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ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
1201
2010
1326 Dronsch Strecker Vogel
Editorial Verse deutlich, in welchem Maße gewichtige theologische Interessen - in diesem Fall: reformatorische und humanistische wider die römischen - auf die Arbeit des Übersetzens einwirken, ja, sie überhaupt veranlassen. Die Kontroverse zwischen Stefan Schorch und Adrian Schenker hat eine Grundsatzfrage von erheblicher Tragweite zum Gegenstand, die man zugespitzt so formulieren kann: Müssen wir unser »Altes Testament« durch ein ganz anderes Buch ersetzen, nämlich die griechische Bibel, eben jenes Textcorpus, auf das sich durchgängig auch die neutestamentlichen Schriften beziehen? Beide Beiträge diskutieren diese Frage mit gewichtigen philologischen Argumenten und formulieren zwei klar unterscheidbare Positionen. Den Beitrag unter der Rubrik »Hermeneutik und Vermittlung« bestreitet Stefan Alkier mit Überlegungen zu einer »Ethik der Übersetzung in den Bibelwissenschaften«. In Auseinandersetzung mit wichtigen Übersetzungskonzepten seit der Väterzeit entwickelt er interpretationsethische Grundentscheidungen, die die Extreme »Werkherrschaft des Autors« und »Willkür der Leser« vermeiden, zugleich aber beiden Seiten zu ihrem Recht verhelfen. Der Buchreport aus der Feder von Marco Frenschkowski resümiert die stellenweise überaus kontrovers geführte Debatte um die »Bibel in gerechter Sprache« von einem eigenen kritischen Standpunkt aus, gleichwohl differenziert und ausgewogen urteilend. Bemerkenswert ist sein Plädoyer, bei aller Kritik auch Freundlichkeit walten zu lassen. Im Haus der Sprache gibt es viele Wohnungen. Streit gibt es in vielen von ihnen, Stillstand aber in keiner, am wenigsten dort, wo Menschen miteinander an der Übersetzung der Bibel arbeiten. In diesem Sinne hoffen wir, liebe Leserin und lieber Leser, dass Sie die Lektüre dieses Heftes in Bewegung versetzt. Stefan Alkier Eckart Reinmuth Manuel Vogel Liebe Leserin, lieber Leser, so manche Lebenskrise stellt sich ein, wenn das lang ersehnte, mit Hingabe geplante und teuer finanzierte Einfamilienhaus endlich fertig ist. Ist erst die letzte Diele verlegt, die letzte Wand verputzt und auch der Rasen im kleinen Garten makellos dicht und grün, kann ein mulmiges Gefühl des Stillstands aufkommen. Soll’s das jetzt gewesen sein? Die dagegen »im Haus der Sprache wohnen« (Karl Kraus), bewohnen ihr Leben lang eine Baustelle, arbeiten an etwas, das niemals fertig wird. Das gilt erst recht für die zahlreichen Bibelübersetzungen, die im Laufe der Jahrhunderte in Angriff genommen wurden. Sprache hält in Bewegung, die Sprache der Bibel zumal. Die Beiträge dieses 26. Heftes der ZNT zeigen auf je eigene Weise, dass das Übersetzen der Bibel zu allen Zeiten ein mühsames, anfechtbares, niemals endgültiges und deshalb auch niemals endendes Unternehmen war und ist. In der Rubrik »Neues Testament aktuell« vermittelt Ute Eisen in einem weit gespannten Bogen von vorreformatorischen Teilübersetzungen bis hin zur »Bibel in gerechter Sprache« einen lebendigen Endruck »[v]om schwierigen und unendlichen Geschäft des Bibelübersetzens«. Günter Röhser ergänzt die historische Perspektive im ersten Beitrag der Rubrik »Zum Thema« um fundierte Überlegungen zu Theorie und Methode des Übersetzens und erarbeitet nachvollziehbar und begründet »Kriterien einer guten Bibelübersetzung«, die die Fremdheit des Ausgangstextes ebenso berücksichtigen wie die geforderte Verständlichkeit der Übersetzung. Nicht um Verständlichkeit, sondern um Verständigung geht es Francesca Albertini, Stefan Alkier und Ömer Özsoy in ihrem gemeinsamen Projekt »Hermeneutik, Ethik und Kritik Heiliger Schriften in Judentum, Christentum und Islam«. Es zeigt sich, dass die hermeneutischen Probleme der Bibelübersetzung analog auch dort anstehen, wo nicht zwischen Ausgangs- und Zieltext, sondern zwischen dem gültigen Wort Gottes und der Perspektivität menschlicher Sprache innerhalb der je verschiedenen Kommunikationszusammenhänge der drei monotheistischen Religionen zu vermitteln ist. Charlotte Methuen befasst sich mit der Entstehungsgeschichte der Luther-Übersetzung, beleuchtet die historischen Hintergründe und macht anhand ausgewählter ZNT 26 (13. Jg. 2010) 1 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 1 2 ZNT 26 (13. Jg. 2010) In eigener Sache Auch in diesem Heft haben wir personelle Veränderungen anzuzeigen. Herr Dr. Volker Lehnert ist aus dem erweiterten Herausgeberkreis ausgeschieden, ebenso Frau Dr. Kristina Dronsch, anders als noch im letzten Heft angekündigt. Beiden verdankt die ZNT wichtige Impulse, Kristina Dronsch außerdem die über Jahre hinweg außerordentlich zuverlässig und kompetent geleistete Redaktionsarbeit. An ihre Stelle ist Herr Sebastian Kropp getreten, der bereits Heft 25 umsichtig auf den Weg gebracht hat. Ihn heißen wir an dieser Stelle im Redaktionsteam herzlich willkommen. Die Herausgeberinnen und Herausgeber hoffen außerdem, dass Herr Dr. Lehnert und Frau Dr. Dronsch der ZNT auch aus der Ferne, die bei beiden berufliche Gründe hat, wohlwollend verbunden bleiben. Mit Heft 26 ist Herr Prof. Dr. Eckart Reinmuth in den Kreis der Hauptherausgeber gewechselt. Für seine Bereitschaft, diese Aufgabe zu übernehmen, sei ihm an dieser Stelle herzlich gedankt. mit Beiträgen von Matthias Klinghardt, Eckart Reinmuth, Barbara Schiffer, Markus Sehlmeyer, Christian Strecker, François Vouga und Annette Weissenrieder Vorschau auf Heft 27 Themenheft: »Religion und Körper« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 2 Seit langem hat eine neue Bibelübersetzung ins Deutsche nicht mehr einen solchen Wirbel ausgelöst wie die »Bibel in gerechter Sprache«, als sie im Herbst 2006 auf dem deutschsprachigen Markt erschien. Neben begeisterter Anerkennung erhob sich ein Aufschrei, der in Ulrich Wilckens Worten von der »tiefen Häresie«, die »diese Bibelübersetzung als Ganze durchzieht«, gipfelte. 1 Es floss viel Tinte heftigster Polemik, die Verhängung von Anathemen feierte Urstand. Nach langer Abstinenz war die lustvolle Scheidung von Rechtgläubigkeit und Häresie wieder auf den Tisch des Hauses der Theologie gekommen, wie wir sie aus der Geschichte der Kirchen so gut kennen. Mittlerweile hat sich die Aufregung gelegt, der Dunst der verbalen Scheiterhaufen ist verraucht. Solche heftigen Reaktionen gehören wohl zu einschneidenden Neuübersetzungen der Bibel, das zeigt ebenfalls die Geschichte. Martin Leutzsch, einer der Übersetzer und Herausgeber der BigS, hat einen eindrücklichen Beitrag zum Thema »Bibelübersetzung als Skandal und Verbrechen« veröffentlicht - noch bevor die BigS erschienen war. 2 Im Folgenden werde ich 1.) Meilensteine der Geschichte der Bibelübersetzung (= BÜ) ins Deutsche und ihre aktuellen Revisionen und 2.) Neuübersetzungen der Bibel vorstellen, um 3.) ausgewählte Übersetzungsentscheidungen im Vergleich zu betrachten. Angesichts des begrenzten Raumes des vorliegenden Beitrags können nur die wichtigsten aktuellen Revisionen und Neuübersetzungen der ganzen Bibel in den Blick treten. 3 Der Blick in die Geschichte der BÜ zeigt, dass sich die Probleme und Konstellationen über die Zeiten nicht so sehr verändert haben. 1. Meilensteine der Geschichte der deutschen Bibelübersetzung - und ihre Revisionen Martin Luther war nicht der Erste, der die Bibel ins Deutsche übersetzte. Die erste Übersetzung (= Ü) der Bibel in eine germanische Sprache erfolgte im 4. Jh. durch Wulfila in Form seiner Gotischen Bibel, für die er die gotische Schrift entworfen hatte. Wulfilas Ü stellt somit das älteste schriftliche Zeugnis einer germanischen Sprache dar. 4 Die BÜ ins Deutsche setzte im 8. Jh. mit der Literarisierung eben dieser Sprache ein. Sie war ebenso wie andere Ü dem Problem missionierender ChristInnen erwachsen, die Botschaft der Bibel zu vermitteln. Zunächst wurden aber nur Einzeltexte oder Teile der Bibel übersetzt, erst im 14. Jh. entstand eine vollständige Ü des NT. Deutschsprachige Vollbibeln sind seit dem 15. Jh. anzutreffen und schon am Ende des 15. Jh.s lagen so viele Ausgaben deutscher BÜ vor, dass alle, die des Lesens kundig waren, ihre Bibel in deutscher Sprache lesen konnten. 5 Die Lutherübersetzung von 1522/ 1534 bis 1984 Was war dann aber das Neue an Luthers Übersetzung der Bibel? Es war vor allem die Tatsache, dass sie zum Bestseller wurde. Im September 1522 erschien Luthers Septembertestament, seine erste Ü des NT ohne Nennung von Übersetzer und Drucker, dem schon im Dezember eine zweite Auflage, das sog. Dezembertestament, folgte. Bis im Jahr 1534 erstmals die Gesamtübersetzung der Bibel, die Luther zusammen mit Philipp Melanchthon und anderen erarbeitet hatte, im Druck erschien, waren bereits 106 Ausgaben des NT verlegt worden. Beim Tod Luthers 1546 könnte bei kühnen Schätzungen jeder zweite, bei vorsichtigen Schätzungen jeder fünfte deutsche Haushalt Luthers Ü besessen haben. 6 Wieso aber war Luthers Ü so erfolgreich? Wieso ist sie so erfolgreich bis heute? Ein Hauptgrund des Erfolges ist sicher die herausragende sprachliche Leistung, die sich auch den übersetzungstheoretischen Entscheidungen verdankt. Schon 1530 legte Luther in seinem Sendbrief vom Dolmetschen öffentlich Rechenschaft über die Übersetzungsmethoden ab, die ihn und seine Mitarbeiter geleitet hatten. Zwei Aspekte aus Luthers kämpferisch geschriebenem Sendbrief scheinen mir von besonderer und bleibender Bedeutung: Das ist zunächst Luthers Orientierung an der Zielsprache. Er bekannte sich zum Grundsatz, dass die Erschließung des Neuest Testament aktuell Ute E. Eisen »Quasi dasselbe? « Vom schwierigen und unendlichen Geschäft des Bibelübersetzens - Neuere deutsche Bibelübersetzungen ZNT 26 (13. Jg. 2010) 3 »Beim Tod Luthers 1546 könnte bei kühnen Schätzungen jeder zweite, bei vorsichtigen Schätzungen jeder fünfte deutsche Haushalt Luthers Ü besessen haben.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 3 Neues Testament aktuell 4 ZNT 26 (13. Jg. 2010) Textsinns wichtiger als jede ›Wörtlichkeit‹ sei. Luther schrieb: »Ich habe deutsch, nicht lateinisch noch griechisch reden wollen, als ich deutsch zu reden beim Dolmetschen mir vorgenommen hatte«. Er präzisierte dies, indem er sich an der mündlichen deutschen Rede, d.h. an dem für seine Zeit aktuellen Idiom der Umgangssprache orientierte. So schreibt er im Sendbrief: »Man muss die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gasse, den Mann auf dem Markt darum fragen, und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden, und danach übersetzen, so verstehen sie es denn, und merken, daß man deutsch mit ihnen redet.« 7 Luther wollte den einfachen Menschen die Bibel nahebringen, Frauen und Männern, Jungen und Mädchen, womit er einen modernen Grundsatz aktueller BÜ vorwegnahm: die Zielsprachenorientierung. Ein weiterer Grundsatz tritt hinzu: Bibel übersetzen bedeutet für Luther immer auch in gewisser Weise interpretieren. Mit Luthers Ü waren eine Fülle theologischer Entscheidungen verbunden, die Luther offensiv offenlegte. Dies geschah auf vielfältige Weise, am explizitesten in Form von - modern gesprochen -: Paratexten. Nach Gérard Genette sind das solche Texte, die Kommentare zum eigentlichen Text bieten und die Lektüre steuern. 8 Luther entschied sich für Vorreden zu den beiden Testamenten und jeweils den einzelnen biblischen Büchern, Parallelstellenangaben im Innenrand, Kernstellenmarkierungen, Randglossen und Illustrationen, die zusammen genommen die BÜ kommentierten und seine theologischen Entscheidungen transparent machten. Auch in seinem Sendbrief zum Dolmetschen legte er seine theologischen Entscheidungen offen. Er verteidigte sie vor allem gegen die »Papisten«, wie er seine Gegner nennt, von denen er heftig attackiert worden war, weil er in Röm 3,28 ein »sola« (»allein«) eingefügt hatte, welches sich bei Paulus nicht findet. Ausführlich begründete er diese und andere Übersetzungsentscheidungen. Seine Botschaft, »allein der Glaube macht gerecht […] allein der Glaube ohne Werke macht fromm«, ist seine ›befreiungstheologische‹ Botschaft für den theologiegeschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext, in dem er lebte. 9 Luther übersetzte aus hebräischen und griechischen Vorlagen, er wollte nicht unkritisch der Vulgata folgen, die selbst schon eine Ü ins Lateinische war. Luther schuf dabei einen für das Christentum neuen Schriftenkanon. Während sich die Vulgata am Kanon der Septuaginta orientierte, folgte Luther im AT der Hebräischen Bibel (= HB). Die zusätzlichen Schriften, die sich nur in der Septuaginta finden, fügte Luther hinter dem Propheten Maleachi unter der Überschrift an: »Apokrypha: Das sind Bücher so der heiligen Schrift nicht gleich gehalten und doch nützlich und gut zu lesen sind«. Im NT hat Luther zwei seiner Ansicht nach theologisch fragwürdige Schriften, nämlich den Hebräer- und den Jakobusbrief, nach hinten gerückt. Dem AT-Kanon Luthers sind die BÜ, die in der Tradition der Reformationszeit stehen, gefolgt, nicht aber seinem NT-Kanon. Luther arbeitete ständig an seiner Ü weiter. Kurz vor seinem Tod erschien 1545 die »Ausgabe letzter Hand«. Erst Mitte des 19. Jh.s, als ungefähr 11 verschiedene bearbeitete Fassungen dieser Ausgabe kursierten, wurde 1863 von der Eisenacher Kirchenkonferenz eine Revision beschlossen. 10 Hauptziele der Revisionsarbeit waren unter Wahrung der typischen Lutherdiktion die Anpassung an den aktuellen Sprachgebrauch sowie die Korrektur von Übersetzungs- und Druckfehlern. Diese Revisionsarbeit fand nach einem über hundertjährigen wechselvollen Prozess ihren Abschluss in der noch heute aktuellen Fassung von 1984. Wichtige Zwischenergebnisse waren die Revisionsfassungen von 1892 und 1912. Die Fassung des Neuen Testaments von 1975, das sog. NT 75, wurde auf verschiedenen Ebenen als zu modern, ja als ›Irrweg‹ zurückgewiesen und es erfolgte eine Rückrevision. Die Zürcher Bibelübersetzung von 1531 bis 2007 Vielfach unbekannt ist, dass 1531 die »Zürcher Bibel« (= ZB 1531) als »erste vollständige deutsche BÜ der Reformationszeit« noch vor der Lutherbibel erschien. Zwingli hatte sie im Rahmen einer theologischen Lehrveranstaltung mit Pfarrern, Prädikanten, Chorherren und Schülern, angeregt durch Luthers Ü, aufgrund hebräischer und griechischer Vorlagen sowie der Vulgata und der schon vorhandenen Lutherübersetzungen angefertigt. Die Zürcher Reformation verstand sich ganz besonders als »Übersetzungsbewegung« und schon Zwinglis Grundsatz war es, dass eine solche Ü kein einmaliger Vorgang sei, sondern eine »klarere Interpretation« immer neu gefunden werden müsse. Daher ist die ZB 1531 auch öfter und konsequenter revidiert worden als die Luther- »Die Zürcher Reformation verstand sich ganz besonders als ›Übersetzungsbewegung‹ und schon Zwinglis Grundsatz war es, dass eine solche Ü kein einmaliger Vorgang sei, sondern eine ›klarere Interpretation‹ immer neu gefunden werden müsse.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 4 Ute E. Eisen »Quasi dasselbe? « übersetzung. Die vorletzte Revision der Jahre 1907-1931 (= ZB 1931) legte besonderen Wert auf die Abgleichung der Ü mit den wissenschaftlichen Textausgaben sowie die exaktere Wiedergabe des Sinns. Die aktuelle Revision der ZB (= ZB 2007) erschien 2007 nach einer über zwanzigjährigen Revisionsarbeit ohne Spätschriften, die in 3 Jahren folgen sollen. Die Revision war von der Synode der Zürcher Landeskirche beschlossen worden und sollte vor allem auch unter Berücksichtigung neuer Erkenntnisse der Bibel-, der Geschichts- und der Sprachwissenschaften eine Ü in eine gehobene deutsche Sprache anstreben unter größter Nähe zu den hebräischen, aramäischen und griechischen Ausgangstexten in ihren aktuellsten wissenschaftlichen Textausgaben. 11 Doch sollte nicht zugunsten größerer Wörtlichkeit auf sprachliche Schönheit verzichtet werden. So heißt es z.B. »Selig die Armen im Geist - Ihnen gehört das Himmelreich« (Mt 5,3), obwohl im griechischen Text estin (»ist«) steht. Aufs Ganze gesehen, gelingt eine literarisch schöne BÜ. Ausdrücklich sollte auch die kulturelle Differenz zwischen der Welt der Entstehung der Bibel und der heutigen nicht eingeebnet werden. Die Fremdheit des Bibeltextes sollte gewahrt bleiben und nicht einer Näherbestimmung unterzogen werden, die zwar möglich wäre, aber das Sinnpotential auch zugleich reduzieren würde. In diesem Zusammenhang werden auch besondere Härten von Aussagen nicht gemildert, etwa wenn es in Lev 23,29 heißt, wer gegen das Fastengebot verstößt, wird nicht nur »verstoßen«, er wird aus der Gemeinschaft »getilgt«. Typographisch hervorgehoben werden im Bibeltext poetische Texte wie Psalmen und Seligpreisungen. Die eigene, zumeist zweiteilige Struktur poetischer hebräischer Texte, der Parallelismus Membrorum, wird durch Einrückung des zweiten Teils einer Sinneinheit sichtbar gemacht. Im NT werden die alttestamentlichen Zitate kursiviert, wobei ausschließlich in der Leseanleitung am Ende der Bibel, nicht aber bei der Verweisangabe, darauf hingewiesen wird, dass sie vielfach aus der Septuaginta stammen und daher auch nicht immer mit der Ü des AT der ZB 2007 übereinstimmen. Paratexte sind der ZB 2007 umfänglich beigefügt: Jedem biblischen Buch wird eine knappe bibelwissenschaftliche Einleitung vorangestellt. In Anmerkungen werden Sacherklärungen zum Text, Alternativübersetzungen und Abweichungen von den Lesarten der aktuellsten wissenschaftlichen Textausgaben gegeben. Am Ende der Ü findet sich ein umfangreiches, fast 150 Seiten umfassendes wissenschaftliches Glossar, Angaben zu Maßen etc., eine Zeittafel, eine Leseanleitung und farbige Karten. Im Entstehungsprozess der ZB 2007 hat es Konflikte zu den Themen Geschlechtergerechtigkeit, Antijudaismus und der Ü des Gottesnamens gegeben, die jedoch keinen Eingang in die Paratexte der Bibelausgabe gefunden haben. Als der Kirchenrat das Ergebnis der Übersetzungsarbeit von 1987-1995 in einer ersten Teilausgabe vorlegte, gab es eine große Kontroverse darüber, ob die »neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse insbesondere der feministischen Theologie« ausreichend berücksichtigt und ob »antijüdischer Missbrauch dazu geeigneter Stellen« bedacht worden sind. 12 Daraufhin wurden zwei Lesegruppen gebildet, eine bestehend aus zwei jüdischen Fachleuten und eine aus drei Frauen. Die Frauenlesegruppe, die 1998 zur Vermeidung übersetzungsbedingter Diskriminierungen eingesetzt worden war, publizierte ihre Ergebnisse und beklagte darin, dass nur wenige ihrer Vorschläge Eingang in die ZB 2007 gefunden hätten. 13 So kam auch eine Zusammenarbeit mit der Übersetzungskommission AT nicht zustande, aber 1998 wurde die katholische Alttestamentlerin und feministische Theologin Irmtraud Fischer in diese ausschließlich aus Männern bestehende Kommission berufen. Prof. Dr. Ute E. Eisen lehrt seit 2004 an der Justus- Liebig-Universität Gießen Altes Testament und Neues Testament. Sie studierte Ev. eologie in Erlangen, Berkeley/ Kalifornien und Hamburg. Von 1989-1994 war sie Wiss. Mitarbeiterin an der Universität Hamburg (Promotion 1994) und von 1994- 2002 Wiss. Assistentin an der Universität Kiel. 2003 habilitierte sie an der Universität Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Die synoptischen Evangelien und die Apostelgeschichte, Literatur- und Kulturwissenschaftliche Analyse der Bibel, Genderforschung, Geschichte des frühen Christentums, die Bibel in Bild und Film. Diverse Veröffentlichungen: http: / / www.uni-giessen.de/ cms/ fbz/ fb04/ institute/ ev_theologie/ NT/ personen/ eisen.ute Prof. Dr. Ute E. Eisen ZNT 26 (13. Jg. 2010) 5 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 5 Neues Testament aktuell 6 ZNT 26 (13. Jg. 2010) Die Übertragung des Gottesnamens mit »Herr« hatte den sog. »Zürcher Herrenstreit« ausgelöst, der Mitte der 90er Jahre öffentlich und kontrovers in Zürich debattiert wurde. Kritik war an der Wiedergabe des Tetragramms durch »Herr« in Kapitälchen geübt worden. Der lange Streit wurde 2001 durch Synodenbeschluss zugunsten der konventionellen Schreibung beendet. 14 Katholische Bibelübersetzungen von der Reformationszeit bis zur Einheitsübersetzung In der Reformationszeit entstanden als Gegenentwürfe zur Lutherbibel auch katholische BÜ ins Deutsche. 15 Die wichtigsten sind die von Hieronymus Emser (1527), Johann Dietenberger (1534) und Johannes Eck (1537). Charakteristisch für diese drei Ü war, dass sie ausgeprägt auf Luthers Ü zurückgriffen. Zugleich aber begründeten sie eine eigene Tradition katholischer BÜ ins Deutsche. Aber es mussten rund 450 Jahre vergehen, bis die erste in kirchlichem Auftrag erstellte und von den Bischöfen verantwortete Ü der ganzen Bibel im deutschsprachigen römischen Katholizismus, die »Einheitsübersetzung« (= EÜ), erschien. Seit 1978 ist sie die verbindliche BÜ für alle deutschsprachigen Diözesen. Die Arbeit der Übersetzungsgruppen, vorrangig bestehend aus Professoren des AT und NT, aber auch Sprachforschern und Schriftstellern, begann 1963. Die Ü sollte an den Erkenntnissen der Bibelwissenschaft sowie an den Regeln der deutschen Sprache orientiert sein. 16 Eine Besonderheit dieser Ü ist, dass das NT und die Psalmen zusammen mit protestantischen Exegeten übersetzt wurden, sie also eine in Teilen ökumenische Ü darstellt. Eine Frucht dieser ökumenischen Zusammenarbeit war auch die Erarbeitung der Loccumer Richtlinien zur einheitlichen Schreibung der biblischen Eigennamen, die zu einer gewissen Einheitlichkeit in der Wiedergabe von Abkürzungen und biblischen Eigennamen im deutschsprachigen Bereich geführt hat. An Paratexten bietet die EÜ neben dem Geleitwort, das auch vom Landesbischof der EKD unterzeichnet wurde, Einleitungen zu den beiden Testamenten, größeren Schrifteneinheiten sowie zu jedem biblischen Buch, fettgedruckte Zwischenüberschriften mit Parallelstellenangaben am Ende jeder Perikope, kommentierende Fußnoten und einen Anhang mit üblichen Beigaben. Alttestamentliche Zitate werden im NT kursiv gedruckt, nicht aber ggf. als Septuagintafassungen markiert. Eine Revision der EÜ wurde von den Bischofskonferenzen des deutschen Sprachraums 2005 vereinbart. 17 Die EKD erklärte am 3.8.2005 ihren Rückzug aus dem Projekt. Als Begründung wurde auf die unter dem Titel »Liturgiam authenticam« hrsg. Instruktion über den »Gebrauch der Volkssprache bei der Herausgabe der Bücher der römischen Liturgie« vom 28.3.2001 verwiesen. Diese Instruktion enthält Kriterien, die von evangelischer Seite nicht mitgetragen werden können. So widerspricht etwa Artikel 26 dem protestantischen Bibelverständnis, wenn die Ü »mit der gesunden Lehre« der römisch-katholischen Kirche übereinstimmen muss. Protestantischen Widerstand erregte auch die Einschränkung des Konsensprinzips dahingehend, dass im »Streitfall die Anwendung des Mehrheitsprinzips nicht ausgeschlossen« sei. 18 Die Elberfelder Bibelübersetzung von 1855/ 1871 bis 2006 Mitte des 19. Jh.s entstand in den Brüdergemeinden nach angelsächsischem Vorbild eine BÜ, die »Elberfelder Bibel« (= Elb). Ihr Name leitet sich von dem Ort her, an dem sie erarbeitet wurde, dem heutigen Wuppertaler Stadtteil Elberfeld. 1855 erschien das NT und 1871 die ganze Bibel. Ihre Gründerväter strebten laut dem Vorwort der ersten Ausgabe eine »möglichst treue Darstellung des Urtextes« an, die sich um größtmögliche ›Wörtlichkeit‹ bemüht, ohne größere Rücksicht auf die deutsche Sprache. Im Vorwort werden auch ausführliche Reflexionen zu den in ihrer Zeit verfügbaren griechischen neutestamentlichen Textausgaben geboten sowie eine genaue Begründung einzelner Übersetzungsentscheidungen. 1974 erschien die revidierte Fassung des NT, 1985 die des AT. Diese Revisionen legten die aktuellen wissenschaftlichen Textausgaben der Bibel zugrunde und modernisierten sprachlich, etwa indem Worte wie »Weib« ersetzt wurden. Auch wurde die Besonderheit der Elb, den Gottesnamen mit Jehova wiederzugeben, aufgegeben und durch »HERR« (in Majuskeln) ersetzt. Für die 4. bearbeitete Auflage von 1992, die als ›Bearbeitung‹ gilt, wurden Anmerkungen korrigiert und die 26. Auflage des griechischen NT zum Abgleich herangezogen. Das überrascht, da bereits seit 1986 eine 27. Auflage auf dem Markt war. Im Jahr 2006 kam eine erneute Revision heraus (= Elb 2006), die analog wie 1992 verfuhr, aber eine Angleichung an die 27. Auflage des griechischen NT ist auch hier nicht erwähnt. Damit hat die Elb 2006 den Grundsatz der Gründerväter der Elb, sich am aktuellen Stand der neutestamentlichen Textkritik zu orientieren, aufgegeben. Sie ist vor allem eine Revision des äußeren 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 6 Ute E. Eisen »Quasi dasselbe? « ZNT 26 (13. Jg. 2010) 7 Erscheinungsbildes, einmal abgesehen von der Ergänzung eines lexikalischen Anhangs, und führt erstmals im Haupttitel den Namen »Elberfelder Bibel« - nun als »Markenzeichen«. Die Elb 2006 bleibt weitgehend auf dem Forschungsstand der BÜ der 70er und 80er Jahre des 20. Jh.s und kann nicht als grundständige Revision betrachtet werden. 2. Aktuelle Neuübersetzungen der Bibel Bisher kamen drei Traditionsbibeln in den Blick, die in den letzten 30 Jahren Revisionen erfahren haben, sowie die erste verbindliche BÜ des deutschsprachigen römischen Katholizismus. Nun sollen ausgewählte aktuelle Neuübersetzungen vorgestellt werden. Die erste Septuagintaübersetzung ins Deutsche Die »Septuaginta« (= LXX) ist als griechische Ü der Schriften Israels in der Zeit zwischen dem 3. Jh. v. und dem 1. Jh. n. Chr. entstanden. Damit ist sie eine Sammlung zentraler Dokumente des jüdischen Glaubens um die Zeitenwende, die das frühe Christentum überdies maßgeblich geprägt hat. Ihre Bedeutung kann kaum unterschätzt werden, da sie vom hellenistischen Judentum, von den frühen ChristInnen sowie in der Alten Kirche intensiv rezipiert wurde. Die alttestamentlichen Zitate im griechischen NT stammen mehrheitlich aus der LXX. Bedauerlicherweise vermerken dies die wenigsten deutschen BÜ bei den entsprechenden Stellenangaben. In den orthodoxen, koptischen und äthiopischen Kirchen ist die LXX bis heute die offizielle Bibel. Sie umfasst über die Schriften der HB hinaus die sog. Spätschriften des AT, d.h. die Zusätze zu Jeremia, Daniel und Ester sowie eine Reihe von selbstständigen Schriften, die in hebräischer, aramäischer oder griechischer Sprache verfasst wurden und keinen Eingang in die HB gefunden haben. Die LXX ist also wesentlich umfangreicher als die HB. Darüber hinaus muss damit gerechnet werden, dass sie an vielen Stellen möglicherweise den älteren Text gegenüber der HB bietet. Denn die HB, wie sie uns heute vorliegt, basiert auf dem masoretischen Text, der erst bis zum Ende des 1. Jt.s n. Chr. fixiert wurde. Die LXX verlor ihre Vorrangstellung im Westen im 4. Jh. n. Chr. an die lateinische Ü Vulgata, die schließlich auch 1546 vom Konzil von Trient zum autoritativen Bibeltext der römisch-katholischen Kirche erklärt wurde. Durch diese Entwicklung geriet die LXX im Westen ins Hintertreffen. Dies spiegelt auch die Tatsache, dass es bis 2008 keine deutsche Ü der LXX gab. Diese tiefgreifende Lücke in der Geschichte der deutschen BÜ ist erst 2009 mit dem Erscheinen der »Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung« (= LXX.D) geschlossen worden. Die große Bedeutung dieser Ü kann nicht unterschätzt werden, und die Arbeit an ihr hat auch bereits die Septuagintaforschung international befördert. Seit 1999 wurde das wissenschaftliche Projekt von einer eigenen Arbeitsstelle koordiniert, und es arbeiteten zeitweise über 80 TheologInnen, PhilologInnen und AlthistorikerInnen, die alle namentlich aufgeführt sind, daran mit. Sie gehören evangelischer, katholischer oder orthodoxer Konfession an, auch jüdische Gelehrte wurden in die Entscheidung von Übersetzungsfragen einbezogen. Neben der Bibelausgabe soll in den nächsten Jahren ein Ergänzungsband mit wissenschaftlichen Erläuterungen erscheinen, um die genauere Überprüfung der Ergebnisse der Übersetzungsarbeit zu ermöglichen. Mit ihren Herausgebern ist überdies auf einen Fortschritt in der Ökumene sowie auf eine Vertiefung des christlich-jüdischen Gespräches zu hoffen. Ihr Geleitwort wurde von den Oberhäuptern der EKD, der Deutschen Bischofskonferenz, der Orthodoxen Kirche in Deutschland sowie der Allgemeinen Rabbinerkonferenz Deutschlands unterzeichnet. Die Bibelausgabe der LXX.D ist in ausgezeichneter Weise durch Paratexte dokumentiert und es werden wertvolle wissenschaftliche Erläuterungen, insbesondere in der Einleitung, geboten: 19 Die Ausführungen zu den Übersetzungsprinzipien machen deutlich, dass stärker auf die Ausgangssprache als auf die Zielsprache geachtet wurde. Diese Entscheidung macht vor dem Hintergrund Sinn, dass die LXX bereits eine Ü aus dem Hebräischen ist, die sich manchmal deutlich an die Strukturen des Hebräischen anlehnt. Die LXX.D bemüht sich, solche Eigentümlichkeiten, die sich aus dem Übersetzungscharakter und seinem manchmal hebraisierenden Griechisch ergeben, wiederzugeben. Dafür wird verständlicherweise in Kauf genommen, dass dies oftmals zu einem nicht glatten deutschen Duktus führt. Auch wird eigens darauf hingewiesen, dass die Bücher nicht systematisch nach einheitlichen »Die alttestamentlichen Zitate im griechischen NT stammen mehrheitlich aus der LXX. Bedauerlicherweise vermerken dies die wenigsten deutschen BÜ bei den entsprechenden Stellenangaben.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 7 Neues Testament aktuell 8 ZNT 26 (13. Jg. 2010) Kriterien angefertigt wurden, da eine Vielzahl unterschiedlicher Hände an der Ü tätig waren. Wortkonkordanz wurde vor allem deshalb nicht erstrebt, weil die Septuagintaschriften in unterschiedliche Epochen der Sprach- und Kulturgeschichte einzuordnen sind. Auch wird auf das Thema »Geschlechtergerechtigkeit« eingegangen. Dort, wo Maskulina eindeutig für inklusive Sachverhalte stehen, wird das Griechische ›geschlechtsneutral‹ übersetzt. Besonders verdienstvoll ist, dass nun für ein breites deutschsprachiges Publikum die Unterschiede der Septuagintatextfassungen zu den Textfassungen der HB deutlich werden. Dies bezieht sich auf den Umfang einzelner Schriften sowie vor allem auf diverse Unterschiede der griechischen Fassung der Einzelverse im Vergleich zu den hebräischen, die in der LXX.D typographisch markiert sind. Durch Kursivierungen im Text wird für die Lesenden visualisiert, wo die LXX vom hebräischen Masoretentext abweicht und Überschüsse des Masoretentextes werden durch das Zeichen + markiert. Aspekte der Deutung der LXX können anhand von Ps 2,1-2 gezeigt werden. Gemäß dieser beiden Psalmverse planen die Völker einen Aufstand gegen »den Herrn« (gr. kyrios) und »seinen Gesalbten« (gr. christos autou). Betrachtet man nun den Text im Hinblick auf seine Entstehung und den jüdischen Kontext, dann ist mit christos der irdische König Israels gemeint. Rezeptionsgeschichtlich gesehen, erfährt der in Ps 2,2 genannte christos eine christliche Auslegung, indem ausgehend von Apg 4,25ff. dieser mit Jesus Christus identifiziert wird. 20 Die LXX war es aber vor allem, welche die Tradition, den Gottesnamen durchgehend mit »kyrios« wiederzugeben, begründete. Die LXX.D übersetzt durchgängig konsistent mit »Herr«. Die Bibel in gerechter Sprache Die »Bibel in gerechter Sprache« (= BigS) ist die erste deutsche BÜ, die konsequent in inklusiver Sprache verfasst wurde, was einer der Hauptgründe für die übergroße Aufregung bei ihrem Erscheinen war. 21 Der Name dieser BÜ ist vielfach missverstanden worden. Damit sollen nicht andere Ü als »ungerecht« deklariert werden. Vielmehr geht es darum, dem biblischen Grundthema »Gerechtigkeit« in besonderer Weise zu entsprechen. Dies sollte sich in der Ü besonders in dreierlei Hinsicht zeigen: 1.) Im Hinblick auf eine geschlechtergerechte Sprache, 2.) in Hinsicht auf den jüdisch-christlichen Dialog sowie 3.) im Hinblick auf soziale Gerechtigkeit. Dies bedeutet erstens den Gebrauch einer konsequenten inklusiven Sprache, indem Bezeichnungen von Menschengruppen im maskulinen Plural, die sich eindeutig auf Männer und Frauen beziehen, als solche übersetzt werden, z.B. »Söhne Israels« mit »Israelitinnen und Israeliten«, und damit auch Frauen sichtbar machen. Eine weitere Dimension der inklusiven Sprache bezieht sich auf die Rede von Gott in der Bibel. Obwohl der biblische Gott geschlechtlich nicht festgelegt werden kann (Gen 1,27; Dtn 4,16-18; Num 23,19; Hos 11,9), wird von Gott in BÜ grammatikalisch überwiegend männlich gesprochen. Noch verschärft wird dieses Problem dadurch, dass der Eigenname Gottes in deutschen BÜ mit »Herr« übertragen wird, was zudem eine Konnotation von männlicher Autorität und Herrschaft hat. Die BigS begegnet diesem Problem damit, dass sie statt des üblichen »Herr« eine Fülle von Alternativlesarten für den Eigennamen Gottes anbietet. 22 Bezüglich des zweiten hermeneutischen Grundsatzes, der Berücksichtigung des christlich-jüdischen Gesprächs, wird darauf hingewiesen, dass die neutestamentliche Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten gezeigt hat, wie sehr das in jüdischen Kontexten entstandene NT immer wieder antijüdisch ausgelegt wurde. Als Beispiel werden die sogenannten »Antithesen« angeführt, deren Übersetzung mit »ich aber sage euch« vielfach im Sinne einer Wendung Jesu gegen die jüdische Tradition gedeutet wurde, es sich dabei aber um eine in der rabbinischen Tradition häufig verwendete Formel handelt, die unter Berücksichtigung ihrer antijudaistischen Auslegung sachgemäßer mit »ich lege euch das heute so aus« übersetzt wird. Bezüglich des dritten hermeneutischen Grundsatzes, der sozialen Gerechtigkeit, sollen soziale Auseinandersetzungen, aus denen die Bibel erwachsen ist, nicht verstellt werden. So wurden etwa die douloi, die Luther mit »Knechte und Mägde« in Anlehnung an die bäuerliche Welt der Reformationszeit übersetzt hatte, durch »Sklavinnen und Sklaven« ersetzt, um den korrekten sozialen Kontext der Entstehung dieser Texte zu markieren. Der Herausgeberkreis der BigS konstituierte sich 2001 mit dem Ziel, die ganze Bibel in gerechter Sprache zu übersetzen und wurde darin von der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau unterstützt. »Obwohl der biblische Gott geschlechtlich nicht festgelegt werden kann […], wird von Gott in BÜ grammatisch überwiegend männlich gesprochen.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 8 Ute E. Eisen »Quasi dasselbe? « ZNT 26 (13. Jg. 2010) 9 Insgesamt arbeiteten 52 professionelle BibelwissenschaftlerInnen, in der Mehrzahl Frauen und Personen mit protestantischem Hintergrund, unentgeltlich an der BigS mit. Im Kanon folgt die BigS nicht nur dem Umfang - wie Luther -, sondern auch der Reihenfolge der HB. Bei den Apokryphen/ Deuterokanonischen Schriften folgt sie im Umfang der Bibelausgabe der Vulgata von 1592, nicht aber in der Reihenfolge, mit der Begründung, dass diese Schriften in den verschiedenen Kanones ohnehin unterschiedlich aufgeführt werden. Im NT wird die traditionelle Reihenfolge beibehalten, von der nur Luther aus theologischen Gründen abgewichen ist. An Paratexten bietet die BigS neben einer ausführlichen Einleitung in die Prinzipien der BÜ vor allem bibelwissenschaftliche Einleitungen zu den Schriftteilen und zu jeder Einzelschrift. Zudem bietet sie ein in deutschen BÜ einzigartiges Glossar, in welchem zentrale hebräische und griechische Lexeme entweder allein oder subsummiert unter deutschen theologischen Zentralbegriffen wie etwa »Gerechtigkeit« oder »Gesetz« wissenschaftlich erläutert werden. Die hebräischen und griechischen Wörter werden im Innenrand der Ü in Umschrift geboten, in den Einzelversen durch ° markiert, und können auf diese Weise auch von des Griechischen und Hebräischen nicht kundigen LeserInnen nachvollzogen werden. Die Übersetzungsentscheidungen sind vielfach eigenwillig, werden dadurch aber nachvollziehbar und überprüfbar. Im Fließtext der Ü wird auf gliedernde und interpretierende Zwischenüberschriften verzichtet. Ziel dieser Ü ist es nicht, einen »Ersatz« für gängige BÜ zu schaffen, sondern bekannte Texte neu zu Gehör zu bringen, Gespräche zu eröffnen und zu eigenen Positionen herauszufordern. Das ist dieser Ü gelungen, denn seit ihrem Erscheinen wurde über BÜ in der Öffentlichkeit diskutiert wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Vor allem aber hat sie hermeneutische Prinzipien formuliert, an der eine der eigenen Zeit verantwortete Exegese kaum mehr vorbeigehen kann: Gendergerechtigkeit und die in Kirche und Theologie überfällige Vermeidung von Antijudaismus. Die Gute Nachricht Bibel »Die Gute Nachricht Bibel« (= GN) ist die erste deutschsprachige Bibel, die dem »kommunikativen Übersetzungstyp« zuzurechnen ist, also eine BÜ, die allgemeinverständlich sein will. Die Geschichte dieser Ü beginnt mit der »Gute Nachricht für Sie - NT 68«, einer NT-Übersetzung, die vielfältige Kritik erfuhr. Sie wurde 1971 durch »Die Gute Nachricht. Das Neue Testament in heutigem Deutsch« abgelöst, einer Überarbeitung, die in gewisser Weise einer Neuübersetzung gleichkam. Sie hat die Radikalität des »NT 68« gemildert. 1982 erschien die Ü der ganzen Bibel als »Die Bibel in heutigem Deutsch. Die Gute Nachricht des Alten und Neuen Testaments« (= GN 1982). Eine der Hauptintentionen dieser BÜ war es, Menschen, die nicht mehr mit der traditionellen Kirchensprache vertraut sind, die Bibel durch ein modernes und einfaches Deutsch näherzubringen. 1997 erschien die revidierte Fassung unter dem Titel »Gute Nachricht Bibel. Altes und Neues Testament. Mit den Spätschriften des Alten Testaments (Deuterokanonische Schriften/ Apokryphen)« (= GN 1997). Sie ist die bisher einzige durchgehend interkonfessionell erarbeitete deutsche BÜ, denn das Übersetzungsteam setzte sich aus evangelischen, katholischen und freikirchlichen Christen zusammen - ausschließlich Männer. 1987 trat Hildburg Wegener an die Deutsche Bibelgesellschaft heran, bei der geplanten Revision frauengerechte Sprache zu berücksichtigen, was dort auf offene Ohren stieß. Wegener stellte daraufhin sieben Frauengruppen zusammen, welche die GN 1982 auf frauengerechte Sprache hin durchsahen, worauf auch im Nachwort der GN 1997 hingewiesen wird. Der Schlussbericht der Frauengruppen wurde 1993 unter dem Titel »Die vergessenen Schwestern. Frauengerechte Sprache in der Bibelübersetzung« publiziert. Im Rahmen dieses Prozesses wurden auch zwei feministische Exegetinnen, Monika Fander und Renate Jost, gebeten, die Revision unter dem Gesichtspunkt der frauengerechten Sprache zu begleiten. Neu an dieser Revision ist überdies, dass die GN 1997 wieder traditionellere Begriffe der deutschen BÜ aufgenommen hat. Während die GN 1982 etwa Verben wie dikaiousthai und pisteuein mit »vor Gott bestehen« und »vertrauen« übersetzte, versucht die GN 1997 zu traditionelleren Ü zurückzukehren, aber nicht unter völliger Preisgabe der Versuche aus der GN 1982. So bleibt das Motiv des Vertrauens als Ü von »Glauben« in der GN 1997 weiterhin ein Leitmotiv. Wo in der GN 1982 pistis/ pisteuein allerdings allein mit »Vertrauen«, was lexikalisch gesehen korrekt ist, übersetzt wurde, tritt nun zuweilen die Ergänzung »vertrauender Glauben« (z.B. Gal 2,16 u.ö.), versehen mit einem Stern, der auf die Sacherklärungen verweist. 23 Diese wurden zudem erheblich erweitert und aktualisiert, was die Nachvollziehbarkeit einzelner Übersetzungsentscheidungen zusammen mit den Fußnoten 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 9 Neues Testament aktuell 10 ZNT 26 (13. Jg. 2010) erleichtert. Die GN 1997 ist gewiss die reflektierteste unter den kommunikativen BÜ der Gegenwart. Die geschilderten Vorzüge kann die kommunikative Gesamt-BÜ »Hoffnung für alle. Die Bibel« (= HfA) nicht aufweisen. 24 3. Beispiele ausgewählter Übersetzungsentscheidungen im Vergleich Im Folgenden möchte ich ausgewählte Einzelprobleme aktueller BÜ aufgreifen und aufzeigen, wie die genannten BÜ damit umgehen. Die Rede von Gott Im Kontext der Rede von Gott in der Bibel ist das am meisten diskutierte Problem die Ü des Gottesnamens, der in der HB durch das Tetragramm, d.h. die vier Konsonanten JHWH, wiedergegeben wird und dessen Vokale wir nicht kennen. Denn seit biblischer Zeit wird der Gottesname im Judentum nicht ausgesprochen. Der überlieferte Text der HB gibt dazu die Leseanweisung, den Eigennamen Gottes mit den Vokalen der Worte zu versehen, die stattdessen gesprochen werden sollen: Ha-Schem (»der Name«) oder Adonaj (»eine allein Gott zukommende Benennung, die mit dem Wort Herr zusammenhängt, aber nicht ›Herr‹« bedeutet 25 ). Vielfach begegnet auch die Verbindung beider Ersatzworte in »Adoschem«. Die LXX übersetzte das Tetragramm (und Adonaj) mit »kyrios«. Damit wurde eine Tradition begründet, die die Vulgata mit »dominus« übernommen hat, und die deutsche BÜ mit »Herr« übersetzen. Um anzuzeigen, dass es sich bei »Herr« um eine Übertragung des hebräischen Tetragramms - und eben nicht des griechischen kyrios - handelt, wird dieses Ersatzwort in den meisten deutschen BÜ in Kapitälchen oder Versalien gesetzt. Weitgehend unbekannt ist Luthers anfänglich differenzierte Schreibweise der Übersetzung des Gottesnamens im AT. Er hat u.a. das Tetragramm mit »HERR« in Versalien und Adonaj mit »HErr« übersetzt. Im NT übersetzte er Kyrios mit »HERR« in Versalien, wo sich dieser Titel eindeutig auf den Gott Israels bezieht, mit »HErr«, wo Jesus als Kyrios bezeichnet wird, und mit »Herren«, wo von Herren dieser Welt die Rede ist. 26 Aktuelle Diskussionen haben gezeigt, dass die Offenheit eines Eigennamens in der Bezeichnung Gottes als »Herr« nicht mehr gegeben ist. Othmar Keel hat treffend auf den Punkt gebracht: Wenn der Gottesname 6800mal mit kyrios übersetzt wird, so ist das vergleichbar damit, wenn »6800mal statt Hans ›der Herr Direktor‹ gesagt wird«, dann »tritt an die Stelle des offenen Eigennamens eine klare Rollenbezeichnung, und das ist eine drastische Einschränkung«. 27 Die mit dieser Übertragung des Gottesnamens einhergehende Konnotation von männlicher Autorität und Herrschaft im Gottesbild stellt ohne Frage eine in die HB eingetragene Einseitigkeit in der Wiedergabe des biblischen Gottesbildes dar. In der LXX verhält sich dies anders, denn dort wird der Gottesname durch kyrios ersetzt. Diese Probleme haben die ÜbersetzerInnen der BigS zur Anknüpfung an andere Traditionen sowie zu kreativen Neuschöpfungen veranlasst. Jürgen Ebach hat das Motto formuliert: »Den Namen Gottes in einer Übersetzung angemessen wiederzugeben ist unmöglich. Versuchen wir’s also.