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ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
0601
2010
1325 Dronsch Strecker Vogel
Editorial Verständnis charismatischer Geisterfahrung, die Kahl als »Empowerment angesichts der Zerbrechlichkeit menschlicher Existenz« tituliert. Der Beitrag von Richard B. Hays zieht diese kultur-hermeneutische Prämisse dann nach rückwärts - unter Berücksichtigung der Produktionsbedingungen der neutestamentlichen Texte - hin aus und zeigt auf, dass auch die paulinische Rede vom Geist sich nur erschließt, wenn das intertextuelle Repertoire der alttestamentlichen Schriften für die Prozesse der Bedeutungszuschreibung zum paulinischen Verständnis des Geistes fruchtbar gemacht werden. Kristina Dronsch hingegen plausibilisiert ein relationales Geistverständnis, indem sie die johanneische Rede vom Geist über eine ›Topographie‹ erschließt, welche den Raum des Geistes innerhalb der Narration des Evangeliums auslotet. Volker Rabens nimmt in seinem Beitrag die Leserinnen und Leser mit auf eine Reise in die »Geistes-Geschichte« und zeigt anhand der Rede vom Geist in der griechisch-römischen und jüdisch-hellenistischen Literatur nicht nur ein äußerst differenziertes Bild auf, sondern nutzt gewinnbringend den differenzierten Aussagegehalt des Wortes für ein Verständnis des Bedeutungsspektrums von pneuma im Kontext des Neuen Testaments. Vittorio Hösle schließt die Rubrik mit einem tiefgründigen Einblick in die philosophische Interpretation der neutestamentlichen Pneumatologie anhand des deutschen Idealismus, dessen Singularisierung des Geistes besonders bei Hegel maßgeblich ein generelles Verständnis von Geisteswissenschaften ermöglichte, aber für die Theologie zu grundlegenden Verlusten führte. Die Kontroverse zum Thema »Ist die Christologie die Grundlage der Pneumatologie des lukanischen Doppelwerkes? « mag auf den ersten Blick ein wenig fachgelehrt anmuten. Spätestens beim Lesen der Beiträge der Kontroverspartner Odette Mainville und François Vouga wird jedoch schnell deutlich, dass weit mehr auf dem Spiel steht als eine binnenexegetische Fachdiskussion: Denn die Verhältnisbestimmung der Pneumatologie ist zu verstehen als Einweisung in die grundlegende Art und Weise von Theo-Logie innerhalb des Stimmenkanons der biblischen Texte, was beide Autoren mit differierenden Argumenten und kontroversen Zuspitzungen nachdrücklich verdeutlichen. Liebe Leserinnen und Leser, das vorliegende Jubiläumsheft ZNT 25 zum Thema »Geist« geht zurück auf eine gleichnamige Tagung, die vom 19. bis zum 20. Juni 2009 an der Goethe-Universität Frankfurt stattfand. Dass die Tagung stattfinden konnte, ist dem großzügigen finanziellen Engagement der Vereinigung der Freunde und Förderer der Goethe- Universität sowie dem Francke-Verlag zu verdanken. Wir wissen diese Ermöglichung der Tagung in Zeiten knapper finanzieller Mittel, die die Universität und die Verlage gleichermaßen betreffen und die ihre gravierendste Auswirkung in und um den Bereich der Geisteswissenschaften zeigt, mehr als zu schätzen. Dass beide Institutionen ein Tagungsthema gefördert haben, das in den gegenwärtigen Geisteswissenschaften zu einem sehr vernachlässigten, aber dringlich zu klärenden zählt, ist für uns großer Ansporn gewesen, dem Profil der ZNT entsprechend das interdisziplinäre Gespräch der Exegese mit anderen theologischen, philosophischen und kulturwissenschaftlichen Perspektiven auf den »Geist« zu suchen. So ist ein umfangreiches und international hochkarätig besetztes Jubiläumsheft entstanden, das neben den Beiträgen der Referentinnen und Referenten der Tagung auch weitere thematische Beiträge versammelt, die für einen Diskurs des Themas zwischen neutestamentlicher Wissenschaft, Religionswissenschaft, systematischer Theologie, Religionsphilosophie und Philosophie sorgen. Den Autoren sei herzlich gedankt, dass sie mit ihren Beiträgen substantiell das vernachlässigte Thema »Geist« neu belebt haben. In der Rubrik »NT aktuell« führt Christian Strecker minutiös in die Vielstimmigkeit exegetischer Fragestellungen zum Thema »Geist« in neutestamentlicher Perspektive ein und zeigt Linien, Brüche und Transformationen des Themas auf. Werner Kahl eröffnet die Rubrik »Zum Thema«, indem er anhand westafrikanischer pentekostaler Interpretationen des Neuen Testaments zeigt, dass von »Geisterfahrung« nur sinnvoll gesprochen werden kann, wenn die Geisterfahrung in ihre jeweiligen kulturellen und sozialen Bezugssysteme eingebunden wird. Erst die Berücksichtigung der kulturellen Eingebundenheit legt den Blick frei auf ein angemessenes ZNT 25 (13. Jg. 2010) 1 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 1 Editorial 2 ZNT 25 (13. Jg. 2010) Von der Perspektive einer kategorialen Semiotik aus widmen sich die beiden Beiträge in der Rubrik »Hermeneutik und Vermittlung« dem Thema »Geist«. Hermann Deusers Beitrag weist nicht nur mit gewichtigen Gründen ein substanzontologisches Missverständnis des Geistes zugunsten eines relationalen Geistverständnisses auf der Grundlage der kategorialen Semiotik von Charles Sanders Peirce zurück, sondern implementiert unter dem prägnanten Titel »Geistesgegenwart. Pneumatologie und kategoriale Semiotik« ein Verständnis von Geistesgegenwart, dem ein dreigliedriger Erfahrungsbegriff zugrunde liegt. Die Implikationen dieses triadisch konzipierten Erfahrungsbegriffs - so wird beim Lesen seines Beitrages schnell deutlich - sind bisher weder für die Rede vom Geist in neutestamentlichen Zusammenhängen, noch für den gesamten geisteswissenschaftlichen Diskurs hinreichend fruchtbar gemacht worden. In Anknüpfung an das relationale Geistverständnis von Hermann Deuser lotet Stefan Alkier die Möglichkeit der Rede vom »Geist der Schrift« - unter Einbeziehung nichtbiblischer Texte - aus. Dabei entwickelt er vom Standpunkt der Unhintergehbarkeit der Semiose eine Rede vom »Geist der Schrift« in Verbindung mit dem Phänomen der Ergriffenheit, die jenseits konstruktivistischer Beliebigkeit und dogmatisierender Eindeutigkeit »Geist« als eine unverfügbare Wirkkraft versteht, die Neues hervorbringt und das Vorausliegende erschließt. In der Rubrik »Buchreport« wird Ihnen das jüngst erschienene und thematisch passgenaue Buch von Kurt Erlemann mit dem Titel »Unfassbar? Der Heilige Geist im Neuen Testament« vorgestellt. Ihnen, liebe Leserinnen und Leser dieses umfänglichen Jubiläumsheftes, wünschen wir begeisterte und begeisternde Ein- und Ausblicke in das komplexe Thema »Geist«! Stefan Alkier Kristina Dronsch Manuel Vogel In eigener Sache Mit dem vorliegenden Heft ist die ZNT umgezogen: von Frankfurt, wo sie vom ersten Heft an redaktionell betreut wurde, nach Jena, wo sie ein ebenso gutes Zuhause finden soll. An dieser Stelle ist Prof. Dr. Stefan Alkier und Dr. Kristina Dronsch, die über viele Jahre hinweg mit erheblichem persönlichem Einsatz den größten Teil der Arbeit geleistet haben, sehr herzlich zu danken. In ihren Frankfurter Jahren hat sich der ökumenische, internationale und interdisziplinäre Horizont der ZNT stets erweitert. Das ist vor allem den Genannten geschuldet: ihren Ideen wie auch ihrer stets freundlichen Kontaktpflege innerhalb und außerhalb der scientific community, ohne die auch die besten Ideen keine Gestalt gewinnen. Zumal für die Zeit des Übergangs ist es gut zu wissen, dass beide der ZNT erhalten bleiben: Stefan Alkier als einer der drei Hauptherausgeber und Kristina Dronsch im erweiterten Herausgeberkreis. Dass beide mit eigenen Aufsätzen zu diesem Heft Wesentliches beigesteuert haben, nimmt der neue verantwortliche Redakteur als ein schönes Zeichen für ihre bleibende Verbundenheit mit dieser Zeitschrift. Anzumerken bleibt, dass die in Frankfurt frei gewordenen Kapazitäten nun für den neutestamentlichen Teil des Online-Projekts »Wissenschaftliches Bibellexikon« (WiBiLex) unter der Leitung von Prof. Dr. Alkier verwendet werden (www.wibilex.de). Für den Kreis der Herausgeberinnen und Herausgeber Manuel Vogel 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 2 eine große Offenheit für alles, was mit »Geist« und Spiritualität zu tun hat, unverkennbar. 2 1) Mit Blick auf das Christentum fällt diesbezüglich zunächst der eindrucksvolle Aufstieg der Pfingstkirchen und der charismatischen Bewegungen v.a. in Lateinamerika und Afrika auf. Bekanntlich propagieren diese einen wesentlich an pneumatische Phänomene und spirituelle Erfahrungen gekoppelten Glauben. 3 Aber auch in den traditionellen Kirchen spielt der Heilige Geist eine immer wichtigere Rolle, namentlich im Rahmen des ökumenischen Dialogs. Das Erscheinen gewichtiger systematisch-theologischer Monographien unterstreicht die Brisanz des Themas. 4 2) Jenseits des Christentums ist im Kontext der ehedem sog. New-Age-Bewegung und der allenthalben stark verbreiteten Esoterik eine manifeste Orientierung an geistigen Wirklichkeiten, Geistheilungen u.ä. auszumachen. 5 3) In der Naturwissenschaft macht das Stichwort »Geist« seit geraumer Zeit im Rahmen der Neurowissenschaften (Hirnforschung) Karriere, insofern dort materialistische Modelle einer Biologie des Geistes entwickelt werden. 6 4) In der Informatik wird das Thema in der Forschung über Möglichkeiten der Emergenz sog. künstlicher Intelligenz kontrovers diskutiert. 7 5) In der philosophischen Forschung hat die klassische »Philosophie des Geistes« angesichts der eben genannten Entwicklungen in der Hirnforschung und der Informatik neu an Brisanz gewonnen. 8 Darüber hinaus rekurrieren einige Philosophen in ganz unvermuteter Weise auf die Terminologie des Geistes. So arbeitet Jacques Derrida in seinen vieldiskutierten Reflexionen über das Erbe des Marxismus intensiv mit den Begriffen »Geist«, »Gespenst« und »Phantom«, um in dekonstruktiver Manier u.a. die Problematik der Abwesenheit im Anwesenden bzw. der Anwesenheit des Abwesenden und der Verschränkung der Zeiten hintergründig zur Sprache zu bringen. 9 Gianni Vattimo greift auf eigenwillige Weise die mittelalterliche Zeitalterlehre Joachim von Fiores auf, um Neues Testament aktuell Christian Strecker Zugänge zum Unzugänglichen »Geist« als Thema neutestamentlicher Forschung 1. Hinführung: zeitgeschichtliche Verortungen der Rede vom Geist Dem modernen Menschen ist - unabhängig davon, ob er sich (der Weltanschauung des Naturalismus folgend) als Natur oder (der Weltanschauung des Idealismus folgend) als Geist begreift - »schlechterdings fremd und unverständlich, was das Neue Testament vom ›Geist‹ (gr. pneuma) und von den Sakramenten sagt. Der rein biologisch sich verstehende Mensch sieht nicht ein, daß überhaupt in das geschlossene Gefüge der natürlichen Kräfte ein übernatürliches Etwas, das pneuma, eindringen und in ihm wirksam sein könnte. Der Idealist versteht nicht, wie ein als Naturkraft wirkendes pneuma seine geistige Haltung berühren und beeinflussen könnte. Er weiß sich für sich selbst verantwortlich und versteht nicht, wie ihm in der Wassertaufe ein geheimnisvolles Etwas mitgeteilt werden könnte, das dann das Subjekt seiner Wollungen und Handlungen wäre. Er versteht nicht, daß eine Mahlzeit ihm geistige Kraft vermitteln soll«. 1 Es ist Rudolf Bultmann, der diese Auffassung 1941 in seinem vielbeachteten, die theologische und exegetische Debatte nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich mitprägenden Vortrag »Neues Testament und Mythologie« referierte. Heute, bald siebzig Jahre später, mag zumindest der apodiktische und exklusivistische Gestus, mit welchem Bultmann der ntl. Rede vom Geist in dieser Passage begegnet, mit dem er sie diskreditiert, ihr das Vertrauen entzieht - freilich mit dem Ziel, dem darin eingeschlossenen existenzialen Kern treu zu bleiben, also in der Diskreditierung eine Kreditierung zu wahren -, seinerseits »fremd und unverständlich« erscheinen. Die intellektuelle und die lebensweltliche Großwetterlage haben sich deutlich verändert. Die Fundamente jener modernen Weltanschauungen, auf die Bultmann sich berief, sind inzwischen in vielerlei Hinsicht zwar nicht hinfällig, aber doch brüchig geworden. Vor diesem Hintergrund ist seit den 1980er Jahren in unterschiedlichsten Diskurs- und Praxisfeldern ein deutlich gewachsenes Interesse und ZNT 25 (13. Jg. 2010) 3 »seit den 1980er Jahren [ist] in unterschiedlichsten Diskurs- und Praxisfeldern ein deutlich gewachsenes Interesse [...] für alles, was mit ›Geist‹ und Spiritualität zu tun hat, unverkennbar.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 3 Neues Testament aktuell 4 ZNT 25 (13. Jg. 2010) gar zu postulieren: »Der Zustand der Zivilisation, den wir erreicht haben [...], bietet die Chance, das Reich des Geistes, verstanden als Entlastung und ›Poetisierung‹ des Realen, zu verwirklichen.« 10 6) Schließlich sind die Kulturwissenschaften zu nennen. Dort ist im Anschluss an die kulturanthropologische/ ethnologische Forschung ein verstärktes Bemühen um eine sich von ethnozentrischen Beurteilungen absetzende Erschließung von Phänomenen wie Geisterglaube, Besessenheit, spirituellen Praktiken u.ä.m. zu konstatieren. 11 In diesem zeitgeschichtlichen Umfeld nimmt es nicht wunder, dass in der ntl. Wissenschaft die vielschichtigen frühchristlichen Aussagen über den Geist verstärkt Aufmerksamkeit auf sich ziehen. In den letzten Jahren widmeten sich zahlreiche Untersuchungen diesem Thema. Die reiche Forschung auf nur wenigen Seiten in ihrer ganzen Breite darzulegen, ist angesichts deren Umfangs und Vielfalt kaum möglich. Dies gilt umso mehr, als Arbeiten der älteren Forschung nicht ausgeblendet werden dürfen, legten diese doch vielfach die Fundamente für bis in die Gegenwart hinein geführte Debatten. Der vorliegende Beitrag kann daher nur einen groben Überblick über die Erforschung der frühchristlichen Geistaussagen bieten, indem er einige ausgewählte exegetische Kontroversen und Studien vorstellt. 12 Die Gliederung orientiert sich an den methodischen Zugriffen, die in den vielen einschlägigen Untersuchungen zur Anwendung kommen. Vorab empfiehlt es sich, mittels einer kurzgefassten Sichtung des ntl. Befundes wesentliche Eckpunkte der Thematik zu verdeutlichen. 2. Pneuma im Neuen Testament Die Vokabel pneuma begegnet in den ntl. Schriften in verschiedenen Sinnzusammenhängen. Sie weist dabei ein reiches Bedeutungsspektrum mit zahlreichen konnotativen Nuancen auf. 13 Es würde zu weit führen, dieses hier in all seinen Facetten detailliert auszuleuchten. 14 Es muss genügen, die vier wichtigsten semantischen Hauptkomponenten voneinander abzuheben. 15 1) Nur sporadisch wird pneuma im Neuen Testament im materiell-physischen bzw. biologischen Sinn verwendet, sei es für den Wind (Joh 3,8; Hebr 1,7), den Hauch des Mundes (2Thess 2,8) oder den Atem als Lebensprinzip bzw. den Lebensgeist, dessen Aufgabe zum Tod führt (Mt 27,50; Lk 8,55; Joh 19,30; Jak 2,26; Offb 11,11). 2) Breiter belegt ist der im weiteren Sinn anthropologische Gebrauch der Vokabel. Pneuma markiert hier das Innere des Menschen, den Personenkern, oder eine Instanz im bzw. ein Vermögen des Menschen (1Kor 2,11; 5,3; 1Thess 5,13; Phil 1,27; Eph 4,23). Im Besonderen wird pneuma mit menschlichen Gefühlen, Stimmungen und Dispositionen assoziiert (Joh 11,33; 13,12; Apg 17,16; Röm 11,8; Gal 6,1; 2Tim 1,7). V.a. aber bestimmt das Neue Testament den menschlichen Geist »als diejenige Dimension der Person, die am offensten für Gott (Mt 5,3; Röm 1,9; 8,16; Jak 4,5; 1Petr 3,4)« ist. 16 Mit anderen Worten: »[D]er menschliche Geist [ist] der Ort [...], an dem der göttliche Geist einen Menschen erfasst und durchdringt.« 17 Damit rückt die gewichtigste Bedeutungskomponente der Vokabel im Neuen Testament in den Blick, nämlich (3) pneuma als Bezeichnung für den Geist Gottes/ des Vaters (Mt 10,20; Joh 4,24; 1Kor 2,11f.14; 7,40; 2Kor 3,3; Phil 3,3; 1Petr 4,14), den Geist Christi/ Jesu/ seines Sohnes (Apg 16,7; Röm 8,9.14; Gal 4,6; Phil 1,9; 1Petr 1,11) bzw. den heiligen Geist (Mk 1,8; Mt 1,18.20; Mt 3,11/ Lk 3,16; Lk 1,15.35.41.67; Apg 1,2.5.8.16; Röm 5,5; 1Kor 6,19; Tit 3,5; Hebr 2,4). Eine systematische Differenzierung zwischen den genannten Ausdrücken liegt in den ntl. Schriften nicht vor. Den komplexen Textbefund vereinfachend lässt sich aber festhalten, dass Gottes heiliger Geist im Neuen Testament i.W. als endzeitliche Gabe erscheint, die zunächst dem vorösterlichen Jesus - sei es in der Taufe (Mk 1,9-11), sei es bereits zuvor durch die Empfängnis (Mt 1,18.20; Lk 1,35) - zuteil wird, die dann dessen irdisches Auftreten und Wirken prägt (Mk 3,28f.; Mt 12,18.28; Lk 4,16-30) und die schließlich nach Ostern durch den auferstandenen und erhöhten Christus den Jüngern und Christusgläubigen weitervermittelt wird, zunächst am Oster- (Joh 20,22) oder Pfingsttag (Apg 2,1-4.17-21.33), dann in der Taufe auf den Namen Jesu Christi (Apg 2,38). Insgesamt hebt das Neue Testament hervor, dass Jesus als erhöhter Christus im Geist wirkmächtig in der ekklesia präsent bleibt und der Geist umgekehrt Jesus Christus bezeugt (Joh 15,26; 1Kor 12,3; 1Joh 4,2; 5,6-8; Offb 19,10). Das pneuma kann dabei auch als mehr oder weniger eigenständige Größe und Handlungsinstanz profiliert werden, etwa wenn betont wird, der Geist des Sohnes sei ebenso wie der Sohn von Gott gesandt worden (Gal 4,4.6), er übernehme interzessorische Funktion (Röm 8,26) oder trete als »anderer Paraklet« aktiv in Erscheinung (Joh 14,16f.26; 15,26f.; 16,7b-11.13-15). Nicht unerwähnt darf bleiben, dass in diesen und anderen Zusammenhängen mehrfach von einer Einwohnung des Geistes in den Christusgläubigen bzw. einer Teilhabe am heiligen Geist die Rede ist (Joh 14,17b; Röm 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 4 Christian Strecker Zugänge zum Unzugänglichen ZNT 25 (13. Jg. 2010) 5 8,9.11; 1Kor 3,16; 2Kor 13,13; Hebr 6,4; Jak 4,5; 1Joh 3,24; 4,13). Was die Ereignisbzw. Erfahrungsräume des Geistes sowie die konkreten Geistwirkungen anbelangt, zeugt das Neue Testament von einer großen Vielfalt. Exemplarisch sei auf die Verknüpfung des Geistes mit den rituellen Vollzügen der Taufe (Mk 1,8; Mt 3,11/ Lk 3,16; Mt 28,19; Apg 1,5; 2,38; 8,14-25; 9,17f.; 10,44-48; 19,5f.; 1Kor 6,11; 12,13; 2Kor 1,21f.; Joh 3,5; Tit 3,5) und des Handauflegens (Apg 8,17-19; 19,6), des Gebets (Lk 11,13; Röm 8,15.26f.; Gal 4,6; Eph 6,18; Jud 20) und der Anbetung (Joh 4,23f.; Phil 3,3) verwiesen, ferner darauf, dass der Geist nach ntl. Zeugnis die Gemeinschaft der Christusgläubigen in Einheit und Verschiedenheit stiftet und trägt (1Kor 12; Phil 1,27; 2,1; Eph 2,18; 4,3f.), dass er die missionarische Arbeit und Verkündigung führt und stützt (Apg 1,8; 4,8.31; 7,55; 8,29.39; 10,19; 13,9; Röm 15,19; 1Petr 1,12), den Lebenswandel der Getauften prägt bzw. heiligt (Röm 8,4-6.13f.; 15,16; Gal 5,16.22-25; 1Kor 6,19; Eph 5,18; 1Petr 1,2), dass er Prophetie (Lk 1,67; 2,25-27; Apg 2,17f.; 11,28; 1Kor 14; 1Thess 5,19f.; Eph 3,5; 2Petr 1,21), Glossolalie (Apg 2,4-13; 10,44-46; 19,6; 1Kor 14), Inspiration der Schriften (Mk 12,36/ Mt 22,42; Apg 1,16; 4,25; 28,25) sowie Erkenntnis, Weisheit und Wahrheit (Joh 14,17; 16,13; 1Kor 2,10; Eph 1,17; 1Joh 4,6) erwirkt und das Eschaton verbürgt (Röm 8,23; 2Kor 1,22; 5,5), um dereinst als jene Kraft in Erscheinung zu treten, in der sich die allgemeine Totenauferweckung verwirklicht (Röm 8,11; 1Kor 15,44- 46; Gal 6,8). Die göttliche Wirklichkeit repräsentierend und die endzeitliche Heilsvollendung antizipierend, wird der Geist mehrfach mit dem Fleisch (Joh 3,6; 6,63; Röm 8,4-6.13; Gal 3,3; 4,29; 5,16f.19-22; 1Petr 4,6), dem Buchstaben (Röm 2,29; 7,6; 2Kor 3,6) und z.T. auch mit dem Nomos (Gal 5,18; Röm 8,2; s. aber Röm 7,14! ) kontrastiert. 4) Schließlich darf der dämonologische und spektrologische 18 Gebrauch nicht unerwähnt bleiben, also die Verwendung der Vokabel für Dämonen (Mk 1,23.26.27; 3,11.30; Lk 13,11; Apg 5,16; 16,16.18; 19,12f.15f.; Offb 16,13f.; 18,2) sowie für Gespenster, Geistwesen und Engel (Lk 24,37.39; Apg 23,8f.; Hebr 1,7.14). Die exegetische Forschung untersucht all diese Facetten des ntl. Pneumadiskurses mittels unterschiedlicher methodischer Zugriffe, die freilich keine strikten Alternativen darstellen, sondern sich teilweise ergänzen und überschneiden. Sie gehen mit diversen Kontroversen auf der inhaltlichen Ebene einher. Dem gilt es nun nachzugehen. 3. Traditions- und religionsgeschichtliche Zugänge »Die Geistaussagen des Neuen Testaments sind entscheidend geprägt von der alttestamentlich-jüdischen Tradition.« 19 Mit diesem Satz eröffnet Ferdinand Hahn seine Ausführungen über das Wirken des heiligen Geistes (Pneumatologie) im zweiten Band seiner Theologie des Neuen Testaments. Hahn bringt hier eine in der ntl. Forschung weithin geteilte Grundeinsicht zum Ausdruck. Gemäß dieser Einsicht beginnen zahlreiche exegetische Studien mit mehr oder weniger ausführlichen Darlegungen zur Bedeutung des Geistes (ruach, pneuma) im Alten Testament und im frühjüdischen Schrifttum, um auf diese Weise Voraussetzungen und Anknüpfungspunkte der pneumatologischen Aussagen im Neuen Testament abzuklären. 20 Das inhaltliche Profil der besagten atl.-frühjüdischen Tradition ist allerdings strittig. Kontrovers diskutiert werden v.a. zwei Themen: das vermeintliche jüdische »Dogma« des erloschenen Geistes und die Bedeutung des sog. »spirit of prophecy«. Beide Debatten werden im Folgenden kurz vorgestellt. Es folgt eine Sichtung der Diskussion über die Bedeutung griechisch-römischer Pneumavorstellungen und deren Relevanz für das Verständnis der ntl. Geistaussagen. Christian Strecker studierte Evangelische Theologie in Neuendettelsau, Hamburg, Heidelberg und Tübingen. Promotion (1996) und Habilitation (2003) an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau, seit 2003 Privatdozent ebendort; Vertretungsprofessuren in Heidelberg (2005-2006; 2008/ 09), München (2006/ 07), Mainz (2007) und Neuendettelsau (2004; 2009). Forschungsschwerpunkte: Paulusexegese, historische Jesusforschung, kulturwissenschaftliche Exegese. Christian Strecker 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 5 Neues Testament aktuell 6 ZNT 25 (13. Jg. 2010) 3.1 Das sog. »Dogma des erloschenen Geistes« Bis in die jüngere Zeit hinein begegnet man in der Forschungsliteratur der Auffassung, die frühchristlichen Geistaussagen müssten vor dem Hintergrund einer im damaligen Judentum angeblich weit verbreiteten Vorstellung verstanden werden, der zufolge mit den letzten Schriftpropheten das Wirken des Geistes erloschen und die Prophetie zu einem Ende gekommen sei. Gott rede seither nur noch vermittels der vergleichsweise inferioren bat qol (»Tochter einer Stimme«, himmlische Stimme) und werde den Geist allererst in der Endzeit wieder ausgießen. 21 Obgleich diese häufig unter dem Etikett »Dogma des erloschenen Geistes« firmierende Vorstellung in literarisch verfestigter Form erst im rabbinischen Schrifttum auftaucht, 22 wird postuliert, sie sei im Judentum im Kern bereits deutlich früher vorherrschend gewesen. Dies gelte ungeachtet der Tatsache, dass für die jüdische Welt etwa des 1. Jh.’s n.Chr., also die ntl. Zeit, bei Josephus diverse pneumatische bzw. prophetische Phänomene bezeugt sind. 23 Die frühe Verbreitung der besagten Vorstellung sieht man durch Bekundungen in Ps 74,9; Sach 13,2-6; Dan 3,38 (Th); 1Makk 4,46; 9,27; 14,41; syrBar 85,3; Josephus Ap 1,37-41 und eine mutmaßlich in tSot 13,2-4 verarbeitete ältere Tradition belegt. Im Neuen Testament meint man sie im Hintergrund u.a. von Mk 1,8; 3,28f.; Joh 7,39; Apg 2,17- 21; 19,2; 2Kor 3,16-18; Gal 3,14; Eph 2,22; 3,5 und Hebr 6,4 ausmachen zu können. 24 Die frühchristlichen Geistaussagen indizierten demnach die im Rahmen des »Dogmas des erloschenen Geistes« propagierte endzeitliche Wiederkehr des Geistes. Die dargelegte Sicht der Dinge hat inzwischen jedoch deutlich an Überzeugungskraft verloren. So konnte insbesondere John R. Levison überzeugend darlegen, dass die oben angeführten Belege nicht stichhaltig sind. Nach einer genauen Sichtung der Texte gelangt er zu dem Ergebnis, dass diese zwar die vorübergehende Absenz von Propheten/ Prophetie als Krisensymptom, aber nicht das Erlöschen des Geistes als epochalen Allgemeinzustand thematisieren. 25 Bei dem besagten frühjüdischen »Dogma des erloschenen Geistes« dürfte es sich folglich eher um ein nachträgliches wissenschaftliches Konstrukt denn um eine Voraussetzung der frühchristlichen Geistaussagen handeln. 3.2 Der »Geist der Prophetie« Ungeachtet der eben dargelegten Debatte gilt vielen Exegeten und Exegetinnen das atl.-jüdische Konzept des »Geistes der Prophetie« (»spirit of prophecy«) 26 als maßgeblicher Ausgangspunkt der frühchristlichen Geistaussagen, insbesondere der lukanischen Geisttheologie. Wie jedoch das genannte Konzept inhaltlich genauer zu fassen und mit den ntl. Aussagen zu korrelieren ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Strittig ist zumal, ob sich die Wirkung des »Geistes der Prophetie« nach jüdischem Verständnis in Manifestationen der inspirierten Rede, der Offenbarung und der Vermittlung von Weisheit erschöpfte oder ob man dem Geist der Prophetie im Judentum weithin auch charismatische, ethische und soteriologische Potenz zuschrieb. Beide Positionen ziehen unterschiedliche Bewertungen der ntl. Geistaussagen nach sich. Wichtige Protagonisten der beiden Positionen sind Eduard Schweizer und Robert P. Menzies auf der einen sowie Max Turner und Matthias Wenk auf der anderen Seite. In Eduard Schweizers 1959 erschienenem ThWNT-Artikel zur Bedeutung des Geistes im Neuen Testament heißt es: »Lukas teilt also mit dem Judentum die Anschauung, daß Geist im Wesentlichen Geist der Prophetie ist. Das hindert ihn, einerseits die charismata iamaton (Gnadengaben zu Heilungen), andererseits stärker ethisch geprägte Wirkungen wie das Gemeinschaftsleben der Urgemeinde direkt auf das pneuma zurückzuführen.« 27 Schweizer ist offenkundig der Auffassung, dass das Wirken des Geistes in der damaligen jüdischen Tradition im Kern auf die Befähigung zur prophetischen Rede beschränkt war. Dass Lk das pneuma in seinem Doppelwerk weder mit Wundertaten noch mit ethischem Handeln verband, sieht er just in der Übernahme dieser jüdischen Geistvorstellung begründet. Darüber hinaus postuliert Schweizer, Lk habe an keiner Stelle in seinen Schriften das Heil auf den Geist zurückgeführt, dem pneuma also keine soteriologische Bedeutung zugemessen, was er gleichfalls mit dessen gezielter Orientierung an der besagten jüdischen Geistvorstellung erklärt. 28 In seiner 1991 unter dem Titel »The Development of Early Christian Pneumatology« publizierten Studie führte Robert P. Menzies Schweizers Thesen weiter aus. Menzies sucht darin zunächst nochmals den Nachweis zu führen, dass die »Gott rede seither nur noch vermittels der vergleichsweise inferioren bat qol (›Tochter einer Stimme‹, himmlische Stimme) und werde den Geist allererst in der Endzeit wieder ausgießen.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 6 Christian Strecker Zugänge zum Unzugänglichen ZNT 25 (13. Jg. 2010) 7 frühjüdische Literatur den Geist weder charismatisch noch soteriologisch deutete, sondern durchweg mit der Erfahrung jener prophetischen Inspiration identifizierte, die diversen herausragenden Individuen als donum superadditum zur Bewältigung bestimmter, von Gott festgesetzter Aufgaben zuteil wurde. Menzies räumt jedoch Ausnahmen ein: Zumindest in der Weisheit Salomos (bes. 9,9-18) und den Hodajot von Qumran (1QH) werde die Gabe des Geistes abweichend vom Üblichen als Quelle moralischen bzw. gottgewollten Lebens und als soteriologische Notwendigkeit greifbar. 29 Vor diesem Hintergrund entwickelt Menzies die These, im frühesten Christentum hätten sich unabhängig voneinander drei differente Geistkonzepte herausgebildet: zum einen die durch das Damaskuserlebnis inspirierte und unter dem Einfluss der eben genannten jüdischen pneumatologischen Sondertradition (Weish, 1QH) ausgeformte soteriologische Pneumatologie des Paulus, in welcher dem Geist laut Menzies erstmals im frühen Christentum soteriologische Funktion zukam, die aber in den nichtpln. Teilen der frühen Kirche ohne Resonanz blieb; zum zweiten die konsequent in der klassischen jüdischen Tradition verankerte prophetische Pneumatologie des Lukas, welche die Verleihung des Geistes jenseits soteriologischer und charismatischer Implikationen primär als prophetische Befähigung zur Bezeugung Christi im Rahmen der Mission fasste; und drittens die charismatische Pneumatologie der übrigen, bei Mk und Mt sowie in der Logienquelle verarbeiteten frühen christlichen Tradition, die wie Lk durch die jüdische Vorstellung des Geistes der Prophetie geprägt war, den Geist aber, den Spuren Jesus folgend, darüber hinaus als Quelle wunderwirkender Kraft profilierte. 30 Die dargelegten Thesen von Schweizer und Menzies blieben nicht ohne Widerspruch. Namentlich Max Turner wandte sich in mehreren Publikationen gegen die Verengung der frühjüdischen Geistvorstellung auf die kognitiven Momente der Offenbarung, Weisheitsvermittlung und inspirierten Rede. 31 Turner betont, es widerspreche dem Quellenbefund, die frühjüdischen Geistvorstellungen in ein eng definiertes Konzept des »Geistes der Prophetie« zu pressen, aus dem charismatische Machttaten und ethische Effekte rundweg ausgeschlossen seien. Mit Blick auf die charismatische Dimension macht Turner geltend, dass die Septuaginta den Geist mehrfach als Quelle diverser Wunder- und Krafttaten ausweise (Ri 14,6.19; 15,14; 3Kön 18,12; 4Kön 2,16; Ez 2,2; 3,12 u.ö.), dass der Geist im 2Bar (21,4; 23,5) und 4Esr (6,39-41) als Wundermacht der Schöpfung und der Auferstehung erscheine und dass im Liber Antiquitatum Biblicarum (27,9f.; 36,2), bei Josephus (Ant 8,408) wie auch in der sich an Jes 11,1- 4 festmachenden frühjüdischen messianischen Tradition (1Hen 49,2f.; PsSal 17,37; 1QSb 5,24f.; 4Q521 u.ö.) ein charismatisches Verständnis des Geistes greifbar werde. Mit Blick auf die ethische Dimension beruft sich Turner u.a. auf die lebenstransformierende Kraft des Geistes in den Qumranschriften, aber auch auf die Rede vom Geist im Kontext der Thematisierung von Gerechtigkeit in der schon erwähnten, an Jes 11,1-4 anknüpfenden messianischen Tradition (PsSal 17,37; 18,7; 1Hen 49,2f.; 62,1f. u.ö.). Matthias Wenk, ein Schüler Turners, stellte die ethische und auch soteriologische Dimension des Geistes im Frühjudentum in einer neuerlichen Sichtung des jüdischen Quellenmaterials in seiner Dissertation zum lukanischen Geistverständnis nochmals nachdrücklich heraus. 32 Turner und Wenk zeigten in ihren Arbeiten dergestalt überzeugend auf, dass es nicht angeht, dem im Frühjudentum primär prophetisch geprägten Geist charismatische und ethische Qualitäten abzusprechen und frühjüdische Aussagen über die soteriologische Funktion des Geistes als Sonderfall zu deklarieren, um das Wirken des Geistes so ganz auf die Übermittlung von Weisheit, Offenbarung und inspirierter Rede im Sinne eines donum superadditum zu reduzieren. Damit schufen sie die Grundlage für eine deutlich breitere Verankerung der ntl. Pneumatologien im frühjüdischen Geistverständnis. Allerdings sei notiert, dass Turner just das autoritative geistinspirierte Predigen im lukanischen Werk, das Schweizer und Menzies als entscheidenden Reflex des jüdischen Verständnisses des Geistes der Prophetie ausmachten, nicht im Frühjudentum vorgebildet sieht. 33 3.3 Griechisch-römischer Geist In vielfältiger Weise ist auch in der griechisch-römischen Literatur vom pneuma (bzw. spiritus) die Rede. Eine detaillierte Darstellung der griechisch-römischen Pneumavorstellungen ist an dieser Stelle nicht möglich. 34 In aller Kürze sei aber darauf verwiesen, dass die stoische Philosophie dem pneuma eine wichtige Rolle in der Kosmologie und Anthropologie zuschrieb. Man bestimmte das pneuma dort als in stofflicher Hinsicht tragendes Prinzip der gesamten materiellen Wirklichkeit und aller Lebensäußerungen des Menschen (Chrysipp, fr 473; Alexander Aphrodisiensis, De mixtione 216,14). 35 Der letztgenannte anthropologische Gesichtspunkt spielte auch in der antiken Medizin eine wichtige Rolle. Ärzte definierten das pneuma als elementare Lebenssubstanz des Menschen, dessen Zen- 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 7 Neues Testament aktuell 8 ZNT 25 (13. Jg. 2010) trum sie je nach Schulzugehörigkeit auf unterschiedliche Weise im Gehirn bzw. im Herzen verorteten. 36 Neben der Deutung als generelles Lebensprinzip in allen Dingen und Menschen konnte das pneuma speziell auch mit dem Phänomen der Inspirationen in Verbindung gebracht werden. Dies gilt im Besonderen für Pythia, die Priesterin in Delphi, deren Orakeltätigkeit man auf ein mantisches pneuma zurückführte. Dabei dachte man offenbar weniger an eine direkte ekstatische Eingebung denn an eine materielle, gasförmige Substanz, die angeblich aus der Erde hervortrat und zur Inspiration der Priesterin führte (Plutarch, DefOrac 432D; Strabon, Geogr 9,3,5; Cicero, Divin 1,79.115). 37 Nicht unerwähnt darf bleiben, dass die Stoa das Wesen Gottes als pneuma bestimmte (Aëtios 1,7,33; Origenes, Cels 6,71,4-12). Vor diesem Hintergrund konnte Seneca die Vorstellung der Immanenz Gottes im Menschen (»Gott ist dir nahe, er ist mit dir, ist in dir«) mit folgender bemerkenswerter Aussage kommentieren: sacer intra nos spiritus sedet (EpMor 41,1f.: »ein heiliger Geist wohnt in uns«). 38 Griechisch-römische Pneumavorstellungen dieser und anderer Art wurden auf unterschiedliche Weise in der jüdischen Literatur rezipiert, sei es, dass man sie rundweg übernahm, sei es, dass man sie implizit aufgriff, sie modifizierte oder auch kritisch reflektierte und abwies. In mehreren Beiträgen ist John R. Levison diesen vielfältigen Verarbeitungen in den jüdischen Schriften des 1. Jh.s n.Chr. nachgegangen, 39 und zwar speziell unter Rekurs auf Aussagen über den Geist und die Inspiration bei Philon, Josephus und Pseudo-Philon (Liber Antiquitatum Biblicarum). Levison ermittelt in den Texten der jüdischen Autoren jeweils äußerst komplexe eklektische Synthesen aus jüdisch-biblischen Geistvorstellungen auf der einen und griechisch-römischen Geistkonzeptionen philosophischer und volkstümlicher Prägung auf der anderen Seite. Er gelangt dergestalt zu der Überzeugung, dass es im 1. Jh. n.Chr. kein einheitliches, vermeintlich typisch jüdisches Geistkonzept gab. Kennzeichnend sei vielmehr die Koexistenz verschiedenster, z.T. inkompatibler jüdischer und nichtjüdischer pneuma- und Inspirationsvorstellungen, die selbst im Schriftenkorpus ein und desselben jüdischen Autors begegne. Es drängt sich die Frage auf, ob eine solche hybride, d.h. aus Mischungen entstandene Pneumatologie auch bei ntl. Autoren zu veranschlagen ist. 40 Inwieweit und in welcher Form sind dementsprechend griechisch-römische Vorstellungen in die Pneumatologien ntl. Schriften eingeflossen und/ oder als damaliger Rezeptionshintergrund der Texte ernst zu nehmen? Eine Extremposition, nämlich die einseitige Betonung griechisch-römischer Einflüsse, vertrat während des ersten Viertels des 20. Jh.s Hans Leisegang. Er behauptete zunächst mit Blick auf Philon, dieser verdanke seine Pneumavorstellungen nicht jüdischer Tradition, sondern gänzlich der Philosophie seiner Zeit, die angeblich bestrebt war, einen alten, durch die hellenistischen Mysterienkulte neu belebten Volksglauben durch die Verbindung mit platonischen und stoischen Philosophemen den Gebildeten annehmbar zu machen. Weiter postulierte er, in der solcherweise gänzlich griechisch geprägten philonischen Pneumatologie würden die wichtigsten Bestandteile der vom Christentum weiter ausgebauten »Spekulation vom Heiligen Geist« greifbar. 41 Mit großer Konsequenz verankerte er die Geistaussagen der synoptischen Evangelien demgemäß nicht in der atl.-jüdischen Tradition, sondern in der griechischen Vorstellungswelt der Mystik und korrelierte, um nur ein Beispiel zu nennen, die jungfräuliche Zeugung Jesu (geistbedingte Zeugung eines Kindes) mit Vorstellungen der griechischen Mystik und Mantik (geistbedingte Zeugung von Ideen). 42 Mit solch gewagten Konstruktionen und der völligen Ausblendung der Relevanz atl.-jüdischer Traditionen stieß Leisegang zu Recht auf Ablehnung. 43 Namentlich die in seinen Studien vorausgesetzte hermetische Abschottung jüdischer und griechischer Vorstellungswelten hat sich mit Blick auf die fragliche Zeit als historisch nicht haltbar erwiesen. 44 Gerade deshalb aber stellt sich die Frage nach der Bedeutsamkeit griechisch-römischer Auffassungen über das pneuma für ein angemessenes Verständnis der jüdisch geprägten frühchristlichen Geistvorstellungen umso mehr. Monika Christoph etwa zieht in ihrer rezeptionstheoretisch angelegten Dissertation über Röm 8 ausführlich griechisch-römische Geistkonzepte als »geistesgeschichtliche Assoziationskulisse« der paulinischen Aussagen heran. Im Sinne einer kommunikativen Strategie habe der Apostel die Ausführungen über das pneuma offen und anschlussfähig gehalten, um so auch den nichtjüdischen Adressaten die Möglichkeit zu bieten, diese mit ihrem Kulturwissen und ihren Erfahrungen anzureichern, was die Aufnahmebereitschaft für die paulinische Botschaft befördert hätte. 45 Terence Paige führt indes die Spannungen zwischen Paulus und den Korinthern bezüglich der Bedeutung des Geistes und der Geistgaben auf eine von den Korinthern missverständlich vollzogene Gleichsetzung des die Gemein- »sacer intra nos spiritus sedet« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 8 Christian Strecker Zugänge zum Unzugänglichen ZNT 25 (13. Jg. 2010) 9 schaft befördernden pneuma Gottes mit der griechischen, individualistisch geprägten daimon-Vorstellung zurück. 46 Deutlich weiter gehen einige Exegeten, die postulieren, der Apostel selbst sei griechisch-römischen Vorstellungen gefolgt und habe das pneuma als materielle Entität verstanden. Nach Dale B. Martin war antiken Menschen die uns vertraute Vorstellung von Immaterialität noch fremd, sei doch die Idee einer Dualität von Materialität und Immaterialität erst mit René Descartes aufgekommen. Dementsprechend habe Paulus, wenn er vom pneuma spreche, eine stoffliche Größe im Blick. 47 Troels Engberg-Pedersen weist zwar die erstgenannte These Martins unter Verweis auf Platon zurück, folgt aber Martin im Grundsatz: pneuma markiere bei Paulus tatsächlich eine materielle Entität, die aus den im Himmel zu verortenden kosmischen Elementen Feuer und Luft zusammengesetzt sei, während sarx physische Körper auf der Erde bezeichne, die i.W. aus den beiden übrigen Elementen, Wasser und Erde, bestünden (z.T. aber auch aus Feuer und Luft). Paulus habe seine apokalyptische Weltsicht dergestalt mit Vorstellungen aus der zeitgenössischen philosophischen Kosmologie angereichert. 48 Nach Troy W. Martin spiegeln sich in den paulinischen Geistaussagen konkrete physiologische Vorstellungen der antiken Medizin. Der Empfang des pneuma erfolge hier wie dort über den Mund-Nasen-Raum (Verkündigung), die Poren der Haut (Wassertaufe) oder das Verdauungssystem (Eucharistie). Pneuma gewähre hier wie dort Antrieb, Rationalität, Gesundheit und Leben. 49 Selbstverständlich fehlt es diesbezüglich nicht an kritischen Stimmen. Namentlich Volker Rabens lehnt Thesen, die bei Paulus eine manifeste Materialität des pneuma ausmachen, nachdrücklich ab. 50 Christopher Forbes problematisiert überdies die in der Forschung weithin etablierte Rückführung der in Korinth praktizierten Geistphänomene der Glossolalie und der Prophetie auf griechisch-römische Volksreligiosität, indem er zahlreiche Differenzen herausarbeitet. 51 Hier rückt freilich bereits die religionsphänomenologische Ebene in den Blick. Insgesamt bleibt abzuwarten, wie sich die komplexe religionsgeschichtliche Debatte weiter entwickelt. 4. Religionsphänomenologische und -psychologische Zugänge »Wer am Worte haftet, kann das Leben nicht sehen.« 52 Mit dieser Mahnung richtete sich Hermann Gunkel vor nunmehr über einem Jahrhundert gegen die von ihm als »Fundamentalfehler« erachtete exegetische Praxis, den Begriff pneuma zu untersuchen, ohne die dahinterstehenden pneumatischen Erlebnisse zu beachten. In seiner 1888 in erster und 1909 in dritter Auflage veröffentlichten Studie »Die Wirkungen des heiligen Geistes« ging es ihm dementsprechend darum, die tatsächlichen Erfahrungen des Geistes in der sog. apostolischen Zeit und speziell bei Paulus zu erhellen, und zwar »gegenüber den Modernisierungen ungeschichtlich denkender und rationalistisch beeinflußter Exegeten, die von den ›Wirkungen‹ des pneuma nichts wissen und den ›Geist‹ nur zu einer Abstraktion machen.« 53 Gunkel stellte heraus: »Wir haben es in der Urgemeinde gar nicht mit einer Lehre vom heiligen Geist und seinen Wirkungen zu tun [...] Es handelt sich hier nicht um einen Glaubenssatz [...], sondern es handelt sich dabei um ganz concrete, allen in die Augen fallende Tatsachen, welche Gegenstand täglicher Erfahrung waren, und die man ohne weitere Ueberlegung unmittelbar als geistgewirkt empfand. Diese Erscheinungen machen das Vorhandensein des Geistes in den Augen der Urgemeinde zu einer Tatsache, an der zu zweifeln unmöglich ist.« 54 Vor diesem Hintergrund wies Gunkel den Auslegern gar die Aufgabe zu, sie müssten sich, um die ntl. Geistaussagen angemessen verstehen zu können, auf irgendeinem Weg in den Stand setzen, die tiefen inneren Erfahrungen der frühchristlichen Pneumatiker nachzuempfinden. 55 Den Geist definierte Gunkel dabei als »[d]ie übernatürliche Kraft Gottes, welche im Menschen und durch den Menschen Wunder wirkt«. 56 Für ihn ergab sich daher, dass nur derjenige die pneuma-Lehre etwa des Paulus angemessen verstehe, »der in die Weltanschauung des Supranaturalismus sich hineindenken kann und will«. 57 Gunkels nachdrückliche Akzentuierung der religiösen Erfahrung war bahnbrechend. Bald führten andere Exegeten seinen religionsphänomenologischen Ansatz fort. So ging Heinrich Weinel 1899 den »Wirkungen des Geistes« in der sog. nachapostolischen Zeit nach. Paul Volz widmete sich 1910 den im Alten Testament und der jüdischen Literatur bezeugten Geistwirkungen. 58 Bis heute findet Gunkels 1979 ins Englische übertragene Arbeit als Meilenstein der Erforschung frühchristlicher Geistaussagen Beachtung. Allerdings drängte der Siegeszug der Dialektischen Theologie bzw. der Kerygmatheologie und die Dominanz formgeschichtlicher Fragestellungen das Thema religiöser Geisterfahrungen zwischenzeitlich ins Abseits. Ab den 1970er Jahren erwachte das Interesse an den Geisterfahrungen der frühen Christusgläubigen jedoch von Neuem. Den Startschuss gab James D.G. Dunn. In seiner 1975 publizierten Studie »Jesus and the Spirit« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 9 Neues Testament aktuell 10 ZNT 25 (13. Jg. 2010) ging er den im Neuen Testament reflektierten religiösen und charismatischen Erfahrungen Jesu und der ersten Generation der Christusgläubigen detailliert nach, und zwar - wie er im Vorwort schreibt - in der Überzeugung, »that religious experience is a vitally important dimension of man’s experience of reality«. 59 Mit Blick auf die religiösen Erfahrungen Jesu stellte Dunn heraus, dieser habe sich selbst in einzigartiger Weise als Gottes Sohn und als mit dem eschatologischen Geist gesalbt verstanden. Dieses Selbstbewusstsein habe Jesus gewonnen, weil er im Gebet Gott als Vater erfahren habe und weil er bei seinen öffentlichen Auftritten die effektive Kraft zu heilen und zu exorzieren wie auch die Inspiration zur Verkündigung des Evangeliums als Manifestation des endzeitlichen Geistes Gottes erlebt habe. Auch die frühesten christusgläubigen Gemeinden seien durch und durch charismatisch und enthusiastisch geprägt gewesen. Als Quelle der vielfältigen Geisterfahrungen und -wirkungen hätten sie Jesus erlebt. Ebenso besaßen das Leben des Apostels Paulus und seiner Gemeinden wie auch seine Theologie Dunn zufolge insgesamt eine diversen religiösen Erfahrungen aufruhende pneumatische Prägung. Auch Gordon Fee hebt in seiner 1994 unter dem Titel »God’s Empowering Presence« erschienenen umfangreichen Monographie zur paulinischen Pneumatologie nachdrücklich hervor, der Geist sei für Paulus primär erfahrene Realität gewesen. 60 Die paulinischen Geistaussagen ankerten zwar im Alten Testament und der jüdischen Literatur, doch gehe die Erfahrung des Geistes der besagten literarischen Verankerung voraus. 61 Fee zufolge fasste Paulus den Geist als persönliche Präsenz Gottes auf, und zwar Gottes als einer dreieinigen Realität. Fee bindet dergestalt den Erfahrungsaspekt in eine eminent theologisch-trinitarische Perspektive ein. Auf gänzlich andere Weise unterstreichen Luke Timothy Johnson und John Ashton die Bedeutung religiöser Erfahrungen. 62 Johnson rekurriert auf Edmund Husserls Phänomenologie und Joachim Wachs Definition religiöser Erfahrung, um auf dieser Grundlage die frühchristlichen Phänomene der Taufe, der Glossolalie und der Mahlpraktiken neu zu erhellen. Ashton zieht das auf Geisterfahrungen und ekstatische Kontakte mit Geistern fokussierte religionswissenschaftliche Modell des Schamanismus heran, um Paulus auf neue Weise als Konvertiten, Mystiker, Apostel, Propheten, Charismatiker und Geistbesessenen zu deuten. Verwiesen sei ferner auf Larry W. Hurtado. Er sieht in geistgewirkt erlebten religiösen Erfahrungen einen maßgeblichen Faktor der entscheidenden religiösen Innovation des frühen Christentums, nämlich der im Umfeld des jüdischen Monotheismus überraschend früh aufgekommenen kultischen Verehrung Jesu. 63 Zu nennen ist ferner die 2006 erschienene Studie »Holy Spirit and Religious Experience in Christian Literature ca. AD 90-200« von John Eifion Morgan-Wynne. 64 Die ehedem bei James Dunn abgefasste Dissertation stellt ein update der oben erwähnten Untersuchung von Heinrich Weinel dar. Sie sichtet und erörtert die in der dritten bis fünften christusgläubigen Generation fortbestehende Präsenz von Geisterfahrungen in unterschiedlichen geographischen Räumen (Syrien, Kleinasien, Griechenland, Rom, Südgallien, Nordafrika und Ägypten). Die besagten Geisterfahrungen unterteilt Morgan-Wynne in drei Hauptkategorien, nämlich erstens »God’s presence«, worunter er ekstatische Ergriffenheit, Empfindungen des Numinosen u.ä. zusammenfasst, zweitens »divine illumination«, worunter er Erfahrungen subsumiert, die zu einem tieferen Verständnis der göttlichen Absichten mit Blick auf ein Individuum oder Gemeinschaften führten, und drittens »divine power«, worunter er Phänomene der Bestärkung im ethischen Verhalten und der Entwicklung des Charakters versteht. Ausführlich widmet sich Gerd Theißen in seiner 2007 publizierten »Psychologie des Urchristentums« der »spirituellen Dimension der urchristlichen Religion«. 65 Pneuma sei der Begriff, den das Urchristentum für die ihm eigenen religiösen Erfahrungen geprägt habe. Die Gestalt und Bedeutung der urchristlichen Geisterfahrungen fasst Theißen wie folgt zusammen: »Pneuma begegnet in zwei Varianten: als ständige Ausstattung aller Christen und als Einbruch einer irrationalen Macht in das Leben, d.h. als normal- und grenzreligiöses Phänomen. Der Begriff hat drei Dimensionen: Er bezeichnet eine Kontaktaufnahme mit Gott, die durch Gott selbst ermöglicht wird. Er ist die Kraft der Gemeinschaft, durch die sich Menschen so eng verbunden fühlen wie Glieder eines Leibes. Und er ist Motivation zu einem neuen ethischen Leben.« 66 Die Vielgestaltigkeit der spirituellen Dimension des frühchristlichen Lebens entfaltet Theißen ausführlich und profund unter den Überschriften religiöse Wahrnehmung (Transparenz und Vision), religiöse Emotionen (Furcht und Freude), religiöses Sprechen (Beten und Glossolalie), religiöse Veränderung (Umkehr und Konversion) und religiöse Bindung (Wort- und Wunderglaube). Zu guter Letzt sei Clint Tibbs jüngst erschienene Spezialstudie zu den »Wer am Worte haftet, kann das Leben nicht sehen.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 10 Christian Strecker Zugänge zum Unzugänglichen ZNT 25 (13. Jg. 2010) 11 in 1Kor 12 und 14 beschriebenen Geisterfahrungen erwähnt, die explizit einen erfahrungsbezogenen Ansatz verfolgt. Tibbs postuliert, Paulus thematisiere in den genannten Kapiteln eine über menschliche Medien vollzogene Kommunikation mit der Geisterwelt. 67 Angesichts all dieser erfahrungsorientierten Untersuchungen der ntl. Geistaussagen ist Gunkels Monographie, die diesen Zugang eröffnete, mit Recht als »watershed publication« zu bezeichnen. 68 Kritik an Gunkel und der phänomenologischen Deutung der ntl. Geisterfahrungen insgesamt blieb freilich nicht aus. So betont Anthony C. Thiselton mit Blick auf die paulinischen Ausführungen zu den Charismen in 1Kor 12 und 14, es wäre verfehlt, hier den Fokus auf die religiöse Erfahrung zu legen »rather than on the generosity of God’s sovereign gift of himself in a variety of ways«. 69 Die gründlichste Kritik an Gunkels phänomenologischem Deutungsansatz formulierte Friedrich Wilhelm Horn in seiner 1992 unter dem Titel »Das Angeld des Geistes« publizierten Habilitationsschrift. Neben exegetischen Einwürfen und berechtigten Anfragen an Gunkels Plädoyer, man müsse sich in den Pneumatiker einfühlen, 70 formulierte Horn folgenden prinzipiellen Einwand gegen die phänomenologische Deutung der ntl. Geistaussagen: Er moniert, dass bei diesem Ansatz mit einem verfehlten positivistischen Erfahrungsbegriff gearbeitet werde. Es sei generell problematisch, von der Aussageebene auf die Erfahrungsebene zu schließen. Dabei bleibe die Interdependenz von Wahrnehmung und Interpretation unberücksichtigt. Ein positivistischer Einsatz bei den Tatsachen verbiete sich mithin, weil es keine uninterpretierte Erfahrung gäbe. Horn gelangt so zu der These, dass die in den pln. Schriften wiederholt formulierte »Behauptung des Geistbesitzes primär eine theoretische Folgerung urchristlicher Theologie« 71 sei, die sich just aus jener besagten Interdependenz von Wahrnehmung und Deutung ergebe. Horn räumt folglich nicht der Erfahrung, sondern der theologischen Lehre den Primat ein. In der Tat ist Vorsicht geboten, wenn man von ntl. Texten ungebrochen auf dahinterliegende Erfahrungswelten zurückschließen will, werden dergestalt doch leicht literarische, theologische, apologetische und andere Motive der vermeintlichen Tatsachenberichte ausgeblendet. Hinzu kommt, dass Erfahrungen zweifelsohne nicht einfach rundweg von ihrer Deutung respektive einem sie tragenden Diskurs zu trennen sind. Das Verhältnis von »Erfahrung« und »Deutung/ Diskurs« ist indes mit komplexen philosophischen Problemen verbunden, die hier nicht erörtert werden können. Man wird aber fragen müssen, ob Horns Relativierung der Tragweite frühchristlicher Geisterfahrungen zugunsten einer Betonung der theoretischen Dimension nicht doch überakzentuiert ist. So fällt es schwer, etwa die pln. Aussagen in 1Thess 1,5 und Gal 3,1-5 als i.W. theologische Bekundungen jenseits konkreter Geisterfahrungen zu verstehen. Auf dieser Linie wies Volker Rabens in einer detaillierten Replik darauf hin, dass zwar bestimmte religiös-dogmatische Aussagen, etwa: »Gott ist omnipräsent«, selbstverständlich ohne Erfahrungsbezug formuliert werden könnten, dass aber die theologische Behauptung der persönlichen Widerfahrnis eines bestimmten Vorgangs oder Ereignisses bei gleichzeitigem Fehlen eines entsprechenden persönlichen Erlebens problematisch sei. Zudem lasse sich die frühchristliche Überzeugung, der endzeitliche Geist sei ausgegossen worden, letztlich nur schwer von entsprechenden Machterweisen und Geistgaben abkoppeln und rundweg auf die Formulierung religiöser Theorie reduzieren. 72 Ein besonnener phänomenologischer, erfahrungsbezogener Zugang zu den ntl. Geistaussagen ist daher durchaus sinnvoll und angezeigt. 73 Sozialgeschichtliche und kulturanthropologische Studien unterstreichen dies auf ihre Weise. 5. Sozialgeschichtliche und kulturanthropologische Zugänge Sozialgeschichtliche und kulturanthropologische Zugänge erweitern den Kanon der klassischen Methoden der ntl. Wissenschaft dahingehend, dass sie gezielt den komplexen sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Faktoren nachgehen, die die Welt der biblischen Texte bzw. deren Autoren und Rezipienten maßgeblich prägten. 74 Hier öffnet sich ein äußerst weites Untersuchungsfeld. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf die Besprechung einiger ausgewählter Thesen zur dämonischen Besessenheit im Neuen Testament, 75 nämlich deren Deutung als symbolische Akte politischen Widerstands, als veränderte Bewusstseinszustände und als Performanzen. Etliche sozialgeschichtliche Studien weisen den im Neuen Testament mehrfach bezeugten Fällen dämonischer Besessenheit und den Exorzismen Jesu eine emi- »In der Tat ist Vorsicht geboten, wenn man von ntl. Texten ungebrochen auf dahinterliegende Erfahrungswelten zurückschließen will« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 11 Neues Testament aktuell 12 ZNT 25 (13. Jg. 2010) nent politische Bedeutung zu. Dies geschieht zumeist auf der Grundlage strukturfunktionalistischer Überlegungen, wie sie klassisch Ioan M. Lewis in seiner 1971 in erster und 2003 in dritter Auflage erschienenen Studie »Ecstatic Religion« formulierte. 76 Lewis unterscheidet darin zwischen peripherer und zentraler Besessenheit. Unter peripherer Besessenheit versteht er eine Form des indirekten Widerstands unterdrückter Gruppen (vor allem von Frauen) gegen die Mächtigen, die deren Überlegenheit indes nicht wirklich bedroht. Geprägt wird sie von marginalen Geistern, die der Moral der Gesellschaft entgegenstehen. Zentrale Besessenheit begegnet hingegen im Rahmen der offiziellen Verehrung von Göttern oder auch Ahnen, die die öffentliche Moral verkörpern und/ oder stützen. In beiden Fällen wird Besessenheit gezielt auf das Moment der Funktionalität innerhalb der gesellschaftlichen Ordnung hin betrachtet. Auf dieser Linie deuten nicht wenige sozialgeschichtliche Exegeten die im Neuen Testament geschilderten Besessenheitsfälle und Exorzismen Jesu im Sinne peripherer Besessenheit als symbolisches politisches Protestverhalten gegen die damals herrschende koloniale Unterdrückung Palästinas durch die Römer bzw. als subversive Praxis der sozial Marginalisierten. Vertreter dieser Position sind John Dominic Crossan, Richard A. Horsley, Paul W. Hollenbach, Santiago Guijarro und hierzulande Gerd Theißen. 77 Auf die unterschiedlichen Akzente, die die Genannten in ihren Auslegungen setzen, kann hier nicht näher eingegangen werden. Selbstverständlich ist dieser Deutungsansatz nicht unumstritten. Kritiker werfen u.a. ein, die Grundvoraussetzung dieses Erklärungsmodells habe damals nicht vorgelegen, nämlich eine massive politische Unterdrückung der Bevölkerung, 78 eine These, die freilich ihrerseits umstritten ist. 79 Ein anderer, in der jüngeren Exegese wiederholt beschrittener Weg zur Deutung der besagten Phänomene ist die Heranziehung der von Erika Bourguignon entwickelten Theorie veränderter Bewusstseinszustände (altered states of consciousness = ASC). Den Ausgangspunkt dieser Theorie bildet eine breit angelegte statistische Untersuchung, die Bourguignon in den Jahren 1963-1968 an der Ohio State University leitete. Auf der Basis des »Human Relations Area File«, einer umfangreichen Sammlung ethnographischen Datenmaterials, wurden in der Studie 488 Gesellschaften, die sich über alle Erdteile erstrecken, auf das Vorkommen von mehr oder weniger institutionell geprägten veränderten Bewusstseinszuständen hin untersucht. Es ergab sich, dass in 437 der überprüften Gesellschaften ein mehr oder weniger offizieller Umgang mit veränderten Bewusstseinszuständen nachweisbar war, wobei 251 Gesellschaften diese Zustände mit Besessenheit von Geistern in Verbindung brachten. Angesichts dieser großen Verbreitung gelangte Bourguignon zu der Überzeugung, veränderte Bewusstseinszustände seien als ein »psychophysisches Vermögen der Spezies« zu verstehen, dessen Nutzung, Institutionalisierung und Prägung kulturbedingt wäre. Auf dieser Grundlage entwickelte sie eine Typologie der kulturellen Klassifizierung bzw. Interpretation der besagten Bewusstseinszustände, die zwischen Besessenheitstrance und Trance als den beiden große Typen der altered states of consciousness unterscheidet. 80 In der Exegese arbeitet John J. Pilch seit geraumer Zeit mit diesem Modell. 81 Unterschiedliche Anwendung speziell auf die ntl. Fälle der Geistbesessenheit finden sich u.a. bei Stevan L. Davies 82 und John Dominic Crossan. Letzterer koppelt das Modell mit dem oben erläuterten politischen Erklärungsansatz. 83 Kritische Stimmen fehlen freilich auch hier nicht. So wird u.a. eingewendet, die exegetische Applikation der Theorie veränderter Bewusstseinszustände projiziere letztlich moderne, individualistisch geprägte psychologische Vorstellungen auf antike Texte und sei daher verfehlt. 84 Vor dem Hintergrund einer generellen Problematisierung sowohl strukturfunktionalistischer wie auch psychologischer und mit dem ASC-Modell arbeitender Deutungen schlägt Christian Strecker vor, die im Neuen Testament berichteten Fälle von Besessenheit als Performanzen zu verstehen. Besessenheit sei ein performatives Interaktionsgeschehen, das einem geprägten kulturellen Muster aufruhe. Die Besessenen aktivierten in dramatischer Form coram publico jenes Rollenmuster, das in ihrer Gesellschaft als Indiz für Besessenheit galt. Die performance des Musters bringe dabei im Sinne eines performativen effet de réel die dämonische Wirklichkeit hervor. Die Exorzismen Jesu deutet Strecker vor diesem Hintergrund als transformances, d.h. »Etliche sozialgeschichtliche Studien weisen den im Neuen Testament mehrfach bezeugten Fällen dämonischer Besessenheit und den Exorzismen Jesu eine eminent politische Bedeutung zu.« »Die performance des Musters bringe dabei im Sinne eines performativen effet de réel die dämonische Wirklichkeit hervor.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 12 Christian Strecker Zugänge zum Unzugänglichen ZNT 25 (13. Jg. 2010) 13 als performative Aufsprengung der besagten dämonischen Wirklichkeit, kraft derer die Identität der Besessenen neu konstituiert, die Platzordnung in der sozialen Arena neu geregelt und die kosmische Ordnung proleptisch neu etabliert werde (Anbruch der Basileia). 85 6. Redaktionskritische Zugänge Die komplexesten Geisttheologien des Neuen Testaments finden sich in den Protopaulinen, im lukanischen Doppelwerk und im johanneischen Schrifttum. Das Gros der ntl. Untersuchungen zum Thema »Geist« ist dem jeweils spezifischen Profil meist einer dieser drei großen Pneumatologien gewidmet. Dies spiegelt sich auch in diesem Heft wider. 