recht hatte, selbst wenn er Bonhoeffers Exegese der Bergpredigt nicht folgen will. Beide Theologen »lösen« die hermeneutischen Herausforderungen der Bergpredigt christologisch, aber auf verschiedene Weise: Bonhoeffer verweist auf den Gekreuzigten als den, der im Unterschied zu den Schriftgelehrten exousia, »Autorität« hat (Mt 7,29). Barth verweist zwar ebenfalls auf die »Autorität« Jesu Christi, macht sie aber am Herr-Sein Christi fest. In einem anderen Teil der Kirchlichen Dogmatik II / 2 (»Der Inhalt des göttlichen Anspruchs«) expliziert Barth dieses Fundament: »›Und wo ich bin, da wird mein Diener auch sein.‹ Man kann nicht bei Jesus sein, ohne daß man mit Notwendigkeit in das mit diesen Forderungen angedeutete Geschehen hineingerufen und hineingezogen wird. [...] Diese seine Knechtschaft ist darum seine Herrschaft, weil er eben in ihr mit seinem Gehorsam die Gnade Gottes lebt und verkündigt. Eben damit hat er ›Vollmacht‹ (dynamis), redet er nicht wie die Schriftgelehrten (Matth. 7,29), ist seine Lehre keine Lebenskunde und kein Weltverbesserungsprogramm und ist sein Leben kein Vorbild zu deren Ausführung, sondern schlechterdings das Ereignis des göttlichen Handelns am Menschen, kann man also nicht bei ihm sein, um je nachdem dies und das von ihm zu lernen und anzunehmen, das nicht Konvenierende aber auf sich beruhen zu lassen« (633). »Sowohl Barth wie Bonhoeffer weigern sich hartnäckig, die radikalen Forderungen der Bergpredigt aufzuheben.« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 38 A. Katherine Grieb »Lebendige Gerechtigkeit«: Karl Barths christologische Exegese der Bergpredigt ZNT 24 (12. Jg. 2009) 39 Wenn Barth von »lebendiger Gerechtigkeit« spricht, scheint er eine doppelte Bedeutung im Sinn zu haben: die Auferstehung und rehabilitierte Gerechtigkeit Jesu Christi und die Gerechtigkeit, die von denen verlangt wird, die infolge ihrer Taufe »in Christus« leben. Einerseits kann Barth sagen: »Die Gerechtigkeit, die die Bergpredigt fordert, ist [...] von dem, der sie fordert, nicht zu trennen. Sie ist seine Gerechtigkeit [...]. [E]r, dieser Eine, [ist] selber die von ihm geforderte Gerechtigkeit« (773f.) (»der das Gebot verkörpernde Gebieter« 771). Auf der anderen Seite kann er auch sagen: »Und nun sagt die Bergpredigt als Anzeige des neuen Menschen als solchen Folgendes: Es ist der neue Mensch eben damit ins Leben gerufen, daß ihm durch Jesus das Wort von der besseren Gerechtigkeit, der Gerechtigkeit des Reiches als das Wort der ihm zugewendeten Gnade Gottes zugerufen wird.« (774). »So ist die Gnade dieses Wortes selbst die dem Menschen widerfahrende und vom Menschen zu betätigende Gerechtigkeit [...] und sie ist darum (6,33) die Gerechtigkeit des Reiches, weil sie unmittelbar in der Tat und Gabe des Gesetzgebers und Richters selbst besteht, weil sie von ihm machtvoll geschaffen und verliehen, die wirkliche Lebensgerechtigkeit derer ist, denen er sie zusagt« (772). Schluss: Auf die »lebendige Gerechtigkeit« Christi bauen Die Bergpredigt endet mit dem Gleichnis, das die Frage nach Gehorsam oder Ungehorsam dramatisch formuliert: Wer immer »diese meine Worte« hört und sie tut, gleicht dem weisen Menschen, der auf Fels gebaut hat; dieser Fels bleibt mitten in den Fluten und Stürmen stehen; aber wer immer »diese meine Worte« hört, ohne sie zu tun, gleicht dem Narren, der ein Haus auf Sand gebaut hat - und in Zeiten der Unruhe war sein Fall groß. Dieses Gleichnis ist der logische Ausgangspunkt für abschließende Beobachtungen zu der Frage, warum Barths theologische Exegese für gegenwärtige Studien zur Bergpredigt wichtig bleibt. In diesem Aufsatz habe ich die Aufmerksamkeit auf mehrere unverwechselbare Aspekte der theologischen Exegese der Bergpredigt durch Karl Barth gelenkt. Für Barth besteht »die Eindeutigkeit der göttlichen Entscheidung« nicht nur in ihrer historischen und personalen Ausprägung (spezifische Gebote an individuelle Personen in den besonderen Umständen ihrer Geschichte), sondern auch in ihrer Unmissverständlichkeit und Konkretion, sowohl für die, die das Gebot zuerst gehört haben, wie auch für uns, an die es nicht direkt gerichtet ist. Es gibt jedoch einige biblische Kontexte, in denen das Gebot die Form allgemeiner Regeln annimmt, wie die Zehn Gebote und die Bergpredigt. Barths Entscheidung, diese biblischen Abschnitte zusammen zu lesen, folgt nicht nur der matthäischen Jesus-Mose-Typologie, sondern berücksichtigt auch die literarische Gattung der Texte selbst. Sie sind verdichtete Formen des göttlichen Gebots, wie wenn mehrere Lichtstrahlen durch eine Linse gebündelt oder mehrere Drähte verbunden werden, um ein Kabel zu bilden. Im Unterschied zu vielen seiner exegetischen Vorläufer verbindet Barth die Bergpredigt nicht mit einem anderen Bibeltext, um ihre Ansprüche zu unterlaufen, sondern um seine christologische Lesart des Abschnitts zu stützen. Barth beschreibt die rhetorische Situation der Bergpredigt als »ein gebotenes Schachmatt«, wo auf der Seite der Leser / innen ein klares Urteilsvermögen nötig ist, um zu erkennen, dass das Spiel tatsächlich vorbei ist: Die Gottesherrschaft ist da. Barths Entscheidung, die Situation in den Begriffen von Realität oder Illusion zu formulieren, passt zur Aussage des abschließenden Gleichnisses: Baue dein Haus auf feste Realität statt auf Selbsttäuschung. Die Seligpreisungen, die zusammen mit diesem Gleichnis die Bergpredigt rahmen, bezeugen sowohl die fatale Anziehungskraft der Illusion als auch die ihr bestimmte Vernichtung: Die wahrhaft Glücklichen sind die, die scheinbar ihre Energie verschwenden, indem sie Pfähle in den harten Fels treiben, wo doch der weiche Sand so viel leichter zu bearbeiten wäre. Wo ist die Weisheit zu finden? Barths christologische Lesart der Bergpredigt passt zu Matthäus’ eigener Beschreibung der Leichtigkeit »Barth beschreibt die rhetorische Situation der Bergpredigt als ›ein gebotenes Schachmatt‹ …« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 39 Zum Thema 40 ZNT 24 (12. Jg. 2009) dieses Jochs und dieser Last. Und wenn die »anstrengenden Gebote« und die »schwierigen Texte« unrealistisch oder sogar unmöglich erscheinen, warnt uns Barth davor, im Voraus zu entscheiden, dass das übernatürliche Leben, das die Gnade vermittelt, nur natürliche Folgen haben kann. Da »die Gnade selbst darüber verfügt, was in ihrem Bereich ordentlich ist«, wird die gefühlte Begrenztheit unserer Fähigkeit zu gehorchen irrelevant und das Gebet Pflicht. Aber der Ruf zum Gehorsam wird nicht durch die Autorität »des Gekreuzigten« gerechtfertigt, wie Bonhoeffer das sieht. Für Barth beruht die Autorität des Gebots auf dem »Herr-Sein Christi«, dem Gebieter, der das Gebot verkörpert, der »lebendigen Gerechtigkeit« des Wortes Gottes (»er lebt! «). Schließlich ist die Entscheidung, worauf wir unser Leben bauen, eine Entscheidung für Gottes eigene Gerechtigkeit, die sich im Anbruch von Gottes gnädiger Herrschaft zeigt, im Tod und der Auferstehung Jesu Christi, in der Erneuerung der menschlichen Schöpfung. Oder, um Barth zu paraphrasieren: »Uns selbst überlassen, würden wir sicher das Heilige den Hunden geben zugunsten eines Systems von Gesetz oder Gesetzlosigkeit. Unsere Dankbarkeit würde sich sofort in Undankbarkeit verwandeln. Die Güte unserer Taten würde sofort verschwinden. [Wie unser Herr sagt,] ›Ohne mich könnt ihr nichts tun‹«. Der Beitrag wurde übersetzt von Prof. Dr. Thomas Schmeller / Frankfurt a.M. Anmerkungen 1 Vgl. A.K. Grieb, Last Things First: Karl Barth’s Theological Exegesis of 1 Corinthians, in: The Resurrection of the Dead, SJT 56 (2003), 49-64. 2 Vgl. A.K. Grieb, Rezension von Richard E. Burnett, »Karl Barth’s Theological Exegesis: The Hermeneutical Principles of the Römerbrief Period (WUNT II / 145), Tübingen 2001, RBL at SBL Website Fall, 2003. 3 W.S. Kissinger, The Sermon on the Mount: A History of Interpretation and Bibliography, Metuchen 1975, 13. 4 Kissinger, Sermon, 6. 5 A.E. Harvey, Strenuous Commands: The Ethic of Jesus, London 1990, 1. 6 Vgl. Harvey, Ethics, 22. 7 Vgl. Harvey, Ethics, 22. 8 Vgl. Harvey, Ethics, 22. 9 D.C. Allison, The Sermon on the Mount. Inspiring the Moral Imagination, New York 1999, 3. 10 Vgl. Harvey, Ethics, 22. 11 M. Dibelius, The Sermon on the Mount, New York 1940, 137, zitiert nach Allison, 6. 12 R. Niebuhr, Christianity and Power Politics, New York 1940, 8. 13 Vgl. R. Niebuhr, An Interpretation of Christian Ethics, London 1936, 113-145. 14 Niebuhr, Interpretation, 128-9. 15 Vgl. A. Pangritz, Karl Barth in der Theologie Dietrich Bonhoeffers - eine notwendige Klarstellung (Dahlemer Heft 9), Berlin 1989, 58-68. 16 D. Bonhoeffer, Nachfolge (Dietrich Bonhoeffer Werke IV. Taschenbuchausgabe), Gütersloh 3 2008, 191. 17 Bonhoeffer, Nachfolge, 72. K. Barth zitiert dieses Gleichnis in KD IV / 2, 613; in IV / 2, 604 schreibt er zum Ruf in die Nachfolge«: »Mit Abstand das Beste, was dazu geschrieben ist, scheint mir in dem Buch ›Nachfolge‹ von Dietrich Bonhoeffer (1937) vorzuliegen«. 18 D. Bonhoeffer, Ethik, hrsg. v. E. Bethge, München 6 1963, 47. 19 Kissinger, Sermon, 84-86. 20 Vgl. Bonhoeffer, Ethik, 473.475f.476f. 21 Vgl. E. Busch, Karl Barth: His Life from Letters and Autobiographical Texts, übers. v. J. Bowden, Philadelphia 1975, 155.234. 22 K. Barth, KD II / 2, 777f. 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 40 ZNT 24 (12. Jg. 2009) 41 Die politische Relevanz des christlichen Glaubens systematisch auszublenden, sei die eigentliche Häresie unserer Zeit, hat der griechische Philosoph Christos Yannaras, emeritierter Professor der Panteion Universität in Athen, kürzlich festgestellt. Aber die Bergpredigt? Ist sie als Testfall geeignet? Die Alternative, die Bergpredigt als moralisches oder gar politisches Programm oder doch eher als lebensferne Utopie einzuschätzen, gehört bereits zu den Ablagerungen ihrer Wirkungsgeschichte. Sie hat dazu beigetragen, dass von diesem vielleicht bekanntesten neutestamentlichen Text nicht mehr allzu viel erwartet wird. Die Kontroverse in diesem Heft klingt anders. Sie überholt wie selbstverständlich unfruchtbare Fragestellungen, die bis vor nicht allzu langer Zeit die beherrschenden Auslegungsalternativen markierten. Die beiden Kontrahenten dieses Heftes eint die Überzeugung, dass die Anstöße der Bergpredigt unersetzliche Impulse jenseits von Alternativen bieten, die uns mit dem Anschein der Alternativlosigkeit im Griff haben. Wie sieht politische Verantwortung aus, und worauf kann ein Handeln gründen, das sich von der permanenten Reproduktion dominierender Alternativen befreit hat? Wo hätte solche Befreiung anzusetzen? Der Neutestamentler François Vouga nimmt seinen Ausgangspunkt beim paradoxen Entwaffnungseffekt der Bergpredigt: Offensiv kommunizierte Schwäche kann zur Schwäche der Macht werden. Hier entspinnt sich ein Gedankengang, der ins Zentrum gegenwärtiger Problemstellungen führt. Weder die Gerechtigkeit als die »bedingungslose Anerkennung der Personen« noch die Vollkommenheit können über das Definieren von Eigenschaften bestimmt werden - diese für die Bergpredigt zentralen Begriffe bilden vielmehr das Ende aller Vollkommenheitsideale. Dem entspricht eine Theologie der Schönheit, die die Schöpfung als Gestalt der Großzügigkeit Gottes zu sehen lernt. Politische Relevanz hat die Bergpredigt folglich nicht im Sinne einer Programmschrift, sondern als Plädoyer für die Stärkung des Politischen als dem Diskurs, in dem politische Verantwortung vor anthropologischen und theologischen Horizonten reflektiert wird. Auch die Politikwissenschaftlerin Tine Stein geht davon aus, dass Politik von sie bestimmenden Voraussetzungen lebt, deren Diskussion dringend erforderlich ist. Folglich müssen im Zeichen eines konstruktiven Dialogs Politik und Religion unterschieden werden, um einander befruchten zu können. Gilt doch die universale Botschaft der Bergpredigt keiner politischen Gemeinschaft, sondern allen Menschen im Zeichen der anbrechenden Gottesherrschaft. Damit wurde die reichsrömische Verschmelzung von Religion und Gesellschaft nachhaltig aufgebrochen - mit der nachhaltigen Wirkung, ›Politik‹ als begrenzte und relationierte Größe zu verstehen. Nicht weniger bahnbrechend war im antiken Kontext die unbedingte Anerkennung des Anderen als Person, für die die Bergpredigt einen der wirkungsvollen Basistexte bildet, weil sie die gültigen sozialen Kriterien gleichgültig machte. Hier gründet eine Auffassung der Menschenwürde, die bis heute wirkt. Die Bergpredigt wird wieder spannend. Lassen Sie sich einladen zu einer Kontroverse, die umso bemerkenswerter ist, als hier zwei unterschiedliche Ansätze zu vergleichbaren Ergebnissen führen. Eckart Reinmuth Kontroverse Einleitung zur Kontroverse »Bergpredigt - Politik des Evangeliums? « 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 41 42 ZNT 24 (12. Jg. 2009) Eine klare Vorstellung der Politik der Bergpredigt entwickelt Jay Haley. 