ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
0601
2013
1631
Dronsch Strecker VogelWerner Kahl Gottesgerechtigkeit und politische Kritik - neutestamentliche Exegese angesichts der gesellschaftlichen Relevanz des Evangeliums Stefan Alkier »Frucht bringen« oder »Gewinnmaximierung«? Überlegungen zur Gestaltung des Lebens und des Wirtschaftens im Anschluss an das Matthäusevangelium Martin Ebner Die Rede von der »Vollmacht« Jesu im MkEv - und die realpolitischen Implikationen Jesper Tang Nielsen Das Gleichnis vom Schalksknecht - eine Ökonomie der Generosität Ist eine politische Auslegung des Neuen Testaments legitim? Wolfgang Stegemann vs. Jan Dochhorn Buchreport DIE NEUE POLITIK DES NEUEN TESTAMENTS ISSN 1435-2249 ZEITSCHRIFT NEUES TESTAMENT F Ü R Das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft Herausgegeben von Stefan Alkier, Eckart Reinmuth, Manuel Vogel Heft 31 · 16. Jahrgang (2013) Impressum Inhalt Heft 31 · 16. Jg. (2013) Herausgeber Stefan Alkier Eckart Reinmuth Manuel Vogel in Verbindung mit Peter Busch Axel von Dobbeler Kristina Dronsch Ute E. Eisen Richard B. Hays Matthias Klinghardt Günter Röhser Hanna Roose Thomas Schmeller Christian Strecker François Vouga Anschrift der Redaktion Prof. Dr. Manuel Vogel Friedrich-Schiller-Universität Theologische Fakultät Fürstengraben 6 07743 Jena Manuskripte Zuschriften, Beiträge und Rezensionsexemplare werden an die Adresse der Redaktion erbeten. Eine Verpflichtung zur Besprechung unverlangt eingesandter Bücher besteht nicht. Anzeigen Narr Francke Attempto Verlag Telefon: (0 70 71) 97 97-0 Bezugsbedingungen Die ZNT erscheint halbjährlich (April und Oktober) Einzelheft: € 26,50 zuzügl. Versandkosten Bezugspreis jährlich: € 42,- Vorzugspreis für Studenten jährlich Print: € 32,- Bezugspreis jährlich Print+Online: € 52,00 © 2 013 · Narr Francke Attempto Verlag Alle Rechte vorbehalten ISSN 1435-2249 Umschlagentwurf: Werner Rüb, Bietigheim-Bissingen. Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach. Druck und Bindung: Laupp & Göbel, Nehren. Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Tübingen Dischingerweg 5 · 72070 Tübingen Telefon (0 70 71) 97 97-0 · Telefax (0 70 71) 97 97-11 Internet: http: / / www.francke.de · E-Mail: info@francke.de ZNT im Internet: http: / / www.znt-online.de Editorial Editorial .............................................................. 1 Neues Testament Werner Kahl aktuell Gottesgerechtigkeit und politische Kritik - neutestamentliche Exegese angesichts der gesellschaftlichen Relevanz des Evangeliums .... 2 Zum Thema Stefan Alkier »Frucht bringen« oder »Gewinnmaximierung«? Überlegungen zur Gestaltung des Lebens und des Wirtschaftens im Anschluss an das Matthäusevangelium .............................................. 11 Martin Ebner Die Rede von der »Vollmacht« Jesu im MkEv - und die realpolitischen Implikationen ................ 21 Jesper Tang Nielsen Das Gleichnis vom Schalksknecht - eine Ökonomie der Generosität ........................ 31 Kontroverse Einleitung zur Kontroverse (Manuel Vogel) .................................................... 40 Wolfgang Stegemann Ist eine politische Auslegung des Neuen Testaments legitim? ................................ 41 Jan Dochhorn Ist eine politische Auslegung des Neuen Testaments legitim? ................................ 47 Hermeneutik Heike Hötzinger und Vermittlung Umdenken als Politik (Lk 3,7-14) .................... 53 Buchreport C. Kavin Rowe World Upside Down. Reading Acts in the Greco-Roman Age Oxford University Press: Oxford 2009 (rez. von Manuel Vogel) .................................... 65 Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 13.03.2013 - Seite 1 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 1 Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, das Politische, gar eine »neue Politik«, stand in der deutschsprachigen neutestamentlichen Wissenschaft lange Zeit nicht sonderlich hoch im Kurs. Erst die forcierte interdisziplinäre Ausrichtung neutestamentlicher Forschungsprojekte der letzten Jahre hat dem Gespräch mit Politologie und Politischer Philosophie erste Impulse gegeben, ebenso der beginnende Dialog mit den Sozial- und Kulturwissenschaften nach dem cultural turn. Langsam aber sicher wird die akademische Forschung historisch und geographisch ihres spezifisch europäischen Standpunktes gewahr und stößt dabei auf politische Lektüren des Neuen Testaments in gänzlich anderen kulturellen, sozialen und gesellschaftlichen Kontexten, Lektüren, die eigene Denk- und Deutungsweisen irritieren, aber stärker noch bereichern. Dass das Neue Testament politisch nicht stumm bleiben kann, versteht sich von selbst, sobald man den unaufgebbaren doppelten Bezug von Theologie und Kirche auf die Schrift und auf die je eigene Gegenwart in Rechnung stellt. Der Gegenwartsbezug ergibt sich aus dem Bekenntnis zu Gott als Schöpfer der Welt, ein Bekenntnis, das die Kirche notwendig in einen gesellschaftlichen und die Gesellschaft in einen globalen Kontext stellt. Der Schriftbezug, der zumal in den Kirchen der lutherischen Reformation in der Formel sola scriptura festgeschrieben ist, verweist die theologische Reflexion auf ihre eigenen historischen Anfänge, die im Schriftenkanon des Neues Testaments ihren literarischen Niederschlag gefunden haben. Zusammen mit Tora, Propheten und Schriften bildet das Neue Testament außerdem die zweiteilige christliche Bibel, die von der Schöpfung bis zur Apokalypse eine durch und durch politische Geschichte erzählt. Das Politische schlägt der Theologie also nicht nur aus ihrer Gegenwart entgegen, sondern auch aus der Bibel. Das vorliegende Heft soll dazu dienen, diese Bezüge noch stärker als bisher ins Bewusstsein zu rufen. Unter der Rubrik »Neues Testament aktuell« gibt Werner Kahl einen kundigen, informativen und anregenden Forschungsüberblick, der u. a. von gegenwärtigen Trends in der afrikanischen Exegese berichtet, der aber auch Schätze aus älterer deutschsprachiger Literatur hebt. In den drei Beiträgen »Zum Thema« gibt jeweils ein neutestamentlicher Text oder eine neutestamentliche Schrift die Richtung vor. Stefan Alkier bringt Texte des Matthäusevangeliums unter dem Leitbegriff »Frucht bringen« in wirtschaftswissenschaftliche und wirtschaftsethische Kontexte ein und unternimmt anhand von z.T. sehr konkreten Problemlagen eine kritische Auseinandersetzung mit ökonomischen Mechanismen der Gewinnmaximierung. Martin Ebner zeichnet anhand erhellender historischer und exegetischer Detailbeobachtungen die im Markusevangelium geführte Auseinandersetzung mit der römischen Machtpolitik der Kaiserzeit nach. Favorisiertes Gegenmodell ist im Markusevangelium ein Gesellschaftsmodell des Machtverzichts. Jesper Tang Nielsen trägt eine tiefgründige Auslegung des Gleichnisses vom Schalksknecht (Mt 18,21- 35) vor, die er unter Rückgriff auf Theorien der Gabe und Kierkegaards Begriff der Allmacht Gottes anhand des Gegensatzes einer Ökonomie der Gerechtigkeit und einer Ökonomie der Generosität entfaltet. Die Kontroverse, die von Wolfgang Stegemann und Jan Dochhorn bestritten wird, befasst sich abgewogen und differenziert mit der Frage, ob eine politische Auslegung des Neuen Testaments legitim ist. Unter der Rubrik »Hermeneutik und Vermittlung« ist mit der Täuferpredigt aus Lk 3 wiederum ein neutestamentlicher Text leitend. Heike Hötzinger erschließt politische Sinnpotentiale dieses Textes, indem sie seine kontextuellen und biblisch-theologischen Bezüge freilegt.Der Buchreport stellt, last but not least, einen gewichtigen neueren Beitrag zur Acta-Forschung vor, der auf die viel diskutierte Frage, wie sich der Verfasser des lukanischen Doppelwerkes gegenüber dem römischen Staat positioniert, eine so überraschende wie bestechende Antwort gibt. Liebe Leserin, lieber Leser, wir wünschen Ihnen nun eine anregende und ertragreiche Lektüre dieses neuen Heftes der ZNT. Stefan Alkier Eckart Reinmuth Manuel Vogel Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 2 - 2. Korrektur 2 ZNT 31 (16. Jg. 2013) 1. Einführung In der deutschsprachigen neutestamentlichen Wissenschaft vollziehen sich seit etwa zwei Jahrzehnten tiefgreifende Perspektivwechsel und Positionsverschiebungen in nahezu allen ihren Teilbereichen. Darin schlägt sich die Rezeption von Impulsen sowohl der internationalen exegetischen Forschung als auch anderer kulturwissenschaftlicher Fachgebiete nieder. Das trifft auch zu auf die Thematik des Politischen, die im vorliegenden Heft verhandelt wird. Es geht dabei nicht nur um die Identifizierung politisch prägnanter oder relevanter Begriffe und Äußerungen in den Schriften des Neuen Testaments, sondern auch um die Reflexion der Vorentscheidungen und Selbstverständlichkeiten neutestamentlicher Exegese in ihrem jeweiligen sozialen Kontext. Im Folgenden werde ich zunächst markante Schlaglichter der Forschungsgeschichte bis in die Gegenwart benennen. Ein besonderes Augenmerk werde ich dann der Bedeutung des Politischen im Neuen Testament widmen, wie sie in großer Variabilität in Exegesen von Kollegen und Kolleginnen aus dem globalen Süden erhoben wird. Zum Schluss werde ich in einem Ausblick neutestamentliche Texte, Themen und Begriffe benennen, deren Analyse mir für ein angemessenes Verständnis sowohl des Politischen im Neuen Testament als auch des gesellschaftsgestaltenden Potenzials des Evangeliums in der Gegenwart vielversprechend erscheinen. 2. Von Rechtfertigung zu Gerechtigkeit In dem gerade erschienenen Sammelband zum Philemonbrief aus afro-amerikanischer Perspektive, Onesimus our Brother, kritisieren die Herausgeber Matthew V. Johnson, James A. Noel und Demetrius K. Williams eine grundsätzliche Fehlentscheidung insbesondere protestantischer Bibelauslegung: »Die paulinischen Ausführungen zur Rechtfertigung aus Glauben im Galater- und Römerbrief sind überbetont worden, um den Mangel an Gerechtigkeit zu überdecken.« 1 Dagegen machen die Herausgeber wie auch alle sonstigen Autoren des Bandes auf die konkrete materiale Dimension von Gerechtigkeit, welche die Christusbezogenheit verbürgt und einfordert, bei Paulus aufmerksam. Für den Philemonbrief erweist sich diese Feststellung insbesondere darin, dass Paulus hier dem Adressaten ein Verhalten in Bezug auf seinen Sklaven Onesimus nahelegt, das der Gemeinschaft (gr. koinonia) »im Herrn« gerecht wird. Onesimus ist durch seine Taufe »mehr als ein Sklave geworden«, nämlich ein »geliebter Bruder« (Philemon 16a). Eine etwaige Spiritualisierung seiner Zugehörigkeit zu Christus verbietet sich. Paulus erwartet, dass der zurückkehrende Onesimus »sowohl im Fleisch [gr. en sarki] als auch im Herrn« angenommen wird (16b). Mit diesem Wunsch unterläuft Paulus in diesem konkreten Fall Machtkonstellationen einer Sklavenhaltergesellschaft. Dies stellt ein Erfordernis christlicher Identität dar. Die Unmöglichkeit der Verwirklichung seiner Forderung zeigt die Radikalität des paulinischen Evangeliumsverständnisses an. 2 Die Auslegungsgeschichte zum Philemonbrief wurde aber Jahrhunderte lang dominiert von einem Vorverständnis, wonach Sklaven zu ihren Herren zurückzuschicken seien, um sich dort schicksalsergeben in die vorgegebene Ordnung einzufügen. Eine Exegese, die solche dem Evangelium widersprechenden Lektüren generiert, wird hier entlarvt als interessengeleitet und systemstabilisierend. Sie aktualisiert Werte »dieser« Welt und negiert Werte des »Reiches Gottes«. Aspekte des Evangeliums werden aus dieser Perspektive auch weiterhin verschleiert in gegenwärtigen Exegesen, wenn deren Akteure die »materiale Humanität des Anderen« 3 in globalen wie lokalen Bezügen nicht als das eigentliche Anliegen Gottes im Blick behielten. Dieser Band ist in der 2008 in den USA ins Leben gerufenen Reihe »Paul in critical contexts« (Fortress Press) erschienen. Die Reihe verspricht kritische Relektüren von Paulus unter den Perspektiven von »Macht, Gender und Ideologie«. Damit werden Begriffe aufgerufen, die für den gegenwärtigen Politikdiskurs in der neutestamentlichen Wissenschaft von zentraler Bedeutung sind. Dies gilt in dreifacher Hinsicht: 1.) bezüglich der Analyse neutestamentlicher Texte nach offenen und verdeckten Machtdiskursen bzw. nach Impulsen zur Unterminierung repressiver Strukturen, 2.) bezüglich einer kritischen Reflexion bewusster wie unbewusster ideologischer Vorentscheidungen im exegetischen Geschäft, die andere Stimmen ausgrenzen, und 3.) bezüglich der Veränderung gegenwärtiger ungerechter Lebens- Neues Testament aktuell Werner Kahl Gottesgerechtigkeit und politische Kritik neutestamentliche Exegese angesichts der gesellschaftlichen Relevanz des Evangeliums Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 3 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 3 Werner Kahl Gottesgerechtigkeit und politische Kritik verhältnisse durch Interpretationen neutestamentlicher Texte. Insbesondere die ersten beiden Punkte sind der internationalen Bibelexegese 1988 durch Elisabeth Schüssler Fiorenza als wesentliche Aufgaben ins Stammbuch geschrieben worden. 4 Es ging ihr um die Etablierung einer Ethik der Bibelinterpretation, die es erlaubt, dass bisher vernachlässigte Stimmen von Frauen, von Schwarzen, von Armen, von Menschen im globalen Süden mit ihren je besonderen und wichtigen Perspektiven auf den biblischen Text gehört und ernst genommen werden. Diese Perspektiven hatten bis dato in der deutschsprachigen Exegese keine Rolle gespielt. Die wenigen exegetischen Publikationen, die auf das gesellschaftskritische Potenzial neutestamentlicher Texte abhoben, wurden von der Zunft diskreditiert. 5 Dabei hatte es in der deutschsprachigen Forschung in den sechziger Jahren durchaus vereinzelt vielversprechende Ansätze gegeben, die den theologischen Diskurs um die politische Dimension neutestamentlicher Texte und Begriffe hätten befördern können-- dagegen aber stand im protestantischen Bereich die mächtige Tradition einer individualistisch gefassten Rechtfertigungslehre, wie sie in der Exegese insbesondere durch Vertreter der Bultmannschule an jüngere Generationen weitergegeben wurde. Ernst Käsemann hatte bereits 1961 eine Neubestimmung der »Gottesgerechtigkeit bei Paulus« vorgelegt, und zwar insbesondere in Abgrenzung zu Rudolf Bultmanns individualistischem Verständnis des Begriffs. 6 Käsemann negiert den Rechtfertigungsgedanken bei Paulus nicht. Er ordnet ihn aber dem weiteren Zusammenhang der »Gottesgerechtigkeit als heilsetzender Macht« unter: »Gottes Macht greift nach der Welt, und Heil der Welt ist es, daß sie unter Gottes Herrschaft zurückgeführt wird.« 7 Damit aber nimmt der Begriff der Gottesgerechtigkeit nicht nur kosmische, sondern auch konkret politische Dimensionen an, auch wenn Käsemann letzteres in jenem Beitrag nicht ausführte. Was aber das von ihm herausgearbeitete Verständnis von Gottesgerechtigkeit bzw. von Evangelium gesellschaftlich zu bedeuten hätte, buchstabierte Käsemann in zahlreichen Aufsätzen und Vorträgen der 70er und 80er Jahre durch. 8 So insistierte Käsemann darauf, dass »Christliches Leben keine Privatsache« sei: »Unser Evangelium hat eine politische Dimension, welche, um mit Barmen zu sprechen, keinen irdischen Bereich autonom, der eigenen Gesetzlichkeit überläßt, sondern jeden unter Verheißung und Anspruch Jesu Christi stellt. Nun wurden die Götzen sichtbar, mit denen wir es heute zu tun haben […], nämlich jene Privilegien, welche der weiße Mann erbittert mit Wissenschaft, Technik, Waffen und Ausbeutung der Schöpfung wie Geschöpfe verteidigt, obgleich seine Vorherrschaft auf tönernen Füßen steht und dem Untergang geweiht ist.« 9 Bereits 1983 erkannte der Neutestamentler die Dimension dessen, was sich damals in Kreisen von Missionswissenschaftlern herumzusprechen begann, dass nämlich die westliche Christenheit nicht mehr »Mitte, sondern Peripherie« ist angesichts der zahlenmäßigen Verbreitung und eigenständigen Aneignung des christlichen Glaubens im globalen Süden. Dies erfordere eine Bezugnahme des Christentums »in all seinen Dimensionen« auf die Ökumene und von daher seine Neukonstituierung. 10 Die Nachfolge des gekreuzigten Nazareners befreit zur konkreten Bezeugung der göttlichen Weltherrschaft (gr. Prof. Dr. Werner Kahl, geb. 1962 in Essen, Studium der Evangelischen Theologie in Bochum, Göttingen und Atlanta. 1992 Promotion in Atlanta (Emory University), 1992-1999 Vikar und Pastor in Essen und Duisburg. 1999-2001 als DFG-Stipendiat in Ghana. 2002-2004 Vertretungsprofessur in Kassel. 2004 Habilitation in Frankfurt a.M. 2004 Pfarrer der Ev. Kirche von Kurhessen-Waldeck. Ab 2006 Studienleiter der Missionsakademie an der Universität Hamburg. Apl. Professor für Neues Testament an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. Veröffentlichungen u.a. zu antiken Wundererzählungen, afrikanischer Bibelinterpretation, interkultureller Hermeneutik und zum synoptischen Problem. Werner Kahl »Die Nachfolge des gekreuzigten Nazareners befreit zur konkreten Bezeugung der göttlichen Weltherrschaft (gr. basileia tou theou), d. h. sie manifestiert sich als bestimmter politischer Gestaltungswillen: ›Theologie, die nicht Befreiung auch der Leiber von dämonischer Sklaverei verkündet, ist ketzerische Ideologie.‹« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 4 - 2. Korrektur 4 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Neues Testament aktuell basileia tou theou), d. h. sie manifestiert sich als bestimmter politischer Gestaltungswillen: »Theologie, die nicht Befreiung auch der Leiber von dämonischer Sklaverei verkündet, ist ketzerische Ideologie.« 11 Nach Käsemann ist Gottes basileia »der Inhalt der paulinischen Rechtfertigunglehre«. Als solche greift sie »dort Platz, wo wir ganz menschlich sind und werden«. 12 Damit hatte Käsemann unter Rekurs auf den Begriff der Gottesgerechtigkeit eine politische Relevanz des Evangeliums akzentuiert, wie sie unabhängig und in erstaunlicher, auch begrifflicher, Übereinstimmung bei den oben genannten afro-amerikanischen Herausgebern des Onesimus- Buchs aufgerufen wurde. In der Exegese fast völlig-- und zu unrecht-- in Vergessenheit geraten ist ein Aufsatz des Neutestamentlers Markus Barth aus dem Jahr 1968, mit dessen Thesen der Autor seiner Zeit weit voraus gewesen ist: Jews and Gentiles: The Social Character of Justification in Paul. 13 Die englisch-sprachige Version, die ich hier zugrunde lege, stellt streckenweise eine erhebliche, radikalisierende Überarbeitung des deutschen Originals von 1966 dar. 14 Barth bezieht sich in diesem Beitrag positiv auf den Aufsatz von Krister Stendahl aus dem Jahr 1963, der eine Generation später als der frühe Auftakt der New Perspective on Paul gewürdigt werden sollte. 15 Auf dieser Grundlage benennt er insbesondere für den US-Kontext der 60er Jahre konkrete Konsequenzen des hier vorgelegten Verständnisses des paulinischen Evangeliums, dessen gesellschaftspolitische Relevanz nicht nur für die Zeit des Paulus, sondern für jede Gegenwart evident scheint: »Rechtfertigung ist ein soziales Geschehen. Sie bindet Mensch und Mensch zusammen. […] Rechtfertigung durch Gnade aber bringt Leute zusammen in einem Versöhnungsgeschehen, selbst jene mit einem fremden Hintergrund, so wie Juden und Heiden. Dieses Versöhnungsgeschehen radiert Verschiedenheit nicht aus; es vereinigt bloß unterschiedliche Menschen.« 16 Für die Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens in der Gegenwart (des Autors) bedeutet diese theologische Einsicht in das paulinische Denken: »Das Kriterium meines Glaubens an Jesus Christus und meines Involvements in Bezug auf Angelegenheiten, die Gerechtigkeit, Freiheit und Frieden betreffen, ist […] nicht der Kampf und der Sieg, für die ich mich engagiere, um mein eigenes Heil zu finden. Es ist vielmehr zu finden in der Dankbarkeit und in der Verpflichtung für die Gerechtigkeit, die Freiheit und den Frieden, die Gott für meinen Mitmenschen vorgesehen hat.« 17 Signifikanter Weise ist dieser Beitrag nicht in einer neutestamentlichen Fachzeitschrift erschienen, sondern in einem ökumenischen Publikationsorgan, das sich dem interreligiösen Dialog verpflichtet weiß. Nur in diesem kirchlich-theologischen Zusammenhang konnten die Thesen Barths in jener Zeit auf eine gewisse Akzeptanz stoßen. 3. Die politische Dimension von Evangelium und Exegese Es erscheint lohnend, im gegenwärtigen exegetischen Diskurs um den neutestamentlichen Politikbegriff die von Käsemann und Barth gesetzten Impulse aufzunehmen. Diese Orientierung wäre m. E. nicht auf ihre exegetischen Sondierungen zu beschränken. Beiden lag daran, die gesellschaftsgestaltende Relevanz ihrer Exegesen für die Gegenwart aufzuzeigen. Zum Ende des 20. Jahrhunderts ist die sich a-politisch gebende, individualisierende Rechtfertigungslehre als hermeneutischer Schlüssel zum Verständnis der paulinischen Schriften und des gesamten neutestamentlichen Schrifttums (sowie des Korpus antik-jüdischer Schriften! ) in Erklärungsnöte geraten. Der Grund hierfür ist vor allem in den Entwürfen der New Perspective on Paul zu verorten. 18 Darüber hinaus haben sozialgeschichtliche, aber mehr noch kulturanthropologisch ausgerichtete Untersuchungen zum Frühchristentum 19 und neue Forschungsperspektiven der klassischen Altertumswissenschaften 20 insbesondere seit den 1990er Jahren auch in der deutsch-sprachigen Exegese die Erkenntnis plausibilisiert, dass es sich bei dem Eintrag eines modernen protestantischen Religionsverständnisses in antike Lebenswelten um einen problematischen Anachronismus handelt. Für den antiken Mittelmeerraum ist nämlich-- wie im Übrigen für viele gegenwärtige traditionale Kulturen des globalen Südens 21 -- eine Durchdringung des Sozialen mit dem Religiösen zu veranschlagen. Danach sind religiöse Handlungen und Glauben an Gottheiten eingebettet zu denken in gesellschaftspolitische Zusammenhänge, bzw.-- aus der Binnenperspektive-- die Gestaltung und das Ergehen innerweltlicher Lebenszusammenhänge ist bleibend bezogen auf numinoses »Zum Ende des 20. Jahrhunderts ist die sich a-politisch gebende, individualisierende Rechtfertigungslehre als hermeneutischer Schlüssel zum Verständnis der paulinischen Schriften und des gesamten neutestamentlichen Schrifttums (sowie des Korpus antik-jüdischer Schriften! ) in Erklärungsnöte geraten.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 5 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 5 Werner Kahl Gottesgerechtigkeit und politische Kritik Wirken. 22 In diesem Kontext kann es keine nicht immer auch politisch relevanten Glaubensäußerungen und Vollzüge geben. Der US-amerikanische Talmudwissenschaftler Daniel Boyarin hat 1994 eine Paulusmonographie vorgelegt, die in der deutschsprachigen Exegese bisher noch kaum zur Kenntnis genommen und entsprechend gewürdigt worden ist: A Radical Jew. Paul and the Politics of Identity. 23 Dieser Entwurf stellt einen originären Beitrag zur New Perspective on Paul dar. Boyarin ist insbesondere interessiert an der Frage der Zuordnung jüdischer und pagan-griechischer Traditionen, wie sie durch Paulus im Hinblick auf sein Evangelium von der Einheit von Menschen unterschiedlicher Herkunft in Christus vorgenommen wird. In Aufnahme postkolonialer Erfahrungen, Reflexionen und Bestimmungen von Diasporaexistenz und Identitätskonstitution in multikulturellen Kontexten diskutiert Boyarin gleichzeitig die Bedeutung von Paulus für die Gegenwart. Dabei hat er konkret die Politik des Staates Israel im Blick. Schlüsseltext für das hier entfaltete Paulusverständnis ist Gal 3,28. Nach Boyarin kommt an dieser Stelle prägnant ein spiritualisierender Universalismus zum Ausdruck, der ambivalent ist und der in der Christentumsgeschichte vor allem destruktiv gewirkt hat: »Paulus fühlte sich einer Vision menschlicher Einheit verpflichtet, die zwei Elternteile hatte: den hebräischen Monotheismus und die griechische Sehnsucht nach Universalien. […] Der paulinische Universalismus scheint Zwang ausübende kulturpolitische Systeme zu befördern, die mehr oder weniger gewalttätige Projekte der Einverleibung kultureller Besonderheiten in die dominante Kultur betreiben. Allerdings können Juden die Schlagkraft der paulinischen Kritik allein wegen ihrer negativen Wirkungen nicht ignorieren, denn eine unkritische Verehrung ethnischer Besonderheit verursacht ähnliche negative Resultate.« 24 Ob Paulus so angemessen zu verstehen ist, bleibt weiter zu diskutieren. Die Missionsgeschichte gibt Boyarin weithin Recht. Nach Boyarin können das rabbinische Judentum wie auch das paulinische Christentum »als zwei unterschiedliche hermeneutische Systeme die Bibel zu lesen« sowohl Formen von Rassismus produzieren wie auch »zwei dialektische Möglichkeiten von Anti-Rassismus«. 25 Boyarin benennt die-- aufeinander zu beziehenden-- Stärken beider Traditionen in Bezug auf eine Bejahung der Würde aller Menschen mit ihren jeweiligen kulturellen Besonderheiten: »Der Genius des Christentums besteht in seiner Sorge für alle Menschen der Welt; der Genius des rabbinischen Judentums in seiner Fähigkeit andere Menschen in Ruhe zu lassen.« 26 Beides ist für die politische Gestaltung der Gegenwart von Bedeutung. Boyarin zelebriert den Wert der Differenz versus Vereinheitlichung: »Das Bestehen des rabbinischen Judentums darauf, dass es eine Differenz zwischen Juden und Griechen gibt und dass diese Differenz einen Wert hat, kann eine befreiende Kraft in der Welt entfalten, eine Kraft die zugunsten einer Politik der Würdigung von Differenz in der Gegenwart-- feministisch, schwul, multikulturell, postkolonial-- agiert, und zwar gegen aufgezwungene Gleichheit.« 27 Nicht nur die Paulusbriefe scheinen für eine politische bzw. politologische Relektüre des Neuen Testaments interessant zu sein. Neutestamentler haben unter dieser Fragestellung auch die Verkündigung Jesu in den Blick genommen. So verortet Wolfgang Stegemann Jesus in seiner Monographie von 2010, Jesus und seine Zeit, konsequent innerhalb der Matrix des äußerst disparaten antiken Judentums galiläischer Prägung. 28 Hintergrund für diese Grundsatzentscheidung sind neuere Untersuchungen zum antiken Judentum und die kritische Aufarbeitung starker antijüdischer Tendenzen in der deutschsprachigen Exegese des 20. Jahrhunderts. 29 In Anknüpfung an seine Publikation zur politischen Dimension der Verkündigung Jesu aus den 70er Jahren 30 hebt Stegemann in diesem Zusammenhang vor allem auf das Reich Gottes als »heterotoper Gesellschaftsentwurf« 31 bzw. als «soziale Heterotopie« ab. 32 Die Jesusbewegung hatte, wie Stegemann an den Seligpreisungen des LkEv und MtEv aufzeigt, die »soziale Situation der Menschen im Blick« 33 , und zwar motiviert durch die erwartete Nähe des Reiches Gottes: »Die mit der Erwartung der kommenden Etablierung der Herrschaft Gottes verbundene Projektion einer sozial gerechte(re)n Gesellschaft (bzw. Herrschaftsausübung) zeigt eine über die eigenen Interessen hinausgehende politische Verantwortung für die Gesellschaft.« 34 In der Jesusverkündigung ging es nicht nur um die Zusage baldiger ökonomischer Gerechtigkeit, sondern- - so Stegemann in ausdrücklicher Korrektur seiner vormaligen Position und in Aufnahme des postkolonialen Begriffs der Subalternität 35 -- auch um die Überwindung von dem mit Armut verbundenen Status- und Ehrverlust einerseits und um die Ermutigung und Befähigung der sozial Ausgegrenzten, sich aufzurichten und ihre Stimme zu erheben, andererseits: »Die frohe Botschaft für die Subalternen (= das Evangelium der Armen) besteht einerseits in dem Versprechen der Transformation ihrer sozioökonomischen Lage, andererseits auch darin, dass sie sich in ihrer Gesellschaft Gehör verschaffen und als politische Subjekte sehen können, die selbst zur Herrschaft kommen (vgl. Mk 10,35 ff.).« 36 Insofern erzählen Stegemann zu- Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 6 - 2. Korrektur 6 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Neues Testament aktuell folge etwa die synoptischen Wundergeschichten (d. h. Exorzismen, Heilungen, Speisungen) »von geschehenen Transformationen der gesellschaftlichen Ordnung«. 