86 Es ist nicht möglich, in diesem Überblicksartikel auch nur annähernd der Breite und Vielfalt der Forschungen über die drei Geisttheologien gerecht zu werden. Im Folgenden können nur wenige ausgewählte Fragestellungen, Kontroversen und Positionen kurz angerissen werden. Einige Aspekte kamen bereits in den voranstehenden Darlegungen zur Sprache. Zu Paulus: Seit Langem ist die Frage nach der Eigenart der paulinischen Pneumatologie im Verhältnis zur vorpaulinischen Tradition Gegenstand einer breiten Debatte. 87 Umstritten ist zumal, ob die soteriologische Akzentuierung der Geistaussagen in den Protopaulinen gänzlich auf den Apostel selbst zurückgeht. Robert P. Menzies bejaht dies. Er postuliert, in der vorpaulinischen Pneumatologie sei dem Geist noch keine soteriologische Signifikanz zugekommen. Eine solche begegne erstmals bei Paulus, wobei der früheste Beleg, nämlich 1Kor 2,6-16, zeige, dass der Apostel sich diesbezüglich auf Weish 9,9-18 bzw. entsprechende weisheitliche Traditionen stützte. 88 Menzies wendet sich mit dieser These namentlich gegen Johannes Sijko Vos, der behauptet hatte, bereits in der vorpaulinischen Gemeinde seien Vorstellungen über die Heilsbedeutung des Geistes etabliert gewesen. 89 Max Turner macht indes gegen Menzies geltend, dass die soteriologische Dimension der paulinischen Pneumatologie bereits in 1Thess 4,8 (und 1,4.5.8) und nicht erst in 1Kor 2,6-16 greifbar werde, dass diese dort in der Prophetie Ezechiels und nicht in der Weisheit ankere und dass dem Apostel durchaus Vorstellungen über die Heilsbedeutung des Geistes vorgegeben waren, was sich an dem von Friedrich Wilhelm Horn 90 herausgearbeiteten vorpaulinischen pneumatologischen Formelgut ablesen lasse. 91 Wie auch immer man zu diesen Thesen stehen mag, die Frage nach der Eigenart und Originalität der paulinischen Pneumatologie erfordert in jedem Fall eine Sichtung und Bewertung der möglichen Ausgangspunkte und Hintergründe des paulinischen Geistverständnisses. Dazu zählen neben der vielgestaltigen vorpaulinischen Tradition und diversen atl.-jüdischen Aussagen über den Geist auch Geisterfahrungen des Apostels und v.a. sein Damaskuserlebnis. All diese Faktoren werden in der Forschung auf sehr unterschiedliche Weise kombiniert und gewichtet, um vor diesem Hintergrund das spezifische Profil der paulinischen Pneumatologie zu erhellen. 92 Ein weiterer Diskussionspunkt ist die Frage einer möglichen Entwicklung des paulinischen Geistverständnisses. Der diesbezüglich profilierteste Vorschlag stammt von Friedrich Wilhelm Horn. Er postuliert eine Entwicklung in drei Stufen, nämlich von der Frühphase im 1Thess über die Auseinandersetzung mit dem pneumatischen Enthusiasmus im 1Kor bis hin zur Auseinandersetzung mit der judenchristlichen Gegenmission im 2Kor, Gal und Phil. 93 An dieses Entwicklungsmodell wurden selbstredend zahlreiche Anfragen gerichtet. 94 Über die bisher genannten grundsätzlichen Fragestellungen hinaus sind schließlich zahlreiche Einzelprobleme der paulinischen Pneumatologie in der Diskussion, seien es die religionsgeschichtliche Herkunft und die Bedeutung der Antithese von sarx und pneuma, 95 das Verhältnis von Geist und Gesetz, 96 die Rolle des Geistes in der Ethik, 97 die Bestimmung des Verhältnisses des Geistes zum Selbst der Glaubenden 98 u.a.m. Zu Lukas: Auch die Geistaussagen im lukanischen Doppelwerk werfen Fragen auf und sind Gegenstand vieler Kontroversen. 99 Unter Punkt 3.2 wurde die Debatte über das Profil des jüdischen »Geistes der Prophetie«, den maßgeblichen traditionsgeschichtlichen Hintergrund der lukanischen Pneumatologie, bereits dargelegt. An diese Debatte knüpft eine der meistdiskutierten Schlüsselfragen an: Schreibt Lukas dem Geistempfang soteriologische Relevanz bzw. Heilsnotwendigkeit zu oder versteht er die Geistverleihung lediglich als ein donum superadditum, das bereits errettete Christusgläubige für bestimmte Aufgaben zurüstet, v.a. für das Christuszeugnis in der Mission? Auffällig ist, dass Lukas das Heil an keiner Stelle in seinem Werk ex- »Schreibt Lukas dem Geistempfang soteriologische Relevanz bzw. Heilsnotwendigkeit zu oder versteht er die Geistverleihung lediglich als ein donum superadditum [...]? « 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 13 Neues Testament aktuell 14 ZNT 25 (13. Jg. 2010) so als Zurüstung für eine missionarische Aufgabe, die soteriologisch bedeutsam sei. Die volle Umsetzung der Aufgabe werde bei Lukas indes erst mit der Erhöhung Jesu und der Geistverleihung an Pfingsten möglich. Die Missionare erhielten nun vom Erhöhten den Geist der Prophetie als Kraft für die Mission, alle Christen aber als Gabe für den Aufbau der messianischen Gemeinschaft, 105 in der sich jenes neue Leben in der Anbetung Gottes ereigne, das Rettung bedeute und zur endgültigen Rettung hinführe. 106 Eine weitere Debatte kreist um die Frage, ob im lukanischen Werk Veränderungen im Wirken des Geistes vorausgesetzt sind, die verschiedene Heilsepochen markieren. Heinrich von Baer, Hans Conzelmann und James D.G. Dunn bejahen dies und eruieren bei Lukas ein Drei-Epochen- Schema (Zeit Israels, Zeit Jesu, Zeit der Kirche). 107 Andere negieren ein in der Pneumatologie ankerndes Denken in Heilsepochen bei Lukas rundweg. 108 Zu Johannes: Schließlich stellen auch die Geistaussagen der johanneischen Literatur eine exegetische Herausforderung dar. Dies gilt zumal für das Evangelium. Die dort begegnenden pneuma-Aussagen lassen sich in drei Kategorien untergliedern, nämlich vorösterliche Geistaussagen (1,32f.; 3,5-8.34; 4,23f.; 6,63; 7,39; 11,33; 13,21), Ausführungen über den Geistparakleten in den Abschiedsreden (14,16f.26; 15,26f.; 16,7b- 11.13-15) und die Angaben in 19,30 und 20,22. Diese Texte aufeinander abzustimmen, sie in ein mehr oder weniger kohärentes Ganzes einzubinden und dabei das Verhältnis zwischen Geist und Christus genau abzuklären, ist angesichts der vielfältigen Deutungsmöglichkeiten der Aussagen und Begriffe - dies gilt v.a. für den Begriff parakletos 109 - wie auch in Anbetracht der komplexen literarkritischen Fragen, die das Evangelium aufwirft, eine schwierige Aufgabe. Die exegetischen Ausdeutungen der johanneischen Pneumatologie sind dementsprechend vielgestaltig. Felix Porsch etwa erblickt im offenbarenden Wort den hermeneutischen Schlüssel. Die Geistgabe komme bei Johannes als Wortgeschehen zu stehen. Jesus gebe den Geist in seinem Wort. Diese Geistgabe vollziehe sich in zwei Stufen, zum einen im offenbarenden Wort des irdischen Jesus (Joh 3,34; 6,63), zum anderen in der Übermittlung des Geistes nach Jesu Verherrlichung (Joh 20,22). Sinn und Zweck der letztgenannten Übermittlung sei es, Jesu offenbarendes Wort vollauf zu erschließen und zu vertiefen, eine Aufgabe, der sich am Ende der Geistparaklet annehme, worin sich die entsprechenden Verheißungen in den Abschiedsreden erfüllten. 110 Gary M. Burge erschließt die johanneischen Geistaussagen indes konsequent über die Christologie. plizit auf den Geist zurückführt oder direkt an das pneuma bindet. Heilsvorgänge wie die Sündenvergebung oder Wundertätigkeiten stehen bei ihm zumindest in keinem direkten Kausalnexus zum Geistempfang. 100 Andererseits will bedacht sein, dass Lukas den Geistempfang keineswegs nur auf bestimmte missionarische Funktionsträger beschränkt, sondern ihn bei allen Christusgläubigen voraussetzt. In der Forschung begegnen diesbezüglich drei Grundpositionen: 1) James D.G. Dunn argumentiert in seiner 1970 erschienenen Studie »Baptism in the Holy Spirit«, die Geistgabe bilde im lukanischen Werk - wie im frühen Christentum überhaupt - das zentrale Element bzw. den Höhepunkt im Prozess der Christwerdung (»conversion-initiation«). Der Geist initiiere die Glaubenden bei Lukas in das neue Zeitalter, vermittle ihnen das Leben des neuen Bundes und besitze insofern unabdingbar soteriologische Relevanz. Diese im und mit dem Pfingstereignis angestoßene Dynamik sei in der Herabkunft des Geistes auf Jesus bei der Jordantaufe, die den epochalen Eintritt Jesu in das neue Zeitalter und den neuen Bund markiere, archetypisch vorgebildet. 101 In einem jüngeren Beitrag sucht Dunn die soteriologische Relevanz des Geistempfangs konkret an Lk 1,35; Apg 2,38; 10,43-48; 11,14-18; 15,7-9 zu belegen. 102 Er vermag damit aber nur bedingt zu überzeugen. 103 2) Gegen Dunn wandten und wenden pentekostale Exegeten ein, er vollziehe eine unzulässige Angleichung der lukanischen Pneumatologie an die paulinische. Im lukanischen Werk werde der Eintritt in den Bund qua Sündenvergebung nämlich klar von der Gabe des Geistes unterschieden. Letztere diene allein der göttlichen Zurüstung für kirchliche Aufgaben, v.a. für das missionarische Zeugnis, und besitze eben kein soteriologisches Gewicht. Die Jünger erhielten den Geist mithin nicht für sich, also für ihre Rettung und ihr spirituelles Leben, sondern für andere, wie der bereits mehrfach erwähnte Robert P. Menzies, einer der wichtigsten Protagonisten pentekostaler Exegese, betont. 104 3) Max Turner nimmt eine Mittelposition ein. Er tut dies, indem er die soteriologische Dimension der Geistverleihung im lukanischen Werk in eine spezifische heilsgeschichtliche Perspektive einbindet und sie nicht auf das Moment individuellen Heils reduziert. Im lukanischen Werk sei die Schaffung eines neuen Gottesvolkes im Blick. Der jüdische »Geist der Prophetie« erschiene dabei als jene Kraft, die Jesus am Jordan empfing, um Israel in einer Art neuem Exodusgeschehen zu reinigen und wiederherzustellen, was Rettung und ethische Erneuerung einschließe. Der Geist diene 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 14 Christian Strecker Zugänge zum Unzugänglichen ZNT 25 (13. Jg. 2010) 15 Er postuliert eine christozentrische Fundierung der johanneischen Pneumatologie. Johannes konzeptualisiere den Geist als integralen Bestandteil der Person Jesu, der mit seinem Tod bzw. seiner Verherrlichung freigegeben werde. Den Geist zu empfangen bedeute Jesus zu empfangen. Geisterfahrung sei Jesuserfahrung. Die wesentliche Funktion des Geistes bestehe daher in der Ermöglichung der Gemeinschaft mit Christus. Johannes bestimme den Parakleten dementsprechend als christus praesens in der johanneischen Gemeinschaft. Der pneumatisch geprägten johanneischen Gemeinschaft habe der geistgesalbte Christus dabei als Modell gedient. 111 Cornelis Bennema erschließt die johanneische Pneumatologie über die Soteriologie, die er i.W. als weisheitlich geprägt beschreibt. Der Geist schaffe und erhalte als »cognitive agent« eine rettende Beziehung zwischen den Glaubenden und dem Vater wie dem Sohn, und er tue dies durch die Vermittlung lebensspendender, rettender Weisheit, deren Quelle (»source«) Jesus selbst sei. Diese soteriologisch notwendige Weisheitsvermittlung des Geistes vollziehe sich bei Johannes auf je unterschiedliche Weise, sowohl während des irdischen Wirkens Jesu wie auch nach seinem Fortgang. Hier wie dort fungiere der Geist als »power of Saving W/ wisdom«, wobei »Wisdom« (groß geschrieben) für Jesus als inkarnierte Weisheit und »wisdom« (klein geschrieben) für rettendes (kognitives) Wissen steht. 112 Christina Hoegen-Rohls akzentuiert konsequent die nachösterliche Geisterfahrung der Glaubenden als maßgeblichen Deutehorizont johanneischer Theologie (namentlich der Christologie, Gottesauffassung, Ekklesiologie und Eschatologie). Das JohEv stelle eine »Konzeption im Rückblick« dar, welche die nachösterliche Realität in die Darstellung des vorösterlichen Geschehens integriere. Die zentrale nachösterliche Heilserfahrung bestehe bei Johannes darin, »[d]as vorösterliche Wort Jesu nachösterlich durch das vergegenwärtigende und erschließende Wirken des Geistes nachvollzogen und verstanden zu haben« und »das nachösterliche Wort des Postexistenten in der Verkündigung des Geistes mitvollziehen und erkennen zu können«. 113 Tricia Gates Brown erhellt die johanneische Pneumatologie gezielt vor dem Hintergrund der Rolle von Mittlern (broker) im Kontext antik-mediterraner Patron-Klienten-Beziehungen. Der irdische Jesus trete bei Johannes als broker zwischen Gott (dem Patron) und den Gläubigen (den Klienten) auf. Der außerhalb der Abschiedsreden erwähnte Geist verbinde dabei als göttlicher Geist den broker Jesus mit dem göttlichen Bereich und verleihe ihm Legitimität. Jesus vermittle diesen Geist den an ihn Glaubenden weiter, wodurch diese neu geboren und vollauf der Wohltaten Gottes als Patron teilhaftig würden. Bei dem Parakleten der Abschiedsreden handle es sich indes nicht um den christus praesens, sondern um einen weiteren, Jesus subordinierten broker, der nach Jesu Fortgang den Gläubigen Zugang zum verherrlichten Jesus eröffne, der seinerseits weiterhin als broker den Zugang zum Patron Gott und seinen Wohltaten ermögliche. 114 Keine der dargelegten Thesen konnte sich auf breiter Ebene etablieren. Dies liegt nicht zuletzt an dem großen Interpretationsspielraum, den wichtige johanneische Geistaussagen bieten. Ein flüchtiger Blick auf Joh 19,30 und 20,22 soll dies wenigstens andeuten. In Joh 19,30 heißt es über den Moment des Todes Jesu am Kreuz: »er übergab den Geist«. Liegt hier eine Umschreibung des Sterbens Jesu vor? Oder ist die in 7,39 angekündigte Geistgabe an die Christusgläubigen im Blick? Sollte Letzteres der Fall sein, wie verhält sich diese Geistgabe dann zu dem in Joh 20,22 thematisierten Geistempfang der Jünger? 115 Und wie ist Joh 20,22 für sich zu verstehen? Wird hier überhaupt ein realer Geistempfang beschrieben oder geht es um eine Verheißung? Ist Ersteres der Fall, welche Bedeutung kommt dieser Geistvermittlung dann zu? Geht es um die Einlösung der Parakletverheißung? Es fällt allerdings auf, dass in Joh 20,22 weder die Bedingung für das Kommen des Geistparakleten gegeben ist, nämlich der Weggang Jesu (vgl. Joh 16,7; nach 20,22 folgen weitere Begegnungen mit dem Auferstandenen), noch werden im Folgenden die in den Abschiedsreden verheißenen Aktivitäten des Parakleten als eingelöst beschrieben. Bildet der in Joh 20,22 erwähnte Geistempfang der Jünger also eine Vorstufe des erst später folgenden Kommens des Geistparakleten? Sollte dies der Fall sein, wie ist dann die Gabe des Geistes in zwei Schritten näherhin zu verstehen? 116 7. Schlussüberlegungen Es ließen sich selbstverständlich noch weitere Zugänge besprechen. Hierzu zählen narratologische Deutungsansätze, mit denen man insbesondere die lukanischen Geistaussagen deutet. 117 Auch systematisch-theologische Vorstellungen und konfessionelle Prägungen spielen eine wichtige Rolle. Dies zeigt sich zumal bei der Kontroverse über die Frage, ob und inwiefern es angemessen ist, aus den ntl. Geistaussagen, insbesondere den paulinischen und johanneischen, trinitarisches Denken zu erheben. 118 Deutliche konfessionelle Diffe- 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 15 Neues Testament aktuell 16 ZNT 25 (13. Jg. 2010) renzen werden bei der Auslegung der vielgestaltigen lukanischen Angaben zum Verhältnis von Taufe und Geistverleihung greifbar. 119 Pentekostale Exegeten sehen hier die Unterscheidung zwischen Taufe und Geistgabe begründet, 120 James D.G. Dunn pocht vor dem Hintergrund seiner These eines umfassenden Prozesses der Christwerdung (»conversion-initiation«) dagegen auf die prinzipielle Zusammengehörigkeit von Taufe und Geistgabe auch im lukanischen Werk, 121 und katholische Exegeten wie Nikolaus Adler suchten ehedem aus der Samariaperikope (Apg 8,14-17) das Sakrament der Firmung abzuleiten, eine These, die heute kaum mehr vertreten wird. 122 Auf all diese Debatten kann hier nicht mehr eingegangen werden. Auch so dürfte zur Genüge deutlich geworden sein, dass die vielgestaltige ntl. Rede vom Geist ein Thema ist, das die exegetische Forschung ungeachtet der eingangs erwähnten Reserve Bultmanns aus unterschiedlichsten Perspektiven durchaus erkenntnisfördernd zu beleuchten weiß. Allerdings entzieht es sich in seiner Komplexität allen totalisierenden Zugriffen. Die in der ntl. Forschung eröffneten Zugänge zum Thema »Geist« sind insofern Zugänge zu einem in letzter Konsequenz Unzugänglichen. Darin reflektiert sich in gewisser Weise die theologische Bestimmung des Geistes, Zugänge zu Gott/ Christus zu öffnen und dabei doch die letzte Unzugänglichkeit Gottes zu wahren. Anmerkungen 1 R. Bultmann, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung. Nachdruck der 1941 erschienenen Fassung, hg. v. E. Jüngel, München 1985, 17f. (dort z.T. kursiviert). 2 Vgl. B.E. Hinze/ D.L. Dabney, Introduction, in: dies. (Hg.), Advents of the Spirit. An Introduction to the Current Study of Pneumatology, Milwaukee 2001, 11-34: bes. 17-22. 3 Vgl. dazu nur die einschlägigen Sammelartikel »Pfingstbewegung/ Pfingstkirchen« und »Charismatische Bewegung« in der RGG 4 . 4 Vgl. nur J. Moltmann, Der Geist des Lebens. Eine ganzheitliche Pneumatologie, München 1991; M. Welker, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen-Vluyn 1992; s. ferner U. Körtner/ A. Klein (Hg.), Die Wirklichkeit des Geistes. Konzeptionen und Phänomene des Geistes in Philosophie und Theologie der Gegenwart, Neukirchen-Vluyn 2006. 5 Näheres zum Thema im Allgemeinen bei A. Faivre, Esoterik im Überblick. Geheime Geschichte des abendländischen Denkens, Freiburg 2001; K. von Stuckrad, Was ist Esoterik? Kleine Geschichte des geheimen Wissens, München 2004. 6 Vgl. zum Gehirn-Geist-Problem nur G.M. Edelman/ G. Tononi, Gehirn und Geist. Wie aus Materie Bewusstsein entsteht, München 2002; s. auch kritisch zum Thema P. Janich, Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung, Frankfurt a.M. 2009. 7 Vgl. z.B. R. Penrose, Schatten des Geistes. Wege zu einer neuen Physik des Bewusstseins, Heidelberg 1995; R. Kurzweil, The Age of Spiritual Machines. When Computers Exceed Human Intelligence, New York 2000. 8 Vgl. nur die freilich umstrittenen Thesen bei J. Searle, Geist. Eine Einführung, Frankfurt a.M. 2006. 9 Vgl. J. Derrida, Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt a.M. 2004. Jahre zuvor äußerte sich Derrida bereits zum Gebrauch und Nichtgebrauch des Geistbegriffs im Werk Heideggers; vgl. ders., Vom Geist. Heidegger und die Frage, Frankfurt a.M. 1992. 10 G. Vattimo, Jenseits des Christentums. Gibt es eine Welt ohne Gott? München/ Wien 2004, 76. 11 Vgl. nur H.P. Duerr, Traumzeit. Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation, Frankfurt a.M. 1985; ders. (Hg.), Der Wissenschaftler und das Irrationale. Beiträge aus Ethnologie und Anthropologie, Philosophie und Psychologie, 4 Bde., Frankfurt a.M. 1985; K.-P. Köpping/ U. Rao (Hg.), Im Rausch des Rituals. Gestaltung und Transformation der Wirklichkeit in körperlicher Performanz, Münster u.a. 2000. 12 Ausführliche Forschungsüberblicke mit unterschiedlichen Schwerpunkten bieten u.a. R.P. Menzies, The Development of Early Christian Pneumatology with Special Reference to Luke-Acts (JSNT.S 54), Sheffield 1991, 18- 47; F. Bovon, Luke the Theologian. Fifty-Five Years of Research (1950-2005), Waco 2 2006, 225-272.536-541; J. Schröter, Actaforschung seit 1982. V. Theologische Einzelthemen, ThR 73 (2008), 150-196, bes.: 160-167; M. Turner, Power from on High. The Spirit in Israel’s Restoration and Witness in Luke-Acts, Sheffield 1996, 38-79; M. Wenk, Community-Forming Power. The Socio-Ethical Role of the Spirit in Luke-Acts, Sheffield 2000, 13-44; J. Hur, A Dynamic Reading of the Holy Spirit in Luke-Acts (JSNT.S 211), Sheffield 2001, 14- 26; T. Gates Brown, Spirit in the Writings of John. Johannine Pneumatology in Social-Scientific Perspective (JSNT.S 253), London/ New York 2003, 62-74; M. Fatehi, The Spirit’s Relation to the Risen Lord in Paul. An Examination of Its Christological Implications (WUNT II/ 128), Tübingen 2000, 23-45; F. Philipp, The Origins of Pauline Pneumatology. The Eschatological Bestowal of the Spirit upon Gentiles in Judaism and in the Early Development of Paul’s Theology (WUNT II/ 194), Tübingen 2005, 3-25; M. Christoph, Pneuma und neues Sein der Glaubenden. Studien zur Semantik und Pragmatik der Rede von Pneuma in Röm 8, Frankfurt a.M. 2005, 11-27; C. Tibbs, Religious Experience of the Pneuma. Communication with the Spirit World in 1 Corinthians 12 and 14 (WUNT II/ 230), Tübingen 2007, 77-108; V. Rabens, The Holy Spirit and Ethics in Paul. Transformation and Empowering for Religious-Ethical Life (WUNT II), Tübingen 2010. 13 Gesamtdarstellungen der komplexen Rolle des Geistes 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 16 Christian Strecker Zugänge zum Unzugänglichen ZNT 25 (13. Jg. 2010) 17 im Neuen Testament und frühen Christentum bieten M.-A. Chevallier, Souffle de Dieu. Le Saint-Esprit dans le Nouveau Testament, Bd. 1-2, Paris 1978.1990; J.D.G. Dunn, Jesus and the Spirit. A Study of the Religious and Charismatic Experience of Jesus and the First Christians as Reflected in the New Testament, London 1975; G. Montague, The Holy Spirit. Growth of a Biblical Tradition, New York u.a. 1976; J.E. Morgan-Wynne, Holy Spirit and Religious Experience in Christian Literature ca. AD 90-200, Milton-Keynes/ Waynesboro 2006; M. Turner, The Holy Spirit and Spiritual Gifts. In the New Testament Church and Today, Peabody 1998; G.N. Stanton u.a. (Hg.), The Holy Spirit and Christian Origins, FS J.D.G. Dunn, Grand Rapids/ Cambridge 2004; s. ferner J.D.G. Dunn, The Christ and the Spirit II: Pneumatology, Grand Rapids/ Cambridge 1998. Vgl. jetzt auch K. Erlemann, Unfassbar? Der Heilige Geist im Neuen Testament, Neukirchen-Vluyn 2010 und M. Ebner u.a. (Hg.), Heiliger Geist, JBTh 24 (2009). Die Studie von F. Dünzl, Pneuma. Funktionen des theologischen Begriffs in frühchristlicher Literatur (JAC.E 30), Münster 2000 beschränkt sich auf die frühchristliche Literatur im 2. Jh. n.Chr., ohne auf späte ntl. Schriften einzugehen. 14 Vgl. zur folgenden Zusammenfassung den schematischen Überblick bei M.E. Isaacs, The Concept of the Spirit. A Study of Pneuma in Hellenistic Judaism and its Bearing on the New Testament, London 1976, 154-156 und die Ausführungen bei F. Hahn, Theologie des Neuen Testaments II, Tübingen 2002, 262-288; s. auch G. Montague, The Fire in the Word. The Holy Spirit in Scripture, in: B.E. Hinze/ D.L. Dabney (Hg.), Advents of the Spirit, Milwaukee 2001, 35-65. 15 Die im Folgenden in Klammern hinzugefügten Belegstellen beanspruchen keine Vollständigkeit. 16 Vgl. J.D.G. Dunn, Geist/ Heiliger Geist. III. Neues Testament, RGG 4 III (2000), 565-567: 565. 17 Hahn, Theologie II, 267. 18 »Spektrologie« meint die Lehre von Gespenstern, Geistern und Phantomen. Der Begriff stammt von J. Derrida (vgl. Spectres de Marx, Paris 1993, 173.178 Anm. 1). Er wird hier jenseits jener komplexen philosophischen Implikationen gebraucht, die dem Gebrauch des Begriffs bei Derrida immanent sind. 19 Hahn, Theologie II, 262; vgl. ders., Das biblische Verständnis des Heiligen Geistes. Soteriologische Funktion und »Personalität« des Heiligen Geistes, in: C. Heitmann/ H. Mühlen (Hg.), Erfahrung und Theologie des Heiligen Geistes, Hamburg/ München 1974, 131-147: 131. 20 Vgl. nur Montague, Holy Spirit, 3-124; Turner, Holy Spirit, 3-20; Menzies, Development, 52-112; Wenk, Power, 54-118; Hur, Reading, 37-86; Philipp, Origins, 32-120; Fatehi, Relation, 47-163; C.S. Keener, The Spirit in the Gospels and Acts. Divine Purity and Power, Peabody 1997, 6-48; J.S. Vos, Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zur paulinischen Pneumatologie, Assen 1973, 34-73; J.W. Yates, The Spirit and Creation in Paul (WUNT II/ 251), Tübingen 2008, 24-84; s. ferner G.D. Fee, God’s Empowering Presence. The Holy Spirit in the Letters of Paul, Peabody 1994, 904-917. J. Breck, Spirit of Truth. The Holy Spirit in Johannine Tradition, Bd. I: The Origins of Johannine Pneumatology, Crestwood 1991 berücksichtigt zumindest am Rand auch den klassischen griechischen Gebrauch von pneuma. 21 Vgl. nur Fee, Presence, 914f.; Keener, Spirit, 13-16; F.W. Horn, Das Angeld des Geistes. Studien zur paulinischen Pneumatologie (FRLANT 154), Göttingen 1992, 26- 36; V.H. Matthews, Art. »Holy Spirit«, ABD III (1992), 261-280: 263f.; Menzies, Development, 92-96; s. ferner B.D. Sommer, Did the Prophecy Cease? Evaluating a Reevaluation, JBL 115 (1996), 31-47; vgl. zur älteren Forschung nur J. Jeremias, Neutestamentliche Theologie I: Die Verkündigung Jesu, Gütersloh 3 1979, 84-86. 22 Vgl. dazu P. Schäfer, Die Vorstellung vom Heiligen Geist in der rabbinischen Literatur (StANT 28), München 1972, 89-115. Zur Diskussion über die möglichen Gründe der Verfestigung der Vorstellung vgl. Horn, Angeld, 35f. 23 Belege bei Horn, Angeld, 33f. 24 Vgl. Jeremias, Theologie I, 86; Horn, Angeld, 31f. 25 Vgl. J.R. Levison, Did the Spirit Withdraw from Israel? An Evaluation of the Earliest Jewish Data, NTS 43 (1997), 35-57; s. auch Turner, Holy Spirit, 190-192. Die nichtrabbinischen Textstellen wurden bereits von R. Meyer, R. Leivestad, D.E. Aune und F.E. Greenspahn hinsichtlich ihrer Beweiskraft für das besagte Dogma kritisch hinterfragt; s. dazu die Angaben bei Levison, a.a.O., 36 Anm. 13. Horn, Angeld, 28f. sortiert zumindest Ps 74,9; Sach 13,2-6 und Dan 3,38 (Th) als Belege aus, hält aber an dem »Dogma« als einer damals weithin etablierten Theorie fest. 26 Der Gebrauch des Begriffs »Geist der Prophetie« für das vorchristliche Judentum ist freilich insofern anachronistisch, als der Ausdruck erst in den Targumen auf breiter Ebene bezeugt ist. Näheres bei Turner, Power, 86.87f.89f.; Hur, Reading, 25 Anm. 35. 27 E. Schweizer, Art. pneuma ktl. E. Neues Testament, ThWNT VI (1959), 394-449: 407. 28 Vgl. Schweizer, pneuma, 410 mit Anm. 524. 29 Vgl. zum voranstehend Gesagten insgesamt Menzies, Development, 52-112. 30 Vgl. Menzies, Development, bes. 47-49.316-318. 31 Vgl. zum Folgenden Turner, Holy Spirit, 15-20; ders., Power, 82-183. Die nachstehenden Ausführungen bieten lediglich eine Auswahl der Textbesprechungen Turners, der auch Targumim und rabbinische Texte berücksichtigt. 32 Vgl. Wenk, Power, bes. 66-111.117f.; s. auch Keener, Spirit, 6.8-10 über den »Spirit of purification (the ethical function of the Spirit)«. 33 Vgl. Turner, Power, 101-103. Turner betont, dass der Geist der Prophetie im Frühjudentum als Macht begegne, durch die der Charismatiker Weisheit oder Offenbarung erhalte, nicht aber, wie im Christentum, als Macht, durch die er die Offenbarung kommuniziere (vgl. ebd., 102). Das Evangelium ist mithin nicht nur inspirierte, sondern auch inspirierende Rede. 34 Vgl. zum Folgenden und für eine erste Orientierung G. Verbeke, Art. Geist. II. Pneuma, HWP III (1974), 157- 162; A.A. Long/ D.N. Sedley, Die hellenistischen Philo- 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 17 Neues Testament aktuell 18 ZNT 25 (13. Jg. 2010) sophen. Texte und Kommentare, Stuttgart 2000, 342f.; T. Paige, Who Believes in »Spirit«? Pneuma in Pagan Usage and Implications for the Gentile Christian Mission, HTR 95 (2002), 417-436, bes. 420-433 sowie ausführlich H. Kleinknecht, Art. pneuma ktl. A. pneuma im Griechischen, ThWNT VI (1959), 333-357. 35 Vgl. bereits Anaximenes: »Wie unsere Seele, die Luft ist, uns beherrschend zusammenhält, so umfasst auch die ganze Weltordnung Hauch (pneuma) und Luft« (Diehls/ Kranz I, 95). 36 Näheres dazu in aller Kürze bei C. Oser-Grote, Art. Pneuma, in: K-H. Leven (Hg.), Antike Medizin, München 2005, 717f. 37 So Paige, Who Believes, 427-430; anders akzentuiert H.- J. Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums I, Stuttgart u.a. 1995, 153-155. 38 Auch die menschliche Vernunft gründete bei den Stoikern im göttlichen Geist; vgl. Seneca, EpMor 66,12. 39 Vgl. zum Folgenden J.R. Levison, The Spirit in First Century Judaism, Leiden 1997; ders., The Pluriform Foundation of Christian Pneumatology, in: B.E. Hinze/ D.L. Dabney (Hg.), Advents of the Spirit, Milwaukee 2001, 66-84. 40 Levison bejaht dies und verweist dazu auf den Pfingstbericht in Apg 2; vgl. Levison, Foundation, 73-84. 41 Vgl. H. Leisegang, Der Heilige Geist. Das Wesen und Werden der mystisch-intuitiven Erkenntnis in der Philosophie und Religion der Griechen, Leipzig/ Berlin 1919, bes. 241. 42 Vgl. H. Leisegang, Pneuma Hagion. Der Ursprung des Geistbegriffs der synoptischen Evangelien aus der griechischen Mystik, Leipzig 1922, 14-72. 43 Vgl. Horn, Angeld, 23f. Anm. 29; s. auch Paige, Who Believes, 420; Turner, Power, 26-29. 44 Wegweisend war und ist diesbezüglich die Untersuchung von M. Hengel, Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Bewegung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jh.s v.Chr. (WUNT 10), Tübingen 3 1988. 45 Vgl. Christoph, Pneuma. 46 Vgl. Paige, Who Believes, 435. 47 Vgl. D.B. Martin, The Corinthian Body, New Haven/ London 1995, bes. 3-15.21-25.127f.168-174. 48 Vgl. insgesamt T. Engberg-Pedersen, The Material Spirit. Cosmology and Ethics in Paul, NTS 55 (2009), 179- 197; zur besagten Kritik an Martin s. ebd., 182 Anm. 18. 49 Vgl. T.W. Martin, Paul’s Pneumatological Statements and Ancient Medical Texts, in: J. Fotopoulos (Hg.), The New Testament and Early Christian Literature in Greco- Roman Context, FS D.E. Aune (NT.S 122), Leiden 2006, 105-126. 50 Vgl. Rabens, Holy Spirit; s. auch den Beitrag in diesem Heft. 51 Vgl. Chr. Forbes, Prophecy and Inspired Speech in Early Christianity and Its Hellenistic Environment (WUNT 2/ 75), Tübingen 1995. 52 H. Gunkel, Die Wirkungen des Heiligen Geistes nach der populären Anschauung der apostolischen Zeit und der Lehre des Apostels Paulus. Eine biblisch-theologische Studie, Göttingen 3 1909, VI (pneuma dort in griechischen Lettern). 53 Gunkel, Wirkungen, III. 54 Gunkel, Wirkungen, 4 (»Lehre« dort gesperrt). 55 Vgl. Gunkel, Wirkungen, II.57. 56 Gunkel, Wirkungen, 23 (dort gesperrt). 57 Gunkel, Wirkungen, 101. 58 Vgl. H. Weinel, Die Wirkungen des Geistes und der Geister im nachapostolischen Zeitalter bis auf Irenäus, Leipzig/ Tübingen 1899; P. Volz, Der Geist Gottes und die verwandten Erscheinungen im Alten Testament und im anschließenden Judentum, Tübingen 1910. Weitere frühe erfahrungsorientierte Studien von H.B. Swete, E.H. Zaugg, H.W. Robinson und P.G.S. Hopwood bespricht Tibbs, Experience, 86-93. 59 Vgl. J.D.G. Dunn, Jesus and the Spirit, IX. 60 Fee, Presence, XXI: »For Paul the Spirit was an experienced reality«; vgl. auch ebd., 897. 61 Vgl. Fee, Presence, 915. 62 Vgl. L.T. Johnson, Religious Experience in Earliest Christianity, Minneapolis 1998; J. Ashton, The Religion of Paul the Apostle, New Haven/ London 2000. 63 Vgl. L. Hurtado, Religious Experience and Religious Innovation in the New Testament, in: ders., How on Earth Did Jesus Become a God, Grand Rapids 2005, 179-204; ders., Lord Jesus Christ. Devotion to Jesus in Earliest Christianity, Grand Rapids/ Cambridge 2003, 64-74. 64 Vgl. Anm. 13. 65 Vgl. G. Theißen, Erleben und Verhalten der ersten Christen. Eine Psychologie des Urchristentums, Gütersloh 2007, 111-250.541-545.564ff. 66 Theißen, Erleben, 541. 67 Tibbs, Experience, bes. 147ff. 68 So Hurtado, Experience, 181. 69 A.C. Thiselton, The First Epistle to the Corinthians. A Commentary on the Greek Text (NIGTC), Grand Rapids u.a. 2000, 98. 70 Vgl. Horn, Angeld, 14.21f.; zur Kritik an exegetischen Einzelergebnissen Gunkels s. Turner, Power, 24-26. 71 Horn, Angeld, 15. 72 Vgl. V. Rabens, The Development of Pauline Pneumatology. A Response to F.W. Horn, BZ 43 (1999), 161-79: 173; s. grundsätzlich auch J.D.G. Dunn, The Theology of Paul the Apostle, London/ New York 1998, 426-434. 73 Vgl. zum Thema jetzt grundsätzlich F. Flannery u.a. (Hg.), Experientia I: Inquiry into Religious Experience in Early Judaism and Christianity, Leiden/ Boston 2008. 74 Näheres dazu bei Chr. Strecker, Die liminale Theologie des Paulus. Zugänge zur paulinischen Theologie aus kulturanthropologischer Perspektive (FRLANT 185), Göttingen 1999, 13-39. 75 Böse Geister werden im Neuen Testament als daimonia (Mt 8,31: daimones) bezeichnet, können aber auch pneumata genannt werden (Übersicht bei Tibbs, Experience, 311f.). Letzteres geht auf die Übersetzung von ruach mit pneuma in der L XX zurück, die eine Anwendung des griech. Terminus auf personhafte Geistwesen eröffnete; Näheres bei Tibbs, Experience 59f. Anm. 186. 76 Vgl. I.M. Lewis, Ecstatic Religion. A Study of Shamanism and Spirit Possession, London 3 2003. 77 Vgl. J.D. Crossan, Der historische Jesus, München 1994, 417ff.; ders., Jesus. Ein revolutionäres Leben, München 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 18 Christian Strecker Zugänge zum Unzugänglichen ZNT 25 (13. Jg. 2010) 19 1996, 121ff.; P.W. Hollenbach, Help for Interpreting Jesus’ Exorcisms, SBL Seminar Papers 1993, 119-128; R.A. Horsley, Jesus and the Spiral of Violence. Popular Jewish Resistance in Roman Palestine, San Francisco 1987, 188-190; ders., »My Name is Legion«. Spirit Possession and Exorcism in Roman Palestine, in: F. Flannery u.a. (Hg.), Experientia I, Leiden/ Boston 2008, 41-58; S. Guijarro, Die politische Wirkung der Exorzismen Jesu - Gesellschaftliche Reaktionen und Verteidigungsstrategien in der Beelzebul-Kontroverse, in: W. Stegemann u.a. (Hg.), Jesus in neuen Kontexten, Stuttgart 2002, 64-74; G. Theißen, Urchristliche Wundergeschichten. Ein Beitrag zur formgeschichtlichen Erforschung der synoptischen Evangelien (StUNT 8), Gütersloh 6 1990, bes. 229ff. 78 Vgl. S.L. Davies, Jesus the Healer. Possession, Trance, and the Origins of Christianity, New York 1995, 80f., der sich diesbezüglich auf E.P. Sanders beruft und Besessenheit ebd., 81ff. seinerseits statt auf politische auf familiäre Konflikte zurückführt. 79 Die Bewertungen der politischen, sozialen und ökonomischen Situation in Galiläa und Judäa zur Zeit Jesu gehen in der Forschung auseinander. Einerseits postuliert man eine manifeste Krise (so G. Theißen, Die Jesusbewegung. Sozialgeschichte einer Revolution der Werte, Gütersloh 2004, bes. 131-241; R.A. Horsley, Galilee. History, Politics, People, Valley Forge 1995) andererseits eine, gemessen an den üblichen Verhältnissen im Imperium Romanum, relativ normale und stabile Situation (so E.P. Sanders, Sohn Gottes. Eine historische Biographie Jesu, Stuttgart 1996, 33ff.). 80 Vgl. zum Gesagten insgesamt E. Bourguignon (Hg.), Religion, Altered States of Consciousness, and Social Change, Columbus 1973; dies., Possession, San Francisco 1976. 81 Vgl. nur J.J. Pilch, Visions in Revelation and Alternate Consciousness. A Perspective from Cultural Anthropology, Listening 28 (1993), 231-244; ders., Altered States of Consciousness. A ›Kitbashed‹ Model, BTB 26 (1996), 133-138; s. zum Thema generell auch S. Vollenweider, Außergewöhnliche Bewusstseinszustände und die urchristliche Religion, EvTh 65 (2005), 103-117. 82 Vgl. Davies, Jesus, 22ff. 83 Vgl. Crossan, Leben, 119ff. 84 So Horsley, Name, 41f. Neben dieser Fundamentalkritik begegnen auch Einzelkritiken. So problematisiert etwa Brown, Spirit, 205-208 die Anwendung des ASC-Modells speziell auf den johanneischen Geistparakleten, stellt aber die exegetische Verwertbarkeit des Modells grundsätzlich nicht infrage. 85 Vgl. Chr. Strecker, Jesus und die Besessenen. Zum Umgang mit Alterität im Neuen Testament am Beispiel der Exorzismen Jesu, in: W. Stegemann u.a. (Hg.), Jesus in neuen Kontexten, Stuttgart 2002, 53-63. 86 Vgl. die Beiträge von Richard B. Hays zu Paulus und Kristina Dronsch zu Johannes sowie die Kontroverse zwischen Odette Mainville und François Vouga über Lukas in diesem Heft. 87 Vgl. zur älteren Forschungsgeschichte Vos, Untersuchungen, 1-25. 88 Vgl. Menzies, Development, bes. 282-315. 89 Vgl. Vos, Untersuchungen, bes. 144f. 90 Vgl. Horn, Angeld, 62-65. 91 Vgl. Turner, Holy Spirit, 108. 92 Als ein Beispiel sei die jüngere These von Finny Philipp herausgegriffen. Danach gründete das Geistverständnis des Apostels in dem Glauben, dass Gott den Nichtjuden den Geist abseits der Tora gespendet habe. Diese Überzeugung gründe primär in seinem Damaskuserlebnis und sekundär in seinen Erfahrungen als Missionar der Antiochenischen Gemeinde; vgl. Philipp, Origins, bes. 27f.225-227. 93 Vgl. Horn, Angeld, 119-383. 94 Vgl. nur Rabens, Development, 174-179; Turner, Holy Spirit, 105-107; A.J.M. Wedderburn, Pauline Pneumatology and Pauline Theology, in: Stanton u.a. (Hg.), Holy Spirit, 144-156: 145-148. 95 Vgl. nur W.B. Russell III, The Flesh/ Spirit Conflict in Galatians, Lanham u.a. 1997; J. Frey, Die paulinische Antithese von »Fleisch« und »Geist« und die palästinischjüdische Weisheitstradition, ZNW 90 (1999), 45-77, bes. 46-48 (Forschungsüberblick). 96 Vgl. E. Reinmuth, Geist und Gesetz. Studien zu Voraussetzungen und Inhalt der paulinischen Paränese, Berlin 1985; J.A. Bretone, The Law and the Spirit. Experience of the Spirit and Displacement of the Law in Romans 8,1-16, New York 2005. 97 Vgl. Rabens, Holy Spirit (mit Forschungsüberblick); A. Munzinger, Discerning the Spirits. Theological and Ethical Hermeneutics in Paul (MSSNTS 140), Cambridge 2007. 98 Vgl. S. Vollenweider, Der Geist Gottes als Selbst der Glaubenden. Überlegungen zu einem ontologischen Problem in der paulinischen Anthropologie, ZThK 93 (1996), 163-192; Chr. Landmesser, Der Geist und die christliche Existenz. Anmerkungen zur paulinischen Pneumatologie im Anschluß an Röm 8,1-11, in: Körtner/ Klein (Hg.), Wirklichkeit, 129-152. 99 Vgl. die Fragen bei Bovon, Luke, 230 und die kurze Sichtung der Debatten bei Hur, Reading, 23-26. 100 So Schweizer, Art. pneuma, 410; F. Avemarie, Die Tauferzählungen der Apostelgeschichte. Theologie und Geschichte (WUNT 139), Tübingen 2002, 161. Turner, Power, 430 postuliert indes unter Verweis auf Lk 1,35; 4,18-25; 7,21f.; Apg 10,38 eine Verbindung von Geist und Machttaten. 101 Vgl. J.D.G. Dunn, Baptism in the Holy Spirit. A Re- Examination of the New Testament Teaching on the Gift of the Spirit in Relation to Pentcostalism Today, London 1970, bes. 31f.40ff. 102 Vgl. J.D.G. Dunn, Baptism in the Spirit: A Response to Pentecostal Scholarship on Luke-Acts, in: ders., The Christ and the Spirit II: Pneumatology, Grand Rapids/ Cambridge 1998, 222-241. 103 Vgl. die kritischen Ausführungen bei Avemarie, Tauferzählungen, 149-152. 104 Vgl. Menzies, Development, 114-279, bes. 207; s. ferner mit je eigenen Akzenten R. Stronstad, The Charismatic Theology of St. Luke, Peabody 1984; H.M. Ervin, Conversion-Initiation and the Baptism in the Holy Spirit, 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 19 Neues Testament aktuell 20 ZNT 25 (13. Jg. 2010) Peabody 1984; J.B. Shelton, Mighty in Word and Deed. The Role of the Holy Spirit in Luke-Acts, Peabody 1991; s. auch Y. Cho, Spirit and Kingdom in the Writings of Luke an Paul, Milton Keynes 2005. M.W. Mittelstadt, The Spirit and Suffering in Luke-Acts. Implications for a Pentecostal Pneumatology, London/ New York 2004 erweitert als pentekostaler Exeget die Perspektive, indem er das Wirken des Geistes zumal auch im Kontext leidvoller Anfeindungen herausstellt. 105 Die gemeinschaftsfördernde Dynamis des lukanischen Geistes arbeitet Wenk, Power, genauer heraus. 106 Vgl. insgesamt Turner, Power, bes. 428-438; ders., Holy Spirit, 21-56; ders., The Spirit and Salvation in Luke- Acts, in: Stanton u.a. (Hg.), Holy Spirit, 103-116. Anfragen an Turner finden sich bei Avemarie, Tauferzählungen, 154 mit Anm. 129, der selbst eine anders ausgerichtete Mittelposition entwickelt; vgl. ebd., 149.160-164. 107 Vgl. H.v. Baer, Der Heilige Geist in den Lukasschriften (BWANT 39), Stuttgart 1926; H. Conzelmann, Die Mitte der Zeit. Studien zur Theologie des Lukas (BHTh 17), 6 1977; Dunn, Baptism; zu Unterschieden in den Modellen vgl. Hur, Reading, 15 Anm. 8. 108 Vgl. nur Menzies, Development, 130-134; Shelton, Mighty, 24-26.161 (s. aber 92.118f.). 109 Vgl. dazu nur den Forschungsüberblick bei Brown, Spirit, 180-186. 110 Vgl. F. Porsch, Pneuma und Wort. Ein exegetischer Beitrag zur Pneumatologie des Johannesevangeliums (FTS 16), Frankfurt a.M. 1974. 111 Vgl. G.M. Burge, The Anointed Community. The Holy Spirit in the Johannine Tradition, Grand Rapids 1987. 112 Vgl. C. Bennema, The Power of Saving Wisdom. An Investigation of Spirit and Wisdom in Relation to the Soteriology of the Fourth Gospel (WUNT II/ 148), Tübingen 2002. 113 Chr. Hoegen-Rohls, Der nachösterliche Johannes. Die Abschiedsreden als hermeneutischer Schlüssel zum vierten Evangelium (WUNT II/ 84), Tübingen 1996, 309; vgl. insgesamt ebd., 308-312. 114 Vgl. Brown, Spirit, passim. 115 Vgl. die Darstellung der Forschungsthesen bei F.J. Moloney, The Gospel of John (Sacra Pagina 4), Collegeville 2004, 535. 116 Vgl. zu all diesen Fragen und Thesen Turner, Holy Spirit, 89-100; s. auch M. Turner/ G.M. Burge, The Annointed Community. A Review and Response, EQ 62 (1990), 253-268: 255f. 117 Vgl. W.H. Shepherd Jr., The Narrative Function of the Holy Spirit as a Character in Luke-Acts (SBLDS 147), Atlanta 1994; A. Cornils, Vom Geist Gottes erzählen. Analysen zur Apostelgeschichte (TANZ 44), Tübingen 2006 und Hur, Reading. Näheres zur narratologischen Lukasforschung bei Mittelstadt, Spirit, 10 und U. Eisen, Die Poetik der Apostelgeschichte. Eine narratologische Studie (NTOA 58), Fribourg/ Göttingen 2006. 118 Vgl. zum Thema allgemein Hahn, Theologie II, 289- 308; Turner, Holy Spirit, 166-176. Eine trinitarisch geprägte Pneumatologie postulieren für Paulus auf unterschiedliche Weise Fee, Presence, 827-829.839-842 u.ö.; Fatehi, Relation, passim; M.J. Gorman, Cruciformity. Paul’s Narrative Spirituality of the Cross, Grand Rapids/ Cambridge 2002, 63-74; J. Maleparampil, The »Trinitarian« Formulae in St. Paul, Frankfurt a.M./ New York 1995 und für Johannes etwa U. Schnelle, Das Evangelium nach Johannes (ThHK 4), Leipzig 3 2004, 203- 206; A.J. Köstenberger/ S.R. Swain, Father, Son and Spirit. The Trinity and John’s Gospel, Downers Grove 2004. Ablehnend äußern sich u.a. Tibbs, Experience, 62-71; Christoph, Pneuma, 188-191. 119 Vgl. dazu den instruktiven Forschungsüberblick bei Avemarie, Tauferzählungen, 129-138. 120 Vgl. die oben in Anm. 104 genannten Autoren. 121 Vgl. Dunn, Baptism, passim. Zu den pentekostalen Repliken vgl. W. Atkinson, Pentecostal Responses to Dunn’s Baptism in the Holy Spirit: Luke-Acts, Journal of Pentecostal Theology 6 (1995), 87-131. 122 Vgl. N. Adler, Taufe und Handauflegung. Eine exegetisch-theologische Untersuchung von Apg 8,14-17 (NTA 19,3), Münster 1951; s. dazu die Kritik bei Turner, Power, 53-55. 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 20 »Einige Leute behaupten die Bibel zu kennen, aber die Bibel kennt sie nicht.« Ghanaischer Prediger, Kassel 2003 1. Vorbemerkung Es ist so begrüßenswert wie sinnvoll, dass dieses Themenheft der ZNT die Perspektive der Pfingstbewegung in die Diskussion von Geist im Neuen Testament mit einbezieht. 1 Anhänger der Pfingstbewegung sehen sich in Kontinuität mit frühchristlichen Erfahrungen der Präsenz des göttlichen Geistes. Bei aller Kritikwürdigkeit einiger problematisch erscheinender Tendenzen innerhalb dieser allerdings äußerst inhomogenen Bewegung ist es doch wert zu schätzen, dass Pfingstler auf eine Dimension frühchristlicher Erfahrung aufmerksam machen, die im Neuen Testament in vielfältiger Weise als wesentlich für die Entstehung und Verbreitung des christlichen Glaubens bezeugt ist und die gleichzeitig in westlicher Theologie und Kirche der Moderne lange Zeit diskreditiert und teilweise regelrecht ignoriert wurde. Längst aber haben sich die Parameter des weltweiten Christentums verschoben und unsere Version des Christlichen nimmt weltweit mittlerweile eine Minderheitenposition ein, mit der sich zunehmend weniger Menschen auch in unseren Breitengraden identifizieren. In diesem Beitrag werde ich nach einer Skizzierung der Entstehung und Entwicklung der Pfingstbewegung Tendenzen von Bedeutungen, die im westafrikanischen charismatisch durchwirkten Christentum dem Begriff Geist Gottes zugeschrieben werden, darstellen, und zwar im Zusammenhang mit der dort verbreiteten Interpretation des Neuen Testaments. Diese Fokussierung auf Westafrika scheint mir aus zwei Gründen sinnvoll zu sein: a) Bei der allgemeinen Verlagerung des Schwergewichts des Christentums vom Norden in den globalen Süden ist es dort stärker als in anderen Regionen der Welt zu einem enormen Zuwachs von Christen gekommen; übrigens aufgrund eigener »unkontrollierbarer« Initiativen »von unten«, die gleichzeitig mit der mehr oder weniger durchgängigen Charismatisierung des gesamten dortigen christlichen Spektrums einhergegangen sind. b) Aufgrund globaler Migrationsprozesse ist jene Version des Christlichen in Europa und auch in Deutschland angekommen, d.h. in Form von sog. Charismatischen Migrationsgemeinden. 2 Für Deutschland ist mittlerweile mit einer Zahl von etwa eintausend Gemeinden allein westafrikanischer Herkunft zu rechnen, die beinahe sämtlich in den vergangenen zwei Jahrzehnten entstanden sind. Nicht nur in - ferner - weltweiter Perspektive, auch in der Nähe sind die Christen, die in den Migrationsgemeinden ihre Gottesdienste feiern und die Bibel lesen, zu einem nicht mehr zu vernachlässigenden Faktor geworden. So dürften allein in Hamburg mit seinen hier etwa achtzig gezählten afrikanischen Migrationsgemeinden sonntäglich etwa genau so viele afrikanische Christen wie deutsche lutherische die Gottesdienste besuchen. Und wenn Menschen öffentlich Bibel lesen, etwa auf dem Weg zur Arbeit in der S-Bahn, dann handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um Westafrikaner bzw. Westafrikanerinnen. Im Bund freikirchlicher Pfingstgemeinden (BFP) machen afrikanische Migrationsgemeinden mittlerweile etwa 30 Prozent der Mitgliedskirchen aus. Die Bedeutung, die dem Heiligen Geist zuerkannt wird, ist unter charismatischen Christen afrikanischer Herkunft - sei es in Westafrika oder innerhalb der ersten Migrationsgeneration in Europa - weithin identisch und es lassen sich eindeutige Tendenzen aufzeigen. Zweierlei sollte allerdings beachtet werden: a) Es handelt sich hier um eine Momentaufnahme einer sich dynamisch entwickelnden Bewegung. In der Migrationssituation etwa deuten sich bereits erhebliche Verschiebungen im derzeit sich vorbereitenden Über- Zum Thema Werner Kahl Geisterfahrung als Empowerment angesichts der Zerbrechlichkeit menschlicher Existenz. Zur pneumatischen Hermeneutik der Pfingstbewegung am Beispiel des charismatischen Christentums afrikanischer Herkunft ZNT 25 (13. Jg. 2010) 21 »Längst aber haben sich die Parameter des weltweiten Christentums verschoben und unsere Version des Christlichen nimmt weltweit mittlerweile eine Minderheitenposition ein.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 21 Zum Thema 22 ZNT 25 (13. Jg. 2010) gang von der ersten zur zweiten, d.h. in Europa aufwachsenden Generation an. Das betrifft insbesondere die in Westafrika weit verbreitete Angst vor den Attacken lebensschädigender Geistwesen und die damit verbundene Bedeutung, die dem Wirken des Heiligen Geistes zuerkannt wird. Die Intensität dieser Angst nimmt in der zweiten Migrationsgeneration deutlich ab. b) Die hier vorgelegte Darstellung der westafrikanischen Pfingstbewegung unter dem Aspekt des Heiligen Geistes ist nicht repräsentativ für die weltweite Pfingstchristenheit, welche äußerst inhomogen ist und sich in jeweils disparaten Lebenskontexten in Lateinamerika, in Nordamerika, in Asien und in Europa in unterschiedlicher Weise inkulturiert hat. Das Kennzeichen der Pfingstbewegung in Westafrika besteht im Allgemeinen in der besonders starken Akzentuierung der Dämonen abwehrenden göttlichen Wunderkraft, die durch den Heiligen Geist zugänglich geworden ist. Bei dieser Feststellung handelt es sich auch für Westafrika um eine Verkürzung, denn selbstverständlich ist die Pfingstbewegung dort innerhalb des gesamten christlichen Spektrums ausdifferenziert und hier und da lassen sich interessante Schwergewichtsverschiebungen beobachten. 3 Ich versuche in diesem Beitrag, dem Pfingstchristentum in der hier vorgenommenen Fokussierung auf Westafrika als deutscher Nicht-Pfingstler gerecht zu werden, indem ich es möglichst wertneutral und der Binnenperspektive angemessen darzustellen trachte, und ich werde mich an dieser Stelle der Kritik oder Bewertung enthalten. 4 2. Eine kurze Einführung in die Pfingstbewegung Im Jahr 2006 wurde in Atlanta, GA das hundertjährige Jubiläum des Beginns der weltweiten Pfingstbewegung begangen. 2009 folgten in Valparaiso in Chile Feierlichkeiten, in denen auf die Anfänge der Pfingstbewegung vor einhundert Jahren in Lateinamerika zurückgeblickt werden konnte. In der Forschung ist es zwar umstritten, wie bzw. ob überhaupt ein definitiver Ausgangspunkt der Pfingstbewegung in der Moderne festgelegt werden könne, ohne Mythen und damit bestimmte Interessen zu bedienen. 5 Eindeutig sind aber folgende Tatsachen: 6 Bei dem hier zur Diskussion stehenden Phänomen handelt es sich um eine sich rasant ausbreitende Bewegung, die als katalysatorisch wirkenden Kristallisationspunkt bestimmte spirituelle Erlebnisse in einer kleinen, zunächst afro-amerikanischen Gemeinde um den schwarzen Prediger William J. Seymour in Los Angeles (Azusa-Street Mission) voraussetzt. Seymour hatte, wie viele durch die Heiligungsbewegung geprägte Christen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in Orientierung vor allem an der Apostelgeschichte eine sogenannte endzeitliche Ausgießung des Heiligen Geistes ersehnt. Eben dieses wurde in seiner Gemeinde im Jahr 1906 erlebt bzw. bezeugt. Insbesondere die vermeintliche Fähigkeit, sich nach Apg 2 unvermittelt in Fremdsprachen artikulieren zu können, galt als Evidenz der Durchwirktheit mit dem Heiligen Geist. Diese Erlebnisse wurden in den Medien ausführlich beschrieben, mit dem Resultat, dass sich innerhalb weniger Wochen viele, auch internationale Besucher in jener Gemeinde einfanden, von denen wiederum nicht wenige ähnliche Geisterfahrungen machten, sie als grundlegendes persönliches Transformationserlebnis deuteten und unter diesem Eindruck in ihre jeweilige Heimat zurückkehrten, so dass die Pfingstbewegung noch in jenem Jahr in Europa, d.h. zunächst in Norwegen, Fuß fasste, bevor sie von dort bereits 1907 über Hamburg kommend eine Gemeindeversammlung in Kassel erfasste, was damals für einigen Aufruhr im freikirchlichen Bereich und an den Rändern der Landeskirchen sorgte. 7 Aufgrund einer starken missionarischen Deutung jener insbesondere zur Xenolalie befähigenden Geisterfahrungen, die sich wiederum der Lektüre von Apg 2 verdankte, verbreitete sich diese Version des Christlichen in wenigen Jahren über den gesamten Globus, mit dem Resultat, dass in der Gegenwart - also nach einem Jahrhundert - mindestens ein Viertel der Weltchristenheit zum Pfingstchristentum bzw. zur charismatischen Bewegung gezählt wird, und zwar mit weiter anwachsender Tendenz, insbesondere im globalen Süden. 8 Auch die anfängliche Desillusionierung angesichts der Tatsache, dass zu evangelisierende Menschen in fernen Ländern die durch den Geist eingegebenen Fremdsprachen, die die Missionare zu sprechen glaubten, nicht zu verstehen vermochten, tat der Ausbreitung der Pfingstbewegung keinen Abbruch: Die pneumatische Stimmenbegabung konnte - unter Ver- »Das Kennzeichen der P[ngstbewegung in Westafrika besteht im Allgemeinen in der besonders starken Akzentuierung der Dämonen abwehrenden göttlichen Wunderkraft, die durch den Heiligen Geist zugänglich geworden ist.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 22 Werner Kahl Geisterfahrung als Empowerment angesichts der Zerbrechlichkeit menschlicher Existenz Werner Kahl, geb. 1962, erwarb seinen PhD 1992 an der Emory University in Atlanta mit einer Dissertation zur strukturalen Analyse antiker, inklusiver neutestamentlicher Wunderheilungserzählungen. Nach einigen Jahren gemeindepastoraler Tätigkeit war er von 1999 bis 2001 als DFG-Stipendiat zu Feldforschungszwecken in Ghana, um eine ethnologisch informierte Habilitationsschrift zur Interpretation des NT aus westafrikanischer Perspektive zu erarbeiten. Zu jener Zeit war er Dozent für NT an der University of Ghana, von 2002 bis 2004 Vertretungsprofessor für NT an der Universität Kassel. Nach erfolgter Habilitierung seit 2004 Privatdozent an der Universität Frankfurt und seit 2006 Studienleiter an der Missionsakademie in Hamburg. Veröffentlichungen vor allem zur Wunderfrage in Antike und Gegenwart, zum afrikanischen Christentum und zur interkulturellen Hermeneutik. Werner Kahl ZNT 25 (13. Jg. 2010) 23 weis auf andere Passagen der Apostelgeschichte sowie auf 1Kor 12 und 14 - als Glossolalie, etwa als ein Reden in Engelszungen und damit als Erweis der Gegenwart des Geistes Gottes gedeutet werden. Neben die Glossolalie konnten weitere pneumatisch gewirkte Phänomene treten, die ebenfalls die Involvierung des göttlichen Geistes anzuzeigen vermochten. Diese Phänomene können im Allgemeinen als das Unterscheidungsmerkmal des Pfingstchristentums im Vergleich zu anderen Versionen des Christlichen gelten, so dass die folgende Definition von Pfingstbewegung, wie sie der ghanaische Religionswissenschaftler Kwabena Asamoah- Gyadu vorgelegt hat, auch diesem Beitrag zugrunde liegen soll: »Der Begriff Pfingstbewegung bezieht sich auf jene christlichen Gruppierungen, welche die Rettung in Christus als durch den Heiligen Geist bewirkte transformative Erfahrung betonen. In diesen Gruppierungen werden pneumatische Phänomene - u.a. ›Zungenrede‹, Prophezeiungen, Visionen, ›Heilung und spirituelle Befreiung‹ und überhaupt Wunder, welche in historischer Kontinuität mit den Erfahrungen des Frühchristentums, wie sie sich besonders in der Apostelgeschichte finden, gesehen werden - ersehnt, akzeptiert und geschätzt. Mitglieder werden bewusst dazu ermutigt, sich für diese Phänomene zu öffnen, zumal letztere die Gegenwart Gottes und seines Geistes anzeigten.« 9 In ihrer hundertjährigen Geschichte haben sich in der Pfingstbewegung bemerkenswerte Wandlungen vollzogen. Die von der Azusa-Street Mission ausgehenden Impulse führten zu Gemeindegründungen, die sich zu Großkirchen zusammenschlossen, wie die heute zu den klassischen Pfingstkirchen in den USA gezählt werdende Church of God in Christ oder die Assemblies of God Church. Erstere ist mit über 5 Millionen vor allem afro-amerikanischen Mitgliedern die größte Pfingstkirche der USA, gefolgt von der Assemblies of God Church, die sich 1914 aufgrund rassistischer Erwägungen von der Church of God in Christ abspaltete, sich als größte weiße Pfingstkirche der USA etablierte und die heute zusammen mit Assemblies of God Churches in der ganzen Welt die meisten Pfingstler weltweit repräsentiert. Ab den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts machten sich in der römisch-katholischen und in protestantischen Großkirchen zunächst in den USA charismatische Erneuerungsbewegungen bemerkbar. Ab den siebziger Jahren sind als dritter Strang des Pfingstchristentums weltweit unzählige unabhängige neupfingstliche Gemeindegründungen um charismatische Leiter (im doppelten Wortsinn) herum entstanden, von denen einige zu international agierenden Mega- Churches angewachsen sind. All diese kirchlichen Erscheinungen, die in der wissenschaftlichen Forschung zur Pfingstbewegung z.T. noch weiter ausdifferenziert werden, können unter den Begriff pfingstlich-charismatische Bewegung gefasst werden; eine Bewegung, mit der sich weltweit über 500 Millionen Menschen identifizieren. Als gemeinsamer Nenner dieser hier zusammengefassten verschiedenen Formen von Kirche aus ganz unterschiedlichen Regionen der Welt in Geschichte und Gegenwart lässt sich benennen »die Erfahrung des Wirkens des heiligen Geistes und […] die Praxis der Geistesgaben« 10 , und zwar in Orientierung an entsprechenden neutestamentlichen Zeugnissen. Insofern spielen in diesem so fluiden wie dynamisch sich entwickelnden weltweiten Beziehungsgeflecht »in der Gegenwart [wird] mindestens ein Viertel der Weltchristenheit zum P[ngstchristentum bzw. zur charismatischen Bewegung gezählt« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 23 Zum Thema 24 ZNT 25 (13. Jg. 2010) weniger theologische Reflexion und Lehrinhalte als vielmehr Spiritualität und Erfahrung die tragende, Menschen untereinander und sie vorgeblich mit den Frühchristen verbindende Rolle. In der Pfingstbewegung ist es gelungen, auf dieser Grundlage an Erfahrungen und Bedürfnissen von Menschen in äußerst disparaten Lebenskontexten anzuknüpfen. Schon zu Beginn dieser Bewegung dürfte es religionssoziologisch keinen Zufall darstellen, dass es ausgerechnet in der Generation von Afroamerikanern, deren Eltern noch Sklaven waren (bis 1865), zu ersten kollektiven Geisterfahrungen gekommen ist (William J. Seymour lebte von 1870-1922). Hier wirkte offensichtlich die versteckt weitergepflegte Tradition afrikanischer Spiritualität nach, die aufgrund einer Re- Lektüre der Bibel mit frühchristlich bezeugten pneumatischen Erfahrungen, die in den protestantischen Großkirchen wenig Beachtung fanden, in eins gesetzt, als befreiend erlebt und jetzt in den öffentlichen Raum hinein getragen werden konnte. Aus dieser Perspektive erschienen die in den Evangelien, in der Apostelgeschichte und in den Paulusbriefen zuhauf begegnenden Referenzen auf die vielfältige Wirkung des Heiligen Geistes in frühchristlicher Zeit - sei es in der allgemeinen Befähigung zur Evangelisation oder in Bezug auf Heilungswunder, Zungenrede, Traumoffenbarung, Prophetie etc. - weder als beiläufig noch als obsolet, sondern als so wesentlich wie plausibel für einen lebendigen christlichen Glauben, der in der Gegenwart relevant ist. Seymour etwa sah im Kontext einer durch Rassendiskriminierung gespaltenen und beschädigten Gesellschaft die durch den Heiligen Geist gewirkte »Zungenrede als ein Zeichen an, mit dem Gott die Menschen Gottes dazu bringt, Grenzen zu überwinden: ›Gott macht keinen Unterschied zwischen den Nationalitäten; Äthiopier, Chinesen, Inder, Mexikaner und andere Nationalitäten beten gemeinsam an.‹« 11 Die Taufe mit dem Heiligen Geist erfüllt nach Seymour die Gläubigen mit göttlicher Liebe, welche sie in barmherzige Menschen verwandelt - »Göttliche Liebe, die sich als Barmherzigkeit erweist. Barmherzigkeit ist der Geist Jesu.« 12 Die sich daraus ergebende antirassistische Haltung wurde für Seymour im Laufe seines Lebens »sogar zum wichtigsten Zeichen der Geisttaufe.