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ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
0601
2012
1529 Dronsch Strecker Vogel
Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 1 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 1 Editorial Der Hebräerbrief ist ein harter Knoten. Martin Luther, von dem diese Bezeichnung stammt, meinte damit zwar lediglich den Umstand, dass der Hebräerbrief eine zweite Buße untersagt. Dennoch lässt sich Luthers Wertung auf diese Schrift als Ganze beziehen. So wies er in seiner Vorrede von 1522 darauf hin, dass die Interpretation der Esaugeschichte im Hebräerbrief »wider alle Evangelia und die Episteln S. Pauli ist«-- eine Formulierung, die übrigens in späteren Ausgaben abgemildert wurde. Für Streit hat der Hebräerbrief schon immer gesorgt. Auch gegenwärtig gehört er zu den umstrittensten Schriften des Neuen Testaments. Es gibt Bibelausgaben, in denen der Hebräerbrief fehlt; andere dagegen rücken ihn zusammen und gleichrangig mit dem Römer- und dem ersten Petrusbrief in die Mitte des ersten Jahrhunderts (Die Bibel-- erschlossen und kommentiert von Hubertus Halbfas, Düsseldorf 2001; Das Neue Testament und frühchristliche Schriften. Übersetzt und kommentiert von Klaus Berger und Christiane Nord, Frankfurt a. M./ Leipzig 1999). So nimmt es nicht Wunder, wenn der Eindruck einer ›Sonderstellung‹ des Hebräerbriefes, wie er vor gut 50 Jahren im entsprechenden Artikel der RGG festgestellt wurde, weiterhin vorherrscht. Zugleich aber ist gerade in jüngster Zeit zu beobachten, dass die Forschung am Hebräerbrief boomt. Der erste Beitrag unseres Themenheftes referiert konzentriert und kundig die neuesten Fragestellungen zum Hebräerbrief, die in der englischsprachigen Forschung entwickelt wurden. David M. Moffitt lehrt seit 2011 an der Campbell Divinity School in Buies Creek, North Carolina. Er stellt einleitungswissenschaftliche Themen wie Verfasserschaft, Adressaten, Genre und historische Fragen als auch wichtige theologische und hermeneutische Probleme in den Vordergrund. Im Zentrum des Heftes stehen drei Aufsätze, die sich dem Hebräerbrief auf ganz unterschiedliche Weisen annähern. Stefan Alkier verweist auf die gewachsene Vielstimmigkeit des neutestamentlichen Kanons. Unterscheiden wir zwischen der vielgestaltigen Diversität seiner Schriften und der teilweise unvereinbaren Differenz ihrer Positionen, so stellt sich die Aufgabe, solche Differenzen nicht exegetisch zu neutralisieren, sondern konstruktiv aufzugreifen. Stefan Alkier verdeutlicht das mit seinen Beobachtungen zur Dialogizität des Hebräerbriefes und der Johannesapokalypse. Karl-Heinrich Ostmeyer fragt in seinem Beitrag nach dem Verhältnis von Zeit und Ewigkeit im Hebräerbrief und leitet von dieser Relation ein Gesamtkonzept ab, das verständlich machen kann, worauf dieser antike Text abzielt. Dabei sind insbesondere auch seine Beobachtungen zu Typologie und Typos-Terminologie im Hebräerbrief zu beachten, zu denen er wichtige Vorarbeiten beigesteuert hat. Wilfried Eiseles Beitrag zeigt, wie die Eschatologie des Hebräerbriefes vor dem Hintergrund zeitgenössischer mittelplatonischer Vorstellungen, exemplifiziert an Philo von Alexandria und Plutarch von Chaironeia, ihr spezifisches Profil und überraschende Plausibilität gewinnt. Auf dieser Grundlage wird nicht nur die Umformung des Parusiegedankens im Hebräerbrief, sondern auch die den Text prägende Unterschiedenheit zweier Wirklichkeitsbereiche verständlich. Einen der aktuellen Streitpunkte zum Hebräerbrief nimmt unsere Kontroverse auf: Wie ist diese Schrift im Kontext des antiken Judentums zu verorten? Eckart Reinmuth versucht in der Rubrik Hermeneutik und Vermittlung, eine sozialphilosophische Perspektive auf den Hebräerbrief zu entwickeln, indem er Jesus in die Rolle eines ›Dritten‹ eingezeichnet sieht. Das führt zu einer Ethik der Solidarität, die in erster Linie gesellschaftlich Ausgegrenzten gilt und im Diskurs um die Begründung menschlicher Gesellschaft einzubringen ist. Der Buchreport beschließt das Heft mit der Rezension eines profilierten neueren deutschsprachigen Kommentars zum Hebräerbrief. Ein harter Knoten ist nicht leicht zu lösen. Die Beiträge dieses Heftes zeigen das, und sie fördern weitere Knoten zutage. Manche werden härter, manche gelöst, manche durchschlagen. Wir haben dieses Themenheft vorbereitet, um aktuelle Fragestellungen referieren und diskutieren zu können, aber auch, um die Frage aufzuwerfen: Was macht den Hebräerbrief lesenswert? Wir hoffen, mit den Beiträgen dieses Heftes vielfache Anregung zu geben, nach der Lesbarkeit dieses spannenden Textes zu fragen und selber auf die Suche nach neuen Aufschlüssen zu gehen. Stefan Alkier Eckart Reinmuth Manuel Vogel Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 2 - 4. Korrektur 2 ZNT 29 (15. Jg. 2012) 1. Hinführung Das Interesse der neutestamentlichen Exegese am Hebräerbrief ist in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen. Oft als das »Rätsel des Neuen Testaments« 1 bezeichnet, erlangt der Hebräerbrief allmählich die Aufmerksamkeit, die er verdient. Tatsächlich können viele der derzeit zentralen historischen und theologischen Fragen der neutestamentlichen Theologie (z. B. die Beziehung der frühchristlichen Bewegung zu ihrem jüdischen Kontext, die hermeneutische Aneignung der jüdischen Schrift durch das frühe Christentum, die Vielzahl der theologischen und christologischen Bekenntnisse innerhalb der frühchristlichen Bewegung, die Frage einer frühchristlichen Identität) an jenem »Wort der Ermahnung« (Hebr 13,22) erprobt werden. Dieser kurze Aufsatz hat nicht den Anspruch, die gesamte aktuelle und relevante englischsprachige Literatur zum Hebräerbrief zu erfassen. Trotz der Beschränkung des Aufsatzes auf Untersuchungen und Kommentare dieses Jahrhunderts ist die Fülle der Forschungsliteratur für einen solch kurzen Überblick zu groß. 2 Stattdessen wurden einige der Schlüsselfragen zum Hebräerbrief ausgewählt, die in den gegenwärtigen englischsprachigen Publikationen diskutiert werden. Folgende Aspekte sollen in diesem Aufsatz behandelt werden: 1.) Verfasserschaft, Adressaten, Gattung und historischer Hintergrund des Hebräerbriefes und 2.) bedeutsame theologische und hermeneutische Probleme. 2. Aktuelle Diskussionen zu Gattung und historischem Hintergrund Mit einiger Sicherheit kann man sagen, dass der Verfasser des Hebräerbriefes an eine christliche Gemeinde schrieb. Doch wann wurde der Brief verfasst, wer ist der Autor und wo lebten die ursprünglichen Adressaten? Zusätzlich muss sowohl nach der Gattung und der Intention des Hebräerbriefes als auch nach den historischen Zusammenhängen gefragt werden. Im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts sind bereits einige englischsprachige Kommentare 3 und mindestens zwei kurze Einführungen zum Hebräerbrief 4 erschienen. In jeder dieser Veröffentlichungen werden die oben genannten Fragen thematisiert. Mit wenigen Ausnahmen sind sich die Autoren einig darin, dass der Verfasser des Hebräerbriefes als völlig unbekannt zu gelten habe; Paulus kann als Verfasser ausgeschlossen werden. 5 Zur Entstehungszeit des Hebräerbriefes können keine sicheren Aussagen gemacht werden, wenngleich es einen wachsenden Trend zu einer Datierung vor der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 gibt. 6 Genauso wenig ist der Ort und die Konstitution der ursprünglichen Adressaten zweifelsfrei zu bestimmen. Einige der genannten Exegeten plädieren nach wie vor für Rom als den wahrscheinlichsten Ort der Adressaten, 7 oder aber für Jerusalem. 8 Andere, so auch der Autor dieses Textes, sind mit den Worten Luke Timothy Johnsons »damit zufrieden, über die geographische Lokalisierung [der Adressaten] nichts sicheres zu wissen«. 9 Dasselbe muss, so Johnson, über die Adressaten hinsichtlich ihres »genauen sozialen Umfelds und sogar ihres ethnischen Hintergrundes« 10 gesagt werden. Doch auch wenn die aktuelle Reflexion dieser Einleitungsfragen nicht zu neuen Kenntnissen oder innovativen Vorschlägen geführt hat (woran auch künftiges Hypothesenwerk, sofern es ohne neues Quellenmaterial auskommen muss, nichts ändern wird), liegen einige innovative und interessante Studien zum konzeptuellen Hintergrund des Verfassers des Hebräerbriefes vor. Diese Untersuchungen lassen auf neue Diskussionen und Auseinandersetzungen um den Hebräerbrief hoffen. Clare K. Rothschild vertritt die provokative These, dass die traditionelle Verfasserzuschreibung des Hebräerbriefes als Brief des Paulus keinesfalls zufällig in den Text eingetragen wurde, sondern vielmehr vom Verfasser des Briefes bewusst im Text angelegt worden sei. 11 Der Hebräerbrief sei mithin als ein Beispiel paulinischer Pseudepigraphie zu betrachten. Aus diesem Grund sei als konzeptueller Hintergrund der Schrift eine von Paulus stark beeinflusste Gruppierung des frühen Christentums anzunehmen, die vorrangig durch die paulinischen Briefe und die Paulusdarstellung der Apostelgeschichte geprägt wurde. Dass der Verfasser des Hebräerbriefes als Paulus identifiziert werden wollte, erhebt Rothschild aus dem brieflichen Charakter von Hebr 13 (Kap. 13 wirkt so, als komme es nach den David M. Moffitt Der Hebräerbrief im Kontext der neueren englischen Forschung Ein kurzer Überblick über die wichtigsten Forschungsprobleme Neues Testament aktuell Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 3 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 3 David M. Moffitt Der Hebräerbrief im Kontext der neueren englischen Forschung phie benötige keine explizite Angabe eines falschen Verfassers. Stattdessen genügten die literarische Entfaltung der Nachahmung und Anklänge an einen bekannten Verfasser. Weite Teile ihres Buches sind dem Ausweis möglicher Kontaktstellen zwischen den paulinischen Briefen und dem Hebräerbrief gewidmet. Unabhängig vom Problem der Anonymität fallen allerdings überraschende Unstimmigkeiten zwischen dem Hebräerbrief und Paulus-- sowohl dem Paulus, dem wir in seinen Briefen begegnen, als auch dem Paulusbild, das die Apostelgeschichte entwirft-- auf. Beispielsweise ist es sehr schwer nachvollziehbar, wie der Verfasser des Hebräerbriefes, sofern er sich bewusst als Paulus darstellen wollte, den Fehler begehen konnte, sich selbst mithilfe von Konzepten zu beschreiben, die einen Christen aus der zweiten Generation suggerieren. Der Verfasser behauptet schlicht, dass ihm (als einer der »wir«) die Heilsbotschaft von denen bestätigt worden sei, die sie vom Herrn gehört hatten (Hebr 2,3). Sowohl die Apostelgeschichte als auch die paulinischen Briefe stimmen darin überein, dass Paulus seinen Auftrag durch eine direkte Offenbarung Jesu Christi bekam. 13 Warum also spricht der Verfasser von sich selbst als einer derer, denen die Botschaft Jesu von anderen bestätigt worden ist, die wiederum die Botschaft direkt von Jesus hörten? Hätte er nicht von sich selbst als einem derjenigen reden müssen, die den Herrn gehört haben und deren eigene Botschaft für die impliziten Leser als bestätigt galt? Sollte der Verfasser tatsächlich das Ziel gehabt haben, sich als Paulus auszugeben, hat er dies in 2,3 nicht sonderlich überzeugend getan. Es besteht die Möglichkeit, dass der Verfasser schlichtweg einen ungewollten aber vielsagenden Fehler gemacht hat. Da aber auch der explizite Anspruch auf die Verfasserschaft durch Paulus fehlt, ist dieses Detail leichter zu erklären als ein Hinweis gegen die paulinische Verfasserschaft oder gegen die Pseudepigraphie. Noch unverständlicher ist in diesem Zusammenhang vielleicht sogar die Frage, wie es sein kann, dass der Verfasser, der, so Rothschild, in den paulinischen Briefen und der Apostelgeschichte außerordentlich gut bewandert gewesen sein müsste, zentrale Problemstellungen dieser Texte vollständig ignoriert hat. Wäre es das erklärte Ziel gewesen, einen pseudepigraphischen Brief zu schreiben, der die Gedanken des Paulus auf adäquate Weise formuliert und erklärt, wäre eine Auseinandersetzung mit den wichtigen paulinischen Fragen vorangegangenen Kapiteln aus dem Nirgendwo), aber vor allem aus der Art und Weise, wie der Schluss an die paulinischen Briefe erinnert und Timotheus erwähnt. Der Text, so Rothschild, sei wahrscheinlich als eine Ergänzung verfasst worden, die in eine frühe Paulusbriefsammlung integriert werden sollte. Das übergeordnete Ziel des Verfassers sei eine Harmonisierung widersprüchlicher Aussagen innerhalb der paulinischen Briefe aber auch der konkurrierenden Pauluskonzeptionen in den Briefen und in der Apostelgeschichte gewesen. Rothschild nimmt an, dass der Hebräerbrief verfasst worden sei, um das als unvollständig wahrgenommene Ende der Apostelgeschichte zu füllen: Der Hebräerbrief sollte eine Rede liefern, wie sie bereits der Verfasser der Apostelgeschichte Paulus in Rom an die Heiden hätte halten lassen sollen. 12 Rothschild präsentiert eine interessante, neue Perspektive im Hinblick auf Struktur und Kontext des Hebräerbriefes. Dennoch müssen einige Bedenken vorgebracht werden. Es bleibt verwunderlich, wie eine anonyme Schrift pseudepigraphisch sein kann. Rothschild führt einen plausiblen Grund hierfür an. Pseudepigra- Dr. David M. Moffitt, geb. 1974, Assistenzprofessor für Neues Testament und Griechisch an der Campell University Divinity School. 1995 B. A. (Grove City College), 2001 M. A. (Trinity Evangelical Divinity School), 2003 Master of Theology (Duke Divinity School), 2010 Ph. D. (Duke University). 2006-2007 Studienjahr als Fulbright Scholar in Tübingen. Er ist Autor von Atonement and the Logic of Resurrection in the Epistle to the Hebrews, Leiden 2011, sowie einiger Beiträge in JBL und ZNW. Forschungsinteressen: Hebräerbrief, Matthäusevangelium, jüdische Apokalyptik. David M. Moffitt »Clare K. Rothschild vertritt die provokative These, dass die traditionelle Verfasserzuschreibung des Hebräerbriefes als Brief des Paulus keinesfalls zufällig in den Text eingetragen wurde, sondern vielmehr vom Verfasser des Briefes bewusst im Text angelegt worden sei.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 4 - 4. Korrektur 4 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Neues Testament aktuell wie z.-B. den Beziehungen zwischen Juden und Heiden, dem Status der Heiden in Bezug auf das Gesetz, den Spannungen zwischen Paulus und anderen jüdischen Nachfolgern Jesu und dem Problem der Beschneidung unumgänglich gewesen. Sowohl in den paulinischen Briefen als auch in der Apostelgeschichte werden diese Themen breit ausgeführt. Dazu kommt, dass der Verfasser des Hebräerbriefes sogar explizit die Rolle des Mosaischen Gesetzes und einiger seiner zentralen Institutionen diskutiert (vgl. v. a. Hebr 7-9). 14 Doch selbst an diesem Punkt, an dem man erwarten würde, dass Paulus seine Gedanken über den Status der Heiden und über die Rolle der Beschneidung äußert, schweigt der Verfasser über diese Themen. Ich möchte dieses Schweigen mit dem nicht bellenden Hund in Sir Arthur Conan Doyles berühmter Geschichte »Silver Blaze« aus Sherlock Holmes vergleichen. Das Schweigen des Verfassers schwächt die Plausibilität der These Rothschilds. Rothschilds These bleibt den Beweis schuldig. Es ist schwer zu belegen, dass eine Nachahmung und Anspielung auf Paulus bis hin zur intendierten Pseudepigraphie (d. h. zur bewussten Absicht des Verfassers, seine Schrift als die des Paulus zu präsentieren) vorliegt, vor allem wenn eine explizite Verfasserzuschreibung fehlt. Nichtsdestoweniger gibt ihr Buch der Forschung neue Impulse, mögliche Einflüsse paulinischer Tradition auf den Verfasser eingehender zu ergründen. Andere, kürzlich erschienene Untersuchungen haben die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der griechisch-römischen Kultur für das Verständnis des Hebräerbriefes gelenkt. Patrick Gray etwa untersucht die Verwendung der Konzepte Furcht und Furchtlosigkeit im Hebräerbrief, wie sie für die hellenistische Moralphilosophie typisch sind. 15 Hauptsächlich geht es um das Motiv der Furcht im moralphilophischen Diskurs zum Aberglauben, vor allem bei Plutarch. Namentlich geht es Gray darum, wie Furcht das Verhalten im Angesicht von Leiden und Tod bestimmt und die Haltung zur Gottheit prägt. Es gelingt ihm, mit gebührendem Abstand zur parallelomania Analogien und Differenzen herauszuarbeiten. Nach Gray ist es eines der Ziele des Hebräerbriefes aufzuzeigen, dass der Glaube an Jesus keine Form des Aberglaubens ist, sondern vielmehr-- auf Grundlage der sühnenden Tat Jesu-- die angemessene Balance zwischen der Furcht vor Gott und dem Glauben an Gott bildet. Diese »Gottesfurcht« (eulabeia) ermöglicht es dem Glaubenden, so in der Welt zu leben, wie es Gott gefällt. Jason A. Whitlark wendet das antik-mediterrane Denken in reziproken Beziehungen auf das Motiv der Geduld im Hebräerbrief an. 16 Whitlark zeigt einerseits, dass der Hebräerbrief einen kulturellen Hintergrund voraussetzt, in dem Loyalität und Treue durch die Etablierung reziproker Verpflichtungen (besonders durch das Mittel geschuldeter Dankbarkeit) gesichert werden, und zwar sowohl zwischen den Angehörigen verschiedener sozialer Schichten wie auch im Verhältnis zu Gott/ den Göttern. Auf der anderen Seite betont Whitlark, dass der Verfasser des Hebräerbriefes diese sozialen Mechanismen äußerst kritisch beurteilt und an einem zentralen Punkt sogar bestreitet, dass sie überhaupt funktionieren: Whitlark führt aus, dass die Reziprozitätssysteme auf dem Glauben basieren, dass man Menschen dazu veranlassen kann, in ihren Bindungen und Beziehungen ergeben und treu zu bleiben (er bezeichnet dies als eine optimistische Anthropologie). Im Gegensatz dazu vertrete der Hebräerbrief eine pessimistische Anthropologie, nach der die Menschen aus eigener Kraft nicht treu sein und in ihren Bindungen und Verpflichtungen ausharren könnten, besonders nicht gegenüber Gott. Der Verfasser habe sich diese Sichtweise aus jüdischer Perspektive angeeignet. Nach seiner Auffassung könne keine göttliche Wohltat groß genug sein, um dauerhafte menschliche Treue zu motivieren, weil die Menschen aus eigenem Vermögen nicht in der Lage sind, ihre Verpflichtungen innerhalb von Beziehungen zu erfüllen. Nur wenn Gott selbst Menschen dazu befähigt dadurch, dass er die menschliche Verfassung grundlegend ändert, können Menschen treu sein. Nicht durch die Verpflichtung zur Dankbarkeit wird Treue möglich, sondern durch den von Gott selbst gestifteten neuen Bund, der eine bis in den Bereich des Gewissens reichende Sündenvergebung umfasst. Als letztes Beispiel eines neuen Zugangs zum griechisch-römischen Hintergrund des Hebräerbriefes sei Kevin B. McCrudens Untersuchung angeführt. McCruden befasst sich mit der Sprache der Vollendung (teleioun) in den Papyrusurkunden aus Ägypten im Blick auf einen möglichen Gewinn für das Verständnis des Hebräerbriefes. Er führt aus, dass das Verb teleioun (»vollenden«) in juristischen Kontexten einen Nachweis bezeichnet (d. h. eine bindende und öffentlich zugängliche Bestätigung), dass ein Vertrag oder eine andere rechtlich bindende Verpflichtung (wie z.-B. eine Geschäftsabwicklung oder ein Kredit) auf solche Weise getätigt wurde, dass sie gültig und rechtskräftig sind. Die Bedeutung für den Hebräer- »Andere, kürzlich erschienene Untersuchungen haben die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der griechischrömischen Kultur für das Verständnis des Hebräerbriefes gelenkt.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 5 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 5 David M. Moffitt Der Hebräerbrief im Kontext der neueren englischen Forschung brief sieht er darin, dass die Liebe Jesu für die Menschen in seinem Leiden und Sterben öffentlich dargestellt und bestätigt-- vollendet-- wurde. Das bedeute letztlich, dass die Vollendung Jesu nicht so sehr eine Aussage über sein Geschick als über seinen Charakter ist. 17 McCruden eröffnet der Forschung mit seiner Untersuchung der Papyri einen neuen Zugang zur Vorstellung der Vollendung Jesu im Hebräerbrief und erinnert außerdem an die weitreichende Bedeutung dieses nichtliterarischen Materials für die Erhellung der Sozialgeschichte des frühen Christentums. Er rechnet damit, dass die Anwendung eines juristischen terminus technicus auf die Erklärung des Hebräerbriefes in der Forschung nicht unwidersprochen bleiben wird, und betont, dass seine Ergebnisse einer Überprüfung am Text des Hebräerbriefes standhalten müssen. 18 Ein Aspekt, der von McCruden jedoch im Interesse seiner These noch eingehender bedacht werden muss, ist die Frage der Herkunft der Papyrusurkunden. Man kann nicht unbesehen davon ausgehen, dass die Benutzung eines juristischen Terminus in Fayum im frühen römischen Ägypten in der weiteren griechisch-römischen Welt in eben dieser Bedeutung bekannt war. Das wäre erst zu zeigen. Außerdem führt McCruden Stellen im Hebräerbrief auf, an denen die Bezeugung und die Gewissheit christologischer Inhalte problematisiert werden, z. B. wenn der Verfasser des Hebräerbriefes den Eid Gottes erwähnt, der den priesterlichen Status Jesu garantiert (Hebr 7,20 ff.). Er erklärt aber nicht, aus welchem Grund der Verfasser an dieser Stelle die Sprache der Vollendung nicht verwendet. Wenn die Verwendung von teleioun im Hebräerbrief für eine demonstrative Bezeugung analog zur Bedeutung in den Papyrusurkunden steht, verwundert es, warum der Verfasser nicht auch den teleioun-Begriff verwendet, wenn er Gottes demonstrative Bezeugung des priesterliches Status Jesu diskutiert. Ein weiterer konzeptueller Hintergrund des Hebräerbriefes, der neuerdings Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, ist die jüdische Apokalyptik. Freilich werden noch immer Untersuchungen dargeboten, die die fundamentale Bedeutung des Platonismus für den Hebräerbrief betonen (so z.-B. die Kommentare von Johnson und Thompson und die Einführung von Schenck), 19 doch gibt es einige ertragreiche neuere Arbeiten, die die Beziehung zwischen der Eschatologie und Kosmologie des Hebräerbriefes und den apokalyptisch orientierten Quellen eingehender betrachten. Scott D. Mackie vertritt die These, dass eine Variation der Zwei-Äonen-Eschatologie des Judentums zentral für die Ermahnungen im Hebräerbrief ist. 20 Jesu Tod und Erhöhung markierten das Ende des gegenwärtigen, begrenzten Äons und das Hereinbrechen des kommenden, ewigen Äons, des Königreiches Gottes. Die Fülle des ewigen Lebens wird erst noch kommen, aber schon jetzt leben die Gläubigen in den »letzten Tagen« (Hebr 1,2). Mackie ordnet in seiner Monographie durchgängig die mahnenden Abschnitte und die Hohepriester-Christologie dem Beginn des Eschatons zu, das maßgeblich durch den Tod und die Erhöhung Jesu angebrochen ist. Die mahnende Bedeutung des anbrechenden Äons wird in vielerlei Hinsicht spürbar. So rühre die dringliche Sprache des Verfassers (vgl. vor allem 9,24-28 und 10,19-39) unmittelbar von seiner Überzeugung her, dass die Fülle des kommenden Äons in jedem Moment sichtbare Wirklichkeit werden könne. Die eindringliche Mahnung, weiterzugehen und nicht zurückzufallen, rührt von diesem Bewusstsein der Nähe des neuen Äons her. Die Stellung der Adressaten zu Gott wird für die Ewigkeit und unwiderruflich festgelegt, sobald sich der Übergang ins Eschaton ereignet. Diese von Naherwartung gekennzeichnete Eschatologie ist jedoch nicht nur Anlass für dringliche Ermahnungen. Der hohepriesterliche Status Jesu verheißt die Verwirklichung eines himmlischen Äons und ist deshalb ebenso Anlass für Ermutigung und Hoffnung. Dass Jesus bereits in diese Wirklichkeit eingetreten ist, dass sie bald für alle offenbart wird, und dass er als Hoherpriester wirkt, bedeutet für die Leser, dass sie schon jetzt der Erlösung und der Kraft des neuen Äons teilhaftig werden können. Weil Jesus bereits im himmlischen Heiligtum weilt, haben die Adressaten direkten Zugang zu Gott. Darüber hinaus ist der Hohepriester zugleich der inthronisierte Sohn Gottes. Die Leser könnten also Trost darin finden, dass der herrschende Jesus auch ihr Bruder ist. Mackies Monographie argumentiert plausibel für den Einfluss jüdischer apokalyptischer Eschatologie auf den Hebräerbrief. Seine Zwei-Äonen-Terminologie mag die apokalyptische Periodisierung des Judentums, in der die Geschichte häufig in verschiedene separate Äonen eingeteilt wird, nicht völlig angemessen wiedergeben (man beachte, dass Hebr 9,26 nicht vom Ende des Äons sondern vom Ende der Äonen spricht), doch sein übergeordnetes Argument für die Maßgeblichkeit des letzten Äons in Relation zum vorhergehenden ist gleichwohl zutreffend. Seine Untersuchung trägt somit wichtige Aspekte zu unserem Verständnis des Hebräerbriefes bei, indem er aufzeigt, dass das ethische Element des Briefes von der apokalyptischen Eschatologie nicht getrennt werden kann. Die Ethik wird durch die Eschatologie begründet und an ihr ausgerichtet. Eric F. Masons Arbeit über den Einfluss des jüdischen Messianismus auf die priesterliche Christologie Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 6 - 4. Korrektur 6 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Neues Testament aktuell des Hebräerbriefes untersucht auf ähnliche Weise die Analogien zwischen dem Hebräerbrief und der von apokalyptischen Vorstellungen geprägten jüdischen Literatur. Mason zieht verschiedene Texte des Judentums aus der Zeit des zweiten Tempels heran (vor allem Texte aus Qumran), die priesterliche messianische Traditionen und die Vorstellung des Melchisedek als einer Engelsfigur enthalten. Er vertritt die These, dass die in diesen Schriften belegte Reflexion über Melchisedek die naheliegendste Analogie für die priesterliche Christologie im Hebräerbrief darstellt. Er vermeidet es jedoch, eine direkte Abhängigkeit des Hebräerbriefes von den Schriften aus Qumran zu postulieren. Stattdessen schlägt er vor (und dies erscheint mir plausibel), dass diese Texte Variationen der Messias- und Melchisedek-Traditionen darstellen, die dem Verfasser des Hebräerbriefes bekannt waren. Von besonderem Interesse ist die Vorstellung einer himmlischen Priesterschaft, die sich aus Engeln und Melchisedek als einem der höchsten Engel rekrutiert (Vgl. das aramäische Levi-Dokument, Testament Levis, Sabbatliturgie, 11Q Melchisedek). Derartige Vorstellungen liegen auch dem Hebräerbrief zugrunde, wenn Jesus als der große himmlische Hohepriester dargestellt werde. Ein weiterer Punkt, der hier bezüglich des jüdischen Hintergrunds des Hebräerbriefs angesprochen werden sollte, ist mein eigener Vorschlag zur Frage nach der Intention des Verfassers. In meiner kürzlich erschienenen Monographie, die ich unten diskutiere, beschäftige ich mich direkt mit dem Einfluss der jüdischen Apokalyptik. 21 In meinem Aufsatz hingegen konzentriere ich mich auf die Bedeutung der himmlischen Sphären im Zusammenhang mit Jesu Hohepriesteramt. Ich ziehe die Möglichkeit in Betracht, dass das Herz der Predigt eine Apologie für die Legitimität des hohepriesterlichen Status Jesu ist. 22 Ein Problem, mit dem die frühen Christen im jüdischen Kontext konfrontiert wurden, wenn sie über Jesus als einen Priester sprachen, war das der Genealogie. Jesus kam aus dem Stamm Juda-- ein Stamm, über den Mose hinsichtlich eines etwaigen priesterlichen Dienstes keine Aussage macht (Hebr 7,14). Mit anderen Worten liegt es nicht auf der Hand, dass Jesus ein Priester sein konnte (geschweige denn ein Hohepriester); das Mosaische Gesetz verbietet es ihm, am Altar zu dienen. Der Verfasser ist sich bewusst, dass nach dem Gesetz nur Nachkommen Aarons als Priester dienen dürfen (Vgl. Hebr 7,1-14; 8,4). Er tut das Gesetz aber nicht einfach ab, indem er behauptet, dass Mose keine Autorität habe, Jesus das Hohepriesteramt zu untersagen (Vgl. vor allem 8,4; hier verbietet das Gesetz, dass Jesus ein Priester auf Erden ist). Stattdessen konstruiert der Verfasser ein exegetisches Argument, um zu beweisen, dass Jesus ein Priester sein kann, nämlich weil es ein anderes Priesteramt gibt-- das des Melchisedek. Melchisedek war nicht Priester aufgrund seiner Genealogie. Er hatte nicht einmal eine Genealogie (7,3.6). Außerdem war er Priester, bevor Levi überhaupt geboren wurde, und man kann sagen, dass, als Abraham Melchisedek (dem Vorfahre Levis) den Zehnten gab, Levi und seine Nachkommen Melchisedek den Zehnten gaben (7,9 f.). Die Strategie des Verfassers ist es zu zeigen, dass Jesus zur gleichen Priesterordnung (Ps 110,4; Hebr 5,6.10; 6,20; 7,16) wie Melchisedek gehört. Dieses Priesteramt ist offenkundig nicht genealogisch begründet (da sonst Melchisedek nicht dazu gehören könnte), sondern durch die Befähigung, für immer Priester zu »bleiben« (Vgl. 7,3 und 7,23f ), aufgrund immerwährenden »Lebens« (Vgl. 7,8 und 7,16.25). Da Jesus diese Qualität des unzerstörbaren Lebens hat (7,16), wird er als Priester in Melchisedeks Ordnung ausgezeichnet. Damit wäre bewiesen, dass die genealogischen Vorschriften des Gesetzes Jesus nicht daran hindern, Priester zu sein, obwohl er aus dem Stamm Juda und nicht aus dem Stamm Levi kommt. Diese Beweisführung fungiert offenkundig als Legitimation des priesterlichen Status Jesu trotz der Vorschriften des Gesetzes. Fragt man sich nun, warum der Verfasser ein solches Argument überhaupt vorbringen musste, liegt es nahe, dass es jemanden gab, der das Bekenntnis, Jesus sei ein Hohepriester, auf der Grundlage des Gesetzes bestritten hat. Darüber hinaus erscheint ein solches Bekenntnis vor einem jüdischen Hintergrund, in dem das Mosaische Gesetz als autoritativ angesehen wurde, sehr wahrscheinlich. Der Verfasser des Hebräerbriefes ist also vermutlich in eine innerjüdische Debatte über Gesetz und Exegese involviert. Ich komme daher zu der Annahme, dass der Hebräerbrief in einem Kontext entstand, in dem Judenchristen von ihrem Bekenntnis zu Jesus als dem Hohepriester abgebracht wurden entweder 1) durch Juden, die Christus nicht folgten und die diesen Aspekt des Christentums als eine Schwäche betrachteten, die das ganze Bekenntnis zum Messias Jesus in Frage stellte, oder 2) durch andere Juden, die Jesus als Messias bekannten, die aber bestritten, dass er zugleich Hohepriester sei. 23 3. Theologische und hermeneutische Fragen der aktuellen Forschung Der vorangehende Abschnitt sollte einen Einblick in den derzeitigen Stand der englischsprachigen Diskussion über die relevanten Einleitungsfragen geben. Nun geht es um einige wichtige theologische und herme- Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 7 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 7 David M. Moffitt Der Hebräerbrief im Kontext der neueren englischen Forschung neutische Debatten über den Schriftgebrauch. Selbstverständlich können historische Aspekte nicht völlig vernachlässigt werden, spielen aber nachfolgend keine hervorgehobene Rolle mehr. 3.1 Das Verhältnis zum Alten Testament In den letzten zwei Jahrzehnten wurden von britischen Exegeten zwei herausragende Monographien vorgelegt, die sich mit der Benutzung der jüdischen Schriften im Hebräerbrief beschäftigen. David M. Allen (nicht zu verwechseln mit dem amerikanischen Exegeten David L. Allen, dessen Kommentar in Anm. 5 aufgelistet ist) hat in seiner Dissertation die Bedeutung des Deuteronomiums für die Ermahnungen im Hebräerbrief untersucht. 24 In Anlehnung an die aktuelle Intertextualitätsdebatte untersucht Allen, auf welche Weise der Hebräerbrief Elemente aus dem Deuteronomium aufgreift und seiner Argumentation dienstbar macht. Hierbei unterscheidet er (a) Zitate und Anspielungen (besonders aus Dtn 29 und 32), (b) deuteronomische Motive (z. B. das Land, Segen-Fluch- Metaphorik) und rhetorische Ausdrücke (z. B. Elemente einer Abschiedsrede, die auf eine neue Führungsperson hindeuten, wie Mose auf Josua-- dessen Name im griechischen Text »Jesus« ist), und (c) Gemeinsamkeiten zwischen der narrativen Situation Israels im Deuteronomium und derjenigen der Adressaten des Hebräerbriefs (z. B. die Bereitschaft der Adressaten, ins Gelobte Land einzuziehen). Allens Dissertation stellt nicht nur einen Beitrag zur Hebräerbriefexegese dar, indem er die Bedeutung des Deuteronomiums als Intertext für den Hebräerbrief ausweist. Er macht auch darauf aufmerksam, auf welch komplexe und subtile Weise ein antiker Autor die Schrift verwenden konnte. Intertextuelle Beziehungen beschränken sich keineswegs nur auf Zitate, Echos und Anspielungen. Allen macht deutlich, wie umfangreich und bedeutsam solche Beziehungen sein können. Ein weiterer wertvoller Beitrag zur gegenwärtigen Hebräerbriefforschung ist Susan E. Dochertys Arbeit über die in der frühjüdischen Exegese typische Benutzung interpretativer Strategien im Hebräerbrief. 25 Sie bringt hilfreiche Übersichten zweier wichtiger Forschungsfelder in die Diskussion ein, die unmittelbare Relevanz für das Verständnis des Hebräerbriefes hinsichtlich seines Umgangs mit der Schrift haben: Forschungen zum jüdischen Midrasch und zur Septuaginta. Docherty findet zahlreiche Parallelen zwischen den frühjüdischen, midraschischen Auslegungstechniken und denen des Hebräerbriefes, etwa die Bevorzugung biblischer Texte in der 1.Pers. (vgl. Ps 40 in Hebr 10), die Segmentierung eines biblischen Textes, um spezielle Elemente unabhängig voneinander zu untersuchen (vgl. die Segmentierung von Ps 110,4 in Hebr 7), und die Benutzung von gezerah schawah-- der Rekurs auf eine Stelle, um eine andere durch ein Stichwort zu interpretieren (vgl. Ps 96,11 and Gen 2,2 in Hebr 4,3ff ). Ihre Untersuchung beruht vor allem auf den Analysen von A. Sameley, A. Goldberg und P. Alexander. Zu Recht vertritt sie die Auffassung, dass der Verfasser des Hebräerbriefes, genau wie andere jüdische Schriftausleger, großen Respekt gegenüber dem genauen Wortlaut der Schrift hat. Zusätzlich zeige er eine genaue Kenntnis des größeren Kontexts der Passagen, die er zitiert. Frühjüdische Ausleger konnten erstaunlicherweise eine biblische Passage problemlos als eine Sammlung göttlicher Aussprüche und zugleich als Teil eines größeren, kohärenten Ganzen verstehen. Dochertys Untersuchungen zur Septuaginta sind ebenso bedeutend. Insbesondere betont sie, dass es nicht die eine »Septuaginta« gegeben hat (d. h. nicht eine klar umrissene, fixierte griechische Übersetzung der jüdischen Bibel). Stattdessen gibt es Hinweise auf verschiedene Textversionen. Es besteht für jedes Zitat die Möglichkeit einer Abweichung im Text, wie er dem Verfasser vorlag, zu dem Text, wie wir ihn heute kennen. Abweichungen, die durch Fehler beim Abschreiben entstanden sind, kommen hinzu. Diese Einsichten haben große Bedeutung für die Frage der Benutzung des Alten Testaments im Hebräerbrief. Wir können vor allem nicht schlussfolgern, dass der Verfasser den biblischen Text verändert hat, wenn ein Unterschied zwischen seinem Zitat und der Version festgestellt werden kann, die in Rahlfs’ Septuaginta vorkommt (oder in den kritischen Editionen von Cambridge und Göttingen). Docherty führt überzeugende Argumente dafür an, dass der Verfasser des Hebräerbriefes wahrscheinlich sehr wenige Änderungen an den Texten, die er zitiert, vorgenommen hat. Auch die Beachtung kleiner Details der Schrift durch den Verfasser verstärkt die Schlussfolgerung, dass er sehr wenige Eingriffe in den Wortlaut der Zitate vorgenommen habe, um sie für seine Zwecke nutzbar zu machen. Unterschiede zwischen der Septuaginta, wie wir sie kennen, und »In den letzten zwei Jahrzehnten wurden von britischen Exegeten zwei herausragende Monographien vorgelegt, die sich mit der Benutzung der jüdischen Schriften im Hebräerbrief beschäftigen.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 8 - 4. Korrektur 8 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Neues Testament aktuell den biblischen Zitaten im Hebräerbrief sind mit der speziellen Handschrift der griechischen Bibel, die der Verfasser benutzte, zu erklären. Dochertys exzellente Monographie leidet etwas an der Begrenzung ihres Gegenstandes. Sie beschränkt sich im Wesentlichen auf die in den ersten vier Kapiteln verwendeten Zitate. Eine umfassendere Analyse des Hebräerbriefes hätte ihren Thesen mehr Überzeugungskraft verliehen. Dennoch hat ihre Arbeit das Potential, einige verbreitete Auffassungen vom Hebräerbrief und seiner Benutzung des Alten Testaments zu korrigieren. Zumindest müssen die Annahmen über die Leichtfertigkeit, mit der der Verfasser den Wortlaut der Schrift im Interesse seiner christologischen Vorannahmen verändern konnte, neu geprüft werden. 3.2 Studien zur narrativen Struktur des Hebräerbriefes Substantielle Beiträge zu unserem Verständnis einiger literarischer Besonderheiten im Hebräerbrief datieren in das vergangene Jahrzehnt. Von besonderer Wichtigkeit sind Arbeiten zu Struktur, Rhetorik und narrativer Grundierung des Briefes. In ihrer 2005 erschienenen Arbeit zur Struktur des Hebräerbriefes hat Cynthia L. Westfall den Hebräerbrief aus diskursanalytischer Sicht untersucht. 26 Mit der Diskursanalyse soll erklärt werden, wie formale (d. h. morphologische) Kategorien und lexikalische Entscheidungen in Diskursen dazu dienen, bestimmte Themen hervorzuheben und Bedeutungszusammenhänge herzustellen. Westfall arbeitet sich planvoll durch den Brief, wobei ihr besonders das gehäuft verwendete ermahnende »lasst uns« (Verb im Konjunktiv) in Kapitel 4 (vgl. 4,1.11-16) und 10 (vgl. 10,22 ff.) auffällt. Sie zeigt, dass diese Anhäufungen der ermahnenden Rede eine Klimax im Diskurs signalisieren. Die Wiederholung und Anhäufung dieses morphologischen Phänomens im Hebräerbrief dient der Einschärfung der Botschaft. Zugleich fungieren sie als Gliederungssignale, die die Adressaten über Struktur und Fortschritt des Gedankengangs orientieren. Sie entdeckt eine dreiteilige Struktur im Brief (durch die überschneidenden Diskurshöhepunkte markiert), die aus drei Themen bestehen und mit den Ermahnungen korrespondierten: (a) Jesus ist ein Apostel/ Bote, also »lasst uns« am Bekenntnis festhalten (1,1-4,16), (b) Jesus ist Hoherpriester, also »lasst uns« vor Gott treten (4,11-10,25), und (c) die Adressaten sind mit Jesus verbunden, also »lasst uns« geistlich wachsen (10,19-13,16). Westfalls Beitrag demonstriert das interpretatorische Potential der Diskursanalyse für das Verständnis der Botschaft des Hebräerbriefes. Kenneth L. Schencks Einführung zum Hebräerbrief wurde bereits erwähnt. Mit Akribie untersucht Schenck die narrativen Elemente der Epistel. In seiner Dissertation erfährt die narrative Struktur des Hebräerbriefes eine noch ausführlichere Analyse. 27 Anstatt sich einem Ansatz zum kulturellen Hintergrund der Schrift wie dem Platonismus oder der jüdischen Apokalyptik zu widmen, konzentriert sich Schenck auf die narrative Welt des Hebräerbriefes. Er zeigt, dass ein narrativer Zugang zum Hebräerbrief ermöglicht, das zeitliche Setting (Eschatologie) und das räumliche Setting (Kosmologie) des Plots zu identifizieren. Für das zeitliche Setting ist der Tod Jesu das entscheidende Ereignis, das die Richtung der Heilsgeschichte auf die Verherrlichung der Menschheit und die Vollendung aller Dinge neu ausrichtet. Die Geschichte hat eine von Gott bestimmte Richtung, nämlich hin auf den kommenden, letzten Äon einer ewigen Ruhe und Gottesgemeinschaft. Hinsichtlich des räumlichen Settings sind die Sphären des Himmels und der Erde entsprechend als die Sphäre der ewigen Wirklichkeit bzw. der temporären Existenz zu verstehen. Der Tod und die Erhöhung Jesu in den Himmel werden im Sinne der Hohepriester-Metapher entfaltet. Dieser interpretatorische Schritt ermöglicht es dem Verfasser, das historische Ereignis des Todes Jesu als ein Opfer auszuweisen, das sich im sakralen Raum des göttlichen Heilsplanes ereignet hat. Das übergeordnete Ziel sei es, zu zeigen, dass die Sphäre der Ewigkeit dem Heilsverlangen der Adressaten mehr entspricht als die irdische Sphäre, die der Zerstörung anheim fällt. Da die Adressaten in der Zeit des Übergangs leben, befinden sie sich mitten in diesem Plot. Ihre irdische Existenz ist von der Wirklichkeit der Erlösung in Jesus umgeben. Sie bewegen sich stetig (oder sollten sich bewegen) auf den letzten Äon und ihren endgültigen Eingang in die himmlische Sphäre zu. Schenck verortet einen solchen Plot, der der paränetischen Rhetorik des Hebräerbriefes zugrunde liegt, in der Zeit nach der Zerstörung des Tempels 70 n.-Chr., in der die Christen der Vergewisserung ihres Glaubens bedurften. Wie auch immer sein Ansatz im Einzelnen zu beurteilen ist, seine Arbeit stellt in jedem Fall einen anregenden und wichtigen Beitrag dar. Schenck richtet seine Aufmerksamkeit vor allem auf die Bedeutung der zugrundeliegenden, narrativen Strukturen. Anstatt zu- »Substantielle Beiträge zu unserem Verständnis einiger literarischer Besonderheiten im Hebräerbrief datieren in das vergangene Jahrzehnt.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 9 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 9 David M. Moffitt Der Hebräerbrief im Kontext der neueren englischen Forschung erst das Problem des historischen Hintergrunds zu lösen, betont er zu Recht die Bedeutung der narrativen Welt des Hebräerbriefes und des theologischen Interesses des Verfassers als die primären Ziele seiner exegetischen Bemühungen. 3.3 Fragen zur Substitutionstheologie und der Beziehung des Hebräerbriefs zum Judentum Die bisherige Untersuchung hat sich vorwiegend mit Monographien zum Hebräerbrief befasst. Es wurden in letzter Zeit auch zahlreiche Aufsätze und Sammelbände herausgegeben, die die Diskussion wesentlich bereichern. 28 Drei Aufsätze zu Fragen, die die Forschung dauerhaft beschäftigen, sollen eingehender besprochen werden: Steht der Hebräerbrief für einen Bruch mit dem Judentum? Ist er ein Beispiel für frühchristliche Substitutionstheologie? In der modernen Auslegung war es lange üblich, den Hebräerbrief als eines der frühesten und kompromisslosesten Beispiele eines christlichen Triumphalismus zu begreifen. Als eindeutiger Beleg für Substitutionstheologie galt die Deutung des Todes und der Erhöhung Jesu: Der Tod Jesu macht das levitische Opfer überflüssig und entspricht damit einer Substitutionsvorstellung. Gott habe in der Vergangenheit auf vielfältige Weise zu seinem Volk Israel gesprochen, aber nun habe er es beiseite geschoben und durch die Kirche ersetzt. A. J. M. Wedderburns 2005 im Journal of Theological Studies veröffentlichter Aufsatz steht genau in dieser Tradition. 29 Wedderburn vermeidet den Begriff Substitutionstheologie konsequent. Die These des Aufsatzes lautet jedoch, dass der Verfasser des Hebräerbriefes einen radikalen Bruch mit den Institutionen und der Praxis des antiken Judentums vollzogen habe. Wedderburn argumentiert, dass die Theologie des Hebräerbriefes auf der einen Seite auf der Vorstellung des sühnenden Blutritus beruhe, auf der anderen Seite aber diese Vorstellung dekonstruiert, indem Jesus als derjenige dargestellt wird, der in die himmlische Sphäre eintritt und den Blutritus obsolet macht. Der Verfasser des Hebräerbriefes habe damit den theologischen Ast, auf dem er saß, abgesägt. Für Wedderburn stellt dies nicht notwendig ein Problem dar; nur habe der Verfasser nicht bemerkt, dass er damit seine eigenen Argumente entkräftet habe. Indem er die jüdischen Voraussetzungen seines theologischen Vorhabens destruierte, habe er unabsichtlich auch sein eigenes Vorhaben untergraben. Richard B. Hays hat sich in einem Aufsatz direkt mit der Frage der Substitutionstheologie auseinandergesetzt. 