37 Mit der Organisation von interdisziplinären Fachtagungen, der Herausgabe von Sammelbänden und mit zahlreichen eigenen Beiträgen hat sich in den letzten Jahren Eckart Reinmuth um die Erhellung des Politischen im Neuen Testament, im exegetischen Geschäft und in der gegenwärtigen Gesellschaft bemüht und verdient gemacht. 38 In diesem Zusammenhang hat er die neutestamentliche Wissenschaft insbesondere in fruchtbare und anregende hermeneutische Gespräche mit solchen gegenwärtigen philosophischen Entwürfen gebracht, die Paulus politologischen Relektüren unterziehen. Zu nennen sind hier vor allem Giorgio Agamben, Alain Badiou, Jacob Taubes und Slavoj Žižek. 39 Diese Theoretiker lesen Paulus unter Fragestellungen, die aus der Perspektive neutestamtlicher Wissenschaft »schräg« erscheinen mögen, und vor Textvereinnahmungen sind sie sicher nicht gefeit. Dabei leuchten aber mitunter bisher übersehene Aspekte des Politischen in Paulustexten auf. Insofern werden hier Lektüren befördert, die eine so subversive wie konstruktive Kraft zur Gestaltung des Politischen in der Gegenwart entfalten mögen. 4. Die Politik des Evangeliums aus subalternen Perspektiven Im globalen Süden orientieren sich mittlerweile viele Exegeten und Exegetinnen am postkolonialen Diskurs, wie er vor allem durch Edward W. Said 40 , Gayatri Spivak 41 und Homi Bhabha 42 seit etwa 1980 in Gang gesetzt wurde. Hier geht es insbesondere darum, dass sich Repräsentanten der sog. Subalternen oder global Marginalisierten im politischen Diskurs mit eigenen Stimmen zu Wort melden, sie sich selbst repräsentieren und sie eigene Identitäten und Traditionen als Ressourcen zur Gestaltung von Welt begreifen und kommunizieren. Diese philosophischen Entwürfe haben in die deutschsprachige Exegese bisher so wenig Eingang gefunden wie die Arbeiten von Exegetinnen und Exegeten aus dem globalen Süden. 43 Beredter Weise sind grundlegende Beiträge zur postkolonialen Exegese von Kwok Puilan 44 , Fernando F. Segovia 45 und R.S. Sugirtharajah 46 , deren Erstveröffentlichung einige Jahre zurück liegt, hierzulande erst vor kurzem in Übersetzung erschienen- - nicht in einer neutestamentlichen, sondern in einer ökumenischen Fachzeitschrift. Für alle drei ExegetInnen gilt, dass sie die Erfahrungen ihres jeweiligen Kontextes mit der historisch-kritischen Exegese ins Gespräch bringen. So hebt Segovia-- übrigens in kritischer Würdigung von Daniel Boyarins Entwurf (s. oben)-- auf Erfahrungen von Migration und Diasporaexistenz ab. Ihm ist daran gelegen, aus der Perspektive von Marginalisierten die Bibel neu zu lesen, in deren Schriften sich ähnliche Erfahrungen niedergeschlagen haben. Gleichzeitig erwartet er aus diesem »grenzüberschreitenden Interpretieren« entscheidende Impulse für die Gestaltung des gegenwärtigen Zusammenlebens-- »gegen Exklusivismus und Zwang, für Gerechtigkeit und Wohl«. 47 In den Veröffentlichungen dieser Kollegen und Kolleginnen meldet sich eine engagierte Exegese zu Wort: »Die Aufgabe des Postkolonialismus besteht darin sicherzustellen, dass die Sehnsüchte der Armen Priorität gegenüber den Interessen der Wohlhabenden haben, dass die Emanzipation der Unterdrückten Vorrang vor der Freiheit der Mächtigen hat und dass die Teilnahme der Marginalisierten Vorrang hat vor der Aufrechterhaltung eines Systems, das diese systematisch ausschließt.« 48 Die Partizipation der Marginalisierten am exegetischen Diskurs stellt in dieser Perspektive ein politisches Erfordernis des Evangeliums dar. Ihr wird ein gesellschaftsgestaltendes Potenzial beigemessen. Der südafrikanische Exeget Gerald O. West hatte hierzu im Kontext der Post-Apartheit das Modell des Lesens-Mit entworfen und erprobt, d. h. hier kamen meist privilegierte weiße Exegeten zu gemeinsamen Bibellektüren mit unterprivilegierten Gemeindegliedern schwarzer Kirchen zusammen, ohne dass erstere letztere romantisierten oder paternalisierten. 49 Dieses Programm hat eine bemerkenswerte Fortsetzung erfahren im Projekt Through the Eyes of Another, einer interkulturellen und globalen Lektüre der Erzählung Jesus und die Frau am Brunnen in Samaria (Joh 4). Je zwei Gemeinden aus unterschiedlichen Regionen der Welt tauschten sich über einen längeren Zeitraum über ihre Interpretationen aus. Dabei machten sie u. a. folgende grundsätzliche Beobachtungen: 1.) der Bibeltext ist begrenzt polyvalent, 2.) alle Lektüren inklusive akademischer Exegesen verdanken sich kontextuellen Impulsen, 3.) durch die je anderen Perspektiven können Bedeutungsdimensionen im biblischen Text erhellt werden, die bisher unterbelichtet waren, und 4.) die je eigene Stimme ist wichtig und die eigene Kultur und Tradition stellen Ressourcen dar zum Schriftverständnis. 50 In diesem Zusammenhang postkolonialer »Die Partizipation der Marginalisierten am exegetischen Diskurs stellt in dieser Perspektive ein politisches Erfordernis des Evangeliums dar.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 25.03.2013 - Seite 7 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 7 Werner Kahl Gottesgerechtigkeit und politische Kritik Theologie hat Hans de Wit 2008 Reflections on Empirical Hermeneutics, Interculturality, and Holy Scripture veröffentlicht. 51 Die Ausarbeitung eines Gesamtentwurfs zu einer inter- oder besser transkulturellen Hermeneutik des Neuen Testaments steht allerdings noch aus. 52 Die lateinamerikanische, aus Mexiko stammende Neutestamentlerin Elsa Tamez hat in den 90er Jahren eine befreiungstheologische Neuinterpretation des Begriffs Rechtfertigung/ Gerechtigkeit bei Paulus vorgelegt. 53 Nach Tamez wurden- - wie im heutigen Lateinamerika-- so im römischen Reich viele Menschen marginalisiert und von der Teilhabe an einem menschenwürdigen Leben ausgegrenzt. In diesem Kontext deutet sie den paulinischen Gerechtigkeitsbegriff. Damit wächst dem Begriff dikaiosynē vor allem eine politische Bedeutung zu. Paulus geht es hierbei vor allem um die von Gott gewollte Gerechtigkeit, die allen Menschen Anteil am Leben gibt- - nicht erst im Jenseits, sondern bereits in der Gegenwart. Die Fassung von dikaiosynē als »Rechtfertigung« hingegen verschleiert die politische Bedeutung und Relevanz des Begriffs. Durch dieses spiritualisierte und individualisierte Verständnis der Gottesgerechtigkeit erfährt die politische Theologie des Paulus eine Entschärfung und sein eigentliches Anliegen wird im Wesen verkannt. Nach Tamez geht die New Perspective on Paul in der Interpretation der paulinischen Schriften nicht weit genug, denn sie bleibt auf die Dimension der abstrakten theologischen Reflexion um die Gerechtigkeit Gottes in Bezug auf die Einheit aller Menschen beschränkt. Paulus aber geht es, wie Tamez unter Bezugnahme auf Gal 3,28 zeigt, um die Überwindung jeglichen exklusivistischen Heils-, Lebensbzw. Gerechtigkeitsanspruchs. In Entsprechung zu dieser theologischen Einsicht von Paulus haben sich heute Theologie und Kirche in Lateinamerika zu befassen mit der Veränderung der Lebensumstände von »Menschen, die nicht nur wegen ihrer ökonomischen Armut für minderwertig eingeschätzt werden, sondern auch wegen ihrer Hautfarbe, Ethnie oder Geschlechtszugehörigkeit«. 54 Rechtfertigung bedeutet für Tamez die Bejahung von Leben. Dabei erachtet sie nicht den Tod, sondern die Auferweckung Jesu als unerlässliche Bedingung für die Rechtfertigung, »weil sie den Tod besiegen und den Opfern Leben schenken sollte«. 55 In der Auferweckung Jesu kommt die Solidarität Gottes mit den Marginalisierten zum Ausdruck. Jesus Christus ist der »Ausgeschlossene par excellence«. 56 Gott hat jedes System, das Menschen marginalisiert und vom Leben ausgrenzt, zum Tode verurteilt. Ein System, das dem Willen Gottes nach Gerechtigkeit und Leben für alle Menschen entspricht, instand zu setzen-- dazu sind, so Tamez, die Marginalisierten durch die Gnade Gottes befreit und befähigt worden. Damit dringt diese Relektüre von Paulus ganz in der Tradition befreiungstheologischer Entwürfe auf gesellschaftliche Veränderung. Die botswanische Neutestamentlerin Musa W. Dube dekonstruiert in ihrer Monographie Postcolonial Feminist Interpretation of the Bible unterschiedliche Lektüren von Mt 15,21-28 („Die kanaanäische Frau“). 57 Als Kriterium der Analyse des biblischen Textes sowie seiner Interpretationen gilt ihr einzig und allein die Frage danach, ob der Text dazu dient, »Leben in Gottes Schöpfung zu stärken und wiederherzustellen«, und zwar unter Wahrung von Differenz in geschlechtlicher, ethnischer, kultureller usw. Hinsicht. 58 Geleitet von einer Hermeneutik des Verdachts geht es Dube aus der afrikanischen Perspektive des Kolonialerlebnisses und seiner Auswirkungen um die Entkolonialisierung des Christentums einschließlich seiner Bibelinterpretation. Ein Vergleich von Mt 15,21-28 mit 8,15-30 (»Der Hauptmann von Kapernaum«) ergibt, dass »der implizite Autor des Matthäusevangeliums, der im Kontext imperialer Okkupation schreibt, möglicher Weise religiöse Leitungsfiguren herausfordert, indem er mit anderen Gruppen um Machtgewinn wetteifert und die Aufmerksamkeit der römischen Herrscher zu gewinnen versucht«. 59 Die Tatsache, dass im Matthäusevangelium »Reisen in entfernte und bewohnte Länder« zum Zweck der Missionierung favorisiert werden, macht deutlich, dass »das matthäische Modell imperialistische Werte und Strategien verkörpert«. 60 Diese Machtimplikationen werden-- so der Vorwurf Dubes- - von westlichen Exegeten nicht erkannt. Aber auch in »weißen feministischen Lektüren von Repräsentantinnen der Mittelklasse im Westen« werden sie nicht aufgedeckt. 61 Sie bleiben einem kulturellen und ökonomischen Imperialismus verhaftet, der die Erfassung der der Textpassage zugrunde liegenden Machtverhältnisse verhindert. Dube weist diese Verflochtenheit weißer Feministinnen in den westlichen Machtstrukturen am Beispiel von Veröffentlichungen Elisabeth Schüssler Fiorenza’s »Da die Bibel heute der ganzen Welt und nicht mehr nur dem Westen gehört, ist ein Lektüremodell vonnöten, ›welches die Gegebenheiten von Imperialismus und Patriarchat ernst nimmt und welches nach befreienden wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen den Geschlechtern, Rassen, Nationen, Ökonomien, Kulturen, politischen Strukturen usw. sucht.‹« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 8 - 2. Korrektur 8 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Neues Testament aktuell auf. Dube diagnostiziert hier ein Interesse daran, den durch Tradition und Redaktion des Evangelienstoffes überdeckten Beitrag von Frauen in der frühen Missionsbzw. Kirchengeschichte aufzudecken, und zwar ohne die Strategien exklusivistischer und imperialistischer Missionierung selbst in Frage zu stellen: »Schüssler Fiorenza’s feministischer Diskurs ergeht aus der Perspektive der metropolitanen Zentren des Westens. Er versucht letztlich an der Macht zu partizipieren, anstatt ihre patriarchalen und imperialistischen Strategien der Unterdrückung und Beherrschung zu revolutionieren.« 62 Damit aber bleibt »Schüssler Fiorenza’s Lektüre […] eingeschrieben in der imperialen Ideologie der Beherrschung nicht-westlicher und nicht-christlicher Welten«. 63 Dube hingegen widmet sich der Aufgabe einer Befreiung nicht-westlicher Traditionen aus der Gefangenschaft des ökonomischen Machtzentrums. Da die Bibel heute der ganzen Welt und nicht mehr nur dem Westen gehört, ist ein Lektüremodell vonnöten, »welches die Gegebenheiten von Imperialismus und Patriarchat ernst nimmt und welches nach befreienden wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen den Geschlechtern, Rassen, Nationen, Ökonomien, Kulturen, politischen Strukturen usw. sucht.« 64 Ein solches Lektüremodell sieht Dube in der Praxis sog. afrikanisch-unabhängigen Kirchen verwirklicht, denn hier sind nach ihrer Beobachtung Machtoppositionen wie ›Mann‹ versus ›Frau‹, ›alt‹ versus ›jung‹, ›schwarz‹ versus ›weiß‹, ›schriftliches‹ versus ›mündliches Wort‹, ›christliches Heil‹ versus ›afrikanische Religiosität‹ weithin aufgehoben. Jeder und jede einzelne wird hier als Person gewürdigt, die am göttlichen Geist partizipiert. Wie in der afrikanischtraditionellen Religion sind hier Kirche und Theologie daran ausgerichtet, Leben zu bewahren und zu fördern. 5. Grenzüberschreitungen, die dem Zusammenleben der Verschiedenen dienlich sind Die neue Paulusperspektive, die Erkenntnis der wechselseitigen Durchdringung religiöser und sozio-politischer Vollzüge in der mediterranen Antike, Impulse des postkolonialen Diskurses und die engagierten Exegesen von NeutestamentlerInnen aus verschiedenen Regionen des globalen Südens haben den Blick geschärft für die eminent politische Dimension und Relevanz aller Schriften des Neuen Testaments-- in Lektürekontexten des ersten wie des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Neben den Paulusbriefen und den Evangelien kommt in diesem Zusammenhang der Johannesoffenbarung eine besondere Bedeutung zu als »Zeugnis aktiven Widerstands«. 65 Der Durchgang durch die Beiträge zum Thema hat ergeben, dass Gal 3,28 eine Schlüsselstelle in diesem Diskurs einnimmt. Dieser Vers ist selbstverständlich nicht isoliert zu betrachten, sondern im Kontext des Galaterbriefs nach politischen Implikationen auszuleuchten. Vielversprechend scheint ein je kontextsensibler Vergleich von Gal 3,28 mit 1Kor 12,13 und Philemon 16 zu sein. Tod und Auferweckung Jesu haben deutliche politische Obertöne, denn Gott unterminiert durch sein Auferweckungswunder-- im Übrigen das Basiswunder des Neuen Testaments! -- mit der römischen Gerichtsbarkeit den Machtanspruch des Imperiums auf Leben und Tod. Begriffe wie Gerechtigkeit Gottes (gr. dikaiosynē theou) und Königreich/ Königsherrschaft Gottes (gr. basileia tou theou) sind im ersten Jahrhundert subversiv. Sie kontrastieren die Ungerechtigkeiten und die Willkür der Herrschenden und sie verbieten die Identifizierung der Marginalisierten mit den Werten »dieser Welt« (vgl. Mt 6,33 im Kontext). Aber auch der Freimut zur öffentlichen Rede (gr. parrhesia) 66 und sogar das »Reden in fremden Zungen« (Apg und 1Kor 12-14) stellen Aktualisierungen einer nicht nur erhofften, sondern bereits tief erfahrenen Befreiung dar, die auf Gott zurückgeführt wird. Das Evangelium zielt wie im ersten Jahrhundert so in der Gegenwart auf Grenzüberschreitungen hin zu Menschen-- nicht zu ihrer Beherrschung, sondern zur gemeinsamen Gestaltung und Feier des von Gott verliehenen Lebens in Gerechtigkeit. 67 Daniel Boyarin und Musa Dube haben in ihren unterschiedlichen Kontexten auf die Würdigung von Differenz im Zusammenleben der Verschiedenen abgehoben. Damit könnte- - vom Evangelium her-- ein wichtiger Impuls gesetzt sein für die politische Gestaltung etwa der hiesigen Gesellschaft, die sich aufgrund globaler Migrationsbewegungen von Menschen verschiedenster kultureller und religiöser Prägung in markanten Transformations- und Identitätsfindungsprozessen befindet. »Das Evangelium zielt wie im ersten Jahrhundert so in der Gegenwart auf Grenzüberschreitungen hin zu Menschen-- nicht zu ihrer Beherrschung, sondern zur gemeinsamen Gestaltung und Feier des von Gott verliehenen Lebens in Gerechtigkeit.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 9 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 9 Werner Kahl Gottesgerechtigkeit und politische Kritik Anmerkungen 1 M. V. Johnson/ J.A. Noel/ D. K. Williams (Hgg.), Onesimus our Brother. Reading Religion, Race, and Culture in Philemon (Paul in Critical Contexts), Minneapolis 2012, 159 (alle Übersetzungen in diesem ZNT Beitrag sind vom Autor angefertigt worden). 2 J. A. Noel, Nat is Back: The Return of the Re/ Oppressed in Philemon, in: Johnson u. a., Onesimus, 59-90, hier: 89. 3 Ebd. 158. 4 E. Schüssler Fiorenza, The Ethics of Biblical Interpretation: Decentering Biblical Scholarship, in: JBL 107 (1988), 3-17. 5 Vgl. beispielhaft die folgenden Publikationen, die in einer politisch besonders aufgeladenen Phase der deutschen Nachkriegszeit zum Thema erschienen: L. Schottroff/ W. Stegemann, Jesus von Nazareth. Hoffnung der Armen, Stuttgart 1978; F. Belo, Das Markus-Evangelium materialistisch gelesen, Stuttgart 1980 (franz. Original: 1974). 6 E. Käsemann, Gottesgerechtigkeit bei Paulus, in: ders. (Hg.), Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. 2, Göttingen 1964, 181-193 (orig. 1961). Vgl. dazu W. Klaiber, Gottes Gerechtigkeit und Gottes Herrschaft. Ernst Käsemann als Ausleger des Neuen Testaments, in: J. Adam/ H.-J. Eckstein u. a. (Hgg.), Dienst in Freiheit. Ernst Käsemann zum 100. Geburtstag (Theologie interdisziplinär 4), Neukirchen-Vluyn 2008, 59-82. 7 Käsemann, Gottesgerechtigkeit, 193; vgl. ähnlich ders., Paulinische Perspektiven, Tübingen 1969, 131-133. 8 E. Käsemann (Hg.), Kirchliche Konflikte, Bd. 1, Göttingen 1982; R. Landau (Hg.), Ernst Käsemann. In der Nachfolge des gekreuzigten Nazareners. Aufsätze und Vorträge aus dem Nachlass, Tübingen 2005. 9 E. Käsemann, Aspekte der Kirche, in: ders., Kirchliche Konflikte, 7-36, hier: 36. 10 E. Käsemann, Evangelische Wahrheit in den Umbrüchen christlicher Theologie, in: Ders., Nachfolge, 25-35, hier: 27. 11 E. Käsemann, Gottes Gerechtigkeit bei Paulus, in: Landau, Käsemann, 13-24, hier: 16. 12 Käsemann, Paulinische Perspektiven, 133. 13 M. Barth, Jews and Gentiles: The Social Character of Justification in Paul, in: Journal of Ecumenical Studies 5 (1968), 241-267. 14 M. Barth, Gott und des Nächsten Recht. Eine Studie über den sozialen Charakter der Rechtfertigung bei Paulus, in: Parrhesia. FS Karl Barth, Zürich 1966, 447-469. 15 K. Stendahl, The Apostle Paul and the Introspective Conscience of the West, in: HThR 56 (1963), 199-215. 16 Barth, Jews and Gentiles, 241. 17 Barth, Jews and Gentiles, 267. 18 Vgl. Ch. Gerber, Blicke auf Paulus. Die New Perspective on Paul in der jüngeren Diskussion, in: Verkündigung und Forschung 55/ 1 (2010), 45-60. 19 Vgl. G. Theißen, Studien zur Soziologie des Urchristentums (WUNT 19), Tübingen 3 1989; E.W. und W. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte. Die Anfänge im Judentum und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt, Stuttgart 2 1997; Ch. Strecker, Die liminale Theologie des Paulus. Zugänge zur paulinischen Theologie aus kulturanthropologischer Perspektive (FRLANT 185), Göttingen 1999; R.A. Horsley (Hg.), Sozialgeschichte des Christentums, Bd 1: Die ersten Christen, Gütersloh 2007; R. DeMaris/ W. Stegemann (Hgg.), Alte Texte in neuen Kontexten. Wo steht die sozialwissenschaftliche Bibelexegese? , Stuttgart 2011. 20 Vgl. S. R.F. Price, Rituals and Power, The Roman Imperial Cult in Asia Minor, Cambridge 1984; M. Beard/ J. North/ S. R. F. Price, Religions of Rome, Bd. 1: A History, Cambridge 1998; J. Rüpke, Die Religion der Römer, München 2001; W. Dahlheim, Geschichte der Römischen Zeit (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 3), München 3 2003, 123-134; W.Ch. Schneider, Politik und Religion, in: K. Erlemann u. a. (Hgg.), Neues Testament und Antike Kultur, Bd. 1: Prolegomena, Quellen, Geschichte, Neukirchen-Vluyn 2004, 22-31; H.-J. Gehrke, Geschichte des Hellenismus (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 1B), München 4 2008, 78-85. Die Konzeption von NTAK verdankt sich dieser neuen Perspektive: K. Erlemann u. a. (Hgg.), Neues Testament und Antike Kultur, Bd.e 1-5, Neukirchen-Vluyn 2004-2006. 21 Für Westafrika, vgl. W. Kahl, Jesus als Lebensretter. Westafrikanische Bibelinterpretationen und ihre Relevanz für die neutestamentliche Wissenschaft (New Testament Studies in Contextual Exegesis 2), Frankfurt a. M. 2007. 22 Vgl. Ch. Strecker, Taktiken der Aneignung. Politische Implikationen der paulinischen Botschaft im Kontext der römisch imperialen Wirklichkeit, in: E. Reinmuth (Hg.), Neues Testament und Politische Theorie. Interdisziplinäre Beiträge zur Zukunft des Politischen (ReligionsKulturen 9), Stuttgart 2011, 114-161, bes. 133. Zum antiken Gottesbegriff in dieser Hinsicht, vgl. W. Kahl, Gott und göttliche Wesen, in: K. Erlemann u. a. (Hgg.), Neues Testament und Antike Kultur, Bd. 3: Weltauffassung, Kult, Ethos, Neukirchen-Vluyn 2005, 88-109. 23 Berkeley 1994. 24 Boyarin, Radical Jew, 228. 25 Ebd., 232. 26 Ebd., 233. 27 Ebd., 235-236. 28 (Biblische Enzyklopädie 10), Stuttgart 2010. 29 Man darf gespannt sein, wie die neueste Monographie von Daniel Boyarin in der deutschsprachigen Exegese aufgenommen werden wird: The Jewish Gospels. The Story of the Jewish Christ, New York 2012. 30 Siehe Anm. 5. 31 Stegemann, Jesus, 325 ff. 32 Ebd., 345-348. 33 Ebd., 347. 34 Ebd., 346. 35 Ebd., 347. 36 Ebd., 348. 37 Ebd., 351 unter Rekurs auf Ch. Strecker, Jesus und die Besessenen-- Zum Umgang mit Alterität im Neuen Testament am Beispiel der Exorzismen Jesu, in: W. Stegemann/ B. J. Malina/ G. Theißen (Hgg.), Jesus in neuen Kontexten, Stuttgart 2002, 53-63. Tatsächlich zeigt Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 10 - 2. Korrektur 10 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Neues Testament aktuell eine Analyse der sogenannten Wundererzählungen aus ethnologischer Perspektive, dass sie als Verfahren des In- Ordnung-Bringens von aus dem Lot geratenen Beziehungen (zwischenmenschlich sowie zwischen Menschen und der numinosen Sphäre) begriffen werden können, vgl. W. Kahl, Neutestamentliche Wunder als Verfahren des In- Ordnung-Bringens, in: Interkulturelle Theologie. Zeitschrift für Missionswissenschaft 37/ 1 (2011), 19-30. 38 E. Reinmuth (Hg.), Politische Horizonte des Neuen Testaments, Darmstadt 2010; ders., (Hg.), Neues Testament und Politische Theorie. Interdisziplinäre Beiträge zur Zukunft des Politischen (ReligionsKulturen 9), Stuttgart 2011; ders., Neues Testament, Theologie und Gesellschaft. Hermeneutische und diskurstheoretische Reflexionen, Stuttgart 2012. Zur Reflexion der Bedeutung politischer Kontexte für das Geschäft der neutestamentlichen Wissenschaft in Deutschland, vgl. L. Bormann, Der Politikbegriff der neutestamentlichen Wissenschaft in Deutschland, in: Reinmuth, Horizonte, 28-49. 39 Vgl. die kritische Darstellung von H. Seubert, Politische Theologie bei Paulus? Ein neuerer philosophischer Diskurs, in: Verkündigung und Forschung 55/ 1 (2010), 60-70. 40 E. W. Said, Orientalism. Western Conceptions of the Orient, London 1978. 41 G. Ch. Spivak, Can the Subaltern Speak? , in: G. Nelson/ L. Grossberg (Hgg.), Marxism and the Interpretation of Culture, London 1988, 271-315 (orig.: 1985); dies., In Other Worlds: Essays in Cultural Politics, London 1988. 42 H. K. Bhabha, The Location of Culture, London 1994. 43 Vgl. aber Th. Schmeller, Das Recht der Anderen. Befreiungstheologische Lektüre des Neuen Testaments in Lateinamerika (Neutestamentliche Abhandlungen, N. F. 27), Münster 1994; S. Alkier, Neues Testament (UTB basics), Tübingen/ Basel, 2010, 67-72; S. Feder, Neue Perspektiven von Frauen. Exegesen afrikanischer Bibelwissenschaftlerinnen aus westlicher Sicht, in: Bibel und Kirche 3 (2012), 154-159. In einer kulturwissenschaftlichen Einführung zum Postkolonialismus werden interessanter Weise die exegetischen Arbeiten von Musa W. Dube, Fernando F. Segovia und R.S. Sugirtharajah zur Kenntnis genommen: D. Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften (rowohlts enzyklopädie), Reinbek bei Hamburg 4 2010, 208.229 f. 44 K. Pui-lan, Die Verbindungen herstellen: Postkolonialismus-Studien und feministische Bibelinterpretation, in: Interkulturelle Theologie. Zeitschrift für Missionswissenschaft 38/ 1-2 (2012), 34-62. 45 F. F. Segovia, Grenzüberschreitendes Interpretieren: Postkolonialismus-Studien und Diaspora-Studien in historisch-kritischer Bibelexegese, in: Interkulturelle Theologie. Zeitschrift für Missionswissenschaft 38/ 1-2 (2012), 110-135. Siehe auch ders./ M.A. Tolbert (Hg.), Reading from this Place, Vol. I: Social Location and Biblical Interpretation in the United States und Vol. II: Social Location and Biblical Interpretation in Global Perspective, Minneapolis 1995; ders., Decolonizing Biblical Studies: A View from the Margins, Maryknoll 2000; ders./ R.S. Sugirtharajah (Hgg.), A Postcolonial Commentary on the New Testament Writings, London 2007. 46 R.S. Sugirtharajah, Eine postkoloniale Untersuchung von Kollusion und Konstruktion in biblischer Interpretation, in: Interkulturelle Theologie. Zeitschrift für Missionswissenschaft 38/ 1-2 (2012), 136-162; ders., (Hg.), The Postcolonial Bible, Sheffield 1998; ders., Postcolonial Reconfigurations. An Alternative Way of Reading the Bible and Doing Theology, London 2003. 47 Segovia, Grenzüberschreitendes Interpretieren, 135. 48 Sugirtharajah, Eine postkoloniale Untersuchung, 161. 49 G. O. West/ M.W. Dube (Hgg.), »Reading With«. An Exploration of the Interface between Critical and Ordinary Readers of the Bible. African Overtures (Semeia 73), Atlanta 1996; vgl. in globaler Perspektive, ders., (Hg.), Reading Other-Wise. Socially Engaged Biblical Scholars Reading with Their Local Communities (Semeia Studies 62), Society of Biblical Literature Atlanta 2007. 50 H. de Wit u. a. (Hgg.), Through the Eyes of Another. Intercultural Reading of the Bible, Elkhart/ Indiana 2004. Im Februar fand an der freien Universität Amsterdam die internationale Konferenz »Bible and Transformation« in Fortführung dieses Projekts statt. 51 H. de Wit, »My God,« she saids, »ships make me so crazy.« Reflections on Empirical Hermeneutics, Interculturality, and Holy Scripture, Amsterdam 2008. 52 Zu dem in diesem Zusammenhang vielversprechenden Konzept der Transkulturalität, vgl. W. Welsch, Transkulturalität. Zwischen Globalisierung und Partikularisierung, in: Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 26 (2000), 327- 351. 53 E. Tamez, Gegen die Verurteilung zum Tod. Paulus oder die Rechtfertigung durch den Glauben aus der Perspektive der Unterdrückten und Ausgeschlossenen, Luzern 1998 (spanisches Orig.: 1991). Vgl. die ausführlicheren Präsentationen und Diskussionen der Beiträge von Tamez und Dube (s. unten) von W. Kahl, Akademische Bibelinterpretationen in Afrika, Lateinamerika und Asien angesichts der Globalisierung, in: VuF 54/ 1 (2009), 45-58, hier: 48-52. 54 Ebd., 173. 55 Ebd., 241. 56 Ebd., 242. 57 M. W. Dube, Postcolonial Feminist Interpretation of the Bible, St. Louis 2000; vgl. dies. (Hg.in), Other Ways of Reading. African Women and the Bible, Atlanta 2001. 58 Dube, Postcolonial, 40. 59 Ebd., 182. 60 Ebd., 153-154. 61 Ebd., 182. 62 Ebd., 182. 63 Ebd., 38. 64 Ebd., 39. 65 So B. K. Blount, Then the Whisper Put on Flesh. New Testament Ethics in an African American Context, Nashville 2001, 158-191; vgl. auch S. Alkier, Macht und Martyrium oder: die prophetische Zurückweisung des Evangeliums der Römer durch die Johannesapokalypse, in: Reinmuth, Politische Theorie, 61-82. 66 So auch Käsemann, Aspekte, 32. 67 So Tamez, Verurteilung, 201-205. Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 11 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 11 Biblische Texte präsentieren materielle Armut nicht als erstrebenswertes Lebensideal. Ein asketisches Leben wird weder mit Blick auf den Genuss von Essen und Trinken noch hinsichtlich der Freude am eigenen Körper und am Körper des bzw. der Geliebten gefordert. Auch den eigenen Wohlstand zu mehren und gute Geschäfte zu machen wird nicht per se kritisiert. Im Matthäusevangelium kann ein Kaufmann, der alles auf ein gutes Geschäft setzt, sogar als Gleichnis für das Himmelreich agieren: »Wiederum gleicht das Himmelreich einem Kaufmann, der gute Perlen suchte, und als er eine kostbare Perle fand, ging er hin und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte sie« (Mt 13,45). 1 Wirtschaftliches Handeln und ökonomische Konzepte wie Geld, Lohn, Gewinn, Verlust, Schulden, Arbeit durchziehen viele biblische Texte, so auch das Matthäusevangelium. Die Präsenz ökonomischer Semantik und ihre kaum zu überschätzende theologische und hermeneutische Funktion verdienen exegetische Aufmerksamkeit und das nicht nur in sozialgeschichtlicher und wirtschaftsgeschichtlicher Hinsicht. 