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ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
1201
2012
1530 Dronsch Strecker Vogel
Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 1 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 1 Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, der viele hundert Seiten lange Weg durch den Text der zweiteiligen christlichen Bibel von der Genesis bis zur Apokalypse dauert nur ganze 27 Verse, bis der Mensch als geschlechtliches Wesen, männlich und weiblich als Gottes Ebenbild, in den Blick kommt: Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau (Gen 1,27). Bis zum Ende dieses Weges bleibt menschliche Geschlechtlichkeit und Sexualität präsent, bestimmt die biblischen Narrative von Liebe und Hass, Leidenschaft und Scheitern, generiert einprägsame Sprachbilder, drastische wie poetische, und zeigt überdeutlich, wie tief den biblischen Texten die Kulturen eingeschrieben sind, die sie hervorgebracht haben. Die Johannesoffenbarung setzt mit ihrer Schilderung des endzeitlichen Kampfes der »Hure Babylon« gegen die »Braut des Lammes« einen dramatischen Schlussakzent. Für die Hauptstadt der bösen Weltmacht hat der Seher augenscheinlich keine vernichtendere Schmähung parat als jene sexuell konnotierte, und er fasst auch die Sehnsucht der christlichen Gemeinde nach dem Messias in ein erotisch grundiertes Bild. Will man angesichts der immensen Breite des gestellten Themas nicht im Ungefähren schweben, gilt es, die spezifisch antiken Kontexte biblischer Formationen des Sexuellen zu erheben. Es wird dann schnell deutlich, dass diese von modernen Konzepten von »Sexualität« denkbar weit entfernt sind-- weshalb der Begriff im Titel des vorliegenden Heftes auch nicht vorkommt. Statt dessen wählen wir mit »Sex und Macht« ein Begriffspaar, von dem wir meinen, dass es den antiken Geschlechterdiskurs am besten trifft. Namentlich geht es um die maskuline Deutungshoheit über die geschlechtliche Konstitution des Menschen, die den Vorrang des Männlichen so flächendeckend und selbstverständlich behauptet, dass sie auch für moderne Augen nicht selten allererst sichtbar gemacht werden muss. Ob es hier (und sei es in schwachen Ansätzen) ein unterscheidend Biblisches bzw. Christliches gibt, ist eine drängende theologische Frage. In der Rubrik »Neues Testament aktuell« erschließt der Beitrag von Matthias Klinghardt unter Rückgriff auf neuere und neueste kultur- und altertumswissenschaftliche Arbeiten einen weiten Horizont, der von der biblischen Schöpfungsgeschichte über rabbinische Bibelauslegung, platonische Philosophie und antike Medizin bis in die Patristik reicht. Am Beispiel der antiken Theorie protologischer Androgynie wird deutlich, dass biblische wie frühchristliche Aussagen zu Geschlecht und Geschlechterrollen tief in Grundannahmen antiker Anthropologie verwurzelt sind. Anders Klostergard Petersen trägt diesem Umstand in seinem Beitrag über Konstruktionen von Geschlecht und Sexualität im Neuen Testament damit Rechnung, dass er eine »vertikale Anthropologie« favorisiert, die die Rede vom Menschen auch im Hinblick auf Geschlecht und Sexualität kulturell und diachron zu differenzieren erlaubt. Welche Konsequenzen sich für das Verständnis des Neuen Testaments ergeben, macht er an instruktiven Textbeispielen deutlich. Eindrucksvoll führt sodann Beate Wehn den Konnex von Sex und Macht anhand der Figur der Thekla in den Thekla-Akten vor, einer frühchristlichen Quelle des 2. Jhs. In den Thekla-Akten spiegeln sich reale Gewalterfahrungen von Frauen in der Zeit des frühen Christentums, ebenso aber auch Strategien der Emanzipation. Reinhold Zwick beleuchtet mit der Figur der Salome aus Mk 6 das Verhältnis von Sex und Macht im komplexen Erzähl- und Beziehungsgefüge der Episode vom gewaltsamen Tod Johannes des Täufers, nun aber nicht in kulturanthropologischer Sicht, sondern im Spiegel der Rezeption der Salome im Film. Indem das Kino in zahllosen Variationen die Charaktere der Erzählung ausgestaltet und fortschreibt, kommt das unabgegoltene erzählerische Potential des biblischen Stoffes zum Tragen, das auch die Abgründe des Sexuellen und die dunkle Seite des Eros einschließt. Die Kontroverse, die von Lukas Bormann und Eckart Reinmuth bestritten wird, wirft eine Frage auf, die sich bei der Lektüre der übrigen Beiträge förmlich aufdrängt, die Frage nämlich, ob neutestamentliche Texte für gegenwärtige sexualethische Fragestellungen überhaupt von Bedeutung sein können, oder ob sie nicht vielmehr (in theologischer Überhöhung) eine falsche Fährte zu obsoleten kulturellen Standards legen. Nach der Geltung von Texten und deren Interpretation fragt auch Kristina Dronsch in der Rubrik Hermeneutik und Vermittlung. Am Beispiel aktueller biblisch argumentierender Positionen zum Thema Homosexualität führt sie zwei Lektü- Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 2 - 4. Korrektur 2 ZNT 30 (15. Jg. 2012) remodelle vor, die in unterschiedlicher Weise die Machtförmigkeit von Akten der Textinterpretation bestimmen. Christof Meißner beschließt das Heft mit der Besprechung des Buches Indecent Theology von Marcella Althaus-Reid. In eigener Sache verabschieden wir an dieser Stelle Prof. Dr. Jürgen Zangeberg (Univ. Leiden) aus dem Kreis der Herausgeberinnen und Herausgeber der ZNT. Er scheidet wegen zahlreicher anderer beruflicher Verpflichtungen auf eigenen Wunsch aus, bleibt der ZNT aber erklärtermaßen mit Wohlwollen verbunden. Jürgen Zangenberg ist nicht nur Gründungsmitglied der ZNT, sondern auch derjenige, der ihre Gründung maßgeblich mit angeregt und realisiert hat. An dieser Stelle sei ihm mit Nachdruck und von Herzen für alle im Laufe von 15 Jahren geleistete Arbeit gedankt. Ein herzliches Willkommen sagen wir Prof. Dr. Hanna Roose (Univ. Lüneburg). Wir freuen uns sehr, dass Frau Kollegin Roose unserer Einladung gefolgt ist und sich zur Mitarbeit bereit erklärt hat. Durch ihre Forschungen im Schnittfeld von Exegese und Religionspädagogik wird sie der ZNT künftig gewiss wichtige Impulse geben. Schließlich begrüßen wir aufs Neue Dr. Kristina Dronsch, die ihre Mitarbeit zwischenzeitlich aus beruflichen Gründen ruhen lassen musste, nun aber wieder dem Kreis der Herausgeberinnen und Herausgeber der ZNT angehört. Stefan Alkier Eckart Reinmuth Manuel Vogel NEUERSCHEINUNG A. Francke Verlag • D-72070 Tübingen • info@francke.de • www.francke.de Philipp F. Bartholomä The Johannine Discourses and the Teaching of Jesus in the Synoptics Texte und Arbeiten zum Neutestamentlichen Zeitalter, Band 57 2012, XIV, 491 Seiten, € (D) 78,00/ SFr 105,00 ISBN 978-3-7720-8457-7 Especially those scholars with a negative attitude towards Johannine authenticity have frequently employed the argument based on vast differences between John and the Synoptics as to substantiate their view. Having established the methodological necessity for a clear differentiation between similarity in wording and similarity in content, the study’s main result is that what we —nd in the Johannine discourses is a representation of the teaching of Jesus that corresponds conceptually to a signi—cant degree with the picture offered by Matthew, Mark, and Luke. Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 3 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 3 Die Kernfrage der Geschlechterforschung nach der kulturellen, sozialen und biologischen Konstruktion der Geschlechter, mithin die Frage nach der Wahrnehmung der Sexualität und den damit verbundenen Machtaspekten, ist eine zutiefst religiöse Frage. Denn sie ist ein unverzichtbarer Bestandteil der weiteren Fragestellung nach dem Wesen des Menschen, die in der abendländischen Tradition immer als religiöses Problem verhandelt wurde. Das frühe Christentum hat diese Frage durchaus kontrovers diskutiert und mit einem erstaunlichen Aufwand an Schriftgelehrsamkeit theologisch reflektiert: Was »männlich« oder »weiblich« eigentlich ist, war also genauso wenig selbstverständlich wie die Tatsache, dass es zwei unterschiedliche Geschlechter gibt. 1 Die Bestimmung des Wesens des Menschen und seiner Sexualität ist eine Transzendenzkonstruktion: Sein »Wesen« liegt dem Menschen immer voraus und ist ihm unverfügbar, und doch dienen die Konstruktionen dieses Wesens immer zur normativen Reglementierung des sozialen, politischen und kulturellen Miteinanders, werden also genutzt und instrumentalisiert: Diese Transzendenzkonstruktion ist mithin ein Instrument der Macht, wie sich gerade an der Bestimmung der Sexualität zeigt: Die Antike hat Sexualität nicht als eigenständiges Thema wahrgenommen, sondern die damit verbundenen Fragen durchweg in sozialen und politischen Diskursen behandelt. Aus diesem Grund wäre ein objektiver Zugang zur »richtigen« Konstruktion von großer Bedeutung. Aber Objektivität ist hier nicht zu erreichen: Das Wesen des Menschen ist unverfügbar. Darum ist es sinnvoll, die Frage in einem möglichst breiten kulturellen Horizont anzugehen, zu dem eben nicht nur die religiösen Bestimmungen seiner »Geschöpflichkeit« gehören, sondern auch die philosophischen und (natur-)wissenschaftlichen seiner »Natur«. Um diesen kulturellen Horizont wenigstens anzudeuten, sind im Folgenden die im engeren Sinn »religiösen« Konzepte wenigstens andeutungsweise durch philosophische und medizinische Stimmen ergänzt. I. Androgyne Anthropogonie Der Leittext und die wichtigste Grundlage für die Diskussion über menschliche »Natur« und Geschlechtlichkeit im hellenistischen Judentum und frühen Christentum sind die biblischen Schöpfungsberichte. Nach Gen 1,27 erschuf »Gott den Menschen, nach dem Abbild Gottes schuf er ihn, männlich und weiblich schuf er sie«. Nach diesem Grundtext der imago-Dei-Lehre gehört es zum Wesen des Menschen, dass er von Anfang an »männlich und weiblich« (gr.: arsen kai thēly), also als geschlechtlich distinktes Wesen, existiert. Daneben steht die Schöpfungserzählung in Gen 2, der zufolge ein (zunächst geschlechtsloser) Mensch aus dem Ackerboden erschaffen wird (Gen 2,7), der später eine Gefährtin erhält: »Gott, der Herr, baute aus der Seite, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau (gr.: gynē) und führte sie dem Menschen zu« (Gen 2,22); erst dadurch wird der »Mensch« (gr.: anthrōpos) zum »Mann« (gr.: anēr, Gen 2,23). Das Nebeneinander dieser beiden in mancherlei Hinsicht sehr unterschiedlichen Texte eröffnete den Spielraum für eine breite Palette verschiedener Interpretationen. Eine im Blick auf die christlich-abendländische Wirkungsgeschichte eher ungewöhnliche Verbindung dieser Texte findet sich in einer rabbinischen Auslegung: »Als der Heilige, Er sei gepriesen, Adam erschuf, erschuf er ihn als Androgyn, denn es heißt: Als der Herr Adam erschuf, erschuf Er ihn mit einem Doppelgesicht, dann spaltete er ihn und machte ihm zwei Rücken, einen Rücken auf der einen Seite und einen Rücken auf der anderen Seite.« 2 Dies ist eine höchst eigenartige Deutung von Gen 2,22. Sie wird verständlich als Rezeption der religionsgeschichtlich weit verbreiteten Vorstellung einer androgynen Anthropogonie, wie sie vor allem aus der karikierenden Darstellung in Platos »Gastmahl« bekannt ist. 3 Dort lässt Plato den Komödiendichter Aristophanes erzählen, dass die Menschen ursprünglich zweigeschlechtliche Kugelwesen gewesen seien, mit zwei Gesichtern, vier Armen, vier Beinen und auch doppelten Geschlechtsteilen. Matthias Klinghardt Androgyne Gleichheit-- sexuelle Hierarchie Die Kultur der Geschlechtskörper im frühen Christentum* Neues Testament aktuell * Eine kürzere Fassung dieses Beitrags erschien unter dem Titel »Männlich- - Weiblich- - Mannweiblich- - weder männlich noch weiblich: Geschlechterkonstruktionen im frühen Christentum« in: Wissenschaftliche Zeitschrift der TU Dresden 52/ 3 (2003), 51-56. Abbildungen © Frieder Klinghardt. Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 4 - 4. Korrektur 4 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Neues Testament aktuell Mensch ständig seine eigene Teilung vor Augen habe und anständiger würde.« Allerdings liefen die Menschen nun Gefahr auszusterben, denn sie konnten nicht mehr miteinander verkehren: Ihre Augen waren vorn, ihre Geschlechtsteile hinten. Daher erbarmte sich Zeus und verlegte den halbierten Menschen die Geschlechtsteile nach vorne, damit sie sich auf diese Weise gezielt vermehren könnten. »Von so langem her« folgert der platonische Aristophanes, »ist also der Eros zueinander den Menschen angeboren, um die ursprüngliche Natur wiederherzustellen; der Eros versucht, aus zweien eins zu machen und die menschliche Natur zu heilen.« 4 Auch wenn es auf den ersten Blick schwierig erscheint: Die erwähnte rabbinische Auslegung von Gen 1 f. impliziert eine protologische Geschlechteridentität im Sinn dieser Überlegung. Das erforderte eine Zuordnung der beiden Schöpfungsberichte, die aus Gen 1,27 eine androgyne Anthropogonie herauslas, aus Gen 2,22 dagegen die Entstehung geschlechtlich distinkter Menschen. Es ist nur konsequent, wenn in spätantiken Beispielen für diese Auslegungstradition das Objekt des göttlichen Schöpfungshandelns in Gen 1,27c nicht im (kanonisch gewordenen und daher vertrauten) Plural erscheint, sondern im Singular: »… männlich und weib- Diese androgynen Kugelmenschen, in jeder Hinsicht starke Gestalten, waren Hybride im Sinn des Wortes: Weil sie sich in ihrer Stärke den olympischen Göttern ebenbürtig wähnten und sich gegen sie empörten, ließ Zeus sie zur Strafe in einer komplizierten Operation in zwei sexuell distinkte Hälften zerlegen (»so, wie man Eier mit einem Haar zerschneidet«), die Haut über den Bauch zusammenziehen und über dem Nabel zusammenbinden (»wie einen geschnürten Geldbeutel«). Das Ganze wird geglättet, nur wenige Falten blieben übrig (»um den Bauch und den Nabel selbst herum- - als Mahnmal für das einst Erlittene«). Das pädagogische Interesse dieser Operation zeigt sich auch darin, dass Zeus diesen Kugelhälften das Gesicht und den halben Hals nach dem Schnitt herumdrehen ließ, »damit der Prof. Dr. Matthias Klinghardt, Jahrgang 1957, 1986 Promotion und 1993 Habilitation (Neues Testament) in Heidelberg, 1988/ 89 Rice University, Houston (Tx), 1989 bis 1998 Assistent an der Universität Augsburg, seit 1998 Professor für Biblische Theologie an der TU Dresden. Matthias Klinghardt Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 5 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 5 Matthias Klinghardt Androgyne Gleichheit-- sexuelle Hierarchie lich schuf er ihn.« 5 Was auf den ersten Blick wie eine textkritische Haarspalterei erscheint, ist in Wahrheit Teil einer grundlegenden Diskussion über das Wesen des Menschen und seine geschöpfliche Bestimmung: Ist der Mensch in erster Linie Mensch und nur in zweiter Linie ein Geschlechtswesen, oder macht die geschlechtliche Distinktion von Mann und Frau den Kern der Gottebenbildlichkeit aus? Dass diese Alternative weit reichende soziale Implikationen besaß, wird gleich zu zeigen sein. Wie sich die Einheit dieser beiden Schöpfungsakte trotz ihrer Unterscheidung denken ließ, hat exemplarisch Philo von Alexandrien gezeigt, der die beiden Schöpfungstexte in eine umfangreiche Erklärung über die Herkunft des Bösen und der Sündhaftigkeit des Menschen einbezog: Angesichts der behaupteten Gottebenbildlichkeit des Menschen lag darin in der Tat ein grundlegendes Problem. Philo nahm eine graduelle Entfernung der Menschenschöpfung von Gottes ursprünglichem Plan an. 6 Er sah in Gen 1,27 die Erschaffung der »Gattung Mensch« und verstand die Aussage als eine Art göttlichen Bauplan: Dieser gottebenbildliche Mensch war eine nur noëtisch erfassbare Idee, ein gedachter Begriff, war »unkörperlich, weder männlich noch weiblich, von Natur aus unvergänglich« 7 . Dagegen bezog Philo die Schöpfungsaussage Gen 2,22 auf die Erschaffung der konkreten Einzelwesen, die aus Staub gemacht (Gen 2,7) und der Veränderung unterworfen waren: Diese sinnlich wahrnehmbaren (und nicht nur »gedachten«) Menschen waren dann geschlechtlich distinkt: Mann und Frau. Diese Überlegungen zur ursprünglichen Androgynie des Menschen sind Teil einer umfassenden kulturellen Prägung, zu der ganz selbstverständlich auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Medizin und der Geschlechtsbiologie gehören. Für uns ist die Differenz der Geschlechter aufgrund der biologischen Konstitution gleichsam objektiv festgelegt: Die fundamentale Unterscheidung von Mann und Frau ergibt sich primär aus den unterschiedlichen Körpern, die Differenz erweist sich an den Geschlechtsorganen und den unterschiedlichen physiologischen Funktionen der Geschlechter bei der Fortpflanzung. Für die gesamte Antike (und weit darüber hinaus, mit gravierenden Auswirkungen bis ins 18. Jh.) 8 war dagegen klar, dass Männer und Frauen einen identischen Körper besitzen. Der berühmteste Anatom der Antike, Galen von Pergamon, fand nichts einleuchtender, als die grundlegende physiologische Identität von Männern und Frauen gerade anhand der Geschlechtsorgane zu demonstrieren: »Alle Organe, die Männer haben, haben Frauen auch; der Unterschied liegt in einem einzigen Sachverhalt, dessen man sich immer vollständig bewusst sein muss, nämlich: Bei Frauen liegen diese Organe im Inneren des Körpers, während sie bei Männern außen liegen. Stell dir vor, was immer du zuerst willst: Wende die (Organe) der Frau nach außen oder wende die (Organe) des Mannes sozusagen nach innen und falte sie doppelt-- du wirst in beiden die in jeder Hinsicht identischen Organe finden.« 9 Männer sind demzufolge nach außen gewendete Frauen bzw. Frauen sind nach innen gewendete Männer: Beide haben dieselben Organe, nur an unterschiedlichen Orten. Die antike Medizin hat dementsprechend für die unterschiedlichen Sexualorgane auch keine eigenen, geschlechtsspezifischen Bezeichnungen entwickelt-- sowenig, wie für Augen, Nase, Mund. 10 Die organische Gleichheit setzt sich in den physiologischen Vorstellungen zur Fortpflanzung fort: Auch Frauen haben wie Männer Samen, die Zeugung geschieht durch die Mischung von männlichem und weiblichem Samen. 11 Noch weiter geht die humoralpathologische Vorstellung, dass Männer und Frauen sowohl männlichen als auch weiblichen Samen produzieren. 12 Dies ist eine geradezu bestürzende Vorstellung: Wozu bedarf es noch des Mannes, wenn die Frau alle notwendigen Voraussetzungen für die Zeugung besitzt- - und darüber hinaus in der Lage ist, ein Kind auszutragen? Gerade angesichts dieser Implikationen ist die These der biologischen Gleichheit der Geschlechter frappierend und nur als Teil einer gesamtkulturellen Wahrnehmung verständlich: Die Vorstellung der ursprünglichen Androgynie ist nicht eine kontingente kulturelle Zuschreibung, sondern ein integratives Element der antiken Geschlechterkultur. II. Protologisch-eschatologische Geschlechteridentität Die Vorstellung von der androgynen Bestimmung der menschlichen Natur ist auch im frühen Christentum verschiedentlich bezeugt. Am bekanntesten ist die paulinische Aussage, dass diejenigen, die auf Christus getauft sind, ihn angezogen haben: »Da ist weder Jude noch Grieche, da ist weder Sklave noch Freier, da ist nicht männlich und weiblich, denn ihr seid alle einer in Christus Jesus« (Gal 3,27 f.). 13 Die Formulierung des dritten Gegensatzpaares »nicht männlich und weiblich (gr.: arsen kai thēly)«, die von den beiden ersten formal abweicht, ist ein direktes Zitat aus Gen 1,27 (LXX); Paulus kennt die Auslegungstradition, auch wenn er in diesem Zusammenhang kein Gewicht darauf legt: Er will begründen, warum die heilsgeschichtliche Unter- Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 6 - 4. Korrektur 6 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Neues Testament aktuell scheidung von »Jude und Grieche« irrelevant ist, und führt zur Begründung die analoge Aufhebung der sozialen und geschlechtlichen Unterschiede an; deren Überwindung setzt er bei seinen Adressaten also ohne weiteres voraus. 14 Ausweislich des Zitats aus Gen 1 argumentiert Paulus hier schöpfungstheologisch und postuliert die Entsprechung zwischen der protologischen Einheit der Geschlechter und ihrer eschatologischen Restitution: Die Unterscheidungen von Sklave und Freier, von Jude und Grieche, von männlich und weiblich sind daher Kennzeichen einer Einheit, die in der Schöpfung grundgelegt, danach zwischenzeitlich verloren war, jetzt aber »in Christus« eschatologisch wiederhergestellt ist: Christen befinden sich im Zustand der endzeitlichen restitutio ad integrum. Das Bild, das auf diese Weise hinsichtlich der Geschlechtlichkeit des Menschen entsteht, ist nur auf den ersten Blick ungewohnt; tatsächlich ist es durch eine ansehnliche Zahl frühchristlicher Texte gestützt und ergibt zusammen mit den jüdischen Belegen (Philo, GenR u. a.) und der argumentativen Verwendung des Urmensch-Mythos bei Plato einen kohärenten Vorstellungszusammenhang, der sich etwa folgendermaßen zusammenfassen lässt: 1) Am Anfang war der Mensch ungeteilt und androgyn: das ist seine grundlegende geschöpfliche Bestimmung, und darin ist er Ebenbild Gottes. Die geschlechtliche Existenz des Menschen als Mann und als Frau ist demgegenüber Depravation und Entfremdung von dieser ursprünglichen Schöpfung. Sexualität - Plato und Philo sprechen vom Eros - gehört demnach nicht zu dem von Gott intendierten Wesen des Menschen, sondern ist Ausdruck seiner konkreten, entfremdeten Existenzweise. 2) Dabei erscheint Sexualität mit Sünde verbunden. Die platonische Karikatur des Urmensch-Mythos lässt noch erkennen, dass die geschlechtliche Distinktion eine Strafe und Folge seiner Hybris ist. Bei Philo dagegen ist die Geschlechtlichkeit die Voraussetzung und das Einfallstor für die Sünde. Denn nachdem die beiden konkreten, sinnlich wahrnehmbaren Einzelmenschen geschaffen waren, da »trat der Eros hinzu, der sie wie zwei getrennte Hälften eines Wesens vereinigte und zusammenfügte, indem er den beiden das Verlangen nach inniger Gemeinschaft einflößte zur Erzeugung eines ähnlichen Wesens. Dieses Verlangen aber erzeugte auch jene Begierde [gr.: epithymia] des Körpers, die der Anfang ungerechter und ungesetzlicher Handlungen ist, um derentwillen die Menschen das unsterbliche und glückselige Leben gegen das sterbliche und unglückliche vertauschen« (opif. 152). 3) Zugleich mit Sexualität und Sünde ist also auch der Tod ein Kennzeichen der geschlechtlichen Existenz des Menschen: In der platonischen Karikatur ist diese Konsequenz durch die Lächerlichkeit der gnädigen Verlegung der Geschlechtsteile fast verdeckt. Immerhin ist deutlich, dass die primäre Bestimmung dieser Operation darin besteht, einerseits die Hybris des Menschengeschlechts zu bestrafen, andererseits sein Aussterben zu verhindern. Bei Philo ist der Zusammenhang von geschlechtlicher Distinktion und Tod durch die Begierde vermittelt: Sie ist die Folge des Eros und der Anfang des »sterblichen und unglücklichen Lebens«. 4) Umgekehrt bedeutet die Aufhebung der Trennung und die Wiederherstellung der ursprünglichen Einheit Leben und Heil. Das Philippusevangelium bringt diesen Gedanken auf den Punkt: »Als Eva [noch] Adam war, gab es keinen Tod. Als sie sich von ihm trennte, da trat der Tod ins Dasein. Erst wenn sie wiederum in ihn hineingeht und er sie in sich aufnimmt, da wird kein Tod mehr sein.« 15 Heil ist die eschatologische Wiederherstellung der protologischen Gleichheit der Geschlechter. In der platonischen Karikatur leistet der Eros diese Restitution: Er hilft, »die ursprüngliche Natur wiederherzustellen, und versucht, aus zweien eins zu machen und die menschliche Natur zu heilen« (symp. 191d). Im Philippusevangelium heißt es ein Stück weiter: »Hätte die Frau sich nicht vom Mann getrennt, wären sie und der Mann nicht gestorben. Die Trennung von ihm ist zum Ursprung des Todes geworden. Deswegen ist Christus gekommen, um die Trennung, die von Anfang an bestand, zu beseitigen und sie beide wieder zu vereinigen, und um denjenigen, die in der Trennung gestorben sind, Leben zu geben« 16 . 5) Nun ist die Restitution der androgynen Einheit nicht nur einfach eine unanschauliche Chiffre für transzendentes Heil, sondern auch eine Beschreibung von konkreter Erfahrung. Die Frage ist natürlich: Wie sieht das konkret aus, wenn »aus zweien eins« wird? Der platonische Aristophanes weist die- »Sexualität-- Plato und Philo sprechen vom Eros-- gehört demnach nicht zu dem von Gott intendierten Wesen des Menschen, sondern ist Ausdruck seiner konkreten, entfremdeten Existenzweise.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 7 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 7 Matthias Klinghardt Androgyne Gleichheit-- sexuelle Hierarchie se Funktion dem Eros zu und hat damit die Lacher auf seiner Seite, wenn er die complexio oppositorum als Symplegma von Mann und Frau vorstellt. Damit karikiert Aristophanes offenkundig die gegenläufige Lösung, wie sie auch die frühchristlichen Texte vertreten: Sie verwenden dieselbe, längst technisch gebrauchte Terminologie, 17 sehen die Einheit der Geschlechter aber gerade im asketischen Verzicht auf Sexualität. So heißt es in einem Text aus dem 2. Jh., dass das Reich kommen werde, »wenn die Zwei eins werden […] und das Männliche eins mit dem Weiblichen, weder Männliches noch Weibliches [gr.: oute arsen oute thēly]. […] Mit ›Und das Männliche wie das Weibliche, weder Männliches noch Weibliches‹ meint er folgendes: Ein Bruder soll beim Anblick einer Schwester in keiner Weise an sie als Frau denken, noch soll sie an ihn als Mann denken.« 18 Die asketische Realisierung der Geschlechteridentität ist im frühen Christentum weit verbreitet, 19 auch Paulus hat sie vor Augen, wenn er empfiehlt »Es ist gut, eine Frau nicht zu berühren! « (1Kor 7,1), und sich wünscht, dass alle so wären, wie er-- nämlich ehelos (7,7). 20 Wenn Paulus Christen als »neue Schöpfung« (2Kor 5,17) bezeichnet, denkt er wohl an geschlechtslose Asketen: Im neuen Äon »heiraten sie nicht und werden sie nicht geheiratet, sondern sie sind wie die Engel« (Mk 12,28 par.)-- also geschlechtslos. Das ist die wesentliche Konsequenz, die sich aus der Annahme einer ursprünglichen Androgynie ergibt: Männer und Frauen sind prinzipiell gleich. Wie die frühchristlichen Texte zeigen, konnte die (weit verbreitete) Sexualaskese in einen weiten kulturellen Horizont eingezeichnet werden, der eine Identität der Geschlechter vertrat und als konkrete Umsetzung der »geschöpflichen Bestimmung« des Menschen erscheinen. Das hatte die Folge, dass die üblicherweise durch Sexualität konstituierten Machtverhältnisse nivelliert werden-- oder zumindest so erscheinen. III. Sexualität und Hierarchie: Ursprüngliche Geschlechtlichkeit Tatsächlich war die Sexualaskese der konkrete Punkt, an dem sich die Diskussionen und der heftige theologische Widerstand gegen die Androgynievorstellung entzündeten. Dabei richtete sich die Kritik an den allgemeinen Vorstellungen wie ihren sozialen Konkretionen fast ausschließlich auf Frauen. Diese Einseitigkeit ist verständlich, da sexuelle Askese gerade für Frauen in besonderer Weise attraktiv und höchst folgenreich war. 21 Frauen, die sexuell asketisch lebten, entzogen sich dadurch demjenigen Bereich, der ihre bisherige soziale Rolle am nachhaltigsten geprägt hatte: Sie waren plötzlich nicht mehr Frau und Gattin, Mutter und Erzieherin der Kinder, Vorsteherin des Hauswesens. Es ist daher nicht überraschend, dass die christliche, primär von Frauen geübte Sexualaskese weithin als Gefährdung der sozialen Ordnung und ihrer Grundlagen empfunden wurde. 22 Das lässt sich exemplarisch an Thecla zeigen, von der berichtet wird, dass sie nach ihrer Konversion ihrem Bräutigam die Ehe verweigerte und dann Apostelin wurde. 23 Ihre seit dem 2. Jh. breit rezipierte, typologische Geschichte macht deutlich, dass und warum Sexualaskese für Frauen durchaus erstrebenswert und folgenreich sein konnte: Thecla verließ den angestammten, eng begrenzten Frauenbereich des Hauses und wirkte in der Öffentlichkeit, war ökonomisch von der Gunst und Großzügigkeit eines Ehemannes unabhängig und besaß als Missionarin und Lehrerin Autorität und soziale Anerkennung-- kurz gesagt: Ohne die als Einschränkung wahrgenommene, reproduktive Sexualität drangen Frauen wie Thecla in Männerdomänen ein und übernahmen männliche Rollenmodelle. Dass sie damit durchweg Kritik hervorgerufen haben, liegt auf der Hand. Aufschlussreich ist bereits das früheste Zeugnis dafür im NT: Der 1Tim kritisiert den Zusammenhang von (weiblicher) Sexualaskese und dem Anspruch auf Lehrautorität (»Zu lehren erlaube ich der »Wie die frühchristlichen Texte zeigen, konnte die (weit verbreitete) Sexualaskese in einen weiten kulturellen Horizont eingezeichnet werden, der eine Identität der Geschlechter vertrat und als konkrete Umsetzung der ›geschöpflichen Bestimmung‹ des Menschen erscheinen.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 8 - 4. Korrektur 8 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Neues Testament aktuell Frau nicht, auch nicht, über den Mann zu herrschen«, 1Tim 2,12), der sich als Konsequenz der androgynen Schöpfungsvorstellung ergibt. Statt dessen setzt er eine alternative Interpretation von Gen 2 f. dagegen, die eben nicht von einer ursprünglichen Androgynie des Menschen ausgeht: Mann und Frau sind von Anfang als geschlechtlich distinkte Wesen geschaffen; die zeitliche und sachliche Vorordnung der Erschaffung des Mannes vor der Frau (Gen 2,22 f.) begründet deren Subordination und den Verzicht auf Lehrautorität (»Denn Adam wurde zuerst geschaffen, dann erst Eva«, 1Tim 2,13). Dementsprechend liegt die christliche Realisierung der geschöpflichen Bestimmung von Frauen auch nicht in sexueller Askese, vielmehr werden sie »durch das Kindergebären gerettet« (1Tim 2,15). Zu dieser Argumentation passt nahtlos die Warnung vor »heillosen Altweiberfabeln« und vor »körperlichen Übungen«, also vor Askese: Der Bezug auf die mythische Androgynietradition ist mit Händen zu greifen. 24 Es ist diese Deutung von Gen 1-3, die sich in der Alten Kirche durchsetzte, diese Auffassung von der »Natur« des Menschen und seiner Sexualität, 25 diese soziale Rollenverteilung, 26 die sich zum Ausgang der christlichen Antike durchgesetzt 27 und ihren reflektiertesten Ausdruck in der Theologie Augustins gefunden hat. IV. Hierarchisch strukturierte Einheit So stehen bereits im NT zwei unterschiedliche Auffassungen über die geschöpfliche Bestimmung des Menschen bzw. der Geschlechter unmittelbar nebeneinander, die zwar auf dieselben Grundtexte rekurrieren (Gen 1-3), aber auf verschiedene Weise auf die conditio humana reagieren und zu unterschiedlichen sozialen Konkretisierungen führen (Sexualaskese; Kindergebären). Trotz dieses Widerspruchs sind beide Modelle Teil desselben kulturellen Umfelds und auch konzeptuell eng aufeinander bezogen. Dies lässt sich wiederum sehr leicht anhand der medizinischen Literatur zeigen. Denn trotz der Einsicht in den Ein-Geschlechtskörper und die reproduktionsphysiologische Parität der Geschlechter blieben Naturphilosophen und Ärzte den kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen ihrer Zeit unterworfen, und diese erforderten ganz eindeutig, die dominante soziale Stellung des Mannes (bzw. die inferiore der Frau) auch in Anatomie und Physiologie sichtbar zu machen. Diesem Nachweis dienen ganz verschiedene Begründungen. Am anschaulichsten ist das anatomische Argument: Die Lage der weiblichen Sexualorgane der Frau im Inneren des Körpers ist Ausweis ihrer geringeren Vollkommenheit, weil sie sich noch nicht nach außen entwickelt haben und darin den berühmten »Augen des Maulwurfs« gleichen: Der Maulwurf hat Augen, ist also vollkommener als etwa die niederen Arten der Schalentiere, die keine Augen haben; aber da seine Lider zusammengewachsen und die Augen blind sind, ist er weniger vollkommen als die höheren Tiere. 28 Dementsprechend sind die innen liegenden Sexualorgane der Frau ein Zeichen ihrer mangelnden Vollkommenheit: Die Vagina ist ein ungeborener Penis, die Gebärmutter ein unterentwickeltes Scrotum, die Eierstöcke sind Hoden, die auf dem Weg zur Entfaltung nach außen verkümmert sind usw. Galen hat dieses anatomische Argument humoralpathologisch untersetzt: »Das Weibliche ist unvollkommener als das Männliche aus dem vorrangigen Grund, dass es kälter ist. Denn wenn ja unter den Lebewesen das wärmere das aktivere ist, dann ist das kältere Lebewesen unvollkommener [psychroteron-- atelesteron] als das wärmere.« 29 Die größere Wärme des männlichen Körpers ist natürlich nicht experimentell (etwa durch Messung) nachgewiesen: Sie ergibt sich aus der Übertragung des kosmologischen Modells der Vier- Elemente-Lehre auf die Geschlechtsbiologie und beruht auf der Einzeichnung der Geschlechtskörper in die Elementarkoordinaten (warm-kalt; trocken-feucht), deren Richtigkeit nicht begründet wird, sondern vorausgesetzt ist. Am kompliziertesten gestaltete sich der Nachweis der größeren Vollkommenheit des Mannes im Zusammenhang der physiologischen Vorstellungen zur Fortpflanzung, wie vor allem die Samentheorien zeigen-- insbesondere mit Blick auf die Ansicht, dass Männer und Frauen einen bisexuellen Samen produzieren: Hier musste die Theoriebildung endgültig den Bereich des biologisch Plausibilisierbaren verlassen. Ein Beispiel dafür ist Aristoteles’ Unterscheidung der Anteile beim Zeugungsvorgang in eine Wirkursache (lat.: causa efficiens) und eine Stoffursache (lat.: causa materialis): Das Männliche ist Ursprung der Bewegung, das Weibliche Ursprung des Stoffes. 30 »Weil nun die erste Quelle der Bewegung in »Denn trotz der Einsicht in den Ein-Geschlechtskörper und die reproduktionsphysiologische Parität der Geschlechter blieben Naturphilosophen und Ärzte den kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen ihrer Zeit unterworfen, und diese erforderten ganz eindeutig, die dominante soziale Stellung des Mannes (bzw. die inferiore der Frau) auch in Anatomie und Physiologie sichtbar zu machen.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 9 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 9 Matthias Klinghardt Androgyne Gleichheit-- sexuelle Hierarchie ihrem Wesen immer höher steht und weil sie, die den Begriff und die Gestalt des Stoffes in sich enthält, göttlicher ist, und weil es sich außerdem empfiehlt, das Höhere von dem Niedrigeren zu trennen, deswegen ist überall, wo und wie es möglich ist, vom Weiblichen das Männliche getrennt. Denn ranghöher und göttlicher ist der Bewegungsursprung, der als das Männliche in allem Werdenden liegt, während der Stoff das Weibliche ist.« 31 Aus diesem Grund liefert die Frau bei der Fortpflanzung nur die stofflich gedachte »Nährseele«, wogegen der Mann dem Kind die Empfindungsseele (gr.: psychē aisthousa) vermittelt, wie sich bei Vögeln dann doch immerhin sehen lässt: Windeier (wir würden sagen: unbefruchtete Eier) sind Eier, die die Weibchen ohne Zutun der Männchen hervorbringen; sie haben zwar für eine kurze Zeit eine Art Leben (wie daran kenntlich ist, dass sie mit der Zeit verfaulen), bringen aber keine lebensfähigen Vögel hervor, weil sie rein stofflich sind und ihnen die lebensnotwendige Empfindungsseele fehlt. 32 All diese Überlegungen sind geprägt von dem Bestreben, die biologische Priorität des Männlichen vor dem Weiblichen zu erweisen. Dies konstituiert jedoch keinen Gegensatz zur Theorie der grundsätzlichen Gleichheit der Geschlechter, der sexuellen Körper und der Reproduktionsphysiologie. Im Gegenteil: Für Galen ist die anatomische Gleichheit der Geschlechtskörper der logische Ausgangspunkt und die Bedingung seiner Beweisführung für den Primat des Männlichen. Das Modell, das all diesen Überlegungen zugrunde liegt, ist die in sich hierarchisch strukturierte Einheit der Geschlechter. Dabei bedingen sich beide Aspekte gegenseitig: Die grundlegende Einheit der Geschlechter erfordert eine Unterscheidung, die nur quantitativ, nicht aber qualitativ konstituiert ist, wie umgekehrt die Geschlechterdifferenzen nur in einem einheitlich konzipierten Modell aufeinander bezogen werden können. Dieses Grundkonzept der hierarchisch gegliederten Einheit der Geschlechter erklärt dann beispielsweise, inwiefern Paulus auf der einen Seite die schöpfungstheologisch fundierte und eschatologisch restituierte Einheit von »männlich und weiblich« in Christus feststellen kann (Gal 3,27 f.), auf der anderen Seite aber ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass der »Mann das Haupt der Frau« sei (1Kor 11,4) und »die Frau wegen des Mannes geschaffen« wurde (11,9)-- nur um unmittelbar im Anschluss daran wieder die prinzipielle Gleichheit von Mann und Frau »im Herrn« anzusprechen (11,11 f.). Diese scheinbaren Widersprüche von Einheit und Differenz der Geschlechter sind vollständig systemkonform. Die Geschlechtergrenzen sind nicht fix, sondern - zumindest: in gewissen Grenzen - fließend, weil das Modell der hierarchisch strukturierten Einheit der Geschlechtskörper quantitative Abstufungen und Übergänge erlaubt: Männer können »verweiblicht«, Frauen können »männlich« werden. Wenn, wie schon für Aristoteles angedeutet wurde, das Weibliche für das Stoffliche steht, ist klar, dass etwa geistiger Fortschritt »nichts anderes ist als das Verlassen des Weiblichen durch das Männlichwerden, da ja das Weibliche verbunden ist mit Materie, Passivität, Körperlichkeit, Sinnenhaftigkeit, während das Männliche das Aktive, Rationale, Unkörperliche darstellt und dem Geistigen ähnlicher ist.« 33 Dieses »Männlichwerden« geschieht bei einer Frau, wenn die »unedlen und unmännlichen Begierden, durch die sie verweiblicht wurde [gr.: ethēlyneto], wieder aus ihr beseitigt« werden. 34 Diese Annäherung der Geschlechterdifferenz soll natürlich nicht dadurch geschehen, dass »die männlichen Gedanken verweiblicht werden«, sondern dass »die Sinne, das weibliche Element, männlich gemacht werden, indem sie den männlichen Gedanken folgen, so dass sie Weisheit, Klugheit, Gerechtigkeit, Mut, mit einem Wort: Tugend empfangen.« 35 »Tugend« bezeichnet nicht allgemein moralisches Verhalten, sondern ist, ganz wörtlich, Männlichkeit oder Mannhaftigkeit: aretē/ virtus. Die Veränderbarkeit der Geschlechterdifferenz impliziert daher eine Dynamik. So kann Jesus über Maria sagen: »Ich werde sie ziehen, auf dass ich sie männlich mache, damit auch sie zu einem lebendigen Geist wird, der euch Männern gleicht. Jede Frau, die sich männlich macht, wird eingehen in das Königreich der Himmel« (EvThom 114). In der Antike ist »Vermännlichung« in erster Linie (wenn auch nicht ausschließlich) 36 auf sexuelle Triebkontrolle bezogen. Die Eindämmung der »weiblichen Begierden« war verständlicherweise ein Politikum ersten Ranges, und dementsprechend spiegeln sich die politischen und sozialen Veränderungen zwischen dem 4. Jh. v. Chr. und der frühen Kaiserzeit in den sexualdiätetischen Empfehlungen der Ärzte der jeweiligen Zeit: Aufs Ganze gesehen laufen sie in dieser »Diese scheinbaren Widersprüche von Einheit und Differenz der Geschlechter sind vollständig systemkonform. Die Geschlechtergrenzen sind nicht fix, sondern-- zumindest: in gewissen Grenzen-- fließend, weil das Modell der hierarchisch strukturierten Einheit der Geschlechtskörper quantitative Abstufungen und Übergänge erlaubt: Männer können ›verweiblicht‹, Frauen können »männlich« werden.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 10 - 4. Korrektur 10 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Neues Testament aktuell Periode auf den Rat zur Enthaltsamkeit zu-- zur Askese. 37 Die grundsätzliche Durchlässigkeit der Grenze zwischen den Geschlechtern und die Veränderbarkeit der Kategorien »männlich« und »weiblich« macht dann auch nachvollziehbar, dass als erstrebenswertes Ideal der »vollkommene Mann« genannt werden kann (Eph 4,13)-- und zwar für Frauen wie für Männer: Beide können »männlich und vollkommen werden« 38 . Insgesamt zeigen diese Bemerkungen sehr deutlich, dass und warum die Geschlechterkategorien »männlich« und »weiblich« nicht in erster Linie körperlich definiert (und darin statisch) sind, sondern Haltungen bezeichnen, die durch Einsicht und Willen gesteuert und verändert werden können. In dieser Veränderbarkeit der Geschlechterdifferenz liegt der entscheidende Unterschied zu dem modernen Modell, das sich seit dem 19. Jh. durchgesetzt hat: Der Annahme einer antagonistischen Opposition der Geschlechter, die sich diametral gegenüberstehen, aber gerade darin ihre soziale, kulturelle und biologische Gleichrangigkeit erweisen. Aus dieser Perspektive müssen die antike (nicht nur die christliche) Geschlechterkonstruktion im Modell der hierarchischen Einheit als ärgerlich und ihre sozialen Implikationen als anstößig erscheinen: Auch die elitär-radikale Lösung der Sexualaskese gewährleistet keine vollkommene soziale Gleichheit, sondern bildet im Ideal des »vollkommenen Mannes« noch die Strukturen der Ungleichheit ab. Immerhin lässt der Vergleich erkennen, wie eng das moderne Oppositionsmodell konzipiert ist. Um die Gleichheit der Geschlechter gewährleisten zu können, müssen sie in statischer, antagonistischer Eindeutigkeit erfasst werden-- mit der Folge, dass dabei alle Phänomene, die sich diesem Modell nicht ohne weiteres fügen (z. B. Intersexualität), aus der kulturellen Wahrnehmung zu verschwinden und irrelevant zu werden drohen. Wichtiger ist wohl, dass diese Eindeutigkeit ausschließlich biologisch konstituiert ist. Die Konzentration auf das Geschlecht des Körpers suggeriert eine Objektivität, die sie nicht besitzt: Auch diese aufgeklärte Konstruktion bleibt in die Zusammenhänge der sozialen und kulturellen Kommunikation eingebettet. Anmerkungen 1 I. Stahlmann, Jenseits der Weiblichkeit. Geschlechtergeschichtliche Aspekte des frühchristlichen Askeseideals, in: C. Eifert u. a. (Hgg.), Was sind Frauen? Was sind Männer? Geschlechterkonstruktion im historischen Wandel, Frankfurt/ M. 1996, 51-75. 