ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
0601
2011
1427
Dronsch Strecker VogelLiebe Leserin, lieber Leser, dass die christliche Theologie zu den Geisteswissenschaften zählt, ist ihr schon immer sehr recht gewesen. Zum menschlichen hat sie schließlich in ihrer eigenen Zuständigkeit noch einen anderen, überlegenen, den göttlichen Geist vorzuweisen. Welche Wissenschaft ist also eine Geisteswissenschaft, wenn nicht die Theologie? Indes kommt ihr der Geist, auf den sie sich beruft, wenn sie über den Literalsinn der Realität hinaus strebt, geradewegs entgegen in seiner Leidenschaft für die Materie. Der Logos ward Fleisch, das Geistesleben zum Leibesleben. Das vorliegende Heft der ZNT zum Thema »Religion und Körper« will zumal der Neutestamentlichen Wissenschaft einen Anstoß geben, jene inkarnatorische Gegenbewegung des Geistes auf ihrem eigenen Feld neu zu bedenken. Interdisziplinär ist das Thema - terminologisch und sachlich zwischen »Leib- Sein« und »einen Körper haben« sich bewegend - sichtlich von Interesse. In der Gegenwart werden in Philosophie und Kulturwissenschaften Körperkonzepte in großer thematischer und methodologischer Vielfalt diskutiert. Angesichts dessen kommt die Rückfrage nach der neutestamentlichen Rede vom Leib bzw. Körper nicht von Ungefähr. In seiner Doppelrolle als Korpus antiker Texte und Schriftenkanon einer Weltreligion ist das Neue Testament gefragt, ob es hierzu Eigenes und Wesentliches zu sagen hat. Christian Strecker gibt bereits im Titel seines Aufsatzes eine erste Antwort: »›It matters! ‹ - Der Körper in der jüngeren neutestamentlichen Forschung«. Nach einem kundigen survey des kulturwissenschaftlichen Umfeldes zeigt er anhand wichtiger neuerer Titel in informativer und inspirierender Weise Perspektiven für weitere Forschungen auf. Bei den drei Beiträgen »Zum Thema« überwiegt die Perspektive auf die Antike: Annette Weissenrieder macht anhand medizinischer Literatur aus klassischer und hellenistisch-römischer Zeit deutlich, dass neutestamentliche Aussagen zum physischen wie zum sozialen Leib einen spezifisch antiken Verstehenshintergrund voraussetzen, der unser modernes Verständnis der Texte nicht unwesentlich tangiert. In den Bereich des Politischen führt der altertumswissenschaftliche Beitrag von Markus Sehlmeyer zu körperlich-rituellen Aspekten römischer Reichsreligion, namentlich im Kaiserkult. Auch aus dieser Perspektive eröffnen sich wichtige Zugänge zum kulturellen Umfeld des Neuen Testaments. Einen theologischen Akzent setzt dagegen François Vouga, der einen Weg durch das schwierige Terrain paulinischer Leib-Aussagen weist und diese von theologischen und anthropologischen Grundentscheidungen des Paulus her erschließt. Mit Paulus ist auch die gehaltvolle Kontroverse zwischen Eckart Reinmuth und Matthias Klinghardt befasst. Es geht um die Streitfrage, ob Paulus die ekklesiale Gemeinschaft der korinthischen Gemeinde in den Abendmahlsaussagen in 1Kor 10f. prägnant vom Körper des gekreuzigten Christus her begründet oder unter Rückgriff auf ein antik geläufiges Ethos gemeinsamer Mähler. Unter der Rubrik »Hermeneutik und Vermittlung« fragt Andrea Bieler nach Leib-Erfahrungen kranker Menschen in Segnungsgottesdiensten. Eindringlich nimmt sie die theologische Rede von Leiblichkeit beim Wort und erinnert damit den exegetischen Begriff, der sich gar zu gern in die Abstraktion verabschiedet, an seine praktisch-theologische Sache. Der Buchreport von Jürgen Zangenberg beschließt das Heft mit der kritischen Würdigung einer Monographie, die diesen Brückenschlag aus exegetischer Perspektive unternimmt. In eigener Sache verabschieden wir an dieser Stelle Gabriele Faßbeck aus dem Kreis der Herausgeberinnen und Herausgeber der ZNT. Frau Faßbeck, Gründungsmitglied der ZNT, scheidet wegen zahlreicher anderer Verpflichtungen auf eigenen Wunsch aus; gern lassen wir sie nicht ziehen, denn ihr stetes Engagement und ihr kritisches Urteil, wofür ihr hiermit herzlich gedankt sei, werden der ZNT fehlen. Ein herzliches Willkommen sagen wir Christian Strecker, der seit diesem Heft zum erweiterten Herausgeberkreis gehört. Die ZNT und ihre Leserinnen und Leser dürfen von seiner Mitarbeit neue und wichtige Impulse erwarten. Stefan Alkier Eckart Reinmuth Manuel Vogel Editorial ZNT 27 (14. Jg. 2011) 1 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 1 Bekanntlich markiert ein entschwundener Körper den Beginn des christlichen Glaubens und der christlichen Tradition. Gemeint ist die Absenz des Körpers Jesu von Nazareth im Grab. Dieses leere Grab bewirkte keinen Abbruch des angefangenen Werks Jesu, kein Fiasko, sondern einen neuen Aufbruch, eine heilvolle Wende, insofern in ihm - und in den Ostererscheinungen - die Auferstehung verbürgt und darin das Versprechen einer messianischen Anbzw. Wiederkunft Christi gegeben war. Vor allem aber öffnete der entschwundene Körper Jesu den Raum für diverse neue, vielgestaltige »Körper«, die gewissermaßen die entstandene Leerstelle auf je eigene Weise besetzten. Zu verweisen ist auf den in Taufe und Abendmahl konstituierten sozialen »Leib« Christi, die Kirche, aber auch auf das »Korpus« jener Schriften, die später als »Neues Testament« kanonisiert wurden. Die Absenz des Körpers Jesu, der zu seinen Lebzeiten selbst die körperliche Existenz kranker und versehrter Menschen heilvoll transformierte, war mithin auf komplexe Weise äußerst produktiv. 1 In vielen Facetten war dem christlichen Glauben so von frühester Zeit an die Frage nach der Bedeutung, Repräsentation und Transformation des Körpers eingeschrieben. Der folgende Beitrag will einigen dieser Facetten, wie sie in den ntl. Schriften aufscheinen, nachgehen und einschlägige Forschungsbeiträge vorstellen. Es ist an dieser Stelle freilich nicht möglich, das Thema in seiner ganzen Breite zu erörtern. Es können lediglich einige wichtige Aspekte und Forschungsthesen dargestellt werden. Bevor dies geschieht, empfiehlt es sich, in aller Kürze auf die Neuentdeckung des Körpers in den jüngeren wissenschaftlichen Diskursen einzugehen, die maßgeblich mit dazu beitrug, dass Körperfragen heute eine deutlich größere und auch andere Rolle in der ntl. Forschung spielen, als dies noch vor Jahren der Fall war. 1. Body Turn. Die Wiederkehr des Körpers Die konkrete Verankerung menschlichen Handelns und zumal auch des Denkens im Körper war lange ein allenfalls randständig beachtetes Untersuchungsfeld der geistes- und humanwissenschaftlichen Forschung. Die im westlichen Denken tief verwurzelte dualistische Spaltung von Körper und Geist, Materialität und Immaterialität bei gleichzeitiger Höherschätzung des Geistes gegenüber Körper und Materie, ließ kaum Platz dafür. Bis heute begegnet jenes klassische Paradigma, demzufolge dem denkenden, quasi körperlosen Ich, dem reinen Bewusstsein, absolute Priorität im Verhältnis zu dem »bloß« materiellen Körper zukommt. Die Erschließung der Welt wird dabei als primär geistiger, sprachlich und rational geprägter Akt verstanden, dem gegenüber das nur schwer zugängliche, diffuse körperliche Sein als vernachlässig- oder gar ignorierbar erscheint. Die im Rahmen dieses Paradigmas rundweg postulierte Herrschaft des Geistes (oder auch der Kultur, der sozialen Welt) über den (form-, disziplinier- und regulierbaren) Körper verhinderte kategorisch die Erfassung und Untersuchung der somatischen Existenz als einer ebenso bedeutenden, wirklichkeitskonstituierenden Größe. 2 In den letzten Jahrzehnten geriet dieses den Körper marginalisierende Paradigma jedoch zusehends ins Wanken. Folgende Faktoren spielten dabei eine maßgebliche Rolle: der internationale Aufstieg der Kulturanthropologie zu einer Leitwissenschaft (»Anthropologisierung des Wissens« 3 ), durch den die dort von jeher betriebene Erforschung differenter Körperkonzepte fachübergreifend Aufmerksamkeit erfuhr, 4 die breite wissenschaftliche Rezeption der Werke von Norbert Elias, Mary Douglas, Michel Foucault und Pierre Bourdieu zum Verhältnis von Körper und Gesellschaft, 5 das wachsende Interesse an der Leibphilosophie (Maurice Merleau-Ponty; Hermann Schmitz) 6 und der Boom feministischer und postfeministischer Theorien über den geschlechtlichen Körper (Judith Butler, Barbara Duden) 7 . Zu verweisen ist ferner auf die in der naturwissenschaftlichen und medizinischen Forschung erlangten technischen Möglichkeiten der Körperregulierung (Gentechnik, plastische Chirurgie) wie auch auf das neue Körperbewusstsein bzw. den Körperkult in der alltäglichen Lebenswelt (fit- Neues Testament aktuell Christian Strecker »It matters! « Der Körper in der jüngeren neutestamentlichen Forschung 2 ZNT 27 (14. Jg. 2011) »Bis heute begegnet jenes klassische Paradigma, demzufolge dem denkenden, quasi körperlosen Ich, dem reinen Bewusstsein, absolute Priorität im Verhältnis zu dem ›bloß‹ materiellen Körper zukommt.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 2 Christian Strecker »It matters! « ness-Bewegung, body-building bzw. -styling). Vor diesem Hintergrund ist seit den 1980er Jahren und verstärkt seit den 1990er Jahren von einer »Wiederkehr des Körpers« die Rede. 8 Inzwischen geschieht dies unter den Etikettierungen body turn, somatic turn oder corporeal turn. 9 In den vielen wissenschaftlichen Disziplinen wie der Geschichtswissenschaft, der Soziologie, der Kognitionswissenschaft, der Politikwissenschaft, der Religionswissenschaft, aber auch in der Theologie nimmt die Körperforschung heute einen nicht mehr zu ignorierenden Raum ein. 10 Allerdings besteht hinsichtlich der Schlüsselfragen, was der Körper/ Leib 11 eigentlich ist und in welcher Form auf diesen wissenschaftlich zugegriffen werden kann, ein äußerst breites Spektrum an Thesen und methodischen Ansätzen. Aus soziologischer Perspektive hat Robert Gugutzer jüngst eine instruktive Systematisierung der verschiedenen Formen der Körperforschung erstellt, die hier nur verkürzt wiedergegeben werden kann. 12 Gugutzer unterscheidet drei basale Forschungsebenen. (1) Auf der ersten Ebenen geht es um den Körper als empirischen und theoretischen Forschungsgegenstand, sei es, dass man ihn als Produkt, sei es, dass man ihn als Produzent von Gesellschaft begreift. Im erstgenannten Fall lassen sich fünf analytische Dimensionen auseinanderhalten, die Gugutzer unter folgenden Schlagworten und Leitfragen subsumiert: Körperformung (Wie wirkt Gesellschaft auf den Körper ein? ), Körperdiskurs (Wie wird der Körper diskursiv hervorgebracht? ), Körperumwelt (Wie wird der Körper kommuniziert? ), Körperrepräsentation (Was symbolisiert der Körper? ) und Leiberfahrung (Wie wird der Körper gespürt? ). Im zweitgenannten Fall sind Körperpraktiken im Blick, die zur Herstellung, Stabilisierung oder Transformation sozialer Ordnung beitragen. Gugutzer verweist auf Körperroutinen (Wie handelt der Körper routinemäßig? ), Körperinszenierungen (Wie wird der Körper präsentiert? ) und Körpereigensinn (Wie handelt der Körper vorreflexiv? ). (2) Auf der zweiten Forschungsebene geht es nach Gugutzer um die Entwicklung einer grundlegenden Theorie des Sozialen, die anders als die bisher vorwiegenden mentalistisch geprägten Sozialtheorien systematisch körperorientiert ist und den Körper explizit als zentralen Bestandteil der Theorie fasst. Hier ist u.a. Thomas Csordas’ Kulturtheorie des embodiment zu nennen, wonach der Körper nicht etwa nur Objekt, sondern zugleich auch Subjekt von Kultur, Glauben und Sinnhaftigkeit ist. Leiblichen Prozessen und Erfahrungen kommt danach eine kultur-, glaubens- und sinngenerierende Kraft zu. 13 (3) Auf der dritten Forschungsebene geht es um die epistemologische Relevanz des Körpers in der Forschungspraxis selbst, also um die Untersuchung der leiblich-affektiven Reaktionen und körperlichen Verstrickungen der wissenschaftlich Arbeitenden im Forschungsprozess. Auch wenn selbstredend andere Systematisierungen und zumal auch weitere Perspektiven der Körperforschung denkbar sind, verdeutlicht Gugutzers Entwurf doch die Vielschichtigkeit des Themas. Die ntl. Forschungsbeiträge zum Thema bewegen sich meist auf der ersten Forschungsebene. Der Reichtum namentlich der sozial- und kulturwissenschaftlichen Körperforschungen wird in der exegetischen Wissenschaft bislang nur partiell ausgeschöpft. Im Folgenden werden zunächst fünf jüngere ntl. Studien beleuchtet, die sich auf innovative Weise explizit dem Thema widmen. Es schließt sich eine Sichtung wichtiger Forschungsthesen zu Einzelaspekten der Thematisierung des Körpers im Neuen Testament an. Prof. Dr. Christian Strecker studierte Evangelische eologie in Neuendettelsau, Hamburg, Heidelberg und Tübingen. 1996 Promotion. 2003 Habilitation. Vertretungsprofessuren in Heidelberg (2005-2006), München (2006/ 07), Mainz (2007) und Neuendettelsau (2004; 2009). Seit 2010 Professor für Neues Testament an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. Forschungsschwerpunkte: Paulusforschung, Jesusforschung, Kulturwissenschaftliche Exegese des Neuen Testaments, Ritual- und Performanzforschung, Philosophische Perspektiven. Christian Strecker ZNT 27 (14. Jg. 2011) 3 »Allerdings besteht hinsichtlich der Schlüsselfragen, was der Körper/ Leib eigentlich ist und in welcher Form auf diesen wissenschaftlich zugegriffen werden kann, ein äußerst breites Spektrum an esen und methodischen Ansätzen.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 3 Neues Testament aktuell 4 ZNT 27 (14. Jg. 2011) 2. Grundlegende Perspektiven Im Jahr 1995 legte Dale B. Martin unter dem Titel »The Corinthian Body« eine bemerkenswerte Studie zur Bedeutung des Körpers speziell im ersten Korintherbrief vor. 14 Er entwickelte darin die These, die in dem paulinischen Schreiben reflektierten theologischen Differenzen erklärten sich im Kern aus divergenten ideologischen Konstruktionen des Körpers innerhalb der in sozialer Hinsicht gespaltenen korinthischen Gemeinde. Während die wenigen sozial höhergestellten und gebildeten Gemeindeglieder (die sog. »Starken«) den Körper als ein hierarchisch aufgebautes Gebilde verstanden hätten, bei dem man auf die Wahrung der inneren Balance zu achten habe, seien die mehrheitlich sozial schlechter gestellten und weniger gebildeten Gemeindeglieder davon ausgegangen, der äußerlich durchlässige menschliche Körper stünde fortwährend in der Gefahr, durch externe Agenten besetzt und verunreinigt zu werden, weshalb man strikt auf die Kontrolle der Körpergrenzen bzw. -öffnungen zu sehen habe. Martin leitet die beiden Körperideologien aus medizinanthropologischen Studien von Margaret M. Lock und René Dubos ab, wonach sich grundsätzlich zwei gesellschaftlich geprägte Krankheitsätiologien unterscheiden lassen: Die Ätiologie des Ungleichgewichts (imbalance etiology) führt Krankheit auf eine innerlich oder äußerlich bedingte Störung der Balance der internen Körperprozesse zurück, versteht Heilung als Wiederherstellung des Gleichgewichts der somatischen Prozesse durch entsprechende Ausgleichsmaßnahmen und reflektiert darin das Interesse der Elite an der Wahrung der hierarchischen Verhältnisse im sozialen Körper. Sie begegnet in der Antike v.a. in der Humoralpathologie. 15 Die Invasionsätiologie (invasion etiolog y) führt Krankheit auf den Einfluss externer Mächte und Entitäten zurück, beschreibt Heilung als Reinigung bzw. Befreiung von den externen Faktoren, zielt auf die Errichtung eines äußerlichen Schutzes und spiegelt in alldem die soziale Erfahrung der Unterschicht, den Mächtigeren ausgeliefert zu sein. Sie begegnet in der Antike v.a. in Magie und Volksglauben. Obwohl Paulus nach Martin einem relativ privilegierten Milieu entstammte, habe sein eigenes Körperkonzept weithin dem der sozial Schwächeren entsprochen. Mit Nachdruck wende sich der Apostel im 1Kor gegen die sozialen und theologischen Implikationen des hierarchischen Körpermodells der Arrivierten und propagiere eine Inversion der dem besagten Körperkonzept immanenten Wertehierarchie. Diese Inversion sei der Logik der jüdischen Apokalyptik und der Loyalität zum gekreuzigten Messias Jesus Christus verpflichtet. Den die ungleichen Verhältnisse konservierenden wohlwollenden Patriarchalismus der antiken Oberschichtsmentalität durchkreuzend, fordere Paulus die sozial Höhergestellten im 1Kor dazu auf, ihr aus der hierarchischen Körperideologie gespeistes Verhalten im Sinne einer die traditionellen Statuspositionen umwälzenden Orientierung an der Situation der Niedriggestellten grundlegend zu ändern. Martin entfaltet diese These auf der Basis einer breiten Berücksichtigung antiker griechisch-römischer und jüdischer Körperdiskurse in Philosophie, Medizin, Naturkunde und Volksglauben. Dabei betont er immer wieder mit Nachdruck, diesen Diskursen sei - ungeachtet aller Unterschiede im Einzelnen - jener moderne, auf René Descartes zurückgehende Dualismus von Körper und Seele/ Geist fremd gewesen, der konsequent zwischen Materialität und Immaterialität (res extensa und res cogitans) unterscheidet. Entitäten wie die Seele (gr. psychē) und der Geist (gr. pneuma), die wir heute als immaterielle Größen fassen, seien damals als rundweg materielle Substanzen betrachtet worden. Den Mikrokosmos des individuellen Körpers habe man zumal auch in materieller Hinsicht ganz in den physischen und sozialen Makrokosmos eingelassen gesehen. Man sei davon ausgegangen, der Körper werde von einem stofflichen, Perzeption, Bewegung und Leben bewirkenden pneuma von außen durchströmt und sei überdies von der Gesellschaft mittels somatischer Praktiken physisch formbar. Vor diesem Hintergrund untersucht Martin dann die paulinischen Ausführungen über Zungenrede, den Auferstehungskörper, über diverse sexuelle Praktiken, den Umgang mit Götzenopferfleisch, das Herrenmahl, das Verhältnis der Geschlechter u.a.m. Die Auslegungen eröffnen dabei stets neue und weiterführende Horizonte, auch dort, wo man ihnen im Detail nicht folgen mag. 2010 erschien die Studie »Cosmology and Self in the Apostle Paul« von Troels Engberg-Pedersen. 16 Sie ist Dale B. Martin gewidmet. Engberg-Pedersen führt darin die These, die paulinische Theologie sei maßgeblich an materiell-körperlichen Prozessen ausgerichtet, mit eigenen Schwerpunktsetzungen fort und weitet sie auf die Protopaulinen insgesamt aus, allerdings unter Abweisung der als marxistisch klassifizierten Behauptung Martins, Paulus sei gegenüber den höhergestellten Gemeindegliedern als Fürsprecher der Nichtelite aufgetreten. 17 Das Buch weist ein dreifaches Profil auf: 18 (1) Die paulinischen Aussagen werden gezielt aus einer doppelten Perspektive heraus betrachtet, indem sie einerseits auf ihre metaphorische Bedeutung bzw. kogni- 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 4 Christian Strecker »It matters! « ZNT 27 (14. Jg. 2011) 5 tive Relevanz, andererseits auf einen möglichen nichtmetaphorischen, physische Phänomene bezeichnenden Gehalt hin untersucht werden. (2) Engberg-Pedersen versteht seine Exegese als »philosophische Exegese«, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen korreliert er die den Paulusbriefen eingeschriebene Weltsicht konsequent mit zeitgenössischen philosophischen Ideen, v.a. solchen der Stoa. 19 Zum anderen zieht er jüngere philosophische Konzepte von Pierre Bourdieu und Michel Foucault zur Deutung der Paulustexte heran. (3) Der Fokus des Buches richtet sich auf die Herausarbeitung der nach Engberg-Pedersen den Paulustexten immanenten Vorstellung einer spezifischen Form von Körperlichkeit christlicher Existenz, die in der physischen Aufnahme des als materielle Substanz verstandenen Geistes gründet und sich von der normalen fleischlichen Existenz fundamental unterscheidet. Mit diesem Ansatz arbeitet er zunächst anhand von 1Kor 15 die paulinische Konzeption einer bei der kommenden Auferstehung sich vollziehenden materiell-pneumatischen Transformation des menschlichen Körpers und der Welt heraus (s.u.). Engberg-Pedersen stellt sodann heraus, dass Paulus die Gabe des Geistes in der Taufe als physischen Akt verstanden habe, der bereits im Hier und Jetzt jene Transformation der Körper der Christusgläubigen in Gang setze, die - zwischenzeitlich durch weitere Geistgaben angereichert - in der Auferstehung ihren Abschluss finde. Die Pneumagabe verbinde die Körper der Getauften mit Gott - insofern es ja das pneuma Gottes ist, das verliehen werde -, ebenso aber auch mit dem gestorbenen und auferstandenen Christus (Phil 3,10f.; 2Kor 4,7-5,10; Röm 6,2-6; 8,10.14-30), dessen leuchtender Körper der doxa (Phil 3,21; 2Kor 4,4.6) gleichfalls substanziell pneumatisch sei. Die paulinische Rede vom »Sein in Christus« und vom »Leib Christi« dürfe man daher nicht auf eine rein metaphorische Bedeutung reduzieren, vielmehr wohne Christus für Paulus den Christusgläubigen qua pneuma tatsächlich ein. Diese konstituierten dergestalt faktisch den Leib Christi. Engberg- Pedersen spricht diesbezüglich von der Etablierung eines eigenen christlichen Habitus, der den am Monotheismus ausgerichteten traditionellen jüdischen Habitus und den an der Idee ethischer Vollkommenheit orientierten philosophischen Habitus der Griechen und Römer integrierte. In der Entfaltung dieser Zusammenhänge rekurriert er auf Pierre Bourdieus Habitustheorem und Michel Foucaults Überlegungen zur Subjektivierung und betont dabei, Paulus habe seine Berufung/ Bekehrung zumal auch als eine durch das pneuma bewirkte körperliche Transformation erfahren, was zumal der Gebrauch somatisch konnotierter Sprache in den einschlägigen Berichten indiziere. Der Apostel sei außerdem davon ausgegangen, er selbst könne das Pneuma vermittels verbaler Übermittlung seiner Erfahrungen, ferner über seine schwache körperliche Erscheinung, in der sich das Leiden des Gekreuzigten manifestiere, wie auch vermöge der Paränese direkt an Menschen weitervermitteln. Paulus hätte mithin vorausgesetzt, dass sein Mund bzw. Körper bei der Erstverkündigung (also noch vor der Taufe) als Transmissionsriemen für das pneuma fungierte. Das Gleiche gelte für die körperliche Praxis des Briefschreibens. Engberg-Pedersen verkürzt die paulinische Theologie nun aber nicht rundweg auf die körperlich-physische Dimension. Er legt immer wieder dar, wie Paulus in seinen Schreiben neben dem physischen Diskurs einen kognitiv und einen personal geprägten Diskurs führte. So erscheine der Geist in den Protopaulinen eben nicht nur als physische Entität, sondern auch als Verständnis generierende Größe. Überhaupt sei der kognitive Diskurs für den Apostel zentral, insofern es ihm wesentlich darauf ankomme, dass man die Welt in der vom pneuma offenbarten Weise verstehe. Dieses Verstehen gewähre den Christusgläubigen eine in Übereinstimmung mit Gott stehende Freiheit in einer Welt, die von personal gedachten Mächten und Kräften beherrscht werde (personaler Diskurs). Paulus integriere in alledem philosophische und apokalyptische Weltanschauungen. Engberg-Pedersens vielfach anregend neue Textauslegungen verdienen eine intensive, freilich auch kritische Auseinandersetzung. Nicht unerwähnt darf Holger Tiedemanns 1998 publizierte Dissertation »Die Erfahrung des Fleisches« bleiben. 20 Sie widmet sich dem begehrenden Körper in den Protopaulinen. Bezüglich der Kontroverse, ob Sexualität essentialistisch oder konstruktivistisch zu fassen sei, plädiert der Autor zunächst für einen gemäßigten Konstruktivismus und bestimmt Sexualität als streng organisierten Erfahrungsbereich körperlicher Begehrensformen. 21 Tiedemann baut seine Arbeit konsequent auf der Genealogie der Sexualität im Spätwerk Michel Foucaults auf. Foucault entwickelte darin eine differenzierte Methodik zur Analyse (sexual-)ethischer Konzeptionen. Er unterschied zwischen den »Codes«, die den positiven oder negativen Wert von Verhaltensweisen bestimmen, und der »Ethik«, die bei ihm das Selbstverhältnis eines moralischen Subjekts markiert und vier Aspekte umfasst: die ethische Substanz (das Material, das die Ethik bearbeitet, z.B. aphrodisia, Fleisch), die Weisen der Unterwerfung (die Begründungsverfahren für bestimmte Imperative, z.B. kosmi- 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 5 Neues Testament aktuell 6 ZNT 27 (14. Jg. 2011) sche Ordnung, göttliches Gesetz, Vernunft), die Mittel zur Ausbildung moralischer Subjekte (bestimmte Übungen) und das Telos (z.B. Reinheit, Unsterblichkeit). 22 Nach einer kritischen Sichtung Foucaults eigener Äußerungen zur frühchristlichen Sexualethik und einem gelehrten Überblick über die christliche Erforschung des paulinischen Sexualitätsverständnisses seit dem 19. Jh. wendet Tiedemann das Foucaultsche Analyseraster detailliert auf die einschlägigen Paulustexte an, und zwar unter breiter Berücksichtigung griechisch-römischer und jüdischer sexualethischer Vorstellungen. Mit Blick auf die Codes gelangt er zu dem Ergebnis, Paulus unterscheide sich in seinem Sexualitätsverständnis kaum von dem seiner Zeitgenossen. 23 Als ethische Substanz macht Tiedemann bei Paulus das als Verhängnis bestimmte Fleisch aus, das nicht zu formen, sondern in Christus zu überwinden sei. Mit Blick auf die Weisen der Unterwerfung stehe die paulinische Sexualethik in drei nicht ohne Weiteres aufeinander reduzierbaren Evidenzräumen (Christus, Gesetz, Natur und Brauch). Bemerkenswert sei das völlige Fehlen von Übungen bzw. Selbsttechniken. Als Telos der Ethik begegne bei Paulus das auf der Basis der Vorstellung einer grundsätzlich durchlässigen Leibsubstanz physisch in Christus eingebettete Selbst (»Christus in mir«, »in Christus« und »Leib Christi«). An ausgewählten Beispielen arbeitet Jennifer A. Glancy in ihrer 2010 publizierten Studie »Corporal Knowledge« 24 die zentrale Rolle von Körpern in der sozialen Dynamik und im Diskurs des frühen Christentums heraus. Die Epoche des frühen Christentums reicht für sie von Paulus bis Augustinus. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet die Notiz über die blutflüssige Frau in Mk 5,29: »Und sie erkannte am Körper, dass sie von der Plage geheilt war.« Angeregt durch diesen Satz, widmet sich Glancy den vielfältigen Formen des frühchristlichen »Körperwissens«. Im Genaueren untersucht sie, wie Körper im frühen Christentum gelesen wurden bzw. welche Geschichten sie erzählten, aber auch, welche konkreten Körpererfahrungen in die antiken Quellentexte Eingang fanden. Die Arbeit folgt mithin einem semiotischen und einem phänomenologischen Körperkonzept. Sie setzt ferner voraus, dass Körper den sozialen Austausch strukturieren. Im körperlichen Benehmen, in Körperhaltungen, Gesten und bestimmten Bewegungen drückten sich Macht- und Statuspositionen aus. Die soziale Verortung einer Person manifestiere sich gewissermaßen somatisch. Vor diesem Hintergrund forscht Glancy konkret der Frage nach, was der sich zu Boden werfende, der geschlagene und gekreuzigte Körper, der versklavte, aber auch der gebärende Körper in den antiken christlichen Quelltexten »erzählt« bzw. »weiß«. Dabei interessiert sie sich auch für die Frage, inwieweit das christliche Körperwissen dem römischen imperialen Habitus ent- oder widersprach. Sie kommt zu folgendem Ergebnis: Während auf der einen Seite die körperliche Selbsterniedrigung Jesu in der Fußwaschung und der Umstand, dass Paulus sich unter Rekurs auf den Gekreuzigten seines gepeinigten Körpers rühmte, eine Herausforderung für den römischen imperialen Habitus darstellten, habe sich auf der anderen Seite im antiken Christentum der hierarchisch geprägte Habitus des römischen Sklavenhaltersystems weithin durchgehalten. Den breitesten Raum nimmt in Glancys Untersuchung der sich an der konkreten somatischen Erfahrung festmachende altkirchliche Diskurs über den gebärenden Körper der Maria ein. Als theoretische Grundlage dienen der Autorin durchweg sozialwissenschaftliche wie auch philosophische Reflexionen und Theorien über den Körper, u.a. von Pierre Bourdieu, Maurice Merleau-Ponty und Linda Martin Alcoff. Andere Akzente setzt Joel B. Green in seinem 2008 erschienenen Buch »Body, Soul, and Human Life. The Nature of Humanity in the Bible«. 25 Green bemüht sich um eine Zusammenführung von biblischer Exegese und Neurowissenschaft. Er will aufzeigen, dass beide Forschungsbereiche in zentralen anthropologischen Fragestellungen auf unterschiedlichen Wegen zu übereinstimmenden Ergebnissen gelangen. Im Genaueren liegt ihm an dem Aufweis, dass das heute verbreitete dualistische Menschenbild, dem zufolge der Mensch aus Körper und Seele (bzw. Körper, Geist und Seele) besteht, nicht biblisch, sondern cartesianisch geprägt sei und in die biblischen Texte eingelesen werde. In den biblischen Schriften erscheine der Mensch als somatische Ganzheit im monistischen Sinn. Das Konzept einer unkörperlichen, immateriellen Seele sei ihnen fremd. Darin konvergierten die Texte mit dem materialistischen Menschenbild der Neurowissenschaft. Die Naturwissenschaft stelle insofern keine fundamentale Herausforderung für den biblischen Glauben dar. Green sucht dies in der Besprechung diverser anthropologischer Schlüsselthemen genauer aufzuweisen. So stellt er heraus, dass die auf die Aspekte der Materialität und Relationalität abhebende neurowissenschaftliche Relativierung der Mensch-Tier-Differenz mit den alttestamentlichen Schöpfungsberichten und deren ntl. Rezeption übereinstimme, wenngleich das biblische das neurowissenschaftliche Menschenbild durchaus übersteige, nämlich hinsichtlich der Einbettung des Menschen in die Schöpfungsordnung und 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 6 Christian Strecker »It matters! « ZNT 27 (14. Jg. 2011) 7 den Kosmos wie auch in der Betonung der partnerschaftlichen Beziehung mit Gott. Auf dieser Linie arbeitet Green weitere vermeintliche Konvergenzen heraus, und zwar zwischen der neurowissenschaftlichen Relativierung der menschlichen Willensfreiheit und dem ntl. Sündenverständnis, der Neurophysiologie spiritueller Erfahrungen und der »idea of embodied conversion« im lukanischen Doppelwerk wie auch zwischen dem neurowissenschaftlichen Körper- und Identitätsverständnis und diversen ntl. Auferstehungsaussagen. Green stellt dabei immer wieder spezifisch theologische, die Konvergenz der beiden Forschungsbereiche transzendierende Perspektiven heraus, die als solche aber - und das ist für Green entscheidend - keine fundamentale Divergenz anzeigten. Dieser Versuch eines Brückenbaus zwischen den »zwei Kulturen« der Natur- und Geisteswissenschaften 26 auf dem Feld der ntl. Exegese ist ungewöhnlich. 27 Ungeachtet konkreter exegetischer Anfragen wirft Greens unkritische Akzeptanz des neurowissenschaftlichen Menschenbildes als unhintergehbare Wahrheit Fragen auf. 28 3. Einzelaspekte »Warum das ganze Theater mit dem Körper? « - so lautet der Titel eines vielbeachteten Aufsatzes der amerikanischen Mediävistin Caroline Bynum. 29 Darin heißt es: »In gewissem Sinn ist es natürlich falsch, ›den Körper‹ zum Thema zu machen. ›Der Körper‹ ist entweder überhaupt kein eigenes Thema, oder er umfasst so gut wie alle Themen.« 30 In der Tat lassen sich auch im Neuen Testament allenthalben Bezüge zum Körper und zu somatischen Phänomenen herstellen, insofern menschliche Existenz somatische Existenz ist. Im Folgenden kann es daher nur darum gehen, einige besonders markante Thematisierungen und Akzentuierungen menschlicher Körperlichkeit in den ntl. Schriften zu sichten und eine Auswahl der entsprechenden Forschungen vorzustellen, was angesichts des knapp bemessenen Raums freilich nur schlaglichtartig geschehen kann. a) Der inkarnierte Körper. Die Bedeutung und Verbreitung des Inkarnationsgedankens in den ntl. Schriften ist ein äußerst komplexes und umstrittenes Thema. In seinem magistralen Werk »Christology in the Making« postulierte James D.G. Dunn, die Präexistenz- und Inkarnationschristologie habe sich innerhalb des Christentums erst Ende des 1. Jh.s im johanneischen Schrifttum im Vollsinn ausgebildet, und zwar auf der Basis einer eigenständigen Integration der Weisheitstradition, des Logoskonzeptes und des Eindrucks, den das Gottessohnbewusstsein Jesu von Nazareth hinterlassen habe. Sie sei insofern einzigartig, als sich in den antiken Quellen kein konkretes Vorläufermodell für eine derart personal geprägte Inkarnationsvorstellung finde. 31 Viele Exegeten setzen indes andere Akzente. Dies zeigt u.a. der 2002 erschienene Symposiumsband »The Incarnation«. Darin führt N.T. Wright den Inkarnationsgedanken gar bis auf Jesus zurück, und zwar auf dessen vermeintliches Selbstverständnis als menschlicher Ersatz des Jerusalemer Tempels, des Ortes der Präsenz Gottes. Gordon D. Fee und Jean- Noël Aletti sehen die Inkarnationsvorstellung theologisch zumindest bei Paulus klar verankert, und Alan F. Segal weist auf jüdische Aussagen über himmlische Mittlerfiguren hin, die zumindest partiell als Vorläufer des Inkarnationsgedankens zu betrachten seien. 32 In seinem 2006 erschienenen Buch »The Pre-existent Son« arbeitet Simon J. Gathercole heraus, der Präexistenzgedanke sei in den synoptischen Evangelien fest verwurzelt, v.a. in den »Ich bin gekommen«-Worten. 33 Alle diese Thesen sind freilich höchst umstritten. Kontrovers diskutiert wird aber auch über die Bedeutung des Inkarnationsgedankens und die Rolle der Leiblichkeit im JohEv. In der langen Auslegungsgeschichte wurde das Evangelium immer wieder unter Ausblendung der leiblichen Dimension des Erzählten rein spiritualisierend gedeutet. 34 Namentlich Ernst Käsemann ordnete den Inkarnationsgedanken ganz dem der Herrlichkeit Gottes in Christus unter. Nicht die Fleischwerdung, sondern der Ab- und Aufstieg des herrlichen Erlösers stünden im Zentrum. 35 Demgegenüber stellt jüngst Jörg Frey die zahlreichen markanten Akzentuierungen der Leiblichkeit im JohEv explizit heraus und weist ihnen eine theologisch tragende Rolle zu. 36 Auch Dorothy Lee bestimmt das Fleisch als zentrales Symbol des Evangeliums. Im Fleisch gründe zumal die Herrlichkeit Gottes: »Because God has taken flesh, sharing mortal life and destiny, the whole world becomes replete with divine glory.« 37 Dazu fügt sich für Lee die auffällige Betonung der fünf Sinne (Sehen, Hören, Schmecken, Berühren, Riechen) im Evangelium. 38 b) Der Körper als Sōma und Sarx. Nur kurz angerissen sei die Debatte über die Bedeutung der paulini- »In der Tat lassen sich auch im Neuen Testament allenthalben Bezüge zum Körper und zu somatischen Phänomenen herstellen, insofern menschliche Existenz somatische Existenz ist.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 7 Neues Testament aktuell 8 ZNT 27 (14. Jg. 2011) schen anthropologischen Schlüsselbegriffe sōma und sarx. Rudolf Bultmann postulierte dereinst, sōma markiere bei Paulus die Person, d.h. den Menschen, »sofern er sich zum Objekt seines Tuns machen kann oder sich selbst als Subjekt eines Geschehens, eines Erleidens erfährt« 39 , während sarx die leiblich materielle Sphäre des Irdisch-Natürlichen bezeichne, die zur Sphäre des Sündigen, zum uneigentlichen Leben werde, sobald sich der Mensch von ihr abhängig mache. Ernst Käsemann kritisierte namentlich Bultmanns auf das Selbstverhältnis fokussierte Definition von sōma als eine der idealistischen Tradition verpflichtete Verkürzung und betonte die Aspekte der kosmischen Eingebundenheit und Kommunikationsfähigkeit. Nicht als Inidividuum, sondern als in vielfältigen Relationen (zu Gott und den Mächten) stehendes Wesen sei der Mensch bei Paulus sōma. Sofern er sich dem kreatürlichen Dasein der sarx verschreibe, gerate er in den Bereich der Dämonie. 40 Robert H. Gundry betonte indes den bei Bultmann unterbelichteten Aspekt der Körperlichkeit. Sōma verweise bei Paulus zumal auf den physischen Körper als der materiellen Bedingung der Person. 41 Claudia Janssen bindet die paulinische Körpertheologie jüngst in den gesellschaftlichen, politischen und sozialen Kontext ein, und zwar sowohl mit Blick auf Gewaltwie auch Solidaritätserfahrungen. Sōma stehe für den Menschen in seiner Beziehungshaftigkeit, die sich konkret körperlich realisiere. Sarx verweise zum einen auf die Relationalität des Geschöpfes zu Gott und auf den für die Schönheit der Schöpfung durchlässigen materiellen Aspekt des Körpers, zum anderen markiere sarx aber auch den Ort sozialer Gewalterfahrung und die verletzlichen Aspekte des Menschseins. 42 Lorenzo Scornaienchi postuliert, mit sōma bezeichne Paulus den Menschen als inaktives, fremdbestimmtes Wesen (entsprechend der damaligen Bedeutung von sōma als »Leichnam« oder »Sklave, Gefangener«), während bei sarx der Mensch als aktives, beseeltes und lebendiges Wesen im Blick sei. 43 Die genannten Positionen geben nur einen Ausschnitt der intensiv geführten Debatte wieder, zeigen aber zur Genüge das große Spektrum der vorgelegten Deutungen. 44 c) Der symbolische und der physiognomische Körper. In den antiken Kulturen des Mittelmeerraums bildeten die Kategorien Ehre und Schande den zentralen Referenzrahmen, innerhalb dessen Personen, Handlungen und Situationen beurteilt wurden. 45 Der Körper fungierte als maßgebliches Medium, in bzw. an dem Ehre und Schande symbolisiert und zugleich realisiert wurden (vgl. 1Kor 12,23f.). Ehre und Schande waren mithin in den Körper eingeschrieben und wurden somatisch ausagiert. Maßgebliche Bedeutung kam dem Kopf und dem Gesicht zu. Bruce J. Malina schreibt: »Ehre und Unehre werden dargestellt, wenn das Haupt gekrönt wird, gesalbt, berührt, bedeckt, enthüllt, durch Rasieren kahl gemacht wird, wenn es abgeschlagen, geschlagen oder gestoßen wird.« 46 Die höhnische Krönung Jesu mit einer Dornenkrone (Mk 15,16-20) spricht diesbezüglich eine deutliche Sprache. Die somatische Artikulation von Ehre und Schande manifestierte sich aber auch in zahlreichen Gesten und Handlungen wie der Proskynese oder der Fußwaschung. In der oben vorgestellten Studie »Corporal Knowledge« geht Jennifer A. Glancy der Bedeutung und den sozialen Implikationen dieser kulturell geprägten Körperpraktiken im Neuen Testament genauer nach. 47 Bruce J. Malina und Jerome H. Neyrey erörtern die somatischen Symbolisierungen und Manifestationen von Ehre und Schande speziell im lukanischen Doppelwerk. 48 Nicht unerwähnt darf die Physiognomik bleiben. In der antiken Welt betrachtete man den Körper vielfach als Abbild des Charakters. In der äußeren Erscheinung einer Person spiegelten sich danach deren innere, charakterliche Eigenschaften. Vor diesem Hintergrund leuchtet Mikeal C. Parsons in seinem 2006 erschienenen Buch »Body and Character in Luke and Acts« einige Texte im lukanischen Doppelwerk neu aus. 49 Er legt zunächst dar, dass die Physiognomik in der griechischrömischen Welt - ungeachtet kritischer Stimmen - von früher Zeit an verbreitet war (zumal in der Rhetorik) und ab dem 3. Jh. n.Chr. in Handbüchern systematisiert wurde. Unter Rekurs auf Ps.-Aristoteles stellt Parsons drei Formen der antiken physiognomischen Analyse vor: die anatomische Methode (Ableitung von Emotionen v.a. aus Gesichtszügen), die zoologische Methode (Ableitung des moralischen Charakters aus vermeintlichen Gestaltähnlichkeiten mit Tieren) und die ethnische Methode (Konstruktion eines Konnexes zwischen dem kollektiven Verhalten von Völkern und deren physischen Charakteristika). Physiognomisches Bewusstsein spürt Parsons aber auch in jüdischen und christlichen Quellen auf, was ihn dazu führt, ein sol- »Der Körper fungierte als maßgebliches Medium, in bzw. an dem Ehre und Schande symbolisiert und zugleich realisiert wurden (vgl. 1Kor 12,23f.). Ehre und Schande waren mithin in den Körper eingeschrieben und wurden somatisch ausagiert.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 8 Christian Strecker »It matters! « ZNT 27 (14. Jg. 2011) 9 ches Bewusstsein bei Lukas und seinen Rezipienten vorauszusetzen. Dementsprechend korreliert er die lukanischen Tier-Mensch-Vergleiche (z.B. Lk 13,32) mit der zoologischen und die Aussagen über Augen (z.B. Lk 11,24-26) mit der anatomischen Methodik der Physiognomik. Ausführlich erörtert er sodann die nach den Maßstäben der Physiognomik einen schlechten Charakter indizierenden Körperportraits der gekrümmten Frau (Lk 13,10-17), des kleinwüchsigen Zachäus (Lk 19,1-10), des gelähmten Mannes in Jerusalem (Apg 3f.) und des äthiopischen Eunuchen (Apg 8,26-40), um zu folgender These zu gelangen: Lukas habe die physiognomischen Vorstellungen seiner Zeit herangezogen, um sie zu unterlaufen bzw. zu verwerfen. Die messianische Gemeinschaft schließe gerade auch jene Menschen ein, die in den Augen der damaligen Kultur im physiognomischen Sinn keine untadeligen Körper besaßen. Es bleibt freilich die Frage, ob die Physiognomik derart konkret als Referenzrahmen hinter den Texten steht. d) Der geschlechtliche, begehrende Körper. Nicht speziell auf das Neue Testament aber auf die historische Genese differenter Konzepte des biologischen Geschlechts geht Thomas Laqueur 1990 in seinem Buch »Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud« ein. 50 Der Autor formuliert die These, im europäischen Abendland sei bis in das frühe 18. Jh. hinein und zumal in der Antike ein »Ein-Geschlecht/ Ein-Leib- Modell« vorherrschend gewesen, bei dem der männliche und weibliche Geschlechtskörper als im Kern identisch galten. Die anatomischen Unterschiede habe man sich so erklärt, dass die Genitalien bei der Frau nach innen und beim Mann nach außen gestülpt seien. Die anatomische Differenz sei mithin als differente Ausbildung eines Geschlechts betrachtet worden, wobei allerdings - und dies ist entscheidend - dem männlichen Körper die Rolle des Standards zufiel. Männlichkeit und Weiblichkeit seien gewissermaßen auf einer Achse angeordnet worden, deren Telos das Männliche war. Erst mit der Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft im späten 18. Jh. habe sich dann aufgrund diverser epistemologischer und soziopolitischer Umbrüche die heutige Auffassung von zwei inkommensurablen biologischen Geschlechtern, das sog. »Zwei-Geschlechter/ Zwei-Leiber-Modell« entwickelt. Diese umfassende medizinisch-kulturhistorische Theorie fand viel Aufmerksamkeit, wenngleich sie nicht ohne Kritik blieb. 