« 13 Nach der Parole »The ›color line‹ has been washed away by the blood« 14 wurden die Gemeindeveranstaltungen in der Azusa-Street Mission ausgerichtet, d.h. in der Zusammenarbeit und im Zusammensein von Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und Herkunft. Das stellte in der damaligen US-amerikanischen Öffentlichkeit eine unerhörte Provokation dar, und ab 1914 war auch die Pfingstbewegung in den USA nach Hautfarbe gespalten. Diese Trennung ist von Seiten der nur weiße Pfingstkirchen umfassenden Pentecostal Fellowship of North America (PFNA) erst im Jahr 1994 auf einer Veranstaltung, die als das »Wunder von Memphis« bekannt wurde, öffentlich bedauert, aufgehoben und durch die Auflösung jener pfingstlerischen Dachorganisation untermauert worden. 3. Geisthermeneutik aus westafrikanischer Perspektive Um die überwältigende Attraktivität der Pfingstbewegung in Westafrika angemessen würdigen zu können, ist es notwendig, sich Folgendes zu vergegenwärtigen: Nach dem in Tradition und primärer Religiosität gründenden Weltwissen von Christen, ist die sichtbare Welt eingebettet in ein unsichtbares Wirkfeld spiritueller Mächte. Damit Leben gelingen kann, ist es unabdingbar, dass dieser Absicht entgegenstehende spirituelle Kräfte abgewendet werden bzw. dass ich mich im Bunde mit einer spirituellen Macht weiß, die mich schützt, indem sie antagonistische Kräfte wie Lokalgottheiten, Ahnengeister, Schadenzauber (»Juju«) oder Flüche in Schach hält bzw. überwältigt. Nach Auskunft der Bibel ist der Schöpfer- und Universalgott - die stärkste spirituelle Kraftquelle im Kosmos - in Jesus den Menschen barmherzig, d.h. zu deren Nutzen nahegekommen. Er steht ihnen im spirituellen Kampf auf Erden - »spiritual warfare« - zur Seite. Aus dieser Perspektive wird insbesondere an den Wunderheilungen, die von Jesus erzählt werden, anschaulich, dass die Präsenz des Heiligen Geistes göttliche Kraft verleiht, die lebensschädigende böse Geister zu vertreiben vermag. Die Wundererzählungen der Apostelgeschichte bezeugen - im Einklang mit entsprechenden Vorhersagen Jesu etwa in Mk 16,9-20 (! ), Apg 1,8 oder auch Joh 20 - die anhaltenden Wirkungen des Heiligen Geistes in der Zeit nach Jesu Auferweckung. Da »Gott derselbe ist, gestern, heute und morgen«, wie »e ›color line‹ has been washed away by the blood.« »Nach dem in Tradition und primärer Religiosität gründenden Weltwissen von Christen, ist die sichtbare Welt eingebettet in ein unsichtbares Wirkfeld spiritueller Mächte.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 24 Werner Kahl Geisterfahrung als Empowerment angesichts der Zerbrechlichkeit menschlicher Existenz ZNT 25 (13. Jg. 2010) 25 Pfingstler nicht müde werden zu zitieren, gilt es als selbstverständlich, dass wie in apostolischer Zeit so auch heute Gott die Seinen mit der Kraft des Heiligen Geistes ausstattet, damit sie in Überwindung antagonistischer Geister ein »Leben in Fülle« (nach Joh 10,10b) genießen können. Der Heilige Geist schafft also eine Verbindung zur lebensspendenden göttlichen Kraftquelle. Das Evangelium von der Nähe Gottes ist in diesem Kontext nicht nur plausibel; es wird als konkret (über- )lebensrelevant erachtet. Das gilt umso dringlicher, als dort die Fragilität menschlicher Existenz ständig vor Augen geführt wird: Eine Krankheit, ein Unfall kann den schnellen Tod bedeuten. Auf diesem Hintergrund wird es verständlich, dass etwa im Krankheitsfall in Anknüpfung an Jak 5 die Salbung praktiziert werden kann, und zwar erstens aufgrund der möglichen dämonologischen Ätiologie jeglicher Krankheit und zweitens aufgrund der Annahme, dass durch die Salbung die Kraft des Heiligen Geistes vermittelt werde, angesichts dessen Dämonen fliehen müssen. Unter diesem dämonologischen Interesse wird Öl in Gottesdiensten »geheiligt«, d.h. mit dem Geist Gottes versehen: »Father, in the name of Jesus, I bring this oil before you. I pray that you sanctify this oil for it to be a channel of the Holy Spirit. I call it done in Jesus’ name, Amen.« 15 Ein Vollzug von Salbung auch jenseits der Heilungsthematik wird insbesondere unter Verweis auf Apg 10,38 sanktioniert: Petrus verweist in einer Rede darauf, wie »Gott Jesus von Nazareth gesalbt hat mit heiligem Geist und Kraft; der ist umhergezogen und hat Gutes getan und alle gesund gemacht, die in der Gewalt des Teufels waren, denn Gott war mit ihm.« Entscheidend an dem Salbungsakt ist die Übertragung der durch den Heiligen Geist gegebenen Wundermacht Gottes. 16 Davon zeugt etwa das folgende Lied: »Anointing fall on me, Let the power of the Holy Ghost Fall on me.« Diese Power dient zum Schutz vor und zur Abwehr von bösen Geistern. Sie bewirke wie zu Lebzeiten Jesu so heute unter den Gläubigen »Wohltaten« und Heilungen derer, »die vom Teufel unterjocht werden« (vgl. Apg 10,38b). So wird von der Salbung im Heiligen Geist aufgrund der Dämonenabwehr die Befriedigung aller möglichen sich in der globalisierten Moderne einstellenden Bedürfnisse erwartet, wie das folgende in einem Salbungsgottesdienst in Accra aufgezeichnete Gebet bezeugt: »Father, In the name of Jesus, I pray That the power of the Holy Spirit Will come mightily upon your people To break every power of the devil On their lives. I cause them to be released From every shackle of the evil one, To release them from their predicament. Cause the one who needs a visa to obtain favour before the consulat, Restore broken marriages, Let the business man or woman flourish And everybody going in for an examination, Let him excel. With the power of the anoiting of the Holy Ghost, I remove every barrier. I call it done In Jesus’ name, Amen.« 17 Da nach traditioneller Auffassung Dämonen, Hexen, Ahnenflüche usw. ein gelingendes Leben zu verhindern vermögen, diese Mächte aber durch die seit Jesus durch den Geist Gottes vermittelte göttliche Wundermacht überwunden werden könnten, besteht unter charismatischen Christen die durch die Lektüre entsprechender Bibelpassagen genährte Zuversicht, dass Hindernisse wie Krankheiten und Misserfolge in allen nur denkbaren Lebenslagen zusammen mit der ihnen zugrunde liegenden dämonischen Ursache zu beseitigen seien. 3.1. Lektürestrategien: Zugänge zur Bibel Die Bibel gilt nach populärem Verständnis durchweg als Wort Gottes, und zwar im wörtlichen Sinn. Als solche wird sie als irrtumsfrei und ohne Widerspruch erachtet. Ihr wird die Würde eines »supreme source of authority« 18 beigemessen, da sich in ihr der allmächtige Gott selbst mitteile. Deshalb dürfe sie weder verändert noch »falsch ausgelegt« werden. Der Bibel als mit Power ausgestattetem Wort Gottes kann eine quasi magische Bedeutung zur Dämonenabwehr zukommen. Davon zeugt das folgende - aus dem Twi übersetzte - Lied: »Das Evangelium von der Nähe Gottes ist in diesem Kontext nicht nur plausibel; es wird als konkret (über-)lebensrelevant erachtet.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 25 Zum Thema 26 ZNT 25 (13. Jg. 2010) »God’s word is like fire (3x) It utterly burns the Devil.« Auf biblischer Grundlage wird gebetet, nach Lebensschutz und nach Lebensorientierung gesucht, und es werden Schwüre getan. 19 Gerne wird sie an einer Stelle »blind« aufgeschlagen, um göttliche Weisung in einer bestimmten Situation zu erhalten. Darin kommt die Subjekthaftigkeit zum Ausdruck, die der Bibel zugeschrieben wird, während sich die Lesenden in der Begegnung mit dem in der Bibel gegenwärtigen Wort Gottes als Objekte des göttlichen Willens begreifen. Diesem Verständnis entspricht ein Zugang zur Bibel, der unter dem Anspruch einer geistgelenkten wörtlichen Interpretation ergeht. Das gilt umso mehr, als sich heutige Rezipienten in der Erwartung, dass sich Gott durch die Bibel direkt an sie wendet, mit den in biblischen Schriften adressierten Subjekten identifizieren. Dieser direkte Zugang zur biblischen Überlieferung wird begünstigt durch tatsächliche wie scheinbare Affinitäten hinsichtlich der Lebensbedingungen und des Wirklichkeitsverständnisses zwischen der biblischen und der gegenwärtigen, westafrikanischen Erfahrung von Welt. Westafrikanischen Christen etwa kann in der Bibel Alten und Neuen Testaments ihre eigene Welt begegnen, insbesondere in spiritueller Hinsicht. Aufgrund dieser Gleichzeitigkeit und der Annahme wie Erwartung, dass Gott sie hier anspricht, ist diesen Christen die Übertragung bestimmter biblischer Erfahrungen und Vorgaben in die eigene Lebenswelt problemlos möglich. Aus dieser Perspektive stellt sich nicht die Problematik eines »Glaubens an die Bibel«. Angemessener ist von einer »spirituality of vital participation« an der biblischen Welt und der der Bibel zuerkannten Wahrheit zu sprechen. 20 Gegenwärtige Erfahrungen der machtvollen und zum Leben gereichenden Präsenz des Geistes Gottes erscheinen wie Aktualisierungen biblischer und insbesondere neutestamentlicher Ereignisse bzw. als deren re-enactment. So konnte eine Evangelisationsveranstaltung in Berlin in der folgenden Erwartung angekündigt werden: »A crusade where miracles take place as in the days of Jesus Christ on earth. The blind see, The cripples walk, The broken hearted is restored, The gospel is preached to all the world. Come and receive from the almighty God.« 21 Heutige Gläubige sehen sich in Kontinuität zur in der Bibel beschriebenen Geschichte Gottes mit seinem Volk. Dabei spielt die Apostelgeschichte eine besondere Rolle, zumal in ihr die Geschichte von den Anfängen der weltweiten Kirche gesehen wird, in deren Tradition sich Christen aus Afrika hineingestellt wissen: So erweist sich etwa für Agyin Asare - Begründer einer Mega-Church in Accra - der Umstand, dass die Apostelgeschichte nicht mit »Amen« endet, als bedeutsam, indiziere dies doch, dass »the Acts of the Holy Spirit have not ceased or did not die with the Apostles«. 22 Die Apostelgeschichte werde fortgeschrieben im Leben der heutigen Gemeinde, d.h. innerhalb des charismatischen Christentums. In diesem Geschehen führen wortgewaltige und charismatische Prediger als »anointed men of God« die Mittlerfunktion der frühchristlichen Apostel fort. Entsprechend kann der pfingstliche Bischof Addae-Mensah mit Petrus und Paulus nach ihrer Darstellung in der Apostelgeschichte verglichen werden: »Hearing and reading what God is doing through him is like reading another volume of the Acts of the Apostles.« 23 Die Lektüre der Bibel selbst ergeht unter dem Eindruck der Präsenz des Heiligen Geistes. Er leitet als »supreme Biblical teacher« die Lesenden an, führt sie hin zu relevanten Passagen und erklärt deren Bedeutung. 24 Für dieses Verständnis berufen sich charismatische Christen auf biblische Vorbilder, insbesondere auf Jesus nach Lk 4,14-18. 3.2. Das Verhältnis von Altem und Neuem Testament in populärer Perspektive Was das Verhältnis der alttestamentlichen zu neutestamentlichen Bezugnahmen in der populären Lektüre anbetrifft, so bestätigt sich wohl im Allgemeinen die in Ghana gemachte Beobachtung von Comi Toulabor: »Il n’y a pas à proprement parler [...] un ›ancien‹ et un ›nouveau‹ testaments, mais un logos unique, indiversible, intemporel et ›mathématiquement‹ exact [...].« 25 Die Bibel in ihren beiden Teilen wird als das eine Wort Gottes erachtet und verehrt. Allerdings lässt sich eine deutliche Präferenz neutestamentlicher Textpassagen und Themen notieren. Das haben Umfragen zum Schriftgebrauch in Ghana und Nigeria der neunziger Jahre eindeutig bestätigt. 26 Worin liegt diese auffällige Vorliebe für das Neue Testament begründet? Justin Uk- »Westafrikanischen Christen etwa kann in der Bibel Alten und Neuen Testaments ihre eigene Welt begegnen, insbesondere in spiritueller Hinsicht.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 26 Werner Kahl Geisterfahrung als Empowerment angesichts der Zerbrechlichkeit menschlicher Existenz ZNT 25 (13. Jg. 2010) 27 pong hat aufgrund von Feldstudien in Nigeria darauf aufmerksam gemacht, dass das Neue Testament in der Perspektive der christlichen Bevölkerung als »more powerful« als das Alte Testament erachtet werde. 27 In der Tat ist mit dem Anliegen, an der göttlichen Wundermacht zu partizipieren, das maßgebliche generelle Lektüreinteresse in Westafrika benannt. Insgesamt gilt: Die Identifikationsmöglichkeit, die das Neue Testament mit seiner scheinbar identischen Kosmologie und insbesondere mit der dort erzählten Überwindung des personifizierten Bösen durch die göttliche Vollmacht - veranschaulicht durch zahlreiche Errettungsbzw. Befreiungserzählungen - bietet, lässt es in populärer Perspektive als weitaus attraktiver als das Alte Testament erscheinen. 3.3. Schlussbetrachtung Im Rahmen der Parameter, die durch die traditionelle Religiosität gegeben sind und im gegenwärtigen charismatischen Christentum stark weiterwirken, wird ein Glaube an Gott so nutzwie sinnlos erachtet, der keine Veränderung der konkreten Lebenssituation erwarten lässt. Eine Präferenz Gottes für die Armen, wie sie exegetisch als theologische Grundannahme insbesondere für das Lukasevangelium nachgewiesen werden kann, verfängt nicht, wenn sie bloß ideell bleibt und sich nicht auch konkret im Leben der Gläubigen manifestiert. Ein Aushalten von Armut und Leid in der Hoffnung auf ein eschatologisches Leben, wie es von den europäischen Missionskirchen, insbesondere aber von den pentekostalen Großkirchen lange Zeit gepredigt worden war, geht an den Plausibilitätsannahmen und Bedürfnissen westafrikanischer Bevölkerungen vorbei. Eine solche Forderung erscheint aus der Perspektive einer in der traditionellen Kosmologie verhafteten charismatischen Lektüregemeinschaft als Zugeständnis an dämonische Mächte und ist deshalb inakzeptabel, da Armut im Allgemeinen auf das Wirken eben dieser Mächte zurückgeführt wird. Attraktiv ist die Botschaft des Neuen Testaments vor allem deshalb, weil es von der Erfüllung der Möglichkeitsbedingung jenes überfließenden Lebens erzählt, die mit der Nähe Gottes aufgrund seiner zum Leben gereichenden Vollmacht in Jesus gegeben bzw. durch den Heiligen Geist vermittelt sei. Da auf diese Weise Gott selbst in Jesus konkret im Weltgeschehen wie im alltäglichen Lebensvollzug als involviert vorgestellt wird, und er an seiner Fülle partizipieren lässt, beschränkt sich die an diese Nähe geknüpfte Erwartung nicht auf ein »bisschen Leben«; sie richtet sich vielmehr auf ein überfließendes Leben, das sämtliche Aspekte menschlicher Existenz betrifft. 28 Deshalb ist im Hinblick auf die populäre Theologie in Westafrika insgesamt aus der Binnenperspektive angemessener von einer »Theologie der Lebensfülle«, die spirituelle Befreiung von bösen Geistern voraussetzt, als von einer »Überlebenstheologie« oder von einem »Reichtumsevangelium« zu sprechen. Bei beiden Letzteren handelt es sich um Spezifizierungen Ersterer. Der Fokus in westafrikanischer Interpretation und Applikation des Neuen Testaments kommt auf der gegenwärtigen, konkreten Lebenserfahrung insbesondere in körperlich-materieller Hinsicht zum liegen, wenn auch nicht unter Ausschluss eines zukünftigen bzw. jenseitigen Heils. 29 Diese körperlich-materielle Zuspitzung der Heilserwartung gründet kontextuell in der bedrängenden Erfahrung körperlichen Unheils (Krankheit) und materiellen Mangels (Armut). Von Jesus als dem mit Wundermacht ausgestatteten göttlichen Lebensretter erwarten diese Christen - vermittelt durch den Heiligen Geist - eine Herauslösung aus jeglichen lebensbedrohenden bzw. -einschränkenden spirituellen Bindungen. Anmerkungen 1 Der Überschrift meines Beitrags ist inspiriert durch den Titel der Ende 2009 an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau eingereichten Habilitationsschrift von M. Fischer, Pfingstbewegung zwischen Fragilität und Empowerment. Das historische, performative und weltumspannende Beziehungsgeflecht um Nzambe-Malamu, dem ich für die Erlaubnis der Lektüre des Manuskripts und der Zitierung aus dem unten angeführten unveröffentlichten Artikel herzlich danke. 2 Vgl. dazu exemplarisch die gerade erschienene Darstellung von C. Währisch-Oblau, The Missionary Self-Perception of Pentecostal/ Charismatic Leaders From the Global South in Europe. Bringing Back the Gospel (Global Pentecostal and Charismatic Studies), Leiden 2009. 3 Vgl. W. Kahl, Jesus als Lebensretter. Westafrikanische Bibelinterpretationen und ihre Relevanz für die neutestamentliche Wissenschaft (Neutestamentliche Studien zur kontextuellen Exegese 2), Frankfurt a.M. 2007, 320-327. 4 Zur Kritik, vgl. Kahl, Lebensretter, 336-342; ders., Prosperity preaching in exegetical perspective: A critical assessment of a contemporary ideology among charismatic »Hearing and reading what God is doing through him is like reading another volume of the Acts of the Apostles.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 27 Zum Thema 28 ZNT 25 (13. Jg. 2010) Christians in, and from, West-Africa, in: Ghana Bulletin of Religion (2007/ 2), 135-162. 5 Vgl. die jüngste Veröffentlichung zum Thema von M. Bergunder, Der »Cultural Turn« und die Erforschung der weltweiten Pfingstbewegung, in: Evangelische Theologie 4/ 69 (2009), 245-269. 6 Zur Geschichte der Pfingstbewegung und zu ihren wesentlichen theologischen Entscheidungen, vgl. J.-J., Suurmond, Word & Spirit at Play. Towards a Charismatic Theology, Grand Rapids/ Michigan 1994; P. Schmidgall, Hundert Jahre Deutsche Pfingstbewegung 1907-2007, Nordhausen 2007. Vgl. auch das wichtige Lexikon zur Pfingstbewegung: S.M. Burgess/ E.M. van der Maas (Hg.), The New International Dictionary of Pentecostal and Charismatic Movements, Grand Rapids/ Michigan 2 2002. 7 Davon gibt Ausdruck die sog. Berliner Erklärung der Gemeinschaftsbewegung aus dem Jahr 1909. 8 Vgl. D.B. Barrett/ G.T. Kurian/ T.M. Johnson, World Christian Encyclopedia: A Comparative Survey of Churches and Religions in the Modern World, New York 2001. 9 J.K. Asamoah-Gyadu, African Charismatics. Current Developments within Independent Indigenous Pentecostalism in Ghana, Leiden 2005, 12 (Übersetzung: W.K.). 10 M. Fischer, Die Geschichte der Pfingstbewegung - ihre Theologie und die Migrationsgemeinden (unveröffentlichter Artikel), 8. 11 F.D. Macchia, Das Reich und die Kraft. Geisttaufe in pfingstlerischer und ökumenischer Perspektive, in: Evangelische Theologie 4/ 69 (2009), 287-299: 296, mit einem Zitat von Seymour aus dem Jahr 1906. 12 Zitiert in: Macchia, Reich, 294. 13 Fischer, Geschichte, 19. 14 Fischer, Geschichte, 19; Übersetzung (W.K.): »Die Trennung nach der Hautfarbe ist durch das Blut (Christi) weggewaschen worden.« Vgl. Suurmond, Word, 12. 15 Ein Gebet des in Ghana bekannten Gründers einer Mega-Kirche, Rev. C. Agyin Asare, tontechnisch aufgezeichnet in Ghana im Dezember 2000. 16 Auch Apg 1,8 wird in dieser Hinsicht als bedeutsam erachtet, so des öfteren als »prooftext« in M. Addae-Mensah, Walking in the Power of God. Thrilling Testimonies about Supernatural Encounters with God, Belleville/ Canada 2000. 17 Rev. Agyin Asare, Dezember 2000. 18 E.K. Larbi, Pentecostalism. The Eddies of Ghanaian Christianity, Accra 2001, 424. 19 Vgl. E. Anum, The Reconstruction of Forms of African Theology: Towards Effective Biblical Interpretation (University of Glasgow: PhD Thesis, 1999), 159 ff. Vgl. für Nigeria J. Ukpong, Popular Readings of the Bible in Africa and Implications for Academic Readings: Report on the Field Research Carried out on Oral Interpretation of the Bible in Port Harcourt Metropolis, Nigeria under the Auspices of the Bible in Africa Project, 1991-94, in: G. West/ M.W. Dube (Hgg.), The Bible in Africa, Transactions, Trajectories, and Trends, Leiden 2000, 582-594: »The bible is used to ward off evil spirits, witchcraft and sorcery, it is placed under the pillow at night to ensure God’s protection against the devil, it is put in handbags and cars when travelling to ensure a safe journey, it is used in swearing to bring God’s wrath upon culprits« (587). 20 Vgl. D.A. Shank, Prophet Harris, The »Black Elijah« of West Africa (Studies of Religion in Africa 10), Leiden 1994, 171. 21 Es handelt sich hierbei um die Einladung der charismatischen Migrationskirche Christian Church Outreach Mission/ Berlin zur Veranstaltung Miracle Explosion 2003 mit dem in Ghana sehr bekannten Evangelisten Rev. Dr. Lawrence Tetteh. 22 C.A. Asare, It is Miracle Time. Experiencing God’s Miracle Working Power, Bd. 2, Accra 1997, 140. 23 So der kalifornische Pfingstler K. Fletcher im Vorwort zum Buch von M. Addae-Mensah, Walking, 11. 24 Larbi, Pentecostalism, 423. 25 C.M. Toulabor, Quand le diable lit la Bible. Nouvelles Eglises, modernité et socialisation à Accra (Ghana), in: F. Constantin/ C. Coulon (Hgg.), Religion et transition démocratique en Afrique, Paris 1997, 27-49: 36. 26 Vgl. Anum, Reconstruction, der eine Präferenz von 77 % des Neuen Testaments gegenüber dem Alten (23 %) festgestellt hat; und Ukpong, der ebenfalls aufgrund von Feldstudien in Nigeria sogar auf eine Präferenz von 83,8 % für das Neue Testament kommt, vgl. E. Anum, Popular Readings of the Bible in Africa and Implications for Academic Readings: Report on the Field Research Carried out on Oral Interpretation of the Bible in Port Harcourt Metropolis, Nigeria under the Auspices of the Bible in Africa Project, 1991-94, in: G.O. West/ M.W. Dube (Hgg.), The Bible in Africa, 582-594: 590. Dem entspricht Harold Turners Erhebung aus den sechziger Jahren in Bezug auf die unabhängigen Aladura-Kirchen in Nigeria, vgl. H.W. Turner, Profile through Preaching - A Study of the Sermon Texts Used in a West African Independent Church, Birmingham 1965; ders., Profile through Preaching: The Use of Scripture as the Criterion of a Church, in: G.K. Hall (Hg.), Religious Innovation in Africa, Boston 1980, 231-244. Die Erhebung von 2000, die meiner Habilitationsschrift zugrunde liegt, kam auf ein Verhältnis von 2: 1 zugunsten des Neuen Testaments, vgl. Kahl, Lebensretter, Anhang 4. 27 Vgl. Ukpong, Popular Readings, 590; so auch C. Omenyo (Pentecost outside Pentecostalism. A Study of the Development of Charismatic Renewal in the Mainline Churches in Ghana, Zoetermeer 2002, 222), der in der »search for God’s power« die eigentliche Motivation der Bibellektüre sieht. 28 Vgl. dazu analog K. Berger (Historische Psychologie des Neuen Testaments, Stuttgart 1991, 113), der hinsichtlich des Frühchristentums beobachtet, dass »die von Jesus verkündete Nähe Gottes auf mindestens drei Ebenen greifbar [ist]: auf der personalen (Eröffnung eines neuen, kindlichen Vertrauensverhältnisses gegenüber Gott), auf der räumlichen Ebene (Wunder als direkter Kontakt mit göttlicher Kraft) und in der zeitlichen Dimension (Naherwartung). Diese drei Ebenen interferieren.« Dass eben auch die Evangelisten Jesus als denjenigen verstanden, der in bestimmter Hinsicht das mit der Reich-Gottes- 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 28 Werner Kahl Geisterfahrung als Empowerment angesichts der Zerbrechlichkeit menschlicher Existenz ZNT 25 (13. Jg. 2010) 29 Nähe einhergehende »überfließende« Leben aktualisiert, davon zeugen die Erzählungen von den überreichen Speisungen (Mk 6,30-44 par. und 8,1-10 par.), der vollständigen Herstellung eines Blinden (Mk 8, 22-26) sowie die Summarien, nach denen Jesus viele, bzw. alle, die zu ihm kamen, heilte (Mk 3,7-12 par.). 29 Dieser Aspekt ist jedoch nach dem Jahrhundertwechsel deutlich in den Hintergrund getreten. Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie: Stefan Alkier Die Realität der Auferweckung in, nach und mit den Schriften des Neuen Testaments Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie, Band 12 2009, XVI, 281 Seiten, €[D] 59,00/ SFr 93,00 ISBN 978-3-7720-8227-6 Das Buch informiert über die neutestamentliche Rede von der Auferweckung Jesu Christi und der Auferweckung der Toten. Dabei bricht es mit der historistischen Verengung des Themas auf die Fragen »War Jesu Grab nach Ostern leer oder nicht? « und »Waren die in 1 Kor 15 erinnerten Schauungen des auferweckten Gekreuzigten psychologisch zu erklärende Einbildungen oder nicht? «. Stefan Alkier erarbeitet eine theologisch und philosophisch begründete Möglichkeit, heute von der Auferweckung der Toten zu reden. Vom gleichen Autor: Stefan Alkier/ Richard B. Hays (Hg.) Die Bibel im Dialog der Schriften Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie, Band 10 2005, 300 Seiten, €[D] 48,00/ SFr 82,50 ISBN 978-3-7720-8098-2 A. Francke Verlag, Tübingen · www.francke.de 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 29 1. Einführung: Eine intertextuelle Annäherung an Paulus’ Rede vom Geist Die neutestamentliche Forschung hat Schwierigkeiten, angemessene Kategorien zu entwickeln, um zu verstehen, wie der Apostel Paulus vom Geist redet. Über beinahe zehn Jahre in den 1980ern und 1990ern, war ich Mitglied einer Arbeitsgruppe von Neutestamentlern der Society of Biblical Literature, die das Thema paulinische Theologie bearbeitete. Wir diskutierten endlos die Bedeutung von Begriffen wie »Rechtfertigung«, »Glaube« und »Gesetz«. Wenn man jedoch auf die Bände mit Beiträgen zurückblickt, die aus dieser Gruppe hervorgingen, dann sieht man, dass wir dem Thema Geist bei Paulus bemerkenswert wenig Aufmerksamkeit schenkten. 1 Hätte Paulus selbst bei einem unserer Treffen vorbeigeschaut und diese distinguierte Gruppe von Neutestamentlern gefragt, ob wir denn die Bedeutung des Geistes in seiner Gedankenwelt bedacht hätten, so vermute ich, dass so mancher von uns mit den verwunderten Jüngern in Ephesus geantwortet hätte: »Nein, wir haben nicht einmal gehört, dass es einen Heiligen Geist gibt! « (Apg 19,2). Diese kleine Übertreibung hilft, den Gegenstand meiner Ausführungen näher zu bezeichnen. Es fällt uns schwer, die paulinische Lehre vom Geist klar zu beschreiben - oder vielleicht ist es präziser, nicht von der paulinische »Lehre« zu sprechen, sondern eher von der paulinischen Rede vom Heiligen Geist, denn der Geist ist fast nie Gegenstand der Lehre des Paulus für seine Gemeinden. Stattdessen scheint er anzunehmen, dass seine Leser schon gründliche Kenntnisse vom Geist besitzen. So hören wir nur Anspielungen: Paulus benutzt Aussagen über den Heiligen Geist, um seine Argumente bezüglich anderer Themen zu stärken. So fordert Paulus etwa von den »unverständigen Galatern«, dass sie nur eine entscheidende Frage beantworten: »Habt ihr den Geist aus Werken des Gesetzes empfangen, oder durch die Verkündigung des Glaubens? « (Gal 3,2). Die Form der Frage setzt voraus, dass der Empfang des Geistes eine derart klare und kraftvolle Erfahrung ist, dass er einen festen Angelpunkt bildet, von dem aus Paulus die nachfolgenden Lehren entwickeln kann. Die Bedeutung jeglicher Erfahrung ist freilich schwer zu greifen: Wir müssen Worte und Konzepte finden, um sie zu interpretieren. In diesem Fall versteht Paulus den Geist als die Erfüllung von Gottes Verheißung an Abraham (Gal 3,14). Aber in welchem Sinn kann der Segen, der Abraham versprochen wird (viele Nachkommen und ein Heimatland [Gen 15,5, 26,5]), identifiziert werden mit der Geisterfahrung von Heiden in einer viel späteren Zeit? Was genau ist der Geist (gr. pneuma), von dem Paulus meint, dass seine Leser ihn empfangen hätten? Ist es eine unpersönliche, übernatürliche Kraft oder Substanz? Und in welcher Beziehung steht er zu Gottes eigener Gegenwart oder zur Person und zum Werk Jesu? Es gibt selbstverständlich Versuche, solche Fragen in gründlicher Weise zu bearbeiten und die verschiedenen Bedeutungen von pneuma in den paulinischen Briefen zusammenhängend darzustellen. 2 Doch haben solche Untersuchungen dem intertextuellen Charakter der paulinischen Rede vom Geist relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Insbesondere hat die Bedeutung des Alten Testaments als der sprachlichen Matrix für Paulus’ Rede vom Geist nur eine recht untergeordnete Rolle in den meisten Studien gespielt. Mein Beitrag wird daher untersuchen, welche Implikationen es hat, über paulinische Pneumatologie von einer intertextuellen Perspektive her nachzudenken. Es ist wichtig, an dieser Stelle eine genaue Bestimmung vorzunehmen. Einer intertextuellen Lektüre von Paulus’ Rede vom Geist ist es nicht einfach nur darum getan, die Quellen der paulinischen Aussagen ausfindig zu machen. Noch wird man sich mit denjenigen Passagen begnügen, in denen Paulus explizit die Schrift zitiert. Stattdessen bietet der intertextuelle Ansatz eine Lektüre, die die paulinischen Briefe in eine dialogische Beziehung mit anderen Texten setzt, von denen wir annehmen können, dass sie zum kulturellen Rahmen (oder zur »Enzyklopädie«) des Paulus selbst und seiner frühen Leser gehörten. 3 Die intertextuelle Lektüre kann z.B. die paulinischen Briefe in ein Entsprechungsverhältnis zu Jesaja - besonders zu Passagen wie Zum Thema Richard B. Hays Intertextuelle Pneumatologie Die paulinische Rede vom Heiligen Geist 30 ZNT 25 (13. Jg. 2010) »Nein, wir haben nicht einmal gehört, dass es einen Heiligen Geist gibt! « (Apg 19,2) 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 30 Richard B. Hays Intertextuelle Pneumatologie Jes 44,2-3 - setzen und untersuchen, ob ein solches Lesen Licht auf die paulinische Rede vom Geist wirft. 4 Weiterhin fragt die intertextuelle Lektüre nach den semantischen Effekten, die entstehen, wenn die beiden Texte im Dialog miteinander gelesen werden. Stefan Alkier formuliert hilfreich: »Von Intertextualität sollte man nur sprechen, wenn das Interesse an der Erforschung von Sinneffekten besteht, die durch die Beziehung mindestens zweier Texte entstehen und zwar von Sinneffekten, die keiner der beiden Texte für sich allein gesehen eröffnet.« 5 Daher heißt, die intertextuelle Pneumatologie bei Paulus zu untersuchen, die metaphorische Auswirkung der poetischen Verschmelzung zweier Diskurswelten zu bedenken (nämlich der des Jesaja im 8. Jh.v.Chr. und der des Paulus im 1. Jh.n.Chr.), oder vielleicht dreier Welten (die unsrige eingerechnet). Natürlich ist die intertextuelle Lektüre prinzipiell nicht auf die Frage beschränkt, wie die neutestamentlichen Autoren Israels Schrift lasen. Man könnte z.B. auch eine intertextuelle Lektüre von Paulus’ Rede vom Geist vornehmen, in der man stoische Texte heranzieht, die von pneuma sprechen. 6 Unsere sehr begrenzte Untersuchung hier kann leider nicht eine umfassende Behandlung aller möglichen Berührungspunkte zwischen Briefen des Paulus und den verschiedenen antiken kulturellen Repertoires leisten. Stattdessen möchte ich eine Stichprobe vornehmen, die einige der Möglichkeiten einer intertextuellen Lektüre paulinischer Pneumatologie aufzeigt. Zu diesem Zweck werde ich mich auf eine einzige paulinische Passage beschränken, die eine starke Konzentration von Bezugnahmen auf den Geist aufweist, nämlich Röm 8. 7 Die intertextuelle Lektüre, die ich hier vorstellen möchte, wird sich auf den intertextuellen Dialog zwischen diesem Text und einigen wenigen alttestamentlichen Schlüsseltexten konzentrieren und dabei auch der Art, in der die alttestamentlichen Texte in anderen jüdischen Schriften der Zeit des zweiten Tempels gehört und angeeignet wurden, Aufmerksamkeit schenken. 8 2. Das Wirken des Geistes in Röm 8 Das Wort pneuma (»Geist«) begegnet nicht weniger als zwanzig Mal in Röm 8. Obwohl der Ausdruck »Heiliger Geist« im ganzen Kapitel nicht benutzt wird, bezieht sich die überwiegende Mehrzahl der Vorkommen von pneuma deutlich auf den »Geist Gottes« (Röm 8,9; im selben Vers auch als »Geist Christi« bezeichnet). Für die Analyse werde ich die eng zusammenhängenden paulinischen Aussagen zum Wirken des Geistes in drei Kategorien einordnen: der Geist gibt Leben, der Geist leitet Gottes Kinder, und der Geist seufzt und tritt ein für uns. In jedem Fall schwingen in Paulus’ Formulierungen reiche Anspielungen an Israels Heilige Schrift mit. 1. Der Geist gibt Leben Die Rolle des Geistes als Lebensspender ist der Grundgedanke von Röm 8, denn hier wird der Geist zuallererst als »Geist des Lebens« eingeführt (8,2). Es ist das »Gesetz« (gr. nomos) des »Geistes des Lebens in Christus Jesus«, das »euch vom Gesetz der Sünde und des Todes Richard B. Hays, Jahrgang 1948, Professor für Neues Testament an der Duke University in Durham, North Carolina, USA. Vorher Associate Professor für Neues Testament an der Yale Divinity School. Sein Forschungsansatz ist interdisziplinär; Hays’ Augenmerk liegt auf der Erarbeitung biblisch-theologischer Fragen mittels literaturwissenschaftlicher Methoden. Sein Hauptforschungsgebiet sind die paulinischen Briefe sowie neutestamentliche Ethik. Veröffentlichungen, zu denen »e Faith of Jesus Christ«, »Echoes of Scripture in the Letters of Paul«, »e Moral Vision of the New Testament«, »First Corinthians (IC)«, »e Letter to the Galatians (NIB)«, »e Conversion of the Imagination» und »Seeking the Identity of Jesus: A Pilgrimage« zählen. Zur Zeit arbeitet Richard B. Hays an einem Buchprojekt über die vier Evangelisten als Interpreten der Schriften Israels. In 2009 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Goethe-Universität, Frankfurt am Main, verliehen. Richard B. Hays ZNT 25 (13. Jg. 2010) 31 »[D]ie intertextuelle Pneumatologie bei Paulus zu untersuchen [heißt], die metaphorische Auswirkung der poetischen Verschmelzung zweier Diskurswelten zu bedenken« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 31 Zum Thema 32 ZNT 25 (13. Jg. 2010) freigemacht hat« - von jener repressiven Gegebenheit, die Paulus gerade zuvor so einsichtsvoll in Röm 7 beschrieben hat. Röm 8,2 ist manchmal so verstanden worden, als wäre hier die Rede von einem noetischen Prinzip eines Lebens in Christus, das Gefangene befreit. Allerdings machen die nachfolgenden Bezugnahmen auf das lebenspendende Wirken des Geistes klar, dass diese Interpretation von Röm 8,2 nicht zutreffend sein kann. Eher ist der Geist, der die geistige Haltung (phronēma) vermittelt, die Leben und Frieden bewirkt (8,6), eine Kraft, die im Gläubigen wohnt (8,9). Weiter: Obwohl der menschliche Körper aufgrund der Sünde tot ist, sagt Paulus nicht, wie wir erwarten würden, dass der menschliche Geist lebendig ist, sondern dass der Geist selbst Leben ist »um [Gottes] Gerechtigkeit willen« (8,10). Dies zeigt, dass man Röm 8,10 nicht im Sinne eines anthropologischen Dualismus missverstehen sollte: Paulus sagt nicht, dass unser menschlicher Geist weiterleben wird, selbst wenn unser Körper stirbt. Dagegen sagt er, dass der Geist Gottes die Kraft des Lebens ist, die unsere Versklavung an den Tod überwindet. Dies wird ganz unmissverständlich im nächsten Satz: Der Geist ist »der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat«, und daher können wir vertrauen, dass dieser selbe Geist auch unsere »sterblichen Leiber lebendig machen« wird (8,11). Dies ist eine vorausgreifende Bezugnahme auf die Auferstehung des Leibes - eine Hoffnung, die Paulus nachdrücklich in 8,23 wiederholt (die »Erlösung unserer Leiber« von der Knechtschaft der Vergänglichkeit). 9 Die lebenspendende Rolle des Geistes wird letztlich durch die endzeitliche Auferstehung des Leibes bestätigt, aber dieselbe Leben vermittelnde Kraft des Geistes ist schon in der Gegenwart wirkmächtig, um Gottes Volk zu formen und zu verwandeln; daher sind sie nicht mehr von der Sünde beherrscht, sondern sind befreit, den gerechten Willen Gottes zu erfüllen, indem sie in der Kraft des Geistes wandeln (8,4). Nirgends in Röm 8,1-11 zitiert Paulus einen Schrifttext oder spielt deutlich darauf an. Dennoch gewinnt seine Darstellung vom Wirken des Geistes ein deutlich schärferes Profil, wenn wir einige alttestamentliche Passagen daneben legen, insbesondere Ez 36,26-28: »Und ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben und will das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben. Ich will meinen Geist in euch geben und will solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wandeln und meine Rechte halten und danach tun. Und ihr sollt wohnen im Lande, das ich euren Vätern gegeben habe, und sollt mein Volk sein, und ich will euer Gott sein.« Im originalen Zusammenhang ist dies ein Wort göttlicher Zusage über die Wiederherstellung Israels nach dem Exil. Gemäß Ezechiels Prophezeiung verunreinigte Israels Ungehorsam das Land und daher richtete Gott sie »nach ihrem Wandel und Tun« und zerstreute sie unter die Völker (Ez 36,16-19). Aber nun erklärt Gott seine Absicht, Israel aus der Diaspora zu sammeln, sie ins Land zurückzubringen und sie zu reinigen (36,22-25). Das Versprechen eines »neuen Geistes« soll dann sicherstellen, dass das Volk Gottes Geboten treu folgen und in einer erneuerten Bundesbeziehung mit Gott leben wird. Es ist interessant, dass der »neue Geist« von V.26 dann in V.27 weiterhin als »mein Geist« näher bestimmt wird - d.h. als der Geist Gottes, den Gott verspricht »in euch« zu legen. Dasselbe Versprechen wird im folgenden Kapitel bei Ezechiel wiederholt, und zwar im Anschluss an die großartige Vision vom Totenfeld. Der Prophet befolgt Gottes Gebot, über die Knochen zu prophezeien und »[d]a kam der Odem/ Geist (Masoretischer Text: ruach; Septuaginta [LXX]: pneuma) und sie wurden wieder lebendig (LXX: ezēsan), und stellten sich auf ihre Füße, ein überaus großes Heer« (Ez 37,10). In den abschließenden Worten dieser Texteinheit bietet Gott dem Propheten eine ausdrückliche Deutung der Vision an: Die Knochen sind das Haus Israel und Gott will ihre Gräber öffnen, sie auferwecken und sie ins Land zurückführen (37,11-12). Und, am wichtigsten für unsere Lektüre von Röm 8, Gott instruiert Ezechiel, dem Volk zu sagen: »[I]ch will meinen Odem in euch geben, dass ihr wieder leben sollt (LXX: zēsesthe)« (37,14). Mithin verspricht Gott in Ez 36 und 37, Israel wiederherzustellen, indem er seinen Geist in sein Volk legt, um sie von den Toten zu erwecken, ihnen neues Leben zu geben und einen neuen Herzensgehorsam zu ermöglichen (vgl. auch Jer 31,31-34). Die Übereinstimmung dieser Motive mit Röm 8,1-11 ist beeindruckend: Genauso wie Gottes Geist trockenen Knochen Leben gibt, so wird der Geist dessen, der Jesus von den Toten erweckt hat, in Gottes Volk wohnen und »eure sterblichen Leiber lebendig machen« (Röm 8, 11). Dies erklärt Gottes Antwort auf Paulus’ Ruf: »Wer wird mich erretten von diesem Leib des Todes? « (7,24) Darüber hinaus wird dieser lebenspendende Geist auch einen radikal neuen Gehorsam in denen bewirken, die nach dem Geist leben, einen Gehorsam, den das Gesetz nicht imstande war zu erzeugen (8,3-4). Was ist nun das Ergebnis der Lektüre von Röm 8 in intertextueller Entsprechung zu Ez 36-37? Es scheint, dass Paulus mehr verkündet als die Errettung einzelner von der Macht der Sünde; sein Ausblick ist 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 32 Richard B. Hays Intertextuelle Pneumatologie ZNT 25 (13. Jg. 2010) 33 auch korporativ und kosmisch. Die Erlösung in Jesus Christus ist auf eine Weise mit der Wiederherstellung eines Volkes verbunden, das Gottes Name Ehre geben wird, indem es in der Kraft des Geistes wandelt; daher die Betonung, die Paulus auf das verwandelte Verhalten legt, das den Wandel in der Kraft des Geistes kennzeichnet (8,3-13 passim). Und wenn Paulus sagt, dass es »keine Verdammung für die, die in Christus Jesus sind« gibt (8,1), dann steht deren Begnadigung vom Gericht in Parallele zum Schicksal Israels nach Ezechiel: Israel wurde gemäß seiner Taten gerichtet und zerstreut, aber es wird zurückgebracht werden, schlicht und einfach aufgrund von Gottes freier und barmherziger, Leben gewährender Tat. Ezechiel beschreibt diese lebenspendende Wiederherstellung, indem er das Bild von der Auferstehung benutzt. Für Paulus jedoch ist das Bild nicht mehr nur eine Metapher: Weil Gott Jesus von den Toten auferweckt hat, erwartet er nun eine eschatologische Zukunft in der die »Erlösung unserer Leiber« tatsächlich in einer wiederhergestellten und befreiten neuen Schöpfung stattfinden wird (8,18-25). Zum einen beleiht Paulus die Bildsprache des Ezechiel also, zum anderen transformiert er sie hermeneutisch durch das Evangelium von Tod und Auferstehung Jesu. Vor allem hallt in Röm 8 Ezechiels Bild vom Geist wider, der in Gottes Volk gelegt wird als eine Quelle neuen Lebens: »Ich will meinen Odem in euch geben, dass ihr wieder leben sollt.« (Ez 37,14) Paulus zitiert diesen Text nicht ausdrücklich, aber in allem, was er in Röm 8 über die lebenspendende Kraft des Geistes zu sagen hat, schwingt stark diese Verheißung mit. 10 Leben ist das Ergebnis der von Gott gegebenen innewohnenden Präsenz von Gottes eigenem Geist. Angesichts der beeindruckenden Parallelen muss man sich fragen, warum Paulus die Passage aus Ezechiel hier nicht zitiert. Wir können recht sicher sein, dass er den Text kennt, denn er spielt in 2Kor 3,3 gezielt auf ihn an, wenn er davon spricht, dass Christus »mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf fleischerne Tafeln des Herzens« schreibe. Diese komplexe Anspielung zielt sowohl auf Jeremias Bild vom neuen Bund, der auf das Herz geschrieben wird (Jer 31,33), als auch auf Ezechiels Verheißung, dass Gott Israels steinernes Herz durch ein neues aus Fleisch ersetzen wird (36,26; vgl. 11,19). 11 Diese zweite unabhängige Anspielung verstärkt die Wahrscheinlichkeit, dass Paulus den Text gut kannte. Warum nimmt er dann nicht ausdrücklicher auf ihn Bezug? Derartige Fragen nach dem, was Paulus sich entschied nicht zu schreiben, sind unmöglich zu beantworten. Vielleicht bezog sich Paulus in Röm 8 überhaupt nicht bewusst auf Ezechiel; vielleicht war die Art und Weise, wie dieser Text den Geist als Spender des Auferstehungslebens darstellt, einfach Teil seiner Enzyklopädie und zwar auf unterbewusster Ebene. Jedoch ist es wahrscheinlicher, dass der paulinische Diskurs hier bewusst poetischkünstlerisch agiert. Schließlich liegt in Röm 8 eine sehr kunstvolle und erhabene rhetorische Komposition vor. Dichter und Prediger wissen schon lange, dass manchmal die wirkungsvollsten intertextuellen Anspielungen unterschwellig sind: Jede poetische Anspielung zu erklären ist gleichbedeutend damit, den metaphorischen Diskurs abzutöten. In seiner Siegesrede am Wahlabend zitierte Präsident Barack Obama Martin Luther King, Jr. nicht ausdrücklich, aber seine Rede enthielt eine Anzahl elegant anspielender Abwandlungen von Wendungen aus Kings berühmtesten Reden. 12 Obama machte nicht eigens auf seine Anspielungen aufmerksam, aber wer Ohren hatte zu hören, hörte sehr wohl. Vielleicht tat Paulus etwas Ähnliches in Röm 8. Wir können über Paulus’ Absicht keine Sicherheit erlangen. Wir können allerdings dies sagen: Eine intertextuelle Lektüre von Ez 36-37 und Röm 8 ist sowohl literarisch als auch theologisch aufschlussreich. Natürlich fußt die paulinische Auffassung vom Geist als einer lebenspendenen Kraft nicht allein auf diesem einen intertextuellen Echo. Ein weitaus verhalteneres kommt für Röm 5,5 in Frage: »Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist«, wiederum eine Reminiszenz an die Verheißung eines neuen Geistes in Gottes Volk. Näher liegt indes Jes 44,3: »Ich will meinen Geist auf deine Kinder gießen und meinen Segen auf deine Nachkommen«. Wie bei Ezechiel ist diese Verheißung auch bei Jesaja Teil einer größeren Prophetie über das Ende des Exils und die Wiederherstellung Israels (Interessanterweise ist dies die einzige alttestamentliche Stelle, die »Geist« und »Segen« direkt, nämlich im synonymen Parallelismus, miteinander verbindet). Wenn also Paulus das Bild von der Ausgießung des Heiligen Geistes verwendet, mag wohl dieses Wort aus Jesaja anklingen. »Es scheint, dass Paulus mehr verkündet als die Errettung einzelner von der Macht der Sünde […]« »[…] aber wer Ohren hatte zu hören, hörte sehr wohl.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 33 Zum Thema 34 ZNT 25 (13. Jg. 2010) Für diese Lektüre sprechen Beobachtungen, die neuerdings Rodrigo Morales in einer wichtigen Studie vorgetragen hat. Er hat gezeigt, dass Jes 44,3 auch von einem liturgischen Fragment aus Qumran, bekannt unter dem Titel Worte der Lichter, in Anspruch genommen wurde. Der Text enthält ein Gebet, das Gott dafür dankt, dass er seines Bundes gedenkt, das Volk wieder sammelt und in ihm den Wunsch nach Erfüllung der Gebote weckt. Das weist zunächst natürlich große Nähe zu Ez 36 auf. Dann aber wird erklärt, wie Gott das ehedem ungehorsame Herz Israels verändert hat: »[Den]n Du gossest den Geist Deiner Heiligkeit unter uns aus, [um] Deine Segnungen über uns [zu b]ringen« (4Q504 frg. 2, V.15-16; Übers. J. Maier). Morales stellt fest, dass dieser Passus einen eindeutigen Beleg dafür liefert, dass neben Paulus auch andere jüdische Stimmen Jes 44,3 als Verheißung der eschatologischen Erlösung Israels durch den Heiligen Geist gelesen haben. 13 Damit wird auch deutlich, dass auch Jes 44 zum intertextuellen Feld gehört, in welchem wir die paulinische Auffassung vom Geist als in die Herzen gegossene lebenspendende Kraft lesen sollten. Die bedeutendste hermeneutische Transformation dieser Tradition in Röm 5 besteht nun darin, dass Paulus die Ausgießung des Geistes mit der Liebe Gottes identifiziert, ein Motiv, das sich ausdrücklich weder in Jes 44 noch in 4Q504 findet. 2. Der Geist Gottes führt Gottes Kinder Wir kehren zu Röm 8 zurück und nehmen Röm 8,14- 15 in den Blick, wo wir eine neue und besondere Aktivität des Geistes entdecken, nämlich, dass er die »Söhne Gottes« führt, eine Sprache, die an den Exodus Israels aus Ägypten erinnert, als Gott seinem Volk vorausging, »am Tag in einer Wolkensäule, um ihnen den Weg zu zeigen, in der Nacht aber in einer Feuersäule« (Ex 13,21). Von besonderer Bedeutung ist die rückblickende Darstellung in Dtn 32, denn hier wird das Volk Israel als »Gottes Kinder« bezeichnet (32,5), seine Söhne und Töchter (32,19-20). Gott wird ihr »Vater« genannt (LXX: patēr, 32,6; vgl. 32,18), der allein sie geführt hat (LXX: ēgen, 32,12). Wenn Paulus also schreibt, dass »alle, die von Gottes Geist geleitet waren, Gottes Kinder sind« (Röm 8,14), dann gibt es, wie Sylvia Keesmaat beobachtet hat, »zahlreiche Echos aus Dtn 32 in Röm 8«. 14 Solche Echos sind nicht zuletzt wegen der herausragenden Stellung von Dtn 32 (Lied des Mose) in der jüdischen Tradition zu erwarten, sondern auch wegen Paulus’ eigener Zitate und Anspielungen an diesen Text. 15 Diese intertextuelle Verknüpfung wird durch den folgenden Satz zusätzlich verstärkt: »Denn ihr habt nicht einen Geist der Skalverei empfangen, der euch in die Furcht zurück führt, sondern ihr habt den Geist der Annahme an Kindes Statt [oder: Sohnschaft] erhalten, in welchem wir rufen ›Abba, Vater [gr. patēr]‹« (Röm 8,15). Hier verwendet Paulus zur Beschreibung der Situation seiner römischen Adressaten allem Anschein nach erneut Exodus-Metaphorik. Sie sollen sich nicht fürchten und nach der Rückkehr in das »Sklavenhaus« verlangen, so wie es die Israeliten in der Wüste taten (Vgl. etwa Ex 14,10-12: »Und in großer Furcht schrieen die Israeliten zu dem Herrn. Sie sagten zu Mose: ›Was hast du uns angetan, dass du uns aus Ägypten geführt hast? […] Denn es wäre besser für uns gewesen, Sklaven der Ägypter zu sein als in der Wüste zu sterben‹«). Statt dessen sollen sie sich beständig der Führung des Geistes Gottes anvertrauen, der ihren Status als »Söhne« bestätigt, sie Gott als Vater anrufen lässt und ihnen den Weg zur Freiheit weist. Auf eine ganz ähnliche Motivik stoßen wir auch in einer anderen Nacherzählung der Exodus-Geschichte, nämlich in Jes 63,7-14, einem Passus, der Israels Unglauben beklagt und Gott bittet, ihrer zu gedenken und sie zu retten. Der Prophet stellt fest, dass die Israeliten, obwohl sie Gottes Kinder waren, »rebelliert und [Gottes] Heiligen Geist betrübt haben« und er fragt, »Wo ist der, der seinen heiligen Geist in sie gab? « Dann erinnert er sich an die Teilung des Meeres und fragt sich, wo Gott ist, »der sie durch die Fluten führte«. Die Prophetie mündet dann in einen schmerzvollen Schrei zu Gott als Vater mit der Bitte um sein gegenwärtiges rettendes Eingreifen: »Bist du doch unser Vater; denn Abraham weiß von uns nichts, und Israel kennt uns nicht. Du, Herr, bist unser Vater; ›Unser Erlöser‹, das ist von alters her dein Name.« (Jes 63,15; vgl. auch 64,8) Wir finden also in Jes 63 ein Cluster an Exodus- Motiven, das in Röm 8,14-15 einen deutlichen Widerhall findet. Der Geist steht für den gegenwärtigen Gott, der seine Kinder/ Söhne in den Exodus führt, und Jesaja sehnt sich nach einer erneuten Gottesgegenwart (vgl. Jes 64,1), die einen neuen Exodus der Befreiung Israels heraufführt und Gottes mitleidsvolles Vatersein für sein Volk aufs neue unter Beweis stellt. Genau dies ist, so Paulus, in Jesus Christus und durch die Gegenwart des Heiligen Geistes in der Gemeinde des Gottesvolkes geschehen. Das Motiv eines neuen Exodus liegt auch in Jes 43,1-7 vor, einem Text, der mit Nachdruck erklärt: »Fürchte dich nicht, denn ich bin mit dir« (Jes 43,5; vgl. 43,1). Bemerkenswert ist, dass in der LXX-Fassung dieses Textes versichert wird, dass Gott seine »Söhne 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 34 Richard B. Hays Intertextuelle Pneumatologie ZNT 25 (13. Jg. 2010) 35 und Töchter« »führen« wird (43,5), die er »erlöst« und »gerufen« hat (43,1.7), aber auch, dass sie »verherrlicht« werden, weil Gott sie »liebt« (43,5). Alle diese Stellen weisen auf den paulinischen Gedankengang in Röm 8 voraus, denn Paulus sagt nicht nur, dass die Söhne Gottes von Gottes Geist geleitet und dazu bewegt werden, Gott »zu nennen« (8,14-15), sondern er fügt auch hinzu, dass sie die gegenwärtigen Leiden nicht zu fürchten brauchen, denn Gott hat sie berufen, gerechtfertigt und verherrlicht, und nichts kann sie aus seiner Hand reißen (vgl. v.a. 8,30.39). Hat Paulus bewusst auf diese Exodustexte aus Ex, Dtn und Jes angespielt, und dies in der Erwartung, dass seine Leser diese Anspielungen verstanden? Wir können das nicht mit Sicherheit sagen. Was wir aber wissen, ist dies, dass die Exodus-Tradition das Zentrum der nationalen Identität und Erinnerung Israels bildete, ja sogar im Zentrum ihres Gottesverständnisses stand. Es handelt sich also nicht um abseitige, obskure Textstellen, sondern gerade weil sie einen solch wichtigen Platz in der geschichtlichen Imagination Israels einnehmen, kann Paulus (wie schon die Verfasser des Dtn und des Jesajabuches vor ihm - die Verhältnisse seiner Leser metaphorisch in die symbolische Welt der Exodus-Geschichte einzeichnen. Michael Fishbane spricht im Hinblick auf die vielfältigen metaphorischen Transformationen der Exodus-Tradition innerhalb der Hebräischen Bibel von »der Fähigkeit des Exodus-Paradigmas, Erinnerung und Erwartung zu wecken«. Weiterhin stellt er fest: »Die besondere Fähigkeit eines geschichtlichen Ereignisses, Erwartungen an die Zukunft zu erzeugen, basiert auf der Transfiguration dieses Ereignisses durch die theologische Intuition, die ihm innewohnt und durch es wirkt und so die einstige und künftige Macht des Gottes der Geschichte offenbar macht. Ohne eine solche symbolische Transformation wäre der Exodus niemals zu einer Hoffnungsgeschichte geworden« 16 . Paulus teilt die Überzeugung Israels, dass die Macht Gottes im Exodus enthüllt wurde, und Röm 8 ist ein machtvolles Beispiel jener »symbolischen Transformation«, von der Fishbane spricht. Dementsprechend vermag nur eine intertextuelle Lektüre der paulinischen Rede vom Geist in Röm 8 die ganze Reichweite und Tiefe seiner Vision von der Kirche als einem eschatologisch erlösten Volk zu enthüllen, das von demselben lebendigen Gott erlöst wurde, der Israel aus Ägypten geführt hat. Im Licht der angeführten intertextuellen Lektüren der paulinischen Rede vom Geist scheint ein etwas spekulativer Vorschlag statthaft, der ein weiteres sonderbares Detail aus Röm 8 erklären könnte, nämlich Paulus’ Gedanke vom Eintreten des Geistes für die Gläubigen mit »unartikulierten Seufzern« (8,26-27). Die Formulierung ist exegetisch notorisch schwierig: Wie ist der paulinische Ausdruck stenagmois alalētois zu übersetzen? Ist mit einigen englischen Übersetzungen an Seufzer zu denken, die »zu tief für Worte sind«, entsprechend der Lutherübersetzung »mit unaussprechlichem Seufzen«? Geht es Paulus um eine stille, innerliche Form des Gebets? Oder meint er, so einige Ausleger, das vom Geist inspirierte Phänomen des lauten Redens in unverständlichen Rufen und Sprachen? 17 Gleichviel, was motiviert ihn dazu, dieses ungewöhnliche Bild für die Fürsprache des Geistes zu verwenden? Wichtig ist zunächst, dass Paulus das Geräusch des Seufzens bereits in 8,19-23 in den Text eingebracht hat, wo von der Sehnsucht der ganzen Schöpfung nach Befreiung von der »Sklaverei der Vergänglichkeit« die Rede ist. Wenn unsere fortschreitende Analyse von Echos des Exodus in Röm 8 zutreffend ist, ist anzunehmen, dass Paulus das Exodus-Paradigma nun in einen neuen Vorstellungszusammenhang überführt, wenn er die Todverfallenheit der Schöpfung zu Israels Sklaverei in Ägypten in Beziehung setzt und die eschatologische Erlösung der ganzen Schöpfung als einen neuen und endgültigen Exodus auffasst, in dem die ganze geschaffene Welt teilhat an der erlösenden und befreienden Erfahrung Israels. Jeder Leser, der Ohren hat zu hören, wird dann in der Aussage, dass die Schöpfung »insgesamt seufzt« (gr. systenazei), das Seufzen Israels in der ägyptischen Sklaverei vernehmen: »Die Israeliten stöhnten [LXX: katestenaxan] unter der Arbeit und schrien, und von der Arbeit stieg ihr Hilferuf auf zu Gott. Und Gott hörte ihr Seufzen [LXX: stenagmon], und Gott gedachte seines Bundes mit Abraham, Isaak und Jakob« (Ex 2,23- 24; vgl. auch Ex 6,5; Apg 7,34). Dann ist es umso bemerkenswerter, dass Paulus, der gerade von der Führung und Vergewisserung der Kinder Gottes durch den innewohnenden Geist Gottes gesprochen hat, nun betont, dass nicht nur die versklavte »Hat Paulus bewusst auf diese Exodustexte aus Ex, Dtn und Jes angespielt, und dies in der Erwartung, dass seine Leser diese Anspielungen verstanden? « »Das gegenwärtige Leiden ist nicht einfach ein bedeutungsloses, zufälliges Leiden, sondern es ist Teil eines so schmerzlichen wie hoffnungsvollen Prozesses, der zur Geburt eines neuen Zeitalters führt.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 35 Zum Thema 36 ZNT 25 (13. Jg. 2010) Schöpfung seufzt, sondern auch »wir selbst, die die Erstlingsgabe des Geistes empfangen haben«. Auch diejenigen, die den Geist empfangen haben, »seufzen [gr. stenazomen] in uns selbst und warten auf die Annahme an Sohnes Statt« (Röm 8,23). Das heißt: Die Kinder Gottes sind ganz und gar betroffen vom Leiden und gequälten Stöhnen der Schöpfung, und insofern gleicht ihre Situation derjenigen Israels, als sie Gefangene in Ägypten waren und auf Gottes Rettungstat warteten. Dieses Stöhnen der Schöpfung wird sodann als »Geburtsschmerzen« (8,22) beschrieben. Das gegenwärtige Leiden ist nicht einfach ein bedeutungsloses, zufälliges Leiden, sondern es ist Teil eines so schmerzlichen wie hoffnungsvollen Prozesses, der zur Geburt eines neuen Zeitalters führt. Paulus verwendet hier ein geläufiges apokalyptisches Bild (vgl. etwa Mk 13,8; Apk 12,2; 1QH a 11,6-8). 19 In Röm 8 überlagern sich Exodus-Motivik und das apokalyptische Bild kosmischer Geburtswehen. Die Fusion dieser Bildfelder stellt die Interpretation vor Schwierigkeiten, wenn sie nach einem einfachen Schlüssel ihrer vielschichtigen Metaphorik sucht. Dagegen wird eine intertextuelle Lektüre den verschiedenen symbolischen Ebenen Rechnung tragen und den komplexen semantischen Effekt bedenken, der durch ihre gleichzeitige Verwendung entsteht, vergleichbar dissonanten Noten in einem einzigen Akkord. Den dramatischsten intertextuellen Effekt hat sich Paulus indes für seine Darstellung der Aktivität des Geistes aufgehoben. Gott hört nicht bloß das Seufzen der Schöpfung und der zusammen mit ihr seufzenden Kinder Gottes (wie in der Exodus-Geschichte). Vielmehr stimmt Gottes Geist in dieses Seufzen ein: »In gleicher Weise aber nimmt sich der Geist unserer Schwachheit an; denn wir wissen nicht, was wir eigentlich beten sollen; der Geist selber jedoch tritt für uns ein mit wortlosen Seufzern [gr. stenagmois alalētois] […]. Der Geist tritt für die Heiligen ein gemäß Gottes Willen« (8,26-27). Angesichts dieser bemerkenswerten Sätze wird einem Leser, dem Paulus’ wiederholte Anspielungen auf Prophetien aus Jesaja über die Erlösung Israels aufgefallen sind, auch die folgende in den Sinn kommen: »Lange bin ich still gewesen, habe ich geschwiegen, habe ich mich zurückgehalten, wie die Gebärende werde ich nun schreien, werde so sehr schnauben, dass ich um Luft ringen muss.« (Jes 42,14) Gott erklärt durch Jesaja, dass sein Handeln in Gericht und Erlösung ihn schreien macht wie eine Gebärende, und Paulus sagt nun, dass der Geist eben dieses erlösenden Gottes in das Seufzen der in Wehen liegenden Schöpfung einstimmt, um (auf paradoxe Art) für die endgültige Erlösung der Welt und der Heiligen Fürbitte zu leisten. Die vorhandenen Texte lassen nicht die Behauptung zu, Paulus hätte all dies bewusst durchdacht und sich gezielt auf diese Stellen bezogen, um seine Auffassung vom erlösenden Mitleiden des Geistes zu untermauern, doch hat er durch die Verwendung einer Sprache, die von diesen Traditionen der Schriften Israels widerhallt und sie wach ruft, gewiss einen Text voller intertextueller Resonanzen geschaffen. Zweifellos gehörten die genannten Passagen zu Paulus’ produktiver Enzyklopädie, und darüber hinaus können wir mit Grund annehmen, dass in Lesern, deren rezeptive Enzyklopädie dieselben kanonischen Texte enthält, eine kreative theologische Reflexion innerhalb des metaphorischen Feldes angestoßen wird, das sich diesen intertextuellen resonanten Bildern verdankt. Solche Lektüren sind geeignet, eine nuancierte Pneumatologie hervorzubringen, denn die Leser werden zu der Einsicht geführt, dass der Heilige Geist, von dem Paulus schreibt, zugleich aufzufassen ist als der Atem, der den Totengebeinen Leben einhaucht und die Toten auferweckt, als die Wolken- und Feuersäule, die die Kinder Gottes aus der Sklaverei und durch das Meer geführt hat, und als die innerliche Gegenwart Gottes selbst, der an unserer Mühe und unserem Seufzen teilhat, die wir die endgültige Enthüllung der Freiheit der Schöpfung erwarten. Der Beitrag wurde übersetzt von Gabriele Faßbeck und Manuel Vogel Anmerkungen 1 Die SBL Gruppe zur paulinischen Theologie produzierte vier Bände: J. Bassler (Hg.), Pauline Theology, Volume I, Minneapolis 1991; D.M. Hay (Hg.), Pauline Theology, Volume II, Minneapolis 1993; D.M. Hay and E.E. Johnson (Hgg.), Pauline Theology, Volume III, Minneapolis 1995; E.E. Johnson and D.M. Hay, Pauline Theology, Volume IV (SBL Symposium Series 4), Atlanta 1997. Die ersten drei Bände sind nachfolgend als Bände 21-23 in der SBL Symposium Series, 2002, nachgedruckt worden. 