« 28 Die BigS ist die erste deutsche BÜ, die statt des üblichen »Herr« eine Fülle von Alternativlesarten für den Eigennamen Gottes bietet. Überall dort, wo in der HB das Tetragramm steht, wird markiert durch die hebräischen Buchstaben jod-jod, der rabbinischen Abkürzung für den Gottesnamen, in einem grau unterlegten Feld statt des Eigennamens oder seiner Ü mit »Herr« eine Alternativlesart geboten. Auf jeder Doppelseite findet sich links oben eine Kopfzeile mit Ersatzworten als alternativen Lesevorschlägen in wechselnder Reihenfolge: der Ewige, die Ewige, Schechina, Adonaj, ha-Schem, der Name, G OTT , die Lebendige, der Lebendige, Ich-bin-da, ha-Makom, D U , E R S IE , S IE E R , die Eine, der Eine, die Heilige, der Heilige. Damit folgt die BigS Konventionen, die auch in jüdischen BÜ begegnen, wie etwa »Adonaj«, »ha-Schem«, »der Ewige«, »Du« oder »Schechina«. Über die Wahl dieser Ersatzworte und ihre Beurteilung ist viel gestritten worden, insbesondere die weiblichen. Wie auch immer dies beurteilt wird, bleibt zu bedenken, dass durch weibliche Metaphern, wie etwa »die Lebendige«, Gott im AT weiblich konnotiert wird, was dafür sensibilisieren könnte, dass weder mit männlichen noch mit weiblichen Metaphern eine Geschlechtlichkeit Gottes verbunden ist. In den alt. Zitaten im NT, in welchen im hebräischen Ausgangstext das Tetragramm steht, welches im »Aktuelle Diskussionen haben gezeigt, dass die Offenheit eines Eigennamens in der Bezeichnung Gottes als ›Herr‹ nicht mehr gegeben ist.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 10 Ute E. Eisen »Quasi dasselbe? « ZNT 26 (13. Jg. 2010) 11 NT mit »kyrios« übersetzt wurde, verfährt die BigS analog. Dies ist anders als im AT aber dahingehend viel problematischer, als im NT an die Stelle des Eigennamens Gottes durchgehend das griechische Wort kyrios getreten ist, was in dieser Ü nun gar nicht mehr sichtbar ist. Hinzu tritt das theologische Problem, dass im NT häufig unklar ist, ob mit »kyrios« Gott oder Jesus oder beide gemeint sind (z.B. Joh 1,23; Röm 10,13). 29 Bei so viel in der Tradition der LXX stehender betonter »Männlichkeit« Gottes im AT und ihren Ü überrascht der Aufschrei gegenüber dem Versuch der BigS, auch metaphorische »Weiblichkeit« Gottes in der Bibel sichtbar zu machen. Insbesondere für Frauen ist die BigS ein völlig neues Leseerlebnis, auch wenn manches daran auch irritiert. Irritierend ist aber auch, wenn die einzige Stelle in der HB, die explizit aussagt: »Denn El (Gott) bin ich, und nicht isch (Mann)« (Hos 11,9), von den meisten aktuellen deutschen BÜ mit »Mensch« übersetzt wird. Eine solche verallgemeinernde Ü ist zwar lexikalisch möglich und kann sich auch auf die LXX stützen, die mit anthropos (»Mensch«) übersetzt, aber die besondere Pointe dieser theologischen Aussage der HB im überaus sexualisierten Hoseabuch ist mit dieser Ü zerstört. Und die verallgemeinernde Ü überrascht vor allem bei solchen Ü, die sonst großen Wert auf ›Wörtlichkeit‹ legen, wie etwa die Elb, die durchgehend von den »Söhnen Israels« und von »Brüdern« spricht, hier aber vom »Menschen«. Dass diese Bibelstelle für eine gendergerechte Exegese von höchster Relevanz ist, die eben gerade das in den Handschriften der Bibel und ihren Ü übermäßig männlich konnotierte Gottesbild konterkariert, braucht wohl nicht betont werden. Umso bedauerlicher ist, dass sie in den aktuellen BÜ mit Ausnahme der BigS unsichtbar gemacht wird. Die Rede vom Menschen Die Debatte um inclusive language ist nicht neu, sie wird international seit Jahrzehnten geführt. Ein Zentralproblem vieler Sprachen ist der generische Plural, das bedeutet, dass der maskulinen Form die geschlechtsabstrahierende Funktion zugewiesen wird. Die französische Philosophin Luce Irigaray hat dies an dem schönen Beispiel illustriert: Wenn 999 Bürgerinnen und 1 Bürger versammelt sind, ist es sprachlich korrekt von 1000 Bürgern zu sprechen. Aber leider macht dies die 999 Frauen unsichtbar. Dieses Problem ist in der BÜ von größter Brisanz, denn Gruppenbezeichnungen wurden in der Regel in der maskulinen Form übersetzt und damit die biblischen Frauen unsichtbar. Im NT ist eine solche Vokabel z.B. adelphos (»Bruder«). Der Plural kann folglich, wie es auch die meisten BÜ tun, mit »Brüder« übersetzt werden, meint aber häufig Geschwister verschiedenen Geschlechts, denn ein Wort für Geschwister fehlt im Griechischen. Besonders in den Paulusbriefen spielt diese Anrede eine prominente Rolle. Niemand würde ernstlich behaupten, dass die Briefe des Paulus nur an Männer adressiert wurden. Wieso soll also nicht sichtbar gemacht werden, dass auch Frauen angesprochen sind? Für Frauen jedenfalls, die die Paulusbriefe lesen, macht das einen großen Unterschied. So übersetzen einige neuere BÜ auch »Brüder und Schwestern« (ZB 2007; GN 1997; HfA) oder »Geschwister« (BigS) (vgl. z.B. 1 Kor 1,10.26; 2,1; 3,1). Elb 2006 hält weiter an den »Brüdern« fest. Ähnlich verhält es sich mit den hebräischen »bene Jisrael« (»Söhne Israel«). »Ben«, was in seiner Grundbedeutung »Sohn« bedeutet, ist mit rund 5000 Belegen das häufigste Substantiv im AT. Das Syntagma »bene Jisrael« bezeichnet im AT sehr häufig das Volk Israel, also Männer und Frauen. In der LXX wird es mit »hyioi Israēl« (»Söhne Israel«) übersetzt, wofür gleiches wie »bene Jisrael« gilt, und was, wenn damit eindeutig Männer und Frauen bezeichnet werden, in der LXX.D mit »Israeliten« übersetzt wird (etwa in Ex 3,10f.14; Ex 14,8.10). Luther übersetzte 1545 »mein Volk, die Kinder Israel« und die Lutherrevision von 1984 liest »mein Volk, die Israeliten«, was einen weitgehenden Konsens auch der aktuellen deutschen BÜ darstellt, wobei die BigS »Volk Israel« bevorzugt (vgl. Ex 3,10f ). Elb 2006 hält noch immer an den »Söhnen Israel« fest. Geringere Bereitschaft zur Öffnung gegenüber einer Ü, die auch Frauen sichtbar macht, ist bei Begriffen festzustellen, die stärker von einer Funktion gekennzeichnet sind. »Jünger« heißt im Griechischen mathētes, die Femininform lautet mathētria, sie kommt aber nur einmal im NT vor (Apg 9,36). Dennoch steht außer Zweifel, dass Männer und Frauen Jünger- Innen Jesu waren. In den meisten BÜ wird dies aber nicht kenntlich gemacht. Ausnahmen von dieser Regel bilden lediglich die BigS sowie an einzelnen Stellen die GN 1997 (Lk 6,17; 19,37; Apg 6,1; Mt 28,19). Dieser Befund zeigt, »Wenn 999 Bürgerinnen und 1 Bürger versammelt sind, ist es sprachlich korrekt von 1000 Bürgern zu sprechen. Aber leider macht dies die 999 Frauen unsichtbar.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 11 Neues Testament aktuell 12 ZNT 26 (13. Jg. 2010) dass in der Mehrheit der aktuellen BÜ Frauen in der Nachfolge Jesu weiterhin unsichtbar bleiben und damit die Annahme nähren, es habe keine Jüngerinnen Jesu gegeben. Phoebe, die Diakonin der Gemeinde in Kenchreä (Röm 16,1), hat ihren Funktionstitel »diakonos«, zumindest in der BigS, ZB 2007 und GN 1997 zurückerhalten. Luther hatte »im Dienst der Gemeinde von Kenchreä« übersetzt, worin ihm bis heute die HfA folgt. Die EÜ und Elb 2006 sprechen dagegen noch von der »Dienerin der Gemeinde in Kenchreä«, womit ihr Titel »diakonos«, den auch Paulus für sich reklamierte und der in den paulinischen Briefen wesentlich missionarische Aufgaben markiert, unkenntlich wird. Paulus grüßt in Röm 16,7 seine jüdische Stammverwandte Junia zusammen mit Andronikus. Er bezeichnet beide als »herausragend unter den Aposteln«, was zeigt, dass Paulus diese Jüdin zur Gruppe der ApostelInnen rechnete. Er hatte offensichtlich kein Problem, Junia als Apostelin anzuerkennen. Dies änderte sich im 13. Jh., als diese Frau eine »Geschlechtsumwandlung« erfuhr. Ihr Name Junia wurde in einen in der Antike nicht belegten Junias umgewandelt. Der Grund dafür war wohl, dass Paulus sie als Apostelin apostrophierte, was nicht ins Bild konservativer Bibeltradenten passte. Aber es gibt kaum eine exegetische Frage, die in der Forschung mit solcher Klarheit beantwortet werden konnte, wie die nach der weiblichen Identität der Junia. 30 Dieser Befund spiegelt sich auch in den aktuellen BÜ, die mehrheitlich Junia schreiben. Elb 2007 gehört zu den Ü, die noch Junias im Haupttext führen und nur in der Fußnote auf »o. Junia« verweisen. Jenseits der korrekten Wiedergabe des Namens übersetzt die BigS am eindeutigsten den Nachsatz: »Grüßt Andronikus und Junia […]. Unter den Apostelinnen und Aposteln haben sie eine herausragende Rolle«. Mit dieser Ü wird unmissverständlich deutlich, dass es im frühen Christentum Apostelinnen und Apostel gab, wofür Junia ein Beispiel ist. In der ZB 2007 heißt es dagegen nach der Namensnennung lediglich, »sie sind angesehen unter den Aposteln«, womit nicht ganz deutlich wird, dass es sich bei Junia um eine Apostelin unter anderen ApostelInnen handelte. Eine interessante Variante bietet die Neue Genfer Übersetzung in der Fußnote mit einer »gut begründeten anderen Übersetzungsmöglichkeit«: Sie übersetzt »und stehen bei den Aposteln in hohem Ansehen«, womit Junia in diesem Nachsatz ihrer Apostelinnenfunktion erneut beraubt wird. Die Kirche und Israel Sehr häufig ist im NT von »den Juden« die Rede. Innerhalb einer Rezeption dieser Texte zur Zeit ihrer Entstehung hatte dies eine völlig andere Konnotation als 2000 Jahre später, lange nachdem Judentum und Christentum zu zwei getrennten Weltreligionen geworden sind. Zur Zeit der Entstehung des Christentums waren alle ChristInnen Jüdinnen und Juden: Jesus, Maria, die Mutter Jesu, Petrus, Maria Magdalena, Paulus und viele mehr. Jesu Auseinandersetzungen mit Schriftgelehrten beispielsweise waren innerjüdische Auseinandersetzungen. Dieser Gesichtspunkt ist in der Auslegung der Bibel in den letzten 2000 Jahren aus dem Blick geraten. Erst die Jesus- und die Paulusforschung des 20. Jh.s hat zumindest diese beiden Zentralgestalten des NT wieder in ihren jüdischen Kontext eingeschrieben. Die BigS versucht dies in der Ü deutlich zu machen. Etwa wenn es in Luther 84 heißt: »Und dies ist das Zeugnis des Johannes, als die Juden zu ihm sandten Priester und Leviten« formuliert die BigS: »Dies ist das Zeugnis des Juden Johannes, als andere jüdische Menschen aus Jerusalem zu ihm Leute von priesterlicher und levitischer Herkunft schickten« (Joh 1,19). Durch solche Formulierungen wird auch für christliche LeserInnen des 21. Jh.s, die mit der aktuellen Jesusforschung nicht vertraut sind, deutlich, dass Jesus und Johannes und viele mehr selbst jüdische Menschen waren. In der christlichen Theologie wird seit dem 2. Jh. bis in die Gegenwart hinein immer wieder die These von der Enterbung des jüdischen Volkes durch die christliche Kirche vertreten, die sog. »Enterbungstheologie«. In diesem Zusammenhang spielt die Auslegung des lukanischen Doppelwerkes eine prominente Rolle, insbesondere das letzte Kapitel der Apg, wo aus dem berühmten Verstockungswort Jes 6,9f. in seiner Septuagintafassung zitiert wird (Apg 28,26f ). Die LXX.D übersetzt Jes 6,9f. wie folgt: »Geh hin und sage diesem Volk: ›Mit dem Gehör werdet ihr hören und doch gewiss nicht verstehen, und schauend werdet ihr schauen und doch gewiss nicht sehen‹; 10 denn das Herz dieses Volkes verfettete, und mit ihren Ohren hörten sie schwer und ihre Augen schlossen sie, damit sie »In der christlichen eologie wird seit dem 2. Jh. bis in die Gegenwart hinein immer wieder die ese von der Enterbung des jüdischen Volkes durch die christliche Kirche vertreten […]« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 12 Ute E. Eisen »Quasi dasselbe? « ZNT 26 (13. Jg. 2010) 13 nicht etwa mit den Augen sehen und mit den Ohren hören und mit dem Herzen verstehen und umkehren, auf dass ich sie heilen werde.« Im Vergleich zum masoretischen Text ist das Verstockungswort in der LXX gemildert worden. Eine Tendenz, die häufiger in der LXX anzutreffen ist, z.B. auch im Jeremia- und Hoseabuch, was in deren Einleitungen der LXX.D entfaltet wird. Darüber hinaus ist es aber auch durch eine andere Ü der letzten Worte dieser Textstelle möglich, diese »im Sinn einer Heilszusage« zu verstehen, nämlich »und dann werde ich sie heilen«, so vermerkt es die Fußnote der LXX.D. Diese Alternativübersetzung basiert darauf, das letzte kai der Parataxe als kai adversativum zu übersetzen, was mit weiteren Argumenten von einem der Hauptherausgeber der LXX.D, dem Neutestamentler Martin Karrer, ausführlich wissenschaftlich begründet wurde, sich aber für den Fließtext der LXX.D offensichtlich nicht durchsetzen konnte. 31 Analog kann auch Apg 28,26-27, welche mit der LXX-Fassung nahezu identisch ist, übersetzt werden. So übersetzt Klaus Wengst in der BigS Apg 28,27c: »Aber ich werde sie heilen.« Die überaus problematische christliche Enterbungstheologie hat aus der herkömmlichen Ü von Apg 28,26f. immer ein zentrales Argument abgeleitet, das ihr hiermit entzogen wird. Diese Alternativübersetzung deckt sich auch mit den neueren Forschungen zum Verständnis von Israel im lukanischen Doppelwerk und ist kohärent mit der Erzähldynamik. Die BigS ist wohl die einzige deutsche BÜ, die diese Ü bietet, allerdings bedauerlicherweise ohne erläuternde Anmerkung. Sehr zu hoffen ist, dass zukünftige deutsche BÜ den Problemkreis Antijudaismus stärker reflektieren. 4. Schlussbetrachtung Es sind schon zahlreiche Versuche unternommen worden, Bibelübersetzungen in Übersetzungstypen zu unterteilen. Die Überlegungen dazu bewegen sich zwischen den Polen einer Ausgangstext- und einer Zieltextorientierung. In der sich seit der Mitte des 20. Jh.s konstituierenden Übersetzungswissenschaft wurden diese auf vielfache Weise präzisiert mit Gegensatzpaaren wie formal vs. dynamisch, semantisch vs. kommunikativ, imitativ vs. funktional, overt vs. covert, foreignizing vs. domesticating und so fort. 32 Dass die großen deutschen BÜ zwischen diesen beiden Polen mit jeweiligen Tendenzen zu der einen oder anderen Seite einzuordnen sind, liegt auf der Hand. Aber zugleich auch, dass mit einer Zuordnung zu der einen oder der anderen Seite noch kein Qualitätsurteil getroffen sein kann. Ausgedient hat jedenfalls das althergebrachte Diktum der »Wörtlichkeit«, dem vielfach magische Kraft zugeschrieben wurde und wird, aber schon von Hieronymus und nicht minder von Luther kritisiert worden ist. Und mit Luthers Ü haben wir gelernt, was Hans-Georg Gadamer in Wahrheit und Methode (S.362) nochmals betonte: »Jede Übersetzung ist […] schon Auslegung«. Und das findet im Strom der Zeit kein Ende, sondern muss für jede Kultur neu formuliert werden, denn Übersetzungen »altern«, wie es Umberto Eco ausgedrückt hat. »Texttreue«, eine im Kontext der BÜ vielbemühte Vokabel, ist wohl für die meisten anzunehmen. Umberto Eco schreibt dazu: »Wenn man ein beliebiges Wörterbuch aufschlägt, wird man unter den Synonymen für Treue kaum die Vokabel Exaktheit finden. Man findet dort eher Loyalität, Gewissenhaftigkeit, Achtung, Hingabe.« 33 Zwei Dinge gilt es festzuhalten, die von einer BÜ zu erwarten sind: Zum einen ist dies der Respekt vor den Ausgangstexten und ihrer Kultur bzw. ihren Kulturen, denn sie sind im Zeitraum von rund 1000 Jahren in unterschiedlichen Kontexten entstanden. Die Ü sollte reflektiert philologisch und wissenschaftlich jeweils auf dem aktuellen Stand erfolgen. Zum anderen ist dies der Respekt vor der Zielsprache, den Lesenden und ihrer Kultur. Insoweit sollte sie auch zielkulturorientiert sein und dabei ihre Hermeneutik möglichst transparent gestalten. Viel stärker sollte insgesamt in den Blick treten, wie sehr Übersetzungen Rezeptions- und Adaptionsprozesse sind, die durch die sprachliche Aneignung von Texten in gewisser Weise auch neue Texte bzw. Bedeutungen generieren. 34 Seit dem cultural turn ist immer weniger zu leugnen, wie sehr auch Übersetzungen kontextabhängige Produkte einer politischen, kulturellen und sozio-ökonomischen Dynamik sind. Übersetzen heißt immer auch interpretieren im Rahmen der oben skizzierten Vorgaben. Dies beginnt schon mit der Selektion von Lesarten überlieferter Handschriften der Bibeltexte, es setzt sich fort in der Heranziehung spezifischer Lexika im Verbund mit der Wahl eines Übersetzungs- und Kulturverständnisses. Weiter erfolgt sie in der Definition eines Kanons, einer »Ausgedient hat jedenfalls das althergebrachte Diktum der ›Wörtlichkeit‹, dem vielfach magische Kraft zugeschrieben wurde und wird […]« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 13 Neues Testament aktuell 14 ZNT 26 (13. Jg. 2010) Frage, die in den christlichen Kirchen bis heute unterschiedlich beantwortet wird. Die Bibel ist kein harmloses Buch. Mit ihr wird seit 2000 Jahren nicht nur Kirche, sondern auch Weltgeschichte gestaltet. Je mehr also über die Bibel reflektiert wird, desto besser. Dafür sollten neben der HB, der LXX und dem griechischen NT in ihren besten Textausgaben die wichtigsten BÜ herangezogen und verglichen werden. Anmerkungen 1 Vgl. dazu und zu dem Beitrag von Ulrich Wilckens www.bibel-in-gerechter-sprache.de. 2 In: R. Dillmann (Hg.), Bibel-Impulse. Film - Kunst - Literatur - Musik - Theater - Theologie, Münster 2006, 42-57. 3 Teilübersetzungen, bspw. des NT, konnten aus Platzgründen nicht berücksichtigt werden. Die Septuaginta gilt im Folgenden als ganze Bibel, da es sich um die Bibel der ersten ChristInnen handelt. Eine Kurzinformation zu 38 deutschen BÜ bietet eine Broschüre der Deutschen Bibelgesellschaft/ Katholisches Bibelwerk e.V. von H. Haug, Deutsche Bibelübersetzungen. Das gegenwärtige Angebot. Information und Bewertung, aktual. Neuausgabe (Wissenswertes zur Bibel 6), bearb. v. R. Schäfer, Stuttgart 2008. 4 Hermann-Josef Stipp, Übersetzung(en), NBL III, 2001, 942-949: 948; zum Folgenden s. auch B. Salzmann/ R. Schäfer, Bibelübersetzungen, christliche deutsche, WiBi- Lex 2010, www.wibilex.de/ stichwort/ Bibelübersetzungen (Zugriffsdatum: 17.3.2010), sowie ausführlich W.I. Sauer-Geppert, Bibelübersetzungen III/ 1, TRE 6, 1980, 228-246. 5 F. Tschirch, Luthers Septembertestament. Eine Wende in der Übersetzung der Bibel ins Deutsche, in: S. Meurer (Hg.), »Was Christum treibet«. Martin Luther und seine Bibelübersetzung (Bibel im Gespräch 4), Stuttgart 1966, 11-23: 12. Eine Bibliographie zu den gedruckten BÜ ins Deutsche vor Luther bietet R. Tenberg, Gedruckte deutschsprachige Bibeln vor Luther. Eine Bibliographie der wissenschaftlichen Literatur, in: H. Reinitzer, Was Dolmetschen fur Kunst und Erbeit sey. Beiträge zur Geschichte der deutschen Bibelübersetzung (VB 4), Hamburg 1982, 209-228. 6 Tschirch, Septembertestament, 13. 7 Sendbrief vom Dolmetschen, in: Luther Deutsch, hg. v. Kurt Aland, Berlin 1948ff, Bd. 5, 73. 8 G. Genette, Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Mit einem Vorw. v. H. Weinrich. Aus dem Franz. v. D. Hornig, Frankfurt am Main/ New York 1992. 9 Das bedeutet nicht, dass seine Paulusinterpretation auch heute noch überzeugen muss. Die seit Jahrzehnten währende ntl. Diskussion um die sog. Neue Paulusperspektive hat gezeigt, dass Luthers Pauluslektüre und ihre Wirkungsgeschichte die paulinische Intention verzeichnet, vgl. dazu zuletzt Ch. Gerber, Blicke auf Paulus. Die New Perspective on Paul in der jüngeren Diskussion, VuF 55 (2010), 45-60. 10 Zur wechselvollen Geschichte der Revision der Lutherbibel vgl. u.a. R. Frettlöh, Die Revisionen der Lutherbibel in wortgeschichtlicher Hinsicht (GAG 434), Göppingen 1986, 6-16 mit weiterführender Lit. und einer Auflistung der Wörter der Lutherbibel, die sich in Form, Inhalt oder Gebrauch verändert haben und daher in der revidierten Fassung ersetzt wurden. S. auch K.D. Fricke/ S. Meurer (Hg.), Die Geschichte der Lutherbibelrevision. Von den Anfängen 1850 bis 1984 (AGWB 1), Stuttgart 2001. 11 Vgl. dazu die »Einleitung« am Anfang und »Zum Gebrauch dieser Bibelausgabe« am Ende der ZB 2007. Zur Revision insgesamt: J. Anderegg, Zur neuen Zürcher Bibel. Überlegungen und Erfahrungen aus germanistischer Sicht, in: W. Groß (Hg.), Bibelübersetzung heute - Geschichtliche Anforderungen und aktuelle Entwicklungen (AGWB 2), Stuttgart 2001, 283-299. 12 So Anderegg, Zürcher Bibel, 283f. 13 U. Sigg-Suter/ E. Staub/ A. Wäffler-Boveland, »... und ihr werdet ihr Söhne und Töchter sein.« Die Neue Zürcher Bibel feministisch gelesen, Zürich 2 2007. 14 So Marie-Theres Wacker in ihrer Rezension der Zürcher Bibel, BiKi 65 (2009), 122-127: 126. 15 Vgl. Salzmann/ Schäfer, Bibelübersetzungen, sowie die umfangreiche Studie von U. Köster, Studien zu den katholischen deutschen Bibelübersetzungen im 16., 17. und 18. Jh. (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 134), Münster 1995, mit einer über hundertseitigen Bibliographie. 16 Zur Entstehungsgeschichte und den hermeneutischen Prinzipien vgl. ausführlich J. Scharbert, Entstehungsgeschichte und hermeneutische Prinzipien der »Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift«, in: J. Gnilka/ H.P. Rüger (Hg.), Die Übersetzung der Bibel - Aufgabe der Theologie. Stuttgarter Symposion 1984 (TAB 2), Bielefeld 1985, 149-168. 17 Vgl. dazu W. Egger, Revision der Einheitsübersetzung. Auftrag, Leitlinien, Arbeitsweise, Lebendige Seelsorge 57. Jg. 6 (2006), 403-406. 18 Vgl. die Presseerklärung von Ch. Vetter, Evangelische Beteiligung an der »Einheitsübersetzung« der Bibel nicht mehr möglich, http: / / www.ekd.de/ presse/ pm163_2005_ einheitsuebersetzung.html (Stand: 15.5.2010). 19 Etwa, dass die Festlegung des Umfangs der Septuaginta de facto erst im 19. Jh. stattfand und viele Vorgänge der Übersetzung und Revision der LXX während ihrer langen Entstehungszeit noch unzureichend erforscht sind. Zudem wird deutlich gemacht, dass es nicht einen einzigen Text gibt und älteste Textfassungen zwar rekonstruiert werden können, diese aber immer hypothetisch bleiben. Darüber hinaus wird in die Probleme und Zielsetzungen einer kritischen Edition der Textausgaben der LXX eingeführt und exakt über die Textgrundlage dieser Übersetzung Auskunft gegeben. Vgl. dazu und zu weiteren Fragen die Einleitung der Ausgabe: Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung in Zusammenarbeit mit Eberhard Bons/ Kai Brodersen/ Helmut Engel/ Heinz-Josef Fabry/ Siegfried Kreuzer/ Wolfgang Orth/ Martin Rösel/ Helmut Utzschneider/ Dieter Vieweger u. Nikolaus Walter hrsg. 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 14 Ute E. Eisen »Quasi dasselbe? « ZNT 26 (13. Jg. 2010) 15 v. Wolfgang Kraus und Martin Karrer, Stuttgart 2009, IX-XXIII. 20 Zu diesem Problemkreis vgl. H. Utzschneider, Auf Augenhöhe mit dem Text. Überlegungen zum wissenschaftlichen Standort einer Übersetzung der Septuaginta ins Deutsche; in: H.-J. Fabry/ U. Offerhaus (Hgg.), Im Brennpunkt: Die Septuaginta, Studien zur Entstehung und Bedeutung der Griechischen Bibel (BWANT 133), Stuttgart 2001, 11-50. 21 Die Bibel in gerechter Sprache, hrsg. v. U. Bail/ F. Crüsemann/ M. Crüsemann/ E. Domay/ J. Ebach/ C. Janssen/ H. Köhler/ H. Kuhlmann/ M. Leutzsch und L. Schottroff, Gütersloh 2006, 3 2007. Siehe auch die in Anm. 1 genannte Homepage mit einer Fülle von Materialien zur Entstehung und Konzeption sowie den Reaktionen. 22 Vgl. genauer dazu unten sowie BigS, 16-21. 23 Zur Genese und Konzeption der GN 1997 vgl. H. Jahr (Hg.), Die neue Gute Nachricht (Bibel im Gespräch 5), Stuttgart 1998. In diesem Band auch H. Wegener, »…und macht die Menschen zu meinen Jüngern und Jüngerinnen« Die Revision der Gute Nachricht Bibel in gemäßigt »frauengerechter Sprache«, 62-73, sowie W. Klaiber, Die »alte« und die »neue« Gute Nachricht. Ein Vergleich anhand des Römer- und Galaterbriefs, 48-61. 24 Sie ist lediglich eine deutsche Fassung der Living Bible von K.N. Tylor. Das NT erschien 1983, die ganze Bibel 1996. Im Jahr 2002 erschien eine Revision des NT (= HfA 2002) mit einer stärkeren Orientierung am griechischen Text. Das Hauptanliegen dieser Ü ist, unmittelbare Verständlichkeit zu erzeugen, was noch immer zu vereinfachenden Ausdeutungen führt. Besonders schwerwiegend ist, dass biblische Zentralbegriffe wie etwa »Reich Gottes« in dieser Ü durchgehend mit »Gottes neue Welt« übersetzt werden und dies auch in den »Sacherklärungen«, wie so vieles andere, nicht erläutert wird. Zu Vergleichen von GN 1997, HfA und einer weiteren kommunikativen Ü, der Neuen Genfer Übersetzung (= NGÜ), vgl. W. Haubeck, Neue kommunikative deutsche Bibelübersetzungen: Gute Nachricht Bibel, Hoffnung für alle und Neue Genfer Übersetzung. Ein Vergleich am Beispiel von Matthäus 5-7 und Römer 3-5, in: Jahr, Nachricht, 76-92. 25 J. Ebach, Gottes Name(n). oder: Wie die Bibel von Gott spricht, BiKi 65 (2010), 62-67: 62. 26 Vgl. dazu ausführlich Ch. Methuen, HErr HERR. Zum Umgang mit dem Gottesnamen in der Lutherbibel, in: Ch. Gerber u.a. (Hg.), Gott heißt nicht nur Vater. Zur Rede über Gott in den Übersetzungen der »Bibel in gerechter Sprache« (BthS 32), Göttingen 2008, 130-144. 27 O. Keel, Weibliche Aspekte des Gottes der Bibel, in: ders., Gott weiblich. Eine verborgene Seite des biblischen Gottes, Bibel + Orient Museum, Freiburg, Schweiz 2008, 8-21: 13. 28 J. Ebach, Zur Widergabe des Gottesnamens in einer Bibelübersetzung - oder: Welche »Lösungen« es für ein unlösbares Problem geben könnte, in: Die Bibel - übersetzt in gerechte Sprache? Grundlagen einer neuen Übersetzung, hg. v. H. Kuhlmann, Gütersloh 2 2005, 150-158. 29 Vgl. dazu ausführlich S. Petersen, Immer Ärger mit dem »Kyrios«. Eine Problemanzeige, in: Gerber, Gott 104- 129. 30 Vgl. ausführlich P. Arzt, Junia oder Junias? Zum textkritischen Hintergrund von Röm 16,7, in: Liebe zum Wort. Beiträge zur klassischen und biblischen Philologie, P. Ludger Bernhard OSB zum 80. Geburtstag, hrsg. v. F.V. Reiterer/ P. Eder, Salzburg 1993, 83-102; E.J. Epp, Minor Textual Variants in Romans 16,7, in: J.W. Childers/ D.C. Parker (Hgg.), Transmission and Reception: New Testament Text-Critical and Exegetical Studies (TaS 4), Piscataway 2006, 123-42. 31 Vgl. dazu und zum Folgenden ausführlich U.E. Eisen, Die Poetik der Apostelgeschichte. Eine narratologische Studie (NTOA 58), 210-215: 212f. passim (Lit.! ). 32 Vgl. dazu H. Salevsky, Übersetzungstyp, Übersetzungstheorie und Bewertung von Bibelübersetzungen. Ein Beitrag aus übersetzungstheoretischer Sicht, in: W. Groß (Hg.), Bibelübersetzung, 119-150: 124, sowie dies., Translationswissenschaft. Ein Kompendium, Frankfurt a. M. u.a. 2002. Gute Einführungen bieten R. Stolze, Übersetzungstheorien, Tübingen 5 2008, und W. Klaiber, (Bibel-)Übersetzen - eine unmögliche Aufgabe? , ThLZ 133, 2008, 468-492. 33 U. Eco, Quasi dasselbe mit anderen Worten. Über das Übersetzen (2003), aus dem Italienischen von B. Krober, Wien 2006, 433. 34 Dies führt Martin Rösel sehr anschaulich vor: Die Geburt der Seele in der Übersetzung. Von der hebräischen näfäsch über die psyche der LXX zur deutschen Seele, in: A. Wagner (Hg.), Anthropologische Aufbrüche. Alttestamentliche und interdisziplinäre Zugänge zur historischen Anthropologie, Göttingen 2009, 151-170. 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 15 1. Wortspiele und Metaphern Wenn man nach Kriterien für eine gute Bibelübersetzung sucht, d.h. also nach Beurteilungsmaßstäben für die Qualität verschiedener Übersetzungsprojekte, so mag es angezeigt sein, sich vor einer solchen Beurteilung erst einmal zu fragen, was denn eine »Übersetzung« überhaupt sei. Hier gibt es - ausgehend vom Lateinischen (transferre = hinübertragen, traducere navem flumen = ein Schiff über einen Fluss hinüberführen) - verschiedene Wortspiele und Metaphern, die ins Bild zu setzen versuchen, worum es bei einer Übersetzung geht. Schon Jacob Grimm spielte mit der Verschiebung des Akzents von »übersétzen« zu »´ übersetzen« 1 um das eine durch das andere zu verdeutlichen, und auch heute noch stellt das Wortspiel eine beliebte Anschauungs- und Denkhilfe dar, um sich das »Wesen« einer Übersetzung klarzumachen. Den ebenso beliebten wie bekannten Kalauer »Übersetzen = Üb-ersetzen! « nenne ich hier nur, weil er auf zwei grundsätzliche Probleme des Übersetzens und der Übersetzungstheorie aufmerksam machen kann: a) Kann man das Übersetzen üben, wie man eine bestimmte Technik einübt? Zweifellos kann man eine ganze Menge lernen und üben beim Übersetzen: Man muss die Sprache erlernen, man sollte die »translatorische Methodik« 2 kennen und beherzigen, und je häufiger man praktisch übersetzt, desto geübter und routinierter wird man dabei. Auf der anderen Seite gehört eine Menge Erfahrung und Fingerspitzengefühl zum (guten) Übersetzen - wie schon zum Erlernen und (guten) Sprechen einer Fremdsprache selbst -, und am Ende könnte es mehr mit Kunst und Einfühlungsvermögen zu tun haben als mit erlernbarer methodischer Wissenschaft. Der Exeget fühlt sich hierbei an die biblische Textkritik erinnert, hat aber gerade aus ihr gelernt, dass beides keine Gegensätze sind, sondern zueinander kommen müssen, wenn man erfolgreich arbeiten will. Die Frage bleibt: Erweist es sich am Ende als ebenso schwierig eine gute Übersetzung zu erstellen und v.a. zu beurteilen wie »gute Kunst«? Und wenn ja, was bedeutet das für unsere Fragestellung? b) Kann und soll eine Übersetzung das Original »ersetzen«? Spontan mag man geneigt sein, die Frage zu bejahen. Denn in der Regel wird eine Übersetzung ja deshalb angefertigt, weil das Original wegen Unkenntnis der Fremdsprache nicht verstanden wird; Rezipient bzw. Rezipientin sind darauf angewiesen, für sie muss die Übersetzung das Original »ersetzen«. Auf der anderen Seite ist es ebenso klar, dass eine Übersetzung nicht einfach bzw. nicht für immer das Original ersetzen kann; sie muss vielmehr überprüft und ggf. verändert oder gar durch eine neue Übersetzung ersetzt werden können - nicht das Original, sondern die Übersetzung kann und soll also ggf. durch eine (andere) Übersetzung »ersetzt« werden. Auch wird niemand, der jemals ein Gedicht von Paul Celan oder Stéphane Mallarmé oder die stabreimenden und lautmalerischen Dichtungen der Musikdramen Richard Wagners gehört oder gelesen hat, auf die Idee kommen, man könne diese Texte in ihrer spezifischen Wirkung durch eine Übersetzung auch nur annähernd »ersetzen« (was nicht heißt, dass man ihren Inhalt nicht irgendwie »wiedergeben« könnte, z. B. auch durch Nachdichtungen). Es bleibt die Erkenntnis: Eine Übersetzung ist - ebenso wie eine Zusammenfassung oder eine Inhaltsangabe - immer ein neuer Text, der neben und nicht an die Stelle des Ausgangstextes tritt. Die Frage kann nur sein, in welchem Maße der neue Text als solcher erkennbar bleibt und bleiben muss, d.h. wie sehr er auf seinen Ausgangstext zurückverweist - und hier gibt es offenbar deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Textsorten: Eine technische Gebrauchsanweisung kann man leichter durch einen anderen Text »ersetzen« und »übersetzen« (die Geräte funktionieren überall auf der Welt gleich) als einen poetischen oder religiösen Text. Kehren wir zurück zur Metapher der Flussüberquerung. Man hat dieses Bild in verschiedener Weise ausgestaltet: a) Produzent und Rezipient der Botschaft befinden sich auf den zwei Seiten eines Flusses. Die Übersetzung Zum Thema Günter Röhser Kriterien einer guten Bibelübersetzung - produktions- oder rezeptionsorientiert? 16 ZNT 26 (13. Jg. 2010) »Eine Übersetzung ist - ebenso wie eine Zusammenfassung oder eine Inhaltsangabe - immer ein neuer Text, der neben und nicht an die Stelle des Ausgangstextes tritt.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 16 Günter Röhser Kriterien einer guten Bibelübersetzung ist das Schiff, mit dessen Hilfe die Botschaft (gewissermaßen als Ladung des Schiffes) von dem einen Ufer zum anderen transportiert wird. Entscheidend ist nicht das Transportmittel und seine Gestalt (Schiff/ Boot/ Fähre), sondern die Ladung (die Botschaft): Sie ist ein hohes Gut, das möglichst unverändert und unbeschädigt vom Absender zum Empfänger gebracht werden soll. Der Übersetzer ist der Kapitän/ Bootsführer/ Fährmann. Das Bild veranschaulicht ein Übersetzungsverständnis, wie es in jüngerer Vergangenheit durch Noam Chomskys generative Transformationsgrammatik inspiriert ist: Eugene A. Nida und Charles R. Taber, die diesen Ansatz auf die Bibelübersetzung übertragen haben, sprechen in ihrem Hauptwerk »The Theory and Practice of Translation« (1969) einerseits von »semantischen Grundkategorien« (Gegenstand, Ereignis, Abstraktum, Beziehung), andererseits von (weniger als einem Dutzend) »Elementarsätzen« bzw. »Elementarsatztypen« (Grundstrukturen zu deren Verknüpfung). Mit Hilfe dieser sprachlichen Universalien, die der gesamten Menschheit gemeinsam zu eigen sind und den jeweiligen konkreten sprachlichen Äußerungen mit ihren reichhaltigen Konstruktionen zugrunde liegen, werden aus der jeweiligen sprachlichen Oberflächen- Struktur (auf elementarsatznaher Ebene) »Bedeutungen« abstrahiert, die sich ohne Verlust vom Produzenten des Ausgangstextes zur Rezipientin des Zieltextes übertragen lassen, dort deswegen vollkommen verstanden werden und zu einer »wesentlich gleichartige(n)« Reaktion bei den Empfängern des Zieltextes wie bei denjenigen des Ausgangstextes führen. 3 Diese »dynamisch-funktionale Äquivalenz« 4 ist zugleich das entscheidende Kriterium für das Gelungen-Sein, für die Qualität der Übersetzung und deren Bewertung. Fragen muss man, ob das Bild des Schiffskapitäns oder Fährmanns - also des gewissermaßen »neutralen Vermittlers« zwischen den beiden Ufern - wirklich angemessen für den Übersetzer ist. Gehört er nicht selbst viel zu sehr auf die »andere Seite«, als dass er die Verantwortung für eine so beschriebene Last oder Ladung übernehmen könnte? Und überhaupt muss bezweifelt werden, dass das Bild von der isolierbaren Schiffsladung und ihrem Transport wirklich der Übersetzungsaufgabe angemessen ist. b) Nida und Taber selbst wenden das Bild von der Flussüberquerung noch einmal in ganz eigenständiger Weise an, indem sie zusätzlich das Element der »Furt« einführen. Der Umweg über die »flache Stelle […], an der man auf einfache und natürliche Weise auf die andere Seite des Flusses gelangen kann«, ist ein Bild für die Zurückführung der grammatischen Konstruktionen auf ihre Elementarformen, durch die allein man die ansonsten unlösbare Aufgabe der Flussüberquerung bzw. Übersetzung bewältigen kann. 5 Strukturell analog zur Flussüberquerung bzw. zum Fährmann ist das schon in der Antike geläufige Bild vom Baumeister 6 : Er trägt ein Bauwerk, z. B. aus Lehmziegeln, Stück für Stück ab, zerlegt es quasi in seine Bestandteile, transportiert diese an einen anderen Ort und errichtet dort aus denselben Ziegeln ein neues, anderes Gebäude. Es kommt ausdrücklich nicht darauf an, dass das neue Gebäude genau dieselbe äußere Gestalt hat wie das alte - wenngleich es natürlich durch seine Bestandteile vorstrukturiert ist -, sondern darauf, dass dieselben Bausteine verwendet worden sind. Genauso sei es mit dem Übersetzen: Es komme darauf an, dieselben Bedeutungsinhalte unverändert von einer Sprache in die andere zu übertragen - bei sich verändernder sprachlicher Gestalt und Struktur des Textes. Stärker noch als das Bild vom Fährmann führt dasjenige des Baumeisters handwerklich-technische Konnotationen mit sich und lässt fragen, ob das Übersetzen wirklich in diesem Maße als mechanistischmethodische Tätigkeit betrachtet werden kann. c) Eine andere Variante der Flussüberquerung ist das Brückenbauen. 7 Ebenfalls eine technische Metapher - jedoch ist hier der Bauplan des Bauwerks nicht schon von vornherein irgendwie festgelegt, sondern muss erst entworfen werden; die Bau-»Kunst« des Brü- Günter Röhser, Jahrgang 1956, Studium der Evangelischen eologie in Erlangen, Heidelberg und Neuendettelsau. Promotion (1986) und Habilitation (1993) in Heidelberg. Pfarrer der Evang.-Luth. Kirche in Bayern, Lehrtätigkeit in Bamberg und Siegen, 1997-2003 Professor für Bibelwissenschaft an der RWTH Aachen, seit 2003 für Neues Testament an der Universität Bonn. Forschungsschwerpunkte: Religiöse Vorstellungen der (biblischen) Antike, paulinische eologie, neuere Bibelübersetzungen. Prof. Dr. Günter Röhser ZNT 26 (13. Jg. 2010) 17 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 17 Zum Thema 18 ZNT 26 (13. Jg. 2010) ckenbauers ist hier gefragt! In dieser Verwendung der Metapher geht es darum, dass der übersetzte Text als solcher, und d.h. in seiner konkreten sprachlichen Gestalt, eine Brücke bilden soll zwischen dem Herkunftsbereich des Textes und dem Zielbereich der Empfänger. Anders als in a) und b) soll nicht ein isolierter Inhalt, eine Botschaft an den Mann und an die Frau (oder auch das Kind 8 ) gebracht werden, sondern die Menschen selbst sollen durch und über diesen Inhalt, den der übersetzte Text darstellt, in Kontakt miteinander gebracht werden: Ein Autor (der Vergangenheit) kann durch und über diese Brücke in die Welt seiner Rezipientinnen und Rezipienten gelangen, diese wiederum können sich durch und über diese Brücke auf den Autor und seine Welt zu bewegen. Zweierlei wird durch diese Verwendung der Metapher deutlich: 1) Eine Übersetzungstheorie darf nicht nur den Ausgangstext und seine Entsprechung in der Zielsprache in den Blick nehmen, sondern muss auch Autor/ in und Adressat/ in und deren jeweilige Welt/ en (zu der/ denen auch der/ die Übersetzer/ in selbst gehört) mit berücksichtigen; sie bestimmen das Übersetzungsgeschehen entscheidend mit. 2) Beim Übersetzen geht es nicht einseitig nur um eine Bewegung in einer bestimmten Richtung (vom einen zum anderen Ufer, vom Autor des Textes zum Empfänger der Übersetzung), sondern man muss auch umgekehrt fragen, wieweit nicht der Empfänger auf den Autor und seinen Text zu bewegt werden soll bzw. sich zu bewegen muss. 9 Vielleicht ist ja gerade das Bild der Brücke besonders geeignet, zum Ausdruck zu bringen, dass man sich irgendwo in der Mitte, mal näher bei dem einen, mal näher bei dem anderen Ufer treffen muss, wenn Verständigung und Kommunikation gelingen sollen. Auf jeden Fall wendet es sich gegen ein einseitiges Verständnis der Metapher von der Flussüberquerung, wie es etwa von Heinzpeter Hempelmann vertreten wird: Bibelübersetzung »setzt« demnach »den Leser über, indem sie ihn in die Textwelt des Originals als Größe sui generis versetzt.« 10 Notiert seien abschließend das italienische Wortspiel »traduttore traditore« (»der Übersetzer ist ein Verräter«) bzw. sein französisches Pendant »traduire, c’est trahir« und Franz Rosenzweigs Anspielung auf Mt 6,24: »Übersetzen heißt zwei Herren dienen. Also kann es niemand.« Beide sind zwar als stete Erinnerung an die Schwierigkeit der Aufgabe und die Verantwortung des Übersetzers ernst zu nehmen, nicht aber in ihrem propositionalen Gehalt (der sich von ihrer rhetorischen Gestalt sehr wohl ablösen lässt: »Übersetzen ist unmöglich«) - denn sonst könnte dieser Aufsatz nicht geschrieben werden (Man beachte die feine Ironie, dass die Übersetzung bzw. Zusammenfassung als solche bereits den Inhalt des Übersetzten bzw. Zusammengefassten widerlegt: Übersetzen und Zusammenfassen sind eben doch möglich - und notwendig! ). 11 2. Form und Inhalt Versucht man nun, das mit Wortspielen und Metaphern Umschriebene und Bedachte auf eine begriffliche Ebene zu heben, so wird deutlich, dass wir uns die ganze Zeit mit der Frage des Verhältnisses von Form und Inhalt, bezogen auf den Vorgang des Übersetzens, beschäftigt haben. Kann man einen Inhalt unabhängig von seiner Form übermitteln? Ist es wirklich gleichgültig, mit welchem Schiff (in welcher sprachlichen Form) eine bestimmte Ladung (ein bestimmter Inhalt) transportiert wird? Ist es wirklich gleichgültig, in welcher äußeren Form das abgetragene Gebäude anschließend wieder errichtet wird? »Gleichgültig« meint hier natürlich nicht, dass die konkrete sprachliche Formgebung (und damit auch die übersetzerische Qualität) ohne Bedeutung für die gelingende Vermittlung des Inhalts sei. Gemeint ist vielmehr die von der Theorie der dynamisch-funktionalen Äquivalenz (Nida/ Taber) behauptete - und für die christliche Mission höchst bedeutungsvolle - prinzipielle Gleichwertigkeit der menschlichen Sprachen für die Darstellung eines bestimmten Inhalts. Die Theorie löst das Problem des Übersetzens - wie oben dargestellt - durch den Rückgang auf Elementarformen, die allen Menschen weitgehend gemeinsam seien. Wichtiger noch »als die Existenz der Elementarsätze in allen Sprachen, ist - vom Gesichtspunkt des Übersetzers aus - die Tatsache, daß Sprachen auf der Ebene der Elementarsätze weitaus mehr übereinstimmen als auf der Ebene der reichhaltigeren Oberflächen-Strukturen. Das bedeutet: Wenn man grammatische Strukturen auf die Elementarsatz-Ebene zurückführen kann, können sie viel leichter und mit einem Minimum von Entstellung übertragen werden.« 12 Man könnte diese Elementarformen mit der Theorie der »reinen Form« verbinden, wie sie seit Herder »Beim Übersetzen geht es nicht einseitig nur um eine Bewegung in einer bestimmten Richtung [...], sondern man muss auch umgekehrt fragen, wieweit nicht der Empfänger auf den Autor und seinen Text zu bewegt werden soll bzw. sich zu bewegen muss.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 18 Günter Röhser Kriterien einer guten Bibelübersetzung ZNT 26 (13. Jg. 2010) 19 diskutiert wird und von da aus auch in die ältere Formgeschichte Eingang gefunden hat (M. Dibelius, R. Bultmann), und so Anschluss gewinnen an eine kultur- und geistesgeschichtlich bedeutsame Debatte in Hermeneutik und Ästhetik über Fragen der literarischen und künstlerischen Form. 13 Dann würde eine frappierende Ähnlichkeit von Nidas Theorie mit der Bauhaus- Ästhetik und ihrer Verbindung von reiner Form und Funktionalität auffallen. Nur das Reine und Einfache ist wirklich bedeutungsvoll und bedeutungstragend gegenüber aller sekundären Einkleidung und Formgebung. Ist es Zufall, dass bei Nida die konkrete sprachliche Formgebung der Übersetzung, und d.h. das Erreichen der funktionalen Äquivalenz, gebunden ist an den konsequenten »Neuaufbau« - man beachte die Metaphorik! - des Textes aus den ermittelten Elementarformen? Das bedeutet nebenbei, dass auch Nidas Übersetzungstheorie - was leicht zu Verwirrung führen kann - einen produktions- und keinen rezeptionsorientierten Ansatz darstellt, weil er auf die Äquivalenzrelation der Textfunktion von Ausgangs- und Zieltext Wert legt, und diese wiederum ist gebunden an in oder unter den beiden Texten verborgene Grundstrukturen und von diesen abhängig. Auch der technisch-rationalistische Grundzug der Herangehensweise verbindet diesen Ansatz mit der Bauhaus-Ästhetik (einfache Form, klare Funktion, völlige Durchsichtigkeit und leichte Verständlichkeit). Demgegenüber geht die neuere Textlinguistik von einer unauflöslichen Zusammengehörigkeit von Form und Inhalt aus. Ohne Form (verstanden als die Summe der sprachlichen Merkmale eines Textes inklusive Rhythmus und Klang) gibt es keinen Inhalt, ohne Inhalt keine Form (selbst die bloße grammatische Struktur eines Nonsens-Gedichtes ist noch bedeutungstragend - für ebendiesen Nonsens). Beide zusammen sind konstitutiv für die Bedeutung eines Textes. Die sog. Antithesen, besser: Kommentarworte, der Bergpredigt im Matthäusevangelium oder die »Hymnen« der lukanischen Vorgeschichte oder die Gleichnisse Jesu können ihre Botschaft nicht vermitteln und ihre inhaltliche Wirkung nicht entfalten ohne ihre konkrete sprachliche Gestalt. Deshalb sind auch Inhalt und Funktion einer Übersetzung gebunden an ihre konkrete sprachliche Gestalt (inklusive Rhythmus und Klang) und ihre konkreten rhetorischen Signale. 