51 Laqueurs Verdienst bleibt es, klar gezeigt zu haben, wie sehr die Wahrnehmung auch des biologischen Geschlechts von historisch-kulturellen Faktoren abhängig und in Machtdiskurse eingebettet ist. In der ntl. Exegese rekurrierte u.a. Dale B. Martin auf Laqueurs These des »one-sex model«, namentlich um die egalitäre Deutung der in Gal 3,28c formulierten Annullierung der Differenz von »männlich« und »weiblich« zu verwerfen. Martin zufolge ist bei der auf die Schöpfungsaussage in Gen 1,27LXX anspielenden Bekundung Androgynität im Blick. Diese impliziere jedoch keine geschlechtliche Egalität, sondern eine hierarchische, auf den männlichen Pol hin ausgerichtete Auflösung der Geschlechter, wie die grammatisch maskuline Formulierung mit heis statt hen (neutr.) im unmittelbaren Folgesatz zeige: »Alle seid ihr ›einer‹ in Christus Jesus« 52 . Überhaupt weiche Paulus bei Geschlechterfragen grundsätzlich von der sonst bei ihm begegnenden Demontage der konventionellen Status- und Wertehierarchien ab. Dies geschehe aus physiologischen Gründen. Bis zur Auferstehung, bei der die weibliche Körperlichkeit endgültig in der superioren, substanziell dichteren Männlichkeit aufgehoben werde, blieben Frauen infolge ihrer unveränderbar minderwertigen, für äußere Mächte durchlässigeren Körperlichkeit den Männern zwangsläufig unterlegen und bedürften des Schutzes vor Mächten, womit Martin u.a. das paulinische Verschleierungsgebot in 1Kor 11,2-16 erklärt. 53 Nun stehen die vertrackten Aussagen in Gal 3,28c und 1Kor 11,2-16 freilich auch gänzlich anderen Auslegungen offen. So mag man fragen, ob sie tatsächlich ein patriarchales Androgynitätskonzept voraussetzen. Die Texte lassen sich auch dahingehend verstehen, dass Paulus die in der Taufe gründende Existenz prinzipiell durch Asexualität bestimmt sah. Als mehr oder weniger asexuelle Wesen wären Frauen dann für Paulus in der christusgläubigen Gemeinschaft durchaus gleichgestellt gewesen. Sobald sie aber z.B. mit dem Lösen ihrer Haare im Gottesdienst sexuell deutbare Handlungen vollzogen, griffen für den Apostel die in der antiken mediterranen Ehrkultur für das angemessene Verhalten der Geschlechter vorgesehenen hierarchischen Handlungskonventionen. 54 Die Interpretationen dieser und anderer paulinischer Texte zu Geschlechterfragen sind freilich Legion. Aus der großen Fülle der Forschungen über sex und gender im Neuen Testament seien noch folgende Publikationen 55 kurz herausgegriffen: Bahnbrechende Bedeutung kommt der durch Michel Foucault und Pierre Hadot inspirierten umfänglichen Untersuchung »The Body and Society. Men, Women, and Sexual Renunciation in Early Christianity« 56 von Peter Brown aus dem Jahr 1988 zu. Sie widmet sich der gesellschaftlichen Prägung und Relevanz des Körperverständnisses sowie der Praxis sexueller Askese im Christentum in 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 9 Neues Testament aktuell 10 ZNT 27 (14. Jg. 2011) den ersten fünf Jahrhunderten. In den Eingangskapiteln geht Brown auch auf Körpervorstellungen und Sexualethik in der griechisch-römischen Antike generell und dann bei den ersten Christen ein. 57 L. William Countrymans ein Jahr später erschienenes Buch »Dirt, Greed and Sex« 58 beleuchtet die sexualethischen Aussagen im Neuen Testament konsequent vor dem Hintergrund der antiken jüdischen Diskurse über physische Reinheit und Besitztum. Wichtige Beiträge zur ntl. Sexualethik, v.a. zum Thema gleichgeschlechtlicher Beziehungen, versammelt Dale B. Martin in seinem Band »Sex and the Single Saviour«. 59 Colleen M. Conways Buch »Behold the man« stellt heraus, die Christologien in den Proto- und Deuteropaulinen, den Evangelien und der Offenbarung seien - ungeachtet romkritischer Perspektiven - durch ein imperiales römisches Männlichkeitsbild geprägt. 60 e) Der kranke, versehrte, besessene und geheilte Körper spielt in den sog. Wundergeschichten eine zentrale Rolle. Die breite Forschung zu diesem Thema kann auch hier nur gestreift werden. Dale B. Martins These, die ntl. Heilungsberichte setzten überwiegend (nicht jedoch im JohEv) die in der Antike angeblich unter den weniger Gebildeten verbreitete Invasionsätiologie voraus, 61 ist zu pauschal. So zeigt Annette Weissenrieder in ihrer 2003 erschienenen Dissertation »Images of Illness in the Gospel of Luke« auf, dass sich in den lukanischen Heilungsberichten jenes in der antiken Medizin verbreitete (und von Martin der Oberschicht zugeordnete) Modell des Körpers reflektiert, das den Leib als ein zwar äußeren Einflüssen unterliegendes, aber insgesamt auf Ausgleich hin angelegtes Binnensystem fasst. 62 Darüber hinaus weist die Autorin u.a. auch auf die geschlechtsspezifische Konstruktion des kranken Körpers hin. Diese werde in den nach antiker Medizin vergleichbaren Erkrankungen der Jaïrustochter (Lk 8,40-42.49-56) und des Jungen in Lk 9,37-43 insofern greifbar, als die Krankheitssymptomatik des Mädchens nicht von ungefähr als Erstarrung und die des Jungen als expressiver Anfall erscheine. 63 Geschlechtsspezifische Differenzen bei den Krankheitsbildern konstatiert auch John J. Pilch in seiner 2000 publizierten Arbeit »Healing in the New Testament« mit Blick auf das lk Doppelwerk. Pilch unterscheidet hier drei Krankheitstaxonomien, nämlich (1) eine auf den Einfluss von Geistern fokussierte, (2) eine an Reinheitskategorien orientierte und (3) eine sich an der symbolischen Bedeutung von Körperteilen festmachende Taxonomie, die zwischen drei Körperzonen differenziert, nämlich (a) dem Herz-Auge-Bereich, der das mit Gefühlen durchsetzte Denken, (b) dem Ohr- Mund-Bereich, der die selbstexpressive Sprache und (c) dem Hand-Fuß-Bereich, der das absichtvolle Handeln markiere. Je nach betroffener Körperzone verändere sich die Bedeutung und Relevanz der Krankheit, wobei Pilch bei den beiden Geschlechtern unterschiedliche Häufungen und Verschiebungen vom Evangelium zur Apostelgeschichte feststellt. 64 Pilchs Studie ist zumal in ihrer kundigen Applikation medizinanthropologischer Theorien und Modelle auf die Evangelien äußerst innovativ. Sie arbeitet u.a. mit einem hermeneutischen Krankheitskonzept, das Krankheit nicht biomedizinisch als empirische Entität, sondern von ihrem Bedeutungsaspekt her als kulturell codiertes Konstrukt fasst. So gelte es zwischen disease, den biologischen Fehlfunktionen eines Individuums, und illness, den sozialen und kulturellen Implikationen des Krankseins, zu differenzieren sowie analog dazu zwischen curing, der körperlichen Wiederherstellung in biomedizinischer Hinsicht, und healing, einem auf Sinnvermittlung und soziale Integration abzielenden therapeutischen Wirken. Pilch zufolge geht es in den ntl. Berichten nicht um disease, sondern um illness. Ob Jesus Kranke kurierte (curing), lasse sich nicht sagen, zentral sei sein heilendes Wirken (healing). John Dominic Crossan spitzt die These politisch zu. Dass Jesus heilte, indem er sich bewusst über die mit Krankheit verbundene rituelle Unreinheit und soziale Ächtung hinwegsetzte, ohne jedoch die Krankheit physisch zu kurieren, bedeute, dass »Jesus an den Grenzen der Gesellschaft subversiv gegen die dort geltenden Kontrollverfahren Stellung [nahm]« 65 . Der letztgenannte Satz spielt auf Mary Douglas’ These über den Körper als Symbol der Gesellschaft an, der zufolge sich im restriktiven oder offenen Umgang mit den Grenzen des physischen Körpers (Haut, Körperöffnungen, Körperausscheidungen) der hohe oder niedrige Grad der sozialen Grenzziehung manifestiert. Eine hohe Körpergrenzkontrolle steht danach für das Vorherrschen sozialer Exklusivität sowie strikter Statusklassifizierungen, eine niedrige Körpergrenzkontrolle für soziale Intimität und die Relativierung von Statusklassifizierungen. In Jesu heilsamer Annahme der äußerlich gezeichneten Kranken erblickt Crossan von daher einen subversiven Angriff auf die etablierte Welt gesellschaftlicher Exklusivität. Diese Thematik gewinnt angesichts der in der biblischen Exegese erst allmählich rezipierten disability studies, die Behinderung nicht länger als individuelle, krankhafte Störung, sondern als gesellschaftliche Konstruktion fassen, zusätzlich an Gewicht. 66 Der Perspektivwechsel der disability studies schließt dabei auch eine verstärkte Berücksichtigung behinderter Menschen als Subjekt 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 10 Christian Strecker »It matters! « ZNT 27 (14. Jg. 2011) 11 der Forschung ein. In diesem Zusammenhang sei auf die 2006 erschienene Studie »Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz« des Theologen Ulrich Bach verwiesen, die auch die ntl. Heilungsgeschichten erörtert. 67 Mit Blick auf die ntl. Berichte über Besessenheit und die Exorzismen Jesu soll die These nicht unerwähnt bleiben, wonach hier körperlich ausagierte und darin Wirklichkeit konstituierende Performanzen vorliegen. 68 f ) Der rituelle Körper. Wie nicht zuletzt die jüngere Ritualforschung (ritual studies) unterstreicht, ist rituelles Handeln wesentlich körperbetontes Handeln. 69 Dies gilt selbstredend auch für die im Neuen Testament thematisierten rituellen Praktiken, die mit diversen somatischen Vorgängen wie Essen, Trinken, der Behandlung des Körpers mit Wasser oder Öl, Berührungen mit Hand oder Mund, Singen, Niederknien, Körpermarkierungen u.a.m. zu tun haben. 70 Vermittels dieser rituellen Praktiken, unter denen die Taufe und das Herrenmahl eine zentrale Rolle einnahmen, wurden zentrale Überzeugungen der frühchristlichen Gemeinschaften individuell »verkörpert«, d.h. sie wurden in die Körper eingeschrieben bzw. körperlich zum Ausdruck gebracht oder auch im körperlichen Agieren hergestellt (embodiment). Die konkrete somatische Dimension dieser Rituale wurde bisher allerdings nur selten Gegenstand intensiverer Forschungen. 71 g) Der unter Gewalt leidende und sterbende Körper nimmt in Anbetracht des leidvollen Todes Jesu am Kreuz eine wichtige Rolle in den ntl. Schriften ein. Besonders eindrücklich zeigt sich dies in der paulinischen theologia crucis. In seiner kulturanthropologischen Exegese der einschlägigen Texte weist Christian Strecker auf die in das Symbol des Kreuzes eingeschriebenen Aspekte des physischen Leidens (langsames und leidvolles Sterben, Zurschaustellung der physischen Vernichtung und körperlicher Kontrollverlust) samt der damit verbundenen Emotionen und Wertungen (Schrecken, Schande und Unreinheit). Auf dieser Basis arbeitet er die Transformationskraft der paulinischen Kreuzesbotschaft heraus, die zumal in dem Tabubruch besteht, göttliches Heil an den schrecklichen Kreuzestod zu binden. 72 Jennifer A. Glancy geht der kreuzestheologischen Strategie des Apostels nach, die eigene leibliche Unzulänglichkeit (1Kor 12,7; Gal 4,13) und das schwache körperliche Auftreten (2Kor 10,10) als Manifestation des Leidens und Sterbens Jesu positiv umzuwerten (1Kor 2,1-5; 2Kor 4,10-12). Glancy bezieht dazu die paulinische Rede vom Tragen der stigmata tou Iēsou am Leib (Gal 6,17) auf die in den Peristasenkatalogen erwähnten Geißelungen (2Kor 6,5; 11,24f.) und stellt sie in den Kontext des römischen Rituals der öffentlichen Präsentation von Kriegsnarben. 73 Anders als Kriegesnarben indizierten Folternarben in der Antike jedoch keine Statuserhöhung, sondern eine Statuserniedrigung. Indem Paulus seine Folternarben als Ausweis seiner in den Körper eingeschriebenen »kreuzesförmigen« Existenz präsentiere, bewirkten sie bei ihm freilich eine Stärkung und nicht Schwächung seines apostolischen Status. 74 Manuel Vogel legt in seiner 2006 publizierten Habilitationsschrift überzeugend dar, dass in der antiken griechischrömischen Welt das Todesverständnis und die physische Konstitution einer Person zur Beurteilung der Respektabilität ihres Charakters herangezogen wurden. Auf dieser Basis liest er den schwierigen Text 2Kor 5,1- 10 als eine vom Todesproblem her entworfene, in apologetischer Absicht vorgetragene Charakterskizze. 75 h) Der Körper der Auferstehung ist in der ntl. Forschung Gegenstand einer intensiv geführten Debatte, die hier nicht annähernd umrissen werden kann, 76 insofern die verschiedenen Ausgestaltungen des Auferstehungsgedankens in den ntl. Schriften und die Vielfalt der möglichen religionsgeschichtlichen Hintergründe äußerst komplexe Fragen aufwerfen. Es muss genügen, zwei Positionen zum paulinischen Verständnis des Auferstehungsleibes (1Kor 15,44: sōma pneumatikon) kurz zu skizzieren. Engberg- Pedersen stellt vor dem Hintergrund der Kosmologie der Stoa und frühjüdischer Vorstellungen heraus, Paulus habe den pneumatischen Auferstehungsleib im stoischen Sinn als materiellen himmlischen Leib verstanden (pneuma figurierte in der Stoa als physische Substanz der Himmelskörper). Während die Stoa den himmlischen Leib jedoch auf eine Abspaltung der Seele von Fleisch und Blut zurückführte, sei Paulus von einer grundlegenden pneumatischen Transformation des fleischlichen Körpers ausgegangen. Engberg-Pedersen erblickt darin eine Übertragung der stoischen Vorstellung der Transformation der Welt mittels Weltenbrand (gr. ekpyrōsis) auf die Ebene des individuellen Körpers. Die Idee einer Transformation des Kosmos in eine pneumatische neue Welt sei von Paulus unter Rekurs auf apokalyptisches Gedankengut ausgestaltet worden. 77 Claudia Janssen betont, im Begriff sōma pneumatikon reflektiere sich »Wie nicht zuletzt die jüngere Ritualforschung (ritual studies) unterstreicht, ist rituelles Handeln wesentlich körperbetontes Handeln. Dies gilt selbstredend auch für die im Neuen Testament thematisierten rituellen Praktiken […]« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 11 Neues Testament aktuell 12 ZNT 27 (14. Jg. 2011) kein lebensfernes, idealistisches Streben nach Ganzheit und Vollkommenheit. Es sei vielmehr zu beachten, dass Paulus Menschen mit geschundenen und gequälten Körpern anspreche, denen er nun zusage, dass ihre Körper wertvoll, nämlich Tempel der heiligen Geistkraft seien. Die Auferstehung verändere dergestalt das gegenwärtige Leben, zumal die durch Gewalt und Krankheit beschädigten Körper bereits die Fülle des göttlichen Lebens als Samenkorn enthielten. Janssen extrahiert aus den paulinischen Aussagen in 1Kor 15 insgesamt das Konzept einer »Körperzeit«, in welchem sie »das komplexe Zeit-, Raum, und Beziehungsgeschehen eschatologischer Aussagen und deren geschichtliche Perspektiven in einer auf das konkrete leibliche Leben der Menschen bezogenen Theorie« zusammengefasst sieht. 78 Es wären selbstredend noch diverse weitere Aspekte der Thematisierung des Körpers im Neuen Testament und der dazugehörigen Forschungen zu erörtern. Dies betrifft u.a. die vielschichtige frühchristliche Rede vom »Leib Christi«. 79 Auch so dürfte aber das große Gewicht des Themas »Körper« im Neuen Testament deutlich geworden sein. Gerade auch in Anbetracht der vielen unter Punkt 1 angedeuteten sozialbzw. kulturwissenschaftlichen methodischen Ansätze und Fragestellungen steht hier noch ein großes, facettenreiches Forschungsfeld offen. Die somatische, »materielle« Seite der ntl. theologischen Aussagen verdient auch künftig Beachtung: »It matters! « Anmerkungen 1 Vgl. zum Gesagten insgesamt die Überlegungen bei M. de Certeau, Mystische Fabel, Frankfurt a.M. 2010, 124- 148: bes. 127f.; s. auch Chr. Strecker, Hic non est. Ein kultur- und medientheoretischer Blick auf das Christentum und den Jesusdiskurs, in: A. Nehring/ J. Valentin (Hgg.), Religious Turns - Turning Religions. Veränderte kulturelle Diskurse, neue religiöse Wissensformen (ReligionsKulturen 1), Stuttgart 2008, 150-178; B. Blumenfeld, The Political Paul. Justice, Democracy and Kingship in a Hellenistic Framework, London/ New York 2003, 33. 2 Vgl. zum Gesagten die Ausführungen über den »verschmähten Körper« und die »Schwierigkeiten, den Körper zu erfassen« bei A. Abraham, Der Körper im biographischen Kontext. Ein wissenssoziologischer Beitrag, Wiesbaden 2002, 14-24. 3 Vgl. W. Frühwald u.a., Geisteswissenschaften heute. Eine Denkschrift, Frankfurt a.M. 2 1996, 51.70f. 4 Vgl. den ethnologischen Forschungsbericht von M.M. Lock, Cultivating the Body. Anthropology and Epistemologies of Bodily Practice and Knowledge, Annual Review of Anthropology 22 (1993), 133-155; s. ferner T. Platz, Anthropologie des Körpers (Berliner Beiträge zur Ethnologie 10), Berlin 2006. 5 Vgl. N. Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., Bern/ München 2 1969; M. Douglas, Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologische Studien in Industriegesellschaft und Stammeskultur, Frankfurt a.M. 1981; M. Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1977; P. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt a.M. 1979; ders., Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt a.M. 2 1997. 6 Vgl. M. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung (Phänomenologisch-psychologische Forschungen 7), Berlin 1966; ders., Das Sichtbare und das Unsichtbare; gefolgt von Arbeitsnotizen (Übergänge 13), München 2 1994; H. Schmitz, Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990; s. auch B. Waldenfels, Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt a.M. 2000. 7 J. Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M. 1991; dies., Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a.M. 1997; B. Duden, Geschichte unter der Haut. Ein Eisenacher Arzt und seine Patientinnen um 1730, Stuttgart 1991; dies., Die Frau ohne Unterleib: Zu Judith Butlers Entkörperung. Ein Zeitdokument, Feministische Studien 11 (1993), 24-33; s. auch P.- I. Villa, Sexy Bodies. Eine soziologische Reise durch den Geschlechtskörper, Opladen 2000. 8 Vgl. D. Kamper/ Chr. Wulf (Hgg.), Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt a.M. 1982. Im angloamerikanischen Sprachraum dokumentieren die Trendwende in den Sozialwissenschaften B.S. Turner, The Body and Society. Explorations in Social Theory, London u.a. 2 1996 und M. Featherstone/ M. Hepworth/ B.S. Turner (Hgg.), The Body. Social Process and Cultural Theory, London u.a. 1991. 9 Vgl. R. Gugutzer, Der body turn in der Soziologie. Eine programmatische Einführung, in: ders. (Hg.), body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports, Bielefeld 2006, 9-53: 9; U. Hennigfeld, Der ruinierte Körper, Würzburg 2008, 17-24 (»somatic turn«); J. Tambornino, The Corporeal Turn. Passion, Necessity, Politics, Lanham 2002; M. Sheets-Johnstone, The Corporeal Turn. An Interdisciplinary Reader, Exeter 2009. 10 Näheres bei Gugutzer, body turn, 10; C. Bell, Embodiment, in: J. Kreinath/ J. Snoek/ M. Strausberg (Hgg.), Theorizing Rituals I, Leiden/ Boston 2006, 533-543: 534-536. Vgl. zur Theologie nur R. Ammicht Quinn, Körper - Religion - Sexualität. Theologische Reflexionen zur Ethik der Geschlechter, Mainz 1999. Zur Altertumswissenschaft s. im Übrigen nur D. Montserrat (Hg.), Changing Bodies, Changing Meanings. Studies on the Human Body in Antiquity, London/ New York 1998; J.I. Porter (Hg.), Construction of the Classical Body, Ann Arbor 1999; A. Corbeill, Nature Embodied. Gesture in Ancient Rome, Princeton 2004; M.B. Roller, Dining Posture in Ancient Rome. Bodies, Values, and Status, Princeton 2006. 11 Die Begriffe »Körper« und »Leib« werden in diesem Beitrag nicht strikt im Sinne der geläufigen konzeptionellen 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 12 Christian Strecker »It matters! « ZNT 27 (14. Jg. 2011) 13 Unterscheidung zwischen Körperhaben und Körpersein verwendet (vgl. Gugutzer, body turn, 16.30f.; Waldenfels, Leib, 14f. u.ö.), da diese Differenzierung in der Gefahr steht, den Geist-Körper-Dualismus zu reproduzieren und den materiellen Körper neuerlich zu degradieren (vgl. Ammicht-Quinn, Körper, 27-37). 12 Vgl. Gugutzer, body turn, 10-40. 13 Vgl. Th.J. Csordas, Embodiment as a Paradigm for Anthropology, Ethos 18, 1990, 5-47; ders. (Hg.), Embodiment and Experience. The Existential Ground of Culture and Self, Cambridge 1994; ders., The Sacred Self. A Cultural Phenomenology of Charismatic Healing, Berkeley u.a. 1997. 14 Vgl. D.B. Martin, The Corinthian Body, New Heaven/ London 1995. 15 Gemeint ist die Viersäftelehre, der zufolge gelbe Galle, schwarze Galle, Blut und Schleim als elementare Lebensträger fungierten. Krankheit gründete danach in der Unausgewogenheit dieser Säfte im Körper. 16 T. Engberg-Pedersen, Cosmology and Self in the Apostle Paul. The Material Spirit, Oxford 2010. 17 Vgl. ebd., 17. 18 Vgl. ebd., 1-3. 19 Vgl. dazu bereits T. Engberg-Pedersen, Paul and the Stoics, Edinburgh 2000. Während der Autor Paulus dort v.a. hinsichtlich paralleler kognitiver Schemata mit der Stoa korrelierte, tut er dies nun mit Blick auf die materielle Prägung der Weltdeutungen und der dabei vorausgesetzten Erfahrungen. 20 Vgl. H. Tiedemann, Die Erfahrung des Fleisches. Paulus und die Last der Lust, Stuttgart 1998. 21 Vgl. ebd., 26. 22 Vgl. dazu M. Foucault, Genealogie der Ethik. Ein Überblick über laufende Arbeiten, in: H.L. Dreyfus/ P. Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1987, 265-292, bes. 275- 278 und ders., Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Frankfurt a.M. 3 1993, bes. 36-45. 23 Die Sexualethik sei hier wie dort durch folgende Punkte gekennzeichnet: kommunitäres Profil (sexuelle Erfahrungen tangieren stets die Gemeinschaft und fungieren als Identitätsmarker von Völkern oder Gruppen), Einlassung in die Zeit (im Begehren lagere sich Vergangenheit ab), metaphysische Aufladung (Dämonisierung oder Gottgefälligkeit des Sexualverhaltens), soziale Hierarchisierung (die Paulus z.T. relativiere), Verinnerlichung der Moral, Absenz einer biologischen Objektwahl (primäre Kriterien seien nicht hetero- oder homosexuelles, sondern aktives oder passives, reines oder unreines Agieren), Abspaltung von Liebe sowie das Abdrängen des Knaben und die Etablierung der Frau im Sexualdiskurs. Neu sei die freilich nicht rundweg durchgehaltene (1Kor 5; 6,12ff.) Auffassung, Heiligkeit habe bereits über Unheiligkeit gesiegt (1Kor 7,12ff.), und die Zusammenstellung gleichgeschlechtlich begehrender Frauen und Männer zu einer Gruppe in Röm 1,26f.; vgl. zum Gesagten Tiedemann, Erfahrung, 111-285.365. 24 J.A. Glancy, Corporal Knowledge. Early Christian Bodies, New York 2010; s. auch dies., Jesus, the Syrophoenician Woman, and Other First Century Bodies, Bib- Int 18 (2010), 342-363. 25 Vgl. J.B. Green, Body, Soul, and Human Life. The Nature of Humanity in the Bible, Grand Rapids 2008. 26 Vgl. dazu Ch.P. Snow, Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz, Stuttgart 1967. 27 Vgl. jetzt aber auch die freilich anders angelegte Studie von C. Shantz, Paul in Ecstasy. The Neurobiology of the Apostle’s Life and Thought, Cambridge/ New York 2009. 28 Vgl. zur Kontroverse um das Menschenbild der Neurowissenschaften nur M. Bennett/ D. Dennett/ P. Hacker/ J. Searle, Neurowissenschaft und Philosophie. Gehirn, Geist und Sprache, Frankfurt a.M. 2010; P. Janich, Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung, Frankfurt a.M. 2009. 29 C. Bynum, Warum das ganze Theater mit dem Körper? Die Sicht einer Mediävistin, Historische Anthropologie 4 (1996), 1-33 (= Why All the Fuss About the Body? A Medievalist’s Perspective, Critical Inquiry 22 [1995], 1-33). 30 Ebd., 1. 31 Vgl. J.D.G. Dunn, Christology in the Making. A New Testament Inquiry into the Origins of the Doctrine of the Incarnation, London 2 1989. 32 Vgl. N.T. Wright, Jesus’ Self-Understanding, in: S.T. Davies u.a. (Hgg.), The Incarnation. An Interdisciplinary Symposium on the Incarnation of the Son of God, Oxford 2002, 47-61; G.D. Fee, St Paul and the Incarnation. A Reassessment of the Data, in: ebd., 62-92; J.-N. Aletti, Romans 8. The Incarnation and its Redemptive Impact, in: ebd., 93-115; A.F. Segal, The Incarnation. The Jewish Mileu, in: ebd., 116-139. 33 S.J. Gathercole, The Pre-existent Son. Recovering the Christologies of Matthew, Mark, and Luke, Grand Rapids/ Cambridge 2006. 34 Vgl. dazu den Überblick bei J. Frey, Leiblichkeit und Auferstehung im Johannesevangelium, in: T. Nicklas u.a. (Hgg.), The Human Body in Death and Resurrection (Deuteronomic and Cognate Literature Yearbook 2009), Berlin/ New York 2009, 285-327: 285-290. 35 Vgl. Ernst Käsemann, Jesu letzter Wille nach Joh 17, Tübingen 4 1980. 36 Vgl. Frey, Leiblichkeit, 290-323. 37 D. Lee, Flesh and Glory. Symbolism, Gender and Theology in the Gospel of John, New York 2002, 233. 38 Vgl. D. Lee, The Gospel of John and the Five Senses, JBL 129 (2010), 115-127. 39 Vgl. R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 9 1984, 196. 40 Vgl. E. Käsemann, Zur paulinischen Anthropologie, in: ders., Paulinische Perspektiven, Tübingen 1969, 9-60. 41 Vgl. R.H. Gundry, Sōma in Biblical Theology with an Emphasis on Pauline Anthropology (MSSNTS 29), Cambridge u.a. 1976. 42 Vgl. C. Janssen, Anders ist die Schönheit der Körper. Paulus und die Auferstehung in 1Kor 15, Gütersloh 2005, bes. 64-82. 43 L. Scornaienchi, Sarx und Soma bei Paulus. Der Mensch zwischen Destruktivität und Konstruktivität (NTOA 67), Göttingen 2008. 44 Vgl. im Genaueren die Forschungsüberblicke bei Scornaienchi, Sarx und Soma, 15-52, und Janssen, Schönheit, 30-82. 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 13 Neues Testament aktuell 14 ZNT 27 (14. Jg. 2011) 45 Vgl. dazu im Genaueren Chr. Strecker, Die liminale Theologie des Paulus. Zugänge zur paulinischen Theologie aus kulturanthropologischer Perspektive (FRLANT 185), Göttingen 1999, 279ff. 46 B. J. Malina, Die Welt des Neuen Testaments, Stuttgart 1993, 50. 47 Vgl. Glancy, Corporal Knowledge, 15-19.49f. 48 B. J. Malina/ J.H. Neyrey, Honor and Shame in Luke- Acts. Pivotal Values of the Mediterranean World, in: J.H. Neyrey (Hg.), The Social World of Luke-Acts. Models for Interpretation, Peabody 1991, 25-66: 54-58. 49 Vgl. M.C. Parsons, Body and Character in Luke and Acts. The Subversion of Physiognomy in Early Christianity, Grand Rapids 2006; B.J. Malina/ J.H. Neyrey, Portraits of Paul. An Archaeology of Ancient Personality, Louisville 1996, 100-153, ziehen die antike Physiognomik zur Deutung des Paulusportraits in den Acta Pauli et Theclae heran. 50 Dt.: Th. Laqueur, Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, München 1996. 51 Vgl. H.-J. Voß, Making sex revisited. Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive, Bielefeld 2010. 52 Vgl. Martin, Corinthian Body, 230-232. 53 Vgl. dazu insgesamt ebd., 198-248. 54 Vgl. im Näheren Strecker, Liminale Theologie, 384- 390.423-449. 55 Vgl. ferner die obigen Ausführungen zu Tiedemann unter Punkt 3. 56 Dt.: P. Brown, Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit im frühen Christentum, München 1994. 57 Vgl. ebd., 19-79. 58 Vgl. L.W. Countryman, Dirt, Greed, and Sex. Sexual Ethics in the New Testament and Their Implications for Today, Minneapolis 1989. Eine überarbeitete zweite Auflage erschien 2007. 59 Vgl. D.B. Martin, Sex and the Single Saviour. Gender and Sexuality in Biblical Interpretation, Louisville 2006. 60 Vgl. C.M. Conway, Behold the Man. Jesus and Greco- Roman Masculinity, New York 2008. 61 Vgl. Martin, Corinthian Body, 164-168. 62 Vgl. A. Weissenrieder, Images of Illness in the Gospel of Luke (WUNT II/ 164), Tübingen 2003. 63 Vgl. ebd., 256-282.297.372. Verwiesen sei hier zudem auf B. Schiffer, Fließende Identität. Körper und Geschlecht im Wandel (EHS 23/ 734), Frankfurt a.M. 2001. Sie deutet die markinischen Frauenheilungsberichte auf der Basis einer nicht ganz unproblematischen Integration postmoderner Körperbzw. Geschlechterdekonstruktionen und der systemischen Psychosomatik. 64 Vgl. J.J. Pilch, Healing in the New Testament. Insights from Medical and Mediterranean Anthropology, Minneapolis 2002, 106-111. 65 Vgl. J.D. Crossan, Jesus. Ein revolutionäres Leben, München 1996, 113; s. dazu insgesamt 105ff. 66 Eine erste exegetische Rezeption findet sich in H. Avalos (Hg.), This Abled Body. Rethinking Disabilities in Biblical Studies, Atlanta 2007; s. auch J. Dorman, The Blemished Body. Deformity and Disability in the Qumran Scrolls, Groningen 2007. 67 Vgl. U. Bach, Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz. Bausteine einer Theologie nach Hadamar, Neukirchen-Vluyn 2006. »Hadamar« steht für das Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten. 68 Näheres bei Chr. Strecker, Jesus und die Besessenen. Zum Umgang mit Alterität im Neuen Testament am Beispiel der Exorzismen Jesu, in: W. Stegemann u.a. (Hgg.), Jesus in neuen Kontexten, Stuttgart 2002, 53-63. 69 Vgl. dazu nur Bell, Embodiment. 70 Vgl. dazu im Näheren den Überblick bei Chr. Strecker, Notizen zur Bedeutung des Rituals im Neuen Testament, Glaube und Lernen 13 (1998), 38-49, bes. 40-44; s. auch W.A. Meeks, Urchristentum und Stadtkultur. Die soziale Welt der paulinischen Gemeinden, Gütersloh 1993, 288-331. 71 Vgl. Chr. Strecker, Macht - Tod - Leben - Körper. Koordinaten einer Verortung der frühchristlichen Rituale Taufe und Abendmahl, in: G. Theißen/ P. v. Gemünden (Hg.), Erkennen und Erleben. Beiträge zur psychologischen Erforschung der urchristlichen Religion, Gütersloh 2007, 133-153, bes. 139ff.; ders., Taufrituale im frühen Christentum und der Alten Kirche. Historische und ritualwissenschaftliche Perspektiven, in: D. Hellholm u.a. (Hg.), Ablution, Initiation, and Baptism. Late Antiquity, Early Judaism and Early Christianity III (BZNW 176), Berlin/ New York 2011, 1377-1434, bes. 1412ff.; s. generell auch R.E. DeMaris, The New Testament in Its Ritual World, London/ New York 2008. 72 Vgl. Strecker, Liminale Theologie, 248-299, bes. 262ff. 73 Vgl. dazu im Genaueren Egon Flaig, Ritualisierte Politik. Zeichen, Gesten und Herrschaft im Alten Rom, Göttingen 2003, 123-136. 74 Vgl. Glancy, Corporal Knowledge, 24-47. 75 Vgl. Manuel Vogel, Commentatio mortis. 2Kor 5,1-10 auf dem Hintergrund antiker ars moriendi (FRLANT 214), Göttingen 2006. 76 Vgl. zum Thema nur T. Nicklas u.a. (Hgg.), The Human Body in Death and Resurrection (Deuteronomic and Cognate Literature Yearbook 2009), Berlin/ New York 2009; T.K. Seim/ J. Økland (Hgg.), Metamorphoses. Resurrection, Body and Transformative Practices in Early Christianity, Berlin/ New York 2009. 77 Vgl. Engberg-Pedersen, Cosmology, 19-38. 78 Vgl. Janssen, Schönheit, 201-209.298-306; Zitat: ebd., 298. 79 Vgl. dazu nur Strecker, Liminale Theologie, 335-349; M. Walter, Gemeinde als Leib Christi. Untersuchungen zum Corpus Paulinum und zu den »Apostolischen Vätern« (NTOA 49), Fribourg/ Göttingen 2001. 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 14 »Am Leitfaden des Leibes zeigt sich eine ungeheure Vielfachheit; es ist methodisch erlaubt, das besser studierbare reichere Phänomen zum Leitfaden für das Verständnis der ärmeren zu benutzen.« »Es liegt so unsäglich viel mehr an dem, was man ›Leib‹ und ›Fleisch‹ nannte: der Rest ist kleines Zubehör.« 2 Mit dem »Leitfaden des Leibes« wird uns wohl einer der gewagtesten Zugänge zum Gesamtwerk Friedrich Nietzsches eröffnet: Die Aussagen über den letzten Grund der Philosophie werden nicht anhand der Seele oder des Geistes geleitet, sondern anhand des Leibes, der somit auch einen methodischen Zugang zum Werk eröffnet. Nietzsche thematisiert den menschlichen Leib (den er auch wahlweise Körper nennt) und erkennt ihm einen Primat vor der einseitigen Vernunft zu. Nietzsches Leibphilosophie verkündet gegen die Zersplitterung der mechanischen Welt in der modernen Philosophie die Ganzheit des Leibes. Mit seinem Ganzheitsdenken wertet Nietzsche den Leib außerordentlich auf. Die Aufgabe der philosophischen Anthropologie soll es sein, auf dem Weg einer Kritik der neuzeitlichen Philosophie die Grundzüge eines neuen Verständnisses der Existenzform des Menschen zu gewinnen. Auch in antiken medizinischen und naturphilosophischen Traktaten ist das Nachdenken über sōma (»Körper« oder »Leib«) der Ausgangspunkt zahlreicher Abhandlungen, häufig auch deshalb, weil sōma mit allen anthropologischen Begriffen verknüpft ist, wie eine Wortfelduntersuchung, die ich im Rahmen des Quellenbuches Embodying New Testament Anthropology gemacht habe, zeigen kann. 3 Begriffe wie psychē (»Seele« oder »Leben«), nous (»Verstand«) oder kardia (»Herz«) werden nicht isoliert entworfen, sondern in der Regel in Relation zu sōma gesetzt. Dass wir demnach ein einheitliches Konzept dessen, was man in der Antike unter sōma verstanden hat, finden können, ist schon unter dieser Voraussetzung unwahrscheinlich. Vielmehr ist die Tatsache grundlegend, dass sich die Heilkunde und die Philosophie der Antike in einem Prozess der Ausdifferenzierung befunden haben. 4 Somit musste sich auch das frühe Christentum einerseits zur Ausdifferenzierung einer naturwissenschaftlich-rationalen Medizin aus den Heilkulten und andererseits zu dem Neben- und Miteinander von Philosophie und antiker Medizin verhalten. Welches sind die methodischen Grundlagen für den »Leitfaden des Leibes« in den antiken medizinischen und philosophischen Texten? Und welche Diskurse waren leitend? Um diesen Prozess der Ausdifferenzierung nachvollziehen zu können, ist es sicherlich von Belang, dass die Grenzen zwischen Philosophie und Medizin, zwischen theoretischen und empirisch-praktischen Implikationen noch keineswegs gezogen und deshalb Gegenstand hitziger Debatten auf beiden Seiten waren. Dass philosophische Denker wie Platon (428/ 27- 348/ 47 v.Chr.), Aristoteles (384-322 v.Chr.), Alexander von Aphrodisias (2.-3. Jh. n.Chr.) oder Sextus Empiricus (160-210 n.Chr.) sich mit großem Interesse der Physiologie des menschlichen Körpers widmeten und Mediziner wie Hippokrates (460-370 v.Chr), Diokles von Karystus (wahrscheinlich Mitte 4. Jh. v.Chr.) oder Erasistratus (304-250 v.Chr.) in der doxographischen Tradition, beispielsweise eines Artius (1.-2. Jh. n.Chr.), als Philosophen geführt werden, ist weithin unbekannt. Dazu hat sicherlich der Faktor beigetragen, dass es eine zertifizierte Ausbildung medizinischer und philosophischer Provenienz nicht gab. In diesem Sinne ist auch die Bezeichnung »rationale« Medizin irreführend, die häufig als Abgrenzung gegen eine antike Volksmedizin herangezogen wird, weil diese Bezeichnung eine Art Aufklärungsbewegung in der Antike voraussetzt, die sich in Opposition zu dem Suprarationalen oder auch Irrationalen etablierte. Der Begriff »rational« ist an dieser Stelle vielmehr als logikos zu interpretieren und meint eine theoretisch fundierte Medizin. Gegenstand dieser theoretisch fundierten Medizin war in erster Linie die Verhältnisbestimmung von (philosophisch fundierter) Theorie und Erfahrung am und mit dem menschlichen Körper. 5 Was die unterschiedlichen philosophischen und Zum Thema Annette Weissenrieder »Am Leitfaden des Leibes« Der Diskurs über so¯ ma in Medizin und Philosophie der Antike 1 ZNT 27 (14. Jg. 2011) 15 »Was die unterschiedlichen philosophischen und medizinischen Schulen vereint, ist ihre Suche nach einer natürlichen Ursache von körperlichen Vorgängen, besonders aber von Krankheiten, die nicht auf übernatürliche Faktoren zurückgeführt werden sollten.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 15 Zum Thema 16 ZNT 27 (14. Jg. 2011) medizinischen Schulen vereint, ist ihre Suche nach einer natürlichen Ursache von körperlichen Vorgängen, besonders aber von Krankheiten, die nicht auf übernatürliche Faktoren zurückgeführt werden sollten. Eines der bekanntesten Beispiele ist sicherlich die frühe Schrift De morbo sacro des Corpus Hippocraticum (ca. 5. Jh. v.Chr. bis 1. Jh. n.Chr.), in der sich der Autor dezidiert gegen übernatürliche göttliche Faktoren bei der Erklärung der Krankheit Epilepsie wendet, und er sich explizit gegen göttliche Heiler richtet. Stattdessen wird eine natürliche Ursachenanalyse vorangetrieben, die in einer Verstopfung durch Schleim derjenigen Adern gedeutet wird, die zum Gehirn führen, und die regelmäßige Luftzufuhr ins Gehirn verhindern. Nicht die Krankheit, sondern allein die Gottheit ist von Reinheit und Heiligkeit umgeben. Schon deshalb sei keineswegs eine Gottheit die Ursache für die Krankheit. Diese Zuschreibung erfolge allein durch ein Deutungsvakuum: »Diese Menschen wählten die Gottheit als Deckmantel für ihre Hilflosigkeit; denn sie hatten nichts, mit dessen Anwendung sie helfen konnten.« Das Deutungsvakuum verbindet sich nach dem Verfasser mit einem zweiten Moment, nämlich der Schuldfrage, wenn er schreibt: »So aber ist nicht mehr das Göttliche schuld, sondern etwas Menschliches« (Corpus Hippocraticum; im Folgenden abgekürzt mit CH De morbo sacro 1.25). Diese menschliche Schuld wird im Laufe der Schrift dann als vererbte Krankheit gedeutet (CH De morbo sacro 3.1). Methodisch zeigt sich hier eine Generalisierung von Theorien - an der genannten Stelle in De morbo sacro der Ausgleich vier verschiedener Säfte -, eine Vorgehensweise, die typisch für hippokratische Traktate ist. Ausgangspunkt hippokratischer Traktate ist mehrheitlich die generelle Natur des menschlichen Körpers, wie beispielsweise die Aussagen über Lebensbedingungen, die sich jedoch in erster Linie an den Charakteristika der Witterung und Jahreszeiten und sehr viel weniger an dem sozialen Status der Personen orientieren. Hinzu kommt die generelle und individuelle Natur des Körpers, wie Geschlecht, Lebensalter und besondere Konstitution. Das grundlegende Ansinnen ist es, sich anhand des sichtbaren Äußeren des Körpers dem unsichtbaren Inneren des Körpers zu nähern. Anatomische Untersuchungen und Obduktionen waren nicht üblich. Mit dieser Annäherung an das Innere des Körpers anhand äußerer Zeichen etabliert sich die medizinische Physiognomie. Man mag diese Lehre mit Platons Symposium verbinden, wo Alkibiades Sokrates mit den Bildwerken der Silenen vergleicht, die nur äußerlich wie Silenen aussehen, innerlich aber Bildsäulen der Götter bergen. Platon greift hier - wenn wir den Aussagen Galens glauben schenken dürfen - auf medizinisch-philosophisches Wissen zurück, um die Frage zwischen äußerem und innerem Menschen zu beantworten (Symposium 215b). Aber folgen wir Galen, so hat diese Diskussion mit Hippokrates ihren Anfang genommen, wenn er schreibt, dass »in those who practice medicine without a knowledge of the science of physiognomy, the judgement goes to seed, wallowing in darkness« (Gal. Prognostica de Decubitu ex Mathematica Scientia, Kühn XIX 530). Physiognomie im Sinne der antiken Medizin und Philosophie ist nicht an den Schönheitsidealen ihrer Zeit, sondern vielmehr an den inneren körperlichen Vorgängen interessiert. Grundlegend dafür ist, dass die sichtbaren Symptome am Körper auf unsichtbare Ursachen schließen lassen. Galen spricht von »obskuren Stellen am Körper, die man nicht sehen kann« 6 , und meint damit, dass diese für die Sinneswahrnehmung nicht oder kaum wahrnehmbar sind. In diesem Sinne erscheint der Körper dann als informierter Körper, denn es ist der äußere Körper, der spricht. 7 Der diesen medizinischen Traktaten zugrundeliegende Erfahrungsbegriff basiert auf dem Beobachtungswissen am einzelnen Körper, das man dann auf die schon genannten Theorien appliziert. Die verschiedenen methodischen Ansätze, wie die Lehre des Mikrokosmos-Makrokosmos oder die Säftelehre, bestätigen die rein rationale Fundierung der Medizin etwa einer hippokratischen Provenienz. Erst in hellenistischer Zeit veränderte sich diese Denkweise, indem man annahm, dass man mit empirischen klinischen Fallstudien, nicht zuletzt angeregt auch durch anatomische Studien eines Herophilus oder Erasistratus, Aussagen über das Körperinnere machen könne. Die Faszination des unsichtbaren Körperinneren ist eine grundlegende Tendenz in der antiken Philosophie und Medizin, aber der Umgang damit verändert sich: Waren in den früheren Schriften noch pauschale theoretische Setzungen grundlegend, sind es nun »klinische« Studien. Der Begriff der Erfahrung entfernt sich von der Körperbeobachtung einzelner Kranker durch den jeweiligen behandelten Arzt hin zur Anwendung medizinischen Allgemeinwissens. Mit Galen verändert sich der Blick auf den Körper nochmals, indem er einer fundierten Theoriebildung (orientiert an der aristotelischen Grundlegung von apodeixis, diairesis und definitio) über das Körperinnere positiv gegenübersteht, da er diese mit seinem Begriff der Erfahrung verbinden kann, die sich auf Dissektionen und anatomischen Untersuchungen an Tieren gründet. 