1 Als ein Spezialist der Pragmatik der Kommunikation (Gregory Bateson, Paul Watzlawick, Mara Selvini-Palazzoli) beobachtet Haley die paradoxe Logik der Antithesen der Bergpredigt. Die bekannten Anweisungen zur Gewaltlosigkeit (»Wenn dich einer auf die rechte Backe schlägt..., wenn einer dich nötigt, eine Meile mitzugehen...«) gehören zu einem - auch in der Tierwelt bekannten - klassischen Repertoire der Entwaffnung der Mächtigen durch die Schwachen. Das Angebot, mehr zu tun als gefordert ist, führt zu einer Umrahmung der Situation, die die Machtverhältnisse durch eine pragmatische Veränderung der Einstellungen umdreht. Haley vertritt die These, dass Jesus diese Taktik verwendet hat, um die Macht in Palästina zu ergreifen. Als einzigen politischen Fehler hat er seine Volksgenossen überschätzt: Er hatte nämlich nicht damit nicht gerechnet, dass sie sich für die Befreiung von Barabbas einsetzen, sondern er hoffte, von seinem Prozess das für sein messianisches Vorhaben nötige Aufsehen auf sich zu ziehen. Der Radikalismus der Bergpredigt als Paradoxie Der paradoxe Charakter des matthäischen Radikalismus ist in der Interpretation der Bergpredigt nicht immer so klar gesehen worden. Pragmatische Paradoxien der Kommunikation können entweder pathologische Auswirkungen haben, wenn sie ihre Adressaten in die Situation eines doppelten Zwangs (double bind) versetzen (Die Anweisung »sei spontan« verlangt gleichzeitig ein eigenständiges Verhalten und den Gehorsam zum Imperativ), oder die therapeutische Funktion erfüllen, einen sonst unmöglichen Systemwechsel zu ermöglichen. Der Ertrag der Analyse von Jay Haley darf nicht unterschätzt werden: Als Paradoxie der Kommunikation sind die radikalen Forderungen der Bergpredigt nicht wortwörtlich, sondern von ihrem Kommunikationszusammenhang her zu verstehen. In ihrer Rezeptionsgeschichte sind sie oft als pathogene Überforderungen verstanden worden: Jesus verlange von seinen Jüngern und seinen Zuhörern (Mt 5,1 und 7,28-29) ein Verhalten, das aus einer tadellosen Gewaltlosigkeit (Mt 5,21-26), aus einer unbefleckten inneren Askese (Mt 5,27-33) und aus einer reinen Aufrichtigkeit besteht (Mt 5,33-38). Die christliche Vollkommenheit (Mt 5,48) und die Felsen, auf denen die Existenz gründen soll (Mt 7,24-27), setzen als Verhaltensnormen unerreichbare Ideale, die nicht nur menschlich unmöglich, sondern auch politisch irreal sind: Mit der absoluten Gewaltlosigkeit und dem - zumal universal ausgelegten - Liebesgebot (Mt 5,39-48) gestaltet sich keine verantwortliche Politik. These 1: Die Ethik der Bergpredigt begründet und empfiehlt kein System von Werten und Normen. Sie entwickelt vielmehr eine Argumentation, die auf eine Veränderung der Einstellungen - und erst als sekundäre Konsequenz - der Verhaltensweisen hinzielt. Die Frage, die Jay Haley noch einmal mit großer Deutlichkeit stellt, betrifft die der paradoxen Kommunikation der Bergpredigt zugrundeliegende Intentionalität - was will der matthäische Jesus in seinen Lesern erreichen? - und ihre politische Bedeutung. Worin bestehen die bessere Gerechtigkeit und die Vollkommenheit, die die Jünger Jesu kennzeichnen (Mt 5,20), und wie sind sie durchsetzbar? 2 Kontroverse François Vouga Bergpredigt - Politik des Evangeliums? »Als Paradoxie der Kommunikation sind die radikalen Forderungen der Bergpredigt nicht wortwörtlich, sondern von ihrem Kommunikationszusammenhang her zu verstehen.« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 42 François Vouga Bergpredigt - Politik des Evangeliums? ZNT 24 (12. Jg. 2009) 43 Die Gerechtigkeit als Vertrauen und Anerkennung Am deutlichsten definiert Matthäus die Gerechtigkeit durch eine Unterscheidung: Die Gerechtigkeit könnte leicht mit der »Heuchelei« verwechselt werden, und die Jünger und Zuhörer Jesu sollen vor der Verwechslung gewarnt werden. Der Grund für die Verwechslung ist leicht ersichtlich: Das religiöse und ethische Verhalten der »Heuchler« ist identisch mit dem, was die Gerechten tun: Sie geben Almosen, beten und fasten (Mt 6,1-18). Dagegen hat der matthäische Jesus nichts einzuwenden, denn der Unterschied zwischen der Gerechtigkeit und der Heuchelei steckt nicht im Verhalten, sondern in der existentiellen Haltung: Zweimal wiederholt er, dass die Heuchler das Gute tun, um es den Menschen zu zeigen (Mt 6,5.16) und um von den Menschen verherrlicht zu werden (Mt 6,2). Matthäus registriert auch sofort dreimal, dass es funktioniert: »Amen, ich sage euch, sie haben ihren Lohn« (Mt 6,2.5.16). Der Fehler liegt nun aber darin, dass sich der Lohn, den sich das Subjekt von den Menschen holt, mit den Gaben des himmlischen Vaters nicht vereinbaren lässt: Das Gute sollen die Jünger und die Zuhörer Jesu im Verborgenen - ungesehen und unsichtbar - tun (Mt 6,3.6.17). Sie sollen es Gott allein zeigen, der ins Verborgene sieht. Der Unterschied zwischen der Gerechtigkeit und der Heuchelei 3 besteht also zunächst darin, dass die Heuchler von Gott und von den Menschen gesehen werden wollen, weil sie sich vorstellen, dass der Lohn von den Menschen mit den Gaben Gottes kompatibel ist. Der Grund der Unvereinbarkeit liegt auf der Hand. Der matthäische Jesus erklärt ihn zunächst in dem betont wiederholten Hinweis auf den Gegensatz zwischen der Verborgenheit, die der himmlische Vater wahrnimmt, und dem »Zeigen«-Wollen der Heuchler, sodann in der zweiten Unterscheidung zwischen den Gerechten und den »Heiden« (Mt 6,7-8). Der Gegensatz zwischen Gerechten und Heuchlern verweist auf eine Unterscheidung zwischen Innerlichkeit und Äußerlichkeit; die Gegenüberstellung von den Gerechten, die aus Vertrauen leben, und den Heiden verweist auf eine Unterscheidung zwischen einer Logik der Umsonstheit und einem System des Tauschs: Die Gerechten leben in der Zuversicht, dass ihr himmlischer Vater weiß, was sie brauchen, während sich die Heiden auf das vermeintliche Tauschmittel der Quantität ihrer Worte verlassen. Die Dankbarkeit für die Gaben Gottes und die Erwartung, seinen Lohn von den Menschen zu bekommen, sind deswegen unvereinbar, weil sie zwei existentielle Haltungen voraussetzen, die nicht kompatibel sind. These 2: Mit dem Begriff der Gerechtigkeit definiert die Ethik der Bergpredigt keine Normen und Werte, aus denen praktische Empfehlungen abgeleitet Prof. Dr. theol. Dr. theol. h.c. François Vouga, Jahrgang 1948, ist Professor an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal / Bethel. 1973-1974 Assistent von Christophe Senft in Lausanne; 1975- 1982 Gemeindepastor in Avully und Chancy (Genf); 1982-1985 Maître assistant in Montpellier; 1985 Thèse de doctorat und venia legendi im Fach Neues Testament in Genf; 1984-1985 Gastprofessor in Neuchâtel; 1985-1986 Professor in Montpellier, 1986-2009 an Kirchlichen Hochschule Bethel, seit 2008 in Wuppertal. Seit 1988 regelmäßige Gastprofessuren an der Facoltà Valdese di Teologia in Rom; 1998 Ehrendoktor der Universität Neuchâtel; 1999 und 2001 Gastprofessur, 2008-2010 Honrarprofessur an der Faculté de théologie et de sciences religieuses de Université Laval, Québec. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der frühchristlichen Literatur, Einheit und Vielfalt der neutestamentlichen Theologie, Paulus und die paulinische Theologie, die Petrusbriefe, Theologie und Ästhetik (Kunst und Musik), Theologie und Naturwissenschaften. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt: Politique du Nouveau Testament, Genf 2008. Für weitere Informationen siehe: www.kiho.thzw.de François Vouga 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 43 Kontroverse 44 ZNT 24 (12. Jg. 2009) werden könnten, sondern sie unterscheidet zwei existentielle Haltungen: • Die Gerechtigkeit aktualisiert sich im Vertrauen auf die bedingungslose Anerkennung der Personen. • Die Heuchelei - als ernstgemeinte aber unglückliche Variante der Suche nach Gerechtigkeit - besteht in der Identitätsfindung aufgrund von Eigenschaften. Die evangelische Vollkommenheit als Ende der Vollkommenheitsideale Die Einführung in die Antithesen warnt vor dem Gedanken, dass Jesus gekommen sei, um den Gotteswillen, wie er in der Schrift überliefert ist, aufzulösen: Er ist nicht gekommen, um aufzulösen, sondern um zu erfüllen: um die Verheißung, die in der Schrift enthalten ist, von der Intentionalität Gottes her zu verstehen, wie Calvin es in seinem Kommentar der evangelischen Harmonie klar formuliert hat (Mt 5,17). Eine erste Begründung liefert die Zuversicht, dass die Verheißung des Gotteswillens - Matthäus schreibt »Gesetz« und meint den Willen Gottes, den Paulus mit dem Begriff des Evangeliums interpretiert - wahr bleibt, bis Himmel und Erde vergehen (Mt 5,18), so dass die Jünger und Zuhörer Jesu aufgefordert sind, in allem zu vertrauen (Mt 5,19). Die zweite Begründung verweist auf zwei Vorstellungen der Gerechtigkeit (= Eure Gerechtigkeit und die Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer), die die Unterscheidung zwischen Gerechtigkeit und Heuchelei ankündigen (Mt 5,20). Die Gegenüberstellung der zwei Vorstellungen der Gerechtigkeit wird in der Gegenüberstellung von zwei Vorstellungen der Vollkommenheit weitergeführt: »Ihr werdet vollkommen sein wie euer himmlischer Vater vollkommen ist« (Mt 5,48). Die Vollkommenheit Gottes des Vaters wird präzise definiert: Die Großzügigkeit der Vorsehung Gottes macht keinen Unterschied zwischen Bösen und Guten und zwischen Gerechten und Ungerechten (Mt 5,45). Deshalb werden die Jünger und die Zuhörer des matthäischen Jesus die Söhne ihres himmlischen Vaters werden, indem sie Freunde und Feinde unabhängig von ihren Eigenschaften (Freund, gut, gerecht oder Feind, böse, ungerecht zu sein) lieben und als Personen anerkennen (Mt 5,44-45). Die Distanz zwischen der Nächstenliebe als Liebe der Freunde und der Feindesliebe reduziert sich nicht auf einen quantitativen Unterschied, sondern sie bedeutet eine Bekehrung des Verhältnisses zu sich selbst und zu den anderen. Die Nächstenliebe als Freundesliebe ist Zuneigung eines Subjekts, das sich über zuweisbare Eigenschaften bildet - Zugehörigkeit zur Erwählung, Gesetzesgehorsam -, die es im anderen feststellen kann. Die Feindesliebe hingegen lebt vom Vertrauen auf die bedingungslose - und folglich universale - Anerkennung der Person. Die Vollkommenheit der Bergpredigt begründet also eine Veränderung des Selbst- und des Menschenverständnisses. 4 Sie bedeutet das selbstverständliche Ende der Identitätsbildungen durch Abgrenzung aufgrund der Eigenschaften. Sie impliziert die Ablehnung aller Vollkommenheitsideale, 5 die die Menschen aufgrund ihrer qualifizierenden oder disqualifizierenden Eigenschaften hierarchisieren und sortieren, und die die Personen disqualifizieren. Diese Definition der Vollkommenheit als Ende der Vollkommenheitsideale ist keine politische Aussage. Sie hat aber unmittelbare politische Konsequenzen. Parallel zu der paulinischen Metapher des Leibes (1Kor 12,1-31) begründet sie den Aufbau einer universalen - bei Paulus: Derselbe Geist verleiht jedem Einzelnen Gaben, die einzigartig sind - und pluralistischen - bei Paulus: Die Einheit des Leibes ergibt sich aus der Vielfalt der Glieder - Gesellschaft. These 3: Der Begriff der Vollkommenheit, den die Bergpredigt durch die Vollkommenheit des himmlischen Vaters begründet, beschreibt keine Norm und keine Hierarchie der Werte. Die Paradoxie des matthäischen Jesus definiert die Gerechtigkeit und die Vollkommenheit als das Ende der Vollkommenheitsideale um. Die Verkündigung der »Die Vollkommenheit der Bergpredigt begründet also eine Veränderung des Selbst- und des Menschenverständnisses.« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 44 François Vouga Bergpredigt - Politik des Evangeliums? ZNT 24 (12. Jg. 2009) 45 überreichen Gerechtigkeit der Vorsehung Gottes schafft eine neue Struktur der Wirklichkeit, die den Übergang vom System der »Heuchelei«, des Tausches und der Eigenschaften zum Geist der Umsonstheit und der Gabe, der Ich-Du-Beziehungen aufbaut, erfordert und ermöglicht. Sie setzt eine bedingungslose Anerkennung der Personen voraus, die die Begründung für eine offene, universale und plurale Gesellschaft liefert. 