30 Hays revidiert seine frühere Position zum Hebräerbrief 31 und meint nun, dass der Hebräerbrief weder Polemik gegen Juden oder jüdische Autoritäten enthält noch die Haltung suggeriert, dass das Volk Gottes durch eine neue Gruppierung ersetzt worden sei. Der Verfasser vertrete jedoch die Ansicht, dass ein zentrales Element der jüdischen Religionspraxis (das Opfer) für die Vergebung unzureichend und nicht länger notwendig ist. Er verweist damit auf die Einrichtung eines neuen Bundes, der den vorhergehenden Bund als »veraltet« und »dem Ende nahe« qualifiziert (8,13). Aber sind solche Aussagen nicht charakteristisch für die Substitutionstheologie? Hays würde dem nicht zustimmen. Seiner Ansicht nach setzt der Hebräerbrief nicht das »Christentum« gegen das »Judentum«. Der Text sei am besten zu verstehen als New Covenantalism einer jüdischen Sondergruppe. 32 Zwar konstatiert der Verfasser eindeutig die Überlegenheit Jesu als Messias über andere jüdische Figuren und Institutionen, doch müssen diese Aussagen, analog zu den Qumrantexten, innerhalb des Judentums und seiner verheißungsorientierten Schriftauslegung positioniert werden. Der Verfasser erfindet den neuen Bund nicht. Er findet diese Verheißung in Jeremia 31 (38LXX) vor. Er glaubt, dass Gottes neuer Bund, der nach Jeremia mit dem Haus Juda und dem Haus Israel geschlossen wird (Hebr 8,8), durch das, was Jesus getan hat, in Kraft gesetzt wurde. Damit will er zeigen, dass Jesu Tod und Auferstehung die große Narration von der Erlösung Israels durch Gott voranbringt. Ist diese Sicht des Verfassers christologisch motiviert, so ist seine Argumentationsweise exegetischer Art. Die Schriften selbst, so will er zeigen, haben auf die neue, in Jesus Christus eröffnete Wirklichkeit hingewiesen. Gegen Wedderburn ist einzuwenden, dass der Hebräerbriefes nicht einfach gedankenlos das Judentum transzendiert und kritisiert und dennoch seine Argumentation auf zentrale Annahmen des jüdischen Glaubens und der jüdischen Praxis gründet. Der Verfasser versucht vielmehr zu zeigen, dass die Verheißungen der Schrift über sich selbst auf eine kommende, ewige Wirklichkeit hinausweisen. In diesem Sinne schlägt Hays vor, den Hebräerbrief als ein self-consuming artifact 33 zu verstehen-- als eine Botschaft, die bewusst ihre Leser herausfordert, seit langem bestehende Positionen zu überdenken, um die größere Wirklichkeit zu erkennen, auf die diese Positionen vorausweisen. »Steht der Hebräerbrief für einen Bruch mit dem Judentum? Ist er ein Beispiel für frühchristliche Substitutionstheologie? « Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 10 - 4. Korrektur 10 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Neues Testament aktuell Pamela M. Eisenbaum hat ähnlich wie Hays ihre früheren Annahmen über die Beziehung des Hebräerbriefes zum Judentum überdacht und wendet nun einige Erkenntnisse neuerer Studien zum »parting of the ways« auf den Hebräerbrief an. 34 Forscher wie Daniel Boyarin haben ältere Annahmen über eine frühe, klare Unterscheidung zwischen einer »jüdischen« und einer »christlichen« Identität und entsprechenden Gemeinschaften in Frage gestellt. Basierend auf einigen kurzen Vergleichen zwischen dem Hebräerbrief und Texten aus dem 2. Jh. führt Eisenbaum Gründe dafür an, dass der Hebräerbrief selbst aus dem 2. Jh. stamme. Sie zieht in Betracht, dass der Hebräerbrief nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem in einer Zeit verfasst wurde, in der zwischen Juden und Christen noch nicht unterschieden werden konnte, so z. B. während der Verfolgung durch Rom, als christliche und jüdische Gemeinden sich selbst noch nicht als abgegrenzte Entitäten wahrgenommen haben. Vielleicht wurden entstehende Grenzen zwischen »jüdischen« und »frühchristlichen« Gemeinden sogar wieder aufhoben, da man einen gemeinsamen Feind hatte. Der gemeinsame Feind und das gemeinsame Verlustgefühl infolge der Tempelzerstörung mag ein Gefühl der Verbundenheit zwischen »jüdischen« und »christlichen« Gemeinden gestiftet haben. In diesem Sinne sei die »Substitutionstheologie« des Hebräerbriefes keinesfalls als ein frühes Beispiel einer antijüdischen Ersetzungstheologie zu verstehen (wie sie im Barnabasbrief vorliegt), sondern vielmehr »als verzweifelter Versuch, sich ein religiöses Erbe, das verloren schien, neu anzueignen«. 35 Der Hebräerbrief reflektiere also ein frühes Judenchristentum, und versuche, die Menschen, die an Jesus glauben, im Angesicht von Verlust und erfahrener Verfolgung zu trösten. Der Hebräerbrief enthalte keine ablehnende Polemik gegen die Juden, denn er stamme aus einer Zeit »bevor eine jüdische und christliche Rhetorik den Ton angab, die feste Grenzen zwischen Judentum und Christentum konstruierte« 36 . Die Datierung Eisenbaums wird ohne aussagekräftigere Belege kaum überzeugen können. Gleichwohl stellen ihre Betrachtungen zum Text, die dem neuerdings geschärften Bewusstseins von den Schwierigkeiten einer frühen Trennung zwischen Juden und Christen Rechnung tragen, einen wichtigen Beitrag zum Verständnis des Hebräerbriefes dar. An ihrem behutsamen Umgang mit dem Text bei der Erörterung dieser Frage mag künftige Forschung Maß nehmen. 3.4 Opfer und Auferstehung Ein letzter erwähnenswerter Bereich der gegenwärtigen Forschung ist die Untersuchung jüdischer Opferpraktiken und Konzepte kultischer Reinheit. Mehrere deutschsprachige Forscher (z. B. Bernd Janowski, Christian Eberhart, Rolf Rendtorff und Ina Willi-Plein) haben auf diesem Feld wichtiges beigetragen. Einige haben ihre Erkenntnisse auf den Hebräerbrief angewendet, nach meiner Kenntnis ausschließlich in englischsprachigen Veröffentlichungen. 37 Ich greife hier zwei Aufsätze von Christian Eberhart und Ina Willi-Plein auf. 38 Beide stellen fest, dass die Tötung des Opfertieres weder der Höhepunkt noch das sühnende Moment im jüdischen Blutopfer ist. Der rituelle Umgang mit dem Blut, das bei der Tötung gewonnen wird, sei das eigentlich Zentrale. Eberhart äußert, dass »es der Besprengungsritus ist, der die Reinigung bewirkt«. 39 Darüber hinaus repräsentiere das Blut nach Lev 17,11 nicht den Tod des Opfertieres, sondern sei vielmehr als das Element zu verstehen, welches das Leben des Opfertieres trägt. Das Besprengen des Altars mit Blut, d. h. die Opferung von Blut, bewirkt die Reinigung von den Sünden durch die Darbringung nicht eines toten Tieren, sondern des im Blut enthaltenen Lebens des Tieres. Willi-Plein antizipiert und erläutert meine eigene Ansicht, wenn sie darlegt, dass vom Standpunkt eines Alttestamentlers aus die im Hebräerbrief benutzte Sprache des Blutopfers impliziere, dass »Christus das himmlische Heiligtum nicht durch eine rituelle Tötung, nicht einmal durch sein Selbstopfer betreten habe, sondern durch die Darbringung von unverdorbenem Leben.« 40 Eberhart schärft diesen Punkt noch, indem er sagt: »In der Bildersprache des Opfers ist der Tod Christi nicht das eigentliche Heilsereignis, sondern die Voraussetzung für die Darbringung von Blut« 41 . Zumal Eberhart ist davon überzeugt, dass die Benutzung von Opfersprache im Hebräerbrief eine Metapher ist, um die Bedeutung des Todes Jesu zu erhellen. Nicht in Gänze ist hierbei erfasst, wie der Hebräerbrief auf den Ritus des Versöhnungstages rekurriert. Dennoch tragen Eberhart und Willi-Plein in ihren Aufsätzen Wichtiges zur Diskussion bei, vor allem indem sie daran erinnern, dass das jüdische Blutopfer, welches die Tötung eines Tieres voraussetzt, nicht auf die Tötung zu reduzieren ist. Die Tötung des Tieres bewirkt nicht die Sühne, sondern die Darbringung des Lebens/ Blutes des Tieres bewirkt die Reinheit. Meine eigene Arbeit zum Hebräerbrief bestätigt diese von Eberhart und Willi-Plein vorgestellte Logik des Opferritus. 42 In meiner kürzlich veröffentlichten Untersuchung vertrete ich die Ansicht, dass die Forschung weithin die Bedeutung der Auferstehung und Himmelfahrt des menschlichen Leibes Jesu vernachlässigt habe. Das Menschsein Jesu ermöglicht ihm, so die Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 11 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 11 David M. Moffitt Der Hebräerbrief im Kontext der neueren englischen Forschung Lesart von Ps 8 in Hebr 2, über die Engel erhöht zu werden. Die Auferstehung Jesu vollendet sein sterbliches Menschsein, nicht der Verlust oder die Auflösung seines Blutes und Leibes. Analog zu einigen anderen apokalyptischen Texten, in denen die Transformation und Verherrlichung des menschlichen Leibes es dem aufsteigenden Menschen ermöglicht, in die Gegenwart Gottes zu gelangen und eine den Engeln übergeordnete Stellung einzunehmen, ermöglicht es auch Jesu Auferstehung, dass er in Gottes Gegenwart kommt und dort für immer bleibt. Diese Annahme erklärt m.- E., wie Jesus die Sühne vollzieht und wie es sich der Verfasser vorstellt, dass Jesus ein sühnendes Opfer darbietet. Jesus bietet sich selbst Gott im himmlischen Heiligtum dar, lebend und vollkommen rein. Jesu Tod ist ein notwendiger Aspekt dieses Opfergeschehens, aber der Fokus der Darbietung vollzieht sich, genau wie der Verfasser des Hebräerbriefes darlegt, im Himmel. Die Beurteilung meiner Arbeit überlasse ich anderen. Ich meine jedoch, dass meine Lektüre des Hebräerbriefes, wenn sie denn einigermaßen das Richtige trifft, die herausragende Bedeutung der jüdischen Apokalyptik und der jüdischen Opferkategorien für den Verfasser und wahrscheinlich auch die Adressaten vor Augen führt. Wie auch immer die genaue Konstitution und Herkunft der ursprünglichen Adressaten zu beschreiben ist, die Lesart, die ich vorschlage, impliziert, dass der Verfasser die Validität der jüdischen Schrift und die Logik der jüdischen Opfertheologie annimmt. Es ist Jesu auferstandenes Leben (etwas, das er nur aufgrund seines Todes hat) und nicht sein Tod per se, der die Sühne für seine Brüder und Schwestern ermöglicht. 4. Schlussfolgerung Ich habe einige Arbeiten zum Hebräerbrief vorgestellt, die in den ersten Jahren des 21. Jhs. erschienen sind. Dem Hebräerbrief ist in den letzten Jahrzehnten nicht nur gesteigerte Aufmerksamkeit widerfahren. Die besprochene Literaturauswahl zeigt auch, dass die Forschung vielfältige, innovative und inspirierende Zugänge zu einigen alten Fragen gefunden hat, die uns diese rätselhafte Epistel aufgibt. Der Hebräerbrief, verglichen mit Paulus und den Evangelien lange Zeit weithin ignoriert, bekommt nun allmählich das Interesse und den Respekt, den er verdient. Anmerkungen 1 So W. Wrede, Das literarische Rätsel des Hebräerbriefes. Mit einem Anhang über den literarischen Charakter des Barnabasbriefes (FRLANT 8), Göttingen 1906. Aufgegriffen wurde diese Bezeichnung u. a. von H.-M. Schenke, Erwägungen zum Rätsel des Hebräerbriefes, in: H. D. Betz/ L. Schottroff (Hgg.), Neues Testament und christliche Existenz, FS H. Braun, Tübingen 1973, 421-437; J. W. Thompson, The Beginnings of Christian Philosophy: The Epistle to the Hebrews (CBQMS 13), Washington 1983,-1. 2 Eine gute Forschungsgeschichte, welche die Literatur der letzten 25 Jahre des 20. Jhs. darstellt, bietet D. J. Harrington, What are they saying about the Letter to the Hebrews? (WATSA), New York 2005. 3 D. L. Allen; D. DeSilva; L.T. Johnson; C. R. Koester; P.T. O’Brien; J. W. Thompson. Auf der Ebene der theologischen Reflexion haben diese Kommentare beachtliches geleistet. 4 K. L. Schenck; A.T. Lincoln. Lincolns Arbeit zählt zu den besten knapp gehaltenen Einführungen zum Hebräerbrief, die momentan im englischsprachigen Bereich erhältlich sind. 5 Eine Ausnahme stellt D. L. Allen dar, der erneut die Argumente für eine lukanische Verfasserschaft stark gemacht hat, Vgl. Hebrews, 47-61; s. auch seine Monographie: The Lukan Authorship of Hebrews (NACSBT), Nashville 2010. Johnson, Hebrews, S. 42-44, optiert für Apollos als Verfasser, obgleich er zugesteht, dass diese Annahme rein spekulativ und nicht entscheidend für das Verständnis des Hebräerbriefes sei. 6 Der magnus consensus datiert den Hebräerbrief zwischen 60 und 90. Sowohl Koester, Hebrews, 54, als auch Lincoln, Hebrews, 40, messen dieser Datierung große Plausibilität zu. Im Gegensatz dazu halten Allen, Hebrews, 74-78; DeSilva, Perseverance, 20 f.; O’Brien, Hebrews, 15-20 und Johnson, Hebrews, 39 f., eine Datierung vor 70 für wahrscheinlicher. Letztere Option wurde vor allem am Ende des letzten Jahrhunderts mehrheitlich vertreten. Schenck hingegen plädiert für eine Datierung in die Zeit Domitians (81-96 n. Chr.), Vgl. Understanding, 104. Eine hiervon abweichende Datierung nimmt P.M. Eisenbaum vor, wenn sie für die Abfassung im zweiten Jh. argumentiert, vgl. Locating Hebrews. 7 Vgl. Koester, Hebrews, 49 f.; Lincoln, Hebrews, 38 f.; O’Brien, Hebrews, 14 f.; Schenck, Understanding, 91. 8 C. Mosser, der momentan seine Dissertation für die Publikation vorbereitet, ist dieser Schlussfolgerung in seinem Aufsatz deutlich zugeneigt, vgl. Ders., Rahab Outside the Camp, in: R. Baukham u. a. (Hgg.), The Epistle to the Hebrews and Christian Theology, Grand Rapids 2009, 383-404, hier: 404. 9 Johnson, Hebrews, 38; s. auch: DeSilva, Perseverance, 21 f., und Thompson, Hebrews, 7. 10 Johnson, Hebrews, 38. An dieser Stelle muss jedoch auf den Umstand hingewiesen werden, dass im Hebräerbrief-- anders als in den paulinischen Briefen-- die Heiden und die Heidenmission nicht erwähnt werden. Freilich darf dieses Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 12 - 4. Korrektur 12 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Neues Testament aktuell Schweigen argumentativ nicht ausgereizt werden, da Paulus im Galaterbrief das Argument für die völlige Eingliederung der Heiden in die Heilsgeschichte Israels entfaltet. Einige Gruppierungen des frühen Christentums konnten zweifelsohne israelspezifische Sprache auf die Heiden anwenden (z. B. 1Petr). Dennoch ist das Schweigen an dieser Stelle, vor allem im Vergleich mit den paulinischen Briefen, auffallend. Die Sprache aus Jer 31 benutzend spricht der Verfasser des Hebräerbriefes nur von einem neuen Bund »mit dem Haus Israel und mit dem Haus Juda« (8,8). 11 Vgl. C. K. Rothschild, Hebrews as Pseudepigraphon: The History and Significance of the Pauline Attribution of Hebrews, Tübingen 2009. 12 Vgl. Rothschild, Hebrews as Pseudepigraphon, 154-162. 13 Rothschild ist sich dieses Einwands bewusst. Daher konzentriert sie sich auf die Bestätigung des Evangeliums durch Wunder anstatt auf das »uns« einzugehen. Sie weist darauf hin, dass das Evangelium des Paulus in den Gemeinden durch Wunder bestätigt worden sei, so dass man den Kommentar als paulinisch verstehen könne. Außerdem zeigt sie, dass die Berufung des Paulus in Apg 9 und Gal 1 schwer vereinbar seien. Anscheinend möchte sie behaupten, dass der kurze biographische Kommentar im Hebräerbrief dazu dienen sollte, die Unstimmigkeiten dieser beiden Berichte zu glätten oder zu verwischen. Dieser Punkt scheint, sofern ich sie richtig verstehe, nicht nur an der eigentlichen Frage vorbeizugehen, sondern auch das wesentliche Problem nicht zu berücksichtigen. Es geht eben nicht um die Bestätigung des Evangeliums durch Wunder derer, die es predigen, sondern darum, dass sich der Verfasser als einer der »wir« bezeichnet, d. h. als ein Mitglied der Gruppe, welche durch die Zeichen und Wunder der Evangeliumsboten die Bestätigung der Heilsbotschaft erhalten hat. 14 Zu denken ist an moderne kritische Auslegungen des Epheserbriefes. Der Epheserbrief wird oft als ein Beispiel paulinischer Pseudepigraphie betrachtet. Im Herzen dieses Briefes wird eingängig erklärt, dass Juden und Heiden nicht länger durch das Gesetz und die Beschneidung getrennt sind. Eph 2,11-3,6 versichert, dass Jesus die Trennung durch das Gesetz beseitigt und Frieden zwischen Juden und Heiden gestiftet hat (Vgl. Kol 2,6-23; 3,11). 15 P. Gray, Godly Fear: The Epistle to the Hebrews and Greco- Roman Critiques of Superstition (AB 16), Atlanta 2003. 16 J. A. Whitlark, Enabling Fidelity to God: Perseverance in Hebrews in Light of the Reciprocity Systems of the Ancient Mediterranean World (PBM), Colorado Springs 2008. 17 S. vor allem McCruden, Solidarity Perfected, 68 f. 18 Vgl. McCruden, Solidarity Perfected, 37. 19 Damit soll nicht gesagt sein, dass diese Exegeten sich einseitig auf den Platonismus konzentrieren und die jüdische Apokalyptik gänzlich vernachlässigen. 20 S. D. Mackie, Eschatology and Exhortation in the Epistle to the Hebrews (WUNT 2/ 223), Tübingen 2007. 21 D. M. Moffitt, Atonement and the Logic of Resurrection in the Epistle tot he Hebrews, in: NTSupp 141, Leiden 2011. 22 D. M. Moffitt, Jesus the High Priest and the Mosaic Law: Reassessing the Appeal to the Heavenly Realm in the letter ›To the Hebrews‹, in: M. Caspi and J.T. Greene (Hgg.), Problems in Translating Texts about Jesus: Proceedings from the International Society of Biblical Literature Annual Meeting 2008, Lewiston 2011, 195-232. 23 Die Schriften, die mit Qumran assoziiert werden, enthalten viele Belege dafür, dass einige Juden aus der Zeit des zweiten Tempels zwei Messiasgestalten erwarteten-- einerseits den verheißenen davidischen Herrscher und andererseits den aaronitischen Priester. Eine solche Position scheint auf einen Widerstand gegen die Vorstellung hinzudeuten, dass der davidische Herrscher auch Priester ist. Die Wurzeln dieser Position sind wahrscheinlich exegetischer Art (d. h. aus dem Toraverbot ist erschlossen, dass jemand anderes als ein Levit Priester wird). Es kann hier aber auch ein politisches Problem vorliegen: Einige Juden lehnten die hasmonäische Personalunion von König und Hohempriester ab. 24 D. M. Allen, Deuteronomy and Exhortation in Hebrews: A Study in Narrative Re-Presentation (WUNT 2/ 238), Tübingen 2008. 25 S. E. Docherty, The Use of the Old Testament in Hebrews: A Case Study in Early Jewish Bible Interpretation (WUNT 2/ 260), Tübingen 2009. 26 C. L. Westfall, A Discourse Analysis of the Letter to the Hebrews: The Relationship Between Form and Meaning (LNTS 297), London 2005. 27 K. L. Schenck, Cosmology and Eschatology in Hebrews: The Settings of the Sacrifice (SNTSMS 143), Cambridge 2007. 28 Die Titel sind zu zahlreich, um sie im Rahmen dieses Aufsatzes zu besprechen. Einige der publizierten Aufsatzbände verdienen jedoch eine eigene Erwähnung. 2006 wurde eine Konferenz zum Hebräerbrief und der Christlichen Theologie in der St. Andrew’s University in Schottland abgehalten. Zwei Sammelbände sind in der Folge erschienen: R. Bauckham u. a. (Hgg.), A Cloud of Witnesses: The Theology of Hebrews in its Ancient Contexts (LNTS 387), London 2008; und: Bauckham, Epistle to the Hebrews, dazu mehrere Vorträge der SBL Hebrews Consultation der Jahre 2001 bis 2004. Diese Aufsatzbände wurden veröffentlicht in: G. Gelardini, Hebrews. Kürzlich erschienen ist der Aufsatzband zu einer Konferenz über die Benutzung der Psalmen im Hebräerbrief: J. Human/ G.J. Steyn (Hgg.) Psalms and Hebrews: Studies in Reception (LHBOT 527), New York 2010. 29 Vgl. A. J. M. Wedderburn, Sawing of the Branches: Theologizing Dangerously ad Hebraeos, JTS 56 (2005), 393-414. 30 Vgl. R. B. Hays, ›Here We Have No Lasting City‹: New Covenantalism in Hebrews, in: Bauckham, Epistle to the Hebrews, 151-173. 31 Vgl. R. B. Hays, Echoes of Scripture in the Letters of Paul, New Haven 1989, 98-99, 177. In diesem Aufsatz schätzt Hays den Hebräerbrief als »relentlessly Christological und relentlessly supersessionist« ein, 98. 32 Hays, No Lasting City, 155. 33 Hays, No Lasting City, 168-173, übernimmt die Terminologie »self-consuming artifact« von Stanley Fish. 34 Eisenbaum, Locating Hebrews. 35 Eisenbaum, Locating Hebrews, 236. Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 13 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 13 David M. Moffitt Der Hebräerbrief im Kontext der neueren englischen Forschung 36 Eisenbaum, Locating Hebrews, 237. 37 S. vor allem die Aufsätze von C. Eberhart, I. Willi-Plein und E. W. und W. Stegemann in: Gelardini, Hebrews. Gelardini selbst hat zu diesem Band einen Aufsatz beigetragen, der den Hebräerbrief als eine in den Synagogen verlesene Homilie versteht, welche die Zerstörung des Jerusalemer Tempels reflektiert. Ich habe hier keine Zusammenfassung ihrer Position vorgenommen, da ihr Beitrag auf Deutsch veröffentlicht worden ist. 38 C. Eberhart, Characteristics of Sacrificial Metaphors in Hebrews, in: Gelardini, Hebrews, 37-64; I. Willi-Plein, Some Remarks on Hebrews from the Viewpoint of Old Testament Exegesis, in: Gelardini, Hebrews, 25-35. 39 Eberhart, Characteristics, 42. 40 Willi-Plein, Viewpoint, 33. 41 Eberhart, Characteristics, 59. 42 Moffitt, Atonement. A. Francke Verlag • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen • info@francke.de • www.francke.de Stephan Hagenow Heilige Gemeinde - Sündige Christen Zum Umgang mit postkonversionaler Sünde bei Paulus und in weiteren Texten des Urchristentums Texte und Arbeiten zum Neutestamentlichen Zeitalter, Band 54 2011, 370 Seiten, € (D) 68,00/ SFr,00; ISBN 978-3-7720-8419-5 In der Gemeinde in Korinth sah sich der Apostel Paulus mit Fällen von Unzucht, dem Verkehr mit Prostituierten und einer tiefen sozialen Zerrissenheit beim Feiern des Abendmahls konfrontiert. Die Glaubwürdigkeit der ganzen Gemeinschaft und damit ihrer Botschaft stand auf dem Spiel. Zur theologischen und pragmatischen Bewältigung des Problems griff Paulus auf heiligkeitsethische, kultische und apokalyptische Deutehorizonte zurück. Diese Studie wagt den Blick hinter die oft konfessionell gefärbte Auslegung. Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 14 - 4. Korrektur 14 ZNT 29 (15. Jg. 2012) 1. Dialogizität als Konzept biblischer Theologie Als Julia Kristeva in der zweiten Hälfte der 60er Jahre des 20. Jh.s den Terminus der Intertextualität in die literaturwissenschaftliche Forschung einbrachte, interpretierte sie damit den Begriff der Dialogizität von Michail Bachtin. 1 Der Philosoph Bachtin hatte sich mit der Schreibweise Dostojewskis befasst und meinte in seinen Romanen einen ganz neuen Typus von Literatur zu finden. Kam der Stimme des Erzählers bis dahin stets die Funktion zu, die Vielzahl der Charaktere und Stimmen monologisch zu bündeln, so stünden in den Romanen Dostojewskis die Stimmen der Charaktere und die des Erzählers gleichberechtigt nebeneinander, ohne dass es eine Lösung gebe in diesem Dialog der Weltanschauungen. Diesen Dialog, der nicht auf Übereinstimmung, Vereinnahmung oder Ausgrenzung ziele, indem es dennoch um die Erschließung der Wirklichkeit gehe, bezeichnet Bachtin mit dem Kunstwort Dialogizität. 2 Gemeint ist das Aufeinanderprallen verschiedener Standpunkte, die trotz oder sogar wegen ihrer Differenzen im Gespräch bleiben. Es ist ein Desiderat der Forschung zu untersuchen, wie in den biblischen Schriften mit verschiedenen Stimmen umgegangen wird. Auf den ersten Blick wird man wohl davon ausgehen können, dass sie eher monologisch angelegt sind, also nicht verschiedene Positionen nebeneinander darstellen, sondern die eine Botschaft verkünden wollen. Wenn Paulus etwa im Galaterbrief die Position des Petrus in Antiochien darstellt, dann um die eigene Position als die widerspruchslose und deshalb wahre Position zu profilieren. Wenn die Gegner Jesu in den Streitgesprächen zu Gehör kommen, dann um ihre Positionen als die Unterlegene gegenüber Jesus Christus zu kennzeichnen. Vielleicht kommen diesbezügliche Untersuchungen einmal zu anderen Ergebnissen, 3 aber vorerst ist davon auszugehen, dass die Vielfalt der Stimmen in den biblischen Schriften der Profilierung der Position des Autors dient und ihnen kein eigenes Recht zukommt. Anders verhält es sich aber, wenn wir nicht die einzelnen Schriften auf die Frage der Dialogizität hin untersuchen, sondern sie als Stimmen im Kanon betrachten. Biblische Theologie wird nämlich durch das Konzept der Dialogizität davon befreit, die Differenz der Schriften auf Kosten einer »Mitte« oder »Einheit« der Schrift abzuschwächen oder gar zu leugnen. Wenn die einzelnen neutestamentlichen Schriften als Positionen im Dialog der Auslegung dessen verstanden werden, was denn nun angesichts des Faktums des Kreuzestodes Jesu Christi und der Überzeugung seiner Auferweckung durch den Gott Israels zu denken und zu tun ist, dann ist das sie verbindende Element nicht in einer Einheitstheologie zu suchen, sondern in dem Ereignis, dass ihnen vorausliegt und sie gleichermaßen motiviert wie es ihnen entzogen bleibt. Die Schriften, die der neutestamentliche Kanon zusammenbindet, sind Interpretanten des sie veranlassenden dynamischen Objekts der Jesus-Christus-Geschichte (E. Reinmuth). So gesehen begrenzen sich diese Schriften in ihren Geltungsansprüchen gegenseitig dadurch, dass sie durch ihre Einfügung in den neuen Zusammenhang des Kanons als eine neben anderen Stimmen verortet werden, die allesamt als Richtschnur des Glaubens wertgeschätzt werden. Fortan gilt, dass eben nicht nur Matthäus, sondern auch Markus, Lukas und Johannes, nicht nur Paulus, sondern eben auch Jakobus und Petrus, nicht nur der Hebr, sondern auch die Johannesapokalypse als Stimmen gehört werden sollen, die dem Glauben seine Richtung weisen. Das Konzept des christlichen Kanons schreibt christlicher Theologie einen inhärenten Pluralismus vor, der längst noch nicht von der theologischen Reflexion eingeholt worden ist. Dabei ist von Fall zu Fall und nicht schon vor jeder Untersuchung zu analysieren, ob hier lediglich verschiedene Formulierungen oder unvereinbare Theologien vorliegen. Luthers Einschätzung der Differenz des Jakobusbriefes zur Theologie des Paulus führte dazu, dass Luther dem Jakobusbrief die Wertschätzung als Stimme der Richtschnur christlichen Glaubens absprach. Auch den Judasbrief, den 2. Petrusbrief und die Johannesapokalypse fasste er nicht als bereichernde Diversität, sondern als die Einheit des Glaubens gefährdende Differenz auf. Stefan Alkier Hoffnung hören und sehen! Beobachtungen zur Dialogizität des Hebräerbriefes und der Johannesapokalypse Zum Thema »Das Konzept des christlichen Kanons schreibt christlicher Theologie einen inhärenten Pluralismus vor, der längst noch nicht von der theologischen Reflexion eingeholt worden ist.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 15 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 15 Stefan Alkier Hoffnung hören und sehen! Diese Urteile konnte er fällen, weil er die Stimme des Paulus zur Norm aller anderen Stimmen machte. Was geschieht aber, wenn wir lernen, nicht nur mit Diversität, sondern auch mit unaufhebbarer Differenz produktiv umzugehen? Kann nicht gerade die andere, differente Stimme die Reichweite der eigenen Aussage angemessen begrenzen, weil sie sie überhaupt erst als eine Interpretation unter anderen Interpretationen zu erkennen gibt? Kann auf diese Weise biblische Theologie nicht nur die Komplexität des Kanons besser erfassen, sondern sogar zu einem Modellfall eines aufgeklärten und qualifizierten Pluralismus werden, jenseits eines ermüdenden »anything goes«, in dem es um nichts mehr geht. Gerade der normative Anspruch des Kanons verwehrt einen alle Unterschiede gleichmachenden Pluralismus, denn er hält auch unter den Bedingungen globaler Wirklichkeiten die Wahrheitsfrage wach. Ich möchte im Folgenden versuchen, den Hebr und die Johannesapokalypse als Stimmen im Dialog des Kanons zu lesen. Dabei frage ich nach Gemeinsamkeiten, Ergänzungen und Widersprüchen. Doch hören möchte ich beide zusammen als dialogische Richtschnur des Glaubens. 2. Die Stimme des Schriftgelehrten: Positionen des Hebräerbriefes 2.1 Die Eröffnung des Diskursuniversums Der Anfang eines Textes führt in die Welt ein, die er setzt und voraussetzt. Innerhalb dieses Diskursuniversums ist eine Zusammenhang stiftende Lektüre möglich, die plausibel Sinn erzeugen kann. Mit den ersten vier Versen des Hebr zeigen sich bereits die grundlegenden Annahmen des Diskursuniversums des Hebr. Die Grundvoraussetzung des ganzen Schreibens ist der kommunizierende Gott. Sein Sprechen bildet den Zusammenhang der Welt über die Zeiten hinweg. Gott spricht auf verschiedene Weise. Er »hat zu den Vätern durch die Propheten« geredet (1,1). Da diese vielfältigen Reden Gottes durch die Propheten in den Heiligen Schriften Israels aufgezeichnet wurden, bleiben diese Worte Gottes präsent. So wird man die Schriftzitate des Hebr als präsente Worte Gottes lesen müssen, wenn man gemäß den Lektüreanweisungen des Hebr lesen will. Gott spricht aber nicht nur durch die Propheten, sondern auch »durch den Sohn, den er eingesetzt hat zum Erben über alles, durch den er auch die Weltzeiten gemacht hat« (1,2). Die Machtstellung des Sohnes als Erbe und als Medium der Schöpfung verdankt sich der souveränen Entscheidung Gottes, ihn als solchen einzusetzen. Nun gilt er als »Abglanz der Herrlichkeit« Gottes und »Abdruck seines Daseins« (1,3). 4 Kraft dieser göttlichen Ausstattung »trägt er alles durch das Wort seiner Macht«. Der Verweis auf die Schöpfung und auf das Erbe verbindet Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart miteinander und erzeugt damit den Zusammenhang der Weltzeiten im Diskursuniversum des Hebr. Die Rede Gottes durch den Sohn richtet sich an »uns«. Da der Hebr keinen Briefeingang aufweist, der die Empfänger des Schreibens benennen und damit die Reichweite des »uns« beschränken würde, bleibt es für alle Leser und Leserinnen bzw. Hörer und Hörerinnen des Hebr offen. »Uns« wird damit zur Einladung an die Rezipienten, sich in die Welt des Hebr hineinzubegeben und sich daraus neu zu verstehen. Gott hat durch seinen Sohn »am Ende dieser Tage« zu »uns« gesprochen. Die Jetztzeit ist begrenzt. Ihr Ende hat bereits begonnen. Etwas Neues, qualitativ anderes als die Gegenwart bricht an, denn das Problem im Diskursuniversum wird in Vers 3 zugleich benannt, wie als gelöst beschrieben. Sünden sind aufgetreten, doch der Sohn hat bereits Reinigung geschaffen und sich daraufhin »zur Rechten der Majestät in (den) Höhen« gesetzt. Dadurch wurde er stärker als die »Engel, wie sich der Prof. Dr. Stefan Alkier ist seit 2001 Professor für Neues Testament am Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt/ Main. 2009 erschien im Francke-Verlag als NET 12 seine Monographie: Die Realität der Auferweckung in, mit und nach den Schriften des Neuen Testaments. 2010 erschien wieder im Francke Verlag als UTB Basics sein Lehrbuch: Neues Testament. Er ist seit Heft 1 der ZNT einer ihrer drei geschäftsführenden Herausgeber. Seit 2008 gibt er zudem den neutestamentlichen Teil des bibelwissenschaftlichen Internetlexikons www.wibilex.de heraus. Stefan Alkier Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 16 - 4. Korrektur 16 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Zum Thema Name, den er im Rechtsrang eines Erbes übernommen hat, von ihnen abhebt.« (1,4). Die Eröffnung des Diskursuniversums des Hebr installiert ein kommunikatives Beziehungsgeflecht zwischen Gott, Sohn, Israel und den Adressaten des Sohnes (uns) sowie ein Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Briefsender und Briefempfänger. Raum und Zeit werden als Gottes Schöpfung durch den Sohn vorgestellt. In diesem Schöpfungszusammenhang hat sich aber auch eine Störung ergeben: die Sünden, die als Verfehlungen der Geschöpfe gedacht werden müssen. Doch diese gelten als bereits durch die schöpferische Macht des Sohnes bereinigt. Das überraschende Ergebnis dieser knappen Analyse der Eröffnung des Diskursuniversums des Hebr lautet: Eigentlich gibt es kein Problem mehr. 2.2 Der Hohepriester und die himmlische Stiftshütte Da das Schreiben mit Vers 4 aber nicht endet, scheint es doch noch ein Problem zu geben, das die weiteren Ausführungen veranlasst, denn es folgt nun nicht einfach ein Lobpreis Gottes und seines Sohnes, sondern die schriftgelehrte Begründung und der Ausbau der bereits in den ersten Versen installierten Grundannahmen. Dabei bewegen sich die Vorstellungen des himmlischen Hohepriesters und der himmlischen Stiftshütte ganz auf der semantischen Achse des Problems der Sünden. Die Sühnung der Sünden veranlasst in 2,17 das erste Auftauchen des Titels »Hohepriester«: »Darum musste er in allem den Geschwistern gleich werden, damit er ein barmherziger und treuer Hohepriester vor Gott dazu werde, die Sünden des Volkes zu sühnen.« Die Christologie des Hebr ist Funktion der Soteriologie. Bearbeitet wird damit zunächst das alte Problem der Untreue des Volkes Israel. Obwohl Gott seine Weisungen, die Tora, zu einem guten Leben in der Gemeinschaft der Geschöpfe gegeben hat, verfehlten sie immer wieder diesen guten Weg schöpfungsgemäßen Lebens (vgl. 3,7-19). Der Durcheinanderbringer (Diabolos/ Teufel) hatte die Macht über den Tod (vgl. 2,14). Die Furcht vor dem Tod machte sie zudem zu unfreien Knechten (vgl. 2,15). Diese zusammenwirkenden Kräfte der Sünde und der Todesfurcht verhinderten ein angemessenes Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf. Um diese Sündenmacht zu brechen und damit die Geschöpfe Gottes aus der Knechtschaft der diabolischen Todesfurcht zu befreien, machte sich der Sohn Gottes ihnen gleich, um mit demselben Leib aus Fleisch und Blut sich ihren Lebensbedingungen auszusetzen (vgl. 2,14-17), denn nur so konnte er sie retten: »Denn worin er selber gelitten hat und versucht worden ist, kann er helfen denen, die versucht wurden.« (2,18). Weil er aber allen Versuchungen des Abfalls von Gott auch in seiner fleischlichen Existenz standhielt bis in den Tod (vgl. 5,7 f.), konnte dieser freiwillige Tod des sündlosen Menschen, als Sühne aller Sünden gelten. Diese Geltung konnte der Tod Jesu nicht von sich aus entfalten, sondern allein »durch Gottes Gnade« (vgl. 2,9). Dieselbe Gnade Gottes erhörte den im Garten Gethsemane flehenden Jesus und schenkte ihm nach seinem Tod neues, ewiges Leben (vgl. 5,7) und die Aufnahme in den Himmel, wo er nun »zur rechten Gottes« sitzt (8,1; 10,12). Dieses ewige himmlische Leben des Auferweckten und Erhöhten mit Gott bildet die Voraussetzung dafür, dass er für allezeit Hohepriester nach der Ordnung Melchisedeks sein kann. Da der Titel des Hohepriesters an den Tempel von Jerusalem geknüpft ist, deren Opfer ebenfalls der Sühne dienen, muss der Hebr einigen Argumentationsaufwand betreiben, der an die Logik der Jerusalemer Sühneopfer anknüpft und sie zugleich qualitativ verändert, da es sich nicht um eine reine Verdopplung des Opferkultes handeln soll. Zu diesem Zweck knüpft er an Melchisedek, dem »Priester des Höchsten« (vgl. Gen 14,18) an, um das Hohepriestertum des Auferweckten und Erhöhten aus einem anderen Ursprung abzuleiten als dem aaronitischen. Zudem bedarf es der Konstruktion eines himmlischen Heiligtums, denn der Tempel in Jerusalem hat bereits Hohepriester. Der entscheidende qualitative Sprung besteht in der Überzeugung, dass das Sühnopfer Jesu Christi »ein für alle Mal« (10,26) geschehen ist und keiner permanenten Wiederholung bedarf. Dies wurde möglich, weil Jesus Christus zwar durch seine fleischliche Existenz wie alle anderen Geschöpfe von der Macht der Sünde und der Todesfurcht bedroht war (vgl.5,7), dieser aber standgehalten hat bis hin in den Tod und Gott ihn aus diesem Tod herausgeholt hat (13,20). Nur so konnte Gott ihn als Hohepriester nach der Art Melchisedeks, d. h. »nach der Kraft unzerstörbaren Lebens« (7,16b) einsetzen. Die Auferweckungstheologie ist eine Basisannahme des Hebr. 5 Das himmlische Heiligtum wird mit Bezug auf Ex 25,40 als »die wahre Stiftshütte« begriffen. »Christus aber ist gekommen als ein Hohepriester der zukünftigen Güter durch die größere und vollkommenere Stiftshütte, die nicht mit Händen gemacht ist« (9,11). Von da aus wird eine Reihe von Argumentationen bemüht, um den Jerusalemer Tempelkult abzuwerten und ihn schließlich sogar für überflüssig zu erklären (vgl. 9,1-10, insbes. 10) und mit ihm sogar den alten Bund insgesamt als »veraltet« (8,13) abzutun. Die Opfer des Jerusalemer Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 17 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 17 Stefan Alkier Hoffnung hören und sehen! Tempels waren bestenfalls »Erinnerung an die Sünden« (10,3). Gesühnt wurden sie erst durch den Hohepriester nach der Ordnung Melchisedeks (vgl. 9,11 f.). Nun aber sind alle weiteren Opfer unnötig und unwirksam: »Wo aber Vergebung der Sünden ist, da geschieht kein Opfer mehr für die Sünde.« (10,18). 2.3 Müdigkeit, Verfehlungen und das kommende Gericht Das Problem, das der Hebr bearbeitet, kann also nicht im Himmel verortet werden. Es gehört auch nicht der Vergangenheit an. Es findet sich ausschließlich im irdischen Bereich der Gegenwart. Die Sühne ist erfolgt und zwar ein für alle mal. Diese Sühne ist nicht wiederholbar. Was nun aber bedrohlich ist, ist die Müdigkeit derjenigen, die das Wort Jesu schon als Wort Gottes gehört haben, denn »wie wollen wir entrinnen, wenn wir ein so großes Heil nicht achten? « (2,3a). Das durch die Herrschaft Jesu bewirkte Heil ist jetzt noch nicht uneingeschränkt wahrnehmbar: »Jetzt aber sehen wir noch nicht, dass ihm alles untertan ist.« (1,8c). Die Gemeinde ist von außen bedroht. Es sind Gefangene zu beklagen und der »Raub eurer Güter« (10,34; 13,3). Diese Bedrückungen werden als Pädagogik Gottes interpretiert (12,4-11), um sie angesichts des drohenden Gerichts zu ertüchtigen: »Darum stärkt die müden Hände und die wankenden Knie, und macht sichere Schritte mit euren Füßen, damit nicht jemand strauchle wie ein Lahmer, sondern vielmehr gesund werde.« (12,12 f.). Diese Ertüchtigung ist notwendig wegen des drohenden Gerichts für diejenigen, die vom Bekenntnis abfallen: »Denn wenn wir mutwillig sündigen, nachdem wir die Erkenntnis der Wahrheit empfangen haben, haben wir hinfort kein andres Opfer mehr für die Sünden, sondern nichts als ein schreckliches Warten auf das Gericht und das gierige Feuer, das die Widersacher verzehren wird.« (10,26 f., vgl. auch 10,28 ff.). Die Massivität dieser Warnung entspricht der den neuerlichen Sünden zugeschriebenen Bedeutung als abermalige Kreuzigung des Sohnes Gottes (vgl. 6,6). Angesichts dessen warnt der schriftgelehrte Lehrer: »Schrecklich ist’s, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.« (10,31) 2.4 Die bessere Hoffnung, das himmlische Jerusalem, die Stimme der Zeugen und die Stimme des Lehrers Angesichts der Schrecken des drohenden Gerichts dient die Lehre dem »Festhalten an dem Bekenntnis« (4,14c). Die »bessere Hoffnung« (7,19) auf das verheißene ewige Leben im »himmlischen Jerusalem«, der »Stadt des lebendigen Gottes« (12,22), erfüllt sich nur für diejenigen, »die Zuversicht von Anfang bis zum Ende« festhalten (3,14). Dafür wird nun nicht nur ein Schriftbeweis eingebracht, sondern es wird eine ganze »Wolke der Zeugen« aufgerufen, ein immenser Geschichtenpool, der als unschlagbarer Beweis für den Lohn des treu bleibenden Glaubens dient, dessen Definition dem Aufruf der Zeugen vorangestellt wird: »Glaube aber ist Feststehen in dem, was man erhofft, Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht.« (11,1). Diese formale Definition wird durch den Aufruf der Geschichten der Glaubenszeugen inhaltlich ausgestaltet. Am Anfang steht der Schöpfungsglaube: »Durch den Glauben erkennen wir, dass die Welt durch Gottes Wort geschaffen ist, so dass alles, was man sieht, aus nichts geworden ist.« (11,3). Die Wolke der Zeugen bezeugt mit ihren Glaubensge-schichten Gottes Macht, der nicht einmal der Tod eine Grenze setzen kann (11,19.35). Es ist die Stimme des schriftgelehrten Lehrers, der nicht nur das Zeugnis der Wolke der Zeugen abruft, sondern die im ganzen Hebr eindringlich zu hören ist. Seine gesamten Argumentationen, Metaphern, Bilder, Definitionen entwickelt er aus der Sinn generierenden intertextuellen Verknüpfung der Heiligen Schriften Israels. Auf der Basis des Hörens der durch die Propheten gesprochenen Worte Gottes erschließt er die Bedeutung des an »uns« ergangenen Wortes Gottes, Jesu Christi: »Darum sollen wir desto mehr achten auf das Wort, das wir hören, damit wir nicht am Ziel vorbeitreiben.« (2,1). Er fordert dazu auf, nicht müde zu werden, den eingeschlagenen Weg weiterzugehen und sich selbst in die Wolke der Zeugen einzureihen: »Darum auch wir: Weil wir eine solche Wolke von Zeugen um uns haben, lasst uns ablegen alles, was uns beschwert, und die Sünde, die uns ständig umstrickt, und lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns bestimmt ist und aufsehen zu Jesus, dem Anfänger und dem Vollender des Glaubens, der, obwohl er hätte Freude haben können, das Kreuz erduldete und die Schande gering achtete und sich gesetzt hat zur Rechten »Seine gesamten Argumentationen, Metaphern, Bilder, Definitionen entwickelt er aus der Sinn generierenden intertextuellen Verknüpfung der Heiligen Schriften Israels.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 18 - 4. Korrektur 18 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Zum Thema des Thrones Gottes. Gedenkt an den, der so viel Widerspruch gegen sich von den Sündern erduldet hat, damit ihr nicht matt werdet und den Mut nicht sinken lasst.« (12,1-3). 