8 Die Fundierung der 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 16 Annette Weissenrieder »Am Leitfaden des Leibes« ZNT 27 (14. Jg. 2011) 17 antiken Medizin als rationale scheint eine religiöse Fundierung gänzlich unmöglich zu machen. Drei Gründe sprechen gegen diese einseitige Deutung der antiken Medizin: Grundlegend ist auffallend, dass im Corpus Hippocraticum ein Traktat dem Phänomen des Träumens als eines Mittels zur Erstellung von Diagnosen gewidmet ist (CH De victu IV). Die träumende Seele gebe über den Zustand des Körpers Auskunft. »Derjenige, der die richtige Erkenntnis hat, wird finden, dass die Anzeichen, die sich im Schlaf einstellen, einen großen Einfluss auf die Vorgänge im Körper ausüben. Denn die Seele, die dem wachenden Körper Dienste leistet, ist (im Schlaf ) nicht sie selbst, da sie ihre Sorge auf vielerlei verteilt; sie gibt vielmehr einem jeden einzelnen Teil des Körpers etwas von sich ab, dem Gehör, den Erscheinungen, dem Gefühl, dem Gang, den Tätigkeiten des ganzen Körpers, zu sich selbst aber kommt der Verstand dabei nicht.« (CH De victu IV.1) Damit nimmt die hippokratische Tradition eine Methode auf, die sich auf die heilende Wirkung des Schlafes bezieht, und die uns in besonderer Weise durch Heilkulte überliefert ist. Diese Nähe bezeugt zudem der sog. Hippokratische Eid (Iusiurandum). 9 Dort heißt es: »Ich schwöre und rufe Apollo, den Arzt, und Asklepios […] und alle Götter und Göttinnen zu Zeugen an, dass ich diesen Eid und diesen Vertrag nach meiner Fähigkeit und meiner Einsicht erfüllen werde.« (CH Iusiurandum 1). Die hippokratische Tradition wird hiermit in eine Reihe mit dem Heilgott Apollo gestellt. Interessant ist zudem ein im Corpus Hippocraticum erhaltener Brief, der in Form einer Novelle vom Aufheben des Äskulapstabes bei einem jährlichen Fest eine Verhältnisbestimmung zwischen dem Heilkult des Asklepios und der rationalen Medizin der Hippokratiker bietet (CH Epistulae 11). Das Aufheben und Heimbringen des Stabes stellt die symbolische Hinwendung der Hippokratischen Tradition zu dem Ursprung Asklepios dar. Die Weitergabe des Stabes zeigt: Wissenschaftliche Medizin und Tempelmedizin schließen sich nicht aus. Sie ergänzen sich gegenseitig in ihren Ansätzen. Auch wenn man dem pseudepigraphen Charakter der Schrift Rechnung trägt, macht die Novelle doch eines deutlich: Im Bewusstsein der Antike waren ärztliche Kunst und göttliche Tradition eng verbunden. Damit ist deutlich: Die sog. rationale Medizin der Antike ist hinsichtlich ihrer religiösen Fundierung durchaus ambivalent. Durch den Hippokratischen Eid ist sie in ihrem Selbstverständnis religiös fundiert. Die medizinischen Schriften stellen auch die Existenz von Göttern nicht in Frage. Diese religiöse Fundierung hat ihre Grundlage häufiger in den Heilkulten des Apollo und des Asklepios. Dies gilt in besonderer Weise für Galen, der Asklepios als Legitimation seiner eigenen medizinischen Fähigkeiten heranzieht, was durchaus verständlich ist, wenn man bedenkt, dass der medizinische Beruf durch keinerlei Examina geschützt war 10 . So bezeugt Galen häufiger Übereinstimmung zwischen dem Handeln des Asklepios und seinen medizinischen Fähigkeiten, wenn er schreibt: »Another wealthy man, this one not a native but from the interior of Thrace came to Pergamon because a dream had prompted him to do so. The dream appeared to him, the god [Asclepius] describing that he should drink every day of the drug produced from the vipers and should anoint the body from the outside. The disease [elephantiasis] after a few days turned into leprosy; and this disease, in turn, was Assoc. Prof. Dr. Annette Weissenrieder wirkt seit 2008 als Professorin für Neues Testament am Graduate eological Union und San Francisco eological Seminary, nachdem sie zuvor Assistentin an der Universität Heidelberg war. Als visiting scholar war sie am Union eological Seminary in New York, am McCormick Seminary in Chicago und an Harvard Divinity. Zusammen mit Gregor Etzelmüller hat sie 2007 den Hengstberger Preis des Internationalen Wissenschaftsforums für wissenschaftlichen Nachwuchs gewonnen. Ihren Forschungsschwerpunkt hat sie im Bereich neutestamentlicher Anthropologie und Pneumatologie sowie an der Schnittstelle zwischen Griechisch-Römischem Kontext und dem Neuen Testament, speziell im Bereich antiker Medizin, Philosophie und antiker Kunst. Annette Weissenrieder »Ich schwöre und rufe Apollo, den Arzt, und Asklepios […] und alle Götter und Göttinnen zu Zeugen an, dass ich diesen Eid und diesen Vertrag nach meiner Fähigkeit und meiner Einsicht erfüllen werde.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 17 Zum Thema 18 ZNT 27 (14. Jg. 2011) cured by the drugs which the god commanded« (Gal. De simplicium medicamentorum temperamentis ac facultatibus 10-11, 1,1, XII 313 ff. Kühn). Galen (2. Jh. n.Chr.) und seine Schüler praktizieren dementsprechend ganz im Sinne des Heilgottes Asklepios. Besonders hinsichtlich seines Naturbegriffs richtet Galen jedoch seine Aufmerksamkeit auch auf eine göttliche Transzendenz: Die Natur ist die transzendente göttliche, providentielle Urheberin der Dinge, die Lebewesen konstituiert. Grundlegend offenbart sich hier die Schönheit der Lebewesen, die in der Ordnung des ganzen Organismus und in der Zweckdienlichkeit der Teile besteht. Fraglich ist für ihn auch der Grund dieser Ordnung. Damit geht er den Weg von der Medizin zur Theologie und schreibt die Ordnung in der Welt - der Gesamtheit der Dinge am Himmel und der Erde - und die Ordnung in den Lebewesen, die sich in den Individuen manifestiert, der Natur zu, die er auch »Demiurg« nennen kann. Diese Teleologie bildet Galens Grundvorstellung in der Erklärung des Lebendigen und demnach in seiner Erklärung der Natur. Auch wenn die rationale Medizin in ihrem Selbstverständnis religiös fundiert ist, distanziert sie sich jedoch entschieden von religiösen Deutungen von Krankheit und körperlichen Vorgängen, indem sie eine Gottheit als Krankheitsursache und in den Körper eingreifende Macht ablehnt. Wir können also sehen: Die Unterscheidung, die wir heute zwischen »natürlichen« und »übernatürlichen« Deutungszusammenhängen ziehen, und die wir an unsere neutestamentlichen Texte herantragen, wurde in der Antike so nicht konsequent durchgeführt. Zahlreiche Beispiele im Neuen Testament belegen m.E. diese Tendenz. Auf eine Kopplung zwischen Heilkult und rationaler Deutung von Krankheit treffen wir in Apg 28,1-10, wo der Apostel Paulus nach seiner Errettung vom Schiffbruch und seiner Verschonung von den Folgen eines Schlangenbisses als Gott bezeichnet wird. Die Erfahrungen, die Paulus rund um den Schiffbruch macht, lassen eine Nähe zur Asklepiostradition vermuten. Die schriftliche Darstellung des heilenden Handelns Pauli entspricht den ikonographischen Darstellungen des Asklepios. Ähnlich wie Asklepios muss Paulus seiner Mission nach Rom folgen, fungiert als Seher und auch er hat Macht über die Schlange. Aber er zerstört sie! Und ähnlich wie Asklepios kommt Paulus die Fähigkeit zu heilen zu. Doch die Heilkraft bezieht er nicht aus sich selbst. Er erfährt sie im Gebet und durch Handauflegung. All diese Bezüge legen eine Nähe von Apg 28 zur Asklepiostradition nahe. Die anschließende Heilung des Vaters des Publius jedoch entspricht ganz der rationalen Medizin, indem nicht nur Termini aus der rationalen Medizin - Dysenterie und Fieber - benannt werden, sondern ebenfalls auf das höhere Lebensalter des Vaters des Publius und die Krankheitsursachen - Regen und Kälte - verwiesen wird. Eine Unterscheidung zwischen der medizinischen Krankheitsbeschreibung und der übernatürlichen Heilung wird nicht vorgenommen. Im Folgenden sollen drei zentrale Diskurse über sōma benannt und kurz skizziert werden, wobei jeweils am Schluss ein kurzer Rekurs auf neutestamentliche Aspekte stehen soll. 11 1. Am Leitfaden des Leibes: so¯ ma als Raum Diogenes Laertius definiert in den Vitae Philosophorum VII 135.1−8 sōma auf dreifache Weise: (1) Ein Körper ist das, auf was eingewirkt werden kann. (2) Ein Körper ist das dreidimensional Ausgedehnte mit Widerständigkeit. Diese Auffassung wird zwar allgemein der Stoa zugeschrieben, ist aber verlässlich nur von Apollodorus von Seleukia belegt. (3) Die Oberflächen des Körpers sind ihrerseits Körper. Apollodorus bestimmt Körper in diesem Text unter Verzicht auf Widerständigkeit allein durch die Dreidimensionalität. 12 Allein der Kontext dieser Stelle weist auf einen menschlichen Körper als Referenzpunkt. Galen erweitert die Dreidimensionalität auf der Basis seiner Beschäftigung mit Aristoteles und Platon um das Vermögen zu wirken oder Wirkung zu erleiden, mit der eine weitere Eigenschaft einhergeht, nämlich Widerständigkeit, die antitypia, aus der heraus Re-Aktion gewonnen wird. Was diese theoretische Einsicht nun konkret meint, zeigt Galen am Beispiel der Verwendung des Wortes thixei, welches zunächst schlicht »berühren« meinen kann, im metaphorischen Sinne jedoch auch »begreifen« oder »erfassen«: Die Seele oder mentale Verfassung des Körpers ist mit dem Körper verbunden und kann den Körper als solchen erfassen, selbst wenn die Augen geschlossen sind. Der Körper kann demnach von innen und außen erfasst und berührt werden. »Auch wenn die rationale Medizin in ihrem Selbstverständnis religiös fundiert ist, distanziert sie sich jedoch entschieden von religiösen Deutungen von Krankheit und körperlichen Vorgängen, indem sie eine Gottheit als Krankheitsursache und in den Körper eingreifende Macht ablehnt.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 18 Annette Weissenrieder »Am Leitfaden des Leibes« ZNT 27 (14. Jg. 2011) 19 Die Frage nach der Räumlichkeit der Körper ist jedoch schon sehr viel früher im Bereich der Medizin aufgekommen, freilich jedoch mit einer ganz eigenen Zuspitzung: Weniger die Frage nach einer geometrischen Definition war Gegenstand der Beschreibung des Körpers, als vielmehr die Übertragung von alltäglichen Raumerfahrungen, die dann auf den menschlichen Körper, vielmehr das Körperinnere, übertragen wurden. Für den inneren Körper hat man drei Beobachtungen zugrunde gelegt: (1) Der innere Körper wird als Raum erfahren, der begehbar und als Stadt etc. visuell erfahrbar ist. (2) Er muss sich in einem ständigen Prozess der Erneuerung befinden. Dies ergibt sich allein schon durch das Eindringen des pneuma durch die Haut und die Atmung, aber auch durch die verschiedenen Körpersäfte. (3) Ein Körper gliedert sich nicht nur durch Organe, Muskeln, Venen etc., sondern auch durch Hohlräume. (1) Um zu erfahren, wie man in der Antike den Körper als Raum erfasst, startet man bei dem Traktat De locis in homine, wo der Begriff chōrion eingeführt wird, der ›Platz‹ oder auch ›Raum‹ und ›Gebiet‹ meinen kann und einen bestimmten Teil des menschlichen Körpers bezeichnet. Die Verwendung des Begriffs ruft deshalb Erstaunen hervor, weil der Traktat mit dem topos-Begriff überschrieben ist und auch sonst für die Umschreibung eines Körperteils in dem Traktat meros verwendet wird, das wir auch in den paulinischen Schriften finden. Für Galen sind die Begriffe meros und topos austauschbar, wenn er beispielsweise schreibt: »Nicht nur die mehr aktuellen Ärzte, sondern auch einige der älteren Ärzte nennen die Körperteile Plätze (topoi).« 13 Im Corpus Hippocraticum treffen wir ansonsten selten auf chōrion; es wird meist durch topos ersetzt, da es möglicherweise stärker als Raumkategorie denn als Stelle eines Körpers empfunden wurde (CH De diaeta acutorum 42; De vetere medicina 18.22; De fracturis. 2 u.a.). Der dritte Begriff, der den Körper als Raum beschreibt ist teuchea. Der Begriff ist für das Corpus Hippocraticum ungewöhnlich und wird nur wenige Male erwähnt und hier auch in unterschiedlichen Konnotationen wie ›Behälter‹ oder ›Körperkanal‹ und ›Gefäß‹ (CH De sterilibus; De locis in homine 47.7). Der Begriff bezeichnet den Körper als Ganzen wie auch einzelne seiner Teile. Interessant ist die Verwendung des Begriffs bei Homer, die dann auch im Corpus Hippocraticum aufgenommen wird. Beschrieben wird eine tödliche Flut, die das Meer mit sich bringt, die dann analog zu Körpersäften im Körper gebraucht wird, der überflutet wird. Neben dem Raum werden auch Wege und Korridore erwähnt, wie diodoi: Weil das Fleisch weniger komprimiert sei und sich dementsprechend ausweitet, öffnen sich Gänge oder Korridore. Diese sind aber auch aus anderen hippokratischen Traktaten bekannt, wie etwa in De natura ossium, wo sie die Wege zur Lunge im Körper öffnen und in De genitura, wo diese Passagen dem Sperma einen Durchgang verschaffen. Eng verbunden mit der Raummetaphorik ist koinōneō - ein Verb, das eine Partnerschaft von zwei oder mehreren Beteiligten in einem Raum beschreiben kann. Im Kontext des Körpers bezeichnet das Verb die verschiedenen Körperteile, die im Austausch miteinander stehen. In einem der ältesten uns erhaltenen Texte der antiken griechischen Medizin, De vetere medicina, wird der Körper mit einer besonderen Raumvorstellung umschrieben, dem semantischen Wortfeld aus Politik und Krieg, was besonders durch das Verb auteō bezeichnet wird. Das Substantiv autē meint »Schuss« oder »Schrei«, speziell »Kriegsgeschrei«. Das Verb auteō meint »aktuell an einem Kriegsschauplatz (durch Geschrei) präsent sein«. Der Körper wird dabei nicht als aktives Element gedeutet, sondern er ist der Kriegsschauplatz, auf dem unterschiedliche Substanzen, Körperflüssigkeiten und Oppositionen ihr Unwesen treiben. Dass Kriegsmetaphorik insgesamt für antike Literatur nicht ungewöhnlich für die Beschreibung von Körperzuständen war, wird ausführlich von Kahn und Solmsen belegt. 14 Der Kriegsschauplatz wird dann verwendet, wenn es sich um gegensätzliche Flüsse oder Kräfte im Körper handelt. Vergleichbares findet sich auch in dem Traktat De alimentis »Über die Nahrung« 2.1−3.2 (100.4−9 Littré), wo der Verfasser seine Verben so wählt, dass diese zwischen siegreich sein, übermächtig sein oder beherrschen des Körpers und packen oder reißen, habgierig sein, festfressen und krampfen changieren. Nicht die Kriegsmetapher ist hier leitend, sondern vielmehr der Ringsportwettkampf, der in einer Arena stattfindet, die der Körper ist. Nahrung (griech. trephē) und Sich-Ernähren (griech. trephō) werden dementsprechend auch als befestigen und haltbar machen (des Fleisches) benannt. »Die Erfahrungen, die Paulus rund um den Schiffbruch macht, lassen eine Nähe zur Asklepiostradition vermuten. […] Ähnlich wie Asklepios muss Paulus seiner Mission nach Rom folgen, fungiert als Seher und auch er hat Macht über die Schlange. Aber er zerstört sie! « 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 19 Zum Thema 20 ZNT 27 (14. Jg. 2011) (2) Die Frage nach der Zirkulation der Säfte und des pneuma im Inneren war in der Antike Gegenstand breiter Diskussion. Wie ein Kreis keinen Anfang und kein Ende habe, so der Verfasser von De locis in homine, so auch der Körper nicht. 15 Diesen Kreislauf meinte man mit Blick auf den äußeren Menschen wahrnehmen zu können. Dass dieser Kreislauf einem Rhythmus unterworfen ist, zeigt ein weiterer Text. Er vergleicht den inneren Kreislauf mit einem athletischen Wettkampf und verortet diesen wiederum in einem antiken Gymnasium: Eine Signalflagge verweist dann auf den Wendepunkt im Lauf und muss vor dem Rücklauf berührt werden. Der Gedanke des Kreislaufs ist mit einem weiteren Gedanken verbunden: Das Innere des Menschen befindet sich nicht nur in einem stetigen Kreislauf, sondern damit auch in einem ständigen Feld der Erneuerung. Dies betrifft die Säfte ebenso wie das pneuma und die Stoffwechselvorgänge. Damit unterscheidet sich das Innere grundlegend von der äußeren Erscheinung. Denn diese befindet sich gerade nicht im Kreislauf der Erneuerung, sondern der Alterung. (3) Neben den, wie Böhme sie nennt, Leibesinseln, die auf Zirkulation der Substanzen basieren, sprechen medizinische Texte, auch wenn dies nun für uns Erstaunen hervorrufen mag, von Hohlräumen. So geht der Verfasser des ersten Buchs von De morbis 16 davon aus, dass wir nur deshalb frieren, weil der Körper im Inneren nichts habe, »was sich entgegenstellt, sondern Hohlraum [sei]« (CH De morbis I 26). Diese Hohlräume, so die Vorstellung, erzeugten den Schall und waren lediglich angefüllt mit pneuma. Einige Schriften verorten jedoch auch das sōma in diesen Räumen und deuten sōma dann gerade als einen Körper, der körperlich nicht fassbar ist! So kann eine Schrift behaupten, dass das »Körperinnere fleischlos« (CH De locis in homine 13.6) sei und das sōma selbst nicht sichtbar. Diese Diskussion beschäftigt die antike Medizin bis zu Galen, der im Gegensatz zu Herophilus das sōma als sichtbar deutet. Fraglich ist, ob diese räumliche Kategorie des Körpers auch auf neutestamentliche Texte anwendbar ist, wie wir diese beispielsweise von Paulus kennen, wenn er schreibt »Wisst ihr nicht, dass ihr Tempel Gottes seid […]? « (1Kor 3,16f.) oder in 1Kor 6,19, wo Paulus das Bild des Tempels mit sōma verbindet? Dass in 1Kor 3,5-18 unterschiedliche uns aus der antiken Architekturtheorie bekannte Begriffe mit sōma verbunden werden, legt einen Bezug zu den genannten Traditionen nahe. Dies gilt besonders dann, wenn man das anthropomorphe Maßsystem der Antike mit einbezieht: der menschliche Organismus ist Grundlage der architektonischen Maße, so dass man von einer Äquivalenzbeziehung zwischen physischem und architektonisch-sakralem Raum sprechen kann. 17 2. Am Leitfaden des Leibes: Die Einheitlichkeit des so¯ ma Wir haben gesehen: Der menschliche Körper bildet den Austragungsort für Verhältnisbestimmungen im Körper. Ist der Körper dann aber noch als Einheit zu betrachten? Und ist der Körper nur die Summe aller Teile oder ist er mehr als das? Bemerkenswert ist dazu eine kurze Stellungnahme eines Traktats: »Der Körper hat keinen Anfang und kein Ende« (CH De locis in homine 1). Zentral ist vielmehr die Zirkulation des »Inneren«. Ausgangspunkt des Textes ist, dass der Körper eine Einheit bildet. Diese Einheit wird gleichzeitig auch als Grundlage für die Lehre der Körperteile einerseits und des Austausches zwischen den Körperteilen andererseits gedeutet. Beide Lehren entnimmt der Autor der aktuellen medizinischen Diskussion der Antike. Die Verbindung der einzelnen Körperteile ist durch Zirkulation - in erster Linie der Körperflüssigkeiten - gegeben. Dabei ist Zirkulation nicht im Sinne des Austausches, beispielsweise als Blutzirkulation, zu denken. Es geht vielmehr um ein Auf und Ab der Flüssigkeiten im Sinne von Ebbe und Flut. 18 Wir haben schon festgehalten, dass die Verbindung zwischen den Körperteilen thematisiert wird. Besonders homoethnia (Menschen derselben ethnischen Gruppe) und ethnē (eine spezifische Gruppe Menschen) beschreiben den Körper anhand der Metapher einer Gemeinschaft vieler Gruppen. Bemerkenswert ist auch der Ausdruck »in jedem [pan] einzelnen Teil fühlt der Körper den Schmerz«, da die prädikative Stellung von pan intendiert, dass der ganze Körper in jedem Teil den Schmerz empfindet. Zahlreiche Autoren wie der Verfasser von De hebdomadibus, Philo von Alexandrien (15 v.-40 n.Chr.), Nicomachus von Gerasa (1.Jh. n.Chr.), Clemens von Alexandrien (150-215 n.Chr.), Macrobius (395-423 n.Chr.) und viele andere haben sich hinsichtlich der Einheitlichkeit des sōma eines Menschen mit Arithmologie auseinandergesetzt. Es ist bemerkenswert, dass die genannten Autoren dafür in besonderem Maße die Siebenzahl herangezogen haben. Mit der Siebenzahl sind »Der Körper hat keinen Anfang und kein Ende« (CH De locis in homine 1) 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 20 Annette Weissenrieder »Am Leitfaden des Leibes« ZNT 27 (14. Jg. 2011) 21 verschiedene Aspekte verbunden, die von der Frage nach den artes liberales, über die nach dem Zusammenhang zwischen Makro- und Mikrokosmos bis hin zu der nach der Struktur des Körpers, der Seele und einzelner Körperteile - vorzugsweise des Kopfes - reichen. Die Arithmologie, die dem Zahlbegriff das moderne Charakteristikum der Verbindung mit der rational bestimmten Quantität nimmt und an seine Stelle eine irrationale, mystische oder symbolische Deutung setzt, resultiert nach S. Grebe ursprünglich aus abergläubischen Vorstellungen. 19 Man kann jedoch auch weniger wertend eine Zuordnung verschiedener Eigenschaften mit konkreten Zahlen bemerken. Diese Zuordnung kennen wir schon durch pythagoreische Kreise, die ein religiös-mystisches Interesse entwickeln und in den Zahlen einen Schlüssel zur Ganzheit finden können. Zentraler Stellenwert kommt der Arithmologie in medizinisch-philosophischen Texten der Antike zu: Hier werden die physis und Prozesse des menschlichen Körpers und der Seele anhand von Zahlensymbolik erläutert. Interessant ist, dass bei allen uns bekannten Autoren durchgängig der Kopf als erstes Körperteil genannt wird, als zweites und drittes häufiger auch Hände und Füße. Nicomachus und Macrobius bezeugen auch die Organe, die für die Verdauung von Essen und Trinken zuständig sind. Bei Philo findet sich folgende Beschreibung: »Untersucht jemand die inneren und äußeren Körperteile, dann findet er [oder sie] sieben Teile unter [der Leitung des Kopfes]; Die sichtbaren Teile sind Kopf, Brust, Bauch, zwei Hände und zwei Füße.« 20 Diese Textbasis ist m.E. für neutestamentliche Forschung deshalb weiterführend, weil sie Konnotationen physiologischer, soziologischer und ökonomischer Provenienz gleichermaßen berücksichtigt, die auch für den ersten Korintherbrief tragend sind. In 1Kor 12,12-31 konstituiert die Nennung der menschlichen Körperteile das sōma. Der Kontext ist demnach ein physiologischer, der dann mit den Gliedern der Gemeinde analog gesetzt wird. Das sōma selbst ist nur über die Glieder sichtbar und erfahrbar. Sie konstituieren den Leib. Damit rückt das Leibmodell in 1Kor 12 in die Nähe physiologischer Modelle der Antike, von denen die Schrift De hebdomadibus, von der Siebenzahl des Leibes, eines überliefert. Es besagt: Das menschliche und kosmologische sōma konstituiert sich über die Körperglieder, die sowohl die inneren Organe als auch Gliedmaßen, den inneren und äußeren Menschen, meinen. Die Wirkmächtigkeit der Glieder konstituiert den Leib nach außen hin. Daneben sind das Vermögen zu wirken, Wirkung zu erleiden und die Widerständigkeit (antitypia) definierende Merkmale für Körper in einer Reihe von Texten. 21 Eines ist jedoch deutlich: sōma bietet die Grundlage, auf die hin alle anderen Aspekte bezogen sind. 22 Betrachten wir unter diesem Aspekt 1Kor 12: Anlass für die Vermutung, dass 1Kor 12,12-31 am sōma- Modell der Siebenzahl orientiert sein könnte, sind die sieben sōma-Glieder, die Paulus in einer Aufzählung nennt. Er erwähnt hier neben den beiden Füßen die Hand, das Ohr, das Auge, die Nase (Geruch) und das Haupt. Wie in den Schriften zur Siebenzahl alle Glieder gemeinsam einen Leib bilden, in dem das Gleichgewicht der Glieder zentral ist, so auch im paulinischen Konzept. Wie in den Schriften über die Siebenzahl alle Glieder leiden, wenn ein Glied erkrankt ist, so auch in 1Kor 12,12-30. Die Zahl Sieben konstituiert in beiden Schriften das Gleichgewicht der Glieder. Auffallend ist, dass die Gemeinde nicht mehr selbst den Leib konstituiert, sondern vielmehr die Glieder (melē: 12,14ff.), die der Leib Christi sind. Als Glieder der Gemeinde werden gemäß ihrer Funktion weibliche und männliche Apostel, Propheten, Lehrer, Wundertäter, Heiler, Zungenredner und Ausleger genannt. Der Leib Christi und die Glieder der Gemeinde können aufgrund der weiten Rezeption der Siebengliedrigkeit des Leibes leicht mit der Hebdomadenlehre der Hippokratiker, der Stoiker und Philos assoziiert werden. Dass wir davon ausgehen können, dass die Lehre über die Siebenzahl des Körpers in Korinth bekannt war, legt sich aufgrund folgender Beobachtungen nahe: Eine Erwähnung des Isthmos von Korinth an einer zentralen Stelle des »Weltenkörpers« in einer siebenteiligen Weltkarte, die im elften Kapitel von De hebdomadibus zu finden ist, war in der antiken Welt bekannt. Nach Roscher erinnert sie in ihrer Anlage an die erste Weltkarte des Milesiers Anaximandros. 23 Nach der - jedoch stilistisch verderbten - lateinischen Ausgabe des Ambrosianus lautet der Text: »Auch die ganze Erde zerfällt in sieben Teile: 1. Sie hat als Kopf und Gesicht den Peloponnes, den Wohnort hochgesinnter Männer [und Frauen]. 2. Den Isthmos, entsprechend dem Rückenmark [-Hals]. 3. Ionien als Zwerchfell. 4. Den Hellespont als Schenkel. 5. Den thrakischen und kimmerischen Bosporus als Füße. 6. Ägypten und das ägyptische Meer als Bauch [d.h. den oberen Teil]. 7. Pontos Euxeinos und Maioris als unteren Bauch [Harnbzw. Zeugungsorgan].« 24 Wie auch bei den genannten Körpermodellen werden hier die Glieder vom Kopf bis zu den Füßen genannt. 25 Dem Isthmos in Korinth kommt in dieser Karte auf zweifache Weise eine zentrale Rolle zu: Zum einen nimmt Korinth eine 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 21 Zum Thema 22 ZNT 27 (14. Jg. 2011) zentrale Stellung als Hals und Rückenmark und somit eine wichtige Funktion für die Nervenstränge ein, zum anderen scheint Korinth durch seine geographisch günstige Lage offensichtlich als Nadelöhr zu den westlichen Kolonien, dem persischen Weltreich und Athen zu gelten, die wohl aus diesem Grund nicht erwähnt werden. Falls unsere Vermutung zutreffen sollte, könnte man den paulinischen sōma-Begriff in 1Kor 12 somit u.a. im Kontext der kosmologischen Deutungen der Diätetik deuten, für die das Gleichgewicht zwischen Mikro- und Makrokosmos zentral ist. Paulus deutet Leib demnach als einheitliches, unteilbares Gebilde, das jedoch als Ganzes nochmals mehr ist als nur die Summe seiner Glieder. Dass eine Deutung des Leibbildes auch Auswirkungen auf das Verständnis des Abendmahls in 1Kor 11 hat, wird in der Forschung häufig bemerkt. Zentral ist dabei die Frage nach der Wendung diakrinein to sōma, die vor diesem Kontext als Aufforderung an die Korinther zu verstehen ist, die besondere Eigenart dieses sōma richtig zu würdigen und zu achten, also »zu unterscheiden« (diakrinein), zumal sie ein Teil dieses Körpers sind. Würdigen sie den Leib nicht, gefährden sie sich selbst und andere, indem sie als Glieder nicht mehr den Leib des Herrn konstituieren. So kann mit Jens Schröter formuliert werden: »Die Kranken und Toten sind dabei nicht diejenigen, die das Mahl unwürdig gefeiert haben. Vielmehr macht Paulus deutlich, dass unwürdiges Feiern die Gemeinschaft schädigt und es deshalb zu Krankheit und Todesfällen gekommen ist. Diese Todesfälle werden als eine erzieherische Maßnahme des Herrn (V.32: paideuein) gedeutet, die zu vermeiden gewesen wäre, wenn die Gemeinde ihr Verhalten selbst beurteilen und daraus die nötigen Konsequenzen ziehen würde.« 26 3. Am Leitfaden des Leibes: So¯ ma und psyche¯ Die Frage nach der Einheitlichkeit des Körpers ist noch in anderer Hinsicht zentral: Nicht nur in philosophischen Traktaten ist die Frage nach der Relation von Körper und Seele zentral. Sōma wird in einigen zentralen medizinischen Texten wie dem Corpus Hippocraticum auch als Korrelat zu psychē genannt. Es ist bemerkenswert, dass psychische Phänomene wie Intelligenz, Emotionen, Wahrnehmung und Bewegung fast durchgehend anhand der Beschaffenheit des Körperteils beurteilt werden, dem diese zugerechnet werden. Beide Aspekte, sōma und psychē, kennzeichnen die Natur des Menschen: äußere Erscheinung und Charakter bzw. Verstand, die zudem auch geschlechtsspezifisch sind. Grundsätzlich ist die psychē das dem Leben zugrundeliegende Prinzip, das im Falle einer Ohnmacht oder gar des Todes entweicht. 27 Der Traktat De victu, der der Diätetik und den Träumen gewidmet ist, setzt sich intensiver mit der psychē im Verhältnis zum Körper auseinander: Gefragt wird, aus welchen ursprünglichen Bestandteilen der Mensch als Gattungswesen aufgebaut ist und von welchen elementaren Faktoren er beherrscht wird. Untersucht werden Abweichungen von der zur Orientierung dargestellten Norm, Ansätze gesundheitlicher Gefährdung, die durch Diät ausgeglichen werden können, und Abweichungen von der normalen Intelligenz der psychē, denen man ebenfalls diätetisch begegnen kann. Ein weiteres grundlegendes Thema ist die Embryonalentwicklung, denn der psychē wird die Rolle als Lebensbringer bezüglich des männlichen und weiblichen Samens zugeschrieben. 28 Die Charakteristika des Körpers des Kindes richten sich nach einer Koinzidenz von männlichen und weiblichen Sekreten der Eltern. Die Charakteristika der Seele hingegen können auf eine Kombination von männlichen und weiblichen Komponenten zurückgeführt werden. Doch nicht nur geschlechtsspezifische Charakteristika lassen sich auf diese Weise ablesen, sondern auch ethnische Besonderheiten von Körper und Verstand bzw. Seele, wie der Verfasser der Schrift De aere aquis locis zu zeigen versucht, indem er beweisen möchte, dass sowohl die körperliche Konstitution als auch die des Verstandes auf der geographischen Zuordnung des Landes und der Jahreszeit beruht. Zudem kennen die Schriften »Falls unsere Vermutung zutreffen sollte, könnte man den paulinischen sōma-Begriffin 1Kor 12 somit u.a. im Kontext der kosmologischen Deutungen der Diätetik deuten […]« »Die Charakteristika des Körpers des Kindes richten sich nach einer Koinzidenz von männlichen und weiblichen Sekreten der Eltern. Die Charakteristika der Seele hingegen können auf eine Kombination von männlichen und weiblichen Komponenten zurückgeführt werden.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 22 Annette Weissenrieder »Am Leitfaden des Leibes« ZNT 27 (14. Jg. 2011) 23 auch kulturelle Aspekte, die sowohl Körper als auch Seele beeinflussen. Doch ist die psychē in De victu ebenso eine mentale Komponente des Menschen. Die Psychē ist essentiell mit Wärme konnotiert, benötigt jedoch auch Feuchtigkeit und fließt als Wärme im Körper umher ebenso wie Blut. Als mentale Komponente ist die psychē Intelligenz und Charakter des individuellen Menschen und ist zudem bezogen auf Sinneswahrnehmung und Träume. Alle Schriften hippokratischer Provenienz verbindet eines: Körper, Seele und Verstand sind zwar sehr unterschiedliche Phänomene, die jedoch auf ein Erklärungsmodell zurückgeführt werden, die menschliche Natur. Diese umfasst die körperlichen Strukturen, die physiologischen Prozesse und die psychischen Deutungsmuster. Die mentalen Deutungsmuster werden nicht als Epiphänomen des Körpers gedeutet und von daher können wir in den Schriften des Corpus Hippocraticum, die bis ins 1. Jh. n.Chr. datiert werden, nicht von einem Leib-Seele Dualismus sprechen. Platon greift auf Pindar zurück, der für das Subjekt sittlichen Handelns psychē verwendet 29 . Hier kann die sokratische Sorge um die Seele anknüpfen. Die psychē ist das, »was durch das Gerechte besser wird, durch das Ungerechte aber zugrunde geht«. 30 Die Vorstellungen zur psychē werden von Platon zunächst ethisch untermauert, indem sie als Ursprung jeglichen Guten und Übels gedeutet werden, besonders in De re publica, wo er das gute und das schlechte Leben als durch die psychē bedingte sittliche Qualitäten erkennt; grundlegend ist der Erwerb des Wissens, der den Menschen dann zur richtigen Wahl befähige. Aber im Unterschied zum Leib könne die psychē nicht an ihren eigenen Übeln zugrunde gehen. In diesem Zusammenhang ist der Begriff der phronēsis zentral: Sie wird als Aufeinandertreffen der psychē mit der transzendenten Wirklichkeit der Ideen gedeutet, welche letztlich die Befreiung der psychē vom sōma fordert und erst durch den Tod vollendet wird. Anhand verschiedener Überlegungen versucht Platon die Unsterblichkeit der Seele zu zeigen: (1) als Ursache des Lebens schließt die psychē den Tod aus, (2) als Prinzip der sittlichen Selbstbestimmung ist sie letztlich dem Göttlichen ähnlich und (3) apriorisches Wissen kann nach Platon letztendlich nicht anders als durch Wiedererinnerung an eine vorgeburtliche Schau erklärt werden (Plat Phaed 72 e 3-77 a 5; cf. Men 80 d 5-86 c 3). Diese genannten »Beweise« gipfeln jedenfalls in der schon erwähnten sokratischen Aufforderung der Sorge um die psychē. Aristoteles lehnt entschieden Platons Versuch ab, die Natur der Seele als immaterielle Substanz zu erklären, da diese nicht dazu geeignet war, das Verhältnis zwischen Körper und Seele zu erläutern 31 . Vielmehr nimmt er seinen Ausgangspunkt beim Organismus als Ganzem und vermeidet somit den für Platon (und Descartes) zentralen Dualismus. Zentral ist für Aristoteles eine ontologische Untersuchung, die er mit der phänomenologischen Methode verbindet, wobei er auf Begriffe zurückgreifen kann, die er in Metaphysik VII- IX für die Analyse der Einzeldinge entwickelt hat: Seele ist das Lebensprinzip eines jeden Organismus. 32 Ebenso wie Aristoteles von unterschiedlichen Lebensvollzügen ausgeht, wie etwa Ernährung, Wahrnehmung, Denken und Fortbewegung, kann er auch eine unterschiedliche Vielzahl von Seelenvermögen annehmen. Psychē ist die »erste Wirklichkeit eines natürlichen Körpers, welcher die Möglichkeit nach Leben hat«. 33 Sie ist demnach als Ursache des Seins der Menschen, als dessen Wesen und als Bewegungsursprung zu deuten, was heißt: Es ist nicht die Seele, die sich freut, zornig oder traurig ist, sondern der Mensch aufgrund der psychē. Selbst ihr Denkvermögen, der nous, ist wohl nicht getrennt vom Körper zu denken, da Denken immer an Vorstellungen gebunden ist. Aristoteles vertritt demnach einen Antireduktionismus: Einerseits lassen sich mentale Prozesse nur in einer mentalen Sprache erläutern, andererseits sind diese Prozesse aber an physiologische Veränderungen gebunden und lassen sich so in einer physikalischen Sprache beschreiben. Die Stoiker unterscheiden sich von Aristoteles dadurch, dass sie in der Regel die psychē als »das mit uns zusammengewachsene pneuma« beschreiben; sie ist »Körper und bleibt Körper nach dem Tod, aber sie ist vergänglich« 34 . Grundlegend ist die Mischung von Seele und Körper; die teilbaren Stoffe durchdringen sich vollkommen und bewahren dennoch ihr Wesen. 35 Die Körperlichkeit der Seele wird auf drei Gründe zurückgeführt: Zum einen kann nichts Unkörperliches mit dem Körper mitleiden. Zum anderen sind Kinder ihren Eltern auch in seelischer Hinsicht ähnlich, wobei die Ähnlichkeit nur vom Körper ausgesagt werden kann. Schließlich wird der Tod als Trennung der Seele vom Körper gedeutet. Es kann aber nichts Unkörperliches vom Körper getrennt werden, woraus wiederum die Körperlichkeit der Seele folgt. In Bezug auf die Frage nach der Verbundenheit der Seele mit dem Körper bleibt Galen (sprachlich) in der Tradition der Hippokratiker, Platons, Aristoteles und der Stoa, wobei er jedoch nach seinem jeweiligen Interesse auswählt. 36 Grundsätzlich gilt für ihn: Die Seele ist Ursache des Lebens, sie gibt dem Körper Leben, verwaltet und formt ihn bzw. das Leben ist die Wirk- 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 23 Zum Thema 24 ZNT 27 (14. Jg. 2011) samkeit der Seele (Platon und Aristoteles), und in diesem Sinne muss sich auch der Mediziner notwendigerweise mit der Lehre der Seele befassen, denn für einen Arzt seien Seele und Leben dasselbe. Damit räumt Galen der Seele eine Gleichwertigkeit mit dem Körper ein, auf den sie einwirkt. Ohne Körperorgane ist es der Seele jedoch nicht möglich zu wirken: Die krasis der Homöomerien beeinflusst das Wirken ihrer Kraft, so dass diese krasis auf der empirischen Ebene die Seele konstituiert. In diesem Sinne dient die Seele der materiellen Zusammensetzung des Körpers. Zudem müssen die Homöomerien geeignet sein, die Wirksamkeit der Kräfte der Seele aufzunehmen. Von Platon und Aristoteles übernimmt Galen die Vorstellung von der Dreiteilung der Seele, aber in spezieller Zuspitzung: Im Anschluss an die Stoiker deklariert Galen den vegetativen Seelenteil als Natur, so dass er letztlich nur noch zwei Bereiche (aber trotzdem drei Seelenteile! ) unterscheidet, den vernünftigen und unvernünftigen Seelenteil (wobei der unvernünftige an der Vernunft teilhaben kann), so dass er zu der Unterscheidung zwischen ethischer und führender Tugend kommt. Dass diese Entscheidung auch Auswirkungen auf den Physisbegriff Galens hat, liegt auf der Hand: Galen kann dementsprechend zwischen der Wirksamkeit der Natur und der der Seele unterscheiden. Neutestamentliche Studien beziehen sich häufig auf das platonische Verständnis der Unsterblichkeit der Seele, um den traditionsgeschichtlichen Kontext von psychē zu erhellen. Die medizinisch-philosophische Tradition eröffnet jedoch nochmals andere Perspektiven: psychē ist nicht nur sterblich und substanzhaft, sondern auch zusammen mit dem Körper für Wachstum und Tod des Menschen verantwortlich. Ein Beispiel mag dies wiederum verdeutlichen: die Aufforderung des Nicht-Sorgens in der Bergpredigt (Mt 6,24-34). Das Zünglein an der Waage zum Verständnis des Textes ist merimnaō. Einige Ausleger haben darauf verwiesen, dass merimnaō - besonders wenn man das Alte Testament mit einbezieht - ein »Sich-Mühen und Abmühen um das zukünftige Wohl« willen meint. Es geht um Streben nach Sicherheit. Demgegenüber hat man merimnaō aus dem hellenistischen Kontext abgeleitet, der eine Konnotation des Handelns »aus ängstlicher Sorge um etwas« und »Sich-Sorgen im Blick auf die Zukunft« beinhaltet. Diese Sorge bezieht sich auf die Plage, die der morgige Tag hervorbringt (V.34), auf die uns zur Verfügung stehende Nahrung und Kleidung (V.25.28), auf psychē und sōma (V.25). Die Sorge ist im Unterschied zur erstgenannten Deutung durch Angst motiviert, die in den antiken Texten oft im Zusammenhang mit Krieg und Verfolgung vorkommt. Zudem ist der Angstcharakter der Sorge betont durch die Fragen in V.31: »Was sollen wir essen? Was sollen wir trinken? Was sollen wir anziehen? « Die zentral vorangestellte Paränese enthält nun neben der Angst noch zwei weitere semantische Unklarheiten: »Macht euch nicht Sorgen wegen der psychē.« Es ist das einzige Mal, dass wir auf psychē im MtEv treffen. In der heutigen Forschung wird der Begriff psychē fast durchgängig mit »Leben« übersetzt, da eine Seele nicht esse und trinke, während ein Leben durch Nahrung erhalten werde. Dass diese Einschätzung fragwürdig ist, zeigen zahlreiche antike philosophisch-medizinische Abhandlungen, besonders aber Texte, die man dem Bereich der Diätetik zuordnet, die den Grundfragen der (Über-)Ernährung, Leib und Seele betreffend, gewidmet sind, aber auch anderen Fragen des täglichen Lebens, wie der Bekleidung. Psychē ist demnach, wie auch sōma, angewiesen und beeinflussbar durch Essen und Trinken. Hinsichtlich der Diätetik jedoch gilt: Wer sich um die Auswirkung der Nahrung auf seine Seele kümmert, gehört der Oberschicht an. Auch hinsichtlich von sōma ist das Verständnis unklar, denn die Bedeutung changiert zwischen dem physiologischen »Leib« und der »Person«, was den ganzen Menschen in seiner Außenwirkung meint. Beide Konnotationen sind hier grundsätzlich möglich, denn physiologische Aussagen zur Seele des Menschen gehen einher mit einem physiologischen Verständnis des Leibes, aber dass Kleider Leute machen, war schon in der Antike zentral, so dass eine Deutung als Person einleuchtend erscheint. Beide Konnotationen, die Bemühungen um die Nahrung der Seele und die Bekleidung, wollen jedoch nicht zu der Sorge passen, die durch Angst motiviert wird, denn sie betreffen ein grundloses Sich-Sorgen, das gerade nicht auf die Grundbedürfnisse des Lebens bezogen ist. Dass die Sorge hier in ihrer Ambivalenz gezeigt wird, entspricht wohl ihrer Eigenart. Der Sorge des Menschen wird die Fürsorge Gottes gegenübergestellt: Gott-Vater ernährt Vögel (V.26), kleidet Lilien (V.30) und er weiß um die Bedürfnisse des Menschen (V.32) und trägt für das morgige Brot Sorge (V.34). »Ohne Körperorgane ist es der Seele jedoch nicht möglich zu wirken: Die krasis der Homöomerien beeinflusst das Wirken ihrer Kraft, so dass diese krasis auf der empirischen Ebene die Seele konstituiert.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 24 Annette Weissenrieder »Am Leitfaden des Leibes« ZNT 27 (14. Jg. 2011) 25 Antike Medizin, Philosophie und Heilkulte befinden sich ab dem 4. Jahrhundert v.Chr. in einem Prozess der Ausdifferenzierung, den sie nicht zuletzt auch »am Leitfaden des Leibes« vollziehen. Dieser Prozess ist im 1. Jh. n.Chr. noch nicht abgeschlossen. Ich meine, dass es durchaus sinnvoll sein kann, neutestamentliche Texte innerhalb dieses Prozesses der Ausdifferenzierung von Medizin und Philosophie zu verorten und unsere bisherige Auslegung gegebenenfalls nochmals zu überdenken. Anmerkungen 1 Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. M. Vogel und St. Alkier für ihre weiterführenden Hinweise. 2 F. Nietzsche, KSA VII 104 und KSA XIII 40, siehe H. Schipperges, Am Leitfaden des Leibes, Stuttgart 1975. 3 Siehe besonders meine Verweise zu den jeweiligen anthropologischen Begriffen, die ich am Anfang jeden Kapitels zusammengestellt habe, in: A. Weissenrieder/ T.W. Martin, Embodying New Testament Anthropology in Context. A Sourcebook, Tübingen 2011 (im Druck). 