6 Das Vertrauen in die Vorsehung Gottes, die sich in der Schönheit der Schöpfung offenbart Die Verkündigung des matthäischen Jesus gründet, genauso wie das paulinische Evangelium, auf eine Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes. Diese Offenbarung hat für Paulus in der absoluten Singularität des Kreuzes stattgefunden. Mit dem theologischen Begriff des Kreuzes meint Paulus die Offenbarung des durch das Gesetz verfluchten Gekreuzigten als des Sohnes Gottes - und die Offenbarung Gottes als des Vaters des Gekreuzigten. Gott ist kein Gott der Eigenschaften, sondern ein Gott der Personen (Gal 1,12.16; 3,13). Das Matthäusevangelium und die Bergpredigt formulieren keine Kreuzestheologie. Die Gerechtigkeit Gottes zeigt sich nicht im Tod und in der Auferstehung Jesu, die ihre letzten Konsequenzen sind, sondern in der Einladung der Jünger und Zuhörer Jesu zu einer Bekehrung des Blickes, mit dem sie die Wirklichkeit der Schöpfung betrachten: »Beschäftigt nicht eure Seele mit dem, was ihr essen werdet oder womit ihr euren Körper anziehen werdet! « (Mt 6,25) Der Grund, weswegen die Jünger und Zuhörer Jesu ihre inneren Dialoge mit der Frage ihres Überlebens nicht füllen sollten, ist offensichtlich. Aber er ist es nur für diejenigen, die Sehen gelernt haben. Deswegen macht die Bergpredigt auf die Wahrheit der Schöpfung aufmerksam: Die Wahrheit der Schöpfung liegt darin, dass sich die Logik der Vorsehung Gottes in der Großzügigkeit, mit welcher sie Regen und Sonne zum Gedeihen aller bedingungslos verteilt, die Vögel des Himmels ernährt und die Blumen des Feldes schmückt, in Dankbarkeit bewundern lässt. Die Offenbarung findet sich nicht in der Natur, sondern in der Verheißung und in der Einladung der Imperative Jesu, die Schönheit der Schöpfung wahrzunehmen und zu verstehen: »Seht hin die Vögel des Himmels, ... Betrachtet die Lilien des Feldes, ...« (Mt 6,26.28). Was gesehen und betrachtet werden kann, ist explizit gesagt: Die Vögel arbeiten nicht, um zu überleben, und Gott gibt ihnen alles Nötige umsonst. Die Lehre der Blumen des Feldes erklärt es noch deutlicher: Die Jünger und Zuhörer Jesu sollen eine Schönheit wahrnehmen, die präzise an ihrem unnützen, nicht-funktionalen und für eine technische Sichtweise überflüssigen Charakter liegt. Paulus hat den Humor als Fähigkeit der Selbstdistanzierung der christlichen Freiheit erfunden und Matthäus die moderne Ästhetik: Die Schönheit liegt nicht an der Sache als ihre objektive Eigenschaft, sondern sie entsteht aus der Begegnung des Auges, das sich an ihr freut: (28b) Betrachtet die Lilien des Feldes, wie sie wachsen! sie mühen sich nicht noch spinnen sie. (29) Ich sage euch: Auch Salomon in seiner ganzen Herrlichkeit war nicht bekleidet wie eine von diesen. (30) Wenn Gott das Gras des Feldes so kleidet, das heute da ist und morgen in den Ofen geworfen wird, nicht viel mehr euch? Die Lilien des Feldes tun genauso wenig für ihr Überleben wie die Vögel des Himmels. Darüber hinaus aber kleidet sie Gott mit einer Schönheit, die keine andere Funktion und Berechtigung hat, als die maßlose Großzügigkeit der Güte Gottes zu offenbaren. Anders als Paulus entwickelt der matthäische Jesus keine Kreuzestheologie, sondern eine Theologie der Schönheit, die die Schönheit als Offenbarung der Umsonstheit der Gerechtigkeit und der Vollkommenheit der Gnade Gottes wahrnimmt und interpretiert. Gilt die großzügige Umsonstheit der Vorsehung Gottes für die Vögel des Himmels und für die Blumen des Feldes, dann soll sie um so mehr für die gelten, die berufen sind, Söhne des himmlischen Vaters zu werden (Mt 5,45; 6,26.30). 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 45 Kontroverse 46 ZNT 24 (12. Jg. 2009) These 4: Der Wechsel vom System der Vollkommenheitsideale und des Tauschs zum Geist der Umsonstheit, des Vertrauens und der Anerkennung gründet auf der Über-Großzügigkeit der Vorsehung Gottes, die sich in der Schönheit der Schöpfung erkennen lässt. Die Theologie der Schönheit, die in der Bergpredigt entworfen wird, ist indirekt von großer politischer Brisanz. Sie verweist auf eine Logik der Umsonstheit, die das geistige Leben des Einzelnen begründet, aber dadurch die anthropologischen Voraussetzungen für eine menschengerechte Gestaltung der res publica jenseits der Vollkommenheitsideale der Ideologien und der Machtverhältnisse sichert. Sie verbietet sowohl eine Instrumentalisierung der menschlichen Existenz und der Gaben der Schöpfung als auch eine Verabsolutierung des Systems des Tauschs, die die Seelen als Ware behandelt. Die Bergpredigt - Politik des Evangeliums? Nein! Die provokative Auslegung von Jan Haley zeigt a contrario, dass die Bergpredigt weder ein politisches Programm noch eine politische Strategie definiert. Radikale Forderungen der Antithesen (Mt 5,17-48) wenden die von Gregory Bateson oder Paul Watzlawick beschriebene Logik der Paradoxien der Kommunikation an. Solche Paradoxien gehören zu den pragmatischen Formen der Veränderung. Sie können therapeutisch eingesetzt werden, wie es die matthäische Bergpredigt tut, um die Jünger und Zuhörer Jesu vom System des Tauschs und von der Gerechtigkeit aufgrund von Eigenschaften zu befreien. Sie können aber auch pathogen wirken, wie es das Missverständnis ihrer moralischen Rezeption belegt, oder man kann sie manipulativ anwenden, wie es Jay Haley zeigt. Jay Haley hat folglich recht, von einer »Taktik« zu sprechen, denn entscheidend ist die argumentative Strategie, in welcher sie gebraucht werden. Die ethische Argumentation der Bergpredigt begründet kein System von Werten und Normen, sondern lädt die Seele ein, wegen der Übergroßzügigkeit des Vaters im Himmel, die die Betrachtung der Schönheit in der Schöpfung offenbart, aus Vertrauen in die Gerechtigkeit Gottes als von ihm umsonst anerkannte Person zu leben und die anderen logischerweise als Personen bedingungslos anzuerkennen. Die Sorge für die Seelen gehört nicht zum Bereich der Politik. Aber doch! Die Sorge für die Seelen gehört zwar nicht zum Relevanzbereich der Politik. Die Verheißung der bedingungslosen Anerkennung der Personen liefert jedoch die notwendige und ausreichende theologische Begründung für den Universalismus und für den Pluralismus, die offene Gesellschaften kennzeichnen. Gerade diese Begründung leisten weder die politischen Ideologien, wie es das 20. Jahrhundert 7 und Karl Popper 8 veranschaulicht und erklärt haben, noch der wirtschaftliche Liberalismus, wie man sieht. Aus den Neugründung der politischen Kunst und den Aufgaben der Politik durch die evangelische Verheißung und Forderung des universalen Respekts der Bürger als anerkannte Personen folgt die Notwendigkeit einer Neudefinition und einer - auch von Ökonomen wie Joseph Stiglitz längst verlangten - Aufwertung der Politik selbst: Die in der Bergpredigt verkündigte theologische Anthropologie und die ihr zugrunde liegende Theologie der Schönheit setzen eine Gestaltung der menschlichen Gesellschaft, der Verteilung der Ressourcen und der Arbeit sowie der dankbaren Verhältnisse zu der Gabe der Schöpfung voraus, die den Dienst einer offenen, im strengen Sinne politischen Diskussion bestimmen. These 5: Die Bergpredigt definiert keine evangelische Politik, sondern bietet der modernen, universalistischen und pluralistischen demokratischen Republik eine theologisch-anthropologische Begründung, die ihre politische Verantwortung definiert. Diese politische Verantwortung lässt sich auf die unpolitische Parodie von parteiischen Marktkämpfen nicht reduzieren. Sie lässt sich durch kein Programm beschreiben, denn Programme instrumentalisieren die Menschen, sondern durch die Verheißung und die Forderung des universalen »Die Theologie der Schönheit, die in der Bergpredigt entworfen wird, ist indirekt von großer politischer Brisanz.« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 46 François Vouga Bergpredigt - Politik des Evangeliums? ZNT 24 (12. Jg. 2009) 47 Respekts für die Personen und des Dialogs, der aus diesem Respekt entsteht. Anmerkungen 1 J. Haley, The Power Tactics of Jesus Christ and Other Essays, New York 1986. Die deutsche Übersetzung ist sehr unvollständig: J. Haley, Die Jesus-Strategie. Die Macht der Ohnmächtigen. Mit einem Vorwort von Fritz B. Simon. Heidelberg 2002. 2 Die exegetischen Begründungen der Thesen, die ich hier vertrete, finden sich in: M. Stiewe und F. Vouga, Die Bergpredigt und ihre Rezeption als kurze Darstellung des Evangeliums (NET 2), Tübingen 2001. 3 Hilfreich ist die Unterscheidung zwischen einer subjektiven Heuchelei, die andere Menschen wissentlich betrügt, und der objektiven Heuchelei, die die Heuchler des Matthäusevangeliums kennzeichnet: Sie betrügen unwissentlich die anderen, weil sie selbst in der Illusion leben. Dazu P. Bonnard, L’évangile selon saint Matthieu (CNT I), Neuchâtel 1963, 2. Aufl. 1970. 4 Die Unterscheidung zwischen Person und Eigenschaften habe ich von Blaise Pascal, Pensées Br 323, übernommen: »Was ist das Ich? - Wenn sich ein Mensch ans Fenster setzt, um die Vorübergehenden zu beobachten, und ich gehe an ihm vorbei, kann ich dann sagen, dass er sich ans Fenster gesetzt hat, um mich zu sehen? Nein, denn er denkt nicht an mich im besonderen. Aber der, welcher jemanden um seiner Schönheit willen liebt, liebt der ihn? Nein; denn die Pocken, welche die Schönheit töten, ohne die Person zu töten, werden bewirken, dass er ihn nicht mehr liebt. - Und wenn man mich um meines Urteils, meines Gedächtnisses willen liebt, liebt man dann mich? Nein! Denn ich kann diese Eigenschaften verlieren, ohne mich selbst zu verlieren. Wo ist also dieses Ich, wenn es weder im Leibe noch in der Seele ist? Und wieso liebt man den Leib und die Seele, wenn nicht um dieser Eigenschaften willen, die nicht das sind, was das Ich konstituiert, da sie vergänglich sind? Könnte man denn die seelische Substanz einer Person abstrakt lieben und unabhängig von den Eigenschaften, die sich darin befinden? Das ist unmöglich und wäre ungerecht. Man liebt also nie jemanden, sondern immer nur Eigenschaften. - Man mache sich also nicht mehr lustig über die, welche sich um ihrer Ämter und Aufgaben willen ehren lassen, denn man liebt die Menschen nur um ihrer Eigenschaften willen«. 5 Viel gelernt habe ich vom kurzen Essay von B. Rordorf, L’idéal de perfection, falsification de l’Evangile, Bulletin du Centre Protestant d’Etudes (Genf) 1981 / 3, 5-22, wiederveröffentlicht in: B. Rordorf, Liberté de parole. Esquisses théologiques, Théologie, Genève 2005, 152-168. 6 Die Unterscheidung zwischen Person und Eigenschaften, wie sie Blaise Pascal nicht ohne Ironie definiert, und die Verheißung der bedingungslosen Anerkennung der Personen unabhängig von ihren Eigenschaften, die ihre theologische Ausformulierung sowohl in der paulinischen These der Rechtfertigung im Vertrauen und unabhängig von Gesetzeswerken (Röm 3,21- 31; Gal 2,14-21) als auch in der matthäischen Theologie der Gerechtigkeit, der Vollkommenheit und der Schönheit finden, liefern eine transzendente Begründung für den universalen Respekt der Personen. Als solche sind sie präziser und weniger flexibel als der römische Begriff der dignitas und der Würde, der eine relative Eigenschaft bezeichnet und in der Immanenz der sozialen Ordnungen verwurzelt bleibt. 7 A. Badiou, Le siècle, L’ordre philosophique, Paris 2005. 8 K. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Gesammelte Werke 5 und 6, 8. Auflage, Tübingen 2003. Neues Testament aktuell: Christian Strecker: „Geist als Thema neutestamentlicher Wissenschaft“ Zum Thema: Werner Kahl: „Geist in interkultureller Hermeneutik: Schwerpunkt Pfingstbewegung“ Richard B. Hays: „Intertextuelle Pneumatologie. Die paulinische Rede vom Heiligen Geist“ Kurt Erlemann: „Geist im Matthäusevangelium“ Kristina Dronsch: „Der Raum des Geistes. Die topographische Struktur der Rede vom Geist im Johannesevangelium“ Volker Rabens: „Die Rede vom Geist im Spiegel der Literatur des römischen Reiches“ Vittorio Hösle: „Ist der Geistbegriff des deutschen Idealismus ein legitimer Erbe des Pneumabegriffs des Neuen Testaments? “ Kontroverse: Ist die Christologie die Grundlage der Pneumatologie des lukanischen Doppelwerkes? Odette Mainville vs. François Vouga Hermeneutik und Vermittlung: Hermann Deuser: „Geistesgegenwart. Pneumatologie und kategoriale Semiotik“ Stefan Alkier: „Der begeisterte Leser. Rezeptionsästhetische Überlegungen zur Pneumatologie“ Buchreport: (N.N.) Vorschau auf Heft 25 Themenheft: »GEIST« Jubiläumsheft 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 47 48 ZNT 24 (12. Jg. 2009) Kann man plausibel von der Bergpredigt als einer »Politik« des Evangeliums reden? Wenn die Bergpredigt als »Politik« des Evangeliums angesprochen wird, so wie in der (mit einem Fragezeichen versehenen) Überschrift des Beitrags von François Vouga, dann liegt es nahe, darunter ein Programm für die ordnende Gestaltung der Gesellschaft zu verstehen im Sinne einer regulativen Anleitung für menschliches Verhalten. Und die Bergpredigt enthält grundlegende Anweisungen für das zwischenmenschliche Verhalten, die die hergebrachten ablösen sollen: Im Kern sind es Gebote, die Friedfertigkeit, Vergeltungsverzicht und ein Verhalten der unbedingten Solidarität, ja sogar Liebe gegenüber dem Anderen einfordern. Nicht nur der Inhalt, auch die Form von Matthäus 5-7 als Rede weist entsprechende Elemente auf, die die Assoziation mit Politik wachrufen. Für das öffentliche Wirken Jesu ist dieses Instrument eher ungewöhnlich, da er seine ethische Lehre vornehmlich entweder durch Praxis vermittelt hat, indem er in dem sorgenden Umgang mit den Schwachen, Kranken, Armen und generell sozial Deklassierten ein Beispiel gegeben hat, oder indem er mit dem Mittel des Geschichten-Erzählens die ethischen Maßstäbe in Gleichnissen entwickelte. Doch in der Bergpredigt ist als Vermittlungsform der ethischen Lehre die programmatische Rede gewählt und so stellt sich eine gedankliche Verbindung zur Politik ein, da diese Form für die Politik typisch ist. Dass es sich um eine Rede handelt, wird zu Beginn und am Ende markiert, wenn das Verhältnis des Sprechers zu den Zuhörern Thema ist. Zu Beginn wird deutlich, dass hier ein Anführer zu seiner Gefolgschaft spricht, allerdings mit einer über die Gefolgschaft hinausweisenden Botschaft (Mt 5,1), und zum Ende wird betont, dass dieser Anführer nicht einer der traditionellen Schriftgelehrten ist, der eine religiöse Belehrung dargeboten hat, sondern aus eigener Vollmacht heraus spricht beziehungsweise Macht hat (Mt 7,29). Aber das grundstürzend Neue des gesamten Kontextes, in dem diese Rede steht, ist, dass es dem Sprecher gerade nicht darum geht, diese Autorität einzusetzen, um die vorhandene weltliche Machtordnung als solche und wie ein politischer Führer zu übernehmen. Denn mit dem Evangelium als der geoffenbarten Verheißung auf das kommende Gottesreich wird eine Unterscheidung von Politik und Religion getroffen, die in der Konsequenz auch eine institutionelle Trennung von weltlich-politischer Ordnung und religiöser Gemeinschaft nach sich zieht. Freilich bedeutet diese gedankliche Unterscheidung und institutionelle Trennung auf der anderen Seite nicht, dass die Offenbarung über die göttliche Schöpfung der Welt und des Menschen, seine Bindung an das göttliche Gesetz sowie die Aussicht auf das Gottesreich ohne Belang für die Politik seien. Dafür ist der Inhalt der frohen Botschaft wie auch der Normen für das menschliche Verhalten zu revolutionär - so ungeheuerlich, so umstürzend müssen die Worte der Bergpredigt den Zuhörern erschienen sein, dass diese »außer sich gerieten« (Mt 7,28). Das kann nicht ohne Wirkung auf die Politik bleiben. Aber deswegen sollte man nicht den Inhalt der Botschaft mit Politik verwechseln. Die Bergpredigt mit ihrer Verbindung von Gesetz und Evangelium kann sowohl das Verhältnis der christlichen Religion zur weltlichen Politik als auch die Bedeutung der ersteren für letztere wie mit einem Vergrößerungsglas erhellen. Das ist im Folgenden in drei Schritten zu zeigen, in denen deutlich werden sollte, dass hier die Grundthese von François Vouga bekräftigt und vertieft wird, wonach nämlich die Relevanz der Bergpredigt für die Politik nicht darin liegt, ein politisches Programm oder eine politische Strategie bereitzuhalten, sondern in den Konsequenzen, die von dem dort zu bergenden Menschenbild und Weltverhältnis für die Politik ausgehen. Eine weiterführende These von Jay Haley, die Vouga eingangs zitiert, nach der Kontroverse Tine Stein Die Bergpredigt als das ganz Andere der - modernen - Politik 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 48 Tine Stein Die Bergpredigt als das ganz Andere der - modernen - Politik ZNT 24 (12. Jg. 2009) 49 Jesus auch die politische Macht in Palästina habe ergreifen wollen, überzeugt allerdings nicht, was es zunächst zu zeigen gilt. 1. Unterscheidung und Trennung der weltlichen von der geistlichen Sphäre Es ist schon darauf hingewiesen worden, dass der erste Eindruck eines politischen Führers, der das Formmittel der programmatischen Rede wählt, im Verlauf der Darstellung des öffentlichen Wirkens Jesu nicht vertieft wird. Anders als am Berg Sinai wird auf dem Berg am See Genezareth nicht die Verkündung der Heilsbotschaft und die Darlegung religiöser Normen mit der Gründung einer politischen Gemeinschaft verknüpft. Der Bundesschluss am Sinai lässt die Stämme Israels zu einem Volk werden, das auf ein Ziel hin orientiert ist, nämlich das gelobte Land zu erreichen, und das sich durch den gemeinsamen, nämlich »einmütigen« und »wie mit einer Stimme« gesprochenen (Ex 19,8; 24,3) Willensentschluss, den Bund mit Gott einzugehen und seine Gebote zu achten, als Volk unter den besonderen Schutz Gottes gestellt weiß. Das Versprechen Gottes an das Volk Israel für die Einhaltung des Bundes verknüpft durchaus eine materielle Dimension, nämlich den exklusiv für das auserwählte Volk vorgesehenen Ort zu erreichen, der ihm eine Heimat geben soll, mit einer immateriellen Dimension, nämlich dass sich das Volk gerecht verhalten und damit dieses verheißenen Landes auch würdig erweisen soll. Als die Israeliten es nach den langen Jahren der Wanderschaft endlich erreichen, ist das Land bekanntlich nicht so großartig wie ausgemalt. Denn es sind nicht nur gerechte Menschen, die das Land neu besiedeln, da sie den Bund mit Gott nicht mehr durchgängig einhalten. Ja, einige nehmen sogar Züge der ägyptischen Sklavenhalter an. Es kommt aber, wie Michael Walzer in seiner Studie über Exodus und Revolution herausgestellt hat, darauf an, nicht nur das Land physisch in Besitz zu nehmen, sondern sein Verhalten nach den göttlichen Geboten auszurichten: »Das Land würde nie das sein, was es sein könnte, bis seine neuen Bewohner all das waren, was sie sein sollten.« 1 Damit aus dem versprochenen Land auch wirklich das gelobte Land der Verheißung werden kann, müssen sich die Israeliten gerecht verhalten. Es geht also nicht allein um ein Territorium, das den Israeliten als rettendes Handeln Gottes versprochen ist, sondern um eine Ordnung, die sich durch die Geltung von Gottes Geboten als gerechte Ordnung erweist. 2 Aber das verheißene Land ist durchaus ein irdisch bestimmbarer Ort. Von anderer Qualität ist die Verheißung des Reiches Gottes in der Bergpredigt, welche dort in der Verknüpfung mit dem göttlichen Gesetz im Mittelpunkt steht. Das Reich Gottes, dessen Kommen die Christen im Vaterunser erbitten, weist nicht die irdische Qualität eines verheißenen Landes auf, das sich mit einem topographisch bestimmbaren Ort verbindet. Hier wird keine Prof. Dr. phil.; geb. 1965, Professorin für Politikwissenschaft an der Christian-Albrechts- Universität zu Kiel; Studium der Politikwissenschaft, Philosophie und Germanistik an der Universität Köln, M.A. und Promotion ebd., Habilitation an der FU Berlin. 1996 / 7 Visiting Scholar an der New School for Social Research, New York, 2005-2007 Vertretungsprofessorin für Politische Theorie an der Universität Bremen, 2007-2008 Forschungsprojekt am WZB; WS 08 / 09 Vertretungsprofessorin für Vergleichende Regierungslehre an der Universität Hamburg. Forschungsgebiete: Politik und Religion, Politik und Natur, Rechtliche Grundlagen der Politik, Kosmopolitismus. Wichtigste Veröffentlichungen: Himmlische Quellen und irdisches Recht. Religiöse Voraussetzungen des freiheitlichen Verfassungsstaates, Frankfurt am Main / New York 2007; Interessenvertretung der Natur in den USA. Mit vergleichendem Blick auf die deutsche Rechtslage, Baden-Baden 2002; Demokratie und Verfassung an den Grenzen des Wachstums. Zur ökologischen Kritik und Reform des demokratischen Verfassungsstaates, Opladen 1998. Tine Stein Foto: WZB / D. Ausserhofer 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 13 Uhr Seite 49 Kontroverse 50 ZNT 24 (12. Jg. 2009) politische Gemeinschaft im Sinne eines exklusiv erwählten Volkes begründet, 3 sondern die Botschaft ist eine universale, die sich an alle richtet und die die Völker zu einer Gemeinschaft, zur Menschheit umgreift. Vor allem ist der Inhalt der Botschaft nicht politisch im engeren Sinne. Denn trotz des revolutionären Charakters der Forderungen ist die Intention nicht, ein weltlich-politisches Reich zu begründen. Die Unterscheidung von geistlicher und weltlich-politischer Sphäre wird im Verlauf der Berichte über Wirken und Leben Jesu vertieft. So sind die Anforderungen, die sich hinsichtlich des Reiches Gottes stellen, ganz anderer Art, als die, die es dem weltlichpolitischen Reich gegenüber zu erfüllen gilt. In der Zinsperikope bringt es Jesus auf die viel zitierte Formel, dass dem Kaiser zu geben sei, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist (Mk 12, 13- 17; Mt 22, 15-22): Steuern sind dem Kaiser zu entrichten, damit die weltlich-politische Ordnung ihre Aufgaben erfüllen kann, aber keine Anbetung. Denn dem Kaiser kommen weder göttliche Qualitäten zu, noch kann die weltlich-politische Ordnung legitimerweise eine Aufgabe übernehmen wollen, die auf die »letzten Fragen« des Lebens zielt. Der johanneische Jesus lässt diese Unterscheidung noch deutlicher hervortreten. In der Gerichtsszene erwidert er Pilatus auf dessen Frage, ob er denn nun der König der Juden sei, dass sein Reich beziehungsweise Königtum nicht von dieser Welt sei (Joh 18,36). Auf das Insistieren des Pilatus, ob er denn nun doch ein König sei - und damit eine Bedrohung für den Machtanspruch des römischen Reiches darstellte -, gibt Jesus eine Antwort, die Pilatus als Zeichen seiner Unschuld werten wird: »Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich Zeugnis gebe für die Wahrheit. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme« (Joh 18,37). Wahrheit ist keine Kategorie, die in den Zuständigkeitsbereich der Politik fällt, was, wie es scheint, selbst Pilatus anerkennt, der auf seine Frage »Was ist Wahrheit? « eine Antwort gar nicht erst abbeziehungsweise erwartet. Wahrheit wird im Johannes-Evangelium als der Weg, der zum Heil, zum Vater führt, vorgestellt (Joh 14,6). Das Heil fällt damit in den Kompetenzbereich des Himmelreiches, wohingegen eine weltlich-politische Ordnung irdische Zwecke zu erfüllen hat. Damit wird die Politik relativiert und begrenzt und die religionspolitische Einheit der römischen Welt mit ihrer Verschmelzung von Religion und Polis, die für das antike politische Denken kennzeichnend ist, aufgebrochen. Im römischen Imperium übernahm die (später so genannte) Zivilreligion eine Funktion für die Integration des Reiches. Einer solchen Funktionalisierung der Religion für politische Zwecke steht das jesuanische Denken entgegen. Die christlich geprägte Geschichte der Spätantike und des Hochmittelalters hat bekanntlich die umgekehrte Fluchtrichtung aufgewiesen, nämlich die der Einbindung der weltlich-politischen Ordnung für religiöse Zwecke, genauer: der Zuweisung einer Aufgabe im Rahmen der Erreichung des Seelenheils. Die »res publica christiana« und das Ringen um die Vormachtstellung zwischen Papst und Kaiser darf freilich nicht den Blick darauf verstellen, das mit dem christlichen Denken eine grundlegende Unterscheidung von Politik und Religion Einzug gehalten hat, die in der Konsequenz auch eine institutionelle Trennung nach sich zieht. Die Notwendigkeit einer institutionellen Trennung ist auch eine Konsequenz aus dem biblischen Menschenbild, was nun in einem zweiten Schritt im Fokus auf die Bergpredigt zu erörtern sein wird. Für den ersten Punkt bleibt festzuhalten, dass die eingangs von François Vouga vorgetragene These Haleys, wonach Jesus die paradoxe Taktik der Ent-Mächtigung der Machtvollen durch die Schwachen nicht bloß im Sinne einer generellen Irritation angewandt habe, um den Mächtigen in seiner Seins-Gewissheit zu erschüttern, sondern um schließlich selbst die Macht in Palästina zu ergreifen, nicht plausibel erscheint. 