14 Auch hieran kann man eine »funktionale« Übersetzungstheorie anschließen, aber die Frage nach dem Gelingen einer Übersetzung ist dann nicht an der Erhaltung einer identischen Textfunktion orientiert (wie bei Nida), sondern ausschließlich an der Funktion beim Hörer bzw. der Leserin: Er/ sie soll die ursprüngliche Textintention und -funktion wenigstens ansatzweise verstehen und nachvollziehen können. Ob es wirklich dazu kommt und eine ähnliche Wirkung sich einstellt, kann der Übersetzer nicht garantieren - die Fremdheit des Textes könnte zu groß sein oder der heutige Adressat auf den Inhalt der Übersetzung anders reagieren (verständnislos, irritiert, ablehnend) als der damalige Adressat auf den Ausgangstext. Davon abgesehen wissen wir in der Regel nicht, wie die Erstadressaten tatsächlich auf den Text reagiert haben - wir können nur seine intendierte Wirkung aus den rhetorischen Textsignalen abzulesen versuchen. Jedenfalls kann das Ziel des Übersetzens hier allenfalls eine Ähnlichkeitsrelation zwischen Ausgangs- und Zieltext bzw. deren jeweiliger kommunikativer Funktion sein, weil Inhalt und Funktion an die jeweilige sprachliche Form gebunden und darum per se (Ausgangs- und Zielsprache) nicht identisch sind. Insofern ist das Ziel von vornherein »bescheidener« als bei Nida und man kann die Frage, ob es nicht doch identische Grundstrukturen »in«, »unter« oder »hinter« den Texten gebe (man fühlt sich in mancher Hinsicht an Dietrich Ritschls »implizite Axiome« erinnert), getrost auf sich beruhen lassen. Es kommt nicht darauf an, dass Textaussagen - auch ausgangs- und zielsprachliche Aussagen - in der Tiefe »identisch« sind, sondern ob sie einander »berühren« oder wenigstens aneinander »angenähert« werden können (diesen Satz kann man cum grano salis auch auf Menschen beziehen! ). Insofern kann die Zusammengehörigkeit von Form und Inhalt nicht als Argument gegen eine funktionale Ausrichtung des Übersetzens am Hörer bzw. der Leserin (Rezeptionsorientierung) oder gar gegen die Übersetzbarkeit von Texten als solche (dazu s. gleich) verwendet werden. Beide genannten Ansätze (Nida und seine rezeptionsorientierten Kritiker) stimmen darin überein, dass die sprachliche Form eines Bibeltextes bzw. die formale Ausdrucksgestalt seines Inhalts aufgrund des zeitlichen und kulturellen Abstands verändert werden müssen, damit der heutige Leser die Chance erhält, die Wirkung und den Inhalt des Textes bzw. seiner Übersetzung tatsächlich (an sich selbst) zu erfahren. Beide Ansätze sind damit »funktional«, aber nicht »funktionalistisch« ausgerichtet. »Funktionalistisch« würde heißen: Es geht nur um die Funktion um der Funktion willen. Mit »Wirkung« ist hier aber nicht bloße Emotion oder bloße Reaktion ohne jeden qualifizierten Inhalt gemeint. Niemand käme auf die Idee, die Freudenbot- »Übersetzen heißt zwei Herren dienen.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 19 Zum Thema 20 ZNT 26 (13. Jg. 2010) schaft von Phil 4,4 oder aus dem Weihnachtsevangelium durch das Erzählen eines guten Witzes zu ersetzen. Die Wirkung wäre zwar vermutlich dieselbe (Freude), die funktionale Übersetzungsaufgabe aber nicht erfüllt. Auch bei Nida war nie an das Kriterium der Wirkung um der Wirkung willen gedacht. Insofern greift der Vorwurf der Emotionalisierung oder Psychologisierung der Übersetzungsaufgabe zu kurz - oder sollte zumindest nicht nur als Kritik verstanden werden, denn es geht tatsächlich um mehr als um die möglichst wortgetreue Wiedergabe theologischer Ideen und Gedanken - nämlich um die zumindest prinzipielle Möglichkeit des Verstehens der alten Texte in ihrer Welt und ihrer heutigen lebendigen (! ) Aneignung. 3. Übersetzbarkeit/ Unübersetzbarkeit Die unauflösliche Zusammengehörigkeit von Form und Inhalt wird immer wieder auch als Argument für formale oder wortgetreue Bibelübersetzung genannt: Nur wer die sprachliche Form eines Textes bewahre, könne auch seinen Inhalt unverfälscht weitergeben. Verkannt wird dabei die tiefgreifende Differenz in den grammatischen Strukturen und sprachlichen Ausdrucksformen zwischen den Sprachen und auch innerhalb ein und derselben Sprache in verschiedenen Epochen, die damit auch die Inhalte (gerade wegen dieser Zusammengehörigkeit von Form und Inhalt) unzugänglich macht und mit dem zeitlichen Abstand immer unverständlicher werden lässt. Die extremste, aber auch konsequenteste Anwendung dieser These ist die Behauptung einer prinzipiellen Unübersetzbarkeit (bes. religiöser Texte). Judentum und Islam schützen damit die unverletzliche Authentizität ihrer normativen Grundlagen (hebr. Tora und arab. Koran) und damit ihre religiöse Identität, in der mittelalterlichen Kirche hatte die lateinische Vulgata (als Übersetzung! ) jahrhundertelang eine ähnliche Stellung inne und die Hartnäckigkeit, mit der z. B. die Luther-Übersetzung lange Zeit gegen jegliche Veränderungen verteidigt wurde (und teilweise immer noch wird), ist soziologisch und religionspsychologisch durchaus auf derselben Linie zu sehen. Man ist allenfalls bereit, (andere) Übersetzungen als Notbehelf zu sehen, der nicht ohne Substanzverlust gegenüber der »heiligen« Sprache möglich ist. Die These von der Unübersetzbarkeit ist aus der modernen Metapherntheorie bekannt: »Wahre Metaphern sind unübersetzbar« (P. Ricoeur). Hier bezieht sie sich darauf, dass zumindest bestimmte Metaphern (Interaktionsim Unterschied zu Substitutionsmetaphern, vgl. M. Black) nicht in nichtmetaphorische Sprache »übertragen«, nicht durch sie »ersetzt« oder adäquat umschrieben werden könnten, da sie eine einzigartige Form der Erschließung, ja Stiftung von Wirklichkeit durch Sprache darstellten, die auf keine andere Weise erreicht werden könne. Als »Sprachereignisse« könnten sie nicht in andere Sprache, sondern nur ins Leben »übersetzt« werden. Die Analogie zu unserem Übersetzungsproblem liegt auf der Hand. Auch hier werden dann zumindest einige Texte - z.B. lyrische oder religiöse - von der »Übersetzbarkeit« ausgenommen; sie werden ihr systematisch entzogen. Der Grund liegt in ihrem besonderen Charakter - z.B. als religiöse Offenbarung. Diese sei so einzigartig, dass sie durch eine Übersetzung nur entstellt werden könne. Auch Verständnisschwierigkeiten seien eher Hinweis auf den göttlichen Charakter der Offenbarung, sie seien aber nicht vorschnell zu beseitigen. Da eine adäquate oder gar äquivalente Wiedergabe nicht möglich ist, kann die Aufgabe - ggf. auch die einer Übersetzung - nur darin bestehen, zum Original und seiner Sprache hinzuführen und eine Übersetzung überflüssig zu machen. Hier gilt dasselbe, was auch für die These von den unübersetzbaren Metaphern gilt: Es liegt eine spätidealistische Überschätzung von Sprache vor. Ein solcher Irrationalismus entzieht sich der Aufgabe, die doch gerade die Exegese zu leisten hätte, nämlich für fremde Metaphern und fremdsprachige Texte eine angemessene Umschreibung und Übersetzung zu finden und Kriterien für deren Qualität zu entwickeln. Im Falle von Metaphern muss der Kontext untersucht und müssen traditions- und religionsgeschichtliche Vergleiche angestellt werden; im Falle von Übersetzungen gilt es alle Faktoren zu bedenken, die dabei eine Rolle spielen (s. u.). Jedenfalls ist Unverständlichkeit als solche noch kein Ausweis für göttliche Offenbarung; »Offenbarung« kann vielmehr nur dort sein (wie schon der Name sagt), wo zumindest prinzipiell verstanden wird, was oder wer offenbart wird. Und umgekehrt bietet eine leicht verständliche Übersetzung keine Gewähr dafür, dass der Inhalt auch akzeptiert und angenommen wird. Selbst in der Sprache der Hoffnung-für-alle- Übersetzung oder der Volx-Bibel bleibt das Wort vom Kreuz eine anstößige Botschaft. Wäre es anders, müsste sich angesichts der vielen Übersetzungsversuche in heutige (Alltags- und Jugend-)Sprache eine missionari- »[...] es geht tatsächlich um mehr als um die möglichst wortgetreue Wiedergabe theologischer Ideen und Gedanken [...]« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 20 Günter Röhser Kriterien einer guten Bibelübersetzung ZNT 26 (13. Jg. 2010) 21 sche Erfolgsgeschichte an die andere reihen - was offenkundig nicht der Fall ist. Auch die praktische Erfahrung mit Metaphern und Übersetzungen lehrt: Annäherungen, ja Berührungen mit dem Gemeinten sind offensichtlich möglich; es besteht kein Grund zu der Annahme, dass alle diese exegetischen und translatorischen Bemühungen immer nur ins Leere laufen. Die sprachlich-textlichen Phänomene sind als Bündelungen menschlicher Erfahrung immer auch der Rekonstruktion bzw. Interpretation zugänglich. Angesichts dessen darf gelten: Ob es tatsächlich so etwas wie ein »letztes Geheimnis« hinter oder in einer Metapher oder einem Text gibt, das durch eine »Übersetzung« nicht erreicht werden kann, wissen wir nicht und brauchen wir - jedenfalls für unsere Zwecke - nicht zu wissen; die Frage kann getrost auf sich beruhen. Dass ein Text zumindest in seinem Klang oder auch in seiner genauen rhetorischen Wirkung (seiner »Ausdruckskraft«) durch eine Übersetzung nicht »ersetzt« werden kann, hatten wir oben schon festgestellt (letzteres gilt gerade auch für gelungene Metaphern: Sie sind rhetorisch und literarisch unersetzlich): Der »Reiz« des Französischen oder eines hebräischen Psalms ist im Deutschen nie einzufangen - aber nicht deshalb, weil sie unübersetzbar oder heilig wären, sondern einfach deshalb, weil sie nicht (in) deutsch sind! Allerdings kann die Übersetzung eines biblischen Psalms ihre eigene rhetorische Wirkung und ihren eigenen »Reiz« entfalten, und warum soll der Heilige Geist sich nicht dieser Rhetorik bei der Vermittlung der »Botschaft« bedienen können? Jörg Rothermundt hat schon 1984 in einer wegweisenden Untersuchung zu »theologischen Grundlinien einer empirischen Homiletik« (so der Untertitel) Vorbehalte gegen die Rhetorik in Bezug auf die Predigt zu überwinden gesucht und ist dabei zu Einsichten gelangt, die sich mühelos auf das Übersetzungsproblem anwenden lassen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich - wie in unserem Fall - um das Problem der Bibelübersetzung handelt, also eines Textes mit dem Anspruch religiöser Verbindlichkeit. Das Werk trägt den Titel »Der Heilige Geist und die Rhetorik« und zeigt, dass man beide Größen nicht gegeneinander ausspielen darf, sondern theologisch aufeinander beziehen muss. Das Wirken und die Erfahrung des Heiligen Geistes in der Weitergabe des Evangeliums (sei es in der Verkündigung, sei es in der Übersetzungstätigkeit) ist der Ort, an dem die Sorgfalt des Exegeten ebenso wie das Bemühen um »Verständlichkeit« gefragt ist. Denn es gilt (in grundsätzlicher Übereinstimmung mit R. Bohren, der in diesem Zusammenhang zitiert wird): »Wo wir […] vom Geist ans Werk gesetzt werden und uns also selbst ans Werk setzen, kommen Methoden ins Spiel, wird Technik angewandt, Kunst geübt, Wissenschaft gebraucht.« 15 »Kunst« ist hier wohl im Sinne von »Kunstfertigkeit« gemeint, man darf hier aber durchaus auch an die kreativen Dimensionen des Predigens und Übersetzens denken. - Warum ist das so? Weil es in alledem um das Bemühen um die Hörer geht, um die Liebe zu den Empfängern der Botschaft - und die Liebe ist ein Werk des Heiligen Geistes. Der Prediger bzw. die Übersetzerin »kann sich gar nicht genug um den Hörer kümmern. Bei der Liebe gibt es kein Zuviel […] Wer meint, wenn er zu sehr auf den Hörer eingehe, verrate er das Evangelium, stellt alles auf den Kopf. Nur die Liebe wirkt den Glauben.« 16 Damit ist aber auch sichergestellt, dass es nicht um ein Überreden oder Verständlich-Machen um jeden Preis und schon gar nicht um Manipulation geht. Zugleich ist damit begründet, warum es auch theologisch legitim ist, nach Kriterien für eine gute Bibelübersetzung zu fragen und nicht einfach alles dem unverfügbaren Wirken des Heiligen Geistes zu überlassen (das im Übrigen unverfügbar bleibt, weil auch die beste Predigt und die beste Übersetzung das Verstehen nicht garantieren und schon gar nicht den Glauben erzwingen können). 4. Übersetzungstypen Idealtypisch lassen sich zwei Hauptgruppen von Übersetzungen unterscheiden: die produktions- und die rezeptionsorientierte. Die produktionsorientierte wird auch »dokumentarische Übersetzung« genannt, ihr steht die »instrumentelle Übersetzung« gegenüber. 17 Sie unterscheiden sich durch Art und Ausmaß ihrer jeweiligen Orientierung an dem zu übersetzenden Text (und seinem Autor), wobei die Übergänge aber durchaus fließend sind und auch in ein und derselben Überset- »[D]ie Übersetzung eines biblischen Psalms [kann] ihre eigene rhetorische Wirkung und ihren eigenen ›Reiz‹ entfalten, und warum soll der Heilige Geist sich nicht dieser Rhetorik bei der Vermittlung der ›Botschaft‹ bedienen können? « »Der Prediger bzw. die Übersetzerin ›kann sich gar nicht genug um den Hörer kümmern‹.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 21 Zum Thema 22 ZNT 26 (13. Jg. 2010) zung durchaus Schwankungen in der Orientierung vorliegen können. Die Idealtypen gliedern sich in verschiedene Unterarten: Zum dokumentarischen Übersetzungstyp gehören die Wort-für-Wort-Übersetzung (Interlinearversion), die wörtliche Übersetzung (mit ihrem speziellen Merkmal der begriffskonkordanten Wiedergabe) und die philologische Übersetzung. Zum instrumentellen Übersetzungstyp zähle ich die kommunikative und die bearbeitende Übersetzung - wobei erstere Bezeichnung auch gleichbedeutend mit »instrumentelle« und diese wiederum gleichbedeutend mit »funktionale« Übersetzung gebraucht werden kann. Der Schwerpunkt ihrer Orientierung liegt bei den Rezipienten (und ihrer Welt); es ist aber oben schon deutlich geworden, dass auch eine funktionale wie die bearbeitende (auch: paraphrasierende, adaptierende oder transformierende) Übersetzung nicht ohne eine gewisse Mindestorientierung am Ausgangstext auskommen kann. Andererseits sollte man Bezeichnungen wie »paraphrasierend« oder »adaptierend« für eine instrumentelle Übersetzung auch nur mit Vorsicht verwenden, weil keine der genannten Formen (außer der Wort-für-Wort-Übersetzung) auf ein Mindestmaß an Paraphrase und Adaption (Umschreibungen, Anpassungen an die Strukturen der Zielsprache) verzichten kann. 18 Aus dem Gesagten ergibt sich ein doppelter Gesichtspunkt: 1) Die Fülle der faktisch vorhandenen Übersetzungstypen bzw. -arten legt von sich aus nahe, hier nicht nach »besser« oder »schlechter« zu fragen. Die Frage kann nicht lauten, ob eine Übersetzungsform »gut« oder »schlecht« ist, sondern nur: gut oder schlecht »für wen«? Wenn wir so fragen, dehnen wir den »funktionalen« Ansatz von seiner Verwendung für einen bestimmten Übersetzungstyp (rezipientenorientiert, instrumentell) auf die Betrachtung von Übersetzungen insgesamt aus. So kann z. B. eine Interlinearversion ein hocheffizientes »Instrument« für einen Nutzer/ eine Nutzerin sein, der oder die sich bei mangelnden altsprachlichen Kenntnissen trotzdem mit dem biblischen Urtext beschäftigen will. Dass dieser Text für eine Kinderbibel nicht geeignet ist, liegt ebenso auf der Hand. Wenn wir also von funktionalen, instrumentellen, speziell: kommunikativen Übersetzungen im engeren Sinn sprechen, so denken wir dabei an einen bestimmten Rezipiententyp - nämlich denjenigen eines erwachsenen, durchschnittlich gebildeten Lesers, der grundsätzlich Interesse an der Bibel hat und dem der Zugang zu Sinn und Text nicht unnötig schwer oder der ihm sogar leicht gemacht werden soll. Gegen diese »kommunikative« Zielsetzung ist nach unseren obigen Überlegungen nichts einzuwenden. 2) Auf der anderen Seite müssen auch Sinn und Text der Bibel in ihrem Eigenwert respektiert werden und dürfen nicht vorschnell dem Streben nach Verständlichkeit geopfert werden. Hieraus ergibt sich ein erstes allgemeinstes Kriterium: Eine Bibelübersetzung ist gut, wenn sie einen gelungenen Ausgleich zwischen den Bedürfnissen der Nutzerinnen und Leser einerseits und dem Inhalt und Sinn des Textes andererseits herstellt. Orientiert man sich dabei an den Bedürfnissen der Mehrheit der heutigen mutmaßlichen Nutzerinnen und Leser, so wird man der Rezeptionsorientierung den Vorzug geben müssen, ohne die Berechtigung und Notwendigkeit des anderen Übersetzungstyps grundsätzlich zu bestreiten. 5. Übersetzungsfaktoren Im Folgenden bespreche ich die verschiedenen Gesichtspunkte und Faktoren, die bei einer Übersetzung eine Rolle spielen und für die konkrete Beurteilung im Einzelnen maßgeblich sind. In Verbindung mit den obigen Überlegungen lassen sich so weitere Kriterien einer guten Bibelübersetzung gewinnen. 5.1. Der Ausgangstext, sein Autor und dessen Welt Bei der Behandlung des Brückenbildes ist schon deutlich geworden, dass es sich beim Übersetzen eben nicht nur um das Über-Setzen eines Textes von einer Sprache in die andere, sondern um die Herstellung einer Verbindung zwischen zwei Welten, oder besser: Kulturen, handelt. Der Autor eines Textes ist immer Teil seiner eigenen Lebenswelt, Kultur und Sprachgemeinschaft und unauflöslich mit ihr verbunden und durch sie geprägt. Durch die Übersetzung wird also auch eine Brücke zwischen ihm und den Menschen einer anderen Kultur und Sprachgemeinschaft, die diese Übersetzung lesen und benutzen, hergestellt. Genauer müsste man sagen: Es ist Aufgabe einer guten Übersetzung, diese Brücke herzustellen. Eine Garantie dafür, dass es gelingt, gibt es nicht; dafür sind zu viele Unwägbarkeiten im Spiel. Bei dieser Aufgabenbestimmung ist zweierlei vorausgesetzt: »Die Frage kann nicht lauten, ob eine Übersetzungsform ›gut‹ oder ›schlecht‹ ist, sondern nur: gut oder schlecht ›für wen‹? « 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 22 Günter Röhser Kriterien einer guten Bibelübersetzung ZNT 26 (13. Jg. 2010) 23 1) Zumindest bei Texten der Vergangenheit ist ein angemessenes Verständnis nicht möglich, ohne die historischen Abfassungsverhältnisse, und d.h. auch und vor allem den Autor und seine Intention in den Blick zu nehmen. Es genügt nicht, Oberflächenoder/ und Tiefenstrukturen (so man an deren Existenz glaubt) zu analysieren, sondern es muss eine Verortung in der konkreten historischen Entstehungssituation versucht werden. 2) Der Weltbezug des Menschen ist durch Sprache vermittelt. Durch sie erschließt sich ihm die ihn umgebende Wirklichkeit, wie er umgekehrt auf diese einzuwirken vermag. Das heißt aber: Über die Sprache ist die jeweilige Weltauffassung von Textproduzent und Übersetzungsrezipient unhintergehbar in die jeweiligen Texte (Ausgangs- und Zieltext) eingezeichnet. Wieweit sie im Einzelfall miteinander kompatibel oder füreinander anschlussfähig sind, muss erst im Zuge des Übersetzungsprozesses geklärt und umgesetzt werden. Auf jeden Fall muss man die jeweiligen Ausgangs- und Zieltexte im Horizont ihrer jeweiligen Ausgangs- und Zielkultur betrachten, wenn Übersetzungen gelingen sollen. Nun haben gerade der Forschungszweig der neueren Kulturanthropologie und seine Rezeption in der Bibelwissenschaft noch einmal verstärkt deutlich gemacht, wie tief die Gräben zwischen antik-biblischer und heutiger (westlicher) Welt sein können - die Differenzen betreffen eben nicht nur Ideen (z.B. religiöse und theologische Gedanken), sondern auch und gerade grundlegende kulturell bedingte Weisen der Wahrnehmung, von der Erfahrung der sozialen Realität bis hin zu psychophysischen Dispositionen. Zu ersterer schrieb Edward Sapir schon 1956: »No two languages are ever sufficiently similar to be considered as representing the same social reality. The worlds in which different societies live are distinct worlds, not merely the same world with different labels attached.« 18 Dabei gibt es natürlich verschiedene Grade der Fremd- und Unterschiedenheit: 1) Bestimmte Sachverhalte oder Aussagen sind so abständig, dass sie durch die Übersetzung alleine nicht ausreichend verständlich gemacht werden können (es sei denn, man will gerade diese Erfahrung vermitteln). Dann muss in irgendeiner Form eine Erklärung hinzugefügt werden (Anmerkung, Glossar, Einleitung). 2) Andere sind nur missverständlich oder schwer verständlich und können durch die Übersetzung einem angemessenen Verständnis nahe gebracht oder erschlossen werden. Ein klassisches Beispiel für Letzteres sind die verschiedenen Verständnisse von »Gerechtigkeit Gottes« bzw. von »Gerechtigkeit« überhaupt. Man kann sich das Problem mit Hilfe der sog. Prototypensemantik von Eleanor Rosch verdeutlichen. 20 Demnach sind die semantischen Eigenschaften eines Wortes nicht in ihm selbst angelegt, sondern das Ergebnis psychischer und kultureller Prozesse und Erfahrungen, die zu einem »prototypischen Kern« eines Wortes führen, welcher seine kulturspezifische Grundbedeutung ausmacht. Während also im hebräischen und griechischen Sprachraum (zedaqah, dikaiosynē) ein Verständnis von »Beziehungsgerechtigkeit« und damit eine positive (heilvolle) Konnotation vorherrschend ist, ist die lateinische »iustitia« im Sinne von »richterlicher Gerechtigkeit« eher ambivalent (weil auch strafend) und an der Einhaltung abstrakter Normen orientiert. Es ist also kaum möglich, dieses Wort (im Zusammenhang mit Gott) ohne nähere Erläuterung oder Umschreibung zu gebrauchen. Man kann sich aber auch in diesem Fall gegen die unmittelbare Verständlichmachung entscheiden, indem man a) den missverständlichen Begriff (aus Gründen der Begriffskonkordanz und Wiedererkennbarkeit) beibehält, oder b) ihn durch einen verfremdeten Begriff ersetzt. Letzteren Weg haben Berger/ Nord gewählt, wenn sie »Gerechtigkeit« mit »Gerechtheit« wiedergeben. 21 In beiden Fällen muss der Begriff dem Leser/ der Leserin erläutert werden (in einer Fußnote, einem Glossar, durch einen Kommentar oder durch eine Erläuterung im Text 22 ). Jedenfalls darf man sich über die Erfahrung der Fremdheit und Differenz nicht einfach hinwegsetzen (etwa durch eine eingängige und simplifizierende Übersetzung), sondern muss versuchen, diese festzuhalten und angemessen wiederzugeben. Als Kriterium ergibt sich: Eine Bibelübersetzung ist gut, wenn sie die Fremdheit des Ausgangstextes wenigstens prinzipiell bewahrt - anders gesagt: wenn sie den semantischen Kern und Sinngehalt der Wörter und Sätze so weit wie möglich erhält. Dies ist nur annäherungsweise möglich, weil der exakte Sinngehalt letztlich an die sprachliche Ausdrucksgestalt des Ausgangstextes gebunden ist. Annäherungen sind aber - wie wir gesehen haben und wie die Erfahrung lehrt - »bis auf Sichtweite« möglich und müssen immer von neuem unternommen werden. Sachlich fallen sie mit der weitergehenden Erforschung - gerade auch der kulturanthropologischen - der Bibel zusammen und sind Ergebnis einer gründlichen Exegese der Texte in allen ihren Dimensionen. »Eine Bibelübersetzung ist gut, wenn sie die Fremdheit des Ausgangstextes wenigstens prinzipiell bewahrt [...]« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 23 Zum Thema 24 ZNT 26 (13. Jg. 2010) Die Übersetzung ist also nicht Voraussetzung, sondern Ziel aller exegetischen Arbeit. 23 Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf die auf Lawrence Venuti zurückgehende Unterscheidung von »foreignizing« und »domesticating translations«. Venuti geht es um eine verfremdende Übersetzung fremdkultureller Texte, um die Vorherrschaft des Englischen und der westlichen Kultur in einem kulturellen Globalisierungsprozess zu brechen - also ein deutlich ideologiekritisches, politisches Anliegen. 24 Gleichwohl oder gerade deswegen deckt sich sein Ansatz mit demjenigen der kulturanthropologischen Exegese, wenn es um die Wahrnehmung fremder kultureller Werte und Texte und deren Schutz vor Vereinnahmung für eigene Interessen und Ideen der Rezipienten bzw. der Übersetzenden geht. Mit Recht beruft er sich auf Schleiermacher, wenn er den Leser in Richtung auf den Autor bewegen möchte und nicht umgekehrt (siehe Anm. 9). Er droht jedoch in die gleiche Falle zu laufen wie die offenbarungstheologischen Verteidiger der »wörtlichen« Bibelübersetzung: Wenn es darum geht, den Leser mit einer fremdartigen Leseerfahrung zu konfrontieren nur um der Andersheit des Anderen willen (sei es eine fremde Kultur, sei es die biblische Offenbarung), scheitert genau das, was doch eigentlich beabsichtigt ist: die Vermittlung neuer und bislang unbekannter Wahrnehmungsperspektiven. Was nicht wenigstens ansatzweise verstanden wird, kann auch nicht respektiert oder wertgeschätzt werden. Deshalb sind »foreignizing« und »domesticating translation« nicht als sich ausschließende Alternativen anzusehen, und zwar auch nicht innerhalb ein und desselben Zieltextes. Als Sonderproblem bezüglich der Welt des Autors soll kurz die Frage angesprochen werden, inwieweit hinter biblischen Texten mündliche Rede hörbar wird bzw. sie für solche bestimmt sind. Die Suggestion mündlicher Rede in der Übersetzung oder beim Vortrag ist nämlich nur so weit gerechtfertigt, wie sie als Charakteristik auch hinter dem schriftlichen Ausgangstext erkennbar wird. Dies ist zweifellos bei vielen biblischen Texten der Fall, aber auch Gegenstand exegetischer Diskussion. Bekanntlich gibt es eine breite Debatte über die gottesdienstliche Verlesung oder gar Inszenierung der Evangelien. 25 Paulus hat seine Briefe mündlich diktiert, wenn auch teilweise auf schriftlicher Basis; in der Gemeindeversammlung wurden sie vorgelesen usw. Der Übersetzer Ernst Wendland hat sich in seinen Werken ausführlich mit dieser Frage befasst - bis hin zur akustischen Gestaltung der Übersetzung. 26 Schließlich kann man unter diesem Übersetzungsfaktor noch ein weiteres Kriterium anführen: Eine Bibelübersetzung ist gut, wenn sie sich als Übersetzung zu erkennen gibt - sei es durch ihre Aufmerksamkeit erregende Sprachform (was etwas anderes ist als Antiquiertheit oder Unbeholfenheit! ), sei es durch ihre Aufmachung oder einen begleitenden Hinweis. Niemals darf sie das Original verdrängen oder ersetzen wollen (wenngleich es faktisch geschieht und gelungene Übersetzungen sich nicht dagegen wehren können) - schon um die Angemessenheit der Übersetzung jederzeit kontrollieren und sich von neuem darüber verständigen zu können. Die Rückfrage nach dem Urtext ist theologisch notwendig - heilsnotwendig ist sie jedoch nicht. Heilsnotwendig ist vielmehr das rechte Verstehen, ggf. auch des Zieltextes (vgl. Apg 2,6.8-11: ein jeder in seiner eigenen Sprache) - womit wir beim nächsten Faktor wären. 5.2. Der Zieltext, sein Leser und dessen Welt Spiegelbildlich gilt für den Zieltext, seinen Leser und dessen Welt dasselbe, was bereits für die Seite des Ausgangstextes gesagt worden ist. Das entscheidende Kriterium ist hier aber nicht »Sinntreue«, sondern »Verständlichkeit«. Dabei gilt: Je mehr Bibelübersetzungen auf (leichte) Verständlichkeit setzen, desto mehr nähern sie sich der gesprochenen Sprache (mündlichen Rede) an. Dies ist nicht nur sachlich nahe liegend, sondern auch ein Erbe Martin Luthers (Sendbrief vom Dolmetschen): Man muss den Leuten - und zwar den gewöhnlichen - »auf das Maul sehen, wie sie reden und darnach dolmetschen« (was nicht notwendigerweise Alltagsjargon bedeutet). 27 Als Kriterium ergibt sich: Eine Bibelübersetzung ist gut, wenn sie für die Adressaten wenigstens prinzipiell verständlich ist - anders gesagt: wenn sie den semantischen Kern und Sinngehalt der Wörter und Sätze so weit wie nötig den Verstehensmöglichkeiten der Adressaten anpasst. Dies ist oft nur annäherungsweise möglich, weil es seine Grenze am Sinngehalt des Ausgangstextes findet und weil der Übersetzer in der Regel nur die typischen, aber nicht die individuellen Verstehensmöglichkeiten seiner Adressaten kennt. Aber auch um die ersteren muss er sich bemühen, wie er sich um das Verstehen des Ausgangstextes bemüht. Es bedeutet jedoch nicht, einen Sinn zu »erfinden«, wo keiner vorhanden ist (z.B. verderbter Text), oder den Inhalt des Übersetzten annehmbarer, zustimmungsfähiger, zeitgemäßer zu machen, als es von der Sache her geboten ist. Die Überset- »Eine Bibelübersetzung ist gut, wenn sie sich als Übersetzung zu erkennen gibt [...]« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 24 Günter Röhser Kriterien einer guten Bibelübersetzung ZNT 26 (13. Jg. 2010) 25 zung kann nur als Ziel haben, dem Leser verständlich zu machen, was er in seiner Freiheit annehmen oder ablehnen kann. Eher könnte es bedeuten, dass die Zielsprache selbst in ihren Ausdrucksmöglichkeiten bereichert wird - ohne wunderlich oder aufgesetzt zu wirken (das klassische Erfolgsmodell ist die Luther-Bibel). Es kommt jedoch ein Weiteres auf der Rezipientenseite hinzu: Die Rezeptionsforschung hat erkannt, dass der konkrete Sinn eines Textes nicht einfach schon in ihm selber liegt, sondern sich erst aus dem Zusammenwirken von Textstrukturen und Rezipient/ in aufbaut. Anders gesagt: Ein Leser besitzt die Freiheit, einen Text anders zu verstehen als seine Mitleserin - und befindet sich trotzdem in Übereinstimmung mit dem Sinnkern des Textes. Dies ist natürlich nur innerhalb bestimmter Grenzen möglich (die durch die Textstrukturen gezogen werden) und ist kein Plädoyer für Beliebigkeit - bei Gleichnis- oder anderen metaphorischen Texten ist diese mögliche Rezeptionsvielfalt aber offenkundig. Auf Bibelübersetzungen angewendet, ergibt sich daraus als Kriterium: Eine Bibelübersetzung ist gut, wenn sie dem Nutzer die Freiheit lässt, die auch der Ausgangstext gewährte - nämlich anders zu verstehen als die Mitnutzerin. Semantische Eindeutigkeit kann nicht in jedem Fall das Ziel einer Übersetzung sein. Zumal wenn der Ausgangstext mehrere Deutungen zulässt, muss die Übersetzung einen Weg finden, dieses zu respektieren. Man könnte auch sagen: Darin äußert sich der Respekt der Übersetzung gegenüber der Fremdheit - nicht des Textes, sondern des Lesers, dessen individuelle Bedürfnisse und Rezeptionsstrategien angesichts des Textes der Übersetzer nicht kennen kann. Noch einmal: Hier wird nicht der Beliebigkeit das Wort geredet, wohl aber der Legitimität verschiedener vom selben Text und Sinnkern gesteuerter Rezeptionen. Radegundis Stolze spricht vom »Unbestimmtheitsaspekt« zu übersetzender Bibeltexte: »Die hebräische und die griechische Sprache enthalten viele grammatisch wie semantisch unbestimmte Ausdrücke, und Luther, wie auch die neue Zürcher Bibel, versuchen dies nachzuzeichnen. Semantische Unbestimmtheitsstellen wirken wie ›Unruheherde‹, sie begrenzen die Eindeutigkeit, geben dem Text seine Beweglichkeit zurück, geben ihm Entfaltungsoffenheit in die Zeit- und Raumbedingtheit des kulturgebundenen Verstehens hinein, und nur so kann dessen Wirkungsgeschichte weitergehen.« 28 Eine gute Bibelübersetzung muss dem Fortgang dieses Prozesses dienen, darf ihm zumindest nicht im Wege stehen. Ein gelungenes Beispiel für Deutungsoffenheit ist die Wiedergabe von Gen 1,1 in der »Bibel in gerechter Sprache« (hg. von U. Bail u. a., Gütersloh 2006, 31): nicht nur in verschiedenen Formulierungen (Bei Beginn, Als Anfang, Durch einen Anfang...), sondern auch in einer ansprechenden graphischen Gestaltung (mehrzeilig, Fettdruck, symmetrische Anordnung). Als negatives Beispiel könnte man auf die Festlegung in Mk 11,17 derselben Bibelausgabe (1918) verweisen, Jesu Jüngerinnen hätten am letzten Pessachmahl teilgenommen (der griechische Text lässt es offen; an der Parallelstelle Mt 26,20f. ist sogar strikt gegen den griechischen Text übersetzt! ). 5.3. Der Übersetzer Schließlich ist auch der Übersetzer/ die Übersetzerin als entscheidender Faktor beim Übersetzen in den Blick zu nehmen. Wie bereits deutlich wurde, ist er kein neutraler Vermittler zwischen den Welten und Kulturen, sondern gehört primär seiner eigenen Welt und Kultur an. Damit ist er auch abhängig und geprägt von bereits vorhandenen, zum Teil äußerst einflussreichen Bibelübersetzungen. Das bedingt, dass er sich das zu vermittelnde Verständnis der anderen, der vergangenen (Text-) Welt erst erarbeiten muss. Seine Professionalität besteht also nicht nur darin, dass er die fremde Sprache beherrscht, sondern geht weit darüber hinaus und erstreckt sich im Falle der Bibel auch auf historischexegetische, kulturanthropologische und ggf. weitere Kompetenzen, damit er sich ein möglichst gut begründetes Urteil über die Textaussage im Blick auf seine potentiellen Leserinnen und Leser bilden kann. Von daher könnte man abschließend statt nach Kriterien einer guten Bibelübersetzung besser nach den Eigenschaften eines guten Bibelübersetzers fragen und darin die genannten Kriterien mit umfassen: Ein guter Bibelübersetzer besitzt die Professionalität, sowohl die Fremdheit und Unvereinnehmbarkeit des Ausgangstextes als auch diejenige der Rezipient/ innen des Zieltextes zu respektieren und gleichwohl an deren Verbindung arbeiten zu können - in der Erwartung, selbst dabei Neues zu lernen bzw. lernen zu müssen. So kann der »Brückenschlag« gelingen zwischen Produktionsorientierung und Rezeptionsorientierung, zwischen der vergangenen und der gegenwärtigen Welt, und eine Begegnung zwischen historischen Autorinnen bzw. Autoren und aktuell Lesenden stattfinden, die dann auch dem besonderen Charakter des übersetzten Buches (»Heilige Schrift«) entspricht. Letzteres ist aber der Verfügbarkeit »Eine Bibelübersetzung ist gut, wenn sie für die Adressaten wenigstens prinzipiell verständlich ist [...]« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 25 Zum Thema 26 ZNT 26 (13. Jg. 2010) durch die Übersetzenden definitiv entzogen und kann deshalb auch kein Kriterium einer guten Bibelübersetzung sein. Eher könnte man zum Abschluss noch das Bewusstsein der Übersetzenden von ihrer eigenen Begrenztheit und Befangenheit als Qualitätsmerkmal anführen sowie die Offenlegung ihrer Ziele samt ihrer hermeneutischen und übersetzungstheoretischen Grundlagen. »Bibel in gerechter Sprache« und Berger/ Nord sind in dieser Beziehung vorbildlich. Die umfangreichen Einführungen zu beiden Werken erheben keinen Alleinvertretungsanspruch; auch legen sie ausführlich und deutlich die Grundlagen und Ziele des jeweiligen Projektes dar und ermöglichen so die kritische Auseinandersetzung. Anmerkungen 1 J. Grimm, Über das pedantische in der deutschen sprache (1847), in: H.J. Störig (Hg.), Das Problem des Übersetzens (WdF 8), Darmstadt 1973, 108-135: 111. 2 Vgl. den gleichnamigen Titel eines Lehrbuchs für Dolmetscherinnen und Übersetzerinnen: M. Kadric/ K. Kaindl/ M. Kaiser-Cooke, Translatorische Methodik, Wien 3 2009. 3 E.A. Nida/ C.R. Taber, Theorie und Praxis des Übersetzens - unter besonderer Berücksichtigung der Bibelübersetzung, o.O. 1969, 23.35.37f (mit Anm. 1).42; zum praktischen Vorgehen ebd., 111f. 4 Zu diesen Begriffen und zur Entwicklung von Nidas Theorie siehe: S. Pattemore, Framing Nida. The Relevance of Translation Theory in the United Bible Societies, in: P.A. Noss (Hg.), A History of Bible Translation, Rom 2007, 217-263: 224ff., sowie P. Ellingworth, Translation Techniques in Modern Bible Translations, ebd. 307-334: 326ff. 5 Nida/ Taber, Theorie und Praxis, 32. 6 Vgl. Kadric/ Kaindl/ Kaiser-Cooke, Translatorische Methodik, 60. 7 Vgl. Kadric/ Kaindl/ Kaiser-Cooke, Translatorische Methodik, 61. 8 Vgl. zum Thema Kinderbibeln den Beitrag von K. Dronsch, Am Anfang war die Übersetzung, ZNT 23 (2009), 62-71, die von »einem letztlich technologischen Modell von Enkodierung und Dekodierung von Botschaften« als dem abzulehnenden, »sprachtheoretisch unhaltbar(en)« Übersetzungsverständnis spricht (69). 9 Vgl. Schleiermachers Doppelbild von denjenigen Übersetzungen bzw. Übersetzern, die den Schriftsteller möglichst in Ruhe lassen und den Leser ihm entgegen bewegen, und denjenigen, die den Leser möglichst in Ruhe lassen und den Schriftsteller ihm entgegen bewegen: F. Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens (1813), in: Störig, Problem, 38-70: 47. - Auch Luther plädiert in der Sondervorrede des »Deutschen Psalters« (»Summarien über die Psalmen und Ursachen des Dolmetschens«) von 1531 dafür, gelegentlich »der hebräischen Sprache Raum (zu) lassen, wo sie es besser macht, denn unser Deutsch tun kann« (zit. nach F. Rosenzweig, Die Schrift und Luther, in: Störig, Problem, 194-222: 197) - d.h. also sich einmal in die dem üblichen Verständnis und der üblichen Praxis entgegengesetzte Richtung zu bewegen. 10 H. Hempelmann, Wortgetreu oder leserfreundlich? Grundfragen der Bibelübersetzung, Wuppertal 2005, 78. 11 So liegt auch der Skopus von Rosenzweigs Überlegungen nicht auf der theoretischen Unmöglichkeit, sondern auf der praktischen Notwendigkeit eines umfassend verstandenen - und über die »blendende Antithese« Schleiermachers (s.o. Anm. 9) hinausführenden - »Übersetzens« durch jegliches Sprechen - welches mit der Bibel begann: F. Rosenzweig, Die Schrift und Luther (1926), in: Störig, Problem, 194- 222: 194f.221. 12 Nida/ Taber, Theorie und Praxis, 37f. 13 Vgl. dazu K. Berger, Formen und Gattungen im Neuen Testament, Tübingen/ Basel 2005, 21ff., bes.: 26-28. 14 Vgl. Berger, Formen und Gattungen, 27: die Form als »Ausdrucksgestalt« des Inhalts, »und zwar bei jedem sprachlichen Produkt.« 15 J. Rothermundt, Der Heilige Geist und die Rhetorik. Theologische Grundlinien einer empirischen Homiletik, Gütersloh 1984, 138. 16 Rothermundt, Heilige Geist, 123. 17 Zu dieser und den folgenden Unterscheidungen siehe: Kadric/ Kaindl/ Kaiser-Cooke, Translatorische Methodik, 112ff. (im Anschluss an C. Nord), sowie R. Kassühlke, Eine Bibel - viele Übersetzungen. Ein Überblick mit Hilfen zur Beurteilung, Wuppertal 1998, 28ff. 18 Vgl. Kassühlke, Bibel, 28. 19 E. Sapir, Culture, Language and Personality, Berkeley 1956, 69. 20 E. Rosch, Natural Categories, Cognitive Psychology 4 (1973), 328-350. 21 K. Berger/ C. Nord, Das Neue Testament und frühchristliche Schriften, Frankfurt/ Leipzig 6 2003, 151 Anm. 6 (»[...] um modernes Verständnis von Gerechtigkeit zu vermeiden«). 22 Berger/ Nord, Das Neue Testament (Übers. Röm 1,17): »[...] daß ein Mensch für Gott als gerecht annehmbar wird, wenn er dem Evangelium glaubt. So schafft also der Glaube diese Gerechtheit.« Vgl. in V.18: »Ungerechtheit«. 23 Vgl. H.G. Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960, 362 (unter anderen philosophischen Prämissen): »Jede Übersetzung ist […] schon Auslegung, ja man kann sagen, sie ist immer die Vollendung der Auslegung, die der Übersetzer dem ihm vorgegebenen Wort hat angedeihen lassen.« 24 »Foreignizing translation in English can be a form of resistance against ethnocentricism and racism, cultural narcissism and imperialism, in the interests of democratic geopolitical relations« (L. Venuti, The Translator’s Invisibility. A History of Translation, London/ New York 1995, 20). Vgl. Ders., The Scandals of Translation. Towards an Ethics of Difference, London/ New York 1998. 25 Vgl. dazu W.T. Shiner, Proclaiming the Gospel. First-Century Performance of Mark, New York 2003, und zu heutigen Praxiserfahrungen L. Schenke, Szenische und liturgische Lesung der Evangelien als Gesamttext, BiKi 62 (2007), 175- 179. Auch die Übersetzungen von Walter Jens (Die vier Evangelien, Stuttgart 1998; Der Römerbrief, Stuttgart 2000) könnten besonders für den öffentlichen Vortrag größerer Zusammenhänge geeignet sein. 26 Siehe etwa E.R. Wendland, Finding and Translating the Oral-Aural Elements in Written Language. The Case of the New Testament Epistles, Lewiston u.a. 2008. 27 Zitiert nach Störig, Problem, 21. Vgl. in der Einleitung zur neuen Zürcher Bibel (Zürich 2 2008): »Die neue Zürcher Bibel will eine zeitgemässe Übersetzung sein; das heisst allerdings nicht, dass sie sich unmittelbar an der heutigen Alltagssprache orientiert.« 28 R. Stolze, Die Sprachform nachreformatorischer Bibelübersetzungen, in: U. Gerber/ R. Hoberg (Hgg.), Sprache und Religion, Darmstadt 2009, 117-164: 161. 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 26 ZNT 26 (13. Jg. 2010) 27 Religion im Dialog Der Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe- Universität Frankfurt/ Main arbeitet seit einigen Jahren gemeinsam mit dem dortigen Fachbereich Katholische Theologie und dem Institut für Religionsphilosophie am Thema »Religion im Dialog«. Der Singular ist dabei zu beachten. Es handelt sich um ein religionstheoretisches Projekt, das nach Grundlagen und Bedingungen fragt, unter denen das Thema Religion gegenwärtig kommuniziert wird, sei es im Dialog mit den Naturwissenschaften, sei es im interreligiösen Dialog. Das Forschungsprojekt »Hermeneutik, Ethik und Kritik Heiliger Schriften in Judentum, Christentum und Islam« verstehen wir als Teilprojekt der fächerübergreifenden Thematik »Religion im Dialog«. Francesca Yardenit Albertini ist jüdische Religionsphilosophin am Institut für Religionswissenschaft der Universität Potsdam, Stefan Alkier ist Neutestamentler am Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität, Ömer Özsoy ist Stiftungsprofessor für Islamische Religion mit dem Schwerpunkt der Koranauslegung an der Goethe-Universität. Wir sind Wissenschaftler und als solche an einem Forschungsprojekt interessiert, das Grundlagen, Bedingungen und Grenzen der Möglichkeit gelingender Dialoge untersuchen möchte. Wir wollen damit einen Beitrag zum friedlichen Zusammenleben der Verschiedenen in freiheitlichen, pluralen Gesellschaften leisten, die ihre Konflikte offen, argumentativ und ohne Einsatz physischer, psychischer oder wirtschaftlicher Gewalt zu erkennen und zu bearbeiten wissen. Wir sind aber nicht nur Wissenschaftler, sondern auch emotional und praktisch in unseren Glaubenstraditionen verankert. Wir sehen durchaus Gemeinsamkeiten unserer Traditionen, in denen wir leben und mit deren Augen wir die Welt und uns selbst begreifen. Wir sehen aber auch Unterschiede, die uns trennen. Wir glauben nicht dasselbe. Wir nehmen wahr, dass das, was der eine unverzichtbar als wahr empfindet, der andere ganz anders sieht. Dass Gott Jesus aus dem Tod am Kreuz in sein ewiges göttliches Leben erweckt hat, bestreiten Juden und Muslime gleichermaßen. Dass Mohammed eine göttliche Offenbarung erhalten hat, die nun im Medium schriftlicher Zeichen normativ für alle als Koran nachzulesen sei, glauben Juden und Christen nicht. Dass Gottes Wort allein in den Heiligen Schriften Israels gültig zu finden sei, akzeptieren Christen und Muslime nicht. Was uns aber eint, ist der Respekt vor der Frömmigkeit des Anderen. Wir sind davon überzeugt, dass die jeweils andere Glaubensüberzeugung aus aufrichtiger Wahrheitssuche und dem Wunsch nach heilvollem Leben für alle erwächst. Was uns gemeinsam erschüttert, ist, dass Religion - gestern wie heute - mitverantwortlich ist für Angst, Gewalt und Terror. Wir sind empört über die Menschen verachtende, zum Töten bereite terroristische Benutzung von Religionen und wollen mit unserem Projekt zeigen, dass ein gewaltfreier, argumentativer und der Wahrheit verpflichteter Dialog der Verschiedenen möglich ist, ohne Anbiederung an die jeweils andere Tradition, ohne simplifizierende und deshalb nicht tragfähige Floskeln, wie die von den »abrahamitischen Religionen«. Abraham bedeutet für Juden etwas anderes als für Christen und wieder etwas anderes für Muslime. Wir glauben nicht dasselbe, aber wir sind davon überzeugt, dass die plurale Gesellschaft einen unverzichtbaren Teil ihrer emotionalen Basis in gelebter Religiosität findet, diese aber auch ein gefährliches Konfliktpotential darstellt, wenn sie ihre kreative Kraft nicht in solidarischen, konstruktiven und kultivierten Bahnen auslebt. Plurale Gesellschaften brauchen deshalb Theologie als kritische Reflexion der je eigenen Glaubenstraditionen und -praktiken und konfessionsfreie Religionswissenschaft, die in vergleichender Systematisierung dem Phänomen der Religiosität als anthropologische Konstante und Religionen als Kultur bildende Komponente in ihren verschiedensten Ausprägungen erforscht. Ein theologisch und religionswissenschaftlich informierter und zugleich emotional tragfähiger Trialog der drei monotheistischen Weltreligionen trüge erheblich zu einem qualitativen Pluralismus bei, dessen Qualität darin bestünde, auf geistreiche, kultivierte und solidarische Weise wirklich verschiedenen Positionen Raum zum Streit um die Wahr- Zum Thema Francesca Yardenit Albertini, Stefan Alkier, Ömer Özsoy Gott hat gesprochen - aber zu wem? Das Forschungsprojekt »Hermeneutik, Ethik und Kritik Heiliger Schriften in Judentum, Christentum und Islam« »Wir sind davon überzeugt, dass die jeweils andere Glaubensüberzeugung aus aufrichtiger Wahrheitssuche und dem Wunsch nach heilvollem Leben für alle erwächst.