2 Ihre metaphorische Funktion stellt in komplexer Weise das Zusammenspiel von göttlichem und menschlichem Handeln vor jeder konfessionellen Traditionsbildung dar. Eine unvoreingenommene Lektüre des Matthäusevangeliums zeigt, wie unbeschwert der Lohngedanke das ganze Evangelium durchzieht, ohne in eine plumpe und berechnende »Werkgerechtigkeit« umzuschlagen, die auf die Idee käme, man könne sich das ewige Leben »verdienen« oder gar durch Ablass erkaufen. Warum aber wird dann vor Reichtum an zentralen Stellen des Matthäusevangeliums so eindringlich gewarnt und Geld sogar als Gegengott dargestellt? Es gibt über diese exegetischen Fragestellungen hinaus gewichtige zeitgenössische gesellschaftspolitische, ekklesiologische und sogar ökonomische Gründe, biblische Texte und ihre ökonomischen Konzepte in die gegenwärtigen kirchlichen und öffentlichen Diskurse einzubringen. Die einseitige politische und zunehmende gesellschaftliche Orientierung an kapitalistischen Konzepten wie etwa dem der Gewinnmaximierung 3 zerstört den Zusammenhalt der Gesellschaft, ist mitverantwortlich für den Hungertod von Millionen und vernichtet die ökologische Grundlage des Überlebens der Menschheit und vieler Tier- und Pflanzenarten. Die vorsichtigen Versuche von Wirtschaftswissenschaftlern, Politikern und Geschäftsleuten angesichts der immensen Zerstörungskraft des deregulierten Kapitalismus umzudenken, 4 kann ein argumentatives Einbringen biblischer Einsichten dann fördern, wenn die Komplexität biblischen Denkens gewahrt bleibt und nicht in ideologischer Naivität jede Form von Kapitalismus oder sogar jedes Geschäfte-machen und wirtschaftliches Optimieren per se für alles Böse dieser Welt verantwortlich gemacht wird. Mit Blick auf Versuche einer »theologischen Analyse der Gegenwart« ist mit Hermann Deuser dabei klarzustellen: »Wie muß und wie kann geholfen werden? -- Die Antworten auf die damit akut vor uns stehenden einzelnen Nöte, Zwänge und Zukunftsängste der Gegenwart werden der Theologie umso weniger leicht von den Lippen gehen, je intensiver sie auf die Welt, zu der sie selbst bei aller (ekklesiologischen) Distanz gehört, sich sympathetisch eingelassen hat. Neu ist diese Lage insofern, als jedes autoritative Besserwissen am eigenen Verhalten bzw. in praktischen Situationen überprüft und von daher beurteilt werden muß. Ein prinzipieller Wahrheits- und Autoritätsvorschuß für die Theologie besteht bei Gegenwartsfragen nicht mehr; aber den denkbaren und erlösenden Zusammenhang von Glaube und Lebensgestaltung in Hoffnung und Liebe aufzuweisen-- das wäre die theologische Gegenwartsdeutung, die eingreifende Interpretationen und Veränderungen vorschlagen kann.« 5 Dass aber die christlichen Kirchen stumm wie Fische die Umverteilung des Reichtums zugunsten der Megareichen seit der Deregulierung der Finanzmärkte hinnehmen und angesichts der wachsenden Armut in der Bundesrepublik Deutschland 6 und erst recht mit Blick auf die globale Armut nicht hörbar theologisch argumentativ und wirtschaftspolitisch sachkundig im öffentlichen Diskurs aufbegehren, zeugt in bitterer Klarheit davon, dass sie gegenwärtig keine theologische Kraft zu »eingreifenden Interpretationen« aufbringen. Sie verfehlen damit nicht nur ihre prophetischen Aufgaben. Schlimmer noch: Sie spielen eine aktive Rolle in der zunehmenden Verschlechterung des Arbeitsmarkts zu Ungunsten der Arbeitnehmer, wenn sie unter dem Deckmantel des »Dritten Weges« Arbeitnehmern und Stefan Alkier »Frucht bringen« oder »Gewinnmaximierung«? Überlegungen zur Gestaltung des Lebens und des Wirtschaftens im Anschluss an das Matthäusevangelium Zum Thema Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 12 - 2. Korrektur 12 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Zum Thema gende Eintreten für eine solidarische Gesellschaft der Kirchen auf sich warten lässt, das diese dann aber auch selbst als Arbeitgeber vorbildlich praktizieren müssen. Billiger ist neues Vertrauen nicht zu erwerben. Die fehlende prophetische Kraft der christlichen Kirchen kann aus einer Rückbesinnung auf die Bibel gewonnen werden. Die biblischen Texte wurden nämlich nicht als wissenschaftliche oder kirchliche Auftragsarbeit für eine nach allen Seiten hin ausgewogene »Denkschrift« produziert. Sie sind vielmehr positionelle Werbeschriften für die Überzeugung, dass angesichts der individuellen, politischen und sozialen Realitäten grundsätzliches Umdenken notwendig ist. Sie werben mit aller Entschiedenheit dafür, das Leben als Gabe zu begreifen und sich an dem Gott zu orientieren, dem sich alles Leben verdankt und der über die Erwählung Israels seine Weisungen für ein gutes Leben in der Solidarität der Geschöpfe, die Tora, aller Welt bekannt gemacht hat. Aus der Perspektive der neutestamentlichen Schriften ist dieser Gott Israels derselbe Gott, den Jesus von Nazareth verkündet hat und der diesen aus dem Kreuzestod in sein göttliches Leben hinein auferweckt hat. 8 Die Grundorientierung an diesem Gott aus der Perspektive der Kreuzestheologie berührt alle menschlichen Lebensbereiche, auch das politische und wirtschaftliche Handeln. 1. Wirtschaftsgeschichtliche Grundaspekte der Ökonomie der Gewinnmaximierung 9 Das wirtschaftliche Konzept der Gewinnmaximierung hat eine lange Geschichte. Es geht mindestens zurück bis zu den Ptolemäern (3. Jh. v. Chr). 10 Die multikulturelle griechisch-römische Welt bestand vorwiegend aus entwickelten Agrargesellschaften. Der überwiegende Teil der Arbeitskraft wurde in die Landwirtschaft und in die Veredelung ihrer Produkte investiert. Der über Wohlstand und Macht entscheidende Besitz war der von Land. Das Wirtschaftsleben-- die Produktion und Verteilung von Sachgütern sowie Dienstleistungen-- wurde dabei von überregionalen und regionalen Faktoren bestimmt, aus deren Zusammenspiel verschiedene und zum Teil recht komplexe Produktions- und Distributionsformen hervorgingen. Arbeitnehmerinnen Grundrechte wie das Streikrecht vorenthalten, auf die Selbstausbeutung ihrer Mitarbeiter setzen und sogar kalkulierte Ausbeutung vorantreiben, indem sie Leihfirmen wie etwa bei den von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel gründen, um im eigenen Haus Lohndumping betreiben zu können. Die Kirchen und ihre diakonischen Dienste sind keine Vorbilder gerechten Wirtschaftens, sie sind aktive Player des Lohndumpings und der Unterdrückung von Arbeitnehmerrechten. Welche Impulse für eine gerechtere Marktwirtschaft kann man denn von solchen Arbeitgebern erwarten? Das theologische und gesellschaftliche Desinteresse der christlichen Kirchen und auch der überwiegenden Mehrheit der universitären theologischen Forschung und Lehre an der materiellen Armut und der ungerechten Verteilung materieller Güter dürfte erheblich zum Glaubwürdigkeitsverlust christlicher Kirchen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft beitragen. 7 Keine Kirchenreform wird Menschen wieder in die Kirchen bringen, solange das gesellschaftswirksame und argumentativ überzeu- »Die biblischen Texte wurden […] nicht als wissenschaftliche oder kirchliche Auftragsarbeit für eine nach allen Seiten hin ausgewogene ›Denkschrift‹ produziert. Sie sind vielmehr positionelle Werbeschriften für die Überzeugung, dass angesichts der individuellen, politischen und sozialen Realitäten grundsätzliches Umdenken notwendig ist.« Dr. Stefan Alkier ist seit 2001 Professor für Neues Testament am Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt/ Main. 2009 erschien im Francke-Verlag als NET 12 seine Monographie: Die Realität der Auferweckung in, mit und nach den Schriften des Neuen Testaments. 2010 erschien wieder im Francke Verlag sein Lehrbuch: Neues Testament, UTB Basics. Er ist seit Heft 1 der ZNT einer ihrer drei geschäftsführenden Herausgeber. Seit 2008 gibt er zudem den neutestamentlichen Teil des bibelwissenschaftlichen Internetlexikons www.wibilex.de heraus. Stefan Alkier Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 13 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 13 Stefan Alkier »Frucht bringen« oder »Gewinnmaximierung«? Staatswirtschaft, Poliswirtschaft, Tempelwirtschaft und private Hauswirtschaft waren zwar unvermeidlich ineinander verwoben, stellten aber verschiedene wirtschaftliche Organisationsformen mit je eigenen Handlungsspielräumen dar. Eine Wirtschaftspolitik im modernen Sinn gab es jedoch nicht. Vielmehr entwickelten sich die jeweiligen wirtschaftlichen Sachverhalte vornehmlich als Effekte der Machtpolitik einerseits und der notwendigen Befriedigung der Grundbedürfnisse der jeweiligen Bevölkerung andererseits. Der Siegeszug des makedonischen Königs Alexanders des Großen hatte nicht nur machtpolitische und geistesgeschichtliche Konsequenzen, sondern brachte auch erhebliche wirtschaftliche Veränderungen mit sich, die ausführlich Michael Rostovtzeff in seinem immer noch unersetzten Werk »Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte der hellenistischen Welt« 11 dargelegt hat. Das Heer Alexanders, das Rostovtzeff eindrücklich als bewegliche Stadt charakterisiert, war selbst ein bedeutender Wirtschaftsfaktor und spielte bei der Intensivierung der Geldwirtschaft und des Straßenbaus eine bedeutende Rolle. Von herausragender wirtschaftlicher Bedeutung sind darüber hinaus zu nennen die wirtschaftliche Schlüsselfunktion des Monarchen und der intensivierte Städtebau. Ein wichtiger Aspekt des charismatisch verstandenen Königtums Alexanders und seiner Nachfolger in den hellenistischen Diadochenreichen bestand in der Auffassung, dem König gehöre das Land, das er beherrschte. Die kommunikations- und agrartechnischen Möglichkeiten der antiken Gesellschaften ließen aber eine direkte landwirtschaftliche Nutzung des gesamten Landes durch das Königshaus nicht zu. Durch verschiedene Formen der Nutzungsüberlassung organisierte eine privilegierte Oberschicht die weitere Ausbeutung des Landes, wobei die Städte eine relative Autonomie genossen und zum Teil ebenfalls über erhebliche Landmengen verfügen konnten. Ein komplexes Abgabensystem sorgte dabei für den Rücklauf eines großen Teils des Erwirtschafteten an den Königshof. Neben der direkten Nutzung von königlichem Land und der indirekten durch die Nutzungsüberlassung war die Monopolisierung eine erhebliche Einnahmequelle der hellenistischen Könige. Sie war besonders ausgeprägt im Ptolomäerreich mit Ägypten als Kernland. Dort hatte der König die Monopole über Salz, Bier, Gewürze, Münzprägung und Banken inne. 12 Insgesamt förderten die hellenistischen Könige ein wirtschaftliches Denken, das auf Gewinnmaximierung aus war. Die unmittelbare Versorgung der Bevölkerung mit lebensnotwendigen Gütern war zwar überwiegend noch gewährleistet, stand aber nicht mehr im Vordergrund der königlichen und aristokratischen Landbebauung. Ein entscheidendes Instrument dieser wirtschaftlichen Verschiebung bestand im Ausbau der Geldwirtschaft, denn diese erlaubte nicht nur eine stärkere staatliche Kontrolle, sondern eignete sich auch weit besser zur Anhäufung von verfügbarem Reichtum. Vor allem die Ptolemäer waren an der Gewinnmaximierung interessiert, weil sie im Konkurrenzkampf mit anderen Diadochenreichen, insbesondere den Seleukiden, über weniger Land und Bodenschätze verfügten, und diesen Mangel über Gewinnmaximierung auszugleichen suchten. Schon Alexander hatte den erbeuteten Staatsschatz der Perser in Münzen prägen lassen und damit unter anderem seine Soldaten bezahlt. Durch diese enorme Neuemission beabsichtigte er die Durchsetzung einer einheitlichen Währung und damit die überregionale Förderung des Handels. Allerdings behielten die regionalen Münzen ihren Wert, so dass de facto mehrere Münzsysteme gleichzeitig im Umlauf waren. Diese Politik Alexanders führten seine Nachfolger in den Diadochenreichen mit unterschiedlicher Intensität und Ausrichtung und später auch noch die Römer fort. Besonders intensiv waren auch hier die Ptolemäer durch die bereits erwähnte Monopolisierung auf die Durchsetzung einer einheitlichen Währung als Grundlage einer florierenden Wirtschaft bedacht. Während sich Alexander und die Seleukiden an der attischen Münzprägung orientierten, folgten die Ptolemäer zunächst der rhodischen und dann der tyrischen Münzprägung. Diese Unterschiede führten zu zwei verschiedenen Wirtschaftszonen in der hellenistischen Welt. Durch die wechselnden machtpolitischen Konstellationen gehörten Galiläa, Samarien und Judäa abwechselnd zur seleukidischen und zur ptolemäischen Wirtschaftszone, bis dann in Folge der Makkabäerkriege unter Führung der Hasmonäer ein eigenständiges jüdisches Königtum entstand, dem die Römer 63. v. Chr. ein Ende bereiteten. Der umfassend ausgebildete Alexander hatte sich nicht nur als Kriegsherr betätigt, sondern auch das ägyptische Alexandria zu großen Teilen selbst entworfen. Dem Bau neuer Städte und dem Ausbau älterer Städte und Handelsstraßen widmeten auch seine Nachfolger Zeit und Geld. Die antike Großstadt ist ein Produkt des Hellenismus, wobei insbesondere Pergamon mit über »Insgesamt förderten die hellenistischen Könige ein wirtschaftliches Denken, das auf Gewinnmaximierung aus war.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 14 - 2. Korrektur 14 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Zum Thema 100 000, Seleukia mit über 200 000 und Alexandria mit gut 500 000 Einwohnern zu nennen sind. Die Baumaßnahmen waren selbst ein innovativer Anschub der hellenistischen Wirtschaft. In diesem kulturellen und wirtschaftlichen Zusammenhang sind auch die enormen Baumaßnahmen Herodes des Großen zu begreifen, der als römischer Vasallenkönig in der Tradition hellenistischer Könige steht. 13 Die neuen großstädtischen Lebensformen schufen wirtschaftliche Spielräume und Märkte. In den Großstädten entstanden neue Möglichkeiten für Geschäfte und Dienstleistungen. Sie brachten aber auch erhebliche soziale Probleme mit sich. Ist die Wirtschaft des frühen Roms und auch noch die der mittleren Republik vornehmlich auf die regionale Selbstversorgung durch Landwirtschaft ausgerichtet, so tritt Rom mit seiner Expansion ab dem 3. Jh. v. Chr. als internationale Wirtschaftsmacht in Erscheinung, die klar auf Profitmaximierung ausgerichtet ist. Rom verfügte zwar in der Nähe von Ostia über reichliche Salzvorkommen, war aber ansonsten arm an Bodenschätzen. Nachdem Karthago, der schärfste Handelskonkurrent Roms, endgültig besiegt worden war und sich das Römische Reich auch nach Osten hin ausdehnte und schließlich das Erbe der hellenistischen Monarchien antrat, erreichte es eine Größe, die noch nie zuvor ein Weltreich besessen hatte. Materielle Güter wie Lebensmittel, Luxuswaren, Geld-, Gold- und Bodenschätze aber auch abertausende versklavte Menschen aus den eroberten Gebieten wurden nach Rom gebracht. Die Sklaverei spielte für die Gewinnmaximierung der Wirtschaft des expandierenden Rom insgesamt eine weit größere Rolle als für die der hellenistischen Königreiche. Obwohl Rom erst ab dem Ende des 4. Jahrhunderts v. Chr. eigene Münzen prägte, sollte bald schon die Geldwirtschaft eine noch größere Rolle spielen als in den hellenistischen Monarchien. Die Ausbeutung der zum Teil weit entlegenen Provinzen wurde durch die Geldwirtschaft wesentlich gefördert und vereinfacht, wenngleich auch weiterhin Abgaben in Naturalien-- vor allem Getreide-- erhoben wurden. Die Provinzen dienten Rom vornehmlich zur Ausbeutung. Dennoch gab es auch hier Spielräume und große regionale Unterschiede, die auch von dem jeweiligen Statthalter unterschiedlich gehandhabt wurden. Diese waren zumeist durch hohe Kosten an ihre Ämter gekommen und nicht selten verschuldet. Dieses Geld mussten sie nun wiederum in den Provinzen abschöpfen, so dass es häufig zu unerträglichen Belastungen für die Bevölkerung der Provinzen kam. Michael Mann wandte demgegenüber ein, dass der enorme politische Erfolg des Imperium Romanum nicht monokausal mit der unterdrückenden Macht militärischer Gewalt zu erklären sei. Er zeigt vielmehr das komplexe Ineinander von militärischer, wirtschaftlicher, politischer und ideologischer Macht auf und kommt bezüglich des Imperium Romanum zu einer differenzierten Neubewertung, die die militärische Machtausübung des Römischen Reiches nicht verharmlost, zugleich aber auf ihre allen Bevölkerungsteilen zu Gute kommenden Erfolge in der Institutionalisierung von rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen hinweist, wovon etwa der enorme Ertragsquotient 14 der Landwirtschaft und die im ganzen Römischen Reich wachsenden Bevölkerungszahlen 15 zeugen. Sowohl der landwirtschaftliche Ertragsquotient als auch die Bevölkerungszahlen gehen nach Mann mit dem Ende des Römischen Reiches zurück. »Angesichts dieser beträchtlichen Aktivposten ist es falsch, das Römische Reich, wie einige Klassizisten dies tun, schlicht und einfach als ›ausbeuterisch‹ zu bezeichnen; es ist falsch, ganz gleich, ob darunter Ausbeutung einer Klasse durch eine andere Klasse oder Ausbeutung der Landregionen durch die Stadt verstanden wird. Es gab Ausbeutung, daran kann kein Zweifel bestehen, aber das […] System der Zwangskooperation profitierte auch von ihr. Worin dieser Profit bestand? Wie die dünnen Bande aussahen, die die Ausbeutung und ihr Nutzen zwischen den bäuerlichen Produzenten und der weiteren Welt knüpften, jene Bande, die so viele Menschen in so dichten Konzentrationen über ein so weites Gebiet verteilt oberhalb des Existenzminimums leben ließen? Es gab sie in zweierlei Form: einmal als horizontale, ›freiwillig‹ eingegangene Verknüpfungen in der Form des Austauschs und Handels von Gütern und zum andern als vertikale, unfreiwillige Zwangsverknüpfung in Form der Abpressung von Pachten und Steuern.« 16 Dass die auf Gewinnmaximierung ausgerichtete Politik vieler Statthalter durchaus auch kritisch wahrgenommen wurde, geht aus einem bei Sueton überlieferten Zitat des Kaisers Tiberius aus einem Sendschreiben an die Provinzstatthalter hervor: »Als die Statthalter ihm dazu rieten, in den Provinzen die Steuern anzuheben, schrieb er ihnen zurück, ein Hirte erweise sich als guter Hirte, wenn er das Vieh schere und ihm nicht die Haut über die Ohren ziehe« (Sueton, Tiberius 32,2). Zentrale Regulierungsmaßnahmen wie die Abberufung von Provinzstatthaltern blieben aber die Ausnahme. Solange die Kasse in Rom stimmte, sah man in aller Regel keinen Anlass zum Handeln. Ägypten etwa wurde nach seiner Eroberung als kaiserliche Provinz zur Kornkammer Roms wie vorher schon die Provinz Afrika. Dabei mussten die Provinzen nicht nur das benötigte Korn Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 15 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 15 Stefan Alkier »Frucht bringen« oder »Gewinnmaximierung«? kostenlos zur Verfügung stellen, sondern sogar noch den Transport selbst organisieren und bezahlen. Trotz des auf Ausbeutung der Provinzen basierenden unermesslichen Reichtums Roms gab es auch im Stammland erhebliche Armut. Reich waren bzw. wurden insbesondere die Angehörigen des Senatoren-, des Ritter- und des Dekurionenstandes, die aber insgesamt weniger als einen Prozent der Bevölkerung ausmachten. Da diese aber die wirtschaftliche, politische, rechtliche und militärische Macht in den Händen hielten, änderte auch die Armut im eigenen Land nichts an der an Gewinnmaximierung orientierten römischen Ökonomie. Mit dieser auf Gewinnmaximierung bedachten römischen Provinzialpolitik der Ausbeutung machten auch die Judäer ihre leidvollen Erfahrungen, nachdem im Jahr 6. n.-Chr. Judäa unter direkte römische Verwaltung geriet, wovon die lukanische Episode der Steuerschätzung erzählt (Lk 2,1f.). Aufstände wurden sofort blutig niedergeschlagen. Der katastrophale jüdisch-römische Krieg (66-70 n. Chr.) hatte sicher nicht nur, aber eben auch soziale und wirtschaftliche Gründe, die Folgen der Gewinnmaximierungsstrategien nicht weniger römischer Statthalter waren. Vor diesen Hintergründen römischer Provinzialpolitik und Ökonomie zeigt sich die ökonomische Semantik der neutestamentlichen Schriften und nicht zuletzt auch des Matthäusevangeliums als höchst realitätsnah und erfahrungsgesättigt. 2. Von der Versuchung des Reichtums Bevor Jesus seine Botschaft vom Reich Gottes und dem damit zusammenhängenden notwendigen Umdenken im Matthäusevangelium verkündet, wird er vom Teufel in der Wüste versucht. Dieser Gegenspieler des Sohnes Gottes gibt sich alle Mühe, Jesus von seiner alleinigen Orientierung an Gott abzubringen und ihn zu seinem diabolischen Untergebenen zu machen. Als letzte der drei Versuchungen bietet der Teufel Jesus unbegrenzte Macht und Reichtum an: »Darauf führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn Du niederfällst und mich anbetest. Da sprach Jesus zu ihm: Weg mit Dir, Satan! Denn es steht geschrieben: ›Du sollst anbeten den Herrn, deinen Gott, und ihm allein dienen.‹ Da verließ ihn der Teufel. Und siehe, da traten Engel zu ihm und dienten ihm« (4,8-11). Derselbe Gedanke des exklusiven Gottesdienstes wird in der sog. Bergpredigt (Mt 5-7) hinsichtlich der Konkurrenz des Geldes formuliert. Das Leben in den Dienst am Mammon zu stellen, wird vergleichbar dem Tanz ums goldene Kalb (vgl. Ex 32) als Abkehr von dem einen Gott Israels bewertet: »Niemand kann zwei Herren dienen: entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder aber er wird an dem einen hängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon« (Mt 6,24). Im selben Argumentationszusammenhang wird gegen die Orientierung am materiellen Reichtum nicht nur vorgebracht, dass die Schätze dieser Welt vergänglich sind. Das viel größere Problem besteht darin, dass jegliche Orientierung an einem Leitobjekt die Selbstbestimmung des Individuums formatiert. Die gewählten Objekte der Begierde haben Macht über den, der sie begehrt, indem sie sein Handeln daraufhin programmieren, das begehrte Objekt zu erhalten. Das begehrende Subjekt wird daher nicht als Souverän seines Wollens begriffen, sondern als dem von ihm begehrten Objekt Unterworfener: »Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo sie die Motten und der Rost fressen und wo die Diebe einbrechen und stehlen. Sammelt euch aber Schätze im Himmel, wo sie weder Motten noch Rost fressen und wo die Diebe nicht einbrechen und stehlen. Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz« (Mt 6,19 ff.). Die Warnung vor dem Reichtum wird im Matthäusevangelium nicht von einem asketischen Ideal motiviert, sondern von der anthropologischen Einsicht in die prekäre Selbstbestimmung des im Wortsinn zu begreifenden Subjekts (dem Unterworfenen) getragen. Bei jeder Handlungsentscheidung steht auf dem Spiel, wer der Handelnde ist oder besser gesagt, wer der Handelnde durch die Wahl seiner Handlungsorientierung gewesen sein wird. Die jeweilige Handlungsentscheidung bezeugt, wer er war und ist. »Die Warnung vor dem Reichtum wird im Matthäusevangelium nicht von einem asketischen Ideal motiviert, sondern von der anthropologischen Einsicht in die prekäre Selbstbestimmung des im Wortsinn zu begreifenden Subjekts (dem Unterworfenen) getragen.« »Vor diesen Hintergründen römischer Provinzialpolitik und Ökonomie zeigt sich die ökonomische Semantik der neutestamentlichen Schriften und nicht zuletzt auch des Matthäusevangeliums als höchst realitätsnah und erfahrungsgesättigt.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 16 - 2. Korrektur 16 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Zum Thema Das Begehren materiellen Reichtums unterwirft das begehrende Subjekt-- sei es ein Individuum, eine Gruppe oder eine Institution-- den mit ihm verbundenen sogenannten Sachzwängen und entzieht dem Subjekt dadurch die Freiheit der Selbstbestimmung des individuellen bzw. gesellschaftlichen Lebens und seiner Organisationsformen. Die Selbstbestimmung des Lebens in der Nachfolge Jesu Christi konkretisiert sich dagegen als »prekäre Selbst-Bezeugung« 17 in der Solidarität der Geschöpfe Gottes im politischen, wirtschaftlichen und privaten Alltag. Diesen kritischen und selbstkritischen Gedanken stellt die Erzählung vom Reichen Jüngling und ihre Interpretation durch den Diskurs Jesu und seiner Jünger eindrücklich dar: »Da kam einer zu ihm und sagte: Meister, was muss ich Gutes tun, um ewiges Leben zu erlangen? Er sagte zu ihm: Was fragst du mich nach dem Guten? Einer ist der Gute. Willst du aber ins Leben eingehen, so halte die Gebote. Da sagte er zu ihm: Welche? Jesus sagte: Du sollst nicht töten, du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht falsches Zeugnis ablegen, ehre Vater und Mutter und: Liebe deinen Nächsten wie Dich selbst. Da sagte der junge Mann zu ihm: Das alles habe ich befolgt: Was fehlt mir noch? Da sagte Jesus zu ihm: Willst Du vollkommen sein, so geh, verkaufe deinen Besitz und gib ihn den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir! Als der junge Mann das hörte, ging er traurig fort, denn er hatte viele Güter. Jesus aber sagte zu seinen Jüngern: Amen, ich sage euch: Ein Reicher wird nur schwer ins Himmelreich kommen. Weiter sage ich euch: Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in das Reich Gottes. Als die Jünger das hörten, waren sie bestürzt und sagten: Wer kann dann gerettet werden? Jesus blickte sie an und sprach: Bei Menschen ist das unmöglich, bei Gott aber ist alles möglich! « (Mt 19,16-30). Diese Episode stellt dar, dass das von den Sachzwängen des materiellen Reichtums bestimmte Subjekt den Gewinn des Lebens gemäß einer ökonomischen Tauschlogik als Resultat zu erbringender Leistungen bedenkt und seine guten Werke als Zahlungsmittel begreift. Dem stellt Jesus eine personale Beziehungslogik gegenüber, die umdenken lässt. Nicht die Orientierung an einer Sache als einem abstrakten »Guten«, sondern die orientierende Kommunikation mit dem einen guten Schöpfergott ermöglicht es, die eigene Selbstbestimmung in der Solidarität der geschöpflichen Beziehungen zu denken und zu leben. Die Traurigkeit des weggehenden Jünglings bezeugt, dass er verstanden hat und zugleich sich von den Sachzwängen seiner primären Orientierung am materiellen Reichtum als das ihn bestimmende Objekt seines Begehrens nicht zu lösen vermag. Die schockierten Jünger haben diese Pointe noch nicht begriffen. In der Sachlogik gibt es keinen Ausweg aus den Sachzwängen. Sie scheinen »alternativlos« zu sein. Nur ein Wunder kann die Zwänge dieser Kausalität durchbrechen, so dass dann sogar Reiche ins Himmelreich kommen können. Dieses Wunder ist das personale und kommunikative Handeln des Schöpfergottes selbst, das die »Jesus-Christus-Geschichte« (E. Reinmuth) bezeugt und dessen Ausdruck sie ist. Von der Reflexion der personalen Beziehungslogik ausgehend, die die Jesus-Christus-Geschichte zu reflektieren aufgibt, wird dem Matthäusevangelium zufolge Umdenken möglich. 3. Umdenken Direkt im Anschluss an die abgewehrte diabolische Versuchung beginnt Jesus mit seiner Reich-Gottes-Verkündigung: »Von da an begann Jesus zu verkünden und sprach: Kehrt um [gr. metanoeite]! Denn nahe gekommen ist das Himmelreich! « (Mt 4,17). Das griechische Wort metanoeite, das in der Lutherübersetzung mit »tut Buße« und in der hier zitierten Zürcher Übersetzung mit »kehrt um« übersetzt wird, heißt zunächst einmal »denkt um«. Gemeint ist ein Umdenken, das die Wahrnehmung verändert und Verhaltensänderungen zeitigt, die man durchaus auch als Umkehr bzw. Buße bezeichnen kann. Festzuhalten ist, dass Jesu Reich-Gottes- Botschaft zu einem handlungsrelevanten Umdenken aufruft und dieses mit der Nähe des Himmelreiches begründet. Liest man das Matthäusevangelium ganz, so stellt sich diese Nähe nicht als qua Berechnungsfehler ausgebliebenes Weltende dar, sondern als wirksame Präsenz des Sohnes Gottes, die dieser selbst am Schluss des Matthäusevangeliums formuliert: »Und Jesus trat zu ihnen und sprach: Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf Erden. Geht nun hin und macht alle Völker zu Jüngern: Tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes, und lehrt sie alles halten, was ich euch geboten habe. Und seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.