4 Zum Begriff der Ausdifferenzierung siehe N. Luhmann, »Operational closure and structural coupling: the differentiation of the legal system«, Cardozo Law Review 13 (1992): 1419-1441. 5 Siehe dazu mein Kapitel: »Theory and Practice in Ancient Medicine and Philosophy. A Brief Introduction« in: A. Weissenrieder/ T.W. Martin, Embodying New Testament Anthropology in Context. A Sourcebook, Kapitel II. 6 Gal De diebus decretoriis 2.5. 7 Die Mikrokosmos-Makrokosmos-Beziehung zwischen innerem und äußerem Körper wird heute in der Literatur in zwei grundsätzliche Auslegungen gefasst: Die eine mag man eher materialistisch nennen. Sie versucht unter dem Titel »Der offene Leib« den Menschen als Ensemble kosmischer Verhältnisse zu verstehen und den Lebensprozess als Durchzug der kosmischen Medien durch den Leib zu deuten. Die andere, vielleicht eher als idealistisch benennbare Interpretation, versucht unter dem Titel »Der sprechende Leib«, den menschlichen Leib im Netz kosmischer Zeichengefüge zu sehen und versteht Leben entsprechend semiologisch (G. Böhme, Der offene Leib. Eine Interpretation der Mikrokosmos-Makrokosmos-Beziehung bei Paracelsus, 44-58, und H. Böhme. Der sprechende Leib. Die Semiotiken des Körpers am Ende des 18. Jahrhunderts und ihre hermetische Tradition, 144-185, in: D. Kamper/ Ch. Wulf [Hgg.], Transfigurationen des Körpers. Spuren der Gewalt in der Geschichte, Berlin 1989). 8 Auch wenn die medizinisch-philosophischen Schulen sich grundlegend unterscheiden, ist eines doch auffallend: der Rückgriff auf die Tradition des Corpus Hippocraticum. Besonders intensiv greift Galen im 2. Jh. auf die Hippokratiker zurück, mit dem Anspruch, dass ausschließlich seine Lesart dem wahren Gehalt des Hippokratischen Werks gerecht werde. 9 Einige Bemerkungen in lus. geben uns Hinweise auf in der Antike aktuelle Fragestellungen: So ist das Verbot zur Beihilfe zum Selbstmord durch Gift gegen Pharmazeuten und Ärzte gerichtet, die hochwirksame Gifte zubereiteten (Theophr. H. Plant. IX 16,8), auf das Thema Abtreibung weisen die genannten Abtreibungszäpfchen hin, die zwar sonst im Corpus Hippocraticum nicht mehr erwähnt werden, jedoch andere Abortativa (siehe De muliebribus I 68 und De superfetatione 27), und das Verbot des Steinschnitts zeigt die Angst vor Zeugungsunfähigkeit der Männer (nur an dieser Stelle werden handwerklich geschickte Männer im CH erwähnt). Die Erwähnung der Heilkulte weist zudem auf die Frage nach dem Zusammenhang von Heilkult und rationaler Medizin. Der Hippokratische Eid besaß in der Antike jedoch nicht die Gültigkeit, die ihm in der Neuzeit beigemessen wird. Er bezeugt neben anderen hippokratischen Schriften der Standesethik nur eine Sichtweise ärztlicher Selbstbeschränkung. Wichtig ist: Das Verhalten der Ärzte unterlag keinerlei staatlicher und öffentlicher Kontrolle. 10 Siehe dazu den hervorragenden Aufsatz von T. Tieleman, »Religion und Therapie in Galen« in: G. Etzelmüller/ A. Weissenrieder, Religion und Krankheit, Darmstadt 2010, 83-95. 11 Siehe dazu meine Einleitung zu Kapitel 12: sōma in: A. Weissenrieder/ T.W. Martin, Embodying New Testament Anthropology in Context. A Sourcebook. 12 Dies wird auch durch den definiten Artikel to deutlich, der indiziert, dass diastaton auf einen Körper generell deutet. So muss man fragen, ob ein solcher Körperbegriff auf einen (unkörperlichen) Ort ebenso anzuwenden ist, wie auf einen physikalischen Körper. 13 Gal De locis affectis VIII.1 (Kühn); meine eigene Übersetzung. 14 F. Solmsen, Aristotle's System of the Physical World. A. Comparison with his Predecessors, Ithaca/ New York, 1960, 342ff. und 360-361. 15 Die Anhänger der Blutkreislauftheorie sahen in diesem Bild vom Kreis ihren Anhalt der Theorie in der Antike. Vgl. dazu die kritischen Äußerungen von Ch.R.S. Harris, The Heart and the Vascular System in Ancient Greek Medicine. From Alcmaeon to Galen, Oxford 1973, 52, der zusammenfasst: »We must compare this use of metaphor of circularity with the one just quoted from Places in man, where the author used this phrase, as we saw, not to hint at any circulation but to express, in a picturesque way, the notion of the body as an organism, no express reference being made to blood vessels, but there is no mention at all of their contents, except the general statement that pneuma and liquid flow through them to the various parts of the body.« 16 Littré VII,118. 17 Siehe dazu ausführlich meinen Aufsatz »Wisst ihr nicht, dass ihr Tempel Gottes seit« 1 Kor 3,16f. im Kontext antiker Architekturtheorie und Numismatik in: D. Balch/ A. Weissenrieder (Hgg.), Contested Space, Tübingen 2011 (im Druck). 18 Damit impliziert der Autor zwei Schlussfolgerungen: Krankheit ist als Störung der Zirkulation aufzufassen und das wiederum ist der Beginn aller Medizin, was dann im zweiten Kapitel ausgeführt wird (cf. De locis in 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 25 Zum Thema 26 ZNT 27 (14. Jg. 2011) homine 2). Interessant ist nun aber, dass der Text durch die Partikel men einen Kontrast zwischen Anfang und Ende impliziert und damit den Zirkulationsgedanken von Anfang an hinterfragt. 19 Vgl. S. Grebe, Martianus Capella: ›De nuptiis Philologiae et Mercurii‹. Darstellung der sieben freien Künste und ihrer Beziehungen zueinander, Leipzig/ Stuttgart 1999, 388ff. 20 Philo Opif. 118; meine Übersetzung. 21 Eine besonders eindrückliche Stelle ist Ps.-Galen, Quod qualitates incorporae sint XIX, 483 (Kühn). 22 Vgl. dazu ausführlich meine Einleitung in Kapitel VI, in: A. Weissenrieder/ T.W. Martin, Embodying New Testament Anthropology in Context. 23 Vgl. dazu W.H. Roscher, Die Hippokratische Schrift von der Siebenzahl in ihrer vierfachen Überlieferung, Studien zur Geschichte und Kultur des Altertums VI, 3f., Paderborn 1913 (= New York 1967), 51. 24 Corpus Hippocraticum, De hebdomadibus 11, nach Ambros. Lat G 108. 25 Interessant ist, dass Ionien die Funktion als Zwerchfell und somit als Zentrum der Welt zukommt, während die Peloponnes der Welt das Gesicht und den Kopf gibt, was darauf hinweist, dass man hier die politische Macht situiert hat. Vgl. dazu Roscher, Die Hippokratische Schrift von der Siebenzahl in ihrer vierfachen Überlieferung, 118. 26 J. Schröter, Das Abendmahl. Frühchristliche Deutungen und Impulse für die Gegenwart, Stuttgart 2006, 37. 27 B. Simon, Mind and Madness in Ancient Greece. The Classical Roots of Modern Psychiatry, Ithaca 1978, Kap. 2. 28 Cf. bes. De victu I 28f.; E. Lesky, Die Zeugungs- und Vererbungslehren der Antike und ihr Nachwirken, Wiesbaden 1950, 86ff. 29 Pindar Frg. 131 b, vgl. dazu die Ausführungen bei E.R. Dodds, The Greek and the Irrational, Berkeley/ Los Angeles 1951, 135-139. 30 Plato Crit. 47 d 4f. 31 Siehe besonders Arist. De anima I 3f. Es soll weder in dieser kurzen Zusammenfassung noch in der Präsentation einiger weniger Passagen des Aristoteles der Versuch gemacht werden, Aristoteles Theorie der psychē genauer zu charakterisieren, sei es dualistisch, materialistisch, funktionalistisch etc. Siehe dazu den Sammelband: M.J. Nussbaum/ A. Oksenberg Rorty Essays on Aristotle’s De Anima, Berkeley/ Los Angeles 1992. Hinsichtlich eines Dualismus sind die Ansätze von H.M. Robinson, »Mind and Body in Aristotle«, Classical Quaterly 28 (1978), 105−124, und Shields, Soul and Body in Aristotle, 103- 138 empfehlenswert, hinsichtlich des Materialismus siehe R. Sorabji, »Body and Soul in Aristotle«, Philosophy 49 (1974), 63-89, und schließlich hinsichtlich des Funktionalismus siehe D.K.W. Modrak, Aristotle: The Power of Perception, Chicago/ London 1987. 32 Neben seinem metaphysischen Zugang lässt sich bei Aristoteles doch durchaus ein bio-medizinischer Erkennen, auch wenn er sich selbst nicht als Mediziner hervorgetan hat; siehe dazu die hervorragende Diskussion von Ph. Van der Eijk, »The Matter of Mind. Aristotle on the Biology of ›Psychic‹ Processes and the Bodily Aspects of Thinking«, in: W. Kullmann/ S. Föllinger (Hgg.), Aristotelische Biologie. Intentionen, Methoden, Ergebnisse, Stuttgart 1997, 231−258. 33 Arist. De anima II 1.412 a 27f. 34 Chrysipp Frg. 774 SVF 2,217. 35 Chrysipp Frg. 473 SVF 2, 154, 22-28; 155, 24-36. 36 Galen beteiligt sich nicht an Spekulationen über das Wesen der Seele, denn diese sei für Heilkunst, Ethik, Hygiene oder Politik nicht notwendig. Von zentraler Bedeutung ist es, was der Arzt für die Seele tun kann. NEUERSCHEINUNG A. Francke Verlag www.francke.de Michael Schneider Gottes Gegenwart in der Schrift € ISBN 978-3-7720-8379-2 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 26 Unter Proskynese kann man vielerlei verstehen. Gesten der Unterwerfung und vor allem religiöser Verehrung können in verschiedenster Ausprägung zeitgleich praktiziert werden, was die Photographie 1 deutlich macht: Die Anhänger des Jainismus, einer über 2500 Jahre alten indischen Religion, vollziehen hier Gesten, die in unterschiedlicher Intensität die Selbstverkleinerung vor der Gottheit Bahubali zeigen. Oben haben sich Gläubige niedergekniet; in der Mitte sieht man zwei Gläubige, die nackt der monumentalen Statue die Füße küssen; ganz unten hat sich ein Anhänger gestreckt auf den Bauch gelegt, er vollzieht eine Prostration. Alle drei Formen fallen unter das antike Verständnis von Proskynese. 1. Proskynese: Bedeutungsspektrum in NT und (früher) Kaiserzeit Im Neuen Testament wird den Polytheisten 2 zum Vorwurf gemacht, sie würden Götzen anbeten; auch auf den Herrscherkult wird hierbei angespielt, wenn es beispielsweise heißt »sie beteten den Drachen an« (Offb 13,4) oder »sie beten das Tier an« (Offb 13,12). Das Tier ist Rom (Offb 17,9). Als Wort für das Anbeten wird proskynein verwandt, was im Sinne von »als Gott verehren«, aber auch religiös neutral als »wertschätzen« gebraucht werden kann. Der Vorwurf des Johannes lautet also, dass die Polytheisten Formen der Verehrung, die dem einen wahren Gott zustünden, nicht nur auf Götterbilder aller Art, sondern auch auf eine lebendige Person, den römischen Kaiser, anwandten. In der Johannes-Apokalypse wird nicht nur die Idololatrie der Polytheisten gebrandmarkt, sondern es wird auch der Anschein erweckt, dass in der Zeit der Entstehung dieser Schrift ein Zwang zum Herrscherkult bestand, dem Antipas in Pergamon zum Opfer gefallen sein soll (Offb 2,13). Wann dieses frühe Martyrium geschah, kann nicht entschieden werden, denn die Datierung der Apokalypse ist unsicher, zumeist wird 68/ 69 n.Chr. oder die Herrschaftszeit Domitians (81- 96 n.Chr.) vermutet, jetzt auch die Zeit Hadrians (117-138 n.Chr.). Die Historizität der Sache bzw. die Berechtigung der Bezeichnung als Märtyrer soll hier aber nicht geprüft werden, es geht vielmehr darum zu prüfen, inwiefern es in der frühen Kaiserzeit überhaupt Handlungen körperlicher Art gab, die die Bezeichnung Proskynese rechtfertigen würden, bzw. welche anderen Loyalitätsgesten im Imperium Romanum verbreitet waren. Diese körperlichen Vollzüge sind auch deshalb interessant, weil sie in weiteren Beziehungen zur Entstehung des Christentums im 1. Jahrhundert standen, das sich ja von Palästina aus zunächst in den östlichen Provinzen und größeren Hafenstädten wie Rom verbreitete. Auch Paulus und die Evangelisten kannten mutmaßlich die meisten dieser Loyalitätsbezeugungen und somit gehörten diese Rituale zur Lebenswelt, in der das Neue Testament entstand. Unter Proskynese konnte man in der Welt des Neuen Testaments und auch im späteren Verlauf der Kaiserzeit verschiedene Formen der Verehrung und Wertschätzung verstehen. Die lateinische Entsprechung ist adorare (»anbeten«). 3 Die Griechen verstanden unter proskynein die Anbetung (eines) ihrer Götter. Etymologisch gesehen bedeutet das Wort »zu-küssen«, d.h. einen Hand- oder Fußkuss ausüben. In historischer Literatur wird darunter oft der mit dem Fußkuss verbundene Kniefall verstanden, aber diese Reduzierung ist in der frühen Kaiserzeit, mit der wir uns hier befassen, nicht in jedem Fall gegeben. Die Johannes-Apokalypse ist ein vielschichtiger Text, dem bereits ein Themenheft der ZNT (22) gewidmet war. 4 Seine Offenbarungen lassen naturgemäß verschiedenste Deutungen zu. Was ist der »Thron des Satans« in Pergamon (Offb 2,13)? Wirklich der Tempel von Augustus und Roma? Oder nicht doch ein Zeus- oder Asklepios-Altar? 5 Im Matthäusevangelium spielt Zum Thema Markus Sehlmeyer Proskynese und andere Loyalitätsgesten in der frühen Kaiserzeit - Christen, Polytheisten und der Körper ZNT 27 (14. Jg. 2011) 27 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 27 Zum Thema 28 ZNT 27 (14. Jg. 2011) die Anbetung des Jesus-Kindes durch die Magier, die als Sterndeuter vorgestellt werden, eine große Rolle (Mt 2,1-12: V. 11). Hier wird der Kniefall 6 hervorgehoben, es heißt, dass die Magier niederfielen und die Anbetung vollzogen. An anderen Textstellen bei Matthäus 7 wird der Kniefall nicht betont, so dass in manchen Szenen, in denen Jesus angebetet wird, nicht klar ist, ob die Anbetung zwangsläufig mit einem Kniefall verbunden war. Eine Passage legt zumindest nahe, dass man Proskynese bei Matthäus synonym mit einer kniefälligen Geste verstand: die Szene mit dem verschuldeten Sklaven. 8 Wie verhält sich nun das neutestamentliche Verständnis von Proskynese als einer (kniefälligen) Verehrung, die nur dem einen Gott zukommt, mit den im Imperium Romanum praktizierten Gesten, v.a. der Kaiserverehrung? 2. Kniefällige Proskynese als Ausnahme im Herrscherkult In der frühen Kaiserzeit kommunizierten Kaiser und Volk in einer Vielzahl von Formen. Der Kaiserbiograph Sueton erwähnt verschiedenste Gesten; so konnten beispielsweise zur Begrüßung die Handflächen gen Himmel gestreckt werden. 9 Das Falten der Hände war Teil der Proskynese - wenn sie denn praktiziert wurde. Für das kaiserliche Selbstverständnis als princeps war diejenige Form der Proskynese problematisch, bei der Kniefall und Fußkuss verbunden wurden. Gerade der Kniefall galt als Zeichen despotischer Herrschaft bzw. göttlicher Anbetung, 10 wie sie etwa den Persern zugeschrieben und später auch bei den Römern (Diokletian) 11 praktiziert wurde. Hellenistische Herrscher hatten sich in der Nachfolge Alexanders durch Kniefall verehren lassen, aber zum römischen Prinzipat passte diese Unterwürfigkeit sehr schlecht. Gute Kaiser 12 wie Augustus, Claudius oder Vespasian lehnten sie wohlweislich ab. Caligula und Domitian ließen sich gelegentlich die Hand küssen, was zu ihren Zeiten als unsittlich bzw. ungewöhnlich angesehen wurde. 13 Der princeps sah sich im Allgemeinen als einen unter gleichen an, als ersten Mann im Senat. Von einem römischen Bürger konnte er sich nun wirklich nicht in so devoter Weise begrüßen und verehren lassen. Aber orientalische Klientelkönige durften den Kaiser fußfällig begrüßen, etwa Tiridates den Kaiser Nero (Cass. Dio 62,23,3). Wie sieht es mit der Dynastie des Herodes aus? Von Proskynese vor dem Kaiser hören wir nichts, aber bei Städtegründungen sah Herodes I. (37-4 v.Chr.) auch Tempel für den Kaiserkult 14 vor. Diese waren für die griechischstämmige Bevölkerung gedacht; die Juden waren vom Kaiserkult ausgenommen. Die Klientelkönigreiche wurden - wie die Provinzen - als integrale Bestandteile des römischen Reiches verstanden, als membra (»Glieder«, Suet. Aug. 48). Im Osten des römischen Reiches entstanden schon seit der Zeit des Augustus 15 römische Tempel, die dem Kaiserkult dienten. Im Gegensatz zu den römischen Verhältnissen war hier die Anbetung des Kaisers auch mit körperlichen Gesten denkbar. Der Normalfall war aber wohl eher das Verbrennen von Weihrauch oder das Verschütten von Wein als Opfergaben. Wenn die Loyalität eines Provinzialen in Frage stand, weil ihm beispielsweise die Zugehörigkeit zu den Christen nachgesagt wurde, so musste dieser sich durch ein Opfer für den Kaiser als loyal darstellen. Zu diesem Zweck ließ der Statthalter von Bithynia und Pontus, der jüngere Plinius, Kaiserbildnisse herbeibringen, vor denen die Beschuldigten opfern mussten. 16 Im Allgemeinen jedoch war das Kaiseropfer freiwillig; Unmut erregten Auswüchse, als etwa Kaiser Caligula versuchte, sein Bild im Tempel in Jerusalem aufzustellen. Dass solches die Ausnahme ist, sagt Philo recht deutlich. 17 Die Sitte des Kusses auf Hand oder Fuß wurde erst im 2. Jh. auf den Kaiser übertragen, den man nach langer Abwesenheit aus der Stadt Rom so begrüßte. Das heißt, eine kniefällige Proskynese erfolgte nur in wenigen Ausnahmefällen und war nicht essentiell für die politische Kultur der frühen Kaiserzeit. 3. Die Vielfalt römischer Loyalitätsgesten Wenn ein römischer Kaiser zu Grabe getragen wurde, nahm das römische Volk großen Anteil daran. Die körperlichen Vollzüge der Trauer wurden im Verlauf der Kaiserzeit immer umfangreicher. Als Septimius Severus im Jahre 211 verstarb, wurde er in York eingeäschert und die Asche wurde später in Rom beigesetzt. Dort spielte sich eine merkwürdige Zeremonie ab: Eine Wachsstatue des Kaisers wurde aufgebahrt und von Senatoren wie auch ihren Frauen beweint; der Scheinleib »Für das kaiserliche Selbstverständnis als princeps war diejenige Form der Proskynese problematisch, bei der Kniefall und Fußkuss verbunden wurden. Gerade der Kniefall galt als Zeichen despotischer Herrschaft bzw. göttlicher Anbetung […]« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 28 Markus Sehlmeyer Proskynese und andere Loyalitätsgesten in der frühen Kaiserzeit konnte von den einfachen Römern aber vermutlich ebenfalls aufgesucht und betrauert werden. 18 Ärzte kümmerten sich um das »Wohlergehen« des Kaisers, der somit als Sterbender betrachtet wurde, bis nach sieben Tagen der Tod festgestellt wurde. Dann begab sich der Leichenzug ohne Leiche unter Trauergesängen vom Palatin zum Forum Romanum; nach der Trauerrede wurde der Scheinleib zum Scheiterhaufen gebracht, der mehrstöckig ausgelegt war. Nun konnte das Volk Blumen und Kräuter niederlegen, die mit dem Abbild des Toten verbrannt wurden. Der Kaiser wurde zum Gott. Die geschilderten Akte der Staatstrauer sind nur ein Beispiel für die vielfältigen rituellen Handlungen, mit denen die Römer ihre Loyalität zum Kaiser und zur Reichsreligion bekundeten. Kaiser und Religion waren eng verbunden: Der Kaiser war Oberhaupt der römischen Religion, pontifex maximus; nach seinem Tode konnte er, wenn er ein guter Kaiser gewesen war, auf Senatsbeschluss vergöttlicht werden und wurde dann beispielsweise als Divus Augustus oder Divus Claudius verehrt (Apotheose). Gestürzte Kaiser wie Caligula oder Nero wurden nicht divinisiert, der Senat verbot die Erinnerung an sie, was man damnatio memoriae nannte. Im Folgenden sollen zunächst verschiedene verbale wie non-verbale Rituale untersucht werden, in denen körperliche Vollzüge eine Rolle spielen. Wenn der Eindruck entsteht, dass hier vieles einfach aufgezählt wird, so ist das beabsichtigt. Meines Erachtens gibt es bislang keine Zusammenstellung der Gesten und Rituale, die hier relevant sind. In Abschnitt 4 wird es dann um die Bedeutung der Körperlichkeit dieser Vollzüge gehen, wodurch wir uns der Welt des Neuen Testaments wieder nähern werden. Der Römer hatte im Verlauf der Regentschaft eines Kaisers immer wieder Gelegenheit, in verbaler Form mit dem Kaiser in Kontakt zu treten. Diese Kommunikation war im Allgemeinen keine persönliche, doch konnte das Volk den Kaiser zum Beispiel sehen, wenn er Spiele veranstaltete und ihm entsprechend Beifall zollen. In der römischen Religion war der Glaube nicht so bedeutend wie die Orthopraxie, 19 womit ich die korrekte Ausführung der religiösen Rituale meine. Das Streben nach Orthopraxie betraf aber auch andere Lebensbereiche. Wer sich unangemessen dem Kaiser gegenüber verhielt, konnte sich eines Majestätsverbrechens schuldig machen. Beispielsweise wurde die Beschädigung eines Kaiserbildnisses als Kapitalverbrechen angesehen. Wer das Asyl bei der Kaiserstatue missbrauchte, indem er ständig ein Kaiserbildnis mit sich führte, machte sich ebenfalls eines Majestätsverbrechens schuldig. Bei Herrschaftsbeginn hatten die Reichsbewohner einen Eid auf den Kaiser abzulegen. Die römischen Bürger leisteten diesen in ihren Heimatgemeinden in Italien. In den Provinzen war der Statthalter dafür zuständig, dass die Bevölkerung den Eid leistete. Offenbar rührte die Eidesleistung von derjenigen her, die Soldaten gegenüber ihrem Feldherrn zu leisten hatten. Nun wurde der Eid zu einer allgemeinem Loyalitätsbekundung gegenüber dem Kaiser. 20 Eidesformeln sind überliefert, eine besondere Körperhaltung ist hingegen nicht bezeugt. Zu vermuten ist aber eine Geste der Hand, 21 die in der römischen Rechtssymbolik eine große Rolle spielt. In Rom und im Reich sah der Kalender verschiedene Feste vor, an denen die Bevölkerung den Herrschaftsantritt oder andere Jubiläen des Kaiserhauses feierte, obwohl die Anzahl der Feiertage altrömischer Feste und öffentlicher Spiele noch überwog. Der Kaiserkult 22 entwickelte sich im Westen des Reiches erst allmählich. Schon Octavian, der spätere Kaiser Augustus, hatte seinen Adoptivvater Caesar, der zu Lebzeiten rudimentäre Formen von Herrscherkult empfangen hatte, regelrecht zum Gott erhoben und ihm den Tempel des Divus Iulius errichtet. Nach der Begründung des Prinzipats im Jahre 27 v.Chr. richtete Augustus einen Kult für die Göttin Roma im westlichen Reich Dr. Markus Sehlmeyer, geb. 1968, hat in Göttingen und Bielefeld Geschichte, Latein und Mathematik studiert. Nach der Promotion bei Jochen Bleicken war er Postdoktorand am Graduiertenkolleg »Leitbilder der Spätantike« in Jena. Assistententätigkeit und Habilitation auf dem Gebiet der Alten Geschichte in Rostock schlossen sich an. Nun ist er als akademischer Oberrat an der Universität Bielefeld tätig. Hauptinteressengebiete sind die politische Kultur Athens und Roms sowie die antike Historiographie. Homepage: http: / / wwwhomes.uni-bielefeld.de/ msehlmeyer/ Markus Sehlmeyer ZNT 27 (14. Jg. 2011) 29 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 29 Zum Thema 30 ZNT 27 (14. Jg. 2011) ein, im Osten ließ er sich aber bereits zu Lebzeiten wie ein Gott verehren, d.h. die Provinzialen konnten ihm oder seinem Vater Opfer darbringen, wovon oben im Zusammenhang mit der Proskynese schon die Rede war. Neben dem Kaiseropfer gab es weitere Formen der Kommunikation. War der amtierende Kaiser verstorben und ein neuer bestimmt, kam es zu einer akklamatorischen Bestätigung des Thronprätendenten durch das Volk. Ein gutes Beispiel ist der aus späterer Sicht schlechte und tyrannische Caligula. Als er im Jahre 37 n.Chr. mit dem Leichnam des Tiberius nach Rom zurückkehrte, wurde er vom Volk begeistert empfangen. Die Erhebung des Sohnes des ungemein beliebten, aber tragisch verstorbenen Germanicus überlagerte die Trauer um den wenig geschätzten Tiberius. Der Einzug in die Stadt Rom war weniger ein Staatsbegräbnis als ein Adventus; diese Zeremonie des Herrschereinzuges wurde zudem religiös überlagert, denn das römische Volk begrüßte Caligula nicht nur als neuen Herrscher, sondern auch als seinen Zögling (alumnus); zudem sollen die Bezeichnungen sidus, pullus (»Junges«, »Küken«) und pupus (»Bübchen«) gefallen sein. Pullus und pupus sind nicht diminutiv zu verstehen, sondern als Liebkosung; die Ansprache mit sidus (wörtlich: »Stern«) hat zudem religiöse Konnotationen. 23 Nach der offiziellen Einsetzung Caligulas kam es zu Festlichkeiten aller Art, angeblich sollen binnen drei Monaten 160.000 Tiere geopfert worden sein. 24 Wichtiges Zeichen der Loyalität war demnach die freudige Begrüßung des heimkehrenden Kaisers. Blieb diese aus, war der Kaiser in Gefahr. Neros Ende ist unter anderem auch daraus zu erklären, dass ihn das Volk nicht mehr in dem Maße unterstützte wie zuvor. Er hatte aber vor allem die Unterstützung der Soldaten verloren. Das Heer war ein wichtiger Faktor für die Sicherung der Herrschaft eines Kaisers. Wenn das Heer seine Loyalität zum Ausdruck bringen wollte, konnte der Kaiser anlässlich eines militärischen Erfolges zum Imperator akklamiert werden. Ebenso wie beim Adventus-Ritual waren damit bestimmte körperliche Ausdrucksformen und Gesten verbunden. Das Ritual stammte schon aus der Republik und wurde bald auf Angehörige des Kaiserhauses beschränkt. Über die Bescheinigung militärischer Leistungen hinaus diente es der Bestätigung der Legitimität des Kaisers. Auch der republikanische Triumph wurde beibehalten. Der Kaiser bzw. der Angehörige des Kaiserhauses hatte am Pomerium auf die formale Bestätigung des Triumphes durch den Senat zu warten - die Teilnahme des Volkes am folgenden Triumphzug war ebenfalls eine Loyalitätsgeste. Kaiser und Heer zogen mit Kriegsgefangenen und Beutestücken feierlich in die Stadt Rom ein. 25 Das Volk bekam Einblick in die Geschehnisse des gewonnenen Krieges, konnte die heimkehrenden Soldaten begrüßen und den Kaiser leibhaftig erleben. Wenn wir diese Vielzahl an Kommunikationssituationen überschauen, dann spielt Proskynese rein quantitativ nur eine geringe Rolle. In den wenigsten Fällen der Begegnung von Kaiser und Volk bestand überhaupt die Gelegenheit, dem Kaiser zu Füßen zu fallen. Nur im engen Bereich des Kaiserkultes in den Provinzen ist die Anbetung des Kaisers in kniefälliger Form bezeugt, die römische Kaiser des 1. Jahrhunderts duldeten, mit Ausnahme Domitians, jedenfalls keine solche Verehrung durch römische Bürger. 4. Performanzen des Kaiserreiches und christliche Rezeption Nach diesem Überblick über körperliche Loyalitätsformen soll es im Folgenden um die beispielhafte Analyse einiger körperlicher Akte gehen, wobei der Versuch unternommen wird, die christliche Rezeption dieser Gesten und Rituale zu ermessen. Dabei ist der Blick durchaus auch über das Neue Testament hinaus auf frühchristliche Literatur zu lenken; wenn dabei Texte zur Sprache kommen, die vom Entstehungshorizont des NT weiter entfernt sind, so ist das dadurch bedingt, dass das NT nicht zu allen in Rede stehenden römischen Ritualen Aussagen tätigt. Gladiatoren- und andere Schauspiele waren ein häufiger Anlass der Kommunikation und körperlichen Darstellung von Kaiser und Volk. 26 In der Kaiserzeit nahm die Anzahl der Spiele rasant zu. Sie wurden zum wichtigsten Ort des Zusammentreffens von Kaiser und Volk, wobei dieser als Euerget in Erscheinung trat, er bezahlte die Spiele und das Volk schaute zu. 80.000 Menschen fanden im flavischen Amphitheater Platz. In Anbetracht der mehrtätigen Dauer vieler Spiele gab es verschiedentlich Gelegenheit, den Kaiser direkt zu adressieren. Verbale Einwürfe, Lob und Tadel gehören in diese Kategorie ebenso wie der Applaus und Jubel, der verhaltener sein konnte und damit Kritik am Kaiser zum Ausdruck brachte. Der Zweikampf von »In den wenigsten Fällen der Begegnung von Kaiser und Volk bestand überhaupt die Gelegenheit, dem Kaiser zu Füßen zu fallen.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 30 Markus Sehlmeyer Proskynese und andere Loyalitätsgesten in der frühen Kaiserzeit ZNT 27 (14. Jg. 2011) 31 Gladiatoren, den man in Rom auch und vor allem als ästhetische Darbietung schätzte, führte über kurz oder lang dazu, dass einer die Oberhand gewann und zum Todesstoß ansetzte, diesen aber eben noch nicht ausführte. Zuvor fragte er beim Spielgeber an, ob er den Unterlegenen töten solle. Der Kaiser sah sich dann auf den Rängen um. Das Volk war aufgefordert, mit dem Daumen anzuzeigen, ob der Unterlegene getötet werden solle oder nicht. Dazu drehten die Römer den Daumen in eine bestimmte Richtung, was man als pollicem vertere bezeichnet. Zwei gegensätzliche Thesen werden zumeist vertreten: Dass der nach unten gerichtete Daumen das Todesurteil bedeute oder dass der nach oben an die Brust gerichtete Daumen den Tod fordere. Die wenigen Quellen 27 sind widersprüchlich, so dass allein feststeht, dass der Daumen von der Hand weggespreizt und auch als »feindlicher« Daumen (infestus pollex) bezeichnet wurde. Die Richtung bleibt unklar, Corbeill neigt zu der Annahme, er habe nach oben gezeigt. Die Christen beobachteten die Vorgänge im Amphitheater mit Abscheu. 28 Manche von ihnen waren in der Arena zu Tode gekommen, denn das Amphitheater diente auch der Vollstreckung von Todesstrafen, es zeigte die Macht des römischen Staates. 29 Eine größere Zahl von Christen wurde im Kontext von Spielen hingerichtet, als sie in den Verdacht gerieten, mit dem Brand Roms unter Nero (64 n.Chr.) zu tun zu haben. Das Christentum galt den Römern später generell als superstitio, ein dem römischen Reich feindlicher »Aberglauben«. Der bereits erwähnte Plinius überstellte römische Bürger, die im Verdacht standen, Christen zu sein, nach Rom (Anm. 16). Wer zum Tode verurteilt wurde, konnte in der Arena wilden Bestien zum Fraß vorgeworfen werden. Zudem wurden verurteilte Christen als Gladiatoren gegeneinander in den Kampf geschickt. Offenbar nahmen die Christen den grausamen Tod hin, sie rechneten mit baldiger Auferstehung. 30 Todesurteile aufgrund religiösen Fehlverhaltens wie z.B. des christlichen »Aberglaubens« gab es später zahlreicher, die Mehrzahl der Martyrien gehört ins 2. und 3. Jh. Einige Märtyrerakten sind erhalten und stellen die Körperlichkeit der Opfer in verschiedener, teils drastischer Weise dar. Da es sich um körperliche Vollzüge handelt, weise ich kurz darauf hin, auch wenn die ältesten erhaltenen Martyriumsakten, die Polykarps, erst von 155/ 156 n. Chr. datieren. 31 Die Leidensgeschichte von Perpetua und Felicitas, die 203 n. Chr. vermutlich in Karthago zu Tode kamen, hebt hervor, dass die nackte Präsentation der jungen Frauen in der Arena selbst für die Verhältnisse der römischen Welt anstößig war. Nachdem die Delinquentinnen bekleidet worden waren, suchten sie den Tod, sie flohen nicht vor den Hieben der Gladiatoren. Die Körper der Märtyrerinnen und Märtyrer standen im Licht der Öffentlichkeit, die Todesstrafen waren grausam. 32 Michel Foucault 33 hat, vor allem in Hinblick auf die Verhältnisse der frühen Neuzeit, betont, dass die staatlichen Körperstrafen eine große Bedeutung hatten, um die Allgewalt des Staates zu zeigen. Das sieht man auch am Beispiel des Ignatius von Antiochia, der - möglicherweise unter Kaiser Trajan (98-117 n.Chr.) - nach Rom zitiert worden war, wo er das Martyrium erlitt. Über seine Reise berichtet er in Briefen, die eine Analogie zum Kaiserkult herstellen: Wie im Zug der Mysten nähert sich der Delinquent der Hauptstadt Rom. 34 Die Märtyrer starben in Erwartung der Auferstehung - neuere Forschungen vergleichen ihr Sterben hinsichtlich der angenommenen Unzerstörbarkeit der gefolterten Körper mit dem Scheintod, der in den antiken Romanen der hohen Kaiserzeit 35 ein wichtiges Sujet darstellt. Denn wer nicht wirklich gestorben ist, steht wieder auf. Der aus der Proskynese bekannte Kuss wurde zum festen Bestandteil des Adventus-Rituals, 36 dürfte aber vor allem von dem Kaiser nahestehenden Personen geübt worden sein, während das Volk den Kaiser mit Gesängen begrüßte. Von religiösen Konnotationen des Adventus-Rituals war oben am Beispiel des Caligula schon die Rede gewesen. An dieser Stelle ist zu reflektieren, inwieweit unsere Quellen die Hypothese erhärten können, dass der Kaiser beim adventus auch als Erlöser begrüßt wurde, wodurch sich eine Nähe zu christlichen Vorstellungen ergäbe. Der Begriff Sōtēr oder Messias fällt in den historischen Quellen selten, aber recht deutlich ist, dass die persönliche Ankunft des Herrschers im Volke hohe Erwartungen weckte, die über rein finanzielle Gaben hinausgingen. In Vespasian sahen die Römer nicht nur einen Euergeten, sondern auch einen Sōtēr (Jos. Bell 7,71). Schon weit vor den Mauern der Stadt wurde die Ankunft des Kaisers vor allem mit Opfern gefeiert, die aber nicht als Vergöttlichung zu verstehen sind; hingegen war man der Meinung, dass der Kaiser von den Göttern erwählt sei. Die mehrtägigen Opfer sind somit als Dankfeste zu verstehen, die sich an die römischen Staatsgötter wandten. Neben der Verbrennung von Weihrauch ist das Opfer von Tieren breit bezeugt; die Römer fanden beim gemeinsamen Mahl zusammen, sie verspeisten die unzähligen Opfertiere. Auch beim Adventus Trajans 37 hören wir von der großen Beteiligung der Bevölkerung; viele Tiere wurden geopfert, ihre Eingeweide auf den Altären verbrannt und das Fleisch dann gemeinsam verspeist. 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 31 Zum Thema 32 ZNT 27 (14. Jg. 2011) Als die Offenbarung des Johannes entstand, gab es offenbar Christen, die sich zur Teilnahme an solchen Festen und zum Verzehr des Fleisches der geopferten Tiere verleiten ließen, weil sie diese Handlungsweise für vereinbar mit dem christlichen Glauben hielten. Gegen diese Position wenden sich die Anfangskapitel (Offb 2,13f.). Im frühen Christentum gab es verschiedene Glaubensrichtungen, die sich eben nicht nur stärker an die jüdischen Glaubensvorstellungen anlehnten, sondern unter Umständen auch bestimmte polytheistische Kulthandlungen beibehielten. Die Offenbarung erwähnt die Nikolaiten, die in Ephesus an polytheistischen Kulten teilnahmen. Leider bleiben die Details im Dunkeln, aber noch rund 100 Jahre später kritisiert Tertullian, dass Christen an den Schauspielen teilnahmen (Anm. 28) - ein recht ähnlicher Vorwurf. Somit war die Teilhabe von Christen an bestimmten polytheistischen Kulthandlungen nach wie vor ein Problem. Dass Christen dem Ruf des Kaisers, der die Spiele monopolisierte, folgten, ist also bezeugt, auch wenn nur ein kleiner Teil betroffen war. Schwer zu ergründen ist die Frage, ob die stadtrömische Bevölkerung Kaiserstatuen oder Porträts körperlich einbezog (abgesehen von der kultischen Verehrung im Kontext des Herrscherkultes). In Anbetracht der Vielzahl der Kaiserporträts in Rom und im ganzen Imperium möchte man kaum glauben, dass jede Statue begrüßt oder berührt wurde. Die Berührung von Götterstatuen war üblich zur Bekräftigung eines Eides, bei Kaiserstatuen hört man nur sehr selten davon. Beispielsweise ist der Ort der Verbrennung Caesars auf dem Forum Romanum genutzt worden, um feierliche Eide abzulegen. Leichter zu zeigen ist, dass die Aufstellung von Kaiserporträts im privaten Raum ebenso wie auf den Foren bedeutender Provinzstädte dazu dienen sollte, Loyalität zu bezeugen. 38 Wer seine Nähe zum Kaiserhaus zeigen wollte, fügte also zu den ohnehin vorhandenen offiziellen Porträts der Kaiser noch weitere hinzu. Die Christen haben jedwede Aufmerksamkeit gegenüber Statuen kritisch wahrgenommen, vor allem, wenn man diese als religiösen Akt ansehen konnte, denn das zweite Gebot (Dtn 5,8) widersprach der Abbildung des Christengottes. Die polytheistischen Sakralräume mit Götter- und Kaiserstatuen wurden abgelehnt, der Begriff der Idololatrie (»Götzendienst«) kam auf. In seiner gleichnamigen Schrift hat Tertullian die Kritik an der Verehrung von »Bildern« weiter ausgeführt. Auch wenn diese Schrift deutlich später entstanden ist als die Schriften des Neuen Testamentes, um 200 n.Chr., so werden doch Missstände beklagt, die weit in die Anfänge des Christentums zurückreichten. Beispielsweise dürfe der Christ keinesfalls den Beruf des Bildhauers ergreifen (Tert. Idol. 3,2) und an Festen nicht teilnehmen (ebd. 13f.). 5. Funktionen körperlicher Vollzüge Neben der kniefälligen Proskynese gab es im Imperium Romanum eine große Zahl an Gesten, die vielfach gar nicht religiös konnotiert waren. Christen nahmen diese Gesten wahr, aber eine Beurteilung ist im Wesentlichen nur in den geschilderten Einzelfällen (Gladiatorenspiele, Opferfleisch, Bilderkult) erfolgt. Viele Gesten blieben somit ohne christlichen Kommentar. Die im NT am stärksten kritisierte Verhaltensweise, die kniefällige Proskynese, betraf vor allem die östlichen Provinzen, 39 im von Bürgern bewohnten Italien hören wir nicht davon. Viele der Gesten, die Römer dem Kaiser erwiesen, dienten der Kommunikation zwischen Kaiser und Volk. Wieso waren die Loyalitätsgesten der Römer so ungemein intensiv? Hatten Loyalitätsgesten gegenüber der römischen Republik an Bedeutung gewonnen? Dafür spricht vieles. Loyalitätsgesten wurden wichtiger, da die Plebs urbana die politischen Einflussmöglichkeiten in der Zeit des Tiberius verloren hatte. 40 Auch wenn die Volksversammlungen (comitia) der Republik nur der Bezeugung des Konsenses gedient hatten, so konnte die Plebs in ihnen doch zeigen, dass sie der politischen Führung durch die Nobilität zustimmte. In den contiones gab es sogar Raum für politische Diskussionen mit den führenden Senatoren. Gesetzesvorschläge wurden dort vorgestellt und erläutert. In den comitia erfolgte dann allein die Abstimmung. Meist fanden sich die Römer in den Tribuscomitien zusammen, um über Gesetze abzustimmen. Da wir nur wenige Beispiele dafür haben, dass die Mehrheit der Tribus ein Gesetz ablehnte, lag der Sinn der Veranstaltung darin, Zustimmung zu signalisieren, Loyalität zu zeigen. In der Republik galt die Loyalität dem Patron oder der senatorischen Führung insgesamt. In der Kaiserzeit hingegen fiel diese Möglichkeit, Loyalität zu zeigen, fort. Der Staat hatte sich verändert, Bezugspunkt der Loyalitätsgesten wurde der Kaiser. Oben sind die wichtigsten Loyalitätsgesten vorgestellt worden, Proskynese, Akklamationen und Gesänge, Opfer oder einfach Präsenz bei Veranstaltungen, auf denen der Kaiser zugegen war und die sein Haus betrafen. George Fletcher unterscheidet in seiner Studie zur Loyalität 41 drei Arten: Familiare Loyalität, Gruppenloyalität und religiöse Loyalität. Fletcher zeigt anhand 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 32 Markus Sehlmeyer Proskynese und andere Loyalitätsgesten in der frühen Kaiserzeit ZNT 27 (14. Jg. 2011) 33 zeitgenössischer politischer Fragen, dass Streben nach Loyalität für den Staat essentiell ist, denn die Berufung der Bürger auf Unparteilichkeit könnte dem Staat schaden. Er wendet sich gegen den Utilitarismus von Jeremy Bentham, aber auch gegen die Moraltheorie Kants. Loyalität sei die Voraussetzung für Patriotismus, so Fletcher. In Bezug auf körperliche Vollzüge finden wir in der römischen Kaiserzeit zwei Formen von Loyalität vor. Die wichtigere ist die Gruppenloyalität. Die Plebs zeigte sich beim Tode eines Mitgliedes des Kaiserhauses oder bei Spielen als Gruppe, die Anwesenden bekannten sich als Römer, die Loyalitätsgesten stifteten Identität, römische Identität. Wer körperlich partizipierte, verstand sich als römischer Bürger, möglicherweise sogar als Patriot. Das konnte dann wichtig sein, wenn Betreffender aus den Provinzen stammte und nun besonders römisch wirken wollte. Wenn dieses Loyalitätsband nicht mehr bestand, konnten Aufstände und Bürgerkrieg die Folge sein - als Beispiel wäre der jüdische Aufstand (66-70 n.Chr.) zu nennen. Dieser war so verheerend, da auch religiöse Motive eine Rolle spielten. Religiöse Loyalität ist bedeutsam im Kaiserkult, den die jüdische Bevölkerung gerade nicht ausübte. Dabei ist nicht nur an den Kult für den verstorbenen und vergöttlichten Kaiser zu denken, sondern an Dankfeste aller Art. Auf die religiösen Konnotationen des Adventus-Rituals wurde bereits verwiesen. Kurt Latte hat in seinem Handbuch sogar von der »Loyalitätsreligion der Kaiserzeit« gesprochen. 42 Im Vergleich mit körperlichen Akten des christlichen Kultes zeigen sich typologische Bezüge, die teilweise auf gemeinsame Wurzeln im Hellenismus zurückgehen. Jesus ist für die Christen im hellenisierten Osten des Imperiums Sōtēr 43 gewesen, auch für einige Kaiser ist diese Bezeichnung bezeugt, etwa Claudius und Vespasian. Jesus und der Kaiser waren, auf verschiedene Art und Weise, Heilsbringer. Körperliche Formen der Verehrung sind die Folge. Der Erhebung des Kaisers wird durch Opfer gedankt, gemeinsames Speisen und Feiern scheint sich über längere Zeit erstreckt zu haben. Das ist zwar kein christliches Abendmahl, aber doch eine Handlung, die Identität gestiftet hat. Die christliche Taufe 44 findet hingegen kaum Entsprechung in antiken Religionen. Auch wenn die polytheistische Welt des Imperium Romanum und das Christentum augenscheinlich auf viele gemeinsame Wurzeln aus Orient und Hellenismus zurückgingen, so sind die Auffassungen vom Körper doch recht verschieden. Körperliche Formen der Gottesverehrung wie die Proskynese spielen in großen Teilen des Imperium Romanum keine so große Rolle, wie die Johannes-Apokalypse und Matthäus Glauben machen wollen. Zweifelsohne kommt der Verehrung von Jesus mit körperlichen Akten eine große Bedeutung zu. Das ist am Matthäusevangelium deutlich zu sehen, wo proskynein zur wichtigsten Form der Verehrung wird - ausgeübt von den Magiern, einfachen Menschen, den Jüngern. Taufe und Abendmahl (Eucharistie) sind ebenfalls Akte, die die Körperlichkeit des Initianden wie die körperliche Teilhabe ausdrücken. Performanz bedeutet für die frühen Christen also vor allem Beteiligung an religiösen Akten. Kommt solchen körperlichen Vollzügen im Polytheismus des Imperium Romanum eine ähnlich große Bedeutung zu? Zweifel kommen auf. Proskynese war aus Perspektive der Prinzipatsideologie unerwünscht, allenfalls unterlegene Könige oder Provinzialen durften diese ausüben, wurden dazu aber nicht gezwungen. Prinzipiell lassen sich viele Gesten und Rituale finden, an denen sich römische Bürger in der Öffentlichkeit beteiligten, nur sind die wenigsten religiös konnotiert. Die Offenbarung des Johannes, aber auch Tertullian bestätigen die These: Bei vielen Festen wurde der religiöse Charakter kaum noch wahrgenommen, so dass Christen an ihnen teilnahmen, ohne das Problem der Idololatrie zu sehen. Viele römische Feste und Schauspiele waren zu Loyalitätsgesten geworden, der Kaiser stand im Focus - nicht die Götterwelt. Die Vielzahl der Gesten, die im damaligen religiösen wie auch weltlichen Leben vollzogen wurden, sollten Anlass sein, über ihren Stellenwert nachzudenken, auch wenn die Quellenbasis denkbar schmal ist. Körperlichkeit spielte in der Antike eine große Rolle - ich habe oben auf die Qualen des Amphitheaters verwiesen. Im Kontext der Martyrien sind solche Leiden erforscht worden, 45 für das Thema der Gesten und Gebärden fehlt es anscheinend noch an Grundlagenforschung. Wenn ich hier den Terminus »körperliche Vollzüge« verwendet habe, so stammt die Terminologie von Judith Butler, 46 die aber ihrerseits eher selten auf Gesten zu sprechen kommt, die in der Antike von Belang waren. Auch die Forschungen von Foucault, die sich eher der griechischen Antike bzw. der hohen Kaiserzeit 47 widmen, sind für das Thema dieses Beitrages nur am Rande interessant. »Die Plebs zeigte sich beim Tode eines Mitgliedes des Kaiserhauses oder bei Spielen als Gruppe, die Anwesenden bekannten sich als Römer, die Loyalitätsgesten stifteten Identität, römische Identität.