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 27 28 ZNT 26 (13. Jg. 2010) heit zum Wohl für alle zu geben. Wir wollen zeigen, dass unsere Theologien in der Lage sind, das Fremde als Fremdes zu respektieren, ohne das Eigene aufzugeben. Dabei wollen wir aber vermeiden, woran so mancher Dialog bzw. Trialog krankt. Häufig wird den jüdischen, christlichen, muslimischen Gesprächspartnern die Rolle der allumfassenden Repräsentantinnen bzw. Repräsentanten ihrer Religion zugeschrieben und nicht selten wird diese Zuschreibung angenommen. Judentum, Christentum und Islam sind aber keineswegs so statische Traditionsblöcke, wie das nicht nur Fundamentalisten, sondern auch manche Vertreter der Massenmedien gern hätten, um die Komplexität von Religionsgesprächen auf die Kurzformate zu reduzieren, mit denen sie so gern arbeiten. Die Komplexitätsreduktion mündet dann allzu häufig in verzerrende, zuweilen sogar gefährliche Simplifizierungen. Die Vielfalt innerhalb jüdischer, christlicher und islamischer Traditionen werten wir hingegen nicht als Schwäche der jeweiligen Religion, sondern als Zeichen ihrer Vitalität, ihrer tiefen Verwobenheit in das individuelle und kulturelle Leben, das sie prägen und von dem sie ebenso geprägt werden. Es gibt nicht das Judentum, das Christentum und den Islam. Und es gibt innerhalb der Religionen nicht nur lebendige Vielfalt und den Streit der Interpretationen um angemessene Auslegungen, sondern auch gewalttätige Auseinandersetzungen bis hin zu tödlichen Konflikten. Juden verfolgen Juden, Christen verfolgen Christen, Muslime verfolgen Muslime, nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in unserer Gegenwart. Hinzu kommt, dass sich das Spektrum von Frömmigkeitshaltungen quer durch die scheinbar so leicht abgrenzbaren monotheistischen Weltreligionen zieht. Eine aufgeklärte religiöse Praxis einer Jüdin, eines Christen und eines Muslims sind sich sicher näher als die eines aufgeklärten Christen und eines fundamentalistischen Christen. Die Lehre, die wir aus dieser realistischen Komplexitätslage ziehen, lautet, dass wir die Rolle der Repräsentantin bzw. des Repräsentanten der eigenen Religion nur gebrochen übernehmen können. Unsere Trialogbereitschaft ist bereits Teil eines spezifischen Verständnisses unserer jeweiligen Religion und auch die der anderen. Wir wissen, dass unser jeweiliges Verständnis der eigenen und der anderen Religion keineswegs alle teilen. Allerdings haben wir den Anspruch, dass unsere jeweilige Interpretation der eigenen Religion sowohl der wissenschaftlichen Prüfung als auch den Bedürfnissen lebendiger Frömmigkeit standhält. Unsere Auffassungen sind sicherlich nicht die einzig möglichen, aber sie ermöglichen, mit dem theologischen Konflikt der drei monotheistischen Weltreligionen auf friedliche Weise umzugehen, ohne diesen Konflikt dreier Wahrheitsansprüche harmonistisch zu entschärfen. Wir wollen für unsere Interpretationen werben, weil sich dann die religiös begründete Gewalt gegen andere nicht nur theologisch als unnötig, sondern sogar als blasphemisch erweisen wird und damit die Gewalt gegen andere ungeschminkt als das zum Vorschein kommt, was sie ist: ein hässliches Verbrechen ohne jeden Glanz, eine Beschmutzung der Religion, Sünde gegen Gott. 2. Der kommunizierende Gott und das hermeneutische Problem der Offenbarung Gottes Die drei monotheistischen Weltreligionen teilen eine Grundüberzeugung: Gott hat gesprochen. Er teilt sich mit. Er wendet sich an seine Geschöpfe und seine Geschöpfe dürfen sich an ihn wenden. Die drei monotheistischen Weltreligionen verstehen ihren Gott, als einen Gott, der in Beziehungen lebt. Er lässt seine Geschöpfe nicht im Unklaren darüber, wie sie leben sollen, damit sie ihrer Geschöpflichkeit gemäß im Frieden mit Gott und den Mitgeschöpfen gut leben können. Gott legt offen, wer er ist, wer seine Geschöpfe sind und wie die angemessene Beziehung zwischen Gott und seinen Geschöpfen gestaltet werden soll. Gott offenbart sich und seinen Willen zum Wohlergehen und zum Heil seiner Geschöpfe. Gottes Offenbarung ist göttliche Kommunikation von Schöpfer zu Geschöpf. Schöpfer und Geschöpf kommunizieren aber mit unterschiedlichen Bedingungen. Gottes Wort ist volles Wort, was er sagt, gilt. Gottes Wort ist kreativ. Er schafft Realität mit seinem Wort. Wenn Gott spricht, wird es hell. Gottes Sprache braucht keine Zeichen, die für etwas anderes stehen, was sie selbst nicht sind. Gott ist so sehr in seinem Wort, dass sein Wort und er eins sind. Gottes Wort ist daher Wahrheit. Gott lügt nicht. Zur Lüge bedarf es einer Sprache, die auf Zeichen angewiesen ist. Menschliche Sprache, sei es gesprochene, geschriebene, gestikulierte, bildhafte, elektronische usw. ist auf Zeichen angewiesen, die nicht selbst das sind, was sie bedeuten. Auch menschliche Sprache ist kreativ, aber nicht im vollen Sinn, wie die Sprache Gottes. Menschliche Sprache ist nämlich immer mehrdeutig, interpretationsbedürftig, zur Lüge fähig, und sie drückt selbst im besten Fall gelingender Kommunikation niemals die ganze Wahrheit aus, weil sie immer perspektivisch, ausschnitthaft und situativ ist. 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 28 Francesca Yardenit Albertini, Stefan Alkier, Ömer Özsoy Gott hat gesprochen - aber zu wem? Im Akt der Offenbarung selbst liegt die Notwendigkeit hermeneutischer, kritischer und interpretationsethischer Reflexion begründet. Offenbarung ist nämlich göttliche Kommunikation im Medium menschlicher Zeichensprache. Gottes Offenbarung ist als Gottes Offenbarung ganz wahr, kreativ, heilvoll. Sie ist aufgrund ihres Eintritts in die Bedingungen menschlicher Kommunikation wie jede andere menschliche Kommunikation den formalen Bedingungen zeichenhafter Kommunikation unterworfen. Wenn Gott spricht, wird es hell. Wenn er aber zu den Menschen in ihrer zeichenförmigen Sprache spricht, müssen sie interpretieren. Juden, Christen und Muslime stimmen darin überein, dass Gott verständlich mit den Menschen gesprochen hat, und sie stimmen darin überein, dass er sich auf die Kommunikation mit den Menschen eingelassen hat, aber sie streiten darüber, an wen er sich gewendet hat und auf welche Weise. Im Tanakh spricht Gott zum ersten Mal bei der Schöpfung des Lichts (»Und Gott sprach: Es werde Licht« [Gen 1,3]), nämlich bei der Schöpfung des Prinzips, welches das Leben auf der Erde ermöglicht (vor der Schöpfung des Lichts war die Erde noch »öd’ und wüst« [Gen 1,2]). Trotz der wichtigen Mitteilung an Abraham, um ihn über die Auserwähltheit seines Nachkommens zu informieren, und trotz der genauso wichtigen und unterschiedlichen Mitteilungen an die Propheten ist die Botschaft Gottes am Berg Sinai, die Botschaft an Moses diejenige, in der sich die theo-ontologische Kraft des göttlichen Wortes ausdrückt: »Ehye asher ehye« (Ex 3,14). Um diesen Ausdruck richtig übersetzen zu können, benötigte man ein Tempus, das zugleich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Verbs »Sein« im Sinne von »Existieren, vorhanden sein« ausdrückt. Diese Verbalkonstruktion vermittelt die überzeitliche Vollkommenheit eines Existierenden, der sich jedoch nicht außerhalb der Zeit bekannt macht, sodass die Möglichkeit einer Kommunikation zwischen ihm und seinen Geschöpfen offenbleibt. Christen teilen mit Juden die Auffassung, dass sich Gott in der Geschichte des jüdischen Volks immer wieder mitgeteilt hat und seine durch die Propheten vermittelten Botschaften bleibende Gültigkeit haben. Sie erkennen ausdrücklich die Erwählung des jüdischen Volks als Gottes besonderes Volk an, aber sie behaupten, dass Gott mit dem Leben Jesu von Nazareth, seinem Kreuzestod und seiner eschatologischen Auferweckung in das göttliche Leben hinein seine Verheißung an das jüdische Volk, den Messias als Retter und Friedensstifter für die Juden und die ganze Schöpfung zu senden, bereits erfüllt hat. Für Christen ist deshalb Prof. Dr. Francesca Yardenit Albertini Francesca Yardenit, geb. 1974. Studium der Philosophie, Judaistik und evangelischen eologie in Rom, Freiburg i. Br., Frankfurt und Jerusalem. Forschungsaufenthalte und Vertretungsprofessuren in Israel, Schweiz, Österreich und USA. Seit 2007 Professorin für Religionswissenschaft (Schwerpunkt: Jüdische Religionsgeschichte) an der Universität Potsdam. Im Jahr 2009 ist ihr Werk »Die Konzeption des Messias bei Maimonides und die frühmittelalterliche islamische Philosophie« erschienen. Im Moment arbeitet sie an einem Buch über die messianische Konzeption der Karäer zwischen dem 7. und dem 9. Jh. im heutigen Iraq. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: jüdische Religionsphilosophie der Spätantike und des Frühmittelalters (im besonderen in Nord-Afrika und im Nahen Osten), islamisch-jüdische Beziehungen im Mittelalter, Jüdische Bioethik, Hermeneutik der Heiligen Texte, Frühchristentum und Judentum. Prof. Dr. Stefan Alkier Stefan Alkier ist seit 2001 Professor für Neues Testament am Fachbereich Evangelische eologie der Goethe-Universität Frankfurt/ Main. 2009 erschien im Francke-Verlag als NET 12 seine Monographie »Die Realität der Auferweckung in, mit und nach den Schriften des Neuen Testaments«. Zur Frankfurter Buchmesse in diesem Jahr erscheint wieder im Francke Verlag sein Lehrbuch »Neues Testament«, UTB Basics. Er ist seit Heft 1 der ZNT einer ihrer drei geschäftsführenden Herausgeber. Seit 2008 gibt er zudem den neutestamentlichen Teil des bibelwissenschaftlichen Internetlexikons www.wibilex.de heraus. Prof. Dr. Ömer Özsoy Ömer Özsoy, geb. 1963, studierte islamische eologie sowie Religionspädagogik in Ankara. 1991 promovierte und 1996 habilitierte er in Ankara. Ankara, Salzburg und Frankfurt a.M. sind Stationen seiner Lehrtätigkeit. Seit 2009 ist er Direktor des Instituts für Studien der Kultur und Religion des Islam am Fachbereich Sprach- und Kulturwissenschaften der Goethe-Universität. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Koranexegese, Genese des Koran, Historische Dimensionen des koranischen Diskurses, Moderne koranhermeneutische Ansätze, Geistiges Erbe des Islam, Klassische Wissenschaftsdisziplinen der islamischen eologie. ZNT 26 (13. Jg. 2010) 29 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 29 Zum Thema 30 ZNT 26 (13. Jg. 2010) Jesus von Nazareth, der auferweckte Gekreuzigte, das letztgültige Wort Gottes. Christen können Gott, seine Geschöpfe, den ganzen Kosmos und auch sich selbst nur noch aus der Perspektive der Jesus- Christus-Geschichte verstehen. Gott ist nicht irgendein Gott, sondern er ist genau der Gott und kein anderer, der den durch menschliche Gewalt ermordeten Jesus von Nazareth vom Tod in das ewige Leben Gottes hinein auferweckt hat und sich seitdem nur noch am Kreuz finden lässt als derjenige Gott, der solidarisch mit den Opfern ist. Christen glauben an den Gott Israels, wie er sich in der Jesus- Christus-Geschichte ein für allemal zu verstehen gegeben hat, sie glauben nicht an den Gott der Juden, der seinen Messias immer noch nicht in die Welt gesendet hat und nicht an den Gott der Muslime, weil sie nur an den Gott glauben, der am Kreuz aus der Tragödie menschlicher Gewalt ewiges Leben zum Heil für alle geschaffen hat, die sich vom Geist der Jesus-Christus- Geschichte angesprochen wissen. Für Muslime beginnt Gottes Mitteilung mit seiner Schöpfung, wobei er alle Menschen seine Existenz bezeugen ließ und schon vor ihrem irdischen Dasein darauf verpflichtete, zu bekennen, dass es den einzigen Gott gibt (Sure 7: 172). Durch diese mythologische Szene wird im Koran begründet, dass der Glaube der Menschen an Gott allen geschichtlichen Ereignissen enthoben ist. Die Muslime glauben, dass Gott sich neben dieser prähistorischen Offenbarung auch in der Geschichte durch seine Gesandten immer wieder mitgeteilt hat, wenn die Botschaft in Vergessenheit geraten war, um die Menschen an ihr ursprüngliches Bekenntnis, den Urvertrag, zu erinnern und ihnen mitzuteilen, dass sie dementsprechend leben sollen. So teilen die Muslime die jüdisch-christliche Auffassung, dass Gott sich und seinen Willen auch in der Geschichte Israels mitgeteilt hat, ferner teilen sie mit Christen die Auffassung, dass Jesus von Nazareth der von Gott gesandte Messias ist, verstehen ihn aber als einen Geist von ihm, der seine göttliche Botschaft wiederbelebte (Sure 4: 171). Sie erkennen an, dass die durch Jesus und durch die früheren Propheten Israels vermittelten Botschaften bleibende Gültigkeit haben, aber sie behaupten, dass Gott seine von früheren Propheten verkündigte frohe Botschaft, sein Licht in der Welt zu vollenden und seine einzige Religion zu vervollkommnen, durch die Sendung Muhammads (Sure 5: 42-49) erfüllt hat. Für Muslime ist deshalb Muhammad das Siegel der Propheten und der Koran die letztgültige Manifestation des Gotteswortes, der die göttliche Botschaft der früheren Schriften zusammenfasst, bestätigt und von Missverständnissen und Verfälschungen reinigt, sie also nicht für ungültig erklärt. Da der Glaube der Muslime nicht in einer Heilsgeschichte, sondern in der von Gott geschaffenen menschlichen Natur gründet, ist die Offenbarung Gottes mit seiner Schöpfung identisch (Sure 30: 30). Denn der Gott, der die Menschen anspricht, ist gerade der Gott, der sie bereits erschuf. Die Muslime sehen daher den Menschen von Natur her in der Lage, Gott, seine Geschöpfe, den ganzen Kosmos und auch sich selber zu verstehen und zu begreifen. Sie glauben, dass es nur einen einzigen Gott gibt, aber Menschen unterschiedliche Vorstellungen von ihm haben. Daher erkennen sie an, dass Juden und Christen gemeinsam mit ihnen an den einzigen Gott glauben, der der Gott aller Geschöpfe ist, auch wenn sie ihn anders begreifen (Sure 2: 163). 3. Tanakh, Bibel und Koran als Interpretanten göttlicher Kommunikation Die Notwendigkeit, über Bedingungen und Grenzen der Kommunikation zwischen Gott und Mensch nachzudenken, wird vervielfältigt durch den Gebrauch schriftlicher Medien, die einen normativen Status erhalten. Tanakh, Bibel und Koran beanspruchen mit normativer Geltung die Offenbarung Gottes, wie sie die jeweilige Religion sieht, auf vollständige, angemessene und gültige Art und Weise zu überliefern. Dennoch haben sie nicht dieselbe Stellung innerhalb ihres jeweiligen religiösen Gesamtzusammenhangs und gerade in der Auffassung der theologischen Funktion der jeweiligen Schrift gibt es erhebliche Differenzen auch innerhalb der drei monotheistischen Weltreligionen. Für Juden ist der Tanakh das schriftliche Wort Gottes, während die Mischna und die Gemara, aus denen der Talmud, nämlich die rabbinische Lehre, besteht, das mündliche Wort sind. Die Rabbinen sind zuerst Juristen, welche die Funktion haben, das Gesetz Gottes zu interpretieren, um es auf konkrete Fälle des menschlichen Lebens anzuwenden. Nur Christen haben eine Bibel. Seit dem Kirchenvater Chrysostomos (gest. 407) wird die Sammlung von grundlegenden Schriften, die als Richtschnur christlichen Glaubens im Gottesdienst verlesen und ausgelegt werden, »die Bücher« (hom. in Col 9.1: PG »Eine aufgeklärte religiöse Praxis einer Jüdin, eines Christen und eines Muslims sind sich sicher näher als die eines aufgeklärten Christen und eines fundamentalistischen Christen.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 30 Francesca Yardenit Albertini, Stefan Alkier, Ömer Özsoy Gott hat gesprochen - aber zu wem? ZNT 26 (13. Jg. 2010) 31 62,361) genannt. Die griechische Bezeichnung »ta biblia« ließ erkennen, was das deutsche Wort »Bibel« verdeckt: Die Bibel ist ein Buch der Bücher. Die Bücher, die sie enthält, wurden nicht für sie geschrieben. Sie stammen von ganz verschiedenen Verfassern aus unterschiedlichen Zeiten, Räumen und Kulturen. Sie wurden bereits in verschiedenen Sprachen geschrieben und in viele weitere Sprachen übersetzt, bevor sie dann von Christen für das Buch der Bücher ausgewählt und zusammengestellt wurden. Aber nicht erst das deutsche Wort »Bibel« führt den Singular ein, sondern auch schon die griechische und die lateinische Kirche des frühen Mittelalters verwenden den Singular. Im Griechischen wird die Sammlung auch liebevoll mit dem Diminutiv biblíon, »Büchlein«, bezeichnet. Singular und Plural bringen erst zusammen sachgemäß zum Ausdruck, worum es sich bei der Bibel handelt: eine Sammlung von Büchern, die durch ihre geordnete Zusammenstellung ein neues Sinnganzes bieten. Die Idee der christlichen Bibel als Richtschnur für den Glauben, die als begrenzte Sammlung die autoritative Quelle der Offenbarung Gottes darstellt, wurde im Verlaufe des 2. Jahrhunderts n. Chr. kreiert. Voraus gingen bereits Sammlungen der Paulusbriefe, die u.a. in 2Petr 3,15f. belegt sind, und die Zusammenstellung der vier Evangelien des Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Zwar ist sich die Christenheit einig über das grundlegende Konzept der Bibel, die aus einer Sammlung der Bücher des Alten Testaments und einer Sammlung der Bücher des Neuen Testaments besteht, die zusammen gelesen die große Geschichte von Gottes Handeln von der Schöpfung bis zur Neuschöpfung erzählen, deuten und besingen. Aber welche Bücher berechtigterweise in der Bibel stehen und welchen Umfang sie haben, darüber gab es nie eine Einigkeit in den verschiedenen Christentümern. Bis auf den heutigen Tag haben etwa römisch-katholische und evangelische Christen ein erheblich voneinander abweichendes Altes Testament. Dabei hat nur die römisch-katholische Kirche den Umfang der Bibel dogmatisch festgelegt und alle, die einen anderen Umfang im Gebrauch haben, mit einem verderbenden Fluch belegt, und dies erst im 15. Jahrhundert n. Chr. Auch die theologische Funktion der Bibel wird von Konfession zu Konfession verschieden bestimmt. Während die römisch-katholische Theologie der Schrift die Tradition in der Form der römisch-katholischen Erinnerung gleichbedeutend an die Seite stellt, kommt für evangelische Christen die Norm gebende Funktion nur der durch den von Gott geschenkten Glauben ausgelegten Schrift zu. Dem römisch-katholischen Prinzip »Schrift und Tradition« steht das auf Martin Luther zurückgehende protestantische Schriftprinzip »sola scriptura« gegenüber. Bei allen Differenzen aber ist für Christen die Bibel ein Buch des Glaubens. In keinem Land der Welt wird die Bibel als Gesetzbuch benutzt. Weitgehende Übereinstimmung besteht auch darin, dass das Alte Testament insofern vom Neuen Testament her gelesen werden muss, als das Neue Testament die Kunde von der letztgültigen Offenbarung Gottes in Jesus Christus, dem auferweckten Gekreuzigten als Gottes letztem Wort über die Realität und die Rettung dieser Welt darstellt. Die christliche Bibel erzählt die große Geschichte von Gottes Schöpfung bis hin zur eschatologischen Neuschöpfung, die durch die Jesus-Christus-Geschichte bereits ihren Anfang genommen hat. Ihre Theologie ist narrativ angelegt und zur Ausdeutung bestimmt. Der Koran gilt im islamischen Glauben als das von Gott an Muhammad offenbarte und von ihm an die Menschen übermittelte Wort. Auch wenn umstritten ist, wem die arabische Formulierung des Offenbarten, ob Gott, dem Erzengel Gabriel oder dem Propheten Muhammad, gehört, glauben alle Muslime von vornherein daran, dass die von Muhammad empfangenen Worte göttlicher Herkunft waren und von Muhammad treu weitergeleitet wurden. Dass die vom Propheten verkündeten koranischen Worte zu uns ohne irgendeine Veränderung gekommen sind, betrachten die Muslime nicht als eine Glaubensangelegenheit, sondern als eine historische Tatsache. Der Korantext besteht aus einzelnen Passagen, die von Muhammad in dem Zeitraum von 610-632 als Worte Gottes verkündigt wurden. Diese Worte wurden als eine lebendige Anrede an die dort lebenden Adressaten, d.h. Muhammad, seine Gefährten, die heidnischen Araber, Juden und Christen etc. konzipiert. Daher wurde die neue religiöse Bewegung um Muhammad durch den Koran nicht nur geleitet, sondern auch begleitet, weshalb wir in ihm nicht nur Anweisungen bzw. Bestimmungen, sondern auch Spuren von fast allen Ereignissen seiner Zeit lesen können. Diese Worte wurden von Beginn an nicht nur als göttliche Wegweisung, göttlichen Eingriff in die aktuelle Geschichte, sondern auch als Rezitations- und Liturgietext wahrgenommen. Deswegen legte man schon zu Lebzeiten Muhammads einen besonderen Wert darauf, die von ihm verkündigten Worte sorgfältig zu fixieren und zu rezitieren. So sind unter »Gottes Sprache braucht keine Zeichen, die für etwas anderes stehen, was sie selbst nicht sind.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 31 Zum Thema 32 ZNT 26 (13. Jg. 2010) der ersten Generation Personen zu finden, die den ganzen Koran auswendig lernten, und zudem Menschen, die über individuelle vollständige Koranexemplare verfügten. Allerdings ist es bemerkenswert, dass Muhammad selber sich nicht dazu beauftragt fühlte, eine kanonische Sammlung zu hinterlassen, vielmehr zielte er darauf ab, die Botschaft des Korans durchzusetzen. Erst ein Jahr nach dem Tod des Propheten (632), nämlich in der Zeit des ersten Kalifen Abū Bakr (632- 634) entstand das Bedürfnis, ein Koranexemplar bereitzustellen. Eine Kommission, die unter der Führung von einem der Schreiber Muhammads, Zayd ibn Thābit, im Jahr 633 gegründet wurde, hat anhand privater Exemplare und Gedächtnisse der Korankenner vor aller Öffentlichkeit ein derartiges Koranexemplar fertiggestellt. Zur Regierungszeit des dritten Kalifen ‘Uthmān (644-656) weitete sich das islamische Gebiet so aus, dass nicht nur im Detail voneinander abweichende Exemplare im Umlauf waren, sondern auch der Koran in unterschiedlichen Ortschaften unterschiedlich ausgesprochen wurde. Der Kalif hatte eine Kommission bestellt, die vom selben Zayd, der den Originaltext kannte, geleitet werden und die Unterschiede in der Schrift und Rezitation aufs Mindeste reduzieren sollte. Dieser Redaktionsstab hat, während er den Koran edierte, weder die chronologische Offenbarungsreihenfolge beachtet noch ihn nach Themen geordnet. Er hat sich an die Rezitationsreihenfolge gehalten, die der Prophet beigebracht hatte und die man daher kannte. Die Struktur des uns vorliegenden Korantextes geht auf diese redaktionelle Tätigkeit zur Regierungszeit ‘Uthmāns zurück. Die zeitgenössische westliche sowie muslimische Koranforschung hat gezeigt - auch wenn Nuancen vorhanden sind -, dass kein ernsthafter Zweifel an der Authentizität des Korantextes besteht. Der Koran ist die einzige Grundlage der islamischen Glaubensinhalte. Da er auch Regelungen in Weltdingen beinhaltet, gilt der Koran zusammen mit der Sunna, der prophetischen Tradition, als erste Praxis des Koran durch die erste Generation, für Muslime - wie die Tora für Juden - auch als Gesetz, was in der Rezeptionsgeschichte zur Entwicklung mehrerer Rechtsschulen geführt hat. Umstritten ist unter diesen Schulen nach wie vor, ob die koranischen Bestimmungen wörtlich zu verstehen und anzuwenden sind oder den Bedürfnissen der aktuellen Zeit und dem Geist des Wortlauts entsprechend interpretiert werden müssen. Da der Koran die chronologisch letzte Schrift ist, nimmt er auf die Heiligen Schriften der Juden und Christen Bezug. So finden sich im Koran viele Geschichten aus der jüdischen und aus der christlichen Tradition, und zwar oft in abgewandelter Form. Die sich als Teil göttlicher Kommunikation verstehenden und deshalb normative Autorität beanspruchenden Schriften der drei monotheistischen Weltreligionen widersprechen sich ihrem Inhalt nach in mehrfacher Hinsicht in kontradiktorischer Weise. Juden, Christen und Muslime leben nicht nur in verschiedenen Glaubenswelten, sondern auch in unterschiedlichen Zeiten. Juden leben in der Hoffnung auf die Erfüllung der messianischen Prophezeiung des Tanakh. Sie erwarten den Messias als Friedensbringer, mit dessen Ankunft aller Lug und Trug und jede Gewalt und alles Unrecht ein Ende finden. Ihre massive Kritik am Christentum besteht darin, dass das Unrecht dieser Welt nach dem Auftreten Jesu bezeugt, dass Jesus nicht der Messias gewesen sein kann. Ebenso bestreiten Juden, dass Mohammed eine Offenbarung Gottes zuteil wurde. Die jüdische Zeitrechnung - wie sie seit dem 11. Jh. gebräuchlich ist - beginnt im Jahr, in dem nach dem Schöpfungsbericht die Erde erschaffen wurde. Nach dieser Berechnung war es der 7. Oktober im Jahr 3761 v. c. Z., so dass wir heute im Jahr 5771 sind. Christen sehen mit der Auferweckung des Gekreuzigten Jesus von Nazareth die eschatologische Realität Gottes in diese Weltzeit eingebrochen und mit ihr verschränkt. Sie leben in dieser doppelt bestimmten Zeit, die sie mit der Geburt Jesu beginnen lassen. Sie schreiben deshalb das Jahr 2010 nach Christi Geburt. Christen leben schon jetzt in der vom Eschaton bestimmten letzten Weltzeit. Muslime schreiben das Jahr 1431. Sie leben weder in der Erwartung des Kommens des jüdischen Messias noch glauben sie an die eschatologische Bestimmung der Zeit durch die Jesus-Christus-Geschichte. Die Auferweckung des gekreuzigten Jesus von Nazareth bestreiten sie gemeinsam mit den Juden. Sie leben eher in einer nicht vorherbestimmten, sondern riskanten Geschichte, in der die guten und bösen Handlungen der Menschen bestimmen, wie sie weiterläuft. Daher lassen sie ihre Zeitrechnung mit der Auswanderung der Muslime nach Medina beginnen, die den haltbaren Sieg des Guten gegenüber dem Bösen symbolisiert. Juden, Christen und Muslime glauben nicht nur nicht dasselbe, sondern sie leben mit ihren jeweiligen Autorität beanspruchenden und Norm gebenden Schriften in verschiedenen Zeiten. Dennoch gibt es eine von keinerlei Weltsicht oder Auslegung abhängige empirische Tatsache, die Tanakh, Bibel und Koran miteinander unhintergehbar verbindet: Die Schriftlichkeit der Schrift. Wie auch immer die Schriften ausgelegt werden, als 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 32 Francesca Yardenit Albertini, Stefan Alkier, Ömer Özsoy Gott hat gesprochen - aber zu wem? ZNT 26 (13. Jg. 2010) 33 Schriftzeichen unterliegen sie den formalen Bedingungen der Zeichen und müssen deshalb auch als solche interpretiert werden. Daran ändert auch nichts, dass Christen Jesus für das eigentliche Wort Gottes halten und Muslime darauf pochen, dass die Offenbarung, die der Koran bezeugt, ja eigentliche mündliche Kommunikation darstellt. Die Schriften, die von diesen Offenbarungen zeugen, sind nun einmal Schriften, die nur im Medium ihrer Schriftzeichen existieren, und wer die Realität dieser Tatsache leugnet oder meint vernachlässigen zu können, missversteht nicht nur seine eigene Tradition, sondern entzieht sich damit dem öffentlichen wissenschaftlichen Diskurs und beansprucht damit eine sich von der Realität dieser Welt isolierende religiöse Sonderhermeneutik, die nichts an öffentlichen Universitäten und Schulen zu suchen hat, weil sie Denkverbote lehrt und argumentative Plausibilität durch immunisierende Ideologie ersetzt. Tanakh, Bibel und Koran sind Interpretanten der jeweiligen vorausgesetzten göttlichen Offenbarungen. Sie sind zugleich Schriftzeichen, die als solche interpretiert werden müssen. Ihre religiöse Autorität kommt ihnen als Interpretanten göttlicher Offenbarungen zu. Als Schriftzeichen teilen sie die Bedingungen und Grenzen jeder schriftlichen Kommunikation und auch die Möglichkeit des Missverständnisses. Deshalb bedarf die Hermeneutik der Schriften einer Semiotik der Schrift auf der Basis einer kategorialen Zeichentheorie. 4. Semiotik Heiliger Schriften Schriften sind relationale Zeichengebilde. Als Texte unterliegen auch normative Texte den formalen Bedingungen im Auftreten von Zeichen. Zu den formalen Gegebenheiten jedes Zeichens gehören seine Dreistelligkeit und die damit verbundene Notwendigkeit der Interpretation, die in das Zeichen selbst eine unhintergehbare Vielfalt einschreibt. Etwas erhält eine Zeichenfunktion, wenn es 1) einen sinnlichen Eindruck erzeugen kann, 2) für etwas anderes in bestimmter Hinsicht steht und 3) der sinnliche Eindruck durch ein Drittes mit diesem abwesenden Etwas verknüpft wird und 4) keine dieser drei Bedingungen fehlt. Eine Zeichenrelation ist also eine dreistellige Relation mit den Relata Zeichen, Objekt und Interpretant. Die einzelnen Relata erhalten ihre Zeichenfunktion nur innerhalb dieser dreistelligen Relation. Charles Sanders Peirce definiert die Zeichentriade folgendermaßen: »Ein Zeichen oder Repräsentamen ist alles, was in einer solchen Beziehung zu einem Zweiten steht, das sein Objekt genannt wird, daß es fähig ist, ein Drittes, das sein Interpretant genannt wird, dahingehend zu bestimmen, in derselben triadischen Relation zu jener Relation auf das Objekt zu stehen, in der es selbst steht. Dies bedeutet, daß der Interpretant selbst ein Zeichen ist, der ein Zeichen desselben Objekts bestimmt, und so fort ohne Ende.« 1 Unter fortgesetzter Anwendung seiner Kategorienlehre differenziert Peirce die Relata der Zeichentriade und ihre Beziehungen aus. Das Element des Zeichens gehört in die Kategorie der Erstheit, denn es geht hier um »[...] Qualitäten [...], deren ursprünglicher Wert gerade in ihrem noch unbestimmten Zur-Verfügung- Stehen liegt.« 2 Die Kategorie der Zweitheit kommt mit Blick auf das Objekt 3 ins Spiel. Peirce schreibt: »Das Zeichen ist niemals das eigentliche Objekt selbst. Es ist deshalb ein Zeichen seines Objekts nur in einem Aspekt, in einer Hinsicht.« 4 Das Zeichen repräsentiert das Objekt in einer Hinsicht. Kein Zeichen ist dazu in der Lage, sein Objekt in jeder Hinsicht zu repräsentieren. Es wählt einen bestimmten Gesichtspunkt aus. Dieses in der Zeichentriade durch die Auswahl einer Hinsicht repräsentierte Objekt nennt Peirce das unmittelbare Objekt. Das unmittelbare Objekt hat seinen Ort innerhalb der Zeichentriade, und zwar nur innerhalb dieser Triade. »Das unmittelbare Objekt ist das Objekt, das im Zeichen dargestellt wird.« 5 Das dynamische Objekt hingegen ist das Objekt, das die Erzeugung eines Zeichens motiviert und von dem das unmittelbare Objekt nur eine Hinsicht darstellt. Das dynamische Objekt ist die Kraft, die den Zeichenprozess, die Semiose, motiviert. Die Differenzierung zwischen dem dynamischen und dem unmittelbaren Objekt vermag zum einen die unbegrenzte Hervorbringung neuer Zeichen zu erklären, den Akt unbegrenzter Semiose, zum anderen führt sie aber auch ein regulatives Prinzip in den Akt der Interpretation ein, da die Motivation aller Interpretation die Idee des dynamischen Objekts ist. Das unmittelbare Objekt hat als sein mögliches Korrektiv immer das dynamische Objekt hinter und vor sich. Das dynamische Objekt ist immer reicher als eine seiner Hinsichten. Die Unterscheidung zwischen dem dynamischen und dem unmittelbaren Objekt verweist damit aber auch auf die Notwendigkeit einer Auslegungsgemeinschaft, denn wir bekommen das dynamische Objekt immer nur als unmittelbares Objekt zu sehen. Das dynamische Objekt kann annäherungsweise nur ausdifferenziert werden in einer unendlichen Hervorbringung von Semiosen, die derart aufeinander verwiesen sind, dass sie sich gemeinsam um die Ausdifferenzierung des dynamischen Objekts bemühen. 6 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 33 Zum Thema 34 ZNT 26 (13. Jg. 2010) Peirce unterscheidet schließlich den unmittelbaren, den dynamischen und den finalen Interpretanten. 7 Der unmittelbare Interpretant ist die unbestimmte, vage Verbindung zwischen zwei Relata, die diese als ein Zeichen und ein Objekt bestimmt, so dass überhaupt ein Prozess der Semiose in Gang gesetzt wird. 8 »Der dynamische Interpretant ist einfach das, was von einem gegebenen individuellen Interpreten dem Zeichen entnommen wird.« 9 »Der finale Interpretant ist die letzte Wirkung des Zeichens, insofern diese von der Beschaffenheit des Zeichens her intendiert oder vorbestimmt [destined] ist, welche dabei eine mehr oder minder gewohnheitsmäßige und formale Natur hat.« 10 Die Sinnerzeugung wird demzufolge als ein Zeichenprozess verstanden, der von einem dynamischen Objekt angeschoben wird und gleichursprünglich einen ersten Interpretanten bildet, der etwas als Zeichen dieses dynamischen Objekts wahrnimmt und mittels dieses Zeichens einen bestimmten Aspekt des dynamischen Objekts als unmittelbares Zeichenobjekt in die vom dynamischen Objekt ontologisch zu unterscheidende Zeichenrelation einbringt auf der Basis eines zwischen dem dynamischen Objekt und dem unmittelbaren Objekt als gemeinsam postulierten Grundes. Die hermeneutische Konsequenz dieses Zeichenmodells für die Textauslegung lautet: Der potentielle Sinn eines Textes wird erst im Akt des Lesens aus der Korrelation von vorgegebenen Textstrukturen und realem Leser in seinem jeweiligen geschichtlichen und kulturellen Kontext realisiert. Die Vorgabe der Textzeichen setzt den Lektüren Grenzen, die notwendige Kreativität und Individualität der Lesenden im Rahmen ihrer jeweiligen Kultur generiert die sachgemäße Vielfalt der Interpretationen. Zeichen sind nicht nur in formaler Hinsicht relationale Gebilde. Ein Zeichen funktioniert erst durch seinen Gebrauch in Zeichenzusammenhängen wie Gesprächen, Gottesdiensten, Texten, Bildern, Gebäuden, Straßenverkehrsordnungen, Fernsehsendungen, wissenschaftlichen Kongressen usw. Diese aktuellen Zeichenzusammenhänge wiederum machen die Gesamtheit einer gegebenen Kultur aus, die deshalb nicht monadisch und identitätsontologisch, sondern relational und differenzontologisch zu begreifen ist. Kulturen basieren auf dem gesellschaftlich konventionalisierten, kreativen und konfliktvollen Gebrauch der Zeichen - Kulturen sind Zeichenzusammenhänge. Ein Zeichen bedarf also zumindest zweier Zuordnungen, um zu funktionieren: Es muss einem aktuell wahrnehmbaren Zeichenzusammenhang und zugleich einer Kultur als der Gesamtheit seiner virtuellen Zeichenzusammenhänge zugehören. Diese Bedingungen tragen zur Sinnerzeugung in jeder Lektüre, also auch der Lektüre Heiliger Schriften, unhintergehbar bei und führen durch die je unterschiedlichen kulturellen Kontexte zu einer Vielfalt von Interpretationen. Das Lesen oder Hören eines Textes ist kein passiver Akt reiner Aufnahme, sondern ein interaktiver Prozess, der kreative Mitarbeit der Lesenden benötigt. Die jüdischen heiligen Schriften - bestehend aus Torah (»unterweisen«, kausat.; sie bedeutet »Lehre, Belehrung, Unterricht, Anweisung, Gesetz«), Nebiim (»Propheten«) und Ketubim (»Schriften«), die zusammen den Tanakh bilden, dessen Name ein Akronym seiner drei Teile ist, und gleichermaßen auch der Palästinische und Babylonische Talmud (der wichtigste ist der Babylonische Talmud; wenn nur der Talmud erwähnt wird, bezieht sich der Referent in der Regel auf den babylonischen) -, die christlichen heiligen Schriften, die in der Bibel gesammelt und sinnbildend angeordnet wurden, und der Koran als verschriftlichte Sammlung der von Muhammad mündlich verkündeten Offenbarungseinheiten wurden unter den formalen Bedingungen menschlicher Kommunikation produziert und sie werden unter denselben Bedingungen rezipiert. Jedwede menschliche Kommunikation vollzieht sich als Semiose, als Zeichenhandlung, oder mit den Worten Charles Sanders Peirces: »All thought is in signs.« Damit ist gerade nicht zum Ausdruck gebracht, dass sich die Dinge an sich dem menschlichen Begreifen entziehen und wir deswegen »nur« Zeichen konstruieren können. Die kategoriale Semiotik im Anschluss an Charles Sanders Peirce ist kein Konstruktivismus. Vielmehr hält sie den Zeichenakt für die unhintergehbare Art und Weise, wie Menschen Realität erschließen. Diese Realität ist dem Begreifen vorgegeben. Mit Blick auf die Entstehung von Tanakh, Talmudim, Bibel und Koran heißt das: Sie haben ihren Grund nicht in sich selbst, sondern er ist ihnen als das, woraufhin ihre Zeichenproduktion beginnt, wirksam vorgegeben. Die Zeichenprodukte Tanakh, Talmudim, Bibel und Koran bemühen sich darum, das sie motivierende dynamische Objekt zu erschließen, indem sie Zeichen bilden, die dieses Objekt interpretieren. Weil aber kein Zeichen das es veranlassende dynamische Objekt in seiner Fülle darstellen kann, bleibt unter den formalen Bedingungen menschlicher Kom- »Wie auch immer die Schriften ausgelegt werden, als Schriftzeichen unterliegen sie den formalen Bedingungen der Zeichen[...]« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 34 Francesca Yardenit Albertini, Stefan Alkier, Ömer Özsoy Gott hat gesprochen - aber zu wem? ZNT 26 (13. Jg. 2010) 35 munikation stets eine Differenz zwischen dem Interpretanten und dem ihn veranlassenden dynamischen Objekt bestehen. Das heißt aber, dass Tanakh, Talmudim, Bibel und Koran nicht das Wort Gottes in ontotheologischer Weise sind. 11 Vielmehr beanspruchen sie, es auf angemessene und für den von Gott beabsichtigten kommunikativen Prozess hinreichende Art und Weise zu interpretieren. Tanakh, Talmudim, Bibel und Koran als Interpretanten des sie motivierenden dynamischen Objekts werden im Akt der Lektüre aber selbst zu dynamischen Objekten, die die Produktion sie interpretierender Zeichen motiviert. 5. Ethik der Interpretation Auf der Basis des oben formulierten Zeichenmodells der kategorialen Semiotik und seiner erkenntnistheoretischen und hermeneutischen Konsequenzen lassen sich drei Kriterien für eine gute Interpretation entwickeln. 12 Das erste Kriterium ist das Realitätskriterium: Eine Interpretation ist gut, wenn sie danach strebt, den Interpretationsgegenstand als real vorgegebenes Anderes, vom Ausleger Unterschiedenes in gewisser Hinsicht darzustellen, und diesem Anderen mit Respekt gegenübertritt. Das Realitätskriterium verlangt jedem methodischen Ansatz ab, sich mit der Realität des Untersuchungsgegenstandes zu befassen, sich respektvoll auf ihn einzulassen und danach zu streben, einen Aspekt des dynamischen Objekts durch die Interpretation darzustellen. 13 Gelingt ihr das, so handelt es sich um eine wahre Interpretation, wohlgemerkt: um eine wahre Interpretation. Die Unterscheidung zwischen dem dynamischen und dem unmittelbaren Objekt erlaubt es, Wahrheit im Plural zu denken, ohne eine Beliebigkeit der Interpretation zu propagieren. Mit der ethischen Entscheidung für eine Lektürehaltung, die den Text respektvoll als Äußerung eines Anderen wahrnehmen möchte, ist noch nicht darüber entschieden, wie mit der Vielfalt von Interpretationen umzugehen ist. Die zu begrüßende Bereitschaft zur Methodenvielfalt darf nicht dazu führen, die Adäquatheit einer Interpretation allein an der korrekten Durchführung der methodischen Vorgaben zu messen. Das Bekenntnis zum Pluralismus reicht nicht aus. Nicht jede Bibellektüre kann von einer ethisch reflektierten Bibelwissenschaft akzeptiert werden, wie nicht jede Koranlektüre von einer ethisch reflektierten Koranwissenschaft akzeptiert werden kann. Sklaverei, Apartheid, die Unterdrückung von Frauen, die Ermordung anders Glaubender sind nur einige Beispiele, die belegen, dass mit Bezugnahme auf Tanakh, Bibel und Koran Gewalt gegen Andere ideologisch begründet wurde und wird. Der Sinn eines Textes ist aufgrund seiner zeichenhaften Beschaffenheit aber weder vorgegeben noch beliebig. Er ist ein Produkt der jeweiligen Lektüre, die wiederum eine Interaktion von vorgegebenen Textstrategien und ihrer Aktualisierungen durch konkrete Leser oder Leserinnen in ihren jeweiligen Kontexten darstellt. Damit ist die Vielfalt möglicher Lektüren durch eine Theorie der Zeichen begründet, aber auch eine Kritik an Lektüren möglich, die einen Alleinanspruch für sich erheben oder aber von den Textzeichen so weit abweichen, dass sie nicht mehr als Lektüren eines konkreten Textes sichtbar werden. Ein zweites Kriterium einer Ethik der Interpretation, das Sozietätskriterium, kann dabei als Leitfaden für den Umgang mit anderen Interpretationen desselben Gegenstandes dienen: Eine Interpretation ist gut, wenn sie sich als ein Beitrag zu einer gemeinschaftlichen Wahrheitssuche versteht und andere Interpretationen, auch wenn sie inhaltlich nicht geteilt werden, als Beitrag zu dieser vom dynamischen Objekt motivierten Wahrheitssuche respektiert. Der Respekt vor der realen Vorgegebenheit des Interpretationsgegenstandes und der Respekt vor der Wahrheitssuche der Anderen führen zu einem aufrichtigen Interesse an der Interpretation der Anderen. Dieses Interesse besteht darin, die Interpretation des Anderen darauf hin zu befragen, ob hier ein Aspekt der auszulegenden Schriften treffend dargestellt werden konnte und dadurch die eigene Interpretation gefördert wird, sei es, dass sie vertieft, erweitert oder auch falsifiziert wird. Gemeinsam lernen wollen: Zu dieser Haltung ruft das Sozietätskriterium auf. 14 Ergebnisse der Interpretation dürfen nicht als kontextlose und wertfreie Wahrheit dargestellt und der Öffentlichkeit präsentiert werden, sondern als mögliche, unter hermeneutischen Prämissen und methodischen Vorgaben erarbeitete Beiträge einer gemeinsamen Erschließung von Welten, die als solche in ein Gespräch mit anderen Auslegungen einzutreten in der Lage und willens sind. Darauf zielt das dritte Kriterium einer ethisch verantworteten Interpretation, das Kontextualitätskriterium: »Zeichen sind nicht nur in formaler Hinsicht relationale Gebilde.