« (Mt 28,18 f.) Die Zusage des Da-Seins Jesu macht nur Sinn unter der Voraussetzung der Kreuzestheologie. Sie stellt den Tod Jesu als Folge des ungerechten Zusammenwirkens judäischer und römischer Institutionen dar und verheimlicht auch nicht das aktive und passive Mitwirken des Jüngerkreises durch Verrat und Verleumdung. Jesus wurde Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 17 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 17 Stefan Alkier »Frucht bringen« oder »Gewinnmaximierung«? am Kreuz als politischer Verbrecher hingerichtet. Die Kreuzestheologie prangert aber nicht nur das geschehene Unrecht an. Sie bezeugt vielmehr, dass derselbe Gott, den Jesus im Matthäusevangelium verkündet, Jesus aus diesem Tod in sein ewiges göttliches Leben hinein auferweckt hat und er eben deshalb jetzt und bis in alle Ewigkeit lebt und da ist. Vom Schluss des Matthäusevangeliums ausgehend gelten daher alle im Matthäusevangelium formulierten Lehren Jesu als Konkretionen der Nähe des Himmelreiches, weil sie in der Präsenz des auferweckten Gekreuzigten göttliche Legitimation finden. Das Umdenken, das Jesus in der Bergpredigt und den anderen Reden einfordert und mit seinen Gleichnissen vorführt, gründet in der durch die Auferweckung des Gekreuzigten ermöglichten präsentischen Nähe des Himmelreiches, verstanden als personale Gemeinschaft der Glaubenden mit dem auferweckten Gekreuzigten und dem Auferwecker, dem von Jesus verkündeten Gott Israels. Das Umdenken wird ermöglicht durch den Geist dieser Wundergeschichte, die die personale Beziehung Gottes zu dem hingerichteten Jesus als machtvolle Auferweckungstat des kreativen Gottes darstellt, die jeden Sachzwang, selbst den des Todes überwunden hat. Das im und mit dem Matthäusevangelium eingeforderte Umdenken kann daher als denk- und handlungsbestimmende Orientierung an der personalen Beziehung zu dem jetzt Da-Seienden von Gott auferweckten Gekreuzigten, Jesus von Nazareth, dem Messias und Sohn Gottes begriffen werden. Diese geistgewirkte Beziehung stellt eine Beziehung zu allen anderen als Mitgeschöpfe Gottes her. Sie etabliert die solidarische Gemeinschaft der Geschöpfe und ihrer aller Wohlergehen als handlungsleitendes Kriterium des geistreichen Umdenkens. Seien es die Seligpreisungen (Mt 5,3-11), die anstößige Bezahlung der Arbeiter im Weinberg (Mt 20,1-16) oder die inverse Logik vom Herrschen und Dienen in Mt 20,20-28, stets geht es um die Veranschaulichung der konkreten Folgen des am Wohlergehen der Mitgeschöpfe interessierten Umdenkens: »Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der von dir borgen will« (Mt 5,42). Die Bergpredigt-- und das gilt auch für die anderen Weisungen Jesu-- ist so konkret gemeint, wie sie formuliert ist. Sie ist die Konkretion des an der Beziehung zum auferweckten Gekreuzigten und an den daraus folgenden Beziehungen zu den Mitgeschöpfen orientierten Umdenkens. 4. Frucht bringen Dieses Umdenken wird zu Recht als Umkehr begriffen, da es handlungsorientierend in der Praxis des Lebens wirksam werden soll, was im Matthäusevangelium metaphorisch als »Frucht bringen« bezeichnet wird. Bereits Johannes der Täufer fordert: »Bringt also Frucht, die der Umkehr [gr. metanoias] entspricht« (Mt 3,8). Und Jesus formuliert: »An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen« (Mt 7,16a.). Nur wenn das Umdenken konkrete Folgen in der Lebenspraxis hervorbringt, ist Umdenken geschehen. Wie konkret das gemeint ist wird von der Bergpredigt bis zur eschatologischen Rede Jesu immer wieder und besonders eindrücklich in Mt 25,31-46 formuliert, ein Text, den Christen täglich lesen sollten. Unmittelbar davor platziert das Matthäusevangelium das Gleichnis von den anvertrauten Talenten (Mt 25,14-30 18 ): »Es ist wie mit einem, der seine Knechte rief, bevor er außer Landes ging, und ihnen sein Vermögen anvertraute; und dem einen gab er fünf Talent, dem andern zwei, dem dritten eines, jedem nach seinen Fähigkeiten, und er ging außer Landes. Sogleich machte sich der, der die fünf Talent erhalten hatte, auf, handelte damit und gewann fünf dazu, ebenso gewann der, der die zwei hatte, zwei dazu. Der aber, der das eine erhalten hatte, ging hin, grub ein Loch und verbarg das Geld seines Herrn. Nach langer Zeit aber kommt der Herr jener Knechte und rechnet mit ihnen ab. Und der, der die fünf Talent erhalten hatte, trat vor und brachte fünf weitere Talent und sagte: Herr, fünf Talent hast Du mir anvertraut; fünf Talent habe ich dazu gewonnen. Da sagte sein Herr zu ihm: Recht so, du bist ein guter und treuer Knecht! Über weniges warst Du treu, über vieles will ich Dich setzen. Geh ein in die Freude deines Herrn! Da trat auch der mit den zwei Talent vor und sagte: Herr, zwei Talent hast Du mir anvertraut; zwei Talent habe ich dazu gewonnen. Da sagte sein Herr zu ihm: Recht so, du bist ein guter und treuer Knecht! Über weniges warst Du treu, über vieles will ich dich setzen. Geh ein in die Freude deines Herrn! Da kam auch der, der das eine Talent erhalten hatte, und sagte: Herr, ich wusste von dir, dass du ein harter Mensch bist. Du erntest, wo du nicht gesät hast, und du sammelst ein, wo du nicht ausgestreut hast, und weil ich mich fürchtete, ging ich hin und verbarg dein Talent in der Erde; da hast du das deine. Da antwortete ihm sein Herr: Du böser und fauler Knecht! Du hast gewusst, dass ich ernte, wo ich nicht gesät habe, und einsammle, wo ich nicht ausgestreut habe? Dann hättest du mein Geld den Wechslern bringen sollen, und ich hätte bei meiner Rückkehr das Meine mit Zinsen zurückerhalten. Darum nehmt ihm das Talent weg und gebt es dem, der die zehn Talent hat. Denn Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 18 - 2. Korrektur 18 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Zum Thema jedem, der hat, wird gegeben werden, und er wird haben im Überfluss; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen werden, was er hat. Und den unnützen Knecht werft hinaus in die äußerste Finsternis! Dort wird Heulen und Zähneklappern sein« (Mt 25,14-30). Der thematische Zusammenhang, in dem dieses Gleichnis steht, ist der Ruf zur aktiven Wachsamkeit, den die eschatologische Rede in Mt 24 f. angesichts des nahenden Gerichts Gottes warnend formuliert. Die Zeit ist begrenzt und gerade deshalb kann es keinen Aufschub mehr für das Fruchtbringen geben. Jetzt ist die Zeit, in der dem Umdenken gemäß gehandelt werden muss. Das sog. Gleichnis von den anvertrauten Talenten gibt zu verstehen, dass jeder ein Talent 19 hat. Im Gleichnis ist damit eine griechische Gewichtseinheit gemeint, in der Edelmetalle gewogen wurden. Ein Talent waren etwa 6000 Drachmen, ein kleines Vermögen. Zur Deutung des Gleichnisses kann man durchaus die Assoziationen verwenden, die das Wort »Talent« im heutigen deutschen Sprachgebrauch hat. Jeder ist mehr oder weniger talentiert, hat eine Begabung, also eine Gabe, die es ermöglicht, etwas Produktives zu tun, wenn die Gabe genutzt wird. Das Gleichnis fragt nicht danach, ob es gerecht ist, dass der eine mehr, der andere weniger Talent hat. Es konstatiert erfahrungsgesättigt schlicht, dass es so ist. Allerdings erhält der mit den zwei Talenten dasselbe Lob und denselben Lohn, wie der mit den fünf. Der Erfolg wird nicht an absoluten Größen gemessen, sondern die Vorgaben werden mitbedacht. Gescholten und hinausgeworfen wird der, der nichts tut, obwohl er um seinen Auftrag und seinen Auftraggeber Bescheid weiß. Die Gleichnistheorie Adolf Jülichers bewahrt davor, die einzelnen Züge des Gleichnisses allegorisch ausdeuten zu wollen. Nimmt man es aus seinem Zusammenhang heraus, wird man dieser Geschichte kaum eine theologische Aussage abgewinnen können. Sie erscheint dann als abstoßendes Zeugnis einer patriarchalischen Ökonomie. Im Kontext des Matthäusevangeliums aber wird die Warnung, die dieses Gleichnis ausspricht, klar: Jeder kann dazu beitragen, dass umgedacht wird und aus diesem Umdenken Handlungen hervorgehen, die das gemeinschaftliche Leben in der Solidarität der Geschöpfe fördern. Wer umdenkt kann und soll Frucht bringen. Nochmals sei auf den darauf folgenden Text verwiesen, der diese Handlungen konkretisiert (Mt 25, 31-46). Dieses Frucht bringende Umdenken wird auf vielfältige Weise belohnt: »Seid fröhlich und getrost: es wird euch im Himmel reichlich belohnt werden« (Mt 5,12a). »Wenn Du aber Almosen gibst, so lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut, damit dein Almosen verborgen bleibe und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir´s vergelten« (Mt 6,3 f.). »Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben« (Mt 6,14 f.). Diese Beispiele ließen sich leicht vermehren. Sie zeigen alle, wie vielfältig die Frucht der Umkehr aussieht. Sie belegen allesamt, dass das Umdenken alle Lebensbezüge im Blick hat, und nicht auf die individuelle private Seelenruhe reduziert werden darf. Sie zeigen aber auch, dass der Lohngedanke dabei eine wichtige Rolle spielt: es lohnt sich, umzudenken, es zahlt sich langfristig nachhaltig aus, sich an der Jesus-Christus-Geschichte zu orientieren, die das Da-Sein des auferweckten Gekreuzigten bezeugt. Es lohnt sich aber auch schon jetzt, denn wer die Welt, seine Mitmenschen und sich selbst, als gewollte und von Gott geliebte Geschöpfe wahrzunehmen und wertzuschätzen weiß, seine Schulden und die seiner privaten und öffentlichen Lebenszusammenhänge nicht länger verdrängen muss, sondern sie im Lichte der Kreuzestheologie zu bedenken lernt, dem wächst ein Pfund zu, mit dem sich wuchern lässt, weil so vor Sachzwängen nicht länger alternativlos kapituliert werden muss. 5. Von der Gewinnmaximierung zur Gewinnoptimierung Dass die Menschheit umdenken muss und insbesondere die zunehmend am rein rechnerischen Leitgedanken der Gewinnmaximierung orientierten Wirtschafts- und Finanzsysteme umgestaltet werden müssen, steht außer Frage. Finanzkrise und Umweltkrise sind euphemistische Namen, die das millionenfache Leid der davon betroffenen Menschen nicht zum Ausdruck bringen. Doch immer mehr Menschen begreifen, dass die Vernichtung der natürlichen Lebensgrundlagen gestoppt werden muss. Immer mehr Menschen sind darüber entsetzt, dass von den Lebensmitteln, die täglich weggeschmissen werden, viermal so viele Menschen ernährt werden könnten, wie zur Zeit Hunger leiden. Das an Gewinnmaximierung orientierte Wirtschaften löst diese Probleme nicht, es hat sie ausgelöst. »Jeder kann dazu beitragen, dass umgedacht wird und aus diesem Umdenken Handlungen hervorgehen, die das gemeinschaftliche Leben in der Solidarität der Geschöpfe fördern. Wer umdenkt kann und soll Frucht bringen.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 19 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 19 Stefan Alkier »Frucht bringen« oder »Gewinnmaximierung«? Weltweit wird von Menschen unterschiedlicher religiöser und ideologischer Überzeugungen nach Konzepten einer neuen Ökonomie gesucht, die sich nicht länger rein rechnerisch am Gewinn orientiert, sondern das Gelingen des Wirtschaftens an der gesamten damit erarbeiteten Lebensqualität der Gesellschaft bemisst. In Rainer Klumps Lehrbuch »Wirtschaftspolitik« finden sich dafür schon viele Ansatzpunkte, von denen man sich wünscht, dass sie in weiteren Auflagen noch konsequenter das Konzept der Gewinnmaximierung durch den Gedanken des Optimierens unter Einbeziehung aller lebensrelevanten Bezüge ersetzt. Auch wenn das wirtschaftswissenschaftliche Konzept der Gewinnmaximierung gar nicht als Leitkategorie staatlichen Handelns gemeint ist, sondern einzelne im Wettbewerb des freien Marktes agierende private Unternehmen im Blick hat, 20 so können für das Gemeinwohl zuständige Wirtschaftswissenschaftler nicht länger die Augen davor verschließen, dass der Gedanke der Gewinnmaximierung die Lebenshaltung und Denkgewohnheiten in unserer Gesellschaft längst ergriffen hat. Man will »alles rausholen«, aus dem Unternehmen, aus dem Job, aus der Beziehung, aus sich selbst, ohne Rücksicht auf Verluste. Alle an staatlichen Universitäten beschäftigten und mit Steuermitteln finanzierten Professuren sind nicht zuerst dem Funktionieren des Kapitalismus, sondern dem Gemeinwohl verpflichtet. Vergleichbar mit dem Schweigen der Kirchen nehmen auch die Universitäten ihre kritische Gesellschaftsaufgabe nicht ausreichend wahr. Das sollte erheblich optimiert werden. Die biblische Metapher des Fruchtbringens bietet zur Leitidee der Gewinnmaximierung eine Alternative. Fruchtbringen ist das Ergebnis eines Umdenkens, das sich nicht länger an unmenschlichen Sachzwängen wirtschaftlicher, finanzpolitischer oder auch kirchlicher Systeme orientiert, sondern die Gabe des Lebens zum Maßstab nimmt. Die erste Frucht dieses Umdenkens ist ein enormer intellektueller und emotionaler Freiheitsgewinn, der sich nichts auf dieser Welt als »alternativlos« verkaufen lässt. Diesen allgemeinen lebensorientierenden Gedanken, kann jeder denken, gleichgültig welcher Religion oder Weltanschauung er sich verpflichtet fühlt. Keiner kann sich herausreden, alle haben Talente, um etwas zu einer gerechteren Welt beizutragen. Wer sich aber vom biblischen Konzept des Umdenkens angesprochen fühlt, ist dem Streben nach der besseren Gerechtigkeit verpflichtet, von dem die Bergpredigt spricht. Christliche Arbeitgeber und allen voran die Kirchen und ihre diakonischen Einrichtungen verdienen das Adjektiv »christlich« nur, wenn sie sich sagen lassen: »Ihr seid das Salz der Erde. Wenn aber das Salz fade wird, womit soll man dann salzen? Es taugt zu nichts mehr, man wirft es weg und die Leute zertreten es« (Mt 5,13). Es reicht nicht, legal zu handeln. Für die Selbstbestimmung in der Nachfolge Jesu Christi gilt: »Wenn eure Gerechtigkeit die der Schriftgelehrten und Pharisäer nicht weit übertrifft, werdet ihr nicht ins Himmelreich hineinkommen« (Mt 5,20). Man kann nicht sonntags Frieden und Gerechtigkeit predigen und am Montag eine Leiharbeitsfirma gründen, um den dort Beschäftigten weniger Lohn für dieselbe Leistung zu zahlen. Anmerkungen 1 Vgl. auch das unmittelbar davor platzierte bekanntere Gleichnis vom Schatz im Acker: »Das Himmelreich gleicht einem Schatz, verborgen im Acker, den ein Mensch fand und verbarg: und in seiner Freude ging er hin und verkaufte alles, was er hatte, und kaufte den Acker« (Mt-13,44). 2 Dazu gibt es bereits hervorragende Studien wie z. B. E.W. Stegemann/ W. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte. Die Anfänge im Judentum und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt, Stuttgart u. a. 2 1997. Vgl. auch S. Freyne, Galilee. From Alexander the Great to Hadrian. 323 BCE to 135 CE. A Study of Second Temple Judaism, Edinburgh 1980; K.C. Hanson/ D.E. Oakman, Palestine in the Time of Jesus. Social Structures and Social Conflicts, Minneapolis 1998; Kurt Erlemann u. a. (Hgg.), Neues Testament und Antike Kultur 2. Familie, Gesellschaft, Wirtschaft, Neukirchen Vluyn 2005. 3 Ich danke dem Wirtschaftswissenschaftler Rainer Klump, Vizepräsident der Goethe-Universität Frankfurt am Main, für ein sehr anregendes Gespräch, in dem er mir das ökonomische Grundkonzept der Gewinnmaximierung erläuterte und angesichts meiner Rückfragen den Begriff der Gewinnoptimierung einbrachte, den ich sehr produktiv finde. Viel gelernt habe ich aus seinem Buch »Wirtschaftspolitik. Instrumente, Ziele und Institutionen«, München u. a. 2 2011. Zum Thema des vorliegenden Aufsatzes sind dort besonders wichtig die Seiten 53 ff.; 61 ff.; 82-85. 4 Vgl. R. Klump, Wirtschaftspolitik, 274-280; 341 ff.. 5 Hermann Deuser, Einführung: Die Aufgabe theologischer Gegenwartsdeutung, MJTh II (1988), 3-10, hier: 8. 6 Vgl. dazu den provokativen, gut recherchierten und sachhaltigen Essay von Walter Wüllenweber, Die Asozialen. »Fruchtbringen ist das Ergebnis eines Umdenkens, das sich nicht länger an unmenschlichen Sachzwängen wirtschaftlicher, finanzpolitischer oder auch kirchlicher Systeme orientiert, sondern die Gabe des Lebens zum Maßstab nimmt.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 20 - 2. Korrektur 20 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Zum Thema Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren- - und wer davon profitiert, München 2012. Vgl. auch C. Honegger/ S. Neckel/ C. Magnin (Hgg.), Strukturierte Verantwortungslosigkeit. Berichte aus der Bankenwelt, Berlin 2010. 7 Als Beispiele interessanter Ausnahmen seien genannt: U. Duchrow/ F. Segbers (Hgg.), Frieden mit dem Kapital? Wider die Anpassung der Evangelischen Kirche an die Macht der Wirtschaft. Beiträge zur Kritik der Unternehmensdenkschrift der EKD, Oberursel 2008; R. Marx, Das Kapital. Ein Plädoyer für den Menschen, München 2008. Meine Kritik nimmt ausdrücklich diejenigen Pfarrerinnen und Pfarrer und auch andere kirchliche Bedienstete aus, die insbesondere in sozialen Brennpunktgemeinden gegen die Folgen der Deregulierungspolitik der vergangenen Jahre zusammen mit den Gemeindemitgliedern kämpfen, in aller Regel ohne Unterstützung der Kirchenleitungen. 8 Vgl. dazu S. Alkier, Die Realität der Auferweckung in, nach und mit den Schriften des Neuen Testaments, NET 12, Tübingen/ Basel 2009. 9 Die Ausführungen in diesem Abschnitt sind eine stark gekürzte und leicht überarbeitete Fassung meines Artikels »Das Wirtschaftsleben«, in: K. Erlemann u. a. (Hgg.), Neues Testament und Antike Kultur 2. Familie. Gesellschaft. Wirtschaft, Neukirchen-Vluyn 2005, 181-186. 10 Die komplexen historischen Zusammenhänge habe ich einführend und übersichtlich in meinem Lehrbuch »Neues Testament«, utb basics, Tübingen/ Basel 2010, 185-244, dargestellt. 11 M. Rostovtzeff, Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte der hellenistischen Welt, 3 Bde., unter Mitarb. v. M. Wodrich, übers. V. G. u. E. Bayer, um e. Einl. v. H. Heinen erw. reprogr. Nachdr. d. Ausg. Darmstadt 1955, 1998, im Original: The Social and Economic History of the Hellenistic World. Vgl. auch: H.-J. Drexhage/ H. Konen/ K. Ruffing (Hgg.), Die Wirtschaft des Römischen Reiches (1.-3. Jahrhundert). Eine Einführung, Studienbücher Geschichte und Kultur der Alten Welt, Berlin 2002; Chr. Howgego, Geld in der Antiken Welt. Was Münzen über Geschichte verraten, übers. v. J. u. M. K. Nollé, Darmstadt 2000, im Original: Ancient History from Coins, London 1995; H. Kloft, Die Wirtschaft der Griechisch-Römischen Welt. Eine Einführung, Darmstadt 1992; G. E. Lenski, Power and Privilege. A Theory of Social Stratification, Chapel Hill/ London 2 1984; Chr. Marek, Geschichte Kleinasiens in der Antike, München 2 2010; Ze ´ ev Safrai, The Economy of Roman Palestine, London 1994. 12 Vgl. G. Hölbl, Geschichte des Ptolemäerreiches. Politik, Ideologie und religiöse Kultur von Alexander dem Großen bis zur römischen Eroberung, Darmstadt 2004, 61-64. 13 Vgl. dazu G. Faßbeck, »Unermeßlicher Aufwand und unübertreffliche Pracht« (Bell 1,401). Von Nutzen und Frommen des Tempelneubaus unter Herodes dem Großen, in: S. Alkier/ J. Zangenberg (Hgg.) unter Mitarbeit von K. Dronsch und M. Schneider, Zeichen aus Text und Stein. Studien auf dem Weg zu einer Archäologie des Neuen Testaments, TANZ 42, Tübingen und Basel 2003, 222-249. 14 M. Mann, Geschichte der Macht. Vom Römischen Reich bis zum Vorabend der Industrialisierung, Bd. 2, Frankfurt am Main 1991, 33. 15 Ebd., 35 f. 16 Ebd., 36. 17 Vgl. dazu B. Liebsch, Prekäre Selbst-Bezeugung. Die erschütterte Wer-Frage im Horizont der Moderne, Weilerswist 2012. Vgl. zu den komplexen Konzepten von Handlung, Geltung und Identität auch: F. Jäger/ B. Liebsch (Hgg.), Handbuch der Kulturwissenschaften 1. Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Sonderausgabe, Stuttgart 2011. 18 Die Fassung dieses Gleichnisses in Lk 19,11-27 thematisiere ich hier aus Raummangel nicht. Sie hat jedenfalls durch die andere syntagmatische Platzierung und ihre massive Umgestaltung durch Lukas andere referentielle Bezüge und andere narrative Funktionen als die matthäische Fassung. 19 Vgl. S. Alkier, Geld im Neuen Testament. Der Beitrag der Numismatik zu einer Enzyklopädie des Frühen Christentums, in: S. Alkier/ J. Zangenberg (Hgg.) unter Mitarbeit von K. Dronsch und M. Schneider, Studien auf dem Weg zu einer Archäologie des Neuen Testaments, TANZ 42, Tübingen und Basel 2003, 317: »Die Terminologie des Geldes im Neuen Testament ist aber nicht nur verwirrend, weil hier verschiedene Währungen gleichzeitig in Kraft waren, sondern weil die Terminologie Gewichtseinheiten und Münzen mischt. Ein Talent (Mt 18,24; Apk 16,21; vgl. auch Ex 38,25) z. B. ist ebensowenig eine Münze wie eine ›Mine‹ (Lk 19,13; vgl. Ez 45,12) oder ein ›Litra‹ (Joh 12,3; 19,39). Vielmehr mischen die Währungssysteme Gewichtseinheiten und konkrete Münzen. Das hängt mit der Entstehung des Münzgeldes zusammen, denn […] es gab es vormonetäre Geldformen gerade auch als gewogenes Edelmetall, das zuweilen bereits Stempelaufdrucke trug.« Zur Zeit des Neuen Testaments entsprach ein Talent einer Mine, eine Mine waren 25 Statere, ein Stater entsprach einer Tetradrachme. Vgl. dazu ebd., 321. 20 Gabler Kompakt-Lexikon Wirtschaft, Wiesbaden 11 2013, 183: »Gewinnmaximierung, nach traditioneller Sicht der Betriebswirtschafts- und Volkswirtschaftslehre das wirtschaftliche Hauptziel privater Unternehmen. G. kann sowohl kurzals auch langfristiges Unternehmensziel sein und muss zusammen mit anderen Zielen wie Firmenerhaltung, Liquidität, Marktmacht und Wachstum gesehen werden. Unternehmen berücksichtigen heute zunehmend bei ihren Entscheidungen auch ökologische und soziale Aspekte.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 21 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 21 Wenn die besondere Befugnis Jesu zum Ausdruck gebracht werden soll, die seinen Worten und Taten eine unhinterfragbare Legitimation verleiht, dann ist in exegetischen Werken jüngeren wie älteren Datums gerne vom »vollmächtigen Wirken« bzw. von der »vollmächtigen Sendung« Jesu die Rede. Da liest man z. B.: »In Jesu vollmächtigem Auftreten bricht sich die der Gottesherrschaft eigene Dynamik Bahn: Dort, wo Jesus auftritt, gibt es keinen Platz mehr für Dämonen […] Jesu vollmächtiges Wirken richtet Kranke, Aussätzige, sozial Deklassierte und Sünder wieder auf und stellt ihre ursprüngliche Integrität wieder her«. Oder: »Jesu vollmächtige Pro-Existenz, seine Passion und seine Auferweckung durch Gott begründen den endgültigen Sieg der messianischen Sendung Jesu im Dienst der nahen Gottesherrschaft.« 1 In der »Vollmacht« Jesu meint man den entscheidenden Zugang zu seinem anthropologischen Geheimnis gefunden zu haben: »Die Vollmacht Jesu ist seine Freiheit, ganz für Gott und die Menschen zu leben […] Die Vollmacht Jesu ist die Kehrseite seiner Ohnmacht, in der er die Ungerechtigkeit der Welt erleidet und nach der Gerechtigkeit Gottes ruft« 2 . Mit der Rede von der »Vollmacht« Jesu wird Bezug genommen auf den neutestamentlichen Terminus exousia, der als Schlüsselbegriff für die außerordentliche Handlungs- und Weisungskompetenz Jesu steht, sei es in direkter Rede, z. B. in Mk 2,10: »Damit ihr aber wisst, dass Vollmacht [gr. exousia] hat der Menschensohn, Sünden zu vergeben auf der Erde«, sei es in einem Erzählreferat, z. B. in Mk 1,22: »Und sie waren außer sich über seine Lehre; denn er lehrte sie wie einer, der Vollmacht [exousia] hat-- und nicht wie die Schriftgelehrten.« 3 1. »Vollmacht« als machtpolitisches Konstrukt der Kaiserzeit So großartig die zitierten theologischen Erkenntnisse klingen, so einäugig sind sie; denn sie blenden-- mindestens-- die Hälfte der Wirklichkeit aus. In der Erfahrungswelt der Menschen, an die sich die neutestamentlichen Schriften richten, ist »Vollmacht« nämlich im höchsten Grad politisch besetzt. Im Imperium Romanum, in dessen Herrschaftsbereich alle Adressaten des Neuen Testaments leben, bezeichnet exousia die unumschränkte Befehlsgewalt des jeweiligen Kaisers. Konstrukteur dieser auf eine einzige Person konzentrierten »Allmacht« im Rahmen der Römischen Republik ist kein anderer als Augustus. Ursprünglich einander zugeordnete und sich gegenseitig kontrollierende Kompetenzen, die bewusst in dualer bzw. kollegialer Besetzung vergeben wurden, hat er im Kontext der Bürgerkriegswirren und der durch ihn zustande gebrachten Konsolidierung des Reiches sukzessiv auf seine Person zu konzentrieren und hierarchisch zu strukturieren verstanden. Genetisch gesehen, hat Augustus seine im Bürgerkrieg usurpierte Machtstellung zu legitimieren versucht. Den dafür eigentlich angemessenen Titel rex anzunehmen, hat er bewusst vermieden und sich stattdessen als princeps (»Erster«) bezeichnet. Dabei handelt es sich um einen alten republikanischen Ehrentitel, mit dem die Zugehörigkeit zur Gruppe der einflussreichsten und vornehmsten Aristokraten in Rom zum Ausdruck gebracht wurde und der als ungeschriebenes Vorrecht mit sich brachte, im Senat vor allen anderen Mitgliedern das Wort ergreifen zu dürfen. Im Jahr 27 v. Chr. jedoch hat Augustus den Titel princeps auf seine eigene Person monopolisiert. 4 In seinem Rechenschaftsbericht (lat. Res Gestae), den Augustus kurz vor seinem Tod im Jahr 13 n. Chr. verfasst und als Testament hinterlegt hat, zeigt er sich äußerst bemüht, seine bewusst akkumulierte Herrschaftsgewalt, die alle Bereiche des öffentlichen Lebens umfasst hat, außenpolitisch (lat. imperium proconsulare) wie innenpolitisch (lat. tribunicia potestas), vom Geruch monarchischer Alleinherrschaft (lat. rex) abzusetzen und den Schein republikanischer Verfassung zu wahren: Er betont, dass ihm alle Amtsvollmacht im Konsens von Senat und Volk übertragen worden sei und er sogar gegen deren Willen eine Alleinherrschaft ausdrücklich abgelehnt habe: »Auch als unter den Konsuln M. Vinicius und Q. Lucretius [19 v. Chr.], später unter P. Lentulus und Cn. Lentulus [18 v. Chr.] und zum dritten Mal unter Paullus Fabius Maximus und Q. Tubero [11 v. Chr.] Senat und Volk von Rom einhellig meine Martin Ebner Die Rede von der »Vollmacht« Jesu im MkEv-- und die realpolitischen Implikationen Zum Thema »In der Erfahrungswelt der Menschen, an die sich die neutestamentlichen Schriften richten, ist ›Vollmacht‹ […] im höchsten Grad politisch besetzt.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 22 - 2. Korrektur 22 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Zum Thema Bestellung zum alleinigen, mit außerordentlicher Vollmacht ausgestatteten [lat. summa potestate solus] Hüter von Gesetz und Sitte betrieben, habe ich dies ebenso wenig wie irgendein anderes Amt angenommen, das mir in Widerspruch zu den Einrichtungen der Vorväter stehend angetragen wurde« (6). Weiterhin heißt es: »Später habe ich, gestützt auf meine konsularische Befehlsgewalt [lat. consulari cum imperio] […] allein eine Volkszählung durchgeführt« (8). Und schließlich gegen Ende des Dokumentes: »In meinem sechsten und siebenten Konsulat [28/ 27 v. Chr.], nachdem ich den Bürgerkriegen ein Ende gesetzt hatte, habe ich, der ich mit Zustimmung der Allgemeinheit zur höchsten Gewalt gelangt war, den Staat aus meinem Machtbereich [lat. ex mea potestate] wieder der freien Entscheidung des Senats und des römischen Volkes übertragen« (34). Nach dem Tod des Augustus wurde das Dokument im Senat verlesen und auf zwei Bronzetafeln vor seinem Mausoleum in Rom publiziert. Kopien des Textes wurden aber auch auf der Wand des Kaiserkulttempels in Ankyra, der Hauptstadt der Provinz Galatia, gefunden sowie Fragmente in Antiochia und in Apollonia in Pisidien. Vermutlich wurden auch in anderen Provinzen Abschriften aufgestellt. Schon daran erkennt man, dass der Text als Propaganda für die von Augustus geschaffene neue Staatsform des Prinzipats gedacht war. Für die Bevölkerung im Osten musste der lateinische Text ins Griechische übersetzt werden. In Ankyra ist die zweisprachige Version sehr gut erhalten. An allen Stellen, an denen im Lateinischen potestas bzw. imperium zu lesen ist, 5 steht im Griechischen exousia. Diese Assoziationen von »Vollmacht« sind es, die die Lebenswirklichkeit im Imperium Romanum »beherrschen«. Die Sachlage spitzt sich noch einmal zu, wenn wir uns auf das Markusevangelium konzentrieren. Denn gerade zu dessen Entstehungszeit um 70 n. Chr. wird das realpolitische Potenzial allumfassender exousia bis zum Anschlag ausgereizt und gleichzeitig staatsrechtlich präzise definiert: durch einen Emporkömmling, dem es durch geschicktes diplomatisches Lavieren im Osten und kluges Abwarten in den Bürgerkriegswirren nach dem Tod Neros gelungen ist, sich als vierter Kandidat im Rennen um den ersten Platz im Römischen Reich durchzusetzen- - gestützt auf die Legionen in Syrien, Ägypten und seine eigenen in Palästina, die ihn Anfang Juli 69 n. Chr. wenige Tage hintereinander als Kaiser ausgerufen und auf ihn den Treueid geschworen haben, nämlich den Truppengeneral Vespasian (Tac., Hist II 79-81). 