3. Die Stimme des Sehers: Positionen des Johannesapokalypse 3.1 Die Eröffnung des Diskursuniversums als Leseanweisung für eine unbegrenzte Leserschaft 6 Bevor sich die Johannesapokalypse in 1,4 als Brief an die sieben Gemeinden in der römischen Provinz Asien zu erkennen gibt, installieren die drei ersten Verse einen über diese briefliche Kommunikationssituation hinausweisenden Lektürevertrag. Der bzw. die die Apokalypse Vorlesende und ihre Hörer und Hörerinnen werden für den Fall seliggepriesen, dass sie das Gehörte auch bewahren und sich in ihrer Lebenspraxis danach ausrichten. Die vorgelesenen Worte werden als »Worte der Prophetie« markiert (vgl. 1,3). Was sie beinhalten, wird in Vers 1 als »Offenbarung Jesu Christi« bezeichnet. Diese hat Jesus Christus selbst von Gott empfangen, damit er denen, die ihm dienen, zeigen kann, was bald geschehen wird und auch geschehen muss. Diese Offenbarung wurde dem Johannes durch einen Engel mitgeteilt. Vers 2 markiert Johannes als den, der das Wort Gottes und das Zeugnis Jesu Christi genauso bezeugt hat, wie er es gesehen hat. Bezeugt wird damit aber nichts anderes als die Lebendigkeit und Wirkmächtigkeit des gekreuzigten, auferweckten und erhöhten Jesus Christus, dessen Geschichte die Johannesapokalypse als bekannt voraussetzt. Die Lesenden und Hörenden, die das von Johannes Aufgeschriebene als das lesen, was es in den beiden ersten Versen zu sein beansprucht, bestätigen damit zugleich die Zeugenschaft des Johannes und reihen sich selbst in die Reihe der Zeugen ein.Der Lektürevertrag gestaltet sich als wechselseitige Anerkennung der Lesenden und des Verfassers der Schrift, in den jede/ r Lesende bzw. Hörende zu allen Zeiten und allen Orten einstimmen kann und damit wiederum die Johannesapokalypse als letztlich von Gott ausgehende prophetische Schrift ausweist. Dieser für alle Lesenden offene Lektürevertrag entgrenzt die ab 1,4 einsetzende briefliche Kommunikation zwischen Johannes und den angeschriebenen Gemeinden und öffnet sie so für eine unbestimmte, offene Leserschaft. Damit sind der Lektüre der Johannesapokalypse einige Vorgaben aufgegeben: - Die Johannesapokalypse soll als prophetische Schrift gelesen werden, die zwar von einem Menschen namens Johannes zu einem bestimmten Zeitpunkt der irdischen Geschichte aufgeschrieben wurde, die aber dem Inhalt nach auf Gott zurückgeht und damit die höchste Autorität beansprucht. - Die Johannesapokalypse richtet sich als Brief zwar zunächst zu einem bestimmten Zeitpunkt der irdischen Geschichte an die Gemeinden in Kleinasien, ist aber als Buch prophetischer Worte, die letztlich auf Gott zurückgehen, mittels der drei ersten Verse an eine entgrenzte Leserschaft gerichtet. - Die Johannesapokalypse gibt nicht nur Anteil am Wissen des Johannes über die nahe Zukunft (1,3c), sondern prophetische Worte, die auf das Verhalten der Rezipienten abzielen. - Mit der Semantik des Bezeugens, die verbal auf Johannes und substantivisch auf Jesus Christus bezogen wird, und der Aufforderung zum Bewahren der prophetischen Worte ist das angestrebte Verhalten bereits umrissen. Es geht darum, auch unter Inkaufnahme leidvoller Konflikte Zeuge des auferweckten und machtvoll erhöhten gekreuzigten Jesus Christus zu bleiben und damit Gott die Ehre zu geben. 3.2 Grundannahmen des Diskursuniversum als Leseanweisung für die expliziten Leser 1,4 eröffnet einen Brief, dessen Abschluss erst vom letzten Vers der Apk gebildet wird. Die Verse 1,4-8 stellen dabei theologische, christologische, soteriologische und kosmologische Grundannahmen vor, von denen die weitere Argumentation, die Visionen und ihre Deutungen in der Apk getragen werden. Gott wird als der Pantokrator (1,8), der Allmächtige, ausgewiesen, der ewige, der über den Zeiten steht. Jesus Christus ist sein »treuer Zeuge, der Erstgeborene von den Toten und Herr über die Könige auf Erden.« (1,5). Die uneingeschränkte Treue seiner Zeugenschaft hat er durch seinen Kreuzestod erwiesen (vgl. 1,7b). Gott aber hat ihn von den Toten auferweckt und ihn mit seiner göttlichen Macht ausgestattet, so dass er schon jetzt herrscht. Seine Herrschaft ist aber noch nicht allen sichtbar. Vielmehr wird sie erst vollends offenbar, wenn der auferweckte Gekreuzigte »mit den Wolken« kommt (1,7). Er liebt »uns« und hat »uns erlöst […] von unseren Sünden mit seinem Blut und uns zu Königen und Priestern, gemacht […] vor Gott, seinem Vater« (1,5). Er hat die Seinen also nicht nur gerettet, vielmehr gibt er ihnen Anteil an seiner Königsherrschaft und am himmlischen Gottesdienst. Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 19 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 19 Stefan Alkier Hoffnung hören und sehen! 3.3 Gestalten des auferweckten Gekreuzigten In den Versen 1,9-20 verschriftlicht Johannes seine Beauftragung. Er weilt auf der Insel Patmos, »um des Wortes Gottes willen und des Zeugnisses von Jesus«. (1,9). Dort wird er vom Geist ergriffen und hört eine Stimme, die nicht menschlicher Art ist, sondern »wie von einer Posaune«. (1,10). Dennoch versteht er sie. Sie weist ihn an, alles aufzuschreiben und an sieben Gemeinden Kleinasiens zu schicken. Erst jetzt dreht sich Johannes um und sieht »sieben goldene Leuchter und mitten unter den Leuchtern einen, der war einem Menschensohn gleich, angetan mit einem langen Gewand und gegürtet um die Brust mit einem goldenen Gürtel. Sein Haupt aber und sein Haar war weiß wie Wolle, wie der Schnee, und seine Augen wie eine Feuerflamme und seine Füße wie Golderz, das im Ofen glüht, und seine Stimme wie großes Wasserrauschen und er hatte sieben Sterne in seiner rechten Hand, und aus seinem Munde ging ein scharfes, zweischneidiges Schwert, und sein Angesicht leuchtete, wie die Sonne scheint in ihrer Macht.« (1,12-16). Er sagt zu dem entsetzten Johannes: »Fürchte Dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige. Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel des Todes und der Hölle.« (1,17). Die Identität dieser furchterregenden Gestalt wird über die Selbstaussage »ich war tot und siehe, in bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit« ermöglicht. Tod, Auferweckung und Erhöhung in die Ewigkeit Gottes werden zur Signatur Jesu Christi, des auferweckten Gekreuzigten. Diese Gestalt ist aber nicht die einzige, in der der Auferweckte in der Johannesapokalypse erscheint. In den Kapiteln 4-20, die die Visionen der zukünftigen Ereignisse schildern, erscheint er zumeist als arnion, das aussieht, »wie geschlachtet; es hatte sieben Hörner und sieben Augen, das sind die sieben Geister Gottes« (5,6b). Das Diminutiv Arnion kann mit »Lämmlein« oder »Widderlein« übersetzt werden. In jedem Fall aber handelt es sich mit seinen sieben Augen und seinen sieben Hörnern nicht lediglich um ein gewöhnliches Lamm oder einen gewöhnlichen Widder. Zudem sieht es aus »wie geschlachtet«. In 22,6-16 scheint Jesus auch noch in der Gestalt eines Engels dargestellt zu sein. Es dürfte bereits deutlich geworden sein, dass die Bilder der Johannesapokalypse mit ihren diversen Beschreibungen und der wiederholten Anzeige des Ungefähren (wie geschlachtet) nicht beanspruchen, quasiempirische Sachverhalte des Zukünftigen abzubilden, sondern stammelnd und suchend Möglichkeiten der Versprachlichung des Unaussprechlichen zu kreieren. Die Aufgabe des eigenständigen Schreibens wird dem Seher nicht abgenommen. Mit seiner Schreibweise gibt er zu verstehen, dass menschliche Sprache keine adäquaten Mittel hat, um die göttliche Wirklichkeit auszudrücken. Gerade die verschiedenen Gestalten des auferweckten Gekreuzigten bewahren davor, die Bilder verdinglichend mißzuverstehen. Martin Karrer hat das für die Apk insgesamt trefflich formuliert: »Eine Stärke der Offb ist die durch ihre Konzeption mögliche Sprachskepsis. Denn das aktuelle Sehen (idou, ›siehe‹, wird zum Leitwort; 26x ab 1,7), überschreitet alle im Wort möglichen Artikulationen. Die himmlischen Namen klingen- - hält Offb 2,17 fest- - anders als die Namen, die wir jetzt kennen. Nicht einmal ein semitisierender Sprachklang (wie die Offb ihn ohne Scheu vor Verstößen gegen die griechische Grammatik wählt) kann diese Distanz ganz aufheben. Das macht die Offb zu einer der Wurzeln christlichen Nachdenkens über die Grenzen sprachlicher Gotteserfassung.« 7 3.4 Die Leiden der Zeugen Obwohl der auferweckte und erhöhte Gekreuzigte seine Zeugen als Könige und Priester an seiner kosmischen Herrschaft bereits teilhaben lässt, erfahren sie noch Bedrückung (thlipsis, vgl. 1,9) vielfacher Art. In der Forschung der vergangenen 10 Jahre ist leider ein Trend auszumachen, diese Bedrückungserfahrungen allein als politische Gewalt des Imperium Romanum zu denken. Diese Engführung wird dem Text aber nicht gerecht. Es geht um Bedrückungen verschiedenster Art. Welche Bedrückung Johannes auf Patmos erlebt hat, wird im Text nicht konkretisiert. Diese Unterbestimmtheit erlaubt es aber allen Lesern und Leserinnen der Apk ihre je eigenen Bedrückungserfahrungen in das Hören des Textes einzubringen. Etwas konkreter hingegen werden die sieben Sendschreiben in Kap 2 und 3. Hier wird deutlich, dass es sich gerade auch um innerchristliche Konflikte handelt. Lügenapostel in Ephesus (1,2), die falsche Lehre Bileams in Pergamon 1,14; Isebel, die falsche Prophetin, in Thyatira. Aber auch Mängel in der eigenen Gemeinde wie das Absterben der aktiven Gemeinde in Sardes (3,1) und die Unentschlossenheit in Laodizea (1,14) werden kritisiert. Lediglich in Pergamon könnte es Konflikte »Mit seiner Schreibweise gibt er zu verstehen, dass menschliche Sprache keine adäquaten Mittel hat, um die göttliche Wirklichkeit zu auszudrücken.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 20 - 4. Korrektur 20 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Zum Thema mit der Obrigkeit gegeben haben, denn »Antipas, mein treuer Zeuge« wurde »bei euch getötet« (2,13). Auf Konflikte mit der jüdischen Gemeinde in Smyrna scheint die drastische Bezeichnung »Synagoge des Satans« (2,9) zu verweisen. Man sollte sich vor nicht vom Text gegebenen Konkretisierungen hüten. Dennoch zeigt der Gesamtverlauf des Textes, dass die Zeugenschaft mit vielerlei Konflikten nach außen wie nach innen verknüpft war und diese zur Gefährdung ganzer Gemeinden führen konnte. Aus diesem Grund sind die Siegessprüche am Schluss der Sendschreiben mit Warnungen verknüpft und beide, also Verheißungen wie Warnungen werden proleptisch auf die Zukunftsvisionen hin zugeschnitten. So heißt es in 2,11 als Schluss des Briefes nach Smyrna: »Wer überwindet, dem soll kein Leid geschehen von dem zweiten Tod.« Dieser zweite Tod wird als Werfen in den Feuerschlund in Kap 20,14b dargestellt: »Das ist der zweite Tod: der feurige Pfuhl.« 3.5 Die Verschränkung der Zeiten Gerade die zahlreichen Pro- und Analepsen zeigen an, dass die Gegenwart und die Zukunft interagieren. So heißt es in 13,9: »Hat jemand Ohren, der höre: Wenn jemand ins Gefängnis soll, dann wird er ins Gefängnis kommen, wenn jemand mit dem Schwert getötet werden soll, dann wird er mit dem Schwert getötet werden. Hier ist Geduld und Glaube der Heiligen.« Und unmittelbar nach der Vertreibung Satans aus dem Himmel wird resümmiert: »Nun ist das Heil und die Kraft und das Reich unseres Gottes geworden und die Macht seines Christus; denn der Verkläger unserer Brüder ist verworfen, der sie verklagte Tag und Nacht vor unserm Gott. Und sie haben ihn überwunden durch des Lammes Blut und durch das Wort ihres Zeugnisses und haben ihr Leben nicht geliebt, bis zum Tod.« (12,10 f.). Das unbeirrte Leben in der Zeugenschaft Christi ist selbst Teil des Kampfes gegen Satan. Jesus, der Zeuge Gottes mit seinem Kreuzestod und die Zeugen des Zeugen mit ihren Leiden bis hin zum Tod, den Antipas in 2,13 als treuer Zeuge auf sich nahm, kämpfen und siegen gemeinsam. Die Jetztzeit der angeschriebenen Gemeinden wird am ehesten die in Kap 12 und 13 beschriebene Zeit sein, in der der Satan nicht mehr im Himmel, aber immer noch auf der Erde sein Unwesen treibt. 3.6 Die Macht Gottes und die Frage nach seiner Gerechtigkeit 8 Die Visionen der Apk sind von der Zuversicht getragen, dass Tod und Auferweckung Jesu Christi nicht einen eschatologischen Spezialfall bilden, sondern das Modell und der Grund des Geschicks derjenigen darstellen, die trotz erfahrenen Unheils ihr Leben als Zeuge Jesu Christi ausrichten, selbst wenn das für sie den gewaltvollen Tod mit sich bringt. In dieser Situation, sei es unter Nero, Domitian, Nerva, Trajan oder Hadrian, verlagern die Gewaltvisionen den Rachewunsch auf den richtenden Gott und seinen Christus. Die Johannesapokalypse legitimiert daher durchaus, Aggressionen und Rachewünsche zu fühlen (vgl. das 5. Siegel in 6,9 ff.), aber sie plädiert dafür, sich nicht von diesen destruktiven Gefühlen leiten zu lassen, sondern an den Geboten Gottes und am Glauben an seinen auferweckten Zeugen Jesus Christus auch dann festzuhalten, wenn es Nachteile für die eigene Person einbringt. Die Rache aber soll Gott und seinem mächtigen Lamm überlassen werden. Nicht sie selbst werden eigenmächtig, sondern Gott wird unter Mitwirkung Jesu Christi sein Recht einfordern und alle, die sich gegen Gott und seine Geschöpfe entscheiden, ja ihnen sogar unermessliches Leid zufügen, werden zur Rechenschaft gezogen werden. Die eigene Treue aber wird mit der ersten Auferstehung belohnt, die bereits endgültig in das ewige Leben mit Gott und Christus hineinführt. Die widergöttliche und widergeschöpfliche Macht und Gewalt wird als so groß erfahren, dass sie nicht auf einen Schlag vernichtet wird, sondern sie zunächst für tausend Jahre gefangen gesetzt und erst dann endgültig entmachtet wird (vgl. Kap 20). Die Johannesapokalypse zeigt, dass die Auferweckung der Toten, ganz an die Überzeugung der Auferweckung und Erhöhung Jesu Christi gebunden, unabtrennbar mit der Hoffnung auf das Ende des Unrechts verwoben ist. Auf unbequeme Weise bringt die Johannesapokalypse zum Ausdruck, dass mit der Rede von der Auferweckung des Gekreuzigten und der Auferweckung der Toten immer die Machtfrage und zugleich die Frage nach Gottes Gerechtigkeit gestellt ist. Welche Macht wirkt und bestimmt letztendlich das Geschick dieser Welt und der auf ihr und von ihr Lebenden? Die Antwort der Johannesapokalypse ist schockierend eindeutig. Es ist die Macht des allmächtigen »Auf unbequeme Weise bringt die Johannesapokalypse zum Ausdruck, dass mit der Rede von der Auferweckung des Gekreuzigten und der Auferweckung der Toten immer die Machtfrage und zugleich die Frage nach Gottes Gerechtigkeit gestellt ist.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 21 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 21 Stefan Alkier Hoffnung hören und sehen! Schöpfergottes, von dem auch die Heiligen Schriften Israels gültig erzählen. Die Johannesapokalypse schreckt nicht davor zurück, in der Konsequenz der theologischen Rede vom Schöpfergott als Allherrscher letztendlich auch die destruktive Gewalt im Kosmos und damit eben auch auf Erden zumindest als von Gott für eine gewisse Zeit als geduldet zu verstehen. Wohl gemerkt: geduldet, nicht gewollt. Gott lässt seinen Geschöpfen die Wahl und in dieser gewährten Freiheit liegt der Grund der Möglichkeit und Wirklichkeit allen Unrechts und jeder Verfehlung des von Gott gewollten Lebens in der Solidarität der göttlichen Geschöpfe. Gott selbst ist daher in die Sünde verstrickt. Sein eschatologisches Gericht ist notwendig, um seinem Recht letztgültige und ewige Geltung zu verschaffen. Deshalb ist die eschatologische Auferweckung der Toten kein selbstloser Gnadenakt eines unbeteiligten Herrschers, sondern der Erweis der Theodizee, der Gerechtigkeit Gottes. 3.7 Der Tempel im Himmel und das himmlische Jerusalem Eindrucksvoll schildern Kap 4 und 5 den himmlischen Gottesdienst. Der auf seinem Thron von zahllosen himmlischen Wesen gepriesene Gott ist das Zentrum der Macht über alles. Diese Macht als Allherrscher kommt ihm zu, weil er alles erschaffen hat. Die vier Gestalten mit den sechs Flügeln sprechen unentwegt: »Heilig, heilig, heilig ist Gott der Herr, der Allmächtige, der da war und der da ist und der da kommt.« (4,8c). Und die 24 um seinen Thron versammelten Ältesten sprechen: »Herr, unser Gott, du bist würdig, zu nehmen Preis und Ehre und Kraft; denn Du hast alle Dinge geschaffen, und durch deinen Willen waren sie und wurden sie geschaffen.« (4,11). In diese göttliche Verehrung wird der auferweckte Gekreuzigte mit hineingenommen, denn nur er wird würdig befunden, das versiegelte Buch zu öffnen und damit das letzte Gericht Gottes zu eröffnen, in dem er seine Gerechtigkeit machtvoll durchsetzt und damit erweist. Kap 5 erzählt daher die Inthronisation des auferweckten Gekreuzigten. Eine unermessliche Zahl himmlischer Wesen spricht »mit großer Stimme: Das Lamm, das geschlachtet ist, ist würdig zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob.« (5,11). »Dem der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm, sei Lob und Ehre und Preis und Gewalt von Ewigkeit zu Ewigkeit.« (5,13b). Nach der Beschreibung der himmlischen Machtzentrale in Kap 4 und der Einsetzung des Lammes als göttlicher Streiter kündigen die Siegel und die Posaunen das Gericht an, das dann in den Kapiteln 14-20 vollzogen wird. Nach der endgültigen Vernichtung des Todes und des Teufels beginnt endlich das ersehnte ewige Leben. Dieses wird als Leben im himmlischen Jerusalem vorgestellt. Seine Bewohner werden aber nicht in den Himmel transportiert. Vielmehr kommt das himmlische Jerusalem auf die neu gemachte Erde (vgl. 21,1f ). Gott und Jesus Christus wohnen selbst in dieser Stadt, die deswegen keinen Tempel mehr braucht (vgl. 21,22). Diese Stadt ist von unermesslichem Reichtum geprägt (vgl. 21,18-21). Sie hat unendlichen Platz für alle Völker, sogar für den Glanz ihrer Könige (vgl. 21,24). Die erstaunlich fruchtbaren Bäume »dienen zur Heilung der Völker« (22,2). Die Tränen wurden von Gott abgewischt, das Leiden aber bleibt durch die abgewischten Tränen präsent. Die Stadt ist auch kein herrschaftsfreier Raum. Die Heilsvorstellung der Apk ist nicht anarchisch. Vielmehr findet nun statt, was in 1,6 bereits von den Zeugen Christi behauptet wurde: »sie werden Könige sein von Ewigkeit zu Ewigkeit.« (22,4). 4. Hebräerbrief und Apokalypse im Dialog In einem Aufsatz ist es nicht möglich alle Positionen eines Textes wiederzugeben. Die voranstehenden Skizzen des Hebr und der Apk beanspruchen keine Vollständigkeit. Spezialisten der Hebräerbrief- und der Apokalypseforschung werden sie mit Recht als arg eklektisch erscheinen. Ohne die Positionen, wie sie sich dem Ausleger darstellen, zumindest in der gebotenen Kürze kenntlich zu machen, können sie aber auch nicht in einen Dialog gebracht werden. Ähnliches ist für die Skizze eines Dialoges dieser beiden Schriften zu sagen. Im Folgenden können nur wenige Punkte markiert werden. Eine genaue intertextuelle Untersuchung würde zahlreiche inhaltliche, teilweise sogar wörtliche Übereinstimmungen zwischen diesen beiden eigenständigen theologischen Kompositionen aufweisen können. Ich meine aber, dass bereits an den knappen und sicher unzureichenden Positionsbeschreibungen ersichtlich werden kann, wie ertragreich ein Zusammenlesen mindestens zweier kanonischer Schriften für eine biblische Theologie werden kann, wenn man nicht auf Ausgleich und Harmonie der biblischen Schriften setzt, sondern auf den Reichtum und die Vielfalt des Kanons als Ganzen. Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 22 - 4. Korrektur 22 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Zum Thema 4.1 Verstärkungen durch Übereinstimmung In Vielem stimmen die beiden Texte überein und verstärken sich damit gegenseitig. Beide Schriften entfalten ihre Theologien unter intertextueller Bezugnahme auf die Heiligen Schriften Israels. Ihre Theologie wie auch die Soteriologie und Eschatologie werden nur durch diese intertextuellen Bezüge verständlich. Ebenso bedeutend, aber weniger offensichtlich und noch zu wenig erforscht sind ihre Bezüge zu Schriften, die wie sie Eingang in den neutestamentlichen Kanon gefunden haben. Dass beide Schriften Kontakt zu paulinischen Briefen oder zumindest zu Rezipienten paulinischer Theologie wie auch zu Evangelien oder zumindest zu Traditionen, die in den Evangelien verarbeitet wurden, hatten, kann nicht bestritten werden. So individuell beide theologischen Konzepte auch sind, so sind sie sicher im Kontakt mit anderen frühchristlichen Theologien entstanden. Für beide ist der aus den Heiligen Schriften Israels bekannte Schöpfergott Ursprung und Ziel der Schöpfung. Ihm steht keine ebenbürtige Gegenmacht entgegen. Es handelt sich also in keiner Weise um anarchische Konzeptionen. Macht und Herrschaft gehören zur Wirklichkeit. Die gute Nachricht der beiden Schriften lautet, dass Gottes Macht und Herrschaft seinen Geschöpfen ewiges Leben anbietet. Er lebt in Beziehungen und teilt seinen Willen auf vielfältige Weise mit.Trotzdem verfehlen seine Geschöpfe ein gemeinsames Leben im Frieden untereinander und damit im Frieden mit Gott. Diese Verfehlungen (hamartia, Sünde) können aber nicht von Gott unbeachtet bleiben, weil er doppelt betroffen ist, denn er ist barmherzig und gerecht. Es ist sein Recht, das gebrochen wird und die Opfer der Rechtsbrechung sind seine geliebten Geschöpfe. Deswegen ist das Gericht notwendig, weil Gott sein Recht endgültig durchsetzen muss und sich so als gerechter und barmherziger Gott erweist, dem die Opfer nicht egal sein können. Die Sühne der Sünden wurde durch das Kreuz Jesu Christi bewirkt. Dabei ist die Kontinuität zwischen Jesus vor seiner Kreuzigung und dem auferweckten und erhöhten Gekreuzigten von großer Bedeutung. Nach dem Hebr begann das Heilsereignis »mit der Predigt des Herrn« (2,3) und für die Apk ist maßgebend, dass er sein Leben gänzlich als treuer Zeuge Gottes gelebt hat (vgl. 1,1-8). Die Christologie ist daher in beiden Positionen maßgeblich von der Soteriologie her zu denken. Der Kreuzestod Jesu gilt beiden als Erwerb besonderer Würdigkeit. Nicht aber der Kreuzestod für sich gilt als Heilsereignis, vielmehr wird er es durch die Gnade Gottes, die diesen Tod als Sühne für alle Sünden anerkennt und gleichursprünglich den Hingerichteten nicht nur erweckt, sondern ihm zum Herrscher und Richter einsetzt. Durch den Zusammenhang von Kreuzigung und Auferweckung Jesu Christi wurde die Macht der Sünde, die sich zwischen Gott und seine Geschöpfe gestellt hat, vernichtet. Der Himmel ist bereits satansfreier Raum. Das ist aber noch nicht vollends sichtbar auf Erden. Der Weg der Zeugenschaft führt auch in Bedrückung und Leiden. Beide Konzepte interpretieren das Leiden der Zeugen mit demselben Bezug auf Sprüche 3,11 als Pädagogik Gottes: »Verachte nicht, mein Sohn, die Unterweisung durch den Herrn und sei nicht unwillig, wenn er dich ermahnt. Denn wen der Herr liebt, den weist er zurecht, und er ist ihm zugetan wie ein Vater dem Sohn.« (vgl. Hebr 12,6 und Apk 3,19) Beide Konzepte stellen sich das ewige Leben im Reich Gottes nicht als Rückkehr ins Paradies vor, sondern als Leben in der Stadt und zwar im himmlischen Jerusalem. Diese Stadt wird nicht von Menschen gebaut. Sie wird vielmehr von Gott bereitgestellt. Sie wartet darauf, endlich bewohnt zu werden, doch ist das Ende der Zeit noch nicht erreicht. 4.2 Wechselseitige Ergänzungen Wechselseitige Ergänzungen können die eine durch die andere Position kommentieren oder konkretisieren, wenn die Ergänzungen zur ergänzten Position passen. So bleibt die Vorstellung des himmlischen Jerusalem in Hebr 12,22 unkonkret. Die bildreiche Ausmalung in Apk 21,1-22,6 kann die Position des Hebr bereichern, wenn sie nicht als quasiempirische Abbildung, sondern als eine Vision verstanden wird, die die Hoffnung der Glaubenden ermutigen und erfreuen soll. In Apk 1,5 ist zu lesen, dass Jesus Christus »uns erlöst hat von unseren Sünden mit seinem Blut.« Dass damit der Kreuzestod gemeint ist, kann aus 1,7 und aus dem Bild des arnion, das aussieht wie geschlachtet, erschlossen werden. Der Hebr arbeitet mit derselben Vorstellung, führt diese aber wesentlich breiter aus. Der »Beide Schriften entfalten ihre Theologien unter intertextueller Bezugnahme auf die Heiligen Schriften Israels. Ihre Theologie wie auch die Soteriologie und Eschatologie werden nur durch diese intertextuellen Bezüge verständlich.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 23 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 23 Stefan Alkier Hoffnung hören und sehen! Diskurs des Hebr über die Bedeutung des Blutes kann daher Apk 1,5 kommentieren. Wie in der Apk so ist auch im Hebr die Auffassung zu finden, dass der Diabolos (Durcheinanderbringer, Teufel) machtvoll wirksam ist. Hebr gibt aber kaum Hilfen, das Wirken des Diabolos mit der erfolgten Sühne durch das Blut Jesu zu verstehen. Die ausgeprägte Dämonologie der Apk kann diesen Aspekt des Hebr dahin kommentieren, dass das Wirken des Diabolos von Gott noch für kurze Zeit auf Erden gewährt wird (vgl. etwa Apk 12 und 13). Diese theologische Erklärung der Wirkmächtigkeit bewahrt die diesbezügliche Aussage des Hebr, dualistisch mißverstanden zu werden. Diese kommentierende Ergänzung kann vorgenommen werden, weil eine dualistische Dämonologie der Theologie des Hebr entgegenstehen würde. Die Apk begreift expliziter noch als der Hebr das Leben in der Nachfolge Christi als Zeugenschaft. Jesus selbst war schon vor seiner Kreuzigung Zeuge Gottes und wurde durch seine Konsequenz in dieser Zeugenschaft am Kreuz zum Zeugen schlechthin. Der Hebr kann diese Martyrologie der Apk verstärken durch seine Wolke der Zeugen in Kap 11. Die hier anzitierten Geschichten können das Modell der Zeugenschaft konkretisieren, indem narrativ entfaltet werden kann, wie zahlreich und wie verschieden Lebenswege der Zeugenschaft aussehen können. 4.3 Differenzen Zwar handelt es sich beim Hebr wie auch bei der Apk um schriftliche Medien, aber ihre Denkweise ist nicht gleichermaßen am Medium der Schrift orientiert. Bei der Theologie des Hebr handelt es sich dezidiert um Schrifttheologie. Wie schon die Eingangsverse zeigen. Das Medium der Schrift bestimmt den Hebr so sehr, dass er Jesus Christus, den Sohn Gottes, analog dazu als schriftähnliches Medium auffasst. Der Schriftkörper wie der Leib Christi werden als Wort Gottes interpretiert. In der Gegenüberstellung zur Apk charakterisiert Karrer den Hebr trefflich: »Der Hebr ordnet umgekehrt das Sehen dem Hören unter, so sehr auch ihm am Sehen liegt (idou nur 4x …). Zugleich fehlt die Sprachskepsis der Offb […]. Gottes Wort bedarf nicht einmal semitisierenden Klanges. Griechisch ist die Sprache des Textes und griechisch die Sprache aller Schriftzitate in ihm. Der Hebr erfordert ein bemerkenswertes Zutrauen zur Sprache, genauerhin zur griechischen Sprache.« 9 Die Apk hingegen nutzt die Sprache als unzureichendes Medium, um Bilder zu kommunizieren. Das Gesehene kann niemals adäquat sprachlich zum Ausdruck kommen. Mit dieser sprachkritischen Hermeneutik des Bildes zwingt die Apokalypse jede sprachliche Äußerung zur theologischen Demut. Die Wirklichkeit Gottes ist größer als die menschliche Sprachkraft. Keine Formulierung menschlicher Sprache kann deshalb als solche als Wort Gottes gelten, denn im Akt der Formulierung unter den Bedingungen menschlicher Sprache ist immer schon ein Übersetzen des Unübersetzbaren eingeschrieben. Die sprachlich verfasste Formulierung des Gesehenen ist nicht das Gesehene selbst. Diese Differenz bleibt konstitutiv für die Theologie der Apokalypse. In der Beurteilung der Medien sind die beiden Positionen des Hebr und der Apk nicht vermittelbar. Sie nötigen aber als Richtschnur des Glaubens, diese Differenz nicht zu verschleiern, sondern das damit angezeigte Sachproblem theologisch wie semiotisch zu reflektieren. Auch die christologische Gestaltgebung kann nicht vermittelt werden. Das Bild des arnion, das aussieht wie geschlachtet, könnte man über die opfertheologische Semantik noch mit dem sich selbst opfernden Hohepriester verknüpfen, wenn man die sieben Hörner des arnion vernachlässigte. Die furchterregende Gestalt des kosmischen Christus in Apk 1,9-20 passt aber in keiner Weise zu der geschwisterlichen Gestalt des mitfühlenden Hohepriesters des Hebr. Man kann diese Gestaltgebung auch nicht einfach additiv nebeneinander stellen, denn zu unterschiedlich sind die daraus erwachsenden christologischen Vorstellungen. Der Hohepriester des Hebr ist kein kosmischer Krieger. Diese unvermittelbaren christologischen Konkretionen nötigen zur theologischen Reflexion. Dabei ist zu diskutieren, ob aus theologischen Gründen christologische Gestaltgebungen grundsätzlich zu kritisieren sind oder nur manche.Als drittes Beispiel soll die nicht vermittelbare Stellungnahme zu den Sünden derjenigen aufgezeigt werden, die bereits zur Gemeinde gehören. In drastischer Weise vertritt der Hebr die Auffassung, dass solche Sünden nicht mehr gesühnt werden können. Wer einmal zum Glauben berufen wurde, muss konsequent den Glaubensweg gehen. Sünden der bereits Glaubenden führen zum Heilsausschluss (vgl. Hebr 10,26). Die Apk hingegen ermutigt in den Sendschreiben zum Neuan- »Die bildreiche Ausmalung in Apk 21,1-22,6 kann die Position des Hebr bereichern, wenn sie nicht als quasiempirische Abbildung, sondern als eine Vision verstanden wird, die die Hoffnung der Glaubenden ermutigen und erfreuen soll.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 24 - 4. Korrektur 24 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Zum Thema fang, nachdem sie das Fehlverhalten in der jeweiligen Gemeinde benannt hat. Selbst einer Gemeinde wie die in Sardes, die als »tot« bezeichnet wird (Apk 3,1), wird nicht verworfen, sondern zur Umkehr aufgerufen. Diese unterschiedlichen Positionen zu sündhaftem Verhalten in der Gemeinde bzw. zu solchem ganzer Gemeinden bedürfen unbedingt einer soteriologischen und ekklesiologischen Diskussion. Man kann nicht beide Positionen gleichermaßen vertreten. 5. Ausblick Die notwendig skizzenhaften Ausführungen zur Dialogizität des Hebr und der Apk möchten auf ein unbestelltes Arbeitsfeld aufmerksam machen, das mir gleichermaßen exegetisch wie theologisch fruchtbar erscheint. Zu sehr hat sich die Exegese in der Logik historisch-kritischer Exegese mit der Rekonstruktion der Entstehungsverhältnisse der Einzelschriften befasst und dabei den Zusammenhang der Schriften als dogmatisch abwegige Einzwängung der individuellen Schriften in das dogmatische Konstrukt des Kanons bewertet. Die historisch-kritische Erforschung der biblischen Schriften leistet seit mehr als 200 Jahren viel, wenn nicht sogar alles, um die Entstehung der Schriften in ihren historischen Ursprungskontexten zu rekonstruieren. Zweifellos wurden dadurch interessante Interpretationsmöglichkeiten erschlossen und abwegige dogmatische Konstrukte der Textverwendung zurückgewiesen. Freilich lässt sie sich in der Ausschließlichkeit der Hinwendung zur ursprünglichen Produktionssituation von einer nicht weniger dogmatischen Grundüberzeugung leiten, nämlich der, dass der Sinn eines Textes einer ist und dieser sich im Ursprung der Textwerdung als Intention des Autors rekonstruieren lasse. Die Texte interessieren also als Individuen, nicht aber als Bestandteile des Kanons. Dieser sei selbst ja ein dogmatisches Konstrukt. Die Kanonbeschimpfung gehörte für viele historisch-kritische Exegeten zum Ausweis ihrer Wissenschaftlichkeit. Die große Distanz zwischen universitärer und kirchlicher Theologie wurde nicht zuletzt dadurch hervorgerufen, dass die wissenschaftliche Theologie sich kaum um die Realität des Schriftgebrauchs im Gottesdienst und im sonstigen Gemeindealltag zu kümmern meinte. In dieser Realität geht es aber nicht allein um die individuellen Positionen der Schriften in ihren jeweiligen Ursprungssituationen, sondern um ihren intertextuellen Zusammenklang des Kanons und um Sinneffekte der Schriften, die sie überhaupt erst im Kontext des Kanons entfalten können. Weder literaturwissenschaftliche bzw. semiotische noch tragfähige exegetische bzw. theologische Konzepte zum Umgang mit Diversität und Differenz der Schriften in ihrer kanonischen Gestalt wurden mit Blick auf die Realität der Glaubenspraxis bisher überhaupt als Arbeitsziel erkannt. Die schale und semiotisch kaum reflektierte Formel von der »Einheit in der Vielfalt« wird diesem schrifttheologischen Grundlagenproblem nicht gerecht. Sie führte vielmehr zu der in der kirchlichen Praxis favorisierten Haltung einer Harmonisierung oder gar Ignorierung der Differenzen. Mit dem Konzept der Dialogizität aber könnte Differenz als theologische Chance eines exegetisch wie theologisch besseren Verständnisses des Kanons in den Blick geraten. Anmerkungen 1 Vgl. S. Alkier, Intertextualität-- Annäherungen an ein texttheoretisches Paradigma, in: D. Sänger (Hg.), Heiligkeit und Herrschaft. Intertextuelle Studien zu Heiligkeitsvorstellungen und zu Psalm 110 (BThS), Neukirchen Vluyn 2003, 1-23; S.Alkier/ R.B.Hays (Hgg.), Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre (NET 10), Tübingen und Basel 2005; M. Schneider, Gottes Gegenwart in der Schrift. Intertextuelle Lektüren zur Geschichte Gottes in 1 Kor (NET 17), Tübingen und Basel 2011. 2 Vgl. M. Bachtin, Probleme der Poetik Dostojevskijs, übers. v. A. Schramm (Ullstein Materialien), München 1985. Vgl. dazu W. Eilenberger, Das Werden des Menschen im Wort. Eine Studie zur Kulturphilosophie M. Bachtins (Legierungen 5), o. O. 2009. 3 So etwa das noch in den Anfängen steckende Forschungsprojekt meines Assistenten Michael Schneider, Dialogizität im Matthäusevangelium. 4 Die Zitate des Hebr folgen weitgehend M. Karrer, Der Brief an die Hebräer, 2 Bde (ÖTK 20/ 1 und 20/ 2), Gütersloh 2002 und 2008, sowie der Einheitsübersetzung und der revidierten Lutherbibel von 1984. 5 Zur Begründung dieser These vgl. S. Alkier, Die Realität der Auferweckung in, nach und mit den Schriften des Neuen Testaments (NET 12), Tübingen und Basel 2009, 77-84. 6 Dieser Abschnitt ist weitgehend meinem Buch entnommen, Die Realität der Auferweckung, a. a. O., 172. 7 M. Karrer, Der Brief an die Hebräer, Kapitel 1,1-5,10 (ÖTKNT 20/ 1), Gütersloh 2002, 60. Siehe auch T. Holtz, Sprache als Metapher, in: F. W. Horn (Hg.), Studien zur Johannesoffenbarung und ihrer Auslegung. FS Otto Böcher, Neukirchen-Vluyn 2005, 10-19. 8 Dieser Abschnitt stammt aus meinem Buch, Die Realität der Auferweckung, a. a. O., 187 f. 9 M. Karrer, Der Brief an die Hebräer Kapitel 1,1-5,10, a. a. O., 60. Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 25 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 25 1. Einleitung Eine »archaische, ja anstößige Zumutung« 1 , »fremdartig« 2 -- kaum ein Kommentar zum Hebräerbrief 3 (Hebr) kommt ohne die Betonung seines eigentümlichen Charakters aus. Uneinigkeit herrscht bereits in der Frage nach der Gattung: Handelt es sich um einen Brief, eine Predigt, 4 eine Mahnrede? 5 In scheinbar loser Abfolge bieten die 13 Kapitel des Hebr Beschreibungen himmlischer und irdischer Gegebenheiten sowie von Wandel in der Zeit und Bestand in Ewigkeit. Die Leserinnen und Leser stoßen im Hebr auf Spannungen, die auch in anderen neutestamentlichen Texten latent vorhanden sind, jedoch nicht vergleichbar profiliert herausgearbeitet werden. Das gilt insbesondere für das Leben und Werk Christi-- parallel in dieser und der himmlischen Welt. Lässt sich hinter der Präsentation von scheinbar nicht zu vereinbarenden Elementen 6 eine schlüssige Konzeption plausibel machen? Im Mittelpunkt der hier gebotenen Untersuchung steht die Frage: Was will das Schreiben an die Hebräer erreichen und was will es sein? 2. Zeit und Ewigkeit 2.1 Aporie »Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit« (Hebr 13,8; vgl. 7,24). Ein Vers wie ein Ausrufezeichen fast am Ende eines längeren Briefes des Neuen Testamentes; Höhepunkt und zugleich Resümee eines der originellsten Texte des Neuen Testamentes. »Christus derselbe in Ewigkeit« ist eine Prädikation, die eine Absage an jede Form von Veränderung und Entwicklung bedeutet. Denn alles, was geschieht, führt dazu, dass an dessen Ende eine Veränderung gegenüber dem Vorherigen steht. Favorisiert also der Hebr ein statisches Christusbild? Fände sich Hebr 13,8 zu Beginn des Hebr, ließe sich der ganze folgende Text als Widerlegung einer provokativen Eingangsthese verstehen. Der »Gegenbeweis« würde erbracht durch die Schilderung einer Kette dramatischer Ereignisse auf Erden wie im Himmel: Christus eröffnet seinen Geschwistern, den Weg durch den himmlischen Vorhang (10,19 f.), er musste an dem, was er litt, Gehorsam lernen (Hebr 5,8), er bringt sich selbst als himmlisches Opfer dar (Hebr 9,11-14.26). Hebr spiegelt eine Dynamik durch die Äonen hindurch, die im Neuen Testament ihresgleichen sucht. Georg Gäbel sieht die »Verhältnisbestimmung von Leben und Sterben Christi auf Erden und seinem himmlischen Wirken« als entscheidend an. 7 Wie aber passen welt- und himmelverändernde Ereignisse und Selbigkeit Christi zusammen? 8 In diesen Kontext gehört das Gegenüber von fortdauernder Gültigkeit des Wortes Gottes und von neuem Bund. Herbert Braun benennt als Aporie: »Gott hat im AT geredet; und: Er selbst tadelt seine Offenbarung und hebt sie auf.« 9 Er merkt an, dass zahlreiche Kommentatoren diese Aporie überspielen. 10 Wie verhalten sich die verwendeten Motive zueinander 11 : Stehen alttestamentliche Bilder, kultische Praxis und Christusgeschehen im Verhältnis der Kontinuität,der Schattenhaftigkeit (Hebr 10,1) 12 , der Entwertung oder der Überbietung (Hebr 8,7.13) des einen durch das andere? 13 2.2 Jesus in Zeit und Ewigkeit im Neuen Testament Die Verbindung des in der Geschichte wirkenden Jesus mit dem präexistenten Christus begegnet nicht erst im Hebr. Auch die Evangelisten mussten mit dem Problem umgehen, dass Jesus zwar von Anfang an der Christus ist, dass dieses Bekenntnis aber den Menschen erst nach seinem Tod, seiner Auferstehung und Erhöhung als Möglichkeit zu Gebote stand. Der Evangelist Markus »löst« das Problem mit seinem Konzept des Offenbarungsgeheimnisses (»Messiasgeheimnis«). Jesus ist zwar schon während seines Erdenlebens der Messias, doch vollgültig kann er erst nach dem Vollbringen seiner Heilstat bekannt werden. Matthäus erklärt das irdische Wirken des Christus mit der Notwendigkeit, alle Gerechtigkeit (Mt 3,15; vgl. 5,17) und alles Verheißene zu erfüllen (vgl. die Erfüllungszitate: Mt 1,22; 2,15 usw.). Für Lukas erweist das sukzessive Vollbringen der Vollzahl der messianischen Taten, dass Jesus der ist, der da kommen soll (Lk, 7,22). 14 Für Johannes ist Jesus das präexistente und inkarnierte Wort (Joh 1,14), das Gott aus Liebe und zur Rettung der Menschen in die Welt gesandt hat (Joh 3,16). Der Philipperhymnus bzw. Karl-Heinrich Ostmeyer Der Hebräerbrief - Evangelium von Ewigkeit Zum Thema Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 26 - 4. Korrektur 26 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Zum Thema Paulus betonen bei der Herabkunft und Fleischwerdung Christi seine Selbstentäußerung und sein Schwachwerden zum Wohle der Menschen (Phil 2,6-8). In den Evangelien war es gattungsbedingt erforderlich, Jesu Wirken auf Erden ausführlich zu schildern: Sein Leben, seine Wunder und seine Lehre. Die (synoptischen) Evangelien nehmen ihren Ausgang in der Zeit und richteten sich u. a. an »Anfänger im Glauben« und Interessierte, die zunächst durch eine ausführliche Beschreibung des irdischen Wandels Jesu mit der Heilsbotschaft vertraut gemacht werden mussten. Im Unterschied dazu richteten sich die neutestamentlichen Briefe an Gemeindeglieder, die bereits Jesus als Christus angenommen hatten. Sie setzen an beim erhöhten und ewigen Christus. Ein ausführliches Beschreiben des irdischen Wirkens des Christus wie in den Evangelien ist bei ihnen nicht in vergleichbarer Breite erforderlich. Das Schreiben an die Hebräer nimmt eine Zwischenposition ein und entzieht sich einer eindeutigen Zuordnung. Einerseits setzt Hebr wie die Evangelien einen Schwerpunkt auf das Wirken des Christus. Er beschreibt sein kultisches Handeln sowohl in der irdischen als auch in der himmlischen Welt und stellt sein Opfer dem levitischen Tempelopfer gegenüber. Andererseits spielen für den Autor des Hebr wie für die neutestamentlichen Briefe Details des Erdenlebens Jesu, seine Lehre und seine Wunder keine Rolle. Diese Ambivalenz macht Hebr zu einem Exoten im Neuen Testament. 15 2.3 Das menschliche Reden von Ewigkeit Der Autor des Hebr steht wie alle, die sich an der Beschreibung der ewigen Welt versuchen, vor dem Dilemma, etwas beschreiben zu wollen, das mit den Möglichkeiten dieser Welt nicht erfassbar ist. Selbst die beste Darstellung der Ewigkeit bedient sich eines zeitlich-irdischen Instrumentariums und bleibt nur eine schattenhafte Skizze. Jedoch kommt für den gläubigen Menschen nicht in Frage, aufgrund der Unzulänglichkeit irdischer Sprach- und Vorstellungsfähigkeit auf die Rede vom anderen Äon zu verzichten; denn das hieße, von Gott zu schweigen und damit die eigene Welt absolut zu setzen. Da auch Gott selbst nicht geschwiegen, sondern in seinem Sohn einen Berührungspunkt der Äonen geschaffen hat (Hebr 1,1 f.), sieht es der Autor des Hebr als seine Aufgabe an, mit den ihm zu Gebote stehenden Mitteln auf das Höhere hinzuweisen. Um das eigentlich Unsagbare zum Ausdruck zu bringen, rekurriert der Verfasser des Hebr auf Bilder und Redeformen, derer sich Gott bereits vor dem Auftreten des irdischen Jesus bedient hat (Hebr 1,1). Die aus den heiligen Schriften zum Vergleich herangezogenen Elemente vermögen das in der Ewigkeit präsente Heil zwar nur in zeitgebundenen Einzelaspekten zu spiegeln, es handelt sich dabei jedoch um die wichtigste den Menschen zu Gebote stehende Rede-Möglichkeit. Prägendes Merkmal dieses Äons ist die Zeit und damit das Prozesshafte. Innerweltlich entsteht die Notwendigkeit, himmlische Seinsformen und Qualitäten als Vorgänge zu schildern und zu erleben. Dabei ist immer und an jeder Stelle nur ein Teilaspekt präsent. Jede Erzählung oder Beschreibung vergegenwärtigt zwar Ewiges, ist jedoch nur in einem Nacheinander von Worten zu erfassen. Jeder Bericht ist entweder unabgeschlossen oder er liegt, sobald er abgeschlossen ist, bereits wieder in der Vergangenheit. 16 Wenn nach Abschluss eines Prozesses das Ganze sichtbar wird, liegt das Geschehen bereits wieder in der Vergangenheit. Was sich im Hebr als Beschreibung himmlischer Geschehnisse darstellt, ist in Wahrheit die- - notwendig defizitäre- - Beschreibung himmlisch-ewigen Seins mit irdisch-zeitlichen Mitteln. Prof. Dr. Karl-Heinrich Ostmeyer, geb. 1967; verheiratet zwei Kinder. Studium in Tübingen, Jerusalem und Berlin, Promotion in Berlin über die Tauftypologien im Neuen Testament; Habilitation in Leipzig über die Gebetssprache und die Gebetstheologien im Neuen Testament. Umhabilitation nach Marburg. Lehraufträge in Göttingen, Leipzig, Marburg, Beer Sheva (Israel), Kassel. Apl. Prof. der Philipps Univ. Marburg; Pfarrer in Fulda. Karl-Heinrich Ostmeyer »Die aus den heiligen Schriften zum Vergleich herangezogenen Elemente vermögen das in der Ewigkeit präsente Heil zwar nur in zeitgebundenen Einzelaspekten zu spiegeln, es handelt sich dabei jedoch um die wichtigste den Menschen zu Gebote stehende Rede-Möglichkeit.