2 Man denke besonders an den langen Artikel im Theologischen Wörterbuch zum Neuen Testament: pneuma ktl. (H. Kleinknecht/ F. Baumgärtel/ W. Bieder/ E. Sjöberg/ E. Schweitzer) ThWNT 6, 330-453. Wichtige neuere Stu- »[Paulus hat] durch die Verwendung einer Sprache, die von diesen Traditionen der Schriften Israels widerhallt und sie wach ruft, gewiss einen Text voller intertextueller Resonanzen geschaffen.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 36 Richard B. Hays Intertextuelle Pneumatologie ZNT 25 (13. Jg. 2010) 37 dien sind zu finden bei F.W. Horn, Das Angeld des Geistes. Studien zur paulinischen Pneumatologie (FRLANT 154) Göttingen 1992; G.D. Fee, God’s Empowering Presence: The Holy Spirit in the Letters of Paul, Peabody 1994. Ein Forschungsüberblick jetzt bei V. Rabens, The Holy Spirit and Religious-Ethical Life in Paul. The Transforming and Empowering Work of the Spirit in Paul’s Ethics (WUNT II) Tübingen 2010, Appendix. 3 Den Begriff »Enzyklopädie«, insofern er den kulturellen Rahmen eines Textes bezeichnet, hat Umberto Eco geprägt. Vgl. S. Alkier, Die Bibel im Dialog der Schriften und das Problem der Verstockung in Mk 4, in: ders./ R.B. Hays (Hgg.), Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre, Tübingen 2005, 8: »Die Enzyklopädie ist dabei der kulturelle Rahmen, in den der Text eingestellt wird und von dem aus sich Leerstellen des Textes füllen lassen.« 4 Zur Jesajaauslegung des Paulus vgl. F. Wilk, Die Bedeutung des Jesajabuches für Paulus (FRLANT 179), Göttingen 1998; ders., Paulus als Nutzer, Interpret und Leser des Jesajabuches, in: S. Alkier/ R.B. Hays, Die Bibel im Dialog der Schriften, 93-116; J.R. Wagner, Heralds of the Good News. Isaiah and Paul »in Concert« in the Letter to the Romans (NTSup 101), Leiden 2002; R.B. Hays, ›Who Has Believed Our Message? ‹ Paul’s Reading of Isaiah, in: ders., The Conversion of the Imagination. Paul as Interpreter of Israel’s Scripture, Grand Rapids 2005, 25-49. 5 Alkier, Bibel im Dialog, 8. 6 Zur stoischen Rede vom pneuma vgl. die präzise Diskussion bei H. Kleinknecht in ThWNT 6, 350-55. Bemerkenswerterweise beachtet die bedeutende vergleichende Studie von Troels Engberg-Pedersen, Paul and the Stoics, Edinburgh 2000, das stoische Konzept des pneuma kaum. Vgl. dazu die wichtige Kritik von L. Louis Martyn, De-apocalypticizing Paul. An Essay Focused on Paul and the Stoics by Troels Engberg-Pedersen (JSNT 86) 2002, 61-102. 7 Horns ausführliche Studie, Angeld des Geistes, beinhaltet Kapitel zu 1Thess, 1 und 2Kor, Gal, Phil, aber überraschenderweise keine vollständige Behandlung des Römerbriefes. Für eine Analyse von Röm 8 mit Schwerpunkt auf ethischen Themen vgl. Rabens, Holy Spirit and Religious-Ethical Life, Kapitel 6. 8 Mein Nachdenken über dieses Thema ist beeinflusst von zwei Neutestamentlern, die ihre Beiträge auf Englisch veröffentlicht haben und die daher vielleicht in Deutschland noch nicht so gut bekannt sind: Sylvia C. Keesmaat, Paul and His Story. (Re)Interpreting the Exodus Tradition (JSNTSup 181), Sheffield 1999, und Rodrigo J. Morales, The Spirit and the Restoration of Israel. New Exodus and New Creation Motifs in Galatians (WUNT II) Tübingen 2010. Keesmaat’s Studie war ursprünglich eine Doktorarbeit, bei N.T. Wright an der Universität von Oxford angefertigt, und ich hatte die Freude, Morales’ Doktorarbeit an der Duke University zu betreuen. 9 Zur zentralen Rolle der Auferstehung im Römerbrief vgl. N. T. Wright, The Resurrection of the Son of God, Minneapolis 2003, 241-66; J.R.D. Kirk, Unlocking Romans. Resurrection and the Justification of God, Grand Rapids 2008. 10 Es ist ebenso wert festzuhalten, dass Ezechiel das Versprechen des Geistes unmittelbar mit dem Versprechen des Neubesitzes des Landes verbindet (z.B. Ez 36,24-30; 37,14b). Dies mag in einem tieferen Sinn eine teilweise Erklärung für die verwirrende Gleichsetzung von Empfang des Geistes und Erfüllung der Verheißung an Abraham (Nachkommen und Land) bieten, die Paulus im Galaterbrief vornimmt. Wenn in Ezechiel das Land mit dem Geist verbunden wird, dann entwickelte sich vielleicht per Metonomie der Geist zu einer Größe, die nicht nur das Land repräsentierte, sondern letztlich dieses dann verdeckte und ersetzte. Sollte dies der Fall sein, dann erklärt Paulus jedenfalls seinen Gedankengang nicht. 11 Für eine Analyse der alttestamentlichen Echos in der Passage vgl. R.B. Hays, Echoes of Scripture in the Letters of Paul, New Haven 1989, 122-53. 12 Zum Beispiel Obamas an das amerikanische Volk gerichteter Aufruf, ihre Hände »an den Bogen der Geschichte zu legen, um ihn noch einmal in Richtung auf die Hoffnung auf einen besseren Tag hin zu beugen«, war ein deutliches Echo von Kings berühmter Formulierung, dass »der Bogen des moralischen Universums lang ist, aber er biegt sich in Richtung auf Gerechtigkeit.« 13 R.J. Morales, The Words of the Luminaries, the Curse of the Law, and the Outpouring of the Spirit in Gal 3,10- 14, ZNW 100 (2009), 268-78. Zu vergleichen ist auch TestXII, Jud 24,2-3: »Und der Himmel wird über ihm geöffnet werden, um den Geist als Segen des heiligen Vaters auszugießen. Und er wird den Geist der Gnade über euch ausgießen. Und ihr werdet ihm Söhne in Wahrheit sein und werdet in seinen ersten und letzten Geboten wandeln.« (Übers. J. Becker). Zwar kann das Testament Judas, wie Morales zutreffend feststellt, nicht mit Sicherheit als vorchristliche jüdische Quelle betrachtet werden, da mit der Möglichkeit zu rechnen ist, dass es sich ganz oder teilweise um einen christlichen Text handelt, doch wenn wir unsere Perspektive von der Quellenfrage auf das Phänomen intertextueller Lektüren verlagern, bietet die Stelle immerhin einen Einblick in die Enzyklopädie der frühen Rezeption der Paulusbriefe. 14 Keesmaat, Paul and His Story, 61. 15 Näheres zum paulinischen Gebrauch von Dtn 32 bei Hays, Echoes, 93-94.163-64. 16 M. Fishbane, Text and Texture. Close Readings of Selected Biblical Texts, New York 1979, 140. 17 Vgl. etwa E. Käsemann, Der gottesdienstliche Schrei nach der Freiheit, in: ders., Paulinische Perspektiven, Tübingen 1969, 211-236. 18 Vorformen des apokalyptischen Gebrauchs des Bildes der »Wehen« finden sich in der prophetischen Literatur Israels (vgl. etwa Jes 13,6-8; 26,16-18; Jer 6,24; Mi 4,9-10). In diesen Texten steht das Bild hauptsächlich für das Leiden Israels unter Gottes Gericht, aber in Micha 4,10 geht es um ein Leiden, das die Erlösung vorbereitet, und in Jes 26 folgt auf die Beschreibung vergeblicher Geburtsschmerzen unmittelbar die Verheißung der Auferstehung: »Die Erde wird die gebären, die lange tot waren« (Jes 26,19). Zum paulinischen Gebrauch dieses Bildes vgl. B.R. Gaventa, Our Mother Saint Paul, Louisville 2007, 32-34.56-59. 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 37 1. Ansatz zur Erfassung der topographischen Struktur des Geistes im Johannesevangelium Die diesem Vortrag zugrunde liegende These lautet, dass das Verständnis der johanneischen Rede von Geist sich über eine Topo-Graphie erschließt - in der Doppelaspekthaftigkeit von topos und graphein. D.h.: der Raum des Geistes entfaltet sich innerhalb der Schrift des Johannesevangeliums. Die Schrift ist der Ort, an dem die Topographie sich zeigt, nämlich in der Art und Weise, wie in dem johanneischen Text toposrelevante Bezüge und Differenzierungen aufgenommen werden. Anders als die Größe Zeit hat die Größe Raum in der Theologie bisher keinen prominenten Platz eingenommen. Für gewöhnlich wird eher Zeit mit dem Geist in Verbindung gestellt, während Raum mit Dingen und Körpern in Zusammenhang gebracht wird, so dass die von dem Soziologen Markus Schroer gemachte Feststellung durchaus auch für die Theologie ihre Gültigkeit beanspruchen darf. »Während die Zeit für das Mobile, Dynamische und Progressive, für Veränderung, Wandel und Geschichte steht, steht der Raum für Immobilität, Stagnation und das Reaktionäre, für Stillstand, Starre, Festigkeit«. 1 Gleichwohl zeigt sich gerade in gegenwärtigen exegetischen Arbeiten zur Zeit - wie beispielsweise in der umfassenden Monographie von Jörg Frey zur johanneischen Eschatologie, dass auch die Größe Raum mit zu bedenken ist, wenn das johanneische Zeitverständnis zur Sprache gebracht wird: So hält Frey einerseits ganz im Duktus der von Schroer gemachten Feststellung fest: »Die kerygmatische Erzählung des vergangenen Wirkens Jesu, die vorliegende Evangelienschrift, ist dementsprechend in ihrem Selbstverständnis vergegenwärtigende Erinnerung seiner Worte und Taten, aktualisierende Auslegung des vergangenen Heilsgeschehens für die gegenwärtigen Leser und Hörer. Im Bewusstsein des Wirkens des Geistes versucht der Evangelist den temporalen Abstand zwischen seiner Gegenwart und der Zeit des Wirkens Jesu zu überbrücken«. 2 Gleichzeitig hält Frey wenige Seiten vorher fest, dass sich die Gestalt des Werkes als kerygmatische Erzählung nicht nur den temporalen, sondern auch den topographischen Elementen der sprachlichen Darstellung verdankt. Frey führt aus: »Sachlich-theologisch bekräftigen die wiederholten Hinweise auf Zeit und Raum des Erzählten die raumzeitliche Konkretheit des erzählten Heilsgeschehens. Die präzisen chronologischen und (topographischen) Notizen stehen damit jeder enttemporalisierenden oder spiritualisierenden Lektüre des 4. Evangeliums entgegen«. 3 Aus der Aussage von Frey wird ein Zweifaches mit Blick auf die Raumthematik im Johannesevangelium ersichtlich: a.) dass eine Entgegensetzung von Raum und Zeit nicht der johanneischen Schrift angemessen ist; und dass b.) vor dem Hintergrund des von Frey eruierten dynamischen Zeitverständnisses des Johannesevangeliums auch mit einem dynamischen Raumverständnis zu rechnen ist - und genau dies möchte ich im Folgenden kurz darlegen. Schon bei einer oberflächlichen Durchsicht des Johannesevangeliums lässt sich feststellen, dass das Johannesevangelium - wie kein anderes Evangelium - ein Evangelium ist, in dem topographische Angaben zentral stehen, die gerade keine stabile Raumordnung signifizieren, der die Attribute Stillstand, Starre oder Immobilität zuzusprechen sind. Gleich der erste Vers, mit dem in hymnischer Sprache das Evangelium beginnt, ist hierfür signifikant. Dort heißt es: der Logos war »zu Gott hin« (gr. pros ton theon; vgl. auch V. 2). Zwischen dem Logos und Gott wird eine sich räumlich vorzustellende dynamische Beziehung durch die Präposition pros im Akkusativ installiert. In V. 14 heißt es von eben diesem Logos, dass er Fleisch ward und Wohnung nahm unter uns. Hier wird dieser in V. 1f. genannte Logos nun zum zweiten Mal erwähnt, und es wird von ihm ausgesagt, dass er en hymin wohnte. 4 Doch nicht nur im Prolog gibt es solche räumlichen Verhältnisbestimmungen, vielmehr sind diese auch in der nachfolgenden mit V. 19 beginnenden Erzählung des Johannesevangeliums zu finden. Die gesamte Rede vom Gesandtsein Jesu fällt durch die Verben pempein und apostellein 5 in den Bereich räumlicher Ausdehnung (vgl. z.B. Joh 4,34; 5,23.24.30.37; Zum Thema Kristina Dronsch Der Raum des Geistes Die topographische Struktur der Rede vom Geist im Johannesevangelium 38 ZNT 25 (13. Jg. 2010) »Anders als die Größe Zeit hat die Größe Raum in der eologie bisher keinen prominenten Platz eingenommen.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 38 Kristina Dronsch Der Raum des Geistes 6,38.39.44; 7,17.18.28.33; 8,18.26.29; 13,17). »Gehen«, »Kommen« und »Bleiben« sind Hauptverben der johanneischen Jesus-Christus-Geschichte, zu der auch die Rede vom Herabsteigen und der Rückkehr gezählt werden kann. Ebenso die Raummarker »von oben« - als Raum des Göttlichen - und »von unten« als Raum des Irdischen - prägen das Evangelium. Gehäuft lassen sich topographische Angaben in den sogenannten Abschiedsreden in Joh 13-17 finden. Das zentrale Stichwort dieses Abschnittes lautet »hinübergehen« (gr. hypagein; vgl. z.B. Joh 13, 33.36; 14,4.5.28, 16,5.10.17), welches nicht anders als eine Translokation zu verstehen ist. Diese knappe oberflächliche Durchsicht zeigt, dass sich im Johannesevangelium zahlreiche topographische Beziehungen finden lassen, bei denen es maßgeblich darauf ankommt, Räume zu durchqueren, Strecken zurückzulegen und Orientierung zu gewinnen. Diese topographisch dynamische Raumordnung überlagert gewissermaßen auch die sich im Johannesevangelium findende örtlich gebundene Raumordnung und transformiert diese. Zu dieser örtlich gebundenen Raumordnung gehören institutionalisierte Orte, wie beispielsweise der Tempel und die Synagoge. Tempel und Synagoge sind im Johannesevangelium die einzigen Orte, an denen Jesus lehrt. Anders als bei den Synoptikern, wo Jesus auch »unterwegs« (z.B. Lk 13,22), »am See« (z.B. Mk 4,1), »im Boot« (z.B. Lk 5,3), »auf dem Berg« (z.B. Mt 5,1ff.) lehrt, lehrt der johanneische Jesus nie außerhalb dieser Orte (vgl. Joh 6,59; 7,14.28; 8,20; 18,20). Wenn nun etwas genauer in den Blick genommen wird, was Jesus an bzw. in diesen Orten lehrt, dann lehrt er, dass er das Brot des Lebens sei, das vom Himmel gekommen ist, dass seine Lehre nicht von ihm sei, sondern von dem, der ihn gesandt habe (vgl. Joh 6). Seine Lehre ist »aus Gott« (Joh 7,17). Und der gesamte Lehrdiskurs von Joh 7,28ff., der im Tempel zwischen Jesus und »einigen aus Jerusalem« stattfindet, dreht sich um die Frage, woher (gr. pothen) Jesus ist und wohin (gr. pothen oder pou) er geht. Ebenso in Joh 8, wo Jesus im Tempel zu den Pharisäern lehrt, ist der zentrale Streitpunkt, dass Jesus um das Woher seines Gekommenseins und das Wohin seines Gehens weiß. D.h. in die konkreten Orte, die Zentren religiöser Orientierung sind, spannt der johanneische Jesus durch seine Lehre einen dynamischen Raumdiskurs, in denen Tempel und Synagoge dezentriert werden. 6 Diese topographische Verfasstheit in der Syntagmatik des Johannesevangeliums trifft nun auch für das Lexem pneuma zu: Schon beim ersten Auftauchen des Lexems in Joh 1,32 wird festgehalten, dass der Täufer gesehen hat, dass das pneuma »herabsteigt« (gr. katabainon) und auf Jesus bleibt. Das prominente Lexem taucht hier ebenfalls zum ersten Mal im Johannesevangelium auf (vgl. zu der lokalen Bestimmung von pneuma im Zusammenhang dieser beiden Verben auch 1,33). Auch die Aussage »Gott gibt den Geist ohne Maß« aus Joh 3,34 verweist durch die Verwendung von metron auf eine räumliche Ausdehnung, die in einem Zusammenhang mit dem Geist steht. In 3,8 wird ausgesagt, dass to pneuma »weht, wo es will«. Das »Wo« (gr. hopou) qualifiziert to pneuma im Sinne einer räumlichen Ausdehnung. Vom parakletischen Geist in den Abschiedsreden wird ausgesagt, dass er gesendet wird (vgl. Joh 14,26; 15,26), dass er »bleiben« und »in euch« sein wird (vgl. Joh 14,17), dass er vom Vater ausgeht (vgl. Joh 15,26), und dass er der »Wegführer sein wird« (vgl. Joh 16,15: hodēgeō). Auch das Lexem pneuma partizipiert an der topographischen Struktur, die sich innerhalb des Johannesevangeliums finden lässt. Kristina Dronsch, Jahrgang 1971, studierte Evangelische eologie in Bonn, Göttingen, Zürich, Neuchâtel und Hamburg. Seit 2001 wissenschaftliche Mitarbeiterin für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche am Fachbereich Ev. eologie an der Goethe-Universität in Frankfurt und wurde dort 2006 promoviert. Zurzeit Arbeit am Habilitationsprojekt zum Geist im Johannesevangelium. Für weitere Informationen siehe: http: / / www.evtheol.uni-frankfurt.de/ nt/ personen/ dronsch/ index.html Kristina Dronsch ZNT 25 (13. Jg. 2010) 39 »Diese topographisch dynamische Raumordnung überlagert gewissermaßen auch die sich im Johannesevangelium [ndende örtlich gebundene Raumordnung« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 39 Zum Thema 40 ZNT 25 (13. Jg. 2010) Schon diese kurze oberflächliche Durchsicht lässt eines deutlich werden: »Raum ist ein Modell von Zusammenhängen«. 7 Raum realisiert sich nach zusammenhangskonstitutiven Regeln, die sich in den zahlreichen topographischen Verhältnisbestimmungen finden lassen. So dass gesagt werden kann, dass im Text des Johannesevangeliums Raumkonfigurationen konstitutiv sind, die sich ausgehend von den narrativen Akteuren und deren Handlungsmöglichkeiten im Evangelium entfalten und die nichts anderes als eine relationale Bestimmung von »Raum« vorsehen. Der Gedanke, dass »Raum« eine relationale Größe ist, ist nicht neu, sondern findet sich bei Vertretern eines strukturalistischen Ansatzes, wie beispielsweise Gille Deleuze in seinem grundlegenden Aufsatz »Woran erkennt man den Strukturalismus? «: »Was struktural ist, ist der Raum, aber ein unausgedehnter, präextensiver Raum, reines spatium, das sich nach und nach als Ordnung der Nachbarschaft herausgebildet hat und in dem der Begriff der Nachbarschaft zunächst einen ordinalen Sinn hat und eine Bedeutung in der Ausdehnung«. 8 Nach Deleuze ist die Bedeutung eines Lexems bzw. eines sprachlichen Zeichens aufgrund seiner Lokalisierung in einer Topographie, die sich durch Nachbarschaftsbeziehungen in einem Text herausbildet, zu erschließen. 9 Diese Nachbarschaftsbeziehungen - beispielsweise zwischen zwei Lexemen - gilt es (in einem Text) herauszuarbeiten. Doch auch Arbeiten von Lotman, 10 Foucault, 11 Agamben 12 und Derrida 13 verstehen Raum als eine relationale Größe. Angewendet auf das Johannesevangelium heißt dies, dass im Folgenden in der narrativen Struktur des Johannesevangeliums die relationalen Bestimmungen von pneuma untersucht werden sollen. Dies setzt voraus, dass sich die Rede vom Raum des Geistes durch die Relationsbeziehungen zwischen den narrativen Figuren und Handlungsmöglichkeiten ausgehend von der Position im Narrativ des Johannesevangeliums deutlich machen lassen muss. Dies bedeutet, dass sich pneuma vor allem mittels der Positionierung in einem Gefüge, durch welches pneuma sich als pneuma erweist, beschreiben lassen muss. Im Verlauf unserer Ausführungen wird sich zeigen, dass pneuma - mengentheoretisch gesprochen - eine Singularität ist. Die Relation zu denen, bei denen es weht (vgl. Joh 3,8), ist eine sich aus der Nichtteilhabe konstituierende, gleichwohl ist es genau diese Beziehung, die es zum pneuma macht. Diese provokant formulierte Aussage, die sich gegen eine funktionale aber auch gegen eine substanz-ontologische Bestimmung von pneuma im Johannesevangelium wendet, 14 geht von der grundlegenden relationalen Topographie des Geistes aus, 15 die es im Folgenden im Johannesevangelium nachzuzeichnen gilt. 2. Die topographische Rede vom Geist im Johannesevangelium als Ausnahme Programmatisch beginnt die Erzählung des Johannesevangeliums mit dem Zeugnis des Täufers, in dem Geistempfang, die Geistträgerschaft und die Geistübermittlung Jesu erzählt wird, und in dem zum ersten Mal das Lexem pneuma im Narrativ des JohEv verwendet wird. In Joh 1,32-34 heißt es: »Und Johannes legte Zeugnis ab und sagte: Ich sah den Geist wie eine Taube vom Himmel herabschweben und auf ihm bleiben. Und auch ich kannte ihn ja nicht, aber der mich dazu gesandt hat, mit Wasser zu taufen, der hatte zu mir gesagt: Der, auf den du den Geist herabkommen und auf ihm bleiben siehst, der ist es, der mit dem Heiligen Geist taufen wird. Und eben das habe ich gesehen und habe Zeugnis abgelegt: Dieser ist Gottes Sohn.« Ganz im Gegensatz zu der synoptischen Darstellung findet sich im Johannesevangelium kein Hinweis auf die Taufe Jesu, vielmehr wird die »Geistbegabung Jesu […] retrospektiv aus der Sicht des Täufers geschildert und als gültige und beständige Markierung benutzt, die die Identifikation Jesu als des erwarteten Messias und als ›Sohn Gottes‹ (1,34b) durch Johannes den Täufer begründet«. 16 Dies impliziert, dass nach der johanneischen Konzeption der Geistempfang nicht im Sinne eines christologischen Gründungsgeschehens zu begreifen ist, sondern ausschließlich als ein Identifizierungszeichen gelten kann. Der Geist hat die Funktion eines identity markers, der von Gott kommt und der es dem Täufer ermöglicht, Jesus als den Geistträger und Geistspender zu identifizieren. Indem der Täufer gesehen und bezeugt hat (vgl. das zweimalige Perfekt): »Dieser ist Gottes Sohn« (vgl. die Differenz zu Mk 1,11, wo von einer Gottesstimme die Rede ist, die Jesus als hyios mou ho agapētos proklamiert), gibt der Text zu verstehen, dass pneuma eine Wahrnehmbarkeit einschließt, die Jesus von anderen unterscheidbar macht und zwar dergestalt unterscheidbar macht, dass er durch das pneuma in Geltung gesetzt wird, um als der Sohn Gottes proklamiert werden zu können. »Auch das Lexem pneuma partizipiert an der topographischen Struktur« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 40 Kristina Dronsch Der Raum des Geistes ZNT 25 (13. Jg. 2010) 41 Das »Bleiben« des Geistes auf Jesus ist eine zweite Besonderheit in der johanneischen Erzählung gegenüber den Synoptikern. In der Sekundärliteratur wird bezüglich des Bleibens des Geistes auf Jesus des Öfteren vermerkt, dass dadurch (im Zusammenhang mit der Partizipialkonstruktion ho baptizōn en pneumati hagiō) eine »bleibende Verfassung des Subjektes zum Ausdruck« 17 gebracht werden soll. Das Bleiben des Geistes wird in diesem Sinne als eine bleibende Wesensbestimmung verstanden, die festhält, dass der Geist Jesus wesen- und ursprungshaft zukommt und er ihn deshalb anderen zu spenden vermag. Doch ein solches Verständnis führt zu folgender, nicht zu lösender Aporie: Ist dann die Herabkunft des Geistes nur äußeres Zeichen, um denjenigen erkennen zu können, der immer schon mit Geist Gottes gefüllt ist, oder handelt es sich um ein wirkliches Geschehen, in dem Neues sich ereignet? D.h. dieses Modell baut eine nicht aufzuhebende Spannung zwischen dem Geistempfang und dem Geistträger auf, die in der Syntagmatik des Johannesevangeliums aufgrund ihrer parataktischen Verknüpfung mit kai in keinem Spannungsverhältnis steht, denn zweimal wird in V. 32 und in V. 33 vom »herabsteigen« und »bleiben« gesprochen. Ein anderes Modell bietet Tricia Gates Brown. Sie führt aus: »The fact that the spirit remains on Jesus signifies him as a bearer of the heavenly benefit of spirit that he will give to his potential clients. Thus the remaining of the spirit does seem to serve a legitimating function here«. 18 Während hier keine Spannung zwischen Geistempfang und Geistträger herrscht, so entsteht nach diesem Modell aber eine Spannung zwischen dem Geistempfang und der Geistübermittlung. Denn nach Brown kann der Geistempfang kein identity marker des Sohnes Gottes mehr sein, weil ja alles darauf hinzielt, dass Jesus nur als derjenige identifiziert wird, der den Geist weitergibt. Beide vorgestellten Modelle argumentieren - obwohl erstes substanz-ontologisch fundiert ist und zweites funktional - mit einem schlichten Zugehörigkeitsverständnis des pneuma-Begriffs. Während im ersten Modell von Porsch eine Inklusion im Sinne der wesenhaften Zugehörigkeit von pneuma zu Jesus herausgearbeitet wird, die darauf hinausläuft, dass Jesus der »Pneumatiker par exellence« 19 ist, wird bei Brown eine funktionale Zugehörigkeit von pneuma zu Jesus postuliert, bei der sich Jesu einzigartiger Status als der »mediator between God and humanity« 20 zeigt. Wenn jedoch gilt, dass der Geist als identity marker von Jesus, dem Sohn Gottes, fungiert, dann macht dieser ihn - wie wir gesehen haben - unterscheidbar von anderen, mit der Konsequenz, dass der Täufer nun in die Lage gesetzt ist, zu sehen und zu bezeugen, dass dieser der Sohn Gottes ist. Das zweimal betonte »nicht kennen« von Jesus durch den Täufer (gr. kagō ouk ēdein auton) vor dem Auftreten des pneumas hebt ja gerade hervor, dass Johannes der Täufer erst in der Lage ist, Jesus als den Sohn Gottes zu sehen und zu bezeugen, im Zuge des Auftretens des Geistes. Der Geist stiftet in diesem Sinne eine Ausnahme, denn durch den Geistempfang, die Geistträgerschaft sowie die Geistübermittlung ist Jesus, der Sohn Gottes, herausgenommen aus einer Menge, so dass er erkennbar wird. Das pneuma schafft deswegen eine Situation der Unterscheidbarkeit von Jesus in Bezug auf eine Menge und ist keineswegs so zu verstehen, dass Jesus durch das pneuma erst etwas erfahren habe, was ihn zum Sohn Gottes gemacht habe, oder dass das pneuma der Repräsentant Gottes sei. Vielmehr gilt, dass das pneuma die Situation »schafft und garantiert«, die der Sohn Gottes für seine eigene Geltung bedarf, und die durch den Täufer bezeugt wird (vgl. das zweimalige houtos estin V. 33.34). Die hier aufgebaute relationale Beziehung zwischen Jesus und pneuma, die Johannes bezeugt, kann als eine Ausnahme-Beziehung angesehen werden, in der der Sohn Gottes durch seine Ausschließung aus einer Menge - garantiert durch das pneuma - eingeschlossen ist: D.h.: der, von dem gilt, dass er »unter uns zeltet« (Joh 1,14), vom dem Johannes der Täufer berichtet, dass er »mitten unter euch steht« (Joh 1,26), von dem ist zu sagen, dass dieser durch das pneuma ein eingeschlossener Ausgeschlossener ist, denn »der Sohn Gottes ist in die Welt gekommen«, wie es in Joh 11,27 heißt. Der Sohn Gottes, der keine andere Gestalt als die eines Menschen hat, 21 ist durch das pneuma herausgehoben aus den Menschen. Der pneumatische identity marker, der Jesus als den Sohn Gottes ausweisbar macht und ihn als Ausnahme unter den Menschen garantiert, ist also nicht ohne Beziehung zu den Menschen zu verstehen. Liest man unter dem Blickwinkel dieser so skizzierten Ausnahmebeziehung die vielfach bevorzugte 22 textkritische Variante in Joh 1,34, die statt »Sohn Gottes« (gr. hyios tou theou) eklektos tou theou bietet, dann kann gesagt werden, dass diese Lesart die Ausnahmebeziehung sprachlich eindrücklich in Kraft gesetzt hat. Jesus ist der durch das »Der pneumatische identity marker, der Jesus als den Sohn Gottes ausweisbar macht [...], ist also nicht ohne Beziehung zu den Menschen zu verstehen.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 41 Zum Thema 42 ZNT 25 (13. Jg. 2010) pneuma garantierte »Ausgewählte«, der herausgenommen aus der Menge ist, in die er, als der unter uns Zeltende, eingeschlossen ist. Unter dem Blickwinkel dieser Ausnahme-Beziehung möchte ich im Folgenden die zwei letzten pneuma-Stellen im JohEv einbeziehen - nämlich 19,30 und 20,22 -, die in der Sekundärliteratur überaus kontrovers bestimmt werden. Als erstes zu Joh 19,30: Das Kapitel 19 handelt von Jesu Verurteilung und Kreuzigung. Während der lukanische Jesus am Kreuz mit lauter Stimme ruft »Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist«, spricht der johanneische Jesus: »es ist vollbracht« (gr. tetelestai), darauf lässt uns der Erzähler des Evangeliums wissen, dass Jesus seinen Kopf neigte und das pneuma übergab (gr. paredōken to pneuma), was häufig mit »und gab den Geist auf« übersetzt wird. Da diese Formulierung als Ausdruck des Sterbens eines Menschen in der gesamten griechischen Literatur ohne Parallele ist, ist von einer absichtsvollen Doppeldeutigkeit dieser Wendung auszugehen. »Denn diese Hingabe des Geistes […] muß den Leser ja daran erinnern, dass es abgesehen von jenem Geist, der seit der Stunde seiner Taufe auf Jesus geblieben war (1,37), zu dessen Lebzeiten den verheißenen Geist noch nicht gab« 23 , - weil dieser erst in der Stunde der Verherrlichung Jesu in die Welt kommen sollte, wie die Erzählerstimme in Joh 7,39 den Leserinnen und Lesern mitteilt. Dort heißt es: »Noch gab es den Geist nicht, weil Jesus noch nicht verherrlicht war.« Erzähltechnisch stellt doxazō einen Vorausverweis dar (vgl. z.B. Joh 8,54; 11,4; 12,16.23.28). Eine Prolepse greift »auf ein Ereignis vor, kündigt es zu einem Zeitpunkt im Erzählverlauf an, wo es noch nicht hingehört«. 24 D.h. 7,39 weist auf die Geistgabe an die Seinen voraus, die in den Zusammenhang mit Jesu Verherrlichung gestellt wird. Wenn nun andere Textstellen im Johannesevangelium, die von Jesu Verherrlichung sprechen mit einbezogen werden, dann legt es sich nahe, die Verherrlichung Jesu in den Zusammenhang mit Jesu Verurteilung und Kreuz zu stellen. So kündigt beispielsweise der johanneische Jesus in Joh 12,23 die kommende Zeit seiner Verherrlichung an und verwendet, um diese Verherrlichung auszudrücken, die Metapher vom Weizenkorn, das stirbt (12,24): »Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, dann bleibt es allein; wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht.« Diese Metapher verknüpft die Verherrlichung also mit Jesu Kreuzigung. Die Aussage von 7,39 weist also darauf hin, dass das Kreuz als Ort der Verherrlichung die Bedingung für die Gabe des Geistes darstellt. Folglich wird in der Sekundärliteratur Joh 7,39 in den Zusammenhang mit Joh 19,30 gestellt, um die Frage zu beantworten, ab wann der Geist bei den Glaubenden ist. Jedoch unter dem Aspekt der Frage nach dem Wann kompliziert sich die Sache, wenn nun noch Joh 20,22 einbezogen wird: Denn dort erscheint der Auferstandene den Jüngern und lässt sie den heiligen Geist empfangen. Das Problem der Frage nach dem Wann vor dem Hintergrund von Joh 7,39 ist also, dass von einer zweifachen Verleihung des Geistes gesprochen werden müsste. Nun kann diese Verdopplung der Geistgabe vermieden werden, indem einfach gesagt wird, dass bei der pneuma-Stelle in 19,30 einfach nur das Sterben Jesu beschrieben wird. Dann hätte man das Problem einer zweifachen Geistverleihung gelöst, jedoch nicht erklärt, warum das Evangelium diese exzeptionelle Wendung für das Sterben Jesu wählt. Oder man erklärt die zweifache Geistverleihung damit, dass der Evangelist die in Joh 20,22 erzählte in der Tradition vorgefunden habe und diese auch auf Kosten der entstehenden Inkohärenz des Textes übernommen hätte. Oder die letzte Variante besagt, dass es zwei Adressaten gibt. »Da in der Kreuzigung die Inthronisation Jesu geschieht, ist die letzte Wendung von V. 30 (›und gab den Geist auf‹, K.D.) von daher auszulegen. Wie der Vater Jesus in die Hände der Menschen übergeben hat (19,11), so gibt Jesus in der Stunde der Vollendung seinen Geist an den Vater zurück, so dass die Jünger erst in 20,22f. den Geist erhalten.« 25 Jedoch: Die Frage nach dem Wann der Geistgabe ist für die Verhältnisbestimmung von Joh 19,30 und Joh 20,22f. nicht weiterführend, vielmehr erschließt sich das Verhältnis der beiden Textstellen durch die soeben skizzierte Topographie der Ausnahme, bei der die Verherrlichung Jesu ganz im Sinne der einschließenden Ausschließung zu begreifen ist und den Grund liefert, warum in Joh 19,30 davon erzählt wird, dass Jesus den Geist aufgab. Denn es gehört zu den Paradoxien des Johannesevangeliums und zur erzählerischen Signatur der johanneischen Jesus-Christus-Geschichte, dass Jesu Verurteilung und Kreuzigung konsequent aus dem Blickwinkel der im Vorfeld skizzierten Ausnahme-Beziehung verstanden wird, in der der Sohn Gottes durch seine Ausschließung aus einer Menge - die seit 1,32f. durch das pneuma garantiert ist - eingeschlossen ist. »Jesus, der durch das pneuma in Geltung gesetzte Sohn Gottes, ist als Ausgeschlossener eingeschlossen« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 42 Kristina Dronsch Der Raum des Geistes ZNT 25 (13. Jg. 2010) 43 In der narrativen Gestaltung der johanneischen Erzählung von Verurteilung und Kreuzigung in Kapitel 19 wird gegenüber Jesus, der mehrfach als »dieser Mensch« (vgl. 18,29; 19,19) ausgewiesen wird, der Vorwurf erhoben, dass er sich selbst zu Gottes Sohn gemacht habe (gr. hoti hyiou theou heauton epoiēsen in 19,7 - ein Vorwurf, der auch in 5,18; 10,33 laut wird), so dass er nach dem für jeden geltenden Gesetz sterben muss. Schlicht gesprochen führt hier eine Normübertretung, auf welche die entsprechende Sanktion folgt, zum Tod. Der Mensch Jesus muss also sterben nach dem für alle geltenden Gesetz, weil er sich zum Sohn Gottes gemacht hat. Dies heißt, dass Jesus in der Logik des Todes als der ausgeschlossene Eingeschlossene verstanden wird, nämlich als der, der aus der Menge durch seine Verurteilung ausgeschlossen wird, weil er gerade dazugehört - deswegen ist das Gesetz, das für alle gilt, auf ihn anwendbar, wie es in 19,7 heißt: »wir haben ein Gesetz und nach dem Gesetz muss er sterben«. Diese Szene hat nicht einfach nur einen »episodischen Charakter« 26 noch soll hiermit erwiesen werden, dass der »Unglaube der wahre Grund für den Tod Jesu« sei, 27 sondern hier wird die Konsequenz der Ausnahmebeziehung bis zum Äußersten entfaltet: Jesus, der durch das pneuma in Geltung gesetzte Sohn Gottes, ist als Ausgeschlossener eingeschlossen, und zwar dergestalt eingeschlossen, dass das den Menschen geltende Gesetz sich auf die Ausnahme anwendet, indem es sich von ihm abwendet, d.h. den Sohn Gottes der Verurteilung übergibt. Das Johannesevangelium lässt dementsprechend - wie auch die synoptischen Evangelien - keinen Zweifel daran, dass Jesus am Kreuz starb, vielmehr gilt nach diesem Evangelium, dass sich am Kreuz auf die paradoxeste Weise die Ausnahmebeziehung, die Jesus, den Sohn Gottes, als eingeschlossenen Ausgeschlossenen versteht, bestätigt. Der Ausspruch »es ist vollbracht« (Joh 19,30) hat keine andere Funktion als darauf hinzuweisen. Aber weil von Jesus gilt: »Niemand nimmt das Leben von mir, sondern ich selber gebe es. Ich habe die Vollmacht, es zu geben, wie ich die Vollmacht habe, es wieder zu nehmen. Dieses Gebot (gr. entolē) habe ich von meinem Vater empfangen« (Joh 10,18), zeigt sich in seiner Verurteilung und seinem Tod, dass er zu Recht Sohn Gottes ist, der durch den Geist garantiert wird, denn er hat die souveräne Vollmacht, die der Ausnahme zukommt. Es ist somit das Proprium der johanneischen Jesus-Christus-Geschichte, dass sie das Kreuz konsequent als eine narrative Inszenierung darstellt, um die eingeschlossene Ausgeschlossenheit des Sohnes Gottes auszudrücken. Wenn nun noch einmal bedacht wird, dass paredōken to pneuma in Joh 19,30 eine singuläre Aussage des Sterbens darstellt, haben wir auch diese Wendung im Sinne der skizzierten Ausnahmebeziehung zu verstehen. Der johanneische Jesus überlässt in dem Moment das pneuma, da er als Sohn Gottes nicht mehr dieser Markierung, die ihn ausschließt aus einer Menge, bedarf, denn die Beziehung zur Menge - nämlich als der, der unter uns wohnt - hat sich durch die nun mit dem Kreuz ermöglichte Auferstehung und durch seine angekündigte Rückkehr zum Vater aufgehoben. Dies könnte in diesem Sinne eine triumphale Geschichte sein, in der sich die souveräne Freiheit des Gekreuzigten realisiert, und zwar dergestalt realisiert, dass der Sohn Gottes die Ausnahmebeziehung, die durch das pneuma garantiert wird, aufhebt, als er das pneuma sozusagen nicht mehr braucht. Jedoch würde dieses Verständnis der Übergabe des pneuma die johanneische Topographie des Geistes verfehlen. Vielmehr ist die Formulierung paredōken to pneuma als Voraussetzung zu verstehen, dass die Ausnahme zur Regel werden kann. 3. Die topographische Rede vom Geist im Johannesevangelium als Ausnahme, die die Regel bestätigt Hier ist nun zuerst ein Blick auf die letzte pneuma-Stelle des JohEv zu werfen: auf Joh 20,22f. Dort wird mit folgenden Worten die Geistgabe durch den auferweckten Gekreuzigten an die Jünger erzählt: »Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Und dieses sagend hauchte er sie an und sprach zu ihnen: Welchen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen, und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten« (Joh 20,22f.). Es geht in Joh 20,22f. mit der Sendung der Jünger und ihrer Bevollmächtigung, Sünden zu vergeben bzw. nicht zu vergeben, nicht um eine spezifische Funktion des Geistes oder gar um die Verleihung eines spezifischen Amtscharismas exklusiv an die Zwölf, sondern hier wird die Ausnahmebeziehung, die zwischen Jesus und pneuma bestand, nun zur Regel, die ihre Voraussetzung in der Geistüberlassung Jesu hat. Die Neuerung hinsichtlich der Rede vom Geist besteht nicht darin, dass sich das, was in 1,32f. bei der Geistgabe an Jesus angekündigt war, nun vollzieht, sondern dass die Ausnahme-Beziehung, die zwischen pneuma »die Formulierung paredōken to pneuma [ist] als Voraussetzung zu verstehen, dass die Ausnahme zur Regel werden kann.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 43 Zum Thema 44 ZNT 25 (13. Jg. 2010) und Jesus, dem Sohn Gottes, garantiert war, losgelöst wird und Geltung erlangt, indem sie für die Jüngerinnen und Jünger Jesu ermöglicht wird. Gewiss nicht absichtslos werden die Leserinnen und Leser bei der Gabe des Heiligen Geistes in die Atmosphäre der Genesis (vgl. Gen 2,7; Ez 37,9) versetzt, wo es von Gott mit Blick auf den von ihm gebildeten Erdenkloß Adam heißt: »und er hauchte in seine Nase Lebensodem. Da wurde Adam zum lebendigen Wesen« (in der LXX wird dasselbe Wort wie in Joh 20,22 verwendet: enephusēsen). Dunn hält deshalb für Joh 20,22 fest: »John presents the act of Jesus as a new creation«. 28 Die Geistgabe ist für die Jünger eine neue Schöpfung. So wie der Erdenkloß Adam erst durch den Lebensodem unterscheidbar von der Erde wird, so erhalten die Jünger den »lebendig machenden« Geist - wie es in Joh 6,63 heißt, der nun zu ihrem identity marker in der Welt wird und sie gleichzeitig herausnimmt aus der Welt. Die mit Geist Begabten haben sozusagen zwei Leben: ein Leben, das sie in der Welt führen, und ein Leben im Raum des Geistes. Als die mit dem Geist Begabten sind sie aus der Welt herausgenommen, denn sie sind neu Geborene in der Welt. Damit sind sie nun die eingeschlossenen Ausgeschlossenen. Diese eingeschlossene Ausgeschlossenheit wird maßgeblich in dem Abschnitt des Johannesevangeliums thematisiert, den Thyen als den langen Abschied Jesu von seinen Jüngern bezeichnet hat und der Joh 13,1-17,26 umfasst. 29 Es handelt sich um die Abschiedsworte des scheidenden Jesus, wobei zu betonen ist, dass das hier dominierende Zeitverhältnis ein paradoxes ist. Denn es handelt sich um »eine als prospektive Verhältnisgabe Jesu erzählte retrospektive Verhältnisnahme«, 30 der durch das Evangelium Angesprochenen. In diesen Abschiedsworten führt der scheidende Jesus aus, dass die Jünger nicht ohne Bezug zur Welt sind, denn sie sind en tō kosmō, in der Welt (17,11), aber sie sind nicht mehr ek tou kosmou, aus der Welt (17,16). Im Gegensatz zu Jesus, der »schon nicht mehr in dieser Welt« ist, sind die Jünger »in der Welt« (Joh 17,11) und deswegen sind die Jünger nun gesandt in die Welt (vgl. Joh 17,18). Dies ist der Grund, warum die johanneische Erzählung keine Aussendung der Jünger während des »irdischen Wirkens« Jesu kennt. Solange Jesus anwesend ist, ist er die souveräne Ausnahme. Die Jünger sind bleibend in die Welt eingeschlossen, sie sollen nicht aus der Welt genommen werden, wie es in 17,15 heißt, aber sie sind als die mit dem Geist Begabten Ausgeschlossene, denn sie sind die Ausgewählten aus dem Kosmos. Deshalb werden in den Abschiedsreden die Seinen in der Welt (Joh 13,1ff.) als die »Kinder Gottes« (Joh 13,33) angesprochen und es wird ihnen vergewissert durch Jesus, dass sie Auserwählte sind. So heißt es in Joh 15,19: »Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt, dass ihr hingeht und Frucht bringt und eure Frucht bleibt«. Die Seinen sind die durch Jesus Auserwählten aus der Menge, die nun als die Geistbegabten Kinder Gottes sind. Zugleich sind sie in dieser eingeschlossenen Ausgeschlossenheit bleibend verbunden mit Jesus. Dies ist der Sinn der Rede vom parakletischen Geist, denn es ist - um in Anlehnung an Alain Badiou zu sprechen - in der Konzeption des Johannesevangeliums gerade der Geist, der bleibt. Das, was die Stärke und der Unterscheidungsmarker der mit Geist Begabten ist, ist, dass sie zwei Leben erhalten. Die Gabe des parakletischen Geistes, der nach Jesu Weggang zum Vater bleibend bei den Kindern Gottes sein wird, stellt sie in eine Ausnahme-Beziehung, die sie von der Welt trennt. Aber es ist zugleich die Gabe des Geistes, der ihnen das Bleiben in der Welt ermöglicht. Trotz ihrer Angst in der Welt (Joh 16,33) ist dies bleibend der Wirkort der Angeredeten. So heißt es in Joh 15,18ff.: »Wenn euch die Welt hasst, so bedenkt, dass sie mich schon vor euch gehasst hat. Wäret ihr aus der Welt, dann liebte die Welt euch als ihr eigenes. Weil ihr aber nicht aus der Welt seid, ich euch vielmehr aus der Welt heraus erwählt habe, hasst euch die Welt«. Die Rede vom »Geist« im Johannesevangelium dient deshalb gerade nicht dazu, »die Sphäre Gottes und der Welt auseinanderzuhalten« 31 , in der sich auf der einen Seite »Geist«, »Gott« und »von oben« und auf der anderen Seite »Fleisch«, »von unten«, »Teufel« und »Welt« gegenüberstehen, sondern vielmehr etabliert das Lexem pneuma eine Topographie des Geistes, von der aus die eingangs genannten dynamischen Raumtransformationen zwischen Gott und Welt über den Geist, der bleibt, sich erschließen. Die Rede von oben und unten, von dem Woher und Wohin, die die gesamte johanneische Erzählung durchzieht, hat folglich nur einen Sinn, wenn es einen Pol der Relation gibt, der markiert, von Wo gesprochen wird. Dieses ist der Raum des Geistes. Nach dem Johannesevangelium befinden wir uns schon im Raum des Geistes, es ist die Fiktion dieses Evangeliums, dass es einen Zeit-Raum gegeben habe vor der Geistgabe. Es entscheidet die Stellung zu Jesus Christus, dem mit Geist begabten und begabenden Sohn Gottes, in welchem Raum wir stehen. »Das, was die Stärke und der Unterscheidungsmarker der mit Geist Begabten ist, ist, dass sie zwei Leben erhalten.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 44 Kristina Dronsch Der Raum des Geistes ZNT 25 (13. Jg. 2010) 45 Anmerkungen 1 M. Schroer, Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raumes, Frankfurt a.M. 2006, 21. 2 J. Frey, Die johanneische Eschatologie II. Das johanneische Zeitverständnis (WUNT 110), Tübingen 1998, 296. 3 Frey, Eschatologie II, 289. 4 M.E. ist die Kontroverse zwischen Bultmann und Käsemann um das Verständnis von V. 14 sachgemäß dahingehend aufzulösen, dass die räumlichen Transformationen der ausschlaggebende Punkt sind. Denn das Wohnen in der lokalen Bestimmung »unter uns« gibt die empirisch erschließbare Möglichkeit, die Herrlichkeit des Logos wahrnehmbar werden zu lassen: »Seine Herrlichkeit besteht genau darin, dass er eins mit Gott ist und zwar als ein Mensch, der solidarisch den von Gott geschaffenen Kosmos bewohnt, ihn als Wohnstätte des geschöpflichen Lebens aufzeigt und dessen Leben und Sterben unter den Bedingungen der fleischlichen Existenz ein Leben und Sterben für die anderen, für den Kosmos als Gottes geliebte Schöpfung ist.« (s. Alkier, Realität der Auferweckung in, nach und mit den Schriften des neuen Testaments (NET 12), Tübingen 2009, 150). 5 Die Differenzen im Gebrauch von apostellein und pempein werden bei K. Rengsdorf, Art. apostellō, ThWNT I, 404, damit erklärt, dass »apostellein von Jesus da gebraucht wird, wo es sich um die Begründung seiner Autorität in Gottes Autorität als der Autorität des für seine Worte und Werke Verantwortlichen […] handelt, daß dagegen die Formel ho pempsas me dazu dient, die Beteiligung Gottes am Werke Jesu in der actio seiner Sendung festzustellen«. 6 Hierfür ist auch die programmatisch vorangestellte Tempelreinigung in Joh 2 von Relevanz. 7 M. Fassler, Cerbernetic Localism. Space reloaded, in: J. Döring/ T. Thielmann (Hgg.), Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008, 185-217: 192. 8 G. Deleuze, Woran erkennt man den Strukturalismus, in: Die einsame Insel. Texte und Gespräche von 1953- 1974, hg. v. D. Lapoujade, aus d. Franz. v. E. Moldenhauer, Frankfurt a.M. 2003, 248-281: 253. 9 »Anders als der linguistische oder ethnologische Strukturalismus, der von einem einheitlichen und axiomatischen Verteilungsgesetz der Sprach- und Verwandtschaftssysteme ausgeht, verstehen Foucault und Deleuze jede Struktur als eine in Veränderung begriffene Mannigfaltigkeit von Relationen und Elementen. Deleuze verdeutlicht dies mit dem aus der Botanik entnommenen Begriff des ›Rhizoms‹ […], einem Wurzelgeflecht, das sich ohne die Unterscheidung von Haupt- und Nebenwurzel als vielfältige Verästelung mit erneuten Bündelungen und Überschneidungen ausbreitet« (D. Quadflieg, Philosophie, in: St. Günzel (Hg.), Raumwissenschaften (stw1891), Frankfurt a.M. 2009, 274-289: 276f. 10 Vgl. z.B. J.M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, aus dem Russ. v. R.-D. Keil, München 1970. 11 Vgl. z.B. M. Foucault, Raum, Wissen Macht, in: ders., Schriften. Dits et Ecrits, Bd. 4, hg. v. D. Defert u. F. Ewald, Frankfurt a.M. 1994, 324-340. 12 Vgl. z.B. G. Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, aus dem Ital. v. H. Thüring, Frankfurt a.M. 2002. 13 Vgl. z.B. J. Derrida, Chora, Wien 1995. 14 Zentraler Vers für eine ontologische versus funktionale Bestimmung des Geistes im Johannesevangelium ist Joh 7,39. Porsch, [Pneuma und Wort, 53] nennt diese Stelle das »›Grundgesetz‹, unter dem alle Pneuma-Aussagen im JohEv stehen«. 15 Ich danke Annette Weißenrieder für die Einsicht in ihr Manuskript, zu dem von ihr und Troy Martin herausgegebenen Quellenbuch zur antiken Anthropologie. Die Anregung zu einer relationalen topographischen Bestimmung von pneuma verdanke ich den in diesem Manuskript dargebotenen Quellentexten. 16 St. Alkier, Realität der Auferweckung in, nach und mit den Schriften Neuen Testaments (NET 12), Tübingen 2009, 152. 17 F. Porsch, Pneuma und Wort. Ein exegetischer Beitrag zur Pneumatologie des Johannesevangeliums (FThSt 16), Frankfurt a.M. 1974, 49. 18 T.G. Brown, Spirit in the Writings of John, Johannine Pneumatology in Social-scientific Perspective (JSNT.SS 253), London/ New York 2003, 90. 19 Porsch, Pneuma, 36. 20 Brown, Spirit, 96. 21 H. Thyen, Johannesevangelium (HNT 6), Tübingen 2005, 92. 22 So beispielsweise Brown, John, 157; Y. Ibuki, Die Wahrheit im Johannesevangelium, Bonn 1972, 240; Porsch, Pneuma, 38; G.M. Burge, The Anointed Community. The Holy Spirit in the Johannine Tradition, Grand Rapids 1987, 60f.; C. Bennema, The Power of Saving Wisdom. An Investigation of Spirit and Wisdom in Relation to the Soteriology of the Fourth Gospel (WUNT II/ 148), Tübingen 2002, 163, die hierbei von der schwierigeren Lesart ausgehen. 23 Thyen, Johannesevangelium, 744f. 24 J. Zumstein, Johanneische Interpretation des Kreuzes, in: ders., Kreative Erinnerung. Relecture und Auslegung im Johannesevangelium, übers. v. E. Straub, Zürich 1999, 219-240: 221. 25 C. Dietzfelbinger, Das Evangelium nach Johannes (ZBK NF 4/ 2), Zürich 2001, 305. 26 K. Wengst, Das Johannesevangelium (Theologischer Kommentar zum Neuen Testament 4,2), Stuttgart 2001, 237. 27 U. Schnelle, Das Evangelium nach Johannes (ThHKNT 4), Leipzig 1998, 303. 28 J.D.G. Dunn, Baptism in the Holy Spirit. A Re-examination of the New Testament Teaching on the Gift of the Spirit in Relation to Pentecostalism Today, London 1970, 178. 29 Vgl. Thyen, Johannesevangelium, 582. 30 J. Rahner, Vergegenwärtigende Erinnerung. Die Abschiedsreden, der Geist-Paraklet und die Retrospektive des Johannesevangeliums, ZNW 91 (2000), 72-90: 74. 31 So E. Schweizer, Art. Pneuma, pneumatikos, ThWNT VI, 389-451: 437. 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 45 Zur Zeit der Ausbreitung des frühen Christentums war die Rede vom pneuma (Geist) in Lehre und Erfahrung eine der markantesten Facetten der expandierenden Bewegung. Die neutestamentlichen Autoren räumten der theologischen Reflexion über die dynamischen Erfahrungen mit dem heiligen Geist einen beachtlichen Platz in ihren Schriften ein. Der Leserkreis dieser Schriften sowie auch die Autoren selbst waren weitgehend Bürger der griechischen und römischen Welt und somit auch Teil der hellenistischen Kultur. Auf diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welches Vorverständnis von pneuma diese Personengruppen mitbrachten, als ihnen die Rede vom Geist im jüdisch-christlichen Kontext begegnete. Eine mögliche Antwort auf diese Frage wird von Friedrich Wilhelm Horn in seinem Buch über die paulinische Pneumatologie gegeben: »Paulus setzt [...] als in der Gemeinde bekannt voraus, daß der Geist mit einer Substanz, einer Flüssigkeit vergleichbar ist, die dem Glaubenden sakramental inkorporiert worden ist, die damit die neue Substanz seiner Existenz geworden ist.« 1 In dieser Aussage über das Geistverständnis in der Gemeinde in Korinth treten eine Reihe von Annahmen zu Tage, die die hellenistische Pneumatologie und ihre Relevanz für das frühchristliche Geistverständnis betreffen. Zum einen wird ein bestimmtes Wesen des Geistes vorausgesetzt. Dieses wird hier als substanzhaft und mit einer Flüssigkeit vergleichbar beschrieben. Weiterhin wird grundsätzlich vorausgesetzt, dass das hellenistische Geistkonzept genügend Schnittpunkte mit der paulinischen Rede vom Geist Gottes hat, so dass die Eigenschaften des griechischen pneuma auf das frühchristliche Geistverständnis übertragbar sind. Zum anderen wird mit dem Wesenskonzept ein bestimmtes Wirken des Geistes verbunden. Die pneuma-Substanz ist die neue Substanz der Existenz des Glaubenden geworden. Horn führt weiter aus, dass so »eine naturhafte Grundlage des neuen Seins gegeben [ist], die ein Verhalten im Einklang mit dem Geist erwarten läßt«. 2 Aus dem Wesen des Geistes ergibt sich so das (ethisch-religiöse) Wirken desselben. Eine ähnliche Verbindung von Wesen und Wirken des Geistes wird in Troels Engberg-Pedersens Untersuchungen zur stoischen und paulinischen Pneumatologie deutlich. Er fasst seine Ergebnisse folgendermaßen zusammen: »Ich schlage vor, dass wir alle paulinischen Verweise auf pneuma […] so verstehen, dass sie zurückgreifen auf ein ausgeprägt kosmologisches Konzept einer konkreten, physikalistischen Himmelskraft, […] die den Gläubigen bei der Taufe einverleibt wird, die ihre Körper beeinflusst und ihr Leben hier auf Erden lenkt, nicht zuletzt dadurch, dass diese sie durch die eine ›Energie‹, die in ihnen allen aktiv ist, in einen Körper verwandelt und schließlich ihre einzelnen Körper transformiert und in den Himmel befördert.« 3 Engberg-Pedersen ist also davon überzeugt, dass Paulus - nach Engberg-Pedersen im Gegensatz zu Philo von Alexandrien - einem platonischen, immateriellen Geistverständnis abgesagt und sich ganz der stoischen Kosmologie verschrieben hat. 4 An dieser Stelle wird in Bezug auf die hellenistische Pneumatologie deutlich, dass diese keineswegs monolithisch ist, sondern in ihrer Diversität unterschiedlich auf die Autoren der frühjüdischen und neutestamentlichen Literatur gewirkt hat. Was die Wirkung auf Paulus anbetrifft, so konstatiert Engberg-Pedersen, dass das stoische Geistkonzept eine ganzheitliche Beeinflussung der Glaubenden impliziert. Ihr Leben wird durch diese materielle Kraft des Himmels bestimmt, und ihre einzelnen Körper werden durch diese eine Energie zu einem Leib vereint. Ist das oben beschriebene Geistverständnis charakteristisch für die hellenistische Welt und dementsprechend eine prägende Kraft für die Entwicklung und Rezeption der neutestamentlichen Rede vom Geist Gottes? Um diese Frage zu beantworten, werden im ersten Teil dieses Artikels Wesen und Wirken des Geistes in der griechischrömischen Literatur näher untersucht. Im zweiten Teil wird Philo von Alexandrien als ein vom Hellenismus beeinflusster jüdischer Religionsphilosoph zu Wort kommen. Vor allem im Schlussteil wird dann über die Wechselwirkungen mit der neutestamentlichen Literatur reflektiert. Zum Thema Volker Rabens Geistes-Geschichte Die Rede vom Geist im Horizont der griechischrömischen und jüdisch-hellenistischen Literatur 46 ZNT 25 (13. Jg. 2010) »Das physiologische Verständnis des belebenden Einatmens legt ferner den psychologischen Aspekt der Inspiration nahe.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 46 Volker Rabens Geistes-Geschichte 1. Das Wesen des Geistes in der griechisch-römischen Literatur Pneuma ist etymologisch von pneō (wehen, hauchen) abzuleiten und bezeichnet Wind, Hauch, Atem, wie sie im Bewegungsprozess als wirksam erfahrbar sind. Da das Atmen mit dem »Lebendigsein« identifiziert wird, wird pneuma teilweise auch zur Bezeichnung von »Leben« verwendet. Das physiologische Verständnis des belebenden Einatmens legt ferner den psychologischen Aspekt der Inspiration nahe. 5 Fraglich ist jedoch, ob pneuma bereits vor den Anfängen des Christentums für ein übernatürliches, empfindungsfähiges Geistwesen stand. Diese These vertritt Hans Leisegang. Seiner Ansicht nach geht dieses theologische pneuma-Konzept nicht so sehr auf jüdische Vorstellungen vom Geist Gottes als vielmehr auf die griechischen Mysterien zurück. Dort begegnet man dem Ideal der prophetischen Inspiration, bei der der menschliche Verstand durch ein göttliches Geistwesen zurückgedrängt und nahezu ausgeschaltet wird. Angeregt von R. Reitzensteins Buch über die »Hellenistischen Mysterienreligionen« (1909), sieht Leisegang in dieser griechischen Inspirationslehre die Wurzeln des Geistverständnisses sowohl bei Philo von Alexandrien als auch bei den neutestamentlichen Autoren. 6 Diese Darstellung der griechisch-römischen Literatur ist jedoch methodisch und inhaltlich in Frage zu stellen. Methodisch muss zunächst gesagt werden, dass das Vorhandensein einer Inspirationslehre nicht bedeuten muss, dass damit automatisch die Vorstellung von pneuma als einem personalen Geistwesen verbunden ist. Die Personalität des Geistes von Inspirations-Terminologie mit einem ähnlichen Wortstamm wie pneuma abzuleiten (epipnoia, empneō), bedeutet lexikographische Studien mit religionsgeschichtlichen zu verwechseln. Auf diesem Wege werden dem Wort pneuma bestimmte religiöse Konzepte aus neutestamentlicher Zeit angehängt, ohne dass diese Vorstellungen in der hellenistischen Literatur vor der Zeitenwende wirklich eine Rolle gespielt hätten. 7 Letzteres bestätigt sich auch bei der inhaltlichen Auseinandersetzung mit der griechisch-römischen Literatur, denn pneuma wird hier im Gegensatz zum hellenistischen Judentum äußerst selten für ein (göttliches) Geistwesen verwendet. 8 Vielmehr wird ein Geist mit dem Begriff daimōn bezeichnet (z.B. Plato apol. 27C-E). 9 (Allerdings ist es an dieser Stelle notwendig, die Komplexität der unterschiedlichen Geistbegriffe in der Antike im Auge zu behalten. Beispielsweise gibt es in der Stoa nur in begrenztem Maß die Differenzierung zwischen göttlichem und menschlichem Geist, wie sie weitgehend in der Forschung zum Neuen Testament vorgenommen wird. Die menschliche Seele ist ein Fragment des alles durchdringenden Weltpneumas. Dieses kann auch als »göttlich« bezeichnet werden [Cic.n.d. 2,19], denn pneuma und Feuer machen die physische Konsistenz Gottes aus [vgl. Alex.Apr.mixt. 225,1-10]. 10 ) Kommen wir nun zur eingangs aufgeworfenen Frage nach der Substanz des Geistes. In seinem ThWNT-Artikel zu pneuma schreibt Kleinknecht, dass dessen »durchgehende Grundbestimmtheit […] seine ebenso subtile wie wirkungskräftige Körperlichkeit« ist (355). Dieser These entspricht die bereits erwähnte Pneumatologie der Stoiker. Die antike philosophische Schule der Stoa vertrat eine monistische Kosmologie, in der das pneuma die Welt durchwaltet und zusammenhält. Dieses der Welt immanente pneuma wurde dementsprechend materiell gedacht: Es durchdringt alle Körper und ist mit ihnen »vermischt« (Alex.Apr.mixt. 224,14-16). Es bildet sogar die Substanz der Himmelskörper (Cic.n.d. 2,42). Der materielle Geist (pneuma Dr. Volker Rabens, Jahrgang 1971, studierte eologie in London und Tübingen. 2002-2005 Stipendium und Mitarbeit beim Graduiertenkolleg „Die Bibel - ihre Entstehung und ihre Wirkung“ (Deutsche Forschungsgemeinschaft/ Universität Tübingen); 2006-2009 Dozent mit Schwerpunkt Neues Testament am eologischen Seminar Adelshofen (bei Heidelberg). 2008 Promotion an der London School of eology über den Heiligen Geist und Ethik bei Paulus (Veröffentlichung bei Mohr Siebeck, WUNT II). Seit 2009 Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Neues Testament und Postdoc beim Internationalen Kolleg für Geisteswissenschaftliche Forschung „Religionsgeschichtliche Dynamiken“ an der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Pneumatologie; neutestamentliche Ethik und ihre Interaktion mit frühjüdischer und hellenistischer Ethik; paulinische eologie. Dr. Volker Rabens ZNT 25 (13. Jg. 2010) 47 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 47 Zum Thema 48 ZNT 25 (13. Jg. 2010) hylikon) ist nach Galens Darstellung der Stoiker »vergleichbar mit trockener und flüssiger Nahrung« (Gal.p.h.p. 2,8,39). Wie wir in der Untersuchung zum Wirken des Geistes weiter unten sehen werden, ist dieses pneuma ein zentrales Prinzip in der Physik der Stoiker. Trifft diese Vorstellung vom pneuma als materieller Größe nun auf die gesamte griechisch-römische Literatur der Antike zu, wie Kleinknecht es behauptet? Zunächst ist festzustellen, dass die stoische Pneumatologie nicht ohne Echo in anderen philosophischen Richtungen blieb. Dies betraf vor allem die Durchdringung der Welt durch das pneuma. So schreibt Pseudo-Aristoteles, dass der Atem, der auch pneuma genannt wird, die Substanz ist, die in allen Pflanzen und Tieren ist und alles durchdringt (Ps.Arist.mund. 4.394b). Auf diesem Hintergrund geht der Religionswissenschaftler Dale Martin nun einen bedeutenden Schritt weiter. Er stellt die These auf, dass es in der antiken griechisch-römischen Literatur grundsätzlich keine Unterscheidung zwischen materiell und immateriell gab. Die gesamte Antike habe ein monistisches Weltbild gehabt. Der Dualismus, der häufig Platon angehängt wird, komme in Wahrheit von Descartes. Außerdem sei in jedem Fall der Stoizismus die dominante Philosophie der Antike gewesen, während der Platonismus schnell an Einfluss verloren habe. 11 Martins Thesen sind jedoch nicht unproblematisch. Zum einen bedeutete das Ende der platonischen Akademie nicht zwangsläufig den Verlust ihres Einflusses zur Zeit der Zeitenwende. Im Gegenteil, nach der vorübergehenden Abkehr der Akademie von Platon in der skeptischen Phase »erhob sich P[laton]s Œuvre ab dem 1. Jh. v. Chr. zur dominierenden [Mittelplatonismus], und schließlich zur allein bestimmenden Kraft [Neuplatonismus]«. 