2 GenR 8,1, nach H. Freedmann/ M. Simon (Hgg.), Midrash Rabba. Translated into English I, London 3 1961. Hier steht das griechische Lehnwort androginos. 3 Zum religionsgeschichtlichen Hintergrund vgl. E. L. Dietrich, Der Urmensch als Androgyn, ZKG 58 (1939), 297-345; W.A. Meeks, The Image of the Androgyne: Some Uses of a Symbol in Earliest Christianity, History of Religion 13 (1974), 165-208. 4 Plato, symp. (189d-)191d. 5 Z. B. bMeg 9a und ARN (Rez. B) 37; vgl. dazu die Listen mit Übersetzungsvarianten bei A. J. Saldarini, The Fathers According to Rabbi Nathan (Abot de Rabbi Nathan), Version B (SJLA 11), Leiden 1975, 21. 6 Philo, de opificio mundi 76-152. 7 Philo, opif. 134. Die Wendung »männlich und weiblich« (gr.: arsen kai thēly) greift erkennbar Gen 1,27 auf. 8 Vgl. Th. Laqueur, Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt/ a. M.-- New York 1992. 9 Galen, de usu partium XIV 6 (II 296 Helmreich). 10 So werden Hoden und Ovarien mit denselben Begriffen (orcheis = Hoden bzw. didymoi = Zwillinge) bezeichnet. Galen beschreibt z. B. die Eileiter der Frau als Samenleiter (gr.: angeia spermatika), die »von den Hoden (orcheis) ausgehen« und »in der gleichen Weise wie beim Mann Samen beinhalten« (de uteri dissect. 9,4; 48,17 ff. CMG V 2,1). 11 Vgl. z. B. W. Brunschön, Gleichheit der Geschlechter? Aspekte der Zweisamentheorie im Corpus Hippocraticum und ihrer Rezeption, in: Chr. Brockmann u. a. (Hgg.), Antike Medizin im Schnittpunkt von Geistes- und Naturwissenschaften (BzA 255), Berlin-- New York 2009, 173-190. 12 Z. B. Hippokrates, de genitura 6 (154 ff. Giorgianni): »Es gibt im Mann sowohl weiblichen Samen als auch männlichen [to thēly sperma kai to arsen]. Bei der Frau verhält es sich genauso. Das Männliche ist aber stärker als das Weibliche. Es besteht nun die Notwendigkeit, dass der stärkere Samen die Grundlage der Erzeugung ist. Das aber verhält sich folgendermaßen: Wenn von beiden der stärkere Samen kommt, wird es ein Mann; wenn aber der schwache Samen, eine Frau. Was von beiden sich aufgrund seiner Menge durchsetzt, das entsteht auch.« Die These vom bisexuellen Samen von Männern und Frauen auch in Hipp., de diaeta I 26-29 (142-146 CMG I 2,4). 13 Aus der uferlosen und kontroversen Literatur zu Gal 3,27 f. ist wichtig: G. Dautzenberg, »Da ist nicht männlich und weiblich«. Zur Interpretation von Gal 3,28, Kairos 24 (1982), 181-206; H. Paulsen, Einheit und Freiheit der Söhne Gottes-- Gal 3,26-28, ZNW 71 (1980), 74-95; W. Radl, »Männlich und weiblich, das gibt es nicht mehr« (Gal 3,28), in: K. Kienzler/ E. Reil (Hgg.), Als Mann und Frau schuf er sie. Theologische Grundlagen und Konsequenzen, Donauwörth 1995, 127-146; G. Röhser, Mann und Frau in Christus. Eine Verhältnisbestimmung von Gal 3,28 und 1Kor 11,2-16, SNTU 22 (1997), 57-78; H. Thyen, »…nicht mehr männlich und weiblich …«. Eine Studie zu Gal 3,28, in: F. Crüsemann/ H. Thyen, Als Mann und Frau geschaffen, Gelnhausen/ Berlin 1978, 107-201. 14 Die Einheit von »männlich und weiblich« ist also nicht eine programmatische Forderung (vgl. N. Baumert, Frau und Mann bei Paulus: Überwindung eines Mißverständnisses, Würzburg 1992, 264: »Magna Charta der Gleich- Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 11 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 11 Matthias Klinghardt Androgyne Gleichheit-- sexuelle Hierarchie berechtigung«), die erst noch einzuholen wäre, sondern eine Zustandsbeschreibung-- anders wäre die rhetorische Funktion der Aussage auch unterlaufen. 15 EvPhil 71 (68,22-26 NHC II/ 3). 16 EvPhil 78 (70,9-17 NHC II/ 3). 17 Vgl. dazu M. Bouttier, Complexio Oppositorum: Sur les Formules de I Cor. xii. 13; Gal. iii. 26-8, Col. iii. 10,11, NTS 23 (1976/ 77), 1-19; P. Brown, »When You Make the Two One«: Valentinus and Gnostic Spiritual Guidance, in: ders., The Body and Society. Men, Women, and Sexual Renunciation in Early Christianity, New York 1988, 101-121. 18 2Clem 12,2-6. 19 Als Beispiele, die ganz ähnliche Formulierungen verwenden, seien genannt: Ägypterevangelium bei Clemens Alex., strom. III 13,92 f. (O. Stählin/ L. Früchtel (Hgg.), GCS 52, Berlin 3 1960); TractTripart (136,16 ff. NHC I/ 5); EvThom 22 (»Wo ihr das Männliche und das Weibliche zu einem Einzigen macht, damit das Männliche nicht männlich ist noch das Weibliche weiblich […] da werdet ihr eingehen ins Reich! «); ActPhil 140 (74 f. ed. R. A. Lipsius/ M. Bonnet, Acta Apostolorum Apocryphal II/ 2, Leipzig 1903,) usw. Gegen P. Brown (a. a. O., Anm. 17) u. a. ist ganz eindeutig, dass die so begründete Sexualaskese nicht gnostisch, sondern gemeinchristlich ist. 20 Vgl. J. C. Poirier/ J. Frankovic, Celibacy and Charism in 1Cor 7: 5-7, HTR 89 (1996), 1-18, und die Kommentare. 21 Vgl. zum Problem V. Burrus, Chastity as Autonomy. Women in the Stories of the Apocryphal Acts (SWR 23), Lewiston 1987; E. Castelli, Virginity and its Meaning for Women’s Sexuality in Early Christianity, JFSR 2 (1986), 61-88; E.A. Clark, Ascetic Renunciation and Feminine Advancement: A Paradox of Late Ancient Christianity, in: dies., Ascetic Piety and Women’s Faith. Essays on Late Ancient Christianity, Lewiston/ Queenston 1986, 175- 208; R. Kraemer, The Conversion of Women to Ascetic Forms of Christianity, Signs 6 (1980/ 81), 298-307; R. Ruether, Mothers of the Church: Ascetic Women in the Late Patristic Age, in: dies., Women of Spirit. Female Leaders in the Jewish and Christian Tradition, New York 1979, 71-98. 22 Zur Auseinandersetzung um 1Tim 2 vgl. D. MacDonald, The Legend and the Apostle. The Battle for Paul in Story and Canon, Philadelphia 1983, 54-77; S.L. Davies, The Revolt of the Widows, Carbondale 1980. 23 Der griech. Text der Paulus-Thecla-Akten in: Lipsius/ Bonnet I, 235-269; die auf P. Heid. 1 (kopt.) basierende Übersetzung in: Henneke/ Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen II, Tübingen 4 1971, 243-251. 24 1Tim 4,7 f. Interessanterweise verteidigt Philo seine »androgyne« Interpretation von Gen 1 f., indem er eine entsprechende Diskriminierung ausdrücklich zurückweist: »Dies sind aber keineswegs erfundene Mythen […] sondern typische Beispiele, die zu allegorischer Deutung nach ihrem verborgenen Sinn auffordern! « (opif. 156). 25 Sexualität ist nicht nur erlaubt, sondern gefordert, aber nur zur Fortpflanzung. Besonders eindrücklich ist diesbezüglich Clemens von Alexandrien: »Auch wer zum Zweck der Kindererzeugung geheiratet hat, muß Enthaltsamkeit üben, damit er nicht einmal sein eigenes Weib begehre, das er lieben sollte, indem er mit keuschen und sittsamem Willen Kinder zeugt« (strom. III 58). Ehelicher Verkehr ohne die Absicht der Kinderzeugung »heißt gegen die Natur freveln« (paed. II 95). »Man darf aber auch nachts nicht zuchtlos sein, weil es da dunkel ist; vielmehr muß man das Schamgefühl in die Seele gleichsam als das Licht des Verstandes hereinnehmen […] Denn selbst der durch das Gesetz erlaubte Geschlechtsverkehr bringt leicht zu Fall, soweit er nicht der Erzeugung von Kindern dient« (paed. II 97 f.) usw. 26 Dominant ist dabei die (Bestreitung der) Lehrautorität von Frauen, die in Texten aus asketischer Tradition anhand der besonderen Offenbarung des Auferstandenen an Frauen diskutiert wird: Neben Salome (z. B. Clemens Alex., strom. III 45.63) ist vor allem Maria (Magdalena) als Tradentin geheimer Unterweisung bekannt, vgl. EvThom 114; EvPhil 55b (63,33-64,5 NHC II/ 3); Epiphanius, Panar. XXVI 8,1 f. (exklusive Offenbarung an Maria); EvMariae 10,1 ff.; 17,7 ff. (BG 8502 ed. Till); Pistis Sophia 36; 96; 146 (BG 8502 ed. Till) usw. 27 Vgl. E. Dassmann, »Als Mann und Frau erschuf er sie«. Gen. 1,27c im Verständnis der Kirchenväter, in: M. Wacht (Hg.), Panchaia (FS K. Thraede), JAC.E 22, Münster 1995, 45-60; E.A. Clark, Heresy, Asceticism, Adam, and Eve: Interpretations of Genesis 1-3 in the Latin Fathers, in: dies., Ascetic Piety (o. Anm. 21), 175-208; E. Pagels, Adam, Eva und die Schlange, Hamburg 1991, 207 ff. 28 Galen, de usu partium XIV 6 (II 297,26-298,7 Helmreich). Vgl. Aristoteles, hist. anim. I 9 (491 b 26 ff.); IV 8 (533 a 1ff ). 29 Galen, de usu partium XIV 6 (II 296,8 ff. Helmreich). 30 Arist., generat. anim. I 2 (716 a 1 ff.). 31 Arist., generat. anim. II 1 (732 a 3 ff ). 32 Arist., generat. anim. II 5 (741 a 3 ff.). 33 Philo, quaest. in Ex 12,5. 34 Philo, cher. 50. 35 Philo, quaest. in Gen 2,49. 36 Wenn Perpetua in der Vision von ihrem bevorstehenden Martyrium sagen kann: »Ich wurde zum Mann« (Passio SS. Perpetuae et Felicitatis 10,7: facta sum masculus), dann ist darin ihre Bereitschaft zum Martyrium angezeigt: Sie hat sich, wie man noch vor nicht sehr langer Zeit gesagt hätte, »ermannt«. 37 Vgl. etwa Soranus von Ephesus, gynaec. I 32,1 (22,23ff CMG V): »Wir meinen nun, dass eine andauernde Jungfernschaft gesund ist [gr.: tēn diēnekē parthenian hygieinēn einai], zumal der Geschlechtsverkehr an sich schon schädlich ist […] (32,4). Daher ist eine andauernde [geschlechtliche] Unberührtheit gesund [hygieinē hē diēnekēs parthenia], und zwar sowohl für das Männliche als auch für das Weibliche.« Mit seiner generellen Empfehlung der Enthaltsamkeit avancierte Soranus zur wichtigsten medizinischen Autorität der Alten Kirche: Augustin nennt ihn den »edelsten medizinischen Schriftsteller [lat.: medicinae auctor nobilissimus]« (c. Iulian 5,14,51). 38 Clemens Alex., strom. VI 100,3. Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 12 - 4. Korrektur 12 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Zum Einstieg in das Thema Konstruktionen von Geschlecht und Sexualität im Neuen Testament möchte ich einige hermeneutische Überlegungen anstellen. Diese sind notwendig, weil die Erörterung sozial-moralischer Fragen im Neuen Testament häufig-- explizit oder implizit-- einer Hermeneutik der Applikation folgen. Es geht nicht ausschließlich um sozial-moralische Fragen, aber in diesem Kontext ist das Verhältnis besonders deutlich. Man interessiert sich für eine bestimmte Problemstellung in der Annahme, dass die Texte im Blick auf die eigene Gegenwart etwas Wesentliches zu sagen haben. Das gilt positiv in Bezug auf Elemente, denen man über ihre Anwendbarkeit hinaus einen normativen Gehalt zubilligt, und negativ von Elementen, die als unübertragbar gelten und einer fernen Vergangenheit zugewiesen werden. Dieser Zugang zum Neuen Testament ist legitim und hat eine lange Tradition. Je nach theologischer Herkunft und Temperament liegt er in mehr oder weniger anspruchsvollen Varianten vor. In der ausgereiftesten Form wird üblicherweise unterschieden zwischen solchen Elementen in den neutestamentlichen Schriften, die aufgrund ihrer Verankerung in einem vergangenen kultur- und sozialgeschichtlichen Kontext für die Gegenwart nicht übernommen werden können, und anderen, die einen mehr zeitlosen Charakter besitzen und sich daher an anderen Orten und zu anderen Zeiten zur Anwendung bringen lassen. Das war etwa eine Grundannahme hinter R. Bultmanns Entmythologisierungsprogramm. Überkommene mythologische Elemente mussten entmythologisiert werden, um die Texte für moderne Hörer zugänglich zu machen, die nicht länger ein mythologisches Weltbild teilten, die aber-- durchaus konform mit der Daseinsauffassung des mythischen Weltbilds-- den gleichen objektivierenden Zugang zur Welt hatten. Hinter der mythischen, objektivierenden Vorstellung von der Wirklichkeit der Welt liegt, so Bultmann und mit ihm eine lange Tradition innerhalb der dialektischen Theologie, ein gemeinsames menschlich-schöpfungsfundiertes Fragen und eine entsprechende (sündhafte) Neigung, objektivierend auf diese Fragen zu antworten. Die Absicht der Entmythologisierung und der daran geknüpften existenzialen Interpretation war es, den Menschen die Möglichkeit zu eröffnen, Gottes Offenbarung jenseits der selbstdiktierten, objektivierenden Antwort des Menschen auf sie zu empfangen. 1 Ich sehe hier von einer Reihe wissenschaftsphilosophischer Probleme ab, die mit Bultmanns Entmythologisierungsprogramm verknüpft sind und die generell einer dialektisch-theologischen Tradition anhaften. 2 Mir geht es hier lediglich darum, beispielhaft einen Zugang zum Neuen Testament vorzuführen, der einen der radikalsten und anspruchsvollsten Versuche darstellt, das Neue Testament als Phänomen der Vergangenheit ernst zu nehmen, der aber nach meiner Ansicht dem Abstand zwischen Gegenwart und Vergangenheit nicht hinreichend Rechnung trägt. Dass dieser Ansatz das Vergangensein der Vergangenheit nicht angemessen in Betracht zieht, rührt daher, dass er nicht in der Lage ist, sein gegenwartsbezogenes Erkenntnisinteresse zurückzustellen. 3 Im Unterschied dazu halte ich den Umstand für hermeneutisch grundlegend wichtig, dass die neutestamentlichen Texte in einem Zusammenhang entstanden sind, der sich kultur-, mentalitäts- und sozialhistorisch radikal von der modernen Welt unterscheidet. Ich bin an der Vergangenheit um ihrer selbst willen interessiert. Die Vergangenheit ist keine Ressource, die Licht auf eine mängelbehaftete Gegenwart werfen kann, und von der aus es möglich ist, diesen Mangel zu kompensieren, indem man jene Elemente der Vergangenheit reaktiviert, von denen man glaubt, dass sie einen Weg von der mängelbehafteten Gegenwart in eine bessere Zukunft weisen. 4 Ich stehe einem solchen Zugang kritisch gegenüber, weil ich meine, dass er sich nicht konsequent genug von den eigenen Denkgewohnheiten und unreflektierten Vorannahmen zu befreien vermag. Wenn die Vergangenheit als Ressource der Gegenwart aufgefasst wird, wird man sich der Vergangenheit-- bewusst oder unbewusst-- mit dem Ziel zuwenden, durch den Gebrauch der Vergangenheit Elemente der Gegenwart (positiv oder negativ) zu legitimieren. Die Vergangenheit wird nicht im Anders Klostergaard Petersen Konstruktionen von Geschlecht und Sexualität im Neuen Testament Zum Thema »Wenn die Arbeit mit der Vergangenheit das übergeordnete Ziel hat, bestimmte Traditionen der Vergangenheit im Verhältnis zur Gegenwart normativ zur Geltung zu bringen, so weiß man am Ende nicht mehr als das, was man vorher auch schon wusste.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 13 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 13 Anders Klostergaard Petersen Konstruktionen von Geschlecht und Sexualität im Neuen Testament erforderlichen Maß als die Andersheit der Gegenwart ernst genommen, die kraft ihrer Andersartigkeit und Fremdartigkeit ein Bewusstsein für das eigene Gebundensein an gegenwartsbezogene Interpretationsmuster schaffen kann. Oder provozierender gesagt: Wenn die Arbeit mit der Vergangenheit das übergeordnete Ziel hat, bestimmte Traditionen der Vergangenheit im Verhältnis zur Gegenwart normativ zur Geltung zu bringen, so weiß man am Ende nicht mehr als das, was man vorher auch schon wusste. In Abgrenzung zu solchen Zugängen verstehe ich die Erforschung antiker Texte als Projekt einer vertikalen Anthropologie, die in kritischer Ergänzung zur horizontalen Anthropologie (das, was wir unter Anthropologie zu verstehen pflegen) das Gewicht auf das Andere in seiner Andersartigkeit legt. Gewiss kann man einwenden, dass es bei diesem Fokus auf der Andersartigkeit der Vergangenheit zwei augenfällige Probleme gibt. Zum ersten, dass man auch unter dieser Voraussetzung der eigenen Bindung an bestimmte Interpretationsmuster nicht entkommt und sich der unrealistischen Vorstellung hingibt, es sei möglich, Raum für die Vergangenheit in ihrer radikalen Andersheit zu schaffen. Zum zweiten, dass man sich selbst zur Geisel einer romantischen Begeisterung für das Exotische und Fremdartige macht. Als Antwort auf den ersten Einwand ist zu konzedieren, dass sich jede Interpretation der Vergangenheit aus gegenwärtigen Erkenntnisinteressen speist. Die gilt für die Interpretation von Texten wie auch für ihren Gebrauch. 5 Gleichwohl gibt es einen erkenntnistheoretischen Ertrag: Durch die Pointierung der nicht applizierbaren Andersheit der Vergangenheit wird die Möglichkeit eröffnet, sich von der Andersartigkeit herausfordern zu lassen und dadurch das Bewusstsein von der eigenen kulturellen Gebundenheit zu schärfen. Ich behaupte außerdem, dass eine stärkere Besinnung auf die Andersheit der Vergangenheit auch einen weiteren Spielraum der Interpretation für diese Andersartigkeit schafft, und zwar ungeachtet der Tatsache, dass der Gegenwartsbezug in jeder Erforschung der Vergangenheit unhintergehbar ist. Als Reaktion auf den zweiten Einwand ist das Risiko des ›Primitivismus‹ zu beachten. Gemeint ist, dass man durch Betonung der Andersartigkeit dazu beiträgt, die Vergangenheit fremder zu machen als sie in Wirklichkeit war. Die Hervorhebung der Andersartigkeit muss daher analytisch in Schach gehalten werden von einem Verständnis dafür, dass auch die Menschen der Vergangenheit Menschen waren und als solche nicht kategorial verschieden von modernen Menschen. Gerade in diesem Zusammenhang sprechen die in den letzten Jahren in der Kognitionswissenschaft erzielten Ergebnisse dafür, dass die Menschen aller Zeiten und Räume eine Reihe präkultureller, kognitiv fundierter Dispositionen teilen. 6 Dazu kommt die wichtige hermeneutische Pointe, dass die Positionierung der Vergangenheit als Andersheit der Gegenwart eine Vergleichbarkeit voraussetzt, die uns überhaupt erst in die Lage versetzt, die Vergangenheit als ein Andersartiges zu identifizieren. Zum kulturtheoretischen Kontext Zu diesen Überlegungen zum hermeneutischen Diskussionsrahmen kommt ein weiterer Punkt, der der Diskussion bedarf, weil es auch hier Anlass zu Missverständnissen gegeben hat. Es geht um das Verhältnis zwischen verschiedenen kulturellen Traditionen in der antiken Mittelmeerwelt, namentlich darum, wie man den Unterschied zwischen ihnen konzeptualisieren soll. In weiten Teilen der Bibelwissenschaft hat man-- zumal seit dem Aufkommen der Religionsgeschichtlichen Schule Ende der 1880er Jahre in Göttingen-- das frühe Chris- Prof. Dr. Anders Klostergaard Petersen 1969 in Aalborg geboren. 1989-1994: Theologische Studien Aarhus Universität. 1994 Goldmedailleabhandlung über die Bedeutung und Funktion der Taufe bei Paulus, die im selben Jahr mit einer Dissertation verbunden wurde. 1994 Studienaufhalt Jerusalem. 1995-1998: Carlsberg-finanzierter Stipendiat am Institut für Antikes Judentum und hellenistische Religionsgeschichte, Eberhard-Karls Universität, Tübingen. 1998-2002: Assistent Professor für Neues Testament an der Theologischen Fakultät, Aarhus Universität. 2002-2011: Associate Professor für Antikes Judentum und frühes Christentum am Institut für Religionswissenschaft, Aarhus Universität. Seit 2012- Professor für -Antikes Judentum und frühes Christentum am Institut für Religionswissenschaft, Aarhus Universität. Gegenwärtig 330 Publikationen zum antiken Judentum, frühen Christentum, wissenschaftstheoretischen und wissenschaftsphilosophischen Problemstellungen der Rekonstruktion antiker Welten. Anders Klostergaard Petersen Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 14 - 4. Korrektur 14 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Zum Thema tentum aus seinem Verhältnis zu anderen Kulturkreisen der hellenistischen Welt rekonstruiert. Dabei formierte sich auch die Religionsgeschichtliche Schule selbst oder vielmehr der Freundeskreis, der sie eigentlich war, 7 in den kulturtheoretischen und -politischen Kontroversen ihrer Zeit. In Auseinandersetzung mit den Lehrern der Schule, die einseitig das Alte Testament als Hintergrund für die Entstehung der neutestamentlichen Schriften hervorgehoben hatten, ging man dazu über, zunächst einmal das antike Judentum als »die Retorte« anzusehen, »in der die neutestamentlichen Stoffe gesammelt und gebraut wurden« 8 . In dem Maße, wie der ursprüngliche Freundeskreis auch um mehrere klassische Philologen erweitert wurde, verschob sich der Akzent zunehmend auf die hellenistische Welt als Hintergrund für das Neue Testament. Durchweg prägend war im Laufe dieser Entwicklung der Schule ein bestimmtes Grundmuster der Positionierung gegenüber anderen Kulturkreisen. Die Eigenart der Christusbewegung wurde häufig dadurch näher bestimmt, dass man sie gegen andere Traditionen ausspielte, etwa wenn man im Verhältnis zur griechisch-römischen Umwelt auf die Abhängigkeit vom antiken Judentum hingewiesen hat, während man in anderen Punkten die Übernahme von Elementen der griechisch-römischen Umwelt (nicht zuletzt im Bereich des Rituals) durch die Christusbewegung betont hat. Hinter diesen Rekonstruktionen stehen aber nun, wie Jonathan Z. Smith eingängig und überzeugend dokumentiert hat, 9 vielfach Rückprojektionen von Streitigkeiten der Reformationszeit auf das frühe Christentum. Der auf dem Felde der Antike geführte Diskurs diente dazu, moderne konfessionelle Schranken zu reifizieren und zu legitimieren. Was man als kulturelle Fremdkörper im frühen Christentum ansah, war häufig identisch mit dem eigenen konfessionellen Unbehagen gegenüber scheinbar analogen Traditionsbildungen in anderen Konfessionen. Auf diese Weise geriet die Erforschung des frühen Christentums allmählich zur Spiegelfläche von Gegensätzen zwischen dem römisch-katholischen und dem protestantischen Lager. Nur selten hat man Forscher sich theoretische Rechenschaft darüber geben sehen, wie sie grundlegend das Verhältnis zwischen verschiedenen kulturellen Größen auffassen sollen. Diese Frage ist indes entscheidend wichtig, wenn man nicht den eigenen Denkgewohnheiten verhaftet bleiben will, die die antike Welt zur bloßen Projektionsfläche verzerren. Mit Martin Hengel können wir die antike Mittelmeerwelt als einen gemeinsamen Kulturraum auffassen, oder, in Anlehnung an den griechischen Begriff koinē (die in weiten Teilen der Mittelmeerwelt etwa von 300 v. Chr. bis 300 n. Chr. gesprochene griechische Gemeinsprache), als eine »kulturelle Koinē«. 10 Von der mediterranen Antike gilt, mit Goethe im Faust gesprochen: »Wie alles sich zum Ganzen webt, Eins in dem andern wirkt und lebt«. 11 d. h. dass die antike Mittelmeerwelt, abhängig davon, worauf man räumlich und zeitlich den Fokus richtet, als Summe verschiedener Manifestationen paralleler Kulturmuster verstanden werden kann. Das bedeutet nicht, dass eine direkte historisch-genetische Verbindung zwischen den verschiedenen kulturellen Größen besteht. Eine solche kann existieren, aber häufig wird man von gleichartigen Kulturmustern sprechen, die in vergleichbaren Kontexten entstanden sind. Hier kann man auf Phänomene wie komplexere Formen der Urbanisierung, Ausbreitung der Schriftlichkeit und verstärkte Ausdifferenzierung sozialer Klassen als Hintergrund für eine gemeinsame Kultur verweisen. 12 Wie Henrik Tronier gezeigt hat, besteht ein enger Zusammenhang zwischen der basalen Struktur in jüdischer und früher christlicher Apokalyptik und der grundlegenden Erkenntnisstruktur des Platonismus und, so füge ich hinzu, der griechisch-hellenistischen Transzendentalphilosophie im Allgemeinen. 13 Andere haben für eine direkte historisch-genetische Verbindung beispielsweise zwischen Paulus und dem Stoizismus argumentiert. 14 Anstatt solche direkte Verbindungen anzunehmen, kann man aber genauso gut und mit höherer Erklärungsleistung von Manifestationen verwandter kultureller Phänomene ausgehen. Vorausgesetzt ist vorliegend ein weiter Kulturbegriff, der auch diejenigen Größen umfasst, die wir als Religion und Politik bezeichnen. In der antiken Welt bildeten Kultur und Politik einen gemeinsamen Lebenszusammenhang, dessen Teilbereiche wie Sport, Theater, Essen, Sexualität etc. in größerem oder kleinerem Umfang in eine religiöse Weltdeutung eingesponnen waren. Die Pointe ist, dass man, statt einen kategorialen Keil zwischen kulturelle Größen der antiken Mittelmeerwelt zu treiben, sie plausibel als verwandte Phänomene mit größeren oder kleineren Schnittmengen erfassen kann, d. h. als ein Venn-Diagramm. 15 Das bedeutet nicht, dass die Unterschiede verschwimmen, sondern vielmehr dass hinter den Unterschieden fundamentale Ähnlichkeiten sichtbar werden, die in der Forschung bisher wenn nicht ignoriert, so doch tendenziell übersehen wurden. Hinzu kommt eine zweite Pointe, die eng mit der Frage verknüpft ist, wie man Kultur denken soll, und in diesem Zusammenhang auch mit der Frage nach kultureller Innovation. 16 Keine kulturelle Größe entsteht ab ovo, sondern in Verlängerung existierender Traditionen, Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 15 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 15 Anders Klostergaard Petersen Konstruktionen von Geschlecht und Sexualität im Neuen Testament die sie auf verschiedene Weise modifiziert. Wir können uns eine These zu eigen machen, die Marshall Sahlins in anderem Zusammenhang formuliert hat: »Kultur geht überwiegend auf einen fremden Ursprung zurück, und sie bildet lokal unterscheidbare Formen aus.« 17 Man kann an ein modernes Phänomen wie McDonalds denken, bei dem es vielleicht auf der Hand liegt, es als Ausdruck von amerikanischem Fastfood-Imperialismus aufzufassen. Vergleicht man jedoch oberflächlich Mc- Donalds in Italien, Deutschland, Dänemark und den USA, wird man sich sowohl am Interieur als auch an der Speisekarte von der Berechtigung von Sahlins’ These überzeugen können. McDonalds-Lokale in Dänemark unterscheiden sich von denjenigen in Deutschland, wenn hier auch größere Ähnlichkeiten bestehen als zwischen derselben Größe in den USA und in Europa. Ich meine nun, dass analog dazu auch die Phänomene Geschlecht und Sexualität im Neuen Testament verstanden werden können. Auch hier kann man von distinkten lokalen Ausprägungen eines der antiken mediterranen Welt gemeinsamen kulturellen Musters ausgehen, das freilich zusätzlich diachron zu differenzieren ist. Ich versuche zunächst, ein gemeinsames antikes Grundmuster von Geschlecht und Sexualität zu skizzieren, um dann die distinkten Ausprägungen dieses Musters in den neutestamentlichen Schriften darzustellen. Auch hierbei sind selbstredend Generalisierungen nicht zu umgehen, da die neutestamentliche Zeit wesentliche zeitliche wie auch räumliche Verschiebungen aufweist. Konzepte von Geschlecht und Sexualität divergieren innerhalb des römischen Imperiums. 18 Chronologisch bildet das zweite Jh. n. Chr. einen Einschnitt. 19 Ebenso sind Unterschiede zwischen römischer und griechischer Kultur zu verzeichnen. Das ändert aber nichts daran, dass generalisierend über die antike mediterrane Welt gesprochen werden kann, sobald man sich auf einem entsprechend hohen Abstraktionsniveau bewegt. Geschlecht und Sexualität in der antiken mediterranen Welt Es gibt einen maßgeblichen Punkt, an dem sich die antike mediterrane Welt von modernen abendländischen Auffassungen von Geschlecht und Sexualität unterscheidet. Während wir den Unterschied zwischen Mann und Frau als ein natürliches, biologisches Verhältnis auffassen, sah es in der Antike anders aus. Thomas Laqueur hat den Unterschied zwischen modernen und vormodernen Auffassungen von Geschlecht und Sexualität auf der Grundlage zweier Modelle dargestellt 20 und damit die These verbunden, dass erst mit dem Zeitalter der Aufklärung das antike Modell von Geschlecht und Sexualität abgelöst wird. 21 Dieses bezeichnet er als ›Ein- Geschlecht-Modell‹, weil es voraussetzt, dass Mann und Frau nicht als Gegensätze verstanden werden, sondern als Abstufungen desselben Phänomens. Statt Mann und Frau als Gegenpole zueinander zu begreifen, wird die Frau als ein unvollständiger Mann aufgefasst. Obwohl man in der Antike schon früh Sektionen vornahm, dauerte es bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, bis man die tatsächlichen anatomischen Unterschiede zwischen Mann und Frau erkannt hat. Bis dahin verstand man die weibliche Anatomie weitgehend von der des Mannes her. Die Vagina etwa wurde als ein Penis aufgefasst, der sich in die falsche Richtung entwickelt hatte, die Eierstöcke der Frau wurden als innere Hoden angesehen, während die Schamlippen als die Vorhaut der Frau gedeutet wurden. 22 In der Schrift Die Natur des Menschen aus dem vierten Jahrhundert schrieb Bischof Nemesios von Emesa in Syrien über die Organe der Frau, dass »ihre innerhalb des Körpers sind und nicht Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 16 - 4. Korrektur 16 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Zum Thema außerhalb von ihm.« Dieses Verständnis findet sich überall in der griechisch-römischen Literatur. Hier liegt der Einwand nahe, dass man in der mediterranen Antike doch wohl kaum so naiv war, dass man biologische Unterschiede zwischen Männer und Frauen nicht sehen konnte. An diesem Punkt ist auch Kritik an Laqueurs Verständnis der Antike auf der Grundlage des ›Ein-Geschlecht‹-Modells formuliert worden. Die Kritik wurde primär von zwei Forschern vorgebracht, die auf dem Spezialgebiet der antiken medizinischen Literatur forschen. Helen King hat eingewendet, dass »die Hippokratische Gynäkologie das unterscheidend Weibliche in strukturellen und funktionalen Kategorien beschreibt. Die Beschaffenheit des weiblichen Körpers ist feucht, weich und schwammig und damit strukturell von der des männlichen völlig verschieden. Diese Beschaffenheit führt zur Ansammlung von Blut und dies wiederum zur Notwendigkeit der Menstruation in unerbittlicher Regelmäßigkeit, um Krankheiten in Folge eines Blutstaus zu verhindern. Auch gibt es vitale Verbindungen zwischen Brüsten und Gebärmutter wie überhaupt zwischen oberer und unterer Körperregion« 23 . Insbesondere eine Passage bei Galen, dem römischen Arzt aus dem zweiten Jahrhundert n. Chr., hat King und Fleming dazu bewogen, Laqueurs Modell in Zweifel zu ziehen. Im Blick auf die Galen-Passage (CMG V. 4. 1. 556.28-37) hat ihre Kritik begrenztes Recht, nur muss man in Rechnung stellen, dass es dort um den Unterschied zwischen Männern und Frauen speziell hinsichtlich der Rolle der Frauen als Gebärende geht. Grundlegend ändert sich aber nichts an der Tragfähigkeit von Laqueurs Modell. 24 Zur kategorialen Nichtunterscheidung von Mann und Frau kommt ein weiterer wichtiger Differenzpunkt hinzu, der das antike vom modernen Verständnis von Geschlecht und Sexualität trennt. Die antike Auffassung enthält einen wesentlichen kosmologischen Aspekt. Jedes antike mediterrane Denken über Geschlecht und Sexualität war eingewoben in einen Mensch, Tier und Kosmos umgreifenden Vorstellungszusammenhang. Wie der Kosmos aus den vier Elementen Luft, Feuer, Erde und Wasser zusammengesetzt ist, sind es auch die Bewohner des Kosmos. Die Menschen bestehen aus vier Elementen, aber es gibt einen erheblichen Unterschied zwischen Männern und Frauen. Grundlegend wird die Physiologie des Mannes von Feuer und Luft gebildet, während die Frau überwiegend aus Erde und Wasser zusammengesetzt ist. Dass einige Frauen männlich auftreten, liegt daran, dass sie einen größeren Anteil an Feuer und Luft erhalten haben, als Frauen normal zukommt. Treten entsprechend Männer weiblich auf, ist die Erklärung deren größerer Anteil an den besonders weiblichen Elementen, Erde und Wasser. Solche Überlegungen hatten Bedeutung für die medizinische und physiognomische Literatur, wie Dale Martin am Beispiel der Kinderzeugung ausführt: »Nach der Hippokratischen Theorie bestimmt der Zustand der Gebärmutter während der Schwangerschaft die geschlechtliche Konstitution des Kindes. Eine warme, trockene Gebärmutter wird ein männliches Kind »Jedes antike mediterrane Denken über Geschlecht und Sexualität war eingewoben in einen Mensch, Tier und Kosmos umgreifenden Vorstellungszusammenhang.« Tiere Gefallene Engel/ Dämonen Gott/ Götter Engel/ Mediatoren Ideelle Christus-Gläubige Männer Jungen Frauen Nicht-Sexualität Sexualität Kinderzeugung Männlich/ Männer : : Feminin/ Frauen Ein-Geschlecht-Modell: Ein-Geschlechter-Modell: Hypersexualität Sexuelle Enthaltsamkeit Trockenheit Luft Feuer Wasser Erde Feuchtigkeit/ Nässe Passiv Aktiv Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 17 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 17 Anders Klostergaard Petersen Konstruktionen von Geschlecht und Sexualität im Neuen Testament hervorbringen, wenn die Mutter eine ›warme‹ und ›trockene‹ Diät einhält, jedoch ein weibliches bei ›kalter‹ und ›feuchter‹ Diät.« 25 Es kann nicht überraschen, dass in der medizinischen Literatur die Frage ausführlich behandelt wurde, wie bei jungen Männern eine maskuline Disposition günstig beeinflusst werden konnte, und welches die idealen Umstände für Befruchtung und Gravidität sind, um gesunden männlichen Nachwuchs zu erhalten. Martin zeigt weiter, dass die Unterscheidung zwischen warm und kalt, trocken und feucht und zwischen hart und weich nicht nur in Bezug auf die Auffassung von Mann und Frau maßgeblich waren, sondern auch innerhalb des einzelnen Geschlechts galten, ebenso in Bezug auf das Lebensalter: »Das ganze Spektrum ist in jedem Menschen angelegt. Die Kindererziehung aber zielt darauf, den höherrangigen maskulinen Bereich dieses Spektrums zu entwickeln. Der Körper des Kindes ist tendenziell feuchter, der alter Menschen trockener. Ein gesunder Körper zeichnet sich dadurch aus, dass er das dem jeweiligen Lebensalter entsprechende Gleichgewicht bewahrt.« 26 Das Aktiv-Passiv-Prinzip Während Feuer und Luft als aktive Elemente verstanden werden, werden Erde und Wasser als passive oder rezeptive aufgefasst. Diese Eigenschaftszuschreibungen haben entscheidende Bedeutung für das Verhältnis zwischen Mann und Frau. Der Mann wird als aktiv und extrovertiert verstanden, während die ideale Frau passiv und zurückhaltend ist. In den Quaestiones in Exodum des jüdischen Denkers Philon heißt es beispielsweise: »Denn Fortschritt ist natürlich nichts anderes als eine Aufgabe des weiblichen Geschlechts durch eine Verwandlung zum männlichen, weil das Frauengeschlecht materiell, passiv, körperlich ist und mit den Sinnen begreift, während das männliche aktiv, rational, unkörperlich und mehr mit Verstand und Gedanke verwandt ist« (QE I.8). Während die Domäne des Mannes außerhalb des Hauses liegt, ist der Bereich der Frau das Haus und hier insbesondere der Herd, dessen ›Beschützerin‹ sie ist. Diese Unterscheidung gilt auch für den sexuellen Bereich: Die Frau soll in der Sexualbeziehung rezeptiv und passiv sein, während der Mann aktiv und spendend agiert. Nicht zufällig ist eine geläufige Metapher für den Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Frau, dass der Mann »sein Feld pflügen« soll. 27 Dieses Aktiv-Passiv- Modell gilt auch in allen anderen sexuellen Verhältnissen. Jedes sexuelle Verhältnis wurde von einer Relation zwischen Dominanz und Unterwerfung her gedacht. 28 Der freie, mündige Bürger sollte beim Geschlechtsverkehr die Rolle des Penetrators übernehmen, während die Frau, der Junge oder der männliche Sklave sich auf einen weiblichen, passiven ›Container‹ für das Eindringen des Mannes reduziert sehen mussten. 29 Diana Swancutt hat gezeigt, »dass es dem römischen Mann (vir) zufiel, das ideologische Symbol der römischen Unbesiegbarkeit zu verkörpern, den unpenetrierbaren Penetrator, der jede Invasion abwehrte«. 30 In diesem Sinne war der römische Mann eine mikrokosmische Spiegelung des Imperiums. Diese Beobachtungen werfen die Frage nach dem Verhältnis zwischen Biologie und Kultur hinsichtlich Geschlecht und Sexualität auf. Wieviel ist biologisch bestimmt und in welchem Maß sind unsere kulturellen Konstruktionen entscheidend für Auffassungen von Geschlecht und Sexualität? David Halperin hat am Beispiel des römischen Arztes Caelius Aurelianus (Mitte 5. Jh. n. Chr.) gezeigt, dass »antike Typologien des Sexuellen ihre Kriterien zur Kategorisierung von Menschen nicht aus dem biologischen (sex), sondern aus dem sozialen Geschlecht (gender) gewannen. Sexuelles Begehren war normgerecht oder normwidrig je nachdem, ob es die sozialen Akteure zu rollenkonformem oder abweichendem Verhalten entsprechend ihres sozialen Geschlechts motiviert hat«. 31 Das zweite Prinzip: Selbstkontrolle Zum Aktiv-Passiv-Gegensatz kommt ein zweites Prinzip hinzu, das für antike Auffassungen von Geschlecht und Sexualität ebenfalls eine wichtige Rolle spielt. Es handelte sich um die Notwendigkeit, Selbstkontrolle zu üben. Das galt allen, aber wieder war die Aufmerksamkeit primär auf den freien Mann als den höchsten Punkt auf der Skala des Geschlechts gerichtet. Wenn Männlichkeit jedoch keine stabile Größe ist, sondern etwas, das kontinuierlich aufrechterhalten werden muss, weil man dem Risiko ausgesetzt ist, es zu verlieren, spielt Selbstkontrolle eine wichtige Rolle. Um sich dagegen zu schützen, auf der Skala des Geschlechts herabzusinken, muss der freie Mann seine Leidenschaften, die seine Männlichkeit gefährden und ihn ins Unglück stürzen können, kontrollieren. Als Frau konnte man sich durch männliches Auftreten auf der Skala nach oben bewegen. Entsprechend können Männer durch weibliches Gebaren an ihr herabsinken. Man musste Selbstbeherrschung und Mäßigung beim Essen und Trinken üben, so wie man sich gegen die stets lauernde, weibliche Gefahr, ein Opfer des Luxus zu werden, schützen musste. Es heißt z. B. in Adamantius’ Physiognomie (ca. 3. Jh. n. Chr.): Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 18 - 4. Korrektur 18 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Zum Thema »Die aber ein ausgeprägt feminines Aussehen der Augen und anderer Körpermerkmale aufweisen, sind auch in Bezug auf Luxus und Sex weiblich. Sie sind aber auch keck und dreist und begrüßen Machenschaften, Betrug und Untreue. Auch dies sind nämlich weibliche Eigenschaften« (1,4) 32 . Selbstkontrolle forderte Kontrolle über Leidenschaften, Begierden und Lüste, die als besondere Bedrohung der Männlichkeit verstanden wurden. Martha Nussbaum fasst dies unter der Überschrift »Therapie des Begehrens« zusammen. 33 Es war eine kulturelle Erwartung an den ehrbaren Mann, dass er seine Leidenschaften beherrschte und seine Gefühle kontrollierte. 34 Ein Mann musste imstande sein, vom Zorn abzusehen, weil dieser als Ausdruck mangelnder Selbstkontrolle aufgefasst wurde. Es ist nicht überraschend, dass der Affekt des Zorns als besonders charakteristisch für Frauen aufgefasst wurde. Seneca schreibt etwa in seinem Werk De Ira: »So ist der Zorn am ehesten eine weibische und kindische Schwäche« (I-xx 3, vgl. Marcus Aurelius Meditationes II 18 35 ). Nach Cicero wird der Mann, der nicht imstande ist, Selbstbeherrschung bei Schmerzen zu üben, unumgänglich auf der Skala herabsinken, mit sowohl geschlechtlichen als auch sozialen Konsequenzen: »Doch gerade darauf muss man beim Schmerz vor allem achten, dass man nichts verächtlich, ängstlich, feig, sklavisch und weibisch tue, und vor allem muss jenes Geschrei des Philoktetes abgelehnt und verworfen werden« (Tusc. II xxiii 55) 36 . Er riskiert sowohl sklavisch (lat. serviliter) als auch weibisch zu werden, wodurch er seinen Status als freier Mann verliert. Die enge Beziehung zwischen der Fähigkeit, Selbstkontrolle zu üben, und dem Mannsein hat umgekehrt zur Folge, dass Frau zu sein damit gleichgesetzt wird, seinen Leidenschaften und Lüsten unterworfen zu sein und der Begierde und mangelnder Selbstbeherrschung zu verfallen (Medea ist ein Prototyp dieses Verhältnisses, etwa in Röm 7, wo Paulus das unglückliche Ich durch den Gebrauch der Medea- Tradition zur Sprache bringt. 37 Weibisch zu sein ist derart der Ausdruck für mangelnde Fähigkeit zur Selbstbeherrschung, womit wir wieder beim Aktiv- Passiv-Gegensatz angelangt sind. Dieser Mangel an Stabilität in Bezug auf geschlechtliche Identität bedeutete auch, dass in der Antike viel Energie auf das »Lesen« des Körpers verwendet wurde: Stand man einem richtigen Mann, einer Heulsuse oder einem Angsthasen gegenüber? Es hat sich eine reichhaltige antike Literatur erhalten, die gerade die Decodierung geschlechtlicher Zeichen behandelt. Sie wird die physiognomische Literatur genannt, weil sie bei den Zügen verweilt, vor denen man besonders auf der Hut sein muss, damit man nicht als freier Mann riskiert, an der Skala herabzurutschen: »Du kannst physiognomische Zeichen der Männlichkeit und Weiblichkeit aus Blick, Bewegung und Stimme deiner ausgewählten Person gewinnen und darauf, von diesen Zeichen ausgehend, sie miteinander vergleichen, bis du hinreichend in der Lage bist zu entscheiden, welches der beiden Geschlechter die Oberhand hat. Denn es findet sich im Männlichen etwas Weibliches und im Weiblichen etwas Männliches; den Namen männlich oder weiblich aber verleiht man entsprechend dem Umstand, welches von ihnen die Oberhand hat« (Phys. 2. 1. 192F) 38 . Diese Diskussion wird häufig mit einer ethnischen Dimension verknüpft, von der wir auch im Neuen Testament Spuren finden. Man verwendet das Aktiv-Passiv- Schema und die Hervorhebung der Selbstbeherrschung als Elemente in ethnischen Selbstinszenierungen. 39 Die Griechen kreideten ihren Feinden an, weibisch zu sein. Sie schwelgten im Luxus und ermangelten der Fähigkeit zur Selbstkontrolle. Der sagenumwobene assyrische Prinz Sardanopoulos wird in der griechischen Literatur zum Inbegriff des epikureischen, manierierten, weibischen Mannes. 