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 33 Zum Thema 34 ZNT 27 (14. Jg. 2011) Die Gesten der Römer, die sich auf den Kaiser bezogen, dienten auch als Ersatz für die geringere politische Partizipation. Das Kaiserzeremoniell entwickelte sich im Laufe der Kaiserzeit weiter, den Höhepunkt stellt der byzantinische Hof dar. Aus der politischen und religiösen Partizipation der Plebs in der Republik war eine Partizipation am kaiserlichen Leben geworden. Whitby unterscheidet sechs Typen von Zeremonien, in denen die vorgestellten Rituale eine Rolle spielen. 48 Die Weiterentwicklung der Monarchie bedeutete auch Änderungen in den Ritualen, deren Komplexität uns heute nur noch partiell erschließbar ist. Man sollte überhaupt von einer größeren Dynamik der Rituale ausgehen, auch wenn die Grundidee des Rituals darin besteht, dass sich typische Züge in zeitlichem Abstand sichtbar wiederholt haben. Das Christentum hat die Rituale in der Spätantike deutlich transformiert, so dass die Loyalität, die einst dem Kaiser entgegengebracht wurde, nun auch der christlichen Religion galt. Aber diese Entwicklungen begannen erst im 4. Jahrhundert. Anmerkungen 1 Proskynese (A. Hack), Metzler Lexikon Religionen 3 (2000), 73f. Die Abbildung hat H. Mohr erläutert. Wir danken dem Fotografen Jörg Böthling für die Genehmigung des Abdrucks. - Den Herausgebern der ZNT danke ich für verschiedene Hinweise und Anregungen. 2 Bezeichnungen für Nicht-Monotheisten haben schnell einen pejorativen Beigeschmack. Ich verwende hier die Bezeichnung Polytheisten, die mir neutraler als Pagane (Heiden) erscheint. 3 Zum Folgenden vgl. Proskynesis and adorare (B. Marti), Language 12 (1936), 272-282, und H. Greeven, ThWNT VI (1959), 759-767. Eine gute erste Übersicht liefert auch der schon ältere Artikel von W. Pape, Griechisch-Deutsches Wörterbuch Band 1, Braunschweig 3 1888, 771. 4 Die Beiträge von E. Cuvillier und Elisabeth Schüssler Fiorenza nähern sich der Offb unter anderen Prämissen, als es mein althistorischer Beitrag tut. 5 Die Offenbarung des Johannes, übersetzt und erklärt von A. Satake, Göttingen 2008, 164f. Weitere Deutungsmöglichkeiten bei G. Maier, Die Offenbarung des Johannes 1-11 (HTA), Witten/ Gießen 2009, 164-179: 166f. 6 Vgl. Magierhuldigung (S. Heydasch-Lehmann), RAC 23 (2010), 957-962. - Auch der Satan verlangt von Jesus die kniefällige Verehrung (Mt 4,9). 7 Mt 8,2; 9,18; 14,33; 15,25; 20,20; 28,9.17. Zur Einführung: M. Müller, Proskynese und Christologie nach Matthäus, in: Kirche und Volk Gottes. Festschrift für Jürgen Roloff zum 70. Geburtstag, Neukirchen-Vluyn 2000, 210-224. - Ich habe Eckart Reinmuth für diese Hinweise zu danken. 8 Mt 18,26 (ho doulos proskynei autō) offenbar synonym mit 18,29 (pesōn oun ho syndoulos). 9 Suet. Vitell. 7; die ausgestreckten Hände waren aus dem Gebet an die himmlischen Götter hervorgegangen (vgl. Serv. auct. Aen. 4,205). 10 Vgl. Proskynese (W. Fauth), Der kleine Pauly 4 (1967), 1189; J. Horst, Proskynein. Zur Anbetung im Urchristentum nach ihrer religionsgeschichtlichen Eigenart, Gütersloh 1932. 11 Allgemein zu den spätantiken Verhältnissen: S.G. Mac- Cormack, Art and Ceremony in Late Antiquity, Berkeley 1981 (Schwerpunkte: Adventus, Consecratio, Herrschaftsantritt). 12 Zur Einteilung der Kaiser in gute und schlechte vgl. M. Sehlmeyer, Geschichtsbilder für Pagane und Christen. Res Romanae in den spätantiken Breviarien, Berlin 2009, 95-98. 13 Suet. Cal. 56,2: osculandam manum; Suet. Dom. 12,3: manum praebuit. 14 Herodes’ Familie war idumäischer Herkunft und hatte sich den Römern angedient. Seine Königsherrschaft in Judäa war umstritten, obwohl er Jude war. Zu seinen Maßnahmen im Detail vgl. M. Bernett, Der Kaiserkult in Judäa unter den Herodiern und Römern. Untersuchungen zur politischen und religiösen Geschichte Judäas von 30 v. bis 66 n. Chr., Tübingen 2007, und M. Schuol, Augustus und die Juden, Frankfurt 2007, 124-135. 15 J. Bleicken, Augustus, Berlin 1998 (TB Reinbek 2010), 378-386, zeigt den Weg von der Überhöhung des Augustus in Rom bis zum Herrscherkult im römischen Osten auf; allgemein zum Herrscherkult vgl. M. Clauss, Kaiser und Gott, München 2001. 16 Plin. ep. 10,96,5: »imagini tuae [...] ture ac vino supplicarent [...] « 17 Philo leg. 137-139; dazu M. Bernett, Kaiserkult, 264- 287, und M. Schuol, Augustus, 290-293. 18 Hauptquelle für die Aufbahrung und Bestattung des Septimius Severus ist Herodian (4,1); der verwendete Scheinleib (funus imaginarium) stellt aber möglicherweise eine Ausnahme dar, vgl. Anm. 22. 19 Ich verwende also Orthopraxie nicht im Sinne einer ökumenischen Idee, sondern um die damaligen religiösen Praktiken der Polytheisten von Juden und Christen abzugrenzen - nach C. Ando, The Matters of the Gods. Religion and the Roman Empire, Berkeley u.a. 2008. 20 P. Herrmann, Der römische Kaisereid, Göttingen 1968, untersucht Herkunft und Entwicklung des Eides anhand der sechs damals bekannten Eidesformeln (S. 122-126 abgedruckt). Ein Neufund: J. Gonzáles, The first Oath pro salute Augusti found in Baetica, ZPE 72 (1988), 113-115. 21 Jetzt umfassend H. Wirth, Die linke Hand. Wahrnehmung und Bewertung in der griechischen und römischen Antike, Stuttgart 2010. - Zu Formen der Ehrerbietung allgemein vgl. C. Sittl, Die Gebärden der Griechen und Römer, Leipzig 1890 (ND Hildesheim 1970), 147-173. 22 Zum wichtigen Aufsatz von E. Bickermann, Die römische Kaiserapotheose, in: A. Wlosok (Hg.), Römischer Kaiserkult (WdF 372), Darmstadt 1978, 82-121; vgl. H. Chantraine, »Doppelbestattungen« römischer Kaiser, Historia 29 (1980), 71-85. Zum Kaiserbegräbnis als Ritual vgl. S. Price, From noble funerals to divine cult: 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 34 Markus Sehlmeyer Proskynese und andere Loyalitätsgesten in der frühen Kaiserzeit ZNT 27 (14. Jg. 2011) 35 the consecration of Roman emperors, in: D. Cannadine/ S. Price (Hgg.), Rituals of royalty. Power and ceremonial in traditional societies, Cambridge 1992, 56-105. 23 Suet. Cal. 13 mit dem Kommentar von D. Wardle, Brüssel 1994, 148-150. Bereits im Jahre 44 v.Chr. war die Apotheose Caesars durch die Behauptung initiiert worden, er sei zum Stern geworden, dem sidus Iulium, der in der Propaganda der julisch-claudischen Dynastie eine große Rolle spielte (vgl. M. Sehlmeyer, Stadtrömische Ehrenstatuen der republikanischen Zeit, Stuttgart 1999, 238-245). Dabei ist der in die Stadt zurückkehrende Kaiser immer mehr als Erlöser betrachtet worden (A. Alföldi, Die monarchische Repräsentation im römischen Kaiserreiche, Darmstadt 31980, 88). Hier haben ältere orientalische Traditionen eine Rolle gespielt - auch die Magier folgten einem Stern, um das Christuskind zu finden (Mt 2,2.7). 24 Suet. Cal. 14. Philo leg. 11. Doch einige Monate später schlug die Stimmung um, dazu ausführlich A. Winterling, Caligula, München 3 2004, 53ff. 25 Zu Kaiser und Heer vgl. E. Flaig, Den Kaiser herausfordern, Frankfurt 1992, 132-172; zum Triumph M. Beard, Roman Triumph, Cambridge/ London 2007. 26 Grundlegend P. Veyne, Brot und Spiele, München 1994, der die Rolle des Kaisers als Euerget betont, und Th. Wiedemann, Kaiser und Gladiatoren, Darmstadt 1992. 27 Literarische und archäologische Quellen bei A. Corbeill, Nature embodied. Gesture in ancient Rome, Princeton/ Oxford 2004, 42-62. 28 Tertullian wendet sich in seiner Schrift De spectaculis in der Zeit um 190/ 200 n. Chr. gegen die Praxis mancher Christen, auch an polytheistischen Ritualen teilzunehmen. Die Spiele galten allesamt auch der Verehrung bestimmter Götter. Zur christlichen Sicht des Kaiserkultes vgl. M. Sordi, The Christians and the Roman Empire, London 1994, 171-179. 29 E.A. Castelli, Martyrdom and memory. Early Christian culture making, New York 2004, 104-111, fasst neuere Forschungen zum Gladiatorenspiel als Performanz zusammen. 30 J.Perkins, Roman imperial identities in the early Christian Era, London u.a. 2009, 52-55, nennt die wenigen Quellen, in denen Christen Stellung zum Tod in der Arena nahmen. Allgemeiner zur christlichen Sicht: W. Weismann, Kirche und Schauspiel, Würzburg 1972. Zur Auferstehung jetzt G.J. Baudy, »Auferstehung«. Codierung nationaler Wiedergeburt im transkulturellen Dialog der Antike, in: U. Pietruschka (Hg.), Gemeinsame kulturelle Codes in koexistierenden Religionsgemeinschaften, Halle 2005, 33-74. 31 Mart. Polyk. 2,2 (körperliche Leiden), 2,3 (Verachtung des Schmerzes); 11,2-3 (Androhung von Tieren und Feuer); 16,1 (Löschen des Feuers durch das Blut des Märtyrers); 18,2-3 (Gebeine als Gegenstand des Gedächtnisses). 32 Castelli, Martyrdom, 121ff. Text, Übersetzung und Interpretation des Martyriums bei P. Habermehl, Perpetua und der Ägypter oder Bilder des Bösen im frühen afrikanischen Christentum, Berlin 2 2004. 33 M. Foucault, Surveiller et punir. La naissance de la prison, Paris 1975 (dt. Überwachen und Strafen, Frankfurt 1977). Vgl. W. Riess, Die historische Entwicklung der römischen Folter- und Hinrichtungspraxis in kulturvergleichender Perspektive, Historia 51 (2002), 206-226. 34 A. Brent, Ignatius of Antioch and the Imperial Cult, VC 52 (1998), 30-58. 35 Perkins, Roman imperial identities, 45-61, verweist mit Rückgriff auf ältere Forschungen (z.B. G. Bowersock, Martyrdom and Rome, Cambridge 1995) u.a. auf den Roman des Achilleus Tatius (2. Jh.), Kleitophon und Leukippe, wo die Hauptdarstellerin den Göttern zum Schein geopfert wird. 36 Näheres dazu bei A. Alföldi, Monarchische Repräsentation, 88-90. Zu den kaiserlichen Reisen allgemein F. Millar, The Emperor in the Roman World, Ithaca 1977 (ND 1992), 28-40: 31f. 37 Plin. Paneg. 22-24, mit C. Ronning, Herrscherpanegyrik unter Trajan und Konstantin, Tübingen 2007, 69-89. 38 P. Stewart, The social history of Roman Art, Cambridge 2009, 43: »portraits of the emperor and his family which were also loyally exhibited in private settings«. 39 Zum Kaiserkult in den östlichen Provinzen gibt es eine sehr umfangreiche Literatur, als aktueller Überblick empfiehlt sich S. Price, Rituals and Power. The Roman imperial cult in Asia minor, Cambridge 1984, der die Kultstätten aufzählt (249-274). 40 J. Bleicken, Verfassungs- und Sozialgeschichte des Römischen Kaiserreiches Band 1, Paderborn 4 1995, 48-79, betont, dass die Heeresclientel in der Kaiserzeit wichtiger war als die individuelle Beziehung zwischen Patron und Client und weist zudem auf die geringe politische Bedeutung der Plebs urbana hin. 41 G. Fletcher, Loyalität. Über die Moral von Beziehungen, Frankfurt 1994 (zuerst Oxford 1993). 42 K. Latte, Römische Religionsgeschichte, München 2 1967, 312-326. 43 Vgl. M. Karrer, Jesus, der Retter (Sōtēr). Zur Aufnahme eines hellenistischen Prädikats im Neuen Testament, ZNW 93 (2002), 153-176. 44 W. Burkert, Antike Mysterien, München 4 2003, 86, verweist darauf, dass es in den vorchristlichen Mysterien »kaum Zeugnisse für eine ›Taufe‹« gibt. 45 J. Perkins, Roman Imperial Identities in the Early Christian Era, London 2009, 159ff., mit Rückgriff auf Butler (folgende Anm.). Vgl. auch Perkins’ älteres Buch: The suffering Self. Pain and narrative Representation in the Early Christian Era, London 1995. 46 J. Butler, Bodies that matter, London 1993 (dt. Körper von Gewicht, Berlin 1995); Dies., Precarious Life. The Powers of Mourning and Violence, London 2004 (dt. Gefährdetes Leben, Frankfurt 2008). 47 Z.B. Sexualität und Wahrheit 2. Der Gebrauch der Lüste, Frankfurt 1986 (Paris 1984) mit W. Detel, Foucault und die klassische Antike, Frankfurt 2 2006. - Band 3. Die Sorge um sich, Frankfurt 1986 (Paris 1984). 48 Kaiserzeremoniell (M. Whitby), RAC 19 (2001), 1135- 1177: 1137f. 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 35 1. Einführung Was ist der Körper? Wer und was definiert, was wir »Körper« nennen, und wem gehört es? Die Entwicklungen der medizinischen Technik, der Genetik, der Chirurgie und der Informatik verbieten mittlerweile jede evidente Beantwortung solch elementarer Fragen 1 . Die Form des Körpers ist unklar geworden: fehlende Glieder werden durch Prothesen ersetzt. Gehört dann die Prothese zum Körper? Und wie ist es mit der ästhetischen Chirurgie? Können wir unseren Körper beliebig verändern, ohne damit auch unsere Identität zu verändern? Die fortschreitende Entwicklung in der Genetik stellt theoretische Möglichkeiten in Aussicht, Eigenschaften des menschlichen Körpers zu modifizieren und aus dem technisch Möglichen Kriterien zu erheben, auf welche körperlichen Eigenschaften Fortpflanzung zielen soll. Wem gehört der Körper noch ungeborener Kinder? Den Eltern, die über eine freie Wahl im Bereich des Machbaren verfügen? Religiösen oder ethischen Instanzen der Gesellschaft, die elterlichen Entscheidungen einen gewissen Rahmen zu setzen wollen? Oder dem Staat, der politische und juristische Grenzen des Machbaren vorgibt? Sodann stellen Patientenverfügungen - zumindest implizit - die Frage nach der Identität und der Zugehörigkeit der Körper von Verstorbenen: Wem gehört ein Leichnam? Der Person des Verstorbenen, die in absentia Besitzerin ihres Körpers bleibt? Den Angehörigen, die sich von ihr verabschieden möchten? Der Medizin, die ihre Organe therapeutisch - für andere, lebende Menschen - einsetzen oder wissenschaftlich - für Forschungszwecke - verwenden kann? Oder dem Staat, der den Umgang mit Verstorbenen zu regulieren hat, um alle zu schützen? Nicht nur die Medizin verschiebt die Fragestellungen: Die Wirklichkeit virtueller Realität, wie sie etwa durch das Internet gegeben ist, hebt die klare Unterscheidung zwischen Realität und Fiktion auf. Wenn ich mich selbst unter verschiedenen Namen und Identitäten vorstellen kann, wenn jeder meine Lebensgeschichte wie es ihm gefällt schreiben und anonym in die Öffentlichkeit geben kann, löse ich mich selbst und wird meine Person von ihrer Vorfindlichkeit als Körper gelöst. Was ist also mein Körper und wer bin ich? 1.1 These: Die Definition des Körpers als Verheißung - und als hermeneutische Aufgabe Nicht allzu paradox sollte angesichts dieser offenen Fragen der Gegenwart erscheinen, dass auch die Paulusbriefe sich keineswegs darauf beschränken, mehr oder weniger originelle Betrachtungen über die bekannte und klar definierte Gegebenheit des menschlichen Körpers zu bieten, sondern den Körper und das Selbstbewusstsein des menschlichen Subjekts als Körper neu definieren - und überhaupt definieren: Zu den Implikationen des Evangeliums gehört eine präzise Reflexion über den Körper, über das Verhältnis des Selbst zu seinem Körper und über die Bestimmtheit der Existenz durch ihre Körperlichkeit. Aus der Revolution der Gotteserkenntnis und der Erkenntnis des menschlichen Selbst, die im Ereignis des Kreuzes stattgefunden hat, folgt als unmittelbare Konsequenz eine sowohl für jüdisches als auch hellenistisches Verständnis neue Definition des Körpers als existentieller Dimension des geistigen Lebens des Einzelnen in seiner Universalität und in seiner Singularität. Denn das paulinische Verständnis des Körpers führt nicht nur eine Veränderung der in der Kultur bereits vorhandenen Körpervorstellungen ein. Es verweist vielmehr auf eine Offenbarung, die den Einzelnen in ein Subjekt erster Person verwandelt, das unabhängig von seinen Eigenschaften durch die Verheißung der bedingungslosen Anerkennung Gottes definiert wird. Dadurch entsteht die Möglichkeit der freien und kritischen Selbstbetrachtung des Einzelnen: - Die Offenbarung setzt eine Unterscheidung zwischen der Person und ihrem Körper voraus: Der Mensch reduziert sich nicht auf seinen Körper. Er definiert sich Zum Thema François Vouga Körper und Realpräsenz bei Paulus 36 ZNT 27 (14. Jg. 2011) »Der Körper verweist [...] auf die Fehlbarkeit des Subjektes, das sich von Mächten abhängig macht, die es dann beherrschen - oder aber zum Leben befreien.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 36 François Vouga Körper und Realpräsenz bei Paulus nicht über seinen Körper, vielmehr ist das Verhältnis, das er zu seinem Körper entwickelt, durch seine Freiheit bestimmt. - Der Körper bezeichnet und bestimmt nur Aspekte, aber symptomatische Aspekte, des Verhältnisses des Menschen zu sich selbst und zum Geschenk seines Lebens: Der Körper fasst nicht die Person zusammen, sondern bietet ihr den gegebenen Raum und die gegebene Zeit ihrer Präsenz zu sich selbst und Anderen in der Schöpfung Gottes. - Auch wenn sich der Körper nicht unmittelbar mit der Person identifizieren lässt, gehört er als Bestandteil und als Dimension ihres Denkens und Handelns zu ihr. Der Körper bildet die Exteriorität der Person, aber als Exteriorität übersetzt und prägt er auch ihr geistiges Leben. 1.2 Apostolisches Schweigen zum Körper Die Körpervorstellungen der Paulusbriefe verbleiben nicht im deskriptiven Bereich. Sie konzentrieren sich auch nicht auf den Körper an sich, sondern interpretieren die Körperlichkeit des menschlichen Subjektes als Symptom und als den Ort seines Verhältnisses zu seinem Selbst vor Gott und in der Welt. Auffällig erscheint, dass sich die Auseinandersetzungen des Paulus um den Körper mit vielen Fragen, die einem modernen Leser in diesem Zusammenhang unmittelbar kommen könnten, überhaupt nicht befassen: Kosmetik, Pflege oder Medizin. Zwar spielt der Körper eine wichtige Rolle in der paulinischen Anthropologie, aber Paulus interessiert sich weder für die Probleme des Alters oder der Gesundheit noch, was vielleicht weniger überrascht, für Sport oder Ästhetik. Dies liegt weder daran, dass Fragen nach Gesundheit und Krankheit für Paulus unbedeutend gewesen wären, noch daran, dass Schönheit für das frühe Christentum insgesamt irrelevant war: - Die Schwachheit, die die Befindlichkeit des Apostels kennzeichnet (Gal 4,12-20; 2Kor 4,7-18; 12,1-10), muss nicht unbedingt mit physischen Behinderungen oder Grenzerfahrungen verbunden werden. Dagegen erklärt er eindeutig Krankheitsfälle, die in Korinth aufgetreten sind, als Symptome der Krankheit des Gemeindelebens (1Kor 11,23-34). Der Begriff des Körpers taucht in der Argumentation des Apostels in zweifacher Weise auf, um den Körper Christi zu bezeichnen: Zum einen in der Tradition und im Kommentar der Einsetzungsworte, um auf die Selbsthingabe des Herrn hinzuweisen (1Kor 11,24.27), zum anderen, um die Gemeinschaft, die sich in seinem Namen versammelt, zu definieren. Paulus führt ihn allerdings nicht ein, um den Sitz der Krankheit zu beschreiben, sondern als reine Metapher, um die Missachtung der gegenseitigen Anerkennung der Geschwister, die für das Verständnis der Gemeinde als Körper Christi konstitutiv ist (1Kor 11,29), als Ursache für die pathologischen Erscheinungen zu benennen. - Nun zeigt Paulus kaum Interesse für die Ästhetik, obwohl etwa auch die Bergpredigt das in der Antike diskutierte Thema der Offenbarungsrelevanz der Schönheit aufnimmt, um die Zuhörer Jesu aufzufordern, auf die Vögel des Himmels und die Blumen des Feldes zu achten, weil ihre unnütze Pracht die Großzügigkeit der Vorsehung des himmlischen Vaters bezeugt (Mt 6,25-34). Halten wir also einfach fest, dass Paulus für den Körper an sich kein Interesse zeigt und seine Briefe den Körper weder als Ort der Sorge um die Lebenserhaltung noch als Sichtbarkeit der äußeren Erscheinung, nicht einmal ZNT 27 (14. Jg. 2011) 37 Prof. Dr. theol. Dr. theol. h.c. François Vouga, Jahrgang 1948, ist Professor an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal / Bethel. 1973-1974 Assistent von Christophe Senft in Lausanne; 1975-1982 Gemeindepastor in Avully und Chancy (Genf ); 1982-1985 Maître assistant in Montpellier; 1985 èse de doctorat und venia legendi im Fach Neues Testament in Genf; 1984-1985 Gastprofessor in Neuchâtel; 1985- 1986 Professor in Montpellier, 1986-2009 an der Kirchlichen Hochschule Bethel, seit 2008 in Wuppertal. Seit 1988 regelmäßige Gastprofessuren an der Facoltà Valdese di Teologia in Rom; 1998 Ehrendoktor der Universität Neuchâtel; 1999 und 2001 Gastprofessur, 2008-2010 Honrarprofessur an der Faculté de théologie et de sciences religieuses de Université Laval, Québec. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der frühchristlichen Literatur, Einheit und Vielfalt der neutestamentlichen eologie, Paulus und die paulinische eologie, die Petrusbriefe, eologie und Ästhetik (Kunst und Musik), eologie und Naturwissenschaften. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt: Politique du Nouveau Testament, Genf 2008, und Pâques ou rien. La Résurrection au coeur du Nouveau Testament, Genf 2010. Für weitere Informationen siehe: www.kiho.thzw.de François Vouga 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 37 Zum Thema 38 ZNT 27 (14. Jg. 2011) i.S. einer dankbaren Anerkennung der Gaben Gottes, in den Blick nehmen. Paulus interessiert sich nicht für den Körper an sich, sondern für das Netz der Beziehungen, die sich im Körper miteinander verbinden und sichtbar werden. 2. Der Körper der Person als Bindeglied zu den Anderen und den Mächten, die sie bestimmen Auffällig erscheint dann, dass sich die paulinischen Reflexionen über den Körper mit zwei Fragen befassen, die an Aktualität nicht verloren haben - und auch nicht verlieren werden. Der erste Lebensbereich, mit dem sie sich auseinandersetzen, betrifft das Verhältnis zwischen Mann und Frau auf der Ebene der Sexualität (Röm 1,18-31; 1Kor 6,12-20; 7,1-40) und der zweite, mit dem der erste eng zusammenhängt, besteht aus den Machtverhältnissen, in denen der Körper das geistige Leben des Subjektes engagiert (Röm 6,1-14; 8,9-17). 2.1 Der Körper des Mannes und der Körper der Frau Im kulturellen Vergleich überrascht zunächst die Reziprozität, die das kleine Handbuch der Ethik des ersten Korintherbriefes zwischen Mann und Frau konstituiert. Jeder und jede hat natürlich den je eigenen Körper, aber weder der Mann noch die Frau wird mit dem eigenen Körper identifiziert: Die beiden Körper werden vielmehr als Verbindungselemente eines gegenseitigen Verhältnisses gesehen und jedem Partner wird die Freiheit zuerkannt, auf den Besitz des eigenen Körpers zu bestehen oder zu verzichten (1Kor 7,2-7): (2)-Wegen der Versuchungen zur Unzucht soll haben jeder Mann seine Frau und jede Frau ihren Mann. (3)-Der Frau gegenüber erfülle der Mann seine Pflicht, ebenso die Frau dem Mann gegenüber. (4)-Die Frau hat nicht Autorität über ihren Körper, sondern der Mann; ebenso hat auch nicht der Mann Autorität über seinen Körper, sondern die Frau. [...] (6)-Dies sage ich als Entgegenkommen und nicht als Befehl. (7)-Ich wünschte, alle Menschen wären wie ich. Aber von Gott hat jeder seine besondere Gabe, der eine so, der andere so. Die Möglichkeit, dem Partner die Autorität über den eigenen Körper anzuvertrauen, setzt ein Verhältnis der Freiheit voraus, das die Distanz der Person zum eigenen Körper impliziert. Genau diese Freiheit bietet den freien Raum dafür, dass die Gegenseitigkeit als wechselseitige Gabe geschenkt und empfangen wird, und sich nicht in ein Abhängigkeitsverhältnis verwandelt. Im strengen Sinne geht es in dieser Argumentation nicht um Ethik, das heißt um die Definition und Begründung von Werturteilen und Normen, sondern um Seelsorge. Ausdrücklich erklärt der Apostel den dialogischen Charakter seiner Empfehlungen: Er will keine Vorschrift geben, sondern er ist vielmehr um die Anerkennung der Gnadengaben jedes Einzelnen bemüht. Der Unterscheidung zwischen Befehl und Entgegenkommen (1Kor 7,6) entspricht auch die klare Opposition zwischen den privaten Wünschen des Apostels und der schöpferischen Logik Gottes (1Kor 7,7): Paulus selbst würde zwar gerne einen einheitlichen Umgang mit dem Körper definieren und empfehlen, aber Gott hat es anders entschieden: Jede Person hat eine ihr eigene Gabe von Gott bekommen. Dieser Satz bildet das Programm des ganzen Kapitels: Jeder Mann und jede Frau lebt in einem Körper, mit dem er und sie das singuläre Verhältnis aufbauen kann, das ihm und ihr von Gott geschenkt ist. Die Wahrheit des Körpers besteht also nicht im Vollkommenheitsideal eines bestimmten Standes - allein zu bleiben oder heiraten zu müssen -, sondern in der Wahrnehmung der Gnade, die jedem Menschen, alleinstehend oder in einer Partnerschaft, gegeben wird. 2.2 »Körper« als Fehlbarkeit des Menschen Den Körper verstehen die Paulusbriefe nicht nur als Bindeglied der Ich-Du-Beziehung, sondern auch als den Ort des Verhältnisses des Ich zu den Mächten, die es beherrschen und bestimmen, das heißt aber dann eigentlich auch zu sich selbst. Die Teilnahme am Tod und der Auferstehung Christi bedeutet das Mitgekreuzigt-werden des alten Menschen und die Vernichtung des Körpers der Sünde, die die Kehrseite des neuen Lebens bilden. Die Metonymie des Mit-gekreuzigt-werdens bekommt von der Interpretation des Todes Jesu als Offenbarung der Umsonstheit der Gerechtigkeit Gottes her einen problemlos nachvollziehbaren Sinn: Im Ereignis der Kreuzigung seines Sohnes hat sich Gott als der Vater offenbart, der bedingungslos »Paulus interessiert sich nicht für den Körper an sich, sondern für das Netz der Beziehungen, die sich im Körper miteinander verbinden und sichtbar werden.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 38 François Vouga Körper und Realpräsenz bei Paulus ZNT 27 (14. Jg. 2011) 39 vergibt und rechtfertigt (Röm 3,21-26). Wer seine Identität durch die Anerkennung Gottes umsonst bekommt, findet sich dann auch von der Notwendigkeit befreit, sie durch Selbstverwirklichung und Authentizität vor Gott zu gewinnen. Und genau die Abhängigkeitssituation, die aus der Suche der Existenz nach der Selbstbegründung entsteht, personifiziert Paulus als Sünde. Von daher erhält die Äquivalenz zwischen dem neuen Leben, das durch das Mit-Christus-gekreuzigt-worden-sein gegeben ist, und der Vernichtung des Körpers der Sünde ihre Plausibilität (Röm 6,4-12): (4) Wir wurden also durch die Taufe in den Tod mit ihm begraben, damit, wie Christus von den Toten auferweckt wurde durch die Herrlichkeit des Vaters, so auch wir in der Neuheit des Lebens wandeln. (5) Denn: wenn wir in die Ähnlichkeit seines Todes eingepflanzt sind, werden wir es aber auch sein [in der Ähnlichkeit] seiner Auferstehung, (6) erkennend dieses, dass unser alter Mensch mitgekreuzigt wurde, damit der Körper der Sünde vernichtet würde, auf dass wir der Sünde nicht mehr dienen. (7) Denn: wer gestorben ist, ist weg von der Sünde gerechtfertigt. (8) Wenn wir mit Christus gestorben sind, glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden, (9) wissend, dass Christus, von den Toten auferweckt, nicht mehr stirbt, der Tod herrscht nicht mehr über ihn -, (10) denn was starb, starb für die Sünde ein für allemal. Aber wer lebt, lebt für Gott. (11) So denkt auch ihr, einerseits tot für die Sünde zu sein, andererseits lebendig für Gott in Christus Jesus! (12) Darum soll die Sünde nicht herrschen in eurem sterblichen Körper, auf dass ihr seinen Begierden gehorcht, Die Interpretation der menschlichen Geschichte von der absoluten Singularität des Todes und der Auferstehung Christi her deutet die Situation des Subjektes als durch eine existentielle Alternative bestimmt: Entweder unterliegt der Mensch der Macht der Sünde, in deren Dienst er sich dann befindet, oder er ist mit Christus gestorben zu einem neuen Leben, und dient dann der Gerechtigkeit (Röm 6,15-23). Tertium non datur: Die Versuchung der Autonomie löst präzise die Lawine der Sünde aus, die das Subjekt unter ihrer Macht gefangen nimmt. Der Körper spielt in der Analyse insofern eine entscheidende Rolle, als die Gefangenschaft des Subjektes unter der Sünde (Röm 6,6.11-12) als eine Gefangenschaft des Körpers beschrieben wird: Der Körper der Sünde ist durch die Teilnahme am Tod und an der Auferstehung Jesu vernichtet worden (Röm 6,6), so dass die Sünde nicht mehr in »unserem« sterblichen Körper herrschen soll und wir seinen Begierden nicht mehr gehorchen sollen (Röm 6,12). Wenn Paulus ausführt, dass der Körper der Sünde vernichtet wird (Röm 6,6), denkt er selbstverständlich nicht an eine Zerstörung des physischen Körpers, sondern an eine Befreiung von der Verbindung zwischen Körper und Sünde: Das Subjekt ist von der Gefangenschaft seines Körpers durch die Sünde erlöst worden. Die Inszenierung des dreieckigen Verhältnisses zwischen dem »Wir«, dem Körper und der Sünde wird dann in der folgenden Aussage erneut aufgenommen. Paulus schreibt nicht: Die Sünde soll nicht mehr über »euch« herrschen, sondern, dass sie nicht mehr »über euren sterblichen Körper« herrschen soll. Wir können also feststellen, dass der Körper nicht einfach die Person bezeichnet, auch nicht nur die Person unter dem Aspekt ihrer durch ihre Körperlichkeit bedingten Endlichkeit - als Mensch, der durch seine Fähigkeiten und seine Grenzen bestimmt ist. Der Körper verweist vielmehr auf die Fehlbarkeit des Subjektes, das sich von Mächten abhängig macht, die es dann beherrschen - oder aber zum Leben befreien 2 . Er symbolisiert die Asymmetrie der Situation, die ihm in seiner Endlichkeit gegeben ist: Auf der einen Seite befindet er sich in Gefangenschaft unter der Sünde, und auf der anderen Seite hört er die gute Nachricht seiner Befreiung durch seine Pfropfung in den Tod und die Auferstehung Christi. Kurzum: Für Paulus stellt sich der Körper nicht als der Zusammenhang jener körperlichen Bedingungen dar, die das Leben prägen: Gesundheit, Krankheit, Alter, Geschlecht, Aussehen, intellektuelle und physische Geschicktheit. Er bestimmt den Körper vielmehr als das Verhältnis, das der menschliche Geist mit diesen Gege- »Zu den Implikationen des Evangeliums gehört eine präzise Reflexion über den Körper, über das Verhältnis des Selbst zu seinem Körper und über die Bestimmtheit der Existenz durch ihre Körperlichkeit.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 39 Zum Thema 40 ZNT 27 (14. Jg. 2011) benheiten seiner Endlichkeit herstellt. So ist der Mensch zwar durch seine Fehlbarkeit gekennzeichnet, die ihn in die Versuchung führt, seine persönliche Identität und den Sinn seiner Existenz auf allgemeinen und »ausgeliehenen« Eigenschaften (Blaise Pascal) zu begründen, ihm ist aber auch die Möglichkeit gegeben, aus dem Vertrauen in das bedingungslose Vertrauen Gottes zu leben. 2.3 Der Tod des Körpers und das Leben des Geistes Wenn der Körper die Fehlbarkeit des Menschen bezeichnet, erstaunt es nicht, dass der Apostel die Erlösung des Körpers als eschatologischen Horizont der Freiheit der Kinder Gottes erhofft (Röm 8,23): (23) [...] wir, die die Erstlingsgabe des Geistes haben, auch wir seufzen in uns selber, indem wir die Sohnschaft erwarten, die Erlösung unseres Körpers. Der Gewissheit der Hoffnung entspricht im Briefwechsel mit Korinth (1Kor 15,35-58) das Vertrauen des paulinischen Denkens in eine endzeitliche Vollendung der Schöpfung, die nicht nur durch die Erlösung unseres Körpers, sondern durch die Bekleidung der Auferstandenen mit einem neuen, durch Endlichkeit und Fehlbarkeit nicht mehr bestimmten Körper, gekennzeichnet sein wird: Die Universalität der gesamten Menschheit soll »im Augenblick der letzten Trompete« (1Kor 15,52) verwandelt werden, und alle, Lebende und Tote, werden einen unsterblichen (1Kor 15,53- 54), geistlichen und unvergänglichen Körper an Stelle ihres gegenwärtigen, beseelten und schwachen Körpers bekommen (1Kor 15,35-49) 3 : (42) So [...] die Auferstehung der Toten: Gesät wird in Vergänglichkeit, auferweckt wird in Unvergänglichkeit. (43) Gesät wird in Unehre, auferweckt wird in Herrlichkeit. Gesät wird in Schwachheit, auferweckt wird in Kraft, (44) Gesät wird ein beseelter Körper, auferweckt wird ein geistlicher Körper. Die doppelte Betonung der Körperlichkeit sowohl der neuen Identität, die allen Menschen durch die endzeit liche Verwandlung gegeben werden wird, als auch des qualitativen Unterschieds zwischen ihren aktuellen und ihren endzeitlichen Körpern, erklärt sich durch die argumentative Perspektive, die die Realität der Auferstehung der Toten als logische Implikation des Bekenntnisses zu Tod und Auferstehung Jesu versteht: Wenn die Toten tatsächlich auferstehen sollen, wie Christus gestorben und als Erster auferstanden ist (1Kor 15,12-20), dann müssen sie - als wirklich Auferstandene - einen Körper haben. Aber welchen Körper? Kontinuität und Diskontinuität sind eng miteinander verbunden. Die Kontinuität besteht zum einen in dem Personalpronomen »Wir«, das die personale Identität der Gestorbenen und noch Lebenden mit den Verwandelten zum Ausdruck bringt (»Alle werden wir nicht entschlafen, aber alle werden wir verwandelt werden«, 1Kor 15,51), und zum anderen in der Überzeugung, dass es erst dann eine Person gibt, wenn sie einen Körper hat. Die Diskontinuität besteht dann aber genau darin, dass der Körper nicht nachgebessert, sondern gewechselt - die Kontinuität trägt nicht der Körper, sondern die Person (»Wir«) - und der neue Körper kein Sitz der Fehlbarkeit mehr sein wird. Der Begriff eines unvergänglichen, nicht mehr beseelten, sondern geistlichen Körpers ist ein Oxymoron: Es gehört zur Definition des Körpers, zeitlich bedingt zu sein. Ein Körper ist gesund oder krank, jung oder alt, sexuell bestimmt - und dadurch auf Fortpflanzung orientiert, wie es das Markusevangelium richtig gesehen hat (Mk 12,25! ) - und sterblich. Paulus ist also konsequent, wenn er im Römerbrief das neue Leben in Christus nicht nur als eine Tötung der Handlungen des Körpers (Röm 8,12) und Lebendig-Machen des sterblichen Körpers durch den Geist beschreibt (Röm 8,11), sondern auch in einem auffälligen und überraschenden Parallelismus, als den »Tod des Körpers durch die Sünde« und »Leben des Geistes durch die Gerechtigkeit« (Röm 8,10): (9) Ihr seid nicht mehr im Fleisch, sondern im Geist, wenn denn Gottes Geist in euch wohnt. Wenn jemand Christi Geist nicht hat, der gehört nicht zu ihm. (10) Wenn aber Christus in euch ist, ist der Körper tot durch Sünde, lebt der Geist durch Gerechtigkeit. (11) Wenn der Geist dessen, der Christus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, wird der, der Christus von den Toten auferweckte, eure sterblichen Körper lebendig machen durch seinen Geist, »Wenn die Toten tatsächlich auferstehen sollen, wie Christus gestorben und als Erster auferstanden ist (1Kor 15,12-20), dann müssen sie - als wirklich Auferstandene - einen Körper haben. Aber welchen Körper? Kontinuität und Diskontinuität sind eng miteinander verbunden.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 40 François Vouga Körper und Realpräsenz bei Paulus ZNT 27 (14. Jg. 2011) 41 der in euch wohnt. (12) Nun, Brüder, sind wir Schuldner nicht mehr dem Fleisch, um nach dem Fleisch zu leben. (13) Denn, wenn ihr nach dem Fleisch lebt, werdet ihr sterben, wenn ihr durch den Geist die Handlungen des Körpers tötet, werdet ihr leben. Die neue Situation der Glaubenden, die aus der Gerechtigkeit des Vertrauens leben, ist durch das Ereignis der Offenbarung Gottes in Christus möglich geworden (Der »Geist Gottes« oder »Christus« wohnt in ihnen) und wird als Auswirkung einer Veränderung erklärt, die als ein Tod und als Wunder eines neuen Lebens definiert wird: als Tod des Körpers durch die Sünde (Röm 8,10) als Leben des Geistes durch die Gerechtigkeit (Röm 8,10) als Lebendig-Machen des sterblichen Körpers durch den Geist (Röm 8,11) - und als Tötung der Handlungen des Körpers durch den Geist (Röm 8,13) Tötung der Handlungen des Körpers durch den Geist (Röm 8,13) und Lebendig-Machen des sterblichen Körpers durch den Geist (Röm 8,11) folgen logisch aus der Interpretation der Gemeinschaft mit dem Tod und der Auferstehung Christi als Befreiung vom Körper der Sünde (Röm 6,6): Das Vertrauen in die bedingungslose Anerkennung Gottes befreit von den Abhängigkeitsverhältnissen, in welche die Fehlbarkeit den Menschen führt, und verleiht seiner Endlichkeit Identität und Sinn. Paradox erscheinen dagegen die parallelen Formulierungen, die das Leben in Christus als »Tod des Körpers durch Sünde« und »Leben des Geistes durch Gerechtigkeit« beschreiben (Röm 8,10). Der Widerspruch zu der Vorstellung, dass das Mit-Christusgekreuzigt-worden-sein das Subjekt rechtfertigt und vom Körper der Sünde befreit (Röm 6,6-7), ist jedoch nur scheinbar: - In Christus herrscht nicht mehr die Lawine der illusorischen Autonomie des »Fleisches« (Röm 8,10a). - Als Konsequenz lebt im Subjekt nicht mehr die Fehlbarkeit des Körpers, die durch die Versuchung und die Illusion der Selbstbegründung bewegt wird (»durch die Sünde«, Röm 8,10b), sondern in ihm lebt der Geist, durch welchen die Gerechtigkeit Gottes in ihm handelt (Röm 8,10c). Wenn Paulus erklärt, dass der Körper, in dem die Sünde wirksam wird, tot ist und der Geist lebt, meint er nicht, dass die Adressaten des Briefes körperlose Wesen oder unbeseelte, aber vom Geist erfüllte Leichname geworden sind. Das Verständnis vom Körper, das durch die Argumentation aufgebaut wird, setzt voraus, dass »Körper« etwas anderes als die materielle Form der Person - samt ihres Gesundheitszustandes, ihres Alters, ihres Geschlechts und ihrer übrigen physischen und psychischen Eigenschaften - meint. »Körper« bezeichnet nicht einfach die zeitlich bedingte, endliche Verfasstheit der menschlichen Existenz, sondern die Fehlbarkeit im Sinne der Schwachheit des Ich, das der Versuchung der Sünde erliegt und sich dann in der unglücklichen Notwendigkeit befindet, zu tun, was es nicht will, und nicht zu tun, was es will (Röm 7,13- 20). Wenn die »Handlungen des Körpers« die Selbstwidersprüche des unfreien Willens bezeichnen, verweist der Körperbegriff auf das Ich - auf den »Körper des Todes« (Röm 7,24) -, das durch die Sünde - genauso wie die paradigmatische Figur Adams (Röm 7,7- 12) - betrogen wurde. 3. Der Körper in der Lawine der Sünde Paulus hat Augustinus nicht gelesen 4 und kennt dessen Vorstellung des Sündenfalls und der Erbsünde nicht. Die Adamsgeschichte, wenn die Briefe auf sie Bezug nehmen (Röm 5,12-21; Röm 7,7-12; 1Kor 15,21-28), erfüllt nicht die Funktion, die Bestimmung der menschlichen Existenz durch die Sünde als eine Vererbung der Genetik zu erklären. Adam wird als Paradigma verstanden: Der Tod herrscht über den Menschen, weil alle wie Adam gesündigt haben (Röm 5,12). Die Gefangenschaft des Körpers unter der Macht der Sünde betrachtet Paulus nicht als eine angeborene Eigenschaft, sondern er stellt sie als das faktische Ergebnis eines Prozesses dar, der in mehreren Schritten abläuft, die - um ein deskriptives und analytisches Modell der Physik mit einem medizinischen Begriff zu verbinden - als die Lawine einer Abhängigkeitssituation (lateinisch: addictum; englisch und französisch: addiction) beschrieben werden können. - Das mathematische Modell der Lawinen veranschaulicht, wie kontinuierliche Handlungen zu kritischen Situationen führen, die qualitative Umbrüche verursachen 5 . - Die Abhängigkeitssituation (addiction) entsteht dadurch, dass sich der Mensch einer Lösung verschreibt, die sich in ein unlösbares Problem verwandelt. 