12 Zum anderen sind sich sowohl antike (z.B. Plut.mor. 882D) als auch moderne Gelehrte darin einig, dass Platon sehr wohl das Konzept immateriellen Seins hatte. Diese geistige Welt ist deutlich von der materiellen differenziert. Nach Rüsche und Wili ist Platons Konzept der Immaterialität (des pneumas) sogar so markant gewesen, dass es die Pneumatologie des späteren stoischen Denkers Poseidonios stark beeinflusst hat. 13 Martins Behauptung, dass der antike Mensch nur zwischen leichter und schwerer Materie unterscheiden und Immaterielles nicht denken konnte, ist also nicht haltbar. Die Stoiker hatten ein hylozoistisches Weltbild, in dem der Geist durch seine Körperlichkeit den Kosmos bewegt und belebt. Platon hingegen hatte ein dualistisches Weltbild, in dem Gott immateriell gedacht ist. Das Bild, das sich dementsprechend von der Rede vom pneuma in der Antike abzeichnet, ist bunt - bunter, als es die oben zitierte These Kleinknechts zulässt. Es gab den immateriellen und den materiellen Geist, und pneuma konnte kosmologische, anthropologische und teilweise auch theologische Züge besitzen (letzteres im Sinne der Substanz Gottes: Gott ist Feuer und Geist). 2. Das Wirken des Geistes in der griechisch-römischen Literatur Wir haben bereits gesehen, dass bestimmte Auffassungen vom Wesen des Geistes mit konkreten Vorstellungen zu dessen Wirken einhergehen können. Anstelle hier nun zu versuchen, die verschiedenen Wirkweisen des Geistes (wie z.B. Inspiration) in der griechisch-römischen Literatur enzyklopädisch darzustellen, werden wir uns vielmehr den eingangs erwähnten Fragen zuwenden, die in der aktuellen neutestamentlichen Forschung aufgeworfen wurden. Wenn der Geist in mindestens einer philosophischen Schule der Antike als alles durchdringende Materie verstanden wurde, bedeutet dann der Empfang des göttlichen Geistes die Verwandlung in einen neuen Menschen, dessen veränderte Substanz ethisch gutes Leben hervorbringt? Das in dieser Frage zu Tage tretende Konzept vom Wirken des Geistes kann treffend mit dem englischen Begriff »infusion-transformation« gefasst werden. 14 Gab es dieses nahezu magische Konzept, auf dessen Hintergrund laut Horn der »pneumatische Enthusiasmus« in der Gemeinde in Korinth entstanden war, 15 tatsächlich bereits in der stoischen Philosophie? Einige Komponenten der »infusion-transformation« sind in der Stoa durchaus vorhanden. Wie wir sahen, wurde pneuma als materiell gefasst. Auch die Seele wurde als physisches Gebilde gedacht (z.B. D.L. 7,156f.). Und die Notwendigkeit sittlichen Lebens war ein zentraler Gedanke der Stoa. Der Mensch war aufgefordert, in Einklang mit der Natur zu leben - der allgemeinen Natur sowie auch seiner individuellen Disposition (Cic. off. 1,110f.; Alex. Aphr. fat. 196,24- 197,3; Sen. ep. 41,9; 94,8). Entscheidend ist nun jedoch die Frage, ob diese Komponenten in der von Horn angesprochenen Weise in einem Konzept kombiniert wurden, in dem das religiös-ethische Leben des »pneuma konnte kosmologische, anthropologische, und teilweise auch theologische Züge besitzen« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 48 Volker Rabens Geistes-Geschichte ZNT 25 (13. Jg. 2010) 49 Menschen durch eine substanz-ontologische Veränderung der menschlichen Seele durch das materielle pneuma zu Stande kommt. Zunächst ist festzuhalten, dass pneuma tatsächlich aufgrund seiner materiellen Beschaffenheit eine gestaltende Kraft in der Welt der Stoiker hatte. Dadurch, dass das pneuma die physische Welt in einer bestimmten Spannung hält, verleiht es allem was existiert Form und Zusammenhalt. Es kann sich ausdehnen und zusammenziehen und so die Dinge bewegen (Cic.Ac. 1,39; Plut.st.rep. 1053F-1054B). Dieser pneumatische Wirkungskreis umspannt auch den Bereich der Anthropologie. Die Signale, die der Verstand an die Gliedmaßen schickt, um diese zu bewegen, werden physisch über das pneuma transportiert. Ebenso werden die Sinneswahrnehmungen der Körperteile (Sehen, Tasten, etc.) pneumatisch übermittelt. Chrysippus erklärt dieses Prinzip mit dem Bild eines Spinnennetzes: Wenn ein kleines Insekt ins Netz fliegt, spürt die Spinne in der Netzmitte aufgrund der Spannung des Netzes einen Impuls (SVF 2,879). Diese physische Bedingtheit aller biologischen Abläufe im Körper dehnt sich in der Stoa auch auf die Gefühle und den Charakter des Menschen aus. Letzteres schließt auch die Tugenden mit ein (Plut.st.rep. 1034D-E; Sext.Emp.p.h. 3,188). Damit geht also auch das ethische Sein und Tun der Menschen auf physische Dispositionen zurück. Dennoch gibt es nur wenige stoische Belege, in denen pneuma und ethisches Leben in einem Atemzug genannt werden (z.B. D.L. 7,158: die Leidenschaften sind durch Veränderungen im pneuma bedingt). Dementsprechend ist dem Urteil von Büchsel und Keener weitgehend zu zustimmen, dass das materielle Geistkonzept der Stoiker zentral für ihre Physik war, in ihrer Ethik aber eine eher untergeordnete Rolle spielte. 16 Darüber hinaus ist es von zentraler Bedeutung, dass die Stoa mit einem pantheistischen Gottesbild operiert. 17 So belehrt Seneca seinen Schüler Lucilius, dass er nicht den »externen«, sondern den »internen« Gott suchen soll: »Du tust etwas Vorzügliches und für dich Heilsames, wenn du […] weiterhin fortschreitest zu sittlicher Vervollkommnung, die zu wünschen töricht ist, da du sie von dir selbst erlangen kannst. Man braucht nicht die Hände zum Himmel zu erheben oder den Tempelwächter anflehen, dass er uns zum Ohr des Götterbildes vorlasse, als ob wir dann besser erhört werden könnten: nahe ist dir der Gott, mit dir ist er, in dir ist er« (Sen.ep. 41,1, Übers. Rosenbach). Die menschliche Seele, die das göttliche pneuma im Menschen ist (Sen.ep. 41,2-9), ist also die Natur, mit der in Einklang der Mensch zu leben aufgefordert ist. Zwar kann sich die Disposition des Einzelnen verändern (Plut.prof. 75C; Plut.comm.not. 1063B), aber dies geschieht nur durch die Kultivierung der rationalen Seele durch das Individuum, und zwar durch die Philosophie (Sen.ep. 6,1f.; 73,15f.; 110,1.10; Aurel. 8,14). Das Eingreifen Gottes durch eine von außen herbeigeführte Verdichtung des pneumas im Individuum ist jedoch nicht vorgesehen. Aus der obigen Analyse können wir schlussfolgern, dass es in der griechisch-römischen Literatur durchaus Tendenzen gab, die die Entstehung eines »Infusion- Transformation«-Modells der Wirkungsweise des Geistes hätten begünstigen können, sollte es dieses in den neutestamentlichen Schriften gegeben haben. Einzelne Komponenten, wie etwa das Konzept vom materiellen pneuma, lagen in der stoischen Philosophie vor. Gravierend ist jedoch, dass das entscheidende Moment fehlt, und zwar die »infusion« durch ein von außen kommendes, göttliches pneuma bzw. die extern gewirkte Verdichtung des innewohnenden pneumas. Anstelle dessen wurde ethisches Sein und Tun durch das Leben nach der eigenen Natur ermöglicht und durch die Kultivierung der Ratio gefördert. Daher stellt sich die Frage, ob es in der griechisch-römischen Literatur pneumatologische Strömungen gab, die der von Horn und Engberg-Pedersen vorgezeichneten Linie klarer als die stoischen Texte entsprechen. Oder gab es möglicherweise ein anderes Modell vom Wirken des Geistes, auf dessen Hintergrund sich die pneumatologischen Entwicklungen im Neuen Testament, insbesondere bei Paulus, besser verstehen lassen? Um unsere Perspektive entsprechend zu erweitern, werden wir den jüdischhellenistischen Philosophen Philo anschauen, der einiges über das Wesen und Wirken des Geistes zu sagen hat. 3. Jüdisch-Hellenistische Pneumatologie bei Philo von Alexandrien a) Das Wesen des Geistes In der hebräischen Bibel und im frühen Judentum gab es generell wenig sichtbares Interesse an Reflexionen zur Ontologie des Geistes. Die Rede vom göttlichen »Wenn ein kleines Insekt ins Netz \iegt, spürt die Spinne in der Netzmitte aufgrund der Spannung des Netzes einen Impuls.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 49 Zum Thema 50 ZNT 25 (13. Jg. 2010) Geist, der Gegenwart JHWHs, wird weitgehend in Metaphern gekleidet (z.B. der Geist wird »ausgegossen«). 18 Eine Ausnahme bildet hier Philo von Alexandrien (ca. 15 v. Chr. - 45 n. Chr.), der einer der wichtigsten Denker des hellenistischen Judentums ist. In Philos umfangreichem Schriftgut findet sich eine philosophische Darstellung und Verteidigung der jüdischen Religion. Philo drückt jüdisches Gedankengut in griechischer Sprache und mit Konzepten der hellenistischen Philosophie aus. Dieser Prozess hatte selbstverständlich Auswirkungen auf die vermittelten Inhalte, denen in unterschiedlichem Maße Beeinflussung durch stoische und platonische Philosophie oder prinzipielle Treue zur jüdischen Tradition nachgesagt wird. Die Verbindung dieser drei Weltanschauungen trägt auch zur Komplexität von Philos pneuma-Konzept bei. Philo hat unterschiedliche pneuma-Kategorien, zu denen vor allem Luft, der rationale Aspekt der menschlichen Seele und die Kraft der göttlichen Inspiration gehören. Einige Leser von Philos Werken, die vor allem die stoischen Elemente in seiner Theologie als dominant betrachten, sehen in Philos Rede vom Gottesgeist die stoische Grundidee von der Materialität des pneumas vertreten. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass sich bei Philo keine expliziten Aussagen finden, die eine solche Aufnahme einer materialistischen Pneumatologie belegen würden. 19 Dort, wo Philo das Wesen des Geistes definiert, sagt er hingegen deutlich, dass es sich hierbei um eine »nicht-körperliche Substanz« (asōmatos ousia, Opif. 29; QG I,92; vgl. Gig. 19.28.53; Deus 2; QG I,90) handelt. Philo versteht den göttlichen Geist also nicht als eine materielle Größe, denn sein jüdischer Glaube an die Kluft zwischen Gott und Mensch bedeutet für ihn, dass er ganz im Sinne Platons die göttliche Natur, und damit auch den Geist, als immateriell versteht. 20 Auf diesem Hintergrund wird deutlich, dass dem philonischen Geistverständnis die erste, grundlegende Säule des »Infusion-Transformation«-Modells fehlt, denn der Geist wird explizit als nicht-körperlich definiert. Dennoch argumentiert Brandenburger, Philo habe genau dieses Konzept vom Wirken des Geistes. b) Das Wirken des Geistes 1) »Infusion-Transformation«. Wie stellt sich Philo das religiös-ethische Wirken des Gottesgeistes vor? Im Einklang mit den in der Einleitung dieses Artikels zitierten Autoren sagt Egon Brandenburger in Bezug auf Philos Quod Deus sit immutabilis 123, Philo verstehe Bekehrung »auf substanzhafter Grundlage [...] Auch nimmt nicht mehr der transzendente Gott im Menschen Wohnung, sondern der göttliche Logos, der als lichtgestaltige, pneumatisch-unsterbliche Wesenheit in die Seele einzieht und das sterbliche Wesen vernichtet. Die Wandlung des Verhaltens basiert auf einem Austausch des zugrundeliegenden Wesens. Unsterblich-pneumatisches Wesen schließt das sterblich-irdische grundsätzlich aus.« 21 Diese Argumentation im Sinne einer »infusiontransformation« scheint dem Text jedoch kaum gerecht zu werden. Beim ersten Lesen kann man zwar den Eindruck gewinnen, es wäre ein plötzlicher, substanz-ontologischer Wandel im Menschen angesprochen, wenn Philo schreibt »man muss also sagen […], dass, wenn in der Seele das unvergängliche Wesen erscheint, das sterbliche sofort vernichtet wird« (123). 22 Allerdings erklärt Philo wie diese Aussage zu verstehen ist, wenn er direkt im Anschluss fortfährt, »denn [gar] die Geburt der guten Taten ist der Tod der bösen«. Mit dem »unvergänglichen Wesen« sind also die guten Taten gemeint, die der Mensch zu tun beginnt (= »Geburt«). Demnach beschreibt Philo die religiös-ethische Veränderung im Menschen hier eher dynamisch als ontologisch. Darüber hinaus ist es wichtig zu beachten, dass hier pneuma gar nicht von Philo verwendet wird (so auch Brandenburger). Wir können also resümieren, dass das religiös-ethische Wirken des Geistes Gottes auch bei Philo nicht der Konzeption einer »infusiontransformation« entspricht. 23 Daher ergibt sich nun die Frage, ob es bei Philo eine alternative Linie zum Wirken des Geistes gibt. 2) Eine alternative Konzeption des religiös-ethischen Wirkens des Geistes bei Philo. Für Philo ist die Erfahrung der intensiven Gegenwart Gottes von zentraler Bedeutung. Philo »betreibt als Exeget Erfahrungstheologie, in der er Wege zur verwandelnden Erfahrung göttlicher Gegenwart sucht«. 24 So stellt er beispielsweise in Legatio ad Gajum 5 heraus, dass das Schauen Gottes der wertvollste Besitz ist, den es geben kann. Dieser intimen Begegnung mit Gott schreibt er eine weitaus stärkere Wirkungskraft zu, als sie der Anblick von Lehrern, Amtsträgern oder Eltern auf seine Betrachter hat. Zwar motiviert auch der Anblick menschlicher Autoritätspersonen seine Betrachter zu Achtung, Anstand und dem Streben zu einem »Philo versteht den göttlichen Geist also nicht als eine materielle Größe« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 50 Volker Rabens Geistes-Geschichte ZNT 25 (13. Jg. 2010) 51 Leben voll Besonnenheit. Dennoch ist das Schauen Gottes, des »Urguten, Urschönen, Glückhaften und Seligen« im Vergleich dazu eine weitaus größere Stütze für die Entwicklung der Tugenden und guten Gesinnungen im Menschen (Legat. 5). An anderer Stelle erklärt Philo, wie diese Befähigung zu religiös-ethischem Leben funktioniert: »genauso wie jemand, der sich dem Licht nähert, sofort erleuchtet wird, so ist auch die ganze Seele von dem erfüllt, der Gott begegnet«. Es ist also die Nähe Gottes, die den Menschen mit allem Guten erfüllt. 25 Philo reflektiert über diese verändernde und zu ethischem Leben befähigende Wirkungsweise von »mystischen« Begegnungen mit Gottes Gegenwart durch seine gesamten Schriften hindurch. 26 Anhand einiger exemplarischer Belege werden wir sehen, dass der göttliche Geist in diesem Prozess eine zentrale Rolle spielte. Denn Philo schreibt dem Geist nicht nur generell eine deutliche ethische Wirkungsweise zu, 27 sondern aus seinen Schriften geht auch hervor, wie der Geist diese Wirkungen hervorbringt. Der Weg, auf dem der Geist den Menschen verändert und zu ethischem Leben bevollmächtigt, ist genau der, den wir gerade beschrieben haben, nämlich die existentielle Begegnung mit »dem der I ST «. Denn nach Philo ist es der Geist, der den Menschen näher zu Gott bringt (vgl. Plant. 18; LA I,33f.37f.). Da Philo deutlich macht, dass es die geistgewirkte innige Beziehung zu Gott ist, die ethisches Leben ermöglicht, können wir von einer relationalen Konzeption des religiös-ethischen Wirkens des Geistes bei Philo sprechen. 28 Diese relationale Konzeption finden wir bei Philo zunächst ganz grundsätzlich in seiner Interpretation der in Genesis 2,7 beschriebenen Einhauchung des Geistes, wie er sie in Legum allegoriae I,38-39 vornimmt. Philo präsentiert hier das Werk des Geistes als das Hinaufziehen der menschlichen Seele (nous) zu Gott. Nur durch die Anhauchung mit pneuma ist der Mensch in der Lage, Gottes Wesen zu ergründen. Philo nennt das Resultat dieser Geisteinhauchung »ethisch«, denn nur durch das geistgewirkte Erfassen der Vollkommenheit und Güte Gottes wird im Menschen das eigene Leben nach diesen Tugenden angeregt (vgl. §34f.). Das Leben des ersten Menschen ist nun auch von dieser Gottesnähe und dem daraus hervorgehenden tugendhaften Leben geprägt, wie aus De opificio mundi 144 hervorgeht: »Im Verkehr und im Zusammenleben mit diesen [göttlichen Wesen] verbrachte er [der erste Mensch] natürlich seine Zeit in ungetrübtem Glücke; ganz nahe verwandt mit dem Weltenlenker, da doch der göttliche Geist voll in ihn geflossen war, bestrebte er sich alles nur zum Wohlgefallen des Vaters und Königs zu reden und zu tun, indem er seinen Spuren auf den Heerstraßen folgte, die die Tugenden bahnen«. Die Nähe zu Gott wird auch hier durch den göttlichen Geist gewirkt (wobei diese Nähe bzw. »Verwandtschaft« an dieser Stelle möglicherweise stärker die Gottebenbildlichkeit als die emotionale Nähe im Fokus hat). 29 Weil der göttliche Geist in den Menschen geflossen ist (1.), 30 steht dieser Gott nahe (2.), und ist aus diesem Grund daran interessiert, ein Gott wohlgefälliges Leben zu leben (3.). Diese Kausalkette bestätigt die These, dass das religiös-ethische Wirken des Geistes bei Philo relational gedacht ist, denn der Geist wirkt beziehungsstiftend. Aus dieser Beziehung geht das ethische Leben hervor. Im vorliegenden Text kommt dies dadurch zur Vollendung, dass der Mensch Gott Schritt für Schritt auf den Wegen folgt, die die Tugend für ihn bereitet. Der Wunsch nach und die Ermöglichung von ethischem Leben gehen hier also Hand in Hand. Diese relationale Konzeption des Wirkens des göttlichen Geistes kommt nicht nur in Philos Abhandlungen zur (allgemeinen) Inspiration des ersten Menschen zum Tragen, sondern auch in dem, was er über die Inspiration spezieller Menschen Gottes wie Abraham und Mose mit dem prophetischen Geist schreibt. Dies wird durch eine Reihe von Belegen deutlich (z.B. Mos. II,69; QE II,29). Wir wollen uns hier einen kurzen Text über das Wirken des Geistes an Mose anschauen. Philo beschreibt in De gigantibus 54-55 wie Mose Gott anbetet, und »geht in die Finsternis, den unsichtbaren Raum hinein und bleibt daselbst die heiligsten Mysterien feiernd. Ist er doch nicht nur Myste, sondern auch Hierophant [Enthüller der heiligen Geheimnisse] der heiligen Handlungen und Lehrer der göttlichen Dinge, die er denen, die reine Ohren haben, auslegen wird. Bei diesem also bleibt immer der göttliche Geist ihn führend auf jedem rechten Wege [...]« Philo stellt in diesen Zeilen heraus, dass der Geist Gottes in der göttlichen Nähe wirkt und als »führend auf jedem rechten Wege« erfahren wird. Aus dem vorangehenden Abschnitt (§53) geht hervor, dass es nur durch das Wirken des göttlichen Geistes möglich ist, dass Mose das Irdische hinter sich lässt, sich Gott nähert und ihn anbetet. Wir finden also auch bei der Inspiration besonderer Menschen, dass für Philo ein zentraler Weg »Philo präsentiert hier das Werk des Geistes als das Hinaufziehen der menschlichen Seele (nous) zu Gott.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 51 Zum Thema 52 ZNT 25 (13. Jg. 2010) des religiös-ethischen Wirkens des Geistes die von diesem evozierte Erfahrung der Nähe Gottes ist, die sowohl kognitiv-noetische als auch existentiell-mystische Elemente besitzt (vgl. LA I,38; Praem. 43-46; Post. 12f.). Im vorliegenden Text ist das Resultat dieser Wirkung darüber hinaus die Befähigung zum Verkündigungsdienst. Wir können zusammenfassen, dass sich bei Philo die Konzeption der »infusion-transformation« nicht findet - weder in Bezug auf das Wesen des Geistes, das bei Philo als »unkörperlich« definiert wird, noch in Bezug auf das Wirken desselben, das bei Philo nicht als prompte substanz-ontologische Transformation gefasst ist. Vielmehr hat sich ein alternatives Bild von der Wirkungsweise des Geistes gezeigt, das als »relational« bezeichnet werden kann. Der Geist verändert und befähigt den Menschen zu religiös-ethischem Leben, indem eine vitalisierende Begegnung und enge Beziehung mit dem Schöpfergott ermöglicht wird. In dieser Beziehung erfährt der Mensch Veränderung und neue Kraft für das Leben auf den Wegen der Tugend. Damit ergibt sich ein vielversprechender Anknüpfungspunkt für die Interpretation der neutestamentlichen Texte zum Wesen und Wirken des heiligen Geistes. 4. Konsequenzen für die Interpretation der neutestamentlichen Rede vom Geist Gottes Die in diesem Aufsatz gewonnenen Einblicke in die »Geistes-Geschichte« haben ein buntes Bild von der Rede vom Geist in der griechisch-römischen und jüdisch-hellenistischen Literatur gezeichnet. So hat es sich erwiesen, dass die von Horn und Engberg-Pedersen vorausgesetzte Konzeptionalisierung des Geistes als materielle Substanz durchaus in mindestens einer philosophischen Schule der Antike vorhanden war. Allerdings wurde genauso deutlich, dass es auch andere Vorstellungen vom Wesen des Geistes gab. Dazu gehörte einerseits die Vorstellung eines immateriellen pneuma. Andererseits kam auch zur Sprache, dass im überwiegenden Teil der frühjüdischen Literatur die Frage nach der Substanz des Geistes gar nicht gestellt wurde. Für die Auslegung neutestamentlicher Rede vom Geist ergibt sich aus diesem Befund die Notwendigkeit, dass genau geprüft werden muss, ob der jeweilige Autor eine Definition der Substanz des Geistes vorlegt oder voraussetzt. Da Ersteres kaum der Fall ist, ist bei Letzterem um so mehr Vorsicht gefragt - vor allem wenn man von einem bestimmten Geistkonzept einen spezifischen Modus des Geistwirkens ableitet, wie Horn, Engberg-Pedersen und andere es tun. 31 Weiterhin wurde deutlich, wie wichtig es ist, bei der Interpretation individueller Verwendungen von pneuma dessen differenziertes Bedeutungsspektrum im Auge zu behalten (»kosmologisch - anthropologisch - theologisch«). Auch wenn die unterschiedlichen Kategorien in der Stoa teilweise ineinanderfließen, so gibt es durchaus Interpretationszusammenhänge, in denen die Verwechslung dieser Kategorien zu fehlgeleiteten Ergebnissen führen kann. Im ersten Teil dieses Artikels lag ein solcher Fall mit den dort diskutierten Thesen Leisegangs vor. Ein weiteres Beispiel ist die Interpretation paulinischer Geistaussagen im Horizont medizinischer Pneumatheorien von Troy Martin. Die antiken Ärzteschulen machten sich Gedanken dazu, wie pneuma (»Sauerstoff«) in den menschlichen Körper gelangt und vom Herzen mit Blut gemischt durch diesen gepumpt wird. Martin zitiert unter anderem Hippokrates, Über die Nahrung 55, wo die Bedeutung von Feuchtigkeit für die Nahrungsaufnahme herausgestellt wird. Auf diesem Hintergrund ist nach Martin die Geistvermittlung in 1. Kor 12,13 zu verstehen. Der Geist benötigt das Wasser der Taufe, damit er über die Haut aufgenommen werden kann. 32 An dieser Stelle werden jedoch die oben genannten Kategorien unzulässig vermischt. Schon anhand der Sprache eines medizinischen Textes wie des von Martin mehrfach angeführten Erasistratos (vgl. Gal.p.h.p. 6,6.) wird deutlich, dass Paulus ein vollkommen anderes Anliegen verfolgt. Die Modalitäten für die Aufnahme von Nahrung und die davon abgeleiteten Bedingungen für die Rezeption des physiologischen pneuma können dementsprechend nicht einfach auf den Geist Gottes übertragen werden. Darüber hinaus teilt Martins religionsgeschichtliche Auslegung mit Horn und Engberg-Pedersen die Annahme, dass das materielle pneuma über den ebenfalls physischen Hilfsstoff Wasser, oder über Brot und Wein, in den Menschen gelangt. 33 An dieser Stelle zeigt sich jedoch eine weitere Differenz zwischen dem von ihnen für Paulus vorgeschlagenen Modell des Geistwirkens (»infusion-transformation«) und der Rede vom Geist in der hellenistischen Literatur. Nach der stoischen Tradition besitzt jeder Mensch göttliches pneuma im Sinne von »Seele«. Dem muss nichts hinzu- »Philo stellt in diesen Zeilen heraus, dass der Geist Gottes in der göttlichen Nähe wirkt und als ›führend auf jedem rechten Wege‹ erfahren wird.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 52 Volker Rabens Geistes-Geschichte ZNT 25 (13. Jg. 2010) 53 gefügt werden, außer der eigenen Kultivierung dieses pneumas durch die Philosophie. Es bedarf also auch keiner Hilfsstoffe, um den göttlichen Geist zu erlangen. Paulus hingegen scheint zwar auch von der Existenz eines pneumas im Menschen im Sinne einer Seele auszugehen. Aber dieses ist vom göttlichen Geist unterschieden (Röm 8,16; 1Kor 2, 10-12; 14, 12-14, 32). Der göttliche Geist wird indessen als »Geist seines Sohnes« definiert und von Gott in die Herzen der Gläubigen gesendet (Gal 4,6). Die Schnittpunkte, die es an diesem Punkt zwischen dem stoischen und dem paulinischen Geistverständnis gibt, sind also minimal. Daher ist es auch methodisch schwer vertretbar, dennoch Eigenschaften und Wirkweisen des pneumas von A nach B übertragen zu wollen. Was für die griechisch-römische und jüdisch-hellenistische Literatur gesagt werden konnte, gilt für Paulus um so mehr: seine Aussagen zur Wirkweise des Geistes können nicht mit dem Konzept der »infusiontransformation« erfasst werden. Im Gegensatz zum Hellenismus, aber im Einklang mit dem Großteil der frühjüdischen Autoren, fragt Paulus nicht nach der Substanz des Geistes. 34 Zwar ist es möglich, dass Paulus dennoch mit einem materiellen pneuma-Konzept operiert. Schließlich gibt es bei Paulus mehrere Texte, in denen es keine Anhaltspunkte gibt, warum er dem Geist religiös-ethische Wirkungen zuschreibt. Beispielsweise sagt er in 1. Korinther 6,11, dass die Gläubigen »durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes« gereinigt und geheiligt worden sind. Es wäre nicht schwer, eine solche Aussage auf dem Hintergrund einer weiterentwickelten stoischen Pneumatologie zu erklären. Das physische pneuma würde die Konstitution der menschlichen, ebenfalls physischen Seele verändern und sie so zu ethischem Leben befähigen. Allerdings ist es methodisch weitaus angemessener, Textstellen ohne Aussagekraft bezüglich des Mechanismus der religiös-ethischen Wirkungsweise des Geistes auf dem Hintergrund solcher paulinischer Texte zu interpretieren, die klare Anhaltspunkte zum Verständnis dieses Wirkens geben. Wie ich an anderer Stelle ausführlich gezeigt habe, ist in diesen eindeutigeren Paulus-Texten die Wirkungsweise des Geistes relational konturiert (siehe u.a. 2Kor 3,18; Röm 8,12-17; 1Kor 12,7). 35 Abschließend lässt sich sagen, dass sich das Studium der griechisch-römischen und jüdisch-hellenistischen Literatur als hilfreich erwiesen hat, um das Bedeutungsspektrum von pneuma im Kontext des Neuen Testaments zu verstehen. Überschneidungen zwischen der hellenistischen Literatur und den Schriften des Neuen Testaments bezüglich des Gebrauch von pneuma zeigen sich besonders in der Verwendung mit anthropologischer Bedeutung (z.B. Mk 2,8; Lk 1,47; Joh 13,21; Apg 17,16; Röm 1,9; 2Kor 7,13; der physiologische Gebrauch [Luft/ Wind] wird im NT nicht aufgenommen; im NT findet sich dagegen häufiger die Verwendung für »Geister« [pneumata], z.B. Mt 10,1; Lk 4,33; Apg 5,16; Offb 5,6; 16,13). Allerdings mussten wir feststellen, dass die griechisch-römische Literatur nur in begrenztem Maße Anknüpfungspunkte für die neutestamentlichen Aussagen über die Wirkungsweise des göttlichen Geistes bot. 36 Hier taten sich deutliche Differenzen auf, die in den divergierenden theologischen Grundüberzeugungen begründet liegen, vor allem in Bezug auf das Verhältnis von Gott und Mensch. Auch wenn es nicht im Sinne falscher Dichotomien verallgemeinert werden darf, so lässt sich doch für Paulus sagen, dass seine Pneumatologie der frühjüdischen Tradition näher steht als der griechisch-römischen Literatur. Ähnlich wie bei der oben dargestellten Pneumatologie Philos von Alexandrien (die in diesem Punkt in einer Linie mit den Qumrantexten und den auf Ez 36 basierenden Traditionen steht), wird der Mensch nach Paulus in der geistgewirkten engen Beziehung zu Gott verändert und zu ethischem Leben befähigt. Dementsprechend kann das religiös-ethische Wirken des Geistes in dieser Tradition der »Geistes-Geschichte« als »relational« charakterisiert werden. Einen solchen Gottesbezug des Geistes kann man in den untersuchten Richtungen der hellenistischen Religion und Philosophie jedoch nicht feststellen. Anmerkungen 1 F.W. Horn, Das Angeld des Geistes. Studien zur paulinischen Pneumatologie (FRLANT 154), Göttingen 1992, 175. 2 Ibid., 388. 3 T. Engberg-Pedersen, A Stoic Understanding of Pneuma in Paul, in: T. Engberg-Pedersen/ H. Tronier (Hgg.), Philosophy at the Roots of Christianity (Working Papers 2), Copenhagen 2006, 121. Vgl. idem, The Material Spirit. Cosmology and Ethics in Paul, NTS 55 (2009), 179- 197, bes: 186-187; idem, Complete and Incomplete Transformation in Paul - A Philosphic Reading of Paul »Die Schnittpunkte, die es an diesem Punkt zwischen dem stoischen und dem paulinischen Geistverständnis gibt, sind also minimal.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 53 Zum Thema 54 ZNT 25 (13. Jg. 2010) on Body and Spirit, in: T.K. Seim/ J. Økland (Hgg.), Metamorphoses. Resurrection, Body and Transformative Practices in Early Christianity (EREAMA 1), Berlin/ New York 2009, 124-146. 4 Engberg-Pedersen, Understanding, 121. 5 Vgl. Pneuma ktl. (H. Kleinknecht) ThWNT VI, Stuttgart 1965, 330f.; G.T. Cage, The Holy Spirit. A Source Book with Commentary, Reno 1995, 311f.; et al. 6 H. Leisegang, Der Heilige Geist. Das Wesen und Werden der mystisch-intuitiven Erkenntnis in der Philosophie und Religion der Griechen, I/ 1: Die vorchristlichen Anschauungen und Lehren vom PNEUMA und der mystisch-intuitiven Erkenntnis, Leipzig 1919, 1-13.222-237. 7 Vgl. T. Paige, Who Believes in »Spirit«? Pneuma in Pagan Usage and Implications for the Gentile Christian Mission, HTR 95 (2002), 417-436: 420. 8 Senecas bekannte Zeilen über den »heiligen Geist, der in uns wohnt« (Ep.1,1) bilden hier keine Ausnahme, denn wenig später erklärt er, dass es sich hierbei um die gottgegebene menschliche Seele handelt, mit der der Mensch in Einklang leben soll (41,8f.). Das gleiche gilt für den »heiligen Dampf« in Delphi, wie Paige den mantischen Geist aus Plutarchs Def.orac. 432D nennt. »Dieser Dampf hat nichts von einem Konzept allgemeiner Geistinspiration, denn er ist nicht über die Grenzen Delphis hinaus aktiv. Die lokale Begrenztheit wird auch dadurch deutlich, dass er nie von späteren Schreibern mit dem stoischen Weltpneuma identifiziert wird« (Paige, Spirit, 429). 9 So zuletzt auch C. Tibbs, Religious Experience of the Pneuma. Communication with the Spirit World in 1 Corinthians 12 and 14 (WUNT II/ 230), Tübingen 2007, 113f. Allerdings schwingt mit Tibbs das Pendel in der neueren Forschung in die entgegengesetzte Richtung. Auf dem oben genannten Hintergrund argumentiert Tibbs, dass die Vorkommnisse von »Geist« im AT, frühen Judentum und den frühen ntl. Schriften generell als »Geisterwelt« zu verstehen sind (vgl. auch G. Williams, The Spirit World in the Letters of Paul the Apostle. A Critical Examination of the Role of Spiritual Beings in the Authentic Pauline Epistles [FRLANT 231], Göttingen 2009). Jedoch wird »Geist« (ruach) bereits im AT als die Gegenwart des einen Gottes Israels verstanden (z.B. Ps 51,11; Jes 61,1; Ez 36,27ff.; Joel 3,1f.). Im NT wird pneuma regelmäßig als pneuma theou (Geist Gottes; z.B. Mt 3,16; Röm 8,9, vgl. 8,16; 1Kor 2,11f.; 1Petr 4,14; 1Joh 4,2f.; vgl. auch schon LXX) und pneuma Iēsou/ Christou (Geist Jesu/ Christi; z.B. Apg 16,7; Röm 8,9-11; Phil 1,16; 1Petr 1,11) qualifiziert. Die eindeutigen Stellen, die damit einem pluralen Verständnis von pneuma als Geisterwelt widersprechen, legen dieses Verständnis auch für die unqualifizierte Verwendung von pneuma an den entsprechenden Stellen im NT nahe (in denen pneuma nicht für den menschlichen Geist verwendet wird), da sich kein alternatives Geistkonzept für diese Texte aufdrängt. Zugleich muss aber auch festgehalten werden, dass es innerhalb des NT eine Entwicklung des Geistverständnisses gibt, so dass ein personales Geistkonzept nicht beliebig eingetragen werden darf. Siehe hierzu V. Rabens, The Development of Pauline Pneumatology. A Response to F.W. Horn, BZ 43 (1999), 161-179: 177f. 10 Weitere Synonyme werden aufgezählt in: M.J. White, Stoic Natural Philosophy (Physics and Cosmology), in: B. Inwood (Hg.), The Cambridge Companion to the Stoics (CCP), Cambridge 2003, 135f. Zu den Differenzen zwischen dem stoischen und dem neutestamentlichen Verständnis der Göttlichkeit des Geistes siehe auch J.M. Rist, On Greek Biology, Greek Cosmology and Some Sources of Theological Pneuma, in: ders., Man, Soul and Body. Essays in Ancient Thought from Plato to Dionysius (CS 549), Aldershot/ Brookfield 1996, 27-46. 11 D.B. Martin, The Corinthian Body, New Haven/ London 1995, 12.15. 12 Platon (T.A. Slezák) DNP IX, Stuttgart 2000, 1107. 13 F. Rüsche, Das Seelenpneuma. Seine Entwicklung von der Hauchseele zur Geistseele - Ein Beitrag zur Entwicklung der antiken Pneumalehre (SGKA 18/ 3), Paderborn 1933, 7-17; W. Wili, Die Geschichte des Geistes in der Antike, EvJ 13 (1945), 49-93: 86; C. Stead, Divine Substance, Oxford 1977, 145f.; siehe aber auch E.d.W. Burton, Spirit, Soul, Flesh (HLSLNT II/ 3), Chicago 1918, 121. Die oben genannten Autoren führen keine expliziten Belege zum immateriellen pneuma bei Platon an. Es ist aber deutlich, dass spätestens Philo diese Konzeption auf der Grundlage der platonischen Philosophie gebildet hat (Philo Opif. 29; QG I.92). 14 Zur detaillierten Definition dieser Begrifflichkeit, siehe V. Rabens, The Holy Spirit and Ethics in Paul. Transformation and Empowering for Religious-Ethical Life (WUNT II), Tübingen 2010, 1.3. 15 Horn, Angeld, 248. 16 F. Büchsel, Der Geist Gottes im Neuen Testament, Gütersloh 1926, 47; C.S. Keener, The Spirit in the Gospels and Acts. Divine Purity and Power, Peabody 1997, 7. 17 Vgl. Cic.leg. 1,9,27; D. Frede, Stoic Determinism, in: B. Inwood (Hg.), The Cambridge Companion to the Stoics (CCP), Cambridge 2003, 202. Mehrere antike Autoren waren der Ansicht, dass es innerhalb der stoischen Lehre zu dieser Thematik Widersprüchlichkeiten gab, z.B. Gal.p.h.p. 4,5,3-8; D.L. 7,158f. Zur stoischen Ethik siehe auch M. Forschner, Die Stoische Ethik. Über den Zusammenhang von Natur-, Sprach- und Moralphilosophie im altstoischen System, Stuttgart 1981, 54-66; B. Inwood, Ethics and Human Action in Early Stoicism, Oxford 1985, Kap. 2 u. 5; C. Gill, The Structured Self in Hellenistic and Roman Thought, Oxford 2006, 80f.; J. Ware, Moral Progress and Divine Power in Seneca and Paul, in: J.T. Fitzgerald (Hg.), Passions and Moral Progress in Greco-Roman Thought (RMCS), London 2008, 267-283. 18 Siehe dazu ausführlich Rabens, Spirit, Kap. 2. Zur Pneumatologie der ebenfalls hellenistisch beeinflussten JosAs und SapSal, siehe Ibid., 2.3., 2.4.2., u. 5.1.1. Da das Wesen und Wirken des Geistes bei Philo jedoch wesentlich gründlicher reflektiert ist, bilden seine Schriften den Fokus dieses Abschnitts. 19 Für eine stoisch-materielle pneuma-Konzeption sprechen sich vor allem E. Turowski, Die Widerspiegelung des stoischen Systems bei Philon von Alexandria, Borna/ Leipzig 1927, und Leisegang, Geist, 23-33, aus. Zur Diskussion des von Leisegang herangezogenen hypothetischen Belegs (Gig. 22) siehe Rabens, Spirit, 2.4.1. 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 54 Volker Rabens Geistes-Geschichte ZNT 25 (13. Jg. 2010) 55 20 Vgl. u.a. M.E. Isaacs, The Concept of the Spirit. A Study of Pneuma in Hellenistic Judaism and its Bearing on the New Testament, London 1976, 29, 56; J.R. Levison, The Spirit in First Century Judaism (AGJU 29), Leiden 1997, 137, 148-150, 159f.; Engberg-Pedersen, Understanding, 106-108. 21 E. Brandenburger, Fleisch und Geist. Paulus und die dualistische Weisheit (WMANT 29), Neukirchen-Vluyn 1968, 182; 185. 22 Die Übersetzung der Zitate von Philo folgt L. Cohn, Die Werke Philos von Alexandria in deutscher Übersetzung, Berlin 2 1962. 23 Eine kritische Diskussion des Kontextes von Philo Deus 123 (122-183) sowie weiterer Texte findet sich in Rabens, Spirit, 2.4.2. 24 C. Noack, Gottesbewußtsein. Exegetische Studien zur Soteriologie und Mystik bei Philo von Alexandria (WUNT II/ 116), Tübingen 2000, 247. 25 Philo QE II.7 (LCL); vgl. Migr. 36f.; Gig. 49; QG IV.25. Weisheit und Erkenntnis spielen eine zentrale Rolle in diesem Prozess. Vgl. Noack, Gottesbewußtsein, 71, 73; C. Bennema, The Power of Saving Wisdom. An Investigation of Spirit and Wisdom in Relation to the Soteriology of the Fourth Gospel (WUNT II/ 148), Tübingen 2002, 75.81-83; A. Munzinger, Discerning the Spirits. Theological and Ethical Hermeneutics in Paul (SNTSMS 140), Cambridge 2007, 109f. 26 Siehe u.a. Philo Post. 12f.; Gig. 49; QG IV.4, 29, 140; Cont. 90; Migr. 132; Plant. 64-66; Deus. 3-4; Her. 70-71; Praem. 41-48; Abr. 58f.; LA III.71; Cher. 24, 50; Somn. I.149; 2.232; Fug. 82; Virt. 163f., 181, 215f., 218. 27 Siehe u.a. Philo Mos. II.265; Gig. 23, 28, 47; Mut. 123f.; LA I.33-34; QG 4.140. 28 Dieses relationale Wirken schließt die substanzhafte Veränderung des Menschen nicht aus, sondern prozesshaft mit ein. Allerdings wird das primäre Werk des Geistes als beziehungsstiftend verstanden: die Veränderung und Befähigung des Menschen resultiert aus der intimen Verbindung zu Gott, die vom Geist gewirkt wird. Siehe dazu ausführlich Rabens, Spirit, Kap. 4. 29 Siehe dazu die Diskussion in Ibid., 5.1.1. 30 Das »Fließen« des Gottesgeistes ist hier in Anlehnung an die alttestamentliche Sprache metaphorisch zu verstehen. Vgl. QG I.90, wo »fließen« im direkten Zusammenhang mit einem impliziten nicht-körperlichen Geistkonzept steht. Zur Interpretation metaphorischer Rede vom Geist, siehe Ibid., 2.2.2. 31 Eine kritische Analyse der vergangenen 140 Jahre Forschungsgeschichte zum Geist bei Paulus findet sich in Ibid., 1.2. u. Appendix. 32 T.W. Martin, Paul’s Pneumatological Statements and Ancient Medical Texts, in: J. Fotopoulos (Hg.), The New Testament and Early Christian Literature in Greco- Roman Context. Studies in Honor of David E. Aune (SNT 122), Leiden 2006, 116f. 33 Neben den Zitaten aus der Einleitung siehe u.a. Horn, Angeld, 57. 34 Zur Interpretation des in diesem Zusammenhang häufig diskutierten Auferstehungsleibes (1Kor 15,44), siehe Rabens, Spirit, 3.1. 35 Ibid., Kap. 6. 36 Darüber hinaus gibt es auch nur wenige Anhaltspunkte darüber, wie die neutestamentliche Rede vom heiligen Geist bei den ersten Hörern und Lesern hellenistischen Hintergrunds aufgenommen wurde. Im 1Kor wird deutlich, dass es in Korinth Missverständnisse gab (vgl. bes. Kap. 12-14). Zwar ist es möglich, dass diese durch ein materielles Geistverständnis auf der Seite der Korinther bedingt waren, wie Horn es vermutet (s.o.); letztlich bleibt dies aber spekulativ. Demnächst in Neuauflage: Winfried Engemann Einführung in die Homiletik UTB M 2., vollst. überarb. und erw. Aufl. 2010, ca. 450 Seiten, ca. €[D] 24,90/ SFr 42,90 ISBN 978-3-8252-2128-7 A. Francke Verlag · D-72070 Tübingen · www.francke.de 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 55 Die Theologie hat einen ungewöhnlichen wissenschaftstheoretischen Status. Auf der einen Seite ist sie, wie ihr Name schon sagt, keineswegs nur eine rekonstruierende Geisteswissenschaft: Denn es geht in ihr um Gott selbst. Ihr Anliegen ist nicht primär hermeneutisch-historischer Art: Sie kann sich, anders als die Religionswissenschaft, nicht damit begnügen, herauszufinden, welche religiösen Vorstellungen, sei es in der eigenen Kultur, sei es anderswo, heute existieren bzw. welche in früheren Zeiten existiert haben. Die intersubjektiv gültige, von eigenen Projektionen möglichst freie Rekonstruktion der Ansichten anderer Menschen, zumal wenn sie in anderen Sprachen und in Kontexten, die von den eigenen markant unterschieden sind, ausgedrückt wurden, ist notorisch schwierig. Die dazu erforderlichen Methoden sind erst im 18. und zumal im 19. Jahrhundert gewonnen worden, später als diejenigen, die die moderne Naturwissenschaft im 17. Jahrhundert konstituiert haben. Es kann daher nicht verwundern, dass viele bedeutende Gelehrte, die sich geisteswissenschaftlichen Aufgaben gewidmet haben, bei diesen stehengeblieben sind - sie waren komplex und fordernd genug. Und man kann auch dann nur mit größter Achtung von jenen bahnbrechenden Exegeten und Dogmen- und Kirchenhistorikern wie z.B. Heinrich Holtzmann, Julius Wellhausen, Adolf von Harnack und Ernst Troeltsch reden, denen wir unser heutiges Bild von der Genese des Neuen und Alten Testaments, der christlichen Dogmengeschichte und der Entwicklung des Protestantismus entscheidend mitverdanken, wenn man der Ansicht ist, dass einige von ihnen manchmal dazu tendierten, Theologie auf Historische Theologie (in einem weiten Sinne, also einschließlich der exegetischen Disziplinen) zu reduzieren. Das freilich würde die Theologie in eine Geisteswissenschaft verwandeln; sie wäre Wissenschaft von geistigen, Gott intendierenden Produkten des Menschen, aber sie würde nicht selber in erster Person von Gott sprechen. Eine Geisteswissenschaft aber, die nur intentione obliqua von den wichtigsten Gegenständen des menschlichen Geistes spricht, ist recht eigentlich geistlos und geistverlassen. Dagegen ist darauf zu beharren, dass die Systematische Theologie das Zentrum der Theologie bilden muss. Allerdings unterscheidet sich deren Natur von derjenigen einer rein systematischen Disziplin wie etwa der Mathematik oder Philosophie. Auch wenn jeder Mathematiker oder Philosoph sich mit den Arbeiten seiner Vorgänger auseinanderzusetzen wohlberaten ist, hängt doch die Geltung einer mathematischen oder philosophischen Theorie nicht davon ab, dass sie andere Ansichten korrekt wiedergibt. Analoges gilt vielleicht auch von der Fundamentaltheologie, traditionell dem ersten und grundlegenden Teil der Systematischen Theologie. Aber es gilt sicher nicht von der Dogmatik und Theologischen Ethik, die deren Zentrum ausmachen. Denn diese beiden Disziplinen sind ihrem eigenen Selbstverständnis nach an vorgegebene Texte wie heilige Schriften, Werke der Tradition und Glaubensartikel gebunden: Wer diesen widerspricht, untergräbt den eigenen Wahrheitsanspruch. Das erklärt, warum die historisch-hermeneutischen Disziplinen in der Theologie viel wichtiger sind als etwa in der Philosophie: Man bedarf ihrer, um sich der Voraussetzungen zu vergewissern, auf denen die Dogmatik und die Theologische Ethik aufbauen können. Die Systematische Theologie spricht zwar in erster Person wie die Philosophie, aber sie kann, so könnte man es überspitzt formulieren, nicht in erster Person Singular reden: Sie muss sich einem vorgängigen Wir autoritativer Texte unterwerfen. Sie hat somit eine Zwischenstellung zwischen einer rein deskriptiven Wissenschaft wie der Religionspsychologie und einer rein normativen Disziplin wie der Philosophischen Ethik: Sie will zwar normieren, aber Ausgangspunkt ihrer Normierungen sind Fakten - meist, aber nicht ausschließlich Texte -, Zum Thema Vittorio Hösle Inwieweit ist der Geistbegriff des deutschen Idealismus ein legitimer Erbe des Pneumabegriffs des Neuen Testaments? Für Jennifer Herdt mit herzlichem Dank für philosophisch-theologische Diskussionen 56 ZNT 25 (13. Jg. 2010) Eine Geisteswissenschaft aber, die nur intentione obliqua von den wichtigsten Gegenständen des menschlichen Geistes spricht, ist recht eigentlich geistlos und geistverlassen. Die Systematische eologie spricht zwar in erster Person wie die Philosophie, aber sie kann […] nicht in erster Person Singular reden. 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 56 Vittorio Hösle Inwieweit ist der Geistbegriff des deutschen Idealismus ein legitimer Erbe deren normative Geltung vorausgesetzt wird und nicht nochmals hinterfragt werden darf. Das verbindet die Theologie mit der Jurisprudenz, wissenschaftstheoretisch ihrer Zwillingsschwester. 1 Allerdings sind vier Differenzen auffallend. Erstens legitimiert, wenigstens unter Bedingungen der Moderne, nur das staatliche Recht den Einsatz von Gewalt - Verletzungen von Dogmen, aber auch von Kirchenrecht haben keine so dramatischen Rechtsfolgen. Deswegen kann es sich zweitens der Dogmenbestand der Theologie leisten, vager zu sein als derjenige des Rechts, um dessen soziale Wirksamkeit es nicht gut stünde, wenn die eigentliche Bedeutung von Art. 65 GG ebenso umstritten wäre wie die der chalkedonischen Formel. Drittens kennen kirchliche Dogmen nicht derart explizite Mechanismen der Weiterbildung, wie die meisten modernen Rechtssysteme sie haben. Das hängt damit zusammen, dass theologische Dogmen nicht als menschliche Satzungen gelten. Aber natürlich hat sich der Dogmenbestand und, mehr noch, die Interpretation der Dogmen geschichtlich verändert. Dies geschieht teils ausdrücklich auf Konzilien, teils als unvermeidbare Nebenfolge des allgemeinen geschichtlichen Wandels, u.a. der Methoden, Texte korrekt zu interpretieren. Da in der modernen Welt geltendes Recht selten sehr alt ist, hat die Entwicklung der historisch-kritischen Methode zwar die Rechtshistorie, aber nicht die Rechtsdogmatik revolutioniert: Die exegetische Jurisprudenz bedarf jener Methode selten. Aber die Exegese von Schriften, die so alt sind wie das Alte und das Neue Testament, ist auf sie angewiesen, wenn sie wissenschaftlich ernstgenommen werden will, und gerade darin liegt eines der beiden seit dem 19. Jahrhundert ungelösten Probleme der Theologie als Wissenschaft. Das Problem besteht, vereinfacht, darin, dass die Geltung der Dogmatik die Verkündigung Jesu Christi voraussetzt. Dieses Voraussetzungsverhältnis erklärt, warum zumal seit der protestantischen Wendung zum solascriptura-Prinzip die gründliche Erforschung der eigentlichen Bedeutung der Bibel - gegen die Interpretationen etwa der Scholastik - zur religiösen Aufgabe wurde. Ohne dieses religiöse Sendungsbewusstsein wäre die historisch-kritische Methode schwerlich so schnell entstanden - man vergesse nicht, dass bei Jean Astruc die Hypothese, der Pentateuch gehe auf vier verschiedene Fassungen zurück, entwickelt wurde, um die angezweifelte Autorschaft Moses’ sicherzustellen: Alle vier Versionen stammten von ihm. Die Entwicklung dieser Methode hat später dazu geführt, dass auch das Neue Testament zergliedert und auf seinen geschichtlichen Wert hin kritisch befragt wurde. Bald begriff man, dass die Differenzen, ja, Inkonsistenzen zwischen den Evangelisten und gelegentlich innerhalb desselben Evangeliums auf unterschiedliche Quellen bzw. Redaktionen zurückgehen. (Man denke an Joh 13,23-26 und 18,15f., die offenbar spätere Einschübe sind. Es ist zwar richtig, dass bei derartigen Hypothesen die Inkonsistenzen der Texte verbleiben und nur dem letzten Redaktor zugeschrieben werden. Aber das ist psychologisch viel plausibler, als sie dem ursprünglichen Verfasser zuzuschreiben, den man ehrt, wenn man ihm nicht Inkonsistenzen unterstellt.) Und die unterschiedliche Verwertung der- Professor Dr. Vittorio Hösle, Jahrgang 1960, ist Paul Kimball Professor of Arts and Letters an der University of Notre Dame / Indiana und Direktor des dortigen Notre Dame Institute for Advanced Study. Er studierte Philosophie, Allgemeine Wissenschaftsgeschichte und Klassische Philologie in Regensburg, Tübingen, Bochum und Freiburg i.Br. Vittorio Hösle wurde 1982 in Tübingen promoviert. Eben dort habilitierte er sich 1986. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen: Metaphysik, Ethik, Politik, Ästhetik, Geschichte der Philosophie. Ziel seiner Arbeiten ist die Erneuerung des objektiven Idealismus. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter: Der philosophische Dialog. Eine Poetik und Hermeneutik (München 2006), Die Krise der Gegenwart und die Verantwortung der Philosophie. Transzendentalpragmatik, Letztbegründung, Ethik (München 3 1997), Moral und Politik - Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert (München 1997), Philosophie der ökologischen Krise. Moskauer Vorträge (München 2 1994), Hegels System (Hamburg 2 1998), Wahrheit und Geschichte, Stuttgart- Bad Cannstatt 1984. Vittorio Hösle ZNT 25 (13. Jg. 2010) 57 Das verbindet die eologie mit der Jurisprudenz, wissenschaftstheoretisch ihrer Zwillingsschwester. 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 57 Zum Thema 58 ZNT 25 (13. Jg. 2010) selben Quellen bei den Evangelisten verweist auf unterschiedliche Christologien. So hat nicht nur das Johannesevangelium alle Exorzismengeschichten beseitigt, vermutlich weil es sie als peinlich empfand; schon das Lukas- und das Matthäusevangelium haben jene Handlungen getilgt, die im Markusevangelium (7,31-37; 8,22- 26) zwei Heilungen begleiten und einen magischen Anstrich haben. Allerdings ist es plausibel, dass das älteste und theoretisch am wenigsten belastete Evangelium der geschichtlichen Wahrheit näher steht: Jesus war zweifelsohne ein Exorzist, der vielleicht auch auf Praktiken der Zauberei zurückgriff. Wer nach der heute allgemein üblichen und bewährten historischen Methode die interpretatorischen Schichten der Evangelien vom historischen Jesus abzuschälen sucht, wird ein Jesusbild für wahrscheinlich halten, wie es etwa E.P. Sanders entwirft. 2 Vieles bleibt unbestimmt, aber eine Gestalt scheint durch, die zwar in ihren moralischen Lehren zu den faszinierendsten in der Menschheitsgeschichte gehört, die aber schwerlich jene Einzigartigkeit beanspruchen kann, die ihr die spätere Dogmatik zugesprochen hat. Allmacht, ja, selbst gottgleiche Güte scheint Jesus selber gar nicht in Anspruch genommen zu haben (Mk 10,40 und 18). Es hilft nichts dagegen einzuwenden, der wahre, »geschichtliche« im Gegensatz zum historischen Jesus sei derjenige, den die Kirche lehre oder der Glauben erfasse - wenigstens sofern die Kirche und der Glauben ihre Legitimität auf Jesus gründen wollen. Denn dann wird der Begründungszirkel zu handgreiflich. Erschwerend für den Wissenschaftsstatus der Theologie kommt zweitens hinzu, dass die große Tradition philosophischer Theologie und ihr Kernstück, die Lehre von den Gottesbeweisen, seit dem 19. Jahrhundert in einer schweren Krise steckt. Zwar gibt es sehr gute Gründe gegen das alte dualistische Modell, nach dem etwa die Vernunft das Sein Gottes und sodann historische Wahrscheinlichkeitsargumente die Existenz einer Offenbarung beweisen sollen, die schließlich von der Dogmatik expliziert wird. Insbesondere ist es abwegig, die Geltung moralischer Normen auf Wahrscheinlichkeitserwägungen zu gründen, wie schon Lessing und Kant in aller Deutlichkeit begriffen haben. Aber es ist ein noch abwegigerer Zirkel, das Sein Gottes aus der Offenbarung begründen zu wollen, die doch nur dann als göttliche anerkannt werden kann, wenn schon unabhängige Argumente für das Sein Gottes vorliegen. Sicher bezog die dialektische Theologie ihr Recht aus einer Polemik gegen die kulturprotestantische Eingliederung des Religiösen in die soziale Welt, eine Eingliederung, die es jeder kritischen Transzendenz beraubt, wie sie das Wesen des Neuen Testaments ausmacht. Aber ein antiphilosophischer Affekt kann der Theologie schwerlich dienen, die gerade in einer Ära religiöser Pluralität einer Begründung bedarf, die über die Berufung auf Offenbarung und Dogmen hinausgeht. Allerdings fürchtet die Theologie gelegentlich, dass eine sich selbst begründende Philosophie wie insbesondere die Hegelsche sie selbst letztlich überflüssig machen, wenigstens ihrer wissenschaftlichen Autonomie berauben werde. Und sie ist manchmal eher willens, auf jede Begründung zu verzichten als auf ihre Autonomie, zu der das Studium ihrer heiligen Texte unweigerlich gehört. Im Folgenden will ich in aller Knappheit eine Konzeption skizzieren, die es vielleicht erlaubt, das Beste aus der christlichen Tradition einzubeziehen in eine philosophische Konzeption, die von der Selbstbegründung der Vernunft ausgeht und gleichzeitig anerkennt, dass einer ihrer zentralen Begriffe genetisch seinen Ausgangspunkt von einer Idee nimmt, die im Neuen Testament mit besonderer Macht artikuliert wird. Es geht um die Begriffe »Pneuma« und »Geist«. Ich will erstens einige Facetten des Begriffs im Neuen Testament andeuten (I) und zweitens einige zentrale Momente des Geistbegriffs des deutschen Idealismus nennen (II). Vollständigkeit ist nicht im Mindesten angestrebt, doch soll meine Selektion der Passagen mit pneuma aus den Evangelien einigermaßen repräsentativ sein. I. In der Septuaginta erscheint pneuma fast immer nur als Übersetzung des hebräischen Wortes ruach, das allerdings in anderen Kontexten auch als anemos übersetzt wird. 3 Die Grundbedeutung des hebräischen Wortes ist »Wind« und »Atem«. Auf Gott bezogen ist die Übersetzung ins Deutsche als »aktive Energie« oder auch »Geist« naheliegend, etwa wenn »der Geist Gottes« über einen Propheten kommt (z.B. 2Chron 15,1) oder auf dem Messias ruht (Jes 11,2), also Menschen zu außerordentlichem, gottgewolltem Reden und Handeln inspiriert. Dem Schuldigen kann der Geist entzogen werden (Ps 51,13), und in eschatologischen Erwartungen spielt er eine wichtige Rolle (Jes 32,15; Hes 36,26f.; Joel 3,1ff.). Zwar ist die postcartesische Ablösung des Begriffs »Geist« von der physischen Welt dem Das Problem besteht, vereinfacht, darin, dass die Geltung der Dogmatik die Verkündigung Jesu Christi voraussetzt. 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 58 Vittorio Hösle Inwieweit ist der Geistbegriff des deutschen Idealismus ein legitimer Erbe ZNT 25 (13. Jg. 2010) 59 Alten Testament fremd, aber die Übersetzung in eine fremde Sprache muss sich an deren Begriffswelt anpassen, auch wenn das unvermeidlich bedeutet, dass eine Eins: Eins-Entsprechung zwischen den Termini beider Sprachen nicht bewahrt werden kann. Zudem ist der jüdische Monotheismus eine notwendige Voraussetzung der cartesischen Begriffsbildung gewesen: Erst musste man sich Gott als reinen Geist denken, bevor man beim Menschen das Mentale vom Physischen scharf trennen konnte. Auch das griechische Wort hat noch eine physische neben einer mentalen Bedeutung: Joh 3,8 spielt damit, und bei Mt 27,50 sowie wohl auch Lk 23,46; Apg 7,59; Joh 19,30 und Jak 2,26 ist »Lebensatem« gemeint. Aber im Neuen Testament ist die geistige Bedeutung absolut vorherrschend. 4 Das Pneuma kann sowohl Gott als auch den Menschen zugeschrieben werden; im letzteren Fall kann es das Verbindungsglied zu Gott sein, aber auch die psychische Innenwelt bezeichnen (Joh 11,33; 13,21). Vom heiligen Geist ist sehr oft die Rede; daneben gibt es aber auch unreine (Mk 1,23.26; 5,13; 6,7; 7,25), stumme (Mk 9,17) und arge Geister (Mt 12,45; Lk 7,21; 8,2; 11,26). Man beachte, dass pneuma mit Adjektiven normativ entgegengesetzter Bedeutung qualifiziert werden kann. Auch pluralisches pneumata ohne jedes Beiwort kann »Dämonen« bedeuten (Mt 8,16; zur Verwendung des Singulars vgl. Apg 16,18, wo allerdings vorher ein Beiwort gebraucht wurde); aber auch Engel werden pneumata genannt (Hebr 1,14). Man beachte ferner, dass pneuma eine Eigenschaft Gottes und des Menschen, aber auch eigene geistige Substanzen bezeichnen kann. Der »Geist Gottes« oszilliert zwischen beiden Bedeutungen, da er manchmal eine Eigenschaft, manchmal etwas Selbständiges zu bezeichnen scheint. Faszinierend ist die »Immanentisierung«, die bei Lukas im Unterschied zu den beiden anderen Synoptikern in der Perikope über die Versuchung Jesu erfolgt. Nachdem bei der Taufe der Geist bzw. der Geist Gottes bzw. der heilige Geist in Gestalt einer Taube auf Jesus herabgekommen ist (Mk 1,10; Mt 3; 16; Lk 3,22), treibt der Geist Jesus in die Wüste (Mk 1; 12; Mt 4,1); bei Lukas freilich wird Jesus selber als plērēs pneumatos hagiou, »voll des heiligen Geistes«, beschrieben (4,1). In Stellen wie diesen sind es die Evangelisten, die vom Pneuma sprechen (ebenso bei den Geburtslegenden Mt 1,18.20; Lk 1,35). Die Entgegensetzung von Taufe mit Wasser und Taufe mit dem heiligen Geist (sowie dem Feuer) wird dem Täufer zugeschrieben (Mk 1,8; Mt 3,11; Lk 3,16; Joh 1,33). In authentischen Jesuslogien scheint der Begriff keine wichtige Rolle zu spielen. 5 Vielleicht hat Jesus tatsächlich gelehrt, David sei beim Abfassen von Psalm 110 vom heiligen Geist erfüllt gewesen (Mk 12,36; Mt 22,43), und seine Jünger sollten sich, wenn überantwortet, dem heiligen Geist bzw. dem Geist des Vaters anvertrauen, der durch sie sprechen werde (Mk 13,11; Mt 10,20; Lk 12,12). Vermutlich hat er von einer nicht verzeihbaren Lästerung gegen den heiligen Geist geredet, als ihm vorgehalten wurde, er habe selbst einen unreinen Geist und er treibe bei seinen Exorzismen die Dämonen mit Beelzebub aus (Mk 3,22ff.; Mt 12,22ff.). Dass er die Dämonen im Geiste Gottes 6 austreibe, bedeute, dass das Reich Gottes zu seinen Hörern gekommen sei (Mt 12,28): Hier wird der für Jesus zentrale Begriff des Reichs Gottes faszinierenderweise mit dem Geistbegriff verknüpft, und das Reich wird als schon angekommen beschrieben (gr. ephthasen) - eine jener Stellen, in denen die sonst in die unmittelbare Zukunft verlegte eschatologische Erwartung in die Gegenwart hineingezogen wird. Bedeutsamer als bei Markus und Matthäus ist der Pneumabegriff bei Lukas. Die Nähe von Lk 1,80 und 2,40 deutet darauf hin, dass pneuma fast ein Synonym von sophia sein kann (vgl. auch Apg 6,3.10). Allerdings wird der auferstandene Christus ausdrücklich von einem bloßen Geist abgesetzt, da er Fleisch und Knochen habe (Lk 24,37.39) - hier steht das Wort für eine unkörperliche Erscheinung. In der »Apostelgeschichte«, die mit dem Pfingstereignis ihren Ausgangspunkt nimmt, ist der Terminus am häufigsten unter allen Schriften des Neuen Testaments verwendet. Die von dem Täufer in Aussicht gestellte Taufe mit dem heiligen Geist wird von Jesus unmittelbar vor der Himmelfahrt in Aussicht gestellt (1,5); sie erfolgt zu Pfingsten in Gestalt der Erfüllung mit dem heiligen Geist (2,4). Immer wieder inspiriert der Geist die Apostel, gerade wenn es um die Verbreitung des christlichen Glaubens geht (8,29; 10,19; 13,4), ja, der Geist des Herrn bewirkt Wunder an ihnen (8,39). Gelegentlich freilich verhindert der Geist auch die Verkündigung (16,6). Die Erscheinung Christi auf dem Weg nach Damaskus hat den Zweck, Saulus mit dem heiligen Geist zu erfüllen (9,17; vgl. 13,9). Der heilige Geist fällt auch auf die Zuhörer der Apostel, und zwar auf Heiden nicht weniger als auf Juden (10,44ff.; 15,8). Angesichts dieser Erfahrung, die ihn an das Jesuswort 1,5 erinnert (11,16), entschließt sich Petrus zur Taufe des ersten Heiden, des Centurio Cornelius: Wer den heiligen Geist empfangen habe, dem könne die Taufe mit Wasser nicht verwehrt werden (10,47). Auch das für die Geschichte des Christentums entscheidende Aposteldekret beruft sich ausdrücklich auf den heiligen Geist (15,28). Der philosophische Wert des Johannesevangeliums 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 59 Zum Thema 60 ZNT 25 (13. Jg. 2010) ist umgekehrt proportional zu seinem Wert als historische Quelle. Gerade weil das Evangelium einen geistigen Zugang zu Christus lehrt, ist es an den geschichtlichen Fakten nur begrenzt interessiert. Die Geburt aus dem Geist, so lehrt Jesus den begriffsstutzigen Nikodemos, ist Voraussetzung des Zugangs zum Reich Gottes; das aus dem Geist Geborene ist selbst Geist, wobei pneuma als Gegenbegriff zu sarx fungiert (3,5f.). Der Samariterin erklärt Jesus, die Zeit komme, ja, sei schon da, da die wahrhaftigen Anbeter den Vater im Geist und in der Wahrheit anbeten werden. Der Vater wolle solche Anbeter, denn Gott sei selber Geist: pneuma ho theos (4,24). Dies kann als eine Wesensaussage über Gott gelten, die Geschichte gemacht hat, ebenso wie die konkurrierende Aussage aus dem Johanneischen Kreis 1. Joh 4,8: ho theos agapē estin. Zum Geist gehört es, dass er belebt (6,63). Aber die Jünger, die bei Johannes ähnlich verständnislos sind wie bei Markus, können ihn nicht fassen; der Geist wird erst mit der Verklärung in ihnen Wirklichkeit, d.h. dem Tode und der Auferstehung Jesu (vgl. 7,39 und 20,22). In den Abschiedsreden verspricht Jesus, der Vater werde einen Beistand senden, den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht erfassen kann, weil sie ihn nicht sehe und erkenne, der aber mit den Jüngern in Ewigkeit bleiben werde (14,17). Dieser Paraklet oder heilige Geist, der vom Vater ausgehe (15,26), werde die Jünger alles lehren (14,26) und sie in die ganze Wahrheit führen (16,13). Da der Paraklet nur nach dem Tode Jesu kommen könne, sei dieser Tod den Jüngern sogar nützlich (16,7). In seinem philologische Präzision mit geistiger Aneignung verbindenden Kommentar schreibt E. Haenchen: »In dieser ersten Vershälfte wird deutlich vorausgesetzt, daß jenes, was der Geist lehren wird, über die Botschaft des irdischen Jesus hinausgehen wird; man könnte vielleicht sagen: soweit hinausgehen wird, wie die Korrekturen und Zusätze des Evangelisten über die Tradition, die ihm in seiner Vorlage zu Gebote stand. Hier spricht ein klares Bewußtsein davon, daß zwischen dem, was der irdische Jesus sagte und tat, und der Botschaft des Geistes eine Zäsur besteht. […] Johannes hat die Enderwartung, die für Mk noch als ein kosmisches Ereignis in einer unbestimmten Zukunft lag, derart radikalisiert, daß die chronologische Zeit ausgeschaltet wird und mit ihr jene Veränderung innerhalb der Welt, auf die Mk und die erste Christenheit warteten.