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 35 Zum Thema 36 ZNT 26 (13. Jg. 2010) Eine Interpretation ist gut, wenn sie ihre kulturelle, und das heißt auch: ihre politische, Verortung offen legt und sich als Beitrag zur kommunikativen Erschließung der Welt präsentiert. Hinsichtlich der Positionierung der Lesenden sind veränderbare von unveränderbaren Aspekten zu unterscheiden. Biologische Dispositionen sowie die soziale und kulturelle Herkunft sind nicht veränderbar, Hermeneutik und Methode sowie der Untersuchungsgegenstand und die jeweilige Fragestellung hingegen unterliegen einer Wahl. Während die unveränderbaren Aspekte der Position der Ausleger und Auslegerinnen unter Berücksichtigung der notwendigen Interaktion von Text und Leser die Unhintergehbarkeit einer Vielfalt von Lektüren unterstreicht, verweist die Wahlmöglichkeit auf den ideologischen Aspekt jeder Interpretation. Ich lese z.B. als italienische Frau, als deutscher oder türkischer Mann, aber ich habe als erwachsener, mündiger Mensch die Möglichkeit, andere Kulturen kennen zu lernen, von anderen zu lernen, und ich habe die Wahl zwischen verschiedenen Untersuchungsgegenständen, Fragestellungen und Frageabsichten. Da unveränderbare und veränderbare Aspekte die Position des Auslegers gleichermaßen bedingen, ist hier weder einer Determination der Auslegung noch einer absoluten Autonomie der Lesenden das Wort zu reden. Die unveränderbaren Aspekte machen es zur ethischen Pflicht, die eigene Perspektive als eine unter anderen wahrzunehmen und einzubringen. Die Möglichkeit der Wahl macht es zur Pflicht, die gewählte Hermeneutik, Methodik, Thematik und Fragestellung auf ihre gesellschaftliche Wirkung hin zu befragen. Dabei vermeidet die Rückbindung an das Realitätskriterium, die Interpretation in political correctness erstarren zu lassen. 6. Die Notwendigkeit der Kritik Die theologische Hermeneutik der Offenbarung, die Semiotik der Schrift und die Ethik der Interpretation arbeiten mit notwendigen Unterscheidungen. Diese kritische, unterscheidende Grundhaltung ist die unhintergehbare Voraussetzung jeder Wissenschaft. Sie ist kein Selbstzweck, sondern der Komplexität der Sachverhalte geschuldet. Sie ist aber gerade auch mit Blick auf die normativen Schriften des Judentums, des Christentums und des Islams notwendig und hilfreich. Fundamentalisten und Ideologen jeder Art begehen den sachlichen Fehler, unkritisch gegenüber ihrer eigenen Interpretation zu sein. Sie unterscheiden nicht ihre Sicht der Dinge vom Interpretationsgegenstand. Eine kritische Hermeneutik der Schrift und eine kritische Ethik der Interpretation weiß dagegen, dass der Tanakh, die Bibel, der Koran immer reicher sind und bleiben, als nur eine Interpretation es zu zeigen vermag. Es gilt das Auszulegende in all seinen Möglichkeiten von der standortgebundenen Auslegung des oder der Interpreten zu unterscheiden. Selbstkritik gehört notwendig zu jedem interpretativen Handeln. Diese Bescheidenheit ist aber auch religiös geboten. Wer nicht zwischen dem Wort Gottes und der eigenen Verstehensweise unterscheidet, setzt sich mit Gott gleich. Das ist nicht fromm, das ist blasphemisch. Es raubt Gott die Ehre, allein Gott zu sein, und maßt sich an, mit göttlicher Autorität selbstmächtig zu handeln. Alle religiösen Fundamentalisten begehen diese Blasphemie. Sie unterscheiden nicht ihr begrenztes religiöses Gefühl von der Unermesslichkeit Gottes. Das hat nichts mit Glauben, sondern nur mit maßloser Überheblichkeit zu tun. Die Selbstkritik als Unterscheidung zwischen dem Interpretationsgegenstand und meiner jeweiligen Interpretation ist wissenschaftlich notwendig und religiös geboten. Ebenso notwendig ist die Sachkritik. Religiöse Traditionen haben nicht nur Gutes bewirkt. Bis heute verbietet die römisch-katholische Kirche mit Bezug auf biblische Texte Frauen den Zugang zum Priesteramt und entmündigt sie damit auf unerträglich patriarchalische Art und Weise, deren Wurzeln aber eben auch in biblischen Texten zu finden sind. 15 Es bedarf einer kritischen Interpretation der Bibel selbst, die unterscheidet zwischen der heilvollen Botschaft des christlichen Evangeliums, das alle Menschen gleichermaßen als geliebte Geschöpfe Gottes ansieht, und der kulturellen Verankerung auch der biblischen Texte in die Unterdrückungsstrukturen ihrer Entstehungskulturen. Wenn im Koran dem Ehemann erlaubt wird, die Ehefrau in bestimmten Grenzfällen zu schlagen, dann kann man historisch erläutern, dass dies sogar eine Begrenzung der Gewalt von Männern gegen Frauen intendierte. Gleichwohl muss man aus dem Gleichheitsprinzip der Barmherzigkeit Gottes den Wortlaut des Koran an dieser Stelle um seiner Intention Willen kritisieren und betonen, dass Gewalt von Männern gegen Frauen in keiner Weise und unter keinen Umständen gottgefällig und zu rechtfertigen ist. »Die Zeichenprodukte Tanakh, Talmudim, Bibel und Koran bemühen sich darum, das sie motivierende dynamische Objekt zu erschließen[...]« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 36 Francesca Yardenit Albertini, Stefan Alkier, Ömer Özsoy Gott hat gesprochen - aber zu wem? ZNT 26 (13. Jg. 2010) 37 Weil Tanakh, Bibel und Koran in bestimmten historischen und kulturellen Situationen entstanden sind, transportieren sie nicht nur die heilvollen und wahren Botschaften Gottes, sondern auch destruktive, ungerechte, unterdrückende Machtstrukturen vergangener Kulturen, die geradezu im Widerstreit zu den Heilsbotschaften für alle Menschen stehen. Hier ist aus theologischen Gründen die Unterscheidung zwischen förderlichen und benachteiligenden Schrifttraditionen zu treffen. Selbstkritik und Sachkritik könnten aber auch zu einer grundsätzlichen Ablehnung des Tanakh, der Bibel oder des Koran führen. Es gibt viele Menschen, die die Welt nicht mit den Augen dieser Bücher sehen möchten. Eine religionsgeschichtliche oder philologische Interpretation einer Schrift kann ihr Verständnis auch dann erheblich fördern, wenn ihrem Wahrheitsanspruch nicht mit Einverständnis gefolgt wird. Theologische Interpretationen hingegen wollen die Denkbarkeit und Plausibilität der Wahrheitsansprüche der jeweiligen Schrift argumentativ entfalten. Der wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskurs, der auf die grundlegenden Überzeugungen zielt, die in der freien, pluralen Gesellschaft gelten sollen, braucht beide Perspektiven und die Unterscheidung ihrer jeweiligen Reichweite. Nur solche Gesellschaften haben das Recht, sich als frei und plural zu bezeichnen, in denen es Wissenschaft und jedem Individuum öffentlich und ohne Repressalien befürchten zu müssen erlaubt ist, sich zu einer Religion zu bekennen oder die Religionszugehörigkeit zu wechseln oder auch ein prinzipielles Nein zu Judentum, Christentum und Islam zu sagen. Schluss Die Notwendigkeit von Hermeneutik, Ethik und Kritik der Interpretation von Tanakh, Talmudim, Bibel und Koran liegt nicht erst in der historischen Differenz zwischen Produktions- und Rezeptionssituation begründet, sondern theologisch im Akt der Kommunikation Gottes mit seinen Geschöpfen und semiotisch in der Angewiesenheit menschlicher Kommunikation auf Zeichen. Da die semiotische Bedingung menschlicher Kommunikation bereits für jeden Wahrnehmungsakt die Unhintergehbarkeit der Interpretation offen legt, weist sie jedweden Anspruch auf Unfehlbarkeit ab. Der Trialog zwischen Juden, Christen und Muslimen wird dann zum Erkenntnisgewinn für alle Beteiligten, wenn gleichermaßen der Konflikt der jeweiligen Wahrheitsansprüche und die semiotischen Bedingungen jeder Formulierung eines solchen bedacht werden. Nur solche Wissenschaft und nur solche Gesellschaften, in denen das offene Ja zu einer dieser Religionen und auch das öffentliche Nein zu allen Religionen ohne gesellschaftliche Nachteile zu erleiden, möglich ist, erfüllen ein unverzichtbares Kriterium pluraler, freier Gesellschaften. Anmerkungen 1 C.S. Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen, hg. u. übers. v. H. Pape, Frankfurt 1983, 64. 2 H. Deuser, Gottesinstinkt. Semiotische Religionstheorie und Pragmatismus, Religion in philosophy and theology 12, Tübingen 2004, 163f. 3 Eine ausgezeichnete Darstellung der Kontroverse bezüglich des Objektverständnisses in der Peirceforschung gibt J.J. Liszka, A general introduction to the Semeiotic of Charles Sanders Peirce, Bloomington u.a. 1996, 111-116 Anm. 2; 118f. Anm. 8. 4 C.S. Peirce, Semiotische Schriften, Bd. 1, 427. Ebd. heißt es weiter: »Also ist ein Zeichen etwas, das ein anderes Zeichen in eine objektive Relation zu jenem Zeichen bringt, das es selbst darstellt, und es stellt diese Relation insoweit in derselben Hinsicht oder unter demselben Aspekt her, in dem es selbst ein Zeichen für dasselbe Zeichen ist.« 5 C.S. Peirce, Semiotische Schriften, Bd. 3, Frankfurt 2000, 215. 6 In dieser Hinsicht ist Semiotik abhängig von ethischen Entscheidungen, und in dieser Hinsicht ist sie auch eine normative Wissenschaft. Vgl. dazu Liszka, Introduction, 3-6. 7 Es gibt noch eine ganze Reihe anderer Terminologien bezüglich des Interpretantenbegriffs, die Liszka, Introduction, 122f., übersichtlich zusammengestellt hat. Die Peirce- Forschung ist damit beschäftigt, die wichtige Frage zu klären, welche dieser Terminologien einfach Varianten der Bezeichnung sind und welche tatsächlich andere Konzepte des Interpretanten einbringen. Für das Anliegen der vorliegenden Untersuchung genügt die im Text dargestellte Differenzierung voll und ganz. 8 Peirce, Semiotische Schriften, Bd. 3, 224: »Der Unmittelbare Interpretant ist das, was notwendigerweise hervorgebracht wird, wenn das Zeichen ein solches sein soll. Er ist eine vage mögliche Bewußtseinsbestimmung, eine vage Abstraktion.« 9 Peirce, Schriften, 215 [Kursivsetzung von mir]. Vgl. ebd., 224f. 10 Peirce, Schriften, 225. 11 In diesem Zusammenhang ist auf die Unterscheidung innerhalb der Koranhermeneutik zwischen dem »Wort Gottes an sich« (kalām nafsī) und dem »Wort Gottes im Wortlaut« (kalām lafzī) hinzuweisen. 12 Zur näheren Begründung siehe S. Alkier, Ethik der Interpretation, in: M. Witte (Hg.), Der eine Gott und die Welt der Religionen. Beiträge zu einer Theologie der Religionen und zum interreligiösen Dialog, Würzburg 2003, 21-41. 13 Die mutazilitische Hermeneutik unterscheidet zwischen der Absicht des Redners bzw. Senders (qasd al-mutakallim) und der Autonomie des Textes gegenüber dem Ausleger. 14 Der ganzen Idschtihad-Theorie liegt dieser Aspekt zugrunde. 15 Im Tanakh genauso wie im antiken Judentum finden sich deutliche Spuren des Matriarchats, das den Frauen eine privilegierte Position auch im sozialen und politischen Kontext gab. 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 37 Luthers deutsche Übersetzung des Neuen Testaments erschien im September 1522. Dies war das so genannte Septembertestament, das er innerhalb von elf Wochen, während seines Wartburgaufenthaltes, übersetzt hatte. Eine zweite Auflage wurde schon im Dezember desselben Jahres gedruckt: Das Dezembertestament. Ein Jahr später veröffentlichte Luther die erste Teilübersetzung des Alten Testaments - den Pentateuch. 1524 kamen der zweite und dritte Teil des Alten Testaments heraus - die Bücher Josua bis Esther und Hiob bis zum Hohenlied - sowie eine revidierte Übersetzung des Neuen Testaments. Eine zweite Revision der Übersetzung des Neuen Testaments erschien 1530. Die Übersetzung der Propheten wurde dann 1532 herausgegeben. Schließlich publizierte Luther 1534 die erste von ihm ins Deutsche übersetzte Vollbibel (Biblia Deutsch) - fünf Jahre nach der Züricher Bibel. 1 Weitere Ausgaben kamen 1535, 1539, 1540 (jeweils eine) und 1541 (zwei) heraus. 2 Die letzte Überarbeitung der Übersetzung, die von Luther selbst durchgesehen werden konnte, wurde 1545 in Wittenberg gedruckt (Germanica). Kurz nach seinem Tod folgte 1546 eine weitere Edition, die von den Herausgebern der Weimarer Ausgabe als Grundtext übernommen wurde. Luthers Bibelübersetzung ist sicher eines seiner wirkungsvollsten Werke. Über die Geschichte und Theologie der Lutherbibel einen Aufsatz zu schreiben, ist schon insofern gewagt, als bereits eine Definition der Geschichte der Übersetzung schwierig zu sein scheint. Geht es um Entstehungsgeschichte, Wirkungsgeschichte, Rezeptionsgeschichte oder um die verschiedenen Revisionen der Lutherübersetzung? Geht es bei der Theologie um die Intentionen Luthers, die Wahrnehmung durch seine Gegner oder die Auseinandersetzungen innerhalb der lutherischen Kirche? Jede dieser Möglichkeiten wäre im Hinblick auf dieses Thema zu rechtfertigen. In diesem Aufsatz geht es hauptsächlich um die Entstehungsgeschichte der Lutherbibel, die Wichtiges über das Sprachverständnis seiner Bibelübersetzung beleuchtet. Hier spielt Luthers hohe Wertschätzung der deutschen Sprache als Mittel und Mittlerin der Heilsbotschaft eine wichtige Rolle. Die Verknüpfung von Sprache und Theologie in Luthers Übersetzungen des Neuen Testaments wird exemplarisch anhand seiner Behandlung der Stellen Mt 3,2 und 4,17, Luk 1,28 und Röm 3,28 untersucht. Luther war sich sehr bewusst, dass die deutsche Sprache anders als Latein, Griechisch oder Hebräisch funktioniert. Seine Aufgabe lag seiner Meinung nach darin, die Verheißung Gottes so in der Volkssprache sprechen zu lassen, dass auch die deutsche Sprache zu einer himmlischen Sprache wurde. 1. Der Weg zum »newen Testament Deutzch« 1.1 Die deutsche Bibel vor Luther Rückblickend erinnerte sich Luther im Februar 1538, dass er erst mit zwanzig Jahren in der Erfurter Universitätsbibliothek eine Bibel gesehen und sie dann sofort zu lesen angefangen habe. Zuvor, so berichtete er, seien ihm die Evangelien und Episteln alleine aus den Postillen - d.h. aus den Lesungen der Sonntagslesereihe - bekannt gewesen. 3 Er hatte - wie viele andere - ein solches Postillenbuch gekauft, bevor er ins Kloster eintrat. Aber nachdem er die Bibel entdeckt hatte, wollte er eine solche besitzen. Die Bibel hatte ihn sofort fasziniert - und bald wollte er, dass auch andere sie entdecken. »Vor dreißig Jahren«, soll er gesagt haben, »las niemand die Bibel, sie war allen unbekannt.« 4 Luther war durchaus stolz darauf, dass sich diese Situation durch die Verbreitung der Reformation und vor allem seiner Bibelübersetzung verändert hatte. Zweifelsohne sorgte seine Übersetzungsarbeit für die Verbreitung der Bibel und die Vertiefung der Bibelkenntnisse in vielen deutschsprachigen Gebieten. Die Biblia Deutsch in der Übersetzung Martin Luthers wurde zu einem der meistverkauften Bücher des sechzehnten Jahrhunderts. Luther hatte allerdings unrecht mit seiner Behauptung, vor der Reformation habe niemand die Bibel ge- Zum Thema Charlotte Methuen »novam sprach, celeste deudsch« Eine Untersuchung der theologischen Sprache von Luthers Bibelübersetzung* 38 ZNT 26 (13. Jg. 2010) »Seine Aufgabe lag seiner Meinung nach darin, die Verheißung Gottes so in der Volkssprache sprechen zu lassen, dass auch die deutsche Sprache zu einer himmlischen Sprache wurde.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 38 Charlotte Methuen »novam sprach, celeste deudsch« lesen. Es gibt deutliche Hinweise dafür, dass im späteren Mittelalter die Bibel gerne gekauft und gelesen wurde, auch von Laien. 5 Das erste von Gutenberg in Mainz gedruckte Buch war eine lateinische Bibel; wer des Lateinischen mächtig war und das Geld dazu hatte, konnte ohne Schwierigkeiten eine Bibel erwerben. Mindestens 94 verschiedene zwischen 1450 und 1519 gedruckte Editionen der Vulgata sind noch heute bekannt; 6 Uwe Neddermeyer schätzt, dass in diesem Zeitraum alleine im deutschen Reich 65 Editionen der lateinischen Bibel gedruckt wurden. 7 Die Bibel - und vor allem der Psalter, der »bis zur Reformation mit großem Abstand der meistgedruckte Text« war - diente nicht nur zur spirituellen Lektüre, sondern auch als »grundlegendes lateinisches Schul- und Lesebuch«. 8 Lateinkenntnisse waren aber zur Bibellektüre nicht nötig: Es gab ebenfalls deutsche Übersetzungen der Bibel. Heimo Reinitzer zählt achtzehn Editionen - vierzehn auf Hochdeutsch und vier auf Niederdeutsch - die in den Jahren 1466 bis 1522 verlegt wurden; dazu kamen noch vier Editionen auf Niederländisch, das dem Niederdeutschen sehr ähnlich war. 9 Gedruckt wurden die von Reinitzer verzeichneten Ausgaben in Straßburg (drei Editionen), Augsburg (neun Editionen), Nürnberg (zwei Editionen), Köln (zwei Editionen), Lübeck und Halberstadt (jeweils eine Edition). 10 Dabei handelt es sich um Übersetzungen aus dem Lateinischen - das heißt, es waren ins Deutsche übertragene Fassungen des Vulgata-Textes. Versuchte vermutlich mancher Prediger, die Auslegung der Heiligen Schrift in den Händen der kirchlichen Hierarchie zu halten, so konnte ein Bürger in seinem Tagebuch doch behaupten, sein Land sei »voll« mit Bibeln, Traktaten über die Erlösung, Editionen der Väter und ähnlicher Werke. 11 Auf die Verbreitung von Bibelübersetzungen und die damit verbundenen Bibelkenntnisse deutet auch ein Predigthandbuch von 1515 hin: Hier wurden Prediger ermutigt, nach der Vorlesung des Evangeliums im Gottesdienst zu sagen: »Dis ist der Synn der Worte des heyligen Evangeliums«: »Ich sage absichtlich […] der Synn der Worte, deßhalb, weil die Evangelien in der deutschen Sprache gedruckt sind und der Eine so, der Andere anders übersetzt, und die Laien, die zu Hause vorher das Evangelium gelesen haben dann sagen könnten, ›in meinem Buche steht nicht so, wie der Prediger sagt‹, gleich als ob er unrichtig gelesen hatte.« 12 Es waren demnach ausreichend Bibeln in Laienhand, dass ein Prediger mit Widerspruch gegen seine Übersetzung der Lesung rechnen konnte. Die Gefahr, dass Laien glauben könnten, der Besitz einer Bibel reiche zum Verständnis des Wortes Gottes aus, ist wohl der Hintergrund der sich im Baseler Evangelienbuch (1514) befindenden Empfehlung, wer eine Bibel besitze, solle trotzdem zur Predigt gehen: »Bist du ein frummer mensch, hör das Wort Gottes und verschmahe es nit, wiltu nit leyden den ewigen hunger. Ob schon du hast bücher in deinem hauß, die ewangelia oder ander geistliche bücher, darumb solt du nit verseumen das wort gottes, wann du bist es schuldig zu hören bey deiner selen heyl.« 13 Aber die Predigt sollte auch zur Lektüre - und deshalb zum Kauf - der heiligen Schrift auf Deutsch führen, ermahnte 1513 die Himmelstür, ein Handbuch für Laien: »Alles, was die heylige kirche lehrt, alles, was du in predigen horest und in anderen unterweysungen horest und liesest, was in geystlichen büchern geschrieben steet, was du singest zu Gottes lob und ere, was du betest zu diner sele seligkeit, und was du Dr. Charlotte Methuen (*1964) ist Dozentin für Reformationsgeschichte an der Universität Oxford sowie Dozentin für Kirchengeschichte und Liturgik am Ripon College Cuddesdon. Im Sommersemester 2010 hatte sie die Gastprofessur für Frauen- und Geschlechterforschung an der Universität Mainz inne. Von 1996 bis 2001 arbeitete Charlotte Methuen als Assistentin am Lehrstuhl für Reformationsgeschichte und Neuere Kirchengeschichte an der Evangelisch-eologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. 2002-2004 war sie Lise Meitner-Stipendiatin des Landes NRW. Charlotte Methuen ist anglikanische Priesterin und Mitglied der Meißen Kommission (Beziehungen der EKD zur Church of England), der Anglican-Lutheran International Commission sowie der Inter-Anglican Standing Commission for Unity, Faith and Order. Dr. Charlotte Methuen ZNT 26 (13. Jg. 2010) 39 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 39 Zum Thema 40 ZNT 26 (13. Jg. 2010) lidest in widderwertikaiten und trübsal, alles so dich anreizen zu lesen mit frummhait und demütikait in den heiligen schriften und bibeln, als sy yetzund in dutsche zungen gesetzt werden und getruckt und als du sy umb wenig geld yetzund keuffen magst.« 14 Auch wenn Luther selbst erst mit zwanzig Jahren eine Bibel gesehen und nach seinem Eintritt ins Kloster sie zu lesen begonnen hätte (was angesichts seiner Schulbildung äußerst unwahrscheinlich wäre 15 ), stimmt es nicht, dass die Bibel nicht von anderen schon längst gelesen wurde - auch in der Volkssprache. Spätestens ab dem Zeitpunkt, zu dem Luther sich mit der Mystik des Johannes Tauler und der Theologia Deutsch zu beschäftigen begann, hatte er selbst mit deutschen Übersetzungen der Heiligen Schrift zu tun. Nach seinem Selbstzeugnis stieg Luther also während seiner Erfurter Klosterzeit in die Bibellektüre ein. In einer Phase der Verzweiflung hatte er seine Mitbrüder um eine Bibel gebeten und eine in rotem Leder gebundene Ausgabe bekommen, die er, zur Bewunderung seines Beichtvaters Johannes Staupitz, gelesen, wieder und wieder gelesen hatte. Er erwarb dadurch umfassende Bibelkenntnis, die ihn mit dem Wunsch erfüllte, statt Philosophie Theologie zu studieren »die den Nusskern, das Weizenkorn, das Knochenmark erfasst«, 16 wie er es 1509, während seiner Anfangszeit in Wittenberg, seinem Freund Johannes Braun gegenüber ausdrückte. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt scheint Luther eine in der Heiligen Schrift erhaltene Essenz des Glaubens erkennen und begreifen zu wollen. Als er 1512 zum doctor bibliae ernannt wurde und gleichzeitig den Auftrag als Lectura in Biblia an der Universität Wittenberg erhielt, entschied er sich im Gegensatz zu seinem Vorgänger, Johannes Staupitz, tatsächlich über ein biblisches Buch - die Psalmen - Vorlesungen zu halten. Es waren gerade die biblischen Texte, mit denen er sich durch das Klosterleben und das regelmäßige Stundengebet vertraut gemacht hatte. Während der nächsten Jahre las er über den Römerbrief (1515- 1516), den Galaterbrief und das Richterbuch (1516-1517), den Hebräerbrief (1517-1518) und wieder über die Psalmen (1521). Er ging diese Arbeit mit Hilfe der neusten humanistischen Erkenntnisse an: Trotz seiner eingeschränkten Hebräischkenntnisse verwendete er für die Psalmenvorlesung wahrscheinlich eine 1494 in Brescia herausgegebene hebräische Bibel. 17 Für seine Römerbriefvorlesung nutzte er den von Jacques Lefevre d’Étaples (Faber Stapulensis) verfassten Kommentar zu den Paulinischen Episteln und ab 1516 mit großer Wahrscheinlichkeit den von Erasmus in seinem Novum Instrumentum gedruckten griechischen Text. 18 Durch seine Vorlesungen setzte sich Luther sehr genau mit dem Wortlaut des Textes der von ihm behandelten biblischen Bücher sowie dessen Bedeutung auseinander. Diese Vorlesungen hielt er allerdings auf Latein, sodass er dadurch noch keine durchgehende Übersetzung ins Deutsche vorbereiten konnte. 1.2 Das Evangelium und die deutsche Sprache Neben seinen Vorlesungen fing Luther spätestens im Jahre 1512 an, regelmäßig auf Latein zu predigen. Deutsche Predigten Luthers aus dieser Zeit sind uns nicht überliefert, aber es hat sie wohl gegeben. Schon im Jahre 1516 gab Luther unter dem Titel »ein geistlich edles Büchlein« eine Teilausgabe des später von ihm »Theologia Deutsch« genannten und 1518 vollständig erschienenen Werks der Mystik heraus. Im Vorwort zur »Theologia Deutsch« erklärte Luther, das Werk sei ein Beweis dafür, dass er mit seiner Theologie keine Neuigkeiten verkünde. Ebenfalls wichtig war für ihn die Entdeckung, dass er in seiner eigenen Muttersprache das Wort Gottes gehört hat: »Ich danck Gott, das ich yn deutscher zungen meynen gott alßo hoere und finde, als ich und sie mit myr alher nit funden haben, Widder in lateynischer, krichscher noch hebreischer zungen.« 19 Die Scholastik und die Universitätstheologie hatten dazu geführt, »das das heylig wortt gottis nit allein under der bangk gelegen, sundernn von staub und mutten nahend vorweßet.« 20 Luther sah in den Schriften Taulers - zu denen er auch die »Theologia Deutsch« zählte - ein Mittel gegen die nahende »Verwesung« des Heiligen Wortes. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt hatte Luther die deutsche Sprache als ein Mittel entdeckt, durch das die Erkenntnis der Heiligen Schrift - und somit das Evangelium - weiter vermittelt werden konnte. Luther war der Ansicht, wie er 1524 in einer Schrift über die Schulreform schrieb, »Luther sah in den Schriften Taulers - zu denen er auch die ›eologia Deutsch‹ zählte - ein Mittel gegen die nahende ›Verwesung‹ des Heiligen Wortes.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 40 Charlotte Methuen »novam sprach, celeste deudsch« ZNT 26 (13. Jg. 2010) 41 dass gerade wegen dieser Fähigkeit, eine Beziehung zu Christus zu vermitteln, die Sprache für die Verkündigung des Evangeliums unabdingbar sei, und er erkannte, »Das wyr das Euangelion nicht wol werden erhallten on die sprachen.« Denn: »Die sprachen sind die scheyden, darynn dis messer des geysts stickt. Sie sind der schreyn, darynnen man dis kleinod tregt. Sie sind das gefess, darynnen man disen tranck fasset. Sie sind die kemnot, darynnen dise speyse ligt. Und wie das Euangelion selbs zeygt, Sie sind die koerbe, darynnen man dise brot und fische und brocken behellt.« 21 Die biblischen Sprachen sind für Luther offensichtlich heilig. Das Alte Testament ist auf Hebräisch geschrieben, weshalb »auch die Ebreische sprach heylig heysset.« 22 Bei der Übersetzung des Psalters sei ihm klar geworden, dass diese Sprache sogar besonders für das Heilige geeignet sei, weil sie so viele Möglichkeiten bot, über Gott zu reden. So schrieb er in der Vorrede zum Psalter (1524): »Vnd sonderlich ynn goettlichen heyligen sachen ist sie reich mit worten, das sie wol zehen namen hat, da sie Gott mit nennet, da wyr nicht mehr haben denn das eynige wort, Gott, das sie wol billich eyn heylige sprache heyssen mag.« 23 Hebräisch sei schon von Paulus als eine heilige Sprache verstanden worden. Griechisch als Sprache des Neuen Testaments ist besonders geeignet für die Vermittlung des Evangeliums: »Und sanct Paulus Roem. 1. nennet sie die heylige schrifft on zweyffel umb des heyligen worts Gottis willen, das drynnen verfasset ist. Also mag auch die Kriechische sprach wol heylig heyssen, das die selb fur andern dazu erwelet ist, das das newe testament drinnen geschriben wuerde.« 24 Aber andere Sprachen können dadurch heilig werden, dass sie das Evangelium - den Kern der heiligen Schrift - vermitteln: So ist die Botschaft des Neuen Testaments »alls aus eym brunnen ynn andere sprach durchs dolmetschen geflossen und [hat] sie auch geheyliget.« 25 Auch die deutsche Sprache zeigt die Fähigkeit dem Leser bzw. dem Hörer »diesen Trank, diese Speise« des Geistes anzubieten; somit ist sie als eine heilige, himmlische Sprache zu verstehen. Als Luther mit der Bibelübersetzung anfing, begriff er, wie schwierig diese Aufgabe ist. »Es sey ja ein schande,« berichtete Amsdorff über die Übersetzungsarbeit am Alten Testament, »das er offt etwas verstehe vnd doch davon nicht konne reden.« 26 Luther war es wichtig, dass seine Übersetzung in einem verständlichen Deutsch verfasst wurde. Moses und die Propheten sollten Deutsch reden, und nicht als Hebräer erkennbar sein. 27 Nur wenn die Bibel mit der Sprache des Marktplatzes spräche, könnten die Menschen die Sprache des Evangeliums verstehen und selber sprechen lernen. Denn es gehe ihm darum - so Luther 1532 in einer Predigt zu 1 Kor 15 - dass ein jeder Christ, eine jede Christin »novam sprach, celeste deudsch« reden könne. 28 »In der conformitas seines Herzens mit dem Wort weiß sich der Glaubende sogleich in den Prozess eines allumfassenden Umdenkens versetzt. Indem er dabei das Urteil Gottes übernimmt, gebraucht er ›novam Grammaticam‹, ›novam rhetoricam‹, ›novam sprach‹.« 28 1535 betonte Luther in einer Predigt zu Psalm 5, dass alle Christen in der Lage sein sollten, den Glauben zu bezeugen und Gottes Wort zu verkünden: »Omnes sumus Theologi, heisst ein iglicher Christ. Theologia: Gottes Wort, Theologus: Gottes Worte reden. Das sollen alle Christen sein.« 30 Mit der Übersetzung der Heiligen Schrift wollte Luther das Wort Gottes unmittelbar zugänglich machen, um jedem gläubigen Menschen eine tiefere Beziehung zu Gott und Christus als Heiland zu ermöglichen und in der eigenen Sprache »himmlisch« darüber sprechen zu können. 1.3 Die ersten deutschen Übersetzungen Im Jahre 1517 veröffentlichte Luther seine ersten ins Deutsche übertragenen Bibeltexte als Teil seiner ersten eigenen theologischen Veröffentlichung: Seine Auslegung der sieben Bußpsalmen (d.h. Ps 6, 32, 38, 51, 102, 130 und 143). In seinem Vorwort merkte Luther an, dass er zur Erstellung der deutschen Übersetzung sowohl die Vulgata als auch die Reuchlin-Übersetzung verwendet habe: »von dem text dißer sieben psalmen, ist zu wissen, dass derselb yn etlichen versen umb klerer vorstands willen uber die gemeynen translation nach der translation sancti Hieronymi genomen ist, auch darzu beholffen die translation doctors Johannis Reuchlin yn seyner hebreischer septene.« 31 Luther erklärte, dass seine Textkommentare (d.h. die glossae) sowie die Auslegung des Textes dazu dienen sollten, den Menschen zu zeigen, »das Christus also nah bey yhn sey«. 32 Denn die wichtigste und einzige »Moses und die Propheten sollten Deutsch reden, und nicht als Hebräer erkennbar sein.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 41 Zum Thema 42 ZNT 26 (13. Jg. 2010) Möglichkeit des Heils bestehe darin, »ynn demutiger furcht nach gnade und barmhertzickeyt sich ernstlich sehnen.« 33 In seiner Auslegung der Bußpsalmen wurde schon erläutert, was Luther noch im selben Jahr in der ersten seiner 95 Thesen gegen den Ablass erklären würde: »Dominus et magister noster Iesus Christus dicendo ›Poenitentiam agite etc.‹ omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit.« 34 Sein Hauptanliegen lag darin, dass alle Menschen in der Schrift Christus als Erlöser erkennen, nicht als abwesende Natur, sondern in seiner Präsenz und Nähe: »Christus ist gottis gnaden, barmhertzickeit, gerechtickeit, warheit, weißheit, stercke, trost und selickeyt, uns von gott gegeben an allen vordinest. Christus sag ich, nit (als etlich mit blinden worten sagen) causaliter, das er gerechtickeit gebe unnd bleybe er draußen. Dan die ist tod, ja sie ist nymmer gegeben, Christus sey dan selbs auch da, gleich wie die glentz der sonnen unnd hitze des feurs ist nit, wo die sonne und das feur nit ist.« 35 Die Lektüre der Bibel sollte Luthers Meinung nach keine abstrakte Vorstellung von Jesus Christus vermitteln, sondern eine gelebte Beziehung zu ihm. Luther hatte mit Hilfe der Bibel genau das selbst erfahren, wozu er seine Leser in seiner Auslegung der Bußpsalmen anhielt: »In allem leiden und anfechtung sal der mensch zu aller ersten zu got lauffen«, denn nur von Gott kommt Hilfe. Wichtig war aber auch, solche Anfechtungen »[zu] erkennen und auff[zu]nemen, als von got zugeschickt werde, es kom von teuffel ader von menschen.« 36 Gott schickt sowohl die Anfechtungen und Schwierigkeiten im Leben als auch die Hilfe, diese zu überstehen. Die auf Deutsch veröffentlichten Bußpsalmen samt Luthers Kommentar dazu sollten als Wegweiser zur richtigen Einstellung in schweren Zeiten dienen. Auch wenn er weiterhin seine Vorlesungen auf Latein gehalten und viele seiner theologischen Schriften auf Latein verfasst hat, war es Luther spätestens seit 1517 ein Anliegen, dass seine theologischen Erkenntnisse nicht wegen der Unzugänglichkeit der gehobenen akademischen Sprache ein Sondergut blieben. Es ging Luther also darum, nicht nur die Heilige Schrift »unter der Bank« hervorzuholen und möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen, sondern die Leser und Leserinnen der Schrift auch von seiner Interpretation derselben profitieren zu lassen. Auch wenn er noch keine komplette Bibelübersetzung plante, übersetzte Luther im Rahmen der Abfassung theologischer Predigten und Schriften auf Deutsch mehrere Bibelstellen ins Deutsche, da die Bibel die Grundlage seiner Theologie war. Heinz Bluhm hat Luthers deutsche Übersetzungen von einzelnen, in Predigten und anderen Schriften aus den Jahren 1517 bis 1521 zitierten Stellen aus dem Matthäusevangelium sowie die erste uns noch überlieferte von Luther ins Deutsche übersetzte Perikope aus dem neuen Testament (Mt 16,13-19), die sich in einer Predigt von 1519 findet, untersucht. Bluhm ist zu dem Ergebnis gekommen, dass Luther als Übersetzungsgrundlage sowohl die Vulgata als auch - so bald er erschienen war - den von Erasmus herausgegebenen griechischen Text in den Fassungen von 1516 und 1519 verwendet hat. 37 Diese Schlussfolgerung wird ebenso von Stephan Frech durch seine Auswertung von Luthers Übersetzungen des Magnificat und Benedictus in sechs zwischen 1521 und 1545 erschienenen Versionen bestätigt: »Als direkte Vorlage sind neben der mittelalterlichen Vulgata, der griechische Archetyp des Erasmus und seine Nachdrucke, besonders die zweite Ausgabe von 1519, anzusehen, zusammen mit der lateinischen Parallelversion, mit der Erasmus auf die Abweichungen vom Wortlaut der Vulgata hinweisen wollte.« 38 Frech weist ebenso darauf hin, dass bei Luthers Bibelübersetzung »alle drei heiligen Bibelsprachen - Hebräisch, Griechisch und Lateinisch - berücksichtigt werden müssen«. So auch bei der Übersetzung und Auslegung des Neuen Testaments, da Luther ständig überlegte, welches hebräische Wort einem griechischen zugrunde liegen könnte. 39 Sowohl Bluhm als auch Frech sind der Meinung, dass keine der auf Deutsch gedruckten Bibelübersetzungen Luther als Vorlage für seine Übersetzung gedient habe. 40 Da aber die Lesungen aus den Perikopenreihen auch in der Volkssprache im Gottesdienst gelesen werden sollten, gab es oft lokal angefertigte, handschriftliche Übersetzungen dieser Texte - die so genannten Plenaria. Bluhm schließt daraus: »Luther’s Bible may well be indebted to these rather than to the printed Bibles«. 41 Weiter ist er der Meinung, dass Luther anders mit den von ihm übersetzten Predigttexten umging als mit der Überset- »Es ging Luther also darum, nicht nur die Heilige Schrift ›unter der Bank‹ hervorzuholen und möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen, sondern die Leser und Leserinnen der Schrift auch von seiner Interpretation derselben proatieren zu lassen.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 42 Charlotte Methuen »novam sprach, celeste deudsch« ZNT 26 (13. Jg. 2010) 43 zung des Neuen Testaments an sich. Ein Vergleich der Übersetzung von Mt 2,1-12, die in der wohl im Sommer oder Herbst 1521 auf der Wartburg verfassten Weihnachtspostille erschienen war, mit der im Septembertestament erschienenen Übersetzung derselben Stelle, die Ende 1521 bzw. Anfang 1522 erfolgte, zeigt »that the W[eihnachts]P[ostille] version is based on the Vulgate, the S[eptember]T[estament] version on the Greek original.« 42 Bluhm glaubt, dass die für die Weihnachtspostille erstellte Matthäus-Übersetzung kein Entwurf für die Septembertestament-Übersetzung sei, sondern lediglich eine Übersetzung, die als Grundlage für eine Predigt gedacht war. »In WP what matters is the sermon; the translation is but a prelude. In ST what matters is the translation itself.« 43 Beutel hat Luthers Übersetzung des Johannes-Prologs in der Weihnachtspostille mit der Übersetzung im Septembertestament verglichen und stellt fest: Die in der Predigt zitierte Übersetzung darf »vor allem in der Wort- und Tempuswahl sowie der syntaktischen Struktur als bedeutsame Annäherung an die im Septembertestament dann konsequent verfolgten Dolmetschungsregeln gelten«. 44 Wie Bluhm sieht auch er in den verschiedenen Übersetzungen einen wesentlichen Funktionsunterschied: »Den biblischen Urtext für illiterate Prediger volkssprachlich zu reproduzieren, war die Aufgabe der Postillenübersetzungen. Demgegenüber sollte das Septembertestament nicht den biblischen Buchstaben erneuern, sondern deren Geist.« 45 Leppin fasst zusammen: Bei der Bibelübersetzung gehe es »um die autoritative Bedeutung der Bibel, nicht so sehr um deren Popularisierung.« 46 Luther war sich sehr bewusst, dass er in einer Predigt seine Übersetzung auslegen und erklären konnte, während die Bibelübersetzung ohne Auslegung und Erklärung verstanden werden musste. 2. Sprache und Theologie im »newen Testament Deutzch« 2.1 Die Deutung der Heiligen Schrift Da es Luther um eine autoritative Übersetzung ging, wollte er, dass seine Übersetzung verständlich und deutlich sei. Sie sollte dem Leser und der Leserin ermöglichen, die Schrift selbst zu lesen und zu deuten, wie er es schon 1520 in der Schrift An den christlichen Adel deutscher Nation verlangt hat. 47 Aber die Leser und Leserinnen der Schrift sollten sie auch richtig - was für Luther so viel wie evangeliumstreu bedeutete - verstehen. Als Mittel verwendete er nicht nur die Übersetzung selbst, sondern auch Randbemerkungen und Vorreden zum Neuen sowie zum Alten Testament und zu einzelnen Büchern und Luther entwarf auch zusätzliche Hilfsmittel: So dienten ab 1529 der Kleine und der Große Katechismus - »der gantzen heiligen schrifft kurtzer auszug und abschrifft« 48 - als zusätzliche Deutungsmittel für Hausväter bzw. für Pfarrer und Lehrer. Luther war es aber ein Anliegen, dass seine Bibelübersetzung ohne externe Hilfsmittel gerade die »claritas scripturae« zeigen konnte, deren Existenz er 1525 gegen Erasmus betonte. 49 Vorreden und Randbemerkungen dienten u.a. dazu, wichtige Fragen der Interpretation hervorzuheben. Die Anmerkungen zwischen den Spalten weisen auf Paralleltexte hin; die am Seitenrand bieten chronologische oder archäologische Informationen zum besseren Verständnis des Textes, deuten auf die Anwendung einer bestimmten Stelle hin, oder machen auf wichtige Stellen aufmerksam. 50 Besonders die Vorreden unterstützen die Auslegung und das rechte Verständnis eines Buches. Sie sollten »eyn eyngang da zu bereytten«, es ermöglichen, dass die wahre Bedeutung des Textes »von yderman verstanden werde«. 51 So unterschieden sich die Vorreden Luthers sowohl von denjenigen des Hieronymus in der Vulgata als auch von denjenigen in früheren deutschen Bibelübersetzungen, die wenig über die Deutung eines Buches sagten. 52 Luthers Vorreden boten eine Zusammenfassung seiner Theologie. Er schrieb in seiner Vorrede zum Römerbrief: »Djse Epistel ist das rechte hewbtstuckt des newen testaments, vnd das aller lauterst Euangelion, Wilche wol wirdig vnd werd ist, das sie eyn Christen mensch nicht alleyn von wort zu wort auswendig wisse. Sondern teglich da mit vmb gehe als mit teglichem brod der seelen, denn sie nymer kan zu viel vnd zu wol gelesen odder betrachtet werden, Vnd yhe mehr sie gehandelt wirt, yhe kostlicher sie wirt.« 53 Der Römerbrief war für Luther Mittelpunkt der Schrift, Dreh- und Angelpunkt seiner Theologie. Aber auch dieser Brief hatte einen eigenen Mittelpunkt, nämlich Röm 3,22-23, auf den er in einer Randbemerkung aufmerksam machte: »Luther war sich sehr bewusst, dass er in einer Predigt seine Übersetzung auslegen und erklären konnte, während die Bibelübersetzung ohne Auslegung und Erklärung verstanden werden musste.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 43 Zum Thema 44 ZNT 26 (13. Jg. 2010) »Merck diß, da er sagt, Sie sind alle sunder &c. ist das hewbtstuck vnd der mittel platz dißer Epistel vnd der gantzen schrifft. Nemlich, das alles sund ist, was nicht durch das blut Christi erloset, ym glauben gerechtfertiget wirt, Drumb fasse disen text wol. Denn hie ligt darnyder aller werck verdienst vnd rhum, wie er selb hie sagt, vnd bleybt alleyn lautter gottis gnad vnd ehre.« 54 Seine Glossen und Randbemerkungen sollten das Licht des Evangeliums leuchten lassen. Besonders bei der Römerbriefauslegung sei dies nötig: »Denn sie biss her, mit glosen vnd mancherley geschwetz vbel verfinstert ist, die doch an yhr selb eyn helles liecht ist, fast gnugsam die gantze schrifft zu erleuchten.« 55 Das wichtigste Mittel dafür war die Sprache. Paenitentiam agite (Mt 3,2 und 4,17) Lorenzo Valla hatte schon Mitte des 15. Jahrhunderts darauf hingewiesen, dass sich manche in der Vulgata erhaltenen Formulierungen zwar als Beweisstellen für Theologie und Praxis der mittelalterlichen Kirche erwiesen hatten, den Sinn des griechischen Textes aber nicht wiedergaben. Schlüsselstellen waren dabei die Übersetzung der Aufforderung von Johannes dem Täufer und von Jesus »metanoeite« als paenitentiam agite in Mt 3,2 und 4,17 und die Übersetzung des Wortes »kecharitōmenē« im Engelgruß an Maria als gratiae plena. Paenitentiam agite - Tut Buße! - konnte zur Unterstützung der Buß- und später der Ablasspraxis herangezogen werden. Gratiae plena bekräftigte den Eindruck, dass die Gnade als etwas Messbares verstanden werden könnte. Über die Arbeiten des Jacobus Faber Stapulensis und vor allem des Erasmus von Rotterdam kannte auch Luther die humanistische Kritik an diesen Übersetzungen. Daraus wurde sehr deutlich, dass eine neue Übersetzung gleichwohl eine neue Theologie mit sich bringen könnte. Eine bessere Übersetzung als die der Vulgata von »metanoeite« ins Deutsche - oder gar ins Lateinische - zu finden, fiel weder Erasmus noch Luther leicht. Während im Englischen das Verb »to repent« kurz und prägnant den Sinn dieser Aufforderung wiedergibt (wie Tyndale in seiner 1526 erschienen englischen Übersetzung des Neuen Testaments erkannt hat), existiert diese Alternative weder im Lateinischen noch im Deutschen. Erasmus versuchte es 1516 mit poeniteat vos. 1519 übersetzte er »metanoeite« mit resipiscite. Im Jahr 1522 entschied er sich für paenitentiam agite vitae prioris. Mit keiner dieser Lösungen scheint er allerdings wirklich zufrieden gewesen zu sein: Diese Stelle gehört zu den wenigen, die er bei fast jeder neuen Edition des Novum Testamentum neu übersetzte. 56 Luther wies auf das Problem der Vulgata-Übersetzung schon 1517, in der ersten der 95 Thesen gegen den Ablass, hin: »Dominus et magister noster Iesus Christus dicendo ›Penitentiam agite &c.‹ omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit.« 57 Es ging nicht um einen sakramentalen Akt, sondern um eine Lebensumstellung. In der eigenen Übersetzung dieser Stelle versuchte er es zunächst im Septembertestament mit Bessert euch! Diese Übersetzung fand er scheinbar bald problematisch, da sie so verstanden werden konnte, als ob ein Mensch sich selber in Gottes Augen »bessern« könne. In der Biblia Deutsch von 1534 schrieb er (nach dem Vorbild seines Gegners Hieronymus Emser! ) Tut Buße. Allerdings hat Emser an diesen Stellen jeweils eine Randbemerkung eingefügt. So schrieb er zu Mt 3,2, »Merck diesen Anfang der Predigt Ionnis / das wir von aller ort buss thun mussen / Und hut dich vor den Ketzern so die buss und beicht verachten«, und zu Mt 4,17, »Merck das auch Jhesus sey predigt mit der Buß angefangen / und hut dich vor allem so die buss verachten.« 58 Poenitentiam agite sei Emsers Meinung nach zu interpretieren »nit auff ein jede besserung / sonder allein auf die buess / dass ist auff rew unnd leyd / peyn unnd schmertzen für die vorgangen sund«. 59 Im Gegensatz zu Emser ließ Luther seine Übersetzung - sowohl in der Biblia Deutsch von 1534 als auch in der Germanica aus dem Jahr 1545 - kommentarlos. In diesem Fall scheint er davon auszugehen, dass das Wort Buße an dieser Stelle nicht falsch verstanden wird. Da Luther der Meinung war, dass die Buße »eigentlich nicht anders ist denn die Tauffe« (»Denn was heisset busse anders denn den alten menschen mit ernst angreiffen und yn ein newes leben tretten? «), befürwortete er weiterhin die Bußpraxis bzw. die Beichte, wenn auch für ihn keine Pflicht dazu bestand und sie auch nicht von einem Priester bzw. Pfarrer gehört werden musste. 60 Gratiae plena (Lk 1,28) Der Engelgruß an Maria bot ein zweites, den Humanisten schon bekanntes Übersetzungsproblem. In der Vulgata-Übersetzung wurde Maria mit den Worten »Ave gratiae plena« angesprochen. Die Vorstellung, dass Maria »voll Gnaden« sei, bestätigte den Eindruck, dass die Gnade Gottes als etwas Messbares gedacht werden könnte. Deshalb übersetzte Erasmus in seinem Novum Instrumentum den griechischen Begriff »kecharitōmenē« mit gratiosa. 