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 41 Zum Thema 42 ZNT 27 (14. Jg. 2011) Die Lawine der Sünde, die die Menschen ins Rollen bringen und die den Körper verschüttet, wird in Röm 1,18-31 in ihren verschiedenen Etappen offenbart und analysiert. Die Geschichte beginnt mit der Suche nach Autonomie - Paulus spricht von der Gottlosigkeit und der Ungerechtigkeit der Menschen, die sich verweigern, die Wahrheit der Gerechtigkeit Gottes, die jede Person unabhängig von ihren Eigenschaften anerkennt und dem Vertrauen die Möglichkeit gibt, eine Identität umsonst zu bekommen (Röm 1,16-17; 3,21-26), wahrzunehmen (Röm 1,18-21): (18) Denn der Zorn Gottes wird vom Himmel her geoffenbart über jede Art von Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit unrechterweise unterdrücken. (19) Denn was an Gott erkennbar ist, ist bei ihnen offenbar; denn Gott hat es ihnen geoffenbart. [...] so dass sie nicht entschuldigt werden können, (21) denn obwohl sie Gott erkannten, haben sie ihn nicht als Gott verherrlicht und ihm gedankt; vielmehr verfielen sie in ihrem Denken der Nichtigkeit, und es verfinsterte sich ihr unverständiges Herz. Als Konsequenz der Gottlosigkeit und der Ungerechtigkeit, die Gott zwar erkennt, ihn aber nicht als Gott anerkennt, führt die Lawine unmittelbar zur Unfähigkeit, zwischen dem Schöpfer und der Schöpfung zu unterscheiden. Der Mensch, der überzeugt ist, mündig und vernünftig zu sein, gerät in einen ersten Selbstbetrug, indem er eine Apotheose der Schöpfung 6 - die Verabsolutierung seiner selbst - mit der Transzendenz des lebendigen Gottes verwechselt (Röm 1,22-23): (22) Sie behaupteten zwar, weise zu sein; aber sie wurden zu Toren. (23) Und sie tauschten die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes, gegen ein Bild ein, das einen vergänglichen Menschen, Vögel, Vierfüssler oder Kriechtiere darstellt. Nachdem sie den Menschen dazu verführt hat, die Transzendenz der Wahrheit und der Gerechtigkeit des lebendigen Gottes mit menschlichen Vorstellungen und Fantasien (Martin Luther) zu verwechseln, sodass der Mensch dann seine eigenen Fantasien und Vollkommenheitsideale verabsolutiert, führt ihn die Lawine der Sünde - des missverstandenen Gottes - zu einem verlogenen Verhältnis zu sich selbst und zu seinem Körper. Der Körper wird gerade dadurch entehrt, dass der Mensch zu einer Verwechslung zwischen Gott und dem eigenen Selbst und deswegen unter die Herrschaft der Begierden seines Herzens gerät (Röm 1,24- 25): (24) Deshalb hat sie Gott der Unreinheit ausgeliefert, in den Begierden ihres Herzens so dass ihre Körper durch sie selbst entehrt wurden. (25) Sie, die die Wahrheit Gottes mit der Lüge getauscht haben und Verehrung und Dienst dem Geschaffenen erwiesen statt dem Schöpfer, der gepriesen ist in Ewigkeit. Amen. Als weiteren, selbstorganisatorischen Verlauf der Lawine der Sünde, die die Universalität der Menschheit mitreißt, liest Paulus das Phänomen der Homosexualität. Die Logik scheint klar: Die Verwechslung zwischen der Gotteserkenntnis und der Anerkennung Gottes als lebendigen Gott hat zur Verkennung der Distanz zwischen Schöpfer und Schöpfung geführt, und diese zweite Verwechslung führt zu einer dritten, die den Menschen in die Versuchung bringt, seine Welt und sich selbst zu verabsolutieren. Diese vierte Verwechslung leitet ihn dazu, seinen eigenen Körper zu missbrauchen, und sie führt ihn zu einer fünften Verwechslung, die die Geschlechter nicht mehr unterscheidet (Röm 1,26-27) 7 : (26) Deshalb hat sie Gott ehrlosen Leidenschaften ausgeliefert. Denn ihre Frauen vertauschten den natürlichen Verkehr mit dem widernatürlichen. (27) Und ebenso ließen auch die Männer vom natürlichen Verkehr mit der Frau ab und entbrannten in ihrer Begierde nacheinander; Männer trieben mit Männern Unanständiges und empfingen an sich selbst die gebührende Belohnung für ihre Verirrung. 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 42 François Vouga Körper und Realpräsenz bei Paulus ZNT 27 (14. Jg. 2011) 43 In ihrer Mündung kommt die Lawine zu den »Handlungen des Körpers« (Röm 1,28-31): (28) Und wie sie nicht dafür hielten, Gott Anerkennung zu zollen, gab sie Gott der Haltlosigkeit preis. So tun sie, was sich nicht gehört, (29) sind erfüllt von jeglichem Unrecht [...] Die Geschichte der ganzen Lawine, die den Körper in einem Körper verschüttet und ihn in einen Körper der Sünde verwandelt, setzt klare Unterscheidungen voraus. Die Fehlbarkeit gehört zu der Befindlichkeit eines Subjektes, das endlich und frei geschaffen ist: Die Freiheit impliziert die Möglichkeit, falsche Entscheidungen zu treffen. Und genau die Entscheidung, autonom und Herr seiner selbst sein zu wollen - Markus würde schreiben: »seine Seele retten zu wollen« (Mk 8,34-38) - führt zur Situation einer zunächst selbst gewählten und dann vom Subjekt selbst nicht mehr vermeidbaren Abhängigkeit. 4. Die Kehrseite: Der Körper als Glied Christi und Tempel des heiligen Geistes Die Hervorhebung des Verhältnisses zum Körper als bedeutender Station auf dem Weg der Lawine der Sünde fällt auf, weil die Argumentation, die die Auswirkungen der Verwechslung der Wahrheit Gottes mit der Fantasie der Menschen beschreibt (Röm 1,24-25), einen anderen, vielleicht näherliegenden Verlauf hätte wählen können. Wenn es Paulus darum geht, die Konsequenzen der Herrschaftsübernahme der Begierden des Herzens zu zeigen, könnte er auch auf ihre zwischenmenschlichen Dimensionen verweisen. Warum lenkt der Apostel unsere Aufmerksamkeit aber gerade auf die Ehre des Körpers? Eine plausible Antwort findet sich in einer - in den Paulusbriefen unerwarteten - Unterscheidung, die das Sündigen am eigenen Körper von allen anderen Vergehen, die den Körper nicht betreffen, abgrenzt (1Kor 6,18). In seinem Kommentar hält sie Johannes Calvin aus nachvollziehbaren Gründen für eine »absurditas« 8 , aber Paulus sieht es offensichtlich anders. Er verdeutlicht dies, indem er diese erste Unterscheidung durch eine zweite vorbereitet, die den Bauch und den Körper gegenüberstellt: Der Bauch ist zwar für die Speisen da, wie die Speisen für den Bauch, aber der Körper ist für den Herrn da, wie der Herr für den Körper (1Kor 6,13). Der Körper, der die Fehlbarkeit des Menschen symbolisiert, wird nicht nur als Ort der Versuchung und als Ausgangspunkt und Opfer der Lawine der Sünde wahrgenommen, sondern auch, und gerade in seiner Endlichkeit und seiner Fehlbarkeit, als die Gabe Gottes, die jede Person als Glied von Christus geschenkt bekommt und in welcher der Geist seine vielfältige Frucht trägt, anerkannt und bekannt (1Kor 6,12-20): (12)-Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles ist zuträglich. Alles ist mir erlaubt, aber nichts soll Macht haben über mich. (13)-Die Speisen sind für den Bauch da, und der Bauch für die Speisen; Gott wird ihn und sie zugrunde gehen lassen. Der Körper aber ist nicht für die Unzucht da, sondern für den Herrn, und der Herr für den Körper: (14)-Gott hat den Herrn auferweckt und wird auch uns auferwecken durch seine Kraft. (15)-Wisst ihr nicht, dass eure Körper Glieder des Christus sind? Also, soll ich die Glieder des Christus nehmen und zu Gliedern einer Dirne machen? Nein! (16)-Oder wisst ihr nicht, dass wer der Dirne anhängt, ein Körper mit ihr ist? Denn die zwei werden, heißt es, ein Fleisch sein. (17)-Wer aber dem Herrn anhängt, ist ein Geist mit ihm. (18)-Meidet die Unzucht! Jedes Vergehen, das ein Mensch begeht, betrifft nicht seinen Körper. Wer Unzucht begeht, sündigt am eigenen Körper. (19)-Oder wisst ihr nicht, dass euer Körper Tempel des heiligen Geistes in euch ist, den ihr von Gott habt, und ihr gehört nicht euch selbst? (20)-Ihr seid teuer erkauft. Verherrlicht also Gott in eurem Körper! Die Schönheit des Körpers besteht in der Bewunderung der Gnadengaben, mit denen die Vorsehung Gottes uns - wie die Blumen des Feldes - bekleidet, und seine Gesundheit in der Dankbarkeit gegen den Schöpfer, der ihn uns umsonst schenkt. Uns wird er nicht gegeben, damit wir ihn als Mittel zum Zweck degradieren, damit wir ihn instrumentalisieren, um uns durch Vollkommenheitsideale der Gesundheit, der Ästhetik oder fantasievoller Leistungen zu verewigen. Die Lawine, die dadurch ausgelöst wird, ist bereits beschrieben worden. Der Körper ist uns als Endlichkeit und Fehlbarkeit geschenkt, damit wir die Freiheit des Vertrauens, das uns die bedingungslose Anerkennung ermöglicht, in eine Realpräsenz der Gerechtigkeit - in einen Tempel des heiligen Geistes - verwandeln lassen 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 43 Zum Thema 44 ZNT 27 (14. Jg. 2011) (Röm 12,1-2! ). Das Sündigen am Körper nimmt wahrscheinlich deswegen eine Sonderstellung im paulinischen Denken ein, weil die vergängliche, endliche und fehlbare - weil freie - Bekleidung, die dem Subjekt geschenkt wird, der Geschichte seines geistigen Lebens, seines Verhältnisses zu Gott, zu sich selbst und zu den Anderen Raum und Zeit gibt. Der Körper ist der Raum und die Zeit, in denen die von Gott anerkannte Person Partnerschaft, Mutterschaft, Vaterschaft, Sohn- und Tochterschaft, Gesundheit und Krankheit, Geburt, Leben und Tod gestaltet. So erklärt sich natürlich die Ausdehnung der Körpervorstellung auf die Gemeinschaft der Schwestern und Brüder: Die Einladung, den »Körper« in der Tischgemeinschaft des Mahles des Herren anzuerkennen (1Kor 11,29), verweist sowohl auf den Körper des gekreuzigten Christus, der im Brotbrechen symbolisiert ist (1Kor 11,24), als auch auf seine aktuale Gegenwart in seinen Gliedern (1Kor 6,15): »Ihr seid der Körper von Christus« (1Kor 12,27, vgl. Röm 12,4-5). Anmerkungen 1 Umfassende Problemstellung bei St. Rodotà, La vita e le regole. Tra diritto e non diritto, Saggi Universale Economica Feltrinelli, Milano 2006, besonders im Kapitel 1: Il corpo, 73-98. 2 Den Begriff entnehme ich der Symbolik des Bösen von Paul Ricoeur. Cf. Ders., Philosophie de la volonté II: Finitude et culpabilité 1: L’homme failible, und 2: La symbolique du mal, Paris 1960; Ders., Le mal: un défi à la philosophie et à la théologie, Genève 1986; wiederveröffentlicht in: Lectures III: Aux frontières de la philosophie, La couleur des idées, Paris 1994, 211-233. 3 F. Vouga et J.-F. Favre, Pâques ou rien. La résurrection au centre du Nouveau Testament, Essais bibliques 45, Genève 2010, 181-202. 4 Augustinus, De diversis quaestionibus ad Simplicianum, 396 n.Chr. 5 Umfassende Darstellung in: P. Bak, How Nature Works. The science of self-organized criticality, New York 1996. Französische Übersetzung: Quand la nature s’organise. Avalanches, tremblements de terre et autres cataclysmes, Paris 1999. 6 G. Bornkamm, Die Offenbarung des Zornes Gottes (Röm 1-3) [1935], in: Das Ende des Gesetzes. Gesammelte Aufsätze I, BEvTh 28, München 1952, 9-33; H. Schlier, Von den Heiden. Röm 1,18- 32, EvTh 2 (1935) 9-26. 7 Das Phänomen der Homosexualität, das von der pädagogischen, im frühen Christentum (1Kor 6,9; 1Tim 1,10) scharf abgelehnten Tradition der antiken, griechischen Päderastie (die aus asymmetrischem Verhältnis zwischen Lehrer[in] und Schüler[in] besteht, Sappho, Platon, Symposion) zu unterscheiden ist, symbolisiert in dieser Argumentation die menschliche Verwirrung, die das Andere im Anderen vom Gleichen nicht mehr unterscheiden kann: Die Menschheit, die Schöpfer und Schöpfung nicht unterscheidet, verwechselt deshalb Mann und Frau, weil die Unfähigkeit, Gott als den Ganz-Anderen zu ehren, zu der Unfähigkeit führt, den anderen Menschen als Anderen anzuerkennen. Folglich geht es hier weder um ein moralisches (»Homosexualität ist eine Sünde«) noch um ein soziales Problem (»Homosexualität ist eine Abweichung von der Norm«), sondern um die universale Schwierigkeit, sich als »Ich« innerhalb einer Ich-Du-Beziehung, die durch die Umsonstheit der Gnade Gottes gegeben ist, zu verstehen. Die Störung des Verhältnisses zu sich selbst, die aus der Störung des Verhältnisses zu Gott folgt, äußert sich wahrnehmbar im Verhältnis zum anderen als Nicht-als- Anderen. Die Homosexualität ist nicht Sünde, sondern das Symptom der universalen Sünde, die im Missverhältnis des Einzelnen zu Gott und deshalb zu sich selbst besteht. In der universalen Logik von Röm 1,18-31 kann es wohl heterosexuelle Beziehungen geben, in denen der Gleiche, und nicht der Andere im Partner gesucht wird und die »wider-natürlich« sind - »Natur« ist in der Antike und bei Paulus ein bewusst kultureller Begriff (Röm 2,14,24; 11,21; 1 Kor 11,14; Gal 2,15; 4,8) - und es kann homosexuelle Ich-Du-Beziehungen geben. Aus kulturell geprägten Gründen - römische, hellenistische (nicht: griechische) und jüdische Erziehung und Moral stimmen hier im Prinzip überein - wird in Röm 1,24-27 die Homosexualität als Symbol einer Haltung gesehen, die universal verbreitet und mit dem besonderen Verhalten der Menschen, die homosexuelle Beziehungen führen, logisch nicht zu verwechseln ist. Parallele Analyse in: E.A. Lévy-Valensi, Le grand désarroi aux racines de l’énigme homosexuelle, Paris 1973. 8 Iohannis Calvini in omnes Pauli apostoli epistolas atque etiam in epistolam ad Hebraeos commentarii, Volumen I epistolas ad Romanos, Corinthios et Galatas complectens, Halis Saxonum 1831, 283. »Die Schönheit des Körpers besteht in der Bewunderung der Gnadengaben, mit denen die Vorsehung Gottes uns - wie die Blumen des Feldes - bekleidet, und seine Gesundheit in der Dankbarkeit gegen den Schöpfer, der ihn uns umsonst schenkt.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 44 Einleitung: Was heißt und zu welchem Ende feiert man Abendmahl? In Korinth jedenfalls war das Ende der christlichen Mahlfeier ein Gelage, wie wir von Paulus wissen. Ein Gelage, das dem Apostel nicht wegen seines Alkoholkonsums anstößig war, sondern weil die einen satt und betrunken und die anderen frustriert und hungrig nach Hause gingen. Gute Laune ist immer gut, auch die alkoholisch stimulierte. Aber sie soll doch alle anstecken. Wenn sie das nicht tut, sondern im Gegenteil auf Kosten der Schwachen sich auslebt, dann ist, so die klare Position des Paulus, die Party vorbei. Die Frage, die die vorliegende Kontroverse in dankenswert kontroverser Zuspitzung behandelt, lautet: Welche Gründe macht Paulus für seinen Widerspruch namhaft? Hierbei ist zunächst Folgendes zu bedenken: Wo immer in der Antike gesellschaftliche Gruppen sich vereinsförmig organisierten, pflegten und festigten sie ihre Gruppenidentität in Form von gemeinsamen Mählern. Es dürfte insofern kein Zufall sein, dass gerade das gemeinsame Essen und Trinken zu den Elementen gehört, die das Wirken Jesu mit der frühen Jesusbewegung und dem entstehenden Christentum verbinden. Unter der Institution eines vereinsförmigen Mahles konnte sich jeder etwas vorstellen. Das Gemeinschaftsmahl war mithin ein wichtiger Bestandteil der missionarischen Kommunikation des Urchristentums. Vor allem aber gilt: Nach antikem Verständnis setzen Vereinsmähler regelmäßig hohe ethische Standards. Das frühchristliche Ethos plausibilisierte sich im Vollzug des gemeinsamen Mahles sozusagen von selbst. In diese Richtung geht die Argumentation von Matthias Klinghardt. Die paulinische Kritik an den korinthischen Verhältnissen war den Adressaten einsichtig, weil man nicht nur bei den Christen, sondern überall anders auch keinesfalls unsozial miteinander umgehen konnte, sobald man sich im Mahl-Ritual zu einer Gemeinschaft verbunden hatte: Die Christen werden zu einem »Leib«, sobald sie ihr Brot miteinander teilen. Die auf den Tod Jesu bezogenen Interpretamente sind demgegenüber sekundär. Anders Eckart Reinmuth. Aus seiner Sicht hängt nicht weniger als alles an der Vergegenwärtigung des Todes Jesu, und dies in denkbar drastischer Anamnese des Körpers des getöteten Jesus in den Deuteworten zu Brot und Wein, die als narrative Abbreviaturen für das Ganze der Jesus-Christus-Geschichte stehen. Die Gemeinschaft der zum Mahl versammelten Gemeinde wird exklusiv von dorther begründet, und zwar gerade nicht als »nachträgliche Transzendierung bereits bestehenden Gemeinsinns oder erfahrener Gemeinschaft, wie sie auch in der reichsrömischen politischen Kultur gang und gäbe war«. Das Selbstverständnis christlicher Gemeinschaft steht mit dieser Kontroverse in elementarer Weise zur Debatte, aber auch grundsätzlich die »Begründbarkeit des Sozialen«(Reinmuth). Kontroverse Einleitung zur Kontroverse: Der »Leib Christi« in den Abendmahlsworten: Interpretament oder Fundament? ZNT 27 (14. Jg. 2011) 45 NEUERSCHEINUNG A. Francke Verlag www.francke.de Jochen Wagner Die Anfänge des Amtes in der Kirche € ISBN 978-3-7720-8411-9 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 45 1. Das stärkste Sinnbild christlicher Gemeinschaft ist die Feier des Gemeinschaftsmahles. Hier wird deutlich, dass die Gemeinde sich einer Begründung verdankt, die sie nicht selber stiftete, und auf einem Grund existiert, den sie nicht gelegt hat (vgl. 1Kor 3,11). Gegenwärtige soziologische und politisch-theoretische Überlegungen sprechen von der Unbegründbarkeit von Gemeinschaft. 1 Sie gehen von der Beobachtung aus, dass alle Begründungen von politisch relevanten Kollektiven, seien es Gesellschaften, Nationen, Staaten oder Gemeinschaften, auf Eigenschaftszuschreibungen beruhen. Diese verbindenden Eigenschaften - denken wir z.B. an gemeinsame Sprachen, Lebensräume, Geschichten, Kulturleistungen - sind jedoch letztlich als fiktionale Konstrukte und in dieser Hinsicht als sekundäre Begründungen zu verstehen. Tatsächlich aber sind sie in ihrer Machtförmigkeit für die Herstellung und Sicherung der entsprechenden Identitäten unerlässlich. Soziale Kollektive benötigen Begründungen, um ihre Identität zu definieren. Sie sind jedoch keineswegs natürlich gegebene, ursprüngliche, alternativlose Größen, auch wenn ihre Gründungsgeschichten und Konstitutionsleistungen genau dies suggerieren. Je ›natürlicher‹, ›objektiver‹, historisch alternativloser diese Begründungen ausfallen, desto weniger stehen anscheinend entsprechende Ansprüche in Frage. Stets werden in diesen Begründungsprozessen Überhöhungen, Apotheosen und Tabuisierungen vorgenommen, mit denen Eigenschaftszuschreibungen transzendiert werden. Ihre Dekonstruktion führt zur Einsicht in die historische Kontingenz der Gemeinschaften und zur Frage ihrer tatsächlichen Begründbarkeit. Dieser Zusammenhang wird am paulinischen Gemeindeverständnis eindrucksvoll sichtbar. Für Paulus ist die Gemeinde keine Partei, kein Interessens- oder Mysterienverein; für sie sind weder gemeinsame Sprache noch soziale Übereinstimmungen oder antike Mahlpraktiken konstitutiv. Sie verdankt sich aus seiner Sicht einzig dem Handeln Gottes, wie es in der Geschichte Jesu Christi sichtbar und erfahrbar wurde. Dieser exklusive Bezug wurde ursprünglich nicht als die Apotheose eigener Machtansprüche verstanden. Er diente vielmehr ihrer Kritik. Das zeigt sich im ersten Korintherbrief, um den es in dieser Kontroverse geht, an vielen Stellen 2 und sehr deutlich im hier entwickelten Verständnis des Gemeinschaftsmahls. In 1Kor 10f. finden wir die älteste Erwähnung des Gemeinschaftsmahls im Neuen Testament. Sie ist zugleich eine polemische Korrektur, keine neutrale Definition. Paulus bezeugt keine ideale, fraglose, unbestrittene Praxis; er kommentiert die korinthische Praxis des Herrenmahls vielmehr und stellt eine kritische Relation zu der Geschichte her, auf die diese Praxis sich bezieht. Ihm geht es um einen exklusiven, normierenden Bezug auf diese Geschichte, unbeschadet der Tatsache, dass in soziologischer wie historischer Hinsicht sowohl das korinthische Herrenmahl wie die Mahlpraxis Jesu nur in der Vielfalt ihrer kulturellen Kontexte zu verstehen sind. Für Paulus ist entscheidend, dass Jesus von Nazareth, der ›Herr der Herrlichkeit‹ (1 Kor 2,8), dem die Gemeinde ihre Praxis des Gemeinschaftsmahls verdankt, zu Tode gefoltert wurde, und dass es dieser Tod ist, der im gemeinsamen Mahl vergegenwärtigt wird. Paulus insistiert unbeirrbar auf diesen Umstand, indem er im Zusammenhang des Herrenmahls nicht nur von Christi Tod (vgl. 1Kor 11,26), sondern auch von seinem Blut (vgl. 1Kor 10,16; 11,25.27) oder Körper (10,16; 11,24.27.29) spricht. ›Tod‹, ›Blut‹ und ›Körper‹ stehen für seine Geschichte. Auf sie bezieht sich auch die Zeitangabe, die von der »Nacht, in der er ausgeliefert wurde« spricht (11,23). Das ist ein narratives Detail der Passionsgeschichte, das in seiner Konkretheit diese zugleich als Handeln Gottes interpretiert. 3 Für Paulus ist das erinnerte Geschehen von seiner Deutung nicht zu trennen; es ist nicht einmal theoretisch zu differenzieren. Paulus konnte keine Christusvon einer Jesusgeschichte abheben (vgl. 2Kor 5,16); er redet vom Getöteten in der Perspektive des von Gott zum Leben Gebrachten. Die Geschichte Jesu Christi ist für ihn konstitutiv für die Entstehung der Gemeinde, für ihre soziale wie ethische Wirklichkeit. Er versteht sie als die Geschichte Gottes. 4 Kontroverse Eckart Reinmuth Brot-Brechen und Körper-Gemeinschaft. Herrenmahl und Gemeinde im ersten Korintherbrief 46 ZNT 27 (14. Jg. 2011) 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 46 Eckart Reinmuth Brot-Brechen und Körper-Gemeinschaft ZNT 27 (14. Jg. 2011) 47 Paulus erinnert an diese Geschichte, zieht Konsequenzen aus ihr und verweist auf sie - gerade dann, wenn es um Probleme geht, die gelöst werden müssen. Im Fall des Herrenmahls in Korinth geht es Paulus darum, dass das soziale Gefälle unter den Gemeindegliedern in der Gemeinde keine Rolle spielen darf, sondern aufgehoben ist. Es wäre hinsichtlich der Interpretation von 1Kor 10-11 ein Fehlschluss, die soziale Wirklichkeit der Gemeinde und ihrer Mahlpraxis von der Deutungsperspektive zu trennen, in der sie hier kommuniziert wird. Eine scheinbar ›transzendierende‹ Interpretation sozialer Wirklichkeit tritt nicht sekundär hinzu; es ist vielmehr der grundlegende Bezug auf die Jesus- Christus-Geschichte, der von Paulus als konstitutiv gegenüber der Mahlpraxis der Korinther kritisch in Anschlag gebracht wird. 2. Paulus war kein systematischer Denker, kein ›Dogmatiker‹, sondern ein Erzähler, der sich da, wo er argumentieren musste - in seinen Briefen also - grundlegend auf narrative Strukturen bezog. Paulus ist damit kein Sonderfall. Die Praxis des Argumentierens mit Erzählinhalten teilt er mit seinen ehemaligen theologischen Kollegen. Die Literatur des frühen Judentums kann das vielfach belegen. Wer mit Erzählinhalten argumentiert, wird in den seltensten Fällen erst erzählen und dann argumentieren. Er wird vielmehr auf Erzählungen zurückgreifen, die bekannt und bedeutend sind. Er wird sich auf sie beziehen, auf sie anspielen, sie mit einem Kürzel aufrufen bzw. zusammenfassen - und sie selbstverständlich jederzeit zu explizieren wissen. Jeder weiß, was gemeint ist, und kann den Wechsel vom Narrativen zum Argumentativen mitvollziehen. Narrative Abbreviaturen stellen in erzähltextanalytischer Hinsicht graduell variierende Sonderfälle kondensierenden Erzählens, in argumentationstheoretischer Hinsicht Argumente mit begründender, plausibilisierender, erläuternder, veranschaulichender usw. Funktion dar. Sie können im Verbund mit weiteren intertextuellen Bezugnahmen, also etwa Zitaten, explizit narrativen Elementen oder kondensierenden Wiedergaben biblischer Erzählinhalte, gebraucht werden. 5 Entsprechende Beispiele finden sich in den paulinischen Gemeinschaftsmahl-Texten mehrfach; sie verraten die narrative Grundierung seiner Argumentation in der Jesus-Christus-Geschichte und mit ihr in weiteren biblischen und frühjüdischen Erzähltraditionen. Zu Beginn von Kap. 10 - hier spielt Paulus mit den pneumatischen Nahrungsmitteln erstmalig im Brief auf das Herrenmahl an - erwähnt er die Exodustradition. 6 In 10,7 zitiert Paulus Ex 32,6 nach der Septuaginta und ruft damit den entsprechenden Erzählkontext auf; in den VV.8ff. greift er in kondensierender Form auf weitere Erzählinhalte zurück. V.11 stellt klar, dass Paulus zwischen den biblischen Bezugstexten und dem einstigen Geschehen zu unterscheiden weiß. Die biblischen Texte bezeugen das einstige Geschehen und wurden zur gegenwärtigen Beherzigung aufgeschrieben. Die parallelen Bezugnahmen auf das Blut und den Körper Christi in 10,16 sind als narrative Abbreviaturen zu verstehen, mit denen sein Foltertod und damit der erzählerische Kontext der Passionsgeschichte aufgerufen werden. Die Gemeinschaft, die sich nach V.16 im Herrenmahl realisiert, gründet auf dieser Geschichte und bezieht sich bleibend auf sie. Die Geschichte Jesu Christi ist nicht ein nachträgliches Mittel ihrer »Für Paulus ist entscheidend, dass Jesus von Nazareth, der ›Herr der Herrlichkeit‹ (1 Kor 2,8), dem die Gemeinde ihre Praxis des Gemeinschaftsmahls verdankt, zu Tode gefoltert wurde, und dass es dieser Tod ist, der im gemeinsamen Mahl vergegenwärtigt wird.« Prof. Dr. Eckart Reinmuth, 1951 in Rostock geboren, studierte Evangelische eologie in Greifswald, wurde 1981 in Halle promoviert und habilitierte sich 1992 in Jena. Er war Gemeindepastor in Mecklenburg und Professor für Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Naumburg und der Universität Erfurt. Seit dem Sommersemester 1995 lehrt er an der eologischen Fakultät der Universität Rostock. Eckart Reinmuth 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 47 Kontroverse 48 ZNT 27 (14. Jg. 2011) Legitimierung oder Beglaubigung, sondern ihre exklusive Begründung und ihr Maß. Diese Einsicht ist insofern entscheidend und folgenreich, als die im Herrenmahl sich realisierende Gemeinschaft jeder anderen Begründung entbehrt. Die Gemeinde in Korinth existiert nicht aufgrund gleicher Eigenschaften ihrer Mitglieder, etwa gemeinsamer Sprache oder Rituale, soziologischer Zugehörigkeit oder moralischen Niveaus, sondern einzig im gemeinsamen, vertrauenden Bezug auf Jesus Christus, dessen Geschichte für sie vertrauenswürdig, bindend und gegenwärtig ist. Sie wissen sich dieser Geschichte verbunden, weil sie den Tod des Christus als stellvertretend für sie begreifen (11,24). Im Brechen des Brotes werden sie Teil dieses Geschehens, dieser sie einbeziehenden und über sie hinausgehenden Geschichte. Auf dieser hermeneutischen Grundlage entwickelt Paulus die metaphorische Aussage, dass die das Herrenmahl feiernde Gemeinde als ›ein Leib‹ aufzufassen sei (10,17). Bereits in dem Abschnitt 6,12-20 hatte Paulus die einzelnen Christen als ›Glieder Christi‹ (6,15) bezeichnet, und in 12,12ff. wird er die klassische Leib- Glieder-Metaphorik auf die Vielfalt der Gaben in der Gemeinde anwenden. Die Aussage in 10,17 steht jedoch in einem eigenen Begründungszusammenhang. Verweisen das gebrochene Brot auf den gefolterten Körper Christi wie der gesegnete und zu leerende Kelch auf das vergossene Blut Christi, so soll das ›Ein-Leib-Sein‹ der Gemeinde als unumgängliche und, wie die argumentativen Partikeln zeigen, unumkehrbare Folge eben dieser Geschichte, wie sie in 11,23ff. dann weiter erläutert wird, verstanden werden. 7 Das ›Aneinander-Teilhaben‹ der Gemeinde (V.17b) 8 hat hier seinen exklusiven Ursprung. Es ist die Todes- und Lebensgeschichte Jesu Christi, die in paulinischer Perspektive für diesen Leib konstitutiv und prägend ist. 3. Blicken wir nun auf die Bezüge zu dieser Geschichte in 11,23ff. Bereits einleitend trifft Paulus in V.23 einen entscheidenden Hinweis. Er bezieht sich auf eine Übernahme- und Übergabegeschichte. Er selbst war Adressat dessen, was (gr. ho) er der angeredeten Gemeinde übergab. Die Tradition, mit der er sie nun erneut adressiert, wird auf ihren Ursprung im Kyrios gegründet. Paulus versteht das Wesen des Herrenmahls vom Herrn her und als durch ihn bestimmt. Es ist derselbe Herr, dessen symbolisches Handeln in der Nacht, in der seine Auslieferung sich vollzog, den Adressaten von Paulus in Erinnerung gerufen wird. Soweit ich sehe, wird die erschütternde Dramatik, die den Hintergrund der ›Einsetzungsworte‹ bildet, meist kaum bemerkt. Ich paraphrasiere: In der Nacht, in der der Herr Jesus von Gott seinen Feinden überlassen wurde, nahm er Brot, dankte, brach es und sagte: In diesem Handeln versinnbildlicht sich mein Todesweg, der sich in Vertretung für euch und euch zugute vollzieht. Wenn es wörtlich heißt »dieses ist mein Leib anstatt eurer (gegeben)«, dann bezieht sich das erstens nicht auf das Brot, sondern auf das Brechen des Brotes, und es bezieht sich zweitens nicht auf einen mystischen Leib, sondern auf die Identität 9 und damit den konkreten Körper Jesu, der ausgeliefert und zerstört wird. Die konventionelle Übersetzung, die an dieser Stelle Sōma mit ›Leib‹ wiedergibt, lässt schnell vergessen, dass es konkret um einen in den Foltertod gegebenen Körper geht. Die Anamnesis, die vergegenwärtigende Erinnerung, 10 von der am Ende des Verses als Ziel des wiederholenden Handelns der Gemeinde die Rede ist, bezieht sich folglich auf diesen Erzählinhalt und damit auf den Gesamtkontext der Jesus-Christus-Geschichte. Die Drastik der expliziten Körperlichkeit wird im Kontext der hier implizierten Gottesgeschichte herausgestellt und ist ohne diese nicht verständlich. Beide ›Geschichten‹ sind nicht in eine immanente gegenüber einer transzendenten zu abstrahieren. Paulus geht es nicht um die Frage einer Verhältnisbestimmung zwischen ›Kreuz‹ und ›Auferstehung‹, sondern um das Verständnis der Lebens-Geschichte des Gekreuzigten als Geschichte Gottes. Die pure Körperlichkeit des Gefolterten, ihre Präsenz im Mahl, thematisiert und durchkreuzt zugleich jede transzendierende Sinngebung von Geschichte. Es ist gerade die identifizierende Zeichenhandlung (das Brechen des Brotes symbolisiert den gewaltsamen Tod Jesu), die dem Modell der Transzendierungsleistungen zuwiderläuft. Es gibt kein Ausweichen ins Abstrakte; vielmehr wird die Jesus-Christus-Geschichte als Gottes-Geschichte konkret und alternativlos erfahren - gerade weil sie aus menschlicher Sicht nicht alternativlos ist, sondern die undenkbarste und skandalöseste aller Alternativen darstellt (vgl. 1,18ff.). »Die pure Körperlichkeit des Gefolterten, ihre Präsenz im Mahl, thematisiert und durchkreuzt zugleich jede transzendierende Sinngebung von Geschichte.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 48 Eckart Reinmuth Brot-Brechen und Körper-Gemeinschaft ZNT 27 (14. Jg. 2011) 49 So, wie das Brechen des Brotes den gewaltsamen Tod Jesu symbolisiert, ist auch der Becher Sinnbild für die sich an Jesus auswirkende Todesgewalt (11,25). Auch hier geht es - wie in Röm 3,25; 5,9 - mit dem ›Blut‹ um den gewaltsamen Tod Jesu. Beide Verweisstellen bestätigen übrigens, dass die sich an Jesus stellvertretend auswirkende Todesgewalt die Glaubenden nicht mehr trifft. Ihnen gilt vielmehr die Einladung zu dem neuen Bundesschluss Gottes, den sie im Gemeinschaftsmahl versinnbildlichen. Ausschlaggebend für die Bestätigung der bisherigen Interpretationslinie ist der Übergang von V.25b zu V.26 in der Aufnahme des ›wann immer‹ (gr. hosakis). Da das ›ihr macht bekannt‹ (gr. kataggellete) als Indikativ zu verstehen ist, kommt damit zum Ausdruck, dass die Feier des Abendmahls die Bedeutung des Todes Jesu gültig und hinreichend versinnbildlicht und diese als die Körper-Gemeinschaft der Feiernden realisiert. Deshalb darf es keine Überlegenheits- oder Machtpositionen in der Herrenmahlsgemeinschaft geben (VV.17-22). Alle bisherigen narrativen Abbreviaturen, die sich auf den Kontext der Passionsgeschichte bezogen, werden hier auf den ›Tod des Herrn‹ fokussiert und mit dieser komplexen Abbreviatur zusammengefasst. Dabei ist eine ähnliche Voraussetzung zu berücksichtigen, wie sie im Übergang von 1,17 zu 1,18 sichtbar wird: Mit dem ›Kreuz Christi‹, das sinnentleert werden kann, ist selbstverständlich seine Bedeutung, das ›Wort vom Kreuz‹, gemeint. In gleicher Weise ist mit dem ›Tod des Herrn‹ die Bedeutung gemeint, die er im Licht des auferweckenden Handelns Gottes erhalten hat, ohne von diesem Handeln getrennt werden zu können. Im nachlaufenden Kontext sprechen noch einmal V.27.29 in aller Schärfe vom zum Tode geschundenen Körper des Herrn. V.27 wiederholt mit ›Blut‹ und ›Körper‹ die beiden bereits verwendeten narrativen Abbreviaturen. Sie verweisen auf den Maßstab, den die Feier des Herrenmahls an der Passion des Kyrios nehmen soll. Eine ›unwürdige‹ (gr. anaxiōs) Teilnahme, die sich konkret in der praktischen Nichtaufhebung des sozialen Gefälles in der Gemeinde äußert (vgl. VV.17- 22), käme dem Handeln der Feinde Gottes in der Passionsgeschichte gleich. Paulus macht damit den strengen Bezug geltend, den er zwischen dem Herrenmahl und dem Tod Jesu Christi sieht. In dieser Perspektive kommt alles darauf an, die Gestalt des Herrenmahls vom Bezug auf seinen in den Tod gegebenen Körper bestimmt sein zu lassen (V.29). Insofern geht es mit dem ›Unterscheiden des Leibes‹ (gr. diakrinein to sōma 11,29) nicht um eine richtige Beurteilung bzw. angemessene Wahrnehmung der Mahlelemente, sondern um das Identifizieren der alles überwindenden Lebensmacht Gottes am gefolterten, dem Tod ausgelieferten Körper Christi. Diese Lebensmacht Gottes ist zugleich richtende Macht (vgl. nur 1,18; 5,13), die sich auch an denen auswirkt, die zu eigenem ›Richten‹ sich selbst gegenüber nicht bereit sind (11,31f.). 4. Greifen wir abschließend unsere Eingangsüberlegungen auf, so können wir feststellen: Das Gemeinschaftsmahl versinnbildlicht in der Perspektive des Paulus die Unbegründbarkeit jeder Gemeinschaft. Sie verweist mit ihrer Begründung in der Todes- und Lebensgeschichte Jesu Christi auf eine bleibende ›Leerstelle‹, die nicht durch die Transzendierung von Eigenschaftszuschreibungen aufzufüllen und zu ersetzen ist. Von einer ›Leerstelle‹ ist deshalb zu sprechen, weil es Paulus mit der Geschichte Jesu Christi um die Geschichte des Gottes geht, dessen Macht sich in der Welt als Schwäche zeigt (vgl. z.B. 1,27; 2Kor 12,9f.). Der 1Kor spielt das konsequent durch. Und der zweite Brief demonstriert dramatisch die provozierenden Konsequenzen für die Autoritätskonstruktion des Apostels. Ist sein Auftreten als mächtig oder als ohnmächtig zu beurteilen; ist es schwach oder stark, beeindruckend oder eher lächerlich? Bittet Paulus, oder befiehlt er (vgl. 2Kor 5,20)? Muss die Utopie des Machtverzichts tatsächlich ortlos bleiben? Paulus ging es sichtlich nicht um eine nachträgliche Transzendierung bereits bestehenden Gemeinsinns oder erfahrener Gemeinschaft, wie sie in der reichsrömischen politischen Kultur gang und gäbe war, sondern um das verpflichtende Insistieren auf dem unableitbaren Ursprung der Gemeinde, der sich in ihrer Feier des Herrenmahls realisiert. Dieser Ursprung, die Tötung des ›Herrn der Herrlichkeit‹ (2,8), lief den antiken Begründungsroutinen reichsrömischer Macht zu- »Es gibt kein Ausweichen ins Abstrakte; vielmehr wird die Jesus-Christus-Geschichte als Gottes-Geschichte konkret und alternativlos erfahren - gerade weil sie aus menschlicher Sicht nicht alternativlos ist, sondern die undenkbarste und skandalöseste aller Alternativen darstellt (vgl. 1,18ff.).« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 49 Kontroverse 50 ZNT 27 (14. Jg. 2011) wider. Die Argumentation des Paulus bietet aktuelle Anstöße, die hinsichtlich der Reflexion der fraglichen Begründbarkeit des Sozialen und mithin auch kirchlicher Gemeinschaft zu bedenken sind. Anmerkungen 1 Vgl. dazu jetzt die ausführlichen Referate und Diskussionen in O. Marchart, Die politische Differenz, Berlin 2010. 2 Das wird z.B. sinnfällig, wenn in 8,12 ein rücksichtsloses Durchsetzen eigener Einsicht als gegen Christus gerichtet interpretiert wird. 3 Mit ›er wurde ausgeliefert‹ (paredideto V.23b) ist das Handeln Gottes umschrieben (pass div; vgl. z.B. Mt 26,2; Röm 4,25). In frühjüdischer wie christlicher Literatur konnte so umschrieben werden, dass Gott Sünder, aber auch Fromme oder Märtyrer an seine Feinde bzw. das Unheil ausliefert (vgl. z.B. Röm 1,24.26.28; 8,32; Apg 7,42; Jes 53,12; Dan 3,31f. LXX; LAB 31,7; 47,2 u.ö.; ParJer 6,18.21; 2Makk 1,17). Es geht also nicht um das (durch Judas) Verratenwerden, sondern durch Gott Ausgeliefertwerden. 4 Das deutet sich nicht nur im vorausgesetzten Subjekt des passivum divinum ›er wurde ausgeliefert‹ (paredideto 11,23), sondern auch in der Bezeichnung ›Kyrios‹ für den Protagonisten, in dem ›in Vertretung für euch‹ (to hyper hymōn 11,24), in dem Stichwort ›neuer (Gottes-) Bund‹ (hē kainē diathēkē 11,25; vgl. Jer 31,31-34) und weiteren Einzelheiten an. 5 Vgl. E. Reinmuth, Allegorese und Intertextualität. Narrative Abbreviaturen der Adam-Geschichte bei Paulus (Röm 1,18-28), in: St. Alkier/ R.B. Hays (Hgg.), Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre, Tübingen 2005, 57-69. 6 Wolke und Meer 10,1f.; Speise 10,3; Trank und Felsen 10,4; Tod in der Wüste 10,5; die Wendung ›das [alles] geschah‹ (tauta ... [typoi] ...egenēthēsan) in 10,6 bezieht sich über das Medium der genannten Abbreviaturen auf die damit aufgerufenen Erzählinhalte. 7 Sie ist auch der Grund für Paulus, von nur einem Brot zu sprechen, obwohl in der gemeindlichen Praxis in Korinth wohl mehrere Brote verzehrt wurden. 8 Vgl. dazu jetzt H.W. Hollander, The Idea of Fellowship in 1 Corinthians 10.14-22, NTS 55 (2009), 456-470. 9 Vgl. dazu E. Reinmuth, Anthropologie im Neuen Testament, Tübingen 2006, 232-239. 10 Vgl. zu dieser Wendung J. Schröter, Das Abendmahl. Frühchristliche Deutungen und Impulse für die Gegenwart, Stuttgart 2006, 35 Anm. 50. NEUERSCHEINUNG A. Francke Verlag www.francke.de Gerhard Kaiser Die Menschwerdung Gottes im Bibeltext € ISBN 978-3-7720-8412-6 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 50 Klaus Berger zum 25. November 2010 Im Zusammenhang seiner Ausführungen über das christliche Mahl in 1Kor 10f. verwendet Paulus das Stichwort »Leib« (gr. to sōma) drei Mal, jeweils an entscheidenden Stellen seiner Argumentation (10,16f.; 11,23.29). Was sōma hier bedeutet - und: ob es an allen drei Stellen dieselbe Bedeutung hat -, ist alles andere als eindeutig und in der Forschung umstritten. Die Hauptfrage heißt: Ist to sōma als Bezeichnung der sozialen Dimension der Gemeinschaft ekklesiologisch konnotiert? Oder bezeichnet to sōma den Körper Jesu und ist in erster Linie christologisch zu verstehen? Kompliziert wird diese Hauptfragestellung dadurch, dass an allen Stellen zwischen der sozialen und der christologischen Dimension von sōma eine Beziehung besteht. Strittig ist also, wie genau diese Beziehung zu bestimmen ist. Eckart Reinmuth hat diese Beziehung als Geschichte des gefolterten Körpers Jesu beschrieben, für die der »gebrochene Körper«, das »vergossene Blut« und der »Tod Jesu« jeweils narrative Abbreviaturen seien, und daraus gefolgert: Diese Geschichte, die letztlich die Geschichte Gottes mit den Menschen sei, benenne im Unterschied zu allen anderen Begründungsroutinen den unableitbaren Ursprung der Gemeinde und ihrer sozialen Identität. Im Unterschied zu seinen Überlegungen gehe ich davon aus, dass das, was sōma heißt, sich nicht in erster Linie von einer Geschichte her bestimmt, also von einer Größe, die erzählt oder gewusst wird, sondern von dem Mahl, das rituell erfahren wird. Das Ritual des Gemeinschaftsmahls liegt dieser spezifischen Erzählung voraus: Paulus hat das Mahl ebenso wenig »erfunden« wie die Korinther, und auch die Mähler Jesu, einschließlich seines letzten, haben diese rituelle Form von Gemeinschaft bereits vorgefunden. In diesem Sinn ist die Erzählung vom Tod Jesu, die Paulus mit den narrativen Abbreviaturen hier evoziert, gegenüber der habituellen Erfahrung in der Tat sekundär. Die Unterschiede - für die Argumentation in 1Kor 10f. ebenso wie für das Verständnis von sōma - sind auf den ersten Blick gering, aber folgenreich. Sie hängen in jedem Fall von dem Verständnis des Gemeinschaftsmahls und seines rituellen Charakters ab. 1. Das Mahlritual und seine Probleme Am Anfang steht daher eine Analyse der korinthischen Mahlprobleme und des paulinischen Lösungsvorschlags, denn damit hängt das Profil der theologischen Argumentation unmittelbar zusammen: Es sind gerade diese spezifischen Probleme, die sōma als zentralen Begriff für die Lösung empfehlen. In 1Kor 11 tadelt Paulus die Spaltungen, die sich während des Mahls ergeben, weil sich die Gemeindeglieder zwar zu einem gemeinsamen Mahl treffen, dazu aber jeweils ihre eigenen Speisen mitbringen und diese dann selbst verzehren. Obwohl alle zum Essen in einem Raum zusammenkommen (epi to auto, V. 20), entsteht keine Gemeinschaft, die nach Paulus’ Einschätzung diesen Namen verdient: Da alle ihre eigenen Speisen verzehren, werden die sozialen Unterschiede sichtbar. Anstelle eines wirklich gemeinsamen Mahls nehmen die Korinther ihr eigenes, individuelles Abendessen ein. Auch wenn dies in einem gemeinsamen Rahmen geschieht, bleibt es am Ende doch das jeweils eigene Abendessen (to idion deipnon V. 21). Weil die einen mehr (und vermutlich: bessere) Speisen mitbringen als andere, werden die sozialen Unterschiede zwischen Arm und Reich sichtbar: Die Habenichtse (hoi mē echontes V. 22) bleiben hungrig, die anderen sind gut gesättigt und »betrunken« (V. 21). Das Sichtbarwerden der sozialen Differenzen beim Mahl versteht Paulus als eine »Beschämung« der Armen und als Aufhebung der Gemeinschaft. Soweit die Rekonstruktion der Ausgangssituation. An diesem Verständnis sind einige Aspekte wichtig: (a) Das Phänomen der »Beschämung« setzt voraus, dass gleichzeitig und in einem Raum gegessen wurde, auch wenn dabei verschiedene Speisen zum Verzehr kamen. 