« 7 Der erste Johannesbrief - um ganz kurz die neutestamentlichen Briefe zu streifen - hebt den Geist der Wahrheit von dem Geist des Irrtums ab (4,6) und fordert auf, zwischen den Geistern zu unterscheiden. Das entscheidende Kriterium ist, ob der Geist anerkenne, Christus sei im Fleische gekommen; dann, und nur dann, stamme der Geist von Gott (4,1f.). Das erklärt, warum die Vulgata schreibt »Christus est veritas«, während der griechische Text den Geist mit der Wahrheit identifiziert (5,6). Schon in den paulinischen Briefen spielt der Begriff des Geistes bekanntlich eine entscheidende Rolle. Paulus’ Theologie ist sicher christozentrisch, doch manche Aussagen über Christus entsprechen solchen über das pneuma auch weil der auferstandene Christus zum pneuma zōopoioun, zum belebenden Geist, geworden ist (1Kor 15,45; 2Kor 3,17). So kann Paulus sowohl behaupten, wir seien e i n Leib in Christo (Röm 12,5), als auch, wir seien es in dem einen Geist (1Kor 12,12). Dieser eine Geist bzw. Christus überwindet die Trennung zwischen Juden und Griechen, Sklaven und Freien (1Kor 12,13; Gal 3,28). Gewiss hat »Paulus grundsätzlicher als seine Tradition die Pneumatologie an die Christologie« gebunden. 8 Der Glaube an die erlösende Tat Christi soll die Werke des Gesetzes ablösen. Aber eben in diesem Glauben zeigt sich der Geist (Gal 3,2; 5,18). Paulus spricht von pneuma tēs pisteōs (2Kor 4,13); gleichzeitig ist die Verheißung des Geistes Gegenstand des Glaubens (Gal 3,14). Der Geist ist also sowohl Subjekt als auch Objekt des Glaubens. Der Geist Gottes wird dabei vom Geist der Welt unterschieden (1Kor 2,12); er wohnt im Menschen (3,16; 6,19). Bedeutsam ist, dass gerade der Pneumatiker Paulus, der dem Geist die unterschiedlichen Charismen zuschreibt (1Kor 12,4ff.), den Pneumabegriff »moralisiert« hat: Der Geist zeigt sich nicht nur in außerordentlichen Taten und Vorgängen, sondern auch in einer durch den Glauben inspirierten Lebensform (Gal 5,22ff.). 9 Wirkungsmächtig ist Paulus’ Opposition von Geist und Fleisch (gr. sarx) sowie von Geist und Buchstabe (gr. gramma). Der erste Gegensatz 10 hat selbstredend nichts mit dem cartesischen zu tun: Fleischlich gesinnt sein ist eine Einstellung. Das Fleisch kann gar nicht dem Gesetz Gottes gehorchen. Während das Gesetz zur Erkenntnis der Sünde und unweigerlich zur Sünde führt, wird der Mensch vom Gesetz der Sünde und des Todes durch das Gesetz des Geistes des Lebens in Der philosophische Wert des Johannesevangeliums ist umgekehrt proportional zu seinem Wert als historische Quelle. Der Geist ist also sowohl Subjekt als auch Objekt des Glaubens. 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 60 Vittorio Hösle Inwieweit ist der Geistbegriff des deutschen Idealismus ein legitimer Erbe ZNT 25 (13. Jg. 2010) 61 Christus befreit, das zu Leben und Frieden führt (Röm 8,2ff.). Der Geist, der kein Geist der Knechtschaft ist, macht uns zu Kindern Gottes; es ist der (göttliche) Geist, der unserem Geist das entsprechende Zeugnis ausstellt (8,14ff.; vgl. Gal 4,6). In ihm ist Freiheit (2Kor 3,17). Analog ist der Gegensatz zwischen Geist und Buchstabe: Nur der ist wahrer Jude, bei dem eine Beschneidung des Herzens im Geiste und nicht im Buchstaben erfolgt ist (Röm 2,29). Die Neuheit des Geistes wird dem Alter des Buchstabens entgegengesetzt (7,6); dieser tötet, jener belebt (2Kor 3,6). Mit zwei Metaphern und einem Polyptoton erklärt Paulus an einer seiner schönsten Stellen, wer in den Geist säe, werde aus dem Geist das ewige Leben ernten (Gal 6,8). II. Der lange Weg von der Pneumatologie des Neuen Testaments über die altkirchliche Formulierung der trinitarischen Dogmen 11 hin zu den mittelalterlichen Lehren vom Heiligen Geist 12 kann hier nicht verfolgt werden, auch wenn etwa die Geschichtstheologie Joachims von Fiore schon den Wunsch deutlich werden lässt, über den Neuen Bund hinauszugehen. 13 Ich muss unmittelbar hineinspringen in das fünfte Paradigma des Christentums, nach dem urchristlichen, hellenistischen, mittelalterlichen und protestantischen, das aufklärerische. 14 Innerhalb dieses Paradigmas ist der deutsche Idealismus deswegen so faszinierend, weil er einerseits am Rationalismus der Aufklärung festhält, andererseits aufgrund eines komplexeren Vernunftbegriffes mehr von der christlichen Tradition auf den Begriff zu bringen sucht als andere Aufklärer: Man vergesse nicht, dass Fichte, Schelling und Hegel als lutherische Theologen ausgebildet worden waren. Alle drei waren mit der Bibel bestens vertraut, und es war der paulinische Gegensatz von Geist und Buchstaben, der es Fichte erlaubte, seine philosophischen Innovationen als legitime Weiterführung der Kantischen Philosophie zu verstehen - was Kant verständlicherweise irritierte, der gegen die Behauptung, dass »der kantische Buchstabe eben so gut wie der aristotelische den Geist tödte«, darauf beharrte, »daß die Critik allerdings nach dem Buchstaben zu verstehen« sei. 15 Aber noch der junge Hegel betont 1801: »Die Kantische Philosophie hatte es bedurft, daß ihr Geist vom Buchstaben geschieden […] wurde.« 16 Aber offenbar nicht nur die Kantische Philosophie. Auch das Christentum wird von Hegel einer neuen Deutung unterzogen, die sich vereinfacht so auf den Begriff bringen lässt: Die Christologie wird durch die Pneumatologie absorbiert. Warum ist dieses philosophische Programm so plausibel gewesen? Die zwei wichtigsten Zäsuren in der neuzeitlichen Philosophiegeschichte werden durch die Namen Descartes und Kant bezeichnet. Jener entdeckt, dass das Mentale nicht auf das Physische reduzierbar ist, dieser, dass das Sittengesetz einer anderen Ordnung angehört als die natürliche Welt (zu der auch die mentale gehört). Während Descartes und Kant Dualisten sind, versuchen ihre Nachfolger - Spinoza und Leibniz bzw. die deutschen Idealisten - Philosophien zu entwerfen, die diesen Dualismus überwinden. Wenn das Mentale nicht auf Physisches zurückgeführt werden kann, liegen u.a. idealistische Konsequenzen nahe, entweder subjektiv- oder objektiv-idealistischer Art: Man geht entweder von dem eigenen Bewusstsein oder einer allgemeinen Vernunft aus, an der das endliche Bewusstsein teilhat. Wenn der Sinn für das Normative nicht aus deskriptiven mentalen Zuständen abgeleitet werden kann und man an ein einziges Prinzip der Welt glaubt, dann ist es plausibel, die Offenheit für das Sittengesetz, die man »Geist« nennen kann, als das eigentliche Prinzip der Wirklichkeit zu deuten. Das Ich beim frühen Fichte, das Absolute beim frühen Schelling und der Geist bei Hegel sind die jeweiligen Prinzipien ihrer Philosophie. Entscheidend ist schon bei Kant die ethische Einsicht, dass das Sittengesetz auf das Prinzip der Autonomie gegründet sein muss: Es handelt sich dabei um eine Gesetzgebung der praktischen Vernunft selbst. In diesem Zusammenhang wird die traditionelle christliche Ethik als heteronom empfunden, sofern sie die Geltung moralischer Normen auf die Offenbarung zurückführt. Es ist sicher kein Zufall, dass die Wendung zur autonomen Ethik von Protestanten ausgeht. Die Wende bedeutet freilich, dass sie gleichzeitig dem wörtlichen Schriftglauben der lutherischen Orthodoxie ihrer Zeit ablehnend gegenüberstehen. Noch der alte Schelling, der den Gedanken der Selbstbegründung der Vernunft einschränkt, betont, die Reformation, »mehr aus tief religiöser und sittlicher Erregung als wissenschaflichem Geist hervorgegangen, hatte die alte Metaphysik unangetastet stehen lassen, war aber eben dadurch unvollendet geblieben« und klagt über den »Glauben an die Offenbarung als bloß äußere Autorität, worein unleugbar die Reformation zuletzt ausgeartet.« 17 Die Gründe, die im 17. und 18. Jahrhundert bei vielen Intellektuellen zu dem Niedergang des Glaubens Die Christologie wird durch die Pneumatologie absorbiert. 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 61 Zum Thema 62 ZNT 25 (13. Jg. 2010) an die wörtliche Wahrheit der Bibel geführt haben, sind mannigfach. 18 Eine neue Metaphysik der Naturgesetze lässt den Wunderbegriff erstens in ganz anderer Weise problematisch erscheinen, als er in der Antike war (Porphyrios etwa bestritt nicht die Möglichkeit, sondern die Einzigartigkeit der Wundertaten Jesu und verwies auf Apollonios von Tyana). Die Entwicklung einer hermeneutischen Methode, die bei Spinoza die Sinnvon der Wahrheitsfrage streng trennt, erlaubt es zweitens, die fragwürdigen Aussagen der Bibel schärfer in den Blick zu bekommen, die früher weginterpretiert wurden. Die Entwicklung des Historismus führt drittens dazu, dass älteren Kulturen eine ganz andere, nämlich mythische Denkweise zugeschrieben werden kann. Und viertens wird der Gedanke als moralisch unerträglich empfunden, Menschen, die von Christus nicht wissen, könnten vom Heil ausgeschlossen werden. Ja, der ethische Universalismus, der entscheidend durch das Christentum angeregt wurde, inspiriert im 18. Jahrhundert ein ganz neues Interesse an anderen Kulturen. Herder steht für die neue Geisteswissenschaft, die bei ihm offenkundige theologische Wurzeln hat: Gottes Energie manifestiert sich in allen bedeutenden geistigen Produkten. Herder nahe steht Goethes episches Fragment »Die Geheimnisse«, das die Idee einer integrativen Universalreligion entwirft. Ohne Zweifel ist die Verbindung der neuen Geisteswissenschaft mit einer komplexen Metaphysik und Epistemologie, wie sie Herder selber nicht glückte, eines der wichtigsten Anliegen Schellings und Hegels gewesen. Auch wenn Fichtes Grundbegriff »Ich« ist, spielt schon bei ihm der Geistbegriff eine wichtige Rolle. Wir sahen schon, wie er sich bei seiner Umbildung der Kantischen Philosophie auf den Geist berief. Im Sommersemester 1794 und im Wintersemester 1794/ 95 las Fichte in Jena »de officiis eruditorum«; Schwerpunkt der zweiten Hälfte des Kurses war der Unterschied des Geistes und des Buchstabens in der Philosophie. In der ersten diesbezüglichen Vorlesung erklärt Fichte zunächst, Geist sei »das, was man sonst auch produktive Einbildungskraft nennt«. 19 In diesem Sinne haben alle Menschen Geist. Wenn wir aber geistige von geistlosen Menschen unterscheiden, beziehen wir uns darauf, dass nur die letzteren Ideen und Ideale hätten, die sich auf die »Vereinigung aller zu einem Reiche der Wahrheit, u. der Tugend, beziehen […] Wer bis in die letztere Region durchgedrungen ist, der ist ein Geist, u. hat Geist in höherer Bedeutung des Worts« (60). Geist zu haben bedeute dabei nicht, dass man ihn wissenschaftlich beschreiben könne. Ein Geist könne nicht unmittelbar auf andere Geister wirken, sondern müsse sich in einem Körper darstellen, und diese äußere Darstellung ist »Darstellung des Geistes, lediglich für den, der selbst Geist hat« (62). Die Geschichte bestehe aus einem »Ringen der Geister mit Geistern« (63). Geist, so fasst Fichte zusammen, ist wesentlich autonom: »Der Geist nimmt die Regel von innen aus sich selbst; er bedarf keines Gesetzes, sondern er ist sich selbst ein Gesetz.« (64) Und im entsprechenden Essay lesen wir: »Der Geist lässt die Grenzen der Wirklichkeit hinter sich zurück […] Der Trieb, dem er überlassen ist, geht in’s Unendliche.« (162) Von den drei größten Vertretern des deutschen Idealismus hat Hegel sich am gründlichsten mit dem historischen Jesus auseinandergesetzt - man denke an »Das Leben Jesu«, 1795 in Bern verfasst, in dem alle Wunderberichte der Evangelien eliminiert sind. Die in Frankfurt geschriebenen Manuskripte zum sogenannten »Geist des Christentums« bieten eine philosophische Deutung des früher eruierten Stoffes. Jesus wird in starker Absetzung vom jüdischen Umfeld gesehen, das durch einen heteronomen Glauben an einen nur transzendenten Gott gekennzeichnet gewesen sei. Hegels Antijudaismus ist auffallend; er spricht von dem »alten Bund des Hasses« (1,293; vgl. 287). Jesus sei in einer Zeit des Umbruchs aufgetreten - Hegel benutzt dabei, offenbar in Anlehnung an Montesquieu, den Terminus »Geist« erstens in einem allgemeinen soziologischen Sinn: »Zu der Zeit, da Jesus unter der jüdischen Nation auftrat, befand sie sich in dem Zustande, der die Bedingung einer früher oder später erfolgenden Revolution ist und immer die gleichen allgemeinen Charaktere trägt. Wenn der Geist aus einer Verfassung, aus den Gesetzen gewichen ist und jener durch seine Veränderung zu diesen nicht mehr stimmt, so entsteht ein Suchen, ein Streben nach etwas anderem […]« (297). Der »erhabene Geist Jesu« - hier bezeichnet der Terminus zweitens etwas Individuelles - habe sich zumal in der Bergpredigt gegen die Gesetze gekehrt (324). Sicher ist Hegels Deutung Jesu durch seine eigene Kritik an dem »Selbstzwang der Kantischen Tugend« (359) mitbestimmt; Jesu moralische und religiöse Ideen sind weitaus mehr im Judentum verankert, als Hegel, der die gleichzeitige jüdische Tradition ignoriert und die Konstruktionen der Evangelien willig übernimmt (vgl. 355 zu Joh 2,24f.), wissen konnte (auch wenn ich als völliger Laie nicht ausschließe, dass heute Jesu Originalität manchmal unterschätzt wird - aus »Nicht nur der Wein ist Blut, auch das Blut ist Geist.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 62 Vittorio Hösle Inwieweit ist der Geistbegriff des deutschen Idealismus ein legitimer Erbe ZNT 25 (13. Jg. 2010) 63 dem nur zu verständlichen Wunsch, mit der entsetzlichen Tradition des christlichen Antijudaismus zu brechen). Für Hegel ist Jesu zentrale Botschaft etwas Lebendiges und Geistiges (hier drittens in einem normativen Sinne), nämlich die Liebe. »Die Liebe hat gesiegt heißt nicht, wie die Pflicht hat gesiegt, sie hat die Feinde unterjocht, sondern sie hat die Feindschaft überwunden. Es ist der Liebe eine Art von Unehre, wenn sie geboten wird, daß sie, ein Lebendiges, ein Geist, mit Namen genannt wird.« (363). Besonders knüpft Hegel an die Reden Jesu im Johannesevangelium an 20 : Die Stiftung einer wirklichen Gemeinschaft im »gleichen Geiste der Liebe«, nicht die bloße Genugtuung durch das Opfer, sei es, was Jesus bezweckt habe (367). Die Konsubstantiation muss gleichsam verdoppelt werden: »Nicht nur der Wein ist Blut, auch das Blut ist Geist.« (366) Wer »das Geistige mit Geist« auffasse, werde auch erkennen, dass die »Reihe thetischer Sätze« am Anfang des Johannesprologs »nur den täuschenden Schein von Urteilen« habe (373). Die Göttlichkeit Christi weise auf den Zusammenhang des Unendlichen und des Endlichen, der das Leben selbst sei (378). Nur wer selber das Göttliche in sich spüre, könne es in Christus wiedererkennen (383); wer es nicht vermöge, der sei eben dadurch schon jetzt, nicht erst in der Zukunft, gerichtet (379 mit Bezug auf Joh 3,18). Gleichzeitig ist Jesus eine »Scheidewand« zwischen den Jüngern und Gott (384); Hegel zitiert explizit Joh 16,7. »Erst nach der Entfernung seines Individuums konnte ihre Abhängigkeit davon aufhören und eigener Geist oder der göttliche Geist in ihnen selbst bestehen.« (388) Im Sinne des Johannes wird auch das Jesuslogion Mt 12,22ff. gedeutet: »Wer sich aber vom Göttlichen absondert, die Natur selbst, den Geist in ihr lästert, dessen Geist hat sich das Heilige in sich zerstört.« (389) Allerdings endet die Geschichte des Urchristentums nach Hegel tragisch: Auch wenn der Glaube zur sich selbst erfüllenden Erwartung hätte werden können (397f.), versagten die Jünger und veräußerlichten ihr Bild von Jesus in eine transzendente Welt, statt es sich anzueignen. »Die im Grabe abgestreifte Hülle der Wirklichkeit ist aus dem Grabe wieder emporgestiegen und hat sich dem als Gott Erstandenen angehängt. Dies der Gemeine traurige Bedürfnis eines Wirklichen hängt tief mit ihrem Geiste und seinem Schicksale zusammen.« (410) Besonders faszinierend ist am Ende der Abhandlung Hegels Verteidigung der typologischen Deutung des Alten Testaments durch die Evangelisten. Hegel bestreitet nicht, dass die Propheten selber nicht an Jesus gedacht hätten, aber er unterscheidet zwischen historischer Wirklichkeit und der Wahrheit der Aneignung, deren Legitimität nicht von jener abhänge. Hegel kann sich sogar auf Joh 16,51 berufen, wo der Evangelist im Satz des Kaiphas einen prophetischen, allerdings, wie er wohl weiß, von ihm gerade nicht intendierten Sinn erkennt. In der Fähigkeit, den Geist auch dort zu erkennen, wo er à contre-cœur wirkt, liege »der höchste Glaube an Geist: […] er spricht von Kaiphas als selbst von dem Geist erfüllt, in dem die Notwendigkeit des Schicksals des Jesu lag.« (416f.) Wenn man will, kann man in den Wandlungen, die schließlich zu den sehr andersartigen Berliner »Vorlesungen über die Philosophie der Religion« führen, ein Äquivalent dieses höchsten Glaubens an Geist erkennen: Die geschichtliche Entfaltung der christlichen Religion erscheint dem reifen Hegel nicht mehr als Verfallsgeschichte, sondern als gottgewollt. Der mir zugestandene Raum lässt es nicht zu, Hegels reife, die altkirchliche trinitarische Dogmatik viel stärker integrierende Religionsphilosophie zu entwickeln. 21 Nur drei Punkte seien erwähnt: Hegels Religionsphilosophie handelt nicht primär von Gott, sondern von den menschlichen Vorstellungen von Gott. Anders als bei Schelling, 22 referiert bei Hegel »absoluter Geist« nicht auf Gott, sondern auf Kunst, Religion, Philosophie. Gott an sich ist bei Hegel in der »Wissenschaft der Logik« thematisch. Allerdings manifestiert sich Gott auch und gerade in der Entwicklung der Welt, zumal des Geistes; daher kann Hegel, wohl mit Joh 4,24 im Blick, in § 384 der Berliner »Enzyklopädie« schreiben: »Das Absolute ist der Geist; dies ist die höchste Definition des Absoluten.« (10.29) Da Manifestation zu Hegels Geistbegriff dazugehört, heißt dies, dass das Absolute sich offenbaren muss: »Oder, um es mehr theologisch auszudrücken, Gott ist Geist wesentlich, insofern er in seiner Gemeinde ist. Man hat gesagt, die Welt, das sinnliche Universum, müsse Zuschauer haben und für den Geist sein, - so muß Gott noch viel mehr für den Geist sein.« (16,53) In allen Religionen zeigt sich Gott, am höchsten aber in jener, die ihn explizit als Geist erfasst, nämlich der christlichen. Zweitens sieht auch der reife Hegel die Pneumatologie als die Wahrheit der Christologie: Christus muss sterben, um ein höheres Gottesverhältnis zu ermöglichen. »Das Verhältnis zum bloßen Menschen verwandelt sich in ein Verhältnis, das vom Geist aus verändert, umgewandelt wird.« (17,296) Drittens verfolgt Hegel die weitere »[...] er spricht von Kaiphas als selbst von dem Geist erfüllt, in dem die Notwendigkeit des Schicksals des Jesu lag.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 63 Zum Thema 64 ZNT 25 (13. Jg. 2010) Entwicklung des Christentums einerseits hin zum modernen Rechtsstaat, andererseits zu einer Philosophie, die es auf den Begriff bringt (17,330ff.). Wie ist die Frage zu beantworten, inwieweit die Hegelsche Geistphilosophie, wohl der Gipfelpunkt des deutschen Idealismus, ein legitimer Erbe des neutestamentlichen Pneumabegriffes ist? Das hängt natürlich davon ab, was die Kriterien für legitimes Erben sind. Sind sie philosophischer Natur, kann es nur darum gehen festzustellen, ob die Hegelsche Philosophie besser begründet ist als alle bekannten Alternativen. Wenn sie das ist, darf sie sicher frühere Gestalten des Geistes in ihre eigene Vorgeschichte integrieren. Sind hingegen die Kriterien theologischer Natur, wird man fragen müssen, was an entscheidenden Ideen Jesu in der Hegelschen Philosophie verlorengegangen ist. Soweit ich sehe, sind in der Kritik an Hegel besonders drei Ideen hervorgehoben worden (wobei die Bestimmung, was entscheidend ist, selbst sachgeleitet ist und sich nicht einfach aus der Häufigkeit der Idee im Neuen Testament ergibt; denn sonst müsste man auch die Exorzismen hervorheben). Erstens kann man dahingehend argumentieren, dass gerade beim reifen Hegel der Geist den Liebesbegriff verdrängt und ersetzt hat. Die existenzielle Aneignung des Liebesgebotes ist mehr als philosophisch begründete Geisteswissenschaft - diese Einsicht Kierkegaards ist attraktiv und wird es noch mehr, wenn sie abgekoppelt wird von dessen Rückkehr zur alten lutherischen Orthodoxie, die allen, die nicht an die Göttlichkeit Christi glauben, die ewige Verdammnis verheißt. Zweitens ist es möglich zu bemängeln, dass die Erfahrung der eigenen Sündhaftigkeit behindert wird, wenn man so stark wie Hegel auf die Göttlichkeit des menschlichen Geistes verweist; wer leidet, mag im Bild des Gekreuzigten einen Trost finden, den ihm die Hegelsche Geistphilosophie nicht vermittelt. Und drittens mag man sich mit der Immanentisierung der Eschatologie bei Hegel nicht abfinden. Doch könnte Hegel entgegnen, alle drei Eigenarten seiner Interpretation seien mindestens ansatzweise im Johannesevangelium zu finden; 23 und was darüber hinausgehe, verdanke sich der Eigenmacht des von Johannes verkündigten Geistes. Erfolgreich entgegnen kann man ihm nur, wenn man zu zeigen versucht, warum jene drei Engführungen sachlich Sinnvolles verfehlen - und zwar dies mit philosophischen Argumenten zu zeigen versucht. 24 Denn der lebendige Geist wirkt nur dort, wo geistige Traditionen sowohl studiert als auch argumentativer Prüfung unterworfen werden. Anmerkungen 1 Zu deren wissenschaftstheoretischer Zwischenstellung siehe V. Hösle, Moral und Politik, München 1997, 547 ff. 2 Ders., The Historical Figure of Jesus, Harmondsworth 1993. Noch unabgeschlossen ist das auf fünf Bände geplante Standardwerk von John P. Meier, A Marginal Jew, New York 1991 ff. Ich bin mir der Tatsache bewusst, dass die Vorsicht der historischen Methode dazu führt, dass man erfolgreiche »Prognosen« (etwa zur Zerstörung Jerusalems) oft als post factum erteilt ansieht, was sachlich keineswegs notwendig ist - sonst müsste man ja auch den Schluss des ersten Bandes von Tocquevilles »De la démocratie en Amérique« statt auf 1835 auf 1950 datieren. (Doch ist Lk 21,20 zu präzise, um ante factum geschrieben zu sein.) Aber die Umkehrung ist korrekt: Fehlprognosen sind sehr alt. Dass die frühe Kirche eine Naherwartung hatte, ist offenkundig, und man hätte sie, da ihre partielle Enttäuschung schon im ersten Thessalonicherbrief ersichtlich ist (4,13ff.; vgl. auch Joh 21,22f.; 2Petr 3,3ff.), schwerlich auf Jesus zurückprojiziert, wenn er sie nicht selber gehegt hätte. Sicher mag er von seinen nächsten Jüngern radikal missverstanden worden sein, aber dann müssen wir die Hoffnung aufgeben, je an die historische Gestalt heranzukommen. Nein, eine der Ideen, die wir Jesus mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zuschreiben können, war falsch, und seine Ausmalung des Gerichts und der Verdammung war wahrscheinlich nicht mit modernen moralischen Prinzipien kompatibel. Ebenso scheint der historische Jesus eine universalistische Ausweitung seiner Botschaft nur gelegentlich, beiläufig, vielleicht zunehmend nach Enttäuschungen mit Juden intendiert zu haben: Eine Perikope wie Mk 7,24ff./ Mt 15,21ff. wird man in einer Zeit florierender Heidenmission schwerlich neu erfunden haben. - Eine grundsätzliche Gefahr der historischen Methode besteht freilich darin, dass sie manchmal glaubt, die epistemologisch bestbewährten Hypothesen zu den von einem Autor gehegten Ansichten erfassten auch die ontologisch zentralen Bestandteile seines Ideensystems. Dabei handelt es sich freilich um einen elementaren Trugschluss. Jesus mag sehr wohl einige seiner Ideen für viel bedeutsamer gehalten haben als andere, die wir ihm mit viel größerer Wahrscheinlichkeit zuschreiben können. 3 Vgl. M.E. Isaacs, The Concept of Spirit, London 1976, 10ff. - Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, der Frage nachzugehen, ob die Idee eines göttlichen Geistes (die der Erkenntnis entspringt, dass der Geist das Göttlichste am Menschen ist) auf besondere Weise mit der Achsenzeit verbunden ist. Sicher ist sie nicht auf das Judentum beschränkt; man denke an Anaxagoras’ Theorie des Nus, aber schon viel früher an den »spenta mainyu« (heiligen Geist) Zarathustras, nach dem die dritte der Gathas (Yasna 47-50) benannt ist. 4 Eine alte, immer noch nützliche Liste aller Stellen mit pneuma im Neuen Testament hat E.W. Winstanley, Spirit in the New Testament, Cambridge 1901 vorgelegt. 5 Vgl. Ch. Schütz, Einführung in die Pneumatologie, 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 64 Vittorio Hösle Inwieweit ist der Geistbegriff des deutschen Idealismus ein legitimer Erbe ZNT 25 (13. Jg. 2010) 65 nicht einzelne Bibelstellen herausgepickt, sondern sich »nach dem Geist des Christentums« gerichtet hätten, »und eben weil sie den Geist getroffen, darum haben sie gesiegt.« (Philosophie der Offenbarung. Zweiter Band, Darmstadt 1974, 101) - Die Spätphilosophien Fichtes und Schellings können hier nicht diskutiert werden. Es genüge die Versicherung, dass sie nicht als irrationalistisch bezeichnet werden dürfen, auch wenn sie von Hegels Systemkonzeption markant abweichen. Schelling etwa schreibt kurz nach der oben im Text zitierten Stelle: »Auch das Christenthum verlangt Ueberwindung, aber nicht der Vernunft selbst (denn dann hörte a l l e s Begreifen auf ), sondern der bloß natürlichen.« (267) »Wenn in uns selbst etwas alle Vernunft Uebertreffendes liegen sollte, so wird von diesem erst dann die Rede seyn können, wenn die Vernunftwissenschaft bis an ihr Ziel geführt ist, davon sie aber noch weit entfernt ist.« (269) Allerdings ist seine der traditionellen nahe stehende Christologie sehr verschieden von derjenigen Fichtes und Hegels, gegen die er sich in der »Philosophie der Offenbarung« wendet (op.cit., 101 ff.). Eines der Probleme seiner Christologie (nicht das einzige) ist, dass Schelling die moderne neutestamentliche Forschung nicht wirklich ernst nimmt: So hält er den Hebräerbrief für paulinisch (320) und legt eine philologisch inakzeptable Interpretation von Joh 21vor (328 ff.). 18 Siehe meinen Aufsatz: Philosophy and the Interpretation of the Bible, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie (1999/ 2) 181-210. 19 Von den Pflichten der Gelehrten. Jenaer Vorlesungen 1794/ 95, hg. von R. Lauth/ H. Jacob/ P.K. Schneider, Hamburg 1971, 58. 20 Fichte wird in »Die Anweisung zum seligen Leben, oder auch die Religionslehre« von 1806 in der sechsten Vorlesung den Prolog des Johannesevangeliums im Sinne seiner eigenen Philosophie deuten. Vgl. D. Weidner, Geist, Wort, Liebe: Johannes um 1800, in: S. Martus/ A. Polaschegg (Hgg.), Das Buch der Bücher - gelesen. Lesarten der Bibel in den Wissenschaften und Künsten, Frankfurt u.a. 2006, 435-470. 21 Ich darf verweisen auf mein Buch: Hegels System, Hamburg 2 1998, 638-662. 22 Philosophie der Offenbarung. Erster Band, Darmstadt 1974, 248 ff. 23 Zum zweiten Punkt vgl. etwa Haenchen, op.cit., 493: »Es ist längst aufgefallen, daß der Begriff Sünde im vierten Evangelium zwar 16mal vorkommt, aber dennoch keine entscheidende Rolle spielt.« 24 Vgl. etwa meine Abhandlung: The Idea of a Rationalistic Philosophy of Religion and Its Challenges, in: Jahrbuch für Religionsphilosophie 6 (2007), 159-181. Darmstadt 1985, 157: »Jesus selber hat vermutlich nur wenig vom Geist gesprochen.« Ich verdanke diesem Buch manche Information. 6 Lk 11,20 »mit dem Finger Gottes«. R.P. Menzies hat gute Argumente, warum es Matthäus und nicht Lukas ist, der Q folgt (Ders.,The Development of Early Christian Pneumatology with Special Reference to Luke-Acts, Sheffield 1991, 185 ff.). 7 Ders., Das Johannesevangelium. Ein Kommentar, Tübingen 1980, 495. 8 J.S. Vos, Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zur paulinischen Pneumatologie, Assen 1973, 145. Zur Vorgeschichte von Paulus’ Begriffsbildung vgl. auch F. Philip, The Origins of Pauline Pneumatology, Tübingen 2005. 9 Vgl. H. Gunkel, Die Wirkungen des heiligen Geistes nach der populären Anschauung der apostolischen Zeit und nach der Lehre des Apostels Paulus, Göttingen 1888, 77: »Paulus sieht in einer Fülle von christlichen Funktionen Geisteswirkungen, welche das Judentum und die ältesten Gemeinden nicht für Wirkungen einer übernatürlichen Kraft gehalten haben.« 10 Er findet sich auch in 1Petr 3,18; 4,6. Der Geist ist nicht bloßes Lebensprinzip, sondern wird auch dem psychikos anthrōpos entgegengesetzt (1Kor 2,14; vgl. Jak 3,15 und Jud 19) und sowohl von psychē als auch sōma unterschieden (1Thess 5,23). 11 Vgl. W.-D. Hauschild/ V.H. Drecoll, Pneumatologie in der Alten Kirche, Bern 2004. 12 Vgl. E.A. Dreyer, An Advent of the Spirit: Medieval Mystics and Saints, in: B.E. Hinze/ D.L. Dabney (Hgg.), Advents of the Spirit. An Introduction to the Current Study of Pneumatology, Milwaukee 2001, 123-162. Meister Eckharts Bibelhermeneutik ist ein besonders wichtiges Verbindungsglied zum deutschen Idealismus. 13 Zur politischen Pneumatologie siehe den Sammelband: Spirito e potere. Lineamenti di pneumatologia politica, hg. von M. Nicoletti, Brescia 2010. 14 Ich beziehe mich auf die überzeugende Einteilung von H. Küng, Das Christentum. Wesen und Geschichte, München/ Zürich 1994. 15 Siehe seine »Erklärung« vom 7.8.1799 (Kant’s gesammelte Schriften, Bd. XII, Berlin/ Leipizig 1922, 371). 16 G.W.F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Frankfurt 1969-1971, 2.9. Ich zitiere alle Schriften nach dieser Ausgabe, auch die späten Vorlesungen, die inzwischen in kritischen Editionen vorliegen, da die Entwicklung über die einzelnen Jahre hinweg hier nicht thematisch ist. 17 Philosophie der Mythologie, Erster Band: Einleitung in die Philosophie der Mythologie, Darmstadt 1976, 264.266. Doch preist Schelling die frühen Reformatoren, die sich, anders als die zeitgenössischen Pietisten, 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 65 Verhalten sich der Sohn und der Geist zum Vater wie dessen rechter und linker Arm? Oder ist der Geist das Band der Liebe zwischen Vater und Sohn? Entstammt der Geist aus dem Vater oder aus dem Vater und dem Sohn? Reichlich spekulativ hat die christliche Theologie jahrhundertelang über solche Fragen gestritten und ihre Mutmaßungen über die innertrinitarischen Ursprungsrelationen derart kontrovers zugespitzt, dass selbst die Konkurrenz zwischen Rom und Konstantinopel sich theologisch am Streit über das „Filioque“ aufhängen ließ, über jenen berühmten Zusatz zum nicäno-konstantinopolitanischen Bekenntnis von 381, der Heilige Geist sei „aus dem Vater und dem Sohn (filioque)“ hervorgegangen. Da der kirchliche Westen ebenso unnachgiebig auf diesem Zusatz beharrte, wie die Theologen der Ostkirche ihn ablehnten, war das Schisma, das im Streit um den Primat Roms seinen harten kirchenpolitischen Kern hatte, auch theologisch darstellbar. Bis heute ist das mit dem filioque aufgegebene ökumenische Problem nicht gelöst. Selbst lutherische Christen sollen auf das Sprechen des filioque in Gottesdiensten mit orthodoxer Beteiligung nur dann verzichten, wenn die orthodoxe Seite vorher klargestellt hat, dass sie das filioque nicht als häretisch ansieht, so nachzulesen in einer Studie der VELKD von 2007. Theologisch haben diese Streitfragen freilich eine Aktualität, die man ihnen auf den ersten Blick nicht ansieht: Wie christologisch muss christliche Rede vom Geist bestimmt sein, damit nicht jeder beliebige Geist sich christlich nennen darf? Gibt es, trinitätstheologisch gedacht, ein unmittelbares „Wirken des Vaters durch den Geist“, also ein Wirken am Sohn vorbei? Für den Dialog der Religionen wäre das eine goldene Brücke, aber wer garantiert, dass unter diesen Bedingungen nicht auch Irrgeister im Haus der Kirche Einzug halten, etwa der völkische wie in jenen zwölf dunklen Jahren deutscher Geschichte im letzten Jahrhundert? Die Begriffsoperationen am offenen Herzen der Trinität sind also beileibe kein bloßer Zeitvertreib theologischen Scharfsinns. Dass die Exegese hierbei maßgeblich beteiligt ist, liegt auf der Hand, denn zu allen Zeiten wurden die strittigen Details in möglichst enger Fühlung mit dem Neuen Testament diskutiert. Die lukanische Geist- Konzeption, Gegenstand der vorliegenden Kontroverse, verdient besondere Aufmerksamkeit, weil sie, wie Odette Mainville zeigt, Christologie und Pneumatologie in einen einzigartigen geschichtlichen Zusammenhang stellt. Ergebnis ist ein eigentümlicher bibeltheologischer Traditionalismus, der gerade dort greift, wo die vom Geist bestimmte Kontinuität des Wirkens Jesu und der Christen als »nachösterlicher Messianismus« (Mainville) beschreibbar ist. François Vouga, der Geschichtsbezug und Narrativität der lukanischen Pneumatologie im Vergleich mit Paulus und Johannes noch stärker profiliert, legt den Akzent dagegen auf das „radikale Novum“ der Indienstnahme der Pneumatologie für das lukanische Christusbild. Die Differenzierungen, die hierbei eine Rolle spielen, erschließen sich einer schnellen Lektüre ebenso wenig wie die Materie der späteren Dogmengeschichte, doch ist es zumal in dieser weit gespannten theologischen und ökumenischen Perspektive lohnend, sich anhand der beiden folgenden Beiträge in die Problemstellungen lukanischer Pneumatologie einführen zu lassen. Manuel Vogel Kontroverse Einleitung zur Kontroverse »Ist die Christologie die Grundlage der Pneumatologie des lukanischen Doppelwerkes? « 66 ZNT 25 (13. Jg. 2010) 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 66 ZNT 25 (13. Jg. 2010) 67 Die hier zur Disposition stehende Frage lautet: Ist die Christologie die Grundlage der Pneumatologie des lukanischen Doppelwerkes? Die Beantwortung dieser Frage setzt eine andere voraus: Hat Lukas eine eigene Pneumatologie entwickelt? Um diese zweite Frage zu beantworten, muss beobachtet werden, wann, wie und warum Lukas vom Geist spricht. Zunächst muss präzisiert werden, dass sich dieser Aufsatz nur mit der theologischen Bedeutung des Wortes »Geist« von seiner semitisch alttestamentlichen Verankerung her befasst. Es geht um die ruah, die die LXX mit pneuma und die Vulgata mit spiritus übersetzen: Der Hauch Gottes, der Leben schafft und als Kraft handelt, mit dem bestimmte Figuren in Hinsicht auf bestimmte Aufgaben zugunsten Israels erfüllt werden. 1. Das Wirken des Geistes im Lukasevangelium Der Geist ist besonders aktiv in den ersten vier Kapiteln des Lukasevangeliums. Bei jeder seiner Interventionen handelt er als Garant der Worte und der Taten der Personen, die mit dem Kommen und der Mission Jesu in der Welt verbunden sind. Im Diptychon der Ankündigungen der Geburten von Johannes und Jesus spielt der Geist eine doppelte Rolle, nämlich eine präventive und eine schützende. In der ersten Ankündigung (Lk 1,11-20) präzisiert der Engel, dass das Kind des Zacharias vom Heiligen Geist vom Mutterleib her erfüllt werden wird (gr. Plēsthēsetai; 1,15); dann enthüllt er die Aufgabe, die ihn erwartet: Die Wege des Herrn vorzubereiten (V. 76). Das Passivum futurum des Verbs »erfüllen« zeigt, dass eine äußerliche Quelle für die Gabe des Geistes zu dem Kind verantwortlich sein wird. In Hinblick auf die Bedeutung seiner Berufung wird der Schutz des Geistes seiner Geburt vorangehen 1 und seine Wirksamkeit wird sich dauerhaft entfalten. In der zweiten Ankündigung hat der Verweis auf den Geist ein ganz anderes Ziel. Die Verheißung seiner Intervention bezieht sich auf Maria und nicht auf das Kind (1,35): »Der heilige Geist wird über Dich kommen (gr. epeleusetai) und die Kraft des Höchsten wird Dich überschatten (gr. episkiasei), auch darum (gr. dio kai) wird das Heilige, das gezeugt wird, Sohn Gottes genannt werden«. Die Intervention des Geistes hat nicht die Zeugung (wie es in Mt 1,18.20 der Fall ist), sondern den Schutz der Umgebung, in der das Kind gezeugt wird, 2 zum Objekt, wie es das Verhältnis von Ursache-Wirkung zeigt, das durch dio kai zwischen den beiden Hälften des Verses hergestellt wird. Alle anderen Erwähnungen des Geistes in Lk 1-2 betreffen Personen, die das Kommen Jesu durch Orakel kommentieren. Das erste, das Elisabeth zugeschrieben ist (V. 41-45), bringt eine doppelte Anerkennung seines Status zum Ausdruck: Elisabeth selbst, die vom Heiligen Geist erfüllt wurde (gr. eplēsthē pneumatos hagiou), ruft: »Wie geschieht mir, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt? «(V. 43); und das Kind in ihrem Leibe hüpft vor Freude angesichts diesem vom Heiligen Geist bereits erfüllten Kind - was als Johannes pränatale Anerkennung der Überlegenheit Jesu gedeutet wird. Es kommen dann die prophetischen Worte, die unmittelbar mit den beiden Geburten verbunden sind. Bei der Geburt des Johannes spricht sein ebenfalls vom Geist erfüllter (gr. eplēsthē pneumatos hagiou) Vater Zacharias einen Psalm (V. 67-79), in dem die jeweilige Rolle der beiden Kinder deutlich verteilt wird: Jesus, der aus der Familie Davids stammt, wird der Erlöser sein, den der Gott Israel sendet (V. 68-69); Johannes wird der Prophet des Höchsten sein, der vor ihm hergehen wird, um die Wege des Herrn vorzubereiten (V. 76). Nach der Geburt Jesu und bei seiner Darbringung im Tempel bezeichnet ihn in der Tat Simeon, der über ihn prophezeit, als den erwarteten Heiland Israels - und sein prophetisches Wort wird vom Heiligen Geist dreifach autorisiert (2,25-27). Mit Ausnahme von Maria werden alle Figuren, die sich in den beiden ersten Kapiteln über Jesus geäußert haben, aus dem narrativen Setting des Evangeliums verschwinden. Sie wurden punktuell vom Geist Gottes erfüllt, wie die alttestamentlichen Propheten (Num 11,17.25.29; Jes 11,2; 42.1; 61,2; Ez 11,5). Der Inhalt ihrer Sprüche war streng christologisch ausgerichtet, und in jedem einzelnen Fall hatte der Geist die einzige Kontroverse Odette Mainville Biblische Rede vom Geist im Dienst der Christologie 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 67 68 ZNT 25 (13. Jg. 2010) Kontroverse Funktion, sie zu legitimieren. Eine besondere Stellung bekommt insofern die Erfüllung des Geistes bei Johannes. Denn sie ist auch prophetischer Art, aber mit dem Novum, dass sie permanent wird. Deshalb unterscheidet sich die Funktion des Geistes bezüglich Johannes auch von der hinsichtlich der Funktion bei Marias, denn sie schafft eine Sphäre der Heiligkeit. Bis zu diesem Punkt erscheint der Geist als ein Werkzeug Gottes, das in bestimmten Figuren im Wesentlichen im Dienste des Kommens Jesu, des signifizierten Heilands und Messias, wirksam ist. Sein Wohnen in Jesus wird aber eine einzigartige Bedeutung erhalten. In der Szene der Taufe steigt der Geist auf ihn in dem Augenblick herab, in dem die himmlische Stimme seine Erwählung mit einem freien Zitat von Jes 42,1 offenbart: »Du bist mein geliebter Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen« (Lk 3,22). Und in einer Anspielung auf dieses Ereignis bezeichnet Jesus in seiner Vorstellungsrede in der Synagoge in Nazareth (4,18-27) das Kommen des Geistes als Salbung und Einsetzung in eine Mission, die er mit prophetischen Begriffen klar definiert (V. 24.25-26.27). Der narrative Verlauf des Evangeliums wird übrigens diese Interpretation bestätigen. 3 Der deutlichste Beleg findet sich in dem Mund der beiden Jünger auf dem Weg nach Emmaus: »Das mit Jesus von Nazareth, der ein Prophet war, mächtig in Tat und Wort vor Gott und dem ganzen Volke« (24,19). Hier muss man aber auf die genaue Beschreibung des Verhältnisses des Geistes zu Jesus als auf eine bedeutende Neuakzentuierung hinweisen: An die Stelle der passiven partizipialen Form des Verbs »erfüllen« (gr. pimplēmi), die bisher für alle anderen Figuren verwendet worden war, hat Lukas die adjektivische Form »voll« (gr. plērēs) für Jesus gewählt. So schreibt er von Jesus, der nach seiner Taufe vom Heiligen Geist in die Wüste geführt wird: »Jesus kehrte nun voll vom Heiligen Geist vom Jordan zurück« (4,1). Es handelt sich um einen Zusatz zu der markinischen Quelle, der die Qualität des Wohnens des Geistes in Jesus auch gegenüber Johannes hervorhebt: Der Täufer ist zwar auch dauerhaft, aber in Hinblick auf eine präzise Aufgabe und nur für diese Aufgabe vom Heiligen Geist erfüllt, während Jesus uneingeschränkt voll von Geist ist. Der Geist Gottes ist Bestandteil seines Wesens. Dies ist radikal neu und fügt sich in die Ökonomie einer radikal neuen Ära der Heilsgeschichte. 4 Daraus folgt, dass das Evangelium keine Notwendigkeit mehr sieht, den Geist als die in den Worten und in den einzelnen Gesten Jesu wirkende Kraft zu erwähnen. 5 Wir dürfen also zusammenfassen. Zum einen beobachten wir, dass sich der Geist im dritten Evangelium immer als die wirkende Kraft Gottes zeigt, die das Kommen und die Mission Jesu legitimiert, und dies sowohl wenn sie in den Figuren seiner Umgebung als auch wenn sie direkt in Jesus selbst erscheint. Zum anderen entdecken wir aber, dass jede Intervention des Geistes einer christologischen Absicht entspricht. Das Wohnen des Geistes in Jesus bekommt ebenfalls eine neue Qualität. 2. Der Geist am Werk in der Apostelgeschichte Die Anfänge der Kirche, wie sie die Apostelgeschichte schildert, stehen vollständig unter dem Einfluss des Geistes. Zu fragen ist folglich, ob sich der Status und das Handeln des Geistes in der Kontinuität dessen befinden, was im Evangelium feststellbar war. In dieser Hinsicht liefern die letzten Worte des Auferstandenen am Osterabend das erste Indiz einer Antwort: »Und siehe, ich werde, was mir der Vater verheißen hat, auf euch herab senden. Ihr sollt also in der Stadt bleiben, bis ihr mit Kraft aus der Höhe ausgerüstet werdet« (24,49); diese Kraft wird ausdrücklich bei der Eröffnung der Apostelgeschichte mit dem Geist identifiziert (Apg 1,8). Lukas spricht weiterhin vom Geist als einer Kraft, die von Gott her kommt, aber jetzt stellt sich Jesus als der Vermittler seiner Aussendung vor. Wir wollen nun den Weg beobachten, der dazu führt. Sofort am Anfang der Apostelgeschichte (Apg 1,4- 5) erfahren wir vom Auferstandenen selbst, dass die Verheißung des Vaters mit der Ankündigung, die der Täufer von einer Taufe mit dem Heiligen Geist gemacht hatte (Lk 3,16), gleichzusetzen ist. Diese Taufe mit dem Heiligen Geist soll sich in den nächsten Tagen ereignen, und man versteht, dass sie sich an Pfingsten verwirklicht (Apg 2,1-4). Wie aber wurde diese Ausgießung ermöglicht? Die Rede des Petrus gibt uns dazu Hinweise, um diese Frage zu beantworten. Petrus erklärt zunächst das an Pfingsten beobachtete Phänomen als die Erfüllung der Orakel des Propheten Joel (Joel 3,1-5), der die Ausgießung des Geistes auf jedes Fleisch in der eschatologischen Zeit ankündigte, damit alle prophezeien können (Apg 2,17-21). »Bis zu diesem Punkt erscheint der Geist als ein Werkzeug Gottes, das in bestimmten Figuren im Wesentlichen im Dienste des Kommens Jesu, des signi[zierten Heilands und Messias, wirksam ist.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 68 Odette Mainville Biblische Rede vom Geist im Dienst der Christologie Diese Erfüllung wurde dadurch ermöglicht, dass die Werke Jesu von Nazareth von Gott akkreditiert worden sind und, obwohl er von unfrommen Händen getötet wurde, ihn Gott auferweckt (2,22-28) und zum Messias gemacht hat (2,30). Im Blick auf die Ausübung seiner Messianität hat ihm Gott seinen Geist gegeben (V. 33a), den Jesus seinerseits auf die Jünger ausgegossen hat (V. 33b). Dies wird am Pfingsttag feststellbar, erklärt Petrus, wenn die Jünger in allen Sprachen gehört werden. Nach Joels Orakel sind sie zu Propheten gemacht worden. Bevor wir die lukanische Darstellung des prophetischen Amtes der Jünger untersuchen, müssen wir auf den Zusammenhang zwischen der Intervention des Geistes in der Ankündigung an Maria und dem in der Petrusrede erwähnten Messianismus eingehen: »Der Heilige Geist wird über Dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird Dich überschatten. Darum wird auch das Heilige, das gezeugt wird, Sohn Gottes genannt werden« (Lk 1,35). Wir schlagen vor, diese Ankündigung als eine prospektive Projektion zu lesen, die auf eine Zeit jenseits der irdischen Mission Jesu verweist: Die irdische Mission Jesu ist bereits durch den Geist im Moment der Taufe legitimiert worden, während die Ankündigung vor der Geburt sich auf seine messianische Laufbahn, die erst mit seiner Auferstehung wirklich wird, bezieht. Diese messianische Auslegung von Lk 1,35 steht in der diskursiven Kontinuität des ersten Teils der Worte des Engels (V. 32-33), dessen messianischer Gehalt evident ist. 6 Wenn nämlich der Titel »Sohn des Höchsten« im ersten Teil einen funktionalen, messianischen Wert hat, kann man mit guten Gründen denken, dass der Titel »Sohn Gottes« die gleiche Bedeutung im zweiten Teil beinhaltet. Die Ankündigung des Engels unterscheidet dann zwei Ebenen des Messianismus: Der erste nimmt die jüdische Erwartung auf und versucht, ihr zu genügen (V. 32-33), während der zweite über die Erfahrung einer neuen Herrschaft in der Gemeinde berichtet (V. 35). In dieser Perspektive wäre die Formulierung des V. 35 eine Vorwegnahme dieses zukünftigen Messianismus und die Intervention des Geistes und Hinweis auf sein Wesen als ein pneumatischer nachösterlicher Messianismus zu verstehen. 7 Dies scheint Lukas am Anfang der Apostelgeschichte zu bestätigen. Er bescheinigt zunächst, dass der Messianismus erst in der Auferstehung entsteht (Apg 2,30-31): »Da er nun ein Prophet war und wusste, dass Gott ihm mit einem Eid zugesagt hatte, einer von seinen Nachkommen werde auf seinem Thron sitzen, redete er vorausschauend von der Auferstehung des Christus.« 8 Er fährt fort und erklärt, dass dieses Messianische dadurch wirksam gemacht worden ist, dass Jesus den Geist vom Vater bekommen und ihn auf seinen Jüngern ausgeschüttet hat (Apg 2,32-33): »Diesen Jesus hat Gott erweckt; dessen sind wir alle Zeugen. Er ist nun zur Rechten Gottes erhöht und hat vom Vater die verheißene Gabe, den heiligen Geist, empfangen, den er jetzt ausgegossen hat, wie ihr seht und hört.« Diese Verkündigung erklärt also, dass die Ausübung des Messianismus des auferstandenen Christus wesentlich pneumatisch ist. Als Korollarium kann man auch sagen, dass der Geist das Instrument der Herrschaft Christi ist. Der Geist wird nämlich nur dann erwähnt, wenn die Quelle und die Natur der nachösterlichen Funktion Jesu, Christus, erklärt wird. Prof. Dr. Odette Mainville studierte Pädagogik in Gaspé und dann eologie in Montreal und Chicago. Sie war Lehrerin für Sonderschulen in Gaspé und Québec, und sie ist seit 1989 Professorin für biblische Exegese mit den Schwerpunkten Paulus und synoptische Evangelien an der Faculté de théologie et de sciences des religions de l’Université de Montréal. Seit 2009 Honorarprofessorin. Wichtige Bücher in den Bereichen des lukanischen Doppelwerkes, der paulinischen eologie und der Hermeneutik: L’Esprit dans l’œuvre de Luc (1991), La Bible au creuset de l’histoire (1995), Un plaidoyer en faveur de l’unité. La lettre aux Romains (1999). Weitere Veröffentlichungen unter: http: / / www.ftsr.umontreal.ca/ faculte/ profs/ mainville_odette.html Letzte Buchveröffentlichung: Les christophanies du Nouveau Testament. Histoire et théologie (2008). Odette Mainville ZNT 25 (13. Jg. 2010) 69 »Der Geist Gottes ist Bestandteil seines [sc. Jesu] Wesens. Dies ist radikal neu [...]« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 69 Kontroverse 70 ZNT 25 (13. Jg. 2010) Die Ausschüttung des Geistes in der Szene der Taufe Jesu hatte als Ziel, die prophetische Laufbahn Jesu zu legitimieren, ohne dass er über den Geist schon verfügen konnte. Die neue Ausschüttung nach der Auferstehung hat demgegenüber eine doppelte Auswirkung: Sie verleiht ihm das Leben in Fülle, so dass der Tod keine Macht mehr über ihn hat, und macht ihn zum Herrn des Geistes, so dass er ihn ausschütten kann, um seine Herrschaft auszuüben. Der pneumatische Messianismus Jesu wird folglich durch die Vermittlung des Zeugnisses der Glaubenden ausgeübt werden, gemäß der in Apg 1,8 ausformulierten Empfehlung des Auferstandenen: »Ihr werdet eine Kraft empfangen, wenn der Heilige Geist über euch kommt, und ihr werdet meine Zeugen sein, in Jerusalem, in ganz Judäa, in Samarien und bis an die Enden der Erde.« Dieses missionarisch-geographische Programm wird auf wundersame Weise eingehalten werden, wie das ganze Buch der Apostelgeschichte belegt. Immer wird der Geist die aktive Kraft sein, die in jeder Initiative und in jeder Ausweitungsbewegung der Kirche wirksam sein wird. Die Beispiele häufen sich so sehr, dass hier nur die herausragenden Punkte aufgelistet werden können: - Die Kirche in Jerusalem stellt ihren ersten Erfolg ganz unter das Zeichen der Erfahrung des Pfingstgeschehens (2,1-4). - Vor dem Hohen Rat setzt Petrus, erfüllt vom Heiligen Geist (4,8), die Kraft, die in ihm wirksam ist, mit dem Namen Jesu in Verbindung. - Stephanus, voll von Heiligem Geist (6,5), hält seine lange, die Heilsgeschichte zusammenfassende Rede vor dem Hohen Rat. - Das Apostelamt des Philippus in Samarien wird vom Geist legitimiert (8,14-17.29.31). - Petrus, vom Geist geführt (10,19.44-45; 11,12.16-17), empfängt durch die Taufe den gottesfürchtigen Kornelius und sein ganzes Haus, auf die der Geist herabkommt. - Paulus, erfüllt vom Heiligen Geist (9,17), beginnt in Damaskus seine Mission (V. 20), die sich durch das ganze Römische Reich im Laufe seiner großen Missionsreise nach dem Willen des Geistes (13,2.4; 16,6-7) ausweiten wird. - Die Versammlung in Jerusalem, angestoßen durch den Heiligen Geist, bestätigt die Erfahrung des Petrus bei Kornelius (15,7-8) und die Mission des Paulus unter den Heiden (15,28). 3. Deskriptive Züge des Geistes im lukanischen Doppelwerk Das lukanische Verständnis des Heiligen Geistes spiegelt offensichtlich die alttestamentliche Vorstellung des Geistes wider und nimmt seine Grundzüge auf, um seine Rolle im lukanischen Doppelwerk zum Ausdruck zu bringen. Wie bereits erwähnt bezeichnet der Geist zunächst im Ersten Testament die Interventionskraft Gottes in die Welt. Sein Hauch ist die zwingende Kraft, die das Geschick des Volkes Israel bestimmt. Lukas bleibt dieser deskriptiven Vorstellung so treu, dass er regelmäßig auf die Begriffe »Geist« und »Kraft«, die er als komplementäre Ausdrücke und sogar als Synonyme verwendet (vgl. Lk 1,35; 4,14; 24,49; Apg 1,8; 6,8.10; 10,38), zurückgreift. Selbst wenn er die Gleichung nicht explizit herstellt, wird sie durch die Beschreibung des Verhaltens des Geistes genauso offenbar. Die Wirkungen des Geistes ahmen nämlich die des Ersten Bundes nach. Zum Beispiel entrückt der Geist Philippus (Apg 8,39); wie er Elia (1Kön 18,12; 2Kön 2,16) und Ezechiel entrückt hat (Ez 3,14); der Geist zwingt Petrus, sich zu Kornelius zu begeben (Apg 10,19-20; 11,12), wie er sich zuvor unvorhersehbar und unwiderstehlich Samson (Ri 14,6.19; 15,14) und Gideon bemächtigte (Ri 6,34); der Geist bestimmt Paulus und Barnabas, um sie auszusenden (Apg 13,2.4); er hindert Paulus, das Evangelium in Asien zu verkündigen, und verändert das Itinerar seiner Reise (16,6-7). Auch die Erwähnung der Reden in Zungen, um den prophetischen Auftrag der Boten zu authentifizieren (Apg 10,46; 11,18; 19,6; oder in anderen Sprachen, Apg 2,4.17) erinnert an die Trance der alttestamentlichen Propheten, als sie ihre Orakel verkündigten (1Sam 10,6.10-12; 19,23-24; Num 24,2). Genauso aussagekräftig sind die Anklänge und Ähnlichkeiten zu den alttestamentlichen Begriffen, mit denen Lukas die Interventionen des Geistes beschreibt. Parallel sind die sich in der LXX und im lukanischen Doppelwerk entsprechenden Begriffe und Ausdrücke: »den Geist aussenden« (gr. apostellō): Ps 103,30 / / Lk 24,49; »den Geist anziehen« (gr. endyō): Ri 6,34; 1Chron 12,19; 2Chron 24,20 / / Lk 24,49; »der Geist kommt über« (gr. eperchomai): Ez 2,2; Num 24,2 / / Lk 1,35; Apg 1,8; »der Geist fällt herab auf« (gr. epipiptō): Ez 11,5; Ri 14,6.19; 1Sam 10,6 / / Apg 8,16; 10,44; 11,15; »den Geist ausschüt- »Die Ausübung des Messianismus des auferstandenen Christus [ist] wesentlich pneumatisch[...]« »Die Verhaltensweisen des Geistes ahmen [...] die des ersten Bundes nach.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 70 Odette Mainville Biblische Rede vom Geist im Dienst der Christologie ZNT 25 (13. Jg. 2010) 71 ten« (gr. ekcheō): Jes 32,15; 44,3; Spr 1,23 / / Apg 2,33; »vom Geist füllen« (gr. pimplēmi): Ex 39,29; Joel 3,1; Jes 32,15; 48,16; 63,11 / / Lk 1,15.41.67; Apg 4,31; »der Geist spricht zu« (gr. legō): Ez 11,5 / / Apg 8,29; 10,19; 11,12; 13,2; 19,1; 21,11. Daneben gibt es noch andere Verben, die, ohne im Griechischen wortwörtlich identisch zu sein, die gleichen Gedanken ausdrücken: »entrücken«: 1Kön 18,12; 2Kön 2,16; Ez 3,14 / / Apg 8,39; »herabkommen auf«: Num 11,25; Jes 11,2; 2Kön 2,15 / / Lk 3,22; »ausgießen«: Jes 29,10 / / Apg 2,17; »auf die Probe stellen«: Ex 17,2; Dtn 6,16; Ps 95,9 / / Apg 5,9; »ruhen auf«: Ri 3,10; Num 24,2 / / Lk 2,25. 4. Um die Ausgangsfrage zu beantworten Vor mehr als einem halben Jahrhundert wagte Étienne Trocmé zu behaupten, dass Lukas »keine entwickelte und durchdachte Pneumatologie besaß« 9 . Er hatte nicht nur Recht, sondern diese Aussage kann noch dahingehend verstärkt werden, dass Lukas nicht einmal eine originelle Pneumatologie entwickelt hat. Im Gegenteil: Er hat ein bereits erprobtes sprachliches und begriffliches Netz in größter Verbundenheit verwendet. Dadurch leitet er seinen Leser in die interpretativen Grundlinien seines Verständnisses der Thematik des Heiligen Geistes. Ganz nach der alttestamentlichen Art und Weise, nach welcher der Geist kein von Gott getrenntes Wesen, sondern eine Kraft, die von ihm herkommt, also eine Eigenschaft Gottes darstellt, bleibt er auch für Lukas eine Eigenschaft und ein Instrument Gottes. Dies allerdings mit dem Unterschied, dass Gott Christus seinen Geist in der Auferstehung vermittelt und ihn zu seinem Herrn macht. Die bereits erwähnte feierliche Verkündigung in Apg 2,32-33 ist in dieser Hinsicht entscheidend: Auf der einen Seite führt der ganze Weg Jesu, wie er im Evangelium dargestellt wird, auf diese Verkündigung hin. Auf der anderen Seite leiten sich die Geburt und die Ausbreitung der Kirche von ihr ab. Sie bildet die Achse der Kontinuität zwischen dem Leben Jesu und dem Leben der Kirche. Diese Verkündigung bildet den Gipfel - so wagen wir zu behaupten - des lukanischen Werkes. Der Geist, der sich in der frühen Kirche als wirksam erweist, ist also der des erhöhten Christus, und alle Werke des Geistes, die in der Apostelgeschichte erzählt werden, sind seine. Die Formulierung von Raymond Brown hat dies richtig zum Ausdruck gebracht: In der Kirche ist der Geist »der gegenwärtige Jesus, während er abwesend ist« 10 . Anders formuliert: Er ist der Christus, der durch die Kraft seines Geistes handelt. Lukas hat sich die alttestamentliche Sprache des Geistes angeeignet, aber er hat sie christianisiert. Darin besteht sein entscheidender Beitrag. Kein anderer neutestamentlicher Verfasser, nicht einmal Paulus, hat diese Übertragung des Geistes Gottes auf Christus in seiner Auferstehung / Erhöhung so explizit ausgedrückt, wie es Lukas getan hat (Apg 2,33). Kein anderer hat wie Lukas die kirchliche Konsequenz der Herrschaft, die Christus durch die Kraft seines Geistes ausübt, aufgezeigt. Lukas hat nicht versucht, eine Pneumatologie zu entwickeln. Sein Anliegen war vielmehr, Jesus als Christus in der Erfüllung seiner doppelten, vorösterlichen (prophetischen) und nachösterlichen (messianischen) Berufung darzustellen, und zu zeigen, dass der Geist Gottes der verantwortliche Agent für diese Erfüllung war. Dies hat sich sowohl in seinem Evangelium als auch in der Apostelgeschichte bestätigt. Lukas hat also keine Pneumatologie entwickelt, sondern er hat ein gut erprobtes pneumatisches Instrumentarium verwendet und es in den Dienst der Christologie gestellt. Abschließend muss man schlussfolgern, dass nicht die lukanische Christologie die Grundlage seiner Pneumatologie bildet, sondern umgekehrt, dass sich in seinem Doppelwerk die pneumatische Kraft im Dienste der Christologie befindet. Der Beitrag wurde übersetzt von François Vouga Anmerkungen 1 Die vom Mutterleib an ausgesprochene Berufung des Johannes nimmt die in der alttestamentlichen Zeit bekannte Erwählungsform der Berufungen von Samson (Ri 13,5; 16,17), Jesaja (Jes 49,1.5) und Jeremia (Jer 1,5), aber auch von Paulus (Gal 1,15) auf. Obwohl sie alle vor ihrer Geburt erwählt worden waren, wird von keiner dieser großen Figuren gesagt, dass sie vom Mutterleib an vom Geist erfüllt wurde. 2 Im Ersten Testament haben die Verben eperchomai (»herabkommen auf«, Gen 42,21; Weish 12,27) und episkiazō (»überschatten«, Ex 40,35; Ps 90,4; auch Apg 5,15) niemals die Konnotation von Zeugung, sondern bedeuten nur die göttliche Protektion des Volkes. »Kein anderer hat wie Lukas die kirchliche Konsequenz der Herrschaft, die Christus durch die Kraft seines Geistes ausübt, gezeigt.