40 Hier wird der Keim für das spätere Konzept »des Orientalen« als des Gegensatzes gelegt, der dem europäischen Mann seine Identität verleiht. Was die Griechen im Verhältnis zu den Persern tun konnten, taten die Römer später im Verhältnis zu den Griechen. Nun waren es die Griechen, die die wenig schmeichelhafte Rolle als weibische, manierierte Schwelger im Luxus einnahmen. Wenn der Aktiv-Passiv-Kontrast und die Betonung der Selbstbeherrschung zur Identitätsbildung zwischen Mann und Frau gebraucht werden konnten, so konnten sie auch auf einem kollektiven Niveau angewendet werden, um ethnische Schranken aufzurichten. Das war eine rhetorische Waffe, die auf »Selbstkontrolle forderte Kontrolle über Leidenschaften, Begierden und Lüste, die als besondere Bedrohung der Männlichkeit verstanden wurden.« »Wenn der Aktiv-Passiv-Kontrast und die Betonung der Selbstbeherrschung zur Identitätsbildung zwischen Mann und Frau gebraucht werden konnten, so konnten sie auch auf einem kollektiven Niveau angewendet werden, um ethnische Schranken aufzurichten.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 19 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 19 Anders Klostergaard Petersen Konstruktionen von Geschlecht und Sexualität im Neuen Testament der Hand lag, weil der Kontrast eine Unterscheidung zwischen Dominanz und Unterwerfung voraussetzte. Der Diskurs eröffnet so die Möglichkeit zu einer höchst einfachen Gegenüberstellung, die vielen anderen Formen des vom Dominanz-Unterwerfungs-Schema abgeleiteten Kontrastdenkens in der Antike entspricht, wie z. B. Mann-Frau, Freier-Sklave, Penetrator-Penetrierter, Grieche-Perser/ Römer-Grieche. Neues Testament Eigentlich wäre es nun am Platz, die frühen neutestamentlichen Texte innerhalb des größeren kultur-, religions- und sozialgeschichtlichen Kontexts des Judentums, dessen Teil sie sind, zu erörtern, doch ist es aus konventionellen Gründen angezeigt, sie ohne besondere Rücksicht auf ihren jüdischen Kontext zu behandeln. Zweifellos nehmen diese Texte Sonderstandpunkte innerhalb der übergeordneten Größe Judentum ein, auch sind sie unabweisbar ein Teil derselben. Entsprechend gilt aber auch, dass die neutestamentlichen Texte-- trotz einer Reihe von Unterschieden innerhalb der übergeordneten Größe antike mediterrane Welt-- zugleich unabweisbar Teil derselben sind. Ich werde drei Beispiele ausführen, behaupte aber, dass sie repräsentativ für das Neue Testament im Allgemeinen sind. In der Einleitung des Römerbriefes, den ich als exklusiv an Adressaten mit einem heidnischen Hintergrund gerichtet auffasse, 41 schildert Paulus den Verfall der nichtjüdischen Menschheit in eskalierender Sünde: »Darum hat sie Gott dahingegeben in schändliche Leidenschaften (eis pathē atimias); denn ihre Frauen haben den natürlichen Verkehr (tēn physikēn chrēsin) vertauscht mit dem widernatürlichen (eis tēn para physin); desgleichen haben auch die Männer den natürlichen Verkehr (tēn physikēn chrēsin) mit der Frau verlassen und sind in Begierde (en tē oreksei autōn) zueinander entbrannt (exekauthēsan) und haben Mann mit Mann Schande getrieben (tēn aschēmosynēn katergazomenoi) und den Lohn ihrer Verirrung, wie es ja sein musste, an sich selbst empfangen« (Röm 1,26 f.). Diese Schilderung ist in der augustinisch-lutherischen Tradition häufig als eine Beschreibung des vollständigen Verfalls der Menschheit seit Adam bis hin zu Christus in Anspruch genommen worden; aber es ist zweifelhaft, ob der Text auf diese Art zu verstehen ist. Es ist vermutlich angemessener, den Text als eine Kritik an Heiden (d. h. Nichtjuden) aus Paulus’ aktueller christusgläubiger Perspektive aufzufassen. 42 Das liegt auch auf einer Linie mit anderen Stellen, wo er in gleicher Weise über Heiden als moralisch Verfallene und religiös Depravierte spricht (vgl. 1Thess 4,3-5; 1Kor 5,1; 12,2; Gal 4,8). Paulus’ rhetorische Geißelung von Heiden ist ein Beispiel für othering, das sich nicht wesentlich von den Angriffen anderer antiker Gruppen auf andere Ethnien unterscheidet, die der komplementären Konstituierung der eigenen Identität dienen. Eigene Identität entsteht in der Entgegensetzung zu anderen Gruppen. 43 Dazu kommt, wie Stanley Stowers gezeigt hat, dass Paulus’ Vorwurf mangelnder Selbstkontrolle an die Adresse von Heiden im Kontext anderer gleichartiger antiker Narrative gesehen werden muss. 44 Aber inwiefern besteht hier ein Zusammenhang zu Auffassungen von Geschlecht und Sexualität im frühen Christentum? Zeigen nicht gerade diese Verse die Unvereinbarkeit von griechischrömischen und christlichen Vorstellungen? Es besteht kein Zweifel, dass jüdische Texte (inklusive der frühen christlichen) unzweideutig Menschen verdammen, die sexuellen Verkehr mit dem gleichen Geschlecht praktizieren. Dennoch bewegt sich dieses Denken kategorial innerhalb des griechisch-römischen Zusammenhangs. Wenn es heißt, dass Gott die Heiden »entehrenden Leidenschaften« (eis pathē atimias) übergab, ist das eine Feststellung in Übereinstimmung mit dem antik-mediterranen Ehre-Schande-Kodex, hier angewendet auf Männer, die nicht über die nötige Selbstkontrolle verfügten. Dasselbe gilt von den Männern, »die schamlos mit Männern verkehren«. Wir können nicht genau sehen, worin die Schamlosigkeit (aschēmosynē) besteht; aber man wird mit der Annahme nicht fehl gehen, dass es sich um Männer handelt, die sich auf Verhältnisse eingelassen haben, bei denen der eine männliche Part die weibliche Rolle übernommen hat, d. h. als einer, der sich hat penetrieren lassen. Es sind solche Männer, die »den Lohn« für ihre Schamlosigkeit »erhalten haben« (antimisthian apolambanontes). Von ihnen gilt, was Philon in seiner Schrift De vita contemplativa behauptet: »Der größte Teil dieser Schrift [d. i. Platons Symposion] wurde nämlich der Darstellung der gewöhnlichen und gemeinen Liebe (ho koinos kai pandēmos erōs) gewidmet, welche die Tapferkeit beseitigt, eine Tugend, die von größtem Nutzen für das Leben ist (tēn andreian biōphelestaten) in Krieg »Wenn es heißt, dass Gott die Heiden ›entehrenden Leidenschaften‹ (eis pathē atimias) übergab, ist das eine Feststellung in Übereinstimmung mit dem antik-mediterranen Ehre-Schande-Kodex, hier angewendet auf Männer, die nicht über die nötige Selbstkontrolle verfügten.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 20 - 4. Korrektur 20 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Zum Thema und Frieden. Statt dessen ruft diese Liebe die Krankheit der Verweichlichung in den Seelen hervor und macht diejenigen zu Halbweibern (androgynous), die in allen Betätigungen, welche den Mannesmut (alkēn) fördern, geübt werden müssten (synkroteisthai)« (60). Wie Stowers ausführt, ist dies keine Kritik dessen, was wir heute Homosexualität nennen. Eher passt der Begriff der Homoerotik, da die paulinische Aussage »keine permanente Präferenz desselben Geschlechts impliziert, wie sie der moderne Begriff der Homosexualität voraussetzt, sondern vielmehr den Mangel an Widerstandskraft, sich des Begehrens von Seiten desselben Geschlechts zu erwehren. In der Antike galt das auf das eigene Geschlecht gerichtete Begehren als natürliche Gegebenheit. Diskutiert wurde, ob man dieser Leidenschaft widerstehen soll oder nicht.« 45 Gleiches gilt in Bezug auf die Frauen in Vers 27a, »die den natürlichen Verkehr mit dem widernatürlichen vertauschten«. Diese Frauen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sexuell in der Rolle der Penetratoren auftraten und nicht, wie es der kulturelle Code forderte, als solche, die im Sexualakt im Verhältnis zu männlicher Dominanz untergeordnet agierten. 46 Den Beispielen ist gemeinsam, dass die Beteiligten keine Selbstkontrolle ausüben, sondern die ihrem Geschlecht kulturell vorgeschriebene Rolle überschreiten. Beispiele dieser Art finden sich auch in den Paulinischen Lasterkatalogen, wo es ebenfalls pointiert um das mangelnde Vermögen geht, als Mann innerhalb der sexuellen Domäne Selbstkontrolle zu üben. Man kann an 1Kor 6,9-11 denken, wo Paulus schreibt: »Oder wisst ihr nicht, dass die Ungerechten das Reich Gottes nicht ererben werden? Lasst euch nicht irreführen! Weder Unzüchtige (pornoi) noch Götzendiener, Ehebrecher (moichoi), Lustknaben (malakoi), Knabenschänder (arsenokoitai), Diebe, Geizige, Trunkenbolde, Lästerer oder Räuber werden das Reich Gottes ererben. Und solche sind einige von euch gewesen (tines ēte). Aber ihr seid rein gewaschen, ihr seid geheiligt, ihr seid gerecht geworden durch den Namen des Herrn Jesus Christus und durch den Geist unseres Gottes.« Einmal mehr ist in rhetorischer Zuspitzung von der heidnischen Vergangenheit der Adressaten die Rede, die Paulus im Rückblick deutlich anspricht: »Und solche sind einige von euch gewesen (tines ēte)« Interessant in diesem Zusammenhang sind die sexuellen Laster, die er anführt: ›Unzüchtige‹, ›Ehebrecher‹, ›Weichlinge‹ und ›Männer, die mit Männern Umgang haben‹(arsenokoitai). Wie aus diesem Lasterkatalog hervorgeht, handelt es sich ausschließlich um männliche Laster, was von eigenem Interesse ist, wenn man bedenkt, dass Paulus sich an eine Gemeinde wendet, die sowohl aus Frauen als auch aus Männern besteht. Paulus bedient sich auch hier bestimmter griechisch-römischer (einschließlich hellenistisch-jüdischer) Standardwendungen, um andere lächerlich zu machen und zur Schau zu stellen. Er konstruiert durch die Betonung der Laster eine out-group, durch die die in-group der Christusanhänger in einem Gegensatzverhältnis ihre Identität erhält. ›Unzüchtige‹ verweist auf Männer, die sich wie Prostituierte verhalten. James Davidson hebt zu Recht hervor, dass pornoi Personen bezeichnet, die »sich für Geld, gar zu bereitwillig oder aber aus Karrieregründen auf sexuelle Kontakte einlassen« 47 . Der ganze übergeordnete Kontext in 1Kor 5-7 handelt von Risiken, die mit der porneia verbunden sind und mit ungesetzlichem geschlechtlichen Verkehr zu tun haben. Von diesen ›Unzüchtigen‹ gilt in gleicher Weise wie in Röm 1,26 f., dass sie nicht imstande gewesen sind, Selbstkontrolle auszuüben, sondern sich im Sexualakt passiv wie Frauen verhalten haben. Gleiches gilt für ›Ehebrecher‹ (moichoi), die entsprechend in sexuell oder sozial ungesetzliche Verhältnisse involviert waren, entweder als Belästiger oder als Verführer von Frauen, die einem anderen Mann gehörten, etwa dem Vater oder einem Bruder. Die ›Weichlinge‹ (malakoi) bezeichnen umgekehrt die Männer, die sich frauenartig oder rezeptiv verhielten, indem sie sich penetrieren ließen. Wir kennen nicht die genaue Bedeutung von ›Männer, die mit Männern Umgang haben‹(arsenokoitai), aber im Zusammenhang bezeichnet es vermutlich eine weitere Variante sexuell dominierender Männer. 48 Paulus ist unzweideutig in seinem negativen Urteil und kann sich dementsprechend dieser Beispiele bedienen, um das Vorleben einiger Gemeindemitglieder und damit zugleich auch die heidnische Welt insgesamt zu verdammen. Gleichzeitig zeigen sie, wie die paulinische Kritik sich nahtlos in die allgemeine Auffassung von Geschlecht und Sexualität in der antiken mediterranen Kultur einfügt. Das setzt einen mentalitätsgeschichtlichen Kontext voraus, in dem Geschlecht und Sexualität von den beiden Prinzipien her bestimmt sind, die ich im vorherigen Abschnitt erörtert habe. Mein letztes Beispiel stammt aus den Evangelien, in denen ich kurz auf Jesu Worte am Kreuz hinweisen möchte. Hier sehen wir, wie die spätere Tradition, repräsentiert durch das Lukas- und das Johannesevangelium, das Jesus-Bild der früheren Tradition korrigiert. 49 Während Jesus im Markus- und Matthäusevangelium am Kreuz hängt und als seine einzigen Kreuzesworte-- mit einem Zitat aus Ps 22,2-- ruft: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen« (Mk 15,34; Matth 27,46), sieht es in den beiden späteren Evangelien anders aus. Nicht nur sagt Jesus in jedem der beiden Evangelien drei verschiedene Kreuzesworte, sondern die Kreuzes- Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 21 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 21 Anders Klostergaard Petersen Konstruktionen von Geschlecht und Sexualität im Neuen Testament worte wirken auch auf die männlichen Züge des Jesusbildes ein. Jesus stirbt im Einklang mit den mit dem Tod edler Männer verknüpften Traditionen, den teleutai oder exitus illustrium virorum. 50 Wie Greg Sterling gezeigt hat, ersetzt Jesu letztes Wort im Lukasevangelium, »Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist« (Luk 23,46), nicht nur Ps 22,2 (so die ältere Tradition) durch Ps 31,6, sondern es überschreibt diesen Psalmvers auch im Lichte philosophischer Konventionen über einen edlen Tod. 51 Im Unterschied zu Markus und Matthäus, wo Jesus gottverlassen und verzweifelt stirbt, beschließt er bei Lukas sein Leben wie ein edler Mann, ganz abgeklärt hinsichtlich seines bevorstehenden Todes. Als solcher ähnelt er der Sokratesgestalt, die auch mit voller Selbstkontrolle über die Gefühle und Leidenschaften in den Tod ging. Jesu Selbstbeherrschung kommt auch im zweiten Kreuzeswort zum Ausdruck, wo er einen der beiden Räuber mit dem Bescheid trösten kann, »Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein« (23,43). Jesu Kontrolle über die Situation wird auch im ersten Kreuzeswort zum Ausdruck gebracht, wo er im Gegensatz zu denen, die über ihn richteten, die Überlegenheit und die Generosität des edlen Mannes erkennen lässt: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun« (23,34). In gleicher Weise sehen wir Jesus bei Johannes in deutlichem Kontrast zur frühen synoptischen Tradition. Statt wie bei Markus und Matthäus Angst und Verzweiflung ausgeliefert zu sein, stirbt Jesus mit einem triumphierenden: »Es ist vollbracht« (Joh 19, 30). In der Johanneischen Optik bezeichnet das Kreuz den Schlusspunkt, der den Abschluss des irdischen Wirkens des himmlischen Christus markiert; aber gerade aus diesem Grund ist das Kreuz nicht eindeutig negativ bestimmt. Es ist, so die johanneische Metapher für das Kreuz, geradezu eine ›Erhöhung‹ (hypsoun, vgl. 3,14; 8,28; 12,32). Wie bei Lukas stirbt Jesus bei Johannes nicht wie eine erbärmliche, unmännliche Figur, so wie man im Lichte antiker Geschlechts- und Sexualcodes seinen Tod bei Markus und Matthäus verstehen könnte. Ähnlich wie der lukanische, so verfügt auch der johanneische Jesus bzw. Christus sozusagen über die Souveränität, sich um seine Mutter zu kümmern. Als erstes Kreuzeswort bei Johannes übergibt er die Mutter in die Obhut des geliebten Jüngers, so wie er den geliebten Jünger zu Marias Adoptivsohn macht (19,26 f.). Wiederum kann man die Modifikation älterer Tradition von antiken Konstruktionen von Geschlecht und Sexualität her verstehen: Obwohl er gekreuzigt wird und derart den schändlichsten Tod erleidet, den man sich im Römischen Reich vorstellen konnte-- man wurde buchstäblich durchbohrt--, stirbt Jesus so, dass er kontrolliert und souverän mit der Situation des Sterbens umgeht, und er erleidet den Tod in einem Zustand größter Selbstbeherrschung. Für die Leser des Evangeliums ist damit klar, dass die Kreuzigung keine Erniedrigung darstellt, sondern vielmehr eine Erhöhung. Fazit Ungeachtet einiger deutlicher Unterschiede spiegeln frühe christliche Texte weitgehend die Sicht der antiken mediterranen Welt auf Geschlecht und Sexualität wider. Alles andere wäre erstaunlich. Wir werden einer von der unsrigen signifikant verschiedenen Welt ansichtig, in der die heute geläufigen Trennungen zwischen Hetero- und Homosexualität als widersinnig empfunden worden wären; eine Welt, in der Frauen und Männer als aus demselben Holz geschnitzt verstanden wurden, wenn auch mit der Frau in der Position des untergeordneten, unvollständigen Mannes. Zwei Prinzipien sind in der antiken mediterranen Weise, Geschlecht und Sexualität zu betrachten, tragend: Das Aktiv-Passiv-Prinzip sowie das Prinzip der Selbstkontrolle. Das erste Prinzip besteht darin, dass jedes Denken über Geschlecht und Sexualität in der Antike um die Frage kreiste, wer wen zu penetrieren das Recht hatte. Das zweite Prinzip formuliert die Fähigkeit zu Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung als grundlegende sozio-kulturelle Anforderung. Man(n) war nur anerkannt, wenn man dieser Anforderung entsprach. Die skizzierte Diskussion ist zugleich, behaupte ich, paradigmatisch für ein Verständnis, das sich in der Erforschung der Antike zunehmend durchsetzt: Kulturelle Bereiche wie etwa der griechisch-römische, der jüdische und der christliche bilden in der Antike keine isolierten und unabhängigen Phänomene. Gewiss gab es Unterschiede, aber die Differenzen sind nicht so gravierend, dass man nicht an dem Gedanken einer gemeinsamen mediterranen Kultur in den Jahrhunderten vor und nach unserer Zeitrechnung oder, mit Hengels Worten, einer kulturellen und sozialen koinē festhalten könnte und müsste. Grafisch kann dieser Befund durch ein Venn-Diagramm mit gemeinsamen Schnittmengen und lokalen Manifestationen illustriert werden. Es gilt, was Sahlins als bleibende Einsicht formuliert hat: »Kultur geht überwiegend auf einen fremden Ursprung zurück, und sie bildet lokal unterscheidbare Formen aus.« In vorliegendem Beitrag haben wir diese Einsicht am antiken Verständnis von Geschlecht und Sexualität exemplifiziert, sie kann aber auch auf andere Gebiete angewendet werden. Schließlich habe ich den hermeneutischen Diskussionsrahmen skizziert. Statt zu versuchen, die neutesta- Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 22 - 4. Korrektur 22 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Zum Thema mentlichen Texte auf die Gegenwart anzuwenden, habe ich die Notwendigkeit betont, sie zunächst im Lichte ihrer Fremdartigkeit, Vergangenheit und Andersartigkeit zu lesen. Ich bestreite nicht, dass es Momente des Wiedererkennbaren zwischen der neutestamentlichen Welt und uns heute gibt. Das ist ja gerade eine Voraussetzung dafür, dass wir überhaupt zu Lektüren im Lichte einer radikalen Andersartigkeit imstande sind. Insofern plädiere ich für eine vertikale Anthropologie. Der Gewinn dieser Perspektive auf die Texte in ihrer Andersartigkeit besteht darin, dass moderne Denkgewohnheiten und undurchschaute Vorurteile herausgefordert und korrigiert werden können, wie ich dies beispielhaft auf dem Feld antiker Auffassungen von Geschlecht und Sexualität vorgeführt habe. Anmerkungen 1 Siehe R. Bultmann, »Zum Problem der Entmythologisierung«. In: Ders., Glauben und Verstehen, Bd. 4, Tübingen, Mohr-Siebeck 1965, 128-137. 2 Siehe A.K. Petersen, »Den protestantiske traditions ritualforståelse« [Das Ritualverständnis der protestantischen Tradition], Fønix 4/ 19 (1995), 2-23, 16 f. 3 Dieses Element wird in der modernen Wissenschaftsphilosophie hinsichtlich der Historiographie häufig als das Problem des »Präsentismus« bezeichnet, siehe dazu E.A. Clark, History, Theory, Text. Historians and the Linguistic Turn, Cambridge, Mass./ London 2004, 19-23. 4 Dies ist der leitende Gesichtspunkt bei M. de Certeau, The Writing of History, New York 1988, 19-55. 5 Umberto Ecos Unterscheidung zwischen dem »Gebrauch« und der »Interpretation« von Texten versucht Raum für eine Besinnung auf den semiautonomen Status von Texten, unabhängig von ihrer Anwendung durch spezifische Benutzer, zu schaffen. Die Interpretationskategorie bezeichnet das Bestreben, Texte im Licht der Codes auszulegen, die man plausibel als bedeutungsvoll in der Kommunikationssituation, in der die Texte entstanden, rekonstruieren kann. Selbstverständlich kann von nichts anderem als einer plausiblen Konstruktion die Rede sein, aber das unterscheidet sie nichtsdestoweniger von dem Bestreben, dessen Ziel darin besteht, die Texte für die Gegenwart übernehmbar zu machen. Siehe: A Theory of Semiotics, Bloomington 1979, 61 f.; Ders., The Limits of Interpretation, Bloomington 1990, 62. 6 Siehe P. Boyer, Religion Explained: The Human Instincts That Fashion Gods, Spirits and Ancestors, William Heinemann 2001. 7 M. Murrmann-Kahl, Die entzauberte Heilsgeschichte: der Historismus erobert die Theologie 1880-1920, Gütersloh Mohn 1992, 296 f.305 f. 8 W. Bousset, Die Religion des Judentums im späthellenistischen Zeitalter, hgg. von H. Gressmann, Tübingen ³1926, 524. 9 J.Z. Smith, Drudgery Divine. On the Comparison of Early Christianities and the Religions of Late Antiquity, London 1990. 10 Siehe z. B. M. Hengel (unter Mitarbeit von C. Markschies), »Das Problem der ›Hellenisierung‹ Judäas im 1. Jahrhundert nach Christus«, in: Ders., Judaica et Hellenistica. Kleine Schriften I, Tübingen, Mohr-Siebeck 1996, 1-90, hier: 82. 11 Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke in 18 Bänden, Band 5: Die Faustdichtungen. Artemis, Zürich 1950, 157 f. 12 Siehe dazu R.N. Bellah, »Religious Evolution«, American Sociological Review 29 (1964), 358-374; »What Is Axial about the Axial Age? «, Archives of European Sociology XLVI (2005), 69-87; Religion in Human Evolution. From the Paleolithic to the Axial Age, Cambridge, Mass./ London 2011, 265-566. 13 Siehe z. B. H.Tronier, »The Corinthian Correspondence between Philosophical Idealism and Apocalypticism«, in: T. Engberg-Pedersen (ed.), Paul Beyond the Judaism/ Hellenism Divide, Louisville/ Westminster 2001, 165-196. Siehe auch A.K. Petersen, »Finding a Basis for Interpreting New Testament Ethos from a Greco-Roman Philosophical Perspective«, in: J.W. van Henten/ J. Verheyden (Hgg.), Early Christian Ethics in Jewish and Hellenistic Contexts, Leiden 2012-- im Erscheinen. 14 Siehe T. Engberg-Pedersen, Paul and the Stoics, Edinburgh 2000, und Ders., Cosmology and Self in the Apostle Paul. The Material Spirit, Oxford 2010, und meine Kritik in »Jeg er pneuma, lysende og stoflig. En review-artikel af Troels Engberg-Pedersen, Cosmology & Self in the Apostle Paul. The Material Spirit«, RvT (56) 2011, 98-103, sowie in Petersen 2012 (s. Anm. 13). 15 Das Diagramm ist nicht als Abbildung des Größenverhältnisses zwischen antiken Kulturen gemeint. Um die theoretische Pointe anschaulich zu machen, enthält die Figur nur ausgewählte kulturelle Segmente und dies ohne grafische Entsprechung der jeweiligen Größenverhältnisse. 16 Siehe meinen Artikel »Invention« and »Maintenance« of Religious Traditions: Theoretical and Historical Perspectives«, in: J. Ulrich u. a. (Hgg.), Invention, Rewriting, Usurpation. Discursive Fights over Religious Traditions in Antiquity, Frankfurt/ Main 2011, 129-160, in dem ich auf Grundlage von Peirce ein semiotisch fundiertes Denken hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Kontinuität, Transformation und Diskontinuität innerhalb kultureller Welten zu skizzieren suche. 17 M. Sahlins, »Two or Three Things That I Know about Culture«, The Journal of the Royal Anthropological Institute Incorporating Man 5/ 3 (1999), 391-421, 412. Siehe dazu meinen Artikel »Reconstructing Past (Jewish) Cultures«, in: K.D. Dobos/ M. Köszeghy (Hgg.), With Wisdom as a Robe. Qumran and Other Jewish Studies in Honour of Ida Fröhlich, Sheffield 2009, 367-383, in dem ich die kulturtheoretische Pointe im Hinblick auf die Antike vertiefe, und den Artikel 2011 (s. Anm. 16), in dem ich für eine Theorie kultureller ›Innovation‹ an Peirce anknüpfe. Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 23 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 23 Anders Klostergaard Petersen Konstruktionen von Geschlecht und Sexualität im Neuen Testament 18 Siehe D.J. Mattingly, Imperialism, Power, and Identity. Experiencing the Roman Empire, Princeton 2011, 94- 121. 19 Siehe C.A. Williams, Roman Homosexuality. Second Edition, Oxford 2010, 51. 20 T.W. Laqueur, Making Sex: Body and Gender from the Greeks to Freud, Cambridge (Mass.) 1990, 5 f. 21 Zur Relevanz von Laqueurs Gedanken hinsichtlich etwa des Hochmittelalters vgl. J. A. McNamara, »The Herrenfrage: The Restructuring of the Gender System, 1050-1150«, in: C.A. Lees (Hg.), Medieval Masculinities. Regarding Men in the Middle Ages, Minneapolis/ London 1994, 3-29. 22 Laqueur 1990, 4. 23 H. King, Hippocrates‘ Women: Reading the Female Body in Ancient Greece, London und New York, Routledge 1997, 39. Grundlegend außerdem King 1997, 7-11, und R. Flemming, Medicine and the Making of Roman Woman: Gender, Nature, and Authority from Celsus to Galen, Oxford, 120 f., 357 f. 24 Siehe auch meine Artikel »Gender-bending in Early Jewish and Christian Martyr Texts«, in: J. Engberg, U.H. Eriksen/ A.K. Petersen (Hgg.), Contextualising Early Christian Martyrdom, Frankfurt/ Main 2010, 225-256, und »Auf der Suche nach einem Rahmen zum Verständnis der Konzeption von Geschlecht und Sexualität im frühen Christentum«, in: M. Morgenstern, C. Boudignon/ C. Tietz (Hgg.), Männlich und weiblich schuf Er sie: Studien zur Genderkonstruktion und zum Eherecht in Mittelmeerreligionen, Göttingen 2011, 33-66. 25 D.B. Martin, The Corinthian Body, New Haven 1995, 32. Vgl. B. D. Shaw, »Body/ Power/ Identity: Passions of the Martyrs«, JECL 4/ 3 (1996), 269-312, 284 f. 26 Martin 1995, 32 f. 27 Vgl. P. duBois, Sowing the Body. Psychoanalysis and Ancient Representations of Women, Chicago, 1988, 39-85. 28 Vgl. dazu H.N. Parker, »The Teratogenic Grid«, in: J.P. Hallett/ M.B. Skinner (Hgg.), Roman Sexualities, Princeton, 1997, 47-65, hier: 49. 29 K.J. Dover, Greek Homosexuality, Cambridge (Mass.) 1978, 100-109; D.M. Halperin, One Hundred Years of Greek Homosexuality and Other Essays on Greek Love, New York/ London 1990, 33; J. Walters. »Invading the Roman Body: Manliness and Impenetrability in Roman Thought«, in: J.P. Hallett/ M.B. Skinner (Hgg.), Roman Sexualities, Princeton 1997, 29-43, 30; Parker 1997, 48 f. 30 D.M. Swancutt, »Still Before Sexuality«: »Greek« Androgyny, the Roman Imperial Politics of Masculinity and the Roman Invention of the Tribas«, in: T. Penner/ C. van der Stichele (Hgg.), Mapping Gender in Ancient Religious Discourses, Leiden 2007, 11-61, hier: 31. 31 D. Halperin 1990, 25; Jf. M. Gleason, Making Men: Sophists and Self-Representation in Ancient Rome, Princeton 1995, xxvi, und C.A. Barton, Roman Honor. The Fire in the Bones 2001, 38. 32 Eigene Übersetzung. 33 M. Nussbaum, Therapy of Desire. Theory and Practice in Hellenistic Ethics, Princeton 1994, 50. 34 Vgl. S. K. Stowers, A Rereading of Romans. Justice, Jews & Gentiles, New Haven 1994, 46-50. 35 Übersetzung entnommen aus: L. Annaeus Seneca, Philosophische Schriften. Lateinisch und deutsch, hrsg. v. M. Rosenbach, Bd. 1, Darmstadt 1999, 143. 36 Übersetzung entnommen aus: Cicero, Gespräche in Tusculum. Übersetzt und mit einer Einführung und Erläuterungen versehen von O. Gigon, Zürich/ München 1991, 132. 37 Vgl. S. Krauter, »Is Romans 7: 7-13 about akrasia? «, in: C.K. Rothschild/ T.W. Thompson (Hgg.), Christian Body, Christian Self: Concepts of Early Christian Personhood, Tübingen 2011, 113-122, 113. 38 Eigene Übersetzung. 39 Siehe meinen Artikel »Othering in Paul. A Case-Study of 2 Corinthians«, in: M. Kahlos (Hg.), The Faces of the Other. Religions Rivaly and Ethnic Encounters in the later Roman World Turnhout 2012, 19-50. 40 Siehe A. J. Malherbe, Paul and the Popular Philosophers, Minneapolis 1989, 84 f. 41 Das schließt selbstredend nicht aus, dass es in der Gruppe von Christusanhängern in Rom sehr wohl Menschen gegeben haben kann, die von ihrem ethnischen Hintergrund her Juden waren, aber die Pointe ist, dass Paulus sich in seinem Brief explizit allein zu Adressaten verhält, die von ihrem ethnischen Herkommen her Heiden gewesen sind. Aus demselben Grund fasse ich den Konflikt zwischen ›Schwachen‹ und ›Starken‹ in Röm 14 als einen Konflikt zwischen verschiedenen Typen des Christusglaubens auf, die sich voneinander in der Frage unterscheiden, in wie hohem Maße der Christusglaube unter Heiden ein mehr oder weniger judaisierender sein soll. 42 Siehe hierzu die glänzende Diskussion in C. E. J. Hodge, If Sons, Then Heirs. A Study of Kinship and Ethnicity in the Letters of Paul, Oxford 2007, 44-58. 43 Für die theoretische Diskussion des othering siehe meinen in Anm. 39 genannten Artikel. 44 Vgl. Stowers 1994, 42-44. 89-93. 45 Stowers 1994, 342. 46 Vgl. Stowers 1994, 94. 47 J.N. Davidson, The Greeks & Greek Love. A Radical Reappraisal of Homosexuality in Ancient Greece, London 2007, 67. 48 F. Ivarson, »Vice Lists and Deviant Masculinity: The Rhetorical Function of 1 Corinthians 5: 10-11 and 6: 9-10«, in: T. Penner/ C. van der Stichele (Hgg.), Mapping Gender in Ancient Religious Discourses, Leiden 2007, 163-184, 182 f. 49 Siehe A.K. Petersen, »The Gospel of Judas: A Scriptural Amplification of Canonical Encroachment? «, in: G. Wurst/ E. Popkes (Hgg.), Judasevangelium und Codex Thachos, Tübingen 2012. 50 Siehe A.J. Droge/ J.D. Tabor, A Noble Death. Suicide & Martyrdom among Christians and Jews in Antiquity, San Francisco 1992, 17-51; D. Seeley, The Noble Death. Graeco-Roman Martyrlogy and Paul’s Concept of Salvation, Sheffield 1990, 113-141. 51 G. Sterling, »Mors Philosophi: The Death of Jesus in Luke«, HTR 94 (2001), 383-402, 396-398. Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 24 - 4. Korrektur 24 ZNT 30 (15. Jg. 2012) In den Thekla-Akten, einer frühchristlichen Erzählung aus dem 2. Jh. n. Chr., geht es um Konflikte, die die Verfügungsmacht über eine junge Frau, ihren Körper, ihr Leben betreffen. Im Spannungsfeld zwischen patriarchal geprägten gesellschaftlichen Strukturen und frühchristlicher Theologie und Lebenspraxis wird in letzter Konsequenz ein weiblicher Körper zum öffentlichen Schau-Platz der Kämpfe um Macht, Geschlechterrollen, öffentliches Ansehen und ein selbstbestimmtes Leben jenseits traditioneller Rollenmuster. 1 Die Thekla-Akten-- zur Quelle Die Thekla-Erzählung (ActThecl) war im frühen Christentum des Mittelmeerraumes weithin bekannt und geschätzt. Sie handelt von einer jungen Frau namens Thekla, die durch Paulus zum Glauben an Christus kommt und Paulus’ Predigt vom jungfräulichen und ehelosen Leben für sich entdeckt. In der Folge weigert sich Thekla, ihren Verlobten Thamyris zu heiraten und wird im Rahmen eines Prozesses, den Thamyris ursprünglich gegen Paulus angestrengt hatte, schließlich selbst zum Feuertod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Das rettende Eingreifen Gottes verhindert jedoch, dass Thekla etwas zustößt. Nach ihrer Rettung sucht und findet Thekla Paulus, bittet um die Taufe und kündigt an, mit ihm ziehen zu wollen. Paulus lehnt beides zunächst ab, doch in der nächsten Szene der Erzählung werden Thekla und Paulus gemeinsam bei ihrer Ankunft in Antiochia beschrieben. Hier gerät Thekla in Bedrängnis, weil ein hoher Beamter, Alexander, sie begehrt und auf offener Straße in Besitz nehmen will. Als Thekla sich gegen diesen Übergriff lautstark und handgreiflich wehrt, wird sie vor Gericht gestellt-- in einem Verfahren, das Alexander auf Grund einer falschen Anklage gegen sie anstrengt. Wiederum wird Thekla zum Tode verurteilt, dieses Mal zur Hinrichtung im Tierkampf. Eine Verwandte des Kaisers, Tryphaina, die ihre Tochter verloren hat, nimmt Thekla bis zum Tierkampf in ihrem Haus auf und tut alles, um zu verhindern, dass jemand der Verurteilten im Vorfeld der Hinrichtung Gewalt antut. Am Tag des Tierkampfs werden trotz des lautstarken Protests der Frauen der Stadt wilde Tiere auf Thekla losgelassen. Thekla wird, bis auf einen Schurz unbekleidet, in die Arena geschickt. Sie entkommt auch hier auf wunderbare Weise dem Tod und tauft sich unter Gottes Mitwirkung im Angesicht des nahen Todes im Robbenbecken mitten in der Arena. Als dem Statthalter und Alexander während des Hinrichtungsszenarios die Nachricht vom Tode Tryphainas überbracht wird, gibt der Statthalter Thekla aus Angst, dass der Tod der Verwandten des Kaisers für ihn negative Konsequenzen haben könnte, schließlich frei. Noch einmal wird erzählt, dass Thekla Paulus aufsucht, dieses Mal um ihm mitzuteilen, dass sie als missionarische Gotteslehrerin ihres Weges ziehen wird. In Seleukia, so endet die Erzählung, sei sie schließlich, nachdem sie als Gotteslehrerin gewirkt habe, eines sanften Todes gestorben. Die Thekla-Erzählung wird als Bestandteil der Paulus-Akten überliefert. 2 Sie gehört zu einem breiten Spektrum frühchristlicher Literatur, die keine Aufnahme in den Kanon des Neuen Testaments gefunden hat, aber ungeachtet dieser Tatsache eine unverzichtbare Quelle für die Rekonstruktion von Frauenerfahrungen im Spannungsfeld zwischen christlichem Gemeindeleben und hellenistisch-römischer Gesellschaft darstellt. Die so genannte apokryphe Literatur spiegelt darüber hinaus den Facettenreichtum frühchristlicher Theologie und bildet damit ein wertvolles Gegenüber zu den kanonisierten Schriften des Neuen Testaments. In Bezug auf die Thekla-Erzählung ist in der Forschung immer wieder die Frage nach der Historizität Theklas gestellt worden. Es lässt sich nicht ausschließen, dass eine reale Frau Ausgangspunkt der Erzählung ist, allerdings lässt sich dies auch nicht eindeutig nachweisen. 3 Für die Auseinandersetzung mit der Thekla- Erzählung, wie ich sie hier vornehme, ist die Frage nach der Historizität Theklas nicht von ausschlaggebender Bedeutung. In der Figur der Thekla verdichten sich die Lebenserfahrungen frühchristlicher Frauen im Kontext der Pax Romana, so dass zu fragen ist, welche theologischen Positionen in der erzählten Welt in Bezug auf das Geschlechterverhältnis, die Verfügungsmacht über den weiblichen Körper und weibliche Sexualität, in Bezug auf Gewalt gegen Frauen und Frauenwiderstand transportiert und inwiefern sich hier die Erfahrungswelt der ErzählerInnen, d. h. der sozialgeschichtliche Kontext der ActThecl, spiegelt. Beate Wehn Der weibliche Körper als Schau-Platz Über Macht und Machtverlust, sexualisierte Gewalt und Widerstand in denThekla-Akten Zum Thema Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 25 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 25 Beate Wehn Der weibliche Körper als Schau-Platz Sexualität und Macht in den ActThecl Wie oben skizziert, gerät Thekla zwei Mal in Situationen, in denen ein Mann- - zunächst ihr Verlobter Thamyris, dann ein Fremder namens Alexander-- die Verfügungsmacht über sie beansprucht und ihre Weigerung, sich dem zu fügen, nicht akzeptiert. Beide Male hat dies zur Folge, dass sich Thekla auf der Anklagebank wiederfindet, zum Tode verurteilt wird und öffentlich hingerichtet werden soll. Und beide Male geht es um weit mehr als um Privatangelegenheiten oder individuelle Konflikte zwischen einem Mann und einer Frau. Paulus‘ Predigt von der Ehefreiheit und der Heiligung der Körper In ActThecl 7 ff. wird Thekla als junge Frau, Tochter einer Mutter namens Theokleia und Verlobte des Thamyris in die Erzählung eingeführt. Damit ist das soziale Gefüge, in das Thekla integriert ist, fest umrissen. Thekla und Thamyris gehören außerdem zu angesehenen Familien der Stadt Ikonion, wie später betont wird. Für Thekla ist mit der in Aussicht stehenden Ehe mit Thamyris ein Leben als Ehefrau und Mutter im patriarchalen Haushalt vorgezeichnet. Dieses Gefüge des Haushalts ist mit unserem Begriff der Familie nicht deckungsgleich, da er neben dem Hausvater an der Spitze, der Ehefrau und den Kindern in hierarchischer Abstufung auch Sklavinnen und Sklaven und das Vieh umfasste. Dieses soziale Gefüge, basierend auf der Ehe zwischen Freien, wird in der griechischen wie auch römischen Literatur der Antike, z. B. bei Aristoteles und Cicero, als kleinste Einheit und Keimzelle des Staates bezeichnet. Ein gut geführtes Haus konnte einen freigeborenen Mann für höhere Aufgaben in der Stadtöffentlichkeit qualifizieren, während Fehlverhalten von Mitgliedern des Haushalts, insbesondere der Ehefrau oder des weiblichen Nachwuchses, das Ansehen des Hausvaters in der Stadtöffentlichkeit schmälerte, vor allem dann, wenn es in Verbindung mit einem Verhalten stand, das den guten Sitten-- insbesondere in sexueller Hinsicht-- zuwiderlief. Dies ist-- sehr kurz gefasst-- der Hintergrund für den Konflikt um Lebensformen und Glaubenspraxis im ersten Teil der ActThecl. Ausgangspunkt für die Veränderung, die Theklas Mutter Theokleia und Thamyris an ihrer Tochter bzw. Verlobten bemerken, ist eine Predigt des Paulus, die Thekla hört und die sie für den Glauben an Christus begeistert. Den Kern dieser Predigt bilden Seligpreisungen, die dazu auffordern, die herrschende Weltordnung zu verlassen, also zum Beispiel nicht zu heiraten, sondern ehefrei zu leben. 4 Das griechische Substantiv enkrateia, das hier Verwendung findet, enthält den Stamm krat- (Macht, Herrschaft) und meint die Macht, die jemand bei sich, über sich oder über etwas hat. Es bedeutet in erster Linie Selbst-Beherrschung, ferner Enthaltsamkeit, die häufig auf den Bereich der Sexualität bezogen wird. 5 Die Aufforderung zu einer solchen ehefreien Lebenspraxis-- die von Verheirateten durch den Verzicht auf Sexualität mit ihrem Ehepartner und von Unverheirateten durch den Verzicht auf eine Ehe praktiziert werden kann-- wird in den ActThecl mit einer Verheißung verknüpft: »Glücklich, die den Körper heilig bewahren, denn sie werden Tempel Gottes werden« (§ 5). In diesem Bild vom Körper als Tempel Gottes drücken sich die besondere Nähe der Glaubenden zu Gott und ihre uneingeschränkte Zugehörigkeit zum Machtbereich Gottes aus. Die Botschaft von der enkrateia hatte im frühen Christentum für Männer und Frauen jedoch unterschiedliche Bedeutung und Konsequenzen: Für einen verheirateten Mann bedeutete sie, das Verfügungsrecht über seine Frau, das auch den Körper und die Sexualität der Frau einschloss, aufzugeben. Für Frauen bedeutete sie hingegen, Dr. Beate Wehn, geb. 1970, studierte Ev. Theologie und Germanistik in Siegen und Kassel, Promotion über Gewalterfahrungen und Widerstand von Frauen in den Thekla-Akten (2005), unterrichtet Deutsch und Ev. Religion am Engelsburg-Gymnasium in Kassel und ist Mitarbeiterin in der Schulseelsorge. Beate Wehn »Im Kontext einer gesellschaftlichen Ordnung, in der die Ehe zwischen Freigeborenen eine zentrale Bedeutung hat, musste die Aufforderung des Paulus an Frauen und Männer, ehefrei zu leben, als Provokation und Politikum verstanden werden.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 26 - 4. Korrektur 26 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Zum Thema das Selbstverfügungsrecht über ihren Körper und ihre Sexualität zu erlangen. Folglich erlebten sie durch die ehefreie Lebenspraxis einen Zuwachs an Autonomie. Im Kontext einer gesellschaftlichen Ordnung, in der die Ehe zwischen Freigeborenen eine zentrale Bedeutung hat, musste die Aufforderung des Paulus an Frauen und Männer, ehefrei zu leben, als Provokation und Politikum verstanden werden. Der hier entstehende Konflikt zwischen den Normen und Traditionen der gesellschaftlichen Ordnung, insbesondere in Bezug auf das Geschlechterverhältnis, und der Praxis der Abkehr von genau diesen Normen und Traditionen in frühchristlichen Lebens- und Glaubenszusammenhängen wird nun in den ActThecl am Beispiel Theklas thematisiert. Das Private wird politisch-- Eheverweigerung als Anfrage an die gesellschaftliche Ordnung Indem Thekla sich zu dem Glauben, den Paulus im Nachbarhaus verkündigt, hingezogen fühlt und sich fortan den Erwartungen ihrer Mutter und ihres Verlobten verweigert, wird das nur vordergründig Private zum Politikum: In Theokleias und Thamyris‘ Augen verhält Thekla sich schamlos, d. h. sie lässt mit ihrer Begeisterung für die Predigt des fremden Mannes Paulus die von einer (verlobten) Jungfrau erwartete Zurückhaltung vermissen. Thamyris sieht sich durch Paulus gar seiner Braut »beraubt«. Für Thamyris droht, wenn es bei Theklas Begeisterung für ein ehefreies Leben bleibt, ein massiver Verlust an öffentlichem Ansehen. Thamyris schafft es in der Folge, Paulus vor den Statthalter zu bringen und anzuklagen. Der zentrale Vorwurf, der Paulus hier und in der Folge gemacht wird, bezieht sich immer auf seine Lehre von der Ehefreiheit, die Thamyris als für sich persönlich, aber auch für die Stadt als bedrohlich empfindet: »Du verdirbst die Stadt der IkonierInnen und auch meine Verlobte, dass sie mich nicht mehr will.