2. Menschenbild François Vouga ist zuzustimmen: Das Menschenbild, das in der Bergpredigt öffentlich präsentiert wird, hat seinen ethischen Kern in der Anerkennung des Anderen als Person. Das stellt eine im antiken Kontext ungeheure Veränderung dar: Dass die Hinwendung zum Anderen nicht von dessen sozialem Status abhängig ist. Denn damit geht eine Abwertung der den sozialen Status begründenden Kriterien, nämlich Macht, Reichtum, Weisheit einher. Die Anerkennung des Anderen 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 14 Uhr Seite 50 Tine Stein Die Bergpredigt als das ganz Andere der - modernen - Politik ZNT 24 (12. Jg. 2009) 51 ist unbedingt, denn seine besondere Qualität als Mensch - jedes Menschen - ist in Gott verankert, da alle Menschen gleich in ihrer Geschöpflichkeit und Ebenbildlichkeit zu Gott sind. Es ist für den Wert des Menschen daher unerheblich, ob er reich, glücklich oder mächtig ist: Denn selig sind die, die arm, traurig, machtlos sind (Mt 5, 3-5). Die Unbedingtheit der Anerkennung wird in der Bergpredigt insbesondere in zwei Dimensionen entfaltet, sie ist erstens nicht auf Reziprozität angewiesen und sie gilt zweitens selbst den Feinden. Zunächst zur Überwindung der Reziprozität: Gewiss beruht die ideale Ordnung der Gemeinschaft auf der »Gleichheit wechselseitiger Hilfe« 4 und etwa nicht auf Hierarchie. Auch soll man das Verhalten, das man selber gerne erfahren würde, selbst gegenüber anderen an den Tag legen, wie es in der Goldenen Regel formuliert ist, die in allen Weltreligionen eine Entsprechung findet: »Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! « (Mt 7,12). 5 Aber das Besondere an dem ersten ethischen Imperativ der Bergpredigt ist, dass die Hilfe für den Anderen nicht bedingt durch sein Hilfsangebot ist - es ist kein Tauschgeschäft. Die Zurückweisung der Reziprozität wird mit dem Gebot der Feindesliebe verknüpft. Denn in den Antithesen stellt Jesus dem alttestamentlichen Liebesgebot das umfassendere Gebot der Feindesliebe gegenüber, nach dem auch die zu lieben sind, von denen man selbst verfolgt wird (Mt 5,44), um dann die Begründung gleich nachzuliefern: »Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? « (Mt 5,46-47). Auch die vorangehende Antithese geht über die dort insinuierte alttestamentliche Äquivalenz des Talionsprinzips, des Auge-um-Auge- Zahn-um-Zahn-Prinzips hinaus: »Und wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei« (Mt 5,40-41). Eine sprachliche Erinnerung an das Talionsprinzip blitzt allerdings in der Vaterunser-Bitte auf, nun jedoch in ganz anderer Konstellation, in der zwischen Gott und den Menschen: »Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern« (Mt 6,12). Die Menschen untereinander versprechen sich also, die Schuld des jeweils anderen zu vergeben - ohne aber, dass eine Entschädigung, Wiedergutmachung oder entsprechende Bitte um Vergebung Voraussetzung ist. Die angesprochene Schuld wird gemeinhin im moralischen Sinn verstanden, worauf auch der nach dem Vaterunser stehende Vers hinweist: »Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben« (Mt 6,14). Aber daneben sollte auch die Bedeutung von Schuld im ökonomischen Sinne nicht vergessen werden, womit eine Kontinuität gegenüber den alttestamentlichen Bestimmungen gegeben ist, die vor Not und Armut durch Verschuldung schützen sollen. 6 Wie die in der Bergpredigt im Zentrum stehende Forderung nach Nächstenliebe die zwischenmenschlichen Beziehungen in sozialer Hinsicht strukturieren soll, wird im Weinberg- Gleichnis und in der Geschichte vom barmherzigen Samariter illustriert. Im Weinberg-Gleichnis soll auch derjenige vom Weinbergbesitzer den Lohn für einen ganzen Tag erhalten, der nur eine Stunde gearbeitet hat, denn dieser Lohn ist als Existenzminimum notwendig, um eine Familie zu ernähren (Mt 20,1-16). 7 Damit wird das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit (gleicher Lohn für gleiche Arbeit) hier nicht nur im übertragenen Sinn, nämlich in religiöser Hinsicht relativiert, dass also gerade »die Letzten« auf die göttliche Gerechtigkeit und einen Platz im Himmelreich hoffen können, sondern auch in irdischer Hinsicht: Auch die, denen bislang keine Arbeit für einen ganzen Tag angeboten wurde, haben allein aufgrund ihres Menschseins Anspruch auf die Sicherung ihrer Existenz. In der Geschichte vom barmherzigen Samariter lässt sich eine eindringliche Antwort finden, wer denn der Nächste ist, den es zu lieben gilt (Lk 10,25-37). Jesus dreht hier nämlich die Relation um: Auf die Frage des Pharisäers, wer denn sein Nächster sei, gibt er am Ende die Frage zurück, und fragt den Gesetzeslehrer, wer sich als der Nächste desjenigen erwiesen habe, der in Not war und dem selbstlos und fürsorglich geholfen wurde, und das ist, wie auch der Pharisäer zugeben muss, ausgerechnet ein Vertreter jener Gruppe, die als Häretiker und damit feindlich galt. 8 Der Überfallene wird im Übrigen nicht näher nach Gruppenzugehörigkeit identifiziert. Für die gebotene Hilfeleistung soll 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 14 Uhr Seite 51 Kontroverse 52 ZNT 24 (12. Jg. 2009) also die soziale Nähe oder Ferne desjenigen, der in Not ist, zu dem, der die Hilfe erbringen kann, keine Rolle spielen. Die ethische Forderung nach der Anerkennung des Anderen als Person hat ihr begründendes Fundament in der gleichen Geschöpflichkeit des Menschen, die in der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus bekräftigt wird. Diese Gleichheit ist unhintergehbar und sie schließt auch jene ein, die von der Heilsbotschaft nicht berührt sind. Der Wert eines Menschen ist auch nicht von den äußeren Leistungen und Eigenschaften abhängig, schließlich lässt Gott »seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte« (Mt 5,45). Das ist ein kategorial anderes Menschenbild als eines, bei dem nur jene Träger von Würde sind, die sich um das Gemeinwesen verdient gemacht haben beziehungsweise aus solchen verdienstvollen Familien kommen. Die römische Begriffsbestimmung dignitas drückt in der Tat die Anerkennung für die für das Gemeinwesen erbrachte Leistung aus und wurzelt damit, wie François Vouga richtig anspricht, in der Immanenz der sozialen Ordnung. Aber das Interessante ist ja, dass heute neben der Bedeutungsdimension von »Amt und Würden«, würdevollem Auftreten und eben solchen auf Verdiensten und Leistung beruhenden Würdezuschreibungen es eine weitere und ganz andere Würdeauffassung gibt, nämlich jene, die das Wesen der menschlichen Person in seiner unantastbaren Würde liegen sieht und zwar allein aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Gattung Mensch. Dieses Würdeverständnis ist für viele Rechtsordnungen heute leitend, es zeigt sich besonders eindringlich im deutschen Grundgesetz und auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Von dem vorchristlichen römischen auf Leistung und Verdienst beruhendem Begriff dignitas führt dahin kein Weg. Das Verständnis der Würde als jedem Menschen qua Menschsein zukommende Auszeichnung hat vielmehr seine Wurzeln in der Transformation des vorchristlich-römischen Begriffs durch das christliche Menschenbild mit der Bestimmung des Menschen als Gottes Ebenbild, was dann in der Vernunftmetaphysik Kants eine säkulare Entsprechung gefunden hat. 9 Die politische Bedeutung des in der Bibel bewahrten Menschenbildes, welches in der Bergpredigt als unbedingte Forderung nach Anerkennung des Anderen als Person und Verantwortung für dessen Wohlergehen konkretisiert wird, zeigt sich in solchen Entscheidungen über die rechtlichen Grundlagen, die unser Zusammenleben ordnen - und die auch anders hätten ausfallen können. Damit soll keineswegs behauptet werden, dass die Idee einer dem Menschen als Menschen zukommenden unantastbaren Würde und daraus abzuleitenden Rechten nur exklusiv mit einem biblischen Verständnis unterfüttert werden kann, noch dass diese Entscheidungen etwa wegen einer überwiegend christlichen Prägung der Akteure (was im übrigen bei der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte auch nicht der Fall gewesen ist) quasi mit Notwendigkeit so ausfallen mussten. Aber eine wesentliche Quelle, der eine Bedeutung für die Fortdauer dieses Menschenwürdeverständnisses als Schutz der Schwachen zukommt, stellt die Sicht auf den Menschen in der Bergpredigt schon dar. Damit ist der dritte und letzte Schritt der Erörterung erreicht. 3. Die Bedeutung der Bergpredigt als Spannungspol zur weltlich-politischen Ordnung Die Kontroverse über das rechte Verständnis der Bergpredigt zwischen Programmschrift oder Utopie, zwischen kollektiver Handlungsanforderung für das Christenvolk oder Individualethik, zwischen unmittelbarem Verbindlichkeitsanspruch oder in jedem Kontext neu zu bergendem Sinngehalt der Normen ist so intensiv geführt, dass es erscheinen mag: Es ist zum Thema alles gesagt. Entsprechend vielschichtig und beeindruckend sind die Interpretationsvorschläge, die das Dilemma zwischen der so wahrgenommenen moralischen Überforderung des Einzelnen einerseits und einer die Bergpredigt zur Beliebigkeit ver- »Die politische Bedeutung des in der Bibel bewahrten Menschenbildes (…) zeigt sich in solchen Entscheidungen über die rechtlichen Grundlagen, die unser Zusammenleben ordnen - und die auch anders hätten ausfallen können.« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 14 Uhr Seite 52 Tine Stein Die Bergpredigt als das ganz Andere der - modernen - Politik ZNT 24 (12. Jg. 2009) 53 dammenden Lesart andererseits entschärfen wollen, und die auch eine Antwort suchen auf die vermeintliche oder tatsächliche Unangemessenheit insbesondere der Forderung nach Gewaltlosigkeit für das gesellschaftliche und politische Leben. 10 In all den hermeneutischen Aneignungsversuchen, von der katholischen Zweistufen-Ethik über die Luther’sche Unterscheidung von Amt und Person und den damit korrespondierenden unterschiedlichen ethischen Anforderungen, von der Verinnerlichung der wahren Gesinnung, auf die es ankomme, über die demütige Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit zur Vermeidung von Selbstgerechtigkeit, bis hin zur Lesart des Ausnahmezustands in Erwartung des nahen Weltenendes und bis hin zur Betonung der kritischen Funktion, die in dem gelebten Radikalismus derer liege, die nach der Bergpredigt zu leben suchten - in all diesen Interpretationsversuchen sei ein Wahrheitsmoment enthalten, sagen theologische Stimmen. 11 Mit diesen Interpretationen hat man sich in der sozialwissenschaftlichen und politiktheoretischen Literatur gar nicht erst lange aufgehalten, wie überhaupt das schwache Interesse dort für die Bergpredigt als einen für die so genannte abendländische Geschichte so bedeutsamen Text erstaunlich ist. Dies hängt auch mit einem herausragenden und einflussreichen Denker des 20. Jahrhunderts zusammen. Max Weber hielt der Bergpredigt vor, sie stifte zu einer Gesinnungsethik an, mittels der die Folgen etwa eines Gewaltverzichts ausgeblendet werden und nur die vermeintliche Reinheit des eigenen Handelns relevant ist. Gerade in der Unbedingtheit der Forderungen, die nicht nach den Umständen fragt, sieht Weber das Problem der Bergpredigt, die somit ungeeignet als ethische Richtschnur für die Politik sei, da es dort immer darum gehe, die jeweilige Situation zu bedenken und von den Konsequenzen des Handelns her zu denken. 12 Aber was Weber dabei nicht in den Blick nimmt, ist, dass die Bergpredigt eine fundamentale Kritikfolie zu einem politischen Handlungsmuster bereithält, das auf dem zweckrationalen Kalkül der Nutzenorientierung der Beteiligten beruht und dabei die Frage nach der Güte und Gerechtigkeit des Nutzens nicht mehr stellt. Die Politik bedarf dieser gewissermaßen von einem existentiell anderen Standpunkt formulierten Perspektive, die sie selbst nicht hervorbringen kann, da sie sich nur um vorletzte Fragen kümmern kann und soll. Die Frage nach dem Sinn von allem: Danach, woher wir kommen, warum wir hier sind und wohin wir gehen, welche es uns ermöglicht, das Ganze unserer Existenz zu interpretieren, wird nicht von der Politik beantwortet. Insofern in der Bergpredigt von der eschatologischen Idee des Reiches Gottes die Rede ist - die ja keine Utopie im Sinne eines futuristischen Nirgendwo, eines nicht erreichbaren Zustands ist, sondern eine gegebene Verheißung, welche mit der Menschwerdung Gottes bereits begonnen hat - und dies mit der radikalen Kritik an bestehenden ungerechten Zuständen verbunden wird, kann mit ihr der Politik der Spiegel des ganz Anderen vorgehalten werden, das »Es-soll-anderssein«. Aber entgegen den säkularisierten Heilsideen umfassender gesellschaftlicher Lehren drängt dieses »Essoll-anders-sein« der Bergpredigt nicht darauf, die Blaupause für die Organisation der weltlich-politischen Ordnung abzugeben. Das ist der kardinale Unterschied zu den totalitären säkularen Heilsbotschaften des 20. Jahrhunderts, die die Differenz von Immanenz und Transzendenz versuchten einzuebnen und damit auch die abendländische Grundspannung als einer Gewaltentrennung von weltlich und geistlich, die Jacob Taubes als entscheidend für diese vom biblischen Denken geprägte Kultur angesehen hat. 13 In der Bergpredigt wird noch eine andere Spannungsdimension greifbar, nämlich die, die mit dem verheißenen Gottesreich verbunden ist, das »noch nicht« da, aber zu erwarten ist, und das doch »schon« auf- »Die Frage nach dem Sinn von allem: Danach, woher wir kommen, warum wir hier sind und wohin wir gehen (…) wird nicht von der Politik beantwortet.