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 27 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 27 Karl-Heinrich Ostmeyer Der Hebräerbrief - Evangelium von Ewigkeit Werden die Einzelaussagen des Hebr nicht absolut gesetzt, sondern als Teilaspekte und als Beschreibung der himmlischen Welt aus verschiedenen Blickwinkeln verstanden, dann löst sich die scheinbare Widersprüchlichkeit von Kontinuität, Abwertung und Auflösung: Bei Einnahme einer innerweltlichen Perspektive entsprechen einander das Gottesvolk vor dem Einzug in das verheißene Land (Deut 12,9) und das Gottesvolk der Gläubigen nach der Offenbarung Christi in der Zeit. Beiden gemeinsam sind ihre Existenz in der Fremde und ihr Erwarten der Ruhe. 17 Wird bezogen auf die Ruhe und ihre Inhalte eine Zeit und Ewigkeit vergleichende Perspektive eingenommen, dann muss von einer Überbietung des einen durch das andere gesprochen werden. Die Hoffnung auf Ankunft im Gelobten Land in der Zeit wird übertroffen von der christlichen Erwartung der Ruhe in der Ewigkeit. Wird die Perspektive der Ewigkeit eingenommen, dann bedeutet das Eingehen in die Ewigkeit zugleich die Aufhebung und das Ende alles Zeitlichen und aller Erwartungen in der Zeit. 2.4 Zeit oder Ewigkeit als Ausgangspunkt im Hebr? Unter allen Schriften des Neuen Testamentes hat nur die Offenbarung des Johannes mehr Belege für aiōn (»Ewigkeit«, »Welt«) als Hebr. 18 Ewigkeit impliziert-- nicht nur in Hebr-- mehr als die unendliche Quantität einer in die Zukunft gerichteten Zeit. Ebenso wenig lässt sie sich als unendliche Ausweitung irdischer Raumkategorien begreifen. Es geht um eine fundamental andere Qualität. Eine Ewigkeit mit einem Anfang, wäre nach einer Seite hin begrenzt. Gleiches gilt von einer Ewigkeit, die eine Änderung erfährt, bei der also von einem »Davor« und »Danach« gesprochen werden kann. »Anfang«, »Ende«, »Wandel«, »Abfolge« und die Frage nach dem »Wann« sind zeitliche Kategorien, die der Ewigkeit wesensfremd sind. In welchem Verhältnis aber stehen im Hebr Himmlisches (Ewiges) und Irdisches (Zeitliches) zueinander? Was ist das Primäre? Hebr selbst scheint nahe zu legen, dass sich Vorgänge in der irdischen Welt auf die himmlische Welt auswirken: Jesus leidet auf Erden (Hebr 13,12), wird gekreuzigt (Hebr 12,2; vgl. 6,6). Er opfert sich als Hoherpriester (Hebr 9, 14.26; 10,10. 12. 14.20). Er reinigt das himmlische Heiligtum durch sein Blut (Hebr 9,23-28) und eröffnet damit den Gläubigen durch sein Fleisch (Hebr 10,20) einen Weg in das himmlische Heiligtum (Hebr 10,19,14). Wie lassen sich damit Verse vereinbaren, die ausgehen von einem unveränderlichen Priestertum (Hebr 7,24) und von Christus als dem, der »gestern, heute und derselbe auch in Ewigkeit« ist (Hebr 13,8)? 19 Die bislang gebotenen Überlegungen zum Verhältnis von irdischem Wirken und himmlischen Sein Christi nahmen ihren Ausgang bei der Lebens- und Leidensgeschichte Jesu auf Erden. Es entsteht der Eindruck als sei die Tat Jesu innerhalb der Zeit die Bedingung und der Anfang einer grundstürzenden Wirkung auf den anderen Äon. 20 Unausweichlich erscheint in der Folge die bereits benannte Aporie der Veränderung oder des Anfangs der Ewigkeit. Es stellt sich die Frage, ob der Ansatz bei der Zeitlichkeit dem Hebr und seiner besonderen Betonung von Ewigkeitsaspekten gerecht wird. Die hier gebotene Untersuchung unternimmt deshalb den Versuch, Hebr aus der Perspektive der Ewigkeit zu lesen. Ausgehend vom himmlischen Äon sollen die Konsequenzen für die Sicht der irdischen und zeitlichen Welt durchdacht werden. 21 Wird bei der Beschreibung der Ewigkeit und des Himmelreiches auf die zeitlich-weltlichen Kategorien »Beginn« und »Veränderung« verzichtet, dann folgt daraus, dass keine Handlungsabläufe existieren, sondern dass Christus wesensmäßig als sich geopfert habender Hoherpriester (Hebr 6,19 f.; 7,27) zu verstehen ist, dass Christus schon immer der war und immer der sein wird, der sich für seine Geschwister opfert (2,11f.17; 10,10.12) und sein Opfer im Himmel darbringt (Hebr 9,23-26). In diesem Christuskonzept existiert kein Nacheinander, sondern alles ist permanent in seiner ganzen Fülle präsent. Was sich in dieser Welt durch die Zeit entwickelt hat: Jesu Ankunft, Leben, Lehre, Wirken, Kreuzigung, Auferstehung und Erhöhung ist in der Ewigkeit ein Prädikat Christi, sein Wesensmerkmal. 3. Jesus Christus-- in Ewigkeit und Zeit In Christi Heilstat haben sich ewiger und zeitlicher Äon berührt. Sein irdisch-menschliches Leben und Wirken sind ein Stück zeitlich entfalteter Ewigkeit. Was sich innerhalb der Geschichte in Jesus von Nazareth entwickelt hat, war immer schon in der himmlischen Welt existent, ist es auch gegenwärtig und wird es immer sein. Nichts davon ist vergangen und nichts von dem, was in unserer Welt erst noch geschieht, steht im anderen Äon noch aus. In der Darstellung des Hebr »In Christi Heilstat haben sich ewiger und zeitlicher Äon berührt. Sein irdisch-menschliches Leben und Wirken sind ein Stück zeitlich entfalteter Ewigkeit.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 28 - 4. Korrektur 28 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Zum Thema spielt Jesus als Lehrer und Täter von Wundern keine Rolle. Das heißt nicht, dass diese Aspekte des Lebens Jesu dem Verfasser unbekannt oder ihm unwichtig waren. Jedoch meidet er in seiner Darstellung Jesu die Aspekte der zeitlichen Dauer und Wiederholung. Gelegen dagegen kommt seiner Darstellung alles, was Christi Sein und Tun punktuell bündelt. Das gilt insbesondere für das Verständnis Jesu als des ein für allemal sich opfernden Hohenpriesters. Entsprechend ist ephapax (»ein für allemal«) 22 ein für den Hebr spezifischer Terminus: Alle drei Belege im Hebr begegnen im Zusammenhang mit Jesu Selbstopfer als Hoherpriester. 3.1 Hoherpriester nach der Weise Melchisedeks 23 Unter Bezug auf die in der Genesis (Gen 14,18-20) und in Ps 110,4 (vgl. Ps 76,3) begegnende Figur des Melchisedek konnte der Verfasser des Hebr Jesus als den einmaligen Hohenpriester vorstellen. Eine Figur, die es erlaubt hätte, Jesus in Analogie zu Melchisedek als einmaligen Lehrer oder endgültigen Wundertäter zu zeichnen, bot die Tradition dem Autor des Hebr nicht. Demgegenüber eigneten sich die beiden in den biblischen Schriften begegnenden Priesterkonzepte in idealer Weise für die Gegenüberstellung von Linearität und Punktualität. Die Figur des Melchisedek erscheint als ein Solitär im Buch der Genesis. Er verfügt über keinen eigenen Stammbaum und ist selbst nicht Begründer einer Genealogie (Hebr 7,3). Die einzige weitere namentliche Erwähnung Melchisedeks in Psalm 110,4 stützt seine Einmaligkeit. Der 110. Psalm (109 LXX) zählt zu den Texten, auf die die neutestamentlichen Schriften am häufigsten rekurrieren. 24 Der Dichter des 110. Psalms möchte einer nicht namentlich genannten Person die Priesterwürde zuerkennen. Da dieser Person anscheinend keine priesterliche Abkunft eignet, ist die Rückführung auf Melchisedek die einzige biblisch legitimierte Möglichkeit, jemanden, der nicht dem Stamm Levi angehört, priesterlicher Würde teilhaftig werden zu lassen, »nach der Weise Melchisedeks« (Ps 110,4). David und seine Nachkommen, darunter auch Jesus, werden auf den Jakobssohn Juda (Mt 1,2 f.; Lk 3,33) und nicht auf den das Priestergeschlecht begründenden Stammvater Levi zurückgeführt (Num 1,47.50). In Gen 14,18-20 erscheint Melchisedek als Priester des höchsten Gottes, der Abram Brot und Wein bringt, ihn segnet und von ihm den Zehnten entgegennimmt. Wichtig für Hebr ist die Einmaligkeit des Geschehens und dass Melchisedek Priester genannt wird, ohne dass diese Priesterwürde an irgendeine Bedingung geknüpft oder mit zu wiederholenden Tätigkeiten verbunden wird. Die Genesis spricht von Gaben des Melchisedek (Gen 14,18), nicht aber von einem Opfer. Für die Deutung des Kreuzestodes Jesu als priesterliches Opfer bedarf es der Bezugnahme auf das blutige Opfer aus der levitischen Tradition (Lev passim; Hebr 8,4). Um die Verbindung von Jesu Opfertod und Melchisedek-Priestertum zu ermöglichen, wird der Melchisedek-Tradition die Vorstellung des levitischen Opfers untermengt. Der Tod Jesu wird beschrieben als ein levitisches Opfer, bei dem Subjekt und Objekt in eins fallen. Von der Melchisedek-Figur werden die Einmaligkeit und die Abstammungslosigkeit entlehnt. Nicht aus dem Pentateuch ableitbar ist die Idee des Selbstopfers des Hohenpriesters (Hebr 9,11-14). Auf der Basis des Ewigkeitskonzeptes des Hebr ist allerdings die Konzentration beider Aspekte (des Opfers und des Opfernden) auf die Person Jesu konsequent (Hebr 8,3). Da es sich um einen ewigen und zugleich einmaligen Vorgang handelt, ist die Beteiligung von anderen oder von Opfertieren keine Denkmöglichkeit, denn damit würde ein Akzent auf die Vorstellung eines zeitlichen Ablaufes und einer Unterscheidung von Subjekt und Objekt gelegt. Nach dem Offenbarwerden des Wesens Jesu bedarf es weder weiterer levitischer Opfer noch eines (anderen) Hohenpriesters nach der Weise Melchisedeks. All das ist in Jesus ein für allemal und für immer präsent. Das levitische Opfer war vor Jesu Offenbarung in der Zeit nicht wertlos oder minderwertig. Es war wie die Figur des Melchisedek eine notwendige Hinführung zum abschließenden und einmaligen Opfer Jesu. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Wertung des levitischen Priestertums und Opfers im Gegenüber zur Priesterschaft nach der Weise Melchisedeks ist im Hebr weniger eindeutig als es zunächst den Anschein hat. Denn für seine Deutung auf Christus bedarf der Hebr sowohl der Einmaligkeit des Melchisedek als auch des Sühnecharakters der levitischen Opfer. Letzterer ist bei Melchisedek nicht gegeben. Die Figur des Melchisedek wird im Hebr deshalb in den Vordergrund gerückt, um ein Gegengewicht zur Praxis des levitischen Tempelopfers zu schaffen, das für die Zeitgenossen des Hebr-Autors entweder präsent oder noch in Erinnerung war. 4. Die Gläubigen-- in Zeit und Ewigkeit 4.1 Vorherbestimmung? Gott hat die Welt erschaffen und nach Abschluss seines Schöpfungswerkes geruht (Hebr 4,4). Es bedarf keiner Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 27 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 29 Karl-Heinrich Ostmeyer Der Hebräerbrief - Evangelium von Ewigkeit weiteren Schöpfungstätigkeit, alles war bereits »von Anbeginn der Welt fertig« (Hebr 4,3). D. h. Gott ist in der ewigen Ruhe (Hebr 4,10); Entwicklungen sind ausgeschlossen. Im Glauben haben Christen Teil an dieser Ruhe (Hebr 4,3.10) und Zutritt zum Heiligtum erlangt (Hebr 10,19). Wenn aber Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges im Himmel als vollendet Bestand haben, dann ist über das Heil des Einzelnen bereits von Anbeginn entschieden. Unmöglich ist eine Änderung dessen, was im Himmel verzeichnet ist (Hebr 12,23). Die Frage nach dem Vorherwissen Gottes und der Vorherbestimmung setzt eine innerweltliche und d. h. eine zeitliche Perspektive voraus, in der es ein Vorher und ein Nachher gibt. Wenn jedoch Hebr aus dem Blickwinkel der Ewigkeit urteilt, dann stellt sich für den Gläubigen nicht die Frage, ob irdisches Leben etwas an der himmlischen Wirklichkeit ändern könne, denn er ist bereits im Himmel angeschrieben (Hebr 12,23). Die Frage stellt sich allenfalls für diejenigen, die einmal gläubig waren, dann von Christus wieder abgefallen sind und abermals zu ihm zurückkehren wollen. 25 4.2 Handeln des Gläubigen in der Zeit Wer glaubt, weiß um das Wesen Christi, ohne jedoch das Heil innerweltlich bereits vollständig zu schauen (Hebr 11,1). Als Mensch bleibt er den Bedingungen der Zeit unterworfen. Er kann nicht anders als zeitlich und d. h. im Nacheinander der Worte über die Erlösung sprechen. Das Geworfensein in die Zeit und zugleich das Wissen um die einzige und wahre himmlische Heimat machen das christliche Leben zu einer Existenz in der Fremde (Hebr 13,14). In dem Punkt, an dem sich die Äonen berühren, hat der Gläubige Teil an der Ewigkeit in ihrer Fülle. Glaube ist im Hebr also kein Prozess in der Zeit. Er ist entweder ganz da oder nicht vorhanden. Im Glauben ist das ewige Reich für den Gläubigen schon präsent (Hebr 4,3.10; 6,12; 10,39; 11,1). 26 Folglich kommt es darauf an, diesen Glauben festzuhalten (Hebr 3,6.14; 4,14; 6,18; 10,23)-- die irdische Welt gilt es auszuhalten (Hebr 10,36 f.), bis die Zeit für die Gläubigen endet und sie ganz der ewigen Ruhe teilhaftig sind (Hebr 4,3.9- 11). 27 Für Gläubige kommt ein Sich-Einrichten in dieser Welt nicht in Frage (Hebr 11,16; 13,14). Der Verfasser des Hebr macht Mut: Das Leben Jesu und seine irdische Existenz geben Kraft zum Aushalten. Jesus selbst hat Versuchungen und Leiden aus Solidarität mit den Menschen auf sich genommen (Hebr 2,18; 4,15; 5,7). Wie die Gläubigen hat auch Christus Angst und Not erduldet und Gehorsam gegen Gott lernen müssen (Hebr 5,8). Irdisches Leben entfaltet in der Zeit, was in der himmlischen Welt in Ewigkeit Bestand hat. Es ist ausgeschlossen, dass ein Mensch aus der Rolle fällt, die ihm in Ewigkeit zukommt. D. h., die Existenz im Himmel korrespondiert dem Lebenswandel auf der Erde. 28 Als Antwort auf die Frage nach dem, was konkret auf Erden dem himmlischen Heilsstatus entspricht, schildert der Hebr das den Gläubigen angemessene Verhalten. Es besteht im Vollbringen von Werken der Liebe (Hebr 6,10; 10,24). Werke sind nicht Voraussetzung, sondern Ausdruck des Heils (Hebr 6,1; 9,14). 4.3 Heilsverlust? Der Verlust des Glaubens und ein Abfall vom ein für allemal erlangten ewigen Heil ist eigentlich eine Unmöglichkeit. Es gibt im Rahmen der Logik des Hebr nur eine Umkehr zum Glauben. Eine zweite Buße ist ausgeschlossen (Hebr 6,4-6), es wäre, als strebte man eine Veränderung oder Wiederholung ewiger Belange an (Hebr 6,6b). Für Martin Luther war der Ausschluss einer zweiten Buße sein entscheidender Kritikpunkt am Hebr, den er ansonsten wegen seiner ausgefeilten Christologie schätzte, 29 und es war ein Grund, ihn neben dem Jakobusbrief fast ans Ende des neutestamentlichen Kanons zu stellen. Für Luther war das Leben des Christen bestimmt durch permanente Buße und Umkehr. 30 Die theoretische Unmöglichkeit, das ein für allemal erlangte Heil zu verlieren oder aufzugeben (Hebr 6,4- 6), steht im Widerspruch zur praktischen Erfahrung des Autors des Hebr (Hebr 10,26). Ungeduldig wird das Ende der Zeit und die Vollendung durch den wiederkehrenden Christus erwartet. Der Autor des Hebr erlebte unter den Gliedern der christlichen Gemeinde Erschlaffung (Hebr 5,11; 10,25), Mutlosigkeit und Abkehr von Christus (Hebr 12,3). Da für den Hebr alle biblisch-jüdische Tradition einmündet in das Christusgeschehen und in ihm erfüllt ist (Hebr 1,2), stellt sich jede Rückkehr zu einem (jüdischen) Leben, das nicht in Christus seine Erfüllung sieht, als Rückschritt und als Abfall von Christus dar. Dabei würde die im Glauben »Wenn aber Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges im Himmel als vollendet Bestand haben, dann ist über das Heil des Einzelnen bereits von Anbeginn entschieden. Unmöglich ist eine Änderung dessen, was im Himmel verzeichnet ist (Hebr 12,23).« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 30 - 4. Korrektur 30 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Zum Thema erfasste Ewigkeit gegen das nutzlos gewordene Zeitliche eingetauscht (Hebr 7,18). Wer am Ziel angekommen ist, bedarf nicht mehr des Weges, der ihn dorthin geführt hat. Im Gegenteil, jedes erneute Betreten des Weges wäre gleichbedeutend mit einer Verleugnung des bereits erlangten Ziels. Die Antwort des Autors lautet: Eine zweite Umkehr gibt es nicht (Hebr 6,4-6). 5. Das Schreiben an die Hebräer als Mittler zwischen Ewigkeit und Zeit 5.1 Die Sprache des Hebr Das Miteinander von Heil, das durch Christi einmalige Heilstat in Ewigkeit erwirkt wurde, und dem Handeln der Gläubigen in der Zeit, spiegelt sich im Vokabular des Hebr. Die Zeitform, die der Rede vom ewigen Heil am ehesten gerecht wird, ist das Perfekt. Grammatikalisch bringt das griechische Perfekt das Ergebnis einer abgeschlossenen Handlung zum Ausdruck. Für einen Gläubigen geschieht nichts, das im Reich Christi nicht schon vollendet wäre. Ein Christ bewegt sich nicht zum Heil hin, er bewegt sich im Heil. Einige im Perfekt 31 formulierte Heilsaussagen des Hebr: - Die Gläubigen sind schon Teilhaber Christi geworden (Hebr 3,14). - Christus ist ein für allemal am Ende der Zeiten offenbart worden zur Beseitigung der Sünden durch sein Opfer, sonst hätte er von Anbeginn der Welt an wiederholt leiden müssen (Hebr 9,26). - Christen sind geheiligt durch das Opfer Christi ein für allemal (Hebr 10,10) und vollendet auf Dauer (Hebr 10,14). - Christen sind besprengt und abgewaschen durch das Blut Christi (Hebr 10,22). - Wer glaubt, ist im himmlischen Jerusalem angekommen (Hebr 12,22). - Ein Christ gehört zu der Gemeinde der Erstgeborenen. Sein Name ist im Himmel angeschrieben, 32 und er ist bei den vollendeten Gerechten (Hebr 12,23). Das ewig gegenwärtige Heil gibt der Hebr im Perfekt wieder. Für die Einmaligkeit der Taten Gottes und der Tat Christi auf Erden stehen nominale Wendungen oder die Zeitform des Aorist. Das Handeln der Gläubigen in der Zeit ist geprägt durch zeitliche Dauer (Präsens) und Wiederholung auf Seiten der Gläubigen: - Vielmalig und vielgestaltig redete Gott vormals (Aorist, Hebr 1,1). Rhetorisch wird dieses wiederholte Reden Gottes unterstrichen durch eine Vielzahl von Alliterationen (Polymerōs kai polytropōs palai ho theos lalēsas tois patrasin en tois prophētais). 33 In Christi Heilstat hat Gott abschließend und endgültig geredet (Aorist, Hebr 1,2). - Jesus bringt einmalig Bitten mit Klage dar (Hebr 5,7; formuliert im Aorist als Ausdruck eines punktuellen Handelns)-- die Gläubigen sind aufgerufen, permanent das Opfer des Lobes zu bringen (Hebr 13,15a; anapherōmen, Präsens als Ausdruck der Kontinuität). 34 - Das Bekenntnis, das Christus einmalig abgelegt hat (homologia, Hebr 3,1; 4,14; 10,23), ermöglicht das dauerhafte Bekennen durch die Gläubigen (Hebr 13,15b; homologeō, Präsens). - Bezogen auf Jesus ist vom Tod die Rede (thanatos, Hebr 2,9.14; 5,7; 9,15 f.) und bezogen auf Menschen meist vom Sterben (apothnēskō, Hebr 7,8; 9,27; 10,28; 11,4. 13. 21.37). 35 5.2 Hebr und die Briefe des Paulus Die ehemalige Zuschreibung des Hebr zum Corpus Paulinum lässt sich nicht aufrecht erhalten. Dennoch sind bei allen Unterschieden gegenüber der Pauluskorrespondenz bemerkenswerte Übereinstimmungen zu konstatieren. 36 Wie der Verfasser des Hebr setzt Paulus voraus, dass unabhängig von der Zeit das Heil in Christus schon immer präsent war: Abraham wurde wegen seines Glaubens an Christus gerecht gesprochen (Röm 4,3. 13. 17; Gal 3,16; Hebr 11,8-19); das Heil ist bereits präsent, jedoch ist es jetzt nur wie in einem Spiegel zu schauen (1Kor 13,12). Hebr 11 bietet eine lange Reihe von Personen des Alten Testaments, die bereits im Glauben standen. Es ist dieser Glaube, der sie gerettet hat-- unabhängig von der Epoche, in der sie lebten. Voraussetzung für die Teilhabe an der Ewigkeit ist die Überwindung des Todes, der als Folge der Sünde verstanden ist (Röm 6,23), und seine Beseitigung (vgl. Hebr 2,14; 1Kor 15,25-28). Sowohl Paulus (Gal 4,4) als auch der Hebr (Hebr 1,2) verstehen die Offenbarung Jesu als Eingriff Gottes in die Zeit. »Für einen Gläubigen geschieht nichts, das im Reich Christi nicht schon vollendet wäre. Ein Christ bewegt sich nicht zum Heil hin, er bewegt sich im Heil.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 27 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 31 Karl-Heinrich Ostmeyer Der Hebräerbrief - Evangelium von Ewigkeit Jesus kommt als Bruder der Menschen (Röm 8,29; Hebr 2,11 f.17) und erleidet als Sündloser den Tod (2Kor 5,21; Hebr 4,15). Der Tod, der keinen Anspruch auf einen Sündlosen hat, muss ihn wieder herausgeben. Damit ist seine Macht gebrochen (Hebr 2,14; vgl. 2Tim 1,10). Alle, die sich im Glauben an Christus halten, erlangen durch den »Vorhang« (»sein Fleisch«; Hebr 10,20) als Geschwister Jesu (Hebr 2,11) Zugang zur Ewigkeit und ewigen Ruhe. Wie bei Paulus (2Kor 5,16) spielt auch in Hebr das Kennen des irdischen Jesus keine heilsentscheidende Rolle. Entscheidend sind nicht Jesu Wunder- und Lehrtätigkeit in den etwa 30 Jahren seines Erdenlebens, sondern die ewige, schon in den alttestamentlichen Schriften als gegenwärtig greifbare Offenbarung seiner Heilstat (Röm 4,3. 13. 17; 1Kor 10,4; Gal 3,16; Hebr 11,8-19). 5.3 Der Hebräerbrief als typologisches Schreiben 5.3.1 Typologie und Typos-Terminologie im Hebräerbrief Im Kontext der Exegese des Neuen Testamentes bezieht sich der Terminus »Typologie« in der Regel auf ein Verhältnis zwischen alttestamentlichen und neutestamentlichen Motiven. 37 Ob es sich dabei um eine Entsprechung, eine Überbietung oder eine Ablösung des einen durch das andere handelt, ist Gegenstand der Interpretation. In der Auslegungsgeschichte wurde dieses Verhältnis nicht selten auf das Gegenüber von Christentum und Judentum gedeutet. 38 Die Identifikation einer Typologie im Neuen Testament geschieht unabhängig vom Vorkommen der Termini typos oder antitypos. 39 Die beiden Belege in Hebr sind nicht signifikant: In Hebr 8,5 wird von Moses Auftrag gesprochen, die Stiftshütte gemäß dem auf dem Berg geschauten Typos zu bauen (Ex 25,40). In Hebr 9,24 wird Christus als der beschrieben, der nicht in das irdische Heiligtum einging, das nur Antitypon des wahren ist. Die Termini beziehen sich im Hebr nicht auf alttestamentliche Verheißung und neutestamentliche Erfüllung, sondern auf himmlische und zeitlich-irdische Welt. 40 5.3.2 Heil vor der Offenbarung Jesu in der Zeit Bereits die Einleitung des Hebr verweist auf die Zusammengehörigkeit des Redens Gottes in der Vergangenheit durch die Propheten (Hebr 1,1) und Gottes einmaligem Heilswort in Christus (Hebr 1,2). Da das Heil einmalig, unteilbar und ein für allemal in Christus vollendet ist, ist überall da, wo in den biblischen Schriften von Heil die Rede ist, das Heil in Christus gemeint (1Kor 3,11; Phil 2,10). 41 Jede Rede über die eine Seite bezieht sich folglich zugleich auf die andere. Eine Aussage über Christus dient der Interpretation der alttestamentlichen Verheißung, und in den alttestamentlichen Aussagen über das Heil wird Christus offenbar. 42 In diesem Sinne ist alle Rede über Christi Heilstat wie auch über deren biblische Verheißung typologische Rede. 43 Die historische Reihenfolge spielt in der typologischen Rede keine Rolle. Jede Aussage über Christus und sein Wesen muss der Ewigkeit standhalten. Christliche Typologie ist die menschliche Möglichkeit des Redens in der Zeit über das, was in Christus in einem Punkt und in seiner ganzen Fülle ein für allemal präsent war, ist und sein wird. Paulus setzte zeitübergreifend den Felsen in der Wüste, aus dem Israel während seiner Wanderung trank (Ex 17,6; Num 20,8; Dtn 8,15), mit Christus gleich (1Kor 10,4), und er konnte den Durchzug der Väter durch das Schilfmeer als Taufe bezeichnen (1Kor 10,2). 44 Die Fülle des Heils hat sich zu Pauli Lebzeiten in Jesus offenbart (Röm 5,17); es war und ist jedoch permanent präsent: Bereits Abraham hatte im Glauben daran Teil (Röm 4,11 f.), ebenso wie die Väter in der Wüste oder die in Hebr 11 genannten Menschen aus der alttestamentlichen Tradition, die durch den Glauben gerettet wurden. 45 Typologische Rede bringt keine eingeschränkte Teilhaftigkeit der Väter am Heil zum Ausdruck; die Motive des Alten Bundes sind gegenüber dem Neuen Bund nicht defizitär. Wenn überhaupt von einem Mangel zu sprechen ist, dann liegt er begründet in der Gebundenheit allen menschlichen Redens und aller menschlichen Existenz an die Zeit. 5.3.3 Heil seit der Offenbarung in der Zeit Ist die Zeit der Väter und Propheten historisch betrachtet eine Zeit der Vorausschau auf die Heilstat Christi-- »vielfältig und auf vielerlei Weise«, dann ist die Zeit des Hebr und alle spätere Zeit eine Zeit der Erinnerung an das ein für allemal in Christus Geschehene. Daran gilt es festzuhalten (Hebr 3,6.14; 4,14; 6,18; 10,23). Das bestimmende Merkmal allen Seins in der Zeit ist die Fremdheit. Die Gläubigen wissen, dass ihr gegenwärtiger Existenzmodus ein vorläufiger ist. Ihre Perspektive »Da das Heil einmalig, unteilbar und ein für allemal in Christus vollendet ist, ist überall da, wo in den biblischen Schriften von Heil die Rede ist, das Heil in Christus gemeint«. Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 32 - 4. Korrektur 32 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Zum Thema ist das vollständige Sein in der »Ruhe« Gottes und das damit verbundene Ende der Zeit (Hebr 4,1. 3. 10 f.). Aus der Perspektive des Hebr spielt es keine Rolle, ob der Tempelkult noch praktiziert wird oder ob der Tempel bereits zerstört ist. 46 Wer glaubt, bedarf nicht mehr eines voraus weisenden Handelns in Form des Tempelkults. Im Gegenteil, ein weiteres Festhalten am Tempelkult wäre ein Hinweis darauf, dass die Gegenwart des Heils, das durch den Tempelkult angezeigt wurde, noch nicht erkannt ist. Am Ende der Zeiten endet alles Irdische. Der Bund in seiner alten Ausprägung, der immer nur Teilaspekte im zeitlichen Nacheinander bieten konnte, wird dann in seiner ganzen Fülle als zeitloser neuer Bund präsent sein. Am Ende der Zeiten steht die Aufdeckung dessen, was schon da, aber noch nicht sichtbar ist. Der griechische Begriff für »Aufdeckung« oder »Offenbarung« ist apokalypsis. In diesem Sinne ist das Weltbild des Hebr apokalyptisch. Das, was immer schon war und immer sein wird, ist in Christi Heilstat offenbart in der Zeit. Im Glauben ist es als sicher gegenwärtig erfassbar (Hebr 11,1). 47 Die verheißene Ruhe ist dadurch gekennzeichnet, dass in ihr alle verbergenden Hüllen gefallen sind. 6. Schlussbetrachtung: Das Schreiben an die Hebräer als Evangelium Der Hebr entzog sich bislang den Versuchen einer Kategorisierung. Weder die Einordnung als Brief noch als Predigt vermögen zur Gänze zu befriedigen. 48 Eine wichtige neutestamentliche Gattung, die im Kontext des Hebr bisher kaum in den Blick genommen wurde, sind die Evangelien. Die Autoren der kanonischen Evangelien und der Autor des Hebr widmen sich der gleichen Aufgabe: Es geht ihnen um die Darstellung Jesu Christi als dem, der die menschliche Existenz in der Zeit mit dem Heil der himmlischen Welt verbindet. Die vier kanonischen Evangelien entfalten Jesu Leben in zeitlich-räumlicher Perspektive und setzen es davon ausgehend in Beziehung zur Ewigkeit. Der Hebr dagegen beschreibt Jesu Sein aus der Perspektive der Ewigkeit und verankert es in der irdischen Existenz der Gläubigen (Hebr 6,19). Dabei abstrahiert der Hebr so weit als möglich von Raum und Zeit. Angaben zu Jesu Leben sind knapp gehalten und beziehen sich auf Einzelpunkte seiner menschlichen Existenz (z. B. seine Versuchung und das Konstatieren seines Leidens; Hebr 2,18; 4,15; 13,12). Schreiben die vier Evangelisten ihre Evangelien ausgehend von der Zeit Jesu auf Erden, so bietet der Hebr ein Evangelium Jesu ausgehend von der Ewigkeit. Die Lösung des Hebr zählt zu den anspruchsvollsten, zugleich aber auch zu den tiefgründigsten des Neuen Testamentes. Der Hebr als Evangelium, das seinen Ausgang nimmt bei der Ewigkeit, will nicht innerzeitlich, wie die kanonischen Evangelien, sondern zeitlos Zeugnis geben: »Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit« (Hebr 13,8). Anmerkungen 1 G. Schunack, Der Hebräerbrief (ZBK.NT 14), Zürich 2002, 9. 2 H. Strathmann, Die Briefe an Timotheus und Titus. Der Brief an die Hebräer (NTD 9), Göttingen 1967, 73. 3 An der traditionellen Bezeichnung wird festgehalten, ohne dass damit eine Festlegung auf einen der Vorschläge zur Gattungsbestimmung des Schreibens an die Hebräer gegeben wäre. 4 H. W. Attridge, Hebräerbrief, RGG4 Bd. 3, 1494-1497, 1494, nennt den Hebräerbrief »ein Meisterwerk frühchristl. Predigtkunst«; er verwebe »einfallsreiche Schriftauslegung mit wirkungsvoller Paränese«. K. Backhaus, Per Christum in Deum. Zur theozentrischen Funktion der Christologie im Hebräerbrief, in: Th.Söding (Hg.), Der lebendige Gott. Studien zur Theologie des Neuen Testamentes. FS Wilhelm Thüsing (NTA NF 31), Münster 1996, 258-284, 266 (wiederabgedruckt in: Ders, Der sprechende Gott. Gesammelte Studien zum Hebräerbrief [WUNT 240], Tübingen 2009, 49-76), spricht vom »Mischtypus einer ›brieflich versandten Predigt‹«. 5 So u. a. Udo Schnelle, Einleitung in das Neue Testament (UTB 1830), Göttingen, 4 2002, 418 f.; E. Gräßer, An die Hebräer. 1. Tb. Hebr 1-6 (EKK XVII/ 1), Zürich u. a. 1990, 16, diskutiert die verschiedenen Vorschläge zur Gattungsbestimmung und schlägt vor, Hebr »ganz allgemein als theologische Meditation bzw. als eine literarische Form der Schriftgnosis zu bezeichnen«. 6 H. Braun, An die Hebräer (HNT 14), Tübingen 1984, 33: »Diese Christologie setzt sich aus Elementen zusammen, die einander ausschließen.« 7 G. Gäbel, Die Kulttheologie des Hebräerbriefes. Eine exegetisch-religionsgeschichtliche Studie (WUNT II/ 212), Tübingen 2006, 3 f. 8 Braun, Hebräer (Anm. 6), 32: »Die Aporie liegt auf der Hand: Besaß Jesus während des Erdenlebens und davor schon hohe Würden, so bringt die Auferstehung bzw »Am Ende der Zeiten endet alles Irdische. Der Bund in seiner alten Ausprägung, der immer nur Teilaspekte im zeitlichen Nacheinander bieten konnte, wird dann in seiner ganzen Fülle als zeitloser neuer Bund präsent sein.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 27 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 33 Karl-Heinrich Ostmeyer Der Hebräerbrief - Evangelium von Ewigkeit Auffahrt nichts hinzu, sondern gibt nur zurück; liegt dagegen die Wende in der Auffahrt, so sinkt die vorirdische und irdische Würde […]. Der Hb-- dem ›Jesus war schon immer‹ und dem ›Jesus wurde erst‹ verhaftet-- macht die Aporie besonders deutlich«. 9 Braun, Hebräer (Anm. 6), 21. 10 Braun, Hebräer (Anm. 6), 20: Käsemann, Michel, Gräßer »überspielen die Aporie, in der sich die Hb-Texte selber befinden: Neben der Linie der Entsprechung und Überbietung reden die Texte von der Aufhebung des Alten durch das Neue, zB 8,13«. 11 Vgl. A. Vanhoye, Hebräerbrief, TRE Bd. 14, Berlin, New York 1985, 494-505, hier: 502. 12 E. Käsemann, Das wandernde Gottesvolk. Eine Untersuchung zum Hebräerbrief (FRLANT 55, NF 37), Göttingen 2 1957, 35. 13 Die Klassifizierung eines oder mehrerer der genannten Beziehungen als typologisch, impliziert zugleich die Entscheidung für eine bestimmte Definition von »Typologie«. Zum Beispiel erlauben nach Schnelle, Einleitung (Anm. 5), 420f., »typologische Zuordnungen (z. B. Hebr 6,13-20; Melchisedek in Hebr 7)« dem Autor, »die Überbietung der alten Heilsordnung durch das in Jesus Christus heraufgeführte Heil umfassend darzustellen«. 14 K.-H. Ostmeyer, Kommunikation mit Gott und Christus. Sprache und Theologie des Gebetes im Neuen Testament (WUNT 197), Tübingen 2006, 284-316. 15 Braun, Hebräer (Anm. 6), 1: »Er ist ein Zwitter«. 16 Die Folge ist, dass bezogen auf die Heilstat Christi entweder sein Tod am Kreuz oder seine Erhöhung als nachgeordnet erscheinen. Mit Recht macht sich Franz Laub, »Ein für allemal hineingegangen in das Allerheiligste« (Hebr 9,12)-- Zum Verständnis des Kreuzestodes im Hebräerbrief, BZ 35, 1991, 65-85, 65 f. u. ö., für eine »Sacheinheit« von Erniedrigung und Erhöhung stark. A. a. O., 80: »Vielmehr ist der Autor bestrebt und gelingt es ihm, das Christusgeschehen von Kreuz und Erhöhung kulttheologisch als das eine Erde und Himmel, Zeit und Ewigkeit umschließende Heilsereignis nahezubringen«. 17 Im Neuen Testament begegnet katapausis (»Ruhe«) außer im Hebräerbrief (Heb 3,11.18; 4,1.3. 5. 10 f.) nur noch in Apg 7,49. 18 In beiden Büchern begegnet aiōn in 13 Versen. Die höhere Zahl der Einzelverweise in der Apokalypse resultiert aus der darin feststehenden Wendung eis aiōnas aiōnōn (»von Ewigkeit zu Ewigkeit«; wörtlich: »in die Ewigkeiten der Ewigkeiten«). 19 H. Löhr, Wahrnehmung und Bedeutung des Todes Jesu nach dem Hebräerbrief. Ein Versuch, in: J. Frey/ J. Schröter, Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament (WUNT 181), Tübingen 2005, 455-476, 458, hält »die Frage, wann Jesus nach Auffassung des Hebr Hohepriester wurde, […] aufgrund des Textbefundes [… für] nicht eindeutig zu klären«. 20 Gäbel, Kulttheologie (Anm. 7), 17: »Das himmlische Wirken Christi setzt seinen irdischen Weg voraus […]. Alle Sakralität, alle legitime Kultausübung ist nach Hebr seit der Erhöhung Christi im himmlischen Heiligtum konzentriert«. 21 Th. Söding, »Hoherpriester nach der Ordnung des Melchisedek« (Hebr 5,10). Zur Christologie des Hebräerbriefes; in: R. Kampling (Hg), Ausharren in der Verheißung. Studien zum Hebräerbrief (SBB 204), Stuttgart 2005, 63-109, 105: »Die Übertragung, wenn von ihr zu reden wäre, geschähe nicht von der Erde auf den Himmel, sondern umgekehrt vom Himmel auf die Erde […]. Denn die eigentliche Realität ist die Gottes allein.« K. Backhaus, Das Land der Verheißung: Die Heimat der Glaubenden im Hebräerbrief (NTS 47) (2001; wiederabgedruckt in: Ders., Gott, 175-194, Anm. 4), 171-188, 177: »Hebr beginnt im Himmel, beschreibt aus verschiedenen Blickwinkeln den Zugang zum Himmel, endet im Himmel«. 22 Im Neuen Testament begegnet ephapax fünfmal, davon dreimal in Hebr (Hebr 7,27; 9,12; 10,10; Röm 6,10; 1Kor 15,6). In der Septuaginta fehlt der Terminus. 23 Gäbel, Kulttheologie (Anm. 7), 15: »Eine Deutung der Hohepriesterchristologie des Hebr jedoch, in der sowohl der irdisch-geschichtliche wie der himmlisch-kultische Aspekt das ihnen je zukommende Gewicht tragen, und zwar im Rahmen eines kohärenten Gesamtentwurfs, fehlt heute nicht anders als in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.« 24 Die Evangelisten (Mk 12,35-37; Mt 22,42-45; Lk 20,41- 44) legen bei ihrer Rezeption des 110. Psalm den Schwerpunkt nicht auf den vierten, sondern auf den ersten Vers. Für sie war entscheidend, dass Jesus als Messias nicht dem Psalmsänger und König David untergeordnet wurde. Ein solches Verständnis basiert auf der Deutung, dass David ihn im Psalm als seinen Herrn bezeichne: »Der Herr sprach zu meinem Herrn« (Ps 110,1). 25 Attridge, Hebräerbrief (Anm. 4), 1495: »Die Identifizierung der Adressaten als ›Hebräer‹ suggeriert, daß Konvertiten, die aus dem Judentum kamen, geneigt waren, zu ihren jüd. Wurzeln zurückzukehren.« Dagegen: Käsemann, Gottesvolk (Anm. 12), 10. 26 Backhaus, Land (Anm. 21), 180: Das himmlische Verheißungsziel »hat der Glaube schon erreicht«; a. a. O. 181: Sie sind »jetzt schon fide in spiritu eingebürgert«. 27 Die Gemeinde ist bereits himmlischer Gaben teilhaftig (Heb 6,4 f.). Metochos (Teilhaber, teilhaftig sein) zählt zu den Zentralbegriffen des Hebr (1,9; 3,1.14; 6,4; 12,8). Im Neuen Testament begegnet er sonst nur noch einmal in Lk 5,7. Das Alte Testament hat samt Apokryphen insgesamt sieben Belege (1Sam 20,30; 3Makk 3,21; Ps 44,8LXX; Ps 118,63LXX; Spr 29,10; Pred 4,10; Hos 4,17). 28 K. Backhaus, Auf Ehre und Gewissen! Die Ethik des Hebräerbriefes, 111-134 (wiederabgedruckt in: Ders., Gott, 215-238, Anm. 4), 134: Jede »noch so bedeutungslos scheinende Geste im Alltagsdrama wird grenzenlos wichtig und gewinnt einen ethischen Rang, der kaum zu überschätzen ist: Inmitten des Alltags werden wir ›Gastgeber der Engel‹, Hüter des Transzendenten in einer entzauberten Welt«. 29 Vorrede zum Hebräerbrief, 1522; in: K. Aland (Hg.) Luther Deutsch, Bd. 5 (UTB 1656), Göttingen 1991, 62, vgl. WA DB 7,344; vgl. Gräßer, Hebräerbrief I (Anm. 5), 35. 30 So lautet die erste der 95 Thesen Luthers von 1517, K. Aland (Hg.), Luther Deutsch Bd. 2, 32 (Anm. 29): »Da Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 34 - 4. Korrektur 34 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Zum Thema unser Herr und Meister Jesus Christus sagt: ›Tut Buße‹ usw., wollte er, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein sollte« (WA 1,233,10 f.). 31 Die Zahl der im Hebr gebrauchten Perfektformen übersteigt mit 87 Belegen in 76 Versen deutlich die Zahl der Perfekta im längeren Römerbrief (79 Belege in 68 Versen). 32 Vgl. Lk 10,20. 33 In der Lutherübersetzung (1984) sprachlich gut nachempfunden: »Nachdem Gott vorzeiten vielfach und auf vielerlei Weise geredet hat zu den Vätern durch die Propheten« (Heb 1,1); vgl. Backhaus, Christum (Anm. 4), 275. 34 Vgl. Ostmeyer, Kommunikation (Anm. 14), 164-168. 35 Vgl. Löhr, Wahrnehmung (Anm. 19), 457. 36 Schnelle, Einleitung (Anm. 5), 421. Zu Recht verweist Vanhoye, Hebräerbrief (Anm. 11), 495, auf »auffallende Entsprechungen zu der [Christologie] der Gefangenschaftsbriefe«; K. Backhaus, Der Hebräerbrief und die Paulus-Schule, BZ 37 (1993; wiederabgedruckt in: Ders., Gott, 21-48, Anm. 4), 183-208, 187 f. 37 K.-H. Ostmeyer, Typologie, RGG 4 Bd. 8, Tübingen 2005, 677 f. 38 Gräßer, Hebräer I (Anm. 5), 31 f., geht ausführlich auf die »negative Wirkungsgeschichte« ein; entschieden gegen eine antijüdische Vereinnahmung auch Käsemann, Gottesvolk (Anm. 12), 10: »Für Hebr. ist im allgemeinen eine […] Ausrichtung antijüdischen Charakters rundweg zu bestreiten«; vgl. a. a. O., 34. 39 K.-H. Ostmeyer, Taufe und Typos. Elemente und Theologie der Tauftypologien in 1. Korinther 10 und 1. Petrus 3 (WUNT II/ 118), Tübingen 2000, 49 f. 40 K. Backhaus, Das Bundesmotiv in der frühchristlichen Schwellenzeit, 211-231; in: H. Frankemölle (Hg.), Der ungekündigte Bund? Antworten des Neuen Testamentes (QD 172), Freiburg, Basel, Wien 1998 (wiederabgedruckt in: Ders., Gott, 153-174; Anm. 4), 222 »Nicht um polemische Desavouierung des Jüdischen geht es dem Verfasser, sondern um ontologische Relativierung des Irdischen. Nicht Kirche und Synagoge vergleicht Hebr, sondern Himmel und Erde.« 41 Backhaus, Land (Anm. 21), 174: »Alle Erzväter stehen, wie betont wird, unter der gleichen Verheißung, und das ist letztlich die, unter der die ganze Geschichte der Erdenwelt steht, und die durch Christus verbürgt, auch für die Christen gilt«. 42 Vgl. Gräßer, Hebräer I (Anm. 5), 27. 43 H. Hegermann, Der Brief an die Hebräer (ThHK 16), Berlin (Ost) 1988, 61, erklärt, »die bei Paulus zuerst greifbare typologische Methode« erhalte im Hebr ein »besonderes Gewicht«. 44 Wie in Hebr 8,5 und 9,24 wird auch in 1Kor 10,6 deutlich, dass die Terminologie nicht für die Bestimmung einer als typologisch definierten Beziehung entscheidend ist. Nicht der Schilfmeerdurchzug wird als Vorbild der Taufe bezeichnet, sondern die Väter werden hinsichtlich ihrer Heilserfahrung und ihrer Bestrafung den Gläubigen als warnende Typoi vorgestellt (1Kor 10,6); Ostmeyer, Taufe (Anm. 39), 137-145. 45 Backhaus, Bundesmotiv (Anm. 40), 221: »So finden sich die Glaubenden der neuen Diatheke mit dem alten Heilsvolk seit Abraham zu einer einzigen Geschichte irdischer Pilgerschaft zusammengeschlossen (11,1-12,3), die ihre Kontinuität in Gottes verheißendem Wort besitzt«. 46 Vgl. Schnelle, Einleitung (Anm. 5), 413 f. 425. 47 O. Hofius, Katapausis. Die Vorstellung vom endzeitlichen Ruheort im Hebräerbrief (WUNT 11), Tübingen 1970, 150: »Der Hebräerbrief kennt den Gedanken einer Wanderschaft zum Himmel bzw. zu den im Himmel bereiteten Stätten nicht, sondern er teilt die apokalyptische Erwartung, daß die präexistenten Heilsorte am Tag der Endvollendung aus der Verborgenheit heraustreten werden. Dementsprechend ist die Gemeinde nicht als das zum Himmel wandernde, wohl aber als das auf die Heilsvollendung w a r t e n d e Gottesvolk gesehen, und der Verfasser will dieses Volk nicht etwa ›auf seinem Weg in die himmlisch-zukünftige Welt anspornen‹, sondern es mit aller Dringlichkeit dazu aufrufen, die Erwartung nicht preiszugeben, der allein die Erfüllung verheißen ist.« 48 Gräßer, Hebräerbrief I (Anm. 5), 15, wählt als Überschrift seines Abschnitts zur Gattungsbestimmung: »Das literarische Rätsel«. Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 35 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 35 1. Hinführung Unter den neutestamentlichen Schriften gilt der Hebräerbrief als besonders schwere Kost. Dafür lassen sich mancherlei Gründe finden. Ich will hier nur zwei nennen. Zum einen trifft auch hier das Sprichwort zu: Was der Bauer nicht kennt, das isst er nicht. Mit den synoptischen, johanneischen und paulinischen Theologien sind wir mehr oder weniger groß geworden. Aber der Hebräerbrief ist daneben noch etwas Eigenes, Fremdes, und es braucht eine Weile, bis wir Geschmack daran finden. Der zweite hängt mit dem ersten zusammen: Der Hebräerbrief setzt nicht nur eine profunde Kenntnis der alttestamentlichen Schriften, sondern auch popularphilosophische Vorstellungen seiner Zeit voraus, die uns gewöhnlich nicht mehr geläufig sind. Beides zusammen führt beim Lesen zu dem Eindruck, dass dem Namen oder der Spur nach Vertrautes hier ganz eigenartig umgeformt begegnet. Es ist fast so, wie wenn man beim Blick in ein Gesicht überlegt, ob man dem Menschen irgendwo schon einmal begegnet ist oder nicht. 1.1 Eschatologie Besonders deutlich zeigt sich dieser Umstand im Blick auf die Eschatologie des Hebräerbriefes. Man hat als »Basismotiv« des ganzen Schreibens das »wandernde Gottesvolk« auf dem Weg zu seinem endzeitlichen Ruheort bestimmt: 1 Dem Autor dient die israelitische Wüstengeneration als warnendes Beispiel für die christliche Gemeinde, auf dem Weg in das verheißene Land nicht durch Ungehorsam Gott gegenüber die ersehnte Ankunft zu vereiteln (Hebr 3,1-4,13; 12,18-29). Dieses Basismotiv hat eine zeitliche und eine räumliche Komponente. Einerseits wird die Gegenwart der Adressaten als apokalyptische Endzeit qualifiziert, in der Gott nicht mehr durch die Propheten allein, sondern vor allem durch seinen Sohn zu uns spricht (Hebr 1,1-2), und die mit dem endgültigen Zusammenbruch dieser vergänglichen Welt und dem zweiten Kommen Christi ihr Ziel erreicht (Hebr 9,27 f.; 10,35-39). Andererseits wird diese apokalyptische Vorstellung in ein Verständnis der Wirklichkeit integriert, welches das ontologische Verhältnis zwischen diesseitiger und jenseitiger Welt, zwischen Erde und Himmel mit Hilfe räumlicher Kategorien des mittleren Platonismus beschreibt. Die zeitliche Dimension, die jeder Eschatologie unaufhebbar innewohnt, wird dadurch nicht eliminiert, aber doch um ihre alles entscheidende Bedeutung gebracht. Der grundlegende Gegensatz besteht nicht mehr zwischen der schon geschehenen Erlösung und der noch ausstehenden Vollendung, sondern zwischen der diesseitigen, vergänglichen Welt, in der wir leben, und der jenseitigen, unvergänglichen Welt, an der wir kraft des Glaubens bereits teilhaben (Hebr 12,25-29). 1.2 Parusie Unter diesen Voraussetzungen stellt sich unweigerlich die Frage, was der Autor des Hebräerbriefes von der Zukunft eigentlich noch erwartet. Sie gewinnt an Schärfe, wenn wir sie auf die Frage nach der Gestalt und dem Stellenwert des frühchristlichen Parusiegedankens im Hebräerbrief zuspitzen: Was kann Christi zweite Ankunft (gr. parousia) für die Gläubigen noch bedeuten, wenn sie mit seinem ersten Kommen bereits freien Zugang zum Heiligtum Gottes im Himmel erhalten haben (Hebr 10,19)? Welche Vorstellung sich der Verfasser des Hebräerbriefes von der Parusie Christi macht, wird nirgends breit entfaltet. Es gibt aber fünf Stellen, an denen er wirklich oder vermeintlich auf den Parusiegedanken zurückgreift: Hebr 1,6; 9,27 f.; 10,25.36-39; 12,25-29. Gleichzeitig passt er ihn an seine Weltauffassung an, die zu derjenigen des Mittelplatonismus erstaunliche Parallelen aufweist. Wir gehen im Folgenden vier der fünf Textstellen aus dem Hebräerbrief durch (Hebr 10,25 lassen wir als wenig ergiebig beiseite), fragen dann in einem zweiten Schritt nach möglichen mittelplatonischen Hintergründen dieser Texte und beziehen beides in einem abschließenden Kapitel wieder aufeinander. 