« (§ 15) Paulus wird vom Statthalter zunächst ins Gefängnis gesteckt, wo Thekla ihn nachts besucht und von ihren Angehörigen zu Paulus‘ Füßen sitzend gefunden wird. In der Erzählung markiert Theklas nächtlicher Alleingang ihre neue Bindung an den Glauben, den Paulus verkündigt hat, und an ihn. Für ihre Angehörigen ist diese Grenzüberschreitung Theklas-- sie sehen sie als »mitgefesselt aus Liebe« (§ 19)-- Anlass, sofort vor den Statthalter zu ziehen. Im Zuge des Prozesses, der zunächst nur Paulus galt, wird nun auch Thekla vom Statthalter verhört: »Weswegen heiratest du Thamyris nicht nach der Sitte der IkonierInnen? « (§ 20). Wie zuvor gegenüber ihrer Mutter und ihrem Verlobten schweigt Thekla, so dass ihre Mutter fordert: »Verbrenne die Gesetzlose, verbrenne, die die Ehe verweigert, in der Mitte des Theaters, damit alle Frauen, die von diesem [sc. Paulus] belehrt wurden, Furcht bekommen! « (§ 20). In der erzählten Welt ist es Theklas eigene Mutter, die mit großer Härte und Unerbittlichkeit für das Festhalten an der traditionellen gesellschaftlichen Ordnung plädiert und damit deutlich macht, dass es hier nicht nur um einen privaten Beziehungskonflikt geht. Während Paulus nur aus der Stadt verbannt wird, verurteilt der Statthalter Thekla zum Verbrennungstod, der sogleich erfolgen soll. Junge Männer und Jungfrauen der Stadt müssen den Scheiterhaufen für Thekla in der Arena herrichten, bevor diese nackt dem Feuer und den Blicken der anwesenden Stadtöffentlichkeit preisgegeben wird. Damit wird Theklas Körper nun im Wortsinn Schau-Platz des Kampfes um die Verfügungsmacht über sie, ihr Leben und ihren Körper. Ihr Verhalten, das im Rahmen antiker Geschlechterrollenkonstruktionen von ihrer Mutter und ihrem Verlobten als scham- und gesetzlos wahrgenommen worden war, soll hier durch eine öffentliche Beschämung und Entwürdigung sanktioniert werden und Nachahmerinnen abschrecken. Die öffentliche Hinrichtung ist so auch als Machtdemonstration der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung gedacht. Die erzählende Instanz gibt hier allerdings den Blick auf Thekla nicht durch voyeuristische Blicke von Zuschauenden frei, sondern schildert, wie der Statthalter Thekla wahrnimmt: Er, der Thekla zum Tode verurteilt hat, weint bei ihrem Anblick und angesichts der Kraft, Macht und Stärke (gr. dynamis), die Thekla ausstrahlt. Dies ist eine starke narrative Strategie, erklärt sie doch das Ansinnen des Statthalters, Thekla zu entwürdigen, zumindest im Hinblick auf diesen als gescheitert. Der in diesem Zusammenhang verwendete Begriff der dynamis bezieht sich nicht auf die äußere Erscheinung Theklas, sondern bedeutet in diesem Kontext, dass Thekla die Gegenwart Gottes ausstrahlt. Ihr Wunsch, ehefrei zu leben, wird von der erzählenden Instanz legitimiert, was dadurch verstärkt wird, dass Thekla anschließend durch Gottes Eingreifen vom Verbrennungstod gerettet wird. Theologisch bedeutsam ist zudem, dass Thekla, bevor sie auf den Scheiterhaufen steigt, so heißt es in § 22, mit ihrem Körper ein Kreuz darstellt. Unter Rückgriff auf ähnliche Zeugnisse aus den Märtyrer- Akten lässt sich dies als Bekenntnis und Protest gleichermaßen verstehen: Mitten im Theater bekennt sich Thekla mit ihrem Körper-- das ist die einzige Sprache, die ihr geblieben ist-- selbstbewusst zu Jesus aus Nazaret, den der römische Statthalter Pontius Pilatus kreu- Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 27 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 27 Beate Wehn Der weibliche Körper als Schau-Platz zigen ließ. Mit der für alle sichtbaren Verletzlichkeit ihres entblößten Körpers verweist sie auf ein anderes Unrecht, den gewaltsamen, qualvollen Tod Jesu und gewinnt damit auch die Deutungsmacht über das Geschehen zurück. 6 »Vergewaltige nicht die Sklavin Gottes! «-- Gewalt und Widerstand in Antiochia Die zweite Situation, in der ein Mann Anspruch auf Thekla erhebt, findet sich in ActThecl 26 ff. Thekla erscheint dort nach ihrer Rettung und Wiederbegegnung mit Paulus als dessen Begleiterin. Ihre Ankunft in Antiochia wird wie folgt erzählt: »(26) b Gleich bei ihrer Ankunft erblickte ein Syrer namens Alexander Thekla, und er begehrte sie. c Und er bat Paulus mit Geld und Geschenken. d Paulus antwortete: ›Ich kenne die Frau nicht, von der du sprichst, sie ist nicht mein.‹ e Weil er (Alexander) ein sehr mächtiger Mann war, umschlang er sie auf offener Straße. f Sie aber duldete es nicht, sondern suchte Paulus. g Und sie schrie bitterlich und rief: ›Vergewaltige nicht die Fremde, vergewaltige nicht die Sklavin Gottes! Ich bin die Erste der IkonierInnen, doch weil ich Thamyris nicht heiraten wollte, bin ich aus der Stadt vertrieben! ‹ e Und sie ergriff Alexander, zerriss sein Amtsgewand, riss ihm den Ehrenkranz von seinem Kopf und machte ihn zum Gespött. (27) a Weil er sie aber liebte und gleichzeitig beschämt worden war durch das, was ihm geschehen war, führte er sie zum Statthalter. b Und da jene zugab, dies getan zu haben, verurteilte dieser sie zu den wilden Tieren.« Alexanders Verhalten, als er Thekla sieht, sie begehrt und über Paulus an sie heranzukommen versucht, entspricht der gängigen antiken Logik, nach der Frauen in der Regel einer männlichen Person zu- oder auch untergeordnet sind- - sei es, dass sie unter der Verfügungsgewalt des Vaters, des Ehemannes oder auch eines Vormundes stehen. Welches Verhältnis Alexander zwischen Paulus und Thekla vermutet, bleibt unklar. Wichtig ist, dass Alexander durch seine Vorgehensweise absteckt, ob Thekla Paulus zugeordnet ist oder nicht. Geld und Geschenke, die er dabei einsetzt, zeigen ihn als wohlhabenden Mann. Weichenstellend ist nun, dass Paulus sowohl leugnet, Thekla zu kennen, als auch, dass ein Zuordnungsverhältnis zu ihr besteht. Damit geht er als Ortsfremder in Antiochia, der hier über kein schützendes soziales Netzwerk verfügt, potenziellen Schwierigkeiten aus dem Weg. Auch wenn Paulus in Bezug auf das nicht vorhandene Zuordnungsverhältnis zu Thekla die Wahrheit sagt, bedeutet dies für Thekla, dass sie damit Alexander ausgeliefert ist. Dieser wird nicht nur als wohlhabend, sondern auch als mächtig charakterisiert. Er trägt ein Amtsgewand und einen Ehrenkranz auf dem Kopf. Später wird er auch als Ausrichter des Tierkampfes, zu dem Thekla verurteilt wird, bezeichnet (vgl. ActThecl 30). Die erzählende Instanz betont hier das Machtgefälle zwischen Alexander und Thekla: auf der einen Seite der mächtige, in der Stadtöffentlichkeit angesehene Mann Alexander, auf der anderen Seite die ortsfremde junge Frau Thekla, die noch dazu auf sich allein gestellt ist und nicht auf den Schutz eines männlichen Verwandten oder einer Familie zurückgreifen kann. Alexanders Übergriff ist nun als Versuch zu sehen, Thekla in Besitz zu nehmen. Nach römischem Recht erfüllt Alexanders Übergriff mindestens den Tatbestand des stuprum per vim (»Unzucht durch/ mit Gewalt«), denn es handelt sich eindeutig um den Versuch, Thekla den sexuellen Kontakt ungeachtet ihres eigenen Willens mit physischer Kraft aufzuzwingen. 7 Während Alexanders Übergriff in einem Satz geschildert wird, gilt die zweite Hälfte von ActThecl 26 dem Versuch Theklas, sich gegen Alexanders Übergriff zu wehren. Dies tut sie, indem sie hilfesuchend nach Paulus Ausschau hält, schreiend protestiert und schließlich handgreiflich gegenüber Alexander wird. Ihre Notsituation wird dabei unmittelbar deutlich. Zunächst zeigt Theklas suchender Blick, dass Paulus nicht nur nicht zu Hilfe kommt, sondern gar nicht mehr in der Nähe zu sein scheint. Die neuerliche »Prüfung«, vor der er bei ihrer Wiederbegegnung Thekla gewarnt hatte, hat er nicht nur selbst mit verursacht, sondern er selbst ist es auch, der nicht standhält, weil er sich einem möglichen Konflikt mit Alexander, zu dem sein Eintreten für Thekla hätte führen können, entzieht. In der Art und Weise, wie Paulus’ Warnung und sein Verhalten in Antiochia innerhalb weniger Zeilen aufeinander bezogen werden, liegt eine deutliche Kritik, die Luise Schottroff bereits treffend formuliert hat: »Aus der Theklalegende spricht viel Zorn christlicher Frauen gegen christliche Männer, die Jungfräulichkeit predigen, aber die Gewalt gegen Frauen feige zulassen oder sogar unkritisch akzeptieren.« 8 Die alleingelassene Thekla geht nun zum lautstarken verbalen Protest über. Ihr Schreien kennzeichnet den Beginn eines massiven Frauenwiderstands in Antiochia, der sich durch ActThecl 26-39 zieht. Theklas Worte sind in vieler Hinsicht bedeutsam. Thekla bezeichnet »Aus der Theklalegende spricht viel Zorn christlicher Frauen gegen christliche Männer, die Jungfräulichkeit predigen, aber die Gewalt gegen Frauen feige zulassen oder sogar unkritisch akzeptieren.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 28 - 4. Korrektur 28 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Zum Thema das, was Alexander ihr anzutun im Begriff ist, mit dem Verb biazomai, das zunächst ganz allgemein Gewalt anwenden bedeutet. Im Kontext von ActThecl 26 ist diese Gewalt auf dem Hintergrund von Alexanders Begehren und seinem körperlichen Übergriff eindeutig als sexualisiert zu bezeichnen. Daher ist die Übersetzung des zwei Mal in Folge von Thekla verwendeten Verbs mit vergewaltigen nicht nur gerechtfertigt, sondern für eine präzise Beschreibung des Geschehens unerlässlich. 9 In Theklas Protest kommt zudem die ganze Spannung zum Ausdruck, die ihre Existenz prägt, als sie auf der Straße von Antiochia vergewaltigt zu werden droht: Dafür werden die Begriffspaare Fremde ↔ Sklavin Gottes und Erste der IkonierInnen ↔ aus der Stadt verbannt verwendet. Nach Paulus’ Weggang ist Thekla als ortsfremde junge Frau allein auf sich gestellt, schutzlos und dadurch in besonderer Weise gefährdet. 10 Sie verfügt über kein schützendes Beziehungsnetzwerk. Dem steht allerdings die Selbstbezeichnung als Sklavin Gottes gegenüber, die im Neuen Testament nur noch in Lk 1,38 von Maria verwendet wird, um ihre Gottesbeziehung auszudrücken. Das Bild, das dem Herr-Sklavin-Verhältnis zu Grunde liegt, ist zunächst ein patriarchales Bild, in dem sich Freiheit und Unfreiheit, Herrschaft und Unterordnung, Macht und Machtlosigkeit, Befehlsgewalt und Ausgeliefertsein gegenüberstehen. Das Herr-Sklavin-Verhältnis ist ein Eigentumsverhältnis, da SklavInnen grundsätzlich nicht sich selbst, sondern ihren HerrInnen gehören. Im römischen Recht zeigt sich dies darin, dass Delikte gegen SklavInnen in die Nähe der Sachbeschädigung gerückt werden und SklavInnen gegenüber ihren eigenen HerrInnen nur wenig geschützt sind. 11 Der Spielraum dessen, was als gesellschaftlich und juristisch erlaubt im Umgang mit SklavInnen gilt, ist weit und reicht von körperlichen Züchtigungen bis zur sexuellen Ausbeutung. 12 Von diesem sozialgeschichtlichen Befund aus ist für ActThecl 26 und im Anschluss an Lk 1,38 mit Jane Schaberg zu fragen, ob mit der Bezeichnung Sklavin Gottes eine auf Unterwerfung ausgerichtete Frauenrolle, die Akzeptanz einer patriarchalen Überzeugung von der weiblichen Inferiorität, Abhängigkeit und Hilflosigkeit manifestiert und transportiert werden. 13 Jane Schaberg verneint dies in Bezug auf Maria in Lk 1,38.48. 14 Sie findet die religiöse Verwendung der SklavInnen-Terminologie bereits im Heiligkeitsgesetz in Lev 25,42 angelegt. Dort spreche Gott von den IsraelitInnen als seinen SklavInnen, die er aus der ägyptischen Sklaverei befreit habe und die deshalb nicht mehr als SklavInnen verkauft werden sollen: »The paradox is a strange one: the God who sets slaves free, frees them to be slaves to God. There is an enslavement to the God who liberates slaves. But of fundamental importance here for real social revolution are the insights that each person among the people of Israel was originally a slave who had been set free; and the real ›ruler‹ is one who frees the oppressed and yet is a servant.« 15 Auf dieser Linie liegt auch die Verwendung der SklavInnen-Terminologie in Lk 1. 38. 48 und bekommt eine positive Bedeutung, die noch dadurch unterstrichen wird, dass Maria sich, wenn sie sich als Sklavin Gottes bezeichnet, in eine Reihe mit herausragenden SklavInnen Gottes in der Hebräischen Bibel stellt: Mose, Josua, Abraham, David, Isaak, den Propheten und Hanna. Sklavin Gottes zu sein, so Schaberg, sei hier ein Ehrentitel für solche Personen, die sich selbst Gott ganz anvertraut und verpflichtet hätten. 16 Lk 1,38.48 sei außerdem verknüpft mit dem Zitat von Joël 3,1-2 in Apg 2,17 f., in dem es heißt: »auch auf meine Sklaven und auf meine Sklavinnen werde ich in jenen Tagen meine Geistkraft ausgießen, und sie werden weissagen.« Dieses- - prophetisch reden- - tue Maria in Lk 1,46- 55. 17 Die Selbstbezeichnung Marias als Sklavin Gottes ist im Kontext des Lukasevangeliums als Ausdruck ihrer Freiheit und ihres Mutes, sich ganz auf Gott einzulassen zu verstehen: »Wenn Maria sich Sklavin nennt, dann drückt sie damit ihr Wissen um die Konsequenzen, die ihr Weg für sie bedeuten wird, aus und trifft eine bewußte und aktive Entscheidung. Sie tritt als handelndes Subjekt in die Heilsgeschichte Gottes ein« 18 . Dies kann auch auf Thekla übertragen werden, und ihre Selbstidentifikation als Sklavin Gottes in ist möglicherweise eine absichtsvolle Anspielung auf Lk 1,38.48 als Ausdruck der besonderen Qualität der Beziehung zwischen Thekla und Gott. 19 Auf einer zweiten Ebene treffen hier Alexander als Repräsentant des imperialen oder eines lokalen Kults und Thekla als Repräsentantin ihres Gottes aufeinander. Diese Dimension der Erzählung wird bis ActThecl 39 immer wieder aufgenommen. Da Alexander auf Theklas verbalen Widerstand nicht reagiert, wehrt sich Thekla schließlich handgreiflich, indem sie Kranz und Amtsgewand, die äußeren Zeichen und Symbole, die Alexanders politisch-religiöse Funktion und seinen Status bzw. seine Macht für alle sichtbar kennzeichnen, herunterreißt bzw. zerstört. Angesichts der Bedeutung, die dem sozialen Status und politischen Rang entsprechende Kleidung in der Antike auch für Männer zukommt, zumal wenn es sich um hohe Amts- und Funktionsträger handelt, stellt dies eine gravierende öffentliche Demütigung dar: Alexander wird auf der Straße von Antiochia von einer Frau, die sich gegen ihn wehrt, zum Gespött gemacht. Juristisch Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 29 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 29 Beate Wehn Der weibliche Körper als Schau-Platz ist Theklas Widerstand Notwehr: »Der […]Vergewaltigung oder der Injurie gegenüber ist es wohl zulässig, Gewalt gegen Gewalt zu setzen« 20 , insbesondere auch »bei einem Angriff auf die Keuschheit einer Frau« 21 . Dass diese Notwehr bzw. der deutliche Widerstand gegen den Angreifer von ZeugInnen bestätigt werden konnte, ist im antiken Kontext von essentieller Bedeutung für die Chancen einer Frau, dass ihre-- oder ihrer Angehörigen-- Klage auf (versuchte) Vergewaltigung als solche anerkannt und ihr stattgegeben wurde. 22 Ein fragwürdiger Prozess und ein falsches Urteil ActThecl 27a zeigt, dass Thekla sich offenbar erfolgreich gegen Alexanders Übergriff wehren konnte, aber Alexander selbst nicht entkommen ist. Die erzählende Instanz geht allerdings nicht weiter auf Thekla ein, sondern schildert die innere Motivation, aus der heraus Alexander sofort einen Prozess gegen Thekla initiiert: Die in ActThecl 27a verwendeten sprachlichen Wendungen und grammatikalischen Formen geben Einblick in Alexanders Perspektive: Er sieht sich als Opfer, das beschämt worden und dem etwas geschehen ist. Das Verb aischynō (beschämen) im Passiv bedeutet vor allem entehrt werden und meint, im öffentlichen Ansehen, in der Würde angegriffen zu werden, die öffentliche Anerkennung für den eigenen sozialen Status und Rang zu verlieren. Da sich die Szene in ActThecl 26 auf offener Straße abgespielt hat, ist es wahrscheinlich, dass Alexanders Ansehen tatsächlich Schaden genommen hat. Der Bericht über die Initiierung des Prozesses und das Urteil beschränkt sich auf zwei knappe Sätze, innerhalb derer die Täter-Opfer-Konstellation vollständig umgedreht wird. Weil es heißt, dass Thekla »zugab, dies getan zu haben« (§ 27b), ist klar, dass vor Gericht der Vergewaltigungsversuch durch Alexander gar nicht zur Debatte steht. Eine Verkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses erscheint nämlich nur dann möglich, wenn Alexander seinen Übergriff auf Thekla verschweigt und stattdessen Theklas in Notwehr ausgeübten Widerstand in einen Angriff umdeutet. Für einen einheimischen Mann in einer unstrittig gehobenen Position innerhalb der Stadtbzw. Provinzialhierarchie-- mutmaßlich mit Verbindungen zum Statthalter- - ist dies historisch keineswegs abwegig, 23 zumal wenn die Angeklagte eine ortsfremde Frau ohne hilfreiche Verbindungen in der Stadt ist. Dass es in § 27b lediglich um Theklas ›Geständnis‹ geht und unmittelbar darauf das verhängte Strafmaß berichtet wird, kann als deutliche Kritik am Inhalt des Prozesses und der Urteilsfindung verstanden werden. Das Delikt, dessen der Statthalter aus Alexanders Anklage heraus Thekla für schuldig befunden hat, wird erst in § 28c als Tempelschändung bezeichnet. Da Alexander von der erzählenden Instanz als hoher Beamter in politisch-religiöser Funktion dargestellt wird, erklärt sich diese (falsche) Anklage als iniuria gegen einen Repräsentanten der römischen Herrschaft-- symbolisiert z. B. durch eine Büstenkrone mit Götter- und Kaiserköpfen-- und das ist eine Form des Sakrilegs, der Tempelschändung. Bei einem solchen Delikt lautet das Urteil häufig Tod durch Volksfesthinrichtung, d. h. Tierkampf. Macht-Spiele, Gewalt und Widerstand in Antiochia Thekla wird nach der Urteilsverkündung an eine Löwin gebunden in einem Umzug durch die Stadt geführt-- eine Machtdemonstration Alexanders, die allerdings vom Protestgeschrei der Frauen Antiochias begleitet wird. Bis zur Hinrichtung im Tierkampf nimmt sich Tryphaina, die Verwandte des Kaisers, Theklas an und bewahrt sie damit vor weiteren sexuellen Übergriffen in der Exekutionshaft. Dass solche Übergriffe bis hin zur Einstellung von Verurteilten ins Bordell durchaus üblich waren, belegen die zahlreichen Hinweise in zeitgenössischen Quellen, z. B. in den Märtyrer-Akten. 24 Tryphaina gibt Thekla selbst am Tag der Hinrichtung nicht heraus-- weder an die Soldaten des Statthalters noch an Alexander, den Veranstalter des Tierkampfes selbst- -, sondern bewahrt Thekla dadurch, dass sie sie selbst zur Arena geleitet, vor möglichen Gewalttaten im Vorfeld des Tierkampfes, den auch Tryphaina nicht verhindern kann. Auffallend ist, dass das Unrecht, das Thekla in Antiochia widerfährt, von der erzählenden Instanz vom Prozess gegen Thekla an mit dem Widerstandsgeschrei der Frauen Antiochias gleichsam unterlegt wird und dadurch eine eindeutige und durchgehende Verurteilung erfährt. Dies setzt sich auch fort, wenn von Theklas öffentlicher Hinrichtung im Tierkampf erzählt wird. Wie bereits zuvor in Ikonion wird Thekla auch für den Tierkampf entkleidet und nur mit einem Schurz bekleidet den wilden Tieren ausgesetzt, die nun auf sie losgelassen werden und sie töten sollen. Auch in Antiochia soll Theklas Weigerung, sich dem Verfügungsanspruch eines Mannes zu unterwerfen, der sie begehrt, »Der Bericht über die Initiierung des Prozesses und das Urteil beschränkt sich auf zwei knappe Sätze, innerhalb derer die Täter-Opfer-Konstellation vollständig umgedreht wird.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 30 - 4. Korrektur 30 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Zum Thema mit öffentlicher Beschämung und Degradierung zu einer Person, die keine Würde mehr hat, beantwortet werden. In Antiochia erfährt Thekla allerdings durch den verbalen und tätigen Widerstand der Frauen der Stadt, die versuchen, die Tiere in der Arena mit Hilfe wohlriechender Kräuter zu betäuben, und durch den Schutz, den ihr Tryphaina gewährt, eine große Solidarität. Auch die erneute Rettung durch Gottes Eingreifen-- er schickt z. B. eine Feuerwolke, die Thekla vor den wilden Tieren schützt und den Blicken des Publikums entzieht-- macht deutlich, dass die erzählende Instanz auf der Seite Theklas steht und das, was ihr an Unrecht widerfährt, als solches eindeutig kritisiert und verurteilt wird. Alexander und der Statthalter, die letztlich ihr Vorhaben, Thekla hinzurichten, erst aufgeben, als die Nachricht von Tryphainas Tod sie fürchten lässt, dass ihr Tun negative Konsequenzen für sie selbst haben könnte, erscheinen damit am Ende als eher schwach und in ihrer Macht begrenzt. »(37) a Der Statthalter rief Thekla mitten aus den Tieren heraus und fragte sie: ›Wer bist du? Und was ist um dich, dass dich keines der Tiere angerührt hat? ‹ b Diese antwortete: ›Ich bin des lebendigen Gottes Sklavin. c Das ist um mich: Ich habe an den geglaubt, an dem Gott sein Wohlgefallen hatte-- seinen Sohn. d Um seinetwillen hat mich keines der Tiere angerührt. e Dieser allein ist das Wegzeichen der Rettung und die Grundlage unsterblichen Lebens. f Den vom Sturm Geplagten ist er Zufluchtsort, den Gequälten ist er Linderung, den Verzweifelten (ist er) Schutz, und überhaupt: g Wer an ihn nicht glaubt, wird nicht leben, sondern tot sein für immer.‹ (38) a Als dies der Statthalter hörte, befahl er, Kleider zu bringen und sprach: ›Zieh diese Kleider an! ‹ b Sie antwortete: ›Der mich bekleidet hat, als ich nackt zwischen den Tieren war, wird mich am Tag des Gerichts/ der Gerechtigkeit mit Rettung/ Wohlergehen bekleiden.‹ c Und sie nahm die Kleider und zog sie an. d Und sofort gab der Statthalter eine Verfügung heraus, indem er sagte: ›Thekla, die gottesfürchtige Sklavin Gottes, gebe ich euch frei.‹ e Und alle Frauen schrien mit lauter Stimme und wie aus einem Munde und lobten Gott mit den Worten: ›Einer ist Gott, der Thekla gerettet hat! ‹, so dass von den Stimmen die ganze Stadt erschüttert wurde.« Der Freispruch Theklas durch den Statthalter in Verbindung mit der Aufforderung, ihr Kleidung zukommen zu lassen, ist als Rehabilitation der zuvor ihrer Würde Beraubten zu verstehen. In einem gesellschaftlichen Gefüge, in dem die angemessene Kleidung-- vor allem in der Öffentlichkeit-- einen wesentlichen Beitrag zur Würde einer Person leistet, kommt dem Befehl des Statthalters eine wichtige Funktion zur Wiederherstellung von Theklas Status als ehrbarer Frau zu. Der Freispruch des Statthalters enthält außerdem die Anerkennung des Gottes, als dessen Sklavin sich Thekla jetzt bezeichnet und zuvor bei Alexanders Übergriff bekannt hat. Sexualität und Macht in den ActThecl-- Fazit Die ActThecl thematisieren den Zusammenhang von Sexualität und Macht im Geschlechterverhältnis vor allem im Zusammenhang von Theklas Eheverweigerung und dem Übergriff des Alexander. Auch wenn die Situationen in Ikonion und Antiochia durchaus unterschiedlich sind, weisen sie Parallelen auf, die erkennen lassen, dass hier auf strukturelle Probleme im gesellschaftlichen Gefüge hingewiesen wird: 1) Problematisiert wird am Beispiel Theklas das herrschende Geschlechterverhältnis, das für Frauen die Zu- und Unterordnung unter die Interessen des (Ehe-)Mannes vorsieht und alternative Lebensformen jenseits der patriarchalen Ehe für Frauen nicht toleriert. Fällt eine Frau aus dem patriarchalen familiären Zusammenhang heraus, ist sie in der Öffentlichkeit weitgehend ungeschützt. 2) Widerstand gegen die Interessen und das Begehren eines Mannes-- sei er Verlobter oder auch ein Fremder- - wird von diesem unter bestimmten Bedingungen als öffentliche Beschämung und Ehrverlust wahrgenommen, der dann auch öffentlich sanktioniert werden muss. Scheinbar private Beziehungskonflikte erweisen sich als gesellschaftspolitisch relevante Auseinandersetzungen um die gesellschaftliche Grundordnung. In den ActThecl scheitern die Ankläger Theklas letztlich mit ihrem Bestreben, die gesellschaftliche Ordnung bzw. ihre Ehre als Männer wiederherzustellen. 3) Die öffentliche Zurschaustellung des Körpers in Hinrichtungsszenarien ist Bestandteil der antiken Bestrafungsriten und symbolisiert sowohl die Schutzlosigkeit der Verurteilten als auch ihren Ehrverlust. In einer Gesellschaft, in der angemessener Kleidung insbesondere von Frauen eine hohe Bedeutung zukommt, ist die Entblößung des »Problematisiert wird am Beispiel Theklas das herrschende Geschlechterverhältnis, das für Frauen die Zu- und Unterordnung unter die Interessen des (Ehe-)Mannes vorsieht und alternative Lebensformen jenseits der patriarchalen Ehe für Frauen nicht toleriert.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 31 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 31 Beate Wehn Der weibliche Körper als Schau-Platz weiblichen Körpers vor der Öffentlichkeit eine besonders gravierende Sanktion und muss als Form der sexualisierten Gewalt bezeichnet werden. 4) Die frühchristliche Predigt und Praxis der Ehefreiheit bedeutet für Frauen zwar einen Zuwachs an Autonomie und Selbstbestimmung, aber bedeutet insbesondere für unverheiratete Jungfrauen auch eine erhöhte Gefährdung in der Öffentlichkeit, zumal dann, wenn die Solidarität der Glaubensgeschwister ausbleibt, wie hier im Fall des Paulus. Die Macht der Gewalt durchbrechen-- zur theologischen Bedeutung der ActThecl Die Menschen, die im frühen Christentum Theklas Geschichte tradieren, erzählen von einer Frau, die wiederholt von Gewalt(tätern) bedroht und betroffen ist, deren Körper im wahrsten Sinne des Wortes zum »Schau-Platz« wird für das Ringen um die Macht über das eigene Leben, die eigene Sexualität, und die an der Schwelle des Todes zwei Mal auf wundersame Weise gerettet wird. Diese Rettungswunder auf der Ebene der erzählten Welt stehen in Spannung zu den realen Erfahrungen der frühchristlichen ErzählerInnen, denn Frauen und Männer, die in den Arenen des römischen Reiches landeten, überlebten diese Hinrichtungsspektakel mehrheitlich nicht, sondern starben qualvolle Tode an Kreuzen, auf Scheiterhaufen und in Tierkämpfen. Die dargestellten Konflikte um die Verfügungsmacht über Thekla, ihre Sexualität, ihren Körper und ihr Leben bis hin zur Gewalt und die Analyse dieser Gewalt durch die erzählende Instanz in den ActThecl lassen sich vor dem Hintergrund ihres sozialgeschichtlichen Kontextes als äußerst realitätsnahe Verdichtung von Frauenerfahrungen verstehen. Deutlich auf die Realität rekurrierend, wird Gewalt gegen Frauen in den ActThecl als im patriarchal strukturierten Geschlechterverhältnis angelegt entlarvt und als politisch brisantes Thema dargestellt. Ebenso deutlich wird mit der Art der Darstellung des Paulus auch Kritik an frühchristlichen Männern laut, die die ehefreie Lebensweise für Frauen und Männer propagieren, aber weiterhin gängige Vorurteile über das Wesen von Frauen reproduzieren bzw. durch mangelnde Solidarität zu Mittätern an Gewalt gegen diejenigen Frauen werden, die ihre Schwestern im Glauben sind. Gleichzeitig schildert die Erzählung, wie die in der Realität zumeist unumkehrbare Gewaltdynamik, die dort- - allem Widerstand zum Trotz- - zum sicheren Tod führt, mehrfach durch das Eingreifen Gottes, den Widerstand Theklas, das Handeln von Frauen und auch eines Tieres durchbrochen wird, so dass Thekla dem Tod auf dem Scheiterhaufen, einer Vergewaltigung und dem Tod im Tierkampf entkommt. Diese Spannung innerhalb der ActThecl und zwischen der Erzählung und der Welt ihrer zeitgenössischen ErzählerInnen betrachte ich als den Schlüssel zum Verständnis der ActThecl als einer Geschichte, die die widerständige Sehnsucht nach dem Ende von Gewalt ausdrückt und die Hoffnung am Leben hält, dass Gott und Menschen gemeinsam dazu beitragen müssen, die täglich gefährdete physische und psychische Integrität von Frauen und ihre immer wieder von Gewalttätern in Frage gestellte Würde zu bewahren. Die ErzählerInnen der ActThecl erzählen Theklas Geschichte auch in Erinnerung an die, die nicht davongekommen sind und auch in der Gegenwart nicht davonkommen-- und sie erzählen sie um ihres eigenen Überlebens willen. Ivone Gebara drückt diese Verbindung aus, die zwischen denen besteht, die davonkommen und denen, die nicht überleben: »Die Toten sind Verbündete in der Geschichte unserer Kämpfe für Gerechtigkeit, Gleichheit, Recht auf Wohnung und Land. Die Toten sind unsere Verbündeten in den Tragödien, die wir heute erleben. Ihre zum Schweigen gebrachte Stimme schreit in uns weiter, die erlebte und erlittene Gewalt wiederholt sich in gewisser Weise weiterhin in uns, ebenso wie das gerechte Anliegen von Toten auch unser Anliegen ist. […] Die Gemeinschaft zwischen denen, die aus dem alltäglichen Zusammenleben in unserer Geschichte weggegangen sind, und denen, welche noch hier sind, verbindet die Erinnerung mit der Hoffnung als Momente ein und desselben Prozesses, in dem wir uns alle begegnen. Sie zeigt den Zusammenhang zwischen den Kämpfen der Vergangenheit und den Kämpfen der Gegenwart, die Ausdrucksformen desselben Wunsches nach Gerechtigkeit und Würde sind.« 25 Die Botschaft der ActThecl ist zudem, dass der Widerstand von Frauen gegen Gewalt, die sich gegen sie selbst oder gegen andere richtet, und das Bestreben, gewaltförmigen Beziehungen zu entfliehen, legitim und von Gott gewollt sind. In den ActThecl wird die Frage, auf welcher Seite Gott steht, klar zu Gunsten der Opfer und Überlebenden beantwortet. Für diejenigen, die Opfer von Gewalt werden, erwächst daraus die Hoffnung auf Überleben und Befreiung, für die ZeugInnen der Wahrheit die Verpflichtung, zu schreien und zu handeln, bis diese Befreiung realisiert ist. Den TäterInnen »Deutlich auf die Realität rekurrierend wird Gewalt gegen Frauen in den ActThecl als im patriarchal strukturierten Geschlechterverhältnis angelegt entlarvt und als politisch brisantes Thema dargestellt.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 32 - 4. Korrektur 32 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Zum Thema führt die Erzählung vor Augen, dass ihre Macht begrenzt ist, wenn Gott und Menschen sich im Kampf um die Überwindung von Gewalttätern und Gewaltstrukturen verbinden. »Die Erinnerung an die Vergangenheit kann gefährliche Einsichten aufkommen lassen, und die etablierte Gesellschaft scheint die subversiven Inhalte des Gedächtnisses zu fürchten. Das Erinnern ist eine Weise, sich von den gegebenen Tatsachen abzulösen, eine Weise der ›Vermittlung‹, die für kurze Augenblicke die Macht der gegebenen Tatsachen durchbricht. Das Gedächtnis ruft vergangenen Schrecken wie vergangene Hoffnung in die Erinnerung zurück. Beide werden wieder lebendig.« 26 An die vergangenen Schrecken und Hoffnungen zu erinnern, die in der Geschichte über Thekla als verdichtete Auseinandersetzung mit den realen Erfahrungen von Frauen am Anfang der Geschichte des Christentums zur Sprache gebracht werden, ist notwendig und nährend im Ringen darum, der »Macht der gegebenen Tatsachen« in der Gegenwart zu trotzen. Anmerkungen 1 Grundlage hierfür sind die Ergebnisse meiner Dissertation, vgl. B. Wehn, »Vergewaltige nicht die Sklavin Gottes! «. Gewalterfahrungen und Widerstand von Frauen in den frühchristlichen Thekla-Akten, Königstein/ Ts. 2006, 48 ff. Um auf Fußnoten weitgehend verzichten zu können, nutze ich sie im Folgenden im Wesentlichen dort, wo ich mich auf andere als meine eigenen Forschungsergebnisse beziehe. Meine Übersetzung der Thekla-Akten ist auf der Homepage der ZNT zugänglich: www.zntonline.de. 2 Für ausführlichere Angaben zum hier skizzierten Entstehungskontext der ActThecl vgl. Wehn, Thekla-Akten. 3 Vgl. W. Schneemelcher, Paulusakten, in: Ders. (Hg.), Neutestamentliche Apokryphen II: Apostolisches, Apokalypsen und Verwandtes, Tübingen 6 1997, 193-241: 193 ff., und A. Jensen, Thekla-- die Apostolin. Ein apokrypher Text neu entdeckt, Freiburg/ Basel/ Wien 1995. 4 Vgl. auch Beate Wehn, »Selig die Körper der Jungfräulichen«-- Überlegungen zum Paulusbild der Thekla-Akten, in: C. Janssen; L. Schottroff; B. Wehn (Hg.), Paulus. Umstrittene Traditionen-- lebendige Theologie. Eine feministische Lektüre, Gütersloh 2001, 182-198. Zur Ehefreiheit vgl. grundlegend L. Sutter Rehmann, »Und ihr werdet ohne Sorge sein …« Gedanken zum Phänomen der Ehefreiheit im frühen Christentum, in: D. Sölle (Hg.), Für Gerechtigkeit streiten. Theologie im Alltag einer bedrohten Welt, Gütersloh 1994, 88-95. 5 Vgl. Wehn, Thekla-Akten, 70 ff. Dort auch Ausführungen zu den Parallelen zwischen der Predigt des Paulus in den ActThecl und den Äußerungen des historischen Paulus u. a. in den Briefen an die Gemeinde in Korinth. 6 Vgl. zu den Parallelen zwischen den ActThecl und der Passion Jesu Wehn, Thekla-Akten, 304 ff. 7 Vgl. ausführlich zum Verständnis von Gewalt gegen Frauen in römischen Rechtsquellen Wehn, Thekla-Akten, 203 ff. 8 Luise Schottroff, »Ich kenne die Frau nicht…, sie ist auch nicht mein«. Die zwei Gesichter des Paulus, in: R. Jost/ U. Kubera (Hgg.), Wie Theologen Frauen sehen-- von der Macht der Bilder, Freiburg/ Basel/ Wien 1993, 12. 9 In der Bedeutung vergewaltigen wird das Verb biazomai z. B. in Dtn 22,25.28, in Est 7,8 und auch in SusLXX 21 gebraucht. Vgl. auch G. Doblhofer, Vergewaltigung in der Antike, Stuttgart/ Leipzig 1994. 10 Nicht umsonst gehören die Fremden schon in der Hebräischen Bibel neben Witwen und Waisen zu den Bevölkerungsgruppen, für die rechtliche Bestimmungen gelten sollen, die ihr Überleben sichern. Zur Gefährdung von Fremden vgl. exemplarisch Gen 19; Ri 19. 11 Vgl. Beate Wehn, »Geschunden die einen, und die anderen leben …« Über Herrschaft, Gewalt und Tod in einem christlichen Schreckenstext (Andreas-Akten 17-22), in: F. Crüsemann; M. Crüsemann; C. Janssen; R. Kessler u. B. Wehn (Hg.), Dem Tod nicht glauben. Sozialgeschichte der Bibel, Gütersloh 2004, 465-487. Vgl. Th. Mommsen, Römisches Strafrecht, 2. Neudruck der Ausg. 1899, Aalen 1990. 12 Vgl. J. Schaberg,The Illegitimacy of Jesus. A FeministTheological Interpretation of the Infancy Narratives, New York 1990, 136; Claudia Janssen, Maria und Elisabet singen… Das Magnificat im Kontext der Begegnung einer alten und einer jungen Frau (Evangelium nach Lukas 1,39-56), in: C. Janssen/ B. Wehn (Hgg.), Wie Freiheit entsteht. Sozialgeschichtliche Bibelauslegungen, Gütersloh 1999, 178-183, 179. 13 Vgl. Schaberg, Illegitimacy, 135 f.; Janssen, Maria und Elisabet, 179. 14 Für das Folgende vgl. Schaberg, Illegitimacy, 136. 15 Ebd. 136 f. 16 Vgl. ebd. 17 Vgl. ebd., 137 f. 18 Janssen, Maria und Elisabet, 179. 19 Anne Jensen merkt an, dass Thekla in der Christentumsgeschichte zunächst der Inbegriff für Jungfräulichkeit war, bevor sie von Maria als der Jungfrau-Mutter verdrängt worden sei (Thekla 110). 20 Mommsen, Römisches Strafrecht, 620 f.; vgl.auch ebd., 653.830. 21 Ebd., 621. 22 Vgl. dazu die Ausführungen in Wehn, Thekla-Akten, und J.F. Gardner, Frauen im antiken Rom. Familie, Alltag, Recht, München 1995, 122. 23 Vgl. ausführlich Wehn, Thekla-Akten, 120 ff. 24 Vgl. ebd., 217 ff. 25 I. Gebara, Erinnerungen an Zärtlichkeit und Schmerz-- Auferstehung vom Alltag des Lebens her denken. Eine feministische Perspektive aus Lateinamerika, in: L. Sutter Rehmann u.a. (Hg.), Sich dem Leben in die Arme werfen. Auferstehungserfahrungen, Gütersloh 2002, 32-52: 41. 26 H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch 117. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, München 4 2004. Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 33 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 33 Für Marie-Theres Wacker zum sechzigsten Geburtstag Die erotische Fantasie findet im Neuen Testament wenig, woran sie sich entzünden könnte. Populär und bildproduktiv geworden ist zum einen die Chiffre der »Hure Babylon« (Offb 17,1-6), deren als Inbegriff des Sündhaften bekannte Herkunftsbezeichnung auch als beliebter Name für Saunaclubs und andere einschlägige Etablissements Karriere gemacht hat. Mit Kenneth Angers unter dem Titel »Hollywood Babylon« erschienener Chronique scandaleuse der amerikanischen Filmmetropole 2 wurde die Hure der Apokalypse auch zu einer emblematischen Figur für die Abgründe der Filmindustrie, unbeschadet, dass sich unabhängig davon der Name »Babylon« auch als Name von Filmtheatern einiger Beliebtheit erfreut, wahrscheinlich in einer offensiven, selbstbewussten Umwertung des alten Vorwurfs vom Kino als Hort der Sünde. 1. Drei Quellgründe erotischer Imagination im Neuen Testament Das »ausschweifende Leben« des verlorenen Sohns Der Auftritt der apokalyptischen »Hure Babylon« verbindet sich allerdings nicht mit einem reizvollen Erzählkern, der die erotische Fantasie zu Expansion und Amplifikation hätte stimulieren können. Das ist anders im Falle von zwei anderen neutestamentlichen Figuren und einer weiteren markanten Leerstelle in den Evangelienerzählungen. Bei besagter Leerstelle handelt es sich um das »zügellose« und verschwenderische Leben des verlorenen Sohns in der Ferne (vgl. Lk 15,13), das nicht nur in der Malerei, vorab der holländischen, eine sehr beliebte, in sittenstrengen Zeiten quasi biblisch legitimierte Vorlage für Bilder der Ausschweifung war, in denen dann die Geldverschwendung in der Spur des Verdachts des älteren der beiden Söhne (vgl. Lk 15,30) bevorzugt im Freudenhaus angesiedelt wurde. Nach diesem Muster ließen später auch verschiedene Filme, die die Gleichniserzählung auf Spielfilmlänge erweiterten, den jüngeren Sohn sein Vermögen in den Armen schöner Frauen durchbringen, wie etwa in der aufwändigen amerikanischen Produktion »The Prodigal« (USA 1955, Regie: Richard Thorpe), wo Lana Turner, eine der »Sexgöttinnen« des damaligen Kinos, in der Rolle der Tempelprostituierten Samarra in Damaskus, in deren Netzen sich der lukanische Tor verstrickt, die Zuschauer anlocken sollte. Maria Magdalena Die erste der beiden Handlungsfiguren, die zum Nukleus 1 erotischer Imagination, Dramatisierung und Inszenierung wurden, ist Maria Magdalena, wohlgemerkt nicht die historische Jüngerin und erste Auferstehungszeugin aus Magdala, sondern die mit ihr aus verschiedenen weiteren Frauengestalten (vorab der namenlosen Sünderin von Lk 7,36-50 und der Ehebrecherin von Joh 8,2-11) amalgamierte Kunstfigur, die bis heute die erotische Einbildungskraft befeuert. Im Kino wurde sie immer mit schönen, mit Rollen von sinnlichen Verführerinnen bekannt gewordenen Darstellerinnen besetzt, angefangen mit dem Stummfilm- Vamp Asta Nielsen, die in Robert Wienes »I. N. R.I.« (Deutschland 1923) Magdalena geben durfte, bis hin zu einem ansonsten so erosfernen Film wie Mel Gibsons »The Passion of the Christ« (USA 2004), wo die selbst in ihrem nonnenhaften Kostüm sinnlich wirkende Monica Bellucci Jesu Passion mitleidet. Legion sind inzwischen die Liebesromane zwischen Jesus und Magdalena. Sie gründen in der erotisch aufgeladenen Salbung von Jesu Füßen durch die später mit der prominentesten Jüngerin identifizierte ›stadtbekannte Sünderin‹ von Lk 7,36-50. In einer skandalös öffentlichen intimen Handlung reibt sie Jesu Füße nicht nur mit Öl ein, sondern benetzt diese auch mit ihren Tränen, trocknet sie mit ihrem Haar und küsst sie, und das nicht etwa nur flüchtig, sondern innig und ausdauernd, so dass Jesus gegen Ende des sich an diesen Aktionen entzündenden Disputs mit seinem Gastgeber Simon dessen Verweigerung eines Begrüßungskusses mit dem Tun der Frau Reinhold Zwick Screening Salome Kino-Lektionen in Macht und Begehren Zum Thema »Wenn Sie eine Sexgeschichte im biblischen Gewand haben, dann können Sie Ihre eigenen Geldscheine drucken.« (Darryl Zanuck, Filmproduzent) Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 34 - 4. Korrektur 34 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Zum Thema kontrastiert: »Sie hat mir, seit ich hier bin, unaufhörlich die Füße geküsst.« (Lk 7,45; Herv. R. Z.) Salome Die andere der beiden Handlungsfiguren ist die im Neuen Testament selbst namenlose, auf dem Umweg über Flavius Josephus (vgl. Antiquitates 18,136 f.) allenthalben als »Salome« bekannte junge Frau, die mit ihrem Tanz vor der versammelten Geburtstagsgesellschaft ihren Stiefvater und Onkel Herodes Antipas derart bezaubert, dass er schwört, ihr zum Dank dafür sogar die Hälfte seines Reiches zu geben, wenn sie es wolle. 3 Doch die Tänzerin hat bekanntlich keine materiellen Forderungen, sondern verlangt auf Betreiben ihrer Mutter Herodias den Kopf des eingekerkerten Täufers. Denn dieser war nicht müde geworden, das in seinen Augen ehebrecherische Verhältnis von Antipas und Herodias zu geißeln. Gleichwohl pflegte der König sich häufig mit dem Gefangenen zu unterreden, »hörte ihm gern zu« und begegnete ihm mit Achtung und Furcht, »weil er wusste, dass dieser ein gerechter und heiliger Mann war« (Mk 6,20). Doch versklavt unter seinem Eid muss der König, um nicht vor seinen Gästen das Gesicht zu verlieren, den blutigen Tanzlohn gewähren.-- Was für ein Stoff, was für ein Sujet! Es ist kein Wunder, dass diese vom klassischen Zwiegespann von Eros und Thanatos überwölbte Konstellation aus Ehebruch, Macht, Intrige, Femme fatale und tragischer Verstrickung über die Jahrhunderte hin und bis heute die Erzähler und Maler mit Feder, Pinsel und Kamera zu immer neuen kreativen Ausgestaltungen reizen musste. Befeuert wurde dies sicher zum einen dadurch, dass die Geschichte in diesem Fall für beide männlichen Hauptfiguren Herodes und Johannes tragisch endet, und zum anderen, dass die bei Markus (6,17-29) und Matthäus (14,3-12) mit nur leichten Varianten erzählte biblische Erzählfolge einmal mehr hinreichend viele Unbestimmtheits- und Leerstellen enthält, dass sich weite Räume für szenische und motivationale Konkretisierungen und Variationen auftun. Diese Räume waren für die verschiedensten Künste derart einladend, dass heute gleichermaßen Literatur-, Theater-, Kunst-, Musik- und Filmwissenschaften aufgerufen sind, das weite Feld der durch die biblische Erzählung angestoßenen künstlerischen Bearbeitungen und Fortschreibungen zu vermessen. Vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im Fin de Siècle kam es zu einem wahren Boom an Salome-Bearbeitungen, und gab es keine andere »christlich-mythologische Frauengestalt, die in Kunst, Literatur und Musik die Zeitgenossen so faszinierte wie Salome. Sie galt speziell in der Literatur der französischen Décadence wahlweise als Inkarnation weiblicher Grausamkeit, aber auch als Modell der Kindfrau und Verkörperung idealer Schönheit und purer Erotik.« 4 Nachdem für die Literatur- und Kunstgeschichte neben umfangreichen Untersuchungen und Sammelwerken 5 auch etliche prägnante Überblicke vorgelegt worden sind, 6 konzentrieren sich die nachfolgenden Ausführungen auf den Film als das Leitmedium zumindest des 20. Jahrhunderts, das ältere Bild- und Erzähltraditionen wie Roman, Schauspiel und Oper einschmolz, in unserem Fall insbesondere den sehr einflussreichen Einakter »Salome« (1891) von Oscar Wilde und die darauf aufbauende Oper »Salome« (1905) von Richard Strauß. Just zu jener Zeit, da die Salome- Rezeption in ihrem Zenit stand und die Tochter der Herodias zur »Ikone der Jahrhundertwende« 7 geworden war, wurde der Kinematograph erfunden; und bereits 1902, nur fünf Jahre nach den ersten öffentlichen Kinovorstellungen überhaupt, tanzte Salome erstmals in einem gleichnamigen Leinwandstreifen unter der Regie des deutschen Filmpioniers Oskar Messter 8 , und sehr viele sollten ihr folgen. Mit seinem großen synästhetischen Potential, das aus dem Zusammenspiel von Prof. Dr. Reinhold Zwick, geb. 1954 in Vohenstrauß/ Oberpfalz, Studium der Katholischen Theologie und Germanistik in Regensburg; ebenda langjähriger Assistent am Lehrstuhl für Biblische Theologie (Einleitungswissenschaft); 1988 Promotion und 1997 Habilitation (beides in Regensburg). Von 1996-2001 Professor für »Alt- und Neutestamentliche Exegese« an der Kath. Fachhochschule Freiburg; seither Professor für »Biblische Theologie und ihre Didaktik« an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster. Forschungsschwerpunkte: Wirkungsgeschichte der Bibel, Theologie und Film, narrative und rezeptionsästhetische Methoden der Exegese.