« »Aber entgegen den säkularisierten Heilsideen umfassender gesellschaftlicher Lehren drängt dieses ›Es-soll-anders-sein‹ der Bergpredigt nicht darauf, die Blaupause für die Organisation der weltlichpolitischen Ordnung abzugeben.« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 14 Uhr Seite 53 Kontroverse 54 ZNT 24 (12. Jg. 2009) scheint in dem menschlichen Verhalten der Friedfertigkeit, des Vergeltungsverzichts, der unbedingten Solidarität und Liebe zu dem Anderen als gleichem Menschen. So hält die Bergpredigt das ethische Feuer 14 in jedem einzelnen Gläubigen wach, um sowohl das eigene, individuelle Verhalten kritisch zu prüfen, wie auch die weltlich-politische Ordnung mit der Frage nach der wahren Gerechtigkeit zu konfrontieren. Das gehört auch zu den berühmten Voraussetzungen, die der freiheitliche säkularisierte Staat nicht selbst garantieren kann. 15 Anmerkungen 1 M. Walzer, Exodus und Revolution, Frankfurt a.M. 1995, 109. 2 Mit dieser Kontrastierung der Weisung am Berg Sinai mit der Weisung am Berg des See Genezareth soll keinesfalls der Eindruck erweckt werden, dass die christliche Eschatologie keine jüdische Vorgeschichte habe, insbesondere in der endgeschichtlichen Vorstellung, wie sie in der Apokalyptik des Buchs Daniels entwickelt ist. Dort ist auch vom Menschensohn die Rede, der am Ende der Tage mit den Wolken des Himmels kommt (Dan 7,13). Es ist aber eine sehr ferne Zukunft, in der der Messias kommen wird, und es ist eine diesseitige Vorstellung. 3 Allerdings lässt sich die Erwählung des Volkes Israels auch im Sinne einer Stellvertretung für die Menschheit deuten; dass es also nicht darum geht, andere auszuschließen, sondern das Volk Israel als Repräsentant aller Menschen handeln zu sehen; siehe zu dieser Deutung H. Cohen, Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Wiesbaden ³1995 (erstm. 1918), 278f. u. 502. 4 W. Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, Gütersloh ²1999, 133. 5 Vgl. dazu die Chicagoer »Erklärung zum Weltethos« des Parlaments der Weltreligionen, Chicago 1993. 6 Vgl. dazu auch F. Crüsemann, Die Tora. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes, München 1992, 268f: »Wer, wie die Bitte vorher zeigt, um sein tägliches Brot bangt, für den sind Schulden nichts bloß Spirituelles.« 7 Vgl. zu dieser Interpretation des Weinberg-Gleichnisses G. Roellecke: Gerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit, Zeitschrift für Rechtsphilosophie 1 (2004), 17-22. 8 Vgl. hierzu H. Geißler, Glaube und Gerechtigkeit. Ignatianische Impulse, Würzburg ²2005, 33f. 9 Vgl. zu den begriffshistorischen Wegstationen m.w. Lit. T. Stein, Himmlische Quellen und irdisches Recht. Religiöse Voraussetzungen des freiheitlichen Verfassungsstaates, Berlin / New York 2007, 235ff. 10 Vgl. umfassend zu den Interpretationen der Bergpredigt M. Stiewe / F. Vouga, Die Bergpredigt und ihre Rezeption als kurze Darstellung des Christentums (NET 2), Tübingen / Basel 2001. 11 G. Theißen / A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen ³2001, 351f. 12 »Denn wenn es in Konsequenz der akosmistischen Liebesethik heißt: ›dem Übel nicht widerstehen mit Gewalt‹, - so gilt für den Politiker umgekehrt der Satz: du sollst dem Übel gewaltsam widerstehen, sonst - bist du für seine Überhandnahme verantwortlich. (…) [E]s ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt - religiös geredet -: ›der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim‹, oder unter der verantwortungsethischen: daß man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat.« M. Weber, Politik als Beruf, München / Leipzig 1919, 56f. 13 »Sie merken ja, was ich will von Schmitt - ihm zeigen, daß die Gewaltentrennung zwischen weltlich und geistlich absolut notwendig ist, diese Grenzziehung, wenn die nicht gemacht wird, geht uns der abendländische Atem aus. Das wollte ich ihm gegen seinen totalitären Begriff zu Gemüte führen.« Taubes berichtet hier von einem Gespräch, das er mit Carl Schmitt geführt hat, siehe J. Taubes, Die Politische Theologie des Paulus, München ²1995, 181. 14 Vgl. R. Leicht, Ihr seid das Salz der Erde, Gütersloh 1999. 15 E.-W. Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit. Beiträge zur politisch-theologischen Verfassungsgeschichte 1957-2002, Münster 2004, 213-230 (erstm. 1967): 229. 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 14 Uhr Seite 54 ZNT 24 (12. Jg. 2009) 55 1. Vor 76 Jahren hielt der gebürtige Berliner Arthur Oncken Lovejoy die »Willliam James Lectures« an der Harvard Universität; das aus diesen Vorlesungen hervorgegangene Buch - The Great Chain of Being (von 1936) - gilt bis heute als grundlegendes Werk der Ideengeschichte. Lovejoy untersuchte darin die historischen Wandlungen der im Neoplatonismus ausgebildeten Vorstellung von einer subtil und kontinuierlich abgestuften Hierarchie der Schöpfung, einer »großen Kette der Wesen«. 1 Maßgeblich für diese Vorstellung war einerseits, was Lovejoy als »jenseitiges Denken« bezeichnete: nämlich die Idee, dass alles Seiende auf ein überzeitliches Absolutes zurückgeführt werden kann, auf Gott oder das Gute schlechthin, andererseits die Behauptung, alles Mögliche sei geschaffen worden und eben darum auch wirklich. Erst im Mittelalter begann die theologisch heikle Debatte um die Frage, ob die Konvergenz von Möglichem und Wirklichem die schöpferische Freiheit Gottes einschränke; Thomas von Aquin vertrat damals die These, Gott habe zwar eine unendliche Vielfalt möglicher Dinge gedacht, aber nicht alle zur Verwirklichung ausgewählt - was im Gegenzug allerdings das Theodizee-Problem verschärfte: Wenn Gott frei gewählt hat, warum hat er dann die Existenz böser (oder zumindest mangelhaft guter) Existenzen gewählt und womöglich auf die Verwirklichung unendlicher Möglichkeiten von guten Dingen verzichtet? Entscheidend transformiert oder gar gesprengt wurde die »Chain of Being« erst im 19. Jahrhundert, und zwar durch ihre Verzeitlichung. Noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts galt selbst für Wissenschaften wie die Archäologie oder die Paläontologie ein präzis errechnetes Schöpfungsdatum - etwa der 7. Oktober 3.761 v.Chr., acht Uhr und elf Minuten. 2 Zu dieser Zeit sei erschaffen worden, was seither als statische und ewige Ordnung der Dinge betrachtet werden müsse; und nach der formalen Logik des ontologischen Gottesbeweises - Gott existiert, wie schon der Name sagt - durfte weder das Dasein denkmöglicher Meerjungfrauen bestritten noch die dauerhafte Fortdauer offenkundig bloß als Fossilien auffindbarer Organismen in Frage gestellt werden. Nur allmählich und zunächst ohne tiefgreifende Wirkung konnte der Gedanke artikuliert werden, dass manche Möglichkeiten einmal wirklich waren - aber beispielsweise wie viele Schalentiere inzwischen ausgestorben sind -, und dass andere Möglichkeiten erst in der Zukunft Wirklichkeit erlangen werden. Das traditionelle Wissenssystem wurde zögerlich revidiert: als Projektion eines räumlich gedachten Zusammenhangs - in der ars memoriae verkörpert als imaginäre Architektur - in eine zeitliche Abfolge. Was bisher ins Nebeneinander einer göttlichen Simultanschöpfung gestellt worden war, sollte nun im Nacheinander chronologischer Sequenzen und Fortschrittsmodelle interpretiert werden. Zunächst wurde die Natur historisiert; noch das Hauptwerk des Comte de Buffon, Georges-Louis Leclerc - die Histoire naturelle, générale et particulière, erschienen in 44 Bänden zwischen 1749 und 1804 in Paris - bezog allerdings die Rede von den »époques de la nature« auf die Systematik des königlichen Naturalienkabinetts. Somit blieb die zeitliche Ordnung, die Buffon immerhin den Ruf eines Vorläufers der Evolutionstheorien Lamarcks oder Darwins eintragen sollte, orientiert an den älteren chronologischen Modellen. Buffons Zeitbegriff wurde »vom Festhalten an der auf Moses und der Genesis basierenden Zeitrechnung, der traditionellen Chronologie, bestimmt: Die Schöpfung währte sechs Tage und einen, und seit der Entstehung des Menschen seien sechsbis achttausend Jahre vergangen«. 3 Immerhin wurde zugestanden, dass gleichsam die »Proportionen« der Schöpfungsgeschichte »gedehnt« werden könnten, so dass sich auch längere Perioden mit dem biblischen Text in Übereinstimmung bringen ließen; von einer »offenen« Zeit - im Sinne späterer Fortschrittsvorstellungen - war noch keine Rede. Erst im 19. Jahrhundert wurden die Zeiten Hermeneutik und Vermittlung Thomas Macho Politik der Bergpredigt 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 14 Uhr Seite 55 Hermeneutik und Vermittlung 56 ZNT 24 (12. Jg. 2009) etwa der Erdgeschichte immer tiefer in die Vergangenheit erstreckt, während die Zukunft zum unabsehbaren Projekt einer »Verbesserung« der Menschengattung geriet. Der Umsturz gültiger Wissensordnungen durch die Temporalisierung der »Chain of Being« setzte die Innovationen der Zeitrechnung und Zeitmessung voraus, die seit dem späten 16. Jahrhundert - nach der Gregorianischen Kalenderreform von 1582 und nach der Erfindung tragbarer Uhren (um 1550 etwa der Nürnberger »Eierlein«) - konzipiert werden konnten. Bekanntlich wurde die Konstruktion einer präzisen Uhr - zu Zwecken der Navigation und der Längengradbestimmung auf See - überhaupt erst zwischen 1735 und 1761 (durch den Uhrmacher John Harrison) bewältigt, 4 während der gregorianische Kalender keineswegs sofort zu einer chronologischen Integration beitrug, sondern einen ausgesprochen langatmigen Siegeszug antrat: Nach mehr als hundert Jahren - um 1699 / 1700 - wurde er in Dänemark und in den protestantischen Teilen Deutschlands und der Niederlande eingeführt, 1752 in England und in den amerikanischen Kolonien, 1812 in der Schweiz, zwischen 1912 und 1917 in Osteuropa, 1918 in Sowjetrussland, und schließlich 1923 in Griechenland. 5 An dieser langsamen Entwicklung muss die ideenhistorische Rekonstruktion Lovejoys ein wenig relativiert werden; denn sie übersieht, dass die Berechnungsmethoden und Instrumente eine unverzichtbare Voraussetzung für die Temporalisierung in den Wissenschaften bildeten. Solange kein einheitliches Kalendersystem und keine einheitliche Zeitmessung etabliert waren, bestand die vordringlichste Aufgabe der Chronologie und Annalistik nicht im Entwurf diachroner Entwicklungsprozesse, sondern in der komparatistischen Synchronisation unterschiedlicher Zeitrechnungen und Jahreszählungen. 2. Die Darstellung Lovejoys kann wissenschafts- und technikgeschichtlich vertieft werden; aber sie kann noch in eine andere, mindestens ebenso bedeutsame Richtung verlängert werden. Obwohl Lovejoy die enge Verknüpfung zwischen der »Chain of Being« und dem Begriff eines »jenseitig« Guten häufig betonte, vermied er doch die Anwendung dieses Gedankens auf die Geschichte der Ethik. Dabei ist evident, dass die Zeit nicht nur in die Wissenschaften »eingedrungen« ist, sondern auch in die Philosophie - einerseits in Gestalt der Geschichtsphilosophie, andererseits in Gestalt der utilitaristischen Ethik. So wie die Geschichtsphilosophie davon ausging, dass alle Wirklichkeit nur »Möglichkeit des Folgenden« 6 sei, vertrat die utilitaristische Ethik, dass alles Handeln nur die Möglichkeit des Guten bezwecken könne: Was wirklich gut sei, werde sich erst herausstellen. Darin bestand die eigentlich innovative Pointe des Utilitarismus. Die Nützlichkeitsregel Jeremy Benthams forderte das größtmögliche Glück für die größtmögliche Anzahl von Menschen, aber in - so müsste ergänzt werden - möglichst naher Zukunft. Die Erwirkung des größtmöglichen Glücks für eine größtmögliche Anzahl von Menschen figurierte - ganz abgesehen von den kulturellen Techniken, deren Anwendung vorausgesetzt werden musste: Pädagogik, Mathematik, Psychologie, Statistik - als ein zeitliches Projekt, ein Unternehmen für die Zukunft; auf vergleichbare Weise markierte Benthams panoptische Gefängnisarchitektur den Übergang vom körperlichen Strafen (als rituell inszeniertem Ereignis) zum zeitlichen Überwachen (als Prozess). 