2 2. Parusie im Hebräerbrief 2.1 Hebr 1,6: Wiedereinführung in die Welt Hebr 1,6 steht in einer Kette (lat. catena) von sieben alttestamentlichen Zitaten, mit denen der Autor des Hebräerbriefes die Erhabenheit Jesu als des Sohnes Gottes über die Engel aus der Schrift erweisen will. Das Wilfried Eisele Bürger zweier Welten Zur Eschatologie des Hebräerbriefes Zum Thema Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 36 - 4. Korrektur 36 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Zum Thema eigentliche Thema von Hebr 1,5-14 ist jedoch nicht das Verhältnis des Sohnes zu den Engeln, sondern zu Gott als seinem Vater. Jesus als dem Sohn Gottes wird die gleiche Verehrung zuteil wie Gott selbst. Das bringt der Hebräerbriefautor mit dem dritten Zitat der Katene samt dazugehöriger Einleitung zum Ausdruck (Hebr 1,6): »Wenn er [sc. Gott] aber den Erstgeborenen wieder in die Welt einführt, sagt er: ›Und niederfallen sollen vor ihm alle Engel Gottes‹«. Die kniefällige Verehrung (gr. proskynein) kommt im Alten Orient den Göttern und den Herrschern als ihren irdischen Repräsentanten zu, weshalb man es oft mit »anbeten« übersetzen kann. Solch göttliche Verehrung erfährt Christus von den Engeln bei seiner Wiedereinführung in die Welt. Man hat darin die Menschwerdung oder die Wiederkunft Christi bei seiner Parusie am Ende der Welt sehen wollen. Aber es ist nicht recht einzusehen, weshalb die Engel gerade aus einem dieser Anlässe Christus huldigen sollten. Als Bewohner des Himmels huldigen sie ihm vielmehr, wenn er aus seinem irdischen Dasein in die himmlische Welt zurückkehrt, d. h. bei seiner Auferstehung und Erhöhung zum Vater im Himmel. Das erklärt auch, warum Jesus hier als der »Erstgeborene« (gr. prōtotokos) bezeichnet wird. Nach Kol 1,18 ist Jesus »der Erstgeborene aus den Toten«; mit seiner Auferweckung von den Toten ist die Endzeit angebrochen, deren unverkennbare Signatur die allgemeine Totenauferstehung ist. So ist Christus nach Röm 8,29 »der Erstgeborene unter vielen Brüdern«, die ihm in der Auferstehung folgen werden. 2.2 Hebr 9,27 f.: Zweites Erscheinen Hebr 9,27 f. schließt den Mittelteil des Hebräerbriefes (Kap. 8 f.) ab, der in der konzentrischen Struktur des Schreibens zugleich auch dessen inhaltlichen Schwerpunkt bildet. Als »Hauptsache« (gr. kephalaion) seiner Darlegungen nennt der Verfasser eingangs (Hebr 8,1 f.) das Hohepriesteramt Jesu im himmlischen, d. h. von Gott und nicht von Menschenhand gemachten Heiligtum. Durch seinen Tod am Kreuz ist Jesus dort eingetreten und hat sich selbst als Opfergabe dargebracht; so hat er ein für allemal die Reinigung von den Sünden bewirkt und ist zum Mittler eines neuen Bundes geworden (Hebr 9,11-15). Die Einmaligkeit der Heilstat Christi unterstreicht der Hebräerbriefautor abschließend durch einen anthropologischen Vergleich (Hebr 9,27 f.): »Und wie es den Menschen bestimmt ist, ein einziges Mal zu sterben, worauf dann das Gericht folgt, so wird auch Christus, nachdem er ein einziges Mal dargebracht worden ist, um die Sünden vieler auf sich zu nehmen, beim zweiten Mal nicht der Sünde wegen, sondern denen, die ihn erwarten, zur Rettung erscheinen«. Man kann diese Verse so verstehen, dass man das zweite Erscheinen Christi auf seine Parusie am Ende der Zeiten bezieht: Von ihren Sünden ein für allemal befreit, erwarten die Gläubigen ihre endgültige Rettung, wenn diese Welt zu Ende geht. Meines Erachtens legt die Struktur des Vergleichs jedoch eine andere Lesart nahe: Eine zeitliche Distanz zwischen dem Tod des Menschen und dem Gericht über ihn wird hier durch nichts angedeutet; wie nun das Gericht auf den Tod des Menschen unmittelbar folgt, so scheint sich Christus dem Gläubigen aus diesem Anlass bereits als Retter zu zeigen. Freilich schließt eins das andere nicht aus, wenn man annimmt, dass die zweite Begegnung mit Christus anders als die erste, die in unserer Welt und Zeit stattfand, als jenseitiges Ereignis gar keinen Zeitindex mehr trägt. Im himmlischen Heiligtum ereignet sich alles zugleich und dadurch ein für allemal. Aus dieser Perspektive fallen das individuelle Ende des Menschen und das Ende der Welt in eins. Dass der Hebräerbriefautor so oder ähnlich gedacht haben könnte, ergibt sich mit einiger Deutlichkeit freilich erst aus dem Folgenden. Prof. Dr. Wilfried Eisele, geb. 1971, Studium der Katholischen Theologie und der Philosophie in Tübingen, Jerusalem und Paris, Professor für Zeit- und Religionsgeschichte des Neuen Testaments an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Hauptforschungsgebiete: antike Logienüberlieferung, pagane Kulte und das Neues Testament, Apostelgeschichte und Josephus. Wilfried Eisele »Im himmlischen Heiligtum ereignet sich alles zugleich und dadurch ein für allemal. Aus dieser Perspektive fallen das individuelle Ende des Menschen und das Ende der Welt in eins.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 37 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 37 Wilfried Eisele Bürger zweier Welten 2.3 Hebr 10,36-39: Ankunft des Kommenden Hebr 10,36-39 bildet den Abschluss der paränetischen Folgerungen, die aus der Hohepriester-Christologie von Hebr 7,1-10,18 ab Hebr 10,19 gezogen werden. Gleichzeitig weist der Abschnitt auf die folgenden Themen »Glaube« (Hebr 11) und »Ausdauer« (Hebr 12,1-13) voraus. Auf den ersten Blick scheint gespannte Naherwartung, ausgedrückt durch ein Mischzitat aus Jes 26,20 und Hab 2,3 (beide nach der LXX), den Schlussteil der Paränese zu prägen (Hebr 10,37): »Denn noch ein ganz klein Weilchen, dann wird der Kommende kommen und wird nicht säumen«. Dass mit dem Kommenden kein anderer als Christus gemeint ist, unterliegt durch die engen Parallelen zu Hebr 10,5-10 und Joh 11,25-27 keinem Zweifel. Wird in Hebr 10,37 also die unmittelbar bevorstehende Parusie Christi am Ende der Geschichte angesagt? Jedenfalls lässt die Formulierung des Verses erkennen, dass der Glaube an die Wiederkunft Christi für die Adressaten nicht (mehr) selbstverständlich ist, sondern auf dreifache Weise eingeschärft werden muss: Die Zeit bis dahin wird eindringlich als, wörtlich übersetzt, »kurz-- wie sehr, wie sehr! « bezeichnet; dass der Kommende, dessen Titel nichts anderes als seine Ankunft besagt, auch wirklich kommen wird, muss eigens betont werden; gleichzeitig wird das Gegenteil, dass er säumen oder ganz ausbleiben könnte, extra noch verneint. Die umliegenden Verse (Hebr 10,36.38 f.) machen indes klar, dass es dem Verfasser nicht in erster Linie um das baldige Eintreffen, sondern grundsätzlich um die Gewissheit der bevorstehenden Parusie Christi geht. Denn er rechnet durchaus mit einer längeren Zeitspanne bis dahin, sonst wären seine Mahnung zur Ausdauer ebenso wie seine Warnung vor dem Zurückweichen fehl am Platz. Ausdauer und Unnachgiebigkeit braucht man nur, wo das Ersehnte nicht schon in greifbarer Nähe liegt. 2.4 Hebr 12,25-29: Bleiben des Unerschütterlichen Hebr 12,25-29 macht vollends deutlich, auf welchem weltanschaulichen Hintergrund der Hebräerbrief die Frage nach dem zweiten Kommen Christi betrachtet. Der Abschnitt geht als paränetische Folgerung aus dem Vergleich hervor, den der Autor in Hebr 12,18-24 zwischen der Gemeinde der Israeliten am Sinai und der endzeitlichen Gemeinde Christi anstellt. Grundsätzlich unterscheidet er zwischen zwei Bereichen der Wirklichkeit, die er durch eine Reihe von Gegensatzpaaren charakterisiert: Dem Irdischen steht das Himmlische, dem Erschütterlichen das Unerschütterliche, dem Geschaffenen das Ungeschaffene als sich wechselseitig ausschließende Existenzweisen gegenüber. Die Offenbarung Gottes am Sinai verortet der Verfasser ganz auf Erden, die endzeitliche Offenbarung Gottes in seinem Sohn Jesus dagegen vom Himmel her (Hebr 12,25). Bebte damals nur die Erde, so werden jetzt in einem baldigen und einmaligen Akt Erde und Himmel-- jetzt nicht als gegensätzliche, sondern als komplementäre Begriffe 3 für den unteren und oberen Teil der geschaffenen Welt verstanden-- erschüttert (Hebr 12,26). Dann wird das Erschütterliche als Vergängliches endgültig vergehen, während das Unerschütterliche und damit Unvergängliche allein übrig bleibt (Hebr 12,27). Es ereignet sich aber in diesem unwiderruflichen Niedergang der hiesigen Welt nichts wesentlich Neues. Vielmehr ist die Vergänglichkeit allem Geschaffenen aufgrund seiner Geschöpflichkeit von Anfang an zu eigen: Was geworden ist, kann und wird irgendwann auch wieder vergehen. Insofern erfüllt sich mit der Auflösung der vorfindlichen Welt lediglich das ihr von Anbeginn innewohnende Schicksal. Dem entspricht, dass der Christ das Heilsgut eines »unerschütterlichen Reiches« nicht erst am Ende der Welt, sondern schon in seiner jeweiligen Gegenwart empfängt (Hebr 12,28). Am Ende tritt lediglich offen zu Tage, was davor schon die alles bestimmende Wirklichkeit war. Dabei können sich hier wie in Hebr 9,27 f. die Zeitperspektiven verschränken: Das Ende der vergänglichen Welt erlebt der Mensch je für sich in seinem Tod, während es umfassend erst mit dem Ende der Geschichte eintritt. Gespannte Naherwartung der künftigen Parusie Christi hat in einem solchen Denken jedenfalls keinen Platz mehr; denn der freie Zugang zum Ewigen steht dem Glaubenden jetzt schon offen (Hebr 10,19), wenn er sich ausdauernd an das hält, was bei aller Erschütterung seiner Lebens- und Weltverhältnisse bleibt. Dem entspricht ein Leben, das in dankbarer und ehrfürchtiger Verehrung Gottes geführt wird (Hebr 12,28 f.). 2.5 Zusammenfassung Schon dieser erste Durchgang durch die einschlägigen Textpassagen lässt erkennen, wie der Hebräerbriefautor den frühchristlichen Parusiegedanken in seine eigene Weltanschauung integriert und zugleich erheblich »Es ereignet sich aber in diesem unwiderruflichen Niedergang der hiesigen Welt nichts wesentlich Neues. Vielmehr ist die Vergänglichkeit allem Geschaffenen aufgrund seiner Geschöpflichkeit von Anfang an zu eigen.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 38 - 4. Korrektur 38 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Zum Thema umgeformt hat: »Das traditionell zeitliche Schema der Apokalyptik tritt bei ihm hinter räumlich-ontologischen Vorstellungen zurück. An die Stelle der Spannung zwischen Schon und Noch-nicht rückt die Diastase zwischen erschütterlicher und unerschütterlicher Welt, die beide schon jetzt nebeneinander existieren« 4 . Zwar steht das zweite Erscheinen Christi, ob nun nach dem Tod des Menschen im Himmel oder am Ende der Welt auf der Erde, noch aus. Aber es bringt so oder so nicht mehr die entscheidende Wende, weil sich diese im hohepriesterlichen Selbstopfer Jesu am Kreuz bereits vollzogen hat. Mit ihm sind die Gläubigen, obgleich sie noch auf Erden leben, schon zur Versammlung im himmlischen Jerusalem hinzugetreten (Hebr 12,22) und haben Anteil am unerschütterlichen Reich des Himmels erhalten (Hebr 12,28). Bis die vergängliche Welt mit ihren Bedrängnissen endgültig vergangen ist, braucht es Ausdauer, um das erlangte Heilsgut, den freien Zugang zum Heiligtum Gottes im Himmel (Hebr 10,19), nicht wieder zu verlieren. 3. Mittelplatoniker Die so skizzierte Soteriologie und Eschatologie des Hebräerbriefes gewinnt zusätzlich an Plausibilität, wenn man sie auf dem Hintergrund zeitgenössischer mittelplatonischer Vorstellungen betrachtet. Dabei ist zu berücksichtigen, dass wir über den mittleren Platonismus nur sehr unzureichend informiert sind und das vorhandene Quellenmaterial ein recht heterogenes Bild entstehen lässt. Daher hat es sich eingebürgert, die ideengeschichtlichen Grenzen des Mittelplatonismus von außen her zu definieren, nämlich als Phase zwischen der akademischen Skepsis, die durch Antiochos von Askalon († 69 v. Chr.) überwunden wurde, und dem geschlossenen System des Neuplatonismus, das Plotin († 270 n. Chr.) begründete. 5 Außer den auf uns gekommenen Werken des jüdischen Religionsphilosophen Philon von Alexandria (ca. 20 v.-45 n. Chr.) und des delphischen Apollonpriesters Plutarch von Chaironeia (ca. 50-120 n. Chr.) 6 besitzen wir von mittelplatonischen Autoren nur spärliche Textfragmente. Deshalb beschränken wir uns hier auf diese beiden und fragen, wo das Verständnis von Welt und Wirklichkeit, das dem eschatologischen Denken des Hebräerbriefes zu Grunde liegt, bei ihnen in ähnlicher Weise begegnet. Dabei beziehen wir neben Texten mit eschatologischen auch solche mit protologischen Aussagen in unseren Vergleich mit ein, weil bei allen drei Autoren das Ende von Mensch und Welt ursächlich mit ihrem Anfang zusammenhängt. Als drittes Thema, das in Hebr 1 durch die Engel repräsentiert wird, ist schließlich die Frage nach der Vermittlung zwischen dem unerschütterlichen Reich des Himmels und der vergänglichen Lebenswelt des Menschen anzusprechen. 3.1 Philon von Alexandria 3.1.1 Erlösung In seiner Schrift »Über die Belohnungen und Strafen, über die Segnungen und Flüche« (De praemiis et poenis, de benedictionibus et exsecrationibus) scheint Philon an zwei Stellen eine Art jüdischer Parusieerwartung zu äußern. Nach der einen stellt sich der eschatologische Friede in zwei Etappen ein: Zuerst werden die wilden Tiere von den Menschen besiegt und gezähmt; danach schließen die Menschen entweder untereinander Frieden, oder der Krieg reibt sich selbst auf, oder die letzten Kriegslüsternen werden von den Heiligen vernichtend geschlagen. Im letztgenannten Fall rechnet Philon mit dem Auftreten der messianischen Gestalt aus Num 24,7 (praem. 95): »›Hervorgehen wird nämlich ein Mensch‹, spricht das Orakel, ›und als Heerführer und Kriegsherr wird er große und menschenreiche Völker bezwingen‹.« 7 Allerdings wird der Sieg nicht durch diesen Menschen errungen, sondern durch die Hilfe Gottes, die in »unerschütterlichem Mut der Seelen und gewaltigster Kraft der Leiber« (praem. 95) besteht. »Fast gewinnt man den Eindruck, Philo zitiere die Messiaserwartung nur, um sogleich ihre Bedeutungslosigkeit zu demonstrieren.« 8 Ähnlich verhält es sich an der anderen Stelle (praem. 165), nach der sich die zu Gott Bekehrten unter der Führung »einer gewissen Erscheinung, die göttlicher sein wird als eine gemäß menschlicher Natur« von allen Enden der Erde an dem »einen angewiesenen Ort« versammeln werden. Ihr Ziel erreichen sie nicht in erster Linie mit Hilfe dieser Erscheinung, sondern aufgrund der Milde und Güte des Vatergottes, durch das Fürbittgebet der Erzväter Israels und durch ihre eigene Besserung als Söhne Gottes (praem 166 f.). An beiden Stellen wird deutlich, wie Philon auf bestimmte Figuren endzeitlicher Rettung zurückgreift, die bei ihm aber merkwürdig blass bleiben und letztlich über Wohl und Wehe der Menschen keineswegs entscheiden. Dafür ausschlaggebend ist allein die Tugend; aus der Soteriologie ist unter der Hand eine Tugendlehre geworden. 3.1.2 Schöpfung Wie kaum anders zu erwarten, kommt Philons grundlegendes Verständnis von Welt und Wirklichkeit am Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 37 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 39 Wilfried Eisele Bürger zweier Welten deutlichsten in seinem Buch »Über die Erschaffung der Welt« (De opificio mundi) zum Ausdruck. Darin legt er die biblischen Schöpfungserzählungen (Gen 1-3) aus und bedient sich dazu philosophischer Kategorien, die sich zu einem großen Teil auf Platons kosmologischen Dialog »Timaios« zurückführen lassen. Bei Platon erschafft ein untergeordneter Demiurg die sichtbare Welt als Abbild der ihm vorgegebenen unsichtbaren Ideen (Tim. 27d-29a). Diese Vorstellung ist mit Philons jüdischem Monotheismus nicht vereinbar, weil sie die absolute Souveränität Gottes im Schöpfungsakt entscheidend einschränkt. Dementsprechend existieren die Ideen bei Philon nicht außerhalb des Schöpfers, sondern in ihm selbst als seine Gedanken. Er vergleicht den Schöpfergott mit einem Architekten, der den Plan für eine zu bauende Stadt zuallererst in sich trägt, bevor er ihn in einem Modell und dann in konkreten Bauten umsetzt (opif. 17-20). Den Idealplan der Welt bezeichnet Philon als »verstandesmäßige Welt« (gr. kosmos noētos), die im Grunde nichts anderes ist als »die Vernunft Gottes, der schon dabei ist, die Welt zu schaffen« (opif. 24). Nach diesem idealen Muster bringt Gott hernach die materielle, »wahrnehmbare Welt« (gr. kosmos aisthētos) hervor. Den biblischen Beleg für die verstandesmäßige Welt findet Philon in der griechischen Übersetzung von Gen 1,2a, die das hebräische tohuwabohu (»Wüste und Leere«) nicht verstanden und deshalb übertragen hat: »Die Erde aber war unsichtbar und gestaltlos.« Diese Version ist selbst wohl schon an Platon orientiert, indem das Unsichtbare mit den Ideen und das Gestaltlose mit dem Chaos vor der Weltentstehung identifiziert wird. 9 Nach Philon ist am ersten Schöpfungstag allerdings nur die verstandesmäßige Welt erschaffen worden (opif. 29). Dahingehend deutet er die Bezeichnung dieses Tages als »ein Tag« (gr. hēmera mia) in Gen 1,5 und nicht, wie bei den folgenden Tagen, mit der Ordnungszahl als »erster Tag« (gr. hēmera prōtē) (opif. 15.35). Die verstandesmäßige Welt ist in sich eins und kann sich daher auch nicht in irgendwelche Einzelteile auflösen; sie ist ewiges, unveränderliches Sein, während die wahrnehmbare Welt ständigem Wechsel unterworfen und immerfort im Werden und Vergehen begriffen ist (opif. 12). Mit der Verortung der verstandesmäßigen Welt in der Vernunft Gottes sagt Philon zugleich, dass Gott selbst nicht einfach das Sein an sich, sondern noch über das Sein hinaus ist. Übersteigt bei Platon (rep. 508e-509b) die Idee des Guten auch noch die Wahrheit und Erkenntnis der Ideen überhaupt, so ist Gott nach Philon sogar noch »größer als das Gute selbst und das Schöne selbst« (opif. 8). 3.1.3 Engel Wie kann es aber unter diesen Bedingungen überhaupt eine Verbindung zwischen den beiden Welten und auch zwischen Gott und Mensch geben? Diesem Problem widmet sich Philon ausführlich in seinem ersten Buch »Über die Träume« (De somniis I). Er deutet den Traum Jakobs von der Himmelsleiter (Gen 28,12 f.) als Bild für Beständigkeit und Unbeständigkeit. Am oberen Ende der Leiter steht der unveränderliche Gott und blickt auf den ununterbrochenen Aufstieg und Niedergang der veränderlichen Dinge herab, der durch die Leiter symbolisiert wird (somn. I 134-158). Das Bild hat nach Philon verschiedene Dimensionen, von denen ich hier nur eine herausgreifen will. In kosmologischer Hinsicht steht die Leiter für den Luftraum zwischen Himmel und Erde, der von den Engeln bewohnt wird (somn. I 134- 145). Diese sind für Philon nichts anderes als Seelen ohne Leib. Dass die Luft »leibloser Seelen Haus« (somn. I 135) sein muss, ergibt sich für ihn daraus, dass sie, die als Atem die Leiber belebt und damit beseelt, selbst nicht gut ohne lebendige Seelen sein kann (somn. I 137). Je mehr nun eine Seele zum Körperlichen hingezogen wird, desto weiter sinkt sie in der Seinshierarchie vom wahren, beständigen Sein zum Vergänglichen und Unbeständigen herab, und je mehr sie sich davon reinigt, desto weiter steigt sie wieder auf (somn. I 138- 140). Beides ist nicht nur ontologisch, sondern auch moralisch zu verstehen, indem Aufstieg zugleich Fortschritt in der Tugend und Abstieg zunehmende Schlechtigkeit bedeutet. Für die Vorstellung von den Engeln ergibt sich daraus eine gravierende Ambivalenz: Sie haben einerseits wie die Menschen an Tugend und Schlechtigkeit Anteil, fungieren aber andererseits als tüchtige Boten zwischen Gott und den Menschen, welche »die Anweisungen des Vaters den Kindern und die Bitten der Kinder dem Vater« (somn. I 141) übermitteln. Was Gott in seiner Größe direkt »durch sich selbst gewährt, ohne sich anderer Sklaven zu bedienen« (somn. I 143), ist für den Menschen in seiner Begrenztheit unfassbar und daher unerträglich, seien es Strafen oder Wohltaten. Daher sind die Engel als gute Vermittler unerlässlich, um die »Die verstandesmäßige Welt ist in sich eins und kann sich daher auch nicht in irgendwelche Einzelteile auflösen; sie ist ewiges, unveränderliches Sein, während die wahrnehmbare Welt ständigem Wechsel unterworfen und immerfort im Werden und Vergehen begriffen ist.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 40 - 4. Korrektur 40 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Zum Thema Kluft zwischen der Welt, in der wir leben, und dem absolut transzendenten Gott zu überwinden. 3.1.4 Zusammenfassung Im Blick auf den Hebräerbrief sind Philons Darlegungen höchst aufschlussreich. Vorerst seien nur einige Eckpunkte für den weiteren Verlauf der Untersuchung festgehalten. Wie der Hebräerbrief den Gedanken der Parusie Christi, so greift auch Philon die Vorstellung einer endzeitlichen Rettergestalt auf. In beiden Fällen brauchen die Frommen die alles entscheidende Wende aber nicht erst von der Zukunft zu erwarten, sondern sind gegenwärtig schon in den Stand versetzt, am Ende gerettet zu werden. Die Gläubigen des Hebräerbriefes haben jetzt schon freien Zugang zu Gott im himmlischen Heiligtum, seit Jesus in seinem Kreuzestod als Hoherpriester dort eingezogen ist. Die Heiligen bei Philon, denen Gott sich gütig erweist, haben mit der Tugend das wirksamste Mittel in der Hand, um den letzten Kampf für sich zu entscheiden. Das Ende der vorfindlichen Welt kann beiden im Grunde nichts anhaben. Denn es vollzieht sich dann nur endgültig, was vorher schon immer gegolten hat: dass die wahrnehmbare Welt vergänglich ist und einstmals ganz vergeht, während die Gläubigen und Frommen der unvergänglichen, ewigen Welt angehören und mit ihr bestehen bleiben. Solange sie in dieser Welt zu Hause sind, bedürfen sie freilich noch eines Vermittlers, um an der transzendenten Welt Gottes Anteil zu erhalten. Diese Vermittler sind von der jüdischen Tradition her die Engel, die aber nach Philon wie jede Seele zwischen verstandesmäßiger und wahrnehmbarer Welt hin- und hergerissen sind. Deshalb kann nach Auffassung des Hebräerbriefes den Weg zu Gott nur wirklich bahnen, wer selbst Gott ist und doch als Mensch den Gehorsam Gott gegenüber gelernt hat (Hebr 1; 5,7-9). 3.2 Plutarch von Chaironeia 3.2.1 Unterschiede Wenden wir uns von hier aus Plutarch zu, so sind zunächst einige grundsätzliche Unterschiede zu benennen, die ihn vom Hebräerbrief weiter entfernt erscheinen lassen als Philon. Ist er auch wie dieser in ontologischkosmologischen Fragen vor allem Platoniker, so teilt er freilich den strengen Monotheismus des Juden nicht. Gleichwohl ist seine philosophische Theologie, anders vielleicht als seine priesterliche Praxis im Rahmen der volkstümlichen griechischen Religion, kaum anders als monotheistisch zu nennen. Auch darin unterscheidet er sich nicht von Platon. Für beide ist »der Gott«, absolut gebraucht und von Plutarch mit Apollon identifiziert, von den übrigen Göttern der Mythen grundverschieden (Plato Tim. 39a-41d; Plut. mor. 393a-c). Ein weiterer Unterschied zur jüdisch-christlichen Tradition besteht darin, dass der Grieche Plutarch eine Eschatologie im eigentlichen Sinn des Wortes nicht kennt. Denn die Rede von den »letzten Dingen« (gr. ta eschata) setzt die lineare Zeitperspektive der Apokalyptik mit ihrem geschichtlichen Denken voraus. Dagegen hat die griechische Mythologie eine zirkuläre Zeitstruktur, die mit einem permanenten Kreislauf von Werden und Vergehen und insofern zwar mit dem individuellen Tod des Menschen, aber nicht mit dem Ende der Welt rechnet. 10 Schließlich ist vorab noch anzumerken, dass der Platz, den bei Philon die Engel einnehmen, bei Plutarch von den Dämonen besetzt wird. Philon setzt beides ausdrücklich gleich (gig. 16): »Wenn du also bedenkst, dass ›Seelen‹ und ›Dämonen‹ und ›Engel‹ zwar unterschiedliche Namen sind, aber ein und dasselbe, worauf sie sich beziehen, so wirst du als überschwere Last den Aberglauben ablegen.« Im Unterschied zum neutestamentlichen Sprachgebrauch sind Dämonen also keineswegs nur böse Geister. Vielmehr können sie, wie die philonischen Engel, als leiblose Seelen alle Grade der Tugend und Schlechtigkeit annehmen und fungieren, wie schon bei Platon (symp. 202d-e), als Vermittler zwischen Göttern und Menschen. 11 3.2.2 Schöpfung Da man von einer »Eschatologie« bei Plutarch nur unter dem genannten Vorbehalt sprechen kann, wenden wir uns gleich seinen protologischen Texten zu. Von Bedeutung ist hier vor allem die Schrift »Über die Entstehung der Seele im Timaios« (De animae procreatione in Timaeo-- mor. 1012a-1030c), die eine Stelle aus Platons »Timaios« (35a-36b) ausführlich kommentiert. Plutarch teilt die platonische Grundüberzeugung, wonach nicht nur das einzelne Lebewesen, sondern auch die Welt als Ganze aus Leib und Seele besteht (Plato Tim. 30b). Mit dem späten Platon geht er überdies davon aus, dass die Welt mindestens zwei Seelen habe, »eine wohltätige und eine, die das Gegenteil zu bewirken vermag« 12 (Plato leg. 896e). Anders lässt sich seines Erachtens die Existenz des Bösen nicht erklären, nachdem der gute Schöpfergott eine gute Welt erschaffen hat. Grundsätzlich besteht die Schöpfertätigkeit Gottes aus platonischer Sicht darin, Ungeordnetes in eine schöne Ordnung zu überführen (Plato Tim. 30a): »Indem nämlich der Gott wollte, dass Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 37 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 41 Wilfried Eisele Bürger zweier Welten alles gut und nach Möglichkeit nichts schlecht sei, so nahm er also alles, was sichtbar war und keine Ruhe hielt, sondern in ungehöriger und ordnungsloser Bewegung war, und führte es aus der Unordnung zur Ordnung.« Den Blick auf die Ideen gerichtet, lässt der Schöpfer in der sogenannten chōra (»Raum«), die man näherungsweise als materielles Substrat der Schöpfung bezeichnen könnte, die Welt entstehen, indem er die chaotischen Bewegungen des Raumes in eine regelmäßige Ordnung bringt. Allerdings gelingt dies niemals ganz, weil der Raum seiner Durchordnung einen gewissen Widerstand entgegensetzt, den Platon als »Notwendigkeit« (gr. anankē) bezeichnet (Tim. 47e-48a.56c.68e-69a). Aus dieser Unvollkommenheit rührt bei ihm dann auch das Böse in der Welt. Dagegen macht Plutarch die übeltätige Seele für das Böse verantwortlich, weil es ohne Seele keine Bewegung gebe und daher auch die unordentliche Bewegung des Raumes, welche das Böse verursacht, nur von einer Seele stammen könne (mor. 1014c-1015f ). Schöpfung heißt demnach nicht, einer amorphen Masse die Form einer Seele einzuprägen. Vielmehr gibt es nach Plutarch Körper und Seelen zweifach: einerseits als unerschaffene und ungewordene, ungeordnete und mithin böse; andererseits als erschaffene und gewordene, geordnete und mithin gute (mor. 1016c-e). So stellt der Schöpfer »aus der ungewordenen bösen Seele die gewordene gute Weltseele und aus den ungewordenen elementaren Spuren des Körperlichen den Weltkörper her.« 13 Gut ist das Geschaffene demnach nicht aus sich heraus, sondern nur, sofern es vom guten Schöpfergott nach dem Muster der Ideen gestaltet worden ist; und Bestand hat es auch nicht aus eigener Kraft, sondern nur so lange, wie es von ihm im Dasein erhalten wird. 3.2.3 Dämonen Der Weltschöpfung liegt damit eine ontologische Unterscheidung zu Grunde, die Plutarch nirgendwo so deutlich ausspricht wie in seinem Dialog »Über das E in Delphi« (De E apud Delphos mor. 384d-394c). Dort wird über die Bedeutung eines dominanten Schmuckelements an der Frontfassade des Apollontempels in Delphi spekuliert, das die Form des griechischen wie lateinischen Großbuchstabens »E« hatte. An Plutarchs Stelle deutet sein Lehrer Ammonios das E als Teil eines Dialogs zwischen dem Gott Apollon und dem Beter, der zu seinem Heiligtum kommt. Dabei ruft der Gott dem Menschen die bekannte delphische Maxime »Erkenne dich selbst! « zu, worauf der Angesprochene antwortet: »Du bist« (gr. ei, dargestellt durch das E, das in seinem senkrechten Strich zugleich das »I« enthält). Die Selbsterkenntnis des Beters besteht nach Plutarch vor allem in der Erkenntnis seiner menschlichen Vergänglichkeit. Am wirklichen Sein und seiner Beständigkeit hat der Mensch keinen Anteil; vielmehr ist sein ganzes Leben im Fluss der Zeit dem ununterbrochenen Wechsel von Werden und Vergehen unterworfen (mor. 392a-e). Das wahre Sein ist dagegen zeitlos, d. h. »ewig und ungeworden und unvergänglich« (mor. 392e). In diesem Sinne spricht Plutarch dem Gott, der hier zwar immer noch Apollon heißt, aber in der philosophischen Spekulation monotheistisch gedacht ist, auf emphatische Weise das Sein zu (mor. 393a-b): »Aber es ist der Gott […], und er ist zu keiner Zeit, sondern in der unbeweglichen und zeitlosen und sich nicht neigenden Ewigkeit, im Vergleich zu der auch nichts früher ist noch später noch zukünftig noch vergangen noch älter noch jünger; sondern da er einer ist, hat er mit dem einen Jetzt das Immer erfüllt, und einzig und allein ist das demgemäß wirklich Seiende, weil es nicht entstanden ist noch sein wird noch begonnen hat noch enden wird.« Wo Zeit und Ewigkeit, Werden/ Vergehen und Sein, Menschliches und Göttliches derart kompromisslos und ohne Schnittmenge einander gegenübergestellt werden, da wird die Frage unausweichlich, wie Gott und Mensch überhaupt noch miteinander kommunizieren können. Die religiösen Riten, die mythologische Ereignisse im Leben der Götter nachvollziehen, werden problematisch, weil die an sich ewigen und unveränderlichen Götter darin vielfache Veränderungen erfahren. Konkret beschäftigt Plutarch in seinem Dialog »Über die erloschenen Orakel« (De defectu oraculorum mor. 409e-438d) das Problem, wie es sein kann, dass zahlreiche Orakelstätten Griechenlands eingegangen sind, wenn es angeblich die ewigen Götter sind, die sie gestiftet haben. Eine Lösung ermöglicht die Dämonologie, indem alles, was den ewigen Göttern aufgrund ihrer Unveränderlichkeit nicht zugerechnet werden kann, den Dämonen als Mittelwesen zwischen Göttern und Menschen zugeschrieben wird (mor. 414c- 415c; 416c-418d). Wenn die Dämonen nichts anderes als leiblose Seelen sind, haben sie auch an Tugend und Schlechtigkeit der Seele in un- »Wo Zeit und Ewigkeit, Werden/ Vergehen und Sein, Menschliches und Göttliches derart kompromisslos und ohne Schnittmenge einander gegenübergestellt werden, da wird die Frage unausweichlich, wie Gott und Mensch überhaupt noch miteinander kommunizieren können.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 42 - 4. Korrektur 42 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Zum Thema terschiedlichem Maße Anteil. So wird es denkbar, dass ein Orakel durch die Güte eines Dämons irgendwann entsteht und aufgrund seiner Schlechtigkeit irgendwann auch wieder vergeht. Hier wie schon bei Philon ergibt sich aber auch eine Ambivalenz zwischen der Rolle der Dämonen als zwischen Göttern und Menschen »dolmetschende Natur« (mor. 416f ) und ihrer unweigerlichen Kontamination mit dem Leiblichen beim Abstieg in die menschliche Welt. In Plutarchs Schrift »Über das Mondgesicht« (De facie in orbe lunae mor. 920a-945e) löst ein Mythos das Problem so, dass die durch den Tod des Menschen entleibten Seelen erst später zu Dämonen und damit auch zu Mittlern zwischen Göttern und Menschen werden (mor. 940f-945d). Eine andere Lösung bietet der Mythos im Dialog »Über das Daimonion des Sokrates« (De genio Socratis mor. 575a-598f ). 14 Dort wird der menschliche Geist (gr. nous), der selbst nicht Teil der Seele, sondern von ihr verschieden ist, mit einem Dämon identifiziert, der zwar mit einer Seele verbunden sein kann, aber keinesfalls mit ihr in einen Leib eingeht, sondern die dadurch entstandene Leib- Seele-Einheit von außen her lenkt (mor. 590b-592e). Der Dämon vermittelt dann zwar zwischen einem Menschen und den Göttern, steht aber seinem Wesen nach den Göttern bedeutend näher. 3.2.4 Zusammenfassung Lenken wir von Plutarch aus den Blick zurück auf den Hebräerbrief, so sind einige grundlegende Gemeinsamkeiten in beider Denken nicht zu übersehen. In seiner Sicht auf Welt und Wirklichkeit unterscheidet Plutarch streng zwischen dem wahren Sein, das zeitlos ist und daher auch keinerlei Veränderung kennt, einerseits und dem Veränderlichen, das in der Zeit entstanden ist und daher auch wieder vergehen wird, andererseits. Dem entspricht die grundsätzliche Unterscheidung des Hebräerbriefes zwischen der erschütterlichen Welt, die unvermeidbar ihrem Ende entgegengeht, und dem unerschütterlichen Reich, an dem die Gläubigen jetzt schon Anteil erhalten und das ihnen nach dem Niedergang des Erschütterlichen endgültig zuteil werden wird. Der in der philosophischen Spekulation bei Plutarch monotheistisch gedachte Gott ist streng transzendent und als Inbegriff des wahren Seins den Wechselfällen des menschlichen Lebens enthoben. Daraus entsteht die Frage nach etwaigen Vermittlungsinstanzen zwischen Gott und den Menschen, die Plutarch in den Dämonen findet. Deren Position bestimmt er allerdings nicht eindeutig, sondern verknüpft sie einmal mehr mit dem Schicksal der menschlichen Seelen und rückt sie ein andermal ihrem Wesen nach näher an den Gott heran. Der Hebräerbrief ist in dieser Hinsicht klar: Die notwendige Vermittlung zwischen Gott und den Menschen können letztlich nicht die Engel leisten, sondern nur Gottes Sohn, der einerseits selbst Gott ist und andererseits als Mensch dem Vater gegenüber Gehorsam gelernt hat (Hebr 1; 5,7-9). 4. Eschatologie im Hebräerbrief Im bisherigen Gang unserer Untersuchung haben wir uns auf Seiten des Hebräerbriefes auf jene fünf Stellen konzentriert, an denen die frühchristliche Parusievorstellung, wenn auch eigentümlich umgeformt, irgendwie noch durchscheint. Davon ausgehend haben wir mittelplatonisches Quellenmaterial ausfindig gemacht, das unseres Erachtens als denkerischer Hintergrund für die Umformung des Parusiegedankens im Hebräerbrief in Frage kommt. Schließlich kehren wir nun zum Hebräerbrief zurück und stellen den Vergleich mit Philon und Plutarch auf eine breitere Grundlage, indem wir weitere Texte des Hebräerbriefes in unsere Betrachtung mit einbeziehen. Dieser letzte Schritt scheint geeignet, ein vollständigeres und plastischeres Bild von der mittelplatonisch inspirierten Eschatologie des Hebräerbriefes zu vermitteln. 4.1 Urbild und Abbild Das für die mittelplatonische Weltanschauung konstitutive Schema von ewigem, unveränderlichem Urbild und zeitlichem, veränderlichem Abbild lässt sich meines Erachtens in zwei Motivkomplexen des Hebräerbriefes wiederfinden. Der erste begegnet in den zentralen Kapiteln Hebr 8-9. Das von Mose auf Erden errichtete Zelt der Begegnung (Ex 25,40) ist für den Verfasser lediglich ein »Abbild und Schatten« des himmlischen »Urbildes«, das Mose auf dem Berg Sinai gesehen hatte (Hebr 8,5; 9,23). Dabei scheint er nicht nur an eine allgemeine Analogie zwischen beiden Wirklichkeiten zu denken, sondern an eine detailgetreue Abbildung, in der dem irdischen Heiligtum mit seinen zwei Räumen (Heiliges und Allerheiligstes) ein eben solches im Himmel entspricht. Noch deutlicher wird dieser Zusammenhang beim zweiten Motivkomplex, der den Blick über das Heiligtum hinaus auf Stadt und Welt weitet, in denen es sich befindet. Wie der Hebräerbrief zwischen dem irdischen und himmlischen Heiligtum unterscheidet (Hebr 8,2.5.; 9,1. 11. 23.24), so auch zwischen hiesiger und künftiger Stadt (Hebr 11,10.16; 12,22; 13,14) und Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 37 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 43 Wilfried Eisele Bürger zweier Welten zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt (Hebr 1,6; 2,5; 11,3). Alle drei Aspekte begegnen auch bei Philon, wenn er den Schöpfer der Welt mit einem Architekten vergleicht, der die bei ihm in Auftrag gegebene Stadt nicht einfach drauflos baut, sondern nach einem vorher ausgedachten Plan, der alle Einzelheiten umfasst: »Heiligtümer, Sportplätze, Amtshäuser, Marktplätze, Häfen, Schiffshäuser, Gassen, Befestigungsanlagen, Fundamente von Häusern und öffentlichen Gebäude« (opif. 17). Ebenso ist nach Philon die Welt erschaffen worden als »jüngeres Abbild eines älteren, das so viele wahrnehmbare Arten umfassen sollte, wie in jenem verstandesmäßige sind« (opif. 16). Der Hebräerbrief scheint ähnlich zu denken: Die wahrnehmbare Welt ist nicht nur im Allgemeinen das veränderliche Abbild eines unveränderlichen Urbildes, sondern im Besonderen sind es auch alle Einzelheiten in ihr. 4.2 Glaubenserkenntnis Die zum Heil notwendige Einsicht in die wahren Gründungsverhältnisse der Welten, der wahrnehmbaren wie der verstandesmäßigen, vermittelt nach Hebr 11,3 der Glaube: »Im Glauben erkennen wir, dass die Welten durch das Wort Gottes erschaffen sind, so dass aus Unsichtbarem das Sichtbare entstanden ist.« Wie bei Philon hat Gott die Welt nicht nach einem vorgegebenen Muster geschaffen, sondern beide Welten, die unsichtbare in seinen Gedanken und die sichtbare, in der wir leben, gehen auf sein schöpferisches Wort zurück. Die unsichtbare Welt ist dem gläubigen Menschen durch rationale Erkenntnis zugänglich. Das bezeugen nach Hebr 11,9 f.13-16 Abraham und die Seinen, indem sie sich auch dann noch als »Fremde und Gäste auf Erden« bekennen, nachdem sie sich bereits im verheißenen Land niedergelassen haben. Dadurch geben sie zu verstehen, dass sich die an sie ergangenen Verheißungen in dieser Welt gar nicht erfüllen konnten, sondern nur in der anderen mit den festen Fundamenten, d. h. in der unerschütterlichen Welt des Himmels. Wie ist dann aber Hebr 12,22 zu verstehen, wonach die Gläubigen des Neuen Bundes bereits hinzugetreten sind »zum Berg Zion und zur Stadt des lebendigen Gottes, zum himmlischen Jerusalem«, obwohl sie doch noch auf Erden leben und Hebr 13,14 ausdrücklich sagt, dass auch sie »hier keine bleibende Stadt haben, sondern die künftige suchen«? Hier verbinden sich zwei Gedanken, die wir unabhängig voneinander schon erwähnt haben. Einerseits haben die Gläubigen, wenngleich sie noch auf Erden leben, schon freien Zutritt zum himmlischen Heiligtum (Hebr 10,19). Andererseits gelangen sie in das Allerheiligste des Himmels nicht anders als Christus selbst, nämlich durch den Tod; dorthin ist er ihnen durch seinen Tod am Kreuz vorausgegangen, und dort werden sie ihm nach ihrem eigenen Tod wieder begegnen (Hebr 9,11 f.27 f.). Dieser doppelte Standort der Gläubigen während ihres Erdendaseins hat eine bemerkenswerte Analogie in Plutarchs Dämonologie. Nach Hebr 12,23 sind die Gläubigen auch »zu den Geistern der vollendeten Gerechten« im Himmel bereits hinzugetreten. Dies geschieht nicht anders als im Geiste, nämlich durch die geistige Erkenntnis der wahren Weltverhältnisse, die der Glaube ermöglicht (Hebr 11,3). Ähnlich weilt nach Plutarch der Geist des Menschen, verstanden als sein Dämon, außerhalb des Leibes in der Nähe der Götter (mor. 590b-592e). 4.3 Der seiende Richtergott Wer jetzt schon im Geiste und nach dem Tod vollends zu Gott hinzutreten will, der muss nach Hebr 11,6 zwei grundlegende Dinge von ihm glauben, nämlich »dass er ist und die belohnt, die ihn suchen«. Nun kann man die Seinsaussage so verstehen, dass sie gegen eine atheistische Position schlicht die Existenz Gottes behauptet (vgl. Ps 14,1; 53,2). Auf dem ganzen Hintergrund, den wir bisher aufgezeigt haben, liegt es jedoch nahe, damit mehr zu verbinden. Gott existiert nicht nur, er ist im emphatischen Sinne des Wortes, d. h. er kennt kein Werden und Vergehen, sondern ist zeitlos, ewig, beständig und stets sich selbst gleich. Er ist derjenige, von dem man das Sein zuallererst aussagen muss, während man es von allem anderen Seienden nur in davon abgeleiteter Weise überhaupt aussagen kann. Was Ps 102,26-28 (LXX) in dieser Weise von Gott aussagt, das überträgt Hebr 1,10-12 auf Gottes Sohn: Er bleibt, d. h. er verändert sich nie und findet daher auch kein Ende, während die Himmel-- hier verstanden als der obere Teil der sichtbaren Welt-- eines Tages endgültig vergehen werden. Nur so kann er auch als Richter fungieren und denen, die ihn suchen, als Lohn den Einzug ins himmlische Allerheiligste gewähren, das den »Gott existiert nicht nur, er ist im emphatischen Sinne des Wortes, d. h. er kennt kein Werden und Vergehen, sondern ist zeitlos, ewig, beständig und stets sich selbst gleich. Er ist derjenige, von dem man das Sein zuallererst aussagen muss, während man es von allem anderen Seienden nur in davon abgeleiteter Weise überhaupt aussagen kann.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 44 - 4. Korrektur 44 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Zum Thema Gläubigen auf Erden als Heimat, zu der sie unterwegs sind, verheißen ist. 4.4 Zusammenfassung Was kann man als Ergebnis unseres Durchgangs über die spezifische Eschatologie des Hebräerbriefes in kurzen Worten sagen? Der Hebräerbrief lässt ein Verständnis von Welt und Wirklichkeit erkennen, das deutliche Affinitäten zu den mittelplatonischen Vorstellungen eines Philon oder Plutarch aufweist. Mit ihnen unterscheidet er grundlegend zwischen zwei Wirklichkeitsbereichen: dem des unerschütterlichen Seins, das sich selbst stets gleich bleibt, und dem des Werdens und Vergehens, in dem es nichts Beständiges gibt. Gott selbst, sein Sohn sowie die entscheidenden Heilsereignisse gehören allesamt zur wahrhaft seienden Welt des Himmels, zu der die Gläubigen im Geiste bereits Zugang haben, wenn sie auch leiblich noch in dieser Welt zu Hause sind. Dieser Heilsstand der Gläubigen ist durch den Opfertod Christi am Kreuz ein für allemal begründet worden; mit dem endgültigen Vergehen der Welt und dem zweiten Erscheinen Christi wird er nur noch offenbar. Da die vergängliche Welt für den einzelnen Menschen mit seinem Tod endgültig vergeht, offenbart sich ihm in diesem Augenblick die ewige Welt des Himmels, wo er Gott als seinem Richter und Christus als seinem Mittler im himmlischen Allerheiligsten begegnet. Anmerkungen 1 Vgl. E. Gräßer, Das wandernde Gottesvolk. Zum Basismotiv des Hebräerbriefes, ZNW 77 (1986), 160-179; E. Käsemann, Das wandernde Gottesvolk. Eine Untersuchung zum Hebräerbrief (FRLANT 37), Göttingen 1938. 2 Vgl. W. Eisele, Ein unerschütterliches Reich. Die mittelplatonische Umformung des Parusiegedankens im Hebräerbrief (BZNW 116), Berlin/ New York 2003. 3 Man sieht an dieser Stelle sehr schön, wie der Hebräerbrief traditionelle Sprach- und Denkmuster nebeneinander in ihrem althergebrachten und in einem neuen Sinn verstehen und benutzen kann. So bezeichnet der Begriff »Himmel« in Hebr 12,25 f. nacheinander zwei völlig verschiedene Dinge. In V. 25 sind die »Himmel« der Bereich des Unerschütterlichen und Beständigen, im Gegensatz zur erschütterlichen und unbeständigen Erde. Dagegen steht »Himmel« in V. 26 für den oberen Teil der geschaffenen und vergänglichen Welt und der Merismus »Himmel und Erde« entsprechend für die Schöpfung als Ganze (vgl. Gen 1,1). 4 Eisele, Reich, 132. 5 Vgl. M. Baltes, Mittelplatonismus, in: DNP Bd. 8, Stuttgart/ Weimar 2000, 294-300: 294. 