-- Zahlreiche Publikationen, insbesondere zum Bereich »Theologie und Film«. Reinhold Zwick Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 35 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 35 Reinhold Zwick Screening Salome Kamera, Licht, Musik, Kostümen und Schnitt resultiert, wurde der Film neben der Bühne zum nachgerade idealen Medium, um den Tanz der Königstochter in jener Eindrucksstärke zu präsentieren, an der sich viele Generationen von Malern und Literaten oft erfolglos abgearbeitet hatten 9 oder klugerweise das Feld ganz für die Imagination freigaben, wie Oscar Wilde, der nur lapidar in einer Regieanweisung bemerkt: »(Salome tanzt den Tanz der sieben Schleier.)« 10 2. William Dieterles »Salome« (1953) als filmischer Midrasch zu Mk 6,14-29 Die bis heute bekannteste und erfolgreichste filmische Entfaltung der Salome-Episode ist die 1953 uraufgeführte Hollywood-Produktion »Salome«. Aufwändig in Israel in Szene gesetzt unter der Regie des deutschstämmigen William (Wilhelm) Dieterle war diese »Salome« einer der größten Kinoerfolge der 1950er Jahre. Die Titelrolle spielte die damals bereits 34-jährige Leinwandschönheit Rita Hayworth, die in den 40er Jahren mit Filmen wie »Cover Girl« (1944) und »Gilda« (1946) zum Kassenmagnet geworden war, in Filmen also, in denen sie immer wieder mit Tanzszenen brillieren und sich so für die Rolle der Salome empfehlen konnte. Ihr zur Seite agierten als prominenter männlicher Charakterdarsteller Charles Laughton als ihr Stiefvater und Stewart Granger als in sie verliebter römischer Tribun Claudius. Der Film fiel seinerzeit zwar nicht an den Kassen, aber so doch allenthalben bei der Kritik durch und hat bis heute in der Filmgeschichtsschreibung keine gute Reputation. Lapidar meinte beispielsweise der katholische »film-dienst«: »Künstlerisch unterdurchschnittlicher Monumentalfilm, der biblische Motive und Figuren nach Belieben zu einer erfundenen, auf Dauer ermüdenden Geschichte zusammenwürfelt.« 11 Dennoch ist Dieterles »Salome« in verschiedener Hinsicht sehr interessant: Zum einen als Medium der in den 50er Jahren sehr gerne im Genre der damals überaus erfolgreichen ›Biblical Epics‹ geführten Selbstverständigung Amerikas über seine tragenden Werte, seien es ethische Maximen, ideologisch-politische Positionierungen oder auch Fragen von Gender und Sexualität. 12 Zum anderen, und dieser Aspekt soll hier zuvorderst interessieren, ist »Salome« bemerkenswert als Expansion der neutestamentlichen Episode vom Tod des Täufers - als eine Art moderner haggadischer Midrasch, verstanden als Ausmalung und Ausfaltung einer kanonischen Erzählung, die diese fortschreibt und ihre Leerstellen kreativ füllt. In unserem Fall sind es insbesondere zwei markante Leerstellen bzw. bei Markus und Matthäus nicht hinreichend motivierte Erzählmomente, die die Filmstory bearbeitet und über diese Bearbeitung die Wahrnehmung dieser Leerstellen nochmals anschärft: Dies ist zum einen die Frage, (1) weshalb Herodes Antipas den Störenfried Johannes so sehr fürchtet, dass er ihn nicht beseitigt; und zum anderen die Frage, (2) wie es angehen mag, dass ein einziger Tanz den Tetrachen derart beeindrucken kann, dass er wie von Sinnen gleich die Hälfte seines Reiches zum Dank dafür anbietet? Dem eng verbunden, aber nachgeordnet, ist die Frage, wieso überhaupt die Tochter der Königin vor der Festgesellschaft tanzt und sich damit exponiert, und nicht statt ihrer irgendeine Sklavin, für die eine solche erotisch getönte Darbietung ›standesgemäßer‹ wäre? Das ist eine weitere Leerstelle in den Evangelien, die zumeist in einem Rückschlussverfahren von der nach dem Tanz durch die Mutter soufflierte Bitte um das Haupt des Täufers mit einer dem Tanz vorgängigen Strategie der Herodias gefüllt wird. Die Antworten, die der Film auf diese beiden Fragen entwickelt, sollen im Anschluss an eine Inhaltssynopse reflektiert werden. Worum geht es in »Salome«, wie erzählt Dieterles Midrasch die Geschichte? Zur Zeit der Regierung des Kaisers Tiberius werden Pontius Pilatus und der mit Judäa vertraute Tribun Claudius, sein alter Kampfgefährte und Freund, nach Judäa entsandt, um dort für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Die Galeere, auf der sie sich einschiffen, hat noch einen weiteren prominenten Fahrgast: die jüdische Prinzessin Salome. Sie hat seit ihrer Kindheit lange Jahre in Rom gelebt, wird nunmehr aber vom Kaiser zur Rückkehr in ihre Heimat gezwungen, um eine Verehelichung des Senators Marcellus mit ihr, der »Barbarin«, ein für alle Mal zu unterbinden. Bereits während der Überfahrt bahnt sich aber eine neue jüdisch-römische Liebesbeziehung an: zwischen Salome und Claudius. Da Claudius ein heimlicher Anhänger des Täufers ist, sucht er ihn zu schützen, als dieser das Königshaus und insbesondere Herodias mit seinen Anklagen, die beim Volk auf große Resonanz stoßen, zunehmend in Bedrängnis bringt. Herodes, ein alternder Lüstling, ist fasziniert von der Schönheit und Jugend Salomes und trachtet immer unverhohlener, sie mit Schmeicheleien und kostbaren Geschenken zu »Salome« [ist] bemerkenswert als Expansion der neutestamentlichen Episode vom Tod des Täufers - als eine Art moderner haggadischer Midrasch, verstanden als Ausmalung und Ausfaltung einer kanonischen Erzählung, die diese fortschreibt und ihre Leerstellen kreativ füllt.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 36 - 4. Korrektur 36 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Zum Thema einer intimen Begegnung zu bewegen. Doch Salome durchschaut ihn und weicht ihm aus. Stattdessen interessiert sie sich für den Täufer, aber nicht für ihn als Mann-- denn in dieser Hinsicht hat Claudius schon ihr Herz erobert--, sondern als religiös-moralische Autorität. Sie war dem predigenden Täufer bei ihrer Anreise nach Jerusalem begegnet und hatte in ihrem Nachtlager in der Nähe der Taufstelle fasziniert den Gesängen der Täuferjünger gelauscht. Schließlich beginnt der Täufer zur großen Empörung besonders der Königin in Jerusalem zu predigen und klagt das Königshaus heftig an: »Die Sünde sitzt auf dem Thron! Herodes vergisst das Volk über Weibern und Orgien. Herodias lebt in sündhafter Verschwendung, ohne Herz für die Not und Bedrängnis des Volkes.« Salome war verkleidet auf den Marktplatz gekommen, um den Täufer zu hören, wird aber von ihm erkannt als sie sich über seine Schimpfreden über die »Verworfenheit« ihrer Mutter ereifert. Verbittert fordert Salome Claudius auf, den Täufer gefangen zu nehmen, doch dies hatte bereits Herodias veranlasst, nachdem ein von ihr initiiertes Attentat auf den Propheten fehlgeschlagen war.-- Antipas wird durch seinen religiösen Berater Esra gewarnt, den Täufer hinrichten zu lassen, und auch Claudius setzt sich Salome gegenüber für den Gefangenen ein. Die Dinge spitzen sich zu, als das Begehren des Herodes nach seiner Stieftochter immer höher lodert und er allmählich doch erwägt, den Täufer zu töten, um für sich und seine Stieftochter-- nicht für Herodias! -- den Thron zu retten. Das Blatt wendet sich auf zweifache Weise: Zum einen bricht Salome mit ihrer Mutter, als diese vorschlägt, vor Herodes zu tanzen und als Lohn den Kopf des Täufers zu fordern, wohl wissend und es der Tochter auf ihre Frage ins Gesicht bejahend, dass ein solcher Tanz bedeutet, dass die Tänzerin dem König »zu Willen sein muss«. Zum anderen bekennt Claudius Salome, ein Anhänger des Täufers und auch Jesu von Nazareth zu sein, wobei letzterer zur gleichen Zeit am Rande des Geschehens immer größeren Zulauf erhält. Nach einem gemeinsamen Besuch im Kerker tut Salome, tief beeindruckt vom Täufer, Buße und kehrt um. Sie erinnert sich an den Plan der Mutter, wendet diesen aber ins Gegenteil: Sie will vor ihrem Stiefvater tanzen, um die Freilassung des Täufers zu erwirken. Doch noch während ihres Tanzes kommt ihr Herodias zuvor und erbittet vom erostrunkenen König das Haupt des Täufers. Die Bitte wird gewährt, die Hinrichtung sogleich vollstreckt und am Ende ihres Tanzes bekommt die entsetzte Salome die makabre Schale präsentiert. Das Finale zeigt Salome und Claudius unter den Zuhörern der Bergpredigt und die Zuschauer werden mit dem Schlusstitel »This was the Beginning« entlassen. Selbst diese recht ausführliche Inhaltsangabe kann noch nicht hinreichend deutlich machen, wie der Film mit den Leerstellen seiner schmalen biblischen Textvorlage umgeht und die beiden zuvor genannten großen Fragen beantwortet. Hierzu müssen wir punktuell noch genauer hinsehen. Zunächst zur Frage (1): weshalb Herodes Johannes so sehr fürchtet, dass er ihn nicht beseitigt? Die vom Film entwickelte Antwort knüpft an Mk 6,14- 16 an: an Herodes’ beharrliche, etwas manische, und insofern auf einen starken Gewissensdruck weisende Identifizierung Jesu mit dem s. E. auferstandenen Täufer. Diese Identifizierung verbindet der Film mit der »De mortibus persecutorum«-Tradition, also dem in 2 Makk 9 grundgelegten, später besonders mit Laktanz verbundenen Genre der Imagination schrecklicher Tode für die Verfolger der Gerechten. Weil er Johannes für den Erlöser hält, den schon sein Vater (nach Mt 2) erfolglos zu töten versucht hatte, fürchtet Antipas expressis verbis eines ebenso »qualvollen Todes« zu sterben wie-- jedenfalls dem Drehbuch nach-- sein Vater, wenn er Johannes hinrichten lässt. Erst alkoholisiert und im Rausch der Sinne beim Tanz Salomes, also quasi besinnungslos, stimmt er der Enthauptung zu. Zur Beantwortung der Frage (2), wie es angehen mag, dass ein einziger Tanz den Tetrachen derart beeindruckt, dass er die Hälfte seines Reiches zum Dank dafür anbietet, entwickelt Dieterles »Salome« ein vergleichsweise komplexes Netzwerk von Motivationen. Da wird zunächst Antipas grundständig als Erotomane exponiert, der beispielsweise von Claudius detailliert erotische Abenteuer in Rom geschildert bekommen möchte und von dem Herodias, als ihr Plan mit dem Tanz Salomes reift, verächtlich sagt: »Wie allen alten Männern erscheint ihm Jugend begehrenswert.« Als Herodias deshalb meint, sie könne Salome für »unsere Zwecke« nutzen, dann bezieht sich dieses »unsere« auf sie und ihren Liebhaber aus den Reihen der Tempelaristokratie, mit dem sie ihre Ränke schmiedet. Das Königspaar hat sich entfremdet, und der König hat Herodias schon jahrelang nicht mehr in ihren Gemächern besucht. So kommt es nicht überraschend, dass Herodes seine Stieftochter begehrt, als diese-- nach jahrelanger Abwesenheit und in der Ferne zu einer wahren Schönheit gereift-- wie eine erotische ›Offenbarung‹ am Hof erscheint. Salomes fiktive Adoleszenz in Rom und die plötzliche Rückkehr als begehrenswerte, gewissermaßen ›fremde‹ Schönheit motivieren das Begehren des Königs ungleich stärker als die Vorstellung, Salome wäre von Kindheit an in seiner Nähe aufgewachsen. Dass ihr Herodes für ihren Tanz das halbe Königreich verspricht, ist dann zum einen die Frucht eines Begehrens, das sich immer weiter, immer ›wahnsinniger‹ aufgeschaukelt hat und in der Aussicht, die Tänzerin müsse ihm anschließend »zu Willen sein«, kulminiert-- und Charles Laughton ist der ideale Darsteller, um diesem Wahnsinn Ausdruck zu verleihen. Zum anderen-- und das ist die interessantere Variante, die das Drehbuch diesem Setting von »Sex und Macht« hinzufügt-- plant Herodes, sich von Herodias zu trennen und den Thron mit der Stieftochter zu teilen. Insofern wäre das Angebot des halben Königreichs implizit ein Anhalten um die Hand Salomes und eine Verstoßung ihrer ihm schon lange Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 37 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 37 Reinhold Zwick Screening Salome fremd gewordenen Mutter. 13 Ob den Drehbuchautoren bei der Entwicklung dieses Motivationszusammenhangs bekannt war, dass die historische Salome tatsächlich in erster Ehe mit einem Sohn von Herodes dem Großen verheirat war, allerdings nicht mit Antipas (ca. 20 v. - 39 n. Chr.), sondern dem nur wenig jüngeren Tetrachen Philippus (ca. 24 v. - 34 n. Chr.), konnte nicht verifiziert werden, wäre aber ein möglicher Quellgrund für diese Idee. Die Drehbuchautoren haben sich aber, wie bereits die Inhaltssynopse zu erkennen gab, noch mehr einfallen lassen, um dem Grundproblem eines jeden Bibelfilms zu kontern: dem Problem, dass die Story und ihr Ausgang eigentlich von vorneherein bekannt sind und sich darüber kaum das Zuschauerinteresse gewinnen lässt. Viele ›Biblical Epics‹ setzen deshalb auf die Schauwerte des Monumentalen oder suchen durch neue Figuren und Handlungsstränge Aufmerksamkeit zu schaffen. Das gilt auch für »Salome«, der seine prachtvollen Settings in leuchtendem Technicolor inszeniert und die Figur des Claudius erfindet, um eine neue Liebesgeschichte etablieren zu können. Diese durchkreuzt die durch Oscar Wildes wirkmächtiges Stück gespurte Zuschauererwartung hinsichtlich einer tödlich endenden ›amour fou‹-Konstellation zwischen Salome und dem Täufer. Obgleich das Filmplakat mit einer aufreizend gewandeten bzw. im finalen Schleiertanzkostüm (teil-)enthüllten Salome ›lockt‹, folgt der Film doch aufs Ganze einer Strategie, die man nach dem Titel eines Buches des Moraltheologen Martin Lintner benennen könnte mit »Den Eros entgiften! « 14 . In der auch um moralischen Wiederaufbau bemühten Restaurationszeit der 50er Jahre wird Salome den Zuschauern zwar als sehr schöne, erotisch attraktive Frau vorgestellt, die mit ihren Reizen nicht (übermäßig) sparsam umgeht. Ihr Sex ist aber doch sehr gezähmt und weit abgerückt von dem der morbiden »Femme fatale« eines Oscar Wilde. Die »Salome« von Rita Hayworth ist keine männermordende schwarzhaarig-sinnliche Versucherin, wie in fast allen anderen Salome-Filmen, sondern wirkt mit ihrem stets sorgfältig frisierten Blondhaar und ihren nie unanständigen Blößen eher wie eine erotisierte Variante des im Kino besonders durch Doris Day verkörperten Typs der amerikanischen ›Sauberfrau‹. Wo die dunkelhaarige Herodias ihre Tochter gleichsam ›verkaufen‹ und Sex als tödliche Waffe einsetzen will, da will Salome den Eros zum Mittel für einen guten Zweck umfunktionieren. Unter dem Vorzeichen des Guten hofft sie dann wohl zugleich-- auch wenn dies nicht explizit gesagt wird--, der königlichen Verfügungsgewalt zu entgehen. Entsprechend ›gebändigt‹ ist dann auch ihr Schleiertanz 15 : Mit seinem lieblichen Spiel bunter Tücher und maßvoll lasziven Bewegungen brauchte dieser Striptease nicht um die Jugendfreigabe zu fürchten und war hierzulande in den prüden fünfziger Jahren schon »ab 12« freigegeben. Kurzum: Salome wurde identifikationsfähig für die Frauen der ›moral majority‹ und auch deren Ehemänner konnten die durch ihre edle Liebe zum frommen Claudius und ihre Bekehrung zu Jesus geadelte Leinwandschönheit mit Wohlgefallen ansehen, ohne befürchten zu müssen, sie könne in ihren Gattinnen eine Sehnsucht nach einer entgrenzenden ›amour fou‹ entfachen. 3. Salome-Filme im Sog von Oscar Wilde 3.1 Ein Blick zurück … Wiederholt war schon die Rede von Oscar Wildes »Salome« aus dem Jahre 1891, die erst 1896 in Paris uraufgeführt wurde, kurz nachdem dort die Gebrüder Lumière im »Grand Café« am Boulevard des Capucines ihre erste öffentliche Filmvorstellung gegeben hatten. Wie Literatur, Malerei und Musiktheater beeinflusste Wildes Drama von Anfang an und bis heute sowohl inhaltlich wie ästhetisch auch die allermeisten Salome-Filme, insbesondere jene, die die biblische Episode nicht nur im Rahmen eines Jesusfilms abhandeln wollten, sondern auf abendfüllendes Format expandierten. Wildes Strahlkraft ist selbst in William Dieterles Hollywood-Bearbeitung spürbar, obwohl sie sich in vielem so deutlich von dessen Plot und schwüler fin de siècle-Dekadenz entfernt, ja Wilde geradezu auf den Kopf stellt. Die von Rita Hayworth vorgestellte Salome ist in ihrer Anlage weit entfernt von der Raffinesse und Lüsternheit der tödlichen Femme fatale Wildes, so weit, dass sie schließlich ›morally correct‹ zur Rettung des von ihr niemals sexuell begehrten Täufers tanzen kann, um sich am Ende zur Jesusnachfolge zu bekehren, statt wie Wildes lasterhafte Protagonistin von den Schilden »Die ›Salome‹ von Rita Hayworth ist keine männermordende schwarzhaarig-sinnliche Versucherin, wie in fast allen anderen Salome-Filmen, sondern wirkt mit ihrem stets sorgfältig frisierten Blondhaar und ihren nie unanständigen Blößen eher wie eine erotisierte Variante des im Kino besonders durch Doris Day verkörperten Typs der amerikanischen ›Sauberfrau‹.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 38 - 4. Korrektur 38 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Zum Thema der Soldaten des Herodes zermalmt zu werden. Doch selbst bei Dieterle finden sich etliche motivliche Verbindungen zu Wilde, so etwa, um nur einige zu benennen: der kalt-berechnende Pragmatismus der Herodias, ihr distanziertes, ja feindseliges Verhältnis zu Herodes, des Königs Furcht vor dem Täufer-- schon bei Wilde mit einer Beimengung der »De mortibus persecutorum«- Tradition (vgl. u. a. 16.37)-- bei gleichzeitig ausschweifenden, übersättigtem Lebenswandel, und vor allem das sich immer weiter aufschaukelnde Begehren des Tetrarchen nach seiner Stieftochter, bis dahin, dass er ihr kaum verhüllt die Möglichkeit in Aussicht stellt, ihre Mutter als Königin zu beerben (vgl. 28.39). Dieterles »Salome« war nach fast drei Jahrzehnten Pause in der Kino-Rezeption des Salome-Stoffes dessen erste Tonfilmbearbeitung. Ihr voraus gingen mehrere Stummfilme mit der Königstochter als Titelheldin, von denen allerdings die wenigsten erhalten sind. Der bedeutendste, bis heute hin und wieder im Fernsehen gezeigte und im Internet zugängliche Film war zugleich die letzte Bearbeitung der Stummfilm-Ära: »Salome« von Charles Bryant (USA 1923), 16 eine Adaption von Oscar Wildes Drama, die in ihrem Manierismus und ihrer forcierten Künstlichkeit auch ästhetisch sehr eng an dieses und an die (der englischen Buchausgabe von 1894 beigegebenen) Illustrationen von Aubrey Beardsley 17 anschließen wollte. Dieser Film, dessen Visualität in ihrer zwischen Exotismus und Art déco changierenden Stilisierung sehr schön die Dekadenz des Bühnenstücks auf die Kinoleinwand übersetzte, verbindet sich vor allem mit dem Namen »Nazimova«, der russisch-amerikanischen Hauptdarstellerin und Ehefrau des Regisseurs, die in jenen Jahren eine ebenso gefeierte wie wegen ihrer offen gelebten Bisexualität skandalträchtige Aktrice war. Ähnlich berühmt und glamourös war seinerzeit die für Kostüme und Design verantwortliche Natacha Rambova, die mit dem Filmstar und Womanizer Rudolph Valentino verheiratet war und sich für »Salome« dezidiert von Beardsley hatte inspirieren lassen. Trotz dieser Stars im Team war Bryants Film allzu stilisiert, um beim zeitgenössischen Publikum großen Anklang zu finden. Daran änderte auch seine bemerkenswerte Freizügigkeit in Kostümen und Spiel nichts, denn das Gekünstelte der Inszenierung war auch der vom Publikum erhofften Erotik abträglich. Eine Aufführung von Wildes »Salome« war in England durch den Theaterzensor Lord Chamberlain verboten worden. Weniger wegen seiner Erotik, sondern »weil biblische Gestalten in dem Drama auftreten«, was im anglikanischen England beispielsweise auch zum bis Mitte des 20. Jahrhunderts wirksamen Verbot von Passionsspielen geführt hatte. Das Kino tat sich hier wegen der Brechung durch das fotografische Bild leichter, und vor allem in Italien und in den USA hatte man schon früh erkannt, dass biblische Stoffe ein gutes Trägermedium für sonst von der Zensur bedrohte Darstellungen von Erotik 18 und Gewalt sind. Das beginnt nicht erst im Jahre 1932, in dem laut der »Chronologie« im Band »Erotic Cinema« mit Cecil B. DeMilles »The Sign of the Cross« vermeintlich erstmals »ein religiöser Kontext als Vorwand für die Erotik [dient]«, u. a. indem er »eine nackte christliche Märtyrerin an einem Pfahl zeigt.« 19 Schon vorher hatte DeMille in seinem Jesusfilm »The King of Kings« (1927) mit der Exposition Maria Magdalenas als laszive Edelprostituierte für eine sexuelle Aufladung des frommen Sujets gesorgt. Und nochmals früher war dies wiederholt das kaum verhohlene Movens der Inszenierung des Salome-Stoffs für das Kino. So war es bei Bryant/ Nazimova und so war es, noch pointierter, in der 1918 unter der Regie von J. Gordon Edwards gedrehten, heute verschollenen »Salome«. Die Titelheldin spielte der damals überaus populäre, für seine Freizügigkeit berüchtigte Leinwand-Vamp Theda Bara (1885-1955; bürgerlich: Theodosia Goodman). 20 Carlos Fernandez Cuenca bezeichnet sie als »die erste und spektakulärste Inkarnation der ›Femme fatale‹ und Vampirin des nordamerikanischen Kinos« 21 . Und sie wurde auch in »Salome«, ihrem einunddreißigsten Film, ihrem durch Rollen als dunkle Vampirin (»A Fool Was There«, 1915) oder als »Cleopatra« (1917) begründeten Ruf so sehr gerecht, 22 dass er in den USA einen Proteststurm seitens der Kirchen und religiöser Vereinigungen auslöste. 23 Und ausgerechnet für diesen Film hatte Flavius Josephus die zweifelhafte Ehre, einen Credit für die »Story« zu bekommen. Edwards’ »Salome« folgte im Grundzug ebenfalls der Konzeption von Oscar Wilde, bereicherte diese aber um die Variante, dass die Königintochter dieses Mal nicht nur den Kopf des Täufers fordert, sondern zugleich den Sturz ihrer Mutter betreibt. 24 Vergleicht man die Salome-Darstellungen von Theda Bara (die sich recht plastisch rekonstruieren lässt) und Nazimova mit der von Rita Hayworth, wird nochmals klar, welche »Kultivierung« 25 dieser Frauenrolle sich zwischen den 1910er und 1950er Jahren ereignet hat: »Auf das lasterhafte, verführerische, vampmäßige Monument folgt am Ende die gesellschaftsfähige, fast schon biedere Integration in das modifizierte Geschlechterverhältnis. Der anrüchige Reiz der Schaulust, die unheilvolle Verstrickung von Schönheit und Grauen wird verflacht« und so, nach Ansicht des Filmpublizisten Josef Nagel, »einer ursprünglichen Funktion der Kinematographie und ihrer Tabus beraubt.« 26 Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 39 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 39 Reinhold Zwick Screening Salome 3.1.1 »Salome« von Ugo Falena (Italien 1910) Wildes Tragödie inspirierte dezidiert auch die hinter Oskar Messters Film zweitälteste »Salome«, 1908 unter der Regie von J. Stuart Blackton für die seinerzeit erfolgreiche Firma »Vitagraph« gedreht. 27 Und Wilde war ebenfalls die Vorlage für den ältesten erhaltenen Salome- Film überhaupt, eine italienische Produktion aus dem Jahre 1910. 28 Der unter der Regie von Ugo Falena gedrehte, handkolorierte Film kann mit einer neuen, von Pablo Pico (geb. 1983) geschaffenen Musik auf der von der Europäischen Union geförderten Seite »www.europafilmtreasures.de« angesehen werden. 29 Gegenüber Oscar Wildes Drama (ganz zu schweigen von der Bibel und ihrem Leerstellen-Repertoire) bietet der Film wenig Neues, außer dass er eindrucksvoll Aufschluss darüber gibt, wie schwer sich das Kino in seinen Kindertagen damit tat, solch eine Tragödie für die Leinwand zu adaptieren, zumal wenn das Ganze nur 9: 45 Minuten Zeit erhält. Deshalb fällt beispielsweise der für Oscar Wilde als Projektionsfläche der psychischen Zustände so wichtige Mond im Bühnenhintergrund bei Falena völlig aus, und durch die drastische Verkürzung der Erzählzeit erhält keine Aktion den Raum, den sie bräuchte, um einigermaßen plausibel oder zumindest nicht lächerlich zu wirken. Die Salome ist an sich gut besetzt und agiert im Sinne Wildes, aber ihr fatales Begehren nach dem Leib, dem Haar und dem Mund des Täufers wird durch das Grobschlächtige des Johannes-Darstellers ausgehebelt. Interessant sind vor allem eher unscheinbare Nebenzüge der Inszenierung und der Handlung. Da treten beispielsweise die Juden, die wie im Drama wild disputieren, mit den für die zeitgenössischen Passionsspiele typischen Kopfbedeckungen auf, die mit ihrer Hörner-Struktur antijüdischen Ressentiments Ausdruck verleihen, indem sie die Juden-- in einer biblizistischen Lesart von Joh 8,44-- mit dem gehörnten Teufel in Verbindung bringen. Bemerkenswert ist auch eine gegenüber Wilde neu kreierte Nebenhandlung, die einerseits die immer mit dem Salome-Stoff verbundene und dabei meist sadomasochistisch getönte sexuelle Schaulust bedient, andererseits Wildes Handlung um den in Salome verliebten »jungen Syrer«, der sich aus Verzweiflung auf der Bühne tötet (22), substituiert, indem durch sie ebenfalls schon vor der Enthauptung des Täufers ein Tod auf die Bühne gebracht wird. Worum geht es? Während des Gastmahls, noch vor dem Tanz Salomes, verschüttet eine schöne, junge Sklavin mit langem, offen getragenen Haar etwas Wein-- in einer Abwehrreaktion gegen das Betatscht-Werden durch den lüsternen Herodes. Zur Strafe dafür wird sie von schwarzen Sklaven nach draußen weggeführt und an ein Andreaskreuz gebunden, worauf andere Frauen kommen, auf die Gekreuzigte einschlagen und sie erdolchen-- das alles natürlich wie in Zeitraffer und eher pantomimisch angedeutet, aber immerhin. Als die Festgesellschaft zur Stätte dieser Hinrichtung wechselt, wo dann auch Salome tanzen wird, hängt die Tote anfangs noch am Kreuz, wird dann aber weggeschafft. Wie bei Wilde ist so der Schauplatz des Tanzes vom Blut eines bzw. einer Unschuldigen düster überschattet. Als guter Vorwand für derartige erotische Inszenierungen wurde »Salome« zu einer der beliebtesten Figuren der Stummfilmzeit. Und wahrscheinlich waren es die vielen ›stummen‹, freilich immer von Musik begleiteten frühen Salome-Filme, die den für seine »Herr der Ringe«-Trilogie gefeierten Regisseur Peter Jackson dazu bewogen haben, in seinem spielerischen, fiktiven Dokumentarfilm »Forgotten Silver« (1995) den von ihm erfundenen neuseeländischen Filmpionier ›Colin McKenzie‹ ausgerechnet an einem monumentalen, unvollendet gebliebenen »Salome«-Film arbeiten zu lassen. 3.2 … und ein Blick nach vorn in die Post-Dieterle-Zeit Oscar Wildes Tragödie blieb auch in den Jahrzehnten nach William Dieterles »Salome« die größte Inspirationsquelle, wenn es darum ging, die Leerstellen in der biblischen Handlung um den Tod des Täufers aufzufüllen und zu expandieren. So war es bei Kurzfilmen, wie bei jener »Salome« (1973), mit der der später für seine Horrorfilme bekannte Clive Barker debütierte, oder bei einem Streifen des jungen Pedro Almodovar (1978). Wie schon erwähnt, stand aber Wilde insbesondere dann Pate, indem er die Story und oft auch Dialoge lieferte, wenn die Salome-Handlung auf Spielfilmlänge ausgebaut werden sollte. So war es bei der provokativ-blasphemischen »Salome« des italienischen Skandalregisseurs Carmelo Bene (1972), so in der düsteren Bearbeitung durch seinen Landsmann Claude d’Anna (1986), so in der seltsamen Mischung von Manierismus und Experimentalfilm beim deutschen Film- und Opernregisseur Werner Schroeter (1971), so bei der Flamenco-Version von Carlos Saura (2002) oder bei der Verschränkung einer Salomemit einer Gegenwartshandlung im Spielfilm »Visage« (2009) des Taiwanesen Ming-liang Tsai, der trotz seiner Starbesetzung-- u. a. mit Fanny Ardant, Jean-Pierre Leaud, Jeanne Moreau und dem französischen Topmodell und Erotikstar Laetitia Casta als Salome-- und obwohl er Wettbewerbsbeitrag in Cannes war, in Deutschland weder im Kino Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 40 - 4. Korrektur 40 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Zum Thema noch auf DVD zu sehen war. Tsais Film, der von einem taiwanesischen Regisseur erzählt, der eine Reise zum Pariser Louvre unternimmt, um dort eine Dokumentation über den Salome-Mythos zu drehen, ist nicht der erste Meta-Salome-Film. Ungleich erfolgreicher war hier bereits 1987 der englische Kinoexzentriker Ken Russell, als er mit »Salome’s Last Dance« eine bizarre Adaption des Wilde-Dramas vorlegte, verwoben mit einer im Jahre 1892 angesiedelten Rahmenhandlung über den Dichter selbst: In Anwesenheit Oscar Wildes und zu seinen Ehren lässt Russell Laienschauspieler in einem Bordell die damals noch verbotene »Salome« inszenieren. In seiner »Kurzkritik meint der »film-dienst« zu Russells Film pointiert: »Grell-›erotische‹ Inszenierung von Wildes Bühnenstück und Leben, die mit Stilmitteln der Travestie und Farce moralische Normen und bürgerliche Zuschauererwartungen provokativ unterlaufen will, jedoch meist in vordergründig-derben Kalauern steckenbleibt.« 30 3.2.1 Oscar Wilde begegnet dem »King of Kings« (1961) Die ›dekadente‹ »Salome« Oscar Wildes beflügelte nicht nur, wie es naheliegend war, Kino-Exzentriker wie Carmelo Bene oder Ken Russell, sondern drang gewissermaßen selbst bis in die Herzkammer der ›Biblical Epics‹ vor, bis in den Hollywood-Jesusfilm. Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht besonders der 1961 uraufgeführte Monumentalfilm »King of Kings«, entstanden unter der Regie von Nicholas Ray. Als Remake des Stummfilmklassikers »The King of Kings« von Cecil B. DeMille (1927) beendete er die über drei Jahrzehnte lang währende Abstinenz Hollywoods gegenüber dem Mann aus Nazareth. Hatte DeMille seinen Film Salome-frei gehalten und für die Erotik Magdalena sorgen lassen, so setzte Ray auf eine Salome im Oscar Wilde-Format und betraute die bei den Dreharbeiten erst sechzehnjährige Brigid Bazlen mit der Rolle der Königstochter, offensichtlich um die Zuschauererwartung gezielt und massiv zu durchkreuzen. Denn Bazlen war wenig vorher in einer Fernsehserie als liebliche ›Blaue Fee‹ bekannt geworden und gibt nun eine verführerische Lolita-Prinzessin, die ebenso durchtrieben und gewissenlos ist wie ihre Mutter und mit dem Täufer zynisch und grausam spielen möchte. Nachdem der Prophet vor Herodes gebracht worden war, meint die im Unterschied zur Bibel keineswegs ›stumme‹ Salome zu ihrem Stiefvater: »Dieser Prediger macht mir Spaß! Befiehl ihm, für mich zu tanzen! Lass dieses Untier auf glühenden Kohlen tanzen! «- - ein Ansinnen, das ihre Mutter mit der an ihren Mann adressierten Bemerkung sekundiert: »Es wäre besser, Du ließest ihm die Zunge herausschneiden.« Kurz darauf berührt Salome den nackten Oberarm des Täufers, fragt ihn: »Hast Du Blut oder Gift in Deinen Adern? « und wünscht sich vergeblich von einem Römer, er möge Johannes mit seinem Schwert die Haut aufschneiden, denn sie wolle es sehen. Auf Drängen des anwesenden Pilatus lässt Herodes den Täufer in den Kerker werfen.-- Beim Fest zu seinem Geburtstag hat der Tetrarch nur Augen für Salome, will von ihrem Becher trinken (mit Dialogen aus Wildes Drama) und umwirbt sie völlig ungeniert. In Gegenwart von Herodias ruft er Salome zu: »Komm und setz dich neben mich, und ich werde dich dafür mit dem Thron Deiner Mutter beschenken.« Salome entgegnet schroff, das Gespräch auf den Täufer lenkend: »Du bist nicht genug König! Ich verachte Dich! Der Mann, der meine Mutter beleidigt hat, sitzt in Deinem Kerker, obwohl er schon vor Monaten hätte sterben sollen! Warum ist dieser Mann immer noch am Leben? « Für Antipas hingegen ist Johannes ein »bedeutender Prophet«. Als der vom Alkohol und vom Begehren nach seiner Stieftochter trunkene König Salome zum Tanz auffordert, nötigt diese ihm den Schwur ab, ihr dafür zu geben, was immer sie begehre.-- Ebenso verzweifelt wie vergeblich sucht Herodes nach dem Tanz (wieder mit Worten Oscar Wildes) die Bitte um das Haupt des Täufers auf ein anderes Wunschobjekt umzulenken. Doch Salome insistiert darauf, dass sie in des Täufers »tote Augen sehen« will, und die Hinrichtung wird vollstreckt, kurz nachdem Johannes in einer Audition Jesu Antwort auf die sog. Täufer-Anfrage (Mt 11,5 f.) erhalten hatte. Ob Salome dann tatsächlich die toten Lippen des Täufers küsst, wie bei Oscar Wilde, erfahren die Zuschauer nicht, denn die Täuferhandlung bricht mit der Enthauptung ab. Erst zum Ende des Films hin, als Jesus nach seiner Gefangennahme gemäß Lk 23,6-12 auf Geheiß des Pilatus vor Herodes gebracht wird, sehen wir Salome wieder, ein letztes Mal. Der makabre Wunsch nach ihrem Tanz scheint sie depressiv oder gar geistig verwirrt gemacht zu haben. Denn während ihr Stiefvater eher verzweifelt als übermütig seinen Spott mit Jesus zu treiben sucht, starrt sie unentwegt, wie in manischer Fixierung auf einen Ziervogel in einer winzigen Käfigkugel, als wäre dies ein Inbild ihrer eigenen Seelenverfassung. Beim Tod des Täufers war sie kein Werkzeug ihrer Mutter gewesen, sondern wurde im Schulterschluss mit dieser selbst im Gestus menschenverachtender, sadistischer Überheblichkeit aktiv. Doch anders als ihre Mutter, die am Ende immer noch kalt und berechnend erscheint, haben die Ereignisse Salome offensichtlich innerlich gebrochen: Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 41 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 41 Reinhold Zwick Screening Salome Der alttestamentliche Tun-Ergehen-Zusammenhang wird von Hollywood aktualisiert. 4. Salome-Variationen im Jesusfilm Nicholas Rays »King of Kings« war nach einer langen Unterbrechung der Auftakt für eine neue Serie von Jesusfilmen. Nachdem der Mann aus Nazareth in den großen Biblical Epics der Nachkriegszeit, also in Filmen wie »Quo Vadis« (1951), »The Robe« (1953), »Ben Hur« (1959) oder eben auch Dieterles »Salome«, immer nur eine Randfigur war-- jedenfalls was seine Präsenz auf der Leinwand angeht, nicht seine Funktion als inneres Movens der Ereignisse--, rückt Jesus seit den 1960er Jahren wieder häufig in die Hauptrolle ein. Das bedeutet allerdings nicht, dass mit der Erzählung von ihm (und meist auch vom Täufer) immer auch Salome Raum erhält. Manche Jesusfilme übergehen die Tochter der Herodias völlig, so etwa »Jesus Christ Superstar« (1972) von Norman Jewison, »The Last Temptation of Christ« (1988) von Martin Scorsese, »The Passion of the Christ« (2004) von Mel Gibson oder auch der viel zu wenig bekannte »Son of Man« (2006) von Mark Dornford-May, der die Jesusgeschichte nach Südafrika transponiert. 4.1 Salome als Werkzeug der Herodias Einige Regisseure inszenieren zwar die Episode über den Tod des Täufers, bleiben dabei aber sehr dicht an der biblischen Vorlage und schlagen die mit deren Leerstellenangebot einhergehende Einladung zu kreativer Vervollständigung aus. So zum Beispiel Pier Paolo Pasolini, der in »Il Vangelo Secondo Matteo« (1964) die Tanzszene mit einer liebenswürdigen Salome und einer heiteren Musik so anmutig und dezent inszeniert, dass unklar bleibt, weshalb der den Tanz mit großen Augen verfolgende König derart viel als Lohn für diese Darbietung verspricht. Ohne die Exposition einer Geschichte des Begehrens erscheinen das Lohnversprechen und seine Erfüllung völlig überzogen. Die noch sehr mädchenhaft und unerfahren wirkende Salome Pasolinis ist ganz das unschuldige Werkzeug ihrer Mutter, wobei-- wie in der biblischen Vorlage-- offen bleibt, ob der Tanz und die Bitte von Herodias geplant waren oder ob sie nur geschickt, wie der mk Überlieferung zufolge (vgl. Mk 6,21), eine sich bietende »günstige Gelegenheit« zur Beseitigung des Täufers genutzt hat.-- Ganz ein als Figur blasses, am Ende gesichts- und ›charakterlos‹ bleibendes Werkzeug der Herodias ist Salome auch in »Il Messia« (1976), dem letzten Spielfilm von Pasolinis Landsmann Roberto Rossellini. Einerseits hat Rossellini die Gespräche zwischen Täufer und König dahingehend stark ausgebaut, dass der Täufer wie ein Herold der Menschenrechte und neuzeitlicher Bestimmungen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit erscheint und mit dieser seiner Aufkündigung von Machthierarchien Antipas nachhaltig beeindruckt. Andererseits ist der König aber doch schwach genug, um der Salome versprochenen Wunschfreiheit nachzugeben. Dabei baut Rossellini die biblische Konstellation etwas aus, ohne aber ihren Skopus zu verändern. Als seine Salome ratlos ist, was sie sich denn wünschen solle, da sie nichts brauche oder wolle, meint ihre Mutter zunächst, sie dürfe den König nicht durch Wunschlosigkeit beleidigen, und flüstert ihr dann raffiniert ein: »Verlange nichts, das ihn etwas kostet. So können die anderen nicht auf den Gedanken kommen, dass du habgierig bist. Wünsche dir etwas, das auch Herodes erfreut! Wünsche Dir das Haupt des Täufers! « Obgleich darüber verwundert, übermittelt Salome diesen Wunsch und nach überraschend kurzer Gegenwehr gibt Herodes dem Drängen der Festgäste und seiner Frau nach, lässt den Täufer herbeibringen und direkt vor den Augen der versammelten Gesellschaft erst erdolchen, dann enthaupten. 4.2 Anerkennung vs. Begehren: Antipas als tragische Figur Nicholas Ray und Roberto Rossellini lassen den Täufer als unerschütterlichen Helden sterben, der mit großer Glaubensstärke und tiefer Zuversicht auf ein Leben bei Gott ohne Angst in den Tod geht. Zur eigentlich tragischen Figur wird bei ihnen einer, der diesen Tod überhaupt nicht will, ihn aber doch befehlen muss: Herodes Antipas. Wie Ray und Rossellini haben noch einige andere Regisseure von Jesusfilmen das, was in Mk 6,20 (par.) zu lesen steht, zu einer mehr oder weniger umfänglichen Nebenhandlung ausgebaut, also die Auskunft, dass Herodias ihren Plan zur Tötung des Täufers bei ihrem Mann »nicht durchsetzen konnte, denn Herodes fürchtete sich vor Johannes, weil er wusste, dass dieser ein gerechter und heiliger Mann war. Darum schützte er ihn. Sooft er mit ihm sprach, wurde er unruhig und ratlos, und doch hörte er ihm gern zu.« In William Dieterles »Salome« war dieses Sich- Fürchten des Tetrarchen unbeschadet seiner Achtung für die Aufrichtigkeit und den Freimut des Johannes zuvorderst seine Angst, selbst eines von Gott befohlenen qualvollen Todes sterben zu müssen, wenn er den Täufer hinrichten ließe. Gegenüber diesem eher ›niederen‹, egoistischen Motiv für die Schonung des Gefangenen Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 42 - 4. Korrektur 42 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Zum Thema haben andere Filme die »Furcht« des Herodes als Anerkennung der moralischer Überlegenheit des Täufers, ja als Ehrfurcht ihm gegenüber begriffen und die biblisch gespurte Konstellation zu einem großen inneren Konflikt des Tetrarchen ausgebaut, einem Konflikt im Dreieck von Gewissen, Macht (respektive Staatsräson) und Begehren. 31 Beispielhaft hierfür ist der große Fernsehvierteiler »Jesus von Nazareth« (1976) von Franco Zeffirelli, der Abermillionen Zuschauer auf der ganzen Welt erreicht und viele von ihnen nachhaltig beeindruckt hat. Herodes hat hier von Anbeginn an großen Respekt vor dem Täufer und schützt ihn wiederholt vor Herodias, die ihn beseitigt wissen will, zuvorderst indem er den Täufer zu verharmlosen sucht. Als er einmal ohne Zeugen allein mit dem Täufer Zwiesprache hält, ist er sogar bereit ihn freizulassen und ihm Macht zu geben. Herodes: »Es gibt Arbeit für Dich hier, in diesem armseligen Königreich.-- Wenn Du Macht willst? Du kannst Macht haben! Zum Aufbauen, nicht zum Zerstören.« Doch der Täufer widersteht dieser ›Versuchung‹ und bleibt seiner Aufgabe treu, »dem den Weg zu bereiten, der die Krone tragen wird«, wobei er aber zugleich die Angst des Tetrachen vor Machtverlust zu zerstreuen sucht: »Fürchte nicht, von Deinem Thron gestoßen zu werden. Bevor sich Königreiche ändern müssen sich die Menschen ändern.« Herodias aber, herrisch und in ihrem Stolz verletzt, betreibt unermüdlich weiter den Tod des Täufers. Heuchlerisch erbittet sie zunächst in einem Strategiewechsel die Freilassung des Propheten, freilich nur um- - ähnlich wie in Dieterles »Salome«-- Gelegenheit zu einem Attentat zu bekommen. Doch der König durchschaut ihren geheuchelten Sinneswandel und behält Johannes in Haft, nunmehr gleichsam in ›Schutzhaft‹. Doch dann ersinnt Herodias, die schon lange das wachsende Begehren des von ihr verachteten Gatten nach Salome erkannt hat und ihm dies auch auf den Kopf zusagt, die tödliche Tanz-Intrige. Mit den Worten »Geh zu ihm! Du weißt Bescheid! « schickt Herodias ihre Tochter zum König, und Salome ist in Erfüllung dieses Auftrags mehr als nur das willfährige Werkzeug ihrer Mutter. Sie gestaltet das tödliche ›Spiel‹ bewusst mit und bekommt zu ihrer und ihrer Mutter Freude schon vor dem Tanz, nach dem der sinnestrunkene König giert, die unbedingte Zusage, für ihre Darbietung zu bekommen, was immer sie sich wünsche.