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 44 Charlotte Methuen »novam sprach, celeste deudsch« ZNT 26 (13. Jg. 2010) 45 Luther beschäftigte sich bereits Anfang 1522 mit dieser Stelle. Im Betbüchlein übernimmt er kommentarlos die traditionelle Übersetzung des Ave Maria: Gegrusset seystu voll Gnaden. 61 Diese Begrüßung zeigt, dass Maria »on alle sund bekandt wirtt […] Denn gotis gnade macht sie voll alles gutten und ledig alles boeßen.« 62 Weiter bedeutet der Engelgruß, »das alle yhr thun und lassen ist gottlich unnd geschicht yn yhr von gott, datzu beschuetzt er sie und bewaret fur allem das yhr schedlich seyn mag.« Wichtig sei, zu verstehen, dass Maria in einer besonderen Beziehung zu Gott stehe. Jedoch sieht die Übersetzung im Septembertestament ganz anders aus: Gegrüßet seiest du, Holdselige! Hier steht die Beziehung zwischen Maria und Gott ausdrücklich im Vordergrund. »Welcher Deutscher verstehet, was gsagt sey, vol gnaden? « fragte Luther im Sendbrief zu Dolmetschen im Jahre 1530. »Er mus dencken an ein vas vol bier, oder beutel vol geldes.« 63 Maria sei nicht in diesem Sinne »voll« Gnaden, sondern sie sei von Gott viel geliebt. »Gott grusse dich, du liebe Maria« wäre Luthers Meinung nach eine noch bessere Übersetzung, denn er glaubte, dass der Engel Gabriel an dieser Stelle auf dieselbe Art und Weise mit Maria spricht, wie er im Alten Testament mit Daniel gesprochen hat: »Denn ich halt, S. Lucas als ein meister in Hebreischer und Greckicher sprache, hab das Hebreisch wort, so der Engel gebraucht, woellen mit dem Greckischen kecharitomeni, treffen und deutlich geben. Und denck mir, der Engel Gabriel habe mit Maria geredt, wie er mit Daniel redet, und nennet jnn Ha-mudoth und Isch Hamudoth, vir desideriorum, das ist, du lieber Daniel [Dan 9,23; 10,11.19]. Denn das ist Gabrielis weise zu reden, wie wir jhm Daniel sehen.« 64 Mit seiner Übersetzung wollte Luther ein verständliches Deutsch schreiben, um eine für ihn normale Grußform eines Engels nicht theologisch zu überfrachten: »Darumb mus ich hie die buchstaben faren lassen, unnd forschen, wie der Deutsche man solchs redet, welchs der Ebreische man isch Hamudoth redet, So finde ich, das der deutsche man also spricht, Du lieber Daniel, du liebe Maria, oder du holdselige mad, du medliche junckfraw, du zartes weib, und der gleichen.« 65 Luthers Umgang mit dem Engelgruß an Maria ist ein Beispiel dafür, wie er sich bemühte, die im NT verwendeten griechischen Begriffe auf eine hebräische Basis zurückzuführen. Ebenso zeigt dieser Umgang, wie Luther sich um die Verständlichkeit der Sprache bemühte: »Jch hab mich des geflissen ym dolmetzschen, das ich rein und klar teutsch geben moechte.« 66 Einfach war dieses Bemühen nicht. So betonte er in seiner Vorrede zum Propheten Jesaja (1528), dass er und die anderen Übersetzer: »zwar haben mueglichen vleys gethan, das Jesaias gut klar deudsch redet, wie wol er sich schweer dazu gemacht vnd fast geweeret hat.« 67 Trotzdem verstand er die Sprache der Heiligen Schrift als verständliche Sprache des täglichen Lebens. Die deutschen Formulierungen der Übersetzung waren deshalb aus der Alltagssprache zu lernen, wie er bekanntermaßen betonte: »Den man mus nicht die buchstaben inn der lateinischen sprachen fragen, wie man sol Deutsch reden, wie diese esel thun, sondern, man mus die mutter jhm hause, die kinder auff der gassen, den gemeinen man auff dem marckt drumb fragen, und den selbigen auff das maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetzschen, so verstehen sie es den und mercken, das man Deutsch mit jn redet.« 68 Es ging Luther stets darum, die von ihm übersetzten Texte »gut klar deutsch zu reden«, in einer Art und Weise, dass der tiefere Sinn der jeweiligen Stelle ersichtlich wurde. Diese Beobachtung zur Sprache darf nicht die Tatsache verschleiern, dass Luther mit der Übersetzung »Holdselige« nicht nur eine sprachliche, sondern auch eine theologische Aussage getroffen hat. Diese wurde von Hieronymus Emser identifiziert und kritisiert: »so hat doch der engel nit geredt von menschlicher huld, sonder von der gnad gotes, und Marie die ehr und wirdigkeit / das sie werden solt ein muter gottes, nit auß menschlicher holdseligkeyt / sonder auß gottes gnaden gehabt.« 69 Für Emser ging Luthers Verallgemeinerung der Sprache Hand in Hand mit einer Verallgemeinerung der Theologie, die die Rolle der Maria völlig unterschätzte: »Dann die Gnade die Eva vorschütt hat Maria uns wieder erholet / und ist die maledeyung Eve / in die benedeyung Marie bekert worden.« 70 In seiner eigenen Übersetzung blieb Emser bei der traditionellen Übersetzung »gegrusset syestu vollgnaden«, und fügte eine Randbemerkung hinzu: »Es ging Luther stets darum, die von ihm übersetzten Texte ›gut klar deutsch zu reden‹, in einer Art und Weise, dass der tiefere Sinn der jeweiligen Stelle ersichtlich wurde.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 45 Zum Thema 46 ZNT 26 (13. Jg. 2010) »Aus diesem won arguieren die ketzer das Maria nichtzit mehr sey denn eyn mayd und das man sie nit soll nenen eyn konigin der hymel. Wiewol sie sich nun selbs aus grosser diemut ansderst nicht nenen dann eyn mayd / so heyßet sie doch den engel vol gnaden und Elizabeth eyn muter des Herrn / unnd die benedeyte under den weyben […] darum o lob und preyse du Marien mit dem Engel mit Elisabeth und mit der Christlichen kirchen.« 71 Diese Randbemerkung ist offensichtlich gegen Luther gerichtet, der Maria durchaus als Vorbild des Guten und als Mutter Christi verstand, allerdings überzeugt war, dass der beste Lobgesang der Maria darin bestand, richtig zu glauben: »Es wirt diße mutter und yhre frucht zweyerley weyße benedeyet, leyplich und geystlich. Leyplich mit dem mund unnd mit den wortten des Aue Maria, […] Geystlich mit dem hertzen, das ich yhr kind Christum ynn alle seynen wortten, wercken und leyden lobe und benedey, das thut niemant denn der recht Christlich glewbt.« 72 Er empfahl: »wer nicht glewbt, dem ist tzu ratten, er laß das Aue Maria und alle gepett anstehen.« 73 Wegen seines Marienverständnisses gehörte gerade Emser für Luther zu den »ergiste[n] lesterer[n] und vermaledeyer[n]« der Maria, die ihre Beziehung zu Gott und ihre Funktion als Vorbild falsch verstanden hätten. Luthers Übersetzung dieser Stelle sollte diese seiner Meinung nach richtige - freilich auch neuinterpretierte - Einstellung zu Maria unterstützen. Sie zeigt, wie humanistische Kritik, theologische Neuorientierung und sprachliche Überlegungen seine Bibelübersetzung prägten. Ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben (Röm 3,28) Ein ähnliches Zusammenspiel von verschiedenen Faktoren ist bei der Übersetzung von Röm 3,28 zu beobachten. Hier standen im Griechischen Urtext und in der Vulgata »das der mensch gerechtfertigt werde / durch den glauben / one die werck des gesetzs« wie Emser seine Übersetzung korrigierte. Luther fügte seiner Übersetzung das Wort »allein« hinzu: »So halten wir es nun, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben«. In seinem Sendbrief zu Dolmetschen behauptete Luther, dass diese Übersetzung zunächst eine Frage der sprachlichen Gewohnheit sei. Es war ihm klar, dass das Wort »allein« nicht im Urtext stehe: »Also habe ich hie Roma. 3. fast wol gewist, das ym Lateinischen und krigischen text das wort ›solum‹ nicht stehet, und hetten mich solchs die papisten nicht dürffen leren. War ists. Dise vier buchstaben s o l a stehen nicht drinnen.« Seine Entscheidung, das Wort »allein« hinzuzufügen, sei eine Entscheidung der Sprache wegen: »Das ist aber die art unser deutschen sprache, wenn sie ein rede begibt, von zweyen dingen, der man eins bekennet, und das ander verneinet, so braucht man des worts ›solum‹ (allein) neben dem wort ›nicht‹ oder ›kein‹, Als wenn man sagt: Der Baur bringt allein korn und kein geldt, Nein, ich hab warlich ytzt nicht geldt, sondern allein korn. Jch hab allein gessen und noch nicht getruncken. Hastu allein geschrieben und nicht uberlesen? Und der gleichen unzeliche weise yn teglichen brauch.« 74 Dies sei eine Eigenschaft der deutschen Sprache: »hilfft hie das wort ›Allein‹ dem wort ›kein‹ so viel, das es ein vollige Deutsche klare rede wird.« 75 Deutsch funktioniert Luther zufolge also anders als Latein oder Griechisch, was für die Übersetzungskunst problematisch war, »denn die lateinischen buchstaben hindern aus der massen, seer gut deutsch zu reden.« 76 Die deutsche Sprache sei für diese Übersetzung aber entscheidend. Luther gab allerdings ebenfalls im Sendbrief zu, dass diese Übersetzungsentscheidung auch seine Paulusinterpretation unterstütze. Wie Ambrosius und Augustinus glaubte Luther, dass Paulus selbst betonen wollte, der Mensch sei allein durch Glauben und nicht durch Werke gerechtfertigt: »Seine wort sind zu starck, und leiden kein, ja gar kein werck. Jsts kein werck, so mus der glaube allein sein.« 77 Das Wort »allein« hinzuzufügen sei eine sprachlich bedingte Entscheidung, die mit den Intentionen des Paulus völlig übereinstimme. In der Tat hat Luther bei seiner Besprechung dieser Stelle in der Römerbriefvorlesung kein zusätzliches allein bzw. sola hinzugefügt. In der Glossa zu der Stelle betonte er zwar, dass die Rechtfertigung ohne Werke geschehe, erwähnt den Glauben jedoch gar nicht: »Arbitramur i. e. decernimus et asserimus, colligimus ex dictis enim iustificari Iustum apud Deum reputari hominem siue Graecus sit siue Iudaeus per fidem sine »[...] die lateinischen buchstaben hindern aus der massen, seer gut deutsch zu reden.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 46 Charlotte Methuen »novam sprach, celeste deudsch« ZNT 26 (13. Jg. 2010) 47 operibus legis sine adiutorio et necessitate operum legis«. 78 In der Schola unterschied er zwischen unterschiedlichen Arten von Werken: »Vnde Quando Apostolus dicit, Quod sine operibus legis Iustificamur, Non loquitur de operibus, quae pro Iustificatione quaerenda fiunt. Quia haec iam non legis opera sunt, Sed gratiae et fidei, cum qui haec operatur, non per haec sese Iustificatum confidat, Sed Iustificari cupiat, Nec legem se per haec implesse putat, Sed impletionem ipsius quaerit.« 79 »Wenn der Apostel sagt, dass wir ohne die Werke des Gesetzes gerechtfertigt werden, spricht er nicht von den Werken, die der Rechtfertigung wegen gemacht werden. Denn diese sind nicht die Werke des Gesetzes, sondern der Gnade und des Glaubens, weil, wer sie macht, nicht für seine Rechtfertigung darauf vertraut, sondern gerechtfertigt werden will und nicht denkt, dass er durch diese Werke das Gesetz erfüllt, sondern nach dessen Erfüllung sucht.« Luther sprach in der Römerbriefvorlesung zu Röm 3,28 noch nicht davon, dass die Rechtfertigung allein durch Glauben geschehe: Vielmehr arbeitete er noch daran, sein Verständnis vom Werk zu differenzieren, indem er die »Werke des Gesetzes« von den, von ihm noch so genannten, »Werken der Gnade« unterschied. Während der Römerbriefvorlesung redete Luther bei der Auslegung von Röm 3,28 noch nicht explizit von der Rechtfertigung allein durch Glauben. 1518 aber verwendete er die Formulierung »sola fide« in einer Predigt über die richtige Vorbereitung zum Empfang der Eucharistie auf Grund einer Stelle bei Paulus »ubi clamat omnes esse peccatores et sola iustificandos fide«. 80 Die Herausgeber der WA sehen hier einen Bezug auf Röm 3,28; Luther selbst nannte ausschließlich den »Apostolos« als Quelle, bestimmte aber weder Brief noch Kapitel. Sicher ist, wie diese Stelle zeigt, dass Luther spätestens seit 1518 ausdrücklich der Meinung war, die Rechtfertigung geschehe allein durch Glauben. 81 So betonte er in den theologischen Thesen der Heidelberger Disputation: »25. Non ille iustus est, qui multum operatur, sed qui sine opere multum credit in Christum. 26. Lex dicit ›fac hoc‹, et nunquam fit: gratia dicit ›Crede in hunc‹, et iam facta sunt omnia.« 82 Trotzdem zitierte er Röm 3,28 in seinem Beweis der 25. These nach der Vulgata-Übersetzung, ohne ein »sola« hinzuzufügen: »Et Roma. 3. Arbitramur enim iustificari hominem per fidem sine operibus Legis, id est, ad iustificationem nihil faciunt opera.« 83 Im Jahr 1519 zitierte er in der Galaterbriefvorlesung sowie in einer Predigt de duplici iustitia ebenso Röm 3,28 nach der Vulgata-Übersetzung. 84 1518 bei den Acta Augustana fügte er doch das Wort »gratis« dem Zitat hinzu: »Sic enim arbitratur Apostolus gratis iustificari hominem per fidem.« 85 Die Rechtfertigung sei von Gott umsonst gegeben; dass sie sola fide geschehe, ist zwar impliziert, lässt sich aber nicht anhand Luthers Zitierweise von Röm 3,28 erkennen. Auch nach der Veröffentlichung des Septembertestaments zitierte Luther diese Stelle (wenn überhaupt) weiterhin in lateinischen Texten anhand der Vulgata-Übersetzung. 86 Luthers Zitierweise von Röm 3,28 ist in seinen deutschen Schriften unterschiedlich. In einer Predigt zu Epiphanias 1521 zitierte Luther Röm 3,28 und Gal 2,16: »Als bald nun Christus geborn wirt, das ist, wenn man predigt, das wir nit frumm werden auß unsern wercken, sonder allain auß dem glauben in Christum, als Paulus zů den Roemern spricht am iij. und zů den Galath. am ij. ca.« 87 Hier fügte er ausdrücklich das Wort »allein«, das an keiner der beiden Stellen - weder im Griechischen noch im Lateinischen - vorkommt, hinzu. Die dadurch entstandene Übersetzung deutete somit auf die spätere Übersetzung im Septembertestament und in der Biblia Deutsch hin. Ähnlich verwendete er in einer Predigt aus dem Jahr 1524 seine eigene Bibelübersetzung: »Paul. Rom. sagt ›Sy werden gerechtfertigt on alle werck, allayn durch den glawben‹[…]« 88 Diese Fälle blieben allerdings die Ausnahme, denn an anderer Stelle zitierte Luther die Worte Pauli ohne »allein«: »Wyr hallten, der mensch werde gerecht durch den glauben on werck« 89 ; Jona bestätige »den spruch S. Pauli Ro. iij., das durch die werck des gesetzs niemand muege fur gott frum werden, sondern der mensch mus on alle werck des gesetzs durch den glauben frum werden.« 90 Luther war in seiner deutschen Zitierweise von Röm 3,28 also nicht konsequent. Dass Luther bei der Erwähnung von Röm 3,28 auf Latein den Zusatz »sola« bzw. »allein« nie verwendet hat, deutet darauf hin, dass es ihm in der Tat bei seiner Übersetzung um die Verständlichkeit der deutschen Sprache ging. Allerdings zeigt seine unterschiedliche deutsche Zitierweise, dass er sich bewusst war, der deutsche Satz sei auch dann verständlich, wenn das Wort »allein« nicht hinzufügt werde. Es ging Luther bei seiner Übersetzung von Röm 3,28 durchaus um die Sprache, aber noch wichtiger war ihm die Überzeugung, die Rechtfertigung geschehe sola fide, die 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 47 Zum Thema 48 ZNT 26 (13. Jg. 2010) unmissverständlich ausgedrückt werden sollte. Das war bei seiner gesamten Bibelübersetzung nicht anders: Die Sprache war ihm wichtig - aber die Sprache musste das richtige Verständnis des Wortes Gottes ausdrücken. Anders als bei einer Predigt, in der die evangelische Botschaft von einem Prediger dargestellt und verantwortet werden konnte, musste die Bibelübersetzung für sich sprechen. Luther versuchte durch Vorreden, durch Randbemerkungen und vor allem durch die Sprache der Übersetzung deutlich zu machen, wie die Texte der Heiligen Schrift zu verstehen waren. Es ging ihm nicht darum, eine wissenschaftliche Untersuchung des Textes zu ermöglichen, sondern darum, dass die Leser und Leserinnen die wahre Botschaft des Textes begreifen, ausleben und weitergeben konnten. Durch seine Theologie und sein reformatorisches Tun wollte Luther das Wort und die Verheißung Gottes so in das Leben und in die Herzen des Volkes bringen, dass auch sie die Botschaft des Evangeliums verstehen und weitergeben konnten. Seine Bibelübersetzung war eine Möglichkeit und ein wichtiges Mittel dazu, das Evangelium in der Volkssprache zu unterrichten und zu verbreiten. Anmerkungen * Mit Dank an die Redaktion der ZNT für die Einladung, einen Aufsatz über Geschichte und Theologie der Lutherbibel zu schreiben und an Prof Dr. Irene Pieper, Dr. Judith Becker und Anna Imhof für ihre sprachliche Unterstützung. 1 Volker Leppin, »Biblia, das ist die ganze Heilige Schrift deutsch«. Luthers Bibelübersetzung zwischen Sakralität und Profanität, in: J. Rohls/ G. Wenz (Hgg.), Protestantismus und deutsche Literatur, Göttingen 2004 (Münchener Theologische Forschungen 2), 13-26, hier: 15. 2 Leppin, »Biblia«, 16. 3 WA.TR 3, Nr. 3767; vgl. auch seine ähnlichen Aussagen im November 1531 (WA.TR 1, Nr. 116) und im Sommer 1540 (WA.TR. 5346). 4 WA.TR 3, Nr. 3767. 5 Vgl. H. Rost, Die Bibel im Mittelalter, 37-66; zur Historiographie dieser Frage siehe auch A.C. Gow, The Contested History of a Book. The German Bible of the Later Middle Ages and Reformation in Legend, Ideology, and Scholarship, in: JHS 9 (2009) (37pp.), hier: 8-10, bes.: 5-6. 6 O. Chadwick, The early Reformation on the continent, Oxford 2001, 1. 7 U. Neddermeyer, Von der Handschrift zum gedruckten Buch. Schriftlichkeit und Leseinteresse im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit; quantitative und qualitative Aspekte, 2. Bde., Wiesbaden 1998, 418-419. 8 Neddermeyer, Von der Handschrift zum gedruckten Buch, 479. 9 Vgl. H. Reinitzer, Biblia deutsch. Luthers Bibelübersetzung und ihre Tradition, Wolfenbüttel/ Hamburg 1983, 80. Vgl. auch Th. Kaufmann, Vorreformatorische Laienbibel und reformatorisches Evangelium, in ZThK 101 (2004), 138-174; hier: 140-141; weiter Gow, Contested History, hier: 8-10. 10 Reinitzer, Biblia deutsch, 80; vgl. auch Neddermeyer, Von der Handschrift zum gedruckten Buch, 812. 11 H. Daniel-Rops, The Protestant Reformation, London/ New York 1961, 295; zit. nach Gow, Contested History, 20. 12 Gow, Contested History, 31. 13 Gow, Contested History, 30. 14 Gow, Contested History, 30-31. 15 Vgl. W.J. Kooiman, Luther and the Bible, Philadelphia 1961, 5-6. 16 Luther an Johannes Braun, 17. März 1509; WA.B 1, 17; Nr. 5: »ea […] theologia, quae nucleum nucis et medullam tritici et medullam ossium scrutatur«. 17 Luther besaß vermutlich mindestens zwei vollständige hebräische Bibelausgaben: die 1494 in Brescia gedruckte Quarto-Ausgabe sowie eine - nicht erhaltene - »grosse Hebreische Bibel« (WA DB 11/ 2, xx). 18 Vgl. z.B. H. Bluhm, Martin Luther, creative translator, St. Louis 1965, 37. 19 WA 1, 379. 20 WA 1, 379. 21 WA 15, 38. 22 WA 15, 37. 23 WA.B 10/ 1, 94. 24 WA 15, 37-38. Vgl. Leppin, »Biblia«, 20. 25 WA 15, 37-38. Vgl. Leppin, »Biblia«, 20. 26 WA.TR 2, 2781a. 27 So soll Luther von der Übersetzung des Pentateuchs gesagt haben: »Si nunc a me Moses transferendus esset, wolt ich yhn wol deutsch machen, quia vellem ei exuere Hebraismos, et ita, ut nemo diceret Haebreum esse Mosen.« WA.TR 2, 2771a. Während er die prophetischen Bücher übersetzt hat, schrieb er an Wenzeslaus Link, dass es sehr schwierig sei, die Propheten dazu zu bringen, statt Hebräisch Deutsch zu sprechen: »Deus, quantum et quam molestum opus, Hebraicos scriptores cogere Germanice loqui, qui resistunt, quam suam Hebraicitatem relinquere nolunt et barbariem Germanicam imitari, tanquam si philomela cuculum cogatur, deserta elegantissima melodia, unisonam illius vocem detestans, imitari« (Luther an Wenzeslaus Link, 14.06.1528; WA.B 4, 484). 28 WA 36, 646b. Hierzu vgl. A. Beutel, In dem Anfang war das Wort. Studien zu Luthers Sprachverständnis, Tübingen 1991 (HUTh 27), 456-465. 29 Beutel, In dem Anfang, 464-465. 30 WA 41, 11. 31 WA 1, 158. 32 WA 1, 158. 33 WA 1, 220. 34 WA 1, 233. 35 WA 1, 219. 36 WA 1, 159. 37 Bluhm, Martin Luther, creative translator, 4-36 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 48 Charlotte Methuen »novam sprach, celeste deudsch« ZNT 26 (13. Jg. 2010) 49 (Matthäus-Stellen), 37-48 (Predigt). Die Predigt ist abgedruckt in WA 2, 244-249 (Übersetzung WA 2, 246). 38 St.V. Frech, Magnificat und Benedictus Deutsch: Martin Luthers bibelhumanistische Übersetzung in der Rezeption des Erasmus von Rotterdam, Bern 1995, 261. 39 Frech, Magnificat und Benedictus Deutsch, 261. 40 Bluhm vergleicht Luthers Übersetzung mit der Mentel Bibel (ca. 1466) und die Silvanus Otmar Bibel (1518); Frech bezieht sich auf die Mentel Bibel sowie eine in Köln im Jahre 1478 gedruckte Ausgabe. 41 Bluhm, Martin Luther, creative translator, 5. 42 Bluhm, Martin Luther, creative translator, 77. Für die Datierung der Wartburgschriften vgl. Beutel, In dem Anfang, 7, basierend auf Sören Widmann, Die Wartburgpostille. Untersuchungen zu ihrer Entstehung und zu Luthers Umgang mit dem Text, diss. (masch.), Tübingen 1969, 28-30. 43 Bluhm, Martin Luther, creative translator, 77. 44 Beutel, In dem Anfang, 27-28. 45 Beutel, In dem Anfang, 28. 46 Leppin, »Biblia«, 17. 47 In seiner Widerlegung des »zweiten Mauers«, nämlich der Behauptung »es gepur die schrifft niemant ausztzulegenn, den dem Bapst«: WA 6, 406, 411-412. 48 WA 30/ 1, 128. 49 WA 18,609. 50 Kooiman, 123-124. 51 WA.B 7, 3. 52 Kooiman, 109-110. 53 WA.B 7, 3. 54 WA.B 7, 38. 55 WA.B 7, 3. 56 C.A.L. Jarrott, Erasmus’ Biblical Humanism, in: Studies in the Renaissance 17 (1970), 119-52, hier: 125. 57 WA 1, 223. 58 Hieronymus Emser, Das naw Testament nach lawt der Christlichen kirchen bewerten Text, Dresden 1523, fol. 4r, 4v. 59 Hieronymus Emser, Auß was gruend unnd vrsach Luthers dolmatschung / vber das nawe testament / dem gemeinen man billich verboten worden sey (1523), in: Hermann Gelhaus, Der Streit um Luthers Bibelverdeutschung im 16. und 17. Jahrhundert, Bd. 1, Reihe Germanistische Linguistik 89, Tübingen 1989, Bd. 2, 17-54, hier: 39. 60 Luther erläutert sein Verständnis von der Buße im Großen Katechismus: WA 30/ 1, 221. 61 WA 10/ 2, 408. 62 WA 10/ 2, 408. 63 WA 30/ 2, 638. 64 WA 30/ 2, 638-639. 65 WA 30/ 2, 639. 66 WA 30/ 2, 636. 67 WA.B 11/ 1, 22. Vgl. auch Anmerkung 27. 68 WA 30/ 2, 637. 69 Hieronymus Emser, zit. nach B. Stolt, »… und fühl’s im Herzen …« Luthers Bibelübersetzung aus der Sicht neuerer Sprach- und Übersetzungswissenschaft, ZTK 98 (2001), 186-208, hier: 194. 70 Emser, zit. nach Stolt, »… und fühl’s im Herzen …«, 194. Seltsamerweise verwendete Emser selbst jedoch die Übersetzung »Gegrusset seystu holdselige« in der eigenen Übersetzung, statt sie nach liturgischem Gebrauch mit den Worten »voll Gnaden« zu ersetzen. 71 Emser, Das naw Testament, fol. 39r. 72 WA 10/ 2, 409. 73 WA 10/ 2, 409. 74 WA 30/ 2, 637. 75 WA 30/ 2, 637. 76 WA 30/ 2, 637. 77 WA 30/ 2, 642. 78 WA 56, 39; vgl. WA 57, 41. 79 WA 56, 264. Die Diskussion wird in der Mitschrift gar nicht erwähnt. 80 WA 1, 332. 81 Die Datierung des so genannten »reformatorischen Durchbruchs« von Luther - seine Erkenntnis, dass die Rechtfertigung allein durch Glauben geschehe - ist umstritten. Für einen Überblick der Diskussion vgl. B. Lohse, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995, 97-109. Meiner Meinung nach hat Luther schon in der Römerbriefvorlesung angefangen, diese Einstellung zu entwickeln, hat aber erst im Laufe der Kontroverse um die 95 Thesen selbst die Rechtfertigung allein durch Glauben als Leitgedanken seiner Theologie erkannt. 82 WA 1, 354. 83 WA 1, 364. 84 WA 2, 146; 499. 85 WA 1, 15-16. 86 Luther zitiert die Stelle selten: WA 11, 299; 17/ 1, 375a; 18, 765.767 [letzteres in De servo arbitrio]. 87 WA 7, 241. 88 WA 15, 666b. 89 WA 15, 115. 90 WA 19, 194. 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 49 Die Bibel Alten und Neuen Testaments, wie sie landauf, landab in vielen Millionen Exemplaren in den Bücherregalen steht, verdankt sich einer bestimmten biblisch-theologischen Grundentscheidung, die beide Kanonteile, aus ihrer jeweiligen Ursprache Hebräisch und Griechisch übertragen, unmittelbar zueinander ins Verhältnis setzt und durch zahllose Einzelverweise hin und her zu einem festen intertextuellen Gewebe verbindet. Historisch betrachtet ist dieses Verfahren insofern anfechtbar, als zwischen der Hebräischen Bibel und dem Neuen Testament die Ära des Hellenistischen Judentums liegt, eines Judentums, das sich schon lange vor der Entstehung des Christentums der Kultur der hellenistischen Welt geöffnet und dem Christentum in vieler Hinsicht den Weg bereitet hat, nicht zuletzt durch die beispiellose Übersetzungsleistung der Septuaginta (LXX), christlich gesprochen: des griechischen Alten Testaments. Muss also der erste Teil der christlichen Bibel völlig neu übersetzt werden, und ist, so gesehen, dem NT ein ganz anderer Text voranzustellen? Diese Frage entscheidet sich daran, ob und in welchem Maße die neutestamentlichen Texte von der Gedanken- und Textwelt der LXX herkommen und in ihrem Schriftbezug überhaupt nur von dort her zu verstehen sind. Um es vorwegzunehmen: Für diesen Fall ist vorgesorgt, denn die LXX liegt seit 2009 in deutscher Übersetzung vor (LXX.D). Aber die Problemlage ist kompliziert und keinesfalls im Handstreich zu entscheiden. Hat Stefan Schorch recht, der den bleibenden Verweischarakter des LXX-Griechisch auf seinen hebräischen Referenztext betont? Dann wäre das Griechisch des AT ein Phänomen in ständiger Sichtweite des Hebräischen, ein Behelf geradezu, der dem Hebräischen seinen Rang nicht nur nicht streitig macht, sondern es darin bestätigt. Dagegen macht Adrian Schenker geltend, dass die neutestamentlichen »Schriftbeweise« häufig nur im Wortlaut der LXX funktionieren, dass mithin die frühchristlichen Bezugnahmen auf die jüdische Bibel elementar auf ihre griechische Sprachgestalt angewiesen sind. Beide Beiträge positionieren sich mit gewichtigen Argumenten in einer Diskussion, die hoch spannend ist und gewiss noch lange andauern wird. Die LXX.D ist aber, soviel wird man jetzt schon sagen dürfen, in jedem Fall eine sinnvolle und lohnende Anschaffung. Manuel Vogel Einleitung zur Kontroverse »Verlangen die Schriften des Neuen Testaments danach, den Kanon des Alten Testaments an der LXX auszurichten? « 50 ZNT 26 (13. Jg. 2010) 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 50 1. Zwei Bedeutungen von »Kanon« Unter »Kanon« versteht man meistens die Liste der Bücher oder Schriften, welche als Heilige Schrift gelten. Der Begriff bezeichnet aber ebenso die authentische Textgestalt dieser Schriften. Umfang und Grenzen der für die neutestamentlichen Verfasser maßgeblichen Liste kanonischer alttestamentlicher Bücher gehen aus dem NT nicht eindeutig hervor. Überdies hat der Begriff eines LXX-Kanons unscharfe Ränder. 1 Es ist jedoch unstreitig, dass die Textgestalt mancher alttestamentlicher Zitate im NT der LXX entsprechen, wo diese sich vom überlieferten masoretischen Text (MT) der hebräischen Bibel unterscheidet. Solche Unterschiede fallen bisweilen theologisch ins Gewicht, weil die Verfasser im NT der Textgestalt der griechischen Bibel an solchen Stellen biblisch-theologische Beweiskraft zuschreiben. Solche Beweiskraft beruht auf ihrer prophetischen Qualität oder Natur, weil die Worte der Propheten das Wort Gottes enthalten und übermitteln. 2. Prophetische Beweiskraft der griechischen Bibel im NT Es sollen solche Beispiele folgen, in denen das NT aus der griechischen Bibel prophetische Begründungen schöpft, welchen an der entsprechenden Stelle in der hebräischen Bibel der Masoreten eine andere Textform gegenübersteht, die den Beweis nicht leisten würde. In Apg 15,15 führt Jakobus das beweiskräftige Argument aus der Schrift wie folgt ein: »Damit stehen die Worte der Propheten im Einklang, wie geschrieben steht«, worauf ein einziges Zitat aus Amos 9,11-12 folgt. Amos repräsentiert demgemäß hier die Gesamtheit der Propheten. 2 Die Wendung »Worte der Propheten«, die mit dem Zitat eines einzigen Propheten belegt ist, impliziert, dass alle Propheten eine einzige gemeinsame Botschaft bringen, nämlich das eine Wort Gottes, sodass sich das, was einer sagt, in dieser Einheit mit dem deckt, was die andern sagen. Am 9,12 enthält demgemäß den allen Propheten entsprechenden Schriftbeweis, dass Petrus recht hat, wenn er sagt, dass Gott keinen Unterschied zwischen gläubig gewordenen Juden und Angehörigen der anderen Völker macht, V.8-9. Denn dieses Wort Gottes lautet in der griechischen Bibel: »damit die Übriggebliebenen der Menschen und alle Völker, über denen mein Name ausgerufen ist, suchen; das sagt der Herr, der das tut«. Drei Differenzen mit dem Text der Apg: ein an nach hopōs in Apg; als Akkusativobjekt des Verbs »suchen« steht in Apg (und in einigen Textzeugen der LXX unter Einfluss der Apg 3 ) ton kyrion, während die ursprüngliche LXX wegen des implizierten Objekts von Davids wieder aufgerichteter Hütte in V.11 kein Akkusativobjekt brauchte; am Schluss ergänzt Apg das Partizip mit einem Objekt: »der das kund tut von Ewigkeit her« 4 . Die Apostelgeschichte weitet so das prophetische Wort der griechischen Bibel aus: die nicht-jüdischen Völker, d.h. die Menschheit (adam), suchen in Wirklichkeit in Davids wieder aufgerichteter Hütte den Herrn. Das dürfen sie tun, weil über ihnen der Name des Herrn, d.h. der Name Jhwhs, ebenso wie über Israel und Juda ausgerufen ist. Sie gehören ihm genau so wie Israel und Juda. Daher suchen auch sie in Davids wieder errichteter Hütte den Herrn selbst. Diese Akzentuierung durch das Akkusativobjekt »den Herrn« bleibt aber in der Perspektive des ursprünglichen prophetischen Wortes Amos’ in der LXX, vgl. nur Jes 2,1-5. Im MT sind es dagegen nicht die Völker, die handeln, sondern im Licht von V.11 ist es »die Hütte Davids« als Kollektivum, d.h. die Bewohner Judas, die die übrig gebliebenen Edomiter und alle Völker in Besitz nehmen, weil Jhwhs Name über sie ausgerufen ist, der demgemäß seinen Namen als Eroberer auf die besiegten Völker legen würde, wie David auf eine besiegte Stadt, vgl. 2Sam 12,28. Nach Ez 36,5-7 wird Gott das Verhältnis zwischen Edom und Israel umkehren, sodass Israel sich Kontroverse Adrian Schenker Das Neue Testament hat einen doppelten alttestamentlichen Kanon Von der Ebenbürtigkeit des Griechischen ZNT 26 (13. Jg. 2010) 51 »[Die]Beweiskraft [der griechischen Bibel] beruht auf ihrer prophetischen Qualität oder Natur, weil die Worte der Propheten das Wort Gottes enthalten und übermitteln.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 51 Kontroverse 52 ZNT 26 (13. Jg. 2010) Edom unterwerfen wird. Am 9,12 im MT ist wie eine Parallele zu dieser Ankündigung. Aus folgenden drei Gründen ist es im Übrigen wahrscheinlich, dass die griechische Bibel in V.12 den ursprünglicheren Wortlaut als MT bietet. 5 Erstens spiegelt der griechische Text in allen seinen Teilen eine mögliche hebräische Vorlage wider (yidrešû enstpricht ekzētēsōsin, adam steht hinter tōn anthrōpōn); zweitens ist die Wendung: »den Namen Jhwhs über jemanden ausrufen« immer von Israel und von Menschen in Israel (Jeremia) gebraucht, die seinem Schutz anempfohlen, und nie von Feinden, die zu besiegen sind: 2Chr 7,14; Jes 43,7; 48,1; 63,19; Jer 14,9; 15,6; drittens ist die Annahme unwahrscheinlich, zwei versehentliche Schreibfehler (’edôm zu ’adam, yîrešû zu yidrešû verdorben) hätten den Vers in seiner Bedeutung zufällig in seine gegenteilige, durchaus sinnvolle Bedeutung verkehrt, ohne dass ein Diorthotes (Korrektor) es gemerkt hätte. Aber die alternative Annahme von zwei kleinen, aber absichtlichen redaktionellen Veränderungen zum Zwecke, diese äußerst universalistische Spitzenaussage zurückzunehmen, leuchtet ein. Die Wahrscheinlichkeit ist entschieden größer, die eschatologische universalistische Nivellierung von Davids Hütte (Judäer) zugunsten aller Völker der Menschheit, die sämtlich wie Israel und Juda ohne Unterschied unter dem über sie ausgerufenen Namen Jhwhs stehen, sei durch eine redaktionelle Veränderung zurückgestuft und in die nationale jüdische Perspektive des Sieges von Davids Hütte über Edom und alle Völker gerückt worden, entsprechend Ez 36,5-7. Als Ergebnis darf jedenfalls festgehalten werden, dass nur das griechische Prophetenwort, das aber auf einer hebräischen Vorlage beruht, den prophetisch beglaubigten Schriftbeweis in Apg 15,15-17 hergibt, während seine hebräische Fassung im MT diesen Dienst nicht leisten kann. Das bedeutendste Beispiel für einen sehr weitreichenden Schriftbeweis, den nur die griechische Fassung eines Prophetenwortes ergibt, ist im längsten alttestamentlichen Zitat im NT gegeben, nämlich in Jhwhs Verheißung eines neuen Bundes im Munde Jeremias, Jer 31,31-34. Es würde zu weit führen, das hier zu zeigen. 6 3. Prophetische Beweiskraft der hebräischen Bibel im NT In Mk 4,12 ist der sog. Verstockungsauftrag, mit welchem Jhwh nach Jes 6,10 den Propheten betraut, in leicht abgewandelter Form nach der Textgestalt des MT zitiert: »damit sie zwar schauen, aber nicht sehen, und zwar hinhören und lauschen, aber nicht verstehen, damit sie nicht umkehren und ihnen nicht vergeben wird«. Bei Jes 6,10b lautet die Stelle: »damit [das Volk] nicht sieht mit seinen Augen und mit seinen Ohren nicht hört und [damit] sein Herz es nicht versteht und [damit es] nicht umkehrt und [damit] ihm keine Heilung widerfährt«. Charakteristisch bei diesem Auftrag an den Propheten sowohl bei Jesaja nach dem MT als auch bei Markus ist der negative Zweck: Umkehr und auf diese folgende Heilung (Jesaja) bzw. Vergebung (Targum Jesaja, Markus) müssen ausgeschlossen werden. Es ist Unheilsankündigung! In Mt 13,15 und in anderem theologischen Zusammenhang in Apg 28,27 erscheint das gleiche prophetische Wort, hier aber im Gegensatz zu Mk 4,12 in der Gestalt der LXX, die durch den Indikativ im letzten Satz: »aber ich werde sie heilen« gekennzeichnet ist. 7 Das kann auch als eine Heilsankündigung gedeutet werden: Jenseits der Verurteilung ist die Heilung durch Jhwh gewiss! 8 Diese Bedeutung legt besonders der Vergleich mit Mk 4,12 nahe, wo sie nicht möglich ist. Denn im Gegensatz zu Mk ist bei Mt 13,15 und Lk 28,27 der letzte Satz im Futurum Indikativ »verselbständigt« 9 , da er sich von den vorhergehenden finalen Sätzen mit Verben im Konjunktiv abhebt. Aus diesem Grund kann er zwar als letztes Glied innerhalb des Finalgefüges gedeutet werden, wie die analogen Sätze z.B. in Gen 3,22; 19,19; 27,12 usw., aber er lässt sich ebenso gut als Gegensatz innerhalb der Rede Gottes verstehen, die mit dem Imperativ beginnt, Jes 6,9: »verstocke (jetzt)! «, aber mit dem Futurum Indikativ aufhört: »aber ich werde (dann) heilen« 10 , also von Unheil jetzt zum Heil in Zukunft fortschreitet. Gerade die Differenz mit dem Wortlaut bei Markus lädt dazu ein, den möglichen Bedeutungsunterschied nicht zu nivellieren, sondern zu beachten. 4. Doppelter alttestamentlicher Kanon im NT Das NT führt nach alledem Schriftbeweise mit alttestamentlichen Stellen, die entweder mit der Textgestalt des MT (Mk 4,12) oder allein mit jener der LXX (Apg 15,17; Hebr 8,7-13; Mt 13,13-15 u. Apg 28,25-28) »Es genügt ein Zitat entweder aus dem MT oder aus der LXX, um daraus auf kanonische Geltung der ganzen betreffenden Textfassung zu schließen.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 52 Adrian Schenker Das Neue Testament hat einen doppelten alttestamentlichen Kanon möglich sind. Daraus folgt, dass für die Verfasser des NT beide Textgestalten prophetischen Rang haben, d.h. Gottes Wort bewahren. Das ist die eigentliche Bedeutung des auf das AT angewandten Begriffs »kanonische Schrift« in neutestamentlicher Zeit. Es genügt ein Zitat entweder aus dem MT oder aus der LXX, um daraus auf kanonische Geltung der ganzen betreffenden Textfassung zu schließen. Ein Wort aus dieser Fassung, dem prophetische Qualität zukommt, verbürgt dieselbe Qualität für die gesamte Fassung. 5. Patristische Theologie des doppelten alttestamentlichen Kanons im NT Jene Kirchenväter, welche sich der zahlreichen Unterschiede zwischen der hebräischen Fassung der Bibel und der LXX bewusst waren, haben beide Formen des Textes bewahren wollen. Sogar Hieronymus hat die griechische Bibel nie verworfen, obgleich er die Mehrzahl der Unterschiede zwischen den beiden Bibeln als Fehler auf Seiten der griechischen Bibel erklärte (Fehler der Übersetzung und der Textüberlieferung). Doch wusste er, dass es einige Unterschiede gab, die im NT von Aposteln (z.B. Am 9,12) oder von Jesus (z.B. Jes 6,10 bei Mt und in Apg) als prophetische Schriftbeweise in der Textgestalt der griechischen Bibel angeführt werden. Dadurch war für ihn die Autorität der griechischen Bibel als kanonische Schrift erwiesen, die dergestalt das von den Propheten übermittelte Wort Gottes enthält. 11 Augustinus und Hieronymus waren sich darin einig, obgleich sie sich diese Doppelgestalt der alttestamentlichen Bibel nicht recht erklären konnten. 12 Sie rechneten ja nicht mit verschiedenen hebräischen Textfassungen für die alttestamentlichen Bücher. Die Anerkennung zweier kanonischer Textgestalten des AT und als Konsequenz davon die kanonische Geltung auch der altgriechischen Bibel unabhängig von den Legenden ihrer Entstehung wird nach alledem damals wie heute dem Befund im NT am besten gerecht. Es wäre reizvoll und wichtig, die Erklärungen dieses Sachverhalts bei den reformatorischen Theologen des 16. Jh.`s zu sammeln. Anmerkungen 1 E. Preuschen, Analecta. Kürzere Texte zur Geschichte der alten Kirche und des Kanons, II.Teil: Zur Kanonsgeschichte, Tübingen 2 1910; D. Barthélemy, L’état de la Bible juive depuis le début de notre ère jusqu’à la deuxième révolte contre Rome (131-135), in: Le canon de l’Ancien Testament. Sa formation et son histoire (Le monde de la Bible), Genève 1984, 9-45, bes.: 40-45; J.M. Auwers/ H.J. de Jonge (Hgg.), The Biblical Canons (BETL 163), Leuven 2003; u.a.m. 2 Am 9,11-12 in Apg 15,15-17: W. Kraus, Die Aufnahme von Am 9,11f. LXX in Apg 15,15f. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte eines Textes in hellenistischer Zeit, in: Juda und Jerusalem in der Seleukidenzeit. Herrschaft- Widerstand-Identität. FS Heinz-Josef Fabry (BBB 159), Göttingen 2009, 297-322. 3 Kraus, Die Aufnahme, 315-316, meint, der neutestamentliche Text der Apg 15,17 sei von der LXX-Textform des Codex A beeinflusst. Es ist eher das Umgekehrte zu vermuten, dass der Text der Apg die alttestamentliche Textform des Codex A beeinflusst hat, denn die Schreiber des AT in den großen griechischen Codices waren ja Christen, die das NT gut kannten, vgl. Röm 3,13-18 in Psalm 13(14), 3 LXX, Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung, hg. von W. Kraus und M. Karrer, Stuttgart 2009, 762. 4 Kraus, Die Aufnahme, 306, versteht das objektlose Verb »suchen« (ekzētein) als »nachforschen«. Nach Am 9,11 liegt es aber am nächsten, als Objekt die wieder aufgebaute Hütte Davids, ihre wiederhergestellten Ruinen und ihre reparierten Trümmer zu verstehen, welche die in V.12 genannte Menschheit aufsuchen wird. 5 S. Kreuzer, Von der Vielfalt zur Einheitlichkeit. Wie kam es zur Vorherrschaft des masoretischen Textes? , in: Horizonte biblischer Texte. FS Josef M. Oesch (OBO 196), Fribourg-Göttingen 2003, 117-129, hier: 125 (Anm. 33); W. Kraus, Die Aufnahme, 308-310, erwägt es zögernd. Die meisten Ausleger halten die griechische Lesart für das Ergebnis von zwei Schreibfehlern: ’adam statt ’edôm, yidrešû statt yîrešu. Die letzte Monographie zum Adrian Schenker, *17. Juli 1939; Dominikaner; Studien in Freiburg/ Schweiz, Rom und École biblique Jerusalem; 1967-2004 Dozent und Professor für Altes Testament an der Universität Freiburg/ Schweiz; Koordinator der Herausgeberkommission der Biblia Hebraica Quinta; Publikationen über Bibeltheologie, biblisches Recht, alttestamentliche Textgeschichte. Prof. Dr. Adrian Schenker ZNT 26 (13. Jg. 2010) 53 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 53 Kontroverse 54 ZNT 26 (13. Jg. 2010) griechischen Amos-Buch, W.E. Glenny, Finding Meaning in the Text. Translation Technique and Theology in the Septuagint of Amos (VT.S 126), Leiden-Boston 2009, 216-228, 239-240, sieht gar nicht, dass es sich um eine andere hebräische Vorlage handeln könnte, geschweige denn, dass er das prüfte. 6 A. Schenker, Das Neue am neuen Bund und das Alte am alten. Jer 31 in der hebräischen und griechischen Bibel (FRLANT 212), Göttingen 2006. Die meisten Kommentatoren des Hebräerbriefs gehen gar nicht auf die Bedeutungsunterschiede zwischen MT und LXX ein. Sie lesen diese im Lichte von jenem. 7 Abgesehen von den Handschriften V 36-46. V ist der Hauptzeuge der hexaplarischen Rezension und spiegelt daher die Angleichung des griechischen Textes an den protomasoretischen Text der ersten Jahrhunderte n. Chr. wider, s. J. Ziegler, Isaias. Septuaginta Vetus Testamentum Graecum, Göttingen 1967, z. St. Diese Angleichung mag an dieser Stelle durch die Parallele in Mk 4,12 bestärkt worden sein. 8 Diese Deutungsmöglichkeit steht zu Recht in der Anmerkung z. St. in Septuaginta Deutsch (s. Anm. 3), 1236. 9 F. Blass/ A. Debrunner, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen 15 1979, § 442,2d mit Anm. 8, S. 367.370. 10 Auch hier gehen, soweit ich sehe, die neutestamentlichen Ausleger einschließlich Blass-Debrunner einfach mit Nichtbeachtung über diese zweite Deutung hinweg. Das erklärt sich wohl aus dem Einfluss, den der masoretische Text in Jes 6,10 zusammen mit Mk 4,12 auf die Interpretation von Jes 6,10 LXX; Mt 13,15; Lk 28,27 ausübt. Aber da lautet der Text eben nicht gleich! 11 Prolog an Chromatius von Aquileia zum Buch der Paralipomena (1-2Chr), Prolog an Domnio und Rogatian zur Rezension des griechischen Buches Paralipomena, R. Weber/ R. Gryson, Biblia Sacra iuxta vulgatam versionem. Stuttgart 5 2007, 546-547 (zu den Paralipomena), V. Loch, Biblia Sacra vulgatae editionis juxta exemplaria [...] Romae 1592 & 1593, ed. 5a, t. 1, Regensburg 1888, XXVIII-XXIX. Bei Hieronymus muss man darauf achten, dass er für seine Übersetzung aus dem Hebräischen von Seiten jener Kreise angegriffen wurde, die vom kanonischen Rang der LXX überzeugt waren. Er musste deshalb im Unterschied zur modernen Zeit seit dem Humanismus nicht diesen Rang der LXX verteidigen, sondern ihm gegenüber Raum für die Berechtigung einer direkt aus dem Hebräischen angefertigten neuen Übertragung schaffen. Man muss dementsprechend überall die oft nur implizite Anerkennung der LXX als kanonische Schrift voraussetzen. Aber in den beiden genannten Prologen ist die explizite Anerkennung der LXX als Hl. Schrift ausgesprochen. In seinen Kommentaren des AT bietet Hieronymus jeweils seine lateinische Wiedergabe beider Texte, MT und LXX. 12 Augustinus, De civitate Dei, XVIII, 44. 