6 Vgl. zu beiden Eisele, Reich, 149 f. 7 Alle Übersetzungen von Philon- und Plutarchtexten nach: Eisele, Reich, 431-488 (gelegentlich leicht verändert). 8 U. Fischer, Eschatologie und Jenseitserwartung im hellenistischen Diasporajudentum (BZNW 44), Berlin 1978, 200. 9 Vgl. P. Prestel/ S. Schorch, Genesis. Das erste Buch Mose, in: Septuaginta Deutsch. Erläuterungen und Kommentare I, Stuttgart 2011, 145-257: 157. 10 Nur unter diesem Vorbehalt lässt sich auch von einer »hellenistischen Eschatologie« sprechen; vgl. N. Walter, »Hellenistische Eschatologie« im Frühjudentum-- ein Beitrag zur »Biblischen Theologie«, ThLZ 110 (1985), 331-348; ders., »Hellenistische Eschatologie« im Neuen Testament, in: E. Gräßer/ O. Merk (Hg.), Glaube und Eschatologie, FS W.G. Kümmel, Tübingen 1985, 335-356. 11 Ursprünglich sind daimon und theos im Griechischen austauschbare Begriffe zur Bezeichnung eines Gottes (vgl. z. B. Hom. Il. I 222). Daneben verwendet Hesiod (op. 121-126) daimon für die Seelen der Verstorbenen. Letzteres verbindet sich bei Philon und Plutarch mit der platonischen Vorstellung von der Mittlerfunktion der Dämonen. Vgl. Dämonen V. A (S.I. Johnston), DNP 1, Stuttgart/ Weimar 1997, 261. 12 Alle Übersetzungen von Texten Platons nach: Platon, Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch (hrsg. von G. Eigler), Darmstadt 2 1990. 13 Eisele, Reich, 268. 14 Zu beiden Mythen vgl. W. Eisele, Jenseitsmythen bei Platon und Plutarch, in: M. Labahn/ M. Lang (Hg.), Lebendige Hoffnung-- ewiger Tod? ! Jenseitsvorstellungen im Hellenismus, Judentum und Christentum (ABG 24), Leipzig 2007, 315-340: 325-332. Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 45 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 45 Einleitung zur Kontroverse »Ist der Hebräerbrief eine Schrift des antiken Judentums? « Manch geneigter Leser der folgenden Kontroverse mag sich leise fragen: Was trägt die Beantwortung einer so akademisch gefassten Frage zum Verständnis eines ohnehin so spröden und anspruchsvollen Textes wie des Hebräerbriefes bei? Natürlich: alle Schriften des NT sind doch in gewissem Maße jüdische Schriften-- eines »häretischen« würden wir heute freilich sagen--, aber was sollen wir damit noch-- wir, die wir allemal Jahrhunderte lang schon Heidenchristen sind und Beschneidung allenfalls aus dem Religionsunterricht kennen? Der Verfasser des Hebräerbriefs mutet uns einiges zu. Er spricht und denkt weder wie Paulus noch wie Johannes, ist aber Theologe mit mindestens ebenso hohem Anspruch- - und stand dennoch immer in ihrem und anderer Schatten. Die Kontroverse will deutlich machen: Der Hebräerbrief ist weder ortnoch zeitlos, er hatte Leser und einen Autor, der mit seinen zugegebenermaßen recht intellektualistischen Mitteln etwas Eigenes, Wichtiges zu sagen hatte. Weder ist Hebr nur Gast noch sind Paulus oder Johannes die Hausherren im NT, alle sind Fremdlinge und Hausgenossen zugleich im Haus eines Judentums mit vielen Wohnungen-- auch wenn diese bunte Hausgemeinschaft über Hausordnung und Wohnrecht schon sehr bald in heftigen Streit verfallen ist. Die Vielfalt und Vielstimmigkeit des NT darf nicht eingeebnet werden (obwohl die Versuchung dazu von Beginn an unwiderstehlich war-- siehe die abenteuerliche Zuschreibung des Hebr an Paulus! ). Das Problem ist viel eher, dass der Ort des Hebr nicht mehr der unsere ist und seine Zeit und Denkweise vergangen sind, und uns damit auch unmittelbares Verstehen nicht ohne Weiteres gegeben ist. Darin, diesen Abstand zu sehen und ernst zu nehmen, den Kommunikationszusammenhang und die theologischen Fragestellungen, die er zu bearbeiten hatte, auszuleuchten und uns zum Nachdenken über Kategorien und Kriterien unseres eigenen Einordnens und Verstehens zu veranlassen, liegt für mich der Sinn der Fragestellung dieser Kontroverse. Ob die gestellte Frage aber auch beantwortet wird, möge der Leser selbst entscheiden. Der Hebr eine Schrift des »antiken Judentums«? -- Ja, was sonst wäre denn historisch und theologisch denkbar? Wobei sich dann sofort die Frage stellt: Wie sah dieses Judentum dann aus? Sicher nicht so klar konturiert und abgegrenzt gegenüber dem »Heidentum« (noch so ein anachronistischer kollektiver Singular! ) wie man das wohl gerne hätte. Und so macht die Fragestellung der Kontroverse schließlich offenbar, dass sich unsere Kategorien oft mehr den Anforderungen wissenschaftlicher Genauigkeit und den windungsreichen Bahnen der Forschungsgeschichte verdanken als dass sie den Grauzonen und Spielarten eines ungeheuer vielfältigen, griechischsprachigen Judentums und seines messianischen Ablegers gerecht würden, dessen Erben wir selbst als die »in Christus geretteten Heiden« immer noch sind. Grund genug also einige historische und theologische Nüsse zu knacken, die die beiden Autoren in ihren Artikeln für uns Leser bereit gelegt haben-- und dann den Hebräerbrief neu auf sich wirken zu lassen! Jürgen K. Zangenberg Kontroverse Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 46 - 4. Korrektur 46 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Der Hebräerbrief ist ein ständiger Gast im Haus der Kirche. Er ist ein ständiger Gast, weil er zum neutestamentlichen Kanon gehört, Gaststatus hat er, weil sein soziokulturelles Milieu- - eine jesusgläubige Synagogengemeinde hellenistisch-jüdischer Couleur-- bei aller ökumenischer Vielfalt, in der die christliche Kirche existierte und existiert, nirgends mehr vorkommt und historisch wohl auch nie eine realistische Chance hatte. Dem Hebräerbrief geht es also wie dem wandernden Gottesvolk: Er ist auf Erden heimatlos. Das antike messianische Judentum des 1. Jh., das ihn hervorgebracht hat, ist untergegangen, und seine Lektüren im Binnenraum einer reinen Heidenkirche, die je länger desto mehr von jüdischer Glaubensweise nichts mehr verstand, mussten fast zwangsläufig sein Judentum zugunsten abstrakter »Schrifttheologie« aus den Augen verlieren. 1. Zeit- und ortlos wahr? Unbestritten »funktioniert« der Hebräerbrief auch unter diesen Bedingungen: als ein Dokument frühchristlicher Schriftauslegung, das die Bedeutung Jesu Christi in einzigartiger Weise im Rückgriff auf das christliche Alte Testament neu zur Sprache bringt. Und ist seine Botschaft nicht überhaupt so angelegt, dass sie den Gegensatz von Judentum und Christentum weit hinter sich lässt? Die der biblischen Symbolwelt entlehnten Bilder vom wandernden Gottesvolk und der himmlischen Heimat meinen den Menschen als solchen, Juden und Heiden gleichermaßen. Die großen gedanklichen Widerlager des Sichtbaren und des Unsichtbaren, des Zeitlichen und Ewigen leiden es nicht, dass man sie auf das Format eines spezifisch judenchristlichen Denkens herunter bricht. Man kann die Gedankenwelt des Hebräerbriefes in ihrer Tiefe und Breite erschließen, ohne die Frage nach seinem juden- oder heidenchristlichen Kontext überhaupt zu stellen. »Niemand muss wissen, wer den Hebr[äerbrief ] geschrieben hat, um ihn zu verstehen«, urteilte E. Grässer. 1 Die Frage, ob der Verfasser-- oder die Verfasserin (A.v. Harnack tippte auf Priszilla)-- des Hebr Judenchrist(in) war und an seinesbzw. ihresgleichen geschrieben hat, wird in der Forschung denn auch in weiten Teilen verneint. Oder aber man weicht ihr mit dem Hinweis aus, dass auch Nichtjuden sich in der Bibel gut auskannten. Bei den Adressaten denke der Verfasser »weder an Juden noch speziell an Judenchristen; eher schon könnte man sagen, er wende sich an Heidenchristen […], doch im Grunde sind einfach ›die Christen‹ gemeint«, und »die Auseinandersetzung mit der jüdischen, biblischen Tradition […] wird auf der theoretischen, literarischen Ebene geführt« 2 , so Conzelmann/ Lindemann. Mit U. Schnelle kann man dem entgegenhalten: »Wer […] die Frage nach der Herkunft der Gemeindeglieder für nicht relevant hält, unterschätzt die Voraussetzungen für eine Rezeption der Theologie des Hebr auf Seiten der Adressaten. Gerade wenn der Brief die Zweifel überwinden und Gewissheit vermitteln will, müssen das Verstehen und Bejahen der ausgefeilten Argumentation des Hebräerbriefes möglich sein« 3 . In der Tat hat mich die Erklärung, der Hebräerbrief wehre gemeinchristlicher Glaubensmüdigkeit durch die Aktivierung biblischer Deutungskategorien, nie sonderlich überzeugt. Wer etwa Heidenchristen umständlich auseinanderlegte, dass das levitische Priestertum ohne Eid eingerichtet wurde, dasjenige Melchisedeks dagegen mit einem solchen (Hebr 7,20 f.), musste der nicht damit rechnen, dass sein Publikum erst recht in Tiefschlaf verfiel oder mit Unverständnis reagierte? Es war kein Geringerer als Rudolf Bultmann, der seinem Befremden über den Hebr in aller Deutlichkeit Ausdruck verliehen hat: »Wozu die ganze Veranstaltung einer Vorabbildung des Heilswerkes Christi, die in der Zeit vor Christus ja niemand verstehen konnte, eigentlich geschehen sei, würde man den Verfasser, der sich seiner Interpretation freut, wohl vergeblich fragen« 4 . 2. Von den Anfängen der christlichen Religion in der jüdischen Das Binnenjüdische des frühen Christentums, das mit dem Hebräerbrief exemplarisch zur Diskussion steht, ist der Neutestamentlichen Wissenschaft als Problem Manuel Vogel Der Hebräerbrief als ständiger Gast im Haus der Kirche Kontroverse Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 47 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 47 Manuel Vogel Der Hebräerbrief als ständiger Gast im Haus der Kirche bleibend aufgegeben, allein schon deshalb, weil der Weg von der jüdischen Jesusbewegung hin zu einer reinen Heidenkirche mit einem nichtchristlichen Judentum als ungeliebtem Nachbarn (»parting of the ways«) als historisches Phänomen noch nicht in allen seinen Facetten erfasst und verstanden ist. Das eingängige Szenario der Flucht der Jerusalemer judenchristlichen Urgemeinde aus der im jüdischen Krieg zerstörten Gottesstadt ins ostjordanische Pella wird noch immer gern mit dem faktischen Ende eines nennenswerten judenchristlichen Einflusses im frühen Christentum gleichgesetzt. Aber auch theologisch gilt dieser Einfluss schon früh als überholt, viel früher sogar, nämlich seit dem Galaterbrief. Die Geschichte hat hier nur die Tatsachen geschaffen, die in der Sache längst feststanden. Schon mit den Paulusbriefen als den literarisch ältesten Dokumenten des Neuen Testaments ist das Tor zu einer »Kirche aus Juden und Heiden« durchschritten, in der Judesein theologisch keine Rolle mehr spielt, denn »es ist der eine Gott, der gerecht macht die Juden aus dem Glauben und die Heiden durch den Glauben« (Röm 3,30). Wer hier problematisiert, muss mit dem Vorwurf rechnen, er falle hinter Paulus zurück. Auf diese Weise ist der Weg zu einer Lektüre des Neuen Testaments geebnet, die diesen zweiten Teil der christlichen Bibel selbstverständlich als Buch der Kirche reklamiert. Man findet dann das Eigene schon ganz am Anfang, erkennt sich wieder im Ursprung, richtet das Haus der Geschichte, in der man lebt, im eigenen Stil ein, vom Keller bis zum Dach. Das hermeneutische Gegenmodell bestünde in einem Fremdverstehen, das in einem ersten Schritt voraussetzt, dass Fremdes überhaupt da und zu entdecken ist, und das, in einem zweiten Schritt, das Fremde nicht sogleich dem Eigenen anverwandelt (und dies dann »Verstehen« nennt), sondern es als das Nichtidentische stehen und gelten lässt, zu Lasten seiner Verrechenbarkeit mit den Grunddaten der eigenen Weltauffassung. Wissenschaftlich darf sich ein solches Verfahren nennen, weil es mit der wissenschaftlichen Lust an der Differenzierung Hand in Hand geht, und es trägt zu einer Ethik der Interpretation bei, weil Erkenntnis unter den skizzierten Voraussetzungen nicht dazu dient, im aneignenden Begreifen über die eigenen Grenzen hinaus zu streben, sondern dieser Grenzen gewahr zu werden und sie zu respektieren. Auf dem Feld des Neuen Testaments geht es darum, den jüdischen Anfängen einer Religion Rechnung zu tragen, die selbst nicht mehr jüdisch ist. Gegenüber der verbreiteten Auffassung, diese Unterscheidung sei namentlich im Blick auf den Hebräerbrief belanglos, wird hier die These vertreten, dass die Transformation der biblisch-jüdischen Religion durch den Jesusglauben Juden ein höheres Maß an Konflikterfahrung und sozialer Desintegration zumutete als Nichtjuden. Idealtypisch kann man folgende Unterscheidung treffen: Der fromme Jude, der in den Traditionen und sozialen Bezügen seiner Religion lebte und sich dem Jesusglauben anschloss, tat dies in der Überzeugung, dass mit dem Kommen Jesu die Religion seiner Väter und seines Volkes in ein qualitativ neues, messianisches Stadium eingetreten war und dabei tiefgreifend umgebildet wurde. Der jesusgläubige Jude sah sich darin im Einklang mit der Religion Israels, dem Gott Israels und der Geschichte Israels. Vor diesem Hintergrund kann die Erfahrung, dass der neue Glaube im engeren und weiteren sozialen Umfeld auf Ablehnung und Widerstand stieß, an Dramatik kaum überschätzt werden. Das Trauma des Synagogenausschlusses der johanneischen Christen gibt eine Anschauung hiervon. Ein Heidenchrist hatte derlei Probleme nicht. Wer sich von paganer Religion löste und diese hinter sich ließ, vollzog gewissermaßen einen sauberen Schnitt. Kein Heidenchrist wird auf die Idee gekommen sein, einen paganen Kult zu christianisieren und bei dessen Anhängern für die neue Kultvariante zu werben. Dementsprechend gab es heidenchristlich nicht die Enttäuschung über angestrebte, aber nicht erreichte Synthesen von altem und neuem Prof. Dr. Manuel Vogel, geb. 1964 in Frankfurt/ Main, Studium der Evangelischen Theologie in Erlangen, Heidelberg und Frankfurt, 1994 -1996 Vikariat in Bayern, 1995 Promotion in Heidelberg, 1996 -2003 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institutum Judaicum Delitzschianum in Münster, 2003 Habilitation in Münster, 2003 -2006 Pfarramt in Hessen-Nassau, 2006 -2008 Pfarrer im Hochschuldienst an der Goethe-Universität Frankfurt, seit 2009 Professor für Neues Testament an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Veröffentlichungen u. a. zu Paulus, Josephus und zum Hellenistischen Judentum. Manuel Vogel Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 48 - 4. Korrektur 48 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Kontroverse Glauben. Die soziale Desintegration, die Exklusion aus der paganen Mehrheitsgesellschaft schärfte die eigene Identität, neue soziale Bezüge traten an die Stelle der alten. Die Weigerung der frühen Christen, an Götter- und Kaiserkult zu partizipieren, hat die junge Religion stark gemacht. Dagegen musste ein Judenchrist erleben, dass die innovative Traditionsbindung seines Jesusglaubens auf jüdischer Seite mehrheitlich auf Ablehnung stieß, ja dass die Mehrheit seines Volkes gerade dabei war, das messianische Zeitalter zu verpassen. Der Graben, der sich in entscheidender geschichtlicher Stunde zwischen Gott und Gottesvolk auftat, musste eine kaum zu ertragende kognitive Dissonanz erzeugen, die der Judenchrist Paulus in Röm 9,2 f. gültig in Worte gefasst hat. Ein Heidenchrist hatte solche Schmerzen nicht. Analoges gilt auf der Ebene der Sinnkonstruktion: Es ist nicht einerlei, ob Judenchristen ihre eigene Tradition, in der sie bisher schon gelebt haben, kreativ weiterdachten, oder ob Heidenchristen, die zuvor noch nie etwas von Abraham, Mose und Elia gehört hatten, nahmen, was man ihnen vorsetzte. Sie gleichen den Predigthörern, die nicht wissen, dass die Predigt, der sie gerade lauschen, jemanden von Samstag auf Sonntag den Nachtschlaf gekostet hat. Selbstredend lässt sich der Idealtypus Judenchristen/ Heidenchristen vielfältig differenzieren, schon allein mit Blick auf die Gruppen der Sympathisanten, Gottesfürchtigen und Proselyten (s. u. zur These von W. Schmithals). Auch sind Gegenbeispiele unschwer zu finden. Die skizzierte Unterscheidung scheint mir dennoch zumindest heuristisch unverzichtbar, weil sonst schnell übersehen wird, dass die anfänglichen Transformationsprozesse des biblisch-jüdischen Glaubens hin zu einer ethnisch entgrenzten neuen Religion von Juden geleistet wurden, die ihre eigene Tradition zur Disposition gestellt und sozusagen mit hohem Risiko und mit erheblichem Konfliktpotential daran herumexperimentiert haben. 3. Ein Blick in die Forschungsgeschichte Frühe Zuschreibungen des Hebr an ein jüdisches oder judenchristliches Milieu schlagen sich bereits in der (wahrscheinlich sekundären) Überschrift »An die Hebräer« (griech. pros ebraious) nieder. Schon in der ältesten Handschrift, dem Papyrus Chester Beatty II (um 200), ist sie enthalten. Clemens von Alexandrien (gest. 215 n. Chr.) hielt den Hebr für ein von Paulus »an die Hebräer in hebräischer Sprache« verfasstes Schreiben, das von Lukas ins Griechische übersetzt worden sei (Euseb, h. e. 6,14,2). Grässer sieht in der Überschrift den ältesten »Kommentar« zum Hebr, der freilich von der heutigen Exegese »nicht ernst zu nehmen« sei, »da er aus der hebraisierenden Art des Hebr reichlich oberflächlich geschlossen hat, so oder ähnlich könnte christlich-theologisches Denken bei konvertierten Juden um die Wende vom 1. zum 2. nachchristlichen Jahrhundert ausgesehen haben« 5 . Die Gegenthese lautet, dass hier nicht Oberflächlichkeit am Werk war, sondern das Empfinden für einen Umgang mit biblisch-jüdischer Tradition, der innerhalb eines zunehmend heidenchristlich bestimmten Christentums eine Besonderheit darstellte. Bei Clemens war dieses Empfinden so ausgeprägt, dass er trotz des gehobenen Griechisch ein hebräischsprachiges Substrat annahm. Das Jüdische dieser frühchristlichen Schrift gewichtete er so stark, dass er sie gar an nichtchristliche Juden adressiert wähnte. Zwei dieser drei Annahmen haben sich nicht bewährt: Der Hebr ist nicht paulinisch, und er ist keine Übersetzung aus dem Hebräischen. Vertreten wurde und wird hingegen ein ursprünglich jüdisches bzw. judenchristliches Milieu. Im 19. Jh. war es Franz Delitzsch, der eine Jerusalemer Adresse sowie eine Frühdatierung auf Anfang der sechziger Jahre angenommen hatte. 6 Zu Beginn des 20. Jh. erneuerte Eduard Riggenbach 7 die Annahme judenchristlicher Adressaten. In den fünfziger Jahren votierten dann mit je eigenen Argumenten Yigael Yadin und Hans Kosmala für einen Adressatenkreis in einem »essenischen« Umfeld. 8 Kosmala wies für die Formulierungen in Hebr 6,1 (»Umkehr von den toten Werken« und »Glaube an Gott«), die üblicherweise als zweifelsfreies Indiz für heidenchristliche Adressaten verbucht werden, auf terminologische und sachliche Entsprechungen in den Qumrantexten (1QS, CD) hin, die »Umkehr« innerjüdisch ganz ähnlich zur Sprache bringen. 9 George Wesley Buchanan, Autor des 1972 in der Anchor Bible erschienenen Hebr-Kommentars, sah in den Adressaten eine Gruppe von Rückwanderern aus der Diaspora, die sich in messianisch-apokalyptischer Erwartung in Jerusalem niedergelassen hatten und ein strenges kommunitäres Leben pflegten. 10 Die Notiz in »Der Graben, der sich in entscheidender geschichtlicher Stunde zwischen Gott und Gottesvolk auftat, musste eine kaum zu ertragende kognitive Dissonanz erzeugen, die der Judenchrist Paulus in Röm 9,2 f. gültig in Worte gefasst hat.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 49 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 49 Manuel Vogel Der Hebräerbrief als ständiger Gast im Haus der Kirche 10,34 »Den Raub eures Eigentums habt ihr mit Freuden akzeptiert [gr. prosdechō]« deutet er auf den freiwilligen Verzicht auf Privateigentum zugunsten der Gemeinschaft, und Hebr 12,22 »ihr seid gekommen zu dem Berg Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes« liest er so wörtlich, wie es dasteht: Der Hebr ist an eine messianische Synagoge in Jerusalem gerichtet. Dort und nur dort ist auch die himmlische Realität erfahrbar, von der in 12,22 f. anschließend die Rede ist, der himmlische Raum über der irdischen Gottesstadt und ihrem Tempel, der, so Buchanan, zur Zeit der Abfassung noch existierte. Für die Ablehnung seines Kultbetriebes findet er in der Gruppe um den »Lehrer der Gerechtigkeit« eine innerjüdische Vergleichsgröße. Ein synagogales Umfeld nahm in eigener Spielart auch Walter Schmithals an. Er suchte die Adressaten unter gottesfürchtigen Heidenchristen, die ob ihres Jesusglaubens aus der Synagoge ausgeschlossen wurden: »Die aus der Synagoge hinausgedrängten Christen halten ihre eigenen Versammlungen ab (10,25), und haben Gemeindeleiter (13,7.17), doch fällt es ihnen offenbar schwer, ihre Identität außerhalb der Synagoge zu gewinnen […], und hinsichtlich des christlichen Spezifikums sind sie […] so harthörig, dass man ihnen eigentlich sogar die jüdisch-synagogale Grundlage der christlichen Predigt wieder mitteilen müsste« 11 . Das ist eine interessante Konstruktion: Schmithals geht von heidenchristlichen Adressaten aus, aber eben von solchen, die jüdisch sein wollten, die auf dem besten Wege waren, es zu werden, und die nun, da das Jüdischwerden ihnen verwehrt wird, in ihrer christlichen Existenz dadurch bestärkt werden sollen, dass sie des essenziell Jüdischen ihres Jesusglaubens versichert werden. Ein neuerer Versuch der Einordnung des Hebr in das Judenchristentum des 1. Jh.s liegt mit der 2007 erschienenen Dissertation von Gabriella Gelardini vor. 12 In Anknüpfung an ältere Zuordnungen des Hebr zur Synagogenpredigt unternimmt Gelardini eine Näherbestimmung als Sabbat-Homilie zu Tisha be-Av. Der Hebr kommt damit innerhalb eines beziehungsreichen Text- und Sinnzusammenhangs rabbinischer Diskurse zu Bundesbruch und Bundeserneuerung zu stehen. Damit wird ein genuin jüdischer Interpretationskontext eröffnet, der ungeachtet evidenter chronologischer Probleme des Quellenvergleichs 13 bedenkenswert erscheint. Das ursprüngliche Publikum des Hebr sieht Gelardini nicht in Rückwanderern aus der Diaspora, sondern umgekehrt in deportierten palästinischen Juden, die als Gefangene des ersten jüdischen Krieges nach Rom gekommen waren. Der Rekurs auf den himmlischen Kult ist dann nicht tempelkritisch zu verstehen, sondern als Kompensation des im Krieg untergegangenen irdischen Heiligtums. Der Hebr ist unter diesen Voraussetzungen die Neuinterpretation des Jesusglaubens jenseits der Epochenschwelle der Tempelzerstörung. Die Überführung des irdischen in den himmlischen Kult ist dann kein im Grunde auswechselbares Sprachbild, sondern ein Versuch der Bewältigung einer für Juden existentiellen Katastrophe. Alle diese Zuweisungen sind anfechtbar, weil sie zu viel zu genau wissen wollen. Sie legen aber den Finger auf etwas für den Hebr Charakteristisches, das im produktiven Irrtum immer noch besser zur Geltung kommt, als unter der Voraussetzung, die Frage nach dem ursprünglichen Rezeptionsmilieu sei für das Verstehen des Hebr unerheblich oder gar abträglich. 4. Beobachtungen am Text 4.1 Die Väter Wer anfängt, den Hebr zu lesen, weiß sich unmittelbar gemeint: »Gott hat zu uns gesprochen«. Wenn man an den »Sohn« glaubt, durch den Gott geredet hat, vernimmt man unwillkürlich das »uns« inklusiv, sieht sich ohne viel Federlesens bei den Angeredeten, zumal die Zeitansage »in den letzten Tagen« immer nur die je eigene Gegenwart meinen kann. Der eschatologische Horizont wandert mit durch die Jahrhunderte. Die »Väter«, zu denen Gott »einst« geredet hat, sind dann die Patriarchen der Bibel, mit denen heutige Adressaten genauso wenig verwandt sind wie mit den Kirchenvätern. Diese gemeinchristliche Lektüre hat jedoch eine Vorgängerin, die im paulinischen Sprachgebrauch noch klar zutage liegt: »Ihnen gehören die Väter« (Röm 9,5). Das sagt der Judenchrist und Heidenapostel nicht von den Heiden, nicht unterschiedslos von allen Christen, sondern von den Juden als Volk, gleichviel ob jesusgläubig oder nicht (vgl. auch Röm 11,28; 15,8). So ist auch die Sprachregelung des lukanischen Doppelwerkes: Über die »Väter« sprechen in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle Juden mit Juden. In Hebr 1,1 f. deutet nichts auf eine übertragene Redeweise im Sinne von »Vätern im Glauben« oder dergleichen. 4.2 Same Abrahams Erst recht gilt dies für das Syntagma »Same Abrahams«, das sich in 2,16 nur durch einige schmerzhafte exegetische Verrenkungen gemeinchristlich neutralisieren lässt. Die Belege für »Same Abrahams« beziehen sich auch Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 50 - 4. Korrektur 50 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Kontroverse sonst auf geborene Juden, meinen also die ethnische Herkunft, so deutlich Röm 11,1 (Die Herkunft aus dem »Samen Abrahams« wird hier spezifiziert durch die Angabe »aus dem Stamm Benjamins«), 2Kor 11,22 (Die Paulusgegner betonen ihr Judesein) und Joh 8,33.37 (die »Juden, die an Jesus glauben«, verweisen auf ihr Judesein). In Röm 9,7 ff. wird der Terminus »Same Abrahams« zwar in einem ethnischen wie auch in einem übertragenen Sinn (Anteilhabe an der Verheißung) verwendet, doch ist hier die ethnische Abstammung von Abraham die notwendige Bedingung, zu der die hinreichende Bedingung der Abstammung von Isaak noch hinzu kommen muss. Auch hier geht es nicht um eine reine »Abrahamskindschaft im Glauben«, sondern um den Gedanken des Fortbestehens Israels in den Judenchristen. Zwar sagt Paulus in Gal 3,29 den Heidenchristen auf den Kopf zu: »Ihr seid Abrahams Same«, wie auch in Röm 4,13.16 »Same« und »Glaube« nahe beieinander stehen. Diese Stellen sind aber insofern die Ausnahme von der Regel, als sie gegen einen Sprachgebrauch verstoßen, für den Paulus selbst die wichtigsten Belege liefert. Für Hebr 2,16 wäre nichts verkehrter als ein Kurzschluss mit Gal 3 und Röm 4, denn der in Hebr 2,16 bestimmende Gegensatz zu den Engeln hebt ja gerade auf die irdisch-leibliche Verfasstheit des Gemeinten ab, nicht auf geistliche Teilhabe: Das »Volk«, dessen Sünden der Hohepriester Christus sühnt (2,17), besteht aus Menschen aus Fleisch und Blut, nicht aus leidensunfähigen Geistwesen. Abrahamskindschaft realisiert sich in der leidvollen Sequenz von Geborenwerden und Sterben, sie ist etwas ganz und gar Irdisches-- und damit etwas ganz und gar Jüdisches. 4.3 Die Engel Die ersten beiden Kapitel des Hebr enthalten eine weitschweifige Betrachtung zur Überlegenheit Christi über die Engel. Das biblisch-theologische Paradigma ist ein so brauchbarer wie unverzichtbarer Behelf für eine Interpretation dieser Passagen, die das unabweisbare religionsgeschichtliche Problem, warum denn das Thema Engel für die Adressaten so wichtig ist, ausklammert. Dass dieses Problem besteht, macht bereits der (in 1,4 vorbereitete) Auftakt in Hebr 1,5 deutlich: Die rhetorische Frage »Denn zu welchem von den Engeln hat er je gesagt […]? « setzt Vorannahmen auf Seiten der Adressaten voraus, die dem folgenden Beweisgang überhaupt erst Sinn und Notwendigkeit geben. Dass die Engel »nur als neutrale höchstrangige Kontrastfolie zu Jesus genannt werden«, ist, wie Herbert Braun zu Recht bemerkt, »unwahrscheinlich« 14 . In einer bestimmten Hinsicht, die aus dem Text selbst nicht zweifelsfrei zu erheben ist, entscheidet sich für die Adressaten an der Stellung Christi gegenüber den Engeln die Plausibilität des Bekenntnisses, auf das der Verfasser seine Adressaten verpflichten will. Gegenüber pagan-volksreligiöser oder frühgnostischer Engelverehrung verdient eine jüdische Herleitung den Vorzug. Die Vielgestaltigkeit jüdischer Engelvorstellungen seit spätalttestamentlicher Zeit lässt ein eindeutiges Bild kaum zu, eröffnet aber neue Sinnzusammenhänge, die das Verständnis des Hebr wesentlich bereichern können. So verweist Gabriella Gelardini auf die rabbinische (freilich schon im Exodusbuch angelegte) Auffassung von den Engeln als Gerichtsinstanzen und als Zeichen der Abwesenheit Gottes in Reaktion auf die Verehrung des goldenen Stierbildes durch die Israeliten. Die höherrangige Autorität des Sohnes (als priesterlicher Mittler) über diejenige der Engel (als Straforgane) erhält dann einen soteriologischen Akzent, der im direkten biblisch-theologischen Vergleich unbeachtet bleibt. 4.4 Der Tempelkult und seine Priesterschaft Im Rekurs auf Tempel und Priester entfaltet der Hebr eine Christologie ganz eigenen Zuschnitts. Es bedarf keines jüdischen Sozialisations- und Traditionshintergrundes, um diesen christologischen Entwurf zu verstehen. Man muss sich höchstens ein wenig in die einschlägigen alttestamentlichen Texte einarbeiten. Im Vergleich mit dem levitischen Priestertum und seinem Opfer wird dann deutlich, dass der Christusglaube die Institution eines blutigen Opferkults weit hinter sich lässt. Man kann etwas zugespitzt sagen: So wie Christus durch seinen Tod den Tod besiegt hat (Hebr 2,14), so hat er durch sein Opfer den Opferkult überwunden. Das Schlachten hat ein Ende. Die Gottesbeziehung bedarf seiner nicht mehr. Allerdings: Die Akribie, mit der der Verfasser des Hebr die Rechtmäßigkeit des himmlischen Priesterdienstes Christi aus der Ordnung des irdischen nachzuweisen bemüht ist, ist von anderer Art als eine biblische Theologie, die sich aus dem Fundus alttestamentlicher Sprachbilder bedient. Selbst die Substitution des blutigen Opfers kann nur dann akzeptiert werden, wenn ihre Konformität mit dem mosaischen Gesetz gesichert ist: »Abrahamskindschaft realisiert sich in der leidvollen Sequenz von Geborenwerden und Sterben, sie ist etwas ganz und gar irdisches - und damit etwas ganz und gar jüdisches.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 51 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 51 Manuel Vogel Der Hebräerbrief als ständiger Gast im Haus der Kirche »Wenn das Priestertum verändert wird, dann muss auch das Gesetz verändert werden. Denn der, von dem das gesagt wird, der ist von einem anderen Stamm, von dem nie einer am Altar gedient hat. Denn es ist ja offenbar, dass unser Herr aus Juda hervorgegangen ist, zu welchem Stamm Mose nichts gesagt hat vom Priestertum.« (Hebr 7,12-14). Hier wird halachisch argumentiert, nicht schrifttheologisch. Die Umständlichkeit der Beweisführung kann kaum anders denn als Ausdruck eines intensiven Bewusstseins von Traditionstreue gegenüber dem überkommen eigenen sozialen und religiösen Lebenszusammenhang hinreichend erklärt werden. Für Nichtjuden wäre dieser Beweisschritt völlig entbehrlich. Zugleich ist die forcierte Traditionstreue Kehrseite einer denkbar tief greifenden Neuinterpretation des biblischjüdischen Religionssystems. Hier kommt judenchristliches Denken zum Tragen, das sich der halachischen Rechtmäßigkeit seines Standpunktes versichern will. 4.5 Heidenchristen in 3,12; 6,1; 9,14? Beansprucht aber der Hebr, die messianische Transformation des biblisch-jüdischen Glaubens an der Epochenschwelle der »letzten Tage« (1,1) gültig vollzogen zu haben, muss die Abgrenzung zu anderen Spielarten des Judentums denkbar scharf ausfallen. Der Hebr vollzieht diese Abgrenzung nicht mit dem Mittel der Polemik gegen nichtchristliche Juden, wie oft beobachtet wurde, wohl aber in Gestalt eindringlicher Mahnungen, nicht hinter den messianischen Glauben zurückzufallen. In 3,12 warnt der Verfasser vor einem »bösen Herz des Unglaubens, abzufallen von dem lebendigen Gott«. In 6,1 erinnert er die Adressaten an ihre »Umkehr von toten Werken« und ihren »Glauben an Gott«, und nach 9,14 hat das Blut Christi die Wirkung »unser Gewissen zu reinigen von toten Werken zu dienen dem lebendigen Gott«. In den Formulierungen der genannten Stellen sieht man üblicherweise Indizien für ein vorwiegend heidenchristliches Publikum. Dafür wird stets auf die teilweise übereinstimmende Wortwahl in 1Thess 1,9 verwiesen. Dort ist freilich, anders als im Hebr, ausdrücklich davon die Rede, dass die Adressaten umgekehrt sind zu Gott »weg von den Götzen«. Für den Hebr lautet die entscheidende Frage: Wie einschneidend kann religiöse Neuorientierung innerjüdisch aufgefasst und zur Sprache gebracht werden? Die Täuferbewegung ist ein Beispiel dafür, dass Vollzug oder Ablehnung einer solchen Neuorientierung zu einer Frage auf Leben und Tod erklärt werden konnten. Die Hauptschriften von Qumran sind außerdem ein Beleg für innerjüdische Reformgruppen, die sich selbst als Hort gottgefälligen Lebens betrachteten und das übrige Judentum scharf kritisierten. Der Beitritt zu dieser Gruppe wurde mit derselben »Bekehrungs«-Terminologie zum Ausdruck gebracht wie in den genannten Hebr-Stellen. Darauf hat bereits Hans Kosmala hingewiesen. 15 Weitere Belege aus jüdischen Quellen des 1. Jh.s kommen hinzu. 16 Die Annahme, der Hebr sei an eine überwiegend heidenchristliche Gemeinde gerichtet, liegt also nicht so nahe, wie weithin angenommen wird. 5. Resümee Das Thema dieser Kontroverse ist innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft bis heute strittig. In Auseinandersetzung mit Positionen, die den Hebr als Dokument heidenchristlicher Schrifttheologie lesen oder aber die gestellte Frage für verfehlt halten, weil sich der Hebr an »Christen überhaupt« richte, wurde im vorliegenden Beitrag die Auffassung vertreten, dass der Hebr einem vorrangig judenchristlichen Milieu zuzuordnen ist. Idealtypisch wurde eingangs ein messianisches Judentum, das im Bewusstsein konsequenter Traditionstreue die Erfahrung der Nichtakzeptanz im eigenen religiös-sozialen Umfeld erleidet, von einem heidenchristlichen Modus religiöser Konversion unterschieden, bei dem der Bruch mit dem religiös-sozialen Herkunftsmilieu programmatisch ist, und religiöse Identität durch die Krisenerfahrung radikaler sozialer Desintegration hindurch neu konstituiert und stabilisiert. Von daher kann man sagen, dass judenchristliche Theologie in ihren Gegenstand stärker involviert ist als heidenchristliche, die das ehedem Fremde eines universalisierten Judentums rezipiert. Der Hebr wurde sodann als ein herausragendes Beispiel judenchristlicher Deutungsarbeit gewürdigt, die die eigene Herkunft im Licht der messianischen »letzten Tage« neu zu verstehen suchte. Je länger diese »letzten Tage« sich hinzogen, desto stärker wurde der Hebr im Paradigma einer Schrifttheologie der zweiteiligen christlichen Bibel verstanden. Die Legiti- »Zugleich ist die forcierte Traditionstreue Kehrseite einer denkbar tief greifenden Neuinterpretation des biblisch-jüdischen Religionssystems. Hier kommt judenchristliches Denken zum Tragen, das sich der halachischen Rechtmäßigkeit seines Standpunktes versichern will.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 52 - 4. Korrektur 52 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Kontroverse mität dieser Lektüre wird nicht bestritten. Sie ist jedoch erst der zweite Akt in einem Drama, dessen ersten nicht zu vergessen eine Sache historischer Gerechtigkeit ist. Anmerkungen 1 E. Grässer, An die Hebräer (EKK XVII/ 1), Neukirchen- Vluyn/ Zürich 1990, 19. 2 H.Conzelmann/ A.Lindemann, Arbeitsbuch zum Neuen Testament, Tübingen 13 2000, 401. 3 U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 7 2011, 409. 4 R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 5 1965, 113 f. 5 E. Grässer, An die Hebräer (EKK XVII/ 1), Neukirchen- Vluyn/ Zürich 1990, 45. 6 F. Delitzsch, Commentar zum Briefe an die Hebräer, Leipzig 1857, 705. 7 E. Riggenbach, Der Brief an die Hebräer (KNT XIV), Leipzig 1913, XXIII. 8 Y. Yadin, The Dead Sea Scrolls and the Epistle to the Hebrews (ScrHie 6), Jerusalem 1958, 36-55. 9 H. Kosmala, Hebräer-- Essener-- Christen (StPB 1), Leiden 1959, 30-38. 10 G.W. Buchanan, To the Hebrews (AncB), Garden City 1972, 255-267. 11 W. Schmithals, Neues Testament und Gnosis (EdF 208), Darmstadt 1984, 139. 12 G. Gelardini, »Verhärtet eure Herzen nicht«: Der Hebräer, eine Synagogenhomilie zu Tischa be-Aw, Leiden 2007. 13 Hier liegt der Hauptkritikpunkt der Rezension von Carl Mosser in RBL 12/ 2009. In einer bisher unveröffentlichten Studie (vorab zugänglich unter http: / / eastern.academia. edu/ CarlMosser/ Papers/ 115 948/ _Torah_Instruction_Discussion_and_Prophecy_in_First-Century_Synagogues_) vertritt er die These, dass eine formelle Synagogenpredigt an der Wende zum 2. Jh. überhaupt erst aufkam. 14 H. Braun, An die Hebräer (HNT 14), Tübingen 1984, 46. 15 H. Kosmala, Hebräer-- Essener-- Christen (s. o. Anm. 9), 32. 16 M. Vogel, Das Heil des Bundes (TANZ 18), Tübingen 1996, 318 f. Attempto Verlag • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen • info@attempto-verlag.de • www.attempto-verlag.de Att t V l Di Eve-Marie Engels/ Oliver Betz/ Heinz-R. Köhler/ Thomas Potthast (Hg.) Charles Darwin und seine Bedeutung für die Wissenschaften 2011, 291 Seiten, € (D) 29,90/ SFr 41,90; ISBN 978-3-89308-415-9 Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 53 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 53 Die Gelegenheit, auf Manuel Vogels anregenden Aufsatz zu antworten, nehme ich gern wahr. Wie er bin ich der Ansicht, dass die Frage nach dem jüdischen Milieu des Hebräerbriefes erneuter Aufmerksamkeit bedarf; ja, ich stimme ihm weitgehend zu, wenn er den Hebräerbrief dem ursprünglichen sozio-kulturellen Umfeld eines messianischen Judentums des 1. Jh.s zuordnet, das schließlich vom aufstrebenden Heidenchristentum verdrängt wurde. Zugleich bin ich freilich der Ansicht, dass nicht wenige seiner Argumente mit Blick auf Befunde, die er außer acht lässt, ergänzt, verstärkt und bisweilen auch korrigiert werden können. Vor allem liegt mir aber an der Feststellung, dass seine historische Hypothese hermeneutische und theologische Implikationen hat, die über sein eigenes moderates Resümee weit hinausgehen. Schon der provokante Titel seines Beitrages ruft nach weiterer theologischer Reflexion, denn die Rede vom Hebräerbrief als »ständigem Gast im Haus der Kirche« scheint doch die historischen Gegebenheiten geradewegs auf den Kopf zu stellen. Zwar entwickelte sich fraglos das Heidenchristentum mit der Zeit zur kulturell dominierenden Größe. Aus biblischtheologischer Perspektive ist eine reine Heidenkirche gleichwohl ein nachrangiges und durchaus sonderbares Phänomen. Gaststatus hat eigentlich die Kirche, nämlich als »ständiger Gast im Hause Israels«. So sagt es mit Hilfe eines anderen Bildes auch der Apostel Paulus, wenn er in Röm 11,18 den Heidenchristen zuruft: »Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich«. Weitere Überlegungen dazu folgen am Schluss meines Beitrages. Dieser Dissens ist jedoch nicht so gewichtig, dass er meine grundsätzliche Wertschätzung für Dr. Vogels Argumentation und den von ihm vorgeschlagenen, außerordentlich wichtigen Paradigmenwechsel schmälern könnte. Mit seiner Lektüre des Hebräerbriefes als frühjüdischer apokalyptischer Deutungsarbeit, die angesichts sozialer Anfeindung und Zurückweisung durch weite Teile der jüdischen Gemeinde eine hermeneutische Transformation des jüdischen Glaubens und seiner Tradition unternimmt, bringt Vogel Licht in ein historisches Feld gegen Ende des 1. Jh.s, das bisher vielfach im Dunkeln lag. Der Hebräerbrief wird damit zu einem Hauptzeugen für das, was Pamela Eisenbaum als »eine eigentümliche Form judenchristlicher Religiosität« beschrieben hat, »die möglicherweise während der kurzen Zeitspanne existiert hat, als Rom der gemeinsame Feind von Juden und Jesusgläubigen war, und bevor eine jüdische und christliche Rhetorik den Ton angab, die feste Grenzen zwischen Judentum und Christentum konstruierte« 1 . Gegen die verbreitete Sicht, dass der Hebräerbrief ein Dokument heidenchristlichen Überlegenheitsdenkens ist, das den Vorrang des Christentums vor dem Judentum behauptet, 2 möchte ich einige weitere Überlegungen anstellen, über die Vogel gar nichts verlautet: Das Thema der Heidenmission kommt im Hebräerbrief nirgends vor, nirgends spielt die Auseinandersetzung um Beschneidung und Speisegesetze eine Rolle, nirgends wird abgesehen vom levitischen Kult die Mosetora kritisiert. 3 Auch Polemik gegen Juden oder jüdische Autoritäten spielt in signifikantem Unterschied etwa zum Matthäusevangelium, dem Johannesevangelium oder der Johannesoffenbarung keine Rolle. Nirgends klingt im Hebräerbrief der Gedanke an, dass das jüdische Volk von Gott zugunsten eines anderen Volkes verstoßen worden wäre. Vielmehr rechnet die Epistel die Adressaten in derselben Weise zu Gottes »Haus«, wie Mose »treu über sein Haus« war, nämlich das »Haus Israel« (3,1-6; 8,10). All das passt zu der Hypothese, dass der Hebräerbrief aus einer »hausinternen« jüdischen Auseinandersetzung über die Grundlagen der Identität Israels resultiert. Der Verfasser dieses eloquenten und leidenschaftlichen Traktats attackiert nicht das Judentum, sondern »er versucht«, so Richard B. Hays »New Covenantalism«: Eine Wiederentdeckung Kontroverse »[D]iese besondere Form jüdischchristlichen Glaubens [ist] nicht als »Judenchristentum«, sondern als New Covenantalism zu beschreiben, als eine Bewegung also, die innerhalb der kulturellen und theologischen Tradition des Judentums zeigt, dass Gott »in diesen letzten Tagen« (Hebr 1,2) durch den Tod und die Auferweckung des Messias Jesus einen eschatologischen Neuen Bund gestiftet hat.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 54 - 4. Korrektur 54 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Kontroverse Eisenbaum, »eine empfindliche theologische und soziale Lücke zu schließen« 4 , höchstwahrscheinlich in der schwierigen Zeit des Übergangs nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels (70 n.Chr). Der Hebräerbrief ist also damit befasst, eine neue Form jüdisch-christlicher Identität zu formulieren und zu verteidigen. In einem früheren Aufsatz habe ich, um das Gemeinte klarer zu erfassen, im Sinne eines Gedankenexperiments vorgeschlagen, diese besondere Form jüdischchristlichen Glaubens nicht als »Judenchristentum«, sondern als New Covenantalism zu beschreiben, als eine Bewegung also, die innerhalb der kulturellen und theologischen Tradition des Judentums zeigt, dass Gott »in diesen letzten Tagen« (Hebr 1,2) durch den Tod und die Auferweckung des Messias Jesus einen eschatologischen Neuen Bund gestiftet hat. 5 Ich bin der Ansicht, dass mein Gedankenexperiment mit den Überlegungen von Vogel konvergiert, und dass unsere Argumente und Beobachtungen einander verstärken. 6 Zurückhaltend bin ich dagegen im Blick auf die »idealtypischen« Mutmaßungen über das psychologische Profil jüdischer Jesusanhänger im Unterschied zu demjenigen paganer Konvertiten. Jene erlitten, so Vogel, eine Form sozialer Zurückweisung und kognitiver Dissonanz, die gravierender und von anderer Qualität war als diejenige von Heidenchristen, die einen klaren Bruch mit ihrer heidnischen Vergangenheit vollzogen. 