-- Das für Herodes so erschütternde Ende ist bekannt. Abschluss Die bei Markus und Matthäus erzählte Handlung um den Tod des Täufers gibt in ihrer nicht nur quantitativ überbordenden, sondern auch qualitativ äußerst facettenreichen multimedialen Wirkungsgeschichte, die wir hier nur für das Filmmedium in den Blick genommen haben-- und auch das nur sehr ausschnitthaft--, bestechend Zeugnis vom auf imaginative Vervollständigung drängenden Potential, das gerade aus den Leerstellen der biblischen Texte erwächst. Zugleich macht die Geschichte um die mit Salome identifizierte Tochter der Königin sichtbar, dass der ›Heiligen Schrift‹ nicht nur, wie etwa im Hohenlied, die lichten, sondern auch die dunklen Seiten des Eros nicht fremd sind, die tiefen Abgründe des sexuellen Begehrens, Abgründe, die bis in die Sphäre des Todes reichen. Offensichtlich sind es gerade die dunklen, zerstörerischen Seiten des Begehrens und des Eros, die selbst die Mächtigsten zu Fall bringen können. Sie sind von einer überzeitlich gültigen Kontur, denn weshalb sonst würde der Salome-Stoff-- oder im Alten Testament z. B. die Geschichten von David und Bathseba oder Judith und Holofernes-- bis heute eine solch ungebrochene Strahlkraft ausüben. Bereits in den Filmbearbeitungen, in denen Salome ›nur‹ als naives Werkzeug ihrer Mutter agiert, wird anschaulich, welch subversiver Zug dem Begehren innewohnen, wie Sexualität instrumentalisiert und zur Waffe, mitunter zur tödlichen Waffe werden kann. An der Figur des Antipas führen die Filme vor, welche Macht das Begehren über die Mächtigen gewinnen kann. In der biblischen Version vom Tod des Täufers ist es allein Herodias, die die Klaviatur des Begehrens beherrscht, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis Mutter und Tochter in dieser Politik des Eros immer enger verschmolzen-- so eng, dass es in der Imagination der Künstler verschiedentlich die Mutter selbst wurde, die für Herodes tanzte, weit häufiger aber, dass die Tochter zur tödlichen Femme fatale, ja geradezu zum Prototyp derselben avancierte. Die im Neuen Testament namenlose junge Frau, deren Tanz einem Mann das Leben kostet, »Die im Neuen Testament namenlose junge Frau, deren Tanz einem Mann das Leben kostet, wurde als ›Salome‹ eine der wirkmächtigsten Projektionsfiguren der christlichen Kulturgeschichte. Das allein zeugt von der ebenso großen wie tiefen Faszination des Eros, zumal seiner subversiven, dunklen Seiten, die mit ihrer Energie scheinbar festgefügte gesellschaftliche und politische Machtstrukturen aufzubrechen vermögen.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 43 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 43 Reinhold Zwick Screening Salome wurde als »Salome« eine der wirkmächtigsten Projektionsfiguren der christlichen Kulturgeschichte. Das allein zeugt von der ebenso großen wie tiefen Faszination des Eros, zumal seiner subversiven, dunklen Seiten, die mit ihrer Energie scheinbar festgefügte gesellschaftliche und politische Machtstrukturen aufzubrechen vermögen. Wie die von Rita Hayworth vorgestellte, ins Fromme gewendete 32 »Salome« beispielhaft zeigt, hatte demgegenüber der gebändigte, für das Gute zu funktionalisieren gesuchte Eros keine Chance, jedenfalls im Kino nicht. Anmerkungen 1 Zit. n. D. Keesey/ P. Duncan (Hgg.), Erotic Cinema, Köln u. a. 2005, 47.-- Zanuck produzierte u. a. den sehr erfolgreichen Monumentalfilm »David and Bathsheba« (USA 1951; Regie: Henry King). 2 Berlin 2011 (Erstausgabe 1959). 3 Einführend zur historischen Salome, einer Tochter von Herodes Boethos und Herodias (ca. 10-- 64 n. Chr.) vgl. S. Luther, Art. »Salome« in: wibilex.de (Kap. 2.1). 4 http: / / de.wikipedia.org/ wiki/ Salome_%28Tochter_der_ Herodias%29 (zuletzt aufgerufen am 3. Juli 2012- - so auch alle anderen Internetquellen).-- Der erste Satz zitiert: S. Walz, Tänzerin um das Haupt. Eine Untersuchung zum Mythos »Salome« und dessen Rezeption durch die europäische Literatur und Kunst des Fin de Siècle, München 2008 (Lit.). 5 Vgl. Th. Rohde (Hg.), Mythos Salome. Vom Markusevangelium bis Djuna Barnes, Leipzig 2000 (Lit.); E. Wäcker, Die Darstellung der Tanzenden Salome in der Bildenden Kunst zwischen 1870 und 1920, Berlin 1993; L. Winterhoff, Ihre Pracht muß ein Abgrund sein, ihre Lüste ein Ozean. Die jüdische Prinzessin Salome als Femme fatale auf der Bühne der Jahrhundertwende, Würzburg 1998; L.A. Saladin, Fetishism and Fatal Women: Gender, Power, and Reflexive Discourse; New York u. a. 1993; und immer noch: H. Daffner/ W. Thöny, Salome: ihre Gestalt in Geschichte und Kunst, Dichtung, bildende Kunst, Musik, München 1912. - Zum Musiktheater vgl.: C. Vander Stichele, Murderous Mother, Ditto Daughter? Herodias and Salome at the Opera, in: Lectio difficilior Nr. 2, 2001, online unter: http: / / www.lectio.unibe.ch/ 01_2/ v. html (viele Literaturhinweise auch zur Salome-Rezeption in anderen Künsten! ). 6 Vgl. u. a. E.M. Fischer, Salome-- Femme fatale des Neuen Testaments? Ein Streifzug durch die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte, in: J. Frühwald-König/ F.R. Prostmeier/ R. Zwick (Hgg.), Steht nicht geschrieben? Studien zur Bibel und ihrer Wirkungsgeschichte (Festschrift für Georg Schmuttermayr), Regensburg 2001, 383-401; Luther, Art. »Salome« (dort: Kap. 2.2).-- Für die Kunstgeschichte bes.: K. Merkel: Salome. Ikonographie im Wandel, Frankfurt a. M. 1990 (zugl. Diss. Universität Mainz 1989). 7 Th. Rohde, Nachwort: Hinter den Schleiern, in: Ders. (Hg), Mythos Salome, 265-290, hier: 289. 8 Vgl. C. Fernandez Cuenca, Cine Religioso. Filmografia Critica (Publicaciones de la semana international de cine religioso y de valores humanos, Vol.-1), Valladolid 1960, 103; Die offiziöse deutsche Website »filmportal.de« kennt von Messter erst aus dem Jahre 1906 einen Film mit dem Titel »Tanz der Salome«. 9 Mutatis mutandis gilt auch für die Malerei, was Thomas Rohde (Nachwort, 283) über die Literatur befindet: »Den Tanz herzustellen, ihn adäquat wiederzugeben, ist den Buchstaben der Literatur nur um den Preis ihres Versagens möglich, nämlich, wenn sie ihre Faszination vielmehr gerade aus der Unangemessenheit ihrer Mittel an ihren Stoff bezieht.« 10 Oscar Wilde, Salome. Tragödie in einem Akt (Reclam UB 4497), aus dem Französischen übersetzt von Hedwig Lachmann, Stuttgart 2012.-- Auf diese Ausgabe wird im Folgenden mit Seitenangaben im Haupttext verwiesen. 11 Zit. n. http: / / cinomat.kim-info.de 12 Vgl. bes.: G.E. Forshey, American Religious and Biblical Spectaculars (Media and Society Series), Westport, Conn./ London 1992; B. Babington/ P.W. Evans, Biblical Epics. Sacred Narrative in the Hollywood Cinema, Manchester/ New York 1993. 13 Auch Th. Rohde (Nachwort, 277) sieht im Angebot des halben Reiches ein »kaum verhülltes Heiratsangebot«. 14 M. M. Lintner, Den Eros entgiften. Plädoyer für eine tragfähige Sexualmoral und Beziehungsethik, Innsbruck 2 2012. 15 Das heute scheinbar unverrückbar mit Salomes Tanz verbundene Motiv der ›sieben Schleier‹ wurde erst durch Oscar Wildes Drama eingeführt. 16 Der Film ist in verschiedenen Musikfassungen mehrfach unter www.youtube.com eingestellt. 17 Vgl. U. Karthaus, Nachwort, in: Wilde, Salome, 57-69, hier: 63 f. 18 Etliche gute Beispiele für erotische Szenen und eine ostentative Zurschaustellung weiblicher und männlicher Körperlichkeit bietet das von Robin Cross mit satirischem Gestus zusammengestellte Buch »The Bible According to Hollywood, London 1984, 7 f.; 20-24 u. passim. 19 Keesey/ Duncan (Hgg.), Erotic Cinema, 186.-- Vgl. das Szenenfoto bei Gibb, Bible According to Hollywood, 46, auf dem sich ein zähnefletschender Gorilla einer nackten Schönen nähert, die mit einer von Blüten umrankten Kette an eine Steinsäule gefesselt ist. 20 Eine Bildergalerie findet sich unter: http: / / www.imdb. com/ media/ rm1298700288/ nm0000847. 21 Fernandez Cuenca, Cine Religioso, 104 (Übers. R. Z.). 22 Vgl. die Abbildungen bei Gibb, Bible According to Hollywood, 23, 57. 23 Vgl. R. H. Campbell/ M.R. Pitts, The Bible on Film. A Checklist, 1897-1980 (Metuchen N.J./ London 1981), 94. 24 Vgl. Campbell/ Pitts, The Bible on Film, 94. 25 J. Nagel, Ikonen aus der Traumfabrik. Film-Stills Ausstellung im Deutschen Filmmuseum Frankfurt, in: filmdienst, Nr. 12, 1993. 26 Ebd. 27 Vgl. Fernandez Cuenca, Cine Religioso, 103 f.; Campbell/ Pitts, The Bible on Film, 77. Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 44 - 4. Korrektur 44 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Zum Thema 28 Als zweite italienische Produktion in der Stummfilmzeit benennt die Filmografie von Fernandez Cuenca (Cine Religioso, 104) für das Jahr 1913 noch eine weitere »Salome«, gedreht unter der Regie von Alberto Nepoti mit Adriana Costamagna in der Titelrolle für die Firma »Savoia Film«. Fernandez Cuenca charakterisiert den Film als »typisch italienischen Bibelfilm, der danach strebt, die Werte des Spektakulären mit denen einer moralischen und religiösen Lektüre der Heiligen Schrift zu verbinden.« (Übers. R. Z.) 29 Vgl.: www.europafilmtreasures.de/ PY/ 424/ uber-den-filmsalome. 30 Zit. nach der online-Ausgabe: http: / / cinomat.kim-info. de/ filmdb/ personen.php? personnr=83 881. 31 In einer interessanten Variante bricht George Stevens in »The Greatest Story Ever Told« (1965) aus diesem Dreieck das Begehren weithin heraus, entkoppelt Tanz und Tod und zentriert den inneren Konflikt seines ernst und streng angelegten, in der Leere seines weiten Palastes existentiell einsamen Antipas auf den Zwiespalt zwischen Machterhalt und Gewissen. Noch während Salome, die bei Stevens mehr ihren Stiefvater begehrt als er umgekehrt sie, den König umtanzt kommt der Henker. Herodes hatte bereits von sich aus die Hinrichtung des Täufers befohlen und sich von diesem verabschiedet. Ja, der Täufer hatte ihn nachgerade zur eigenen Hinrichtung aufgefordert, indem er an ihn appelliert hatte: »Töte mich, damit ich lebe! «, denn: »Dann machst Du mich frei«. 32 Die Inspiration hierfür rührt wohl aus der alten Identifizierung der Herodias-Tochter mit jener »Salome«, die nach Mk 16,1 zusammen mit der Magdalenerin und Maria, der Mutter des Jakobus, zum Grabe kommt, um Jesu Leichnam zu salben. Eine derartige Identifizierung setzt dann eine große Imaginationsmaschine in Gang, um die dazu nötige Umkehrgeschichte zu projizieren. NEUERSCHEINUNG A. Francke Verlag • D-72070 Tübingen • info@francke.de • www.francke.de Matthias Klinghardt/ Hal Taussig (Hrsg.) Mahl und religiöse Identität im frühen Christentum - Meals and Religious Identity in Early Christianity Texte und Arbeiten zum Neutestamentlichen Zeitalter, Band 56 2012, 372 Seiten, € (D) 78,00/ SFr 105,00 ISBN 978-3-7720-8446-1 Das gemeinsame Essen und Trinken prägte wesentlich die Identität antiker Gemeinschaften: Soziales und religiöses Selbstverständnis, Zugehörigkeit und innere Struktur sowie die Abgrenzung von anderen Gruppen waren in hohem Maße durch das gemeinsame Mahl bestimmt. Unter diesem Paradigma behandeln die Beiträge des vorliegenden Bandes frühchristliche Gemeinschaftsmähler in ihrem kulturellen und religionsgeschichtlichen Kontext. Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 45 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 45 Kann das Neue Testament Grundlage einer zeitgemäßen Sexualethik sein? Einleitung zur Kontroverse zwischen Lukas Bormann und Eckart Reinmuth Ein Lehramtsstudent der Evangelischen Religionslehre kommt in die Sprechstunde des Prodekans. Er will das Fach wechseln. Grund: Die Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche. Etwa zeitgleich gehen die Missbrauchsfälle der Odenwaldschule durch die Presse. Als der Student aus der Tür ist, fällt mir die Frage ein, warum ihn das Fehlverhalten jener namhaften Reformpädagogen nicht in analoge Zweifel an den pädagogischen Anteilen seiner Lehramtsausbildung stürzt. Für meine mangelnde Schlagfertigkeit bin ich aber (wiederum nach einigem Nachdenken) nicht undankbar, denn das Verhältnis von Religion und Sexualität ist von eigener Qualität und Tragweite. Läuft hier etwas falsch, wird regelmäßig großes Leid angerichtet, Beziehungen und Biographien werden schwer beschädigt, der Glaube wird zur Geißel, und Fragen nach der Glaubwürdigkeit des Ganzen stellen sich unerbittlich: Ist man nicht am Ende doch besser beraten, wenn man Jugendliche für Brecht und Böll zu begeistern sucht und von der Bibel die Finger lässt? Das Verhältnis zwischen Religion und Sexualität ist, so scheint es, von maximaler Intensität und Intimität. Deshalb bedarf der Rekurs auf die Bibel auf diesem Feld jedenfalls besonderer Umsicht und Überlegung. Die Kontroverse dieses Heftes kann hierbei in beiden Teilen wichtige Anregungen und Hilfestellungen geben. Die Beiträge sind zeitgleich und unabhängig von einander entstanden und, dem Wunsch der Autoren entsprechend, nach gegenseitiger Kenntnisnahme auch nicht überarbeitet worden. So sind die Leserinnen und Leser gefordert, sich zwischen dem deutlichen »Nein« von Lukas Bormann und dem ebenso klaren »Ja« von Eckart Reinmuth zu positionieren. Lukas Bormann setzt bei der kulturellen Differenz zwischen den antiken neutestamentlichen Texten und den Fragestellungen heutiger Sexualethik an. Er konstatiert, dass die heute maßgeblichen Prinzipien der Menschenwürde, des Diskriminierungsverbotes und der Freiwilligkeit der Sexualbeziehungen jenseits des antiken Horizonts lagen, die Texte des NT inbegriffen. Er zeigt dies mit wichtigen und erhellenden Beobachtungen und Argumenten anhand der Bereiche des sexuellen Missbrauchs, der Ehe bzw. Ehescheidung und der Homosexualität: Stets bleiben die neutestamentlichen Texte entweder stumm oder sie gehen von Grundannahmen aus, die mit heutiger Sexualethik nicht vermittelbar sind und deshalb nicht zur Grundlage theologisch valider Aussagen gemacht werden dürfen. Freilich liegt auch das »Ja« Eckart Reinmuths nicht auf der Ebene sexualethischer Normenfindung oder religiöser Legitimation, und Reinmuth sieht ebenso klar wie Bormann, dass die neutestamentlichen Texte von der patriarchalen und machtförmigen Prägung antiker Geschlechterverhältnisse tiefgreifend bestimmt sind. Er hält es aber für möglich und geboten, von der Jesus-Christus-Geschichte her falsche Naturalisierungen gesellschaftlicher Verhältnisse, von denen auch das Neue Testament keineswegs frei ist, sachkritisch aufzuspüren und im sexualethischen Diskurs zu Orientierungen zu gelangen, die aus der in Jesus Christus erschlossenen neuen und befreienden Wirklichkeit gewonnen sind. Die Möglichkeit und Notwendigkeit solchen Fragens ist deshalb gegeben, weil Sexualität etwas mit Liebe zu tun hat und weil das Neue Testament und überhaupt die Bibel über Liebe eine Menge zu sagen weiß, bis dahin, dass die Liebe Gottes zu den Menschen auch in erotische Metaphern gefasst werden kann. Dann macht sich auch auf dem Feld der Sexualethik der »Geist, der lebendig macht« (Bormann) bemerkbar. Zu diskutieren wäre in Fortsetzung dieser Kontroverse, ob und in welchem Maße dieser Geist gegen die Texte durchgehalten werden muss oder sich auch in den Texten selbst finden lässt. Manuel Vogel Kontroverse Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 46 - 4. Korrektur 46 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Die Freiheit, Gleichheit und Würde eines Menschen dürfen nicht wegen seiner sexuellen Orientierung eingeschränkt werden. Die sexuelle Orientierung darf keine Ursache für Benachteiligungen und Diskriminierungen sein. Freiwillige sexuelle Beziehungen unter Erwachsenen sind strafrechtlich irrelevant. In diesen drei Sätzen lässt sich in Anlehnung an die Charta der Grundrechte der Europäischen Union das zusammenfassen, was in westlichen Gesellschaften unter zeitgemäßer Sexualethik verstanden wird: Menschenwürde, Diskriminierungsverbot und Freiwilligkeit. Kann das Neue Testament die Grundlage für eine solche Sexualethik sein? Wohl kaum, denn die drei genannten Prinzipien lagen jenseits des Horizonts der vormodernen Gesellschaften der Antike, in denen die Texte des Neuen Testaments entstanden sind. Statt die Menschenwürde zu schützen, betrieb man bewusst grausame Hinrichtungsarten wie Pfählung, Erdrosselung, Steinigung und Kreuzigung (von der Skalpierung nach Skythenart und ähnlichen Exzessen ganz zu schweigen). Man kannte kein Diskriminierungsverbot, sondern bevorzugte abwertende Stereotypisierungen »der Barbaren«, »der Skythen«, »der Juden«, »der alten Weiber«, »der Sklaven« und aller anderen Menschengruppen, die aus der eigenen Perspektive als »übel« angesehen wurden. Selbst ein gebildeter Wissenschaftler wie Ptolemäus unterschied Völker, die er nicht näher kannte, einfach nach Essgewohnheiten und nannte sie »Menschenfresser« (1,17,11,gr.: anthrōpophagoi), oder »Elephantenfresser« (4,7,28, gr.: elephantophagoi). Statt Freiwilligkeit in der Sexualität zu gewährleisten, schilderte man in der antiken Literatur mit großer Detailverliebtheit Vergewaltigungen, inszenierte sie zudem seit der mittleren Komödie auf der Theaterbühne und weihte die Vorstellungen dem Gott Dionysos. Waren die Menschen, die die biblischen Texte schrieben anders oder gar besser als ihre Umwelt? Wohl kaum. Die grausamen Hinrichtungsarten, die Stereotypisierungen anderer Menschengruppen, die Vergewaltigungsmetaphorik, all das findet sich auch in der Heiligen Schrift des Christentums von der Genesis bis zur Johannesoffenbarung und oft genug sollen diese Aussagen vom »Volk Gottes« als richtig angesehen werden-- ich verzichte darauf, diese Büchse der Pandora weiter zu öffnen. Wenn man nach der Grundlage für eine »zeitgemäße Sexualethik« fragt, dann kann man nicht einfach die Bibel oder das Neue Testament zugrunde legen. Viele Fragen, die die Sexualethik in modernen, ausdifferenzierten und am Individuum orientierten Gesellschaften zu beantworten hat, wurden in den Gesellschaften, aus denen die Texte des Neuen Testaments stammen, gar nicht gestellt. Um das Neue Testament in Beziehung zu einer zeitgemäßen Sexualethik zu setzen, bedarf es eines Perspektivwechsels. Es ist vielmehr zu fragen, ob das Neue Testament etwas dazu beitragen kann, dass auch diejenigen, die diese problematischen Texte als heilige Schrift verstehen, die Menschenwürde, das Diskriminierungsverbot und das Prinzip der Freiwilligkeit in der Sexualität achten können. Ist es möglich, die Akzente im Umgang mit diesen Texten so zu setzen, dass nicht der Eindruck bleibt, dass das »wörtlich« verstandene Neue Testament kollektive Strafen bevorzugt (Jesus in Mt 11,21-24), Menschen mit homosexueller Praxis den Tod wünscht (Paulus in Röm 1,26 f.32, gr.: axioi thanatou), Menschen mit unangemessenen Partnerschaften dem Satan überantwortet (Paulus in 1Kor 5,5, gr.: paradounai ton toiouton tō Satana) und die bedingungslose Unterordnung von Sklavinnen und Sklaven, Frauen und Kindern »in allen Dingen« (Pseudopaulus in Kol 3,18-4,1, gr.: kata panta) fordert? Das ist möglich, aber es ist nicht die Leistung »des Neuen Testaments«, sondern derjenigen Frauen und Männer, die mit diesen Texten leben und mit ihnen ringen, die mit Paulus gesprochen dem Geist folgen, der lebendig macht, und nicht dem Buchstaben, der tötet (2Kor 3,6). Es gibt weder »die« Sexualethik noch »die« Theologie des Neuen Testaments, sondern Menschen und Gemeinschaften, die diese Texte für ihre Lebensorientierung in Anspruch nehmen. Das gilt auch und besonders für jene, die mit einem vermeintlich »wörtlichen« oder »sachgemäßen« Verständnis »der« Heiligen Schrift menschenfeindliche Einstellungen gegen »unbiblische« Sexualpraktiken rechtfertigen und dann scheinbar persönlich unbeteiligt darauf verweisen, dies sei ja nicht ihre eigene, menschlich authentische Ansicht, die sie aus den emphatischen Lukas Bormann Sexualizing with the New Testament? Das Neue Testament kann keine Grundlage einer zeitgemäßen Sexualethik sein. Kontroverse Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 47 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 47 Lukas Bormann Sexualizing with the New Testament? Begegnungen mit ihren Mitmenschen gewonnen hätten, sondern das »klare Zeugnis« der Schrift und göttliches Gebot, dem sie sich nur beugen würden. 1 Nehmen wir also die Texte des Neuen Testaments in Anspruch für sexualethische Überlegungen der Gegenwart. Dunn spricht hinsichtlich der Theologie des Neuen Testaments von »theologizing«. 2 Das ist für ihn die Bereitschaft, die lebendigen und bewegenden Erfahrungen, Gedanken und Handlungsweisen der ersten Christen freizulegen. Also betreiben wir »sexualizing« und legen die Erfahrungen, Gedanken und Handlungsweisen der ersten Christen zur Sexualität frei. Wir stoßen dabei im Gegensatz zur inspirierenden Theologie des Neuen Testaments auf viele abwegige und ungewöhnliche Vorstellungen zur Sexualität, die nicht als Endpunkte der dogmatischen oder ethischen Debatten gelten dürfen. Menschen, die heute eine menschliche, schöpfungsgerechte und befreiende Sexualität leben wollen, werden dabei vom Neuen Testament kaum unterstützt. Sexualizing with the New Testament Welche Themen rund um Sexualität werden heute diskutiert? (Zwangs-)Heterosexualität, Homosexualität, Autosexualität, Non-Sexualität, Sexualität und Alter, Normalität und Perversion, Pornografie, Frauen- und Kinderhandel, Pädophilie, sexualisierte Körperinszenierungen, sexuell aufgeladener Rassismus, sexuelle Belästigung, Vergewaltigung, Begehren, Begierde, Sexualität und Gesundheit, Sexualität und Behinderung, das Verhältnis von biologischem und sozialem Geschlecht (sex/ gender), Sexualität und Fortpflanzung und vieles andere mehr. Sexualität gehört heute zu einem Bereich des menschlichen Lebens, der intensiv erforscht und kontrovers bewertet wird. Wer möchte, kann heute sehr viel über Sexualität wissen. Aber auch wer nicht möchte, wird mit einer durch und durch sexualisierten Gesellschaft konfrontiert: sex sells. Die kritische Sexualwissenschaft kommt zu folgender ambivalenter Situationsbeschreibung: »Gegenwärtig ist unser Alltag von sexuellen Reizen ebenso gesättigt wie entleert. […] Offenbar wird sexuelle Lust durch deren übertriebene kulturelle Inszenierung, durch deren beinahe lückenlose Kommerzialisierung und elektronische Zerstreuung wirksamer ausgetrieben, als es die alte Unterdrückung durch Verbote vermocht hat« 3 . In der öffentlichen Diskussion über Sexualität wird zwischen der sozialen Dimension sexualethischer Konflikte und der auf Freiwilligkeit beruhenden individuellen sexuellen Praxis unterschieden. Einvernehmlicher Sex zwischen selbstbestimmten und mündigen Menschen gilt als sittlich, wenn er die »personale Würde« respektiert. 4 Das, was die Grenzen der Menschenwürde, des Diskriminierungsverbots und der Freiheit des einzelnen nicht berührt, entzieht sich der Regelung durch die Gesellschaft. Die Grenzziehung zwischen der individuellen sexuellen Praxis und der sozialen Dimension von Sexualität kennen die Schriften des Neuen Testaments nicht. Zudem werden viele der oben aufgelisteten Fragen gar nicht erörtert. Inwiefern kann dann das Neue Testament Grundlage sexualethischer Orientierung sein, wenn es nur auf einige wenige Aspekte der Sexualität eingeht? Ich greife deswegen im Folgenden drei Bereiche heraus, zu denen sich Autorinnen und Autoren des Neuen Testaments äußern und die es überhaupt ermöglichen, mit Texten des Neuen Testaments Fragen der Sexualität zu erörtern: 1. Sexueller Missbrauch und sexualisierte Gewalt, 2. Ehe und Ehescheidung, 3. Homosexualität. 1. Sexueller Missbrauch und sexualisierte Gewalt Wir wissen aus Neh 7,66, dass mit den 42 360 freien Israeliten auch 7337 Sklavinnen und Sklaven aus dem Exil zurückkehrten. 5 Auch in den neutestamentlichen Prof. Dr. Lukas Bormann, seit 2009 Inhaber des Lehrstuhls für Neues Testament II (Geschichte und Literatur des Urchristentums)-an der Universität-Erlangen. Zuvor-Lehrstuhlinhaber-an der Universität-Bayreuth und- Professor an der TU- Braunschweig, akademischer Rat in Hildesheim und wissenschaftlicher Mitarbeiter in Frankfurt am Main. Sein Kommentar zum Kolosserbrief (ThHK 10/ 1) wird Ende 2012 erscheinen. Forschungsinteressen: Sozial- und Religionsgeschichte des Neuen Testaments,-das Politische im Neuen Testament und in der neutestamentlichen Forschungsgeschichte. Lukas Bormann Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 48 - 4. Korrektur 48 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Kontroverse Gemeinden gab es Sklavenbesitzer und SklavInnen (Phlm). 6 Die so genannte »Haustafel« in Kol 3,18-4,1 verlangt von Kindern und SklavInnen, ihren »Eltern«, »Herren« und SklavenbesitzerInnen in »allen Dingen« (gr.: kata panta) zu gehorchen (gr.: hypakouete), weil »dies dem Herrn [= Gott oder Christus] wohlgefällig ist« (gr.: touto gar euareston estin en kyriō). Noch konservativer argumentiert der erste Brief an Timotheus, der in 1Tim 6,1 f. von den SklavInnen, die »christliche« SklavenbesitzerInnen haben, einen besonders bedingungslosen Gehorsam fordert (vgl. 1Petr 2,18). 7 In der neuesten Forschung wird diskutiert, wie sich die neutestamentlichen Ansichten zum Gehorsam von SklavInnen und Kindern zu sexueller Gewalt und sexuellem Missbrauch verhielten. Was passierte in den christlichen Hausgemeinden? Wie erging es den Frauen und den Kindern dort? 8 Aus der biblischen und aus der antiken Literatur wissen wir, dass SklavenbesitzerInnen ihre SklavInnen und deren Kinder für sexuelle Dienste in Anspruch nahmen (Gen 16,2; Lev 19,20; 25,44-46). Der Sklavenbesitzer Seneca, ein Zeitgenosse von Paulus, (ep. 5,47,8) schildert eine typische Szene während eines Symposiums in einem römischen Haushalt: »Ein anderer [Sklave] als Mundschenk nach Frauenweise bekleidet, […] von glatter Haut, da die Körperhaare abgeschabt und völlig ausgerissen sind, wacht er die ganze Nacht, die er zwischen der Trunkenheit des Herrn und dessen Geschlechtslust (libido) teilt.« Auch wenn man nicht damit rechnet, dass es in »christlichen« Hausgemeinden zu derartigen Szenen kam, bleibt doch die Frage, welche Hilfen das Neue Testament Gemeindegliedern gab, die als SklavInnen mit nichtchristlichen Sklavenbesitzern zu tun hatten. War die absolute Gehorsams- und Unterordnungsforderung alles, was die Schriften des Neuen Testaments zum sexuellen Missbrauch von Kindern und Sklaven zu sagen hatten? Ist die Egalitätsformel in der Taufparänese nach Gal 3,28; 1Kor 12,13 und Kol 3,11, die den Unterschied zwischen personenrechtlich Freien (gr.: eleutheros) und SklavInnen (gr.: doulos) aufhob, auf diese Situationen bezogen worden? 9 Wir finden im Neuen Testament keine Aussagen, die hier Klarheit schaffen, und deswegen kann das Neue Testament keine Grundlage für sexualethische Orientierung bei sexuellem Missbrauch und sexueller Gewalt sein. 2. Ehe und Ehescheidung Wer über die Ehe spricht, der darf über die Scheidung nicht schweigen. Wer sich mit Partnerschaften befasst, hat auch Trennungen zu thematisieren. Das ist nicht erst eine Erfahrung der Moderne, sondern auch der vormodernen antiken Gesellschaften. Sie waren sich darüber im Klaren, dass die Institution Ehe nur denkbar ist, wenn ihr eine Institution Ehescheidung an die Seite gestellt wird. Patriarchale Gesellschaften regelten das Ehe- und Scheidungsrecht als ein Recht der freien und besitzenden Männer. Frauen galten in diesem Zusammenhang als Besitz der Väter bzw. Ehemänner. Die Ehe regelte den Besitzwechsel einer heiratsfähigen Frau aus einer Familie in die andere und die Scheidung die Rückgabe des erworbenen Besitzes wegen eines Mangels. Die Frauen hatten in diesem Zusammenhang keine Rechte, konnten aber Macht ausüben, wenn sie einer edlen und mächtigen Familie entstammten. In diesen Fällen waren sie gegen Willkür und einseitige Verfügung der Männer geschützt. Rechte der Frau, Ehevertrag, Mitgift, Brautpreis usw. setzen also einerseits Familienväter und Söhne mit Besitz und andererseits Bräute und Töchter aus vermögenden Familien voraus. Der Rechtshistoriker Daube geht davon aus, dass im römischen Reich nur 5 % der Partnerschaften als Rechtsinstitut Ehe mit Ehevertrag geschlossen wurden. 10 Die große Mehrheit der »Habenichtse« lebte ohne Vertrag zusammen und musste Streitigkeiten nach dem gesunden Menschenverstand regeln. Das Neue Testament spiegelt eher die Verhältnisse einfacher, oft besitzloser Männer und Frauen, nicht selten auch von Sklavinnen und Sklaven (1Kor 1,26-28). Wie wird der Ehevertrag des Petrus, der um der Nachfolge willen alles verlassen hatte, mit der »Schwester« als Ehefrau, die ihn auf seinen Missionsreisen begleitete, ausgesehen haben (1Kor 9,5)? Und: War das die gleiche Frau, deren Mutter im galiläischen Kapernaum lebte (Mk 1,30)? Vermutlich hatte auch Petrus mehrere Partnerschaften und sehr wahrscheinlich hat er keine von ihnen in einem schriftlichen Ehevertrag dokumentiert. Die Evangelienüberlieferung thematisiert die Ehe vor allem in Hinsicht auf Scheidung und Wiederheirat. Die Scheidungsregeln stimmen darin überein, dass sie den so genannten »Scheidebrief« ablehnen. Dieses Rechtsdokument regelte analog zur Freilassungsurkunde eines Sklaven die Rechtsfragen der Scheidung wie »War die absolute Gehorsams- und Unterordnungsforderung alles, was die Schriften des Neuen Testaments zum sexuellen Missbrauch von Kindern und Sklaven zu sagen hatten? « Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 49 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 49 Lukas Bormann Sexualizing with the New Testament? Datum, Übergabe der Frau an die Herkunftsfamilie, Rückgabe des Brautpreises. Es eröffnete vor allem der Frau die Möglichkeit zur Wiederheirat, da es auch die Formel enthielt: »Du bist nun jedermann erlaubt« (bGit 85b). 11 Die Ablehnung des Scheidebriefes durch Jesus und seine Nachfolgegemeinschaft ist wohl in erster Linie der Ablehnung einer Wiederheirat geschuldet (Mt 5,31 f.; 19,9). Jesus wählte für dieses Verbot eine drastische Formulierung: Der geschiedene Mann und der Mann, der eine entlassene Frau heiratet, begehen »Ehebruch«, ein Tatbestand, auf den die Todesstrafe stand. 12 Die Ehe oder auch nur die Loyalität zur Familie und zu deren Erbbesitz wird hingegen nicht besonders hoch geschätzt (Mt 19,29): »Und ein jeder, der Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Frau oder Kinder oder Äcker um meines Namens willen verlassen hat, wird hundertfach empfangen und ewiges Leben erben.« Wie irrelevant die Ehe angesehen wurde, zeigt auch noch die Antwort Jesu auf die Frage nach den ehelichen Verhältnissen in der Auferstehung der Toten (Mt 22,30): »denn in der Auferstehung heiraten sie nicht, noch werden sie verheiratet, sondern sie sind wie Engel Gottes im Himmel«. Hat Jesus die Ehe grundsätzlich abgelehnt? »The true meaning of Jesus’ prohibition of divorce and remarriage is to supersede traditional marriage and substitute for it the eschatological family. Jesus forbade divorce in order to destroy marriage.« 13 Wer die Scheidung ablehnt, möchte die Institution der Ehe zerstören, und genau das sei das Ziel Jesu gewesen. Die Antwort der Jünger auf Jesu Wiederverheiratungsverbot weist ebenfalls in diese Richtung (Mt 19,10): »Wenn die Sache des Mannes mit der Frau so steht, so ist es nicht ratsam zu heiraten.« So ähnlich sah das wohl auch Paulus. Er äußert in 1Kor 7,1 die Überzeugung, es sei für den Mann besser, eine Frau nicht zu »berühren«. Er zitiert zudem in 1Kor 7,10 f. das Scheidungsverbot und hält Heirat und Ehelosigkeit für gleichwertig (1Kor 7,27 f.). 14 Das Neue Testament thematisiert die rechtlichen Aspekte der Ehe und lehnt die Wiederheirat kategorisch ab. Es kennt keine Partnerschaften, in denen Menschen ihre Sexualität leben und sich aufgrund freier Entscheidung vertrauensvoll und loyal beistehen, deswegen kann das Neue Testament keine Grundlage für sexualethische Orientierung für Fragen der Ehe, der Scheidung und der Wiederheirat sein. 3. Homosexualität Es kann kaum Zweifel daran geben, dass Paulus homosexuelle Sexualpraktiken ablehnte. In Röm 1,24-32 schildert er, wie Gott die nichtjüdischen Menschen einem selbstzerstörerischen Tun als Strafe »dahingegeben« habe. Exzessive und willentliche Begierde sind Teil dieses selbstvernichtenden Handelns der gottfeindlichen Welt. Die nichtjüdischen Menschen erwirken durch ihr Tun ihr eigenes Verderben. Als Beispiel für eine solche Selbstzerstörung nennt Paulus Sexualpraktiken »wider die Natur« (gr.: para physin), zu denen er homoerotische sexuelle Praktiken unter Frauen und unter Männern zählt. Sie gelten ihm als Zeichen der Feindschaft der Geschöpfe gegen ihren Schöpfer. Diejenigen, die solches tun, haben nach Röm 1,32 die Todesstrafe verdient (gr.: hoi ta toiauta prassontes axioi thanatou eisin). Es gibt viele Argumente, die es erlauben, diese Aussagen zu relativieren. Zu Recht wird vorgebracht, dass das paulinische Verständnis von »Natur« nicht auf Kenntnissen über biologische Abläufe beruhe, sondern sozial und kulturell bestimmt sei und z. B. auch die Unterordnung der Frau unter den Mann umfasse. 15 Paulus formuliert zudem polemisch und rhetorisch überspitzt. Er thematisiert suggestive Vorstellungen von unbändiger Lust (gr.: eis pathē atimias: »schmähliche Leidenschaft«) und von asozialen und rücksichtslosen Leidenschaften (gr.: exekauthēsan en tē orexei: »sie brannten in der Begierde«). Für Paulus wie für große Teile seiner Umwelt galt homoerotische Liebe als Ausdruck extremer Leidenschaft, der diejenigen verfallen waren, die auf »natürliche« Weise (gr.: physikē) ihr Verlangen nicht mehr stillen konnten. Seine Ablehnung der homosexuellen Sexualpraxis folgt damit der gleichen Vorstellung wie die Empfehlung an diejenigen, die ihre sexuelle Begierde nicht zügeln konnten: Sie sollten eine Partnerschaft eingehen, weil es besser sei zu heiraten als vor Begehren zu »verbrennen« (1Kor 7,9 gr.: kreitton gar estin gamēsai ē pyrousthai). Der Kontext in 1Kor 7 unterstreicht, dass Paulus bei »heiraten« (gr.: gamein) nur an heterosexuelle Partnerschaften denkt. Er kannte keine homosexuellen Partnerschaften, die ihre sexuellen Praktiken sozial integrierten und ihr Zusammenleben auf Dauer anlegten. Seine Überlegungen zur Sexualität folgen den Anschauungen, die im Alten Testament vorherrschen. Wer als Mann »Das Neue Testament thematisiert die rechtlichen Aspekte der Ehe und lehnt die Wiederheirat kategorisch ab. Es kennt keine Partnerschaften, in denen Menschen ihre Sexualität leben und sich aufgrund freier Entscheidung vertrauensvoll und loyal beistehen« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 50 - 4. Korrektur 50 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Kontroverse bei einem Mann »liegt wie bei einer Frau« (Lev 20,13), übt nach dieser Vorstellung eine Sexualpraxis aus, die einen aktiven (maskulinen) Part und einen (femininen) passiven Part voraussetzt. 16 Der aktive Partner degradiert den passiven auf eine Weise, die als schändlich empfunden wird. 17 Diese Rollen werden in den so genannten Lasterkatalogen benannt. Der »Mannbeschläfer« (1Kor 6,9; 1Tim 1,10, gr.: arsenokoitēs; vgl. Lev 20,13, gr.: kai hos an koimēthē meta arsenos koitēn gynaikos) meist fälschlich mit »Knabenschänder« übersetzt, bezeichnet mit einiger Wahrscheinlichkeit den penetrierenden Part im Sexualakt, während mit malakos (1Kor 6,9) ein feminin wirkender Mann vorgestellt ist, der sich dafür zur Verfügung stellt. Die Begriffe müssen nicht zwingend so eng wie eben formuliert auf den Sexualakt als solchen bezogen sein, sondern können auch ein entwürdigendes Ausbeutungsverhältnis zwischen Männern meinen, das auch sexuelle Ausbeutung einschließt, aber nicht darauf beschränkt ist. Dann wäre eher an Zuhälterei und männliche Prostitution zu denken, was auch sehr viel besser in den Kontext von 1Kor 6,9 f. passt. 18 Die Liste nennt in einer personalisierten Form kriminelle und asoziale Verhaltensweisen, die den Zugang zur Königsherrschaft Gottes ausschließen. Zwischen Räubern und Trinkern werden auch homosexuelle Männer, vermutlich aber Zuhälter und männliche Prostituierte genannt. Eine geschmacklose Kombination, die sich durch die satte Lebenserfahrung des Paulus und der Korinthergemeinde erklärt, denn Paulus deutet an, dass einige Gemeindemitglieder einstmals auch »solche« gewesen seien, ohne konkret zu werden. Paulus und die Bibel als Ganzes vertreten eine heterosexuelle Ideologie. 19 Viele ihrer Ausleger nutzen diese Aussagen und steigern die Ideologie geradezu zur Idolatrie, zum Götzendienst an Ehe und Familie. 20 Diese Lebensform wird mit Christlichkeit verbunden, obwohl das Neue Testament mehr Aussagen gegen als für Ehe und Familie enthält: »Jesus of Nazareth was not a family man.« 21 Das Neue Testament setzt hier einige Akzente, die auch Beachtung verdienen. Jesus rühmt diejenigen, die sich um der Königsherrschaft willen kastrieren lassen (Mt 19,12). In der Korinthergemeinde vertritt man die Vorstellung, dass es für den Mann gut sei, auf Sexualität mit einer Frau zu verzichten (1Kor 7,1). Paulus deutet an, dass er selbst sehr wohl ohne Ehe und Partnerschaft auskommt und dass das ein erstrebenswerter Zustand sei (1Kor 7,7 f.40). Die Regelungen über Witwen und Jungfrauen erlauben diesen gemeindlichen Statusgruppen, ohne Mann zu leben (1Kor 7,8 f.), was aber nicht ohne Widerspruch bleibt (1Tim 5,3-16). Letztlich beschränkt sich das Neue Testament hinsichtlich der hingenommenen Praktiken der Sexualität auf heterosexuelle Partnerschaften und sexuelle Askese, und deswegen kann das Neue Testament keine Grundlage für sexualethische Orientierung für gleichgeschlechtliche Partnerschaften und für sexuelle Praktiken jenseits der Heterosexualität sein. 22 Fazit Weder in Fragen sexualisierter Gewalt noch hinsichtlich vertrauensvoller, loyaler und liebevoller Partnerschaft kann das Neue Testament die Grundlage für eine zeitgemäße sexualethische Orientierung sein. Noch viel weniger gilt das für die Aussagen zur Homosexualität, die auf einer einseitigen Bewertung menschlicher Sexualität als destruktive »Begierde« und selbstzerstörerisches »Brennen« beruhen. Es muss die Aufgabe der wissenschaftlichen Exegese sein, allen, die in diesen Aussagen nach wie vor theologisch legitimierte Argumente für menschenfeindliche Diskriminierungen finden, deutlich und unmissverständlich zu widersprechen. Anmerkungen 1 E. Berger u. a., Widernatürliche Lebensweise. Der Brief der acht Bischöfe gegen Homosexualität, in: Christ und Welt 3/ 2011; U. Wilckens, Die Bibel und Homosexualität, in: http: / / www.evangelisch.de, download 15. April 2012. 2 J. D. G. Dunn, New Testament Theology, Nashville 2009, 12; vgl. H. Taussig/ B. Kahl, Placing Meaning-Making at the Center of New Testament Studies, in: E. Schüssler- Fiorenza/ K.H. Richards (Hgg.), Transforming Graduate Biblical Education: Ethos and Discipline, Atlanta 2010, 307-318, hier: 313: »Theologizing with the New Testament«. 3 V. Sigusch, Auf der Suche nach der sexuellen Freiheit. Über Sexualforschung und Politik, Frankfurt/ New York 2011, 167. 4 M. Dannecker, Das Drama der Sexualität, Frankfurt 1987, 40: »Durchgesetzt hat sich dagegen eine neue Sittlichkeit, die es den Menschen erlaubt, den anderen als Lustobjekt zu gebrauchen, ohne dessen personale Würde zu verletzen. Ein solches sittliches Verhältnis ist dann gegeben, wenn die lustvolle Beziehung wechselseitig und jeder »Letztlich beschränkt sich das Neue Testament hinsichtlich der hingenommenen Praktiken der Sexualität auf heterosexuelle Partnerschaften und sexuelle Askese« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 51 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 51 Lukas Bormann Sexualizing with the New Testament? in der sexuellen Handlung zugleich Subjekt und Objekt ist. Als sittlich wird jetzt empfunden, die eigene Lust von der Lust des anderen begrenzen zu lassen, und umgekehrt, die eigene Lust entlang der des anderen zu entwickeln. Wo solche Voraussetzungen nicht gegeben sind, gleichgültig bei welcher Form der Sexualität, sprechen wir auch weiterhin von unsittlichen sexuellen Verhältnissen und fassen sie als eine Mahnung zur Veränderung auf«. 5 K.-D. Schunck, Nehemia, Neukirchen-Vluyn 2009, 222.: »überraschend große Zahl«. 6 P. Müller, Der Brief an Philemon, Göttingen 2012, 160 f. 7 J. Roloff, Der erste Brief an Timotheus, Neukirchen- Vluyn 1988, 318-326, hier 325: . »der extrem konservative Ansatz der Sozialethik der Past[oralbriefe]«. 8 M.Y. MacDonald, Beyond Identification of the Topos of Household Management: Reading the Household Codes in Light of Recent Methodologies and Theoretical Perspectives in the Study of the New Testament, in: NTS 57 (2010), 65-90; dies., Slavery, Sexuality and House Churches: A Reassessment of Colossians 3.18-4.1 in Light of New Research on the Roman Family, in: NTS 53 (2007), 94-113; C. Osiek/ M.Y. MacDonald, A Woman‘s Place. House Churches in Earliest Christianity, Minneapolis, Minn. 2006, 95-117; C. Osiek/ D.L. Balch, Families in the New Testament World. Households and House Churches, Louisville 1997, 118-121. 9 S. Bieberstein, »Töchter Gottes in Christus Jesus« (Gal 3,26)? Überlegungen zum neutestamentlichen Befund, in: L. Bormann/ J. Kügler (Hgg.), Töchter (Gottes). Studien zum Verhältnis von Kultur, Religion und Geschlecht, Berlin 2008, 83-100. 10 Vgl. D. Daube, Roman Law. Linguistic, Social and Philosophical Aspects, Edinburgh 1969, 65-91. 11 Vgl. Dtn 24,1-4. 12 Lev 20,10; Dtn 22,22; bSanh 52b. 13 D.B. Martin, Sex and the Single Savior, Louisville/ London 2006, 147. 14 L. Sutter Rehmann, Konflikte zwischen ihm und ihr. Sozialgeschichtliche und exegetische Untersuchungen zur Nachfolgeproblematik von Ehepaaren, Gütersloh 2002, 234 f. 15 B. Brooten, Love between Women. Early Christian Response to Female Homoeroticism, Chicago/ London 1996, 2. 16 S.M. Olyan, Social Inequality in the World of the Text. The Significance of Ritual and Social Distinction in the Hebrew Bible, Göttingen 2011, 54. 17 Brooten, Love, 24. 18 Martin, Sex, S. 43-47 19 J. P. Burnside, God, Justice, and Society. Aspects of Law and Legality in the Bible, New York/ Oxford 2011, 317-387; H. Porsch, Queer-Theologie, in: W. Schürger, Schwule Theologie. Identität, Spiritualität, Kontexte, Stuttgart 2007, 85-108, hier 91. 