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 71 Kontroverse 72 ZNT 25 (13. Jg. 2010) 3 Vgl. 7,11-17; 7,39; 9,7-8; 13,34; 22,64; vgl. auch 9,61- 62; 22,43; Apg 7,37. 4 Noch 4mal wird das Adjektiv plērēs in der Apostelgeschichte verwendet: 6,3 (die Sieben), 6,5; 7,55 (Stephanus) und 11,24 (Barnabas); aber jeder Fall gehört zu der nachpfingstlichen Epoche, und die betreffenden Personen sind im Geist getauft worden und sind gleich wie Jesus Propheten geworden, um sein Werk fortzusetzen. Vom Geist erfüllt zu werden scheint von nun an Bestandteil des Christseins zu sein. Vgl. O. Mainville, L’Esprit dans l’œuvre de Luc (Héritage et projet 45), Montréal 1991, 231-235; 290-294). 5 Eigentlich ist das einzige weitere Vorkommen in Bezug auf Jesus mit dem inneren Druck verbunden, der ihn bewegt, wenn er seinen Vater lobt, die Offenbarung der Geheimnisse für die Kleinen bestimmt zu haben (10,21). Die anderen betreffen die Jünger (11,13; 12,10.12). 6 Lk 1,32-33: »Dieser wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden, und Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben, und er wird König sein über das Haus Jakob in Ewigkeit, und seine Herrschaft wird kein Ende haben.« 7 Vgl. in diesem Zusammenhang meinen Aufsatz: Le messianisme de Jésus. Le rapport annonce / accomplissement entre Lc 1,35 et Ac 2,33, in: J. Verheyden (Hg.), The Unity of Luke-Acts, (BETL CXLII), Leuven 1999, 313-327. 8 Lukas nimmt diese Interpretation des nachösterlichen Messianismus in der Rede des Paulus in Antiochia auf (Apg 13,30-35). 9 É. Trocmé, Le Saint-Esprit et l’Église d’après le livre des Actes, in: Autori varii., L’Esprit Saint et l’Eglise; catholiques, orthodoxes et protestants de divers pays confrontent leur science, leur foi et leur tradition: l’avenir de l’Eglise et l’œcuménisme, Paris 1969, 21.24. 10 R.E. Brown, The Gospel According to John (Anchor Bible 29A), New York 1970, 1141. Beiträge zum ethischen Gespräch: Martin Stiewe/ François Vouga (Hg.) Das Evangelium im alltäglichen Leben Beiträge zum ethischen Gespräch Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie, Band 11 2005, 413 Seiten, €[D] 49,00/ SFr 84,00 ISBN 978-3-7720-8134-7 Die meisten ethischen Diskussionen konzentrieren sich auf Grenzgebiete. Der Grundgedanke dieses Buches ist es dagegen, die Normalität des alltäglichen Lebens zum Gegenstand der theologischen Reflexion zu machen. Dabei kommen die Erfahrung der religiösen Pluralität, der Sinn der Arbeit und die Arbeitslosigkeit, der Umgang mit dem Geld und die Globalisierung der Wirtschaft ebenso zur Sprache wie das private Leben zu Hause, in der Familie und mit Freunden, Krankheit, Geburt und Tod, die Freizeit und die Spiritualität. Zu jedem Thema werden zentrale Texte des Neuen Testaments und klassische Texte der Theologiegeschichte, unter anderem der Reformatoren, aber auch von Augustin, Blaise Pascal, Friedrich Schleiermacher, Johann Christoph Blumhardz, Karl Barth oder des Zweiten Vatikanischen Konzils ausgelegt. A. Francke Verlag · Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen · www.francke.de 008010 ZNT 25 - Inhalt 31.03.2010 13: 41 Uhr Seite 72 ZNT 25 (13. Jg. 2010) 73 Odette Mainville vertritt mit großer Klarheit folgende Thesen: (1) Lukas hat keine neue Theologie des Geistes entwickelt. Er hat vielmehr die alttestamentliche Pneumatologie in den Dienst der Christologie in dem doppelten Sinne der Verkündigung Jesu als des Messias und der messianischen Präsenz des Auferstandenen im Zeugnis seiner Gesandten gestellt. (2) Folglich bildet nicht die Christologie, sondern die Theologie als die Geschichte des Handelns Gottes die Grundlage der lukanischen Pneumatologie. (3) Die Auswirkungen des Geistes in der Kirchengeschichte sind jedoch insofern an die Person Jesu zurückgekoppelt, als Gott den Auferstandenen als Vermittler der Geistesgabe eingesetzt hat: Der auferstandene und an der Rechten Gottes erhöhte Christus, der den Geist vom Vater bekommen hat, schüttete ihn auf den Aposteln aus (Apg 2,32-33). (4) Daraus folgt das theologische Urteil, dass kein anderer neutestamentlicher Schriftsteller die Verbindung zwischen der Geistesgabe und der Auferstehung / Erhöhung Jesu und die Ausübung der Herrschaft des Auferstandenen durch den Geist in der Geschichte des Aufbaus der Kirche wie Lukas gezeigt hat. Die für die interpretative Diskussion entscheidende, kritische und gleichzeitig weiterführende Frage bezieht sich auf die Bedeutung des »wie Lukas«. Genauer gesagt: Was kennzeichnet die lukanische Bestimmung des Verhältnisses zwischen Christologie und Pneumatologie, und was unterscheidet sie von anderen Geistesverständnissen der frühchristlichen Theologie? Der mit Apg 2,32-33 begründete doppelte Hinweis von Odette Mainville auf die Verbindung zwischen der Osterbotschaft und der Theologie des Geistes einerseits und auf die Vergegenwärtigung der Präsenz des Auferstandenen durch den Geist andererseits verlangt die fiktionale Inszenierung eines innerkanonischen Dialogs zwischen Paulus, Lukas und Johannes. 1. Der lukanische Geist und der Geist des Paulus Als ersten Beitrag zum Dialog mit den Thesen von Odette Mainville schlage ich folgende Hypothese vor: Kein neutestamentlicher Denker hat deutlicher als Paulus das triangulare Verhältnis zwischen a) der Osterbotschaft, b) der Erfahrung des Geistes und c) der gemeinsamen Erkenntnis Gottes und des Menschen reflektiert. Der Geist des Paulus... Ausgangspunkt des paulinischen Denkens ist die österliche Offenbarung des Gekreuzigten als des Sohnes Gottes (Gal 1,12.16): Der auferstandene Christus hat die Menschheit vom Fluch des Gesetzes und der Vollkommenheitsideale befreit, indem Gott den Menschen, der jede Form der möglichen Vollkommenheit am Kreuz verloren hatte, als seinen Sohn geoffenbart hat (Gal 3,13). Ostern bedeutet folglich: die Offenbarung des Gekreuzigten als des Sohnes Gottes, die Offenbarung Gottes als des Vaters des Gekreuzigten und als Person eines Gottes, der die Personen unabhängig von ihren Eigenschaften anerkennt, die Offenbarung des menschlichen Subjektes, dem durch die neue Schöpfung (Gal 6,15; 2 Kor 5,17) eine bedingungslose Anerkennung seiner Person unabhängig von seinen Eigenschaften konstituiert wird. Wenn also Paulus die Galater fragt, ob sie den Geist aus Gesetzeswerken oder aus dem Hören des Vertrauens empfangen haben (Gal 3,1-5), wird klar, dass der Geist als die Kraft Gottes zu verstehen ist, die dem »Ich« seine neue Identität und ein neues Verhältnis zu sich selbst durch die gute Nachricht einer bedingungslosen Anerkennung verleiht. Die Konsequenzen sind zum einen die Universalität des Liebesgebotes als Aufforderung zur bedingungslosen Anerkennung jeder Person unabhängig von ihren Eigenschaften (Gal 5,13-15), zum ande- Kontroverse François Vouga Lukas nach einem Dialog mit Paulus und Johannes »Der Geist [ist] als die Kraft Gottes zu verstehen [...], die dem ›Ich‹ seine neue Identität und ein neues Verhältnis zu sich selbst durch die gute Nachricht einer bedingungslosen Anerkennung verleiht.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 73 74 ZNT 25 (13. Jg. 2010) ren die Dankbarkeit für die vielfältige Frucht, die der Geist in den Glaubenden trägt (Gal 5,16-24) und endlich, weil die Anerkennung der Person unabhängig von ihren Eigenschaften die Anerkennung der Person mit ihren Eigenschaften logisch voraussetzt (Gal 3,28), die Anerkennung der Eigenschaften jedes Einzelnen als Gabe des Geistes (1Kor 12,1-31). ... und der lukanische Geist Dem paulinischen Denken und dem lukanischen Doppelwerk sind sowohl die Rückkoppelung der Geisterfahrung der Glaubenden mit der Osterbotschaft als auch die Definition des Geistes als Veränderungskraft der befreienden Gegenwart des Auferstandenen oder des Gottes, der seinen Sohn von den Toten auferweckt hat (Gal 1,1; Apg 2,32-33), gemeinsam. Anders als es Paulus denkt, konzentriert sich das Interesse des lukanischen Doppelwerks auf die neue Schöpfung des Verhältnisses des »Ich« zu sich selbst (»Nicht mehr ich lebe: Christus lebt in mir«, Gal 2,19-20), sondern, wie es Odette Mainville in ihrem schönen Buch 1 und in ihrer Stellungnahme deutlich gezeigt hat, auf die Kontinuität des Handelns desselben Gottes der Propheten, des Messias und seiner Zeugen - oder, wie es Odette Mainville interpretiert: der Kirche - in der Universalität der Menschengeschichte. Der Beitrag des Lukas und seine Kernaussage bestehen nicht nur in der bereits von Paulus vorausgesetzten Abhängigkeit des christlichen Geistverständnisses von der Osterbotschaft, sondern in der Darstellung der Bedeutung und der Relevanz des Geistes des Auferstandenen oder des Gottes, der ihn auferweckt hat, für die Entwicklung der Welt. In diesem Sinne hat Odette Mainville recht, wenn sie schreibt: »Kein anderer hat wie Lukas die kirchliche Konsequenz der Herrschaft, die Christus durch die Kraft seines Geistes ausübt, gezeigt.« 2. Der Geist im lukanischen Doppelwerk und der johanneische Geist Als zweiten Beitrag zum Dialog mit den Thesen von Odette Mainville schlage ich folgende Hypothese vor: Kein neutestamentlicher Schriftsteller hat deutlicher als Johannes die Funktion des Geistes mit der Verbindung a) der Osterbotschaft, mit b) der absoluten Singularität der historischen Person Jesu als fleischgewordenes Wort und mit c) der Gegenwart des Erhöhten in und unter den Glaubenden definiert 2 . Der johanneische Geist... Im Johannesevangelium wird die Aussage des lukanischen Petrus, nach welcher der Erhöhte den Geist von seinem Vater bekommen und ihn auf seine Jünger ausgegossen hat (Apg 2,32-33), unmittelbar in Szene gesetzt (Joh 20,19-23): Der Auferstandene erscheint vor den Jüngern, er lässt sich von ihnen erkennen, er sendet sie, wie der Vater ihn gesandt hat (Joh 20,21) und er pustet auf sie den Heiligen Geist (Joh 20,22). Damit erfüllt sich die Verheißung, die in den Abschiedsreden wiederholt wird: Der Vater, der Vater auf Bitten des Sohnes oder der Sohn selbst werden den Glaubenden einen anderen Parakleten schicken, der sie an alles, was Jesus geoffenbart hat, erinnern und sie zur ganzen Wahrheit hinführen wird (Joh 14,16-17; 14,25-26; 15,26-27; 16,7-15). In seinen klassisch gewordenen Aufsätzen, die die Rezeptions- und die Wirkungsgeschichte der johanneischen Theologie des Geistes von Joachim von Fiora bis zum deutschen Idealismus sowie den historischen Ideologien des 20. Jahrhunderts umfassen, hat Günther Bornkamm auf die Paradoxie hingewiesen, dass der johanneische Geist gleichzeitig mit der Person des fleischgewordenen und erhöhten Jesu identisch ist (in der Argumentation der ersten Abschiedsrede ist die Verheißung des Geistes deckungsgleich mit der Ankündigung der Rückkehr des Erlösers zu den Seinen, Joh 14,15-31) und dass die Zeit des Geistes eine neue Epoche der Gemeinschaft mit dem Sohn und mit dem Vater, der ihn gesandt hat, bildet. 3 ... und der Geist im lukanischen Doppelwerk Die Vorstellung, dass das johanneische Offenbarungsbuch des vierten Evangeliums die lukanische Theorie des Geistes (Apg 2,32-33) in seinen Ostererzählungen historisiert und konkretisiert, mag überraschen. Wenn man die immer plausiblere Hypothese der literarischen Abhängigkeit des Johannesevangeliums von den drei ersten Evangelien voraussetzt, 4 versteht man die Entsprechungen, die die Offenbarungstradition des Lieblingsjüngers zwischen dem heilsgeschichtlichen Programm des Lukas und ihrem eigenen hermeneutischen »Diese [historische] Kohärenz wird im lukanischen Doppelwerk nicht diskursiv und systematisch re\ektiert, sondern narrativ dargestellt.« Kontroverse 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 74 François Vouga Lukas nach einem Dialog mit Paulus und Johannes Selbstverständnis, in der Gleichzeitigkeit mit dem Erlöser zu schreiben, die der Paraklet gibt, entdecken und weiterentwickeln konnte. Die These von Odette Mainville, »kein anderer neutestamentlicher Verfasser, nicht einmal Paulus,« habe »diese Übertragung des Geistes Gottes auf Christus in seiner Auferstehung / Erhöhung so explizit ausgedrückt, wie es Lukas getan hat (Apg 2,33)«, muss insofern ergänzt werden, als die christologische Vermittlung des Geistes, die Lukas am Anfang der Apostelgeschichte entwirft, ihre konsequente, systematisch durchdachte, trinitarische Form in der johanneischen Figur des Parakleten findet. 5 Johanneische Diskontinuität und lukanische Kontinuität Die lukanische und die johanneische Perspektive unterscheiden sich allerdings dadurch, dass der Beitrag und die Kernaussage des Lukas nicht im Bekenntnis der absoluten Singularität der Offenbarung in der Menschwerdung und in der Rückkehr des vom Himmel herabgestiegenen Gottessohnes zum Vater bestehen, sondern in der Herstellung einer Kontinuität, die von Ostern her bis zu der Zeit der Propheten zurückgeht. Kein frühchristlicher Theologe hat wie Lukas versucht, die christologische Definition des Geistes, die das Ereignis der Auferstehung Jesu als Diskontinuität voraussetzt, mit einer Kontinuität der durch die Kraft des Geistes vermittelten Heilsgeschichte, die sich mit Abraham beginnend (Apg 7,2) bis zur Einsetzung der endzeitlichen Königsherrschaft Israel (Apg 1,6-11) erstreckt und erstrecken wird, miteinander zu verbinden. Die johanneische Gemeinschaft der Glaubenden mit dem Vater, die vermittels der durch den Geist ermöglichten Gleichzeitigkeit des Glaubens mit dem Sohn gegeben wird, setzt eine qualitative Diskontinuität der Offenbarung des vom Himmel her Gesandten mit dem Alten Testament voraus. Im Johannesevangelium gehört die Geschichte Israels zu dieser Welt: Sie erfüllt die Funktion eines diesseitigen Zeichens, wie Mose und das Manna als ein Verweis auf das Brot des Lebens zu verstehen sind, das von Gott von oben her gegeben wird (Joh 6,25-65), so liefert die Schrift als Ganze ein Zeugnis, das von Ostern her verstanden werden muss (Joh 12,16; 20,10). Die lukanische Kombination der nachösterlichen, christologischen Einsetzung des Heiligen Geistes in der Kirche (Apg 2,32-33) mit der stark betonten Anlehnung an die alttestamentliche Sprache und Theologie des Geistes konstruiert eine historische Kohärenz, die sich in der Theologiegeschichte durchgesetzt hat. Diese Kohärenz wird im lukanischen Doppelwerk nicht diskursiv und systematisch reflektiert, sondern narrativ dargestellt. Odette Mainville ist recht zu geben: Die Erzählung der Taten des Heiligen Geistes im Evangelium und in der Apostelgeschichte bestätigen sie, indem sie ihr ihre Plausibilität verleihen. Odette Mainville möchte ich also folgende, leicht ergänzte Formulierung vorschlagen: »Kein anderer neutestamentlicher Schriftsteller hat die Kontinuität zwischen der Geistesgabe und der Auferstehung / Erhöhung Jesu, seiner Vorbereitung im Alten Testament, unter anderem in der alttestamentlichen Prophetie, und der Ausübung der Herrschaft des Auferstandenen durch den Geist in der Geschichte des Aufbaus der Kirche so deutlich wie Lukas gezeigt«. Prof. Dr. theol. Dr. theol. h.c. François Vouga, Jahrgang 1948, ist Professor an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal / Bethel. 1973-1974 Assistent von Christophe Senft in Lausanne; 1975-1982 Gemeindepastor in Avully und Chancy (Genf ); 1982-1985 Maître assistant in Montpellier; 1985 èse de doctorat und venia legendi im Fach Neues Testament in Genf; 1984-1985 Gastprofessor in Neuchâtel; 1985- 1986 Professor in Montpellier, 1986-2009 an der Kirchlichen Hochschule Bethel, seit 2008 in Wuppertal. Seit 1988 regelmäßige Gastprofessuren an der Facoltà Valdese di Teologia in Rom; 1998 Ehrendoktor der Universität Neuchâtel; 1999 und 2001 Gastprofessur, 2008-2010 Honorarprofessur an der Faculté de théologie et de sciences religieuses de Université Laval, Québec. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der frühchristlichen Literatur, Einheit und Vielfalt der neutestamentlichen eologie, Paulus und die paulinische eologie, die Petrusbriefe, eologie und Ästhetik (Kunst und Musik), eologie und Naturwissenschaften. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt: Politique du Nouveau Testament, Genf 2008, und Pâques ou rien. La Résurrection au coeur du Nouveau Testament, Genf 2010. Für weitere Informationen siehe: www.kiho.thzw.de François Vouga ZNT 25 (13. Jg. 2010) 75 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 75 Kontroverse 76 ZNT 25 (13. Jg. 2010) 3. Die christologische Singularität als Grundlage der Kontinuität des lukanischen Geistes Als dritten Beitrag zum Dialog mit den Thesen von Odette Mainville und gleichzeitig als Antwort auf die Ausgangsfrage, ob die Christologie die Grundlage der lukanischen Theologie des Geistes bildet, schlage ich folgende Hypothese vor: Kein neutestamentlicher Schriftsteller hat mit einer so großen Selbstverständlichkeit die alttestamentliche Pneumatologie übernommen, um sie von seinem Verständnis der Verkündigung Jesu als des Messias und von der messianischen Präsenz des Auferstandenen und Erhöhten her konsequent darzustellen. Im lukanischen Doppelwerk bildet zwar nicht die Christologie, sondern die Theologie die explizite Grundlage der Pneumatologie. Seine Darstellung der Heilsgeschichte Gottes, der durch seinen Geist handelt, kann aber nur dadurch ihre entscheidenden Knotenpunkte in Lk 1,35 und in Apg 2,32-33 finden, weil sowohl die Theologie als auch die Pneumatologie durch die Christologie bestimmt sind. Das Bekenntnis Jesu als des Messias und des Auferstandenen bildet also die implizite, für Lukas selbstverständliche und außerhalb der Eisbergsspitze der Ankündigung des Engels und der Pfingstrede des Petrus nicht diskursiv thematisierte Grundlage der lukanischen Theologie des Geistes. Die Erzählung als Gründung einer christologischen Struktur der Wirklichkeit Die exegetische Beweisführung von Odette Mainville zeigt sorgfältig, dass Lukas keine neue Theologie des Geistes entwickelt hat, sondern dass er nur die alttestamentliche Pneumatologie in den Dienst der Christologie gestellt hat. Präzise darin besteht jedoch das radikale Novum seiner Darstellung. Von der Logik der Kommunikation her betrachtet ist diese scheinbare Paradoxie gut zu verstehen, denn auch und gerade durch die Fiktion baut die Erzählung - hier: christologische - Sinnzusammenhänge pragmatisch auf, die sich dann als Selbstverständlichkeiten vorstellen und einprägen, obwohl sie keineswegs evident sind. - Paulus und der johanneische Jesus argumentieren diskursiv. Klare Schlussfolgerungen führen die Leser von anerkannten Annahmen zu neuen Thesen, so dass sich Aussagen über den Geist aus christologischen Voraussetzungen ableiten lassen. - Lukas argumentiert pragmatisch durch die selbstverständliche Darstellung der Wirklichkeit, die durch die Erzählung konstituiert und plausibilisiert - Odette Mainville sagt: bestätigt - wird. In Anschluss an die Rhetorik von Aristoteles unterscheidet Chaim Perelman zwei Klassen von Argumenten: 6 - Die diskursiven Argumente, die auf der Struktur der Wirklichkeit basieren, die den Formgesetzen der formalen Logik folgen und auf der Grundlage von Prämissen, denen die Adressaten zustimmen können, logische Verbindungen herstellen. - Die Argumente, die durch die Einsetzung von Bildern und Erzählungen die Basis für eine neue Wahrnehmung der Wirklichkeit bereiten. Indem Lukas keine neue Theologie des Geistes entwickelt, sondern die Geistesvorstellungen der LXX aufnimmt, um sie in den Dienst der Christologie zu stellen, setzt die lukanische Erzählung ein von der LXX her weder ableitbares noch vorstellbares Verständnis des Geistes durch, das von der Geburt Jesu, von seiner Auferstehung und von der apostolischen Geisterfahrung an Pfingsten her die Geschichte der pneumatischen Tätigkeit der alttestamentlichen Propheten - und das Alte Testament selbst, Lk 24,25-27.44-47 - als Christuszeugnis interpretiert. In dieser Hinsicht stellt sich das lukanische Doppelwerk als die systematische Darstellung einer auf der Grundlage der Christologie neu zusammengefassten Heilsgeschichte Gottes und seines Geistes vor. Die Kraft der durch die Erzählung entstandenen Selbstverständlichkeit Odette Mainville schätzt vorsichtige Formulierungen: Nicht die lukanische Christologie bilde die Grundlage seiner Pneumatologie, sondern die pneumatische Kraft befinde sich umgekehrt im Dienste der Christologie. Die beiden Sätze sollten nicht als eine exklusive Alternative gelesen werden, weil sie sich auf zwei verschiedenen Ebenen gegenseitig bedingen: Die Deutung des prophetischen Geistes des Alten Testaments und der nachösterlichen Geisterfahrungen als Christuszeugnis setzt einerseits eine christologische Grundlegung der Pneumatologie voraus. Aber das Zeugnis des Geistes erfüllt deswegen seine pragmatische Funktion, weil es die Kraft Gottes ist, die die messianische Singularität der Geschichte des Kommens und der Auferstehung Jesu verkündigt. Auf einer christologischen Grundlage wird diese Geschichte durch die Propheten, die vom Geist Gottes erfüllt sind, als das heilsbringende Ereignis autorisiert. Auffällig ist in dieser Hinsicht die Konzentration des Heiligen Geistes auf die Figur Simeons; diese Figur 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 76 François Vouga Lukas nach einem Dialog mit Paulus und Johannes ZNT 25 (13. Jg. 2010) 77 wird somit zu einem Protagonisten, der die Bedeutung der Person Jesu programmatisch vorausdeutet (Lk 2,25-35): (1) Die Gegenwart des Geistes in Simeon zeigt sich zunächst daran, dass dieser gerechte und gottesfürchtige Mensch auf den Trost Israels wartete: »Und siehe, es gab einen Menschen in Jerusalem mit dem Namen Simeon, und dieser Mensch war gerecht und gottesfürchtig, wartend auf den Trost Israels, und der Geist war auf ihm« (Lk 2,25): Damit wird der Erwartungshorizont des Lesers auf die Verheißung des Heils gelenkt. (2) Diese Erwartung nimmt dann dadurch eine präzise Form an, dass sich die Erscheinung dieses Heils in der Verheißung der Begegnung mit einer Person, welcher der Messias des Herrn sein wird, konkretisiert: »Und es war ihm verheißen worden vom Heiligen Geist, er werde den Tod nicht sehen, bevor er gesehen habe den Messias des Herrn« (Lk 2,26). (3) Zuständig ist aber der Geist nicht nur für die Verheißung, sondern auch für die Erfüllung, die den Trost Israels und die Figur des Messias mit dem Kind Jesu identifiziert: »Und er kam im Geiste in den Tempel. Und während die Eltern das Kind Jesus in den Tempel herein trugen (...), nahm er es auf seine Arme und pries Gott und erklärte (...)« (Lk 2,27-28). (4) Mit diesen letzten Worten werden nicht nur das Kommen des Simeon in den Tempel und seine Danksagung, sondern auch seine beiden prophetischen Sprüche unter die Autorität des Geistes gestellt. Der erste Spruch verkündigt die Universalität des Heils - Offenbarung für die Heiden und Herrlichkeit für Israel: »Jetzt entlässt du deinen Knecht, Herr, nach deinem Wort, in Frieden, denn meine Augen haben geschaut dein Heil, das du bereitet hast im Angesicht aller Völker, Licht zur Offenbarung für die Heiden und Herrlichkeit deines Volkes Israel! « (Lk 2,29-32) Der zweite Spruch begründet die Universalität des Heils auf seine Individualisierung: Das Kommen Jesu fordert eine Entscheidung heraus, in der die Gedanken jedes einzelnen Herzens geoffenbart werden: »Siehe, dieser ist gesetzt zum Fall und zum Auferstehen vieler in Israel - und zum Widerspruchszeichen, und auch deine Seele wird ein Schwert durchdringen, damit offenbar werden aus vielen Herzen die Gedanken« (Lk 2,34-35). Das Wort des Propheten ist wahr, weil er es in der Autorität des Geistes spricht, und der Geist inspiriert ihm genau dieses Wort, weil die Tätigkeit des Geistes christologisch definiert ist. Diese Definition erhält dadurch ihre pragmatische Kraft, weil sie nicht explizit formuliert wird, 7 sondern sich aus der Kohärenz der Geschichtsschreibung entwickelt. Noch einmal: Lukas bestätigt sie - wie es Odette Mainville schreibt, und aufgrund ihrer Thesen füge ich hinzu: als durch die Erzählung erzeugte Selbstverständlichkeit - sowohl in seinem Evangelium als auch in der Apostelgeschichte. These Die Christologie ist insofern die Grundlage der lukanischen Pneumatologie, als Lukas keine eigene Pneumatologie entwickelt hat, sondern von einem christologischen Bekenntnis her die alttestamentliche Theologie des heilsbringenden Geistes Gottes und die Geisterfahrung der Kirche als die Autorität darstellt, die die Messianität des Sohnes von Maria und die messianische Herrschaft des Auferstandenen bezeugt. Anmerkungen 1 O. Mainville, L’Esprit dans l’œuvre de Luc (Héritage et projet 45), Montréal 1991. 2 Vgl. K. Dronsch, Der Raum des Geistes. Die topographische Struktur der Rede vom Geist im Johannesevangelium, in diesem Heft. 3 G. Bornkamm, Der Paraklet im Johannesevangelium und Die Zeit des Geistes. Ein johanneisches Wort und seine Geschichte, in: ders., Geschichte und Glaube I, Gesammelte Aufsätze III, München 1968, 68-89 und 90-103. 4 F. Vouga, Le quatrième évangile comme interprète de la tradition synoptique: Jean 6, in: A. Denaux (Hg.), John and the Synoptics (BEThL 101), Leuven 1992, 261-279; H. Thyen, Das Johannesevangelium (HNT 6), Tübingen 2005. 5 Exegetische und systematische Argumentation, in: P.-A. Stucki und F. Vouga, La trinité au musée? , EThR 61 (1986), 195-212. 6 Ch. Perelman und L. Olbrechts-Tyteca, Die neue Rhetorik, 2 Bände (Problemata 149), Stuttgart 24. 7 Ch. Perelman nennt es »das Argument durch die Definition«. »Das Wort des Propheten ist wahr, weil er es unter der Autorität des Geistes spricht, und der Geist inspiriert ihm genau dieses Wort, weil die Tätigkeit des Geistes christologisch de[niert ist.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 77 I. Nicht nur den prägnant übertriebenen Satz, die europäische Philosophie bestehe aus nichts als Fußnoten zu Platon, hat der englisch-amerikanische Mathematiker und Philosoph A. N. Whitehead der neueren Geistesgeschichte ins Stammbuch geschrieben, sondern auch die nicht weniger subtile religionsphilosophische Beobachtung: In dem neutestamentlichen Satz »Bleibe bei uns; denn es will Abend werden« sei unwiderruflich die augenblickshafte »Intensität« von fließendem Vergehen und unvergänglicher »Beständigkeit« zum Ausdruck gebracht, kurz: das »ganze Problem der Metaphysik« ebenso wie der Trost des Evangeliums: »Zeit […] wird zum ›bewegten Bild der Ewigkeit‹.« 1 Die Emmaus-Perikope (Lk 24,13-35) ist beispielhaft für die Präsenz des Auferstandenen - der sich entzieht im Augenblick des Erkennens (V. 31: »Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten ihn; dann sahen sie ihn nicht mehr.« 2 ); und so wird die erzählte Hermann Deuser Geistesgegenwart Pneumatologie und kategoriale Semiotik 78 ZNT 25 (13. Jg. 2010) Hermeneutik und Vermittlung Erscheinung des Auferstandenen auf dem Weg nach Emmaus - [Lutherbibel 1912] 13 Und siehe, zwei aus ihnen gingen an demselben Tage in einen Flecken, der war von Jerusalem sechzig Feld Wegs weit; des Name heißt Emmaus. 14 Und sie redeten miteinander von allen diesen Geschichten. 15 Und es geschah, da sie so redeten und befragten sich miteinander, nahte sich Jesus zu ihnen und wandelte mit ihnen. 16 Aber ihre Augen wurden gehalten, daß sie ihn nicht kannten. 17 Er sprach aber zu ihnen: Was sind das für Reden, die ihr zwischen euch handelt unterwegs, und seid traurig? 18 Da antwortete einer mit Namen Kleophas und sprach zu ihm: Bist du allein unter den Fremdlingen zu Jerusalem, der nicht wisse, was in diesen Tagen darin geschehen ist? 19 Und er sprach zu ihnen: Welches? Sie aber sprachen zu ihm: Das von Jesus von Nazareth, welcher war ein Prophet mächtig von Taten und Worten vor Gott und allem Volk; 20 wie ihn unsre Hohenpriester und Obersten überantwortet haben zur Verdammnis des Todes und gekreuzigt. 21 Wir aber hofften, er sollte Israel erlösen. Und über das alles ist heute der dritte Tag, daß solches geschehen ist. 22 Auch haben uns erschreckt etliche Weiber der Unsern; die sind früh bei dem Grabe gewesen, 23 haben seinen Leib nicht gefunden, kommen und sagen, sie haben ein Gesicht der Engel gesehen, welche sagen, er lebe. 24 Und etliche unter uns gingen hin zum Grabe und fanden’s also, wie die Weiber sagten; aber ihn sahen sie nicht. 25 U ND ER SPRACH ZU IHNEN : O IHR T OREN UND TRÄGES H ERZENS , ZU GLAUBEN ALLE DEM , WAS DIE P ROPHETEN GERE - DET HABEN ! 26 M USSTE NICHT C HRISTUS SOLCHES LEIDEN UND ZU SEINER H ERRLICHKEIT EINGEHEN ? 27 U ND FING AN VON M OSE UND ALLEN P ROPHETEN UND LEGTE IHNEN ALLE S CHRIFTEN AUS , DIE VON IHM GESAGT WAREN . 28 Und sie kamen nahe zum Flecken, da sie hineingingen; und er stellte sich, als wollte er weiter gehen. 29 Und sie nötigten ihn und sprachen: Bleibe bei uns; denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt. Und er ging hinein, bei ihnen zu bleiben. 30 U ND ES GESCHAH , DA ER MIT IHNEN ZU T ISCHE SASS , NAHM ER DAS B ROT , DANKTE , BRACH ’ S UND GAB ’ S IHNEN . 31 Da wurden ihre Augen geöffnet, und sie erkannten ihn. Und er verschwand vor ihnen. 32 Und sie sprachen untereinander: Brannte nicht unser Herz in uns, da er mit uns redete auf dem Wege, als er uns die Schrift öffnete? 33 Und sie standen auf zu derselben Stunde, kehrten wieder gen Jerusalem und fanden die Elf versammelt und die bei ihnen waren, 34 welche sprachen: Der HERR ist wahrhaftig auferstanden und Simon erschienen. 35 Und sie erzählten ihnen, was auf dem Wege geschehen war und wie er von ihnen erkannt wäre an dem, da er das Brot brach. Szene zum Bild der Geistesgegenwart des Auferstandenen, ganz ohne dass das Evangelium selbst die theologische Theorie des Hl. Geistes explizit machen müsste: Auf dem Weg nach und zuletzt im Dorf Emmaus geschieht damals, in der Erzählung und für unsere Interpretation jedenfalls Dreierlei: • Die einschneidend-dringliche Frage nach der lebendigen Bedeutung des Schreckens der Kreuzigung wird als Verstehensversuch angesichts des Grabes erzählt, wo Tod und Leben ebenso zusammenzutreffen wie sie sich wiederum zu trennen scheinen (VV. 19-24.29). »Die Emmaus-Perikope (Lk 24,13-35) ist beispielhaft für die Präsenz des Auferstandenen - der sich entzieht im Augenblick des Erkennens.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 78 ZNT 25 (13. Jg. 2010) 79 Hermann Deuser Geistesgegenwart • Die messianische Tradition der Propheten und Mose, also die »gesamte Schrift«, sind ebenso der gegebene empirische Anlass für Auslegungen des Geschehenen wie die - zunächst unerkannte - Wiederholung eines gemeinsamen Essens: Zeichenhandlungen und symbolisch vermittelte Interpretationen sind unabdingbar für neues Verstehen (VV. 25-27.30). • Was die Bedeutungsfrage schließlich beantwortet und die Auslegung von Schrift und gegenwärtigem, gemeinsamem Brotbrechen erfüllt, ist eben die Präsenz des Auferstandenen als Erschließungsgeschehen, das die empirische Gegenwart überholt, aber als vergangene voraussetzt (VV. 31f.) - und genau dafür, für diese neue, kreative Zusammenhangsbildung muss von der bisher nicht derart manifesten Realität des Hl. Geistes gesprochen werden, wie es am Ende des LkEv angekündigt wird (Lk 24,49; vgl. Apg 1,4) und dann explizit im JohEv der Fall ist (Joh 14,26: »Der Beistand aber, der Heilige Geist […], der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.«). II. Die begriffliche Verbindung Kategoriale Semiotik bezeichnet eine tendenziell einheitliche erkenntnistheoretische (d.h. semiotische) und kategoriale (d.h. ontologische) wissenschaftliche Einstellung, die die gerade am Beispiel schon vorgestellte Dreigliedrigkeit zum ebenso logisch wie phänomenologisch plausiblen und unüberspringbaren Verstehensmodell einer prozesshaften Realität erklärt. Der Begriff Kategorie wird dabei - bewusst nach und anders als bei Aristoteles und Kant - in einer zugleich phänomennahen und strukturell formalisierbaren Dreigliedrigkeit aufgefasst: 3 An erster Stelle (Erstheit) steht die immer wahrnehmungsintensive, passive Vorstellungspräsenz einer unableitbar vorausgehenden Qualität; an zweiter Stelle (Zweitheit) die unterscheidbare Bestimmtheit eines Gegenstandsbezugs empirischen Zuschnitts; an dritter Stelle (Drittheit) ein interpretatives Verhalten, das die beiden vorausgehenden Kategorien braucht, enthält und doch auf eigenständige Weise zum lebendigen Ausdruck bringt. Diese kategoriale Strukturbildung korrespondiert nun mit der triadischen Grundlegung der Peirceschen Semiotik, wonach ein Zeichen als qualitativ Erstes in einem Zeichenereignis (sei es in empirischer oder in textvermittelter oder in bloß idealer Wahrnehmung) einen Objektbezug impliziert (ein bestimmbar Zweites), und diese beiden Vorgaben kommen wiederum zum Austrag in der Wirksamkeit eines Interpretanten, d.h. einer geistigen Aktivität, Konsequenz- oder Verhaltensbildung an dritter Stelle. Die hier zum analytischen Zweck idealisierte Grundstruktur kategorialer Semiotik tritt in Wirklichkeit immer nur in äußerst komplexen Verflechtungen, Reihen, Stufungen etc. auf, jene aber kann in diesen erkennbar gemacht und zur Auslegung der erfahrbaren Realität genutzt werden, ohne vorweg metaphysische Prämissen (z.B. substanzontologische wie im christlichen Mittelalter, materialistische oder idealistische wie in der europäischen Neuzeit) unterstellen zu müssen. Angewandt auf die exponierte Drei- Prof. Dr. Dr. h.c. Hermann Deuser, 1946 in Wetzlar geboren, Studium der Ev. eologie, Germanistik und Philosophie in Frankfurt am Main, Marburg und Tübingen; Promotion zum Dr. theol. (1973) und Habilitation (1978) für Systematische eologie an der Universität Tübingen; Professor für Ev. eologie an der Bergischen Universität Wuppertal (1981-1993), Forschungssemester an der Boston University, School of eology (1990/ 91); Universitätsprofessor für Systematische eologie an der Universität Gießen (1993-1997), seit 1997 für Systematische eologie und Religionsphilosophie an der Universität Frankfurt am Main; 2006/ 07 und seit 2008 Fellow am Max-Weber-Kolleg der Universität Erfurt. Mitherausgeber der Kierkegaard Studies: Yearbook und Monograph Series (DeGruyter: 1996ff.) und der Deutschen Sören Kierkegaard Edition (DeGruyter: 2005ff.); Herausgeber von Ch.S. Peirce: Religionsphilosophische Schriften (F. Meiner: 1995/ 2000); Monographien: Kleine Einführung in die Systematische eologie (Reclam: 1999/ 2005) - Die Zehn Gebote (Reclam: 2002/ 2005) - Gottesinstinkt. Semiotische Religionstheorie und Pragmatismus (Mohr Siebeck: 2004) - Religionsphilosophie (De- Gruyter Lehrbuch: 2009). Hermann Deuser 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 79 Hermeneutik und Vermittlung 80 ZNT 25 (13. Jg. 2010) gliedrigkeit der Emmaus-Perikope ergibt sich dann die folgende Zuordnung: III. Damals - was vorweg geschehen ist, provoziert die ursprüngliche Emmaus-Szene, ist Anlass der Erzählung und verlangt ein jeweils neues Verstehen. Ob es im historischen Sinn diesen Weg der Jünger nach Emmaus faktisch gegeben hat, spielt dabei keine Rolle, denn es geht eben um den problematischen Erzählanlass als grundlegendes Datum: Was sich ereignet hat und in seiner Qualität offenbar noch nicht angemessen wahrgenommen wird (VV. 19-24). Wer Jesus unter diesen gegebenen Bedingungen denn war, das ist die Schlüsselfrage, und ihre noch unbegriffene Lösung steckt in dem »Bleib doch bei uns« (V. 29). Zu diesen fundamentalen Fragen und Antworten passt sehr gut die (historisch-literarische) Einschätzung Bultmanns, »ihrem Gehalt nach« sei die »Emmaus-Geschichte« die »älteste der synoptischen Auferstehungsgeschichten«. 4 Es geht also um eine Ursprünglichkeit der bedeutenden Sache nach, die ihrem neuen Verstehen zugrunde liegt. Das Damals des Erzählanlasses hat zwar auch einen chronologischen, wesentlich aber einen kategorialen Sinn: Alles Fragende und Folgende ist aus der Vorgabe ermöglicht (VV. 19-24), die sich in der kreativen Situation des »Bleib doch bei uns« (V. 29) zugleich bündelt und öffnet. Die bislang nur gespürte und deshalb fragliche Qualität des Zusammen von Kreuzigung und Messianität (V. 20f.), von Tod und Leben (V. 23), von Gegenwärtigkeit und distanzierendem Zeitverlauf 5 wird zum neuen Erfahrungsausgang im eindringlich gesuchten Bleiben des Vorübergehenden. Hierauf gibt Damals Erzählung Interpretation Erstheit Kreativer Grund: Implizite Gefühlte (Zeichenqualität) Objekt- Relationalität: relationen: Ermöglichung Bestimmtheit Existentielle Situation Zweitheit [Ermöglichung] Schrift / Zusammen- (Objektbezug) Brotbrechen setzung von Vergangenheit und Gegenwart Drittheit [Ermöglichung] [Schrift / Identifikation (Interpretant) Brotbrechen] von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft es kein Anrecht, keine schon wissende Herleitung, keine maßstäbliche Begründung - sondern diese Situation ist neu, in ihr steckt das kreativ Neue, das entgegenkommt wie der scheinbar fremde Wanderer. Sich derart auf voraussetzungslos Neues zu verlassen und es erzählend umzusetzen ist die Domäne der Religiosität, kulturgeschichtlich gesehen: der Religionen. Die Abkünftigkeit und Unbedingtheit 6 solcher Ereignisqualitäten stecken zwar in allen Erfahrungszusammenhängen, können in ihnen auch stillschweigend eingeklammert werden (wie es z.B. die Methoden neuzeitlicher Naturwissenschaften praktizieren), jene Unbedingtheit aber als solche sichtbar, beziehbar und - in indirekten Verfahren z.B. des Erzählens - bearbeitbar zu machen, das ist Sache des religiösen Verhältnisses in seiner Eigenständigkeit. Was in den mythischen Traditionen und bis in die moderne Kosmologie Schöpfung genannt zu werden verdient, zeigt sich in der Zeichenqualität eines Ersten, Neuen, Ermöglichenden - soweit diese Qualität überhaupt als solche und für sich genommen beschreibbar werden kann. Das Phänomen der schöpferischen Ermöglichung ist so allgemein wie die Schöpfungserzählungen der Religionen, so strukturell einsichtig wie ein Erstes in der Terminologie kategorialer Semiotik - und so konkret wie der christliche Glaube an Gott den Schöpfer und Vater aller Dinge. Diese trinitarische Akzentuierung ist entscheidend für die Pneumatologie, denn sie zeigt an, dass Geist nur als Verhältnisbegriff zu konzipieren ist. Die Relationalität von Vater, Sohn und Geist gibt bildhaft wieder, wie diese Gegenseitigkeit immer nur als ganze Ereignis werden kann und wie sie doch als interne Struktur durchaus auch der begrifflichen Erläuterung (wie es die klassischen Trinitätslehren immer versucht haben) zugänglich ist. Fürs Erste heißt das: In der Person des Vaters wird die ursprüngliche Ermöglichung abgebildet, die schöpferisch Kosmos und Menschsein immer vorausgeht; und in umgekehrter Perspektive: Alle Relationen im Werdensprozess der Welt wie im Wahrnehmen, Denken und Handeln der Menschen setzten die ursprüngliche Kreativität voraus, beziehen sich auf sie und bleiben von ihr geprägt. Zu sagen, der Hl. Geist sei schöpferisch, hat eben diese trinitarische 7 Begründung. Das Damals als qualitativ Erstes im Ereignis aufzufassen, konzentriert den Blick auf die schöpferische Ermöglichung - des ganzen Kosmos im Anfang wie jedes Ereignisses in seiner konstitutiven Eigenqualität. Dieser Erstaspekt geht in allen folgen- »Die Relationalität von Vater, Sohn und Geist gibt bildhaft wieder, wie diese Gegenseitigkeit immer nur als ganze Ereignis werden kann.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 80 Hermann Deuser Geistesgegenwart den Bestimmungen und Bezugnahmen nicht verloren, auch wenn er nicht mehr eigens thematisiert wird. Die ermöglichende Qualität in einem Ereignis liegt eben, weil unableitbar kreativ, vor allen Bestimmungen und Bezugnahmen. So ist Schöpfung das erste Charakteristikum des göttlichen Geistes; personal und trinitarisch gesagt: des Vaters. Sein Wirken zeigt sich in den schöpferischen Qualitäten der Zeichenereignisse, die unser ganzes Leben bestimmen. IV. Die Erzählung ist - im Blick auf Sprache und Texte - hier stellvertretend für die zweite Kategorie und den (semiotischen) Objektbezug zu nennen. Sie wird immer dann verlangt und notwendig, wenn das Neue an einem Ereignis in genuiner Weise menschlichem Verstehen lebensorientierend vermittelt werden soll. Dabei spielt die religiöse Aufmerksamkeit auf die schöpferische Ermöglichung eine besondere und (kulturgeschichtlich gesehen zusammen mit Kunst und Philosophie) einzigartige Rolle, weil sie die Unbedingtheit und kreative Unbestimmtheit des qualitativ Neuen respektiert - und trotzdem zur Darstellung zu bringen versucht. Die Vermittlung des Unmittelbaren wird so zur Grundfigur, zum religiösen Paradox, wie es S. Kierkegaard allen anderen Methoden des Bestimmtheitsgewinns in dieser Sache entgegengehalten hat. Anstelle objektiver, d.h. durch Einschränkungen abgesicherter Zugänglichkeit stehen dann indirekte Vermittlungszugänge: Bilder, Geschichten und Symbole, kurz: die Humanität des Erzählens, die die Wirklichkeit des Selbstseins erschließen lässt. 8 Im Wie des Erzählens aber wird immer ein Was erzählend gegenständlich: Ein Zweites steht in Relation zum Ersten, und so wird vermittlungsfähige Bestimmtheit erreicht. In der Emmaus-Erzählung entsteht dieser zweite Schritt des Verstehens an bewusst ausgezeichneten Objekten: Einerseits in der Textauslegung »von Mose und allen Propheten« auf Christus hin (VV. 25-27), und andererseits in der Präsenz eben dieser Auslegung im lebendigen Zeichenhandeln des Brotbrechens (V. 30). Die Nähe des Objektbezugs im Zeichenereignis selbst hat Peirce als unmittelbares Objekt von der externen Eigenständigkeit des dynamischen Objekts unterschieden 9 ; und setzen wir mit der Intention der Emmaus-Erzählung voraus, dass der Messias der Schriften mit dem Christus des Brotbrechens identisch ist, so lässt sich sagen: Das dynamische Objekt der Texttraditionen, d.h. die Bedeutung von Messianität als Verheißung der Schriften (V. 27: »was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht«), wird auslegend Ereignis im unmittelbaren Objekt der Präsenz (V. 30 in Luthers Übers.: »Und es geschah […]«) des brotbrechenden Christus. Auf diese Weise geschieht die zunehmende Bestimmtheit des Objektbezugs im Erzählen, die kreative Ermöglichung des Damals gewinnt Gestalt im Jetzt der Szene wie im Augenblick der Erzählung. Diese - für die narrative Vermittlungssituation typische und konstitutive - Doppeldeutigkeit wiederholt die Differenz im Objektbegriff: Die gegenständliche Vergegenwärtigung hat einen Außen- und Innenbezug, und diese beiden messen sich aneinander. Außen ist das fremde Gegenüber, hier: der Schriften, die verstanden werden wollen und dazu bestimmte Anforderungen stellen - und das historische Damals ist ein Aspekt dieser Fremdheit. Innen ist die Aneignung des Damals als jetzt geschehende Bestimmtheit der Schriftauslegung in der Gegenwart ihrer neu erschlossenen Bedeutung. Der Erzählung gelingt die Übertragung von außen nach innen, und sie bestimmt damit das bisherige Außen neu. Dies alles so zu analysieren vollzieht sich aber längst auf speziellen Ebenen der Theoriebildung und ist in seiner kontrollierenden Bewusstheit Sache der Interpretation. Auf der Ebene des Erzählens selbst allerdings geschehen die Übertragungen authentisch, d.h. die Bestimmtheit des Erzählten gelingt wie von selbst, und die Objektrelationen bleiben implizit. So wirkt der kreative Grund in der Erzählung. Wird diese erste Hinsicht aber ausgeblendet und der Bestimmtheitsgewinn in den Vordergrund gerückt, so sind die Gegenstände für sich auch abgrenzbar, hier: Schrift und Brotbrechen. Aber nicht nur das, denn über die literarische Analyse hinaus geht es ja auch hier um die lebendige, d.h. die vertrauende (V. 25: »alles zu glauben«) und damit lebensorientierende Bedeutung der Schrift, die sich im Brotbrechen personal vergegenwärtigt. Was dies über den exemplarischen Menschen - und damit über alle Menschen - sagt (V. 26: »musste nicht der Messias all das erleiden«), ist der entscheidende Punkt. Der wissenschaftlichen Terminologie gemäß ist deshalb von Christologie und Anthropologie zu sprechen, und zwar so, das weder die vorausliegende kosmologische Ermöglichung vergessen wird noch die damit gegebene ZNT 25 (13. Jg. 2010) 81 »Im Wie des Erzählens aber wird immer ein Was erzählend gegenständlich.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 81 Hermeneutik und Vermittlung 82 ZNT 25 (13. Jg. 2010) trinitarische Lokalisierung an der zweiten Stelle: der geschaffenen Welt bzw. des Sohnes in ihrem Verhältnis zum Vater. Dass Sünde, Leiden und Tod zu diesem Leben gehören und dass Versöhnung, Trost und neues Leben ihre Negationen umfassen, kann nicht einfach so gewusst werden, sondern muss in der allem zugrundeliegenden Unbedingtheit entdeckt und auch hier indirekt erschlossen werden: Der Christus als Sohn des Vaters bringt die personale Bestimmtheitsrelation der Schöpfung, das Gegenüber zum Schöpfer so zum Ausdruck, dass die Kontingenz der Welt nicht in neutralisierter Distanz, sondern im sympathetischen Verhältnis erscheint. So wie das Geschaffene im Prozess seiner Realisierungen vergänglich, endlich, begrenzt sein muss, so gehören zu dieser Welt Freiheits- und Möglichkeitsspielräume, Alternativen und die Unvergesslichkeit des Ursprungs in unbedingter Kreativität. Diese widerstreitenden Dimensionen also stehen in genau dieser Spannung zusammen, und es ist dieser Zusammenhang, der nicht einfach zu sehen oder zu messen ist, sondern sich - im religiösen Glauben - erschließen lässt. Christologisch gesprochen liegt die Erschließungserfahrung gerade darin, dass die unbedingte Liebe zwischen Vater und Sohn die prozesshafte Welt, ihre Endlichkeit und ihr Leiden, mitnimmt, mit betrifft - sich ihr ausliefert, wie in der Perspektive der Passionserzählungen gesagt werden muss. Das sind die Erfahrungen, die von den »Propheten« (VV. 25.27) zu lernen sind. Konkret wird dieses Lernen aber erst, wenn anthropologisch gesehen die conditio humana in Sünde, Leiden und Tod trinitarisch, d.h. im Sohn des Vaters wiedererkannt werden kann. Die trinitarische Verhältnisbildung zeigt dann ihre ontologische Fundierung, denn es ist das menschliche Dasein, das seine Verfassung unwiderruflich aufgedeckt sieht. Das Brotbrechen (V. 30) in der Erinnerung an die Passion hat seine Kraft deshalb nicht in einem historischen Verhältnis, sondern in der teilnehmenden Gemeinschaft, in der der innere Zusammenhang von Christusleiden und conditio humana angeeignet wird. Für die Pneumatologie ist entscheidend, dass diese Aneignung sich eben auf diese (anthropologisch-christologische) Bestimmtheit bezieht. Was der Hl. Geist wirkt, stammt aus dem Verhältnis Vater - Sohn - Aneignung. Der Geist macht die Bestimmtheit von Schrift und Brotbrechen ausdrücklich, kann an ihnen gemessen werden; »Jesus als der Christus« ist, mit P. Tillichs Worten, »das Mittelglied in der Kette der geschichtlichen Manifestationen des Geistes« 10 . Das schließt die Beweglichkeit der Auslegungs- und Verstehensgeschichte im Blick auf das dynamische Objekt Schrift ebenso ein wie die situationsintensive Aneignung im Sinne des unmittelbaren Objektes des messianischen, versöhnenden Brotbrechens - nämlich in der Gemeinschaft des Geistes: »Der Christus ist Geist und nicht Gesetz.« 11 Allerdings muss auch hier - auf der zweiten Stufe: Erzählung - die Bewusstheit der akuten Aneignung von Schrift und ihrem Verstehen im Brotbrechen noch ausgegrenzt, d.h. dem nächsten Schritt vorbehalten bleiben. Das sich aufbauende und in der Erzählung dramatisch motivierte Verstehen hat Implikationen, die es selbst noch nicht weiß. Ganz analog hat ja das Nizänische Bekenntnis aus dem Jahr 325, das nur einen lapidaren Satz über den Hl. Geist enthielt, erst im 381 folgenden Bekenntnis von Konstantinopel die bewussten Ausführungen seines 3. Abschnitts hinzugewonnen. 12 Denn inzwischen hatten die Erfahrungen des geistlichen Lebens in christlichen Gemeinschaften, biblische Studien und begrifflich-theologische Arbeiten dazu geführt, den trinitarischen Grundgedanken des Nizänums konsequent und explizit auch auf den Hl. Geist auszudehnen. Es waren besonders die Kappadozier (vor allem Basilius der Große [330-379]), unter deren Einfluss die gleichwesentliche Stellung von Vater, Sohn und Geist gedacht und schließlich durchgesetzt werden konnte. Dass dieser Schritt zur vollständigen Trinität erst so spät hatte erfolgen können, hat Gregor von Nazianz (329/ 30-390) so begründet: Als die »Gottheit des Vaters« noch nicht voll anerkannt war, »wäre es nicht klug gewesen«, schon von der Gottheit des Sohnes zu sprechen; und solange letztere noch umstritten war, musste die Gottheit des Hl. Geistes unausgesprochen bleiben. 13 In dieser frühen geschichtstheologischtrinitarischen Spekulation steckt jedenfalls die richtige Beobachtung des strukturell-integrativen Aufbaus der semiotischen Dreigliedrigkeit: Die erste und die zweite Kategorie, Zeichen selbst und Objektbezug, enthalten in gewissem Sinne bereits die dritte Kategorie - müssen dies aber nicht eigens ins Bewusstsein heben. Die Bestimmtheit des Verhältnisses zwischen Vater und Sohn aber als Verhältnisbildung zu erkennen verlangt »Was der Hl. Geist wirkt, stammt aus dem Verhältnis Vater - Sohn - Aneignung.« »Das sich aufbauende und in der Erzählung dramatisch motivierte Verstehen hat Implikationen, die es selbst noch nicht weiß.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 82 Hermann Deuser Geistesgegenwart ZNT 25 (13. Jg. 2010) 83 die selbständige Instanz des Geistes: Die kreative Ermöglichung von Verstehen, die doch zugleich die Einheit mit Vater und Sohn verbürgt - wie es an Schrift und Brotbrechen zu sehen ist. V. Interpretation - steht hier im Blick auf Sprache, Texte und Erzählen anstelle des formaleren Begriffs des Interpretanten. Kein Verstehen ohne diese dritte Instanz, die den Zusammenhang von vorliegender Qualität und ihrem Objektbezug als dreistellige Relationalität vollzieht. Geistige Prozesse sind erst vollständig, wenn sie dieser Aufbaustruktur genügen und um sie wissen. Die Emmaus-Erzählung markiert in V. 31f. diesen geistigen Akt des Verstehens in mehrfacher Hinsicht: 1) Voraus geht die Qualität der Passionserfahrung, die in der Frage der Messianität, in der Frage nach dem Christus gipfelt; und beide Fragen sind konkret bezogen auf die Gegenständlichkeit der Schrift bzw. die Gegenwärtigkeit des Gesuchten im Brotbrechen. 2) Das neue und kreative Verstehen ergibt sich nicht automatisch auf der zweistelligen Ebene (etwa in der rein dyadischen Relation von Zeichen und Bedeutung), sondern es ereignet sich als etwas hinzutretendes Drittes: »Da gingen ihnen die Augen auf« (V. 31)! Jetzt erst wird neu »erkannt«, was vorher nicht gewusst, allenfalls geahnt werden konnte. 3) Die ursprüngliche Ermöglichung (Erstheit) kommt im Verstehen so zum Zuge, dass durch den Objektbezug zwar einschränkende Bestimmungen in Kraft getreten sind, die Möglichkeitsfülle gerade dadurch aber zur konkreten Kreativität qualifiziert wird: Die Relationalität von Zeichen, Objekt und Interpretant wird gefühlt und gewinnt dadurch in der existentiellen Situation (Ausgangsfrage der Erzählung) erst recht das Potenzial für neues Erkennen. 4) Was die Erzählung leistet, ist die Bildung eines objektbezogenen Zusammenhanges von Schrifttradition, d.h. der Auslegungsfrage vergangener Texte, mit der - erzählten - Gegenwart der Gemeinschaft mit dem auferstandenen Christus. Was die Erzählung nahebringt ist Präsenz und Entzug zugleich: »dann sahen sie ihn nicht mehr« (V. 31). Hierin liegt die Besonderheit der indirekten Mitteilung religiöser Gegenstände: Ihre Kreativität und Unbedingtheit kann im Objektbezug nur durchgehalten werden, wenn die Gegenständlichkeit zugleich als gebrochene erscheint. Was der religiöse Glaube weiß, ist immer nur unter Vorbehalt empirisch - bzw. sieht die Gegenstände in ihrer prozesshaft-kreativen Ermöglichung. 5) Es ist schließlich dieser andere Blick (V. 32: »Brannte uns nicht das Herz in der Brust«), der sehend macht (»als er […] uns den Sinn der Schrift erschloss«/ in Luthers Übers.: »als er uns die Schrift öffnete«). Es ist das Feuer des Geistes, 14 das das neue, befreiende Verstehen möglich macht, kurz: die Kraft des Hl. Geistes. Was aber wäre nun dieser Hl. Geist selbst? Seine Kraft der Interpretation jedenfalls ist trinitarisch vollständig, es muss kein Relat des Zeichenereignisses mehr eingeklammert werden. Das schöpferisch Erste wird ebenso präsent wie das gegenständliche Zweite, und das zusammenhangbildende Dritte ist aktual neu und kann um sich selbst wissen: Geist ist Verstehen im Selbstverhältnis. Selbstsein steht dann zugleich auch in einem Möglichkeitshorizont kommender Ereignisse, so dass mit der geistigen Relationalität Zukunft als dritte Dimension der Lebensorientierung zu Vergangenheit und Gegenwart hinzutritt; im Beispiel der Emmaus- Erzählung: Die Vergangenheit der fraglichen Schriften und die Gegenwart des fraglichen Verstehens in der Gemeinschaft des Brotbrechens schießen zusammen in die Gültigkeit und Gewissheit des »Bleib doch bei uns« (V. 29) - jetzt in Verbindung mit dem »und sie erkannten ihn« (V. 31). Den Christus zu erkennen bedeutet, seine Gottesliebe auch für die Zukunft des Lebens gelten lassen zu können. Deshalb die Präsenz und Entzogenheit des Auferstandenen, sobald der Geist erkannt hat. Im Christus des Schriftzeugnisses, des Brotbrechens und der Auferstehung kommen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen - lebensdienlich und orientierungswirksam. Die Identifikation von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist nun die Auszeichnung der neuen religiösen Interpretation: Was in Apk 1,4 (vgl. 1,8; 4,8) mit christologischem Akzent gesagt wird: 15 »der ist und der war und der kommt« - hat sein Bestehen, seine differenzierte Einheit in der Kraft des Hl. Geistes, die in der Auslegung des Vergangenen und im sichtbaren Jetzt zugleich dieselbe messianische Zukunft entdeckt. Diese Entdeckung geschieht mit brennendem Herzen (Lk 24,32) und in der dreigliedrigen Einheit der schöpferisch-liebenden Geistesgegenwart. Die kosmologischen und anthropologischen Zeiterfahrungen im Nacheinander von Vergan- »Was die Erzählung nahebringt ist Präsenz und Entzug zugleich: ›dann sahen sie ihn nicht mehr‹.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 83 Hermeneutik und Vermittlung 84 ZNT 25 (13. Jg. 2010) genheit, Gegenwart und Zukunft werden dadurch nicht beseitigt, aber es wird an, mit und in ihnen das religiös Unbedingte, trinitarisch gesagt: der schöpferische Grund (Vater) als die Liebe Gottes (Sohn) wirksam »erkannt« (Geist [V. 31]). Der Preis für diese Auszeichnung des religiös Unbedingten, des Wahrnehmungsaugenblicks 16 des Hl. Geistes, der sich menschlichen Ableitungen entzieht, weil er ihnen kreativ vorausliegt, ist seine in sich unbestimmbare und überwältigende Überzeugungskraft: Leidenschaft und Fülle des Augenblicks gehören ebenso dazu wie das Ausgeliefertsein und die immer nur indirekten Vermittlungsmöglichkeiten der (kontrollierenden) Verständigung. Die frühen biblischen Zeugnisse des Geistes tragen demgemäß durchaus auch chaotische Züge. 17 Von charismatischen Führerfiguren bis zur trinitarischen Ordnung des Geistes ist es ein langer Weg. Die damit erreichte Klärung aber verengt nicht die Spielräume des Geistes, sondern zeigt die Aufbauformen einer Relationalität, die dem Prozess der Realität und darinnen der gestaltenden Kreativität der Gottesliebe entsprechen. Das »Bleib doch bei uns« (V. 29), wie es Whitehead markiert hat 18 , ist der Augenblick der Fülle, die der Hl. Geist - im Blick auf die Verheißungsgeschichte und die Gegenwart des Christus - erschließt. Was die Frage nach der Realität dieses Augenblicks betrifft, also die metaphysische oder ontologische Frage, um welche Wirklichkeit es sich dabei denn handeln könne, so ist zu antworten: Die hier anzuwendenden Denkvoraussetzungen liegen nicht mehr, wie schon gesagt, 19 in einer als real und vorrangig unterstellten platonischen Ideenwelt; auch nicht in einer universal ersten Substanz, wie sie für das aristotelisch-christliche Mittelalter prägend war; auch nicht in einem neuplatonischen Dualismus des in allem abgestuft (schlechten) Weltlich-Vielen doch wirksamen Einen; auch nicht in der neuzeitlichen Substanzendualität von Welt und Geist; auch nicht in dem transzendentalen 20 Gegenüber von empirischer Bindung (im naturwissenschaftlichen Sinn) einerseits und begrifflicher Konstitutionsebene andererseits, was zur Auflösung des Theoriestatus nicht-empirischer Begriffe (z.B. Gott) führen musste. Alle diese metaphysischen Bedingungen, aus denen sich nicht zuletzt die Religionskritik der Moderne als Gegenbewegung speiste - bis in die Debatten der Gegenwart um die Bedeutung neurophysiologischer Forschungsergebnisse, die für die Beschreibung des Menschen an die Stelle aller traditionell als »Geist« vermuteten Wesenheiten zu treten hätten 21 -; alle jene Denkkontexte sind dank kategorialer Semiotik für die trinitarische Strukturbildung wohl historisch interessant, aber nicht mehr bindend. Kurz gesagt: An die Stelle von Substantialität oder Transzendentalität tritt die Relationalität. Von Geistesgegenwart zu sprechen bedeutet dann: Es ist das Kennzeichen gerade des naturwissenschaftlichen Erfahrungsbegriffs der Moderne, zugleich Auftreten, Gewissheit und Entwicklung von Erfahrung im Prozess der Realitätsbildung so denken zu müssen, dass nicht restriktiv nur die gemessenen Fakten als Erfahrung gelten; im Gegenteil: Diese existierende, durch Experiment und Messungen präparierte Welt muss im Kontext ihrer Erschließungsmöglichkeiten und begrifflichen (gesetzes- und vorhersagekonformen) Allgemeingültigkeit verstanden werden. Es geht also um einen Erfahrungsbegriff 22 dreigliedriger (phänomenologischer) Zugänglichkeit: Kreative Ermöglichung, existierende Wirklichkeit und deren Zusammenhang im Kontinuum der Realitätsbildung sind kategorial zu unterscheiden, obwohl Ereignisse gerade einheitlich unter dieser dreigliedrigen Voraussetzung auftreten. So werden Erfahrungen gemacht, ihre Wirklichkeit besteht in ihrer Relationalität von Ermöglichung, Wirklichkeit und (geistigem) Zusammenhang. In diesem Sinne setzt das Auftreten von Ereignissen - zumindest in der Zugangsperspektive für Menschen - Geistesgegenwart schon voraus. Eine rein empirische Betrachtung kann nun jederzeit die kategorialen Bedingungen der Ermöglichung und des geistigen (lebendigen) Zusammenhanges neutralisieren, d.h. stillschweigend voraussetzen und gerade nicht thematisieren; und das gilt auch für die entsprechend verfahrenden religionswissenschaftlichen, sich rein deskriptiv verstehenden Disziplinen. Anders dann, wenn auf die Bedingungen von Kreativität und Gewissheit im Zusammenhang, die mit allem Existieren gegeben sind, eigens geachtet und sie trotz ihres sich immer wieder entziehenden, d.h. nicht-empirischen Charakters thematisiert, vermittelt und bearbeitbar gehalten werden sollen. Menschlich gesehen liegt hier eine kulturelle Unumgänglichkeit, der bevorzugt der religiöse Glaube dient; und dezidiert nicht mehr nur strukturell beschreibend ist diese fundamentale Zugänglichkeit der Realität erst dann, wenn die Geistesgegenwart sich im Rahmen einer bestimm- »Das ›Bleib doch bei uns‹ [...] ist theoretisch erkennbar in der relationalen Realitätsstiftung des Hl. Geistes, lebenspraktisch im Geschenk der Geistesgegenwart.