6 Diese militärische Machtkonzentration, die zugleich versorgungstechnische Konsequenzen hatte-- mit Ägypten kontrollierte Vespasian die Kornkammer Roms--, wirkte wie ein Sog: Weitere Legionen in Moesien und Pannonien schlossen sich Vespasian an (Tac., Hist II 85 f.). Für ihn selbst war das die Grundlage für »vollmächtiges Handeln«: 7 Noch mitten im Machtkampf gegen den letzten verbliebenen Thronkandidaten Vitellius und lange bevor ihn der Senat am 21. Dezember 69 n. Chr., nachdem die Truppen des Vitellius endgültig geschlagen waren, endlich als Kaiser anerkannte, legte sich Vespasian bereits die Kaisertitulatur IMPERATOR CAESAR 8 samt dem Ehrennamen Augustus zu (Ende August 69 n. Chr.) 9 und stockte eigenmächtig den Senat in Rom mit seinen Anhängern und Unterstützern auf, 10 ohne die rechtliche Befugnis dafür zu haben (Tac., Hist II 82). Wenige Tage nach seiner offiziellen Anerkennung durch den Senat wurde in Rom schließlich aufgrund eines gemeinsamen Beschlusses von Volk und Senat, also durch den consensus universorum, ein Gesetz erlassen, das die allumfassende Verfügungsgewalt Vespasians-- nachträglich-- bestätigte und seine Reichweite ausdrücklich definierte: die sogenannte lex de imperio Vespasiani (CIL VI 930). 11 Die erhaltene zweite Tafel, der vermutlich die Anweisung zur Übertragung der tribunicia potestas und des imperium proconsulare an Vespasian auf Lebenszeit Prof. Dr. Martin Ebner, geb. 1956 in Schweinfurt/ Main, Studium der Katholischen Theologie in Würzburg, Tübingen und Jerusalem/ École Biblique, 1983 Priesterweihe und anschließender pastoraler Einsatz in der Diözese Würzburg, 1991 Promotion in Würzburg, 1991-1997 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Biblischen Institut der Universität Würzburg, 1997 Habilitation in Würzburg, 1997-1998 Lehrstuhlvertretung in Würzburg, 1998-2011 Professer für Exegese des Neuen Testaments an der Westfälischen Wilhelms- Universität Münster, seit 2011 Professor für Exegese des Neuen Testaments an der Rheinischen Friedrich- Wilhelms-Universität Bonn. Veröffentlichungen zu Jesus, Paulus, den Evangelien und ihrem Umfeld im Imperium Romanum. Martin Ebner Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 23 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 23 Martin Ebner Die Rede von der »Vollmacht« Jesu im MkEv-- und die realpolitischen Implikationen voranging, zählt die einzelnen Sachgebiete auf, in denen die Handlungsfreiheit des Vespasian mit derjenigen des Augustus und der ihm folgenden legitimen Kaiser Tiberius und Claudius gleichgestellt sein sollte: Außenpolitik, Legislative und Personalpolitik; dem folgt ein Passus über die generelle Entscheidungsfreiheit, sofern die entsprechenden Maßnahmen dem Wohl des Staates dienen, 12 und eine rückwirkende Anerkennung aller Entscheidungen Vespasians vor diesem Gesetzeserlass. Natürlich kann niemand eine derartige allumfassende Vollmacht auch selbst voll und ganz in die Hand nehmen. Delegation ist nötig. Für die römische Amtsvollmacht-Delegation ist es typisch, dass sie lokal und zeitlich beschränkt vergeben wird, an erster Stelle an die Statthalter: für eine bestimmte Provinz gewöhnlich für ein Jahr, zusätzlich spezifiziert durch eine vom Kaiser ausgestellte Bestallungsurkunde (lat. mandata principis) 13 . Die Statthalter ihrerseits geben wiederum beschränkte Vollmachtsbefugnis nach unten weiter. Reflexe dieser vertikal verlaufenden Herrschaftsstrukturen finden sich mehrfach in unseren neutestamentlichen Schriften: angefangen beim dogma des Kaisers Augustus, dass sich die ganze bewohnte Erde in Steuerlisten einzutragen habe (Lk 2,1), über die Sklaven, die von ihrem König exousia über zehn bzw. fünf Städte erhalten (Lk 19,17.19), 14 und den römischen Hauptmann, der seine Position in der exousia- Hierarchie präzise zu beschreiben versteht und vor Jesus stolz die Wirkmächtigkeit seiner delegierten exousia im Blick auf die Reaktion der ihm unterstellten Soldaten bzw. seines Haussklaven in Worte bringt (Mt 8,9; Lk 7,8), bis hin zu Pilatus, der Jesus gegenüber seine exousia über die Kapitalgerichtsbarkeit meint ausspielen zu können (Joh 19,10). Aus dem Blickwinkel all derer, die »unter« exousia stehen, also der Provinzialen, die Rom unter seinen Herrschaftsbereich gebracht hat, sieht die römische Vollmachtsrealität noch einmal anders aus: Den ehemaligen Stadtstaaten und Königreichen ist jegliche außenpolitische Kompetenz entzogen; Rom sind jährliche Zahlungen zu entrichten als »Miete« für das Privileg, auf römischem Grundbesitz leben zu dürfen bzw. als Gegenleistung für den »Schutz« durch römische Truppen, wie die ideologische Begründung für die Zwangsabgaben lautet. 15 Symptomatisch ist die fiktive Rede, die der jüdische Historiker Josephus dem jüdischen König Agrippa in den Mund legt, um die Jerusalemer Bevölkerung vor den Folgen eines Aufruhrs gegen Rom zu warnen (Bell II 345-401). Der Tenor der Rede besteht darin, mit Hilfe vieler Exempel zu belegen, dass es völlig unmöglich ist, gegen die Hegemonie (gr. hēgemonia) Roms erfolgreich Widerstand zu leisten (357). In immer wiederkehrenden Formulierungen wird gesagt, dass auch die tapfersten Völker die Römer als ihre Herren (gr. despotai) anerkennen (359), ihnen Gehorsam leisten (gr. hypakouein: 368), ja sogar vor den Rutenbündeln, den Zeichen der Amtsvollmacht der römischen Magistrate, in die Knie gehen (gr. proskynein: 365.366). Nachdem sie von den Römern »unterjocht« (gr. douleuesthai: 375) worden sind, leisten sie ihnen Sklavendienste (gr. douleuein: 358.361.373.377.379) und zahlen Tribut (368.383.385 f.). Süffisanterweise lässt Josephus detailliert aufzählen, wie viel Mann römischer Besatzung bzw. wie viele Legionen jeweils erforderlich sind, um die »Bereitschaft« zur Tributzahlung zu gewährleisten (367 f.369.373.375.377 f.). Zusammenfassend rät Agrippa: »Man muss die Exousia-Träger [gr. exousiai] pflegen und darf sie nicht reizen! « (350). Was ergibt sich? »Vollmacht« (exousia) ist im 1. Jh.- n.- Chr. ein staatsrechtlich legitimiertes Konstrukt, das einem Einzelnen, princeps genannt, die Befugnis erteilt, in allen Bereichen des öffentlichen Lebens seine Entscheidungen wirksam durchzusetzen und sich dafür Personen seines Vertrauens zu bedienen, denen er Teile seiner allumfassenden Vollmacht lokal und zeitlich beschränkt delegiert. Reale Basis dieser ungeheuren Befehlsfülle ist die militärische Macht, die sich auf die Loyalität der römischen Legionen stützt, wobei der Prätorianergarde, einer schnellen und einflussreichen in Rom stationierten Eliteeinheit, die dem Kaiser als Eskorte diente, besonderes Gewicht zukommt. Auf diesem komplexen Machtkonstrukt, das unter dem Label exousia läuft, und das sich, nüchtern betrachtet, vor allem der militärischen Einschüchterung bedient, beruhen die Erfolge der römischen Kaiser im 1. Jh.-n.-Chr. 2. Mk 10,42-44 und Dominanzverzicht als gesellschaftliche Vision Diejenige Passage im Markusevangelium, in der die machtpolitischen Strukturen des Römischen Reiches am deutlichsten aufgegriffen werden, 16 ist sicher Mk 10,42-44: »Auf [dem] komplexen Machtkonstrukt, das unter dem Label exousia läuft, und das sich, nüchtern betrachtet, vor allem der militärischen Einschüchterung bedient, beruhen die Erfolge der römischen Kaiser im 1. Jh.-n.-Chr.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 24 - 2. Korrektur 24 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Zum Thema 42 Und Jesus rief sie [sc. die Zwölf ] zusammen und sagt ihnen: Ihr wisst, dass diejenigen, die über die Völker zu regieren scheinen, den Herrn nach unten herauskehren, und ihre Großen ihre Vollmacht nach unten ausspielen. 43 Nicht so aber ist es bei euch. Sondern: Wer Großer werden will unter euch, sei euer Diener, 44 und wer Erster unter euch sein will, sei aller Sklave. Mit oidate (»ihr wisst«) werden in dieser Jüngerbelehrung Erfahrungswerte abgerufen. Die Rede vom »den- Herrn-nach-unten-Herauskehren« (gr. kata-kyrieuein) bzw. vom »Vollmacht-nach-unten-Ausspielen« (gr. katexousiazein) greift die typischen imperialen Termini auf-- und zwar aus der Sicht derer, die römische Magistrate als Herren anerkennen müssen bzw. unter ihrer exousia stehen. Mit der Zuordnung der Großen zu den jeweils Regierenden (»ihre Großen«) wird ganz selbstverständlich auf das Delegationssystem rekurriert. Gleichzeitig wird durch die Beifügung von dokountes (»die zu regieren scheinen«) das sich autonom erklärende Herrschaftsgebaren hinterfragt. 17 Die avisierten Gemeindestrukturen werden im spiegelbildlichen Kontrast dazu formuliert. Dabei wird die Herrschaftsterminologie chiastisch aufgegriffen: im inneren Rahmen »die Großen« (gr. hoi megaloi) durch »Großer« (gr. megas) in einer semantischen Linie, im äußeren Rahmen »die zu herrschen meinen« durch »Erster« in einer sachlichen Linie. Die Bezeichnung »Erster« (gr. prōtos) passt ausgezeichnet zur Vorstellung vom kaiserlichen princeps, der als Herr über alle Völker des Reiches agiert. »die zu regieren scheinen« »den-Herrn-nachunten-herauskehren« »ihre Großen« »Vollmacht-nachunten-ausspielen« »Großer« »Erster« »Diener« »Sklave« Die Tätigkeiten jedoch, die unter den Jesusjüngern jemanden zu einem »Großen« bzw. »Ersten« machen, sind in schärfstem Kontrast zum Bild des römischen Machtapparats formuliert: »Großer« wird man nicht dadurch, dass man delegierte Vollmacht nach unten ausübt und damit die behauptete Position demonstriert, sondern durch die Funktion des diakonos, der von anderen Aufträge entgegennimmt und sich für diverse Dienstleistungen einsetzen lässt, 18 wie es ein Diener bei Tisch in der Antike paradigmatisch vor Augen führt. Und: »Erster« wird man in der christlichen Gesellschaft nicht dadurch, dass man sich allen anderen gegenüber als »Herr« zeigt und Kraft militärischer Überlegenheit Dominanz ausübt, sondern dadurch, dass man als Sklave für alle anderen fungiert, was bedeutet: sich befehlen lässt und jeglichem Befehl gehorcht. Eine derartige Zuordnung von gesellschaftlicher Stellung und Rollenverhalten, wie sie im Markusevangelium angezielt wird, ist in römischer Sicht ein absolutes Paradox. Sowohl »Tischdiener« als auch »Sklaven« gehören auf die Seite der Beherrschten-- und zwar innerhalb der Haus-Hierarchie. Jeder Sklave ist einem Herrn zugeordnet; gewöhnlich ist es der jeweilige Hausvorstand, der pater familias; innerhalb der Hausordnung ist ein Sklave u. a. für die Funktion eines diakonos (»Tischdieners«) prädestiniert. Ein »Großer« bzw. ein princeps haben auf staatspolitischer Ebene die Dominanz zu zeigen, die ihnen ihre jeweilige exousia zuschreibt. Und die römische Gesellschaft hat sensibel registriert, wenn das nicht der Fall war. Von Kaiser Claudius wird kolportiert, er habe sich dem Willen seiner Freigelassenen und Frauen gefügig gezeigt. Das Urteil Suetons, terminologisch scharf gefasst, lautet: Non principem, sed ministrum egit-- »Er agierte nicht wie der Erste, sondern wie ein Diener« (Claud 29,1; vgl. 25,5). In der christlichen Gemeindevision ist alles auf den Kopf gestellt-- und doch gut römisch gedacht: An erster Stelle betrifft das die Verbindung von Haus und Staat. Schon bei Aristoteles ist das Haus die kleinste Einheit der Polis, bei römischen Theoretikern entsprechend des Staates-- und ab Augustus des Imperiums. 19 Die Ordnung des Staates baut sich auf der Ordnung im Haus auf. Soll der Staat funktionieren, müssen die Strukturen im Haus stimmen. Augustus hat das an seiner eigenen Familie vorexerziert 20 und sich-- analog zur Bezeichnung des Hausvorstands als pater familias-- den Ehrennamen pater patriae verleihen lassen (Res Gestae 35). Die christliche Vision setzt also an der richtigen Stelle an: im Haus. Sie probt den Staat im Haus. Aber sie baut dieses Haus nicht auf imperium/ exousia-Strukturen, sondern auf ministerium/ diakonia-Strukturen. Und noch in einem zweiten Punkt denkt die christliche Gemeindeversion ganz in römischen Bahnen: Am staatsrechtlich legitimierten und tatsächlich ausgeübten Interaktionsverhalten wird die gesellschaftliche Position bemessen und abgelesen. Wem allumfassende exousia zusteht, die er sich natürlich durch militärische Überlegenheit ertrotzt hat (wie an Vespasian zu sehen ist), und »Eine derartige Zuordnung von gesellschaftlicher Stellung und Rollenverhalten, wie sie im Markusevangelium angezielt wird, ist in römischer Sicht ein absolutes Paradox.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 25 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 25 Martin Ebner Die Rede von der »Vollmacht« Jesu im MkEv-- und die realpolitischen Implikationen wer sie auch voll ausnutzt (was im Markusevangelium »den Herrn-nach-unten-herauskehren« genannt wird), der ist princeps/ Erster. Und wer die vom princeps delegierte Vollmacht entsprechend einzusetzen weiß (was im Markusevangelium »exousia-nach-unten-ausspielen« genannt wird), gehört zu den Großen. Umgekehrt kennzeichnet »Gehorsam zeigen« bzw. »Sklavendienste leisten« diejenigen, die einem mit entsprechender exousia ausgestatteten Kyrios (»Herrn«) unterstellt sind und auf der Seite der Beherrschten stehen. Auch in der christlichen Gemeindevision wird die gesellschaftlich zuerkannte Position am Interaktionsverhalten abgelesen und bemessen. Nur gelten hier andere Kriterien. Wer sich anderen gegenüber wie ein Beherrschter verhält, ohne dass er durch die exousia eines menschlichen Herrn dazu gezwungen wird (den es in diesem Gesellschaftsmodell gar nicht gibt); wer also freiwillig die Rolle eines diakonos bzw. Sklaven einnimmt, der ist ein Großer bzw. als Sklave aller entsprechend princeps/ Erster. Man sollte deshalb mit Blick auf Mk 10,42-44 nicht von Statusverzicht 21 reden, sondern von Dominanzverzicht-- und zwar-- als Voraussetzung für die Statuszuschreibung. Im christlichen Gesellschaftsmodell nach Mk 10,42-44 ist nämlich eine menschliche Herrscherrolle, die mit exousia ausgestattet ist, weder vorgesehen noch übt derjenige, dem der Status eines Großen bzw. eines princeps zugesprochen wird, exousia über andere aus. Aber gerade dieses bewusste Verzichtsverhalten auf exousia ist die Voraussetzung, sozusagen die Legitimation dafür, den Status eines Großen bzw. eines princeps zugesprochen zu bekommen. Mk 10,42-44 bietet also ein im Spiegel der kaiserzeitlichen Machtstrukturpyramide entworfenes Alternativmodell, das die gesellschaftliche Bedeutung einer Person, speziell ihre exponierte Stellung, gerade an deren Dominanzverzicht festmacht- - im Kontrast zum römischen Bewertungssystem, das auf die Demonstration von imperium/ exousia zentriert ist. Der absolute Verzicht darauf, über andere Befehlsgewalt (exousia) auszuüben und stattdessen freiwillig die Dienstleistungsrolle zu übernehmen, die in der römischen Welt eigentlich denjenigen aufoktroyiert wird, die »unter exousia stehen«, qualifiziert in der christlichen Gemeinde für diejenige Stellung, die im römischen System mit der Figur verbunden ist, die über alle und über alles Macht hat und diese Macht zur Behauptung der eigenen Position auch demonstrativ ausübt: die Stellung des princeps/ Ersten. Insofern diese Sozialordnung im Haus erprobt wird und mit dem Evangelium in aller Welt verkündet werden soll (Mk 13,10; 14,9), kann man von einer gesellschaftlichen Vision sprechen, die als gelebtes Gegenmodell die römische Machtpyramide unterhöhlen kann und soll. 3. Machtgelüste in der markinischen Gemeinde Wenn man auf den narrativen Kontext von Mk 10,42- 44 hört, dann kommt die Motivation dafür, ein derart markantes Gegenmodell zur römischen Machtpolitik zu entwerfen, gerade nicht von außen, sondern von innen. Es geht nicht darum, Aufruhr im Römischen Reich zu schüren, sondern vielmehr um die Sorge, dass römische Machtstrukturen sich auch in christliche Gemeindestrukturen einschleichen; dass man hofft, auf Grund rechtzeitiger Loyalitäts- und Konformitätsbezeugungen gegenüber dem jeweils aussichtsreichsten Kandidaten im Kampf um die absolute Macht mit einer Gratifikation durch entsprechende Positionen rechnen zu dürfen, sobald dieser sich durchgesetzt hat-- also ganz ähnlich, wie man das bei den Gefolgsleuten Vespasians erlebt hat. Im narrativen Duktus des Markusevangeliums wird diese Einstellung an den beiden Zebedäus-Söhnen Johannes und Jakobus plastisch vor Augen gestellt. Die Passage Mk 10,35-40-- unmittelbar vor der eben besprochenen Jüngerbelehrung-- ist wie eine Audienzszene gestaltet. 22 Das Gesuch der Zebedaiden lautet: »Gib uns, dass-- einer zu deiner Rechten und einer zu deiner Linken- - wir sitzen/ thronen in deiner Herrlichkeit« (V. 37). Die beiden Zebedaiden wollen »Große« werden. Sie schielen auf die beiden ranghöchsten Ministerposten im Reich Jesu. Sie haben also schon die Zeit vor Augen, in der er sich als König der Gottesherrschaft durchgesetzt hat und, wie es in Mk 8,38 formuliert wird, »in der Herrlichkeit seines Vaters zusammen mit den heiligen Engeln kommt«; anders gesagt: wenn er endgültig die allumfassende göttliche Vollmacht übertragen bekommen hat. Für diesen Augenblick wollen sich die Zebedaiden jetzt schon die wichtigsten Positionen sichern und sind auf ausdrückliche Nachfrage hin bereit, in völliger Loyalität zu Jesus, ja geradezu in Konformität zu ihm alles auf sich zu nehmen, was auch »Mk 10,42-44 bietet also ein im Spiegel der kaiserzeitlichen Machtstrukturpyramide entworfenes Alternativmodell, das die gesellschaftliche Bedeutung einer Person, speziell ihre exponierte Stellung, gerade an deren Dominanzverzicht festmacht« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 26 - 2. Korrektur 26 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Zum Thema ihm bevorsteht (Mk 10,38 f.), sogar den gewaltsamen Tod. 23 Trotzdem wird ihr Ansinnen schroff abgelehnt. Anders als die eifrigen Jünger sich das- - in Analogie zur princeps-Rolle- - von Jesus erhoffen, nimmt er jedoch diese Art höchster Delegationsvollmacht für sich nicht in Anspruch, sondern überlässt sie-- verhüllt im passivum divinum ausgedrückt-- Gott allein: »Das Sitzen aber zu meiner Rechten oder zu meiner Linken steht nicht mir an, zu geben, sondern denen es bereitet worden ist« (V. 40). Jesus seinerseits schaut lediglich auf den Zeitraum vor der machtvollen Durchsetzung der Gottesherrschaft, in dem jedoch deren gesellschaftliche Strukturen grundgelegt werden können, eben entlang jenem Modell von Mk 10,43 f. Und hier werden präzise die Bedingungen für diejenigen Positionen genannt, die Jakobus und Johannes anstreben. Sie werden nicht von oben »mit Vollmacht« vergeben, sondern »ver-dient«. Sie resultieren aus dem freiwilligen, dienstbereiten Engagement für andere-- von außen, mit römischen Augen betrachtet: in der Übernahme einer diakonosbzw. Sklavenrolle. So sieht in den Augen Jesu echte Nachfolge aus, Loyalität zu bzw. Konformität mit ihm. Und das wird schließlich aus Mk 10,45, dem Begründungssatz für das Gemeindemodell, völlig klar: »Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich bedienen zu lassen, sondern um (selbst) zu dienen und sein Leben zu geben als Lösegeld für viele.« Demgemäß ist die Haltung des freiwilligen Einsatzes für andere in der Dienerrolle auch für die Lebenshingabe Jesu am Kreuz entscheidend. Und das macht den Unterschied zum Ansinnen der Zebedaiden aus: Sie sind bereit, wie Jesus zu sterben, aber mit dem Ziel, dadurch dann selbst »Große« zu werden, was konsequenterweise bedeutet: »sich bedienen zu lassen«, also eine Rolle auf Seiten der Herrscher mit Befehlsvollmacht einzunehmen. Jesus versteht auch seinen gewaltsamen Tod als Dienstleistung für andere: »als Lösegeld für viele«. Im Hintergrund steht die Vorstellung vom Sklavenfreikauf: In der römischen Gesellschaft konnte sich ein Sklave durch entsprechende Dienstfertigkeit und ökonomisches Geschick ein eigenes Vermögen ansammeln, peculium genannt. 24 Es blieb stets Besitz seines Herrn, wurde aber vom Sklaven verwaltet. War die Summe entsprechend angewachsen, konnte er sich damit freikaufen und erhielt, leicht abgestuft, das römische Bürgerrecht. Diese Freikaufsumme, das »Lösegeld«, das gemäß Mk 10,45 dem Sterben Jesu entspringt, setzt dieser jedoch nicht zu seinen eigenen Gunsten, zu seiner Statuserhöhung ein, sondern für andere: um sie herauszukaufen aus sklavenähnlichen Verhältnissen in die neue, dominanzfreie Sphäre der christlichen Gemeinde à la Mk 10,43 f. Gerade in dieser Rolle des Dienstleisters ohne Abstriche bis zum Ende und ohne jegliche Berechnung wird Jesus-- von Gott-- als »Großer« bzw. als princeps/ Erster bewertet. Sichtbar wird das beim endzeitlichen Kommen des Menschensohnes »in der Herrlichkeit seines Vaters« (Mk 8,38). 4. Der andere Umgang mit exousia/ Vollmacht Angesichts der schroffen Abweisung, eventuelle Machtpositionen in der vollendeten Gottesherrschaft zu vergeben, ist es erstaunlich, dass im Markusevangelium auf der anderen Seite davon erzählt wird, dass Jesus bereits für das Hier und Jetzt an seine Jünger exousia/ Vollmacht delegiert, was im Umkehrschluss bedeutet, dass er nicht nur selber über eine umfassendere Vollmacht verfügt, sondern auch über die entsprechende Vollmachtsdelegation. Die Vollmachtsdelegation findet bei der Aussendung der Jünger statt: »… Und er gab ihnen exousia über die unreinen Geister« (Mk 6,7). Jesus seinerseits demonstriert seine Vollmacht zur Sündenvergebung (Mk 2,10-12), über den Sabbat (Mk 2,28) und über die Naturgewalten (Mk 4,39). Insofern wird das für das 1. Jh.-n.-Chr. typische Kaiser-Delegationsmodell voll abgebildet. In römischen Kategorien gedacht, hat Jesus übergeordnete Vollmacht, und seine Jünger fungieren als »Große« mit von ihm delegierter Vollmacht. Wie soll das aber mit den Kriterien von Mk 10,43 f. zusammengehen, wonach gerade der Dominanzverzicht, also der Verzicht auf den Einsatz von exousia den »Großen« ausmachen soll? Können da die Jünger überhaupt ihrer übertragenen Aufgabe gerecht werden? Diese scheinbare Komplikation führt zur Vorstellung von einem anderen Umgang mit exousia gemäß dem Markusevangelium. Am Programmsatz Mk 10,45 und der prinzipiellen Dienstleistungsrolle in der Nachfolge Jesu wird nicht gerüttelt. Die genannten Bereiche der exousia Jesu sind entsprechend abgesteckt und der spezifische Einsatz seiner Dienstleistungs-exousia wird in fast jeder Episode des Evangeliums erzählt, insbesondere in den Wundergeschichten. Der allererste öffentliche Auftritt Jesu in der Synagoge von Kafarnaum (Mk 1,21-28) ist programmatisch auf das exousia-Thema hin zentriert. Erzählt wird, dass die Leute in der Synagoge über Jesu Lehre außer Fassung geraten, »denn er lehrte sie wie einer, der exousia hat, und nicht wie die Schriftgelehrten« (V. 22). Nachdem Jesus einen unreinen Geist angeherrscht hat, zu verstummen und aus dem Menschen herauszukommen, und es genauso geschieht, wie er befohlen hat, fasst alle Erschrecken, und sie beginnen Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 27 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 27 Martin Ebner Die Rede von der »Vollmacht« Jesu im MkEv-- und die realpolitischen Implikationen untereinander zu diskutieren: »Was ist das? Eine neue Lehre in Vollmacht: sogar den unreinen Geistern gebietet er, und sie gehorchen ihm« (V. 27). Diese Reaktion der Menge hat ihrerseits bei den Exegeten für Verwunderung gesorgt. Was soll denn die Lehre Jesu, fragen sie sich, mit der erfolgreichen Dämonenaustreibung zu tun haben? Vor den Augen der Leute fand doch eine machtvolle Dämonenaustreibung statt. Warum staunen sie dann über Jesu Lehre? Ja, warum beziehen sie die »Lehre in Vollmacht« ausdrücklich auf die Dämonenaustreibung: »… sogar unreinen Geistern gebietet er…«? Literarkritisch lässt sich die Sache leicht lösen: 25 Der Erzähler Markus hat einen Lehrrahmen um die traditionelle Dämonenaustreibungsgeschichte (V. 23-26) gelegt und das Lehrthema auch in die abschließende Akklamation (V. 27; vgl. V. 22) eingetragen. Ursprünglich war sie vermutlich analog zu Mk 4,41 formuliert und ebenfalls auf die Person Jesu bezogen: »Wer ist dieser, dass …«. Damit ist die Genese des Textes sicher korrekt erklärt, aber der Endtext noch lange nicht verstanden. Die Pragmatik dieser bewusst bearbeiteten Präzedenzgeschichte des Evangeliums besteht gerade darin, die erfolgreiche Austreibung auf die neue Lehre zurückzuführen-- und zwar im Blick auf deren besondere Qualität, die eben darin besteht, dass es sich um eine Lehre »mit/ in exousia« handelt. Insofern exousia die Macht ist, »die zu sagen hat« 26 , so dass andere ohne Widerspruch ausführen müssen, was befohlen wird, ist die Dämonenaustreibung ein willkommenes Präsentationsprojekt für deren Demonstration. Dass die Menge das Geschehen genau in dieser Perspektive rezipiert, zeigt die Akklamation: »… sogar unreinen Geistern gebietet er, und sie gehorchen ihm« (V. 27). Damit ist die Frage nach dem Ursprung dieser Vollmacht eröffnet, die das ganze Evangelium durchzieht, 27 wobei nur der Leser aus dem Initium Mk 1,1-3 weiß, dass Jesu Vollmacht von allerhöchster Stelle kommt. Aber es bleibt noch eine Leerstelle: Worin besteht eigentlich der Inhalt der vollmächtigen Lehre Jesu und was hat dieser Inhalt mit der erfolgreichen Dämonenaustreibung zu tun? Darin besteht ja das besonders unverständliche Zentrum dieser ungewöhnlichen Kombination von vollmächtiger Lehre und Dämonenaustreibung in Mk 1,21-28. Dazu sind zwei Erläuterungen nötig. (1) Im Galiläa-Teil des Evangeliums (Mk 1,16-8,26) ist zwar ständig davon die Rede, dass Jesus lehrt, 28 aber der Inhalt der Lehre wird zunächst nicht erläutert. Aufgrund der summarischen Vorankündigung in Mk 1,15 muss die Lehre mit dem Verhalten der Menschen angesichts der kommenden Gottesherrschaft zu tun haben. Im Gleichniskapitel (Mk 4,1-34) wird die Rede über das Wachsen der Gottesherrschaft als Aspekt der Lehre vorgetragen. Der eigentliche Kern der Lehre jedoch wird erst im Mittelteil des Evangeliums, auf dem Weg nach Jerusalem (Mk 8,27-10,52) versprachlicht: in den Jüngerbelehrungen, die über den recht verstandenen Nachfolgeweg in Konsequenz des Passionswegs Jesu aufklären und ihn als »Dienerweg« beschreiben-- und zwar jeweils auf dem Hintergrund eines missverstandenen Nachfolgeweges. Das geschieht einmal in Kurzform (Mk 9,31-35) und einmal-- in der bereits besprochenen Passage-- in Langform (Mk 10,33-45). Es geht um den freiwilligen diakonos-Dienstleistungsweg, der in Kontrast zu den römischen Herrschaftsstrukturen auf das »Herunter-Herrschen«, also auf die Demonstration der verliehenen exousia verzichtet. Diese zentralen Inhalte der Lehre sind sozusagen rückwirkend auch in die Geschichte vom ersten öffentlichen Auftreten Jesu in der Synagoge von Kafarnaum einzutragen. (2) Nach gemeinantiker Vorstellung sind Dämonen parasitäre Besatzer, die-- wie militärische Besatzer-- die Steuerungsfunktionen eines Organismus in die Hand nehmen, die jeweiligen Menschen beherrschen und sie einem fremden Willen unterstellen, dem die »Untertanen« dann gehorchen müssen. 29 Dämonische Herrschaft ist also ein Paradigma für das »Herunter-Herrschen«- System, das Jesus gemäß Mk 10,42-44 für seine Gemeinde strikt ablehnt. Mit diesen beiden Hintergrundinformationen dürfte es verständlicher werden, warum in Mk 1,21-28 durch die Lehre Jesu Dämonen ihren Standort aufgeben müssen und warum man ausgerechnet daran sehen kann, dass Jesu Lehre Vollmacht hat: Diese Lehre bewirkt, was sie sagt. Die »Herunter-Herrscher« werden hinausgeworfen. Der Zusammenhang von Jesu neuer Lehre von einem Gesellschaftsmodell, aus dem jegliches »Herunter-Herrschen« verbannt ist, und der ihm verliehenen Vollmacht zur Durchsetzung dieser Lehre wird in der ersten Wundergeschichte des Evangeliums durch die erfolgreiche Austreibung von Dämonen narrativ plastisch entfaltet und vom Publikum punktgenau rezipiert. Da ist einer, der nicht nur eine neue Gesellschaftsordnung lehrt, in der sich die Gottesherrschaft verwirklicht, sondern da ist einer, der auch Vollmacht hat, diese Ordnung durchzusetzen, die »Herunter-Herrscher« hinauszuwerfen. Aber-- und das ist entscheidend-- Jesus spielt seine Vollmacht nur gegenüber Dämonen aus, die auf Menschen herunter-herrschen, nicht gegenüber Menschen selbst. Die müssen sich von seiner Lehre überzeugen lassen und sie- - als Nachfolger- - freiwillig befolgen. Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 28 - 2. Korrektur 28 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Zum Thema Schwierig kann es nur werden, wenn Menschen ihrerseits von Jesus Vollmacht übertragen bekommen, eben wie die Jünger bei der Aussendung. Narrativ wird an ihnen durchgespielt, welche Verführungsmacht übertragene Vollmacht ausübt, aber auch: welche positiven Effekte von übertragener Vollmacht ausgehen können, wenn sie nur im Sinn Jesu eingesetzt wird. Auch dafür Beispiele: Unmittelbar im Anschluss an die Jüngerbelehrung von Mk 9,31-35 stellt Jesus ein »Kleines« (gr. paidion) in die Mitte, nimmt es in den Arm und erklärt, dass man letztlich ihn selbst bzw. den, der ihn gesandt hat, gastlich aufnimmt, wenn man ein solches Kind aufnimmt (Mk 9,36 f.), was gleichzeitig bedeutet, dass man durch ein solches Verhalten selbst ganz groß wird, weil die Größe des Gastes auf den Gastgeber immer abfärbt. Diese erläuternde Lehre, so eindringlich sie auch vorgetragen ist, bleibt jedoch für die Praxis der Jünger wirkungslos. Denn als man wenig später »Kleine« (gr. paidia) zu Jesus zu bringen versucht, »herrschen die Jünger sie an« (Mk 10,13); sie verhalten sich den Kleinen gegenüber, wie sich Jesus Dämonen gegenüber verhält (vgl. Mk 1,25). 30 Anders gesagt: Obwohl die Jünger die exousia als Befehlsgewalt über Dämonen bekommen haben, um Menschen von diesen »Herunter-herrschern« zu befreien (Mk 6,7), spielen sie die delegierte exousia gegenüber Menschen aus, herrschen auf Kleine herunter und praktizieren damit genau das, was sie im römischen Machtsystem zu »Großen« machen würde. Sie spielen im falschen System. Sie denken und verhalten sich gemäß den Regeln des Systems der »Herunter-herrscher«. Das ist immer die Versuchung delegierter exousia. Umgekehrt: Als die Jünger einem verzweifelten Vater mit ihrer Vollmacht über die unreinen Geister Hilfe bringen könnten, versagen sie kläglich (Mk 9,28). Als sie jedoch einen »fremden« Exorzisten beobachten, der im Namen Jesu erfolgreich Dämonen austreibt, wollen sie Jesus dazu veranlassen, ihn daran zu hindern, »weil er uns [! ] nicht nachfolgt« (Mk 9,38). Als Begründungsstruktur steht dahinter das römische Delegationsmodell, das mit einem Monopolanspruch einhergeht: Vollmacht ist nur dann legitim anwendbar, wenn sie vom Kaiser bzw. seinen Statthaltern delegiert ist. Bei Jesus legitimiert sich exousia dadurch, dass sie Menschen dient. Exousia Kleinen gegenüber auszuspielen, um dadurch als »Großer« zu erscheinen, und auf das Monopol der Vollmachtdelegation zu pochen, um durch dieses Alleinstellungsmerkmal die eigene Machtstellung zu sichern, damit werden an den Figuren der Jünger zwei typische Aspekte der Verführungsmacht von exousia beleuchtet. Aber zumindest an einer Stelle werden auch die positiven Effekte delegierter Vollmacht gezeigt: Als die Jünger nach der Aussendung wieder zu Jesus zurückkehren und ihm von ihrer ersten Mission berichten wollen, können sie sich der Menschen nicht erwehren, die kommen und gehen, so dass sie sich mit einem Boot an einen menschenleeren Ort zurückzuziehen versuchen. Aber ihr Fluchtversuch wird sofort erspäht und längst vor ihrer Ankunft warten schon wieder Mengen auf sie, die aus allen Städten zusammenlaufen (Mk 6,30-33). Mit dieser Szene wird der positive Bumerangeffekt vorgeführt, der sich einstellt, wenn exousia als Dienstleistungs-exousia zugunsten von bedrängten Menschen eingesetzt wird. So jedenfalls wird es zuvor von den Jüngern referiert: »Und sie warfen viele Dämonen hinaus und salbten mit Öl viele Schwache und pflegten sie« (Mk 6,13). Auf der pragmatischen Ebene wird damit zugleich das Gesellschaftsmodell Jesu plausibilisiert: Solche »Großen« und solche exousia, das ist es, was Menschen anzieht. 5. Die »neue Politik« des Markusevangeliums Die »neue Politik« des Markusevangeliums besteht darin, dass im Kontrast zu der auf Herrschaftsausübung und Vollmachtdelegation gründenden Machtstruktur des Römischen Reiches ein Gesellschaftsmodell entworfen wird, das auf Machtausübung gegenüber Menschen völlig verzichtet und an Stelle dessen das Dienstleistungsengagement für andere setzt, dieses Verhalten aber mit den gleichen positiven gesellschaftlichen Wertungen versieht, wie sie in der römischen Welt nur denen zustehen, die ihre exousia bewusst gegenüber Menschen ausspielen. Was die Durchsetzungskraft dieser auf Machtdurchsetzung verzichtenden »Politik« angeht, setzt das Markusevangelium auf die narrative Propaganda des Vorbilds Jesus sowie auf die intrinsische Motivation derer, die auf der Seite der Beherrschten die römische Machtpolitik zur Genüge kennen. Obwohl die Gesellschaftsvision Jesu im Markusevangelium speziell für die Nachfolgergemeinde konzipiert ist, wird damit zugleich die Keimzelle einer gesellschaftlichen Veränderung (von unten) gelegt. Zuallererst aber ist es das Ziel der jesuani- »Schwierig kann es nur werden, wenn Menschen ihrerseits von Jesus Vollmacht übertragen bekommen, eben wie die Jünger bei der Aussendung. Narrativ wird an ihnen durchgespielt, welche Verführungsmacht übertragene Vollmacht ausübt« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 29 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 29 Martin Ebner Die Rede von der »Vollmacht« Jesu im MkEv-- und die realpolitischen Implikationen schen Jüngerbelehrungen, die christlichen Gemeinden vor einer Infektion durch das römische Machtdenken zu bewahren und im narrativen Spiegel der Jüngerfiguren den eigenen Gemeindemitgliedern die Verführungsmacht von exousia vor Augen zu halten. Anmerkungen 1 K. Scholtissek, Die Vollmacht Jesu. Traditions- und redaktionsgeschichtliche Analysen zu einem Leitmotiv markinischer Christologie (NTA.NF 25), Münster 1992, 290 f.293. 2 T. Söding, Die Verkündigung Jesu-- Ereignis und Erinnerung, Freiburg i. Br. 2011, 267.269 unter der Überschrift »Die Macht und Ohnmacht Jesu«. 3 Nach C. Niemand, Jesus und sein Weg zum Kreuz. Ein historisch-rekonstruktives und theologisches Modellbild, Stuttgart 2007, 140 f., macht Markus das »konfliktträchtige Anders-sein« am Begriff »Vollmacht« (exousia) fest und formuliert »durch die verwendete Begrifflichkeit natürlich bewusst durchsichtig auf ein christliches Bekenntnis hin: Wer sich mit Jesus der angesagten basileia-Wirklichkeit unterstellt, der wird seine Verkündigung als ein Tun in exousia, d. h. in Gott gegebener Vollmacht benennen.« 4 Vgl. W. Eck, Augustus und seine Zeit (Beck’sche Reihe), München 2003, 40-50. 5 In seiner entwicklungsgeschichtlich orientierten Untersuchung zu den römischen Machtbegriffen stellt J. Bleicken, Zum Begriff der römischen Amtsgewalt. Auspicium-- potestas-- imperium, in: NAWG Philologisch-historische Klasse (9/ 1981) 255-300, heraus, dass imperium aus dem militärischen Bereich stammt, aber erst in den Kämpfen der ausgehenden Republik derart an Bedeutung gewonnen hat, dass dieser Begriff »zum Sinnbild staatlicher Macht überhaupt geworden« (257) ist. 6 Zur Rekonstruktion der Ereignisgeschichte im Einzelnen vgl. B. Levick, Vespasian, London 1999; S. Pfeiffer, Die Zeit der Flavier. Vespasian-- Titus-- Domitian (Geschichte kompakt), Darmstadt 2009. 7 Bezeichnenderweise hat Vespasian später den 1. Juli zum Tag seines Herrschaftsantrittes (lat. dies imperii) erklärt (Tac., Hist II 79), also den Tag, an dem die Legionen in Ägypten ihm als erste den Treueid geleistet haben-- und nicht den Tag der rechtlichen Bestätigung durch den Senat! Zugleich hatte Vespasian dadurch den gleichen »Thronbesteigungstag« wie Augustus. 8 Die einst rein funktional gebrauchte oder als Ehrentitel verliehene Bezeichnung imperator steht ab Caesar absolut für die militärische Autorität ihres Trägers; Augustus führt imperator als neues praenomen ein. Das ursprüngliche cognomen Caesar wird in der julischen Dynastie zum Gentilnamen und betont als Herrscherbezeichnung den Rekurs auf Augustus; vgl. S. Pfeiffer, Zeit (s. Anm. 6) 14 f. 9 Zu dieser Zeit war Vitellius noch vom Senat anerkannter Kaiser. 10 Vgl. W. Eck, Vespasian und die senatorische Führungsschicht des Reiches, in: L. Capogrossi Colognesi/ E. Tassi Scandone (Hgg.), La Lex de imperio Vespasiani e la Roma dei Flavi. Atti del Convegno, 20-22 novembre 2008 (Acta Flaviana 1), Rom 2009, 231-257. Das Gleiche gilt für Militärs, die sich rechtzeitig auf die Seite Vespasians geschlagen haben; vgl. M. M. Roxan, An Emperor Rewards his Supporters. The Earliest Extant Diploma Issued by Vespasian, in: Journal of Roman Archaeology 9 (1996) 247-256. 11 Vgl. dazu die einzelnen Beiträge im Sammelband von L. Capogrossi Colognesi/ E. Tassi Scandone (Hgg.), La Lex de imperio Vespasiani e la Roma dei Flavi. Atti del Convegno, 20-22 novembre 2008 (Acta Flaviana 1), Rom 2009. 12 Nach B. Levick, Vespasian (s. Anm. 6), sind die Formulierungen dieser Passage bewusst offen gehalten. 13 Für die Nachahmung dieser Gattung in den Pastoralbriefen vgl. M. Wolter, Die Pastoralbriefe als Paulustradition (FRLANT 146), Göttingen 1988. 14 Bzw. die Könige, die noch keine basileia bekommen haben, aber exousia wie Könige für eine Stunde bekommen werden zusammen mit dem Tier: Offb 17,12. 15 Zu diesem Aspekt vgl. R. Wolters, Vectigal, Tributum und Stipendium. Abgabenformen in-römischer Republik und Kaiserzeit, in: H. Klinkott/ S. Kubisch/ R. Müller-Wollermann (Hgg.), Geschenke und Steuern, Zölle und Tribute. Antike Abgabenformen in Anspruch und Wirklichkeit (Culture and History of the Ancient Near East 29), Leiden 2007, 407-430, hier: 415-418. 16 A. Winn, The Purpose of Mark’s Gospel. An Early Christian Response to Roman Imperial Propaganda (WUNT II/ 245), Tübingen 2008, liest das Markusevangelium sogar als Reaktion auf die Thronbesteigung Vespasians. Allerdings meint er, dass speziell die Propaganda seiner religiösen Legitimierung durch Wunder und Vorzeichen im Zentrum der Auseinandersetzung stehen. Vgl. auch die umfassende und differenzierte Bestandsaufnahme von B. Heininger, »Politische Theologie« im Markusevangelium. Der Aufstieg Vespasians zum Kaiser und der Abstieg Jesu ans Kreuz, in: C. Mayer (Hg.), Augustinus-- Ethik und Politik. Zwei Würzburger Augustinus-Studientage. »Aspekte der Ethik bei Augustinus« (11. Juni 2005) »Augustinus und die Politik« (24. Juni 2006), Würzburg 2009, 171-201. 17 Innerhalb der markinischen Jesusgeschichte wird Herodes in Mk 6,21-29 als ein solcher »Herrscher« vorgeführt, der sich bei seinem Geburtstagsfest mit den Großen (gr. megistanes) seines Reiches umgibt, den Tausendschaftsführern und den Ersten Galiläas. Aber bereits auf der menschlichen Ebene wird er selbst von den Frauen am Hof beherrscht! 18 Vgl. J. N. Collins, Diakonia. Re-interpreting the Ancient Sources, New York (NY) 1990, mit der plastischen Definition: »to go between«; sowie die erneute Durchforstung des semantischen Feldes in der Profanliteratur durch A. Hentschel, Diakonia im Neuen Testament. Studien zur Semantik unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Frauen (WUNT II/ 226), Tübingen 2007, 34-89. Zu Recht weist sie spezifizierend darauf hin, dass der Aspekt der Beauftragung das zentrale Charakteristikum des Lexems ausmacht. 19 Aristot., Pol. I 3; Cic., Off I 54. Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 30 - 2. Korrektur 30 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Zum Thema 20 Sueton erzählt davon, Augustus sei darauf bedacht gewesen, dass seine Tochter und seine Enkelinnen das in seinen Augen richtige »Rollenverhalten« an den Tag legen (Wolle spinnen: Aug 64,2); außerdem habe er seine juristische Vollmacht, wie sie dem Hausvater zusteht (lat. ius vitae necisque), voll ausgereizt, als er seine Tochter Julia sowie eine Enkelin gleichen Namens wegen unzüchtigen Verhaltens in die Verbannung schickte (Aug 65,1). 21 Dazu vgl. G. Guttenberger Ortwein, Status und Statusverzicht im neuen Testament und seiner Umwelt (NTOA 39), Freiburg (Schweiz) / Göttingen 1999, bes.: 196-198. 22 Vgl. H.-J. Eckstein, Markus 10,46-52 als Schlüsseltext des Markusevangeliums, in: ZNW 87 (1996) 33-50. 23 Das wird in dunkler metaphorischer Rede gesagt: »den Becher trinken« (vgl. Jer 49,12; vgl. T. Seidl, »Der Becher in der Hand des Herrn«. Studien zu den prophetischen »Taumelbecher«-Texten [ATSAT 70], St. Ottilien 2001); »mit einer Taufe getauft werden« (vgl. 2Sam 22,5). Für eine differenzierte Interpretation vgl. G. Theissen, Die Verfolgung unter Agrippa I. und die Autoritätsstruktur der Jerusalemer Gemeinde. Eine Untersuchung zu Act 12,1-4 und Mk 10,35-45, in: Das Urchristentum in seiner literarischen Geschichte (FS J. Becker) (BZNW 100), Berlin 1999, 263-289, hier: 283 f. 24 Zum peculium im Rahmen des Sklavenfreikaufs vgl. H. Mouritsen, The Freedman in the Roman World, Cambridge 2011, 159-180; U. Roth, Peculium, Freedom, Citizenship: Golden Triangle or Vicious Circle? An Act in Two Parts, in: Dies. (Hg.), By the Sweat of your Brow. Roman Slavery in its Socio-Economic Setting (BICS Supplement 109), London 2010, 91-120; S. Knoch, Sklavenfürsorge im Römischen Reich. Formen und Motive (Sklaverei-- Knechtschaft-- Zwangsarbeit. Untersuchungen zur Sozial-, Rechts- und Kulturgeschichte 2), Hildesheim 2005, 176-183. 25 Vgl. exemplarisch R. Pesch, Das Markusevangelium. 1. Teil (HThK II/ 1), Freiburg i.Br. 1977, 117 f.; K. Scholtissek, Vollmacht (s. Anm. 1) 87-93. 26 W. Foerster, Art. ἐξουσία, in: ThWNT II (1935) 559- 572, hier: 560. 27 Vgl. P. Müller, »Wer ist dieser? «. Jesus im Markusevangelium. Markus als Erzähler, Verkündiger und Lehrer (BThSt 27), Neukirchen-Vluyn 1995; K. Scholtissek, Vollmacht (s. Anm. 1). 28 Vgl. Mk 1,21 f.; 2,13; 4,1 f.; 6,2.6.34. 29 Ausführlich zur Dämonenvorstellung: M. Ebner, Jesus von Nazaret. Was wir von ihm wissen können, Stuttgart 2 2012, 104-107; G.J. Riley, Art. Demon, in: K. van der Toorn u. a. (Hgg.), Dictionary of Deities and Demons in the Bible, Leiden 2 1999, 235-240. 30 »Anherrschen« ist geprägter Terminus für die Dämonenaustreibung. Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 31 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 31 1. Einführung Ein Knecht ist einem anderen Knecht einen überschaubaren Betrag schuldig. Der Knecht verlangt, dass die Schulden bezahlt werden. Weil der Schuldner nicht im Stande ist, das Geschuldete zu bezahlen, wird er ins Gefängnis geworfen. Es gehört zu Recht und Gesetz, dass jeder seine Schulden tilgen muss. Trotzdem empören sich die Mitknechte, denn dem Geschädigten waren gerade selbst unüberschaubare Schulden erlassen worden. Die Reaktion der Mitknechte erscheint intuitiv und kontraintuitiv zugleich. Auf der einen Seite wirkt es einleuchtend und folgerichtig, dass das Glück des Knechts auch dem Mitknecht zugute kommen soll. Es mutet ausnehmend undankbar an, dass der Knecht den Schuldenerlass verweigert, wo ihm doch seine eigenen Schulden erlassen worden sind. Auf der anderen Seite ist der Knecht fraglos im Recht. Dass gewöhnliche Regeln und Gesetze in einem bestimmten Fall aufgehoben worden sind, heißt ja nicht, dass sie in jedem Fall aufgehoben werden müssen. Es wäre in der Tat eine chaotische und anarchische Welt, in der Schulden nicht getilgt werden müssen und säumige Zahler nicht bestraft werden. Wie kann Jesus nach Matthäus diese Situation mit dem Himmelreich vergleichen? Offensichtlich ist von einer ganz anderen Ökonomie die Rede als in der gegenwärtigen Welt. Nichtsdestoweniger ist die Reaktion der Mitknechte unmittelbar verständlich. Es muss deswegen einen Zusammenhang zwischen der Ökonomie des Himmelreichs und der Ökonomie der Welt geben, sonst verstünde man wohl nicht die Mitknechte. Gerade diese Verbindung macht aus dem Gleichnis eine politische Herausforderung. Im Folgenden wird das Gleichnis zunächst exegetisch analysiert. Als Teil des Matthäusevangeliums ist es in die matthäische Theologie eingebunden und dient seiner Verkündigung. Sodann wird die grundlegende phänomenologische Struktur innerhalb des Gleichnisses dargestellt. Erkennbar spielen Gaben und das Geben eine Hauptrolle für die Logik des Gleichnisses. Gerade diese Phänomene sind seit einigen Jahrzehnten ein heißes Thema der Sozial- und Geisteswissenschaften. Zunächst waren Gaben Gegenstand anthropologischer Untersuchungen, aber in den letzten zwanzig Jahren taucht dieses Thema verstärkt in philosophischen und soziologischen Diskussionen auf. Besonders über die so genannte »reine Gabe« hat man sich lebhaft gestritten. Einige der charakteristischsten Positionen dieser Debatte werden im Folgenden referiert, um dann die »Gabe«-Auffassung des Gleichnisses zu präsentieren. Die Ausführungen münden in eine Diskussion der politischen Aspekte des Gleichnisses. Gefragt werden soll, ob und gegebenenfalls wie das Gleichnis eine politische Herausforderung sein kann. 2. Exegese: Mt 18,23-35 Das Gleichnis vom Schalksknecht schließt eine der großen Reden des Matthäusevangeliums ab. Die Worte »Da Jesus diese Reden vollendet hatte« (19,1) markieren das Ende der sog. »Gemeinderede«, die sich über das ganze achtzehnte Kapitel erstreckt. Die Rede wird von einer Jüngerfrage eingeleitet. Die Jünger kommen zu Jesus und fragen, wer der Größte im Himmelreich sei (V. 1). Das veranlasst einen längeren Monolog (V. 2-20), der aber nicht nur eine Antwort auf die gestellte Frage ist, sondern auch andere Themen aufgreift (u. a. Ärgernis, Exkommunikation und Gebet). Als Jesus das Thema der Sünden innerhalb der Gemeinde anspricht (V. 15), stellt Petrus die Frage »Herr, wie oft soll ich meinem Bruder, der gegen mich sündigt, vergeben? Bis siebenmal? « (V. 21). Die Antwort Jesu lautet: »Ich sage dir: Nicht bis siebenmal, sondern bis siebenundsiebzigmal«, nach einer anderen Übersetzung »sieben mal siebzig« (V. 22). Ungeachtet welche Übersetzung vorgezogen wird, stellt die Antwort eine Entgrenzung von Petrus’ Vorschlag ins Unendliche dar. Die Vergebungsbereitschaft soll, so will es Jesus, unbegrenzt sein. Auf diese Antwort folgt das Gleichnis vom Schalksknecht, das als eine erläuternde Erklärung der Auffassung Jesu verstanden werden muss. In Form eines Himmelreichsgleichnisses begründet Jesus, warum ein Gemeindemitglied seinem Gemeindebruder die Vergebung niemals verweigern darf. Das Gleichnis kann mit Bezug auf die auftretenden Personen in vier Teile zergliedert werden. (a) V. 22-27: Der Knecht und sein Herr. (b) V. 28-30: Der Knecht und sein Schuldner. (c) V. 31: Die Mitknechte. (d) V. 32-34: Der Knecht und sein Herr. V. 35 ist die ab- JesperTang Nielsen Das Gleichnis von Schalksknecht-- eine Ökonomie der Generosität Zum Thema Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 32 - 2. Korrektur 32 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Zum Thema schließende Applizierung auf die Situation der Jünger und auf das Thema der Vergebung. 2.1. Erster Teil: V. 22-27: Der bodenlos überschuldete Knecht und sein grenzenlos reicher Herr. Mit dem Wort »deswegen« ist das Gleichnis mit dem vorstehenden Dialog verbunden. Weiterhin begegnet eine im Matthäusevangelium geläufige Formulierung: »das Himmelreich ist einem König ähnlich« (V. 23). Im griechischen Text wird hervorgehoben, dass der König ein Mensch ist. Das ist auffallend, denn der Sinn der Gleichniseinleitung ist natürlich nicht, dass das Himmelreich wie ein menschlicher König ist. Mit dem Satz ist gemeint, dass die Regeln, die im Gleichnis dargestellt werden, für das Himmelreich gelten. Im Vergleich mit den übrigen matthäischen Himmelreichsgleichnissen ist es ferner auffallend, dass weder der narrative Anlass noch das rhetorische Ziel des Gleichnisses das Himmelreich betreffen. Thema ist vielmehr das ethische Verhalten in der irdischen Gemeinde. Dieses Verhalten wird von den Verhältnissen im Himmelreich her begründet. Weil Gott sich mit Bezug auf das Himmelreich in der angegebenen Weise verhält, müssen die Gemeindemitglieder sich ebenfalls in einer bestimmten Weise verhalten. Und gerade deshalb ist es wichtig, dass das Himmelreich einem menschlichen König ähnelt. Das zeigt nämlich, dass die Regeln des Himmelreichs nach Matthäus nicht völlig von erkennbaren Regeln des zwischenmenschlichen Lebens getrennt sind, und deswegen können und müssen sie auch im Leben der Gemeinde realisiert werden. Matthäus zufolge ist das Himmelreich keine rein transzendente Größe, die die Christen erwarten, sondern eine irdische Realität in Gestalt von Menschen, die zu diesem Reich gehören. Das Himmelreich ist die soziale Wirklichkeit, die durch den Glauben an Christus entstanden ist. Nur so macht es Sinn, dass das Gleichnis vom Himmelreich handelt, aber eine erläuternde Erklärung der Antwort Jesu auf die Frage des Petrus ist. Der erste Teil des Gleichnisses handelt von der Abrechnung des Königs mit seinen Knechten. Einer von ihnen ist ihm zehntausend Talente schuldig (V. 24). Der Betrag ist astronomisch hoch. Zum Vergleich: Die Steuererträge der Tetrarchien des Philippus, des Herodes Antipas und des Archelaos betrugen nach Josephus insgesamt weniger als tausend Talente pro Jahr. 1 Zehntausend Talente sind eine derart riesige Summe, dass einige Manuskripte statt »zehntausend« »viele« oder »hunderte« lesen. Das trifft natürlich nicht den Sinn. Es ist unerlässlich für das Anliegen des Gleichnisses, dass die Schulden unüberschaubar sind. Das griechische Wort myrioi ist die höchst mögliche Zahl und ein »Talent« die höchst mögliche Münzeinheit. So wird klar, dass der Knecht derart überschuldet ist, dass sein Herr Anspruch auf seine ganze Existenz hat. Er nimmt diesen Anspruch wahr, wenn er fordert, dass der Knecht, seine Frau, seine Kinder und aller Besitz verkauft werden sollen (V. 25). Der genaue rechtsgeschichtliche Hintergrund dieser Androhung ist nicht recht klar. Jedenfalls hätte der Schuldner auf diese Weise seine Schuldenlast so gut wie gar nicht verringert, da Sklaven für einen Preis zwischen 500 und 2000 Dinaren verkauft wurden. 2 Wahrscheinlich soll dieser Vers einfach verdeutlichen, dass die ganze Existenz des Knechts in der Gewalt des Herrn ist. In der Forschung wurde diskutiert, wie ein Knecht Schulden in dieser Höhe abarbeiten konnte. Man hat vermutet, dass er den höheren Schichten der Gesellschaft angehörte und eine einflussreiche Stellung im finanziellen Sektor inne hatte. Die Schulden wären dann auf Grund von Unterschlagung entstanden. 3 Eher selten wird die Höhe der Schulden zum Reichtum des Königs Prof. mso. Dr. Jesper Tang Nielsen, geb. 1971 in Aarhus, Dänemark, 1991-1998 Studium der Theologie in Aarhus, Tübingen und Kopenhagen, 2003 Promotion in Aarhus, 2003-2007 Assistenz-Professor für Neues Testament an der theologischen Fakultät, Universität Kopenhagen, 2007-2011 Associate Professor in Kopenhagen, seit 2012 Professor mso (mit besonderen Aufgaben) in Kopenhagen, seit 2010 Head of Studies an der theologischen Fakultät, Universität Kopenhagen. Veröffentlichungen zum Johannesevangelium, Paulus, apokryphen Evanglien u. a. Jesper Tang Nielsen »Matthäus zufolge ist das Himmelreich keine rein transzendente Größe, die die Christen erwarten, sondern eine irdische Realität in Gestalt von Menschen, die zu diesem Reich gehören. Das Himmelreich ist die soziale Wirklichkeit, die durch den Glauben an Christus entstanden ist.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 33 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 33 Jesper Tang Nielsen Das Gleichnis von Schalksknecht-- eine Ökonomie der Generosität in Beziehung gebracht: Dass ihm zehntausend Talente fehlen und er dann die ganze Summe erlassen kann, zeugt von einem unfassbar großen Wohlstand. Oder aber die absurden ökonomischen Verhältnisse zeigen, dass das Gleichnis gar nicht von Ökonomie handelt. Es dreht sich dann einfach um einen König, der alles hat, und einen Knecht, der alles schuldet. Dass das griechische Wort für Schulden auch für Schuld (z. B. 6,12) benutzt wird, unterstützt diese Auslegung. Als er mit der Forderung nach Schuldentilgung mit der Aussicht, alles zu verlieren, konfrontiert wird, wirft der Knecht sich vor seinem Herrn nieder und bittet um Stundung (V. 26). Das Niederwerfen ist erkennbar eine religiöse Geste und bezeichnet das Anbeten einer Gottheit. Auf diese Weise erkennt der Knecht seine absolute Abhängigkeit von dem König an. Die Abhängigkeit wird durch die Reaktion des Königs nicht geschmälert. Der König bekommt Mitleid mit dem Knecht und erlässt seine Schulden (V. 27), aber der Knecht steht unvermindert in der Schuld des Königs, denn jetzt hat er tatsachlich seine ganze Existenz von ihm bekommen. Das wird aber erst in dem letzten Teil des Gleichnisses thematisiert. 2.2. Zweiter Teil: V. 28-30: Der entschuldete, unerbittliche Knecht Nachdem ihm die riesige Summe erlassen worden ist, trifft der Knecht einen Mitknecht, der ihm hundert Dinare schuldig ist, d. h. ein Sechshunderttausendstel des soeben erlassenen Betrages. Des ungeachtet fordert er sofort die Rückzahlung (V. 28), und obwohl der Mitsklave genau wie der erste Knecht reagiert, sich nieder wirft und um Stundung bittet (V. 29), bekommt er kein Mitleid (V. 30). Obwohl die Reaktion des Knechts gegensätzlich zu der des Königs ausfällt, verfährt er in derselben Souveränität mit der Existenz des Mitknechts. Das aber hat vernichtende Konsequenzen für den Mitknecht wie auch für den Knecht selbst. 2.3. Dritter Teil: V. 31: Die empörten Mitknechte Wie schon erwähnt ist dieser Vers interessant. Die Mitknechte empören sich über die Mitleidslosigkeit des Knechts (V. 31). So übernehmen sie die Reaktion der Leser auf das Verhalten des Knechts. Es geht nicht aus dem Gleichnis hervor, ob sie von der Erlassung der riesigen Schulden Kenntnis haben, aber sofern sie die Position der Leser einnehmen, muss ihre Empörung gerade vor diesem Hintergrund verstanden werden. Jedenfalls markiert sie die Reaktion auf das verwerfliche Verhalten dem Mitknecht gegenüber. Das ist bemerkenswert, denn das Recht steht offensichtlich auf seiner Seite. Ganz gleich, welche juridischen Traditionen hinter der Schuldhaft stehen, war es eine legitime Möglichkeit. Aber innerhalb der Erzählung wirkt es unmoralisch, von diesem Recht Gebrauch zu machen. Später wird es sich ergeben, dass das Unmoralische eigentlich die Verleugnung der eigenen Gabe ist. Die Mitknechte melden die Episode an den König. 2.4. Vierter Teil: V. 32-34: Der unerbittliche Herr Der König greift sofort ein und lässt den Knecht holen. Unversehens übernimmt er die moralische Wertung der Erzählung und spricht den Knecht mit »böser Knecht« an (V. 32). Sodann erklärt er die Logik, die die Leser schon für das Urteil über den Knecht zugrunde gelegt haben. Er hätte dieselbe Barmherzigkeit erweisen sollen, die ihm erwiesen wurde (V. 32-33). Die Freiheit, die die Erlassung der Schulden brachte, ist nicht eine Freiheit außerhalb des Machtbereichs des Königs. Im Gegenteil ist der Knecht bleibend dem König unterstellt, weil dieser die Gabe jederzeit zurücknehmen kann. Das tut er und übergibt ihn den Henkern (V. 34). Damit bringt er den Knecht zurück in die Existenz als Schuldner und überlässt ihn dem Geschick, das daraus folgt. Schon anhand der Wortwahl wird deutlich, dass das Gleichnis in eine theologische Deutung mündet. An die Stelle des Mitleids tritt die Barmherzigkeit. Statt von Schuldsklaverei ist von Henkern die Rede. Offensichtlich ist das Urteil des Königs Ausdruck einer eschatologischen Verdammnis. Die Grundlage des Urteils ist die Reaktion des Knechts auf die Barmherzigkeit, die ihm zu Teil wurde. Weil er sie nicht in Barmherzigkeit für seine Mitknechte umsetzte, wird sie ihm entzogen. Das Geschenk, das er vom König erhielt, wird ihm wieder weggenommen, weil er es nicht weitergab. Auf diese Weise wird das Verhältnis zum König im Verhältnis zu den Mitknechten entschieden. Seine Unbarmherzigkeit zeigt sich als eine Verleugnung der Barmherzigkeit, die ihm erwiesen wurde. 2. 