20 Martin, Sex, 103 f. 21 Martin, Sex, 104. 22 H. Porsch, Sexualmoralische Verstehensbedingungen. Gleichgeschlechtliche PartnerInnenschaften im Diskurs, Stuttgart 2008, 420-428. A. Francke Verlag • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen • info@francke.de • www.francke.de Stephan Hagenow Heilige Gemeinde - Sündige Christen Zum Umgang mit postkonversionaler Sünde bei Paulus und in weiteren Texten des Urchristentums Texte und Arbeiten zum Neutestamentlichen Zeitalter, Band 54 2011, 370 Seiten, € (D) 68,00/ SFr,00; ISBN 978-3-7720-8419-5 In der Gemeinde in Korinth sah sich der Apostel Paulus mit Fällen von Unzucht, dem Verkehr mit Prostituierten und einer tiefen sozialen Zerrissenheit beim Feiern des Abendmahls konfrontiert. Die Glaubwürdigkeit der ganzen Gemeinschaft und damit ihrer Botschaft stand auf dem Spiel. Zur theologischen und pragmatischen Bewältigung des Problems griff Paulus auf heiligkeitsethische, kultische und apokalyptische Deutehorizonte zurück. Diese Studie wagt den Blick hinter die oft konfessionell gefärbte Auslegung. Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 52 - 4. Korrektur 52 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Ja, weil Sex verbindet-- er verbindet Menschen mit ihren Geschichten und Erwartungen, er verbindet sie mit Haut und Haar. Anders lassen sich die neutestamentlichen Bezüge auf den biblischen Schöpfungsbericht kaum lesen: Die zwei werden ein Fleisch sein (Gen 2,24). Markus und Matthäus zitieren die Stelle, um die Unkündbarkeit der ehelichen Gemeinschaft zu begründen (Mt 19,5; Mk 10,8); Paulus zitiert sie, weil aus seiner Sicht Sex auch mit Prostituierten verbindet (1Kor 6,16), und der nachpaulinische Epheserbrief zitiert sie ebenfalls (Eph 5,31): So körperlich, ausschließlich und umfassend wie eine eheliche Gemeinschaft ist auch die Beziehung zwischen Christus und seiner Gemeinde. Offensichtlich-- so lese ich 1Kor 6,16-- gilt die Verwendung dieses biblischen Grundsatzes, wie er in Gen 2,24 formuliert wird, auch für entfremdete, unverbindliche oder gewalttätige Formen sexueller Kontakte und Begegnungen. Sex ist Kommunikation: Ich kann nicht nicht-kommunizieren, ich kann nicht nicht-begegnen, ich kann nicht nicht-verantwortlich sein. Sex verbindet-- ob in der gemeinsamen Ekstase, im Schuldigwerden gegeneinander, im Wunsch nach einem Kind oder Kindern, in Verrat und Vertrauen, in emotionaler Verbundenheit, Angst oder Scham, in Befreiung und Entschuldung: Immer geht es um ein vielleicht noch so kleines Stück gemeinsamer Geschichte, um die Verbindung zweier Lebensgeschichten, und damit um eine begonnene Zukunft, um Verantwortung vor ihr und füreinander. Außerdem-- so verstehe ich Eph 5,31-- machen wir uns etwas vor, wenn wir den Sex begrifflich, sozial oder theologisch abstrahieren. Für das Neue Testament gibt es weder eine abstrakte Körperlichkeit noch eine abstrakte, rein geistige Personalität. Geschlechtlichkeit meint nie lediglich einen Teilbereich, sondern Menschen als ganze Personen. Sie lässt sich nicht als ›rein körperliches‹ Phänomen verharmlosen. Es geht dem Neuen Testament nicht um eine abstrakt gedachte ›bloße Leiblichkeit‹ der Sexualität, sondern um meine Personalität. Sie tangiert die Gesamtheit meines Ich-Bezugs wie meiner sozialen Bezüge. Deshalb verweist die theologische Interpretation der Sexualität in Eph 5,31 auf einen grundlegenden Zusammenhang: Der Autor, der hier vom »Geheimnis« der liebenden Verbundenheit zwischen Christus und seiner Gemeinde spricht (V. 32), erkennt in dessen Geschichte die Verbundenheit Gottes mit seinem Volk und aller Welt wieder. Diese Verbundenheit wurde in den Metaphern einer leidenschaftlichen Liebe erzählt, als eine Geschichte, die all die Facetten begehrender Liebe-- Erwählung, Enttäuschung, Eifersucht, nachgehende, verzweifelte, unbedingte Liebe-- kannte. Die biblischen Schriften Israels sind voll von Beziehungsmetaphern, die das Verhältnis zwischen Gott, seinem Volk und allen Menschen in Bildern des Begehrens, einer stürmischen Liebe, von Enttäuschung, ersehnter Erfüllung zum Ausdruck bringen, von Beispielen, die einen spontanen Gott zeigen, der mit keiner ›Regel‹ zu bannen ist, der Risiken eingeht, Hingabe kennt und nur über seine absolute Subjektivität zu begreifen ist (vgl. z. B. Ex 34,15 f.; Dtn 31,16; Ri 2,17; 8,33; Hos 1-3; Jes 54,5 f.; 61,10; 62,4 f.; Jer 2-3; 33,10 f.; Ez 16,4-14; 23,1-4). Paulus hat eindringlich darauf hingewiesen (vgl. z. B. Röm 9,9-13.25 f.; 10,19-21; 11,1 f.5 f.28 ff.), und es sind vielleicht gerade manche befremdenden Elemente seiner Theologie-- das Insistieren auf dem unbedingten Gottsein Gottes, auf seiner Subjektivität, auf der steten Vorgängigkeit seines Erwählungshandelns- - mit denen der Apostel versucht, die Unbedingtheit und Grundlosigkeit dieses Liebens zu wahren. Wer wollte nicht gerade das unableitbare Moment der ›Erwählung‹ auch als sexualethische Metapher verstehen? Geht es doch mit ihr um eine Anrede, die Menschen als geliebte Menschen adressiert und sie dazu befreit, ihrerseits zu lieben, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Der Gott Israels, von dem das Neue Testament spricht, ist von Anfang an ein begehrender Gott, der nicht das Begehren der Menschen verurteilt, sondern es Eckart Reinmuth Kontroverse: Kann das Neue Testament Grundlage einer zeitgemäßen Sexualethik sein? Kontroverse »Der Gott Israels, von dem das Neue Testament spricht, ist von Anfang an ein begehrender Gott, der nicht das Begehren der Menschen verurteilt, sondern es würdigt und ihrem Leben integriert sehen will.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 53 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 53 Eckart Reinmuth Kontroverse: Kann das Neue Testament Grundlage einer zeitgemäßen Sexualethik sein? würdigt und ihrem Leben integriert sehen will. Nicht umsonst haben seine Autoren diesen Gott im Tun Jesu wiedererkannt, seine Geschichte und Zukunft als Ausdruck dieser leidenschaftlichen Liebe Gottes verstanden und von derselben Metaphorik Gebrauch gemacht (vgl. z. B. Mk 2,18-20 par.; Mt 22,1-14; Joh 3,29; 2Kor 11,2; Eph 5,25-32; Offb 19,7-9; 21,2.9 f.-- nachneutestamentliche Autoren haben wie vor ihnen jüdische Theologen diese Liebe zwischen Gott bzw. Christus und seinem Volk bzw. seiner Gemeinde am Hohelied Salomos illustriert). Hat sich die moderne, aufgeklärte Theologie daran abgearbeitet, die sogenannten Anthropomorphismen wie Kinderkrankheiten eines erhabenen, durchgeistigten und jenseitsgewissen Gottesbildes abzutun, so hat sie im gleichen Atemzug diesen Gott und seine Liebe zum Prinzip werden lassen. Aber Liebe ist kein Prinzip, und sie beginnt nicht bei ihrer Normierung, sondern beim Begehren, beim Hingezogensein und Angerührtwerden-- und weit davor und geht darüber hinaus. Sie benötigt Gemeinschaft und sie braucht Zeit, und das kann Dauer, manchmal ein Leben lang, bedeuten. Und sie schließt Verantwortung ein. Eine Verantwortung, die weit mehr umfasst, als wir tatsächlich einlösen können. Ihr werden wir nur als Liebende gerecht. Was in der Perspektive des Neuen Testaments über Sexualethik zu sagen wäre, wird verfehlt, wenn es als normierende, regulierende, einschränkende, bestimmte Lehrmeinungen legitimierende Sammlung von Vorschriften verstanden würde. Hier scheiden sich die Geister hinsichtlich dessen, was Grundlage einer Sexualethik sein kann. Wer das Neue Testament als sexualethisches Normierungs-, pädagogisches Sanierungs- oder religiöses Legitimierungsprojekt versteht, sitzt einem krassen Anachronismus auf und hat seine Texte in historischer wie hermeneutischer Hinsicht verfehlt. Wer behauptet, aus den normativen Vorstellungen, Verurteilungen und Ausgrenzungen neutestamentlicher Texte sexualethische Regulative ableiten zu können, tut diesen Texten Unrecht und sieht sich schließlich gezwungen, ihre antikpatriarchale Prägung des Geschlechterverständnisses, die ihnen eingeschriebene Machtsymbolik, ihre Imprägniertheit durch Vorstellungen von Ehre und Schande, ihre uns fremde Auffassung von Körperlichkeit und weitere grundlegend andere Prägungen entweder ausblenden oder übernehmen zu müssen. Und wer meint, nur einige ›positive‹ Spitzensätze wie Gal 3,28; 1Kor 7,4; 11,11 ausschneiden und als zeitlos reklamieren zu dürfen, tut den Texten nicht weniger Unrecht. Paulus stellt in 1Kor 11,11 im Blick auf heterosexuelle Beziehungen fest: In dem Herrn ist weder die Frau ohne den Mann noch der Mann ohne die Frau etwas. Gemeint ist damit die konstitutive und unersetzliche Aufeinandergewiesenheit von Männern und Frauen. Paulus überbietet mit diesem Satz auf denkwürdige Weise seine eigene Argumentation im Abschnitt der VV.3- 16. Ohne diesen problematischen Kontext jedoch verliert der Satz seine Grundlage und verwandelt sich zu einer unverbindlichen Überlegung. Im gleichen Brief hebt Paulus die gleichrangige Wechselseitigkeit der geschlechtlichen Beziehungen zwischen verheirateten Männern und Frauen hervor (7,3-4). Der Kontext jedoch (7,1 f.5) gibt eine merkwürdig angstbesetzte und zugleich ›mechanische‹ Sicht auf die sexuelle Praxis zu erkennen, die in sexualethischer Hinsicht untauglich ist. Paulus sieht in Gal 3,28 die machtbesetzte, asymmetrische Unterschiedenheit von »männlich« und »weiblich« aufgehoben in Christus. Auch hier zeigt er sich als Mensch seiner Zeit, für den die patriarchale Perspektive selbstverständlich ist: Juden und Griechen, Sklaven und Freie, männlich und weiblich werden nicht »eins« in Christus, sondern »einer«. Paulus formuliert nicht neutrisch, sondern maskulinisch. Das Neue Testament ist trotz solcher Spitzensätze als Lehrbuch einer normenorientierten Sexualethik gänzlich ungeeignet. Geht es um Verbote, Erlaubnisse, Ausgrenzungen oder Legitimierungen, so ist die Kultur einer Gesellschaft gefragt, ihre Geschichte und Ir-/ Rationalität, also der jeweilige Diskurs der Begründbarkeit Prof. Dr. Eckart Reinmuth, 1951 in Rostock geboren, studierte Evangelische Theologie in Greifswald, wurde 1981 in Halle promoviert und habilitierte sich 1992 in Jena. Er war Gemeindepastor in Mecklenburg und Professor für Neues Testament an der Kirchlichen Hochschule Naumburg und der Universität Erfurt. Seit dem Sommersemester 1995 lehrt er an der Theologischen Fakultät der Universität Rostock. Eckart Reinmuth Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 54 - 4. Korrektur 54 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Kontroverse bzw. Nichtbegründbarkeit sexualethischer Normen. Ethische Orientierung ergibt sich nach neutestamentlichem Verständnis demgegenüber exklusiv aus der Jesus- Christus-Geschichte, nicht aus universalen Prinzipien wie Natur, Moral, Vernunft, gesellschaftlichen Erfordernissen. Das frühe Christentum artikulierte sich in den Kontexten seiner Zeit, indem es seine Interpretationen der Jesus-Christus-Geschichte in diese Kontexte eintrug und ein neues Verständnis des Menschseins einschließlich grundsätzlich neuer Orientierungen kommunizierte. Hinsichtlich unseres Kontroversthemas müssen wir nach diesen fragen. Das schließt ein, ›Sexualität‹ primär als diskursives Konstrukt zu begreifen: Es gibt keinen ›natürlichen‹, von den kulturell und gesellschaftlich gegebenen Bedingtheiten und ihrer Geschichte losgelösten Punkt, von dem aus sie ›objektiv‹ zu diskutieren wäre. Essentialistische Lesarten von Sexualität, die diese primär als biologisches bzw. innerpsychisches Triebphänomen und nicht in ihrer kulturellen Diversität begreifen, gehören demgegenüber zu einer bestimmten Etappe der Diskursgeschichte. Schließlich ist das Stichwort Sexualethik wie Sexualität ein modernes Wort mit einer eigenen Geschichte, und die gegenwärtigen Fragestellungen auf diesem Feld sind es auch. So ist beispielsweise die alternierende Definition von Hetero- und Homosexualität als diskursives Konstrukt (konkret des 19. Jh.) zu verstehen. Auch essentialistische Definitionen von Sexualität basieren auf konstruktiven Zuschreibungsprozessen, die jedoch unsichtbar bleiben-- oder gar invisibilisiert werden, um unsichtbar bleiben und das Definierte als natürliche Gegebenheit wahrnehmen zu können. Hier sind machtförmige Geltungsansprüche aufzuspüren, die-- etwa mit Blick auf religiöse Gemeinschaften-- identitätsstiftende und -garantierende Funktion haben. Sie führen jedoch in eine exklusive und potentiell gewalthaltige Alternative zwischen wahr und unwahr. Wo diese Alternative auf Gott projiziert wird, meinen Menschen sich ihr unentrinnbar ausgesetzt zu sehen und Gott mit verbaler oder körperlicher Gewalt zu dienen (vgl. Joh 16,2). Die Wahrnehmungen, Erfahrungen, Optionen und Regulative des Sexuellen beziehen sich folglich stets auf jeweilige Standards kultureller, gesellschaftlicher, religiöser und politischer Entwicklungen. Diejenigen, die bestimmte sexuelle Praktiken für natürlich und somit exklusiv legitimiert sehen, meinen zwar im neutestamentlichen Kontext Philo von Alexandrien oder Paulus von Tarsus auf ihrer Seite zu haben, sie verfallen jedoch einem vielleicht verführerischen, aber nicht zu tolerierenden Anachronismus: Was antike Autoren als ›natürlich‹ bzw. von natürlichen Gegebenheiten (gr.: physis) ableitbar ansahen, war die kulturelle Ordnung ihrer Zeit. ›Natürlich‹ war z. B. die Überlegenheit des Mannes und die Minderwertigkeit der Frau. Der gesellschaftlich universal wirksame anthropologische Maßstab für alle geschlechtlichen Spielarten orientierte sich am Ideal der Maskulinität. Der männliche Mann wurde an der Spitze einer anthropologisch basierten gesellschaftlichen Skala gedacht, der ›verweichlichte‹ oder unterlegene Mann darunter. Gerade der explizite Verweis auf die ›Natur‹ (gr.: physis) ist als normierender Hinweis auf einen kulturell etablierten Geltungsanspruch zu verstehen. So fragt Paulus, um die Unziemlichkeit einer langen Haartracht bei Männern herauszustellen: »Lehrt euch nicht auch die Natur, dass es sich für Männer nicht gehört, lange Haare zu tragen? « (1Kor 11,14). Hinsichtlich jeweils geltender sexualethischer Normen beziehen sich neutestamentliche Texte also bestätigend auf konkrete kulturelle Voraussetzungen ihrer Zeit. Mit Blick auf die Begründung von Normen einer christlichen Sexualethik kann das eine entlastende Funktion haben: Christliche Ethik steht immer im kritischen Dialog mit den Normen und Geltungsansprüchen ihrer Zeit. Aber vergessen wir nicht: Mit ihrem wiederholenden Handeln bestätigen und grundieren neutestamentliche Texte auf ihre Weise die kulturellgesellschaftlichen Voraussetzungen einer anderen Zeit und Kultur. Wir sind aufgefordert, diese Prozesse kritisch wahrzunehmen. So sind gerade explizit frauenfeindliche Passagen neutestamentlicher Schriften zu analysieren, um Frauenverachtung und geschlechtliche Diffamierung in unserer Gegenwartskultur zu erkennen (vgl. z. B. Offb 2,20 ff.; 18,3 ff.; 2Pt 2,2 f.14; Jud 7 f.). Das Zusammenspiel von Denunziation und sexueller Diskriminierung hat eine bereits vorchristliche und bis in unsere Gegenwart reichende Geschichte. Demgegenüber gilt es, Ansatzpunkte neutestamentlicher Ethik da zu suchen, wo die Geschichte Jesu Christi auf die Wirklichkeit neu erschlossenen Lebens und die mit ihr gegebenen neuen Lebensmöglichkeiten be- »Ich schlage vor, die ethische Performativität neutestamentlicher Texte, also ihr Frei-Sprechen und Neu-Orientieren, auch in sexualethischer Perspektive zu interpretieren. Dabei geht es um die Grundorientierung menschlichen Verhaltens an dem, was das Neue Testament agapē nennt« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 55 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 55 Eckart Reinmuth Kontroverse: Kann das Neue Testament Grundlage einer zeitgemäßen Sexualethik sein? zogen wird. Es handelt sich um Interpretationsakte, mit denen Menschen die Zuwendung Gottes zugesprochen und sie von ihren Lasten freigesprochen werden. Solche Interpretationsakte finden sich in allen Teilen des Neuen Testaments; wir können sie als die ethische Performativität neutestamentlicher Texte bezeichnen. Ich schlage vor, die ethische Performativität neutestamentlicher Texte, also ihr Frei-Sprechen und Neu- Orientieren, auch in sexualethischer Perspektive zu interpretieren. Dabei geht es um die Grundorientierung menschlichen Verhaltens an dem, was das Neue Testament agapē nennt: Liebe im Sinne von Menschenliebe, die sich der Liebe Gottes zu den Menschen verdankt. Das Neue Testament erklärt das Liebesgebot zur Mitte, zum Zentrum und Kriterium der Lebensweisung Gottes und beansprucht damit, seine Identität zutreffend erfasst zu haben (1Joh 4,16). Entziehen wir dieser Liebe das Begehren, die Angewiesenheit auf ein antwortendes Gegenüber, die Leidenschaft für das Leben, wie die biblischen Schriften sie bezeugen (s. o.), so spalten wir Sexualität wie Erotik als Eigen-Bereiche mit anderen Spielregeln ab. Mit der agapē vertraut das Neue Testament einer integrierenden Kraft, die als bestimmendes Ferment aller Spielformen der Liebe gilt. Das bedeutet nicht, dass alles ›Nächstenliebe‹ sein muss, sein darf oder sein kann, was im Feld geschlechtlicher Kommunikation geschieht, wohl aber, dass unsere menschliche Lebenswirklichkeit sich grundlegend durch die agapē konstituiert und bestimmt sieht. Röm 13,8 oder Gal 5,14, die beiden sachlich einander gleichenden Stellen, die das Gesetz (Tora), also die Lebensweisung Gottes, als in der Liebe erfüllt sehen, klammern die Sexualität gerade nicht aus, auch wenn das in wirkungsgeschichtlicher Perspektive so scheinen mag; sie schließen vielmehr unsere gesamte Lebenswirklichkeit ein: Diese Perspektive sieht die erotische wie die sexuelle Kommunikation durchzogen und geprägt von der Menschenliebe Gottes. Sie ist »langmütig und freundlich, eifert nicht, treibt keinen Mutwillen, bläht sich nicht auf, verhält sich nicht ungehörig, sucht nicht das Ihre, lässt sich nicht erbittern, rechnet das Böse nicht zu« (1Kor 13,4 ff.). Ich plädiere dafür, die Orientierungen und Impulse neutestamentlicher Ethik in den Kontexten heutiger Sexualethik namhaft zu machen und dafür auch die Konsequenzen dieser Ethik in ihren damaligen, uns fremd gewordenen Kontexten aufzuspüren. Das schließt die Aufgabe ein, im Einzelnen danach zu fragen, wie die befreienden und lebenstiftenden Impulse der Jesus- Christus-Geschichte unter antiken Voraussetzungen interpretiert worden sind. Hier lassen sich Entdeckungen machen, die zu einem kritischen Dialog herausfordern und in den Dialog mit gegenwärtigen Fragen und Positionen führen. Das kann heißen, in Auseinandersetzung mit den grundlegend anderen kulturellen Voraussetzungen der neutestamentlichen Schriften die Voraussetzungen gegenwärtiger Sexualitätsdiskurse zu analysieren, um sie sichtbar zu machen und diskutieren zu können. Dazu gehören beispielsweise dualistische Voraussetzungen der Moderne, die sich als Phänomene einer Aufspaltung in Subjektsein und Körperlichkeit zeigen, und die die mediale Kommunikation von Sexualität weithin prägen. Die Interpretationsarbeit, die wir im Neuen Testament sehen, ist auch mit Blick auf ihre damaligen Kontexte aufschlussreich: Gegenüber der antik hegemonialen Geschlechterdefinition, die sich am Mannsein des Mannes orientierte und über diesen Maßstab alle Erscheinungsformen von sex und gender kategorisierte, bot das frühe Christentum im Einklang mit den Traditionen des frühen Judentums mit dem Schöpfungsmythos die fundamentale Zweigeschlechtlichkeit auf (vgl. Gen 1,27; 2,18-25; vgl. Gen 1,27 in Mt 19,4; Mk 10,6; Gen 2,24 in Mt 19,5; Mk 10,7; 1Kor 6,16; Eph 5,31; s. o.). Sie bildet in der biblischen Tradition eine Art Unhintergehbarkeit. Am Anfang steht in dieser Perspektive nicht die Eingeschlechtlichkeit, wie das in griechischen Traditionen gedacht werden konnte, sondern die Zweigeschlechtlichkeit. Sie wurde, wie die neutestamentlichen Stellen exemplarisch zeigen, zugleich als Norm verstanden. Aber die Sprache des Mythos muss nicht als sexualethische Norm interpretiert werden, sondern bietet eine anthropologische Perspektive auf die Gleichrangigkeit der Partner in ihren Geschlechterverhältnissen, die einen diskursiven Bezugspunkt für die Vielfalt der Möglichkeiten erotischer oder sexueller Begegnung bildet. Blicken wir auf antike Positionen, wie sie etwa von Plutarch (ca. 45-125 n. Chr.), dem Stoiker Antipater (ca. 180-120 v. Chr.) oder Musonius (ca. 30-100 n. Chr.) repräsentiert werden, so können wir sehen, dass neutestamentliche Autoren-- motiviert durch ihre theologische Interpretationsarbeit-- vergleichbare Anliegen verfolgten. Ging es den erwähnten hellenistisch-römischen Autoren darum, die Sexualität in den Anspruch des Eros und einer umgreifenden Liebe (gr.: Philia) zu integrieren, so können wir Vergleichbares in der frühjüdischen Literatur (z. B. Pseudo-Phokylides, Joseph und Aseneth) und im Neuen Testament entdecken: Die performative, also zusprechende, orientierende und befreiende Ethik z. B. geschlechterbezogener Komponenten neutestamentlicher ›Haustafeln‹ (vgl. z. B. Eph 5,22-33; Kol 3,18 f.; 1Pt 3,1-7) lief ursprünglich darauf hinaus, sexu- Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 56 - 4. Korrektur 56 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Kontroverse elle Machtverhältnisse an einer neuen Wirklichkeit zu orientieren. Frauen wie Männer konnten wissen: Auch diese Machtverhältnisse sind von der Menschenliebe Gottes durchdrungen. Frauen wie Männer konnten in der befreienden Perspektive dieser Liebe verlässliche Beziehungen kommunizieren, die ihnen vor dem Horizont der tatsächlichen Verhältnisse einen neuen Subjektstatus sicherten. Neutestamentliche ›Haustafeln‹ sind Übernahmen aus der antiken Ökonomik. Mit ihnen wurden u. a. geltende sexualethische Voraussetzungen übernommen und erneut in Geltung gebracht. Die Leistung der Autoren besteht nicht darin, den bestehenden Systematiken weitere anzufügen, sondern zu zeigen, wie unter diesen konkreten Bedingungen das gesellschaftlich sanktionierte ›Gute‹ in die befreiende Dimension der Liebe gerät. Auch asketische Tendenzen des frühen Christentums sind-- entgegen ihrem wirkungsgeschichtlich entstandenen Eindruck-- in sexualethischer Hinsicht als aktiver Entzug, Selbstentzug gegenüber einer dominanten, maskulin geprägten Kultur zu verstehen. Ihre Attraktivität gewannen sie offenbar als Möglichkeit des passiven Widerstands. Er richtete sich gegen die sexuelle Symbolik der Macht. War die antike Sexualität als Realisierung von Machtverhältnissen verstanden worden, die das Verständnis jeder ihrer Ausdrucksformen prägten, so stimmen im Umfeld des frühen Christentums hellenistischrömische, jüdische und christliche Autoren in dem Versuch überein, diesen Aspekt zurückzudrängen und Sexualität diesem Dominanzverständnis zu entwenden, indem sie die Komplexität der Liebe betonen und in diese Komplexität die Sexualität integrieren. Das heißt für heute, also für die Frage nach einem Beitrag neutestamentlicher Textinterpretation zu einer »zeitgemäßen Sexualethik«, dass wir in analoger Weise verfahren und die befreiende und lebenstiftende Orientierung an der Menschliebe Gottes in die gegenwärtigen Diskussionen einzubringen haben. Wenn es stimmt, dass man Liebe in keiner ihrer Spielarten einfordern kann, dann hat das Auswirkungen auf die Frage, was sie normiert. Dem Neuen Testament geht es darum, Menschen von einer unableitbaren Liebe adressiert zu sehen, die sie befähigt, Subjekte ihres Lebens zu werden und in diese Liebe die Kommunikationsmöglichkeiten unseres Menschseins zu integrieren. »Die performative, also zusprechende, orientierende und befreiende Ethik z. B. geschlechterbezogener Komponenten neutestamentlicher ›Haustafeln‹ […] lief ursprünglich darauf hinaus, sexuelle Machtverhältnisse an einer neuen Wirklichkeit zu orientieren. Frauen wie Männer konnten wissen: Auch diese Machtverhältnisse sind von der Menschenliebe Gottes durchdrungen.« Attempto Verlag • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen • info@attempto-verlag.de • www.attempto-verlag.de Att t V l Di Eve-Marie Engels/ Oliver Betz/ Heinz-R. Köhler/ Thomas Potthast (Hg.) Charles Darwin und seine Bedeutung für die Wissenschaften 2011, 291 Seiten, € (D) 29,90/ SFr 41,90; ISBN 978-3-89308-415-9 Zeitschrift für Neues Testament typoscript [FP] - 12.10.2012 - Seite 57 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 57 »Das Machtverhältnis ist immer schon da, wo das Begehren ist: es in einer nachträglich wirkenden Repression zu suchen ist daher ebenso illusionär wie die Suche nach einem Begehren außerhalb der Macht.« (M. Foucault) 1 1. Hinführungen in erotischer Absicht Das Verhältnis zwischen Sex und Macht wurde in der jüngeren medialen Vergangenheit besonders aufgenommen als Frage nach der Macht der mächtigen Männer im Staate und ihrem anmaßenden Umgang mit eben dieser Macht, die in einer Liaison von Sex und Macht mündete und sich konkretisierte in einem der letzten gesellschaftlich noch verbliebenen (Alt-)Herrenbiotope: der Politik. Was die mediale Präsentation all dieser Berlusconis und Strauss-Kahns für einige Wochen vor allem offenbarte, war eine gesellschaftlich plausibilisierte Auffassung zum Thema »Sex«. Auf einer ganz elementaren Stufe kann »Sex« demnach als eine Interaktion zwischen Personen verstanden werden, die solange unproblematisch bleibt, wie die Heterogenität der Personen nicht zu einem Problem wird, weil die Frage der Macht außen vor bleibt und qua Beziehung keine Rolle zu spielen hat. Dies kann nur gelingen, weil Intersubjektivität unter den Bedingungen von Individualität nach dieser Auffassung sich einem »erotischen Prinzip« verdankt, das auf »Vereinigung« gründet. Im Zentrum dieses »erotischen Prinzips« steht der Gedanke, dass Subjekte beim Sex eine Verbindung zueinander suchen, deren Telos darin besteht, Differenzen und Verschiedenheiten zwischen den Subjekten im Akt der Vereinigung zu überwinden. »Sex« ist dann verstanden als die Verschmelzung, das Einswerden von verschiedenen Subjekten. Da es sich hierbei um ein völlig symmetrisches Verhältnis handelt, bedarf es nicht der Klärung der Machtfrage in diesem Verhältnis. Nur wenn in das symmetrische Verhältnis eine Asymmetrie eingeführt wird, tritt erst nachträglich die Frage nach der Macht auf. Solange die Idee der Gleichheit und Reziprozität im Rahmen des »erotischen Prinzips« gewahrt bleibt, kann die Machtfrage unbeachtet bleiben. Erst wenn dieses auf Gleichheit und Reziprozität basierende Verhältnis zerstört wird, ist nachträglich beim Thema »Sex« auch die Machtfrage präsent. Von daher entwickeln sich die Verbote von Vergewaltigung, Nötigung, Manipulation und Instrumentalisierung, die als negative Verbote gesetzlich erzwingbar sind. Die Idee des Sexes, die auf Symmetrie und Reziprozität gründet, erscheint als von der Macht bedrohte Instanz und erlaubt es einzig, Macht als das Hinzutretende zu denken, welches als Verbot erscheint. Was hat dieser kleine Ausflug zum gegenwärtigen Verständnisses von Sex nun mit Texten und LeserInnen zu tun? Viel, denn es ist gerade dieses »erotische Prinzip«, das bei unserem Umgang mit Texten als Pate zur Anwendung gelangt. In der jüngeren Tradition der (bibelwissenschaftlichen) Hermeneutik wird mit einem Lesermodell gearbeitet, das nach eben diesem »erotischen Prinzip« funktioniert. An die Stelle des Liebesaktes ist der Akt der Interpretation getreten. Szenen des Lesens von Texten-- verstanden als Szenen des Interpretierens von Texten-- werden beschrieben als das Verbindung-Suchen zweier Größen mit dem Telos, Differenzen und Verschiedenheiten zu überwinden. Textualität manifestiert sich in dieser Auffassung in dem Moment, wo eine interpretierende Instanz in Verbindung zum Text tritt. Der Textkontakt im Akt des Lesens dient dazu, Distanzen und Differenzen zu überwinden. Mit den Worten Roland Barthes: »[D]er Text verlangt, dass man versucht, die Distanz zwischen Schreiben und Lesen aufzuheben (oder zumindest zu verringern), und zwar keineswegs durch eine verstärkte Projektion des Lesers in das Werk, sondern durch eine Verbindung in ein und dieselbe Bedeutungspraxis.« 2 Einem Dialog gleich antworten die LeserInnen auf den Text oder die den Text auktorial verbürgende Instanz, wobei-- eingebettet in das reziproke Geschehen der Lektüre-- der Text im Akt der Interpretation wieder zum Leben erweckt wird: »[Im] Dreieck von Autor, Werk und Publikum ist das letztere nicht nur der passive Teil, keine Kette bloßer Reaktionen, sondern selbst wieder eine geschichtsbildende Energie. […] Die Geschichtlichkeit der Literatur wie ihr kommunikativer Charakter setzen ein dialogisches und zugleich prozeßhaftes Verhältnis von Werk, Publikum und neuem Werk voraus.« 3 Die Verbindung zwischen der interpretierenden Instanz und dem Text gilt dann als erfolgreich, wenn es gelingt, eine Verbindung herzustellen, bei der sämtliche externen »Störfälle« ferngehalten werden. Und nicht umsonst wird in dieser leserbezogenen Sichtweise viel Akribie Kristina Dronsch Sex-- m/ Macht-- Text Die Ohnmacht der Geschlechter im Akt des Lesens Hermeneutik und Vermittlung Zeitschrift für Neues Testament typoscript [FP] - 12.10.2012 - Seite 58 - 4. Korrektur 58 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Hermeneutik und Vermittlung darauf verwendet, dass der gelingende Dialog zwischen Text und Leser/ in über terminologische Einfassungen der lesenden Instanz auch interpretationstheoretisch sichergestellt wird: So ist die Rede vom »impliziten Leser«, vom »ideal reader«, vom »informierten Leser« oder vom »Modell-Leser«. Ihnen allen gemein ist, dass sie terminologische Einfassungen bieten wollen, die die kommunikativen Störfälle im Dialog zwischen Text und LeserInnen minimieren sollen. Es soll eine Verbindung zwischen den beiden Größen hergestellt werden, eine Verbindung ohne Rauschen. Denn »im Gelesenwerden geschieht die für jedes literarische Werk zentrale Interaktion zwischen seiner Struktur und seinem Empfänger« 4 . So kann der von Wolfgang Iser favorisierte »implizite Leser« 5 bzw. das Konzept des »impliziten Lesers« als der im Text vorgezeichnete »Aktcharakter des Lesens« 6 verstanden werden, der vor allem dazu dient, die Verbindung im dialogischen Naheverhältnis zwischen Text und LeserInnen zu ermöglichen, welche für das »erotische Prinzip« grundlegend ist. Umberto Eco’s »Modell-Leser« 7 bietet ebenfalls eine sehr ausgearbeitete leserbezogene Sicht des Textes, bei dem die Worte »Verbindung« und »Dialog« vermieden werden und stattdessen das Phänomen der Interpretation angesehen wird »als kooperative Erfüllung einer Verstehensstrategie« 8 , durch die der Modell-Leser einen »Lesepakt« mit dem Text schließt. 9 Trotz des gewählten technischen Vokabulars ist auch der »Modell-Leser« von Eco dem »erotischen Prinzip« verpflichtet, denn der Akt der Interpretation ist ebenfalls als beständiger Dialog mit Textmerkmalen und textuellen Strategien zu begreifen. Diese leserbezogene Sicht des Textes ist die in gegenwärtigen bibelwissenschaftlichen Zusammenhängen maßgebliche. Ganz im Sinne des »erotischen Prinzips« geht es um die Überwindung von Distanz und Differenz zwischen dem Text und der lesenden Instanz, um zu einer Verständigung zu kommen über das, was der biblische Text sagt. Dies gelingt im Akt der Interpretation, der die Distanz zwischen Text und LeserInnen reduziert. So führt Christof Hardmeier in Übereinstimmung mit den Überlegungen von Iser aus, dass biblische »Texte […] keine direkt an ihrer Zeichengestalt ablesbare Bedeutung [haben], sondern […] ihren Sinn nur in einem speziellen Vollzug des Lesens [… gewinnen]. D. h. eine sachgemäße Sinnerschließung von Texten kann nur gelingen, wenn wir Texte als eine Art Partituren der Sinnbildung verstehen, die allein im Vollzug von rezeptiven Kommunikationshandlungen Sinn machen [sic! ] und eine Bedeutung gewinnen, so wie die in der Notenschrift aufgezeichnete Musik nur in ihrer Aufführung Sinn und ihre bewegende Wirkung entfaltet« 10 . Der biblische Text darf demnach nicht verstanden werden als starres Momentum, das monologisch seine gewissermaßen zeitlose Bedeutung im Kleid seiner Materialität offenbart, sondern der biblische Text ist wie eine Partitur auf eine immer neue Resonanz der Lektüre angelegt, die den Text gleichsam aus seiner Materie erlöst und im Akt der Interpretation zu seinem aktuellen Dasein verhilft. In dieser leserbezogenen Sicht auf biblische Texte stehen Text und LeserInnen in einem dialektischen Verhältnis: »The relationship of reader and text is dialectical, so meaning should not be viewed as something a reader creates out of the text rather as a dynamic product of the reader’s interaction with the text« 11 . Diese Interaktion ist ein Verbindung-Suchen zwischen dem Text und den LeserInnen, mit dem Ziel, die bestehenden Distanzen durch den je individuellen »response« im Akt des Lesens zu verringern. Denn der biblische Text sei, wie McKnight im Anschluss an Jurij Lotmann darstellt, »[…] like the artistic text in general, […] so filled with meaning that it ›transmits different information to different readers in proportion to each one’s comprehension.‹ This ability of the artistic text to correlate with the reader and provide him with just the Dr. Kristina Dronsch, Jahrgang 1971, studierte Evangelische Theologie in Bonn, Göttingen, Zürich, Neuchâtel und Hamburg. Von 2001 bis 2010 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche am Fachbereich Ev. Theologie an der Goethe-Universität in Frankfurt und wurde dort 2006 promoviert. 2010-2012 Projektkoordinatorin für die Encyclopedia of the Bible and its Reception beim De Gruyter Verlag. Seit Juli 2012 Referentin für Frauen und Reformationsdekade angesiedelt beim Verband Evangelischer Frauen in Deutschland. Forschungsschwerpunkte: Heiliger Geist, Markusevangelium, Gleichnisse, Bedeutungstheorien. Kristina Dronsch Zeitschrift für Neues Testament typoscript [FP] - 12.10.2012 - Seite 59 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 59 Kristina Dronsch Sex-- m/ Macht-- Text information he needs and is prepared to receive is a notable characteristic of the biblical text« 12 . Das »erotische Prinzip« wird in diesem Fall saturiert durch eine gewisse affirmative Haltung der lesenden Instanz gegenüber dem biblischen Text im Akt des Lesens. Im Sinne einer prästabilisierten Harmonie zwischen dem biblischen Text und den LeserInnen erlaubt das »erotische Prinzip«, zwischen den kontemporären Ansprüchen der LeserInnen und dem biblischen Text für eine Vereinigung zu sorgen. Nun könnte eingewandt werden, dass die Bibelwissenschaft ja auch eine lange Tradition der historisch-kritischen Exegese kennt, die nicht im Verdacht steht, eine leserbezogene Sichtweise zu unterstützen, weil sie doch gar keine Lesetheorie bietet. Aber auch in der historisch-kritischen Exegese ist das eben skizzierte »erotische Prinzip« wirksam, freilich ohne explizite Fokussierung auf eine ausgearbeitete Lesetheorie. In der historisch-kritischen Exegese geraten die biblischen Texte ebenso wie bei den soeben skizzierten leserbezogenen Interpretationstheorien in eine gewissermaßen ambivalente Beschreibung, die die Notwendigkeit des »erotischen Prinzips« setzt. Während die Ambivalenz bei den literaturwissenschaftlichen Ansätzen in der Exegese sich an der einerseits festgehaltenen Materialität des Textes und seiner andererseits postulierten Unvollkommenheit ohne eine lesende Instanz manifestiert, zeigt sich die Ambivalenz in der historisch-kritischen Exegese in der Materialität des Textes und seiner Unvollkommenheit hinsichtlich der Lebendigkeit der Überlieferung. Um somit ihre Lebendigkeit wiederzuerlangen, müssen die biblischen Texte im Akt der Interpretation daraufhin befragt werden, was »der frühchristliche Autor […] gemeint und im Blick auf seine Adressaten, Hörer und Leser gewollt hat« 13 . Die biblischen Texte sind einmalig, sie sind »Wort« in dessen Selbstpräsenz und deshalb uneinholbar, und sie sind als Schrift defizitär, weil sich in ihnen der lebendige Anteil der Geschichte, der Tradition, des Autors oder des historischen Jesus nicht mehr sichtbar überliefert. Daher sind sie aber gerade in doppelter Weise des Aktes des Lesens bedürftig, um eben das »Wort« und damit den dialogischen Charakter zu installieren. Mit Bezug auf den historischen Jesus betont Jeremias deshalb emphatisch: »Welch großes Geschenk, wenn es gelingt, hier und da hinter dem Schleier das Antlitz des Menschensohnes wiederzufinden. Auf sein Wort kommt alles an! Erst die Begegnung mit ihm gibt unserer Verkündigung Vollmacht« 14 . Im Akt der Interpretation soll das, was die AutorInnen, was Jesus, was die Tradition den lesenden Subjekten sagen will, herausgearbeitet werden. Zwischen diesen Instanzen und der lesenden Instanz soll eine auf Verständigung (und Vereinigung) zielende Begegnung entstehen. In der historisch-kritischen Exegese ist somit ebenfalls der Fokus auf den Akt des Lesens gerichtet, wobei es nun um die Verlebendigung des geschriebenen Wortes geht. Im Hintergrund auch der historischen Ansätze der Bibelinterpretation können wir genauso wieder das »erotische Prinzip« ausmachen, welches auf Überwindung von Differenzen und dialogische Naheverhältnisse im Akt der Interpretation setzt. Egal, ob mehr die AutorInnen, der Text oder die LeserInnen im Fokus des Interesses stehen, immer tritt im Akt des Lesens ein Subjekt über eine zeitliche, räumliche oder kulturell bestimmte Distanz mit einer textuellen Entität in Kontakt, mit dem erklärten Ziel, die Distanz durch den Akt der Interpretation zu überwinden. Mit der Brille des »erotischen Prinzips« gesehen, ist die sonst immer so viel beschworene Kluft zwischen den historisch-kritischen »Fakten«- und »Ursprünglichkeits«-ExegetInnen und jenen literaturwissenschaftlich arbeitenden »Einsichts«-ExegetInnen in den Bibelwissenschaften nicht mehr groß. Es geht hier wie dort im Akt des Lesens um die reziproke Zugänglichkeit zu der anderen, der interpretierenden Instanz gegenüberliegenden textuellen Entität. Akte des Lesens (sowohl in literaturwissenschaftlichen als auch in historischkritischen Bibelinterpretationen) leisten dabei etwas Wesentliches: Sie überführen die Materialität des Textes im Akt der Interpretation in etwas Immaterielles. Der Akt der Interpretation gründet auf der Annahme, dass Interpretationen die Fähigkeit haben, Ideen und Bedeutungen aus der Welt der textuellen Materialität herauszudestillieren. Und genau deshalb ist auch das »erotische Prinzip« von tragender Bedeutung: Akte des Lesens, die das Bedeutsame hinter dem Materiellen aufsuchen wollen, gelingen nur, wenn es zu einer symmetrischen Verbindung zwischen lesender Instanz und textueller Entität kommt. »Im Sinne einer prästabilisierten Harmonie zwischen dem biblischen Text und den LeserInnen erlaubt das ›erotische Prinzip‹, zwischen den kontemporären Ansprüchen der LeserInnen und dem biblischen Text für eine Vereinigung zu sorgen.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [FP] - 12.10.2012 - Seite 60 - 4. Korrektur 60 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Hermeneutik und Vermittlung 2. Ein sexualethischer Störfall Die Fokussierung auf den Akt des Lesens unter Anwendung des »erotischen Prinzips« macht es den Bibelwissenschaften leicht, sich der Frage der Macht zu entziehen. Die Frage nach der Macht stellt sich sowohl für die literaturwissenschaftlichen Zugänge als auch für die historischen Zugänge zur Bibel immer erst nachträglich, wenn konstatiert wird, dass sich eine Asymmetrie im Akt der Interpretation ausweisen lässt. Sei es, im Sinne einer gesetzten Unterscheidung zwischen »Interpretation« und »Gebrauch«-- wobei jeder Gebrauch als Verletzung der bedeutungsgenerierenden Interpretation (die dem Gebrauch als Prae ja immer vorgeordnet sein muss, um diese Trennung überhaupt vornehmen zu können) verstanden wird 15 --, oder sei es im Rahmen einer »Hermeneutik des Verdachts«, wie sie besonders in der feministischen Bibellektüre verbreitet ist. Auch hier geht dem Verdacht immer schon eine Interpretation voraus, auf die die Hermeneutik des Verdachts angewendet werden kann. Die machtförmige Praktik zur Autorisierung biblischer Texte gelangt immer nur als das additiv Hinzutretende in den Blick, das die auf Symmetrie und Reziprozität angelegten Akte der Interpretation von außen stört. Die Nichtthematisierung der Machtfrage im Akt des Lesens fördert eine interpretationsethische Unverbindlichkeit, da die Interpretation aus dem Bereich der Macht herausgehoben erscheint. Diese Unverbindlichkeit wird besonders dann gravierend, wenn die Interpretation biblischer Texte dazu dient, zu zeigen, was gelten soll. Dies soll im Folgenden am Thema der Homosexualität gezeigt werden. Kaum ein anderes Thema hat für soviel Zünd- und Gesprächsstoff in gegenwärtigen christlichen Kontexten gesorgt wie die Frage nach dem Umgang mit Homosexualität vor dem Hintergrund des Lesens der Bibel. Und wohl kaum eine Frage hat jemals so sehr offenbart, was Interpretation der Bibel heißt: Interpretation der Bibel ist als Interpretation immer schon praktische Anwendung. Die folgenden drei Positionen-- die Positionen der queeren Theologie, der Ex-Gay-Bewegung sowie des Papiers »Mit Spannungen leben« vom Rat der EKD-- zur Frage der Homosexualität sollen exemplarisch herangezogen werden. Kurz sei in die (wenigen) Übereinstimmungen der unterschiedlichen interpretativ gewonnen Haltungen zur Frage der Homosexualität eingeführt: Grundsätzlich kommt bei allen drei Positionen die Bibel als das lesend erschlossene Gegenüber für die sexualethische Positionierung in der Frage der Homosexualität zur Anwendung. Zur Diskussion um die interpretative Erschließung einer sexualethischen Positionierung auf der Grundlage des Bibeltextes stehen Gen 19; Lev 18,22 und 20,13; Röm 1,26-27, 1Kor 6,9 und 1Tim 1,10 als relevante Bibelstellen zum Thema Homosexualität. Die dargelegten Positionen sind alle der Überzeugung, dass sie in ihrer interpretativ gewonnenen Haltung zur Homosexualität nach dem Willen Gottes leben bzw. eine Praxis empfehlen, die dem Willen Gottes entspricht. Die queere Theologie hat ihren Vorläufer in der lesbisch-schwulen Theologie. Gegenüber der lesbischschwulen Theologie, deren wesentlicher Schwerpunkt auf argumentativer Widerlegung homophober Aussagen auf Grundlage der Bibel sowie auf das Aufspüren von biblischen Identifikationsfiguren gerichtet war, versteht sich queere Theologie im wesentlichen als Theologie der Befreiung aus einer Heteronormativität, welche nicht-heterosexuelle Menschen als Abweichung von der geschöpflichen Norm oder als sündig betrachtet. Während in lesbisch-schwulen Theologien, die sexuelle Identität zum Ausgangspunkt des Lesens der Bibel gemacht wird, werden Sexualität und Gender in der queeren Theologie als kulturell bedingte Konstruktionen verstanden, so dass von daher die gesamte auf Heteronormativität aufbauende christliche Sexualethik in Frage zu stellen sei, die als eigentlicher Grund für die unversöhnlich gegenüberstehenden christlichen Haltungen zur Homosexualität angesehen wird. Unter Anwendung einer Hermeneutik des Verdachts wird die kulturelle Geprägtheit der biblischen Texte zum Thema Homosexualität in Anschlag gebracht, die zugleich betont, dass die biblischen Texte nicht das moderne Verständnis einer feststehenden sexuellen Orientierung kennen, so dass die abwertende Haltung zur Homosexualität sich nicht bruchlos in der gegenwärtigen Kultur Geltung verschaffen könne. Mit Blick auf Röm 1,26-27 wird aufgezeigt, dass die Sexualethik mit ihrem Verbot gleichgeschlechtlicher Praxis nicht ausschließlich christologisch zu begründen sei, sondern sich der antiken jüdischen und römisch-hellenistischen Kultur ver- »Die Nichtthematisierung der Machtfrage im Akt des Lesens fördert eine interpretationsethische Unverbindlichkeit, da die Interpretation aus dem Bereich der Macht herausgehoben erscheint.