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 84 Hermann Deuser Geistesgegenwart ZNT 25 (13. Jg. 2010) 85 ten religiös-existentiellen Situation ereignet. 23 Im Fall der christlichen Bekenntnisse und ihrer sich korrespondierend entwickelnden theologischen Dogmatik ist es zudem so, dass sich in Trinitätslehre und Pneumatologie die Relationalität früh durchgesetzt hat. Die Gegenwart des Geistes lehrt verstehen, was durch schöpferische Ermöglichung unter Existenzbedingungen (die das Leiden der Liebe einschließen) schon da ist und immer neu erschlossen werden muss. Das »Bleib doch bei uns« - die Gegenwart des Auferstandenen und zugleich das Problem der Metaphysik zwischen Vergänglichkeit und Fülle - ist theoretisch erkennbar in der relationalen Realitätsstiftung des Hl. Geistes, lebenspraktisch im Geschenk der Geistesgegenwart. Anmerkungen 1 A.N. Whitehead: Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie, übers. v. H.G. Holl, Frankfurt am Main 2 1984, 386 u. 604f.; vgl. H. Deuser: Religionsphilosophie, Berlin/ New York 2009, 93 u. 314. 2 Lk 24 wird zitiert nach der Übersetzung der Neuen Jerusalemer Bibel, 1985; anders nur im folgenden Textblock der Gesamtperikope. 3 Vgl. Deuser, Religionsphilosophie, § 1 Anm. 4 u. § 10.2. 4 R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 6 1964, 314. 5 S. Anm. 1 (zu Whiteheads Interpretation). 6 Zum religionsphilosophisch begründeten Begriff des Unbedingten vgl. Deuser, Religionsphilosophie, § 1 u. § 10.3. 7 Vgl. I.U. Dalferth, Der auferweckte Gekreuzigte. Zur Grammatik der Christologie, Tübingen 1994, 225: »Der Ausdruck ›Trinität‹ bezeichnet nicht das, wovon die Trinitätslehre handelt, sondern fasst den Regelkomplex zusammen, mit dessen Hilfe diese die Grammatik des christlichen Gebrauchs von ›Gott‹ zu explizieren sucht.« - Vgl. auch H. Deuser, Trinität. Relationenlogik und Geistesgegenwart, in: M. Welker/ M. Volf, Der lebendige Gott als Trinität. FS J. Moltmann, Gütersloh 2006, 68- 81: 80f. 8 Vgl. (unter Berufung auf P. Ricœur und D. Thomä) Deuser, Religionsphilosophie, 483. 9 Vgl. zu dieser semiotischen Unterscheidung im Objektbezug St. Alkier: Neutestamentliche Wissenschaft - Ein semiotisches Konzept, in: Chr. Strecker (Hg.), Kontexte der Schrift II, Stuttgart 2005, 343-360: 348; vgl. Deuser, Religionsphilosophie, 268f. 10 P. Tillich, Systematische Theologie, Bd. III, Stuttgart 1966, 174. 11 Tillich, Theologie, 173. 12 Vgl. den jetzt als »Symbolum Nicaeno-Constantinopolitanum« bezeichneten Text (alte Überschrift: »Symbolum Nicaenum«) in: BSLK, 26f.; zur historischen Rekonstruktion J.N.D. Kelly, Altchristliche Glaubensbekenntnisse. Geschichte und Theologie, Göttingen 2 1993, 294ff. 13 Vgl. den dt. Textauszug aus Gregors »5. theologischer Rede«, in: G.L. Müller (Hg.): Der Heilige Geist (Pneumatologie). Texte zur Theologie: Dogmatik 7,2, Graz 1993, 57. 14 Zur Feuersymbolik im Hinweis auf Apg 2, 3 und Lk 3, 16, sowie zum Öffnen der Schrift im Hinweis auf 2Kor 3,15f. vgl. W. Eckey, Das Lukasevangelium. Unter Berücksichtigung seiner Parallelen II, Neukirchen-Vluyn 2004, 982. 15 Zur Auslegung dieser Zeitdimensionen für das »Sein« und den »Namen« Gottes (in Verbindung von Ex 3,14 mit den genannten Stellen der Apk) vgl. K. Barth, KD I/ 2, 59f. 16 Vgl. zur Auslegung des Unbedingten im Wahrnehmungsaugenblick Deuser, Religionsphilosophie, § 11. 17 Vgl. M. Welker, in: J. Polkinghorne/ M. Welker: Faith in the Living God. A Dialogue, 2001 (Fortress Press), 93: »God’s Spirit is experienced as an unexpected power not to be disposed of, and via such people it exercises its power that saves the community.« (Dt.: An den lebendigen Gott glauben. Ein Gespräch, Gütersloh 2005, 131.) 18 S. Anm. 1. 19 S. Abschnitt II. 20 Zu I. Kants Wissenschaftstheorie und Religionskritik vgl. Deuser, Religionsphilosophie, § 8.2. 21 Zur Metakritik der angeblichen bzw. unbegründeten Konsequenzen der Neurowissenschaften für die Philosophie des Geistes vgl. P. Janich, Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung, Frankfurt am Main 2009. 22 Vgl. Deuser, Religionsphilosophie, Teil V, bes: 421-427. 23 Vgl. H. Deuser, Kleine Einführung in die Systematische Theologie, Stuttgart (1999) 2005, 37f. u. Teil III. 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 85 1. »Ist Geist etwa Sinn in der zweiten Potenz? « (Friedrich Schlegel 1 ) Lesen ist eine komplexe Kulturtechnik. Lesen ist weit mehr als die Aneinanderreihung abstrakter Zeichen. Texte erzeugen Bilder, Stimmungen, Lebensgefühle. Dies trifft nicht erst zu, wenn Künstlerinnen und Künstler den medialen Sprung von den Schriftzeichen zu Gemälden, Plastiken oder Filmen vollziehen. Vielmehr erzeugt Lesen Kino im Kopf, Gedankenexperimente, Sinn und Geschmack für andere Welten. Diese höchst komplexe Kulturtechnik verlangt Kreativität, schlussfolgerndes Denken und kulturelles Wissen und erschließt auf diese Weise die Welt des Textes, sein Diskursuniversum. Diskursuniversum meint die Welt des Textes, so wie er sie setzt und voraussetzt. 2 Die Welt ist hier so, wie der Text sie zu lesen gibt. Allerdings sagen Texte aufgrund der Ökonomie der Zeichen nicht alles, was zur Konstitution des Diskursuniversums im Leseakt notwendig ist. Stets muss bereits erworbenes enzyklopädisches Wissen von den Lesenden eingebracht werden, um die Zeichen mit Vorstellungsbildern zu belegen. Je weniger kulturelles Wissen eingebracht werden kann, desto schwieriger ist es, aus den abstrakten Zeichen ein sinnvoll zusammenhängendes Ganzes zu bauen. Je mehr solch enzyklopädisches Wissen abrufbar ist, je differenzierter und lustvoller wird die Sinnproduktion der Lektüre ausfallen. Schriftzeichen sagen aber nicht nur aufgrund ihrer Ökonomie nicht alles, sondern auch wegen ihrer medialen Grenzen. So können sie zwar den Klang der Stimme beschreiben und sogar die Art und Weise des Sprechens angeben, wie es etwa als Regieanweisung in den Textausgaben von Theaterstücken zu finden ist. Sie lenken damit zwar die Vorstellungskraft der Lesenden, aber sie können nicht den Klang der Stimme selbst erzeugen. Texte sprechen nicht. Dazu bedarf es der Stimme der Schauspieler bzw. der vorgestellten Stimme, wie sie jeder Leser, jede Leserin für sich selbst imaginär erschaffen muss. Lesen ist von schriftlichen Zeichen gelenktes Bilden. Ein Zeichen allein macht noch keinen Text: »Die Zeichen stehen immer in Bezug zu anderen Zeichen, sie existieren nie allein, außer unter einem rein theoretischen Gesichtspunkt« 3 . Auch ein bloßes Nebeneinander von Zeichen ergibt noch keinen Text. Eine Ansammlung von Zeichen erzeugt erst ein sinnvoll zusammenhängendes Ganzes, wenn diese Zeichen syntagmatisch, semantisch und pragmatisch Sinn generierend organisiert wurden bzw. organisiert werden können. »Für uns ist Textualität keine inhärente Eigenschaft verbaler Objekte. Ein Produzent oder ein Rezipient betrachtet ein verbales Objekt als Text, wenn er glaubt, dass dieses verbale Objekt ein zusammenhängendes und vollständiges Ganzes ist, das einer tatsächlichen oder angenommenen kommunikativen Intention in einer tatsächlichen oder angenommenen Kommunikationssituation entspricht. Ein Text ist - gemäß der semiotischen Terminologie - ein komplexes verbales Zeichen (oder ein verbaler Zeichenkomplex), das/ der einer gegebenen Erwartung der Textualität entspricht.« 4 Diese Textdefinition des Texttheoretikers János Petöfi erlaubt es, Texte sowohl bezüglich ihrer »systemimmanenten Konstruktion« als auch hinsichtlich ihrer Funktion in ihrem jeweiligen Produktionsbzw. Rezeptionskontext zu untersuchen. Die Lektüre produziert demgemäß dann Sinn, wenn sie den Aufbau der Zeichen als stimmig konstruieren kann (Syntagmatik), die Bedeutungsfunktion der einzelnen Zeichen diesem Aufbau zuordnen kann (Semantik) und ein Bezug zwischen Text und Leser oder Leserin entsteht (Pragmatik). Die Lektüre produziert jeweils unterschiedliche Sinne, je nachdem, wie sie einen Text gliedert und die einzelnen Zeichen aufeinander bezieht (Syntagmatik), welche Bedeutungseigenschaften eines Zeichens aktualisiert bzw. narkotisiert werden (Semantik; siehe das »Teekesselchen«- Spiel) und wie sich die Lesenden in den Text einschreiben bzw. einschreiben lassen (Pragmatik). Das sind die Grundbedingungen jeder gelingenden Lektüre. Mit »gelingender Lektüre« meine ich dabei zunächst einmal »nur« eine Lektüre, die einen Text mit dem Gefühl verlässt, ein sinnvoll zusammenhängendes Ganzes zusammen gelesen zu haben. Nur wenn sich dieses Gefühl einstellt, kann »Lust am Text« (Roland Barthes) entstehen, die sich wesentlich der Freude an Hermeneutik und Vermittlung Stefan Alkier Vom Geist der Schrift oder: Von der heilsamen Kraft des Unverfügbaren 86 ZNT 25 (13. Jg. 2010) »Lesen ist von schriftlichen Zeichen gelenktes Bilden.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 86 ZNT 25 (13. Jg. 2010) 8 der eigenen Kreativität verdankt, die aus abstrakten Zeichen imaginäre Welten zu schaffen in der Lage ist. Leser sind Regisseure, Bühnenbildner und Schauspieler in einer Person. Lesen ist eine hochkomplexe Kulturtechnik, die erlernt und trainiert werden muss. Lesen ist das Sinn erzeugende Sammeln abstrakter Zeichen mittels ihrer Verknüpfung zu einem homogenen Ganzen, das mehr und anderes ist, als die Summe seiner Zeichen. Lesen versteht sich nicht von selbst und ist keinesfalls kinderleicht. Die Technik des Lesens eröffnet deshalb Welten, weil sie die Kreativität, das schlussfolgernde Denken und das Gedächtnis gleichermaßen schult. Mit dieser Lesekompetenz aber werden die abstrakten Schriftzeichen hörbar, sichtbar, schmeckbar, fühlbar. Es entsteht die Welt des Textes vor den inneren Augen und Ohren der Lesenden. Wenn das im Leseakt gelingt, ist die erste Potenz der Textzeichen aktualisiert worden. Über diese erste Potenz von Textzeichen hinaus, gibt es aber noch eine zweite Potenz des Textes. Wer liest, sieht nicht nur fremde Welten, sondern betrachtet auch die eigene Lebenswelt dann mit anderen Augen, wenn eine solche Beziehung zwischen Text und Leser entsteht, die das Gelesene über den Akt des Lesens hinaus im Leser Wirkung entfalten lässt und ihn bzw. sie verändert. Erzeugt gelingendes Lesen Sinn, so muss dieser erzeugte Sinn den Lesenden noch keineswegs ergreifen. Ich kann einen Text lesen, der mich nicht berührt, auch wenn ich ihn gemäß seiner ersten Potenz sinnvoll zusammengesetzt habe. Sinn im Akt der Lektüre zu erzeugen ist erlernbar, sich von einem bestimmten Text ergreifen zu lassen, entzieht sich aber der Machbarkeit. Sicher, nicht nur engagierte Dichtung, politische Propaganda und kommerzielle Werbung, sondern auch religiöse Texte zielen genau darauf: Menschen zu ergreifen und ihr Handeln zu bestimmen. Es bleibt aber ein kontingentes Geschehen, wenn der eine von diesem Text, der andere von jenem berührt wird. Das Subjekt des Lesens kann sich nicht dazu entscheiden, dass das Gelesene ihm unter die Haut geht. Es ist nicht Souverän der Wirkungen des Textes über die Sinnkonstruktion als erste Potenz des Textes hinaus. Die Wirkkraft eines Textes wirkt über die bloße Sinnkonstruktion im Leseakt hinaus, wenn der Geist des Textes den Geist des Lesers erreicht und ihn zum Umdenken bewegt. Geist ist »Sinn in der zweiten Potenz« (F. Schlegel). 2. Die Kraft des Evangeliums nach Paulus Folgt man den Gliederungen der gängigen Bibelausgaben, also dem Nestle-Aland für den griechischen Text, bzw. der Lutherbibel, der Zürcher Bibel und der Einheitsübersetzung in deutscher Sprache, dann bilden die Verse Röm 1,16-18 einen eigenen, abgegrenzten Sinnabschnitt. Die Zürcher Bibel wählt dafür die Überschrift: »Das Evangelium als Kraft Gottes«. Sie bietet folgende Übersetzung an: »Denn ich schäme mich des Evangeliums nicht; eine Kraft Gottes ist es zur Rettung für jeden, der glaubt, für die Juden zuerst und auch für die Griechen. Gottes Gerechtigkeit nämlich wird in ihm offenbart, aus Glauben zu Glauben, wie geschrieben steht: Der aus Glauben Gerechte wird leben.« Das Wort Evangelium, (gr. euaggelion), meint eine kommunizierbare gute Nachricht, die einen benennbaren Sender und ausmachbare Empfänger aufweist. Eine gute Nachricht ist ein komplexes verbales Zeichen, das seine vom Sender intendierte gute Wirkung entfalten kann, wenn der Empfänger die Zeichen sinnvoll zusammensetzt und sie ihn auf angenehme Weise bewegen. Diese abstrakte Kommunikationsstruktur einer guten Nachricht konkretisiert Paulus mit Blick auf das Evangelium, das er als »Knecht des Christus Jesus, berufen zum Apostel, ausersehen, das Evangelium Gottes Stefan Alkier Vom Geist der Schrift oder: Von der heilsamen Kraft des Unverfügbaren Prof. Dr. Stefan Alkier, Jahrgang 1961, Studium der Evangelischen eologie in Münster, Bonn und Hamburg. Promotion 1993 in Bonn, Habilitation 1999 in Hamburg. 1993-1999 Wiss. Assistent für Neues Testament in Hamburg. Von 2000-2001 Vertretungsprofessur für Bibelwissenschaften an der Universität Gesamthochschule Kassel. Seit 2001 Professor für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche an der Goethe-Universität / Frankfurt. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Wunder, Paulus, Synoptiker, Hermeneutik und Methodologie, Forschungsgeschichte und Rezeption des Neuen Testaments. Weitere Informationen unter: www.evtheol.uni-frankfurt.de. Stefan Alkier 008010 ZNT 25 - Inhalt 09.04.2010 9: 24 Uhr Seite 87 Hermeneutik und Vermittlung 88 ZNT 25 (13. Jg. 2010) zu verkündigen« (Röm 1,1) auch den angeschriebenen Römern übermitteln möchte. Bereits in Röm 1,4 teilt er den Inhalt dieses Evangeliums mit: Es handelt sich um das Evangelium vom Sohn Gottes, der einen doppelten Ursprung hat. Er gehört aufgrund seiner menschlichen Zeugung und Empfängnis zum Haus Davids (in den Paulusbriefen findet sich die Idee der Zeugung durch den Geist kombiniert mit der jungfräulichen Empfängnis nicht). Dem Haus Davids aber gilt die im voran stehenden Vers (Röm 1,2) intertextuell aufgerufene messianische Verheißung in den Schriften der Propheten. Diese Verheißung des Messias aus dem Hause Davids wird durch die Verknüpfung mit Vers 1 selbst als das Evangelium Gottes identifiziert. Das Evangelium Gottes beginnt also mit der messianischen Verheißung in den Schriften der Propheten und Jesus ist als der Christus die Erfüllung dieser Verheißung, denn Christus ist die griechische Übersetzung des hebräischen Wortes meschiach, das wir in den deutschen Übersetzungen als Messias lesen. Jesus, der Davidsohn, ist der durch die Propheten verheißene Messias. Aber darin geht seine Identität nicht auf, denn Röm 1,4 bekundet einen zweiten Ursprung des Sohnes Gottes, der »nach dem Geist der Heiligkeit aber eingesetzt ist als Sohn Gottes in Macht, seit der Auferstehung von den Toten«. Das von Paulus verkündete Evangelium Gottes erzählt also die komplexe Jesus-Christus- Geschichte (E. Reinmuth). Sie beginnt mit den prophetischen Verheißungen des Messias. Sie wird fortgeführt durch den Davidssohn Jesus, mit dessen Leben die Verheißungen erfüllt wurden. Sie erhält ihre ewig währende Fortsetzung durch die vom Geist Gottes bewirkte Auferweckung des gekreuzigten Messias Jesus und dessen Einsetzung zum Sohn Gottes in Macht. Die Verse Röm 1,16f. werden kaum verstehbar, wenn sie als ein in sich geschlossener Abschnitt graphisch abgesetzt werden. Vielmehr schließt Vers 16 syntagmatisch, semantisch und pragmatisch unmittelbar an Röm 1,15 an. Zwischen 1,15 und 1,16 muss ein Komma den Punkt ersetzen! Röm 1,16f. teilen nämlich mit, warum die Jesus-Christus-Geschichte kein Grund zum Schämen ist, obwohl sie doch von einem Davididen erzählt, der als Verbrecher hingerichtet wurde. Der Logik dieser Welt zufolge ist er ein - wie viele vor und nach ihm - gescheiteter »Messias«. Paulus aber schämt sich dieser Geschichte, die sein Evangelium erzählt, nicht, weil er sie als Kraft Gottes weiß, die jeden rettet, der von dieser Geschichte in ihrer dreistufigen Komplexität ergriffen wird und - deshalb gleichursprünglich - glaubt und damit Gott die Ehre gibt. Wer glaubt, dass der hingerichtete Jesus die Erfüllung der messianischen Verheißungen war und Gott diesen Gekreuzigten nicht nur auferweckt, sondern ihn zu seinem Sohn in Macht eingesetzt hat, der wird gerettet. Genau das möchte Paulus auch öffentlich in Rom verkündigen. Diese angebotene Rettung macht die Jesus-Christus-Geschichte zur guten Nachricht, zum Evangelium, wenn sie so zur Wirkung kommt, dass sie den Geist des Hörers bzw. Lesers berührt und ihr auf der Grundlage emotionaler Ergriffenheit geglaubt wird. Erzeugt diese Geschichte aber Glauben, so wird Gott damit die Ehre gegeben, die allein ihm als Gott zukommt. Gott wird als derjenige erfahren, der nicht nur der Sender der messianischen Verheißungen ist, sondern sie auch erfüllt hat und sich damit als treuer Gott erwiesen hat, der sein Wort hält. Nicht einmal der Tod des Messias konnte daran etwas ändern. Gottes Wort ist stärker als der Tod, stärker als alle anderen Mächte. Nur Gott war dazu in der Lage, den Gekreuzigten vom Tod in sein neues, göttliches Leben zu führen. Wer die Jesus-Christus-Geschichte als wahre Geschichte, als gute Nachricht hört, lobt Gott und erkennt ihn als einzigen Gott an. Genau das wird dem Glaubenden als Gerechtigkeit zugesprochen, weil sie Gott Recht geben in seinem Gottsein und genau das rettet vor dem Zorn Gottes, wie er von Paulus dann im Anschluss an 1,16f. entfaltet wird. Das von Paulus verkündete Evangelium Gottes erzählt also die Jesus-Christus-Geschichte vor allem als »Wort vom Kreuz« (1Kor 1,18). Sie lässt Gott auf angemessene Weise erkennen und demjenigen, der sich von ihr erfasst weiß, ermöglicht sie, Gott zu loben. Die Kraft des Evangeliums ist ihre Wirkkraft, die den Hörer bzw. Leser der Jesus-Christus-Geschichte berühren möchte und dann zu nichts anderem führt, als zum Glauben, und genau dieser Glaube wird als Gerechtigkeit anerkannt, weil er den Glaubenden in das rechte Verhältnis zu Gott setzt, indem er Gott zutraut, das getan zu haben, wovon die Jesus-Christus-Geschichte als Wort vom Kreuz erzählt. Diese Jesus-Christus-Geschichte sinnvoll zu konstruieren ist erlernbar. Sich von ihr ergreifen zu lassen, das eigene Leben ganz im Geist dieser Geschichte zu verstehen und sich von ihr bestimmt sein zu lassen, »Die Wirkkraft eines Textes wirkt über die bloße Sinnkonstruktion im Leseakt hinaus, wenn der Geist des Textes den Geist des Lesers erreicht und ihn zum Umdenken bewegt.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 88 Stefan Alkier Vom Geist der Schrift oder: Von der heilsamen Kraft des Unverfügbaren kann nicht gemacht werden. Man kann sich nicht zum Glauben entschließen. Man kann sich nicht dazu entscheiden, sich getroffen, sich betroffen von dieser Geschichte zu fühlen. Man kann sich nicht für den Glauben entscheiden. Dabei bliebe man immer selbstbestimmter Souverän des Glaubens und verstünde sich nach wie vor aus sich selbst heraus. Von der Kraft des Evangeliums zu sprechen, macht nur Sinn, wenn diese Kraft im Leser bzw. Hörer wirkt. Man kann dann nur dankbar feststellen, dass diese Geschichte unter die eigene Haut gegangen ist und sie einem die Augen geöffnet hat, sich selbst und die Welt mit ihrem Geist neu sehen und verstehen lässt. Wenn die Jesus-Christus-Geschichte als Evangelium gelesen werden kann, wird sie zum Ausleger des Lesenden und entfaltet in ihm ihre heilvolle Kraft als zweite Potenz des Textes. Der Geist der Jesus-Christus-Geschichte wirkt auf den Geist des Lesers ein und verändert ihn auf kreative Weise. 3. Eine kurze Geistesgeschichte Was vom Geist der Jesus-Christus-Geschichte gesagt werden kann, gilt nicht nur potentiell von allen Zeichen, sondern in höchst geschichtsmächtiger Weise von vielen Werken. Muslime wissen sich ergriffen vom Koran und legen sich und die Welt im Licht seiner Lektüre aus. Existentialisten werden durch Texte von Camus oder Sartre in ihrem Lebensgefühl bestimmt. Viele Bildungsbürger verstehen sich durch den Geist der Schriften Goethes, oder überhaupt durch den »Geist der Goethezeit«. Barak Obamas Reden sind vielen Amerikanern so unter die Haut gegangen, dass sie sich ein neues Amerika im Geist der Reden Obamas wünschen. Diese kulturelle Verwendung des Begriffs des Geistes, der dann auch zu dem der Geisteswissenschaften und der Geistesgeschichte führte, kann als philosophische Interpretation neutestamentlicher Geistkonzeptionen rekonstruiert werden. Aus der philosophischen Interpretation neutestamentlicher Pneumatologie erfolgte die Singularisierung des Geistes insbesondere durch Hegels Phänomenologie des Geistes, die er als Philosophie der Geschichte des Geistes, als Geistesgeschichte konstruierte. Hegel formuliert mit Blick auf die Philosophiegeschichte: »Die wesentliche Kategorie ist die Einheit aller dieser verschiedenen Gestaltungen, dass Ein Geist nur ist, der sich in verschiedenen Momenten manifestiert und auslegt« 5 . Hegels Gesamtkonzept der Geistesgeschichte setzte sich aber nicht durch, wohl aber die kulturhermeneutische Interpretation des objektiven Geistes durch Wilhelm Dilthey. Die Geisteswissenschaften erforschen demzufolge die Objektivationen des einen Geistes, deren Zusammenspiel die Kultur bilden. »Wir können den objektiven Geist nicht in eine ideale Konstruktion einordnen, vielmehr müssen wir seine Wirklichkeit in der Geschichte zugrunde legen […] In ihm sind Sprache, Sitte, jede Art von Lebensform, von Stil des Lebens ebenso gut umfasst wie Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat und Recht. Und nun fällt auch […] Kunst und Religion und Philosophie unter diesen Begriff.« 6 Die daraus resultierende Diastase der Wissenschaften in die Geisteswissenschaften und die Naturwissenschaften verbannen den Geist aus dem Phänomenbereich der Naturwissenschaften und lassen diese zu geistlosen Disziplinen werden. Die geistlose Natur wird zum bloßen Material des Machbaren. Im Anschluss an den linguistic turn der Philosophie kritisiert der cultural turn seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts das Einheit stiftende Band des Geistes als totalisierendes, metaphysisches Konzept euroamerikanischer Bildungseliten. Kultur wird demnach nicht vom Geist, sondern von den Konflikten widerstreitender Interpretationen gebildet. Nicht nur viele analytische Philosophen wollen deshalb den Begriff des Geistes gänzlich aus der Wissenschaftssprache verabschieden, weil er unklar und mit undurchsichtigen metaphysischen Konnotationen als Begriff unbrauchbar sei. Der daraus resultierende gegenwärtige Trend, den Begriff der Geisteswissenschaften durch den der Kulturwissenschaften zu ersetzen birgt aber die Gefahr, Kultur als geistloses Produkt der Machbarkeit demselben Ungeist auszuliefern, der die Natur als geistlose Ressource der Ausbeutung zu benutzen anempfiehlt. Kultur bzw. ihre Produkte bemessen sich dann nur noch nach ihrem Marktwert. Der Begriff des Geistes hat demgegenüber den Vorzug, das Wirken einer dem Rezipienten vorausgehenden, unverfügbaren Kraft in alle Interpretationsprozesse einzuschreiben und damit die Ideologie der Machbarkeit und Ausbeutung grundsätzlich zu unterlaufen. Die Erfahrung pluraler Gesellschaften in der globalisierten Welt lässt die Kritik des cultural turn an der Einheit stiftenden Idee eines alle kulturellen Erschei- ZNT 25 (13. Jg. 2010) 89 »Wenn die Jesus-Christus-Geschichte als Evangelium gelesen werden kann, wird sie zum Ausleger des Lesenden und entfaltet in ihm ihre heilvolle Kraft als zweite Potenz des Textes.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 89 Hermeneutik und Vermittlung 90 ZNT 25 (13. Jg. 2010) nungen verbindenden Geistes nur solange als plausibel erscheinen, wie dieses Band substanzontologisch und inhaltlich bestimmt gedacht wird. Wird Geist aber als die Kraft verstanden, die in allen Gestaltungen Neues hervorbringt und damit das Vorausliegende erschließt, so wird nicht nur die Einheit aller Interpretationen als realitätserschließende Zeichenoperation begriffen, sondern auch die Diastase von sogenannten Natur- und Geisteswissenschaften überwunden. Damit böte sogar die Ersetzung des Begriffes der Geisteswissenschaften durch den der Kulturwissenschaften die Chance, den Begriff des Geistes für den Phänomenbereich der Naturwissenschaften zurückzugewinnen und Natur und Kultur als Geisteswirkungen zu begreifen. Dafür muss aber das substanzontologische Missverständnis des Geistes zu Gunsten eines relationalen Geistbegriffs überwunden werden, wie ihn Hermann Deuser in seinem Beitrag »Geistesgegenwart« in diesem Heft skizziert hat. Dementsprechend ist der Singular des Geistes auf die formale Kraft jeglicher Zeichenprozesse (Semiose) zu beschränken, die hinreichend zu begründen vermag, warum ein Streit um die wahre Erschließung der Realität überhaupt möglich ist. Vom Geist im Plural zu reden ist dann notwendig, wenn von bestimmten semiotischen Gebilden zu reden ist, also vom Geist des Grundgesetzes oder eben vom Geist der Bibel. Geist meint dann die über den Sinn eines einzelnen Textes bzw. Textabschnittes hinausgehende, unverfügbare Wirkung eines Gesamtwerks, also »Sinn in der zweiten Potenz«. 4. Die formale Dynamis der Zeichen und die Bestimmtheit des Evangeliums Gottes Im Anschluss an die von Deuser in diesem Heft skizzierte kategoriale Semiotik Charles Sanders Peirces möchte ich im Folgenden vor allem eine Unterscheidung in Peirces Zeichenmodell aufgreifen, die sicherlich nicht nur oberflächlich mit dem Kraftbegriff des Neuen Testaments (dynamis) verbunden werden kann. Peirces dreigliedriges Zeichenmodell unterscheidet gemäß seiner drei Kategorien zwischen Zeichen(träger), Objekt und Interpretant. Zeichen bei Peirce meint aber nicht lediglich den Zeichenträger, vielmehr die ganze dreistellige Relation mit den Relata Zeichen(träger), Objekt und Interpretant, die dann mit seiner Kategorienlehre weiter auszudifferenzieren wären. Die einzelnen Relata erhalten ihre Zeichenfunktion nur innerhalb dieser Zeichenrelation. Das Zeichen im Sinne des Zeichenträgers kann nur ein Zeichen sein, wenn es ein Objekt repräsentiert und von einem Interpretanten als Zeichen dieses Objekts interpretiert wird. Ein Objekt kann nur ein Objekt sein, wenn es von einem Zeichen repräsentiert und dieses von einem Interpretanten interpretiert wird. Ein Interpretant kann nur ein Interpretant sein, wenn es ein Objekt und ein Zeichen miteinander als Zeichen und Objekt verknüpft. Die erkenntnistheoretische Pointe der kategorialen Semiotik wird hier deutlich: Ohne Zeichen und Interpretanten ist die Rede von einem Objekt sinnlos. Dasselbe gilt aber auch in die andere Richtung: Ohne Objekt und Zeichen ist die Rede von einem Interpretanten sinnlos, da der Interpretant nichts hätte, was er interpretieren könnte. Und auch das letzte ist folgerichtig: Ohne Objekt und ohne Interpretant ist die Rede von einem Zeichen sinnlos. Das Zeichen repräsentiert das Objekt in einer Hinsicht. Kein Zeichen ist dazu in der Lage, sein Objekt in jeder Hinsicht zu repräsentieren. Es wählt einen bestimmten Gesichtspunkt aus. Dieses in der Zeichenrelation durch die Auswahl einer Hinsicht repräsentierte Objekt nennt Peirce das unmittelbare Objekt. Das unmittelbare Objekt hat seinen Ort innerhalb der Zeichenrelation und zwar nur innerhalb dieser Triade. Das dynamische Objekt hingegen ist das Objekt, das die Erzeugung eines Zeichens motiviert und von dem das unmittelbare Objekt nur eine Hinsicht darstellt. Die Verbindung zwischen dem dynamischen und dem unmittelbaren Objekt wird durch den ground des dynamischen Objekts gewährt. Die Rede von der Hinsicht des unmittelbaren Objekts meint also, dass das dynamische Objekt nicht zur Gänze vom Zeichen repräsentiert werden kann, sondern nur mit Blick auf eine Eigenschaft, die aber wiederum nicht nur diesem einen spezifischen dynamischen Objekt zukommt. Ein dynamisches Objekt kann fiktiv, real, geträumt sein oder auch einem anderen Seinsmodus zugehören. Die Zuordnung zu einem dieser Seinsmodi klärt nicht die semiotische Grammatik, sondern die semiotische Rhetorik, die den Geltungsbereich von Zeichen in konkreten Zeichenzusammenhängen aufgrund ihrer Zuordnung zu Diskursuniversen bzw. Enzyklopädien untersucht. Ich möchte nun vorschlagen, die Kraft (dynamis) des dynamischen Objekts als Geist zu interpretieren. Es ist diese unverfügbare Kraft, die notwendig ist, um »Ich möchte nun vorschlagen, die Kraft (dynamis) des dynamischen Objekts als Geist zu interpretieren.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 90 Stefan Alkier Vom Geist der Schrift oder: Von der heilsamen Kraft des Unverfügbaren ZNT 25 (13. Jg. 2010) 91 überhaupt einen Zeichenprozess, eine Semiose, in Gang zu bringen. Das unmittelbare Objekt ist dann der Aspekt des dynamischen Objekts, der in der jeweils konkreten Semiose durch den Akt der Interpretation bestimmt wird. Geist ist dann zeichentheoretisch abstrakt bestimmt als die unverfügbare Wirkkraft, die das Zeichen überhaupt erst motiviert und seine konkreten Interpretationen als solche überhaupt erst ermöglicht. Im Akt der jeweiligen Interpretation wird diese Wirkkraft dann jeweils konkret bestimmt und damit interpretierend erschlossen. Mit Blick auf Röm 1,16f. heißt das: Das dynamische Objekt des von Paulus verkündeten Evangeliums ist die dem Schreiben vorausliegende Jesus-Christus- Geschichte in ihrer realen Komplexität, die überhaupt erst christliche Zeichenbildungen wie den Römerbrief hervorbringt. Das Zeichen im Sinne des Zeichenträgers ist das materiell durch Abschreiben überlieferte Schriftstück mit all den Problemen, die die Textkritik zu bearbeiten hat. Das unmittelbare Objekt ist in Röm 1,16f. die Jesus-Christus-Geschichte als Evangelium, d.h., als sprachlich formulierbare und kommunizierbare gute Nachricht. Der Interpretant ist die soteriologische These des Paulus, dass das Evangelium als Kraft Gottes Glauben hervorbringt und auf diese Weise vor dem Zorn Gottes rettet. Die unverfügbare Kraft selbst aber wird in diesem Zeichenprozess, in diesem paulinischen Akt der Semiose als derselbe Geist Gottes zu bestimmen sein, der gemäß Röm 1,4 auch die Auferweckung Jesu Christi bewirkte. Der Glaube versteht sich dann nicht allein als die angemessene Antwort auf die ihm vorausliegende Jesus-Christus-Geschichte, sondern als Weise des Miteinbezogenwerdens in diese Geschichte durch das Wirken des Geistes Gottes als derselben Kraft, die die Jesus-Christus-Geschichte, ihre Zeichen und den Glauben als angemessene Interpretanten erzeugte und damit in alle Komplexität und Diversität die Kontinuität der kreativen Kraft Gottes hineinträgt. Der Glaube versteht sich dann nicht als autonome Entscheidung eines souveränen Subjekts, sondern als Ergriffensein vom Geist Gottes, als Geschenk, als gelungene Kommunikation zwischen Gott und Mensch. So kann aber die Bestimmtheit von Röm 1,16f. nur aussehen, wenn die Eingangsbedingung des Schreibens akzeptiert wird: »Paulus, Knecht des Christus Jesus, berufen zum Apostel, ausersehen, das Evangelium Gottes zu verkündigen«. Wir wissen aus den Schreiben des Paulus aber, das bereits zu dessen Lebzeiten von Christen, die die Jesus-Christus-Geschichte offensichtlich anders als Paulus interpretierten, genau das abgesprochen wurde, von Gott berufener Apostel Jesu Christi zu sein. Wir können nur anhand von vagen Vermutungen ein Bild davon entwerfen, wie die sogenannten christlichen Gegner des Paulus die Jesus-Christus-Geschichte interpretierten. Ich wähle hier aber einen anderen Fall, nämlich den eines fiktiven Religionskritikers, der das Christentum gerade nicht als angemessene Antwort auf einen göttlichen Kommunikationsakt - Offenbarung - begreift, sondern als Lug und Trug. Die Evangeliumsverkündigung nicht nur des Paulus, sondern die christliche Botschaft zu allen Zeiten wurde ja nicht nur mit Glauben, sondern auch mit Gleichgültigkeit oder sogar entschiedener Ablehnung beantwortet. Das Wirken aller Zeichen ist ja kein mechanischer Automatismus, sondern birgt in sich selbst die Freiheit der jeweiligen verschiedenen Positionierung. Aber auch für den entschiedenen Christentumskritiker bleibt das dynamische Objekt der neutestamentlichen Schriften die Jesus-Christus-Geschichte, wie sie auf je verschiedene Weise von den Schriften als Zeichenträger überliefert wird. Als unmittelbares Objekt ist auch ihm in Röm 1,16f. die Jesus-Christus- Geschichte als Evangelium, d.h., als sprachlich formulierbare und kommunizierbare gute Nachricht erkennbar. Aber er wird einen anderen Interpretanten als Paulus bilden. Ihm ist das Evangelium nicht die »Kraft Gottes, die jeden rettet, der glaubt«, sondern ein menschliches Erzeugnis, das bestenfalls religionsgeschichtlich und religionspsychologisch erklärbar ist, aber keinen Anspruch auf Wahrheit im Sinne der Erschließung von Realität hat. Egal, ob als »Opium für das Volk«, Vertröstung zu Gunsten bestehender Machtverhältnisse, als Lug und Betrug oder schlicht als krankhafte Phantasterei bezeichnet, das alles sind Interpretanten der Jesus-Christus-Geschichte, die vom Standpunkt des Christentumskritikers aus plausibel erscheinen. Der Geist der Jesus-Christus-Geschichte wird dann nicht als der Geist Gottes, sondern als irrender Geist menschlicher Phantasie bestimmt. Was aber die von der Wahrheit des paulinischen Evangeliums überzeugte Interpretation mit der des Christentumkritikers gemeinsam hat, ist die Unhintergehbarkeit der Semiose. Beide Interpretationen sind Interpretationen der diesen Interpretationen vorausliegenden Schriften. Der Glaube ist ebenso ein Interpre- »Das Wirken aller Zeichen ist ja kein mechanischer Automatismus, sondern birgt in sich selbst die Freiheit der jeweiligen verschiedenen Positionierung.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 91 Hermeneutik und Vermittlung 92 ZNT 25 (13. Jg. 2010) tant wie der Unglaube. Diese Einsicht führt aber nicht zum Konstruktivismus, der ein dynamisches Objekt nicht zu denken erlaubt. Wohl aber nötigt er auch dem Glauben die Bescheidenheit ab, sich als von den Schriftzeichen ermöglichte Interpretation zu verstehen, die durchaus irren kann. Dasselbe aber gilt für den Unglauben. Auch er ist das Resultat eines Interpretationsaktes, der irren kann. Die Einsicht in die Unhintergehbarkeit der Semiose sollte alle Interpretationen diskursfähig machen, um in eine gemeinsame Wahrheitssuche eintreten zu können. So würden aus unvereinbaren Standpunkten öffentlich diskutierbare Positionen jenseits aller Fundamentalismen, die immer vergessen, dass sie Ergebnisse existentieller Positionen sind, über die sie als solche gar nicht frei verfügen können. Diese semiotische Einsicht in die formale Bedingtheit jedes Zeichenprozesses als auch die der Verkündigung des Evangeliums führt theologisch nicht in die Beliebigkeit eines gleichgültigen Relativismus. Vielmehr wird damit die Arbeit der Interpretation zur Bestimmung der eigenen Position von der rein theoretischen in die existentielle Dimension überführt. Dies soll nun abschließend am Zusammenhang von Jesus-Christus-Geschichte und der Feier des Abendmahls exemplarisch aufgezeigt werden. 5. Das Wirken des Geistes der Jesus- Christus-Geschichte im Abendmahl Das Wort vom Kreuz erzählt zunächst einmal die Geschichte eines Verrats und eines Justizmordes, an dem die höchsten einheimischen und römischen Amtsträger in Judäa und damit zwei verschiedene Rechtssysteme beteiligt sind. Daran erinnert die Angabe: »in der Nacht, da er verraten ward« (vgl. 1Kor, 11,23b). Das Wort vom Kreuz aber behauptet eine wunderbare Wende. Gott holt Jesus, das Opfer menschlicher Gewalt, aus dem Tod hinein in sein eigenes göttliches Leben. Gott identifiziert sich mit dem Gekreuzigten und lässt sich dadurch am Kreuz finden. Die Bedeutung des Kreuzes wird damit umcodiert von einem Tod bringenden Marterpfahl zu einem Ort der ewiges Leben eröffnenden Gottesbegegnung. Gott schreibt sich in die Geschichte des Gekreuzigten ein und erklärt damit vom Ort des Kreuzes aus den Lebensweg und die Verkündigung des Gekreuzigten zu seiner Sache. Mit der Identifikation Gottes mit dem Gekreuzigten und der Auferweckung des Gekreuzigten in das göttliche Leben wird das Kreuzesgeschehen zum eschatologischen Heilsereignis, das die Macht der Sünde endgültig bricht. Nicht die Macht der Sünde über ihr am Kreuz hingerichtetes Opfer behält das letzte Wort, sondern das Wort vom Kreuz als das Wort des sich liebevoll mit dem Opfer identifizierenden, neues, ewiges Leben schenkenden und damit in sein Recht setzenden Gottes. Zum eschatologischen und kosmologischen Heilsgeschehen wird das Wort vom Kreuz über Gottes barmherziges Angebot der Teilhabe an der Jesus-Christus-Geschichte an alle, die sich durch den liebevollen Geist der Jesus-Christus-Geschichte mit diesem Opfer menschlicher Gewalt identifizieren und damit die Verkündigung Jesu, seinen Tod und sein Leben zu ihrer eigenen Sache werden lassen. Damit vertrauen sie darauf, dass Gottes gerechte und barmherzige Schöpfermacht und nicht die gnadenlose und erbarmungslose Macht der Sünde Recht behält. Taufe und Abendmahl sind zwei Weisen, in denen die angebotene Teilhabe erfahren und ergriffen werden kann. Keine organisatorische Form oder Reform der Kirche - so notwendig sie auch sein mögen -, sondern das biblisch bezeugte Wort Gottes und diese beiden Sakramente bilden nach protestantischem Verständnis die Grundlage, aus der die Kirche lebt. 7 Das Abendmahl bietet die leibhaftig erinnernde Teilhabe an der Jesus-Christus-Geschichte an. 8 Die Feier des Abendmahls verkündet erinnernd erzählend den Tod des auferweckten Gekreuzigten. In 1Kor 11,26 lesen wir: »Denn sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt.« Diese Erinnerung einverleibt durch den Genuss von Brot und Wein die Jesus-Christus-Geschichte derart, dass sie zur eigenen Geschichte wird. In 1Kor 10,16 schreibt Paulus: »Der gesegnete Kelch, den wir segnen, ist der nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi? Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi? « Wie Gott sich mit dem Opfer von Macht und Gewalt identifizierte und damit seine Sache zur eigenen Sache erklärte, so ergreift der liebevolle und kreative Geist der Jesus-Christus-Geschichte die am Abendmahl Teilnehmenden und lässt das Geschick des Opfers Jesu zur eigenen Erfahrung werden. Jesus stirbt nicht in zweckmäßiger opfertheologischer Logik stellvertretend den Tod für die schuldig gewordenen Menschen, sondern jeder einzelne selbst, der das Abendmahl feiert, erfährt Anteil am Tod des Opfers Jesu von Nazareth. Die durch den Geist der Jesus-Christus-Geschichte konstituierte solidarische Gemeinschaft mit dem Opfer Jesu von Nazareth führt in die Solidarität mit allen Opfern von Unrecht und Gewalt. 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 92 Stefan Alkier Vom Geist der Schrift oder: Von der heilsamen Kraft des Unverfügbaren ZNT 25 (13. Jg. 2010) 93 Die politische Botschaft des Abendmahls besteht in dem Appell, sich in diese Solidarität mit den Opfern hineingeben zu lassen. Der Gekreuzigte ist Opfer einer Unrechtstat, die von Individuen und Institutionen, von innen und außen gemeinsam begangen wurde. Die politische Botschaft des Abendmahls erinnert den Tod des Gekreuzigten als Metonymie von Unrecht und Gewalt, in die alle, auch die Abendmahlsgäste mit Leib und Seele verstrickt sind, und sie verpflichtet die am Tisch des Kyrios Teilnehmenden, sich jetzt und im Alltag des Lebens auf die Seite der Opfer zu stellen und deshalb in allen Lebensentscheidungen und politischen Optionen den Anderen als gleichermaßen geliebtes Geschöpf Gottes so in den Blick zu nehmen, dass er bzw. sie nicht zu einem Opfer menschlicher Gewalt und politischer Machtstrukturen wird. Diese ethische Handlungsmaxime des Abendmahls gründet in der Hoffnung auf den Gott, der alles aus dem Nichts schafft und neu schaffen wird. Sie gründet auf dem liebevollen Schöpfer allen Lebens, der die Toten erwecken wird und den Gekreuzigten bereits auferweckt hat (vgl. Röm 4,17). Sie hofft darauf, dass der barmherzige und gerechte Gott den gekreuzigten Jesus nicht als singulären Ausnahmefall in sein göttliches Leben hinein auferweckt hat, ihm einen neuen Leib geschaffen hat, der nicht mehr aus Fleisch und Blut besteht (vgl. 1Kor 15). Sie hofft vielmehr darauf, dass mit dieser bereits geschehenen Auferweckung erst der Anfang der Neuen Schöpfung Gottes gemacht ist, mit der Gott sein Recht und seine Gerechtigkeit universal, die ganze Schöpfung durchdringend durchsetzt. Sie hofft nicht auf eine bloße Wiederbelebung der Toten und der damit gegebenen Fortsetzung des status quo. Sie hofft auf eine neue Welt, in der Gottes unbedingte Liebe unbeschränkt wirkt und dadurch Frieden und Gerechtigkeit für alle gelten. Wenn die politische Botschaft des Abendmahls nicht in diese universale eschatologische Hoffnung eingebunden bleibt, verkommt sie entweder zum sonntäglichen Lippenbekenntnis oder zum moralischen Aktivismus der Selbstgerechten oder zur unheilvollen Leidensbereitschaft, die sich am eigenen Leiden ergötzt. Ohne die Theologie der Auferweckung bleibt das Kreuz stumm und macht stumm (I. Dalferth). Ohne die Theologie der Auferweckung feiert die Abendmahlsgemeinschaft nicht das Hereinbrechen des Reiches Gottes, sondern sie richtet sich auf Dauer in der Hölle der eigenen Selbstgerechtigkeit oder des eigenen Selbstmitleides ein. Feiert sie aber das Abendmahl im biblischen Wissen um die leibhaftige Gemeinschaft mit dem auferweckten Gekreuzigten, so steht die Abendmahlsgemeinde in der geistgewirkten Kontinuität des letzten Mahles Jesu und seiner Jünger und wird dadurch zum Ereignis des Reiches Gottes. Das so gefeierte Abendmahl praktiziert die Gerechtigkeit, die im Reich Gottes gilt. Jeder bekommt soviel, wie er zum Leben braucht. Es gibt keine Hierarchie mehr zwischen Armen und Reichen, zwischen Frauen und Männern, zwischen Managern und Empfängern von Arbeitslosengeld II, zwischen Amtsträgern und Laien. Dieses Erleben der Gemeinschaft der von Gott zu seinem Tisch Eingeladenen wird auch im Alltag Wirkung zeigen und dieser Satz lässt sich auch umkehren. Nur wenn dieses Erleben im Alltag Wirkung zeitigt, wurde das Abendmahl würdig gefeiert. Wer durch den liebevollen und kreativen Geist der Jesus-Christus- Geschichte im Abendmahl den Tod des Opfers Jesus am eigenen Leib erfährt und durch das Kauen und Schlucken Brot und Wein als Teilhabe am Leib Christi schmeckt und einverleibt, spürt die Kraft neuen, vom gerechten und barmherzigen Gott geschenkten Lebens in sich. Wer in diesem verdichteten Kultgeschehen die Macht der Sünde und die größere Macht der liebevollen Kreativität Gottes erlebt, geht aufmerksam und kritisch nach Innen und Außen in den politischen und privaten Alltag, gestärkt durch die am eigenen Leib erfahrene Gemeinschaft mit dem auferweckten Gekreuzigten. Das Abendmahl lädt dazu ein, dem liebevollen und kreativen Geist der Jesus-Christus-Geschichte zu begegnen. Dass dieser heilsame Geist auf den Geist der Teilnehmer einwirkt, kann nicht gemacht werden. Wer die Welt und sich selbst mit den Augen dieser Geschichte sehen kann, sich von ihr betroffen weiß, lässt sich in das Leben werfen und findet Mut, Stellung zu beziehen. Denn der Geist der Jesus-Christus- Geschichte macht gewiss: Gott hat in seiner barmherzigen Weisheit den ungerechten Tod Jesu Christi am Kreuz zum Heil für seine ganze Schöpfung gewendet. Anmerkungen 1 Fr. Schlegel, Philosophie der Philologie, 51 2 Vgl. dazu St. Alkier, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus. Ein Beitrag zu einem Wunderverständnis jenseits von Entmythologisierung und Rehistorisierung, WUNT 134, Tübingen 2001, 74-79. »Die politische Botschaft des Abendmahls besteht in dem Appell, sich in diese Solidarität mit den Opfern hineingeben zu lassen.« 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 93 Hermeneutik und Vermittlung 94 ZNT 25 (13. Jg. 2010) 3 U. Volli, Semiotik. Eine Einführung in ihre Grundbegriffe, UTB 2318, Tübingen/ Basel 2002, 79. 4 J. Petöfi, Explikative Interpretation. Explikatives Wissen, ined. Ders./ T. Olivi (Hgg.): Von der verbalen Konstitution zur symbolischen Bedeutung - From verbal constitution to symbolic meaning. Papiere zur Textlinguistik 62, Hamburg 1988, 184 - 195: 184. 5 G.W.Fr. Hegel, Phänomenologie des Geistes (stw 8) Frankfurt am Main 1973, 8. 6 Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften Bd. 7, Stuttgart 1992, 150f. 7 Vgl. CA 7. 8 Eine gleichermaßen theologisch komplexe wie verständliche Darstellung des Abendmahls bietet Michael Welker, Was geht vor beim Abendmahl, Gütersloh 3 2005. Diese Studie gehört zur Grundlagenliteratur evangelischer Theologie. Obwohl diese grundlegende Studie bereits 1999 erschien, hat Jörns sie offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen. Sie fehlt im Literaturverzeichnis seines in erster Auflage 2004 erschienenen Buches „Notwendige Abschiede“. Neues Testament aktuell: Ute Eisen, Darstellung gängiger Bibelübersetzungen Zum Thema: Günter Röhser, Kriterien einer guten Bibelübersetzung Francesca Yardenit Albertini; Stefan Alkier; Ömer Özsoy, Gott hat gesprochen - aber zu wem? Das Forschungsprojekt „Hermeneutik, Ethik und Kritik Heiliger Schriften in Judentum, Christentum und Islam“ Charlotte Methuen, Die Lutherbibel, Zur Geschichte und Theologie einer Übersetzung Kontroverse: Verlangen die Schriften des Neuen Testaments danach, den Kanon des Alten Testaments an der LXX auszurichten? Stefan Schorch vs. Adrian Schenker Hermeneutik und Vermittlung: Stefan Alkier, Ethik der Übersetzung Buchreport: I. Dalferth / J. Schröter (Hgg.), Bibel in gerechter Sprache? Kritik eines misslungenen Versuchs, Tübingen 2007 (rez. v. Marco Frenschkowski) Vorschau auf Heft 26 Themenheft: »Bibelübersetzungen« Lesetipp: Dagmar Fenner Einführung in die Angewandte Ethik UTB M 2010, ca. 450 Seiten, €[D] 24,90/ SFr 44,00 ISBN 978-3-8252-3364-8 Dieser Band führt in die Grundlagen und Methoden der Angewandten Ethik ein. Er zeigt auf, wie ethische Normen und Prinzipien auf konkrete menschliche Handlungsweisen angewendet werden können,und bietet einen Überblick über die wichtigsten Bereichsethiken: Medizinethik, Naturethik,Wissenschaftsethik, Technikethik, Wirtschaftsethik und Medienethik. Zahlreiche Beispiele aus der Alltagspraxis, zahlreiche Abbildungen und eine unkomplizierte Sprache erleichtern den Zugang. 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 94 ZNT 25 (13. Jg. 2010) 95 Buchreport Kurt Erlemann Unfassbar? Der Heilige Geist im Neuen Testament Neukirchener Verlag: Neukirchen-Vluyn 2010 Paperback 211 Seiten ISBN: 978-3-7887-2426-9 Preis: 16,90 € Schon eine ganze Weile hat man auf eine deutschsprachige Gesamtdarstellung zum Thema Geist im Neuen Testament warten müssen, nun liegt sie vor - und alleine die schlichte Präsenz des Buches ist sehr begrüßenswert, denn sie schließt eine seit Jahren vorhandene Lücke im Bereich neutestamentlicher monographischer Literatur. Auf gut 200 Seiten führt der Neutestamentler Kurt Erlemann in die Rede vom Heiligen Geist ein, wobei der Fokus der Untersuchung auf den Wirkungen des Geistes liegt, die durch die exegetische Arbeit an den Texten zu erheben sei. Ziel des vorliegenden Buches ist es, »ein buntes Kaleidoskop von Geistwirkungen, aber auch von Vorstellungen und Konzepten über den Heiligen Geist« (S. 3) sichtbar zu machen, die als textualisierte Momentaufnahmen die Vielfalt der Entwicklung von Geistvorstellungen bezeugen. Das Buch ist didaktisch ansprechend aufgebaut: Es besteht aus 14 Kapiteln, an deren Ende jeweils die wichtigsten Ergebnisse noch einmal zusammengefasst sind und diverse Anfragen, die sich nach Auskunft des Verfassers durch die Diskussion mit Studierenden der Evangelischen Theologie in Wuppertal maßgeblich ergeben haben, beispielsweise »Ist der Geist eine Person? « (S. 23) oder »Worin zeigt sich heute inspirierte Rede? « (S. 135), runden zahlreiche Kapitel ab und geben dem Buch einen lebensweltlich orientierten Zuschnitt. Im Anhang findet sich neben einem Schlagwortverzeichnis auch eine Liste erklärter theologischer Fachbegriffe sowie eine Auswahl außerbiblischer Texte, die für die Geistthematik relevant sind, und eine - wenn auch äußerst knapp gehaltene - Liste mit Literatur zum Weiterlesen. Angesichts der oben genannten Zielsetzung des Buches mag es auf den ersten Blick verwundern, wenn der Verfasser nun nicht einen Aufbau wählt, der das erwähnte bunte Kaleidoskop der Geistwirkungen anhand der einzelnen Schriften des Neuen Testaments entfaltet, sondern in gleichsam theologischphänomenologischer Zuspitzung seine Kapitel anordnet und erst in Kapitel 13, wenn auch dem längsten Kapitel des Buches, unter der Überschrift »Viele Schriften - viele Geistvorstellungen« auf die unterschiedlichen Geistkonzeptionen zu sprechen kommt (S. 155-182). Die Kapitel 1-12 weisen demgegenüber einen deutlich thematischen Zugriff auf. Nach dem einleitenden Kapitel erfolgt in Kapitel 2 unter der Überschrift »Der Geist, die Geister und der Mensch« (S. 6-25) eine ausführliche Begriffsklärung sowie die Hinführung zu der für die Bibel grundlegenden Unterscheidung zwischen dem Leben schaffenden Geist und dem Leben bedrohenden Geist. Erlemann arbeitet heraus, dass die Fähigkeit der Unterscheidung zwischen Geist und Ungeist in der Bibel als ausgezeichnete Weise der Geistes-Gegenwart gelten kann, denn von »den Menschen aus überwindet der Geist Gottes die widergöttlichen Mächte« (S. 23). In Kapitel 3 unter der Überschrift »Der Geist und Israel« (S. 26-39) arbeitet der Verfasser die in der neutestamentlichen Forschung größtenteils geteilte Grundeinsicht heraus, dass die Rede vom Geist im Neuen Testament entscheidend von der alttestamentlich-frühjüdischen Tradition geprägt wurde. Der große alttestamentliche Bogen vom Geist als Schöpferkraft, über die exklusive Geist- Begabung ausgewählter Individuen bis hin zum Geist als gestalterische Kraft der Endzeit, auf der die eschatologischen Hoffnungen Israels ruhen, seien die Traditionsstränge, an die »das Neue Testament mit seiner Christologie und seinen Geistvorstellungen« anknüpft (S. 37). Die in Kapitel 4 unter der Überschrift »Der Geist und der Sohn« herausgearbeitete Geistbegabung Jesu von Nazareth, dem »Geistträger par excellence« (S. 40), stellt deshalb heraus, dass das Charisma Jesu, als die erfahrbare Seite des Geistes, vor dem Hintergrund der Messiastraditionen Israels zu verstehen sei. Doch nicht nur die Wirkungen des Geistes sind an Jesus »urbildlich ablesbar, sondern der Heilige Geist bezeugt umgekehrt auch die Identität und Vollmacht Jesu« (S. 47), was so zu verstehen sei, dass Jesus im Rahmen seiner messianischen Rolle »den Geist der Sanftmut und Gerechtigkeit bis zur letzten Konsequenz« lebt und »damit authentisch seine göttliche Vollmacht« (S. 49) ausweist. Danach werden in theologisch-phänomenologischem Zugriff Facetten neutestamentlicher Geistvorstellung aufgearbeitet: der Geist und das Leben (Kapitel 5), der Geist und die (Gottes-)Erkenntnis (Kapitel 6), der Geist und die Wahrheit (Kapitel 7), der Geist und das Böse (Kapitel 8), der Geist und das ethische Verhalten (Kapitel 9), der Geist und die Gemeinde (Kapitel 10), der Geist und die Verbreitung des Evangeliums (Kapitel 11) sowie der Geist und die Erlösung (Kapitel 12). Seinen sachlichen Grund hat dieser Zugriff in einer vom Autor präferierten theologischen Grammatik, deren Grundüberzeugung es ist, dass der »Heilige Geist […] in der neutestamentlichen Theologie seine fest umrissene und begrenzte Funktion« (S. 195) habe, die sowohl den Sinn als auch die Verbindlichkeit der Rede vom Geist garantiere. Durch dieses Sprachspiel, in das Erlemann die Rede vom Geist hineingestellt sieht, grenzt er sich einerseits von einer Gleichsetzung der neutestamentlichen Rede vom Geist mit dem exzessiv in der Gegenwart kursierenden Begriff Spiritualität ab, wendet 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 95 96 ZNT 25 (13. Jg. 2010) sich andererseits auch gegen eine Verabsolutierung der Rede vom Geist (vgl. z.B. die Ausführungen auf S. 192f.). Das Kapitel 5 arbeitet innerhalb der theologischen Grammatik mit Blick auf den Heiligen Geist heraus, dass Geistträger - einst und heute - Lebensspender sind, denn sie sind berufen, »Gottes Leben spendende Kraft weiterzugeben, den Menschen Hoffnung zu bringen und sie zu neuem Leben zu befreien« (S. 55); Kapitel 6 zeigt im Gespräch mit den neutestamentlichen Texten auf, dass die Gotteserkenntnis »zu den ersten und wesentlichen Gaben des Heiligen Geistes« (S. 67) gehört, die das Wissen zur heilvollen Lebensgestaltung ermöglicht. In Kapitel 7 wird der Zusammenhang von Geist und Glauben sowie die Rolle des Geistes bei der Schriftauslegung näher betrachtet. Hier stellt Erlemann die disseminative Kraft des Geistes heraus, der die Wahrheit über Gott und seinen Sohn unter die Menschen bringt, »sei es durch inspirierte Propheten und Verkündiger, die den Glauben der Menschen wecken, sei es durch inspirierte Schriftauslegung« (S. 71). Innerhalb dieses medialen Prozesses werde zur Klärung zwischen guten und unguten Geistern beigetragen. Nach Erlemann ist der Heilige Geist der göttliche Protagonist, der die Sabotage des göttlichen Heilsplanes durch das Böse verhindere, denn »gegen die subtilen Wirkmechanismen des Bösen stellt Gott seinen Geist« (S. 95), wie in Kapitel 8 verdeutlicht wird. In Kapitel 9 wird demgegenüber vom Standpunkt einer »inspirierten Ethik« (S. 97) aus das Leben jenseits des Bösen dargestellt, in der das Wohl der Gemeinschaft und Gottes schalom als die Bezugsgrößen für menschliches Handeln gelten. Diese ethische Profilierung des Geistes wird in Kapitel 10 in ekklesiologischer Perspektive weiter ausgezogen, in der der Raum des Geistes als der Raum der Gemeinschaft entfaltet wird. In Kapitel 11 wird der Heilige Geist im Neuen Testament als ein Mittel der »effektiven Verkündigung« (S. 134) aufgearbeitet; welches »der Wahrheit über Gott und seinen Heilsplan in der geistlosen Welt« Gehör verschaffe. Als letzte Facette der theologisch-phänomenologischen Grammatik widmet sich Erlemann in Kapitel 12 dem Geist als Gabe der Endzeit, in der der Geist als »das bedeutendste Zeichen der nahe bevorstehenden Vollendung« dargelegt wird (S. 152). Mit Kapitel 13 rücken die divergierenden Geistkonzeptionen der neutestamentlichen Schriften in den Fokus der Betrachtung. Das, was dieses Kapitel auszeichnet, ist zweifellos, dass nicht nur die ›Klassiker‹ neutestamentlicher Pneumatologien gewürdigt werden, wie die Protopaulinen, das lukanische Doppelwerk oder die johanneischen Schriften, sondern dass der Blick auf die oft wenig bekannten Nebenschauplätze gelenkt wird. So wird der Heilige Geist im Matthäusevangelium als »die Speerspitze Gottes im Kampf gegen die widergöttlichen Mächte« (S. 161) erschlossen, der Hebräerbrief wird als Exempel gelesen, dass das Thema Geist nicht nur als charismatische Erfahrung ins Blickfeld der neutestamentlichen Autoren gerät und die Offenbarung wird verstanden als Schrift, in der das »geistgewirkte Wissen um die endzeitlichen Vorgänge« [...] »die Glaubenden auf die Spur der Nachfolge« (S. 182) setzt. In Kapitel 14 schließt sich mit einer gewissen Redundanz der Kreis, indem unter der Fragestellung »Viele Schriften - ein Geist? « die roten Fäden ausgezogen werden, die sich nach Sicht des Verfassers aus der dargelegten Grammatik des Geistes ergeben. Nicht nur, dass der Geist der Stabilisierung der Glaubenden, der Vergewisserung der Glaubensgrundlagen und der Bestärkung der christlichen Hoffnung diene, vielmehr sei der Heilige Geist »Gottes Mittel der Wahl, um sein Versöhnungs- und Erlösungswerk in der noch bestehenden Welt auf sanfte Art und Weise vorwärts zu treiben« (S. 195). Mit diesem großen Bild, welches den Bogen von den alttestamentlich-frühjüdischen bis hin zu den neutestamentlichen Geistvorstellungen spannt, hebt Erlemann das für ihn dominierende Proprium hervor: der Geist als das aktive Wohin von Gottes Geschichte mit den Menschen. In der Vielfalt der Geistvorstellungen geht es Erlemann also nicht um die Unfassbarkeit des Geistes, sondern um das substantiell Markante aller Geistkonzepte im Neuen Testament: »Mit seinem Geist gibt Gott seinen Wesenskern, der auf liebende Versöhnung mit der Welt gerichtet ist, zu erkennen« (S. 196). Man kann gewiss kritisch einräumen, dass diese substanzontologische Zuspitzung nur um den Preis gewisser Ausblendungen zu haben ist. Diese betreffen nicht nur die Ausklammerung der im Zusammenhang mit der Thematik relevanten griechisch-römischen Pneumavorstellungen, sondern auch das seltsam in der Schwebe bleibende Verhältnis eines erfahrungsgesättigten Geistbegriffs à la Gunkel zu einem theoriegesättigten Geistverständnis, wie es Horn formulierte (der leider nicht im Literaturverzeichnis mit seiner einschlägigen Monographie genannt wird) und welches bei Erlemann in Sätzen wie dem folgenden implizit mitgedacht werden muss: »In allen Phasen neutestamentlicher Theologiebildung wird mit dem Geist argumentiert, da die Unsichtbarkeit der neuen Heilswirklichkeit zu theologischen Antworten zwang, die die Unsichtbarkeit als Folge einer inneren, letztlich von Gott selbst begründeten Logik zu verstehen halfen« (S. 192). Dennoch: Es ist Erlemanns Verdienst, mit seinem Buch das Thema Geist endgültig aus seinem Appendix-Dasein innerhalb der deutschsprachigen exegetischen Literatur befreit zu haben und zu Recht zu einem zentralen Topos neutestamentlicher Theologien erhoben zu haben. Kristina Dronsch Buchreport 008010 ZNT 25 - Inhalt 30.03.2010 16: 34 Uhr Seite 96