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 54 Im Hinblick auf die Kanonisierung des Alten Testaments ist zwischen der Kanonisierung der einzelnen Schriftenkorpora (Tora/ Gesetz, Propheten, sonstige Schriften), der Einzelschriften als Teil dieser Schriftengruppen sowie der Kanonisierung einer bestimmten Textgestalt zu unterscheiden. Deutlich ist, dass das Problem, ob die neutestamentlichen Schriften die Ausrichtung des alttestamentlichen Kanons an der Septuaginta verlangen, vor allem den dritten der genannten Punkte betrifft, also die Textgestalt, und zwar sowohl hinsichtlich der Sprache dieser Textfassung (d.h. Griechisch versus Hebräisch) als auch hinsichtlich der Textsemantik, denn die Texte der Septuagintaüberlieferung unterscheiden sich ja von den hebräischen Textfassungen, also insbesondere vom Masoretischen Text, auch auf dieser Ebene in nicht unerheblichem Maße. Als Ausgangspunkt der Betrachtungen können die neutestamentlichen Referenzen auf das Alte Testament dienen. Sie verweisen selbstverständlich in griechischer Sprache auf das Alte Testament. Indes rechtfertigt diese erste Beobachtung der Textoberfläche keineswegs die Schlussfolgerung, das Neue Testament legitimiere das Alte Testament ausschließlich in seiner griechischen Fassung, wie die folgenden Argumente vor Augen führen mögen: 1.) Auch wenn die einzelnen alttestamentlichen Zitate im neutestamentlichen Schrifttum sich mindestens in einzelnen Handschriften der Septuagintaüberlieferung meist wortgetreu nachweisen lassen, ist uns aufgrund der Überlieferungsvielfalt der alttestamentlichen Texte die in einer bestimmten neutestamentlichen Schrift zitierte griechische Textfassung der betreffenden alttestamentlichen Schrift letztlich nicht bekannt. Dieser Einwand fällt ins Gewicht, weil die in einer bestimmten neutestamentlichen Schrift auf Griechisch zitierten und im Allgemeinen wenig umfänglichen Passagen aus dem alttestamentlichen Schrifttum ja aus ihren ursprünglichen Ko- und Kontexten herausgenommen sind, um im NT rekontextualisiert zu werden. Unsere Unkenntnis der genauen Textfassung verhindert daher, dass wir diese Ko- und Kontexte der zitierten Passagen wahrnehmen und berücksichtigen können. Das allerdings trifft nicht nur für uns heutige Leser zu, sondern hat auch die Situation der Leser während der neutestamentlichen Zeit bereits bestimmt. Nach allem, was wir derzeit über die alttestamentliche Textüberlieferung wissen, konnten jene nämlich keineswegs von einem eindeutigen und einheitlichen Wortlaut des alttestamentlichen Textes ausgehen, sondern sahen sich im Hinblick auf das alttestamentliche Schrifttum mit einer Vielzahl von verschiedenen Textfassungen konfrontiert, sowohl bezüglich der hebräischen als auch bezüglich der griechischen Textüberlieferung. Von daher verbietet sich auch die Annahme, die vorliegenden Zitate könnten einen bestimmten, in den Köpfen der zeitgenössischen Leser der neutestamentlichen Schriften präsenten alttestamentlichen Text aufrufen und intertextuell einbinden. 2.) Teilweise scheint diese Loslösung zitierter alttestamentlicher Passagen aus ihrem ursprünglichen Überlieferungskontext nicht erst mit deren Aufnahme durch die neutestamentlichen Autoren geschehen zu sein, sondern hat wohl bereits zu deren Voraussetzungen gehört. Dies dürfte etwa in Röm 3,10-18 der Fall sein, wo mutmaßlich ein Florilegium zitiert wird. 1 Eine solche Sammlung und Zusammenstellung alttestamentlicher Passagen ist nun allerdings selbst kein alttestamentlicher Text, sondern kreiert einen neuen, eigenständigen Text. Mit dem Zitat eines Florilegiums verschiedener alttestamentlicher Passagen wird mithin keineswegs ein bestimmter alttestamentlicher Text zitiert und aufgerufen. 3.) Bisweilen müssen wir wohl sogar davon ausgehen, dass der in der neutestamentlichen Textüberlieferung vorliegende Wortlaut eines vermeintlichen alttestamentlichen Zitates in der zitierten Fassung gar nicht aus dem griechischen Alten Testament stammt. Kontroverse Stefan Schorch Vom Vorrang des Hebräischen ZNT 26 (13. Jg. 2010) 55 »[Es] verbietet sich auch die Annahme, die vorliegenden Zitate könnten einen bestimmten, in den Köpfen der zeitgenössischen Leser der neutestamentlichen Schriften präsenten alttestamentlichen Text aufrufen und intertextuell einbinden.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 55 Kontroverse 56 ZNT 26 (13. Jg. 2010) Dabei sind verschiedene Varianten bezeugt, zwischen denen eine trennscharfe Abgrenzung allerdings nicht immer leicht fällt: - In einigen Fällen wurde der Wortlaut alttestamentlicher Zitate von den Verfassern der neutestamentlichen Schriften offenkundig verändert, um die betreffenden Zitate dem neuen Kontext zu adaptieren, wobei die Veränderungen den Intentionen des zitierenden Textes folgen. Ein beredtes Beispiel dafür findet sich etwa in Eph 4,7, wo der Text von Psalm 68,19 (LXX Ps 67) von der zweiten Person in die dritte umgesetzt wurde, um so einen Bezug auf Christus herstellen zu können, der dem neuen Kontext entspricht. - Dieses Verfahren einer freien Behandlung des zitierten Textes scheint bisweilen sogar bis zur Schaffung von Pseudozitaten ausgeweitet worden zu sein, jedenfalls finden sich im Neuen Testament mehrfach Schriftreferenzen, deren Vorlage völlig im Dunkeln bleibt, wie etwa in 1Kor 2,9, wo Paulus schreibt: »Sondern es ist gekommen, wie geschrieben steht: ›Was kein Auge gesehen hat, und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott bereitet hat denen, die ihn lieben.‹« Trotz der das Zitat einführenden ausdrücklichen Behauptung steht es jedenfalls so in keinem der alttestamentlichen Texte geschrieben, die wir kennen, und da wir einerseits für die Mitte des 1. Jh. n. Chr. im Allgemeinen mit einer bereits relativ hohen Überlieferungsstabilität der alttestamentlichen Texte zu rechnen haben, angesichts derer solch gravierende Abweichungen eine Ausnahme darstellen würden, und wir andererseits im neutestamentlichen Schrifttum wie auch in der zeitgenössischen jüdischen Literatur Zitiergewohnheiten beobachten können, die einen durchaus flexiblen Umgang mit Zitaten zeigen, legt sich die Vermutung nahe, dass Paulus die Zitatformel nur benutzt hat, um die Autorität eines bestimmten Wortlautes im Interesse seiner eigenen Argumentation zu fingieren. Kurz gesagt, das vermeintliche alttestamentliche Zitat in 1Kor 2,9 ist wahrscheinlich ein rein fiktives Zitat. 4.) Insgesamt kann mithin festgestellt werden, dass die Tatsache der Verwendung alttestamentlicher Zitate im Neuen Testament wie auch deren explizite Markierung als Zitate zwar durchaus als eine Autoritätszuschreibung an bestimmte alttestamentliche Schriften oder an das alttestamentliche Schrifttum überhaupt aufzufassen ist, nicht aber als eine Autoritätszuschreibung an einen bestimmten Wortlaut oder eine bestimmte Textfassung. Selbst in denjenigen Fällen, wo sich der zitierte Wortlaut in der alttestamentlichen Textüberlieferung verifizieren lässt, also tatsächlich im eigentlichen Sinne von einem »wörtlichen« Zitat gesprochen werden kann, ist die Bezugsgröße ein durch den verweisenden neutestamentlichen Text intendierter Sinn und nicht der alttestamentliche Kontext oder gar ein konkreter Wortlaut des alttestamentlichen Textes. Damit entfällt auch die Möglichkeit, vom neutestamentlichen Schrifttum her etwa eine bestimmte Textfassung in griechischer Sprache in einen (prä-)kanonischen Status gerückt zu sehen. 5.) Diesem letzteren Schluss entspricht auch, dass das Griechische an keiner Stelle des Neuen Testaments als »Heilige Sprache« in Anspruch genommen wird. Das Konzept von »Heiliger Sprache« war zwar im palästinischen Judentum der Zeitenwende durchaus bekannt und verbreitet, wurde aber eben spezifisch auf das Hebräische (sowie darüber hinaus z.T. auch auf das Aramäische) bezogen. 2 So wird es etwa durch Jub 12 vorausgesetzt, wo die hebräische Sprache als die Sprache der Schöpfung erscheint, welche, nach einer Phase der Vergessenheit in der Folge der babylonischen Sprachverwirrung, von einem Engel an Abraham vermittelt worden sei, und auch durch den Prolog des Buches Ben Sira. Terminologisch fassbar ist der Ausdruck l e šōn ha-qōdæš erstmals in dem hebräischen Qumranfragment 4Q464, das aus dem 1. Jh. v. Chr. stammt. 3 6.) Das aus der Perspektive des Judentums der Spätzeit des Zweiten Tempels deutliche Statusgefälle vom Hebräischen zum Griechischen hat eine klare Entsprechung in dem gegenüber den hebräischen Originalen minderen Status, der den griechischen Textfassungen der alttestamentlichen Texte im Allgemeinen zugeschrieben wurde, wie dies sowohl in der Aristeasbrieffassung als auch in der Josephusfassung der Septuagintalegende zum Ausdruck kommt. Die von Philo im Hinblick auf die Septuaginta vertretene Inspirationstheorie dürfte demgegenüber kaum repräsentativ gewesen sein. Eine prononcierte und offenkundig auch sprachphilosophisch fundierte Statusminderung der griechischen Übersetzungen im Gegenüber zu ihren hebräischen Vorlagen findet sich im Prolog des griechischen Übersetzers des Ben Sira-Buches. Dieser er- »Bisweilen müssen wir wohl sogar davon ausgehen, dass der in der neutestamentlichen Textüberlieferung vorliegende Wortlaut eines vermeintlichen alttestamentlichen Zitates in der zitierten Fassung gar nicht aus dem griechischen Alten Testament stammt.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 56 Stefan Schorch Vom Vorrang des Hebräischen kennt zwar die Notwendigkeit solcher Übersetzungen zum Zwecke des Wissenstransfers vom hebräischsprachigen ins griechischsprachige Judentum und dessen Unterweisung an, verdeutlicht aber, dass die übersetzten Texte keineswegs die gleiche inhaltliche und ästhetische Wirkung auf den Leser auszuüben vermöchten wie die hebräischen Originale: »Denn nicht hat etwas die gleiche Bedeutung, was ursprünglich auf Hebräisch gesagt wurde und danach übersetzt wird in eine andere Sprache.« (Prolog Ben Sira 21f.) 4 Im Hinblick auf das Neue Testament und seine Umwelt ist folglich zusammenfassend festzustellen, dass die neutestamentlichen Schriften zwar das alttestamentliche Schrifttum als »Heilige Schrift« voraussetzen, dabei aber keineswegs eine spezifische Textfassung autorisieren oder aber auch einen Rezeptionsprozess in Gang setzen, der sich auf eine bestimmte Sprache, in diesem Fall auf das Griechische, richtet. Die Frage, welche Textfassung des Alten Testaments für das Christentum kanonisch sei, und ob dafür die griechische Übersetzung in Frage komme, muss daher ausschließlich auf der Grundlage der alttestamentlichen Überlieferung selbst beantwortet werden. In Bezug auf die griechische Überlieferung erscheinen dabei die folgenden Beobachtungen von besonderer Bedeutung: 1.) Der Wortlaut des griechischen Alten Testaments ist wenigstens teilweise von zufälligen Einflüssen auf den Übersetzungsprozess und Missverständnissen der hebräischen Vorlage durch deren Übersetzer geprägt. Ein deutlicher Beleg dafür findet sich beispielsweise in Gen 15,10f., wo es im Zusammenhang mit Abrahams Opfer zum Bundesschluss im griechischen Text folgendermaßen heißt: »Er nahm aber für ihn alle diese [sc. Opfertiere] und teilte sie in der Mitte durch und legte sie einander gegenüber, die Vögel aber zerteilte er nicht. Vögel aber kamen auf die Körper herab, auf ihre Hälften, und Abram setzte sich neben sie [kai sunekathisen autois Abram].« (LXX Gen 15,10f ) 5 Der vorliegende Wortlaut, nach dem Abraham sich gemeinsam mit den Vögeln bei den geschlachteten Opfertieren niedersetzte, ist weder im unmittelbaren Kontext noch auch im weiteren Kontext sinnvoll und nachvollziehbar. Verständlich wird die griechische Textfassung nur im Zusammenhang mit ihrer hebräischen Übersetzungsvorlage, die sich aus dem Masoretischen und dem Samaritanischen Text rekonstruieren lässt. Der Masoretische Text liest in Vers 11 nämlich folgendermaßen: »Raubvögel aber kamen auf die Tierleiber herab, und Abram verscheuchte sie [wajjaššeb ’otam ’abram].« (MT Gen 15,11) Der Vergleich zwischen dem griechischen und dem hebräischen Text macht deutlich, dass die Differenz zwischen beiden aus der abweichenden Vokalisierung des im Masoretischen Text wie der rekonstruierten hebräischen Vorlage der Septuaginta identischen Konsonantengerüsts wyšb ’tm entsprungen ist: Während nämlich der Masoretische Text (ebenso wie auch die Samaritanische Toralesung) an dieser Stelle WaYYaŠŠēB ’ōTāM überliefert, das Verb mithin als Hif‘il der Wurzel nšb und das folgende Wort als suffigierte nota accusativi auffasst, liegt der griechischen Übersetzung offenkundig die Vokalisierung *WaYYēŠēB ’iTTāM zugrunde, also eine Ableitung von dem Verb yšb mit folgender suffigierter Präposition. Die Ursache für diese Misslesung des hebräischen Konsonantengerüsts liegt höchstwahrscheinlich darin, dass der Übersetzer das seltene hebräische Verb nšb »verscheuchen« schlicht nicht kannte. 6 Stefan Schorch, geb. 1966, ist Professor für Bibelwissenschaften an der Martin-Luther-Universität Halle- Wittenberg. Er studierte in Leipzig, Berlin und Jerusalem. 1998 wurde er in Leipzig promoviert, 2003 folgte die Habilitation im AT an der kirchlichen Hochschule Bethel. Stationen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit sind Berlin, Bethel, London und Halle. Seit 2008 ist Stefan Schorch Mitglied des Steering committee der Arbeitsgruppe »Orality, Textuality and the Formation of the Hebrew Bible« beim Annual Meeting der Society of Biblical Literature und seit 2009 Leiter des deutschen Herausgeberkreises von »Henoch«. Prof. Dr. Stefan Schorch ZNT 26 (13. Jg. 2010) 57 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 57 Kontroverse 58 ZNT 26 (13. Jg. 2010) Solche Missverständnisse der hebräischen Vorlage, die auf mangelnden hebräischen Sprachkenntnissen der griechischen Übersetzer beruhen, sind keineswegs selten, sondern haben die griechischen Textfassungen der biblischen Bücher in beträchtlichem Maße beeinflusst. Nicht wenige Texte der griechischen Bibel sind daher aus sich selbst heraus betrachtet durchaus unsinnig, insofern sie nicht als Träger einer kohärenten Botschaft betrachtet werden können, durch welche Sender und Adressat in einer Verbindung stehen. 7 2.) Die im vorangehenden Punkt behandelte Beobachtung, dass der Text der griechischen Fassung(en) des Alten Testaments oft nur im Zusammenhang mit seiner hebräischen Vorlage als Träger einer sinnvollen Botschaft zu verstehen ist, bedeutet letztlich zugleich, dass der griechische Text nicht losgelöst von der hebräischen Textüberlieferung betrachtet werden kann. Zu fragen ist nun allerdings weiterhin, ob diese Schlussfolgerung lediglich für das Verständnis des griechischen Textes aus historisch-kritischer Perspektive relevant ist, oder aber bereits das Selbstverständnis der Übersetzer und deren Werk prägte. In anderen Worten: Wollten die griechischen Übersetzer die hebräische Textfassung vollgültig ersetzen oder aber eine griechische Textfassung produzieren, die von vornherein und ausschließlich als Verständnishilfe des hebräischen Originals gedacht war und niemals von diesem losgelöst und unabhängig gelesen werden sollte? - Jedenfalls hinsichtlich der aramäischen Targumim wird man weitestgehend von dem letzteren Modell auszugehen haben. 8 Aber auch bezüglich der griechischen Übersetzung des Alten Testaments scheint es deutliche Hinweise zu geben, dass diese mindestens ihrer ursprünglichen Konzeption nach auf einer fortbestehenden Verbindung mit der hebräischen Übersetzungsvorlage beruht, also stets im Zusammenhang mit letzterer gelesen wurde. Diesen Schluss legen insbesondere die Transliterationen hebräischer Wörter nahe, wie sie sich etwa in Gen 22,13 (sabek für hebr. sbk »Gestrüpp«) und 1Sam 5,4 (amapheth für hebr. mptn »Schwelle«) finden. 9 Die Tatsache, dass diese transliterierten hebräischen Wörter im griechischen Text zwar unübersetzt bleiben, aber doch nicht einfach weggelassen, sondern vielmehr durch Platzhalter repräsentiert werden, lässt sich kaum anders denn als Indiz dafür deuten, dass die griechische Textfassung nur als Zusatz und Verständnishilfe zur hebräischen konzipiert wurde, nicht aber als eigenständiger und unabhängiger Text. Der Versuch, die griechische Textfassung des Alten Testaments losgelöst von ihrer hebräischen Vorlage zu lesen und zu verstehen, erscheint daher nicht nur aus historisch-kritischer Perspektive problematisch, sondern dürfte auch den impliziten Verständnisvorgaben des griechischen Textes kaum gerecht werden. Zusammenfassend ergibt sich mithin, dass weder das neutestamentliche Schrifttum einerseits noch auch die griechische Überlieferung des Alten Testaments andererseits es als gerechtfertigt erscheinen lassen, den christlichen Kanon des Alten Testaments an der LXX auszurichten. Vielmehr ist die hebräische Überlieferung des alttestamentlichen Textes sowohl aus historisch-kritischer Perspektive als auch in den zeitgenössischen Horizonten des Neuen Testaments die autoritative Textbasis, die durch die griechischen Übersetzungen nicht abgelöst oder ersetzt, sondern lediglich im Hinblick auf die konkreten und kontingenten Bedürfnisse des hellenistischen Judentums ergänzt werden sollte. Anmerkungen 1 M. Rose, »Wie denn geschrieben steht: Da ist nicht, der rechtfertig sei, auch nicht einer« (Römer 3,10). Ein Alttestamentler sieht Paulus auf die Finger, Wort und Dienst 28 (2005), 345-359. 2 Siehe hierzu M. Rubin, The Language of Creation or the Primordial Language. A Case of Cultural Polemics in Antiquity, JJS 48 (1998), 306-333. 3 Siehe hierzu E. Eshel/ M. Stone, The Holy Language at the End of the Days in Light of a New Fragment Found at Qumran (Hebräisch). Tarbitz 62 (1992/ 93), 169-177, Tal, Abraham: »Leschon ha-qodesch« und »laschon ivri« zwischen Juda und Samaria (hebr.), in: M. Bar-Asher (Hg.), Mehkarim be-laschon 11/ 12: Festschrift Avi Hurvitz, Jerusalem: Hebräische Universität, 2008, 121-132, sowie S. Schorch, The Pre-eminence of the Hebrew Language and the Emerging Concept of the »Ideal Text« in Late Second Temple Judaism, in: G.G. Xeravits/ J. Zsengellér (Hgg.), The Book of Ben Sira. Papers of the Third International Conference on the Deuterocanonical Books, Pápa, Hungary, 2006, Leiden 2008 (JSJ.Suppl. 127), 43-54. 4 Für eine detaillierte Auseinandersetzung mit der Übersetzungstheorie des Ben Sira-Übersetzers siehe S. Schorch, Sakralität und Öffentlichkeit. Bibelübersetzungen als Pa- »Nicht wenige Texte der griechischen Bibel sind daher aus sich selbst heraus betrachtet durchaus unsinnig, insofern sie nicht als Träger einer kohärenten Botschaft betrachtet werden können, durch welche Sender und Adressat in einer Verbindung stehen.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 58 Stefan Schorch Vom Vorrang des Hebräischen ZNT 26 (13. Jg. 2010) 59 radigmen jüdischen Übersetzens, in: E. Lezzi/ D. Salzer (Hgg.), Dialog der Disziplinen. Jüdische Studien und Literaturwissenschaft. Berlin 2009 (minima judaica 6); 51-76, bes.: 59f. 5 Die Übersetzung folgt P. Prestel/ S. Schorch, Die Genesis-Septuaginta. Übersetzung, in: M. Karrer/ W. Kraus (Hgg.), Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung, Stuttgart 2009. 6 Siehe hierzu J. Barr, ›Guessing‹ in the Septuagint, in: D. Fraenkel et al. (Hgg.), Studien zur Septuaginta - Robert Hanhart zu Ehren. Göttingen 1990 (Mitteilungen des Septuaginta-Unternehmens 20), 19-34, hier: 23, sowie S. Schorch, The Septuagint and the Vocalization of the Hebrew Text of the Torah, in: M.K.H. Peters (Hg.), XII Congress of the International Organisation for Septuagint and Cognate Studies, Leiden 2004. Leiden/ Boston 2006 (Septuagint and Cognate Studies 54), 41-54, hier: 43f. 7 Die hier zu Grunde liegende Definition des Begriffes »Text« folgt K. Ehlich, Textualität und Schriftlichkeit, in: L. Morenz/ S. Schorch (Hgg.), Was ist ein Text? Alttestamentliche, ägyptologische und altorientalistische Perspektiven. Berlin 2007 (BZAW 362), 3-17. 8 Siehe A. Tal, Is there a raison d’être for an Aramaic Targum in a Hebrew-speaking society? , RÉJ 160 (2001), 357-378. 9 Für weitere Beispiele und deren Einzelanalyse siehe E. Tov, Loan-words, Homophony and Transliterations in the Septuagint, in: Ders., The Greek and Hebrew Bible. Collected Essays on the Septuagint. Leiden u.a. 1999 (VT.S 72), 165-182, hier: 179. 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 59 1. Kritische Anmerkungen zur Diskussion um die »Bibel in gerechter Sprache« 1 Wie keine andere Übersetzung der letzten Jahrzehnte hat die »Bibel in gerechter Sprache« einen Streit über die Übersetzungspraxis hervorgerufen, der nicht nur unter philologisch geschulten Fachleuten geführt wurde, sondern eine breite gebildete Öffentlichkeit zum Teil heftig erregte. Die Irritationen, die so manche Entscheidung der Übersetzer hervorbrachte, wurden nicht nur auf philologischer Ebene diskutiert. Auch die theoretische Komplexität des Übersetzungsprozesses stand nur zu selten im Mittelpunkt der Kontroversen. Vielmehr wurde zu häufig mit komplexitätsreduzierender Beschwörung der notwendigen »Treue« des Übersetzers zu seinem Übersetzungsgegenstand die Überschreitung der verantwortbaren »Freiheit« durch das Übersetzungsprojekt der »Bibel in gerechter Sprache« angeprangert. Und zu häufig wurde auf Seiten der Akteure und Sympathisanten der »Bibel in gerechter Sprache« mit einer allzu undifferenzierten Inanspruchnahme der »Freiheit« die eingeforderte philologische »Treue« als Kennzeichen konservativen Denkens diffamiert. Die erstaunliche Intensität so mancher Polemik der Kritiker mag auch als Reaktion auf den mit dem Titel der umstrittenen Übersetzung erzeugten moralischen Vorwurf zu erklären sein, die bisherigen Übersetzungen seien in »ungerechter« Sprache gehalten. Vermutlich brach hier auch ein jahrzehntelang eingeübtes Schubladendenken hervor, das schon fast klischeehaft zwischen manchen Vertreterinnen und Vertretern befreiungstheologischer Ansätze 2 und ihren Kritikern immer wieder mal aktiviert wird. Die 2006 erschienene »Bibel in gerechter Sprache« ist nämlich eine der Befreiungstheologie und der feministischen Theologie verpflichtete Übersetzung von verschiedenen Übersetzerinnen und Übersetzern mit sehr unterschiedlichen philologischen, ästhetischen, ideologiekritischen und theologischen Kompetenzen. Protagonisten befreiungstheologischer Ansätze inszenieren sich gern als fortschrittliche Kämpfer für eine gerechtere Welt, um sich von ihren anders denkenden Kollegen abzugrenzen, die nicht einmal inklusive Sprachformen zu benutzen bereit sind und sich schon damit als Vertreter der bestehenden Machtverhältnisse und damit als nutznießende Komplizen des Kapitalismus in einer von Männern beherrschten Welt zeigten. Ihre Kritiker hingegen lieben es, sich als philologischen Fels in der Brandung ideologischer Stürme zu sehen, als neutrale, objektiv urteilende »Anwälte des Textes«, die allein ihn vor politischem Missbrauch von wem und was auch immer zu schützen in der Lage seien. Wie man auch zu der umstrittenen Übersetzung stehen mag, so dürfte auf beiden Seiten neben der Theorievergessenheit eine erstaunliche Überschätzung der Bedeutung der »Bibel in gerechter Sprache« die Hauptursache für die allzu heftigen polemischen Attacken vorliegen. Die »Bibel in gerechter Sprache« ist aber weder die »Lutherbibel des 21.-25. Jahrhunderts« noch ein Anzeichen für den »Untergang des Abendlandes«. Nicht die sachlichen Auseinandersetzungen über bestimmte philologische Entscheidungen und auch nicht die notwendigen Grundsatzdiskussionen über das neue Konzept der »Bibel in gerechter Sprache«, das mit einigen Konventionen der Übersetzungsliteratur bricht, 3 sondern der Mangel an theoretischer Differenziertheit der Mehrheit der Diskussionsbeiträge auf beiden Seiten verlangt nach einer Theoriedebatte über die Komplexität der Übersetzungsproblematik überhaupt. Dass es dabei immer auch um ethische Fragen geht, wird nicht nur aus den Schlagwörtern der Debatte ersichtlich wie »Treue«, »Freiheit«, »Gerechtigkeit«. Vielmehr geht es bei der Übersetzungsproblematik immer auch um den Umgang mit dem Gegebenen, dem Fremden, dem Anderen. In einem 1997 - also deutlich vor den um die »Bibel in gerechter Sprache« geführten Debatten - erschienenen Aufsatz schreibt der Germanist Alfred Hirsch: »Wie kaum eine andere text- und reproduktionstheoretische Hermeneutik und Vermittlung Stefan Alkier Über Treue und Freiheit - oder: Vom Desiderat einer Ethik der Übersetzung in den Bibelwissenschaften 60 ZNT 26 (13. Jg. 2010) »Wie kaum eine andere text- und reproduktionstheoretische Tradition haben sich die Rebexionen zur eorie der Übersetzung einer Moralisierung ihres Diskurses unterzogen, die in mehr als einer Hinsicht erstaunlich ist.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 60 Stefan Alkier Über Treue und Freiheit - oder: Vom Desiderat einer Ethik der Übersetzung in den Bibelwissenschaften Tradition haben sich die Reflexionen zur Theorie der Übersetzung einer Moralisierung ihres Diskurses unterzogen, die in mehr als einer Hinsicht erstaunlich ist. Immer wieder münden die übersetzungstheoretischen Überlegungen in den unterschiedlichsten Epochen und bei den unterschiedlichsten Autoren in einen Gestus präskriptiven Vorgehens und textpraktischer Handlungsanweisungen. Die Frage nach dem rechten Handeln scheint am Anfang aller Überlegungen zur Problematik der Übersetzung zu stehen, und es ist nur allzu offensichtlich, dass diese hochgewichtige ethische Fundierung in umgekehrtem Verhältnis zur Differenziertheit und Komplexität des gesamten übersetzungstheoretischen Diskurses steht. Selten hat man sich zumindest bei der Explikation übersetzungstheoretischer Überlegungen um eine Kontextualisierung derselben mit differenzierten text- und sprachtheoretischen Konzeptionen bemüht. Hingegen gibt es kaum einen Text, der nicht jene übermächtigen Embleme des Übersetzungsdenkens unterstreicht und einfordert: Treue und Freiheit.« 4 2. Bekenntnisse - oder: Von den Nöten der Übersetzer Liest man die in übersetzungstheoretischen Debatten stereotyp herangezogenen Texte, so ist es erstaunlich, wie sehr sich die Einschätzung Hirschs dadurch bestätigt. Tatsächlich handelt es sich zumeist weniger um sachliche Reflexionen der Probleme einer differenzierten Übersetzungstheorie, als vielmehr um Bekenntnisse von Übersetzern, die ihre übersetzungspraktischen Erfahrungen verarbeiten und ihren Kritikern vor allem die Zwickmühlen vor Augen malen, die die Übersetzungsarbeit mit sich bringt. Hieronymus (um 347 ca. 420), der bedeutendste Übersetzer der Alten Kirche, der im Auftrag des Papstes Damasus I. (um 305 - 384) die Vulgata, die lateinische Bibel, schuf, klagt: »[…] wenn ich wörtlich übersetze, klingt es sinnlos, wenn ich aber aus Not etwas in der Wortfolge, im Stil ändere, wird es so aussehen, als hätte ich meine Pflicht als Übersetzer verletzt.« 5 Er bekennt: »Ich gebe es nicht nur zu, sondern bekenne es frei heraus, dass ich bei der Übersetzung […] nicht ein Wort durch das andere, sondern einen Sinn durch den anderen ausdrücke; und ich habe in dieser Sache als Meister den Tullius [Cicero]« 6 . Hieronymus zitiert Cicero als Autorität für seine eigene Übersetzungspraxis: »[…] ich habe sie [die griechischen Redner] aber nicht als Dolmetsch übertragen, sondern als Redner, mit denselben Gedanken samt ihren Redeformen und Wendungen, wobei die Wörter unserer Gewohnheit angepasst wurden. Hierin habe ich es nicht für notwendig erachtet, ein Wort durch das andere wiederzugeben, sondern ich habe die Ausdrucksweise im ganzen und die Bedeutung aller Wörter beibehalten: denn ich meinte, man solle dies dem Leser nicht vorzählen, sondern gleichsam vorwägen.« 7 Hieronymus gibt deshalb zu bedenken: »Wenn es jemanden so scheinen will, als werde der Reiz einer Sprache durch die Übersetzung nicht verändert, so möge er den Homer wörtlich lateinisch wiedergeben, ja noch mehr, er möge ihn in seiner eigenen Sprache in Prosa übersetzen; er wird sehen, dass sich eine lächerliche Wortfolge ergibt, und dass aus dem sprachgewaltigsten Dichter ein Stammler wird.« 8 Hieronymus beansprucht, er habe »nicht Wörter, sondern Sinngehalte übertragen.« 9 Seine Kritiker sollen einsehen, »dass man nicht die Worte in den Texten beachten soll, sondern den Sinn.« 10 Hieronymus wird immer wieder als Kronzeuge bemüht für die Notwendigkeit einer Übersetzung des Sinns, die die Freiheit des Übersetzers notwendig macht, um das Gemeinte des übersetzten Werkes in der Zielsprache zum Ausdruck zu bringen. Dabei wird Dr. Stefan Alkier ist seit 2001 Professor für Neues Testament am Fachbereich Evangelische eologie der Goethe-Universität Frankfurt/ Main. 2009 erschien im Francke-Verlag als NET 12 seine Monographie »Die Realität der Auferweckung in, mit und nach den Schriften des Neuen Testaments«. Zur Frankfurter Buchmesse in diesem Jahr erscheint wieder im Francke Verlag sein Lehrbuch »Neues Testament«, UTB Basics. Er ist seit Heft 1 der ZNT einer ihrer drei geschäftsführenden Herausgeber. Seit 2008 gibt er zudem den neutestamentlichen Teil des bibelwissenschaftlichen Internetlexikons www.wibilex.de heraus. Prof. Dr. Stefan Alkier ZNT 26 (13. Jg. 2010) 61 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 61 Hermeneutik und Vermittlung 62 ZNT 26 (13. Jg. 2010) aber übersehen, wie sehr auch Hieronymus damit ringt, nur auf diese Weise seine Aufgabe als Übersetzer erfüllen zu können, weiß er doch um die Differenzen, die dadurch zwischen dem Übersetzten und der Übersetzung entstehen. Sein Eintreten für die Freiheit ist notgedrungen der unhintergehbaren Differenz der Sprachen geschuldet. Die vom Wortlaut und der Syntax des Übersetzten abweichende Sinn-für-Sinn- Übersetzung ist für Hieronymus eher die Wahl des weniger Schlechten als die Lösung des Problems. Die Sinn-für-Sinn-Übersetzung ist Hieronymus zufolge näher am Übersetzten als eine Wort-für-Wort-Übersetzung. Beide aber leiden unter der unhintergehbaren Differenz zwischen Übersetztem und Übersetzung. Hieronymus jedenfalls darf nicht als Kronzeuge für ein unbeschwertes Plädoyer für eine »Freiheit« der Übersetzung herangezogen werden, die nicht mehr zwischen Übersetzung, Auslegung und interpretierendem Kommentar unterscheidet. Es handelt sich nämlich bei ihm wie auch bei anderen bedeutenden Übersetzern um Berichte, denen man die Anstrengung ihres Schaffens anmerkt. Stolz über das Erreichte mischt sich mit dem Gefühl des Scheiterns, der Unzulänglichkeit angesichts der Begegnung mit dem Fremden und dem Versuch, es anders aber doch auch genauso zu sagen. Deswegen ist auch Martin Luther kein Zeuge für die unbeschwerte Freiheit der Übersetzer. In seinem Sendbrief vom Dolmetschen und Fürbitte der Heiligen (1530) verteidigt Luther seine Übersetzung von Röm 3,28: »Ebenso habe ich hier, Römer 3 sehr wohl gewußt, daß im lateinischen und griechischen Text das Wort ›solum‹ nicht stehet, und hätten mich solches die Papisten nicht brauchen lehren. Wahr ist’s: Diese vier Buchstaben ›s-o-l-a‹ stehen nicht drinnen, welche Buchstaben die Eselsköpfe ansehen, wie die Kühe ein neu Tor. Sehen aber nicht, daß es gleichwohl dem Sinn des Textes entspricht, und wenn man’s will klar und eindringlich verdeutschen, so gehöret es hinein, denn ich habe deutsch, nicht lateinisch noch griechisch reden wollen, als ich deutsch zu reden beim Dolmetschen mir vorgenommen hatte. […] Denn man muß nicht die Buchstaben in der lateinischen Sprache fragen, wie man soll deutsch reden, wie diese Esel tun, sondern man muß die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen, und denselbigen auf das Maul sehen, wie sie reden, und darnach dolmetschen; da verstehen sie es denn und merken, dass man deutsch mit ihnen redet.« 11 Luther argumentiert hier ähnlich wie Hieronymus. Zugleich aber plädiert er für die weitest mögliche Bindung an den Wortlaut und die Syntax des zu übersetzenden Textes: »Doch hab ich wiederum nicht allzu frei die Buchstaben lassen fahren, sondern mit großer Sorgfalt samt meinen Gehilfen darauf gesehen, so daß, wo es etwa drauf ankam, da hab ich’s nach den Buchstaben behalten und bin nicht so frei davon abgewichen [… ] Aber ich habe eher wollen der deutschen Sprache Abbruch tun, denn von dem Wort weichen. Ach, es ist Dolmetschen keineswegs eines jeglichen Kunst, wie die tollen Heiligen meinen; es gehöret dazu ein recht, fromm, treu, fleißig, furchtsam, christlich, gelehret, erfahren, geübet Herz.« 12 Gerade die bedeutenden Übersetzer wie Hieronymus, Martin Luther, August Wilhelm Schlegel, Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Walter Benjamin erscheinen wie große Entdecker fremder Welten, deren Erkundungsreise aber auch mit größten Anstrengungen und permanentem Scheitern verbunden war. Es ist das »Ach« Luthers, das größere Aufmerksamkeit für die Theorie und Ethik der Übersetzung verlangt: Die Begegnung mit dem Fremden hat Spuren hinterlassen, Wunden geschlagen, zu erfahrungsgesättigter Bescheidenheit geführt. Man ist froh, der unlösbaren Aufgabe ein vorzeigbares Ergebnis abgerungen zu haben, das all die Mühe lohnt. Man weiß aber auch um die Schwächen des Erreichten. Einen der komplexesten Texte zur Übersetzungstheorie hat Friedrich Schleiermacher verfasst. Er unterscheidet nicht nur verschiedene Arten des Übersetzens, sondern verbindet seine Fremdheitserfahrungen als Übersetzer mit denen des Hermeneuten, der nicht erst in der Begegnung mit dem anderen zur Übersetzung gezwungen ist, sondern vielmehr sich selbst immer auch als Fremden wahrnimmt: In seiner Abhandlung Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens gibt er zu bedenken: »Ja unsere eigene Reden müssen wir bisweilen nach einiger Zeit übersezen, wenn wir sie uns recht wieder aneignen wollen.« 13 Georg Steiner vertritt in seiner Monographie Nach Babel ebenfalls diese »These, dass das Übersetzen formal ebenso wie praktisch Teil eines jeglichen Kommunikationsaktes ist, beim Senden wie beim Empfangen jeder Form von ›Bedeutung‹, sei es im umfassenderen semiotischen Sinne »Es ist das ›Ach‹ Luthers, das größere Aufmerksamkeit für die eorie und Ethik der Übersetzung verlangt: Die Begegnung mit dem Fremden hat Spuren hinterlassen, Wunden geschlagen, zu erfahrungsgesättigter Bescheidenheit geführt.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 62 Stefan Alkier Über Treue und Freiheit - oder: Vom Desiderat einer Ethik der Übersetzung in den Bibelwissenschaften ZNT 26 (13. Jg. 2010) 63 oder im engeren des sprachlichen Austauschs. Verstehen bedeutet dechiffrieren. Bedeutung zu hören, heißt übersetzen. Folglich sind die wesentlichen strukturellen wie praktischen Mittel und Probleme des Übersetzens Teil eines jeden Sprech- und Schreibaktes und einer jeden bildlichen Codierung, in welcher Sprache auch immer. Das Übersetzen von einer Sprache in die andere ist nur die bestimmte Form der Anwendung einer Konfiguration, eines Modells, das selbst das menschliche Sprechen in nur einer Sprache bestimmt.« 14 Schärfer als Steiner begreift Schleiermacher, das Übersetzen wie Verstehen kein bloßes Dechiffrieren von Zeichen ist, sondern einer kreativen Neugestaltung bedarf und deshalb eine »Kunst« ist, die wie jede andere Kunst durch technisches Können bestimmt ist, darin aber nicht aufgeht. Schleiermachers hermeneutischer Begriff der »Divination« als notwendiger kontingenter und kreativer Sprung von den methodisch erarbeiteten Möglichkeiten des Verstehens bzw. Übersetzens hin zu einer Entscheidung, die den Fluss der Möglichkeiten zum Stillstand bringt durch die Setzung der Interpretation bzw. der Übersetzung, weiß gleichermaßen um die kreative Freiheit und die damit gegebene Unzulänglichkeit jeder Übersetzung. 15 Fast wie ein Hilfeschrei schreibt Schleiermacher: »Wie oft, wenn er [der Übersetzer] auch neues durch neues wiedergeben kann, wird doch das der Zusammensezung und Abstammung nach ähnlichste Wort nicht den Sinn am treusten wiedergeben, und er also doch andere Anklänge aufregen müssen, wenn er den unmittelbaren Zusammenhang nicht verlezen will! […] wie will der Uebersezer sich hier glükklich durchfinden, da das System der Begriffe und ihrer Zeichen in seiner Sprache ein ganz anderes ist, als in der Ursprache, und die Wortstämme, anstatt sich gleichlaufend zu dekken, vielmehr einander in den wunderlichsten Richtungen durchschneiden. […] Aber wie oft, ja es ist schon fast ein Wunder, wenn man nicht sagen muß immer, werden nicht die rhythmische und melodische Treue und die dialektische und grammatische in unversöhnlichem Streit gegen einander liegen! « 16 Der Übersetzer steht in der ständigen Gefahr, das von ihm Übersetzte durch seine Wahl der Setzung zu verletzen. Die differente Komplexität der verschiedenen Sprachsysteme überfordert jeden Übersetzer. Er kann die Differenz der Sprachen nicht überwinden. Er muss die unhintergehbare Gewalt der Übersetzung schon als Leser in Kauf nehmen, und mehr noch, wenn er seinen Sprachgenossen, die das unübersetzte Werk nicht lesen können, die Begegnung mit diesem Werk ermöglichen möchte. Schleiermacher sah wie viele andere gerade in der Übersetzung großer Werke die Möglichkeit der Begegnung mit dem Fremden, die die eigene Sprache und damit die eigene Kultur erweitern könne. Den auf die Übersetzung angewiesenen Lesern wird damit eine zwar abgeschwächte aber dennoch sie weiterbildende Fremdheitserfahrung ermöglicht. Übersetzen war für Schleiermacher nicht zuletzt eine volkserzieherische, bildungspolitische Aufgabe. Wer nicht übersetzt, weil ihn die Differenz zwischen Übersetztem und Übersetzten um der Reinheit des Ursprünglichen willen davon abhält, verstellt denjenigen die Begegnung mit dem Anderen, die nicht selbst über die erforderliche Sprachkompetenz verfügen. Folgt man Schleiermachers Einsichten insgesamt, so beruht die elitäre Position der Übersetzungsverweigerung letztlich auf einer krassen Selbsttäuschung, denn auch der sprachkompetente Leser übersetzt in jedem Akt des Lesens. Wollte man die sich in den Texten der großen Übersetzer bekundete Fremdheitserfahrung im Akt des Übersetzens bildlich zum Ausdruck bringen, so könnte man formulieren: Die verlustfreie Übersetzung des Fremden ist unmöglich, weil die doppelte Überfahrt beide verändert: Der Übersetzende wird durch sein Übersetzen in ein anderes Land ein anderer. Ebenso bleibt das Werk aus dem anderen Land durch seine Überfahrt, durch seine Transposition in eine andere Welt, in eine andere Enzyklopädie, nicht einfach das, was es war. Die Übersetzung ist ein Prozess, der verändert. Das Ergebnis der Übersetzung ist eine »Allegorie des Lesens« (Paul de Man), oder - um es mit einem Buchtitel von Umberto Eco zu sagen -: »Quasi dasselbe mit anderen Worten«. 17 Das Anderssagen der Übersetzung ist eine kreative neue Setzung, die unhintergehbar von Identität und Differenz des Übersetzten geprägt wurde. Die Übersetzung sagt »es« nicht nur anders, sie bedeutet auch anderes. Die Nöte des Übersetzers, als desjenigen der es eigentlich nur anders sagen will, nur in der eigenen Sprache das ausdrücken möchte, was er übersetzen möchte, sind Erfahrungen der Differenz, die die Sehnsucht nach dem Identischen enttäuscht. Der belgische Literaturwissenschaftler Paul de Man brachte das in seinem Aufsatz Schlussfolgerungen: Walter Benjamins »Die Aufgabe des Übersetzers«, anschaulich zum Ausdruck: »Wie sollen wir diese Unstimmigkeit »Die differente Komplexität der verschiedenen Sprachsysteme überfordert jeden Übersetzer. Er kann die Differenz der Sprachen nicht überwinden.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 63 Hermeneutik und Vermittlung 64 ZNT 26 (13. Jg. 2010) zwischen ›das Gemeinte‹ und ›Art des Meinens‹, zwischen dire und vouloir dire verstehen? Benjamins Beispiel ist das deutsche Wort Brot und das französische Wort pain. Um ›Brot‹ zu bedeuten, wenn ich Brot benennen muß, habe ich das Wort Brot, so dass die Art des Meinens in der Benutzung des Wortes Brot besteht. Die Übersetzung wird eine fundamentale Unstimmigkeit enthüllen, zwischen der Absicht Brot zu benennen, und dem Wort Brot in seiner Materialität selbst, als einem Mittel des Bedeutens. Wenn man hier, im Kontext von Hölderlin, der in diesem Text so oft erwähnt wird, Brot hört, höre ich notwendig Brot und Wein, den großen Hölderlin-Text, der hier sehr gegenwärtig ist - woraus auf Französisch Pain et vin wird. ›Pain et vin‹ ist das, was man in einem Restaurant umsonst bekommt, in einem billigen Restaurant, wo es noch im Preis inbegriffen ist, also hat pain et vin ganz andere Konnotationen als Brot und Wein. Es erinnert an das pain francais, baguette, ficelle, bâtard, all diese Dinge - jetzt höre ich in Brot ›Bastard‹. Das erschüttert die Stabilität des Alltäglichen. Mit dem Wort Brot war ich völlig zufrieden, da ich es als Einheimischer höre, denn meine Muttersprache ist Flämisch, und man sagt brood, genau wie im Deutschen, aber wenn ich daran denken muß, dass Brot [brood] und pain dasselbe sind, komme ich ganz durcheinander. Auf Englisch ist das nicht problematisch, weil ›bread‹ nah genug an Brot [brood] ist, trotz des idiomatischen Gebrauchs von ›bread‹ für Geld, was gewisse Probleme schafft. Aber die Stabilität des Alltäglichen, meines täglichen Brotes, die beruhigend alltäglichen Aspekte des Wortes ›Brot‹, täglich Brot, werden durch das französische Wort pain erschüttert. Was ich meine, wird durch die Art, wie ich es meine, erschüttert - die Art, auf die es pain ist, das Phonem, der Ausdruck pain, der seine Reihe von Konnotationen hat, die in eine völlig andere Richtung gehen.« 18 Angesichts der in den Bekenntnissen der großen Übersetzer aufscheinenden Komplexität des Übersetzungsprozesses und seiner semiotischen Bedingungen erscheint der bloß moralisierende Rekurs auf die »Treue« ebenso naiv wie der unbeschwerte Rekurs auf die »Freiheit« des Übersetzers. So titelte die EKD ihre Stellungnahme zur »Bibel in gerechter Sprache« plakativ: Die Qualität einer Bibelübersetzung hängt an der Treue zum Text. Stellungnahme des Rates der EKD zur »Bibel in gerechter Sprache«, 30. u. 31. März 2007. Auf dem Niveau der Überschrift bewegt sich dann auch folgende Passage: »3.c Wenn man im Zusammenhang mit der Aufgabe einer Übersetzung von Gerechtigkeit sprechen will, dann in dem Sinne, dass eine Übersetzung dem zu übersetzenden Text gerecht werden muss. Nicht zuletzt darum geht es beim reformatorischen Schriftprinzip. Es ist auf die Formel gebracht worden: sola scriptura, ›allein die Schrift‹. Die Bibel ist nach reformatorischem Verständnis kritisches Gegenüber und Korrektiv allen kirchlichen Handelns und theologischen Redens. Diese Funktion aber kann sie nur erfüllen, wenn ihr Inhalt und ihre Aussageabsicht durch eine Übersetzung sachgemäß und unverfälscht zur Sprache gebracht werden.« Was aber »sachgemäß und unverfälscht« angesichts der unhintergehbaren Differenz der Sprachen und der notwendigen Kreativität jedes Zeichenhandelns heißen kann, bleibt diese Stellungnahme ebenso schuldig wie viele andere Treueforderungen. 3. Übersetzen und Verstehen Wie jedes Sprechen grammatischen Regeln unterliegt, auch dann, wenn diese Regeln den Sprechenden unbekannt bleiben, so folgt jedes Lesen oder Hören, also auch das der Übersetzer biblischer Texte, kulturellen Regeln des Interpretierens, selbst dann, wenn die Interpreten ihre hermeneutischen Voraussetzungen und methodischen Verfahren nicht reflektieren. Wissenschaftliches Arbeiten aber besteht nicht zuletzt darin, Rechenschaft über die gewählten Verfahren, Vorannahmen und Ziele abgeben zu können, damit ein öffentlicher Wissensdiskurs dazu Stellung beziehen kann. Wissenschaftliches Arbeiten verlangt die Offenlegung und Ausarbeitung von Übersetzungsbzw. Interpretationsverfahren und ihren Implikationen. Der öffentliche Diskurs bedarf der kritischen Begleitung wissenschaftlicher Bibelauslegung, um die jeweils veröffentlichten Positionen auf ihren Erkenntnisertrag und die Reichweite ihrer Wahrheitsfähigkeit hin zu prüfen. Wissenschaft schafft Öffentlichkeit der Auslegung und trägt damit zur kritischen Reflexion derjenigen Wissensbestände bei, die zur weiteren Gestaltung gesellschaftlichen Lebens dienen sollen. »Es gibt kein allgemein geltendes Lesen […] Lesen ist eine freye Operation. Wie ich und was ich lesen soll, kann mir keiner vorschreiben.