7 Mit Benthams Introduction to the Principles of Morals and Legislation von 1789 begann die Futurisierung des Guten, etwa auch der Besserung von Verbrechern. Denn die Erreichung des größtmöglichen Glücks der größtmöglichen Anzahl von Menschen ist zeitlich offen - ganz im Gegensatz etwa zu Kants kategorischem Imperativ, der eine Reflexion auf die mögliche Universalisierung der eigenen Maximen postuliert. Sie ist zeitlich so offen, dass John Stuart Mill die Frage aufwerfen konnte, ob der Verzicht auf persönliches Glück - zugunsten einer künftigen Glücksmaximierung für die Menschheit - nicht eine hohe Tugend sei; er unterstrich zwar, dass Selbstaufgabe kein Selbstzweck und jedes Opfer »vergeudet« sei, das »den Gesamtbetrag an Glück nicht erhöht«, aber er betonte zugleich, dass »das Glück, das den utilitaristischen Maßstab des moralisch richtigen Handelns darstellt, nicht das Glück des Handelnden selbst, sondern das Glück aller Betroffenen ist«. Glück ist eben keine ewige Idee, sondern ein empirisches Gut, auf das - in der 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 14 Uhr Seite 56 Thomas Macho Politik der Bergpredigt ZNT 24 (12. Jg. 2009) 57 Hingabe an das zukünftige Glück der anderen - auch verzichtet werden kann. 8 Glück kann bilanziert werden; aber womöglich muss diese Bilanz antizipiert werden. Im extremsten Fall gestattet die temporale »Jenseitigkeit« einer solchen Bilanz die Preisgabe des Glücks zahlreicher gegenwärtig lebender Menschen, und zwar im Namen eines maximal gesteigerten und kollektivierten Glücks in der Zukunft. Der Prozess einer Temporalisierung der Ethik spiegelt sich nirgendwo deutlicher als in der häufig zitierten Differenz zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik. Ein Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkriegs referierte Max Weber - im Münchner Freistudentischen Bund - über den Beruf des Politikers; in dieser Rede kam er gegen Ende auf den »entscheidenden Punkt«: »Wir müssen uns klar machen, dass alles ethisch orientierte Handeln unter zwei voneinander grundverschiedenen, unaustragbar gegensätzlichen Maximen stehen kann: Es kann ›gesinnungsethisch‹ oder ›verantwortungsethisch‹ orientiert sein. Nicht, dass Gesinnungsethik mit Verantwortungslosigkeit und Verantwortungsethik mit Gesinnungslosigkeit identisch wäre. Davon ist natürlich keine Rede. Aber es ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt - religiös geredet -: ›der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim‹, oder unter der verantwortungsethischen: dass man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat.« 9 In der anschließenden Argumentation ging es ihm um die Relation von Mitteln und Zwecken: Während der Gesinnungsethiker die unsittlichen Mittel (beispielsweise die gewaltsame Durchsetzung seiner Ziele) von vornherein verwerfe, komme der Verantwortungsethiker nicht um die »Tatsache herum, dass die Erreichung ›guter‹ Zwecke in zahlreichen Fällen daran gebunden ist, dass man sittlich bedenkliche oder mindestens gefährliche Mittel und die Möglichkeit oder auch die Wahrscheinlichkeit übler Nebenerfolge mit in Kauf nimmt«. 10 Dabei gehe es um das »Augenmaß«, um den Versuch, die »ethische Paradoxie« anzuerkennen, dass eine nur begrenzt kalkulierbare Zukunft das eigene Handeln nachträglich legitimiert: Das »Prinzip Verantwortung« ist nach dem »Prinzip Hoffnung« getauft. Genau diese Konsequenz wollte Kant - mehr als ein Jahrhundert zuvor - vermeiden, als er dekretierte, es sei »überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille«. 11 Max Webers Rede - gesprochen angesichts von Weltkrieg, Oktober- und Novemberrevolution, bayerischer Räterepublik - richtete sich freilich nicht nur gegen Kant, sondern auch gerade gegen die »Ethik der Bergpredigt«, von der er sagte, sie sei »eine ernstere Sache, als die glauben, die diese Gebote gern zitieren. Mit ihr ist nicht zu spaßen. Von ihr gilt, was man von der Kausalität in der Wissenschaft gesagt hat: Sie ist kein Fiaker, den man beliebig halten lassen Thomas Macho, Professor für Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, promovierte 1976 mit einer Dissertation über die »Dialektik des musikalischen Kunstwerks« an der Universität Wien. Er habilitierte sich 1983 in Klagenfurt für das Fach Philosophie mit einer Schrift »Von den Metaphern des Todes. Eine Phänomenologie der Grenzerfahrung«. Macho ist Mitbegründer des »Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik« und war 2006-2008 Dekan der Philosophischen Fakultät III. Weitere Informationen zu den Forschungsschwerpunkten sowie den Publikationen von Thomas Macho unter: www.culture.hu-berlin.de/ tm/ Thomas Macho »Der Name ›Bergpredigt‹ passt ausgezeichnet, verweist er doch auf einen räumlichen Topos. Die ethischen Systeme vormoderner, agrarischer Kulturen waren topologisch organisiert …« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 14 Uhr Seite 57 Hermeneutik und Vermittlung 58 ZNT 24 (12. Jg. 2009) kann, um nach Befinden ein- und auszusteigen. Sondern: ganz oder gar nicht, das gerade ist ihr Sinn.« 12 Der Name »Bergpredigt« passt ausgezeichnet, verweist er doch auf einen räumlichen Topos. Die ethischen Systeme vormoderner, agrarischer Kulturen waren topologisch organisiert; sie betrafen ein Gutes, das »überall« (wie in Kants Formulierung) und zu jeder Zeit gelten sollte - »ganz oder gar nicht«. Eine zeitliche Dimension der Ethik wurde nicht einmal im Ahnenkult, in dieser Pflichtenlehre der Genealogie, postuliert: Denn erstens richtete sich eine Verwandtschaftsethik zumeist auf die gleichzeitig anwesenden Eltern, Geschwister oder Kinder, zweitens betraf sie nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit, und drittens wurde das Verhältnis von Lebenden und Toten ebenfalls topologisch organisiert. Der Leichnam des Bruders von Antigone lag vor den Toren der Stadt; die genealogische Pflicht forderte seine reguläre Bestattung, die rituelle Übersiedlung in ein räumlich imaginiertes Totenreich. Abgesehen davon wendeten sich ethische Reformen - sei es im antiken Griechenland oder in der christlichen Religion - oft genug gegen die Geltung genealogischer Moral: So demonstrierte Kleisthenes mit seiner Gliederung Attikas in zehn Phylen, warum Nomos »Boden« heißt, aber auch »Gesetz«; und in den synoptischen Evangelien verdeutlichen zahlreiche Gleichnisse Jesu, dass das Gebot der Nächstenliebe auf den räumlich Nächsten bezogen werden muss - und nicht auf die zeitlich Nächsten, die Verwandten. Von Mutter und Brüdern will Jesus bekanntlich nichts wissen; dem Boten, der ihm mitteilt, sie wollten ihn sprechen, antwortet er beinahe lakonisch: »Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder? « (Mt 12,48) Die einzige Kriegserklärung im Kontext der Bergpredigt gilt den Verwandten: »Denkt nicht, ich sei gekommen, um Frieden auf die Erde zu bringen. Ich bin nicht gekommen, um Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, um den Sohn mit seinem Vater zu entzweien und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter; und die Hausgenossen eines Menschen werden seine Feinde sein. Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig, und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig.« (Mt 10,34-37) Und im koptischen Thomasevangelium heißt es, womöglich noch deutlicher: »Wer nicht seinen Vater und seine Mutter hasst, wird nicht [mein Jünger] werden können.« 13 Schon der Ansatz einer Temporalisierung der Ethik wird also bekämpft; das Gute darf nicht temporal, sondern nur topologisch gegliedert und interpretiert werden. 3. Die Frage nach einer Politik der Bergpredigt stellt sich unabweisbar und dringlich an der Grenze zwischen topologischer und temporaler Ethik. In den aktuellsten und brennendsten Diskussionen wird die Beziehung zwischen Werten und der Zeit verhandelt, oft jedoch ohne Ergebnis; denn die Argumente einer topologischen und einer temporalen Ethik sind wenig kompatibel: »Es ist nicht möglich, Gesinnungsethik und Verantwortungsethik unter einen Hut zu bringen«. 14 Berg- oder Zukunftspredigt? Bis heute haben wir noch nicht ganz verstanden, was es eigentlich bedeutet, das Gute zu historisieren und der Zeit zu unterwerfen. Auf der einen Seite berufen wir uns auf die zeitlos gültigen Grundwerte der Menschenrechtserklärungen, auf der anderen Seite bleibt Thomas Jeffersons Frage offen, ob nicht alle Gesetze - in den zeitlichen Rhythmen der Generationenfolge - neu abgestimmt werden müssten, um dauerhaft gelten zu können. In einem Brief an John Wayles Eppes (vom 24. Juni 1813) bemerkte Jefferson: »We may consider each generation as a distinct nation, with a right, by the will of its majority, to bind themselves, but none to bind the succeeding generation, more than the inhabitants of another country.« Neunzehn Jahre nach Abschluß eines Vertrags »the majority of the contractors are dead, and their contract with them«. 15 Wie sollen wir antizipieren können, was unsere Enkel für wahr »Die Frage nach einer Politik der Bergpredigt stellt sich unabweisbar und dringlich an der Grenze zwischen topologischer und temporaler Ethik.« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 14 Uhr Seite 58 Thomas Macho Politik der Bergpredigt ZNT 24 (12. Jg. 2009) 59 und gut halten werden? Wie können wir beispielsweise sicher sein, so fragt Peter Singer in Practical Ethics, »daß zukünftige Generationen Wert auf unberührte Natur legen«? Womöglich werden sie sich in »klimatisierten Einkaufszentren« wohler fühlen, »wo sie vor für uns unvorstellbar raffinierten Computerspielen sitzen«. 16 Es ist nicht die räumliche Reichweite ethischer Regeln (im Sinne der Unterscheidung zwischen Mikro- und Makroethik), die unsere Debatten erschwert, sondern die Differenz zwischen einer topologischen und einer temporalen Ethik. Denken Sie an das bekannte Beispiel der Triage im Katastrophenschutz. Wie soll denn ein Anhänger der Bergpredigt und des Gebots der topologisch gedachten Nächstenliebe die Selektion vornehmen zwischen Opfern, die sicher überleben werden, die sicher nicht überleben werden und die vielleicht überleben werden - um vorrangig eben die Opfer der letztgenannten Kategorie zu bergen und zu retten? Muss er nicht, ganz im Gegensatz zum Vorschlag des Evangeliums, unentwegt an den »Sabbat« denken, an die Zukunft der guten Tat, an die möglichen Konsequenzen seiner spontanen Entscheidung? Es sind nicht zufällig solche und ähnliche Fragen, die zur Verschärfung der elementaren Opposition zwischen topologischer und temporaler Ethik beitragen. Im agrarischen System einer topologischen Ethik konnten die Grenzen des Lebens - die Passagen der Geburt und des Todes - nur auf einen mythisch (als Schicksal) oder theologisch (als Vorsehung) markierten Horizont der Unverfügbarkeit bezogen werden; und diese Unverfügbarkeit wurde sogar gegen die Techniken der Viehzucht verteidigt: Der »gute Hirte« rettet bekanntlich jedes abgestürzte Schaf, anstatt die Reproduktionsrate seiner Herde zu steigern. 