7 Es scheint mir zwar immerhin möglich, dass sich die Annahme einer von Judenchristen erlebten kognitiven Dissonanz für das Verständnis des Hebräerbriefes als hilfreich erweisen könnte, gleichwohl bleibt diese Annahme eine reine Eintragung in den Text. Hier wäre es hilfreich, wenn Vogel sich dazu geäußert hätte, wann er den Hebräerbrief datiert (vor oder nach der Zerstörung Jerusalems? ), und wo er die ursprünglichen Adressaten vermutet (Rom? Palästina? ). Soweit ich sehe, vermeidet Vogel eine Festlegung in diesen Fragen, vielleicht deshalb, weil der Brief dafür keine sichere Textgrundlage abgibt. Da die Fragen nach Datierung und Herkunft möglicherweise nicht sicher zu beantworten sind, halte ich es für hilfreicher und überzeugender, die exegetische Argumentation des Briefes zu analysieren und hierbei besonders darauf zu achten, wie die Exegesen des Autors die Überlieferungen der Schriften Israels intertextuell aufnehmen und fortführen. Eine besondere Rolle spielen Ps 95 und Ps 110, ebenso das 31. Kapitel des Jeremiabuches über den »neuen Bund«, aus dem in Hebr 8 ausführlich zitiert wird. Im Rahmen dieses Artikels kann ich exegetisch nicht ins Detail gehen, möchte aber doch kurz einige wesentliche Einsichten mitteilen 8 : 1) Der Hebräerbrief beharrt darauf, dass Israels Schriften selbst das Neue und Überragende des in Christus geschlossenen neuen Bundes bezeugen. 2) Es gibt gleichwohl keine Spur von Judenfeindschaft in diesem Text. Nirgendwo ist auch nur angedeutet, dass Gott Israel zugunsten heidnischer Jesusgläubiger verworfen habe. Alle Warnungen im Blick auf Israels Unglauben und Versagen bewegen sich nach Sprache und Vorstellungsgehalt im Rahmen des Deuteronomiums, der Psalmen und der Propheten. So gesehen ist der Hebräerbrief genauso wenig »nichtjüdisch« wie Jeremia. Ein erhellender Vergleich ist etwa die außerordentlich kontroverse Rhetorik Justins in seinem Dialog mit Thrypho. 3) Wenn im Hebräerbrief der alte Bund gegenüber dem neuen schlecht abschneidet, dann ist er nur insofern unzulänglich, als es um den Tempelkult als Mittel der Entsühnung geht. Nirgends ist davon die Rede, dass das Alte Testament legalistisch sei, dass Prof. Dr. Richard B. Hays, geb. 1948, Professor für Neues Testament an der Duke University in Durham, North Carolina, USA. Vorher Associate Professor für Neues Testament an der Yale Divinity School. Sein Forschungsansatz ist interdisziplinär; Hays’ Augenmerk liegt auf der Erarbeitung biblisch-theologischer Fragen mittels literaturwissenschaftlicher Methoden. Sein Hauptforschungsgebiet sind die paulinischen Briefe sowie neutestamentliche Ethik. Diverse Veröffentlichungen, zu denen The Faith of Jesus Christ, Echoes of Scripture in the Letters of Paul, The Moral Vision of the New Testament, First Corinthians (IC), The Letter to the Galatians (NIB), The Conversion of the Imagination und Seeking the Identity of Jesus: A Pilgrimage zählen. Zur Zeit arbeitet Richard B. Hays an einem Buchprojekt über die vier Evangelisten als Interpreten der Schriften Israels. 2009 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Goethe-Universität, Frankfurt am Main, verliehen. Richard B. Hays Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 55 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 55 Richard B. Hays »New Covenantalism«: Eine Wiederentdeckung es zur Selbstgerechtigkeit führe, dass seine ethischen Weisungen unzureichend seien, oder dass gar sein Gottesbegriff der Revision bedürfte. 4) Wiederholt begegnet im Verlauf der Argumentation Exodus-Typologie. Die Exodus-Erzählung wird zum prägenden narrativen Deutungsmuster für die Situation der Adressaten in ihrer eigenen Gegenwart. Die Leser werden keineswegs dazu ermuntert, sich mit ihrer Überlegenheit über das ungläubige Israel zu brüsten, sondern vielmehr dazu, ihre Lage in enger Anlehnung an das Geschick Israels in der Wüste als gefährlich aber hoffnungsvoll zu begreifen. 9 5) Der Hebräerbrief lässt nirgends den Schluss zu, der Neue Bund sei für irgendjemand anderes bestimmt als für »das Haus Israel und […] das Haus Juda« (Hebr 8,8). Eine Heidenkirche ist nirgends in Sicht. Im Licht der Exodus-Typologie, die den ganzen Brief durchzieht, kann man sagen: Der Hebräerbrief steht für eine jüdische »Restaurations- Eschatologie« 10 . Der Gedanke des Neuen Bundes zielt nicht auf die Verwerfung, sondern die Wiederherstellung Israels. All dies passt gut zu Vogels Beobachtungen am Text. Er notiert, dass der Bezug in Hebr 1,1 auf »unsere Väter« die Zugehörigkeit von Verfasser und Adressaten zum jüdischen Ethnos nahelegt. Für die Wendung »Same Abrahams« in 2,16 kommt er zum selben Ergebnis. Wichtiger sind freilich seine Bemerkungen zur Rolle der Engel in der Argumentation des Briefes und die zentrale Bedeutung von Tempelkult und Priestertum. Zu Recht sieht er den am nächsten liegenden kulturellen Kontext (oder, wie ich sagen würde, die Produktionsenzyklopädie) innerhalb eines jüdischen Milieus. Diese Annahme wird bestätigt und noch erweitert durch eine wichtige neuere Arbeit von David Moffitt. Moffitt hat überzeugend dargelegt, dass der Kontrast zwischen dem »Sohn« und den »Engeln« als auch die Logik kultischer Sühne im himmlischen Heiligtum am besten auf dem Hintergrund außerbiblischer jüdischer Traditionen verstanden werden können, die die Möglichkeit erörtern, wie »Fleisch und Blut« in die Gegenwart Gottes gelangen kann. Der Hebräerbrief betont mit Bezug auf und im Widerspruch zu diesen Traditionen die Einzigartigkeit und Überlegenheit des Sühnehandelns des Sohnes. 11 Anfragen habe ich an Vogels Überlegungen lediglich dort, wo er im Blick auf Hebr 7,12-14 notiert, hier werde »halachisch argumentiert, nicht schrifttheologisch«. Diese Unterscheidung halte ich für künstlich. Möglicherweise müsste geklärt werden, was Vogel hier mit »schrifttheologisch« meint, doch scheint mir ganz klar zu sein, dass die Ausführungen des Hebräerbriefes über die Herkunft Jesu aus dem Stamm Juda fest in das zutiefst »schrifttheologische« Argument über das Priestertum Jesu »nach der Ordnung Melchisedeks« eingebettet sind. Der ganze Passus Hebr 7,11-22 soll den Beweis liefern, dass in Ps 110,4 Jesus der Angeredete ist und dieser Vers sein ewiges Priestertum bestätigt. Hier und an anderen Stellen würde ich stärker auf den intertextuellen und exegetischen Charakter der Gedankenführung achten. Der Hebräerbrief ist dann zu lesen als jüdischer Traktat über das Judentum des Neuen Bundes (New Covenantalism) in Form einer durchgängigen Exegese der Schriften Israels. Abschließend möchte ich eine Überlegung zu den hermeneutischen Implikationen unserer beiden einander sehr nahe stehenden Lektüren des Hebräerbriefes anfügen. Vogel beendet seinen Beitrag mit der eleganten Bemerkung, dass spätere christliche Interpretationen des Hebräerbriefes den zweiten Akt in einem Drama darstellen, dessen erster- - eben das messianische Judenchristentum des Hebräerbriefes-- nicht vergessen werden sollte. Er ist umsichtig genug zu betonen, dass die Rekonstruktion des ursprünglichen Milieus des Hebräerbriefes die Legitimität späterer christlicher Lektüren nicht in Zweifel zieht. Sein hauptsächliches Interesse scheint aber doch historischer Art zu sein: Dass nämlich der Vergangenheit volle Gerechtigkeit widerfährt, besonders dann, wenn die Vergangenheit uns fremdartig anmutet (»Das Fremde«). Wenn freilich die Historiker zu einer neuen und sorgfältigeren Darstellung der unvertrauten Vergangenheit gelangt sind, kann die traditionelle christliche Theologie, jener zweite Akt, nicht unverändert aus der Begegnung mit der neu erschlossenen Vergangenheit hervorgehen. Die Verpflichtung der Theologie zur Wahrhaftigkeit nötigt uns, einen dritten Akt dieses Dramas zu schreiben, der dem Rechnung trägt, was wir über den jüdischen Charakter unseres kanonischen Textes herausgefunden haben. Vielleicht wird der Hebräerbrief in diesem dritten Akt nicht länger heimatlos sein. Oder anders: Vielleicht wird die christliche Theologie mit dieser wandernden Epistel als Begleiterin ihre eigene Berufung wiederentdecken. Mit T.S. Eliot gesprochen: »… das Ende all uns’res Entdeckens/ wird »Der Hebräerbrief lässt nirgends den Schluss zu, der Neue Bund sei für irgendjemand anderes bestimmt als für »das Haus Israel und [...] das Haus Juda« (Hebr 8,8). Eine Heidenkirche ist nirgends in Sicht.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 56 - 4. Korrektur 56 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Kontroverse sein: hinzukommen, wo wir anfingen/ und diesen Ort erstmals zu erkennen« 12 . Zu erkennen, wo wir anfingen-- den anfänglichen Ort des Christentums erstmals zu verstehen--, könnte uns vor die Aufgabe stellen, für das nachkonstantinische Christentum, das auch das Christentum nach dem Holocaust ist, eine neue Bestimmung zu finden, als eine Gemeinschaft, deren Identität im Hause Israel verwurzelt ist, und der es aufgetragen ist, gemeinsam mit dem Volk Israel nach jener Ruhe Ausschau zu halten, zu der wir noch nicht gelangt sind. Anmerkungen 1 P. Eisenbaum, Locating Hebrews within the Literary Landscape of Christian Origins, in: G. Gelardini (Hg.), Hebrews: Contemporary Methods-- New Insights, Leiden 2005, 213-37, bes.: 236 f. 2 Diese Sicht, die bis auf Johannes Chrysostomus zurückreicht, wird in der englischsprachigen Forschung und Verkündigung weithin vertreten; vgl. etwas A. J. M. Wedderburn, Sawing off the Branches: Theologizing Dangerously Ad Hebraeos, JTS n. s. 56 (2005), 393-414. 3 S. J. D. Cohen, The Significance of Yavneh: Pharisees, Rabbis, and the End of Jewish Sectarianism, HUCA 55 (1984), 27-53, stellt fest, dass sich jüdische Sondergruppen üblicherweise in Opposition zu Priestern und Tempelkult definierten: »Somit ist Polemik gegen den Jerusalemer Tempel ein geläufiges Motiv jüdischer Gruppenbildung: Der Tempelbezirk ist unrein, sein Kult profaniert, seine Priester illegitim« (43). 4 P. Eisenbaum, Hebrews, Supersessionism and Jewish- Christian Relations, unveröffentlichter Vortrag auf der Hebrews Consultation, SBL Annual Meeting, Philadelphia 2005, 1. 5 Richard B. Hays, ›Here We Have No Lasting City‹: New Covenantalism in Hebrews, in: R. Bauckham/ D. R. Driver/ T.A. Hart/ N. MacDonald (Hgg.), The Epistle to the Hebrews and Christian Theology, Grand Rapids 2009, 151-73. 6 Im Bereich der englischsprachigen Forschung ist ein Wandel in die von Vogel vorgeschlagene Richtung zu beobachten. Über das von ihm zitierte Werk von Gelardini hinaus möchte ich auf folgende Arbeiten hinweisen: C. P. Anderson, Who Are the Heirs of the New Age in the Epistle to the Hebrews? , in: J. Marcus/ M. L. Soards (Hgg.), Apocalyptic and the New Testament: Essays in Honor of J. Louis Martyn (JSNTSup 24), Sheffield 1989, 255-77; A.-Lincoln, Hebrews and Biblical Theology, in: C. Bartholomew/ M. Healy/ K. Möller/ R. Parry (Hgg.), Out of Egypt: Biblical Theology and Biblical Interpretation (Scripture and Hermeneutics Series 5), Grand Rapids 2004, 313-38; E.-Tönges, The Epistle to the Hebrews as a ›Jesus-Midrash‹, in: Gelardini, Hebrews: Contemporary Methods, 89-105. Auf dem Annual Meeting 2011 der SBL in San Francisco hat Daniel Boyarin einen Vortrag zum Hebräerbrief als einem jüdischen Midrasch-Text gehalten. 7 Pagane Konvertiten hätten Vogel zufolge keinerlei Versuche unternommen, ihr eigenes kulturelles Erbe zu christianisieren. Daraus folge, dass die Erfahrung der Zurückweisung durch ihr soziales Umfeld weniger angstbesetzt war. Dieses Szenario heidenchristlicher Erfahrungen scheint mir bei weitem zu unbeschwert zu sein. Man denke nur an Paulus’ korinthische Konvertiten, die auf vielfältige Weise versucht haben, ihre christliche Sprache mit ihrer gewohnten Hochschätzung hellenistischer Kultur, Rhetorik, Weisheit und sozialem Status in Einklang zu bringen. 8 Ausführlicher bei R. Hays, No Lasting City, 155-67. 9 Hierin stehen die Mahnungen des Hebräerbriefes der hermeneutischen Strategie des Paulus in 1Kor 10,1-22 nahe. Vgl. dazu R. Hays, Echoes of Scripture in the Letters of Paul, New Haven 1989, 91-104. 10 Vgl. zu diesem Thema E. P. Sanders, Jesus and Judaism, Philadelphia 1985, 77-119. 11 David M. Moffitt, Atonement and the Logic of Resurrection in the Epistle to the Hebrews (NovTSup 141), Leiden 2011. 12 T. S. Eliot, Little Gidding. Four Quartets, in: The Complete Poems and Plays, New York 1962, 145: »…the end of all our exploring/ will be to arrive where we started/ and know the place for the first time.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 57 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 57 Für den Hebräerbrief gehört die Spannung zwischen ungeteilter Gemeinschaft und unüberwindlichem Getrenntsein von Gott und Menschen zu den grundlegenden Voraussetzungen, um Menschsein in den Dimensionen seiner Gesellschaftlichkeit denken zu können. Das Verhältnis zwischen Gott und Menschen ist von Gegensätzen gekennzeichnet, die überbrückt, medialisiert, vermittelt werden müssen, soll Gemeinschaft möglich und erfahrbar werden: ewig-- sterblich; gerecht-- schuldig; himmlisch-- irdisch; heilig-- profan; vorläufig-- endgültig; einmalig-- vielfach usw. 1 Der Hebräerbrief sieht seine Aufgabe darin, Jesus in der Rolle dieser Vermittlung zu zeichnen und seine Geschichte in sie einzuschreiben. In dieser Rolle wird Jesus zum Urheber der Gemeinschaft zwischen Gott und Menschen, die sich in der adressierten Gemeinde konkretisiert. Jesus verkörpert damit in sozialphilosophischer und kulturtheoretischer Sicht die Figur eines Dritten. Ich werde zunächst erläutern, was mit der Figur des Dritten gemeint ist, und sodann nach entsprechenden Kennzeichnungen im Hebräerbrief fragen. Abschließend wird es darum gehen, diesen theologischen Impuls des Hebräerbriefes zu skizzieren und in den gegenwärtigen politisch-philosophischen Diskurs einzuzeichnen. 1. Die Figur des Dritten Mit der Figur des Dritten verbindet sich in sozialphilosophischer Sicht 2 ein neues Konzept, mit dem eine Vielzahl gesellschaftlicher Phänomene beschrieben werden kann. Entscheidend für den vorzuschlagenden Entschlüsselungsversuch ist die Frage, wie Gesellschaften bzw. Gemeinschaften 3 angemessen beschrieben werden können, wenn die Verschiedenartigkeit ihrer Elemente, Gruppen, Ethnien, Schichten usw. dabei nicht nivelliert, übersehen oder unterdrückt werden soll. Jede Gesellschaft enthält Partikularitäten, Elemente des Fremden, Andersartigen, Unangepassten, das in den jeweiligen, für grundlegend erachteten Ordnungen und Werten nicht aufgeht. Wenn Gesellschaftlichkeit im Modell substantieller Gleichheit gedacht wird-- dabei geht es stets um den Aufweis gleicher Eigenschaften wie Sprache, Geschlecht, Rasse, Klasse usw.--, werden die jeweiligen Partikularitäten minorisiert, gefährdet, ausgegrenzt. Dabei entstehen scheinbar sichere Subjekt-Objekt-Beziehungen, in denen alles Fremde als das Andere, Nichtzugehörige definiert werden kann, weil die Beziehungen von Gesellschaften zu ihrem ›Außen‹ lediglich in dyadischen Wir-Sie-Relationen gedacht werden. Neu am Modell des Dritten war der Blick auf das Eigenrecht des Fremden, Partikularen in jeder Gesellschaft. In der Perspektive der Differenz wird die Diversität der Gesellschaft sichtbar. Sie ist durch Auseinandersetzungs- und Integrationsprozesse zwischen Menschen und Gruppen disparater Herkünfte gekennzeichnet, so dass die Gründungswerte einer Gesellschaft anders zu formulieren sind als mit Hilfe essentialistischer Eigenschaftszuschreibungen. 4 Das triadische Konzept löste seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts nachhaltig die vorherrschenden dyadischen intersubjektivitätsbzw. alteritätstheorischen Analysestrukturen ab, und es kam zu einer Neubesinnung auf ältere Vordenker. 5 Mit der Entdeckung des Dritten in den Kultur- und Sozialwissenschaften gegen Ende des 20. Jahrhunderts geht es um eine personale Rolle, die nicht mit Vorstellungen eines neutrischen Dritten (Sprache, Recht, Moral usw.) zu verwechseln ist, wohl aber um weitere Zahlen erweitert werden kann, ohne dass die triadische Struktur sich ändert. Die sozialphilosophische Rolle des Dritten beruht auf seiner Andersartigkeit. Er kann seine Rolle nicht als Erweiterung einer Zweierbeziehung erfüllen. Gemeinschaft entsteht vielmehr, wenn zur Dyade die Heterogenität des Dritten tritt. Er kommt als der zunächst Fremde hinzu, nicht als verlängerte Figur einer Ich-Du-Beziehung. 6 Der ›Exkurs über den Fremden‹ Georg Simmels in seiner Grundlegung der Soziologie 7 hatte das bereits anschaulich gemacht. Der Fremde, der zur Gemeinschaft stößt, die aus zumindest zwei Menschen besteht, gehört nicht zu ihnen; seine Ankunft löst jedoch eine Neubestimmung aus, die nicht nur das dyadische Verhältnis der Gemein- Eckart Reinmuth Der Dritte. Eine sozialphilosophische Perspektive auf den Hebräerbrief Hermeneutik und Vermittlung »Jede Gesellschaft enthält Partikularitäten, Elemente des Fremden, Andersartigen, Unangepassten, das in den jeweiligen, für grundlegend erachteten Ordnungen und Werten nicht aufgeht.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 58 - 4. Korrektur 58 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Hermeneutik und Vermittlung »Der Hebräerbrief geht davon aus, dass es ohne die Rolle eines Dritten keinen Kontakt, keine Vermittlung und schon gar keine Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen und damit keine menschliche Gesellschaft geben kann.« schaft, sondern auch den Ankommenden verändert. Die Gemeinschaft nimmt sich im Blick des Fremden neu wahr. Seine ursprüngliche Nichtzugehörigkeit geht in der dyadischen Struktur nicht auf, vielmehr entsteht eine neue, triadische Struktur, in der Vertrautheit und Unvertrautheit sich neu mischen und relationieren. Die ursprüngliche Vertrautheit wird aufgebrochen; Fremdheit bleibt nicht fremd und wird doch nicht nivelliert. Nähe und Distanz kommen in Bewegung und werden neu geordnet. Simmel zeigt, wie an diesem Modell der Prozess der Vergesellschaftung verstanden werden kann. 8 Die Figur des Dritten hat Bedeutung für die Konstitution des Sozialen, des Subjekts, der Intersubjektivität und damit zugleich eine eminent erkenntnistheoretische wie politiktheoretische Funktion. Mit ihr werden zugleich theologisch relevante Erschließungsperspektiven auf neutestamentliche Texte eröffnet. Der vorliegende Beitrag exemplifiziert das am Hebräerbrief, indem er skizziert, wie in diesem antiken Schreiben Jesus in der gesellschaftsbzw. gemeinschaftskonstituierenden Rolle des Dritten gezeichnet wird, und welche Konsequenzen sich damit verbinden. 2. Jesus in der Rolle des Dritten Der Hebräerbrief geht davon aus, dass es ohne die Rolle eines Dritten keinen Kontakt, keine Vermittlung und schon gar keine Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen und damit keine menschliche Gesellschaft geben kann. Das gilt in der Perspektive dieses antiken Textes von der Schöpfung an (1,2b). Im Licht des letztgültigen Sprechens Gottes (1,2a), wie es die Menschen im Reden Jesu, seiner Person und Geschichte vernehmen können, wird jedoch alle bisherige Vermittlung, jede Begründung der Gemeinschaft zwischen Gott und den Menschen und damit generell menschlicher Gesellschaft zu einer vormaligen, unzureichenden, vergeblichen oder doch in keinem Fall zum Ziel führenden. 9 Demgegenüber ist die einmalige Geschichte Jesu Christi aus Sicht des Hebräerbriefes effektiv und zureichend. Der Autor variiert diese Überzeugung in unterschiedlichen Rollenzuschreibungen an Jesus. Er nutzt verschiedene Möglichkeiten, die konstitutive Rolle Jesu als des Dritten in immer neuen Metaphern zu umschreiben, z. B. als himmlischer Hohepriester, Gesandter, Mittler, Bürge, Anführer des Glaubens und Verursacher der Rettung. In all diesen Rollen ist Jesus fremd und nah zugleich, Mensch wie Menschen, Bruder unter Brüdern, Sohn unter Söhnen und Gott wie Gott, zu seiner Rechten sitzend, Herr, Schöpfungsmittler und Erbe aller Dinge. Das jeweilige Profil dieser Rollen kann im vorliegenden Beitrag nicht eingehend beschrieben werden. Ich notiere im Folgenden lediglich einige Beobachtungen im Zusammenhang unserer Themenstellung. Mit Jesu Rolle als Hohepriester wird die für die Gemeinschaft mit Gott im Kult Israels grundlegende und unentbehrliche Rolle aufgenommen und in anthropologisch-gesellschaftlicher Dimension interpretiert. Von der ersten Verwendung des Wortes an (2,17 f.) steht die den Menschen zugewandte Barmherzigkeit Jesu (vgl. 2,9) im Vordergrund. Sie äußert sich in der Hilfe, die denen gilt, die versucht werden (V. 18). 10 In der Rolle des himmlischen Hohepriesters nach der Ordnung Melchisedeks wird Jesus in genealogischer Hinsicht so definiert, dass er gerade nicht zum Priestertum prädestiniert war (vgl. Hebr 7,13 f.). Seine Rolle als Dritter, die er als vollendeter Hohepriester einnimmt, verdankt sich ausschließlich der Initiative Gottes. Damit wird entschlossen das Menschsein Jesu als Element der Prof. Dr. Eckart Reinmuth, geb. 1951 in Rostock, studierte Evangelische Theologie in Greifswald, wurde 1981 in Halle promoviert und habilitierte sich 1992 in Jena. Er war Gemeindepastor in Mecklenburg und Professor für Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Naumburg und der Universität Erfurt. Seit dem Sommersemester 1995 lehrt er an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock Eckart Reinmuth Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 59 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 59 Eckart Reinmuth Der Dritte. Argumentation beansprucht und dem Gründungshandeln Gottes gegenübergestellt. Seine Rolle als Dritter basiert darauf, dass er Mensch war (vgl. in diesem Sinn auch die Interpretation von Ps 8 in Hebr 2) und als Mensch von Gott ins Leben gerufen worden ist (s. u. Anm. 20). In 3,2 klingt an, dass Jesus von Gott zu dem gemacht wurde, was er ist (es geht um Jesu Treue gegenüber dem, ›der ihn gemacht hat‹ [gr. tō poiēsanti auton]). Gott ist das Subjekt der Identität Jesu. Wie also gerät Jesus in die Rolle des gemeinschaftskonstituierenden Dritten? In der Perspektive des oben skizzierten triadischen Konzepts legt sich eine Lektüre nahe, die nicht essentialistisch nach Eigenschaften, sondern nach Relationen fragt, die in erzählerischer Form begründ- und kommunizierbar sind. Schließlich war, begeben wir uns in die historisch rekonstruierbare zeitgeschichtliche Perspektive, die Kreuzigung Jesu kein weltgeschichtliches Ereignis. Zeitgeschichtlich relevante Quellen schweigen; diese Tötung fand keine Erwähnung, weil sie unter gleichen Bedingungen und nach derselben Prozedur wie unzählige andere exekutiert wurde. Der Hebräerbrief geht wie alle neutestamentlichen Schriften davon aus, dass Jesus als ein Mensch gekreuzigt wurde, ohne dass er als der Christus (vgl. 3,6.14) erkennbar war. Die drastischen Skizzen seiner Angst und Verzweiflung, die im Neuen Testament ihresgleichen suchen, sprechen hier eine deutliche Sprache. 11 Menschen machen Jesus wie andere Delinquenten zum Opfer ihrer Ordnungsvorstellungen, ihrer Rechtsprechung und ihrer Sorge um eine humane Gesellschaft. Die Ausgrenzung, die Jesus als am Kreuz Hingerichteter erfährt, wird vom Autor des Hebräerbriefes jedoch gänzlich anders gedeutet. Er versteht Jesus nicht passiv als Objekt einer Hinrichtung, sondern deutet diesen Tod als Selbstopfer, das jedes weitere Opfer überflüssig macht. 12 Auf der Folie kultischer Opferproduktion wird diese tödliche Ausgrenzung Jesu als einmaliges Geschehen gedeutet, das die Relation zwischen Gott und Menschen neu konstituiert, prägt und bestimmt. Diese Deutung verdankt sich nach Auffassung des Autors jedoch nicht menschlicher Willkür, sondern dem Sprechen Gottes. Sein Sprechen gründet und verbürgt den Glauben der Gemeinde: Jesus wird von Gott nicht nur ›erhört‹ (gr. eisakoustheis 5,7) und ›vollendet‹ (gr. teleiōtheis 5,9), sondern auch öffentlich als ›Hohepriester‹ proklamiert 13 (gr. prosagoreutheis 5,10; vgl. dazu 1,2: Gott hat den Sohn zum Erben aller Dinge ›eingesetzt‹, gr. ethēken). Gott selber nennt ihn ›Gott‹ und ›Herr‹ (vgl. die Anreden in der Zitation von Ps 44,7LXX und Ps 101,26LXX in 1,8.10) und weiß Wahrhaftigkeit (V. 8) und Gerechtigkeit (vgl. V. 9: dikaiosynē) in seiner universalen Herrschaft (gr. basileia) verwirklicht. 14 Gott selber nennt ihn ›Sohn‹ (Ps 2,7 in 5,5; vgl. bereits 1,5). Jesus wird in der Rolle des Dritten bereits im Prolog als der Vermittler göttlichen Sprechens eingeführt, der in der Linie des ›einst‹ (gr. palai) vielfachen und vielgestaltigen Redens Gottes ›durch die Propheten‹ zu verstehen ist (1,1-2). Jedoch ist dieses Sprechen ›durch den Sohn‹ als letztmalig endgültiges gekennzeichnet. Ihn hat Gott zum Erben aller Dinge eingesetzt; war er doch bereits derjenige, ›durch den‹ (gr. di hou) Gott die Welt(en) erschuf. Ich will den Prolog und seine narrativen Elemente hier nicht weiter verfolgen, sondern lediglich darauf aufmerksam machen, dass bereits seine Struktur von einem Gegenüber von Gott und Menschen-- konkret: den Vätern bzw. ›uns‹-- ausgeht, das gleichsam erst durch die Rolle des Dritten (der Sohn bzw. bereits die Propheten) konstituiert wird. Der Sohn ist die personifizierte Anrede Gottes an die Menschen; er ist sein Wort. Er ist es, der das Wort des ihn Sendenden authentisch ausrichtet (vgl. dazu in V. 3 ›tragend das All mit dem Wort seiner Kraft‹). Seine eigene Rolle gründet im Sprechen Gottes (vgl. VV. 5-8. 10. 13). 15 Jesus ist folglich zugleich Bote (bzw. Gesandter, Apostel; 3,1) Gottes, der das Bekenntnis der Glaubenden ermöglicht. Als apostolos wird er im Hebräerbrief (und im gesamten Neuen Testament) nur hier bezeichnet; es ist überdies das einzige Vorkommen des Wortes in diesem Text. Sachlich geht es um die Präsenz des Sprechens Gottes in seiner Person, auf die sich ›unser Bekenntnis‹ (gr. hē homologia hēmōn) bezieht, und auf die bereits der Prolog hinwies (1,2-3). Jesus ist als von Gott eingesetzter Hohepriester zugleich Mittler (gr. mesitēs) 16 des besseren Bundes, der den Menschen durch die Sendung des Sohnes ermöglicht worden ist (8,6; zum Stichwort [besserer] Bund vgl. noch 7,22); als Mittler des neuen Bundes wird er auch in 9,15; 12,24 bezeichnet. 17 Es handelt sich wie bei dem sachlich verwandten Wort ›Bürge‹ (gr. eggyos 7,22) 18 um Metaphern aus dem rechtlichen Bereich. Der Mittler ist zugleich der Bürge; jemand also, der für ein Rechtsgeschäft einstehen und es bezeugen kann. 19 Zu berücksichtigen ist, dass an den drei Stellen, in denen im Hebräerbrief von Jesus als mesitēs gesprochen wird, das Stichwort Bund/ Testament (gr. diathēkē) eine Rolle spielt. In 9,15 ff. geht es ausdrücklich um die diathēkē als testamentarische Verfügung, die mit dem Tod dessen, der sie aufgesetzt hat (gr. tou diathemenou), in Kraft tritt. Seine Mittlerschaft, Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 60 - 4. Korrektur 60 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Hermeneutik und Vermittlung also seine für die Realität der Zuwendung Gottes, für das Wirklichwerden seiner Verheißung (V. 15) bürgende Rolle, gründet darin, dass er sich selbst zum Opfer brachte (9,12-14.26) und von Gott ›von den Toten heraufgeführt‹ (gr. anagagōn ek nekrōn) wurde. 20 Der Hebräerbrief versteht das Selbstopfer Jesu, das jedes weitere Opfer überflüssig macht, als konstitutiv für die neue Gemeinschaft der Menschen. Auf dieser Kernüberzeugung basiert die Theologie bzw. Christologie wie die Ekklesiologie bzw. Anthropologie dieses Textes. 3. Jesu Geschichte und die Situation der Gemeinde Der Autor beschreibt die Erfahrungen des Zum-Glauben-Kommens der Adressaten in 6,4-5 im Zusammenhang seiner Warnung, dass diese Erfahrungen nicht wiederholbar sind. Sachlich geht es mit diesen Wendungen um ein Anteilgeben und Beschenktwerden der Glaubenden, um ihre Begabung, und zwar an der Wirklichkeit Gottes, die ihnen mit der Jesus- Christus-Geschichte erschlossen wurde. Diese Perspektive wird zuerst im Brief mit dem Stichwort ›Rettung‹ (gr. sōteria) benannt (2,3; vgl. 1,14). Sie kommt den Glaubenden als Effekt dieser Geschichte zugute. Es ist eine Geschichte der Befreiung (2,15), der Annahme (gr. epilambanomai 2,16), des sich Erbarmens (2,17), der Schuldtilgung (2,17) und Hilfe (2,18). Jesu Geschichte hat die Adressaten zu Teilhabern Gottes, nämlich an seiner Berufung (3,1), an Christus (3,14), am heiligen Geist (6,4) und an (seiner) paideia (12,8) gemacht (gr. mentochoi, vgl. 3,1.14; 6,4; 12,8 sowie 1,9, wo Ps 45,8 zitiert wird). 21 Sie macht aus den ›Sklaven‹ (2,15) ›Brüder‹ (2,11-13.17), aus den versklavten Söhnen befreite Söhne. Die an die Adressatengemeinde gerichteten Ermahnungen und Drohungen geben zu erkennen, in welcher Gefährdung der Autor sie sah. In 2,1-4 weist er auf die Gefahr hin, dass die göttliche Vergeltung ungleich größer sein könnte, als sie es schon unter den Bedingungen des Gesetzes war (vgl. ähnlich 10,26-31). Er fordert zu gegenseitiger Ermahnung auf, damit niemand ›vom lebendigen Gott abfalle‹ (gr. apostēnai apo theou zōntos 3,12 f.), und er droht damit, dass es denjenigen so gehen könnte wie der Wüstengeneration (3,7-11.15-19; vgl. 4,11 im Kontext von 4,1-13). Das Schicksal derer, die zurückweichen, ist erschreckend (10,39: gr. apōleia; vgl. ferner 12,17.25-29). Diejenigen, die auf der Grenze zum Abfall sind (6,4-12; gr. parapesontes V. 6), kreuzigen den Sohn Gottes erneut und machen ihn zum Spott; sie geben ihn der Schande preis (gr. paradeigmatizontes V. 6). Der Autor hat offensichtlich ein differenziertes Bild von der Adressatengemeinde. Sie ist nicht homogen, sondern umfasst unterschiedliche Glaubenshaltungen, Positionen und Verhaltensweisen. Obwohl der Autor nicht ausdrücklich davon spricht, gehen wir davon aus, dass auch die jeweilige soziale Herkunft und Position der Gemeindeglieder unterschiedlich und nach damaliger Auffassung disparat war (Männer, Frauen, Freie, Freigelassene, Sklaven, Juden, Nichtjuden usw.). Der Autor des Hebräerbriefes macht sich offensichtlich keine Illusionen über die tatsächliche Zusammensetzung der Adressatengemeinschaft. Die Gemeinde des Hebräerbriefes gründet nicht auf normierenden Eigenschaften, sondern besteht-- wie andere Gemeinden des frühen Christentums-- aus verschiedenen Herkünften, sozialen Positionen, ethnischen Kontexten, moralischen Voraussetzungen, Gender-Verständnissen, konkreten Verhaltensweisen usw. Und doch ist sie Volk (gr. laos) Gottes (vgl. 4,9; 8,10 [Jer 31]; 10,30 [Dt 32,36]; 13,12; als Bezeichnung für Israel 11,25 u. ö.). Als Gemeinschaft basiert sie auf nichts Anderem als dem Bekenntnis zu Jesus Christus. Diese Aussage ist freilich so richtig wie allgemein. Sie wird konkreter, wenn wir einen Blick auf die sich im Hebräerbrief abzeichnende Situation der Gemeinde werfen. Insgesamt ist zu berücksichtigen, dass das kollektive Selbstverständnis des Hebräerbriefes sich nicht als das einer ›Mehrheit-im-Recht‹ äußert, sondern als das einer Auszugsgemeinschaft (vgl. 3,1-19; 12,18-29), die die Mehrheit verlässt und sich über das identifiziert, was von dieser als Schande ausgeschlossen wird (13,12). Die Adressaten des Briefes befinden sich in einer schambesetzten und ausgegrenzten Situation als unmittelbarer, unausweichlicher Folge ihres Bekenntnisses zu der in ihren Augen universalen und für die gesellschaftlichen Bedingungen des Menschseins grundlegenden Bedeutung der Jesus-Christus-Geschichte. Das in dieser Geschichte manifeste Zeugnis Gottes wird in der Sicht des Autors durch die Glaubenden beglaubigt. 22 Eindrücklich kommt die Situation der Adressaten in 10,32-34 zur Sprache: »Erinnert euch aber der vergangenen Tage, in denen ihr, nachdem ihr erleuchtet »Der Hebräerbrief versteht das Selbstopfer Jesu, das jedes weitere Opfer überflüssig macht, als konstitutiv für die neue Gemeinschaft der Menschen.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 61 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 61 Eckart Reinmuth Der Dritte. worden wart, einen schweren Kampf der Leiden durchgestanden habt, (V. 33) teils (selbst) in Schmähungen und Drangsalen zum Schauspiel gemacht, teils Mitgenossen geworden derer, denen es so erging. (34) Denn ihr habt mit den Gefangenen mitgelitten und habt den Raub eurer Habe mit Freuden hingenommen in der Erkenntnis, dass ihr einen besseren und bleibenden Besitz habt.« 23 Hier werden Exklusionserfahrungen reflektiert, die die Adressaten aufgrund ihres Bekenntnisses zum Gekreuzigten machen mussten. Der Hebräerbrief blickt auf massive Verfolgungs- und Ausgrenzungserfahrungen zurück. Er spricht die Adressaten darauf an und macht deutlich, dass ihre gefährdete Identität mit diesen Erfahrungen untrennbar und ursächlich verbunden ist. Im Zentrum steht hier die öffentliche Schande. Die Angeredeten wurden durch Schmähungen (gr. oneidismoi) 24 und Bedrängnisse entweder selbst zum Schauspiel (V. 33-- entscheidend an der Metaphorik des verwendeten Verbs theatrizō ist der öffentliche Charakter der Demütigungen) 25 oder wurden zu Teilhabern (gr. koinōnoi) derer, denen es so erging. Sie waren folglich auch in letzterem Fall von der öffentlichen Schande betroffen und sehen sich von einer Gesellschaft, die auf wechselseitig zuerkannter Ehre basiert, ausgegrenzt. 26 Dem Autor geht es um einen Gegendiskurs, der die mit der Kreuzigung Jesu verbundene Schande thematisiert (vgl. 11,26; 13,13) und als grundlegend für die Identität der Kommunikationsgemeinschaft, die das Schreiben adressiert und damit textuell konstruiert, behauptet. 27 Für den Hebräerbrief ist die Tötungsgeschichte Jesu eine Geschichte der Schande, der Schändung, die unweigerlich dazu führt, dass seine Anhänger Schande tragen und zu Ausgegrenzten werden. 12,3 sieht im Zentrum der Passion Jesu die antilogia, also den Widerspruch, die Gegenrede gegen seine Botschaft. Jesus musste die antilogia ›erdulden‹, wie er den stauros (das Kreuz) erduldete und dabei die damit verbundene Schande verachtete (V. 2). Auch an dieser Stelle wird deutlich, dass der Hebräerbrief die Jesus- Christus-Geschichte als eine Geschichte der freiwillig erlittenen und zugleich missachteten Schande und so als grundlegend für die Identität der Glaubenden versteht. So, wie Jesus die antilogia, der Widerspruch, die Verneinung, entgegenschlug, erleben es auch die Glaubenden, und zwar als solche, die den (Wett-)kampf aufgenommen haben (V. 2) und wissen, dass der Widerstand im unversöhnlichen Kampf (gr. antagōnizomenoi) gegen die Sünde bis aufs Blut zu führen ist (V. 4). Sie ist die Präsenz der (überwundenen) Vergangenheit. 28 Sie müssen sich der Schande der Kreuzigung nicht schämen (13,13), so wenig wie Mose (11,25 f.), wie Jesus (12,2), wie Gott: 11,16 stellt fest, dass Gott sich derer, die als Gäste und Fremdlinge heimatlos geworden sind, weil sie das verheißene Land suchen, nicht schämt. 29 11,24ff. erinnert an das Verhalten des Mose, der nicht als Sohn der Pharaotochter, sondern in Solidarität mit seinem misshandelten Volk leben wollte. Er hielt die Schande des Christus (gr. oneidismos tou christou 11,26; vgl. 13,13) für größeren Reichtum als die Schätze Ägyptens. Die Formulierung ist deutlich durch die Analogie ermöglicht, die der Autor zwischen der Passion Christi und der Situation Israels in Ägypten sieht. Gleiches gilt nach 12,2 für Jesus, der wegen der vor ihm liegenden Freude (vgl. für Mose 11,26c die Erwähnung der misthapodosia) die Kreuzesstrafe auf sich nahm und die damit verbundene Schande verachtete. 13,3 fordert von den Adressaten Solidarität mit den Gefangenen-- ›als wärt ihr Mitgefangene‹-- und Misshandelten. Hier hebt der Autor auf die körperliche Existenz der Adressaten ab (gr. einai en sōmati)-- körperliche Existenz bedeutet Sterblichkeit (vgl. 2,14 f.)-- und plausibilisiert mit ihr die Solidarität mit den Misshandelten und Gefangenen. Sie wird folglich zu der Jesu analog konzipiert. Diese Forderung erhält vor dem Hintergrund von 13,13 zusätzliches Gewicht: »Lasst uns hinausgehen aus dem Lager und seine [sc. Jesu] Schmach tragen.« Es geht um die Hinrichtung des Christus. Sie geschah vor den Toren der Stadt (vgl. V. 12). 30 Zum Verständnis dieser Stelle ist der unmittelbar vorausgehende Kontext zu beachten. 13,11 verweist begründend auf Lev 16,27. Hier wird vorgeschrieben, dass die Kadaver der Opfertiere außerhalb des Lagers verbrannt werden, das Blut jedoch zum Altar des Heiligtums gebracht wird, damit der Hohepriester mit ihm die Sünde sühnen kann (gr. exilasasthai en tō hagiō). Vers 12 macht deutlich, wo sich der Altar der Christen befindet. Der Vers beginnt argumentativ mit ›deshalb‹ (gr. dio kai), meint also eine eindeutige Schlussfolgerung aus Lev 16,27. Aber diese Folgerung überschreitet den Gehalt von V. 11. Lev 16,27 sah vor, dass lediglich die für das Opfer unbrauchbaren Reste (Kadaver, Felle, Fleisch, Mist) ›außerhalb des Lagers‹ verbrannt werden. Demgegenüber spricht der Hebräerbrief davon, dass Jesus ›außerhalb des Lagers‹ (gr. exo tēs parembolēs) getötet wird. 31 »Der Hebräerbrief blickt auf massive Verfolgungs- und Ausgrenzungserfahrungen zurück. […] Im Zentrum steht hier die öffentliche Schande.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 62 - 4. Korrektur 62 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Hermeneutik und Vermittlung Damit wird ein neuer Akzent im Hebräerbrief gesetzt, der bisher noch nicht begegnete. Der in V. 12 verwendete Aorist epathen bezieht sich auf das »Einsteinmal« (gr. hapax) der Kreuzigung (vgl. 9,26.28; 10,10.14). Die auf die Adressaten bezogene Folgerung (gr. toinyn) in V. 13 macht den strengen Bezug deutlich, den der Autor auf die Jesus-Christus-Geschichte voraussetzt, wenn es um die Identität der Adressatengemeinschaft geht. Der Ort ›außerhalb des Tores‹ steht im äußersten Gegensatz zu dem heiligen Ort (gr. ta hagia), dem Heiligtum, an dem am Versöhnungstag die Opferhandlung durch den Hohepriester versehen wird. ›Außerhalb des Tores‹ wurden die Überreste der Opfertiere verbrannt und so entsorgt (so auch Ex 29,14; Lev 4,12.21). Dieser unreine Ort steht zum Heiligtum im äußersten Gegensatz. Hans-Friedrich Weiß stellt dazu fest: »Der Ort der Profanität also-- paradoxerweise in einem Brief, der den Kultus zur Grundlage seiner Argumentation macht! -- ist der Ort der ›Heiligung‹. Spätestens an dieser Stelle im Hebräerbrief läuft die Argumentation des Autors im Rahmen der Gegenüberstellung von alter und neuer Kult- und Heilsordnung auf die Infragestellung der für die alte Kultordnung konstitutiven Unterscheidung zwischen ›heilig‹ und ›profan‹ hinaus-- mit entsprechenden Konsequenzen für die diesem Jesus nachfolgenden Christen (V. 13).« 32 Der Hebräerbrief erzählt und reflektiert das endzeitliche Handeln Gottes als Grundlage einer neuen menschlichen Gemeinschaft, indem er die Jesus-Christus-Geschichte als sein schöpferisches Erwählungshandeln interpretiert: Gott hat sich selbst der Schande ausgesetzt, die in Schwachheit, Erniedrigung und Tod Jesu ansichtig wurde. Es ist die Geschichte seiner Solidarisierung mit den Menschen. Sie ist das entscheidende Kriterium für die neue Gemeinschaft. Hebr 2,9 spricht von der zeitweiligen Erniedrigung Jesu unter die Engel; er sollte im Auftrag Gottes (wörtl. ›durch Gottes Gnade‹) für alle Menschen den Tod schmecken. V. 10 begründet diese Aussage mit der Absicht Gottes, den ›Anfänger des Heils‹ durch Leiden zu vollenden. Nur so werden die Menschen zu Brüdern des ›Sohnes‹ (2,11). Das Argument in 2,11 basiert auf der Überzeugung, dass der Sohn und die Söhne von demselben Gott abstammen. 33 Der Solidaritätsgedanke des Hebräerbriefes basiert auf demselben Ursprung des ›Sohnes‹ und der ›Söhne‹, Jesu und der Menschen, 34 betont aber, dass der ›Sohn‹ ganz Mensch geworden ist, um durch seinen Tod den Teufel zu zerstören, der die Macht über den Tod hatte (V. 14), und so die Menschen aus ihrer Todesfurcht zu erlösen (V. 15). V. 17 kann diese narrative Logik gleichsam als Erfordernis ausdrücken: Er musste (gr. ōpheilen) in allem seinen Brüdern gleich werden, 35 damit er barmherzig würde (gr. hina eleēmōn genētai) und ein treuer Hohepriester. V. 18 begründet abschließend: Worin er selber gelitten hat und versucht worden ist, kann er denen helfen, die versucht werden. Christus identifiziert sich mit denen, die durch ihre Furcht vor dem Tod versklavt sind (2,1-16). 36 Gleiches gilt für ihn als Hohepriester (2,17 f.; 4,15; 5,7-10; 7,23 ff.; 8,1 f.). Der Hebräerbrief reflektiert die Geschichte der Solidarisierung Gottes mit den Menschen als Weg des Christus in schambesetztes Leiden und schandbaren Tod. Sie erwirkte die Befreiung der Menschen von ihrer Furcht vor dem Tod und damit zugleich von dem Zwang, immer neue Opfer zu produzieren. 9,27 f. stellt die Bestimmung der Menschen, ›ein einziges Mal zu sterben‹, der einmaligen Opferung Christi gegenüber. Sein Weg führte zu den Menschen, die durch die Furcht vor dem Tod versklavt sind (2,14 f.). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Wahrnehmung des Todes im Hebräerbrief im Kontext seiner Welt, seiner Enzyklopädie erfolgt. Die Kommunikation von Tod und Sterben in diesem antiken Text ist geprägt von konkreten kulturellen Vorgaben, die diese Kommunikation erst ermöglichen. 37 Das wird z. B. daran deutlich, dass in der Sicht des Hebräerbriefes Henoch (11,5) aufgrund seiner Entrückung (Gen 5,24; vgl. Sir 44,16) im Gegensatz zur Sterblichkeit aller Menschen nicht gestorben ist. Gleiches gilt-- mit anderer Begründung-- für Melchisedek (vgl. 7,8). Gerade diese Ausnahmen und insbesondere Melchisedek als Präfiguration Jesu sind ein Hinweis darauf, dass die menschliche Sterblichkeit in besonderer Weise thematisiert werden soll. Sie entspricht nicht der schöpfungsgemäßen Bestimmung des Menschen, sondern markiert eine defizitäre Situation, die in der Verstrickung der Menschen in die Sünde (gr. hamartia, vgl. 1,3 u. ö.; ca. 24 Belege) gründet. 38 Damit wird deutlich, dass es dem Hebräerbrief mit der Akzentuierung menschlicher Sterblichkeit nicht darum geht, lediglich an ihre physische Universalität zu erinnern. Der Hebräerbrief zeigt vielmehr einen inhaltlich klar konturierten Blick auf Tod und Sterben, der die Sterblichkeit der Menschen gleichsam »Der Hebräerbrief erzählt und reflektiert das endzeitliche Handeln Gottes als Grundlage einer neuen menschlichen Gemeinschaft, indem er die Jesus-Christus-Geschichte als sein schöpferisches Erwählungshandeln interpretiert« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 63 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 63 Eckart Reinmuth Der Dritte. als Produkt menschlichen Handelns thematisiert. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Interpretation der Jesus-Christus-Geschichte in Hebr 2,14 f. einen konkreten Bezug. Der Sterblichkeit der Menschen entspricht die Insuffizienz des Kultes (vgl. z. B. 7,23). Auch das Priestertum wird in der Rolle eines Dritten, des-- wenn auch ungenügenden-- Vermittlers zwischen Gott und Menschen gesehen. Aber sowohl sein Ursprung wie seine Praxis zeigen, dass es als menschliche Einrichtung seinen mediatorischen Auftrag tatsächlich nicht erfüllt und nicht erfüllen kann. Die Routinen des Kultes können das Ziel des Menschen, die Gemeinschaft mit Gott, 39 nicht erreichen, weil sie die ›Reinigung von den Sünden‹ (1,3) nicht bewirken. Sie können die Verheißungen Gottes nicht einlösen. Diese Verheißungen enthalten jedoch mit Attributen wie Freiheit, Entlastung vom bösen Gewissen, 40 Nähe zu Gott (7,19), parrēsia des freien Zugangs ins (himmlische) Heiligtum (10,19) die Bestimmung der Menschen. Dem Autor geht es mit dem kultischen Metaphernfeld um den Diskurs der Möglichkeit menschlicher Gemeinschaft mit Gott. 41 Die kultischen Vergleiche im Hebräerbrief dienen dazu, die Ineffektivität der kultischen Iterativität herauszustellen. Das zeigt sich bereits beim ersten Hinweis auf den Opferdienst in 5,1ff.: Der Hohepriester ist durch seine Schwachheit (gr. astheneia) gekennzeichnet und kann deshalb einerseits mit den Irrenden und Unwissenden mitfühlen, andererseits muss er auch für die eigenen Sünden Opfer bringen (V. 3). 