« 19 Dieser Aphorismus »Aber die Stabilität des Alltäglichen, meines täglichen Brotes, die beruhigend alltäglichen Aspekte des Wortes ›Brot‹, täglich Brot, werden durch das französische Wort pain erschüttert.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 64 Stefan Alkier Über Treue und Freiheit - oder: Vom Desiderat einer Ethik der Übersetzung in den Bibelwissenschaften ZNT 26 (13. Jg. 2010) 65 des frühromantischen Dichters Georg Philipp Friedrich Freiherr von Hardenberg (1772-1801), der unter dem Namen Novalis in die Literaturgeschichte eingegangen ist, bringt zum Ausdruck, was auch heute noch viele denken. So vertritt etwa der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger (geb. 1929) in seinem lesenswerten Essay Bescheidener Vorschlag zum Schutze der Jugend vor den Erzeugnissen der Poesie, 20 die Haltung des Novalis und weiß sich damit mit einigen rezeptionsästhetischen Entwürfen einig, die einem - allerdings überdehnten - Reader-Response-Criticism zuzuordnen sind. Novalis und seinen Gefolgsleuten geht es vor allem darum, die schöpferische Kraft der Rezipienten hervorzuheben und sie gegen die Werkherrschaft des Autors 21 auszuspielen, die gerade zu Lebzeiten des Novalis auch vertragsrechtlich institutionalisiert wurde. Demgemäß sind geistige Erzeugnisse Besitz dessen, der sie hervorgebracht hat. Nichts scheint näher zu liegen, als dem Erzeuger eines Gedichtes, eines Bildes, eines Musikstückes auch die Deutungshoheit über sein Erzeugnis zu überlassen. Ein Zeichengebilde, sei es ein Text, ein Gemälde, eine Münze oder was auch immer bedeutete dann genau das, was sein Erzeuger damit ausdrücken wollte. Der Sinn eines Textes würde demzufolge erschlossen, indem die Intention des Autors rekonstruiert wird. Dadurch soll das Werk vor der Beliebigkeit uferloser Interpretationen und fälschlicher Übersetzungen geschützt werden. Autorschaft wird zur Werkherrschaft und der Rezipient bzw. der Übersetzer soll nur wiederfinden, was der Autor sagen wollte. Dagegen wendet sich die frühromantische Hermeneutik und Literaturtheorie, wie sie etwa von Novalis und Friedrich Schlegel (1772-1829) vertreten wurde. Sie waren sich über die notwendige Kreativität der Lesenden ebenso einig wie über die Kraft des Werkes, das nach seiner Veröffentlichung unabhängig vom Autor ein Eigenleben entwickelt. Das Werk übersteigt die Intention des Autors, weil es im Vollzug seiner Rezeption seine potentiellen Bedeutungen erst im Laufe der Zeit voll entfalten kann. Dazu gehören auch seine Übersetzungen in andere Sprachen. Die Kreativität der Lesenden gehört demnach ebenso zur Erzeugung des Sinns wie die des Autors. Diese durch die intentionale Werkherrschaft zu beschneiden, zerstört geradezu die Sinnerzeugungskraft des Werkes und verstößt gegen die Würde des selbst bestimmten Lesens. Enzensberger hat diese Gefahr in seinem oben genannten Essay köstlich in Szene gesetzt. Er erzählt davon, wie Schüler, Eltern und Lehrer ihn peinlich bedrängen, die Intention seiner Gedichte preiszugeben, damit sie die »richtige« Interpretation erfahren, nämlich die von der Autorität des Autors legitimierte. Diese »Methode« der Interpretation kennen wohl viele immer noch aus eigener Schulerfahrung, wenn etwa eine Kurzgeschichte oder ein Gedicht im Deutschunterricht interpretiert werden soll. Der Lehrer fragt: Was wollte der Autor damit sagen? Die Schüler beginnen nun angestrengt darüber nachzudenken, was wohl der Meinung des Lehrers zufolge der Autor sagen wollte. Interpretieren wird so zum Ratespiel, das nicht nur die Würde der Rezipienten und das Bedeutungspotential des Textes untergräbt, sondern überhaupt die Freude am eigenen entdeckenden Lesen, am eigenen Interpretieren im Keim erstickt. Demgegenüber betonen Novalis wie Enzensberger die Freiheit des Lesens. Nichts scheint dann näher zu liegen, als die Interpretation dem jeweiligen Leser zu überlassen. Dennoch verfehlen beide Positionen die Komplexität des Interpretationsprozesses. Weder die Werkherrschaft des Autors noch ihre Ersetzung durch die Willkür der Leser werden dem Reichtum der Texte, der Kreativität von Autor und Leser und den formalen Bedingungen wie der Würde des Kommunizierens gerecht. Gerade deswegen ist die Thematisierung der von Novalis verworfenen Frage nach dem Wie des Lesens notwendig. Auf diese Frage antworten Methoden. Das Wort »Methode« stammt aus dem Griechischen: met’ hodos bedeutet mit einem Weg. Methoden sind Wegweiser des Interpretierens. Sie geben darüber Auskunft, welche Schritte gegangen werden müssen, um das Ziel des Interpretierens zu erreichen. Sie sind immer schon der Erfahrung geschuldet, dass es eine verwirrende Vielfalt verschiedener Auslegungen desselben Auslegungsgegenstandes gibt. Sie wollen sich aber mit dem gleichgültigen Nebeneinander sich widersprechender Sinnzuschreibungen nicht abfinden. Sie suchen vielmehr nach Klarheit und nachvollziehbarer Ordnung in den Interpretationsprozessen und bemühen sich darum, diese intersubjektiv kommunizierbar zu gestalten. Methoden sind daher kommunikative Spielregeln, die das Spiel erst ermöglichen und die der notwendigen »Das Werk übersteigt die Intention des Autors, weil es im Vollzug seiner Rezeption seine potentiellen Bedeutungen erst im Laufe der Zeit voll entfalten kann. Dazu gehören auch seine Übersetzungen in andere Sprachen.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 65 Hermeneutik und Vermittlung 66 ZNT 26 (13. Jg. 2010) Ernsthaftigkeit jedes Spieles entsprechen. Sie begrenzen die Willkür des Einzelnen zu Gunsten der Vor-Gabe des Auslegungsgegenstandes (Realitätskriterium) und zu Gunsten der Gemeinschaft der Rezipierenden (Sozietätskriterium). Sie fungieren als die gemeinschaftliche Wahrheitssuche ermöglichende Diskursregeln, die offenlegen sollen, wie es zur je eigenen Interpretation gekommen ist. Sie sind die Absage an jede Genieästhetik, die immer behaupten muss, geistige Prozesse seien nicht erlernbar. Gegen die Aristokratie der Genieästhetik setzten sie die von allen einseh- und erlernbaren Regeln des plausibel argumentierenden und deshalb Gemeinschaft bildenden Diskurses (Kontextualitätskriterium). Die Ausarbeitung und die Anwendung von Methoden gehören daher zum Erkennungszeichen wissenschaftlichen Arbeitens überhaupt. Wissenschaft bearbeitet Probleme vor allem durch überlegte Problemlösungsstrategien, also durch methodisches Denken. Methoden sind daher kein Selbstzweck. Methoden reagieren auf Fragestellungen, die sich aus der Realität des Lebens ergeben. Bevor Methoden entwickelt werden, werden Probleme wahrgenommen, die durch die Anwendung der Methoden gelöst werden sollen. Methoden sind operative Verfahren. Sie benennen weder das Problem, auf das sie hin konstruiert werden, noch ihr Ziel und nicht einmal die Bedingungen, unter denen dieses Ziel erreicht werden kann. Diese prinzipiellen Aufgaben bearbeitet die Hermeneutik, die Lehre vom Verstehen. Sie fragt etwa danach, was denn überhaupt Verstehen ist und unter welchen Bedingungen Verstehen möglich wird. Heißt einen Text zu verstehen, seinen Autor zu verstehen? Gibt es nur eine oder doch mehrere plausible und akzeptable Möglichkeiten, einen Text zu verstehen? Ebenso muss gefragt werden: Was heißt überhaupt »Übersetzen« und unter welchen Bedingungen wird Übersetzen ermöglicht? Ist Übersetzen überhaupt möglich? Heißt einen Text zu übersetzen, die Intention des Autors in die neue Sprache zu transponieren? Gibt es dann idealiter nur eine wahre Übersetzung, oder lässt sich das in einer anderen Sprache Formulierte auf verschiedene, aber gleichermaßen legitime Art und Weise in der neuen Sprache zum Ausdruck bringen? Solche Fragen können nicht methodisch, sondern nur hermeneutisch bzw. übersetzungstheoretisch beantwortet werden und von ihrer Beantwortung hängt die Konstruktion bzw. die Wahl von Methoden ab. Vertritt z.B. jemand die hermeneutische Position, einen Text zu verstehen heißt, die Intention des Autors zu rekonstruieren, so muss er nun Methoden finden, die dieses Ziel zu realisieren helfen. Wer hingegen der hermeneutischen Auffassung ist, einen Text zu verstehen heißt, seine Zeichenbezüge zu erforschen, wird nach Methoden suchen müssen, die das leisten. Methoden basieren auf expliziten oder auch impliziten hermeneutischen Grundentscheidungen. Diese wiederum verdanken sich häufig ethischer Überzeugungen. Der Appell etwa, dem Text gerecht zu werden und ihm durch die eigene Auslegung keine Gewalt anzutun, lässt sich nicht hermeneutisch, sondern nur ethisch begründen. Hier kommen dann interpretationsethische Grundentscheidungen zum Tragen, wie ich sie in einem früheren Aufsatz in der ZNT formuliert habe: 22 1) Realitätskriterium: Eine Interpretation ist gut, wenn sie danach strebt, den Interpretationsgegenstand als real vorgegebenes Anderes, vom Ausleger Unterschiedenes in gewisser Hinsicht darzustellen und diesem Anderen mit Respekt gegenübertritt. 2) Sozietätskriterium: Eine Interpretation ist gut, wenn sie sich als ein Beitrag zu einer gemeinschaftlichen Wahrheitssuche versteht, und andere Interpretationen, auch wenn sie im Ergebnis nicht geteilt werden, als Beitrag zu dieser vom Objekt motivierten Wahrheitssuche respektiert. 3) Kontextualitätskriterium: Eine Interpretation ist gut, wenn sie ihre kulturelle und das heißt auch ihre politische Verortung offenlegt und sich als ein Beitrag zur kommunikativen Erschließung der Welt präsentiert. Erst Methodik, Hermeneutik und Ethik der Interpretation zusammen ergeben einen tragfähigen Grund wissenschaftlichen Arbeitens in einer der Aufklärung verpflichteten Diskurstradition. Bei allen Unterschieden teilen der historisch-kritische und der semiotisch-kritische Ansatz die mit dem Realitätskriterium formulierte ethische »Der Appell etwa, dem Text gerecht zu werden und ihm durch die eigene Auslegung keine Gewalt anzutun, lässt sich nicht hermeneutisch, sondern nur ethisch begründen.« »Erst Methodik, Hermeneutik und Ethik der Interpretation zusammen ergeben einen tragfähigen Grund wissenschaftlichen Arbeitens in einer der Aufklärung verpbichteten Diskurstradition.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 66 Stefan Alkier Über Treue und Freiheit - oder: Vom Desiderat einer Ethik der Übersetzung in den Bibelwissenschaften ZNT 26 (13. Jg. 2010) 67 Grundüberzeugung. Das Wort »Kritik« geht zurück auf das griechische Verb krinein und bedeutet »unterscheiden« bzw. »urteilen«. Die Auslegung hat den Auslegungsgegenstand vom Ausleger zu unterscheiden, weil dem Auslegungsgegenstand als solchem mit Respekt und Anerkennung seiner Andersheit zu begegnen ist. Das Adjektiv »kritisch« meint also nicht im umgangssprachlichen Sinn, am Auslegungsgegenstand »herumzumäkeln«. Es geht auch nicht darum, Positionen des auszulegenden Textes zu kritisieren. Dafür hat sich der Terminus »Sachkritik« etabliert. Die im Namen der beiden Methoden eingeschriebene Kritik möchte vielmehr den Auslegungsgegenstand vor der Gewalt der Auslegung schützen. Er soll als Eigenes durch die Interpretation überhaupt erst in den Blick geraten, damit nicht immer schon die den Ausleger leitenden Interessen, Traditionen und Positionen dem Text vorgeordnet werden und ihn dann genau das sagen lassen, was der Ausleger selbst immer schon gedacht hat. Historisch-kritische und semiotisch-kritische Exegese sind in ihrem Verständnis dessen, was mit dem Begriff »Kritik« angesagt ist, der Aufklärung verpflichtet und insbesondere der kritischen Philosophie Immanuel Kants (1724-1804). Die Frage lautet daher stets: Was lässt sich wirklich über den Auslegungsgegenstand sagen, ohne ihn mit den eigenen Vorurteilen zu belasten? Solche Vorurteile können theologische Dogmen, bürgerliche Moralvorstellungen, politische Überzeugungen, wirtschaftliche Interessen, wissenschaftliche Positionen oder religiöse Empfindungen sein. Vor all dem will eine dem Realitätskriterium verpflichtete kritische Hermeneutik den Auslegungsgegenstand schützen, um ihn um seiner selbst willen zu erforschen. In diesem ethisch begründeten Interpretationsziel sind sich die historisch-kritische wie die semiotisch-kritische Exegese bei allen Differenzen einig. Das Realitätskriterium muss daher auch Ausgangspunkt einer Ethik der Übersetzung sein. 4. Die kreative Kraft der Zeichen als Ermöglichung der Übersetzung Wer übersetzt, muss den übersetzten Text verstehen. Die im voranstehenden Abschnitt skizzierten Problemzusammenhänge von Hermeneutik, Ethik und Kritik gelten gerade auch für den Übersetzer, ist er doch immer auch ein Leser des zu übersetzenden Textes. Dennoch sind Übersetzungen keine Interpretationen, vielmehr beruhen sie auf Interpretationen, die dem Akt der Übersetzung vorausgehen. Gerade aber die Unmöglichkeit einer Übersetzung, dasselbe wie das Übersetzte zu sagen, sondern bestenfalls »quasi« dasselbe, zeugt von einer Begegnung mit dem Fremden, die die Andersheit des Fremden nicht vollends aufzusaugen in der Lage ist. Der fremde Text widersteht seiner interpretierenden und übersetzenden Vereinnahmung, weil es keine Übersetzung gibt, die den Vorgang des Übersetzens ein für alle mal erledigen könnte. Dass es eine Geschichte der Bibelübersetzungen gibt und nicht lediglich pro Sprache eine »richtige« Übersetzung, zwingt jede Übersetzung und damit auch jede Interpretation zur Bescheidenheit. Das, was bei einer Übersetzung nicht übersetzt werden kann, garantiert die Fremdheit des Anderen. Seine unüberwindliche Kraft erzeugt zugleich die Faszination jeder Übersetzungsaufgabe. Wer in der vom Realitätskriterium geforderten Haltung übersetzt, kennt die Ursache seines notwendigen Scheiterns: Es ist die Kraft der Fremdheit des Textes, die ihm weitgehend die Kraft der anderen Sprache verliehen hat. Sprachen sind nicht ineinander abbildbar. Brot, bread und pain bedeuten nicht dasselbe. Wenn das schon von einzelnen Worten gilt, wie sehr dann erst von Wortzusammenhängen und ganzen Texten! Das, was aber bei einer Übersetzung übersetzt werden kann, erzeugt die Möglichkeit der Begegnung des Fremden in der eigenen Sprache. Deshalb können wir überhaupt eine Übersetzung als Übersetzung von einer Paraphrase oder einer Nachdichtung unterscheiden. Und deshalb kann man auch angemessenere von unangemesseneren oder gar schlicht falschen Übersetzungen unterscheiden. Was die Übersetzung überhaupt ermöglicht, ist nicht die Kraft der Fremdheit der anderen Sprache. Es ist die kreative Kraft der Semiose 23 (des Zeichenprozesses), die jeden Zeichengebrauch ermöglicht. Der fremde Text motiviert die notwendige Kreativität der Übersetzung und erzeugt im Aufeinandertreffen von Sagbarem und Unsagbarem die neue Übersetzung, der im besten Fall ihr Scheitern wie ihr Gelingen gleichermaßen eingeschrieben sind. Genau das ist »Weil jeder Zeichengebrauch Kreativität verlangt, die von dem Vorgegebenen in Bewegung gebracht wird, ist immer mit der Möglichkeit mehrerer gelungener Übersetzungen und mehrerer gelungener Interpretationen zu rechnen und jeder Ideologie der Beliebigkeit zu wehren.« 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 67 Hermeneutik und Vermittlung 68 ZNT 26 (13. Jg. 2010) der Grund, warum es nicht nur eine »richtige« Übersetzung, wohl aber mehrere treffliche und eben auch unzutreffende, den übersetzten Text verfehlende Übersetzungen gibt. Weil jeder Zeichengebrauch Kreativität verlangt, die von dem Vorgegebenen in Bewegung gebracht wird, ist immer mit der Möglichkeit mehrerer gelungener Übersetzungen und mehrerer gelungener Interpretationen zu rechnen und jeder Ideologie der Beliebigkeit zu wehren. Der Übersetzer, der sich zum Herrn über das Übersetzte erhebt, wie auch der Interpret, der mit seiner Interpretation die Werkherrschaft für sich in Anspruch nimmt, werden weder der Realität des Anderen als Anderem noch der Komplexität der durch Zeichen ermöglichten Kommunikation gerecht. Das Desiderat einer Theorie, Ethik und Kritik der Übersetzung in den Bibelwissenschaften kann nur bearbeitet werden, wenn sich die Bibelwissenschaften konsequenter als bisher »bei der Explikation übersetzungstheoretischer Überlegungen um eine Kontextualisierung derselben mit differenzierten text- und sprachtheoretischen Konzeptionen« 24 bemühen. Sie wird einen übersetzungstheoretischen Diskurs zeitigen, der angesichts der unhintergehbaren Kreativität jeglichen Zeichengebrauchs Vielfalt begrüßen und Beliebigkeit sachlich begründet kritisieren wird. Die mit dem Realitätskriterium formulierte Achtung der Fremdheit des Anderen wird die Basis auch einer Ethik der Übersetzung bilden. In derselben ethischen Grundhaltung sollte das im Sozietätskriterium formulierte respektvolle Miteinander der konkurrierenden Forschungspositionen überheftige Polemisierungen vermeiden helfen. Dass angesichts der unhintergehbaren Vielfalt der Zeichen jedes Zeichenhandeln von Wahlmöglichkeiten und Positionierungen geprägt ist, formuliert das Kontextualitätskriterium. Konsequent verstanden führt es weder zu einer ideologisch erstarrten und selbstgerechten political correctness noch zur Selbsttäuschung einer interessefreien »reinen« Philologie oder Geschichtswissenschaft. Weil uns alles gegebene Wahlmöglichkeiten zuwachsen lässt, wird die Theorie, Ethik und Kritik der Übersetzung in den Bibelwissenschaften zur Ausbildung eines qualifizierten Pluralismus führen, der Positionalität und Vielfalt zusammen zu denken erlaubt. Anmerkungen 1 Hg. v. U. Bail u.a., Gütersloh/ München 2 2006. 2 Vor allem in Lateinamerika in den 60er und 70er Jahren des 20. Jh.s entstand die Bewegung der Befreiungstheologie, die die soziale Botschaft der Bibel direkt auf bestehende Unterdrückungsverhältnisse anwendet und deshalb Kirche und Theologie dazu aufruft, wie der Gott der Bibel auf die Seite der Schwachen und Entrechteten zu treten und gemeinsam mit ihnen die Befreiung aus allen Unrechtsstrukturen auch mit politischen und zum Teil sogar mit militanten Mitteln herbeizuführen. Bald schon adaptierten auch nordamerikanische und europäische Theologen dieses Konzept. Mit der Befreiungstheologie verwandt ist die feministische Exegese. Sie ist eine Auslegungspraxis, die insbesondere die Unterdrückung von Frauen zum Thema macht und aus ihr herausführen will. Es ist maßgeblich feministischer Exegese zu verdanken, dass die Standortgebundenheit jeder Interpretation in das Bewusstsein von Exegetinnen und Exegeten gerückt ist. Innerhalb der feministischen Exegese gibt es zahlreiche, zum Teil auch in Konflikt miteinander stehende Richtungen. 3 Es wäre von daher unaufgeregt zu diskutieren, ob das Konzept der »Bibel in gerechter Sprache« nicht eine neue Gattung der Übersetzungsliteratur begründet hat, die zwischen den bisherigen engen Konzepten der Bibelübersetzungen und den freieren Kinder- und Jugendbibeln einzuordnen wäre. Die »Bibel in gerechter Sprache« ist vielleicht eine »Kinderbibel« für Erwachsene, die sich darum bemüht, befreiungstheologisch gestimmte Lesergruppen anzusprechen, die von den konventionellen Übersetzungen nicht mehr erreicht werden. Diese Einschätzung meine ich schon deshalb nicht polemisch, weil ich größte Wertschätzung für Kinderbibeln habe. Ich meine das auch nicht als abschließendes Urteil, sondern als einen Gedanken, der vielleicht das Verständnis des Konzeptes der »Bibel in gerechter Sprache« klären könnte und den Vorwurf, sie vermische Übersetzung und Interpretation, von ihrer neuen Gattung aus erklären könnte, denn dieses Ineinander von Übersetzung und Interpretation ist ja gerade ein Merkmal der Gattung von publikumsorientierten Kinderbibeln. Der heftige Streit wäre dann auch damit zu erklären, dass die »Bibel in gerechter Sprache« konventionelle Gattungserwartungen enttäuscht hat. 4 A. Hirsch, Die geschuldete Übersetzung. Von der ethischen Grundlosigkeit des Übersetzens, in: Ders. (Hg.), Übersetzung und Dekonstruktion, Frankfurt a. M. 1997, 396-428, hier: 396. 5 Hieronymus, Über die beste Art des Übersetzens, in: H. J. Störig, Das Problem des Übersetzens, WDF VIII, Darmstadt 1973, 1-13, hier: 2f. 6 Hieronymus, ebd., 1. 7 Hieronymus, ebd., 1f. 8 Hieronymus, ebd., 3. 9 Hieronymus, ebd., 3. 10 Hieronymus, ebd. 10. 11 Ein Sendbrief D. Martin Luthers vom Dolmetschen und Fürbitte der Heiligen (1530) WA 30,2; 632-646, zit. nach Martin Luther, Sendbrief vom Dolmetschen, in: H. J. Störig, Das Problem des Übersetzens, a.a.O., 14-32, hier: 20. 12 M. Luther, Sendbrief vom Dolmetschen, 25. 13 Friedrich Schleiermacher, Ueber die verschiedenen 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 68 Stefan Alkier Über Treue und Freiheit - oder: Vom Desiderat einer Ethik der Übersetzung in den Bibelwissenschaften ZNT 26 (13. Jg. 2010) 69 Methoden des Uebersezens, in: H. J. Störig, Das Problem des Übersetzens, 38-70, hier: 39. 14 G. Steiner, Nach Babel. Aspekte der Sprache und des Übersetzens, übers. v. M. Plessner unter Mitw. v. H. Beese, Frankfurt a. M. 2 1992, 83. 15 Friedrich D. E. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik. Mit e. Anh. Sprachphilosophischer Texte Schleiermachers, hg. u. eingel. von M. Frank, Frankfurt a. M. 1977, 80: »Das Auslegen ist Kunst.« Ebd., 170: »Das Allgemeine und das Besondere müssen einander durchdringen, und dies geschieht immer nur durch die Divination.« Vgl. S. Alkier, Verstehen zwischen Rekonstruktion und Schöpfung. Der hermeneutische Ansatz Friedrich Schleiermachers als Vorlage einer Praktisch-theologischen Hermeneutik, in: S. Alkier u.a., Praktisch-theologische Hermeneutik. Ansätze - Anregungen - Aufgaben, FS. H. Schröer, Rheinbach-Merzbach 1991, 3-22. 16 F. Schleiermacher, Methoden des Uebersezens, 52ff. 17 Umberto Eco, Quasi dasselbe mit anderen Worten. Über das Übersetzen, aus dem Ital. v. B. Kroeber, Müchen/ Wien 2006. Sicher gehört Umberto Eco zu den klügsten Köpfen gegenwärtiger Texttheorien. Auch seine zahlreichen Essays und seine Romane sind mit großem Gewinn zu lesen. Um so erstaunlicher ist es, wie sehr auch Ecos Buch über das Übersetzen den Eindruck Alfred Hirschs aus dem im Text abgedruckten Zitat bestätigt, allerdings mit dem Unterschied, dass hier ein Autor über seine Übersetzer plaudert. Sicher ist Ecos Buch durchaus lesenswert, aber weniger Geschwätzigkeit hätte das Buch auf die Hälfte kürzen können. 18 P. de Man, Schlussfolgerungen: Walter Benjamins »Die Aufgabe des Übersetzers«, in: A. Hirsch (Hg.), Übersetzung und Dekonstruktion, 182-210, hier: 201f. 19 Novalis, Schriften 2. Das philosophische Werk I, hg. v. R. Samuel, Darmstadt 3 1981, 609. 20 H.M. Enzensberger, Bescheidener Vorschlag zum Schutze der Jugend vor den Erzeugnissen der Poesie, in: Ders., Mittelmaß und Wahn, Frankfurt a. M. 1988, 23-41. 21 Vgl. H. Bosse, Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit, Paderborn 1981. 22 S. Alkier, Fremdes Verstehen - Überlegungen auf dem Weg zu einer Ethik der Interpretation biblischer Schriften. Eine Antwort an L.L. Welborn, Themenheft Ethik, ZNT 11 (2003), 48-59. 23 Die semiotischen Zusammenhänge habe ich erläutert in meinen Monographien: Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus. Ein Beitrag zu einem Wunderverständnis jenseits von Entmythologisierung und Rehistorisierung (WUNT 134), Tübingen 2001; Die Realität der Auferweckung in, nach und mit den Schriften des Neuen Testaments (NET 12), Tübingen/ Basel 2009. Eine einführende, elementarisierende Darstellung der semiotisch-kritischen Methode - wie auch der historisch-kritischen Methode - findet sich in meinem Lehrbuch: Neues Testament, Tübingen/ Basel 2010 (im Druck). 24 A. Hirsch, Die geschuldete Übersetzung, 396. 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 69 Buchreport 70 ZNT 26 (13. Jg. 2010) Dalferth, Ingolf U.; Schröter, Jens (Hrsg.) Bibel in gerechter Sprache? Kritik eines misslungenen Versuchs Mohr Siebeck, Tübingen 2007. Broschiert VII, 141 Seiten ISBN: 978-3-16-149448-2 Preis: 14,00 € Allmählich wird es etwas stiller um die »Bibel in gerechter Sprache« (BIGS), und es ist an der Zeit, unaufgeregt zu reflektieren, welchen Ertrag dieses Projekt für Kirche und Gesellschaft gebracht hat bzw. bringt. Dabei ist ernst zu nehmen, dass die Übersetzung sich als offenes, unabgeschlossenes Unternehmen, als Diskussionsgrundlage versteht, auch wenn sie seit Oktober 2006 in Buchform vorliegt. Der vorliegende Aufsatz- und Essayband zum Thema versammelt acht durchgehend kritische Beiträge, die bis auf eine Ausnahme (den Beitrag Andreas Lindemanns) schon früher erschienen waren, z.T. in kirchlicher und säkularer Presse. Beigegeben sind die Stellungnahme des Rates der EKD zur BIGS vom 30./ 31. März 2007 sowie ein nützliches Bibelstellenregister. Jens Schröter fasst in zwei Beiträgen die mittlerweile bekannten Kritikpunkte zusammen, wobei er vor allem übersetzungstheoretische und hermeneutische Gesichtspunkte geltend macht: Die BIGS bewege sich in einer »Grauzone«, die zwischen Übersetzung und Interpretation nicht mehr unterscheidet bzw. die Differenz zwischen ihrem eigenen Anliegen und demjenigen des biblischen Textes durch die Wahl eines biblischen »Grundthemas« Gerechtigkeit als Ausgangspunkt und Kriterium unterlaufe (S. 5). Unstimmigkeiten und »Absurditäten« (S. 6) werden vorgeführt, und eine geradezu erbitterte Kritik löst die »Immunisierungsstrategie« der Übersetzerinnen und Übersetzer aus, Kritiker dadurch mundtot machen zu wollen, dass ihnen Machtinteressen unterstellt werden (S. 9 Anm. 14; vgl. S. 110). Ausführlich werden Beispiele, wie die ohne Frage missglückte Übersetzung der »Antithesen« der Bergpredigt und die nivellierende Wiedergabe des Gottesnamens, diskutiert. Leider wird nur in einer Anmerkung (S. 2 Anm. 6) ausgeführt, dass es durchaus erkennbare Unterschiede in den Übersetzungstheorien und -konzepten der Autorinnen und Autoren gibt. Auch die stereotype Ergänzung femininer Formen u.ä. wird kritisiert, verhindere gerade sie doch eine theologische Sachkritik im Gespräch mit dem Text (S. 19). Schröter spricht auch von einer »kirchenkritischen - um nicht zu sagen: antikirchlichen - Tendenz« (S. 25) der Übersetzung, die damit einen Rückfall hinter das Grundanliegen kritischer Forschung darstelle, durch philologische und historische Präzision einer Instrumentalisierung der Texte zu wehren (S. 26). Melanie Köhlmoos mahnt u.a. größere Sorgfalt in der historischen Rückfrage nach der Lebensrealität von Frauen in antiken Kontexten an: Die BIGS sei hier bekanntlich öfter weitab von der historischen Wirklichkeit (S. 33), wofür historisch nicht bezeugte »Pharisäerinnen« nur ein noch harmloses Beispiel sind. Dadurch könne z.B. nicht mehr wahrgenommen werden, wo der biblische Text selbst aus patriarchalen Strukturen ausbreche (S. 33). Der sprachliche Unterschied zwischen Gottesname, Gottesbezeichnung und Metapher für Gott entfalle in BIGS fast vollständig (S. 37). Textentschärfungen und Umständlichkeiten sowie falsches Pathos werden an Belegen vorgeführt. BIGS wäre damit auch ein Beispiel jener Modernität, die bekanntlich rasch veraltet (was heute die Übersetzungsexperimente der 1960er und 1970er Jahre oft so peinlich wirken lässt, wie man wird ergänzen dürfen). Die BIGS maskiere sich als Übersetzung und sei eben damit ihrem Publikum gegenüber nicht ehrlich (S. 41). Matthias Morgenstern bereichert in einem sehr originellen Beitrag das Gespräch um eine judaistische Perspektive, indem er BIGS u.a. mit Denkstrukturen der jüdischen Kabbala vergleicht und auf eine klischeehafte und verzerrte Sicht auf das Judentum hinweist. So kritisiert er, dass die BIGS gerade nicht mit jüdischen Midraschim verglichen werden könne, die den Text selbst nicht ändern, sondern kommentieren. Weiterhin stelle die durchgehende Suggestion weiblicher Epitheta für Gott die BIGS in gefährliche Nähe der orientalischen Aschera- und Astartekulte, die im AT einer offensiven theologischen Kritik unterzogen werden (S. 55). (Auffällig ist freilich die Zurückhaltung gegenüber dem Begriff »Göttin«, der die logische Konsequenz der BIGS darstellt, aber vermieden wird). »Geradezu bestürzend ist die Unkenntnis der Herausgeber in Hinsicht auf die grundsätzlichen Probleme, die sich in der Neuzeit jüdischen Bibelübersetzungen in den Weg gestellt haben« (S. 55). Dieser Satz Morgensterns träfe BIGS im Mark, ginge er nicht vielleicht doch etwas an der Intention des Werkes vorbei. Die Diskussion wird hier jedenfalls noch sehr intensiv geführt werden müssen, am besten im internationalen Kontext vergleichbarer Projekte. Der gediegene Beitrag von Andreas Lindemann ist in seiner Kritik nicht weniger massiv (vgl. S. 80f. zu Röm 9,32: »nahezu das Gegenteil des von Paulus Gesagten«) als die bereits genannten, untermauert diese aber v.a. mit einer großen Fülle von Textdiskussionen und bietet überhaupt sehr viel mehr Detailarbeit als die anderen Aufsätze des Bandes. Auch er nimmt neben dem Hinweis auf viele historische Unrichtigkeiten Anstoß an der Selbstinszenierung der BIGS als einem kirchengeschichtlichen Großereignis. In seiner Einzeldiskussion orientiert sich Lindemann an größeren Texteinheiten und vermeidet dadurch die Gefahr einer bloßen Kuriositätensammlung. Viele 074910 ZNT 26 - Inhalt 08.10.10 16: 01 Uhr Seite 70 Buchreport ZNT 26 (13. Jg. 2010) 71 Beobachtungen verdienen Beachtung über die Debatte zur BIGS hinaus; manches korrigiert auch unpräzise Vorwürfe früherer Kritiker (vgl. S. 68f. zum männlichen Teufel). Thomas Söding beginnt als einziger Kritiker mit der Frage, ob die BIGS denn auch gute Seiten habe (S. 89). Freilich fällt ihm dazu dann nicht sehr viel ein. Neben den nun schon wohlbekannten Angriffspunkten unterstreicht Söding v.a. den politischen Charakter der Übersetzung. Seine Kritik gipfelt in der Aussage »schlechte Sprache ist Ausdruck schlechter Theologie« (S. 94), ein Satz, der doch wohl über sein Ziel hinausschießen dürfte. Rhetorische Brillianz ist Södings Kritik nicht abzusprechen: »In der ›Bibel in gerechter Sprache‹ herrscht ausgerechnet beim Gottesnamen babylonische Sprachverwirrung und nicht pfingstliche Vielsprachigkeit« (S. 95f.). Und er fragt, ob man dann nicht gleich »eine neue Bibel schreiben« solle (S. 96), und die BIGS etwa ein »Kulttext von Frauengruppen« bzw. ein »Alibi von Männern mit schlechtem Gewissen« (S. 97) werden könne. Solche pauschalen Formulierungen lassen sich gut zitieren, sie sind aber doch weit weniger hilfreich als A. Lindemanns textnahe Einzelkritik. Es folgt ein zweiter Beitrag Jens Schröters, der einige Punkte seiner Gesamtsicht schärfer herausarbeitet, sowie ein kurzer Text Ingolf Dalferths, der u.a. der BIGS das Recht bestreitet, sich auf M. Luthers Übersetzungskonzepte zu berufen. Tatsächlich sei die BIGS in lutherischen Kategorien gedacht »schwärmerisch« (S. 113 u. 119), was sich in Texterweiterungen, Textumdeutungen, Texterfindungen und Textentstellungen manifestiere. Die BIGS traue »den Lesern gar nichts zu« (S. 114), sondern schreibe ihnen unablässig vor, wie sie verstehen sollten. Andererseits werde jede Bestimmtheit der Gottesbezeichnungen zerstört. Hermann Barth und Christoph Kähler in einem gemeinsam verantworteten Beitrag nehmen noch einmal die grelle Inszenierung der BIGS (u.a. durch den Kirchenpräsidenten der EKHN) kritisch in den Blick (S. 121), und wiederholen dann die bekannten Angriffspunkte. Abgeschlossen wird die Zusammenstellung wie erwähnt von einem Abdruck der ablehnenden Stellungnahme des Rates der EKD, der offenbar als Paukenschlag am Schluss gedacht ist. Betrachtet man den vorliegenden Band als Ganzes, ist die partielle Austauschbarkeit der Beiträge auffällig. Die angemahnten Kritikpunkte sind weithin identisch, und auch vielen bekannten »abschreckenden« Beispielen begegnet man passim. Durchgehend wird der »Bibel in gerechter Sprache« vorgehalten, dass sie Übersetzung und kritischen Kommentar vermischt. Oder um es schlichter zu sagen: Die BIGS übersetzt sehr häufig nicht, was im Text steht, sondern wovon die Übersetzerinnen und Übersetzer gerne hätten, dass es im Text stehe. Um die Kritik an einem Punkt weiterzuführen: H. Barth und C. Kähler sprechen im Anschluss an M. Köhlmoos davon, dass die BIGS eine Sonderbibel für eine Sondergemeinschaft sei (S. 130). Ich habe andernorts darauf hingewiesen, dass sich gerade im christlich-jüdischen Gespräch Ansätze einer Konfessionsbildung mit eigenem Soziolekt beobachten lassen (»Religion im Rhein-Main-Gebiet«, erscheint 2011). Neben einer kritischen Würdigung der BIGS muss die Frage eine größere Rolle spielen, was hier in theologiegeschichtlichen Kategorien genau geschieht. Offenbar entstehen in der gegenwärtigen deutschen Exegese Sprachkulturen, die gegenseitig nur noch wenig vermittelbar sind. Was die Debatte vielleicht entlasten und bereichern könnte, wäre eine weitere Reflexion darüber, wie die Aufgabe einer inklusiven Sprache überhaupt anzugehen ist (sicher falsch M. Köhlmoos S. 31, die Sache sei »nicht anders zu lösen«). Im Amerikanischen, in dem vergleichbare Projekte schon lange vorliegen, meint »inclusive language« gleichzeitig neben dem geschlechtergerechten Anliegen den Versuch, rassistische, kolonialistische und andere unerwünschte Relikte aus der Sprache herauszubringen. Die konkreten Lösungen sehen hier allerdings völlig anders aus als im Deutschen. So werden bei uns weibliche Formen von Berufsbezeichnungen kultiviert, während diese im Amerikanischen mittlerweile dagegen gerade als politisch unkorrekt gelten: actress für »Schauspielerin« ist verpönt; als korrekt gilt actor oder performer. Es ist ja in der Tat kurios, dass im Deutschen gerade derivierte Formen (also solche, welche das »Weibliche« sprachlogisch als vom »Männlichen« abgeleitetes qualifizieren) das Anliegen einer »gerechten« Sprache aufnehmen sollen. Dazu wäre schon linguistisch vieles zu sagen. Die Today’s New International Version, ein Vorbild der BIGS und bereits Anfang 2005 erschienen, ist in Sachen »inclusive language« insgesamt stilsicherer und zurückhaltender. Auch ein Vergleich mit jüdischen Übersetzungen ist lehrreich. Die Fragestellungen postkolonialer (nicht eurozentrischer) Exegese spielen in Deutschland noch eine vergleichsweise geringe Rolle, was die Wiedergabe mancher theologischer Begriffe tangiert, die wir nur mit Mühe anders als durch die Brillen unserer (etwa reformatorischen) Tradition lesen können, usw. Manche historische Kuriositäten und Absurditäten der Übersetzung ließen sich sicher ohne Verlust ausmerzen. Fügen wir ihnen noch ein Beispiel hinzu! In Ezechiel 1,10 nehmen die Übersetzerinnen Anstoß an den Tierwesen um Gottes Thron. So wird aus dem Löwen des Textes eine Löwin (was im Hebräischen bekanntlich ein anderes Wort wäre), aus dem so aufdringlich männlichen Stier ein Rind (ditto) und aus dem Machtsymbol Adler ein - Geier. Da muss jeder weitere Kommentar verstummen. Schwieriger dürfte es mit den israelkritischen Passagen stehen. Hier greift der Vorwurf besonders deutlich, dass die Übersetzung anachronistisch eine Sensibilität in die Vergangenheit projiziert, die erst in einem schmerzvollen Prozess im 20. Jh. gewachsen ist. Man erinnert sich an Friedrich Nietzsches berühmtes, eigentlich antisemitisch gemeintes Wort: Gott wurde nicht einfach Mensch, »Gott selbst - ward Jude« (in »Also sprach Zarathustra«). Eine Übersetzung muss es aushalten, dass ein Text moderne schmerzliche Erfahrungen eben noch nicht voraussetzt. Vielfache Kritik hat auch der Beliebigkeit suggerierende Umgang mit dem Gottesnamen ausgelöst. Hierzu wäre weiter auszuholen als es eine Rezension leisten kann, und verschiedene Vorfragen wären anzusprechen. Man kann immer wieder lesen, dass Juden den Gottesnamen aus Respekt in neutestamentlicher Zeit nicht mehr ausgesprochen hätten. Ganz so einfach ist es historisch freilich nicht. Zwar ist die Ersetzung von Jahwe durch Kyrios in der Septuaginta schon vorchristlich, aber das ist Theologen- 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 71 Buchreport 72 ZNT 26 (13. Jg. 2010) sprache und nicht unbedingt volkstümlich. Wir wissen aus verschiedenen Indizien, dass der Gottesname in der frühen Kaiserzeit durchaus noch ausgesprochen wurde, u.a. deshalb, weil Kirchenväter wie Clemens Alexandrinus die korrekte Aussprache kennen, und nicht zuletzt aus dem umfänglichen Corpus magischer Texte aus Ägypten, in denen griechisch IAO u.ä. neben Helios der häufigste Gottesname überhaupt ist (vgl. für Details meinen RAC- Art. »Magie«). Die Ersetzung des Gottesnamens durch Adonaj und Kyrios soll Gott vor allem als Willen beschreiben, der sich in der Geschichte durchsetzt. Gott als Kyrios ist kein kosmischer Sklavenhalter, sondern ein Wille, der seine Pläne auch gegen die Mächte des Bösen durchzusetzen vermag. Insofern scheinen mir die Widerstände in der BIGS gegen die Lutherische und eben auch jüdische Wiedergabe des Gottesnamens mit »Herr« nicht wirklich angemessen (vgl. zu den historischen Fragen wiederum meinen RAC- Artikel zur Sache, hier s.v. »Kyrios«). Ein letztes Detail sei kurz angesprochen. Zu Röm 8,26f. schreibt die Übersetzerin Claudia Janssen: »In unserer Ohnmacht steht uns die Geistkraft bei, wenn wir keine Kraft mehr haben, wie es nötig wäre. Die Geistkraft selbst tritt für uns ein mit wortlosem Stöhnen. Gott kennt unsere Herzensanliegen und versteht, wofür die Geistkraft sich einsetzt, weil sie im Sinne Gottes für die heiligen Geschwister eintritt.« Die Übersetzerin begründet ihre Übersetzung u.a. damit, dass »Gottes Geist keine Person ist, sondern Dynamik, schöpferische Lebenskraft, die befreiend wirkt.« Außerdem habe im Hebräischen ruach »Geist« bekanntlich weibliches Geschlecht, so dass - auch wenn griechisch pneuma ein Neutrum ist - doch ein feminines Wort bevorzugt werden sollte, weil eben ein alttestamentlichhebräisches Konzept hinter dem Heiligen Geist stehe. Nun ist zwar der Hinweis auf den weiblichen Charakter von ruach (bzw. aram. rucha) nach wie vor im kirchlichen Kontext nicht selbstverständlich und daher sachlich wichtig (weshalb z.B. die aram.-syrischen Kirchen viele traditionelle weibliche Metaphern für den Geist besitzen). Aber »Geistkraft« für den Heiligen Geist scheint mir außerordentlich misslich. Der Geist wird hier weniger weiblich akzentuiert, sondern eher in ein esoterisches Fluidum, eben eine Kraft, aufgelöst, was er nicht ist. Wenn die Übersetzerin dazu noch begründet, dass der Geist eben keine Person sei, so stellt sie sich damit außerhalb der systematischen Tradition aller christlichen Kirchen, die gerade die Personalität des Heiligen Geistes immer wieder betont haben, der eben keine abstrakte Kraft sei. Nun kann man einwenden, dass ein systematisches Argument für die biblische Sprache nicht ausschlaggebend sein kann. Das ist zutreffend. Aber auch in der Bibel, sowohl im Alten als auch im Neuen Testament, ist der Hl. Geist eben der Geist des personalen Gottes, dessen der Schöpfung zugewandte, sie durchdringende Seite, seine Immanenz. Und die Personalität des Geistes wird ja z.B. auch dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er etwa in Apg 13,2 in erster Person von sich selbst spricht. Wenn der Apostel Paulus die römischen Christinnen und Christen nach der Lutherübersetzung »von Gott, unserem Vater, und dem Herren Jesus Christus« grüßt, dann sagt C. Janssens Neuübersetzung hier: »von Gott, unserem Ursprung, und von Christus Jesus, zu dem wir gehören«. Die patriarchale Vatermetapher wird vermieden, dafür geht dann aber doch auch der personale Zug verloren: Ein Ursprung ist etwas anderes als ein geschlechtsneutraler Vater. Die Herrschaftsmetapher (Jesus Christus, unser Herr), die sicher auch eine Zugehörigkeit ausdrücken soll, wird durch eine abstrakte Zugehörigkeitsformel ersetzt: »zu dem wir gehören«. Mir scheint der theologische Preis für eine solche »politisch korrekte« Verkürzung wesentlicher Grundanliegen der Segens- und Grußformel unangemessen hoch. Dies ist nicht allein eine theologische Frage. Nach einer Einsicht schon von Wilhelm Bousset wird Glaube umso blutleerer, je abstrakter die Redeweise von Gott wird (Die Religion des Judentums im späthellenistischen Zeitalter. 3. Aufl. Tübingen 1926, 316). Beim Hören wird jedenfalls für mich hier weniger eine patriarachale Männlichkeit Gottes überwunden als eher die elementare Personalität Gottes in ein Gottesprinzip oder eine Gottesidee hinein aufgelöst. Zu einer Gottesidee aber kann ich nicht beten. Wenn wir die BIGS ohne Aufregung und nüchtern analysieren wollen, ist es hilfreich, in die Geschichte der Bibelübersetzungen zu schauen. Wie wurden solche Probleme früher gelöst? Hat es solche Verschiebungen, solche Bemühungen, die Bibel theologisch unanstößig zu machen, auch früher schon gegeben? Die Antwort heißt selbstverständlich ja. Schon die Septuaginta nimmt sich erstaunliche Freiheiten im Umgang mit dem Text. Vor allem ist aber an die aramäischen Targume zu denken und ihren souveränen Umgang mit den Anthropomorphismen der Hebräischen Bibel. Uns machen diese weniger Kummer, weil wir sie als poetische Redeweise erkennen, aber für antike Juden und Christen waren sie nicht weniger anstößig als es patriachal-androzentrische Sprache für uns ist. Die Targume weisen hier ein breites Spektrum der Textbearbeitung auf, stehen jedoch immer nur neben dem hebräischen Text, nie an seiner Stelle. Um noch einmal auf die hier angezeigte Sammlung kritischer Stimmen zur BIGS zu kommen. Was ich an dem vorliegenden Band bei aller Zustimmung vermisse, ist Freundlichkeit. Hinter der »Bibel in gerechter Sprache« stehen nicht nur manche grundsätzlich legitimen theologischen Anliegen, es steht hinter ihr auch eine vielfache Leidensgeschichte. Was an Kritik vorgebracht wird, scheint mir im Allgemeinen zutreffend und notwendig. Aber wie sollen wir, die wir an dem Projekt nicht beteiligt waren, diese Kritik nun vorbringen? Vielleicht mit etwas mehr Freundlichkeit, vielleicht mit etwas Humor, wie es im vorliegenden Band nur der katholische Theologe Thomas Söding versucht. Ich möchte eine persönliche Erfahrung erzählen, die mich ein Stück weit mit der »Bibel in gerechter Sprache« versöhnt hat, trotz aller deutlichen Kritik, die ich teile. Ein guter und kluger jüdischer Freund, durchaus einem traditionsbewussten und stolzen Judentum verbunden, hatte sich mit ihr beschäftigt. Wir kamen darüber ausführlich ins Gespräch, und er sagte mir: »Darauf habe ich seit Jahren gewartet. Darauf haben wir Juden seit Jahren gewartet.« Wir sprachen über einzelne Stellen, die er mir in großer Begeisterung vorführte. Zuweilen erfüllt die Übersetzung nämlich doch genau das, was sie sollte: Türen des Gesprächs zu öffnen. Marco Frenschkowski 074910 ZNT 26 - Inhalt 22.09.10 14: 14 Uhr Seite 72