17 Dagegen begann die Moderne - im Zeichen temporalisierter Ethik - geradezu als eine Epoche der Experimentalisierung von Lebensgrenzen. Im Blick auf das futurisierte Gute wurde machbar, was früher nur passiv ertragen und rituell bewältigt werden konnte. Nicht nur wurde die Kindersterblichkeit gesenkt und das durchschnittliche Lebensalter gesteigert, nicht nur wurden bestimmte Todesursachen erfolgreich bekämpft und Geburtsrisiken verringert, sondern die Lebensgrenzen selbst konnten zunehmend manipuliert, verschoben oder vorübergehend außer Kraft gesetzt werden. Die steigende Manipulierbarkeit der Lebensgrenzen ermöglichte die Einrichtung und strategische Nutzung von Zuständen zwischen Leben und Tod, die sich von befruchteten Eiern in der Tiefkühltruhe bis zu künstlich beatmeten, hirntoten Menschen erstrecken. Genau dann werden heute die Ethiker befragt: Ab wann ist ein befruchtetes Ei tatsächlich »am Leben«? Ist der atmende Mensch mit durchbluteter Haut und spinalen Reflexen tatsächlich »gestorben«? Gerade diese Fragen erzwingen den Rekurs auf die Zeit, auf eine temporalisierte Ethik; sie lassen sich nicht im Geist der Bergpredigt, nach den Geboten einer topologischen Ethik beantworten. Die agrarisch-topologische Ethik setzte die Anerkennung einer schicksalhaften oder göttlich gebotenen Unverfügbarkeit der Lebensgrenzen voraus; den universellen Tötungsverboten entsprachen darum verschiedene Einschränkungen der Zeugung von Kindern. Neues Leben durfte nicht per imitationem dei aktiv produziert, sondern lediglich als Gabe angenommen werden: Kinder wurden »bekommen« und nicht »gemacht«. Erst die moderne Biologie und Gynäkologie ermöglicht strategische Familienplanung, eine pharmakologisch und zunehmend auch gentechnologisch unterstützte Erzeugung von »Wunschkindern«. Dagegen wäre auf den ersten Blick gar nichts einzuwenden: »Wunschkinder« werden doch gewöhnlich besser versorgt, erzogen und intensiver geliebt. Allerdings konstituiert die Bemühung um die »Wunschkinder« erst das gegenüberliegende Feld der unerwünschten Kinder. Die Planungsanstrengungen und Erwartungen generieren strukturell die Möglichkeit der Planungsfehler und Enttäuschungen. Nicht selten konvertieren darum gerade die besonders heiß ersehnten Kinder zu unerwünschten Kobolden, sobald sie nämlich die Projektionen und Hoffnungen ihrer Eltern frustrieren. Die »Machbarkeit« der Nachkommen überträgt die Logik des zukünftig Guten auf die »Die agrarisch-topologische Ethik setzte die Anerkennung einer schicksalhaften oder göttlich gebotenen Unverfügbarkeit der Lebensgrenzen voraus …« 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 14 Uhr Seite 59 Hermeneutik und Vermittlung 60 ZNT 24 (12. Jg. 2009) Kinder, die dann halten oder nicht halten können, was sie versprechen: »They are my friends: I made them«, heißt es an einer Schlüsselstelle des Films »Bladerunner«. Der Plot des Films von Ridley Scott ergibt sich nicht umsonst aus der kurzen Lebensdauer der Replikanten; die Kurzlebigkeit der gemachten Menschen erzeugt und löst alle auftretenden Konflikte. Nur darum kann die christliche Ikonographie, beispielsweise in der Sterbeszene des Replikanten Roy Batty, auch in Science Fiction transponiert werden: In einer Welt temporalisierter Normen triumphiert ein letztes Mal die topologische Politik der Bergpredigt. Anmerkungen 1 A.O. Lovejoy, Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, übers. v. D. Turck, Frankfurt a.M. 1985. 2 Vgl. H. Schlag, Ein Tag zuviel. Aus der Geschichte des Kalenders, Würzburg 1998, 147. 3 D.J. Meijers, Kunst als Natur. Die Habsburger Gemäldegalerie in Wien um 1780, übers. v. R. Wiegmann, Wien 1995, 131. 4 Vgl. D. Sobel, Längengrad. Die wahre Geschichte eines einsamen Genies, welches das größte wissenschaftliche Problem seiner Zeit löste, übers. v. M. Fienbork, Berlin 1996. 5 Vgl. M. Westrheim, Kalender der Welt. Eine Reise durch Zeiten und Kulturen, übers. v. B. Schellenberger, Freiburg i.B. / Basel / Wien 1999, 104. 6 G.W.F. Hegel, Philosophische Enzyklopädie für die Oberklasse, in: Nürnberger und Heidelberger Schriften, Theorie-Werkausgabe Band IV, hg. v. E. Moldenhauer u. K.M. Michel, Frankfurt a.M. 1970, 48 (§ 151). 7 Vgl. M. Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übers. v. W. Seitter, Frankfurt a.M. 1976, 251-292. 8 J.S. Mill, Der Utilitarismus, übers. v. D. Birnbacher, Stuttgart 1976, 29f. 9 M. Weber, Politik als Beruf, Stuttgart 1992, 70f. 10 Weber, Politik, 71. 11 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Theorie-Werkausgabe Band VII, hg. v. W. Weischedel, Frankfurt a.M. 1968, 18. 12 Weber, Politik, 68. 13 Neutestamentliche Apokryphen in deutscher Übersetzung, Bd. I., hg. v. W. Schneemelcher, Tübingen 1987, 112 (§ 101). 14 Weber, Politik, 73. 15 Th. Jefferson, Writings. Ausgewählt und kommentiert v. M.D. Peterson, New York 1984, 1280f. 16 P. Singer, Praktische Ethik. Neuausgabe, übers. v. O. Bischoff / J.-C. Wolf / D. Klose, Stuttgart 1996, 343. 17 Vgl. Th. Macho, Gute Hirten, schlechte Hirten. Zu einem Leitmotiv politischer Zoologie, in: A. von der Heiden / J. Vogl (Hgg.), Politische Zoologie, Zürich / Berlin 2007, 71-88. 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 14 Uhr Seite 60 ZNT 24 (12. Jg. 2009) 61 Buchreport Jeffrey P. Greenman, Timothy Larsen, Stephen R. Spencer (Hgg.): The Sermon on the Mount Through the Centuries. From the Early Church to John Paul II. Brazos Press. Grand Rapids (Mich.) 2007, 280 S., ISBN 1587432056 Nach »Reading Romans through the Centuries: From the Early Church to Karl Barth« (2005) folgt mit dem anzuzeigenden Buch ein weiterer rezeptionsgeschichtlicher Sammelband gleichen Zuschnitts, nun zur Bergpredigt. Er ist aus einer 2005 am Wheaton College (Illinois) veranstalteten Tagung hervorgegangen. Angesichts der gegenwärtigen Hochschätzung der Rezeptionsgeschichte biblischer Texte innerhalb und außerhalb der Bibelwissenschaften - unübersehbar spätestens seit der Ankündigung der auf 30 Bände angelegten »Encyclopedia of the Bible and Its Reception« (de Gruyter) - sind weitere Bände zu erwarten und in der Sache wünschenswert. In elf Beiträgen in zum Teil paarweiser Darstellung wird ein Bogen von der Väterzeit bis ins ausgehende 20. Jh. geschlagen. Margret Mitchell eröffnet den Band mit Johannes Chrysostomus, der die Bergpredigt in den Homilien 15 bis 24 seiner 90 Homilien umfassenden Auslegung des Matthäusevangeliums behandelt hat. Auf zweierlei legt Mitchell ihr Augenmerk: Auf die Wahrnehmung und Würdigung der Bergpredigt als eines eigenen, rhetorisch gestalteten Redestücks innerhalb des Matthäusevangeliums durch den rhetorisch ausgebildeten Chrysostomus, und auf die überaus selbstbewusste Konfrontation der Bergpredigt als des Grunddokuments einer christlichen politeia mit dem gleichnamigen Werk Platons. Chrysostomus attestiert der Bergpredigt durchweg einen planvollen Aufbau, etwa wenn er den Seligpreisungen ein psychagogisches Stufenschema unterlegt, und er sieht in ihr ein Stück praktischer Philosophie, die durch ihre erwiesene Einheit von Lehre und Tat den heidnischen Philosophen überlegen ist. Bemerkenswert ist auch, wie selbstverständlich Chrysostomus Paulus völlig widerspruchsfrei zur Bergpredigt und zur matthäischen Theologie überhaupt ins Verhältnis setzt. Auch Augustin (R.L. Wilken) stellt die Bergpredigt in einen weit ausgreifenden biblischen Kontext, doch treibt er das intertextuelle Spiel mit (kritisch geurteilt) weit abgelegenen Bibelstellen viel weiter als Chrysostomus. Weil er die Bergpredigt als Lebensregeln für die »Vollkommenen« und ihre Befolgung als Geistesgabe ansieht, bringt er etwa die (nach seiner Zählung) acht Seligpreisungen - in Wahrheit seien es sieben, weil die letzte die erste wiederholt - mit den sieben Wirkungen des Geistes aus Jes 11,1 ins Gespräch. Augustins Interpretation »is driven by a kind of interior guidance system powered by the scriptures. A key to Augustine’s exegesis is to be found (...) in the maxim Scriptura scripturam interpretat« (56). Der für die Schrifthermeneutik des 12. Jh. wichtige Hugo von St. Victor (B.T. Coolman) erweitert die beiden Siebener-Reihen Augustins in seiner Schrift »De quinque septenis« zu derer fünf, ergänzt um die sieben Todsünden, die sieben Vaterunser- Bitten und sieben aus den Seligpreisungen gewonnenen Tugenden. Mithin stammen drei dieser Reihen aus der Bergpredigt, die auf diese Weise zwar nicht als eigene Komposition zu ihrem Recht, aber vielleicht doch insofern zu Wort kommt, als sie in den genannten Stücken Teil eines Ordo Salutis wird, der die in den Todsünden sich manifestierende Verderbnis der menschlichen Natur in einem spirituellen Wachstumsprozess zu überwinden vermag. Einen Exkurs von der Theologie in die Dichtung unternimmt der Band mit Dantes »Göttliche[r] Komödie« und Chaucers »Canterbury Tales« (D.L. Jeffrey). Dante steht ganz in patristischer und scholastischer Tradition, wenn er ein aus den Seligpreisungen gearbeitetes mystisches Stufenschema in seinen Gang durch das Purgatorium einfügt. Chaucer dagegen entwirft anhand von Bergpredigt- Zitaten ein durchaus diesseitiggegenwärtiges Programm persönlicher Läuterung, die sich im sozialen wie im politischen Bereich auswirken soll. In zwei Beiträgen kommt mit Luther (Susan E. Schreiner) und Calvin (S.E. Spencer) die Reformationszeit an die Reihe. Für Luther wird die Bergpredigt nachgerade zu einem Text der mönchischen und täuferischen Widerlager, deren Bekämpfung Luther als Kampf gegen den Satan dämonologisch überhöht hat. Es entsteht der durchaus tragische Eindruck, Luther wäre mit einem Neuen Testament ohne Bergpredigt, deren elitär-mönchische oder radikal-täuferische Interpretation so nahe zu liegen schien, besser zu Rande gekommen. So musste er sich fortwährend an rechtfertigungstheologischen Klarstellungen abarbeiten, wie die Bergpredigt nicht zu verstehen sei. »There is a terrible sense of urgency in Luther’s interpretation of the Sermon on the Mount« (127). Mit Calvin geraten wir in das ruhi- 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 14 Uhr Seite 61 Buchreport 62 ZNT 24 (12. Jg. 2009) gere Fahrwasser einer redaktionskritisch reflektierten Lektüre der Bergpredigt als einer losen Spruchsammlung, die Mt und Lk je unterschiedlich arrangiert haben, die zugleich aber eine Summe der Lehre Jesu darstellt, freilich bar jeder Radikalität: Der Herr habe nur das übertriebene Sorgen verboten, nicht das Sorgen überhaupt, etc. Unangefochten verortet Calvin sein Verständnis der Bergpredigt im Kontinuum von Altem und Neuem Bund, innerhalb einer Synthese von Gesetz und Evangelium. M. Noll stellt in seinem Beitrag über John Wesley die eminente Bedeutung der Bergpredigt für das Denken Wesleys wie auch für die soziale Prägung des Methodismus dar. Wesley nannte die Bergpredigt, der er 13 seiner 44 standard sermons gewidmet hat, »the noblest compendium of religion which is to be found even in the oracles of God« (153). Timothy Larsen ergänzt die angelsächsische Perspektive um die Bergpredigt- Rezeption durch Charles H. Spurgeon, den calvinistischen Baptisten und »straight-shooting conservative evangelical« (187). Gerade seine Auslegungen der Bergpredigt zeigen indes seine Vertrautheit auch mit patristischen und mittelalterlichen Autoren wie überhaupt eine erstaunliche Vielschichtigkeit seiner Theologie und Spiritualität. Dietrich Bonhoeffer und der mennonitische Theologe, Barth-Schüler und radikale Pazifist John H. Yoder werden wiederum in einem Paarbeitrag behandelt (S. Hauerwas). Gemeinsam ist beiden das Insistieren auf der Sichtbarkeit der Kirche in der Welt und ihre sichtbare Unterscheidbarkeit innerhalb der Welt. Damit erhält die Bergpredigt von selbst eine politische Relevanz, die freilich bei Bonhoeffer mit dem Konzept der individuellen Nachfolge verknüpft, bei Yoder dagegen stärker von der um das neue Gesetz Jesu sich bildenden neuen Gemeinschaft her gedacht wird. Etwas mühsam gerät der Vergleich zwischen Johannes Paul II. und Leonardo Boff als zwei denkbar gegensätzlichen Positionen innerhalb der römisch-katholischen Kirche (W.T. Cavanaugh). Zu unterschiedlich sind die Fragestellungen, als dass es gelänge, beide Theologen auf dem Boden der Bergpredigt einander anzunähern. Jeffrey P. Greenman nimmt den Schlussbeitrag über den Evangelikalen John R.W. Stott zum Anlass, den Predigern gegenüber den akademischen Theologen als Schriftauslegern den Vorzug zu geben. Weil die Predigt, nicht die wissenschaftliche Exegese die Brücke zur Gegenwart schlage, gelte: »The preacher, rather than the critical commentator is the true interpreter of Scripture« (280). Überblickt man jedoch den weiten Weg vom vierten bis zum Ende des 20. Jh., lernt man die methodisch geleitete Rückfrage nach der Bergpredigt in ihrem originären literarischen und kulturellen Zusammenhang als Proprium neutestamentlicher Wissenschaft einmal mehr schätzen, denn was nach Mt 11,12 vom Reich Gottes gilt, gilt von der Bergpredigt allemal. Man nehme nur die gängige Spiritualisierung der Brotbitte des Vaterunsers durch den Brückenschlag zur vierten Seligpreisung oder, schlimmer noch, die seit der Väterzeit übliche Entstellung der Seligpreisung der Trauernden zu einem Lobpreis echter Bußgesinnung. So gilt: Die Rezeptionsgeschichte bestätigt und bestärkt die neutestamentliche Wissenschaft darin, Anwältin der Fremdheit der Texte zu sein. Wenn die Predigtarbeit ihr Plädoyer hört, kann sie nur gewinnen. Manuel Vogel 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 14 Uhr Seite 62 ZNT 24 (12. Jg. 2009) 63 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 14 Uhr Seite 63 64 ZNT 24 (12. Jg. 2009) 072209 ZNT 24 Inhalt 22.09.2009 14: 14 Uhr Seite 64