1 Das heißt: prolambanein besitzt hier (wie auch sonst häufig) 2 keine temporale Bedeutung und heißt nicht »(eine Speise/ ein Mahl) vorwegnehmen«, sondern schlicht: »(Speisen) einnehmen/ zu sich nehmen«. Die früher verschiedentlich geäußerte Vermutung, dass es in Korinth zu einem »Voressen« der Reichen gekommen sei oder dass die Habenichtse erst später oder getrennt von den Reichen gegessen hätten, 3 ist unhalt- Kontroverse Matthias Klinghardt Gemeindeleib und Mahlritual So¯ ma in den paulinischen Mahltexten ZNT 27 (14. Jg. 2011) 51 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 51 Kontroverse 52 ZNT 27 (14. Jg. 2011) bar: Sie widerspricht dem Text und ist auch sozialgeschichtlich völlig unwahrscheinlich. Die Annahme eines »ungeregelten« (also: ungleichzeitigen) Mahlbeginns ist gerade nicht durch irgendwelche Zeugnisse belegbar. 4 - (b) Wenn prolambanein V. 21 keinen temporalen Sinn trägt und Paulus nicht ein separates Essen kritisiert, gibt es auch keinen Grund, seine Lösung des Problems (11,33) temporal zu deuten. Paulus schlägt nicht den Reichen vor, auf die Armen zu »warten«, sondern empfiehlt, dass alle sich gegenseitig »annehmen« (gr. ekdechesthai): Alle sollen die zum gemeinsamen Mahl mitgebrachten Speisen der Einzelnen wie bei einer »potluck party« untereinander aufteilen und sich gegenseitig bewirten. - (c) Der Hinweis auf die »eigenen Häuser« (V. 22.34) besagt daher auch nicht, dass Paulus das Sättigungsmahl vom sakramentalen Mahl abgetrennt und in die Privathäuser verlegt wissen will, sondern nur, dass der Aspekt des Sattessens bei dem Herrenmahl nicht im Vordergrund stehen darf, weil anders man sich »zum Gericht isst oder trinkt« (V. 34). Der Ablauf des von Paulus kritisierten Mahls in Korinth (V. 20) ist daher derselbe, den er selbst auch für seine Lösung im Auge hat (V. 34) und den er für das letzte Mahl Jesu mit seinen Jüngern (V. 23-25) voraussetzt: Es handelt sich um ein Sättigungsmahl mit der auch sonst ausnahmslos bezeugten Abfolge (Eingangsgebet -) Mahl - Libationshandlung - Symposion. Jede Vermutung einer anderen Abfolge würde eine Sonderlösung substituieren, der die überwältigende Menge der Zeugnisse entgegensteht und die deshalb völlig unwahrscheinlich ist. Tatsächlich wurde dieser Ablauf der christlichen Mahlfeiern erst im 3. Jh. verändert. - (d) Legt man diesen Ablauf zugrunde, dann leuchtet ein, dass es nicht nur nach dem Mahl eine Libationshandlung gab, die von einem Gebet (über dem Libationsbecher) begleitet war, sondern dass auch am Anfang ein Mahleröffnungsgebet über dem Brot stand: Weil das Brot als Essbesteck diente, begann das Mahl mit seiner Verteilung. 2. Die Mahlteilnehmer als Ein Leib Von dieser Rekonstruktion des Ausgangsproblems (11,17-22) und der empfohlenen Lösung (11,33f.) ist die Begründung (11,23-32) zu unterscheiden, mit der Paulus die Korinther davon überzeugen will, dass die »Beschämung« der Habenichtse theologisch gefährlich ist, weil sie dem Sinn des Herrenmahls entgegensteht. Die Begründung setzt ein mit der Herrenmahlsparadosis (11,23-25), die mit dem Anamnesisbefehl darauf aufmerksam macht, dass das christliche Mahl in der Folge des letzten Mahls Jesu Verkündigung seines Todes ist (11,26). Beides reicht allerdings als Begründung nicht aus: Wäre dies der Fall, hätte Paulus sich das Folgende (11,27-32) ja einfach schenken können. 5 Dies konnte er nicht, weil der Zusammenhang zwischen dem Tod Jesu und dem richtigen Verhalten der Korinther beim Mahl nicht so ohne weiteres erkennbar ist. Das aber heißt: Weder der »stiftungsgemäße« Vollzug des korinthischen Mahls in Analogie zum letzten Mahl Jesu noch das Bewusstsein, mit dem Mahl »den Tod des Herrn zu verkündigen« gewährleisten für sich genommen den von Paulus intendierten »gemeinsinnigen« Charakter des Mahls. Beide Elemente sind notwendige, aber nicht hinreichende Elemente des Arguments. Diese entscheidende Verbindung leistet erst der Hinweis, dass »der Leib zu unterscheiden« sei (11,29: diakrinein to sōma). Aber was heißt »Den Leib unterscheiden«? Da das Ausgangsproblem nicht in einer Geringschätzung des sakramentalen Charakters des Mahles besteht (sondern darin, dass alle ihre eigenen Speisen verzehren), und da Paulus umgekehrt auch nicht Ehrfurcht vor den Sakramenten einfordert (sondern die gegenseitige Bewirtung), kann sich diese »Unterscheidung des Leibes« nicht auf den Respekt vor der sakramentalen Qualität der Mahlelemente als »Leib Christi« o.ä. beziehen - auch nicht darauf, dass die Korinther die »pure Körperlichkeit des Gefolterten« und »ihre Präsenz im Mahl« verkennen und deshalb Defizite ihres Gemeinsinns in Kauf nehmen. Der Foltertod Jesu gibt nicht eo ipso zu erkennen, inwiefern er die von Paulus eingeforderte Gemeinschaft der Korinther zu begründen in der Lage ist: Er ist nicht an sich gemeinsinnig. Am nächsten liegt daher, den zu unterscheidenden Leib auf die Gemeinschaft der Esser zu beziehen: Sie sollen sich selbst als »ein Leib« verstehen. Der »Leib« ist nicht, was die Gemeinde isst (eine besondere, sakramentale Speise), sondern was sie ist: eine korporative Einheit. Dass sōma in 11,29 diese korporative Qualität der sozialen Einheit aussagt, wird auch an der ganz analo- »Weder der ›stiftungsgemäße‹ Vollzug des korinthischen Mahls in Analogie zum letzten Mahl Jesu noch das Bewusstsein, mit dem Mahl ›den Tod des Herrn zu verkündigen‹ gewährleisten für sich genommen den von Paulus intendierten ›gemeinsinnigen‹ Charakter des Mahls.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 52 Matthias Klinghardt Gemeindeleib und Mahlritual ZNT 27 (14. Jg. 2011) 53 gen Verwendung des Wortes in 1Kor 10 deutlich. Hier argumentiert Paulus gegen die Teilnahme von Christen an paganen Kultmählern. Nachdem er sichergestellt hat, dass Anteilhabe an derselben Speise und an demselben Trank Einheit und daher Heil gewährleistet (10,1-4), sowie in 10,5-13 die Wüstengeneration als warnendes Beispiel für die Aufkündigung dieser Einheit angeführt hat, zieht er in 10,14ff. die Konsequenz. Die Korinther sollen pagane Kultmähler meiden (»Götzendienst«! ), weil dies die Einheit ihres eigenen Mahles aufheben würde: Der Segensbecher ist die Gemeinschaft des Blutes Christi, das Brot ist die Gemeinschaft des Leibes Christi (10,16). Zur Vermeidung von Missverständnissen sei gleich hinzugefügt, dass die Ausdrücke koinōnia tou haimatos bzw. sōmatos tou Christou nicht »Teilhabe an …« bedeuten können. 6 Es geht nicht um »sakramentale Teilhabe« an Christus oder an seinem Tod. In beiden Ausdrücken ist die Verbindung von »Gemeinschaft« einmal mit »Blut Christi«, einmal mit »Leib Christi« zwar syntaktisch parallel, nicht aber semantisch gleichbedeutend: Die »Gemeinschaft des Blutes« ist die Gemeinschaft, die aufgrund des Blutes - also des gewaltsamen Todes Jesu - existiert. Von der »Gemeinschaft des Leibes« lässt sich jedoch nicht sagen, dass die Gemeinde eine Einheit aufgrund des (dahingegebenen? ) Körpers Christi ist. Denn Paulus führt sehr deutlich im nächsten Satz aus, dass »wir vielen ein Leib sind, weil wir alle an dem einen Brot teilhaben (metechein)« (10,17). Deutlicher als hier lässt sich nicht sagen, dass to sōma nicht den Körper Jesu, sondern die Gemeinschaft der Esser bezeichnet. Mit Blick auf den gesamten Zusammenhang ab 10,1 muss man wohl sagen, dass Paulus zirkulär argumentiert. Denn im Grunde führt er aus: Eine Gemeinschaft, die gemeinsam isst (10,3), ist eine Gemeinschaft, die gemeinsam isst (10,16f.). Dass die zugrundeliegende Denkfigur (nicht das ausgeführte Argument) tautologisch ist, ist nicht von ungefähr. Paulus kann eine soziale Gemeinschaft gar nicht anders denn als Mahlgemeinschaft denken: Die Einheit einer Gruppe ist ihr gemeinsames Mahl. 7 Dass diese Einheit anhand des einen Brotes demonstriert wird, ist - wie die religions- und traditionsgeschichtlichen Analogien zeigen 8 - nicht nur in hohem Maß charakteristisch, sondern erläutert auch das Verständnis der »Unterscheidung des Leibes« in 11,29: Weil alle an dem einen Brot Anteil haben und es unter sich aufteilen, werden sie zu einem Leib. Wenn Paulus die Korinther in 11,29 zur Anerkennung ihrer besonderen sozialen Qualität als korporative Einheit auffordert, dann intendiert er genau dieses Verhalten: Dass sie sich gegenseitig Anteil an den mitgebrachten Speisen geben. 3. Mein Leib für euch Damit bleibt zum Schluss die Erwähnung von sōma im sog. Brotwort der Herrenmahlsparadosis: Weil Paulus Tradition zitiert, ist zumindest denkbar, dass sōma hier eine andere Bedeutung hat. Aber das ist nicht der Fall, wie die Parallelität zum sog. Becherwort zeigt. Bevor man nach dem Sinn der Deutungen (»mein Leib«; »neuer Bund in meinem Blut«) fragt, ist es wichtig zu wissen, was genau durch sie gedeutet wird. Längst ist erkannt, dass das Brotwort sich nicht auf das Brot, sondern auf den gesamten Gestus der Mahleröffnung bezieht. Ganz analog dazu deutet das sog. Becherwort nicht den Inhalt des Bechers (mutmaßlich Wein), sondern den »Segensbecher, den wir segnen« (10,16), also den Becher, der im Rahmen der Libationshandlung nach dem Mahl (und vor dem Symposion) vergossen (gelegentlich auch einmal getrunken) wurde. Beide Handlungen, die Mahleröffnung und die Libation, waren von Gebeten (ganz analog zu Did 9f.) begleitet. 9 »Der ›Leib‹ ist nicht, was die Gemeinde isst […], sondern was sie ist: eine korporative Einheit.« Prof. Dr. Matthias Klinghardt, Jahrgang 1957, 1986 Promotion und 1993 Habilitation (Neues Testament) in Heidelberg, 1988/ 89 Rice University, Houston (Tx), 1989 bis 1998 Assistent an der Universität Augsburg, seit 1998 Professor für Biblische eologie an der TU Dresden. Matthias Klinghardt 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 53 54 ZNT 27 (14. Jg. 2011) Kontroverse Im Zitat der Überlieferung vom letzten Mahl deutet Jesus den Libationsbecher und sagt: »Dieser Becher ist der neue Bund in meinem Blut.« Dass die Libation der Bund ist (also nicht: ihn versinnbildlicht, repräsentiert o.ä.), ist nicht ungewöhnlich. Im Griechischen sind Libationen anlässlich eines Friedensschlusses zum Synonym für diesen Friedensschluss geworden: Die Libation ist der Friede, den sie besiegelt. 10 Genau so ist die Deutung des Becherworts zu verstehen: Der Libationsbecher, d.h. der Vollzug der Libation, ist der neue Bund. Inwiefern dieser Bund durch das Blut Jesu ermöglicht wurde, führt Paulus nicht aus; aber dies tut er auch an zahlreichen anderen Stellen nicht, an denen er die soteriologische Bedeutung des Todes Jesu nur erwähnt, sie aber nicht erläutert. In jedem Fall ist klar, dass Paulus zwischen der Ermöglichung des neuen Bundes durch den Tod Jesu und seiner konkreten Realisierung im Mahl unterscheidet. Der neue Bund, der nach Jer 31(38 LXX) - und im Unterschied zu Ex 24 - gerade die Gleichheit der menschlichen Bundesgenossen betont, 11 konstituiert sich im Mahlritual und gewährleistet dadurch die Einheit der Mahlgemeinschaft. Ganz analog dazu ist auch die Deutung des Mahleingangs zu verstehen: Wenn Jesus den Mahleröffnungsgestus der Verteilung des Brotes als »mein Leib für euch« deutet, dann ist damit gemeint, dass die Einzelnen, die sich zum Mahl niederlassen und von diesem einen, gemeinsamen Brot essen, zu einem Leib werden: Die Gemeinschaft entsteht im Mahl und als Mahlgemeinschaft. Diese neue Qualität kommt »euch zugute« - mehr ist aus dem »für euch« nicht herauszulesen: Dass das Brot »gebrochen« wird, trägt keine Betonung, sondern ist unvermeidlich und geschieht in jedem Mahl. Das gebrochene Brot verweist nicht auf den gebrochenen Körper Jesu: Der Tod Jesu ist weder im Eröffnungsgestus noch in der Deutung des »Brotwortes« präsent. Die entscheidende Einsicht besteht m.E. darin, dass weder Paulus selbst noch das von ihm zitierte Traditionsstück von 11,23-25 davon ausgehen, dass sich die sog. Deuteworte auf die »Mahlelemente« beziehen: Nicht Brot und Wein sind die herausgehobenen Haftpunkte der Deutung, sondern das Ritual selbst. 4. Die Unverfügbarkeit der Gemeinschaft im Ritual Nach meiner Überzeugung bezeichnet sōma an allen drei der genannten Stellen die korporative Einheit der Gemeinde als ein Leib; dass dies auch jenseits der Fragen des Mahls gilt, sei hier nur angemerkt. 12 Darüber hinaus sind vor allem drei Fragekreise spannend - und natürlich strittig: 1.) Der erste betrifft den Tod Jesu als gemeinschaftsfundierendes Ereignis. Dass Paulus dem Tod Jesu eine entscheidende und unverzichtbare Funktion für die Bestimmung christlicher Identität zuweist, steht außer Frage, wie ja nicht zuletzt die Herrenmahlsparadosis sehr deutlich zeigt. Aber der Tod Jesu ist nicht automatisch »gemeinsinnig«: Dass er nicht nur die individuelle Identität jedes einzelnen Christen definiert, sondern auch die Gemeinschaft der Christen untereinander begründet, ergibt sich nicht unmittelbar. Dazu bedarf es der vermittelnden Kategorie des Mahls, das nun in der Tat - lange vor und lange nach Paulus - die entscheidende Instanz war, in der die Antike Gemeinschaft erfahren hat. Diese Verbindung von Mahl und Tod Jesu zeigt Paulus, indem er den Tod Jesu in der Deutung der Libation als Begründung des Neuen Bundes benennt. Der Tod Jesu ist die Voraussetzung für den Neuen Bund, der bei der Libation in Kraft gesetzt und Wirklichkeit wird. Es ist gewiss bezeichnend, dass diese zentrale Verbindung ihren rituellen Ort während des Mahls in der ganz besonders herausgehobenen Libationszeremonie hat: Dies ist traditionell der Ort, an dem die kollektive Identität versichert und, so lässt sich vermuten, in den Gebeten auch express gemacht wurde. Wie solche Libationsgebete zur Fundierung religiöser Gemeinschaften in christlichem Horizont ausgesehen haben, zeigt vor allem Did 10 - allerdings ohne den Tod Jesu zu erwähnen. Während Paulus den Tod Jesu im Zusammenhang der Libation erwähnt, kommt er im Zusammenhang der Mahleröffnung nicht vor: Dass die Gemeinde zu einem Leib wird, konnte Paulus auch ohne die Erwähnung des Todes Jesu denken. Aber nicht ohne das Mahl. 2.) Ein zweiter Aspekt hängt damit eng zusammen. Wenn Eckart Reinmuth argumentiert, dass die christliche Gemeinschaft letztlich auf der Geschichte des gefolterten Körpers Jesu basiert, dann legt er dafür die Kategorie der Erzählung zugrunde, die erzählt, erinnert oder auch vergessen werden kann. Der Umstand, dass »Das gebrochene Brot verweist nicht auf den gebrochenen Körper Jesu: Der Tod Jesu ist weder im Eröffnungsgestus noch in der Deutung des ›Brotwortes‹ präsent.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 54 Matthias Klinghardt Gemeindeleib und Mahlritual ZNT 27 (14. Jg. 2011) 55 Paulus im Zusammenhang des Todes Jesu ausdrücklich zur anamnēsis auffordert (11,24f ), scheint seine Ansicht zu bestätigen. Allerdings versteht Paulus die Erinnerung an den Tod Jesu nicht als mnemonischen Akt des Gedenkens, sondern fordert zu einem rituellen Handeln auf: »Tut dies …! « Der Modus der »Erinnerung« ist rituelle Vergegenwärtigung, indem beim Mahleröffnungsritus bzw. der Libation die Wirkungen dieses Geschehens in Kraft gesetzt werden. Anders gesagt: Paulus hätte nicht direkt formulieren können, dass die Korinther an der Geschichte des gefolterten und getöteten Körpers Jesu teilhaben sollen. Vielmehr haben sie Teil an dem einen Brot (1Kor 10,17), das sie zu einer Gemeinschaft macht. Die für die Fundierung der Gemeinschaft grundlegende Kategorie ist das Ritual, nicht eine Geschichte. 3.) Ein letzter Aspekt betrifft die weitreichende Frage der Begründbarkeit von Gemeinschaften: Welche Mechanismen sind dafür verantwortlich, dass sie, allen Eigeninteressen zum Trotz, den für Zusammenhalt und Fortbestand nötigen Gemeinsinn entwickeln? Reinmuth verweist völlig zu Recht auf die Tabuisierungen und Transzendierungen, die die Unhintergehbarkeit von Begründungsprozessen sicherstellen, und deutet an, dass die frühchristliche Gemeinschaftsbegründung in der Geschichte Gottes in Christus darin einzigartig sei, dass sie den »Begründungsroutinen reichsrömischer Macht zuwider« lief. Dies trifft vermutlich zu, ist m.E. aber wenig aussagekräftig. Denn für Paulus liegt die primäre Gemeinschaftsbegründung im Mahl und seinem rituellen Vollzug. Dadurch ruft er Wertvorstellungen und Verhaltensnormen ab, zu denen auch die Gemeinschaft der Mahlteilnehmer und ihr Selbstverständnis als eine korporative Einheit gehören. Weil dieser Wertekanon längst kulturelles Allgemeingut war, konnte es über das angemessene rituelle Verhalten einer Gruppe im Mahl keine Diskussionen geben: Der gesellschaftliche Habitus stellt die primäre und unvordenkliche Transzendierung der Gemeinschaft dar. Die Verknüpfung dieses rituellen Habitus mit der Geschichte Jesu und seines Todes, die Paulus im sog. Becherwort vornimmt, ist demgegenüber in der Tat sekundär und auch verzichtbar - wie beispielsweise die Mahlgebete der Didache zeigen, die ohne diesen spezifischen Begründungszusammenhang auskommen. Anmerkungen 1 Vgl. O. Hofius, Herrenmahl und Herrenmahlsparadosis. Erwägungen zu 1Kor 11,23b-25, in: ders., Paulusstudien (WUNT 51), Tübingen 1989, 203-240: 220 mit Anm. 98. 2 Belege bei M. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft. Soziologie und Liturgie frühchristlicher Mahlfeiern (TANZ 13), Tübingen/ Basel 1996, 289; Hofius, a.a.O., 218. 3 Vgl. z.B. G. Bornkamm, Herrenmahl und Kirche bei Paulus, in: ders., Studien zu Antike und Urchristentum. Gesammelte Aufsätze II (BEvTh 28), München 3 1970, 138-176; H.-J. Klauck, Herrenmahl und hellenistischer Kult. Eine religionsgeschichtliche Untersuchung zum ersten Korintherbrief (NTA N.F. 15), Münster 1982, 291ff; G. Theissen, Soziale Integration und sakramentales Handeln. Eine Analyse von 1 Cor. XI 17-34, in: ders., Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19), Tübingen 2 1983, 290-317. 4 Gegen M. Konradt, Gericht und Gemeinde (BZNW 117), Berlin/ New York 2003, 406ff., der an der Vorstellung eines ungleichzeitigen Beginns festhalten will und auch eine räumliche Trennung des Mahls der Reichen und der Armen erwägt. Aber Paulus verortet das kritisierte Verhalten zweifelsfrei in einem Mahl, zu dem alle an einem Ort zusammenkommen (11,20f ). Die Hartnäckigkeit, mit der sich die Annahme eines »Voressens« der Reichen hält, ist ebenso ärgerlich wie unverständlich: Sie hat das gesamte sozialgeschichtliche Material gegen sich, das an keiner Stelle erkennen lässt, dass es so etwas gegeben hat, vgl. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl 281ff; D.E. Smith, From Symposium to Eucharist. The Banquet in the Early Christian World, Minneapolis 2003, 13-172; H. E. Taussig, In the Beginning Was the Meal. Social Experimentation and Christian Identity, Minneapolis 2009, 21-54. Angesichts der eindeutigen Verteilung der Belege fällt die Beweislast denen zu, die ein zeitversetztes Essen als Grundproblem annehmen; methodisch wäre es geboten, diese Annahme nicht nur durch Hinweise auf die Sekundärliteratur, sondern durch Quellenbelege zu untersetzen. 5 Die komplexe Struktur der paulinischen Begründung wird vor allem an den verwendeten Konjunktionen deutlich: Causale (11,23.26.29), konsekutive (11,27.30.33) und finale (11,32.34); zur Analyse vgl. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl, 303ff. 6 So z.B. die Einheitsübersetzung, Wilckens u.a. Vgl. jetzt zu Recht dagegen N. Baumert, Koinonein und Metechein. Eine umfassende semantische Untersuchung (SBB 51), Stuttgart 2003. 7 Aus diesem Grund reicht es nicht aus zu sagen, dass die Feier des Gemeinschaftsmahls das »stärkste Sinnbild christlicher Gemeinschaft« sei (Reinmuth). Cum grano salis formuliert: Die Einheit der Gemeinschaft basiert nicht auf der Einschreibung in dieselbe Körpergeschichte, sondern: die Einheit des Leibes entsteht durch Einverleibung desselben Brotes, an dem alle teilhaben. 8 Belege und weitere Lit. bei Klinghardt, a.a.O., 310ff. 9 Der »Segensbecher, den wir segnen« bezieht seine beson- 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 55 Kontroverse 56 ZNT 27 (14. Jg. 2011) dere Qualität also in erster Linie aus dem Ritual, nicht aber aus der Verbindung mit der Lebenshingabe Jesu (gegen M. Karrer, Der Kelch des neuen Bundes. Erwägungen zum Verständnis des Herrenmahls nach 1 Kor 11,23b-25, BZ 1990 198-221: 215): In jedem antiken - paganen, jüdischen, christlichen - Mahl wird der Libationsbecher »gesegnet«. 10 Vgl. LSJ s.v. spondē. So heißt beispielsweise die olympische Waffenruhe »hai olympiakai spondai« (Thuk. V 49). Besonders schön bringt Aristoph., Acharn. 186-196 zum Ausdruck, dass die Spende und der dadurch besiegelte Friede ein und dasselbe sind. 11 Jer 31(38),34 LXX: Aufgrund der Internalisierung der Gebote werden »alle mich kennen«, was in der Folge die Unterschiede zwischen Groß und Klein nivelliert. 12 Zu sōma als Metapher sozialer Einheit vgl. M. Klinghardt, Unum Corpus. Die genera corporum in der stoischen Physik und ihre Rezeption bis zum Neuplatonismus, in: Religionsgeschichte des Neuen Testaments (FS Klaus Berger), Tübingen 2000, 191-216. Das Lehrbuch für BA- und Lehramtsstudiengänge Den Theologiestudierenden in Bachelor- und Lehramtsstudiengängen stehen für den Erwerb der nötigen Grundkenntnisse im Fach Neues Testament in der Regel nur wenige Lehrveranstaltungen zur Verfügung. Zugeschnitten auf dieses Zielpublikum bietet das durch ein Online-Lernportal ergänzte Lehrbuch eine Einführung in die historischen, literaturwissenschaftlichen, hermeneutischen und theologischen Grundlagen der neutestamentlichen Wissenschaft elementarisiert, aber nicht simpli ziert; wissenschaftlich up to date, aber ohne bibelwissenschaftliche Vorbildung oder Kenntnisse der alten Sprachen vorauszusetzen. Historische, theologische und gegenwartsorientierte Fragestellungen verbinden sich zu einem schlüssigen Konzept. Stefan Alkier Neues Testament UTB basics 2010, 325 Seiten, €[D] 19,90/ SFr,00 ISBN 978-3-8252-3404-1 A. Francke Verlag www.francke.de 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 56 1. »Wir sind der Leib Christi - Der Leib Christi hat AIDS« Im Jahre 1982/ 83 begann die AIDS-Epidemie in Nordamerika. In den folgenden Jahren, bis etwa 1987, als die ersten antiviralen Medikamente zur Verfügung standen, verlor die Metropolitan Community Church in San Francisco ungefähr 500 ihrer Mitglieder. Der damalige Pfarrer, Jim Mitulski, erinnert sich, dass er in jener Zeit manchmal zwei bis drei Menschen in der Woche beerdigen musste. 1 Diese Trauerfeiern waren oft von der angstbesetzten Frage bewegt: Wer von uns wird der Nächste sein? Die Angst ging umher, angeheizt von religiös-politischen Stigmatisierungen, in denen AIDS als Strafe Gottes proklamiert wurde, die jetzt die schwulen Männer heimsuchen würde. AIDS avancierte in den achtziger Jahren zur Metapher für den Tod, der zur Unzeit kommt. Horrorszenarien der Medien, die das frühe, massenhafte Sterben und die zu erwartende Explosion der Zahl der Infizierten in den USA prognostizierten, elektrisierten die Stimmung in der Bevölkerung, die sich in ein liberales und ein strikt seuchenpolizeilich orientiertes Lager spaltete. In dieser Phase wurden in den gesellschaftlichen Diskurs um AIDS Züge eines vormodernen Krankheitsbildes eingelassen. Noch 1988 notierte Susan Sontag in diesem Zusammenhang einen Rückschritt in die Vergangenheit, »in die Zeit vor dem medizinischen Triumphalismus, als es zahlreiche geheimnisvolle Krankheiten gab und das progressive Fortschreiten von der schweren Krankheit zum Sterben etwas Normales war (nicht wie heute ein Fehler oder ein Versäumnis der Medizin, dazu bestimmt, behoben zu werden). Aids, diese Krankheit, bei der Menschen als krank begriffen werden, bevor sie es sind; die scheinbar unzählige Symptom-Krankheiten erzeugt, gegen welche es nur Palliativmittel gibt; und die vielen den sozialen Tod beschert, bevor sie noch physisch tot sind - Aids bringt uns so etwas wie [eine] vormoderne Krankheitserfahrung zurück [...].« 2 In jenen Jahren war die MCC San Francisco eine Schutzburg, in die Menschen flohen, die sich aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und ihrer Infektion von ihren Herkunftsfamilien und ihren Kirchen verstoßen fühlten. Jeden Sonntagabend versammelte sich die Gemeinde zu einem Abendmahlsgottesdienst. Jim Mitulski erzählt, dass das Abendmahl ein lebensnotwendiger Bestandteil der Liturgie war. Im Anschluss an die klassischen Einsetzungsworte nahm er das Brot, öffnete seine Arme und sprach: »Wir sind der Leib Christi - der Leib Christi hat AIDS.« Dann forderte er die Gemeinde auf, ihm nachzusprechen: »Wir sind der Leib Christi - der Leib Christi hat AIDS«. Der Empfang von Brot und Wein wurde dann mit so genannten »healing prayers« verbunden, bei denen die Einzelnen ihre Gebetsanliegen vortragen konnten; dann wurde unter Handauflegung für die jeweilige Person gebetet. »Wir sind der Leib Christi - Der Leib Christi hat AIDS« wurde seitdem so etwas wie ein Mantra in vielen MCC Gemeinden in den USA, eine liturgische Formel, die einen Akt radikaler Empathie und Solidarisierung zur Darstellung brachte. Die binäre Unterscheidung von Gesunden und Kranken, von HIV-Infizierten und HIV-Negativen wurde in der Feier des Abendmahls aufgegeben. Vielmehr wurde ganz im Sinne der paulinischen Vorstellung vom Sōma Christi eine radikale Interdependenz in den Gesten und dem Sprechakt zum Ausdruck gebracht: wenn einer von uns an AIDS erkrankt ist, haben wir alle AIDS. Nach dem Abendmahl konnte dann noch eine Salbung von Stirn und Händen empfangen werden. Diese persönliche und körperliche Zuwendung war ein zentrales Anliegen dieser Gottesdienste: Die Unberührbaren sollten, soweit sie es wollten, berührt werden. Mitulski beschreibt, wie noch Jahre später Gemeindeglieder auf ihn zukamen und zu ihm sagten: »Damals, wenn Du beim Abendmahl für mich und meine Freunde gebetet hast, das war oftmals der einzige Moment in der Woche, in dem jemand es wagte, mich zu berühren.« Jahre später hatte ich selbst die Gelegenheit, an diesen Abendmahlsgottesdiensten teilzunehmen. Mit der Zeit stieg während dieser Feiern ein »felt sense« in mir auf, von etwas, das ich auf einer kognitiven Ebene bereits vor langer Zeit verstanden hatte: Unsere individuellen Körper sind Tempel des Heiligen Geistes. Und die Gemeinde, die sich um den Altar herum versammelt, ist (im Fleisch und nicht nur repräsentativ) der Leib Christi. Christi Gegenwart beim Abendmahl ist nicht nur in Brot und Wein manifest, sondern auch in den wirklichen Körpern, die zum Altar kommen. Hermeneutik und Vermittlung Andrea Bieler »Und dann durchbricht jemand die absolute Quarantäne und segnet dich« Über die erzählte und die ritualisierte Leib-Gestalt von Krankheit ZNT 27 (14. Jg. 2011) 57 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 57 Hermeneutik und Vermittlung 58 ZNT 27 (14. Jg. 2011) Jim Mitulskis Sprechakt, der in die Geste des Umarmens der Gemeinde eingelassen war, eröffnet einen Resonanzraum, der vielfältige Deutungen ermöglicht. Dieser Sprechakt ist nicht vom eigenen Selbst absorbiert. Jim Mitulski sagte nicht »Ich bin der Leib Christi«, auch wies er nicht nur auf seinen Körper. Er bezog das Brot und die Gemeinde, die dabei war, das Abendmahl zu feiern, mit ein. Dieser leibgewordene, gestische Sprechakt verdeutlicht, wie gefährlich, schockierend und zugleich heilsam es sein kann, über den Leib Christi auf solch eine Weise - mittels des eigenen verletzlichen Körpers - zu sprechen. 3 Diese Gespräche und Ritualerfahrungen haben mich inspiriert, weiter über die leibliche Dimension des Glaubens und wie sich diese in liturgischen Vollzügen im Kontext von Krankheit ausdrückt nachzudenken. Im Folgenden möchte ich mich deshalb dem Thema der Deutung von Krankheit und Heilung in evangelischen Gottesdiensten zuwenden. Es geht mir um die Frage, wie die leibhafte Erfahrung von Kranksein im religiösen Deutungshorizont von Gottesdienstteilnehmenden zur Sprache gebracht wird und wie in den Liturgien selbst Krankheit, Heilung und Heil thematisiert werden. 4 Dabei konzentriere ich mich auf Gottesdienste, die die lange Zeit im Protestantismus kritisierte Praxis der Salbung wiederentdecken. Ich werde zunächst einige grundlegende Überlegungen zur pathischen Erlebnisform des Krankseins skizzieren und welche theologischen Fragen diese anstößt. Im Anschluss daran werde ich beispielhaft zwei Ausschnitte aus Interviews vorstellen und interpretieren, in denen Menschen zu Wort kommen, die an so genannten Heilungsgottesdiensten in einer evangelisch-lutherischen Gemeinde in der Bay Area in Kalifornien teilnehmen. Abschließend werde ich einige Anmerkungen zu den liturgischen Texten machen, die diesen Gottesdiensten zugrunde liegen. 2. Die pathisch-leibliche Erlebnisform des Krankseins Die erzählte und ritualisierte Welt des Krankseins ist Gegenstand alltagsreligiöser Reflexion insbesondere von Menschen, die mit chronischer oder mit Stigma behafteter Krankheit umgehen müssen, wie z.B. mit einer HIV-Infektion oder Multipler Sklerose. Von Medizinanthropologen, die im Feld der Krankheitsnarrativforschung arbeiten, können wir lernen, inwiefern schwere oder chronische Krankheit als ontologische Krise begriffen wird, die nicht nur die Routine der Alltagshandlungen stört, sondern grundlegende Fragen des leiblichen Personseins in der Welt provoziert. 5 Diese Fragen können - müssen aber nicht zwangsläufig - einen religiösen Transzendenzbezug haben. In den Geschichten chronisch kranker Menschen zerbricht oftmals eine einseitige Vorstellung von Ganzheitlichkeit, weil das Fragmentarische und die Verletzlichkeit die alltägliche Erfahrung des Leibseins in der Welt bestimmen. Hier ist auch der Ort, an dem die Restitutionsnarrative in Frage gestellt werden. Das sind Narrative, die mit einer vermeintlich eindeutig abgrenzbaren Unterscheidung von Krankheit und Gesundheit operieren und eine lineare Progression in der eigenen Biographie imaginieren, die etwa so geht: früher war ich gesund, dann wurde ich krank, jetzt bin ich wieder gesund. Kranksein kann als »Handlungs-Widerfahrnisgemisch« beschrieben werden. 6 Der Imperativ zu handeln, und Krankheiten einzudämmen oder zu besiegen, wird im Bereich der Biomedizin aber auch in psychosomatischen Therapien auf verschiedene Weise artikuliert. Kranksein führt zugleich in die Sphäre des Pathischen. Das Pathische verweist auf Widriges, auf das, was gegen unseren Willen und zumeist ohne unser Zutun geschieht, auf die passivische Erfahrungsform des Erleidens, Getroffenseins und Überwältigtwerdens. Die Erfahrung des Krankseins kann ohne das Pathische nicht gedacht werden. 7 Sie führt in eine intensivierte Wahrnehmung der ansonsten unthematisierten doppelten Dimension leiblicher Existenz, die darin besteht, dass wir ein Leib sind und einen Leib haben. Im Kranksein tritt unsere spannungsreiche Existenz von Leibhaben und Leibsein, von biologischem Körper und gelebtem Leib in den Vordergrund. Dieses Gewahrwerden kann eine vertiefte introspektive Leib-Wahrnehmung hervorrufen, z.B. spürt ein Herzpatient auf einmal, dass sein Herz ein verletzbarer Muskel ist, der ständig pulsiert. Die Wahrnehmung dieser doppelten Dimension leiblicher Existenz kann zugleich eine Leibwahrnehmung intensivieren, die sich in empathischen Akten nach außen ausrichtet: Wer einmal einen Herzinfarkt erlitten hat, wird sich in die Welt anderer Herzinfarktpatienten auf be- »Im Kranksein tritt unsere spannungsreiche Existenz von Leibhaben und Leibsein, von biologischem Körper und gelebtem Leib in den Vordergrund. Dieses Gewahrwerden kann eine vertiefte introspektive Leib- Wahrnehmung hervorrufen […]« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 58 Andrea Bieler »Und dann durchbricht jemand die absolute Quarantäne und segnet dich.« ZNT 27 (14. Jg. 2011) 59 sondere Weise einfühlen können. Das Gewahrwerden der spannungsreichen Existenz von Leibhaben und Leibsein kann aber zugleich dazu führen, dass der eigene Leib als fremdes, unbekanntes und bedrohliches Terrain erlebt wird. Dies ist z.B. der Fall, wenn Menschen mit einer Krebsdiagnose konfrontiert werden, obwohl sie sich subjektiv als gesund erleben, oder wenn eine bestimmte Krankheit mit somatischem Kontrollverlust einhergeht, wie z.B. Kurzatmigkeit, Herzrasen oder Inkontinenz. In diesem Prozess wird paradoxerweise das, was als fremd erfahren wird, zugleich in intensiver Weise als leibeigenes, als dazugehörig wahrgenommen. Der Psychiater und Leibphänomenologe Herbert Plügge merkt in diesem Zusammenhang an: »Was sich in uns zu entfremden droht, vermittelt uns vermehrt, ja unter Umständen überhaupt erst die Erfahrung, es sei ja unser Eigenes. Es gehört zum widersprüchlichen Charakter unserer Leiblichkeit, daß ein Sich-bemerkbar-machen, ein Sich-entfremden und eine gleichzeitig erfahrene Zugehörigkeit dieser sich entfremdenen Partie zu unserer Leiblichkeit sich nicht ausschließen, sondern sich gegenseitig geradezu fordern.« 8 Die pathisch-leibliche Erlebensform des Krankseins evoziert viele Fragen, die zentral für die christliche Theologie sind. Dabei geht es z.B. um eine theologische Reflexion der Erfahrung des Sich-selbst-fremdseins, die sich im Schmerzerleben, im psychosomatischen Kontrollverlust sowie im Gewahrwerden der eigenen Endlichkeit ausdrückt. Damit verbunden ist das Thema der Daseinskontingenz, das die Erlebnisformen des Pathischen zu reflektieren sucht. Vorschnelle Antworten, die durch die Artikulation von Handlungskompetenzen, Schuldzuweisungen oder kausalen Erklärungsmustern im Hinblick auf die Ursachen bestimmter Krankheiten gegeben werden, sind hier kaum zufriedenstellend. Im Hinblick auf die Gotteslehre bzw. die Christologie ist zu fragen, wie die Lehre von der Inkarnation Gottes in Jesus Christus und die leibhaftige Gestalt des Heils, die darin in den Vordergrund gerückt wird, zu den Krankheitsnarrativen, in die Menschen verstrickt sind, in Beziehung gesetzt werden kann. Meiner Meinung nach sollte die Praktische Theologie Gesprächsräume für diese Fragestellungen öffnen. Die Analyse von Krankheitsdeutungen ist ein zentrales Thema für eine Praktische Theologie, der es um die Ausarbeitung einer kritischen Theorie kirchlicher und religiöser Praxis geht, die die subjektorientierte Wahrnehmung gelebter Religion mit den Traditionen des christlichen Glaubens zu vermitteln sucht. Dabei kann es weder um die Propagierung eines rituellen Wellnesskultes gehen, der ein fetischistisches Ideal von Gesundheit implizieren könnte, noch um eine utopische Normalisierungsideologie, die die Perfektion des menschlichen Körpers zum Gegenstand quasi-eschatologischer Heilserwartungen macht. 9 Andererseits ist eine entwertende Spiritualisierung von Krankheit problematisch, die die leibhaften Erfahrungen, die Menschen mit Kranksein machen, für die theologische Reflexion als irrelevant erachtet. 3. Deutungen von Krankheit, Heilung und Heil von Gottesdienstteilnehmenden Ich möchte nun beispielhaft Ausschnitte aus zwei teilstrukturierten Interviews vorstellen, in denen Menschen zu Wort kommen, die so genannte Heilungsgottesdienste in einer evangelisch-lutherischen Gemeinde Prof. Dr. Andrea Bieler ist Professorin für Praktische eologie mit Schwerpunkt Homiletik und Liturgiewissenschaft an der Pacific School of Religion und der Graduate eological in Berkeley, Kalifornien. Deutschsprachige Veröffentlichungen u.a. mit Hans- Martin Gutmann: Die Rechtfertigung der »Überflüssigen«. Zur Aufgabe der Predigt heute, Gütersloh 2008; Gottesdienst interkulturell. Predigen und Gottesdienst feiern im Zwischenraum, Stuttgart 2008; zus. mit Luise Schottroff: Das Abendmahl. Essen, um zu leben, Gütersloh 2007. Andrea Bieler »Das Gewahrwerden der spannungsreichen Existenz von Leibhaben und Leibsein kann aber zugleich dazu führen, dass der eigene Leib als fremdes, unbekanntes und bedrohliches Terrain erlebt wird.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 59 Hermeneutik und Vermittlung 60 ZNT 27 (14. Jg. 2011) in der Bay Area in Kalifornien besuchen. Die Interviews kreisen um Fragen nach der Teilnahmemotivation, dem Gottesdiensterleben sowie den Sinnkonstruktionen im Hinblick auf die Deutung von Krankheit, Heilung und Heil. Die Deutung dieser Interviewabschnitte vollziehe ich in folgenden Schritten: zunächst werden die Bilder, die mit dem Leiberleben verbunden sind, herausgearbeitet, um dann zu fragen, inwiefern diese Beschreibungen Anstoß für Deutungen von Krankheit, Heilung und Heil geben. Der Deutungshorizont umfasst dabei das leibeigene Selbst, die sozialen Beziehungen und die Gottesbeziehung. Abschließend werden Anknüpfungspunkte für eine weitergehende theologische Interpretation vorgestellt. Die erzählte Welt der Krankheit wird dabei in den Resonanzraum christlicher Deutungstraditionen eingelassen. 3.1 Cynthia Myers: »Irgendwie merk ich da erst richtig, wie belastet ich bin.« Cynthia Myers musste sich im Anschluss an eine Mastektomie einer Chemotherapie inklusive Bestrahlung unterziehen. Sie hat die Behandlung gerade sechs Wochen hinter sich, als ich sie im Interview nach ihrem Gottesdiensterleben befrage. Sie sagt: »Besonders in diesen Gottesdiensten, irgendwie merk ich da erst richtig, wie belastet ich bin. Ich fühl’ richtig eine Schwere in mir. Etwas liegt schwer auf mir, als ob ich manchmal nicht mehr atmen kann. Da merk ich, dass die Angst vor dem Krebs in mir sitzt, sie sitzt tief, sie zieht mich runter. Ich fühle mich oft so schwer und zugleich zerstreut, flatterhaft, ich kann mich nicht konzentrieren, als ob die Behandlung das Innerste in mir auseinandergerissen hätte. Stellen Sie sich das bloß vor, da ist etwas in ihrem Körper, das tötet sie! Der eigene Körper als Feind! Was für ein Chaos! Wenn die Pfarrerin meine Stirn bei der Salbung berührt, wenn sie also das Zeichen des Kreuzes malt, dann fühlt es sich so an, als ob jemand endlich aufmerksam ist und sieht, wie schlimm es ist, ohne etwas zu beschönigen. Ohne mir auf die Schultern zu klopfen und zu sagen: ›... du schaffst das schon‹. Die Salbung ist dann manchmal wie eine Erleichterung, die etwas in mir in Fluss bringt, ich sitze danach oft in der Kirchbank und muss heulen. Ich fühle mich wie aufgelöst, ja, wirklich. [...] Mein Mann und meine Familie wollen, dass ich jetzt nach vorne schaue, die Chemotherapie ist vorbei, und ich will das natürlich auch, aber irgendwie geht das auch nicht so einfach. [...] Und wo ist Gott hier im Spiel? Ich hab keine Ahnung. (Pause). Eigentlich werde ich immer sauer, wenn die Leute mir einreden wollen, der Brustkrebs hätte auch so was Positives, würde mich näher zu Gott bringen, oder mich intensiver leben lassen. So ein Unsinn [...] ich kann das so auch überhaupt nicht sehen. Ich hab all diese Lebensberatungsbücher während der Therapie in den Müll geschmissen. Sie haben mich auf eine merkwürdige Art und Weise belastet.« 10 Frau Myers beschreibt das Leiberleben in Adjektiven, die eine räumliche Orientierung vermitteln: nach unten, runter ziehend, tief. Zugleich beschreiben diese Adjektive eine Desorientierung im Leibinnenraum: sie fühlt sich im Inneren »auseinandergerissen« und »flatterhaft«. Die Krankheitsdeutung ist in den Bildern zusammengefasst: Etwas in dir tötet dich, der »Körper als Feind«, das »Chaos«. Im Hinblick auf das Gottesdiensterleben beschreibt sie die Bezeichnung mit dem Kreuzzeichen während der Salbung als Kultivierung von Aufmerksamkeit: Die Pfarrerin vertritt mit diesem Ritus das Realitätsprinzip: sie sieht, wie schlimm es ist, und beschönigt nichts. Die Salbung der Stirn mit dem Zeichen des Kreuzes ist in diesem Gottesdienst in eine Segensform eingelassen. Die Pfarrerin sagt: »Nimm hin das Zeichen deines Erlösers, Jesus Christus, zum Zeichen, dass du gesegnet bist von deinem Gott.« Bringen wir diesen Sprechakt, die rituelle Handlung und das Erleben derselben durch Frau Myers in einen Zusammenhang, so können wir sagen, dass zu Christus dem Erlöser zu gehören, die Möglichkeit eröffnet, Aufmerksamkeit für das Chaoserleben und für das, was in die Tiefe zieht, zu kultivieren. Der Segensraum, der hier eröffnet wird, ermöglicht die leibliche Artikulation eines wohlbekannten Paradoxes: Während sie mit dem Zeichen des Kreuzes gesegnet wird, wird die Auseinandersetzung mit der Verborgenheit Gottes in Szene gesetzt: »Ich hab keine Ahnung, wo Gott hier im Spiel ist«, sagt Frau Myers. Die Salbungshandlung, so möchte ich vorschlagen, macht die Erfahrung der Verborgenheit Gottes präsent und greifbar. Die Verweigerung des ordnenden Deutungsrahmens ermöglicht den Widerspruch gegen all die sozialen Anrufungen, die vorschnelle Erklärungen für die Bedeutung des Brustkrebses bereitstellen. Dies gilt auch für die Normalisierungserwartungen, die sich im Wunsch der Familie ausdrücken, sie solle nach vorn schauen. Die Raumorientierung »nach vorn« steht offensichtlich im Kontrast zu den räumlichen Orientie- »Der eigene Körper als Feind! Was für ein Chaos! « 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 60 Andrea Bieler »Und dann durchbricht jemand die absolute Quarantäne und segnet dich.« ZNT 27 (14. Jg. 2011) 61 rungen, die sich in ihrem leibhaften Krankheitserleben ausdrücken. Der Medizinanthropologe Arthur Frank hat in seinem Buch The Wounded Story Teller verschiedene narrative Genres herausgearbeitet, in denen kranke Menschen ihre Geschichten erzählen. 