7,27f. nimmt den Gedanken aus 5,3 auf. Dem ›ein-für-alle-Mal‹ (gr. ephapax) des Selbstopfers Jesu (vgl. 9,12. 14. 26) steht das tägliche Opfer der Hohepriester gegenüber, die zunächst durch Opfer sich selbst entsündigen und dann das Opfer für die Sünden des Volkes darbringen. Offensichtlich sieht der Hebräerbrief einen Zusammenhang zwischen dem redundanten Opferhandeln der Menschen und ihrer Sterblichkeit. Die Iterativität des Opferns erweist seine Ineffektivität. Demgegenüber erzählt der Hebräerbrief die Geschichte einer universalen Befreiung; er erläutert sie an den anthropologischen Metaphern des Versklavtseins durch die Todesfurcht (2,14 ff.) und des kultischen Opferdienstes und plädiert nachdrücklich für eine gesellschaftliche Orientierung, auf die er die Adressaten verpflichtet. 4. Der Dritte und die Ethik der Solidarität Im Hebräerbrief werden politisch-philosophische Definitions- und Begründungsfragen von Solidarität tangiert. Gegenwärtig steht außer Frage, dass die demokratische Gesellschaft um den Preis ihres Überlebens auf praktische, also gelebte, eingeübte und reflektierte Solidarität angewiesen ist. Es handelt sich um eine zentrale Kategorie, mit der es um die Gegenwart und Zukunft der Demokratie geht. Eine ›Solidarität unter Gleichen‹ ist ihren Herausforderungen jedoch nicht gewachsen. 42 Der Hebräerbrief spricht seine Adressaten nicht auf ihre soziale Stärke an, sondern auf Verfolgungserfahrungen, die sie ihrer sozialen Identität beraubten und diese auch weiterhin gefährden (s. o. zu 10,32-34). Die im Hebräerbrief thematisierte Erfahrung öffentlicher Schande und Beschämung ist als Erfahrung gebrochener sozialer Identität, als tiefgreifende Entfremdungserfahrung zu interpretieren. Wir haben die in dem entsprechenden Handeln Gottes (11,16) bzw. Jesu (2,11) gründenden Aufforderungen, die Schande anderer nicht zu scheuen, sie auf sich zu nehmen und zu teilen (10,32-34; 13,3.13), als eindringliche Mahnung des Autors zur Solidarität mit Ausgegrenzten interpretiert. Sein Beitrag ist als Votum für eine gesellschaftliche wie globale Solidarität zu interpretieren, die in erster Linie den Ausgegrenzten gilt und folglich Exklusionsprozesse jeder Art zu analysieren und gegebenenfalls zu bestreiten hat. Dem Hebräerbrief geht es weder um eine Solidarität unter Gleichen, Gleichrangigen oder gleich Qualifizierten noch um die Herablassung Höhergestellter, sondern um eine Solidarität, die bereit ist, sich der eigenen Gebrochenheit, Entfremdung, ›Nicht-Identität‹ oder Fragilität zu stellen. In der aktuellen politiktheoretischen Diskussion des Solidaritätsbegriffs geht es vor allem um die Frage der Geltung, der Reichweite und der Begründung von Solidarität. 43 Dieser Begriff ersetzte seit dem 18. Jh. zunehmend den Begriff der Brüderlichkeit 44 und thematisiert in erster Linie soziale Beziehungen zwischen prinzipiell gleichgestellten Mitgliedern einer Gemeinschaft. 45 Schon im römischen Recht war die obligatio in solidum als das wechselseitige Einstehen einer Gemeinschaft, etwa einer Familie, für den Einzelnen bzw. des Einzelnen für seine Gemeinschaft, etwa in Haftungs- und Schuldenfragen, verstanden worden. 46 Die hier anklingende »Sein Beitrag ist als Votum für eine gesellschaftliche wie globale Solidarität zu interpretieren, die in erster Linie den Ausgegrenzten gilt und folglich Exklusionsprozesse jeder Art zu analysieren und gegebenenfalls zu bestreiten hat.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 64 - 4. Korrektur 64 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Hermeneutik und Vermittlung Reziprozität prägt auch die moderne gesellschafts- und politiktheoretische Bedeutung des Begriffs: »Solidarität unterscheidet sich ja von Wohltätigkeit dadurch, dass eine grundsätzliche Gleichheit zwischen den Beteiligten existiert, die zu der gegenseitigen Erwartung von Hilfe im Bedarfsfall berechtigt.« 47 Diese prinzipielle Gleichheit der Beteiligten wird meist durch einigende Eigenschaftszuschreibungen wie z. B. gemeinsame Sprachen, Lebensräume, Geschichten oder Kulturleistungen sicher gestellt. Voraussetzung von Solidarität ist folglich die gemeinsame Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, aus der sich das Gefühl eines Verpflichtetseins, einer Zusammengehörigkeit, eines Einstehens füreinander ergibt. 48 Die Rolle Jesu als des Dritten begründet demgegenüber ein provozierendes Solidaritätsmodell. Geht es vordergründig um eine Solidarität unter Gleichen-- Jesus ist Mensch wie alle Menschen, Brüder unter Brüdern, die Angeredeten sollen Solidarität üben mit verfolgten Gemeindegliedern- -, so liegt der Akzent, der diese Solidarität unter Gleichen erst dauerhaft ermöglicht, in einem solidarischen Gründungshandeln, als das die Geschichte Jesu Christi im Hebräerbrief interpretiert wird. Seine Geschichte wird als eine der öffentlichen Schande interpretiert, die Jesus gleichwohl missachtete, auf sich nahm und erduldete. Sein Verhalten bildet das Handeln Gottes ab, wie es bereits prototypisch an Mose (11,25 f.) sichtbar wurde, und wie es von den Adressaten realisiert werden soll, als deren wichtigstes soziales Band der Autor die Solidarität mit und unter den Ausgegrenzten sieht. Definiert der Hebräerbrief seine Adressaten als Gemeinschaft in der Ausgrenzung, deren Exklusionserfahrungen aus ihrem Bekenntnis zu Jesus Christus resultieren, so wird nun deutlich, dass die Solidarität der Ausgegrenzten auf einem solidarischen Handeln gründet, das ihnen galt und ihre Gemeinschaft konstituierte. Dieses Handeln, wie es im Hebräerbrief an der Jesus-Christus- Geschichte als Paradigma erzählt wird, schließt die Solidarität der Adressaten mit Ausgegrenzten ein-- und zwar gerade mit Hinweis auf ihre eigenen Erfahrungen der Ausgegrenztheit. Lesen wir den Hebräerbrief in der Perspektive des sozialphilosophischen Modells der Triade, so wird zugleich deutlich, worin die ethische Dimension dieses Schreibens gründet. Die gesellschaftskonstitutive Rolle der Figur des Dritten gibt zu verstehen, wie es zur Etablierung und Geltung von Normen kommt. 49 In der dyadischen Beziehung geht es, folgt man Thomas Bedorfs Hinweis auf Emmanuel Lévinas, um die stete Prävalenz des Anderen, dessen ethischem Anspruch das Ich sich weder entziehen noch ihn letztlich erfüllen kann. Es ist dieser Anspruch, der das Subjekt gleichsam zur »Geisel des Anderen« 50 werden lässt-- womit nichts anderes als der unausweichliche und unerfüllbare ethische Anspruch, dem das Ich durch die Präsenz des Anderen sich ausgesetzt sieht, gemeint ist: »Der Andere begegnet mir in der Tat, und zwar in einer Weise, die die Autonomie des Subjekts zugleich ins Werk setzt und unterläuft. Indem der Andere mich anspricht, im Akkusativ, wird das Subjekt in die Position dessen versetzt, der auf einen Anspruch zu antworten hat. Das Subjekt beginnt so sein freies Handeln nicht bei sich selbst, im puren Anfangen-Können oder in der Reflexion auf Maximen der praktischen Vernunft, sondern im Antworten auf eine Vorgängigkeit, die es nicht selbst gesetzt hat« (ebd.). Bedorf stellt in der Konsequenz seiner Lévinas-Interpretation fest, »dass die Freiheit keine Freiheit eines autonomen Subjekts ist, sondern der kreative Spielraum, der sich darin öffnet, die Antworten auf den Appell des Anderen jeweils erfinden zu müssen« (ebd.). Dieser ›kreative Spielraum‹ ist zugleich der Raum der in je eigener Entscheidung konkret wahrgenommenen Verantwortung und somit der Raum, in dem sich Normen und Werte realisieren und etablieren können. Genau genommen aber, insoweit der Appell des Anderen nach Lévinas eine ethische Unbedingtheit enthält, geht es in dieser dyadischen Relation um eine nicht eingrenzbare, gleichsam unendliche Verantwortung, der das Subjekt letztlich nicht genügen kann. Im Hebräerbrief versagen die Menschen gegenüber dem Anspruch Gottes, 51 und das Gesetz 52 ›des Mose‹ (10,28) hält die kultische, freilich vergebliche Opferproduktion in Gang. Der ineffektive Kult und das insuffiziente Gesetz (7,19: gr. ouden gar eteleiōsen ho nomos) sind sachlich nicht voneinander zu trennen (9,19-22; 10,1.8). Der Hebräerbrief erweckt den Eindruck, dass das nicht abreißende Entsühnungshandeln der Menschen die gleichsam zentrale Forderung des Gesetzes sei. Es bezieht sich zwar auf die Sünde, aber diese wird im Gegensatz zum Kult, seiner Bedeutung und Verrichtung, nicht weiter expliziert. Fragen wir in gleicher Weise, worin die ethische Forderung Jesu zusammengefasst ist, so können wir-- neben anderem wie z. B. der Unterscheidung zwischen gut und böse (5,14) oder den ›konventionellen‹ Mahnungen in 13,1ff-- das theologische Engagement des Autors dort »Die Rolle Jesu als des Dritten begründet […] ein provozierendes Solidaritätsmodell.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 65 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 65 Eckart Reinmuth Der Dritte. erkennen, wo er in der Rolle Jesu als des Dritten und seiner Geschichte die zentrale ethische Norm ausmacht, die er mit seinen Adressaten kommunizieren will. In seiner umfangreichen Studie zum Problem der Anerkennung 53 verweist Thomas Bedorf im Zusammenhang seiner Überlegungen zur inhärenten Normativität des triadischen Modells darauf, dass die soziale Welt stets von konkurrierenden und inkompatiblen Sinnentwürfen bewohnt wird. Bedorf geht davon aus, »dass Ethisches ohne Sozialität ebenso wenig zu denken ist wie Sozialität ohne ethische Intersubjektivität« (136). Ohne ethische Rückbindung wäre in dieser Situation lediglich mit einem Verdrängungskampf zu rechnen. Bedorf stellt fest: »Normativ relevant werden die miteinander inkompatiblen Sinnentwürfe der sozialen Welt nur deswegen, weil sie sich dem Anspruch eines Anderen verdanken, der unvergleichlich ist. Die Pointe der Figur des Dritten besteht darin, dass sie den Ort markiert, an dem für sich genommen unvergleichliche Ansprüche verglichen werden müssen.« (208 f.; Kursivierung im Original). Bedorf verweist auf die soziale Erfahrung, in der ethische Ansprüche stets im Modell der Triade wahrgenommen werden, insofern es »den Anderen niemals allein [gibt], sondern stets umgeben von anderen Anderen, d. h. Dritten, von symbolischen Ordnungen und normativen Erwartungen« (209). Die Konfliktivität dieser Ordnungen und Normen führt in eine Freiheit, die die letztliche Unentscheidbarkeit der Ansprüche zu bestehen hat, aber gerade nicht in der exklusiven, gleichsam unentrinnbaren Zweierbeziehung zu lösen ist. Hier wird eine triadische Sozialität entscheidend, auf deren Ebene der unendliche ethische Anspruch genormt und konkret verantwortet werden kann. »Normativ ist das soziale Feld nur, wenn es an das ethische Moment der Erfahrung des Anderen gebunden bleibt, wenn sich Sozialität der Intersubjektivität verdankt« (210). Damit ergibt sich ein letzter Gesichtspunkt für die vorgeschlagene sozialphilosophische Perspektive auf den Hebräerbrief. Schon in 2,17 f. wurde deutlich, dass der Autor auf Seiten der Menschen keinerlei moralische Qualifizierung sieht, die der Zuwendung Gottes vorausgegangen wäre (vgl. die Ausführungen o. unter 3., S. 60 ff.). Seine Aufforderung zur Solidarität (10,32-36; vgl. 13,3.13) gründet nicht in einer (gar überlegenen) Moralität der Adressaten, sondern in dem solidarisierenden Handeln Gottes (11,16; vgl. 2,11), das den in Todesfurcht Versklavten galt und sie in Erfahrungen der Ausgrenzung und Entfremdung führte. Auf dieser (narrativen) Struktur basiert die Orientierung der Adressaten an den Ausgegrenzten, nicht an deren oder etwa eigener moralischer Qualität. Wäre dies der Fall, dann würde solidarisches Handeln auf einer moralischen Überlegenheit basieren, die nicht bereit ist, die Fragilität der eigenen Identität anzuerkennen oder gar in Wahrnehmung der eigenen (Selbst-)Entfremdung zu handeln. Demgegenüber vertritt der Hebräerbrief eine triadische Sozialität, die eine von der Unentrinnbarkeit des Ungenügens -- dargestellt an der Insuffizienz des Kultes-- befreite Ethik freisetzt. Der unvergleichliche ethische Anspruch des solidarischen Handelns Gottes führt nicht in eine gesetzlich verstandene Normierung, sondern in die Freiheit eines Handelns, das sich in intersubjektiv reflektierter Verantwortung realisiert. Anmerkungen 1 Zum mittelplatonisch geprägten philosophisch-theologischen Hintergrund des Hebräerbriefes vgl. zuletzt W. Eisele, Ein unerschütterliches Reich. Die mittelplatonische Umformung des Parusiegedankens im Hebräerbrief (BZNW 116), Berlin/ New York 2003, 371-414; J.W. Thompson, EPHAPAX: The One and the Many in Hebrews, NTS 53/ 4 (2007), 566-581; S. Nordgaard Svendsen, Allegory Transformed. The Appropriation of Philonic Hermeneutics in the Letter to the Hebrews (WUNT.2 269), Tübingen 2009, 9-53. Der vorliegende Beitrag basiert auf Überlegungen, die ich in meinem Aufsatz »Der Hebräerbrief vor dem Horizont politischer Philosophie: Ausgrenzung und Solidarität«, in: E. Reinmuth (Hg.), Neues Testament, Theologie und Gesellschaft. Hermeneutische und diskurstheoretische Reflexionen, Stuttgart 2011, 375-395, vorgelegt habe. 2 Die Bandbreite kulturtheoretischer triadischer Modelle sowie die hier vielfältig rezipierten sozialtheoretischen Impulse können hier nicht skizziert werden; für einen Überblick vgl. T. Bedorf, Dimensionen des Dritten, München 2003; J. Fischer, Der Dritte/ Tertiarität. Zu einer Theorieinnovation in den Kultur- und Sozialwissenschaften, in: H.-P. Krüger/ G. Lindemann (Hgg.), Philosophische Anthropologie im 21. Jahrhundert, Berlin 2006, 146- 163; E. Eßlinger u. a. (Hgg.), Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma (stw 1971), Frankfurt a. M. 2010; T. Bedorf/ J. Fischer/ G. Lindemann (Hgg.), Theorien des Dritten. Innovationen in Soziologie und Sozialphilosophie, München 2010. 3 Im Gegensatz zu älteren soziologischen Theorien (vgl. z. B. F. Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, 1887; zuletzt Darmstadt 2005), die aufgrund von gegensätzlichen Wesensmerkmalen zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft unterschieden, schließe ich mich einer lediglich graduellen, nicht-essentialistischen Differenzierung beider Begriffe an; vgl. z. B. S. Lüdemann, Metaphern der Gesellschaft, München 2004, 101 ff. 4 T. Bedorf, »Can the Subaltern speak? « Über (nicht-)essentialistische Subjekte in den Postcolonial Studies, in: Ders./ S. A. B. Blank (Hgg.), Diesseits des Subjektprinzips. Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 66 - 4. Korrektur 66 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Hermeneutik und Vermittlung Körper-- Sprache-- Praxis, Magdeburg 2002, 113-131, definiert als ›essentialistisch‹ eine Theorie, »die den in ihr thematisierten Subjekten wesentliche (›essentielle‹) Eigenschaften zuschreibt, ohne die sie ihren von anderen unterschiedenen Subjektstatus verlieren« (114). 5 Vgl. z. B. G. Simmels Grundlegung der Soziologie 1907 mit dem Untertitel: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung; Sigmund Freuds triadisches Modell von Familiarität; Theodor Litts Übergang von der Dyade zur Triade in seinem zuerst 1917 erschienenen Werk Individuum und Gemeinschaft. Grundfragen der sozialen Theorie und Ethik. 6 Ein neutestamentlicher Text, an dem dies exemplarisch deutlich wird, ist die Geschichte vom bittenden Freund Lk 11,5-8; vgl. dazu E. Reinmuth, Das Neue Testament und die Zukunft des Politischen, in: ders. (Hg.), Neues Testament und politische Theorie. Interdisziplinäre Beiträge zur Zukunft des Politischen, Stuttgart 2011, 9-25,-20. 7 S. Anm. 5; der Exkurs über den Fremden findet sich in der Ausgabe von 1968, 509-512. 8 Zur permanenten Prozesshaftigkeit des Simmelschen Vergesellschaftungsbegriffs vgl. T. Bedorf, Der Dritte als Scharnierfigur, in: E. Eßlinger u. a. (Hgg.), Die Figur des Dritten, 125-136, bes. 126 f. 9 Das gilt für das frühere Sprechen Gottes durch die Propheten (1,1; vgl. auch 11,32-34), für Bundesschlüsse (7,22; 8,6 ff.13; 9,1. 4. 15ff ), für Kult und Priesterschaft (5,1ff; 7,11), für das Gesetz (7,19; 10,1), für die Vermittlertätigkeit des Mose (3,3-5) und selbst für diejenigen, die mit ihrem Glauben, der ihnen von Gott selbst bestätigt wurde (11,39: gr. martyrēthentes), für die Wahrheit Gottes und seiner Verheißungen eingestanden waren (11,4-40); vgl. Anm. 29. 10 Auch der irdische Priesterdienst (vgl. 5,2 und in Bezug auf Jesus bereits 4,15) ist durch seine Fähigkeit des Mitfühlens gekennzeichnet, jedoch wird er durch die in 5,5-10 geleistete Interpretation der Jesus-Christus-Geschichte überboten. 11 Vgl. 5,7; dazu 2,17 f.; 4,15; 12,2 f.; 13,12 f. 12 Vgl. 10,2 (Hätte nicht sonst das Opfern aufgehört, wenn die, die den Gottesdienst ausrichten, ein für allemal rein geworden wären und sich kein Gewissen mehr gemacht hätten über ihre Sünden? ); 10,17 f. (Wo Vergebung geschah, ist kein Opfer mehr nötig). 13 Vgl. dazu E. Grässer, An die Hebräer (Hebr 1-6) (EKK XVII/ 1), Zürich/ Neukirchen-Vluyn 1990, 312. 14 Der im Zitat Ps 44,7 verwendete Begriff euthytēs ist neutestamentliches Hapaxlegomenon; er bezeichnet im Kern ›Geradheit‹ und umfasst die Bedeutung ›Aufrichtigkeit‹; vgl. die Übersetzung in W. Kraus/ M. Karrer (Hgg.), Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung, Stuttgart 2009. Vgl. 5,12 f. (die ›göttlichen Worte‹, in denen die Adressaten unterrichtet worden sind, können als logos dikaiosynēs zusammengefasst werden); Frieden und Gerechtigkeit werden in 12,11 als Zielwerte genannt (vgl. 12,14: gr. eirēnēn diōkete meta pantōn). Gott ist ein Gott des Friedens (13,20). Melchisedek, der Prototyp des Hohepriestertums Jesu, ist ›König der Gerechtigkeit‹ und ›König des Friedens‹ (7,2). 15 Die Konsequenz, die in 2,1-4 für die Glaubenden gezogen wird, bezieht sich denn auch auf das ›gehörte‹ Wort, an dem festzuhalten ist und auf das aufmerksam geachtet werden soll. Bereits die Tora als das Wort, das durch die Engel gesagt war, hatte festen Bestand und war hinsichtlich der gerechten Vergeltung absolut verlässlich (V. 2). Um so weniger ist es möglich, dem Wort, das als vom Herrn gesprochenes seinen Anfang nahm und unter uns durch diejenigen befestigt wurde, die es hörten (V. 3), zu entrinnen. 16 Vgl. im Neuen Testament nur noch 1Tim 2,5 ›einer ist Mittler zwischen Gott und den Menschen‹. 17 Vgl. zum Thema ›Bund‹ im Hebräerbrief noch 8,6.8-10; 9,4.15-17.20; 10,16.29; 12,24; 13,20. 18 Das neutestamentliche Hapaxlegomenon eggyos wird in LXX nur 2Makk 10,28 und Sir 29,15 f. verwendet; an der letzten Stelle wird insbesondere das Risiko des Bürgen deutlich (vergiss nicht: Er setzte sein Leben an deiner statt aufs Spiel [gr. edōken]). Es handelt sich wie bei mesitēs (Hebr 8,6, also am Beginn der eigentlichen Behandlung des Bundesthemas) um »legal metaphors«, die-- analog zu Philos Logos (vgl. z. B. rer. div. her. 205f )- - »as intermediaries between God and human beings« zu verstehen sind (H.W. Attridge, The Epistle to the Hebrews: A Commentary on the Epistle to the Hebrews, Philadelphia 2009 [Nachdruck der Ausgabe von 1989], 208). Vgl. die Ausführungen bei S. Fuhrmann, Vergeben und Vergessen. Christologie und Neuer Bund im Hebräerbrief (WMANT 113), Neukirchen-Vluyn 2007, 79-84. 19 H. Hegermann, Der Brief an die Hebräer (ThHK 16), Berlin 1988, 166. 20 Vgl. 13,20 (vgl. dazu Jes 63,11). Das neue Leben des Gekreuzigten bei Gott wird bereits in den ersten Versen des Hebräerbriefes als gemeinsame Glaubensvoraussetzung erwähnt: ›Er hat sich zur Rechten der Majestät in der Höhe gesetzt‹-(1,3; vgl. 8,1 f.). Hier-- weit höher als die Engel (1,4)-- ist sein gegenwärtiger Ort. Alles ist ihm untertan (2,8). Jesus ist nach seinem Tod zum himmlischen Hohepriester nach der Ordnung Melchisedeks gemäß Gottes Kraft unzerstörbaren Lebens geworden (5,9f; 7,16: gr. kata dynamin zōēs akatalytou). Seine Kraft-- schon Abraham vertraute darauf-- bedeutet, sogar von den Toten erwecken zu können (gr. kai ek nekrōn egeirein dynatos ho theos 11,19; vgl. die Verwendung des Stichwortes ›Auferstehung‹ [gr. anastasis] in 11,35 [bis] sowie in 6,2). Vgl. auch 9,24 (der in den Himmel selbst eingegangen ist, um jetzt für uns [gr. hyper hēmōn] vor dem Angesicht Gottes zu erscheinen; vgl. 7,26: Jesus als Hohepriester ist hypsēloteros tōn ouranōn gegomenos). Er ist als solcher nach der Ordnung Melchisedeks derjenige, der ›in Ewigkeit bleibt‹ und das Priestertum als ›ein unvergängliches‹ innehat (7,24). In diesem überbietenden Vergleich des Lebens Melchisedeks, der ›als Lebender bezeugt wird‹ (7,8) ›ohne Ende‹ (7,3; vgl. VV. 8.16) mit dem irdischen Priestertum gründet Jesu Fähigkeit, ›für immer diejenigen zu retten, die durch ihn zu Gott hintreten, da er ja allezeit lebt, um für sie einzutreten‹ (7,25; Übersetzung nach E. Grässer, An die Hebräer, (EKK XVII/ 2), Zürich/ Neukirchen-Vluyn 1993, 52). Vgl. den Überblick bei S. Alkier, Die Realität der Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 67 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 67 Eckart Reinmuth Der Dritte. Auferweckung in, nach und mit den Schriften des Neuen Testaments (NET 12), Tübingen/ Basel 2009, 79-84. 21 Vgl. auch metalambanein in 6,7 (fruchtbare Erde empfängt Segen von Gott); 12,10 (Teilhabe an seiner Heiligkeit). 22 Zum Zeugnis Gottes, dem das Zeugnis der Schrift entspricht (7,17; 10,15 u. ö.), vgl. 2,4; 7,8; 11,2. 23 Übersetzung nach Hegermann (Anm. 19), 217. 24 Vgl. dazu E. Grässer, An die Hebräer, (EKK XVII/ 3), Zürich/ Neukirchen-Vluyn 1997, 63. 25 Vgl. z. B. Hegermann (Anm. 19), 218. 26 Die gegenwärtige Situation unterscheidet sich in den Augen des Verfassers offensichtlich nicht wesentlich von der erinnerten; vgl. 10,35 ff. 27 In der Kommentarliteratur zum Hebräerbrief überwiegt in der Analyse von 10,32-34 die Frage nach ihrem historischen Bezugspunkt. Gleiches gilt für K.B. McCruden, Solidarity Perfected. Beneficent Christology in the Epistle to the Hebrews (BZNW 159), Berlin 2008, 126-132. 28 Vgl. die Interpretation von Ps 95,7-11 in 3,7-4,13. 29 P. Eisenbaum, Heroes and History in Hebrews 11, in: C. A. Evans/ J.A. Sanders (Hgg.), Early Christian Interpretation of the Scriptures of Israel. Investigations and Proposals (JSNT.S 148), Sheffield 1997, 380-396, hat eindrucksvoll nachgewiesen, dass die Kennzeichnung der Prototypen des Glaubens in 11,4-40 anders als in vergleichbaren Prätexten wie Sir 44-50; 1 Makk 2,51-60; Sap 10 oder CD 2-3 über die in 11,1 f. formulierten Kriterien erfolgt. Erinnerte wie gegenwärtig Glaubende teilen folglich die Erfahrungen der Marginalisierung, der Ausgrenzung und Isolierung; sie haben Teil an ›derselben Geschichte‹ (395; vgl. P. Eisenbaum, The Jewish Heroes of Christian History. Hebrews 11 in Literary Context [SBL.DS 156], Atlanta 1997, 135-188). 30 Der Wechsel von ›Lager‹ (Lev 16,27LXX) zu ›Tor‹ enthält offenbar einen Hinweis auf die Passion Jesu (vgl. ähnlich H.-F. Weiß, Der Brief an die Hebräer (KEK XIII), Göttingen 1991, 734; Attridge (Anm. 18), 399; vgl. Mk 15,20/ / Mt 27,32 f. (exerchomenoi, topos) und Joh 19,20 (ein Ort, nahe bei der Stadt). Im Gleichnis von den bösen Weingärtnern formuliert Mt 21,39/ / Lk 20,15 (diff Mk 12,8! ) ausdrücklich exō tou ampelōnos. Stephanus wurde nach Apg 7,58 entsprechend exō tēs poleōs gesteinigt. 31 Vgl. dazu Weiß (Anm. 30), 730. 32 Weiß (Anm. 30), 732. 33 Attridge (Anm. 18), 88 Anm. 110 weist darauf hin, dass die Überzeugung, die Menschheit entstamme als Ganzes einem gemeinsamen Ursprung, nicht auf die biblische Tradition zu begrenzen sei (Verweis auf Pindar Nem 6,1; Epict Diss 1,9,1-6; Corp Herm 1,32). Entscheidend in der Sicht des Hebräerbriefes ist, dass Sohn und Söhne nur aufgrund des heiligenden Handelns Christi zu Brüdern werden. 34 E. Grässer (Anm. 13), 143 stellt treffend fest: »Die Inkarnation macht Jesus nicht erst zum Bruder der Menschen. Es ist umgekehrt: Weil sie von Ewigkeit her Brüder sind, die Menschen aber in die douleia gerieten, begibt sich auch der Sohn in die irdische Knechtschaft, um die Seinen zur gemeinsamen himmlischen Heimat zurückzuführen.« 35 Zur Formulierung kata panta tois adelphois homoiōthēnai in 2,17 vgl. 4,15 (pepeirasmenon de kata panta kath homoiotēta); vgl. dazu Weiß (Anm. 30), 295. 36 G. W. Grogan, The Old Testament Concept of Solidarity in Hebrews, TynB 49/ 1 (1998), 159-173. Grogan geht von folgender, den betreffenden Eintrag in Websters Third New International Dictionary (1961) aufnehmender Definition aus: »Solidarity may be defined as ›an entire union of interests and responsibilities in a group‹, involving communal ›interests, objectives or standards‹« (159). Auf dieser Grundlage stellt er entsprechende Texte der biblischen Tradition zusammen, um ihre Bedeutung für den Hebräerbrief aufzuzeigen. 37 Vgl. in diesem Zusammenhang die wichtigen Überlegungen von Chr. Strecker, Auf den Tod getauft-- ein Leben im Übergang. Erläuterungen zur lebenstransformierenden Kraft des Todes bei Paulus im Kontext antiker Thanatologien und Thanatopolitiken, in: JBTh 19 (2004), 259-295, 261. 38 Vgl. dazu den Exkurs zur Anthropologie im Hebräerbrief bei Hegermann (Anm. 19), 81-85 sowie eingehend H. Löhr, Umkehr und Sünde im Hebräerbrief (BZNW 73), Berlin 1994, 11-135. 39 Vgl. z. B. das ›sich Gott nahen Können‹ in 7,19.25 (gr. eggizō, proserchomenoi). 40 Am Stichwort ›Gewissen‹ lässt sich der Unterschied zwischen der vorchristlichen Existenz der Glaubenden und ihrem jetzigen Leiden deutlich herausstellen. Die erste Verwendung von syneidēsis (vgl. 9,9.14; 10,2.22; 13,18) in 9,9 hebt darauf ab, dass der früher im Begegnungszelt vollzogene Kult insofern als Gleichnis (gr. parabolēn) für die besondere Gegenwartszeit (gr. ton kairon ton enestēkota) zu verstehen sei, als (nun) deutlich werde, dass seine Gaben und Opfer den, der sie vollzieht, hinsichtlich seines Gewissens nicht vollkommen machen können (gr. mē dynamenai kata syneidēsin teleiōsai ton latreuonta). 9,14 stellt demgegenüber in einem kal-wachomer-Schluss fest, dass das Blut Christi unsere Gewissen von ›toten Werken‹ (gr. apo nekrōn ergōn) reinigen kann, damit wir dem lebendigen Gott dienen. 10,2 stellt in einer rhetorischen Frage fest, dass eine vorausgesetzte Effektivität des Kultes zu seinem Ende hätte führen müssen-- die den Kult Vollziehenden wären ja von ihrem ›Sündengewissen‹ (gr. syneidēsin hamartiōn) ein für alle Mal gereinigt gewesen. 10,22 spricht von den Glaubenden als hrerantismenoi tas kardias apo syneidēseōs ponēras. Die Wendung ›die Herzen gereinigt vom Gewissen des Bösen‹ zielt erneut auf die kognitive Funktion. Das Gewissen ist eine ›mitwisserische‹ Instanz, die die unmittelbaren Wahrnehmungen übersteigt, aber keineswegs als ›christliches‹ Gewissen bezeichnet werden darf (vgl. 10,2). 13,18 gehört bereits zur abschließenden Paulus-Mimesis des Textes: ›Wir sind überzeugt, ein gutes Gewissen zu haben‹-- vgl. Apg 23,1; 24,16; 2Kor 1,12; 1Tim 3,9; vgl. noch 1Petr 3,16.21. 41 Vgl. dazu die Diskussion bei K. Backhaus, Kult und Kreuz. Zur frühchristlichen Dynamik ihrer theologischen Beziehung, in: ders., Der sprechende Gott. Gesammelte Studien zum Hebräerbrief (WUNT 240), Tübingen 2009, 239-261, 241 mit entsprechenden Lit.-Hinweisen. 42 Der Begriff einer ›Solidarität unter Gleichen‹ setzt Zuschreibungsprozesse voraus, die auf symmetrische Anerkennungsverhältnisse letztlich vergleichbarer positiver Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 68 - 4. Korrektur 68 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Hermeneutik und Vermittlung Eigenschaften hinauslaufen. Oliver Marchart verweist demgegenüber auf das »Potenzial eines postfundamentalistischen Solidaritätsbegriffs, der über die Begriffe von Freiheit und Gleichheit hinausweist.« (O. Marchart, Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben [stw 1956], Frankfurt a. M. 2010, 358). Marchart geht es um Solidarität mit Menschen, die jenseits der eigenen Gruppe oder Gemeinschaft leben, die also nicht ohnehin Teil ihrer Interessenspolitik sind: »Solidarisch kann ich nur mit jemandem sein, dessen Position sich von meiner unterscheidet« (359). Diese Haltung setze die Bereitschaft zur Selbstentfremdung voraus: »Bedingung der Solidarität mit dem Anderen ist die Entsolidarisierung mit dem Eigenen« (359). Eine neue Beziehung zu den Anderen, Fremden, schließt eine neue Beziehung zu mir selbst ein. Marchart stellt fest, »dass wir das minimale Kriterium demokratischer Solidarität nicht so sehr in der Konstruktion einer Fremdbeziehung als in der Dekonstruktion der Selbstbeziehung suchen müssen. Sobald ich anerkenne und einsehe, dass der Mangel, der mich bestimmt, konstitutiv ist, kann ich von Versuchen ablassen, mein vermeintlich Eigenes gegen das vermeintlich Fremde um jeden Preis beschützen oder verteidigen zu wollen.« (360). Das von Marchart favorisierte Solidaritätsmodell-- Marchart bezeichnet den Begriff der Solidarität als zentral für »das ethische Moment der Demokratie innerhalb des politischen Diskurses« (333)-- eignet sich hervorragend für die Analyse der narrativen Christus- Logik im Hebräerbrief. Vor diesem Hintergrund zielt der Impuls dieses antiken Textes auf eine Neubestimmung und -begründung des Begriffs der Solidarität. 43 Vgl. einführend K. Bayertz (Hg.), Solidarität. Begriff und Problem (stw 1364), Frankfurt a. M. 2 2002; H. Brunkhorst, Solidarität. Von der Bürgerfreundschaft zur globalen Rechtsgenossenschaft, Frankfurt a. M. 2002; H. Thome, Art. ›Solidarität‹, in: D. Fuchs/ E. Roller (Hgg.), Lexikon Politik. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2007, 263-266; K. Bayertz/ S. Boshammer, Art. ›Solidarität‹, in: HPPS 2 (2008), 1197-1201. 44 Vgl. grundlegend den Art. ›Brüderlichkeit‹ von W. Schieder in: O. Brunner/ W. Conze/ R. Koselleck (Hgg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, 552-581. 45 Bayertz/ Boshammer (Anm. 43), 1197. Neben Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit gelte Solidarität als »ein politischer und sozialer ›Grundwert‹« (ebd.). 46 K. Bayertz, Begriff und Problem der Solidarität, in: ders. (Anm. 43), 11-53, 11. 47 Bayertz (Anm. 43), 43; Kursivierung im Original. Vgl. ähnlich O. Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999, 90: Die Solidarität biete »Hilfe dem einzelnen von seiten der Gemeinschaft und der Gemeinschaft von seiten der einzelnen.« Grundsätzlich symmetrische Beziehungen sind nach Höffe Voraussetzung der Solidarität; es gehe im Kern um »die Hilfe auf Gegenseitigkeit innerhalb einer Schicksalsgemeinschaft«, um »eine moralische Einstellung, die in der Tat zwischen streng geschuldeter Gerechtigkeit und freiwilliger Menschenliebe steht« (92). Im Vergleich zu dieser komme, wer aus Solidarität handle, »den Anforderungen einer Gegenseitigkeit nach, von der man gegebenenfalls selber profitiert; er erbringt eine Leistung für eine Gegenleistung, von der er aber noch nicht weiß, ob sie je fällig sein wird« (92). 48 Vgl. z. B. Thome (Anm. 43), 263. 49 Vgl. dazu Bedorf (Anm. 8). 50 E. Lévinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg/ München 1992, 50; zitiert nach Bedorf (Anm. 8), 132. 51 Zum Stichwort ›Sünde‹ vgl. Anm. 38; zum Stichwort ›Gewissen‹ vgl. Anm. 40. 52 Vgl. 7,18 f.; vgl. VV.5. 12. 16.28; 8,4. 53 T. Bedorf, Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik (stw 1930), Berlin 2010. Vorschau auf Heft 30 Sex und Macht Mit Beiträgen von Lukas Bormann, Kristina Dronsch, Rainer Hirsch-Luipold, Anders Klostergaard Petersen, Eckart Reinmuth, Beate Wehn und Reinhold Zwick. Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 69 - 4. Korrektur ZNT 29 (15. Jg. 2012) 69 Buchreport Knut Backhaus Der Hebräerbrief (Regensburger Neues Testament) Friedrich Pustet Regensburg 2009 ISBN 978-3-7917-2208-5 Preis: 49.90 Euro Knut Backhaus hat einen engagierten Kommentar geschrieben. Das merkt man schon bei der Lektüre des Vorwortes, und hat man erst das Vorwort gelesen, kann man sich diesem Engagement (und damit auch dem Kommentar) kaum entziehen: Es macht neugierig auf den Kommentar, und der Kommentar macht neugierig auf den Hebräerbrief. Konzeptionell trägt der Band dem Vermittlungsauftrag der Kommentarreihe Regensburger Neues Testament dadurch Rechnung, dass er eine Doppelperspektive einnimmt und durchhält: die historische Perspektive auf den Hebräerbrief als ein in vieler Hinsicht fremdes Dokument, dessen religiös-kultureller Hintergrund in exegetischer Detailarbeit aufzuhellen ist, wie auch die gegenwartsorientierte Perspektive, die es dem Hebräerbrief zutraut, Antworten auch auf Fragen heutiger Leserinnen und Leser zu geben. Wo in einem Kommentar sonst Exkurse zu stehen pflegen, nimmt Backhaus eine Reihe von »Ausblicken« auf die Gegenwart vor. In diesen Abschnitten, nicht weniger als 34 an der Zahl, »mutet sich der Kommentator selbst den Lesern zu. Genauer: Ich teile meine eigene Begegnung mit dem Text mit und versuche so, eine Brücke vom Sinnpotential des historischen Textes zu unserer Zeit zu schlagen. Das ist kein historisches Unterfangen mehr, sondern ein subjektiver und stets anfechtbarer Versuch, Möglichkeiten einer ›Sinnkarriere‹ aufzuzeigen« (7). Die ausführliche Einleitung (13 -79) bleibt auch dem Fachpublikum wissenschaftlich nichts schuldig- - auf Schritt und Tritt wird deutlich, dass der Autor auf dem Gebiet der Hebräerbriefforschung bestens ausgewiesen ist- -, doch ist sie auch für interessierte Nichtfachleute gut lesbar, weil sie die Forschung zwar auf der Höhe der Zeit repräsentiert, diese jedoch nicht selbst zum Thema macht. Die Einleitung ist denn auch, wie der Kommentar insgesamt, zu einhundert Prozent fußnotenfrei. Dagegen vermittelt das umfangreiche Literaturverzeichnis einen Eindruck, wie intensiv Backhaus das Gespräch mit der Forschung geführt hat. Dem Kommentar kommt es zugute. Im ersten Satz der Einleitung versichert sich Backhaus der Geneigtheit seines Lesepublikums: »Wer zum Hebräerbrief greift (oder sogar zu einem Kommentar über den Hebräerbrief ), beweist Mut. Normale Christen halten den Hebräerbrief für unzugänglich« (13). Allein, der Autor schmeichelt den Lesenden nicht, sondern fordert sie heraus: »Der Hebräerbrief hingegen hält normale Christen für unzugänglich und schwerfällig […]. Dieser Kommentar hat sein Ziel erreicht, wenn deutlich wird, wer Recht hat. Es kann nicht seine Aufgabe sein, die Barrieren einzuebnen, die den Hebräerbrief von unserer Lebenswelt trennen. Aber er kann versuchen, die symbolische Welt hinter ihnen begehbar zu machen. Es ist eine Welt, in der der Himmel wirklicher ist als die irdischen Schattenbilder, das Wort mächtiger wirkt als die Mehrheitsmeinung und sich zwischen Himmel und Erde ein Begegnungsdrama abspielt, in dem Gottes Lebensraum schon jetzt zugänglich wird. An diesem Drama nehmen die Lesenden mit ihrer je eigenen Glaubensgeschichte unmittelbar teil« (13). Schon diese einleitenden Sätze machen deutlich, dass der Verfasser des Kommentars hinter der Sprachmächtigkeit des Briefverfassers nicht zurücksteht. Aber wie verhält es sich mit den notorisch schwierigen Passagen des Hebräerbriefes, etwa der berühmt-berüchtigten Verweigerung der zweiten Buße? Hier verweist Backhaus auf dreierlei: Einmal auf die älteste kirchliche Bußpraxis, die keineswegs einheitlich war und schon gar nicht unisono der (vermeintlich) harten Linie des Hebräerbriefes gefolgt ist (vgl. 233). Sichtlich wird die Schrift hier zu einem Stück Tradition, oder anders: Der Übergang zwischen Schrift und Tradition ist an dieser Stelle fließend. Die (jedenfalls auf den ersten Blick) kompromisslos harte Haltung des Hebräerbriefes wird historisch im guten Wortsinn relativiert, ins Verhältnis gesetzt zu anderen Positionen der Alten Kirche, die (z.T. in expliziter Auseinandersetzung mit Hebr 6) in der Bußfrage zu einer ganz anderen Einschätzung gelangt sind. Zweitens lenkt Backhaus das Augenmerk auf den argumentativen Status jener Verse: Es geht dem Verfasser gar nicht darum, in der Bußfrage einen unhintergehbaren Rechtsgrundsatz zu formulieren, für den er kirchenpolitisch unbedingte Geltung einforderte, sondern zunächst formal darum, auf eine logische Unmöglichkeit, einen sachimmanenten Widersinn aufmerksam zu machen. Drittens soll deutlich werden, dass die Verse rhetorisch und pragmatisch und damit auch sachlich nicht unabhängig von ihrem intratextuellen Kontext verstanden werden können: »Der Redner erweckt die beiden für eine […] Mahnpredigt maßgebenden Leitaffekte: Furcht (metus) und Hoffnung (spes) […]. Die Wirkung entscheidet sich an der Reihenfolge: Im ersten Unterabschnitt (A) werden die Hörer mit schaudererweckenden Bildern und Drohungen aus der angenommenen Hörfaulheit und Glaubenslethargie gerissen, sodass ihnen deutlich wird, dass die Heilszusage weder trivial noch selbstverständlich ist. Im zweiten Unterabschnitt (B) wird in diese aufgescheuchte Seelenlage hinein das ganz Andere gesagt, nämlich unerwartet und unverdient das Heil: ›Wir sind aber, was Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 70 - 4. Korrektur 70 ZNT 29 (15. Jg. 2012) Buchreport euch, ihr Geliebten, betrifft, von dem überzeugt, was wirkmächtiger ist und Heil birgt, wenn wir auch so sprechen‹. Der Mensch hat keinen Anspruch darauf, dass Gott ihm Gnade erweist, und in V. 4 -8 wird deutlich, was die natürliche Folge des Glaubensabfalls ist. Aber in V. 9f. tritt dann unmittelbar Gott- - und mit ihm die Gnade- - auf den Plan: überraschend, befreiend, gegen alle natürliche Logik« (226f.). In der Wirkungsgeschichte wurde dieser Kontextbezug häufig übersehen: »Aus dem heilsamen Schrecken wurde […] die schreckliche Heillosigkeit« (227). Die rhetorische Lektüre dieses Abschnitts überzeugt, überzeugend ist auch der anschließende »Ausblick« (242-244), der dafür plädiert, Rhetorik als Theologie gelten zu lassen: »Wir nehmen Hebr nicht weniger ernst, wenn wir auch dies als Theologie würdigen. Freilich werden wir uns dann nicht auf den zeitlosen Wahrheitsgehalt einzelner theologischer Sätze fixieren, sondern diese in den Wirkzusammenhang der Gesamtrede stellen« (243). Wo und in welchem geistig-kulturellen und religiösen Milieu ist der Hebräerbrief entstanden? Backhaus votiert für Rom. Namentlich »das theologische Profil des Hebr gewinnt vor stadtrömischem Hintergrund eigene Stimmigkeit: Schließlich war die hauptstädtische Kirche bis zum Claudius-Edikt 49 n. Chr. deutlich judenchristlich geprägt. Nachdem die Judenchristen zeitweilig vertrieben worden waren, wurde das heidenchristliche Element in der Gemeinde dominant, doch so, dass die biblisch-jüdische Herkunftskultur Selbstverständnis, Denkform und Argumentationsweise bleibend prägte« (26). Nach Backhaus sind freilich, als der Hebräerbrief geschrieben wurde, die Probleme des Zusammenlebens von Christen aus Israel und Christen aus den Völkern, wie sie noch im Römerbrief deutlich zu erkennen sind, längst Geschichte. Der Verfasser war selbst wohl kein Judenchrist (22), und »eine theologische Unterscheidung zwischen Juden- und Heidenchristen steht in Hebr nicht mehr zur Debatte. Er wendet sich an das Gottesvolk als solches, das in der großen Tradition Israels steht und aus der Sicht des V[er]f[assers] gerade so zur Kirche geworden ist.« Er beschwört »Einheitsbilder, die die Traumata der jüdischchristlichen Trennungsprozesse hinter sich gelassen haben« (24). Dass Sabbat und Beschneidung nicht erwähnt werden, heißt also nicht, dass diese Größen noch fraglos in Geltung stünden, sondern dass sie schlicht keine Rolle mehr spielen. Historisch scheint mir ein solches Christentum jenseits jeglicher Interaktion mit dem synagogalen Judentum für das 1. Jh. unwahrscheinlich zu sein. Dass die biblisch-jüdische »kultische Anschauungsform« den Verfasser »mit der dominierenden Frömmigkeit auch seiner paganen Zeitgenossen verbindet« (62), scheint mir eine Verlegenheitsauskunft zu sein. Die Kontroverse dieses Heftes vertritt zu beiden Teilen in diesen und anderen Fragen eine gegenteilige Position. Für Backhaus ist der Hebräerbrief fraglos ein Dokument der Kirche. Die Geschlossenheit seiner Auslegung verdankt sich nicht zuletzt dieser Grundannahme, die der Rezensent theologisch für nicht unproblematisch hält. Den nicht geringen Eindruck, den der Kommentar auf ihn gemacht hat, schmälert das in keiner Weise. Manuel Vogel Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 71 - 4. Korrektur Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BESTELLEN! Soham Al-Suadi Essen als Christusgläubige Ritualtheoretische Exegese paulinischer Texte Texte und Arbeiten zum Neutestamentlichen Zeitalter, Band 55 2011, 347 Seiten €[D] 68,00/ SFr 91,00 ISBN 978-3-7720-8421-8 Die Studie leistet einen wichtigen Beitrag zur Grundlagenforschung zum Thema frühchristlicher Identitätsausbildung. Es wird erörtert, wie Paulus zum einen das hochkomplexe Gemeinschaftsmahl und zum anderen die Identität der Mahlgemeinschaft „kommentiert“. Da es bei Paulus nicht bei der Kommentierung bleibt, wird mit sozialgeschichtlichen, exegetischen und ritualtheoretischen Methoden herausgearbeitet, wie er auf die Mahlgemeinschaften Einžuss nimmt. Durch diese detaillierte Analyse wird die Pluralität sowohl der antiken Mahlpraxis als auch der frühchristlichen Identitäten gewürdigt. Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 08.03.2012 - Seite 72 - 4. Korrektur Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BESTELLEN! Ralf Lutz Der hoffende Mensch Anthropologie und Ethik menschlicher Sinnsuche Tübinger Studien zur Theologie und Philosophie, Band 25 2012, 692 Seiten €[D] 98,00/ SFr 129,00 ISBN 978-3-7720-8428-7 Die Tugend der Hoffnung für menschliche Handlungspraxis als notwendig auszuweisen und damit deren moralische Relevanz unter Beweis zu stellen, ist zentrales Ziel der vorliegenden Arbeit. Anhand einer interdisziplinären Erschließung einschlägiger Einsichten aus Philosophie, Theologie und empirischen Humanwissenschaften wurde eine integrative Theorie der Hoffnungspraxis, eine Ethik der Hoffnung, entwickelt, die zeigt, dass der Hoffnungsvollzug eine tiefe naturale Verankerung im Menschen und ein breites anthropologisches Fundament besitzt. Dabei zeigt sich, dass die zentralen Inhalte christlicher Hoffnung alle wesentlichen Strukturen und Formen des menschlichen Hoffnungsvollzugs zugunsten einer grundlegenden Energetisierung menschlichen Handelns konstruktiv aufnehmen.