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [FP] - 12.10.2012 - Seite 61 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 61 Kristina Dronsch Sex-- m/ Macht-- Text dankt. 16 Aus diesem Grund ist eine Lesehaltung gegenüber der Bibel notwendig, die die jeweilige Kontextualität der biblischen Schriften, aber auch die in der Geschichte geleisteten Interpretationen zur Homosexualität berücksichtigt, denn eine »biblische-- ob nun jüdische oder christliche- - Sexualethik kann nie etwas anderes als ein ›Redigieren‹ sein. Im Nachzeichnen dieser von jüdischen und christlichen Theologen reichlich praktizierten Redigiertätigkeit, deren Ziel weder das neutestamentliche Zeitalter noch die Gegenwart ist, gewinnt historische Forschung geradezu einen theologischen Sinn: Sie macht aufmerksam auf die Freiheit der Kinder Gottes (Gal 5,1), sich gegenüber vermeintlich sakrosankten symbolischen Ordnungen, dem ›Gesetz in den Gliedern‹ (Röm 7,23), kritisch zu verhalten« 17 . Deshalb geht es beim »queer reading of the Bible« um eine bestimmte Art der Lektüre, die »eine produktive ›Rezeption‹ inmitten der eigenen Welt in Treue zu dem Text, aber zugleich auch fähig zu veränderter Betonung, zur Entdeckung nicht zur Darstellung gekommener (Neben-)Züge der Erzählung, zu Neuformulierungen inmitten einer anderen Sprachwelt« 18 ermöglicht. Vor dem Hintergrund der bejahten Subjektivität aller Bibelinterpretationen darf keine gegenüber der anderen die Vorherrschaft beanspruchen, sondern die Pluralität der Interpretationen soll in einen freien (Interpretations-) Diskurs überführt werden. Die begrüßte Pluralität der Interpretationen darf sich dabei als auf dem je einzelnen individuellen Lesakt des Subjektes und dem biblischen Text gegründet verstanden wissen, der sich je individuell der Übereinstimmung und Reziprozität mit dem biblischen Text verdankt. Unter der Ex-Gay-Bewegung werden all jene VertreterInnen gefasst, die zwar eine homosexuelle Orientierung kennen, diese aber nicht leben, weil aufgrund ihrer Lektüre der Bibel jedes nicht-heterosexuelle Verhalten als unmoralisch zu bewerten sei. In der Heranziehung der Literatur der Ex-Gay-Bewegung wird im Folgenden nur diejenige angeführt, die für sich selbst den Begriff »Ex-Gay« in Anspruch nimmt als Bezeichnung für alle nicht praktizierenden homosexuell empfindenden Menschen oder für solche, die vormals homosexuell gelebt haben, dies aber gegenwärtig nicht mehr tun, wobei im Hintergrund meistens die Überzeugung steht, dass eine sexuelle Orientierung verändert werden kann durch die Kraft Jesu Christi. 19 Auf Grundlage der Interpretation der genannten Bibelstellen gibt es für Ex-Gays keine biblische Begründung, dass Gott homosexuelle Beziehungen billigen würde. Damit gilt für jede andere Interpretation: »Jeder Versuch, die Schrift […] zu verdrehen, um die eigenen homosexuellen Beziehungen zu untermauern, muß als absolut verkehrt beurteilt werden. Er entsteht aus der Sündhaftigkeit und der Irrtumsverhaftetheit des Geschöpfes« 20 . Mehrheitlich ist ein unmittelbarer applikationsorientierter Ansatz der Bibellektüre zu finden. Die Bibel spricht als Wort Gottes in eindeutiger Weise; die Verschmelzung von LeserInnen und biblischem Text ist dann gewährleistet, wenn die LeserInnen dieses Wort als Gottes Wort anerkennen, welches eineindeutig und luzide sich ohne methodischen Umweg verständlich und im Akt der Lektüre für die LeserInnen erschließbar erweist. Die Interpretation erfolgt mehrheitlich ohne eine vorher konstatierte Distanz des biblischen Textes zu den LeserInnen, vielmehr erschließt sich der Text in einem ungebrochenen Naheverhältnis. Aber auch wenn VertreterInnen der Ex-Gay- Bewegung sich eines methodischen Zugangs zu dem biblischen Text bedienen, um diesen zu interpretieren, gelangen sie zu der identischen Interpretation des biblischen Textes hinsichtlich des Verständnisses zur Homosexualität als in der Bibel verurteilte Praxis unabhängig von sexueller Orientierung oder kultureller Prägung. In der Ex-Gay-Bewegung ist somit die Distanz, die es im Akt der Lektüre zu überwinden gilt, nicht im biblischen Text zu verorten, sondern in der Sündhaftigkeit der lesenden Instanz, die sich durch ihre Sündenverfallenheit, zu der eine homosexuelle Orientierung zählt, einem reziproken Verhältnis zum biblischen Text verschließt. Von daher legt die Ex-Gay-Bewegung viel Energie auf »Heilungskurse« zur Überwindung der Homosexualität, mit dem Ziel, so das ungebrochene Naheverhältnis zwischen den Ex-Gay und dem biblischen Text wieder herzustellen. »Geheilt« wird hier nicht nur das homosexuelle, sondern auch das lesende Subjekt, indem der Eineindeutigkeit der Bibel im Akt der Lektüre Evidenz geschaffen wird. Innerhalb der EKD wird die Vielfalt der Interpretationsmöglichkeiten begrüßt. Denn nur so würde man der Vielfalt der Bibel gerecht werden: »Die Bibel sperrt sich gegen eine Auslegung, die die Mehrdimensionalität ihrer Texte einer religiösen Rechthaberei oder einem theologischen Fundamentalismus opfert. Ohne Neugier, ohne genaues Hinhören und ohne intensives Bemühen wird das Buch der Bücher immer nur bestätigen, was die Leser selbst schon gewusst haben« 21 . Die Begrüßung der Vielfalt der Interpretationen verdankt sich der Überzeugung, dass Gottes Wort in der Bibel im Menschenwort zugänglich ist, welches jeweils die Signatur eines bestimmten historischen, religiösen, sozialen und kulturellen Kontextes trägt. Wobei gleichzeitig der lutherische hermeneutische Ansatz von dem, »was Christum treibet«, einen Vexierspiegel für das Ver- Zeitschrift für Neues Testament typoscript [FP] - 12.10.2012 - Seite 62 - 4. Korrektur 62 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Hermeneutik und Vermittlung ständnis der Bibel darstellt. Von diesem aus wird festgehalten, dass das Thema der »Homosexualität« in dem, »was Christum treibet« nicht präsent ist, so dass die Thematik der Homosexualität nicht als ein Kernthema protestantischer Überzeugung auszuweisen sei. Innerhalb der verschiedenen Bibelstellen zur Frage nach der Homosexualität kommt Röm 1,26-27 das größte Gewicht zu. Nach Ansicht des Rates der EKD könne nicht eindeutig festgestellt werden, dass die Erkenntnis einer anlagebedingten sexuellen Prägung, die Paulus vermutlich nicht kannte, das Gewicht dieser biblischen Aussage zur Homosexualität inhaltlich modifizieren würde. Denn eine homosexuelle Praktik ist generell nach Paulus ein Verhalten, das eine Verfehlung des Gottesverhältnisses bzw. eine Rebellion gegen Gott zum Ausdruck bringt. 22 Diese inhaltliche Profilierung als verfehltes Gottesverhältnis, in das der Mensch durch seine Verstricktheit mit der Sünde gelangt, steht im Zentrum von Röm 1-3 und nicht das alleinige Verbot von homosexuellen Handlungen. Unentschieden bleibt, ob die Berücksichtigung des jeweiligen zeitbedingten biblischen Kontextes und die Kenntnis der gesellschaftlichen Realität von gleichgeschlechtlichen Lebensformen, die ihr Leben unter das Liebesgebot Christi stellen wollen, das biblische Verbot jeglicher homosexueller Praxis aufheben kann. Diese Spannung wird nicht aufgehoben in der Orientierungshilfe, sondern verlagert auf eine individuelle Ebene: Im Rahmen des persönlichen Gewissens soll diese Spannung aufgelöst werden, wobei das individuelle Gewissen sich wieder durch den geleisteten Akt der Lektüre in der Bibel selbst zu vergewissern hat. Der individuelle Leseakt, der zwar von einem intensiven Befragen des Textes ausdrücklich ausgeht, wird der Garant, um in Übereinstimmung mit dem biblischen Text aufgrund der Interpretation der Bibel die je individuelle Gewissensentscheidung hinsichtlich der Haltung zur Homosexualität zu begründen. Mit diesem sexualethischen Störfall sind wir im Zentrum der Frage nach dem Zusammenhang von Macht und dem Akt der Interpretation. Auf diesen Zusammenhang hat bereits Lewis Carroll hingewiesen und das Problem in »Alice hinter den Spiegeln« ironisch pointiert zugespitzt, indem er Humpty Dumpty (bzw. Goggelmoggel in der deutschen Übersetzung von Christian Enzensberger) in einem Streitgespräch mit Alice sagen lässt: »›Wenn ich ein Wort gebrauche‹, sagt Goggelmoggel in recht hochmütigem Ton, ›dann heißt es genau das, was ich für richtig halte-- nicht mehr und nicht weniger.‹ ›Es fragt sich nur‹, sagt Alice, ›ob man Wörter einfach etwas anderes heißen lassen kann.‹ ›Es fragt sich nur‹, sagt Goggelmoggel, ›wer der Stärkere ist, weiter nichts.‹ 23 « Gerade bei dem Testfall »Homosexualität« wird deutlich, dass die Akte der Interpretation, auf dem »erotischen Prinzip« der Vereinigung mit dem biblischen Text gründend, durch ihr Schweigen zur Frage der Macht in der jeweiligen Interpretation, nicht mehr als ohnmächtige RezipientInnen hinterlassen können. Die Akte der Interpretation, die auf Symmetrie und Reziprozität zwischen lesendem Subjekt und biblischem Text aufbauen, gründen alle auf der Idee, die jeweilige subjektive Interpretation als von der Macht der abweichenden Interpretation bedrohte Instanz zu verstehen, und erlauben es einzig, Macht als das Hinzutretende zu denken. Das die eigene Lektüre Hinterfragende und Beunruhigende wird vermittels des »erotischen Prinzips« ausgeschlossen. Indem die eigene Interpretation als verständlich und in Einklang mit dem biblischen Text dargestellt wird, können alternative Interpretationen jeder Zeit ausgeschlossen werden. Das tröstliche und sich selbst vergewissernde Spiel der lesend geleisteten Akte der Interpretation kann sich ganz selbstgewiss zurücklehnen. Es ist das »erotische Prinzip«-- aufbauend auf Einheit und Verschmelzung--, das es ermöglicht, sich einerseits der Machtfrage im Akt der eigenen Interpretation nicht zu stellen und gleichzeitig die anderen Interpretationen als unverständlich darzustellen. Und so hinterlassen die unter der Fahne der Freiheit des individuellen Lektüreaktes stehenden Interpretationen doch nicht mehr als ohnmächtige LeserInnen. Das Schweigen zur Macht im Akt der Interpretation lässt machtlos werden, spätestens dann, wenn einer das Sagen hat. Die Idee der Interpretation, die auf Symmetrie und Reziprozität zwischen lesender Instanz und textueller Materialität gründet, um herauszulesen, was der Text sagen will, inszeniert sich gerade auch bei der Frage zur Homosexualität immer nur als von der Macht (externer interpretatorischer Ansprüche) bedrohte Instanz. Wenn wir nun aber noch einmal diesen Zusammenhang zwischen Sex, Text und Interpretation ganz wörtlich nehmen, eröffnet sich jedoch auch eine andere »Gerade bei dem Testfall »Homosexualität« wird deutlich, dass die Akte der Interpretation, auf dem ›erotischen Prinzip‹ der Vereinigung mit dem biblischen Text gründend, durch ihr Schweigen zur Frage der Macht in der jeweiligen Interpretation, nicht mehr als ohnmächtige RezipientInnen hinterlassen können.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [FP] - 12.10.2012 - Seite 63 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 63 Kristina Dronsch Sex-- m/ Macht-- Text Lesart dieses Verhältnisses, die Jerome J. McGann treffend beschreibt: »Diese Wahlverwandtschaft zwischen Liebe und Textualität gibt es, weil Liebe und Texte zwei unserer grundlegendsten gesellschaftlichen Handlungen sind. Wir machen Liebe und wir machen Texte, und wir machen beides in einer scheinbar endlosen Folge imaginärer Variationen« 24 . Während die leserbezogene Sicht des Textes festhielt, dass Texte nicht etwas sind, was wir machen, sondern einzig was wir interpretieren, lohnt es sich diese Mc- Gannsche Brille ein wenig länger aufzubehalten. Denn so eingängig die Vorstellung ist, dass Texte und von Texten gemachte Interpretationen etwas Gemachtes sind, so wenig wird sie gegenwärtig thematisiert. Aber gerade für die Frage nach der »Macht« zeigt die Fokussierung auf das »Machen« Erstaunliches, wenn wir Texte und Interpretationen als Szenen des Machens anstatt als Szenen des Lesens begreifen. Doch hier muss gleich eine Klarstellung vorangestellt werden: Es soll keineswegs darum gehen, nun einfach dahin zurückzukehren, wo die bibelwissenschaftliche Forschung her kommt, nämlich zur Wiederbelebung einer reinen Produktions- und Darstellungsästhetik, die ausklammert, dass Texte auch gelesen werden. Nein, es gilt voll und umfänglich die Überzeugung, dass Texte nur deshalb zu einem kulturellen Zeugnis werden können, weil sie ein Publikum gefunden haben, weil sie gelesen werden. Gemeint ist mit der Fokussierung auf die »Szenen des Machens« ein anderer Blick auf die biblischen Texte und die geleisteten Akte der Interpretation. Während in der leserbezogenen Sicht das Ziel im Akt der Interpretation war, aus der Materialität des Textes etwas Immaterielles herauszukristallisieren, was als die Idee oder Bedeutung des Textes bestimmt wurde, geht es darum, nicht nur Texte hinsichtlich ihrer Materialität, die auf ein Machen aufbaut, sondern auch die Akte des Lesens und Interpretierens als Materialisierungen zu verstehen. Wenn-- wie oben bei den unterschiedlichen Haltungen zur Homosexualität festgehalten wurde- - die Interpretation als Interpretation immer auch schon praktische Anwendung ist, dann kann sie es nur sein, weil sie das Bedeutsame der je eigenen Interpretation verkörpert-- eben in der praktischen Anwendung. Damit gehört das Machen nicht nur zur Materialität des Textes, sondern auch das Lesen der Bibel dient der Verkörperung des Bedeutsamen. Die Materialität ist nicht lediglich als Informationsträger zu verstehen. Vielmehr wird im Gebrauch von biblischen Texten, wie dies im Verfassen der biblischen Texte selbst geschah, aber auch im Rahmen von Interpretationen geschieht, entscheidender Einfluss genommen-- und zwar auf die RezipientInnen. Mit der Frage nach dem Machen der Texte und der auf Texten basierenden Interpretationen ist die Frage nach der Macht also immer zugleich mit zu bedenken und nicht als erst etwas nachträglich Hinzukommendes zu verstehen. Doch wo soll begonnen werden, wenn über die Frage des Machens nachgedacht werden soll? Am Anfang natürlich! Unter den Konstitutionsbedingungen antiker griechisch-römischer Texte, zu denen ja auch die biblischen Texte zählen, wo sich die Szenen des Schreibens eingeschrieben haben. 3. Das päderastische Paradigma der Schrift in der griechisch-römischen Antike Die folgenden Ausführungen zu den Akten des Schreibens in der griechisch-römischen Antike sollen der veränderten Sichtweise auf das Machen Rechnung tragen und zugleich ausweisen, dass auch historisch gesehen, die Frage nach dem Machen und der Macht eng verknüpft sind in der Geschichte der Schrift. Es ist das Verdienst von Jesper Svenbro, dass er auf jene Szenen des Schreibens in der Antike hinsichtlich ihrer Frage nach dem ihr innewohnenden Verhältnis von Macht aufmerksam gemacht hat. Hierfür möchte ich im Folgenden kurz in die Überlegungen von Jesper Svenbro einführen. In der griechisch-römischen Antike wurde laut gelesen. Schreiben wurde als ein Mittel gesehen, um Laute zu produzieren, die auf eine Verlautlichung warteten. Für die griechisch-römische Antike galt daher, dass die Schrift, »ohne das dies ein Widerspruch wäre, das Epitheton ›mündlich‹ für sich beanspruchen kann, denn die griechische Schrift ist […] vor allem ein Werkzeug der Klangerzeugung« 25 . Schreiben wurde verstanden als eine aktive Tätigkeit-- als ein Machen, während das Lesen als eine passive Tätigkeit verstanden wurde. Passiv war der Lesende deshalb, weil er sich dem Geschriebenen auslieferte, indem er dem Geschriebenen seine Stimme lieh. »Der Leser ist das Werkzeug, dessen der Text bedarf, um sich zu verwirklichen. Seine Stimme ist instrumentell. Entweder er weigert sich zu lesen, was ihm ohne weiteres möglich ist, oder er willigt ein-- doch wenn er einwilligt, hat er sich auch schon als Sprachrohr des Geschriebenen definiert« 26 . Der Leser dient somit dem Geschriebenen und auch dem Schreibenden als Instrument. Das heißt nicht nur, dass er über die nötige Kompetenz verfügt, um den Inhalt der geschriebenen Mitteilung an Zuhörende zu ›verteilen‹, die selbst An- Zeitschrift für Neues Testament typoscript [FP] - 12.10.2012 - Seite 64 - 4. Korrektur 64 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Hermeneutik und Vermittlung alphabeten sein können. Es heißt vor allem, dass er im Dienst des geschriebenen Wortes steht. Nach Svenbro stellt nun die Verbindung zwischen dem Schreibenden und dem Lesenden sich analog zu der in der im antiken Griechenland praktizierten Institution der Päderastie dar, bei der erwachsene Männer sexuelle Beziehungen zu Knaben pflegten. Der aktive, dominante Liebhaber (Erastes) und der passive, dominierte Liebhaber (Eromenos) entsprechen dem aktiven Schreiber und dem passiven Leser. Dies war einer der Gründe, warum das Lesen in der Antike gerne den Sklaven, den Unfreien, überlassen wurde. Anhand von zahlreichen epigraphischen und textlichen Belegen aus der griechisch-römischen Zeit legt Svenbro dar, wie der laut Lesende mit dem Eromenos verglichen wird, weil er dem Geschriebenen seinen Sprachapparat leiht. Indem er dieses intime Organ zur Verfügung stellt, begibt er sich in eine passive Rolle wie in einer päderastischen Beziehung-- er wird durch den Macher der Schrift penetriert. Der Leser, indem er sich der Schriftspur des Schreibers unterwirft, verhält sich entsprechend dem Eromenos, der dominiert wird und die Position des Besiegten einnimmt. Jedoch bleibt der Schreiber genauso auf den Leser angewiesen, denn ohne ihn bleibt die Schrift stumm. Nach Svenbro ergreift das geschriebene Wort durch den Akt des Lesens von der Stimme des Lesers Besitz. Die Stimme des Lesers gehört während des Vorlesens dem geschriebenen Wort, sie wird während eines längeren oder kürzeren Zeitraums zum Besitz des geschriebenen Wortes mit dem Ziel, die Worte im Akt des Lesens zu materialisieren, indem sie hörbar werden. Gelesen werden heißt unter diesen Bedingungen: Macht über die Zunge des Lesers auszuüben, über seinen Sprechapparat, seinen Körper, auch über eine große zeitliche und räumliche Distanz. In dieser Perspektive ist also das Machtverhältnis schon mit der Materialität der Schrift gesetzt. Und was noch wichtiger ist: Svenbros Ausführungen machen deutlich, dass die Frage nach der Macht auch über eine große räumliche und zeitliche Distanz hinweg erhalten bleibt. Sie ist also keineswegs an die Präsenz des Schreibers gebunden. Zwar erscheint Svenbro in methodischer Hinsicht nicht unangreifbar, auch die antike Knabenliebe ist unter Umständen komplexer zu verstehen. Dennoch sind die Ausführungen weiterführend, weil Svenbro überzeugend ausweisen kann, dass in einer Phase, in der die Schrift bzw. die textuelle Materialität noch nicht Selbstverständlichkeiten in kultureller Hinsicht waren, die Frage nach der Macht eine grundlegende war, die an das Machen geknüpft war. Mit dem Machen der Texte ist die Frage der Macht eine direkt präsente. Die Spuren ihrer Anwesenheit schreiben sich auf der materiellen Ebene des Textes ein, Texte sind somit Manifestationen von sozialen Handlungen. Nach Svenbro muss Schrift verstanden werden in der Spannung von Steuerung und Selbststeuerung. Von der textuellen Materialität gehen Determinationen aus, die eben nicht mehr auf »Einsichten« der lesenden Instanzen in die textuelle Manifestation zurückgeführt werden können. Die Asymmetrie durch das Gravitationsfeld der Machtfrage zwischen Text und LeserInnen ist keine additiv hinzukommende, sondern schon im Akt des Schreibens, des Machens von Texten angelegt. Die Frage der Macht ist keine nachträgliche mehr, sondern sie ist in dem Moment schon da, wo sich hinsichtlich der gegebenen Materialität des Textes ein Gravitationsfeld des Begehrens konstituiert. Die Machtfrage ist nun direkt eingelassen in die Konstitutionsbedingungen des Materiellen. Es herrschen Machtrelationen vor, denen sich nicht entzogen werden kann, wenn der Text gelesen wird. Zugleich wird mit Svenbros Ausführungen zum Instrumentcharakter der lesenden Instanz hervorgehoben, dass Akte des Lesens selbst nur verstanden werden können, wenn sie eine bestimmte materielle Konstitution angenommen haben, die durch die Verlautlichung realisiert wird. Diese damit geleistete Materialisierung im Akt des Lesens spiegelt wiederum Machtrelationen. Dies ist gerade angesichts unserer heutigen Stille gegenüber dem Text zu betonen, bei der dieser Aspekt meistens vergessen wird, obwohl doch das stille Lesen auf gerade diesem Textmodell des lauten Lesens aufbaut. Was heißt die Fokussierung auf das Machen von Texten nun für das Machen von Interpretationen? 4. Telekommunikation der Macht Texte erscheinen in der Fokussierung auf das Machen immer auch als Teil einer »Telekommunikation der Macht« 27 , die allein durch ihre textuelle Materialität nicht nur das Lesen ermöglichen, sondern immer auch einen Herrschaftsraum sicherstellen bzw. ihn zu erweitern versuchen. Deshalb gilt: In der Materialität des »Mit dem Machen der Texte ist die Frage der Macht eine direkt präsente. Die Spuren ihrer Anwesenheit schreiben sich auf der materiellen Ebene des Textes ein, Texte sind somit Manifestationen von sozialen Handlungen.« Zeitschrift für Neues Testament typoscript [FP] - 12.10.2012 - Seite 65 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 65 Kristina Dronsch Sex-- m/ Macht-- Text Textes spricht sich die Autorität des Machers des Textes aus, die sich in Machtrelationen konkretisiert. Gleiches gilt nun auch für jede gemachte Interpretation zu einem biblischen Text: Jede Interpretation-- sei es eine theoretisch verankerte oder eine intuitiv gewonnene--, sofern sie zugänglich gemacht wird, sofern sie sich materialisiert, ist der Autorität ihres Machers verpflichtet und baut auf Machtrelationen auf. Dies gilt für jede Interpretation, gerade weil gilt, dass jede Interpretation als Interpretation immer auch schon praktische Anwendung ist. Damit ist die Frage der Macht im Akt der Interpretation immer zugleich mit zu bedenken. Die Macht im Akt der Interpretation spricht sich immer schon auf eine mittelbar-unmittelbare Weise aus, die durch jedes Machen der Interpretation bedingt ist. Vor dem Hintergrund der Feststellung, dass den Akten der Interpretation nicht eine Tendenz zur Immaterialisierung zu unterstellen ist, sondern dass Akte des Lesens immer auch Materialisierungsleistungen sind, bei denen im Akt der Interpretation Bedeutsames verkörpert wird im Rahmen von Worten, Gesten und Handlungen, wird deutlich, dass es für keine Interpretation einen »machtfreien« Rückzugsort gibt, sehr wohl aber viel Raum, Macht zu potenzieren. Sowohl Asymmetrie und Heterogenität gehören zu jeder gemachten materialisierten Interpretation dazu als auch die Feststellung, dass die Frage der Macht in Akten der Interpretation auch über eine große räumliche und zeitliche Distanz zu dem Macher der Interpretation hinweg erhalten bleibt aufgrund der geleisteten Materialisierung der Interpretation. Interpretationen der Bibel-- ob nun hinsichtlich der Frage zum Umgang mit Homosexualität oder in anderer Hinsicht-- sind immer schon in ein Kraftfeld der Macht involviert, in dem sich zugleich theologische Produktivität ereignet. In den Akten der Interpretation verkörpert sich Bedeutsames in produktiver Weise. Insofern kann eine Interpretation kein Garant oder Wegbereiter der eigenen Selbstgewissheit sein, sondern ist letztlich ein Verfahren der Vermittlung zwischen etwas. Interpretationen eröffnen sozusagen immer einen Raum des Dazwischen und zeigen gerade darin ihre Produktivität, indem sie im Akt der Interpretation etwas erzeugen, was als Bedeutsam angesehen wird. Bleibt ein vorläufiges Fazit auch für die Frage der Homosexualität: Interpretationen der Bibel sind sozusagen mit Haut und Haaren menschlicher Macht etwas Gemachtes. Wir können an den Interpretationen nicht ablesen, was Gott ursprünglich mit uns vorgehabt hätte. Von daher retten uns Interpretationen der Bibel nicht vor einer gewissen Haltlosigkeit. Gleichwohl eröffnet diese Haltlosigkeit uns gerade einen Freiraum: Weil unsere Interpretationen keine erotischen Verschmelzungen mit Immateriellem, sondern Materialisierungen von Bedeutsamen sind, gibt uns dies die Möglichkeit, uns in unserem Verhalten zu koordinieren. Denn alles, was wir von anderen Akten der Interpretationen wissen können, sehen wir an Worten und Handlungen, durch die sich diese Akte der Interpretation für eine Öffentlichkeit signifikant machen. Am interpretativ gewonnenen Zeigen zeigt sich, ob und wie wir respektvoll als Kinder Gottes miteinander durch unsere Worte und Handlungen umgehen. Das Thema Homosexualität wird in dieser Weise gewiss ein ernster Testfall sein. Anmerkungen 1 M. Foucault, Der Wille zum Wissen- - Sexualität und Wahrheit, Frankfurt a. M. 1983, 83. 2 R. Barthes, Vom Werk zum Text, in: R. Lüdeke/ S. Kammer (Hgg.), Texte zur Theorie des Textes, Stuttgart 2005, 48. 3 H. R. Jauß, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, Konstanzer Universitätsreden 3, Konstanz 1967, 127. 4 W. Iser, Der Akt des Lesens, München 1990, 38. 5 Iser, Akt, bes. 50 ff. 6 R. Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik, München 1988, 32. 7 U. Eco, Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München 1990, bes. 61 ff. 8 So S. Pellegrini, Elija- - Wegbereiter des Gottessohnes. Eine textsemiotische Untersuchung im Markusevangelium, Freiburg i.Br. et al. 2000, 37. 9 Vgl. Eco, Lector, 76. 10 C. Hardmeier, Textwelten der Bibel entdecken. Grundlagen und Verfahren einer textpragmatischen Literaturwissenschaft der Bibel (Textpragmatische Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte der Hebräischen Bibel Bd. 1/ 1) Gütersloh 2003, 48. 11 M.A. Powell, What is Narrative Criticism? A New Approach to the Bible, Minneapolis 1990, 17 f. 12 E.V. McKnight, Postmodern Use of the Bible. The Emergence of Reader-Oriented Criticism, Nashville 1990, 168. 13 M. Hengel, Die Aufgabe der neutestamentlichen Wissenschaft, NTS 40 (1994), 321-357: 351. 14 J. Jeremias, Die Gleichnisse Jesu, Göttingen 8 1970, 114. 15 So der Versuch vom U. Eco, Lector, 228, der z. B. von S. Pellegrini, Elija, 72, in den Bibelwissenschaften aufgegriffen wird. 16 Grundsätzlich dazu: B. Brooten, Darum lieferte Gott sie entehrenden Leidenschaften aus. Die weibliche Homoerotik bei Paulus, in: M. Barz et al. (Hgg.), Göttlich lesbisch. Facetten lesbischer Existenz in der Kirche, Gütersloh 1997, 113-138; H. Tiedemann, Paulus und das Begehren. Liebe, Lust und letzte Ziele. Oder: das Gesetz in den Gliedern, Stuttgart 2002. Zeitschrift für Neues Testament typoscript [FP] - 12.10.2012 - Seite 66 - 4. Korrektur 66 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Hermeneutik und Vermittlung 17 Tiedemann, Paulus, 117. 18 W. Schürger, Bekenntnisse-- nach zehn Jahren ›schwule Theologie‹, in: Werkstatt Schwule Theologie 10 (2003), 149-159: 155-156. 19 Vgl. B. Davies, Portraits of Freedom. 14 People. Who came out of Homosexuality, Illinois 2001, 17-18. 20 A. Comiskey, Unterwegs zur Ganzheitlichkeit. Hilfen für Menschen mit homosexuellen Empfindungen, Wiesbaden 1989, 79. 21 Zitiert aus der Herbst-Kundgebung der EKD: Kundgebung zum Schwerpunktthema »Bibel im kulturellen Gedächtnis« (Trier 2003) (www.ekd.de/ synode2003 accessed 19. 7. 2012). 22 Paraphrasiert aus: Rat der EDK, Orientierungshilfe: »Mit Spannungen leben«, hrsg. v. Kirchenamt der EKD (Hannover 1996) (www.ekd.de/ EKDTexte/ 2091_spannungen_1996_vorwort.html accessed 19. 7. 2012). 23 L. Carroll, Alice im Wunderland. Alice hinter den Spiegeln, Frankfurt a. M. 1999, 210. 24 J. J. McGann, Texte und Textualitäten, in: S. Kammer/ R. Lüdeke (Hgg.), Texte zur Theorie des Textes, Stuttgart 2005, 136. 25 J. Svenbro, Phrasikleia. Anthropologie des Lesens im alten Griechenland, München 2005, 10. 26 J. Svenbro, Phrasikleia, 49. 27 P. Sloterdijk, Sphären I: Blasen, Mikrosphärologie, Frankfurt a. M. 1999, 668. Vorschau-auf Heft 31 Politik Mit Beiträgen von: Werner Kahl, Stefan Alkier, Martin Ebner, Jasper Tang Nielsen, Wolfgang Stegemann, Jan Dochorn, Tobias Nicklas. NEUERSCHEINUNG A. Francke Verlag • D-72070 Tübingen • info@francke.de • www.francke.de Albrecht Greule Sakralität Studien zu Sprachkultur und religiöser Sprache Herausgegeben von Sandra Reimann und Paul Rössler Mainzer Hymnologische Studien, Band 25 2012, XII, 233 Seiten, € (D) 58,00/ SFr 77,90 ISBN 978-3-7720-8442-3 Der Sammelband enthält Greules wichtigsten Schriften aus den Jahren 1990-2010 zu Sprachkultur und Sakralität, zur historischen Dimension der Sakralsprache, zur Sprachkultur der Liturgie der Gegenwart und zum geistlichen Lied. Dabei wird eine Fülle an sprachwissenschaftlichen Bereichen einbezogen, auch Emotionen in der Sakralsprache werden thematisiert. Der Verfasser stellt seine Analysen in einen größeren Kontext und bezieht Kommunikationssituationen und Textsortencharakteristika ein. Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 67 - 4. Korrektur ZNT 30 (15. Jg. 2012) 67 Buchreport Marcella Althaus-Reid Indecent theology: theological perversions in sex, gender and politics London [u. a.]: Routledge 2000 VI + 217 Seiten; 37,54 € (englisch) Wer mit wem wie Sex haben darf, das wollte die Kirche schon des Öfteren reglementieren. Heutzutage halten sich zumindest die westlichen protestantischen Kirchen mit allzu starken Normierungen (meistens) zurück-- solange es nicht um ihre eigenen Pastorinnen und Pastoren geht! Solche Sexualfragen gehören zu den umstrittensten, wie man an der Frage von Homosexualität im Pfarramt sehen kann. Es ist eine allgemein präsente Annahme, nicht nur in der Kirche, sondern auch in der Gesellschaft, dass Ehe und Christentum zusammengehören und Ehe die Norm ist, an der sich Christinnen und Christen zu orientieren haben. Bestenfalls wird seit kurzem eine homosexuelle Partnerschaft geduldet, aber auch nur dann, wenn sie verbindlich und auf Dauer eingerichtet ist. ChristInnen sehen sich entweder als treue Partner bzw. Familienmenschen oder alleinstehend der Keuschheit verpflichtet-- so sieht zumindest das gängige Idealbild aus. Die aus Argentinien stammende, 2009 in Edinburgh verstorbene Befreiungstheologin, Feministin und Queer- Theologin Marcella Althaus-Reid versucht diese-- wie sie meint verhängnisvolle-- Allianz von »Heteronormativität« und Theologie mithilfe ihrer »unanständigen Theologie« aufzubrechen. Die Grundthese des Buches ist, dass Sexualität, Theologie und Ökonomie untrennbar miteinander verbunden sind. Theologie ist, explizit oder implizit, sexuelle Theologie (»All theology is sexual theology«). Althaus- Reid verwendet diesbezüglich die Metapher der Theologin ohne Unterwäsche (»to do theology without underwear«; 1-4.23-26 u. a.). Sie will zeigen, dass die etablierten Theologinnen und Theologen mit ihrer Unterwäsche stets ihre Sexualität versteckt und so »anständige« (»decent«) Theologien produziert haben. Solche »anständige« Theologie vermag es jedoch nicht, unterdrückerische Mechanismen sowohl in Gender- Fragen als auch in der Ökonomie zu durchbrechen. Als Beispiele für »anständige« Theologen, die ihre eigene Sexualität aus ihrem Theologisieren herausgehalten haben, nennt die Autorin Karl Barth und Paul Tillich. So preist Barth in seiner Kirchlichen Dogmatik die eheliche Gemeinschaft als einziges Modell der erotischen Liebe, lebte aber selbst in einer ménage à trois (49.1 120). Und Tillich, der sadomasochistische Praktiken liebte und auslebte, klammert diese Leidenschaft völlig aus seiner Theologie aus (88-89.1 146). Diese Doppelmoral und das Ausblenden der eigenen Sexualität in der Theologie möchte die Autorin beenden. Sie plädiert daher für eine »unanständige« Theologie »without underwear«. Althaus-Reid nimmt dabei nicht Anstoß am devianten Sexualverhalten der beiden Theologen, sondern an der mangelnden Integrität der beiden, ihre sexuellen Vorlieben theologisch zu verarbeiten. Als Grundproblem sieht sie, dass Theologie und Kirche sich mit einer oktroyierenden »Heteronormativität« verbündet haben, die jegliche Abweichung von der »Norm« unmöglich macht. Das heteronormative Muster erschöpft sich in einer Entweder-Oder-Struktur (115- 116): entweder heterosexuell oder homosexuell, entweder männlich oder weiblich. Die von der Queer-Theorie herausgestellten Mischformen, Undefiniertheiten und fließenden Übergänge haben hier keinen Platz. Dieses heteronormative Denken ist auch der Grund dafür, warum die lateinamerikanische Befreiungstheologie nicht wirksam sein konnte. Die traditionelle Befreiungstheologie hat existenzielle Unterdrückungsstrukturen nicht beseitigt, weil sie sich in den herkömmlichen heteronormativen Axiomen bewegte (27-33). So ist freilich das Thema Armut in den Blick geraten, doch die traditionellen Gender-Strukturen wurden nicht hinterfragt. Diese sind aber dafür verantwortlich, dass Frauen eine untergeordnete Rolle spielen und »Abweichler« wie Homo-, Bi-, Transsexuelle und viele andere ausgegrenzt werden. Es ist nicht thematisiert worden, dass gerade diese repressive Unterordnung Armut produziert. Althaus-Reid kritisiert die Befreiungstheologie also fundamental anhand von sexuellen Kategorien und schreibt sie zugleich auf neue Weise fort. Ökonomische Unterdrückungsmechanismen sind eng verwoben mit sexuellen Idealmodellen. Das versucht die Autorin in jedem der fünf Kapitel deutlich zu machen. Da Althaus-Reid die Konstruktion von Sexualität, Geschlecht und politischer Unterdrückung maßgeblich theologisch bestimmt sieht, muss zuerst die Theologie »pervertiert« werden, damit der Unterdrückung entgegengetreten werden kann. Den Begriff »Perversion« versteht die Autorin hierbei wie viele andere Begriffe in ihrem Buch mehrdeutig. So ist mit »Perversion« die Offenlegung von implizit-theologischer sexueller Gewalt gemeint. Die Erzählung von der Jungfrauenschwangerschaft Marias wird dementsprechend als Vergewaltigungsakt eines mächtigen männlichen Akteurs (Gott) und eines fügsamen Mädchens (Maria) interpretiert (109). Damit verbunden und in Anlehnung an die ursprüngliche Wortbedeutung von »pervertere« (87) steht der Begriff für die Dekonstruktion von bestehenden Zeichensystemen, die in Unterdrückungsstrukturen manifest werden. Die »Jungfrau Maria« muss in einem katholisch-lateinamerikanischen Kontext dekonstruiert werden, da ihr Bild Teil eines Unterdrückungssystems ist, das von der spanischen Conquista in Lateinamerika über die Militärdiktaturen bis in die heutige Zeit reicht. Das Symbol der »Jungfrau«, die eigentlich keine »Frau« ist (39), weil sie ohne Blut und Schweiß schwanger wird und selbst über den Akt der Geburt hinaus »rein« bleibt, wird als sexuelles Symbol entlarvt, das trotz und gerade wegen seiner fehlenden Sexualität und Weiblichkeit sexuell normierend repressiv wirkt. So vermag eine Marienstatue z. B. insofern Repression erzeugen, als sie ein Ideal der Zeitschrift für Neues Testament typoscript [AK] - 12.10.2012 - Seite 68 - 4. Korrektur 68 ZNT 30 (15. Jg. 2012) Buchreport Reinheit und Heiligkeit symbolisiert, das von den Frauen, die zu ihr beten, niemals erreicht werden kann. Frauen, die- - wie die Autorin selbst- - in den Slums von Buenos Aires aufwuchsen und sexueller Gewalt bzw. Diskriminierung von Kindesbeinen an ausgesetzt waren, werden schon aufgrund dieser von Armut und Gewalt geprägten Welt von früh an nicht jungfräulich sein. Eine so beschaffene Ikonographie erzeugt dauerhaft ein falsches Schuldbewusstsein und verfestigt Armuts- und fatale Gender-Strukturen (44). Ähnliche Dekonstruktionsversuche unternimmt die Autorin bezüglich Jesus Christus. Als »Drag Queen« (78-79) oder »Bi/ Christ« (112, man beachte die Mehrdeutigkeit unter phonetischem Aspekt! ) wird der im Neuen Testament sexuell unterbestimmte Jesus (112-120) zur Identifikationsfigur für Menschen, die von der gesellschaftlich-kirchlichen Sexualnorm abweichen. Die intendierte Dekonstruktion vollzieht die Autorin nicht zuletzt vermittels ihrer Sprache und Metaphernauswahl. So wird der theologische Stoff durchgehend in einer sexualisiert-pornographischen Sprach- und Bildwelt aufbereitet (z. B. 93-94). Dergestalt deckt Althaus-Reid zum einen die implizite sexuelle Prägung der traditionellen systematischen Theologie auf und entlarvt diese als sexuelle Ideologie mit unterdrückerischen Zügen gegenüber Frauen, sexuell Devianten und Armen. Zum anderen arbeitet die Autorin durch Dekonstruktion (im Sinne von De-struktion und Re-Konstruktion) eine Queer-Theologie heraus, die den Marginalisierten (Frauen, sexuell Devianten und Armen) die Möglichkeit der Identifikation mit theologischem bzw. biblischem Stoff bietet. Im Gespräch mit namhaften SexualtheoretikerInnen (z. B. Eve Kosofsky Sedgwick), Queer-TheologInnen (z. B. Robert Goss, Mary Daly), MarxismusforscherInnen (z. B. Chantal Mouffe), der Postkolonialismusforschung (z. B. Edward W. Said) und der europäischen Philosophie (z. B. Jacques Derrida, Paul Ricoeur) spielt Althaus-Reid in der obersten Liga der gegenwärtigen Kulturwissenschaften. Dabei geht es der Autorin nicht darum, Gott »loszuwerden«. Im Gegenteil, sie beklagt bitter, dass es in der Theologie bis heute als weniger »unanständig« gilt, Gott selbst herauszufordern, als die sexuell-normativen Grundannahmen von Theologien anzutasten (22.1 124). Es geht ihr auch nicht darum, »Gott« in ein neues, nun womöglich »queeres« Konzept zu pressen. Sie stellt gerade die Unverfügbarkeit, Spontaneität, Diversität und Fluidität Gottes heraus und korreliert diese mit einem Verständnis von Sexualität, das ebenfalls unverfügbar, spontan, divers und ungreifbar ist. Eine Queer-Sexualität entspricht in dieser Denkbewegung-- und hier wirkt die Autorin dann doch etwas normierend-- viel eher einem unverfügbaren Gott als die traditionell-dogmatische Theologie. Und genau an dieser Stelle muss die Kritik einsetzen: Wird hier etwa die Heteronormativität ersetzt durch eine neue Norm- - die Norm der Queer- Theorie, die besagt, dass »alle« Sexualität »fließt«? Und wenn Sexualität völlig sporadisch und bindungslos ausgelebt wird, steht sie dann nicht schon in der unmittelbaren Gefahr, einem kapitalistischen Imperativ des sexuellen Wettbewerbs zu erliegen? Und- - bei aller theologischen Hingabe an Menschen, die sexuell von der traditionellen Norm abweichen: Müssen diese nicht auch vor Bindungslosigkeit und Beziehungsverlust bewahrt werden? Diesbezüglich könnten Aporien oder wenigstens doch Schwachstellen in Althaus-Reids Werk aufzuspüren sein. Des Weiteren muss die starke Kontextbezogenheit auf den lateinamerikanischen Kulturraum als große Stärke wie zugleich Schwäche des Buches gesehen werden. In einem protestantischen, mariologiearmen Umfeld wird die Dekonstruktion der Jungfrau Maria beispielsweise als weniger notwendig erscheinen. Nichtsdestotrotz ist der Versuch, Gott durch eine Dekonstruktion der traditionellen Theologie als repressive Sexualideologie neu und für viele bisher marginalisierte Menschengruppen in den Blick zu rücken, mehr als bemerkenswert. Marcella Althaus-Reids »Indecent theology« ist eine anregende Lektüre für alle, die gerne an die Grenzen von Theologie und Christentum gehen und sich in den aktuellen kulturwissenschaftlichen Diskursen heimisch fühlen. Christof Viktor Meißner