11 Diese Genres sind nicht als statische Modelle zu verstehen, sondern als Erzählformen, die sich im biographischen Verlauf einer Krankheit verändern bzw. innerhalb einer einzigen Erzählung miteinander verwoben sein können. Die Narrative sieht er an das leibhafte Krankheitserleben gebunden, sie sind nicht losgelöst zu verstehen. Frau Myers’ Erzählung kann als Chaosnarrativ identifiziert werden. Die Erzählstruktur dieses Genres verweigert sich einer linearen Erzählsequenz, in der die eigene Krankheitsgeschichte in eine Zeitstruktur gegossen ist, die die Gegenwart und die Zukunft als progressiven Weg zur Gesundung beschreibt und Gott darin als Agenten der Gesundung und als Kraft der Revitalisierung sieht. Der Widerspruch, den sie formuliert, fokussiert auf die Verzweiflung, die der gegenwärtige Moment in sich birgt. Der Gottesdienst ist für sie ein Raum, in dem die Verweigerung positiver sinnstiftender Krankheitsdeutung in Szene gesetzt wird und stattdessen die Aufmerksamkeit für das Leiden kultiviert wird. In dieser rituellen Unterbrechung liegt für Frau Myers etwas Heilsames. Grundsätzlich können wir sagen, dass die Erfahrung der Verborgenheit Gottes in der Situation der Krankheit zum einen darin bestehen kann, dass ein gutes, heilvolles Handeln Gottes in der Krankheit kaum wahrzunehmen ist, sondern vielmehr verborgen ist. Zum anderen und im schlimmsten Fall fühlt sich der oder die Kranke ganz ohne die Nähe Gottes, so dass die Gegenwart Gottes ihm oder ihr verborgen ist. Insofern lassen sich die Verborgenheit des guten Handelns Gottes und die Verborgenheit der Gegenwart Gottes unterscheiden. 12 Im Falle von Frau Myers’ Erzählung ist die Frage: »Wo ist Gott hier im Spiel? « vermutlich eher als Frage nach dem guten Handeln Gottes zu beschreiben, mit der sie ringt. Die Aufgabe der liturgischen Ausdrucksformen besteht dann darin, in der Anrufung Gottes, in den Gebeten und in den Segenshandlungen, sich einer kausalen Begründung von Krankheit zu entziehen, so wie es Hiob getan hat, so wie es in den Klagepsalmen geschieht. In diesem Zusammenhang plädiert Isolde Karle dafür, Glauben weniger als Kraft zur Sinndeutung zu verstehen, sondern vielmehr als »die Kraft zum Verzicht auf Sinndeutung in religiöser Hinsicht. Viele Psalmen sprechen deshalb angesichts schwerer Krankheit eine Einladung zur Klage aus. Die Beter der Psalmen erklären die Krankheit nicht, sie klagen vielmehr über ihre schmerzvolle Lage, mit der sie sich nicht zu arrangieren gedenken.« 13 3.2 Bob Tucker: »Und dann durchbricht jemand die absolute Quarantäne und segnet dich.« »Ich bin seit 1985 HIV positiv, ja. Ich war damals 24 Jahre alt. Die Anfänge von AIDS hier in San Francisco [...] die Hölle. Einfach schrecklich. Mein Freundeskreis von damals, fast alle tot. Jede Woche starb jemand. Ich wurde dann selbst sehr krank im Sommer 1987. Ich hatte so’ ne Angst. Auf der Intensivstation war die Hölle los. Über Wochen sah ich Menschen nur noch mit Mundschutz und Handschuhen. Ich begann mich selbst ekelig zu finden. Einmal pro Woche kam ein Priester. Ich bin ja protestantisch. Jedes Mal, wenn er das Krankenzimmer betrat, ja, ja dann nahm er den Mundschutz ab und die Handschuhe und begann mit mir zu reden. Ich erinnere mich noch genau, (Pause) wie ein kleines Kind war ich, fragte ihn: muss ich jetzt auch sterben, Vater? Und er sagte: Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass du ein Kind Gottes bist. Du bist nicht allein. Am Ende dann salbte er immer meine Stirn. [...] Dieser Priester - o Mann - (er schluckt). Deshalb komm ich hier her.« 14 Interessant ist, dass mein Interviewpartner im Hinblick auf die Frage nach der Motivation, an diesem Salbungsgottesdienst teilzunehmen, keine direkte Antwort gibt, sondern eine biographische Erinnerung mitteilt, die ihn zurückführt in eine als traumatisch erlebte Zeit, die er im Bild der Hölle einfängt. Er beschreibt die anfängliche Phase der AIDS-Epidemie in San Francisco, bevor die ersten antiviralen Medikamente auf den Markt kamen. Die leibhaften Krankheitsbilder kreisen um die Hautoberfläche, um das Berührtwerden bzw. Nicht- Berührtwerden. Dieser Interviewabschnitt ist von zwei Polen geprägt: einmal von der Kind/ Vater/ Priester-Beziehung in der Situation der Todesangst, die der Priester interpretiert: Du bist ein Kind Gottes. Daneben tritt die Beschreibung des Mundschutzes, der Handschuhe, die Erfahrung des nicht direkt Berührtwerdens, versus der Priester, der den Mundschutz und die Handschuhe »Während sie mit dem Zeichen des Kreuzes gesegnet wird, wird die Auseinandersetzung mit der Verborgenheit Gottes in Szene gesetzt […] Die Salbungshandlung, so möchte ich vorschlagen, macht die Erfahrung der Verborgenheit Gottes präsent und greifbar.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 61 Hermeneutik und Vermittlung 62 ZNT 27 (14. Jg. 2011) abnimmt, um mit Bob zu reden und die Salbung der Stirn durchzuführen. Die taktile Dimension dieser Schlüsselszene ist kaum zu übersehen. Die leibhafte Krankheitserfahrung ist: ich gehöre/ gehörte zu den Unberührbaren, zu den Todgeweihten, den total Isolierten. Die Krankheitserfahrung hat auch eine furchterregende soziale Dimension: und ich sah das massenhafte Sterben um mich herum. Sie hat auch Einfluss auf die eigene Leiberfahrung: Bob entwickelt in dieser Zeit einen Selbstekel. Die Teilnahme an Salbungsgottesdiensten gibt Bob zunächst einmal die Gelegenheit, mit dieser als zutiefst traumatisch erlebten Zeit in Kontakt zu treten, das heißt konkret mit der Erinnerung an seine verstorbenen Freunde, mit seiner eigenen Todesangst und dem Selbsthass. Dabei ist der Gottesdienst, in dem diese Zeit zumeist nicht explizit verbalisiert wird, ein Schutzraum. Das Leibgedächtnis wird im Akt der Salbung angeregt. Aus dem Todgeweihten ist ein chronisch Kranker geworden, der in diesen Heilungsgottesdiensten immer wieder Zugang zu dieser ihn zutiefst erschütternden Zusage: »Du bist ein Kind Gottes, du bist nicht allein« sucht. In diesem Satz ist für ihn sein Verständnis von Heil gefasst. Später im Interview beschreibt er, wie ein Bekannter ihm in jenen Jahren eine Kopie von Matthias Grünewalds berühmtem Isenheimer Altar geschenkt hatte, die er mit sich herumtrug. Es zeigt den gekreuzigten Christus, hässlich entstellt von den Spuren der Folter und des Ergotismus, einer Vergiftungskrankheit, die eine furchterregende Zerstörung der Hautoberfläche mit sich trägt. Dieses Bild spricht für Bob Tucker mitten hinein in die AIDS-Krise, in der so viele Menschen am Kaposi Sarcoma sterben, also dem Hautkrebs, der mit AIDS einhergehen kann. Christus ist der Schmerzensmann, in dem Gott sich zeigt. Für ihn ist dies ein Trostbild, eine Visualisierung des Satzes »Du bist ein Kind Gottes, du bist nicht allein.« »Die Hölle«, so sagt Bob, »das ist die Erfahrung der Totalisolierung. Und die kann nur von jemandem durchbrochen werden, der das alles kennt. Und dann durchbricht jemand die absolute Quarantäne und segnet dich. Wenn Sie mich fragen, das ist eine Heilserfahrung.« Die Aneinanderreihung der Aussagen verdeutlicht, dass die Christuspräsenz sich für ihn im Gespräch mit dem Priester und der Segenshandlung ereignet hat. Er erinnert sich auch noch an den Spott einiger seiner Freunde, die sagten: »Was soll das helfen, noch ein weiterer deiner Freunde, der AIDS hat.« Für Bob ist die Meditation der Leiden Christi zentral für seinen Glauben. »Nicht allein«, das ist für ihn zu einem Schlüsselbegriff geworden. Er stellt sich damit in die christliche Tradition einer Leidensmystik, die Heil im geteilten Schmerzensraum verortet: Jesus macht unsere Krankheit und unseren Schmerz zu seiner Krankheit und seinem Schmerz. Darin findet sich Heilung im Sinne der Realisierung einer intimen Beziehung zu Christus. Diese Tradition gründet sich auch auf die christologische Deutung der Gottesknechtslieder: »Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen [...] auf dass wir Frieden hätten (Jes 53, 4a.5b)«. 4. Das Wort am Leib: Über synästhetische Wahrnehmung im Ritual Die beiden Beispiele verdeutlichen, wie unterschiedlich die religiösen Deutungen von Krankheit, Heilung und Heil sein können, die Menschen in ein und demselben Gottesdienst bewegen. Interessant ist, dass beide Deutungen durch den Ritus der Salbung angestoßen werden, der als synästhetisches Geschehen charakterisiert werden kann, in dem neben dem Hören und dem Sehen der Tastsinn aktiviert wird. Salben meint das Einreiben von aromatisiertem Öl in die Haut eines Menschen. Das Öl wird dabei z.B. auf die Innen- und Außenflächen der Hände oder auf die Stirn aufgetragen. Dies geschieht im Akt der Ritualisierung, d.h. die alltägliche Tätigkeit des Eincremens wird symbolisch aufgeladen, indem sie im Kontext eines Gottesdienstes geschieht, wenn z.B. einer Person mit Öl das Kreuz auf die Stirn gezeichnet wird. In dieser rituellen Handlung wird also u.a. der Geruchssinn ebenso wie der Tastsinn aktiviert. In der christlichen Tradition geschieht Salbung oftmals in Verbindung mit Handauflegung mit und ohne Berührung der Schultern, des Kopfes oder des Rückens, während bestimmte trinitarische Segensformeln als Zuspruch oder Bitte gesprochen werden. In diesem Zusammenspiel von hören, sehen und berühren bekommt das Wort vom Heil, das sich liturgisch in einem Segenswort wie »Nimm hin das Zeichen des Kreuzes« ausdrückt, eine synästhetische Leibgestalt. »Als einer der fünf Sinne eröffnet der Tast- und Berührungssinn den Weg zur Selbst, Fremd- und Welterfahrung. [...] Taktile Reize, [wie sie beispielsweise im Akt einer Salbung stimuliert werden können A.B], be-rühren einen Menschen so tief, weil sie als Orte des Leibgedächtnisses an ursprüngliche Erfahrungen von Angenommensein oder Ablehnung, von Wärme oder Kälte, von Weich- oder Hartsein, von Wohligkeit oder Schmerz erinnern.« 15 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 62 Andrea Bieler »Und dann durchbricht jemand die absolute Quarantäne und segnet dich.« ZNT 27 (14. Jg. 2011) 63 Die hier angedeutete synästhetische Liturgietheologie wird aber auch die Ambivalenz der sinnlichen Wahrnehmung in den Blick nehmen, ihre herrschaftsförmigen Gestalten sowie die Ambiguität und Multiplizität in der Rezeption: Menschen nehmen an ein und demselben Heilungsgottesdienst teil und hören, sehen, riechen, schmecken und ertasten Unterschiedliches. Eine Differenzerfahrung entfaltet sich: In der Situation des Berührens und Wahrnehmens bleibt eine Verborgenheit und Unfassbarkeit, die den mehrdeutigen Charakter des Leibseins beschreibt. 16 Die Ambiguitätserfahrung hat damit zu tun, dass wir auch im Gottesdienst geschlechtliche Leiber sind, die unterschiedliche Erfahrungen mit dem Berührtwerden haben. Oder damit, dass wir vielleicht Krankheiten in uns tragen, die mit Stigma behaftet sind und die uns gewissermaßen zu Unberührbaren machen. All diese Faktoren spielen auch im rituellen Geschehen eine Rolle und tragen zu den Ambivalenzen bei, denen es in einer synästhetischen Liturgietheologie nachzuspüren gilt. Eine synäshetische Liturgietheologie fragt nach der Bedeutung der Sinneseindrücke für die Produktion rituellen Wissens, wobei nicht nur der Hörsinn im Hinblick auf den Empfang des Evangeliums privilegiert wird, sondern das Zusammenspiel aller Sinne in den rituellen Austauschprozessen ernst genommen wird. Unter Synästhesie wird das psychologisch-neurologische Phänomen verstanden, bei dem die Stimulierung eines Sinnes spontan einen anderen Sinn mit erregt und so ein bestimmtes durch den Körper vermitteltes Wissen angeregt wird. 17 So wird unser Geruchssinn beispielsweise auch durch das, was wir sehen und schmecken stimuliert. Diese Kopplung von Sinnesreizen wird als sensorische Synästhesie bezeichnet. Daneben gibt es die kognitive Synästhesie, bei der Objekte oder Konzepte eine sensorische Zuordnung erhalten. Ambrosius beispielsweise spricht im Hinblick auf die Salbungen nach der Taufe vom Wohlgeruch oder dem Duft der Auferstehung, den die Täuflinge in sich aufnehmen. Diese ungewöhnliche Verknüpfung des Begriffes der Auferstehung mit dem Geruchssinn kann als kognitive Synästhesie bezeichnet werden. Die dritte Form ist die Gefühlssynästhesie, bei der Sinnesreize Gefühle oder umgekehrt Gefühle Sinnesreize hervorrufen. Wenn eine Teilnehmerin im Anschluss an einen Salbungsgottesdienst das Gefühl der Geborgenheit als wärmenden Mantel, der sich über sie gelegt habe, beschreibt, so kann dies als eine Gefühlssynästhesie verstanden werden. Meine These ist nun, dass in Salbungsgottesdiensten Austauschprozesse geschehen können, in denen sensorische, kognitive und emotionale Synästhesien auftreten und also die gehörten Worte von Krankheit, Heilung und Heil einen tieferen, gefühlten Sinn erhalten. Was Vergebung und Gnade bedeuten mag, bekommt eine mentale und gefühlte Gestalt, u.a. durch die Aktivierung des Tast- und Geruchsinnes. In der Leibphänomenologie, z.B. bei Hermann Schmitz, wird davon ausgegangen, dass sich dem wahrnehmenden Subjekt zunächst chaotisch mannigfaltige Ganzheiten, d.h. Eindrücke und Situationen, einprägen. Sinneswahrnehmungen und Sachverhalte werden zwar nicht als identisch erlebt, sind aber im Modus der leiblichen Kommunikation miteinander verwoben. 18 Der Glaubenssatz, der mit einem Salbungsritual verbunden sein mag, z.B. »du bist gesegnet« oder »Gott ist dein Heil«, wird dann hineingenommen in die sinnliche Wahrnehmung, die der Akt des Salbens evoziert. Solch eine synästhetisch-theologische Zugangsweise kann z.B. auf den Kirchenvater Augustinus zählen, der einerseits Gott nur durch die sinnliche Leiberfahrung hindurch lieben kann, andererseits aber immer wieder die Ambiguität sinnlicher Wahrnehmung reflektiert. In Augustinus Confessiones lassen sich eine Vielzahl von Gefühlssynästhesien entdecken. So beschreibt er sein Elend kinästhetischauditiv als gewaltigen Sturm, der Zweifel wird durch die Finsternis visualisiert, das Gefühl der Sicherheit hingegen nimmt er als einströmendes Licht wahr. 19 Evangelische Christenmenschen haben nun vielerorts gelernt, im Hinblick auf die Welt der Sinneswahrnehmung mit Verweis auf Röm 10,17 den Hörsinn zu privilegieren: der Glaube kommt aus dem Hören der Predigt, den anderen Sinnen müsse dagegen eher misstraut werden. So wird der Gottesdienst als Wortgeschehen verstanden, in dem die gesprochene Sprache (und damit das Hören) der zentrale Akt der Kommunikation ist. Alle anderen Sinne, z.B. das Sehen sind immer der Täuschung unterworfen, weil sie vorgeben, die Vergegenwärtigung des Wortes unmittelbar herzustellen. Wird aber die sakramentale Gestalt des Wortes z.B. im Hinblick auf das Abendmahl in den Blick genommen, »Eine Differenzerfahrung entfaltet sich: […]« »In der Situation des Berührens und Wahrnehmens bleibt eine Verborgenheit und Unfassbarkeit, die den mehrdeutigen Charakter des Leibseins beschreibt.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 63 Hermeneutik und Vermittlung 64 ZNT 27 (14. Jg. 2011) verändert sich die Perspektive. So wird z.B. in der Begegnung mit dem Lebendigen Gott im Abendmahl auch der Seh- und der Geschmackssinn stimuliert - denken wir nur an die Einladung zum Mahl und trauen wir ihr einen Moment lang zu, dass sie tut, was sie sagt: »Sehet und schmecket wie freundlich unser Gott ist«! 5. Das Wort im Text: Anmerkungen zu den liturgischen Texten Abschließen möchte ich meine kurze Reise in die erzählte und ritualisierte Welt des Krankseins mit einigen Anmerkungen zu den liturgischen Texten, die den Bezugsrahmen der vorgestellten Interviewabschnitte bilden. 5.1 Eine liturgiegeschichtliche Erinnerung In den letzten zwei Jahrzehnten lässt sich im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil in der Ökumene ein verstärktes Interesse an der rituellen Zuwendung zu kranken Menschen erkennen. In der Neuordnung der Krankensalbung durch die römisch-katholische Gottesdienstkongregation vom Dezember 1972 wurde der Versuch unternommen, die Engführung auf die letzte Ölung als Sterbesakrament aufzubrechen. Es ging darum, ein Verständnis der Krankensalbung zurück zu gewinnen, dass nicht mehr auf den Bußakt in der Sterbestunde fixiert ist. Zur Erinnerung: Seit der Hochscholastik wurde gelehrt, »die besonderen Wirkungen der Krankensalbung bestünden darin, die letzten Hindernisse vor dem Eingang eines Menschen in die himmlische Glorie zu beseitigen und die kirchlichen Bemühungen um die Heilung der Seele zur Vollendung zu bringen.« 20 Die Reformatoren hatten dieses Verständnis des Sterbesakramentes abgelehnt. In ihrer Interpretation von Jakobus 5,14f. unterstrichen Calvin und Luther, dass durch das Gebet und eben nicht durch die Salbung die Sündenvergebung gewährt werde. Für Martin Luther war dies jedoch keine generelle Ablehnung der Salbungspraxis. Im Brief an einen Pfarrer schlägt Luther vor, dass der Pfarrer die Kranken besucht, ihnen die Hände auflegt, über ihnen betet und ihrer in der öffentlichen Fürbitte gedenkt. Während Luther noch von der »Guttat zu ölen« sprechen konnte, die den Glaubenden trösten könnte, wetterte Calvin in polemisch abwertender Weise über das Kadaversakrament. 21 Durch Calvin initiiert wurde im Hinblick auf die Zuwendung zu den Kranken grundsätzlich auf das diakonische und seelsorgerliche Handeln der Kirchen gesetzt, also auf den Aufbau von Spitälern und die Besuche der Kranken. Das rituelle Handeln trat dagegen in den Hintergrund. Trotz dieser Geschichte haben Salbungsgottesdienste in den vergangenen zwei Jahrzehnten in den evangelischen Kirchen im deutschsprachigen Raum und in Nordamerika auch jenseits des charismatischen Spektrums an Popularität gewonnen. Verschiedene deutschsprachige evangelische Landeskirchen haben in den vergangen Jahren Handreichungen für Salbungsgottesdienste ausgearbeitet. 22 Im Ergänzungsband zum Evangelischen Gottesdienstbuch werden Salbungshandlungen sowohl für den intimeren seelsorgerlichen Kontext als auch für den öffentlichen Predigtbzw. den Abendmahlsgottesdienst vorgeschlagen. 23 Ein Blick in die nordamerikanische Mainline Ökumene zeigt eine ähnliche Entwicklung. Man betrachte nur die Gottesdienstbücher der methodistischen, presbyterianischen sowie der unierten Kirchen in den USA und Kanada. Im Jahr 2009 publizierte die Evangelical Lutheran Church in Amerika ein neues Gottesdienstbuch, das verschiedene seelsorgerliche Situationen im Hinblick auf Krankheitserfahrungen liturgisch bedenkt und explizit ein Salbungsritual mit aufnimmt. Diese liturgischen Aufbrüche der vergangenen Jahrzehnte müssen m.E. als Reaktion auf die Liturgiereformen des Zweiten Vatikanums verstanden werden, die das römisch-katholische Verständnis der Krankensalbung erneuerten und so einen neuen Zugang zu dieser Ritualpraxis für die evangelischen Kirchen inspirierten. Darüber hinaus sind so genannte »healing services« in der Mainline Ökumene in den USA sicherlich auch als Antwort auf die charismatischen Bewegungen innerhalb der jeweiligen Denominationen zu verstehen. Diese Gottesdienstformen sollten aber auch im Kontext der Popularisierung psychosomatischer Therapien, die an dem Zusammenspiel physischer, psychischer und spiritueller Prozesse interessiert sind, begriffen werden. In diesen Therapien ebenso wie in den Heilungsgottesdiensten werden die Artikulationsmöglichkeiten kranker Menschen besonders wert geschätzt. Grundlegend ist hierbei die Entwicklung eines biokulturellen Verständnisses von »Krankheit ist immer sowohl ein biologisches als auch ein kulturelles Phänomen - angesiedelt an der Schnittstelle zwischen Biologie und Kultur.« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 64 Andrea Bieler »Und dann durchbricht jemand die absolute Quarantäne und segnet dich.« ZNT 27 (14. Jg. 2011) 65 Krankheit: Krankheit ist immer sowohl ein biologisches als auch ein kulturelles Phänomen - angesiedelt an der Schnittstelle zwischen Biologie und Kultur. 5.2 Salbungsgottesdienste in der nordamerikanischen lutherischen Liturgie Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei den Gottesdiensten, die von Cynthia Myers und von Bob Tucker besucht werden, um sog. »Services of Healing«, wie sie im neuesten Gottesdienstbuch der Evangelical Lutheran Church in America für sog. Occasional Services abgedruckt sind. 24 Grundsätzlich wird in diesem Gottesdienstbuch vorgeschlagen, den Salbungsritus zwischen Wortverkündigung und Sakramentspende zu platzieren, um den Bezug zu den verschiedenen Gestalten des leiblichen Wortes zu verdeutlichen, wie er in der Confessio Augustana im Hinblick auf die Kommunikation des Evangeliums expliziert wird. Der Heilungsauftrag der Kirche ist gegründet in Christus, dem lebendigen Wort Gottes, das unter uns präsent ist in der Verkündigung der eschatologischen Heilsbedeutung des Lebens, Sterbens und der Auferstehung Christi sowie in den Sakramenten der Taufe und des Abendmahls. So werden diese Heilungsgottesdienste als Tauferinnerungsgottesdienste verstanden. 25 In diesen Taufvergegenwärtigungen werden die mit der Taufe gegeben Zeichen der Versiegelung mit dem Heiligen Geist und der Zugehörigkeit zu Christus dem Gekreuzigten, die in den Riten der Handauflegung und der Salbung verkörpert sind, wiederholt. Hier wird das lutherische Verständnis der Taufe als lebenslanger Prozess bis zum Tode unterstrichen. Die Auseinandersetzung mit chronischer oder schwerer Krankheit wird so auf die baptismale Existenz bezogen. Diese beschreibt den Prozess der Verwandlung, der sich im »Ersäuffen des alten Adams« und dem Auferstehen mit Christus als lebenslanges Drama christlicher Existenz vollzieht. Mit der Verortung der liturgischen Heilungsriten, also dem Handauflegen und der Salbung im Zusammenhang von Wort und Sakrament, ist auch der ekklesiologische Kontext geöffnet. Indem diese Riten nicht mehr nur im intimen Umfeld seelsorgerlicher Gesprächssituationen praktiziert werden, sondern auch einen Ort im öffentlichen Gemeindegottesdienst finden, wird die Sozialität des Krankheitsthemas handgreiflich. In den Erzählungen von Cynthia Myers und Bob Tucker ist hoffentlich bereits deutlich geworden, wie tiefgreifend die Krankheitsnarrative intim Individuelles und Soziales miteinander verweben. Bei Cynthia taucht die Familie auf, der kulturelle Deutungsdruck, der mit dem Thema Brustkrebs einhergeht, bei Bob Tucker sind es die Stigmatisierungen, die mit AIDS verbunden sind, sowie die Toten, die seine Erzählungen bewohnen. Diese lebensgeschichtlichen Themen werden so Teil des Flusses der Liturgie, seien sie ausgesprochen oder nicht, und sind bezogen auf das sakramentale Leben der Kirche. Der soziale Aspekt des Krankseins findet sicherlich auch in der Praxis der Fürbittgebete seinen Ausdruck, die im Anschluss an den Verkündigungsteil und vor der Salbung gesprochen werden. Anmerkungen 1 Ich hatte in den vergangenen acht Jahren immer wieder die Gelegenheit, mit Pastor Jim Mitulski Gespräche zu führen. Die folgenden Schilderungen stammen aus Konversationen mit Mitulski. 2 S. Sontag, Aids und seine Metaphern (1988), München 1997, 37. 3 Vgl. hierzu auch A. Bieler/ L. Schottroff, Das Abendmahl. Essen um zu leben, Gütersloh 2007, 179-189. 4 Das Schnittfeld von Poimenik und Liturgik, das ich hier betrete, ist über viele Jahrzehnte in der praktisch theologischen Diskussion vernachlässigt worden. Seit einigen Jahren bricht hingegen sowohl das Interesse an leiborientierten Formen der Seelsorge auf, in der rituelle Formen neben dem seelsorgerlichen Gespräch ins Blickfeld geraten, zum anderen gibt es auch in der evangelischen Liturgik ein erneuertes Interesse an liturgischen Formen, die leiborientiert sind. Vgl. für leiborientierte Seelsorge: E. Naurath, Seelsorge als Leibsorge. Perspektiven einer leiborientierten Krankenhausseelsorge, Stuttgart 2000; zum Thema rituelle Seelsorge: B. Enzner Propst, Rituelle Seelsorge. Zur Bedeutung der rituellen Dimension für die seelsorgerliche Begleitung, in: Pastoraltheologie 98,4 (2009), 187-209; C. Morgenthaler, Rituale. Theoretische Zugänge, in: K. Eulenberger/ L. Friedrichs/ U. Wagner- Rau (Hgg.): Gott ins Spiel bringen. Handbuch zum Neuen Evangelischen Pastorale, Gütersloh 2007, 174- 184; W. Huber und Liturgische Konferenz (Hgg.), Neues Evangelisches Pastorale: Texte, Gebete und kleine liturgische Formen für die Seelsorge, Gütersloh 2005; K. Eulenberger/ L. Friedrichs/ U. Wagner-Rau und Liturgische Konferenz (Hgg.): Gott ins Spiel bringen. Handbuch zum Neuen Evangelischen Pastorale, Gütersloh 2007. 5 Vgl. z.B. A. Kleinman, The Illness Narratives. Suffering, Healing, and the Human Condition, New York 1989; C. Mattingly/ L.C. Garro, Narrative and the Cultural Construction of Illness and Healing, Berkeley 2000. 6 Vgl. R. Fischer, Gesundheit zwischen Größenwahn der Ganzheitlichkeit und Glorifizierung der Gebrochenheit, in: M. Roth/ J. Schmidt (Hgg.), Gesundheit. Humanwissenschaftliche, historische und theologische Aspekte, Leipzig 2008, 179-180. 7 Vgl. B. Waldenfels, Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie-Psychoanalyse-Phänomenotechnik, Frankfurt 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 65 Hermeneutik und Vermittlung 66 ZNT 27 (14. Jg. 2011) 2002, 15-16. 8 H. Plügge, Der Mensch und sein Leib, Tübingen 1967, 63. 9 Vgl. S.V. Betcher, Spirit and the Politics of Disablement, Minneapolis 2007; G. Schneider-Flume, Leben ist kostbar. Wider die Tyrannei des gelingenden Lebens, Göttingen 3 2008, 82-113. 10 Interview vom 14. Februar 2010. Der Name der Interviewpartnerin wurde geändert. 11 Siehe A. Frank, The Wounded Story Teller. Body, Ethics and Illness, Chicago 1995, 75-136. 12 Vgl. C. Tietz, Krankheit und die Verborgenheit Gottes, in: G. Thomas/ I. Karle (Hgg.), Krankheitsdeutung in der postsäkularen Gesellschaft. Theologische Ansätze im interdisziplinären Gespräch, Stuttgart 2009, 355. 13 I. Karle, Sinnlosigkeit aushalten! Ein Plädoyer gegen die Spiritualisierung von Krankheit, in: WzM 61,1 (2009), 19-34: 32f. 14 Interview vom 17. Januar 2009, der Name des Interviewpartners wurde geändert. 15 E. Naurath, Berühren, in: K. Eulenberger/ L. Friedrichs/ U. Wagner-Rau (Hgg.), Gott ins Spiel bringen. Handbuch zum Neuen Evangelischen Pastorale, Gütersloh 2007, 155. 16 Vgl. Naurath, Berühren, 155. 17 Überwiegend versteht man darunter die Kopplung zweier physisch getrennter Domänen der Wahrnehmung, etwa Farbe und Temperatur (»warmes Grün«), im engeren Sinne die Wahrnehmung von Sinnesreizen durch Miterregung eines Sinnesorgans, wenn ein anderes gereizt wird. Menschen, bei denen derart verknüpfte Wahrnehmungen regelmäßig auftreten, werden als Synästhetiker bezeichnet. Synästhesien müssen nicht notwendigerweise mit den fünf Hauptsinnen zu tun haben. Bei Gefühlssynästhetikern erzeugen beispielsweise Sinnesreize Gefühle, dies gilt auch umgekehrt. Vgl. E. Freuwört, Vernetzte Sinne, Norderstedt 2004. 18 Vgl. H. Schmitz, System der Philosophie, Bd. III/ 5, Bonn 1967, 22-23. 19 Vgl. Aurelius Augustinus, Bekenntnisse, Bibliothek der Kirchenväter, Bd. 7, Kempten/ München 1914, 183. 20 H. Vorgrimler, Art. Krankensalbung, in: TRE 19, 666. 21 Nach Calvin war die den Aposteln durch den Heiligen Geist vermittelte Gabe der Heilungswunder nicht auf die Kirche übertragen worden. Vgl. J. Calvin, Unterricht in der christlichen Religion - Institutio Christianae Religionis IV,19, hg. von M. Freudenberg, Neukirchen-Vluyn 2008, 18-21. 22 Vgl. z.B.: Salbung in der Evangelischen Kirche. Eine Handreichung, hg. vom Amt für Öffentlichkeitsdienst zusammen mit dem Kirchenamt und dem Gottesdienstinstitut der Nordelbischen Ev.-Luth. Kirche, Hamburg o. J. (Leporello); Gottesdienst mit Segnung und Salbung, in: Segnen. Eine Arbeitshilfe, hg. vom Evangelischen Oberkirchenrat [der Ev. Landeskirche in Württemberg], Stuttgart, 2 2002, 13-23; Salbungsgottesdienst, in: Ergänzungsband zum Evangelischen Gottesdienstbuch für die EKU und für die VELKD, Berlin 2002, 116-125. 23 Im Jahre 2002 veröffentlichten die Reformierten Kirchen Bern-Jura eine Handreichung zum Kranken- und Abschiedssegen mit Salbung. Diese Handreichung möchte Impulse setzen, diese in der reformierten Kirche nicht verankerte Tradition neu zu beleben. Dabei werden liturgische Texte vorgelegt, die für die Kranken ein Stärkungs- und Segensritual bereithalten, und für Sterbende und ihre Angehörigen wird ein Abschiedssegen, der als passage ritus verstanden wird, vorgeschlagen. Die Kommission für Gottesdienstgestaltung der evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich veröffentlichte Reflexionen für einen Gottesdienst mit Salbung und Segnung. Ähnlich wie in der Berner Handreichung wird der priesterliche Charakter der Salbungshandlung unterstrichen: »Salben ist und soll eine priesterliche Handlung sein. Damit ist eine bestimmte Funktion gemeint, die auch der reformierten Tradition entspricht, unabhängig vom Stand der Ordination.« 24 Vgl. Evangelical Lutheran Worship Occasional Services for the Assembly, commended for use by the ELCA Church Council, Minneapolis 2009. 25 Vgl. hierzu T.H. Schattauer, Healing Rites and the Transformation of Life. Observations and Insights From Within the Evangelical Lutheran Church in America, in: Liturgy 22,3 (2007) 31-40. Neues Testament aktuell: Jutta Leonhardt-Balzer, Kontexte zum Bösen im Neuen Testament Zum Thema: Michael Labahn, Satan und seine Helfer in der Johannesapokalypse Christfried Böttrich, Das Böse hat nicht das letzte Wort! - Neutestamentliche Perspektiven zur Überwindung des Bösen Susan Garrett, Jesus und die Dämonen Kontroverse: Der Böse oder das Böse? Peter Busch vs. Manuel Vogel Hermeneutik und Vermittlung: Ulrich H. J. Körtner, Dämonen und Dämonisierung in Gegenwartsdiskursen Buchreport: Ingolf U. Dalferth, Das Böse: Essay über die Denkform des Unbegreiflichen, Tübingen 2. Aufl. 2010. Vorschau auf Heft 28 Themenheft: »Teufelszeug« 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 66 Buchreport ZNT 27 (14. Jg. 2011) 67 Claudia Janssen Anders ist die Schönheit der Körper. Paulus und die Auferstehung der Toten in 1Kor 15 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2005 358 Seiten ISBN: 3-579-05210-1 Preis: antiquarisch verfügbar Wohl kaum ein anderes Vorurteil hängt dem Christentum hartnäckiger an als das der Körperfeindlichkeit. Und wie viele andere Vorurteile ist auch dieses nicht völlig aus der Luft gegriffen. Unzählige Autoren haben auf das noch heute problematische Verhältnis des Christentums zu einem unbefangenen - nach aktuellen, liberalen Standards wohlgemerkt! - Umgang mit Körperlichkeit aufgegriffen und verweisen dazu auf die Nachwehen der platonisch inspirierten Scheidung zwischen Körper und Seele, die traditionelle Idealisierung der zölibatären Lebensform oder das falsch verstandene protestantische Pflichtethos, das eigenes Fühlen und Wollen unter den Verdacht selbst- oder weltverliebter Sündigkeit stellt. Oft genug muss Paulus als Kronzeuge für den Beginn der Missstände herhalten. Dem gegenüber stehen immer wieder Versuche, das christliche Nachdenken über den Körper aus einem erneuerten Schöpfungs- und Erlösungsverständnis heraus von repressiven Aspekten zu befreien und auf eine neue Basis zu stellen. In diesen Zusammenhang gehört Claudia Janssens vorliegendes Buch, das auf ihre im Jahre 2004 am Fachbereich Evangelische Theologie der Universität Marburg angenommene Habilitationsschrift über das paulinische Auferstehungsverständnis nach 1Kor 15 zurückgeht. Natürlich handelt es sich dabei zuallererst um eine exegetische Studie, die in aller gebotenen Gründlichkeit Beobachtungen am Text und Argumente der Forschung prüft. Doch sollte es nicht verwundern, dass bei meiner Lektüre des Buches im Jahre 2010 immer wieder aktuelle Debatten um Kindesmissbrauch an christlichen Einrichtungen oder die stets penetrantere Zurschaustellung von Körperlichkeit in den modernen Medien gewollt oder ungewollt mitschwingen. Das Thema »Körper« bleibt eben höchst aktuell. Die Autorin lässt solcherart Aktualisierungen ausdrücklich zu, ja fordert sie sogar, und sieht ihre Studie als Beitrag zur Überwindung christlich motivierter Körperfeindlichkeit, »deren dualistische Gegenüberstellung körperlicher und geistig-seelischer Existenz und der damit verbundenen Abwertung von Weiblichkeit […] in den vergangenen Jahren vielfach thematisiert« wurde (S. 27). Janssen weiß, dass sie sich bei der Verfolgung ihres Zieles nicht bei blutleeren Lehrsätzen aufhalten darf, sondern die »Frage der konkreten Körper der Menschen« zu stellen hat, »von denen in 1Kor 15 die Rede ist« (S. 14). Die Studie muss ihres Erachtens daher beides bieten: eine historisch-deskriptive Untersuchung der paulinischen Körpertheologie im Kontext der damaligen gesellschaftlichen« Bedingungen, darüber hinaus aber muss sie das emanzipatorische Potential der paulinischen Rede vom sōma besonders herausstellen. Geschult am Arsenal befreiungstheologischer und feministischer Ansätze, beginnt Janssen auch konsequenterweise gleich zu Beginn damit, die von ihr konstatierten Parameter moderner geisteswissenschaftlicher Diskussion über »Körper« zu umreißen und hält eine Reihe von Punkten für die folgende exegetische Arbeit an Paulus fest (verstanden als Beiträge zu einer »Körpergeschichte«): die kulturbezogene Positionalität jeglicher Definition und Erfahrung von Körper (diese Kategorie ist Janssen besonders wichtig, wenn ich auch meine Zweifel habe, ob die »Erfahrung« antiker Menschen hinreichend erreichbar und zur Erschließung antiker Literatur brauchbar ist), die Bezogenheit eines jeden Körpers auf andere, das spannungsvolle Verhältnis von materieller und spiritueller Dimension und die Bedeutung von Sprache - festgemacht z.B. am Verhältnis von sex und gender (selbst da, wo der Unterschied im paulinischen Text keine Rolle spielt, siehe z.B. S. 276-278) oder den verschiedenen Konnotationen, die mit der Zweiheit der Begriffe »Leib« und »Körper« gegeben sind (die es so im paulinischen Text zugegebenermaßen nicht gibt). Vor allem dies macht deutlich, dass bereits zu Beginn des Buches eine ganze Reihe von Vorentscheidungen getroffen sind - bis hin zu heuristischen Modellen und (mitunter recht gedrechselten) sprachlichen Ausdrucksformen -, die nicht am Text selbst gewonnen wurden, diesen aber erschließen helfen sollen. Dass das im Sinne des Textes nicht ohne weiteres gelingen kann, wird - denke ich - etwa an Janssens Ausführungen zu »Aspekte(n) paulinischer Körpertheologie in der aktuellen Diskussion« (S. 49- 59) deutlich, in der man mehr über die Resonanz dieser Aspekte in der feministisch inspirierten Forschung lernen kann als über diese Aspekte selbst. Ich gebe daher gern zu, dass ich als Rezensent vor allem mit den konzeptionellen Vorentscheidungen meine liebe Mühe habe. Damit sind wir angekommen bei der kontroversen Frage, ob die »kulturellen Festlegungen« des Diskurses um Körperlichkeit aus dem hermeneutischen Arsenal der Gegenwart oder nicht lieber doch primär aus der sprachlichen Analyse der Zeugnisse der Vergangenheit gewonnen werden sollten. Oder denke ich hier zu »männlich«? Für Janssen jedenfalls steht ihr Ansatz auf der Höhe der Zeit und die Exegese »vor der Aufgabe, im Spannungsverhältnis zwischen der Fremdheit eines Textes und dem Bedürfnis einer Identifikation mit seinen Inhalten zu erfassen, wie er theologisch auch in die Gegenwart hineinzusprechen vermag« (S. 28; Her- 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 67 68 ZNT 27 (14. Jg. 2011) vorhebung von J.K.Z.). Tragend für die Autorin ist die Absicht, dass durch die Analyse der paulinischen Vorstellungswelt konkrete Erfahrungen der heilvollen Veränderung von Körpern in der Welt der Sündenmacht Ausdruck gegeben wird (S. 29). Ich halte das für eine - freilich wohlgemeinte - Überforderung von Exegese. Sagt das der Text wirklich? Müsste man nicht schärfer zwischen dem unterscheiden, was der Text in seiner ganzen Begrenztheit und Weite sagt, und dem, was wir aufgrund unserer eigenen heil- und unheilvollen Situation hören müssten? Die Beschreibung dessen, was der Autor in seiner Zeit sagt (bzw. dessen, was wir davon noch hören können) ist m.E. grundsätzlich etwas anderes als das, was heute auf Basis dieses Textes zu sagen nötig wäre - auch wenn diese beiden Aspekte im Sinne kirchlicher, emanzipatorischer oder anderer aktualisierender Fruchtbarmachung in eine sinnvolle Beziehung gesetzt werden können. Aber nivellieren sollte man diese beiden Aspekte nicht, was dann meistens den biblischen Autor seiner Fremdartigkeit beraubt. Meiner Meinung nach sind Claudia Janssens Ausführungen gerade dort am stärksten, wo sie direkt am Text arbeitet, dort kommt sie immer wieder zu eindringlichen Ergebnissen. Die vielschichtige Analyse des Begriffes sarx, der oft genug unzulänglich mit »Fleisch« wiedergegeben wird, ist dafür etwa ein gutes Beispiel. Janssen zeigt, dass sarx »auf der einen Seite die Relationalität als Geschöpf zu Gott und zum anderen Gottferne und deren gesellschaftliche und soziale Konsequenzen ausdrückt« (S. 64-71). Rede vom sōma erfahrungsbezogen von »Gewalt- und Todeserfahrungen auf der einen Seite und ›Lebens‹-Erfahrungen von Gemeinschaft und Solidarität im Widerstand prägen seine Sprache« (S. 71- 82 [82]). Sōma wird so zur Brücke zwischen menschlichen Körpern und Jesus Christus. Im exegetischen Hauptteil (Kap. 2: Auferstehen ins Leben Gottes [1Kor 15], S. 83-278) stützt sich Janssen vor allem auf 1Kor 15,35-57 und untersucht auf der Basis des »Spannungsverhältnis(ses) zwischen diskursiver Vermittlung von Körpererfahrungen und deren Verankerung in der konkreten Lebensrealität« bei Paulus besonders »die Bedeutung der gegenwärtigen menschlichen Körperlichkeit für die Rede von der leiblichen Auferstehung«, sowie die »Verhältnisbestimmung des irdischen und des himmlischen Menschen« (S. 84f.). Diese beiden Themen sind durchaus von entscheidender Bedeutung: Auferstehung ist für Paulus laut Janssen nicht eine Neubegründung von Leiblichkeit nach dem Tod (die außerhalb der Auferstehungsdimension negativ konnotiert bliebe), sondern die konsequente Verwandlung und Befreiung hin zu einer neuen, von Gott gestifteten und zum Nächsten und zur Welt hin offenen Beziehung des Menschen zu Gott. Hier sind Janssens Überlegungen zur Metapher vom Säen von Bedeutung (S. 107-117). Janssen unterstreicht zu Recht, dass Paulus vor allem in relationalen Strukturen denkt: Was der menschliche Körper und Auferstehungsleib sind, richtet sich danach, »in welchem ›Herrschaftsbereich‹ sie stehen: in dem Gottes, der Leben bedetute [sic! ], oder in dem der Hamartia und des Todes« (S. 274). Im Anschluss an die zeitgenössische jüdische Apokalyptik versteht auch Paulus seine Rede von der Auferstehung als konkretes Wort in die Geschichte hinein: Sie beide analysieren die Verhältnisse und rufen zur Beteiligung an deren Veränderung auf (ibid.). Janssens abschließende sprachtheoretische Reflexionen (»Die Sprache des Geheimnisses«, S. 279-323) sind getragen von der Einsicht, dass Paulus seine Botschaft in zeitgenössischen Bildern formuliert. Das ist nicht neu und selbstverständlich richtig. Wenn Janssen daraus aber die Notwendigkeit ableitet, »je eigene Ausdrucksmöglichkeiten zur Beschreibung der Erfahrungen mit dieser anderen Wirklichkeit zu entwickeln, die die Gegenwart transparent werden lassen für das Leben Gottes« (S. 281), um auch in einer postchristlichen Gesellschaft sprachfähig bleiben zu können, dann geht dies sicher über das hinaus, was man bei Paulus selbst finden kann. Jede und jeder mag dann selbst entscheiden, ob oder wie man dieses Programm im Sinne des Paulus umsetzen möchte. Grundlegend für Janssen selbst ist ein differenzierteres Verständnis des biblischen Zeitbegriffs im Sinne der »Qualität von Leben«: »Die Zukunft als Qualität von Leben richtet den Blick auf die Gegenwart und den Hoffnungscharakter biblischer Verheißung für das Leben auf der Welt und eine Veränderung dieser Welt« (S. 293). Diesen Aspekt vertieft Janssen im Folgenden im Anschluss an Luise Schottroff und die Befreiungstheologie, und greift damit den Beginn ihres Buches wieder auf. Ziel ist dabei ein positives Verständnis vom Körper in seiner ganzen Konkretheit im Hier und Jetzt sowie eine dieser Konkretheit angemessene, erfahrungsbezogene christliche Rede vom Körper, beides zusammengefasst unter dem Begriff »Eschatologische Spiritualität« aus neuem Sehen, neuer Sprache und neuer Praxis (S. 307-323). Insofern endet das Buch - beinahe wie Paulus in 1Kor 15 selbst - in, wie Janssen es nennt, »Theo-poesie«. Was bleibt also? Jenseits mancher zweifelnder Verwunderung darüber, wie »modern«, »feministisch« oder »befreiungstheologisch« Paulus zu reden imstande sein soll, habe ich von Claudia Janssen gelernt, neu über die Würde (sie selbst nennt es mit einem fast altertümlich anmutenden, wohltuenden Wort »Schönheit«) des Körpers nachzudenken und die Impulse des frühesten Christentums dazu ernst zu nehmen. Inmitten der täglich anzutreffenden Erniedrigung des menschlichen Körpers ist das wichtig genug und keinesfalls wenig, wenn mir auch vieles im vorliegenden Buch über das hinauszugehen scheint, was sein Kronzeuge Paulus selbst vor 2000 Jahren an seine Korinther zu sagen hatte. Jürgen K. Zangenberg 016911 ZNT 27 - Inhalt 24.03.11 11: 08 Seite 68