5. Schluss: V. 35: Vergebung in der Gemeinde Im letzten Vers überträgt Jesus den Ertrag des Gleichnisses auf die Jünger. Sein himmlischer Vater wird wie der menschliche König tun, wenn sie nicht ihren Brüdern vergeben (V. 35). Damit ist die erläuternde Erklärung für Jesu Antwort auf die Frage des Petrus gegeben. Die unbegrenzte Vergebung unter den Brüdern ist in der unbegrenzten Vergebung Gottes begründet. Sie ist es, Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 34 - 2. Korrektur 34 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Zum Thema die in zwischenmenschlichen Relationen umgesetzt werden muss, und die sich in einer besonderen Sozialität auswirkt. Andernfalls verschwindet die Gnade Gottes geradezu. Einige Exegeten meinen, dass der Vers eine Begrenzung der eigentlich universalen Sicht des Gleichnisses sei. 4 Das Gleichnis stamme von Jesus selbst und sei sekundär in den matthäischen Kontext eingefügt, wo es auf interne Gemeindeverhältnisse begrenzt worden sei. Diese Exegese ist m. E. nicht zwingend. Erstens basieren solche literarkritischen Thesen immer auf Spekulation, und zweitens spielt sich schon das Gleichnis selbst innerhalb einer antiken Familie ab. Die Welt außerhalb des Königshauses existiert nicht. Weiterhin entspricht das Gleichnis dem matthäischen Versuch, die Gemeinde als eine ethisch qualifizierte Einheit darzustellen. Im jetzigen Zusammenhang ist jedenfalls deutlich, dass die Gemeindemitglieder ein Miteinander verwirklichen sollen, das die unmittelbare Konsequenz ihres Gottesverhältnisses ist. Das Gottesverhältnis initiiert die soziale Form und die soziale Form determiniert das Gottesverhältnis. Wird es nicht in menschlichen Relationen umgesetzt, existiert es gar nicht. 2.6. Hermeneutische Überlegungen: Zwei Überraschungen und zwei Reiche Das Gleichnis lebt von seinen Überraschungen. Erstens die Überraschung, dass die riesigen Schulden des Knechtes erlassen werden. Zweitens die Überraschung, dass er nicht in derselben Weise an seinem eigenen Schuldner handelt. Die Überraschungen entstehen, weil der Leser gegensätzliche Erwartungen hat. Die erste Überraschung gehört der gewöhnlichen Welt an, in der jemand allen Verpflichtungen nachkommen muss, sonst riskiert er Repressalien. In der gewöhnlichen Welt will niemand große Schulden erlassen. Das ist ein Reich der Gerechtigkeit, in dem gewöhnliche Regeln gelten und Debitoren ihren Kreditoren zahlen müssen. Die Logik dieses Reichs gründet auf Mangel. Wer ausgeliehen hat, hat zeitweilig einen Verlust, deshalb müssen die Schulden zurückgezahlt werden. Wenn das nicht geschieht, wird der Verlust permanent. Deshalb hat der Kreditor Anspruch auf Rückzahlung. Die erste Überraschung ist ein Verstoß gegen diese Logik. Als das Reich der Gerechtigkeit Forderungen stellt, bricht im Gleichnis ein anderes Reich mit einer anderen Logik ein. Es zeigt sich, dass der Kreditor die Schulden erlassen kann, ohne einen Verlust zu erleiden. Für das Reich der Gerechtigkeit ist das natürlich undenkbar. In diesem Reich führt Freigiebigkeit zu Verlust. Aber gerade diese Logik wird gebrochen. An die Stelle von Gerechtigkeit stellt das Gleichnis Generosität. Von seinem überaus großen Überfluss verschenkt der Herr eine unbegreiflich große Summe und erleidet keinen Verlust. Damit ist eine andere Logik eingeführt, denn der Geber gibt, ohne zu verlieren. Das Reich, in dem diese Logik herrscht, ist ein Reich der Generosität. In diesem Reich ist die Mangellogik durch eine Überflusslogik ersetzt. Schuldner brauchen nicht zurückzuzahlen, Kreditoren haben keinen Anspruch an Debitoren, weil Erlassung keinen Verlust mit sich führt. Im Gegenteil werden das Reich der Generosität und die entsprechende Logik von einer außerordentlichen Gabe gestiftet, die die Schuldner aus ihren unzahlbaren Schulden erlöst. Natürlich streitet dies gegen die Logik der Welt und passt nicht zu dem Reich der Gerechtigkeit, aber es ist nicht so fremdartig, dass es nicht verstehbar ist. In der Tat bereitet die Einführung dieser Logik die zweite Überraschung. Auch wenn diese Logik gegen die Logik der gewöhnlichen Welt streitet, ist sie die Begründung für die Empörung der Mitknechte und Leser. Beide erwarten, dass der Knecht die Barmherzigkeit weitergibt. Obwohl es nicht ausdrücklich gesagt wird, ist es offensichtlich, dass er sich gegen die Überflusslogik vergeht, der er wegen seiner eigenen Entschuldung verpflichtet ist. Als adäquate Reaktion auf die unerwartete Gabe hätte er sich in das Reich der Generosität hineinziehen lassen und sich deswegen seinem Schuldner verpflichtet gefühlt. Auch insofern ist das Gleichnis eine Illustration des Vaterunsers (6,12). Die zweite Überraschung des Gleichnisses ist die fehlende Erkenntnis des Knechts, dass er der Logik der Generosität gehorchen muss. Die Mitknechte bringen ihr Überraschtsein zum Ausdruck und stehen damit für die Leser. Die Gabe des Herrn ruft die Erwartung hervor, dass die Generosität weitergegeben werden muss. Die Erwartung wird enttäuscht und löst in den Lesern dieselbe Empörung aus wie in den Mitknechten. Obwohl der Herr seinen Charakter ändert und plötzlich Generosität gegen Gerechtigkeit vertauscht, ist es keine Überraschung. Eigentlich erwartet der Leser, dass der Herr jetzt unerbittlich sein muss. Folgerichtig führt der früher generöse Herr jetzt wieder das Reich »Im jetzigen Zusammenhang ist jedenfalls deutlich, dass die Gemeindemitglieder ein Miteinander verwirklichen sollen, das die unmittelbare Konsequenz ihres Gottesverhältnisses ist. […] Wird es nicht in menschlichen Relationen umgesetzt, existiert es gar nicht.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 35 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 35 Jesper Tang Nielsen Das Gleichnis von Schalksknecht-- eine Ökonomie der Generosität der Gerechtigkeit ein und nimmt sein Geschenk zurück. Jetzt ist er nicht mehr der barmherzige und freigiebige Herr. Im Gegenteil entspricht seinem Verhalten die Unbarmherzigkeit des Knechts. Für den unbarmherzigen Knecht ist der Herr unbarmherzig; für den Knecht, der der Logik der Gerechtigkeit folgt, gilt die Logik der Gerechtigkeit. Wenn der Knecht im Reich der Gerechtigkeit lebt, wird ihm das Reich der Generosität entzogen. Der letzte Vers appliziert die Logik auf die Situation in der Gemeinde. Die Vergebung unter den Brüdern muss der Vergebung entsprechen, die ihnen selbst zuteil geworden ist, sonst werden sie aus dem Reich der Generosität, das der himmlische Vater Jesu gestiftet hat, ausgewiesen. Wenn sie unerbittlich sind, wird er der unerbittliche Herr sein, der die Logik der Gerechtigkeit gelten lässt. Nun sieht man, wie das Himmelreich einem König ähnlich sein kann, denn die Handlungen des Königs zeigen, dass er über ein Reich mit einer außergewöhnlichen Logik herrscht. Das Himmelreich wird von dem himmlischen Vater Jesu gestiftet, wenn er die Logik der Generosität einführt. Barmherzigkeit, Freigiebigkeit und Vergebung sind den Glaubenden zuteil geworden, und das Himmelreich besteht, wenn diese Generosität überfließt in die Gemeinschaft der Glaubenden im Reich der Generosität. Wenn das nicht geschieht, gibt es die Logik der Generosität nicht, und führen die Glaubenden die Logik der Gerechtigkeit ein, gibt es das Reich der Generosität nicht. Deswegen widerspricht die abschließende Unbarmherzigkeit eigentlich nicht der anfänglichen Barmherzigkeit des Herrn, sondern sie ist eine Konsequenz des Verstoßes gegen die Generosität. Vor diesem Hintergrund ist die Applikation auf die Situation der Gemeinde keine Warnung, sondern eher eine Vorwarnung. Sie gibt an, was passiert, wenn das Fließen der Generosität aufhört und die Ökonomie der Gerechtigkeit eingeführt wird. Dann bricht das Himmelreich zusammen. Es ist unschwer zu erkennen, dass das Gleichnis eine besondere Logik der Gabe darstellt, die mit gewöhnlichen Vorstellungen von Gaben bricht. Unten wird ausgeführt, dass die Gabe eine Forderung in sich schließt, dem Geber die Gabe in irgendeiner Weise zu erwidern. In dem Gleichnis gibt es eine Gabe von solcher Größe, dass sie dem Geber nicht zurückgegeben werden kann. Sie ist aber nicht weniger verpflichtend. Bloß muss es nicht dem Geber zurück-, sondern dem Schuldner weitergegeben werden. So fließt Gabe und Gegenleistung über in das Reich der Generosität, das im Matthäusevangelium das Himmelreich genannt wird und das dem Reich der Gerechtigkeit widersteht. 3. Gaben und Austausch Seit Jahren sind Gaben ein umstrittenes Thema der Geisteswissenschaften. Diskutiert wird nicht nur, welche sozialen Handlungen und welche phänomenologischen Strukturen einer Gabe zugrunde liegen, sondern auch die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit eine Schenkökonomie zu umgehen, d. h. ob es eine sog. »reine Gabe« gibt, die den Empfänger nicht zu einer Gegenleistung verpflichtet. Diese Diskussion ist exegetisch relevant, denn offenbar gibt es im Gleichnis vom Schalksknecht eine Gabelogik, die auf der einen Seite mit gewöhnlichen Vorstellungen bricht (vgl. die erste Überraschung) und auf der anderen Seite einen Bezug zu menschlichen Erwartungen aufweist (vgl. die zweite Überraschung). Gleichzeitig bildet die Gabediskussion die Grundlage für mögliche politische Implikationen, da eben die besondere Gabe die außergewöhnliche Logik des Reichs der Generosität stiftet. Die Debatte über Gaben gründet auf Untersuchungen von Gaben in archaischen Gesellschaften, die der Anthropologe Marcel Mauss im ersten Viertel des 20. Jh.s durchgeführt hat. In seinem berühmten Buch »Essai sur le don« 5 zeigt er, dass Gaben die Struktur einer Gesellschaft aufrechterhalten als auch bedrohen können. In seiner Darstellung ist eine Gabe Ausdruck von Überlegenheit. Gaben zeigen die überlegene Situation des Gebers. Um eine ebenbürtige Relation aufrecht zu erhalten, ist der Empfänger deswegen verpflichtet, eine Gabe zurückzugeben. Aber natürlich kann der Geschenkaustausch nicht unmittelbar nach einander folgen, denn dann handelte es sich nicht um Gaben, sondern eher um einen reinen Tausch. Etwas Zeit muss zwischen den Gaben verstreichen, damit die ökonomische Struktur des Tausches nicht zu deutlich wird. Um die Ausgeglichenheit in der Relation zu bewahren, müssen die Geschenke auch von ungefähr demselben Wert sein. Sonst wird der Austausch zu einer Konkurrenz, bei der die Teilnehmer versuchen, einander zu übertreffen. Mauss zeigt, dass solche Austauschsituationen tatsächlich destabilisierend wirken können, wenn die Geber bei dem Versuch, immer größere Geschenke zu schenken, sich selbst ruinieren. »Gaben zeigen die überlegene Situation des Gebers. Um eine ebenbürtige Relation aufrecht zu erhalten, ist der Empfänger deswegen verpflichtet, eine Gabe zurückzugeben.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 25.03.2013 - Seite 36 - 2. Korrektur 36 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Zum Thema »Die Schenkökonomie besteht in einem verpflichtenden Austausch. Ein Empfänger wird immer dem Geber verpflichtet, wenn auch nur zu Dankbarkeit, deshalb spielen Hierarchie und Machtrelationen immer eine Rolle.« Aber auch in ungleichen Relationen haben Gaben einen verpflichtenden Charakter. Der Untertan kann natürlich nicht die Gabe erwidern, er muss aber durch Dankbarkeit und andere Formen der Anerkennung seinen untergeordneten Status ausdrücken, so beispielsweise im antiken Patronatssystem. Der Patron war dem Klient überlegen und unterstützte ihn. Auf der anderen Seite war der Klient dem Patron unterlegen und ihm verpflichtet. Ökonomische Gaben des Patrons verpflichten den Klienten zur Loyalität gegenüber dem Patron. Natürlich ist die Beziehung zwischen Patron und Klient nicht ebenbürtig, weil der Austausch sich überhaupt auf eine ungleiche Relation stützt. Zwischen Freunden hingegen darf die Ebenbürtigkeit nicht angetastet werden, deshalb müssen die Gaben auch in etwa gleich sein. In diesem Zusammenhang sind aber die spezifischen kulturellen Ausformungen des Geschenkaustauschs und die sozialen Konsequenzen von geringerer Bedeutung. Sehr bedeutsam ist dagegen die generelle Struktur der Gaben, die Mauss untersucht. Im Phänomen der Gabe liegt eine verpflichtende Beziehung. Die Gabe drückt die Überlegenheit des Gebers aus und versetzt den Empfänger in eine unterlegene Position. Dieses Ungleichgewicht kann nur ausgeglichen werden, wenn der Empfänger die Rolle des Gebers übernimmt und dem ersten Geber eine Gabe schenkt. Kurzum: Die Schenkökonomie besteht in einem verpflichtenden Austausch. Ein Empfänger wird immer dem Geber verpflichtet sein, wenn auch nur zu Dankbarkeit, deshalb spielen Hierarchie und Machtrelationen immer eine Rolle. Die Untersuchungen von Mauss haben eine Reihe von Diskussionen ausgelöst, weil die Gabe aus seiner Perspektive eigentlich unmöglich wird. Wenn schon in der Struktur der Gabe eine Ökonomie liegt, die den Empfänger zu einer Gegenleistung verpflichtet, gibt es keine uneigennützigen, d. h. »reinen« Gaben. Freigiebigkeit ist eine Unmöglichkeit, weil Gaben, so scheint es, immer einem eigennützigen Zweck dienen. Sie demonstrieren Überlegenheit und verpflichten den Empfänger zu Dankbarkeit und Gegenleistungen. Eine selbstlose Gabe gibt es gar nicht. Ein Denker, der diese Fragestellung besonders konsequent durchgedacht hat, ist Jacques Derrida. 6 Ihm zufolge ist die Gabe tatsächlich eine Unmöglichkeit. Sobald sie als Gabe erkannt ist, ist sie Teil der Schenkökonomie, und dann ist sie nach Derrida als Gabe bereits aufhoben. Der Geber beansprucht, Dankbarkeit zu empfangen, sobald er weiß, dass er eine Gabe gegeben hat. Der Empfänger versteht sich zu Dankbarkeit verpflichtet, sobald er weiß, dass er eine Gabe bekommen hat. In beiden Fällen vernichtet die Ökonomie die Gabe als Gabe. Von einer Gabe kann dann nur unter der Bedingung die Rede sein, dass der Geber nicht weiß, dass er gibt, und der Empfänger nicht weiß, dass er empfängt. Das aber widerstreitet Mauss’ Auffassung und konsequenterweise behauptet Derrida, dass Mauss sich eigentlich nicht mit Gaben beschäftigt, sondern mit allem, was Gaben aufhebt, z. B. Austausch, Verträge, Vereinbarungen. 7 Für Derrida bleibt die Gabe eine transzendente Idee, die nicht verwirklicht werden kann. Die Gabe wird als Gabe aufgehoben, wenn sie gegeben oder empfangen wird. Derrida vernachlässigt aber eine Ebene, die für den Begriff der Gabe konstitutiv ist: 8 Die Gabe etabliert eine Beziehung zwischen Geber und Empfänger. Dass diese Beziehung hierarchisch strukturiert ist, hebt nicht die Tatsache auf, dass der Gabe ein Beziehungsaspekt inhärent ist. Derrida zufolge ist es gerade die Beziehung zwischen Geber und Empfänger, die die Gabe unmöglich macht, deshalb muss eine Gabe ohne Beziehung gegeben werden. Das ist aber gegen die Natur der Gabe, insofern die Gabe eben eine Beziehung etabliert. Die Reziprozität ist deswegen unumgänglich. Die Frage ist aber, welchen Charakter diese Reziprozität hat. Innerhalb der Mangellogik als der anthropologischen Grundlage der Gabe muss die Beziehung hierarchisch sein. Der Geber erleidet einen Verlust, wenn er gibt, deswegen muss der Empfänger eine Gegenleistung geben, um einen Ausgleich zu schaffen. Aber wenn die ökonomische Logik nicht von Mangel bestimmt ist, ist die Situation völlig anders. Wenn der Geber geben kann, ohne Verlust zu leiden, hat die Beziehung einen ganz anderen Charakter. In seinem Journal schreibt Søren Kierkegaard: »Nur die Allmacht kann sich selbst zurücknehmen während sie sich hingibt, und in diesem Verhältnis besteht gerade die Unabhängigkeit des Empfängers. Die Allmacht Gottes ist deswegen seine Güte. Denn Güte besteht darin, ganz hinzugeben, aber in der Weise, dass man, wenn man sich allmächtig zurücknimmt, den Empfänger unabhängig macht. Jede endliche Macht macht abhängig, nur die Allmacht kann unabhängig machen, aus Nichts etwas hervorbringen, das Beständigkeit in sich selbst bekommt, weil die Allmacht ständig sich selbst zurücknimmt. Die Allmacht bleibt nicht Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 37 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 37 Jesper Tang Nielsen Das Gleichnis von Schalksknecht-- eine Ökonomie der Generosität in einem Verhältnis zu einem Anderen, denn es gibt nichts Anderes, zu dem sie sich verhält, nein sie kann geben ohne auch ein Bisschen von ihrer Macht aufzugeben, d. h. sie macht unabhängig.« 9 Das Geben der Allmacht zeitigt keinen Verlust. Der Allmächtige verliert nichts, wenn er gibt. Der Empfänger hingegen bekommt alles und ist deswegen der Allmacht alles schuldig. Aber Kierkegaard zufolge machen diese Schulden den Menschen nicht abhängig. Vielmehr wird er unabhängig, indem er dem Allmächtigen alles schuldig ist. »Der, dem ich absolut alles schuldig bin, weil er aber genauso absolut alles behalten hat, er hat mich eben unabhängig gemacht.« 10 Weil der Allmächtige geben kann, ohne zu verlieren, wird der Empfänger unabhängig, da er dem Allmächtigen nichts zurückgeben kann, denn der Allmächtige hat schon alles. Aber dieser Modus der Gabe ist nicht ohne Beziehung. Der Empfänger wird eben in eine Beziehung zu der Allmacht gebracht, die ihm alles gegeben hat. Er ist der Allmacht alles schuldig, aber gleichzeitig ist er ihr gegenüber unabhängig, weil die Allmacht nichts verloren hat und nichts braucht, das der Empfänger ihr geben kann. Diese Beziehung ist unter Menschen nicht möglich, meint Kierkegaard. In zwischenmenschlichen Beziehungen bringen Gaben immer Abhängigkeit mit sich, weil die Überlegenheit, die in der Gabe zum Ausdruck kommt, sich immer auf das Verhältnis zu anderen Menschen auswirkt. Aber die Überlegenheit der Allmacht ist absolut. Deswegen kann die Allmacht den Menschen unabhängig machen, indem sie ihm alles schenkt. Die Überlegungen Kierkegaards zur Gabe sind in ihrem literarischen Kontext nur ein Nebengedanke. Deswegen beschäftigt er sich nicht ausführlich mit der Beziehung, die zwischen dem allmächtigen Geber und dem ohnmächtigen Empfänger zustande kommt. Entscheidend ist allein, dass die Gabe Unabhängigkeit etabliert, weil der Allmächtige nicht verliert, was er gibt. Aber die Unabhängigkeit ist nicht beziehungslos, insofern die Schulden absolut sind. Der Empfänger steht in absoluter Schuld des Allmächtigen, aber ist gleichzeitig unabhängig von ihm, weil die Allmacht geben kann, ohne zu verlieren, und deswegen keine Gegenleistung braucht. Umgekehrt ist der ohnmächtige Empfänger unabhängig vom allmächtigen Geber und steht zugleich in absoluter Schuld, weil er keine Gegenleistung erbringen kann. Wie der Empfänger seine Schulden verwalten soll, wird von Kierkegaard in diesem Zusammenhang nicht thematisiert. 4. Matthäus über die Reziprozität der Gabe Matthäus überlegt, welche Gegenleistung eine Gabe verlangt, die von der Allmacht gegeben wird. Sein Gleichnis handelt eben von der Situation, dass der Knecht von seinen unermesslichen Schulden befreit worden ist und deswegen seinem Herrn seine ganze Existenz schuldig ist. Er ist unabhängig gemacht, steht aber zugleich in einer nicht aufkündbaren Beziehung zu dem Herrn. Denn die Reziprozität wird nicht aufgehoben, obwohl die Beziehung zwischen einem unabhängigen Empfänger und einem allmächtigen Geber besteht. Wie diese Beziehung verwaltet werden muss, geht aus dem Gleichnis hervor. Die etablierte Beziehung zerbricht in dem Augenblick, da sie nicht auf die Mitknechte übertragen wird. Wenn der Knecht seinem Mitknecht diejenige Freigiebigkeit und Barmherzigkeit verweigert, die ihm der Herr zeigte, wird die neu errichtete Beziehung außer Kraft gesetzt, und das alte Schuldenverhältnis wieder hergestellt. Auf diese Weise zeigt das Gleichnis, dass die verpflichtende Beziehung, die die Gabe etabliert, nicht nur zwischen dem Geber und dem Empfänger, sondern auch zwischen dem Empfänger und seinen Mitknechten besteht. Wenn der Knecht diese Beziehung verletzt, verletzt er auch die Beziehung zum Geber. Der Herr straft eigentlich nicht den Knecht, sondern vollstreckt den Beziehungsbruch, den der Knecht selbst begangen hat. Die Reziprozität der Gabe erklärt also die Überraschungen des Gleichnisses. Die erste Überraschung ist die Erlassung der riesigen Schulden. Die Überlegungen Kierkegaards zur Allmacht, die gibt, ohne zu verlieren, bzw. in derselben Bewegung gibt und zurücknimmt, führen vor, wie der Allmächtige absolute Schulden erlassen kann. Die erste Überraschung ist die neue Beziehung zwischen Kreditor und Debitor, die in der Erlassung der horrenden Schulden des Knechts gestiftet wird. Die zweite Überraschung folgt, wenn der Debitor sich konträr zu dieser neuen Beziehung verhält und sich unbarmherzig zeigt. Es wirkt spontan ungerecht, dass er kein Mitleid zeigt. Die Theorien der Gabe erklären diese intuitive Wertung. Gaben etablieren ein Abhängigkeitsverhältnis zum Geber, aber wegen der Allmächtigkeit des Gebers soll die Gegenleistung nicht an den Geber, sondern an die Mitknechte geleistet werden. Auf diese Weise kann der Knecht der Verpflichtung nachkommen, die in jeder Gabe involviert ist. Wenn er das nicht tut, ist es folgerichtig, dass der Herr die Beziehung abbricht. Wenn der Knecht nicht der in der Gabe implizierten Forderung nachkommt, geht das neu errichtete Verhältnis verloren. Weil die Gabe nicht dem allmächti- Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 25.03.2013 - Seite 38 - 2. Korrektur 38 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Zum Thema gen Geber zurückgegeben werden kann, muss sie in eine entsprechende zwischenmenschliche Beziehung umgesetzt werden. Wenn der Geber allmächtig ist, zeigt sich die Reziprozität der Gabe als eine Verpflichtung den Mitmenschen gegenüber. Verstehen wir also die Ökonomie der Gabe mit Hilfe von Kierkegaards Betrachtungen über die Möglichkeit, der Allmacht, unabhängig zu machen, und verbinden wir dies mit dem matthäischen Gedanken der Zwischenmenschlichkeit der Verpflichtung, so ergibt sich folgendes Resultat: Eine gewöhnliche Schenkökonomie basiert auf einer Mangellogik, derzufolge eine Gabe einen Verlust nach sich zieht, der ausgeglichen werden muss. Deswegen steht der Empfänger in der Schuld des Gebers. Aber die matthäische Schenkökonomie gründet auf einer Überflusslogik. Der Überfluss ist im Begriff der Allmacht impliziert, deswegen kann die Allmacht alles geben, ohne zu verlieren, wodurch der Empfänger unabhängig wird. Aber diese Gabe aus dem Überfluss ist nicht weniger verpflichtend, nur nicht dem Geber gegenüber, sondern den Mitmenschen. Die Gabe soll nicht zurück-, sondern weitergegeben werden. Dies ist die Grundlage für die Überflusslogik, die im Reich der Generosität gilt. 5. Ökonomie der Generosität? Im Rahmen des Matthäusevangeliums ist das Gleichnis zweifelsohne auf die inneren Verhältnisse in der Gemeinde gerichtet. Im Kontext ist es als Antwort auf die Frage zu verstehen, wie oft man seinem Bruder vergeben muss. Dem Gleichnis zufolge hat Gott in seiner initialen Vergebung eine Beziehung zu jedem Bruder errichtet, die eine entsprechende Barmherzigkeit unter den Geschwistern impliziert. Wenn dieses Barmherzigkeitsverhältnis zwischen Gott und Mensch sich nicht in eine entsprechende zwischenmenschliche Relation umsetzt, existiert es gar nicht. So gesehen geht es im Gleichnis gar nicht um Ökonomie. Dennoch war es erforderlich, gabentheoretische Ausführungen mit einzubeziehen, um die Logik des Gleichnisses darzustellen. Denn die strukturelle Reziprozität, die in Gaben impliziert ist, ist Grundlage der unumgänglichen Verpflichtung, eine Gabe mit einer Gegenleistung zu erwidern. Auf dieser Verpflichtung basiert das Gleichnis. Bei Kierkegaard wird deutlich, dass gerade die Allmächtigkeit des Gebers der Grund ist, dass der Empfänger nicht ihm, sondern seinen Mitknechten verpflichtet ist. Diese göttlich initiierte Schenkökonomie stammt nämlich nicht aus Mangel, sondern aus Überfluss. Das Matthäusevangelium macht damit deutlich, dass die Gemeinde eine Ethik verwirklichen soll, die sich absolut von der Ethik der Welt unterscheidet. In der Tat muss die Gemeinde eine Gegenwelt darstellen. Im Unterschied zu einer gewöhnlichen menschlichen Gemeinschaft ist sie auf einer göttlichen Überflusshandlung gegründet. Deswegen gilt in der Gemeinde eine radikal andere Ethik. Wenn aber ökonomische Verhältnisse und Strukturen nicht nur die Oberfläche, sondern auch die Tiefenstruktur des Gleichnisses bestimmen, stellt sich die Frage, ob eine Auslegung ganz von ökonomischen Aspekten absehen kann. Wenn das Matthäusevangelium ein Gegenbild der Welt darstellt, gilt das doch wohl auch von der ökonomischen Sphäre. Wie kann das Gleichnis dann aber als eine Herausforderung der Ökonomie gelesen werden? Und hat diese Herausforderung überhaupt einen gegenwärtigen Anhaltspunkt? Zunächst lässt sich sagen, dass das Gleichnis überhaupt das ökonomische System herausfordert. Ökonomie basiert auf einer Mangellogik, insofern man immer davon ausgeht, dass eine Anleihe einen Verlust bringt, wenn sie nicht zurückbezahlt wird. Deswegen steht der Debitor immer in der Schuld des Kreditors und ist ihm folglich unterlegen. Im Gegensatz dazu behauptet das Gleichnis, dass eine Anleihe, die aus Überfluss stammt, nicht dem Kreditgeber gegenüber verpflichtet, sondern den Mitmenschen. Das gilt insbesondere, wenn Schulden erlassen werden. Dann ist der Schuldner schon dem Kreditor gegenüber frei, aber seinen eigenen Debitoren verpflichtet. Das ist ein radikaler Bruch mit gewöhnlichen finanziellen Betrachtungen. In der Weise wird im Gleichnis ein neues auf Überfluss basierendes ökonomisches System eingeführt. Die Herausforderung besteht in der offensichtlichen Utopie. Wenn Schuldner nicht zurückzahlen müssen und Debitoren nicht den Kreditoren verpflichtet sind, bricht die Gesellschaft in Anarchie und Chaos zusammen. Deshalb bleibt das Gleichnis eine Ermahnung, die eine absolut andere Gesellschaft darstellt und gerade deshalb die Mangellogik unserer Gesellschaft vor Augen führt. Diese Erkenntnis allein ist aber bereits eine politische Tat. »Ökonomie basiert auf einer Mangellogik, insofern man immer davon ausgeht, dass eine Anleihe einen Verlust bringt, wenn sie nicht zurückbezahlt wird. […] Im Gegensatz dazu behauptet das Gleichnis, dass eine Anleihe, die aus Überfluss stammt, nicht dem Kreditgeber gegenüber verpflichtet, sondern den Mitmenschen.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 39 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 39 Jesper Tang Nielsen Das Gleichnis von Schalksknecht-- eine Ökonomie der Generosität Sodann lässt die utopische Herausforderung aber darüber nachdenken, ob unser ökonomisches System teilweise anders sein könnte. Natürlich ist es keine Möglichkeit, alltägliche finanzielle Transaktionen aufgrund einer Logik des Überflusses durchzuführen, schon deshalb nicht, weil die Situation eine andere ist als im Gleichnis. Im Gleichnis ist der Debitor seine ganze Existenz dem Kreditor schuldigt. Noch ungewöhnlicher ist es, dass ein Kreditor, ohne Verlust zu erleiden, dem Debitor einen unüberschaubar großen Betrag erlassen kann. Aber die Situation ist nicht ganz undenkbar. In der Tat ähnelt das Verhältnis zwischen der westlichen und der dritten Welt dem Verhältnis zwischen dem Schalksknecht und seinem Herr. In diesem Fall ist das Gleichnis eine Herausforderung, zu überlegen, ob die Mangellogik die einzige mögliche ist. Es lässt sich kaum verleugnen, dass der globale finanzielle Markt nach einer Mangellogik funktioniert. Drittweltländer sind in dieser Situation dem Schalksknecht ähnlich, und den westlichen Ländern bzw. den Großbanken entspricht der Herr. Aber in der alltäglichen Welt besteht dieser Herr auf dem Reich der Gerechtigkeit, obwohl es eventuell möglich wäre, ganz anders über die Schulden zu denken. In diesem Fall gäbe es vielleicht die Möglichkeit, den Schuldner aus der Schuldhaft zu entlassen. Das wäre eine Tat des Überflusses, die möglicherweise eine neue Agenda für arme Länder in Geltung setzen könnte. Sicher ist diese Idee auch utopisch und lässt sich realistisch so nicht durchführen. Aber die Tatsache, dass das Gleichnis provoziert, über konkrete Verhältnisse nachzudenken, die man vorher als unveränderlich verstanden hat, ist auch eine politische Tat. Aus dieser exegetischen und gabentheoretischen Untersuchung des Gleichnisses von Schalksknecht lässt sich folgern, dass die politische Dimension des Matthäusevangeliums nicht in konkreten politischen Anweisungen besteht. Es spielt seine politische Rolle, wenn es eine Gegenwelt zu der normalen politisch-ökonomischen Welt imaginiert. In der Konfrontation mit einer radikal andersartigen Logik wird man provoziert, die Logik der gegenwärtigen Welt wahrzunehmen und-- hierhin liegt ein geradezu revolutionärer Aspekt des Evangeliums-- zu überlegen, ob nicht alles auch ganz anders sein kann. Anmerkungen 1 Jos Ant 17, 318-320, vgl. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 18-25), EKK 1/ 3, Zürich/ Neukirchen- Vluyn 1997, 69 Anm. 32. 2 Ein Talent entspricht 6000 Dinaren. 3 So etwa Luz, Das Evangelium nach Matthäus (s. o. Anm. 1), 69. 4 Zur Diskussion Luz, Das Evangelium nach Matthäus (s. o. Anm. 1), 75 f. 5 Im französischen Original erschienen 1925. Deutsche Übersetzung: M. Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austausches in archaischen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1968. 6 So etwa in J. Derrida, Given Time: I. Counterfeit Money, Chicago 1992. 7 J. Derrida, The Madness of Economic Reason: Gift without Present, in Derrida, Given Time (s. o. Anm. 6), 34-70. 8 Vgl. zum Folgenden N.H. Gregersen, »Generøsitetens teologi«, Dansk Teologisk Tidsskrift 71 (2008), 77-99. 9 Søren Kierkegaards Skrifter Band 20, København 2005, 58 (online Version: www.sks.dk) (eigene Übersetzung). 10 A. a. O. Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 40 - 2. Korrektur 40 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Einleitung zur Kontroverse Ist eine politische Auslegung des Neuen Testaments legitim? Die Frage, die dieser Kontroverse ihr Thema gegeben hat, entscheidet zugleich über Sinn oder Unsinn des ganzen Heftes. Wir fragen also in eigener Sache: Ist »das Neue Testament in Universität, Kirche, Schule und Gesellschaft« ein politisch’ Ding (wie wir in der Tat meinen) oder nicht (wie das theologische Fach namens »Neues Testament« in beredtem Schweigen weithin nahezulegen scheint)? Die beiden Autoren geraten damit unversehens in die Position externer Gutachter. Das Ergebnis lässt in beiden Teilen aufatmen, ja, beide Beträge bereichern das aktuelle Heft der ZNT auf je eigene Weise ganz erheblich. Jan Dochhorn unterscheidet in seinem Beitrag zwischen politischer Exegese und politischer Hermeneutik. Politische Exegese erarbeitet historisch-kritisch den kulturellen Kontext der biblischen Texte. Der Gegenwartsbezug politischer Exegese ist statthaft, sofern sie nach »Analogien« und »Anregungen« für die politische Gegenwart fragt; zu kritisieren ist sie, wenn sie mit »Projektionen« arbeitet. Die Gefahr der Projektion sieht er namentlich auf dem Feld der Jesusforschung gegeben, sobald einem sozialkritischen Jesusbild das Wort geredet werden soll. Einzelne »antiimperiale« Bezüge des Wirkens Jesu und der frühen Jesusbewegung sind nicht von der Hand zu weisen, sie reichen aber nicht hin, um ein sozialkritisches Jesusbild historisch hinreichend zu unterlegen. Seine tendenziell kritische Position hält er auch dort durch, wo er sich politischer Hermeneutik zuwendet, die nicht nur nach Analogien fragt, sondern aus den Texten belastbare politische Aussagen gewinnen will. Er nimmt sich nämlich mit Röm 13,1-7 eines Textes an, der im politisch-ethischen Diskurs unter Neutestamentlern notorisch unbeliebt ist. Von diesem Text aus entwickelt er im Dreischritt »Politik«, »Theologie« und »Dekonstruktion« Gedanken zum modernen Staats- und Demokratieverständnis, die einer Exegese den Spiegel vorhalten, deren Umgang mit den Texten nicht kritisch genug sein kann, die aber in der kritischen Wahrnehmung der politischen Gegenwart ihre blinden Flecken hat. Wolfgang Stegemann führt aus, dass die gestellte Frage aus zwei Gründen schwerlich pauschal verneint werden kann. Auslegungen des Neuen Testaments, überhaupt der Bibel, sind nämlich erstens immer insofern »politisch«, als die Menschen, die biblische Texte hören, lesen und auslegen, dies notwendig in bestimmten historischen, kulturellen und eben auch politischen Kontexten tun, die in die Wahrnehmung der Texte einfließen. Diejenigen, die apolitisch die Bibel lesen, haben selbst keine Schmerzen und spüren auch nichts von den Schmerzen anderer, die unter denjenigen Verhältnissen leiden, die ihnen selbst zugute kommen. Auch dann handelt es sich um »politische« Lektüren der Bibel. Die gestellte Frage kann zweitens auch deshalb nicht pauschal verneint werden, weil politischen Bibelauslegungen gerade dann, wenn ihnen die Legitimität abzusprechen ist, auf ihrem eigenen Feld begegnet werden muss. Gerade der Missbrauch politischer Bibelauslegung legitimiert, ja erfordert ihren Gebrauch. Das Beispiel, das Stegemann für eine solcherart problematische Lektüre anführt-- ein Text aus der Feder eines palästinensischen Christen--, lässt freilich die in unseren Breiten geführten Diskussionen über das Politische der Bibel vergleichsweise wie akademische Sonntagsspaziergänge aussehen: Es stockt beim Lesen förmlich der Atem, wenn Mitri Raheb, lutherischer Pfarrer in Bethlehem, mit brachialer Gewalt einen Keil zwischen den modernen Staat Israel und jede mögliche biblische Legitimation desselben treibt. Die Irritation, die dieser Text eines lutherischen Christen auslöst, macht allerdings auch die selbstverständliche Vertrautheit und Geneigtheit bewusst, die weithin den im christlich-jüdischen Dialog erprobten Umgang mit der jüdischen Sicht auf den Staat Israel bestimmt. Jene Geneigtheit hat ihre guten Gründe, andererseits muss ich gestehen, dass ich bisher noch nie einen Gedanken darauf verwendet habe, wie palästinensische Christinnen und Christen wohl die Bibel lesen, die doch unter einer Besatzungsmacht leben, die sich ihrerseits auf die Bibel beruft. Kurzum: Zumal dieses von Stegemann in die Kontroverse eingebrachte Fallbeispiel demonstriert die Dringlichkeit einer methodisch kontrollierten und historisch informierten Wahrnehmung des Politischen im Neuen Testament. Manuel Vogel Kontroverse Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 41 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 41 »Seitdem die Bibel als Textkanon vorliegt, ist sie als Argument in der politischen Debatte benutzt worden«, so schreiben Andreas Pecar und Kai Trampedach in der Einleitung zu einem Aufsatzband über die Inanspruchnahme der »Bibel als politisches Argument«, den sie auch gemeinsam herausgegeben haben. 1 Die einzelnen Beiträge des Sammelbands decken einen Zeitraum ab, der von den Propheten Israels bis zur Entstehung der modernen Bibelkritik reicht. Die Herausgeber rechnen nämlich damit, dass diese Form des (politischen) »Biblizismus«, wie sie sagen, typisch für die sog. »Vormoderne« war und im Zuge der Aufklärung und der Entstehung der kritischen Bibelwissenschaft an Überzeugungskraft verlor. Sie konstatieren, »daß eine politische Argumentation, die sich wesentlich aus der Bibel speiste und in der Vormoderne häufig anzutreffen war, in der Moderne ihre Legitimität verloren hat, wenn man von gesamtgesellschaftlichen Randgruppen oder Sekten […] einmal absieht. Die Bibel hat an politischer Autorität spürbar eingebüßt, als sie Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung wurde und die historische Bibelkritik im 18. und verstärkt dann im 19. Jahrhundert die verschiedenen Textschichten, Entstehungsphasen und Überlieferungen der einzelnen Schriften zu untersuchen begann.« 2 Nicht nur die Historisierung und damit verbunden die Relativierung der biblischen Schriften führten dazu, dass sie in der Moderne ihre vormalige Bedeutung als »fundierende Texte« 3 in politischen Angelegenheiten weitgehend eingebüßt haben. Es kommt hinzu, dass die vor-kritischen Lektüren der biblischen Texte einer Auffassung weichen mussten, in der die Bibel nicht mehr den erklärenden Referenzrahmen für die Erfahrungen der Menschen in der außerbiblischen Welt ihrer Gegenwart darstellte. Jetzt wurde der Spieß umgedreht und nicht mehr von der Bibel auf die Erfahrung der Wirklichkeit geschlossen, sondern die Erfahrung der Welt bzw. ihre Versprachlichung in rationalen wissenschaftlichen Diskursen wurde analog auch auf die Bibellektüre angewendet. Der Sinn der biblischen Texte, auch in Bezug auf politische Topoi, wird seitdem nicht mehr durch außertextliche Autoritäten (Gott, die Heiligkeit der Schrift, das Papstamt o. ä.) fundiert, sondern kann nur aus ihnen selbst begründet werden. Es gibt-- seit der Entstehung der kritischen Bibelwissenschaft- - nichts außerhalb der heiligen Texte. Das heißt: Der Textsinn hängt nicht nur vom Text selbst (was immer das ist), sondern von seinen Lektoren und Lektüren ab; anders formuliert: Er ist das Ergebnis von wissenschaftlich reflektierter Konstruktion. Ich will dies kurz an einem aktuellen Beispiel demonstrieren. Christian Strecker referiert in seinem differenzierten Aufsatz, in dem es um »politische Implikationen der paulinischen Botschaft im Kontext der römischen imperialen Wirklichkeit« geht, drei exegetische Positionen zum Thema, die sich seit den 1990er Jahren entwickelt haben. 4 Da gibt es einerseits Exegetinnen und Exegeten, die Paulus »eine dezidiert antiimperiale Haltung« zuschreiben. Dafür steht insbesondere Neil Elliotts Artikel Paul and the Politics of Empire bzw. sein Buch zum Römerbrief The Arrogance of Nations, das auf große Resonanz gestoßen ist. 5 Doch gibt es andererseits »zahlreiche jüngere exegetische Studien«, die »in den Protopaulinen statt einer dezidiert antiimperialen eine lediglich gemäßigt bzw. bedingt romkritische Haltung« diagnostizieren. Hierfür verweist Strecker zumal auf John D. Crossan und Jonathan L. Reed, die in ihrem Buch In Search of Paul diesen Standpunkt repräsentieren. 6 Schließlich unterscheidet Strecker eine »dritte Grundposition«, deren Vertreter in den Paulusbriefen »weder einen expliziten noch einen impliziten Gegenentwurf zum römischen Imperium […] erkennen.« Wichtigster Vertreter ist Seyoon Kim mit seiner Monographie Christ and Caesar. 7 Diese zum Teil gegensätzlichen Auslegungen neutestamentlicher Texte machen natürlich den Rückgriff auf biblische als fundierende Texte für politische Argumente zusätzlich problematisch. Die Frage nach der Legitimität politischer Auslegungen des Neuen Testaments, die hier pro und contra diskutiert werden soll, ist also in den in der Tradition der modernen Bibelkritik verankerten kritisch-wissenschaftlichen Bibeldiskursen durchaus angebracht. Als in der sog. »Vormoderne« der politische Rückgriff auf die Bibel von christlichen Herrschern wie auch von Klerikern häufig praktiziert wurde, war man sich dessen si- Kontroverse Wolfgang Stegemann Ist eine politische Auslegung des Neuen Testaments legitim? Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 42 - 2. Korrektur 42 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Kontroverse cher, dass die biblischen Texte eine »transzendentale« Begründung politischer Positionen leisten, ungeachtet dessen, dass durchaus kontroverse politische Interessen mit denselben biblischen Texten begründet werden konnten. Dazu kommt, und darauf weisen auch Pecar und Trampedach hin, dass sich erst im Zuge der Aufklärung der religiöse vom politischen Erfahrungs- und Wirklichkeitsbereich unterscheiden lässt. 8 Religion war zuvor »eingebettet« in Politik. 9 Doch in dem Maße, in dem in der Moderne Religion als Privatsache von der öffentlichen Politik unterschieden wird und die Texte der Bibel zum Bereich des Religiösen gezählt und damit immer schon vom Bereich des Politischen separiert werden, muss die erneute Vermischung von religiösen Texten und Politik in politischen Exegesen problematisch erscheinen und bedarf also der Legitimation. Diese Rechtfertigung sollte allerdings für solche Formen von »politischer« Auslegung des Neuen Testaments nicht schwer fallen, die von ihrem leitenden Interesse her historisch ausgerichtet sind. Ihnen geht es darum, biblische Texte in ihren damaligen politischen oder gesellschaftlichen Kontexten zu lesen. Die Erforschung von sozialen und politischen bzw. kulturellen Verhältnissen und Besonderheiten jener antiken mediterranen Gesellschaften, in denen (über einen längeren historischen Zeitraum hinweg) die biblischen Schriften entstanden sind und in denen ihre Autoren wie auch textlichen Charaktere beheimatet waren oder verortet werden können, ist unschwer als Ausweitung oder Vertiefung der anfangs eher literarisch und theologisch bzw. religionsgeschichtlich ausgerichteten Bibelkritik zu erkennen. Dieser Horizonterweiterung der historischen Bibellektüren durch die Einbeziehung politischer, gesellschaftlicher oder kultureller Erfahrungsbereiche lässt sich also kaum aus Gründen der Vernunft widersprechen. Dass sie dennoch nach wie vor selbst in akademischen Diskursen nicht selten ausgeblendet und verpönt werden kann, ist noch kein vernünftiges Argument. Um ein einfaches Beispiel zu nennen: Wenn nicht wahrgenommen wird, dass der Apostel Paulus einen Körper hatte, der der Nahrung und der Kleidung bedurfte, den Krankheiten plagten und in den auch politische Herrschaft unterschiedlicher institutioneller Gestalt und Gewalt sich sichtbar und schmerzhaft eingeschrieben hat, ist dies noch lange kein Argument gegen die Legitimität einer politischen Exegese (etwa) der Paulustexte. 10 Im Gegenteil-- die entschiedene Nichtbeachtung konkreter sozialer, gesellschaftlicher und institutioneller Bedingungen und Einwirkungen auf Menschen, die uns in den biblischen Texten begegnen, ist nicht selten mit ihrer bewussten Ideologisierung oder Metaphorisierung verbunden. Kurz: Die Berücksichtigung sozialer, politischer und kultureller Dimensionen im Zuge der kritisch-wissenschaftlichen Exegese neutestamentlicher Texte ist als Ergänzung der traditionellen Erkenntnisinteressen der Bibelkritik Teil derselben und bedarf keiner eigenen Rechtfertigung. Anders verhält es sich allerdings mit den gezielt gegenwartsorientierten politischen Exegeseformaten. Sie möchten durch die Auslegung bzw. Anwendung von biblischen Texten im Kontext der eigenen gegenwärtigen Gesellschaft auch politisch Einfluss nehmen (in welcher Form auch immer). Doch räume ich sofort ein, dass beide »politischen« Zugänge zum Neuen Testament eng miteinander verbunden sein können. So war die sog. »Sozialgeschichte der Bibel«, die Ende der 1970er Jahr begründet wurde, durch befreiungstheologische Ansätze motiviert und knüpfte im Neuen Testament u. a. an entsprechende Texte an, etwa an die Verkündigung des »Evangeliums der Armen« Prof. em. Dr. Wolfgang Stegemann, geb. 1945 in Porta Westfalica/ Barkhausen, Studium der Ev. Theologie in Heidelberg, 1973-1977 Wissenschaftlicher Mitarbeiter Mainz, 1975 Promotion in Heidelberg; Vikar und Pfarrer der Badischen Landeskirche 1975-1979; Hochschulassistent Heidelberg 1979-1984; Habilitation 1983 Heidelberg, von 1984 bis 2010 Prof. für Neues Testament an der Augustana Hochschule Neuendettelsau. Veröffentlichungen zur ntl. Sozialgeschichte, Jesusforschung, Paulusforschung, zum jüdisch-christlichen Dialog. Wolfgang Stegemann »Die entschiedene Nichtbeachtung konkreter sozialer, gesellschaftlicher und institutioneller Bedingungen und Einwirkungen auf Menschen, die uns in den biblischen Texten begegnen, ist nicht selten mit ihrer bewussten Ideologisierung oder Metaphorisierung verbunden.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 43 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 43 Wolfgang Stegemann Ist eine politische Auslegung des Neuen Testaments legitim? durch den historischen Jesus. 11 Nicht zufällig hat sich u. a. aus diesem Ansatz auch eine feministische Bibellektüre und Theologie entwickelt. Besonders markant hat der sog. Postcolonial Biblical Criticism »sich als radikale Überbietung befreiungstheologischer und feministischer Konzepte inszeniert«. 12 Im Unterschied dazu ist die soziologische bzw. vor allem auch die (durch die sog. context group ins Leben gerufene) sozialwissenschaftliche Bibelexegese (social scientific critique), die neben der Soziologie auch andere Sozialwissenschaften (wie Kulturanthropologie oder Ritualforschung) für die Interpretation biblischer Texte heranzieht, nicht direkt an der aktuellen politischen Umsetzung ihrer Bibellektüre interessiert. Sie bleibt stärker auf der wissenschaftlichen Diskursebene des Politischen bzw. Gesellschaftlichen und versteht ihre Rekonstruktion der historischen Kontexte biblischer Texte zumal als kritische Infragestellung von deren »anachronistischen« Rezeptionen durch unsere gegenwärtigen Lektüren, worunter sie die (meist unbewusste) Deutung biblischer Texte im Referenzrahmen der modernen westlichen Gesellschaften und Kulturen meint. In diesem Zusammenhang werden die aus der Ethnologie (bzw. ihrer USamerikanischen Version, der Kulturanthropologie) geliehenen Adjektive »etisch« (aus der Sicht des ethnologischen Beobachters) und »emisch« (die Sicht der beobachteten Angehörigen einer fremden Kultur) verwendet, um das eigene Interpretationsziel zu bezeichnen. Freilich ist in den methodologischen Diskursen der sozialwissenschaftlichen Exegese auch erkannt worden, dass die die biblischen Texte interpretierenden Fachleute nicht in die Haut der biblischen Autoren und Charaktere schlüpfen können, sondern sich mit einem gewissen Mischungsverhältnis von emischen und etischen Perspektiven zufrieden geben müssen. Kurz: Es gelingt eben auch mit Hilfe der besten sozialwissenschaftlichen Methoden und Modelle nicht, die irritierende Instanz des Interpreten/ der Interpretin aus dem Prozess der Interpretation herauszufiltern. Wichtig ist mir: Beide »politischen« Zugänge zu biblischen Texten sind an deren historischen Kontexten interessiert, beide kommen nicht darum herum, politische, grundsätzlicher: gesellschaftliche Umstände und Verhältnisse, in denen die biblischen Texte entstanden sind bzw. auf die sie sich beziehen oder eben auch gegenwärtig bezogen werden sollen, wahrzunehmen. Eine unpolitische Auslegung biblischer Texte-- sei es, dass ihr die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse der Entstehung bzw. Adressierung dieser Texte egal sind; sei es, dass sie irgendeine politische Bedeutung dieser Texte für die eigene Gegenwart leugnet-- blendet für die Vergangenheit der Texte wie für die Gegenwart ihrer Interpretation entscheidende Wirklichkeitsbereiche aus. Ob dies bewusst, d. h. etwa aus politischen Gründen, oder naiv geschieht, ist am Ende nicht entscheidend. Ich könnte auch sagen: Der politischen Dimension der Texte und auch ihrer eigenen Ergebnisse kann keine Bibelexegese entgehen. Wenn man diese Erkenntnis einmal auf die o. g. drei unterschiedlichen Interpretationen der Haltung des Paulus zur imperialen Herrschaft Roms bezieht, die ich eben skizziert habe, dann ist festzuhalten: Selbst jene Auslegung der einschlägigen Paulustexte, die dem historischen Autor Paulus keinerlei Positionierung in dieser politischen Frage zuschreibt, ist weder für die Einschätzung des Apostels Paulus selbst noch für gegenwärtige politische Herrschaftsdiskurse politisch irrelevant. Für Paulus könnte sie bedeuten, dass ihm eine un-politische Haltung zugewiesen wird, die faktisch auf die Anerkennung des Status quo hinauslief; und eben diese quietistische Haltung ließe sich dann mit Verweis auf Paulus auch für die Gegenwart begründen. Doch Quietismus ist auch eine politische Haltung, die mal weniger und mal mehr Bedeutung besitzen kann im Leben des Einzelnen wie seiner Gesellschaft. Damit spreche ich freilich schon einen neueren politik-theoretischen Diskurs an, der in einem gewissen Sinne die bisher als modern gekennzeichnete Trennung von einzelnen Erfahrungsbereichen hinter sich lässt. Inzwischen hat sich die Definition des Politischen und gerade auch die im Zuge der Aufklärung entstandene Konzeption von der Trennung der Bereiche des Politischen und des Religiösen gravierend verändert. Es ließe sich von einer postmodernen Konzeption des Politischen sprechen, die nicht mehr von separaten Objektbereichen der Erfahrung ausgeht (hier der politische, dort der wirtschaftliche oder religiöse oder sonstige Bereich), sondern die Subjekte und ihre Wahrnehmung für die Einschätzung und Differenzierung der unterschiedlich benannten Bereiche mit ins Spiel bringt. Bei »Eine unpolitische Auslegung biblischer Texte […] blendet für die Vergangenheit der Texte wie für die Gegenwart ihrer Interpretation entscheidende Wirklichkeitsbereiche aus.« »Der politischen Dimension der Texte und auch ihrer eigenen Ergebnisse kann keine Bibelexegese entgehen.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 44 - 2. Korrektur 44 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Kontroverse aller Anerkennung und Berücksichtigung institutioneller Ausübung von politischer Steuerungsmacht lässt sich kein Bereich der Lebenserfahrung als intrinsisch politisch oder un-politisch ausgrenzen. Marcus Llanque und Herfried Münkler formulieren es so: »Das Politische ist kein Bereich der sozialen Wirklichkeit, der auf Grund seiner Gegenständlichkeit von anderen Bereichen abgegrenzt werden kann. Im Laufe der Theoriebildung ist kaum ein Gegenstand nicht für politisch relevant erachtet worden. Das Eigentümliche der Politik liegt in der Art und Weise des Umgangs mit den Gegenständen.« 13 Lukas Bormann, der sich u. a. auf dieses Zitat stützt, macht deutlich, dass »Politikdefinitionen, die einen bestimmten Bereich der gesellschaftlichen Wirklichkeit als politisch gegenüber anderen Bereichen, die als nichtpolitisch gelten, abgrenzen, […] in der Politikwissenschaft weitgehend aufgegeben« sind. 14 Dieses Verständnis des Politischen wendet sich also ab von dem im 18./ 19. Jahrhundert entstandenen Konzept unterschiedlicher, voneinander separierter Wirklichkeitsbereiche, die sozusagen ohne die sie wahrnehmenden Subjekte existieren; es macht umgekehrt die subjektive, die deutende oder-- wie man auch mit Ernst Vollrath sagen könnte-- »hermeneutische« Seite der Wirklichkeit stark. 15 So gesehen stellt sich die grundsätzliche Frage, ob eine politische Auslegung des Neuen Testaments legitim ist, trotz Aufklärung und Entstehung der wissenschaftlichen Bibelauslegung meiner Meinung nach nicht mehr wirklich. Mich beschäftigt vielmehr, wie sie argumentiert, also: welche politischen Lektüren ich für legitim halte. Wo sehe ich Grenzen der politischen Auslegung neutestamentlicher Texte? Welche Formen politischer Auslegungen kann ich akzeptieren? Welche politischen Auslegungen finde ich aus ethischen Gründen bedenklich, wenn nicht gar verwerflich? Das klingt nicht nur subjektiv-- es ist auch so gemeint. Denn wie für alle anderen Lektürearten biblischer Texte besitzen wir auch für die politische keine objektiven Maßstäbe. Und dies ist umso tragischer, als es manchmal um keine geringere Alternative geht als die, ob wir mit unserer Auslegung »on the right side« oder »on the wrong side of history« stehen. Das hört sich etwas dramatisch an, doch ein Blick in die Auslegungsgeschichte des Neuen Testaments zeigt, dass es immer wieder einen so offenkundigen Missbrauch der politischen Bibellektüre gegeben hat, dass darüber ethisch schon gar nicht mehr gestritten werden muss, jedenfalls post festum. Ich verweise nur auf die menschenverachtende Theologie der sog. Deutschen Christen, die den rassischen Antisemitismus Nazideutschlands auch in das Neue Testament hineingelesen hat. Die entsprechende politische Exegese des Neuen Testaments machte Jesus zu einem Arier 16 und beglaubigte durch ihren Rückgriff auf neutestamentliche Texte die Mischung aus rassebiologischen und kulturellen Diffamierungen des jüdischen Volkes, die die Entrechtung, Verfolgung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden ideologisch begründete. Ein vergleichbares aktuelles Beispiel findet sich- - nicht nur nach meiner Interpretation 17 -- in einem Vortrag des lutherischen Pfarrers von Bethlehem, Dr. Mitri Raheb: »Christ at the Checkpoint« (gehalten 2010 in Bethlehem). 18 Er deutet u. a. in diesem Vortrag den heutigen Nahostkonflikt auf dem Hintergrund der sich in der Bibel reflektierenden geopolitischen Situation Israels, vertauscht dann allerdings die Rollen: Das heutige Israel repräsentiert das damalige Rom, die Palästinenser identifiziert er mit der Rolle des damaligen Israel. Mehr noch-- er setzt sich bzw. die Palästinenser überhaupt auch an die Stelle des biblischen Israel: Denn nicht auf Angehörige des Volkes Israel (etwa die Propheten), sondern auf die Vorfahren der Palästinenser gehen die Offenbarungen und die Abfassung der Bibel zurück. Meißner sieht darin zu Recht ein aktuelles Beispiel der sattsam bekannten »Enterbungstheorie«. 19 Ja, selbst in genetischer Hinsicht trägt er, Raheb, stellvertretend für die Palästinenser, angeblich DNA-Spuren von König David und Jesus in sich. Raheb stellt weitere Analogien her: etwa zwischen den Zöllnern und heutigen palästinensischen »Kollaborateuren«, zwischen den Pharisäern und den an der Aufrichtung der Scharia interessierten »Muslimbrüdern« (und wenn man Rahebs Projektionen ausdehnt: sind die Zeloten dann heute die »Hamas«, die Sikarier die »Selbstmordattentäter«? Doch diese Übertragungen passen natürlich nicht zum politischen Interesse Rahebs). Hier nur ein kurzes Zitat: »And let me start with 3 assumptions which are important for you to understand the whole concept that I’m going to present to you today. The first is: the Bible could not have been written anywhere else but in Palestine. This is, for me, an assumption. It could not have been written in Egypt, it could not have been written in Persia, it could not have been written in Rome, although maybe some small parts, but it IS connected to this land. So, this is the first assumption. And the second assumption is that the Palestinian people and part of the Jewish people are the continuation of the peoples of the land. It’s not Israel, according to what I am going to present to you. You will see why. Actually, Israel represents Rome of the Bible, not the people of the land. And this is not only because I’m a Palestinian. I’m sure if we were to do a DNA test bet- Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 45 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 45 Wolfgang Stegemann Ist eine politische Auslegung des Neuen Testaments legitim? ween David, who was a Bethlehemite, and Jesus, born in Bethlehem, and Mitri, born just across the street from where Jesus was born, I’m sure the DNA will show that there is a trace. While, if you put King David, Jesus and Netanyahu, you will get nothing, because Netanyahu comes from an East European tribe who converted to Judaism in the Middle Ages […] So understand that it was really our forefathers who wrote the Bible. It was our forefathers to whom the revelation was given, and, believe it or not, the Bible, if you live it as a Palestinian and read it as a Palestinian, you think it has been written just yesterday because it deals, not with some spiritual issues up there. It deals with the real issues of this region and it gives a very interesting answer.« 20 Nun ist zu vermuten, dass Raheb keine DNA-Proben von König David oder Jesus besitzt, so wenig wie von einem »osteuropäischen Stamm, der im Mittelalter zum Judentum übertrat« (er meint vermutlich die sog. Chasaren), bzw. von dem gegenwärtigen Ministerpräsidenten Israels. Doch darum geht es ihm auch nicht wirklich. Es geht ihm um die Substitution des real existierenden jüdischen Volkes in Israel durch die Palästinenser und die Delegitimierung des jüdischen Staates- - und zwar unter Rückgriff auf die Bibel in Verbindung mit biologischen Imaginationen und Projektionen. 21 König David wird gar nicht erst mit Israel oder Judäa in Verbindung gebracht, er ist ein »Bethlehemite« (was immer das meint); Jesus ist keine Jude mehr, sondern ethnisch oder religiös offenbar ein unbeschriebenes Blatt, doch in Bethlehem geboren und jedenfalls genetisch ein Vorfahre Rahebs, des Palästinensers. Was übrigens voraussetzt, dass dessen Familie schon zu Zeiten von König David oder Jesus in Bethlehem gewohnt hat, vermutlich in derselben Straße, direkt gegenüber von Jesus und seiner Familie, wie man aus dem Vortrag erfährt. Der zeigt auf Schritt und Tritt eine Form der politischen Inanspruchnahme der Bibel, gerade auch des Neuen Testaments, die für meinen Geschmack ein klassisches negatives Muster politischer Bibellektüre repräsentiert: Die Bibel dient als Argument in einer politischen Auseinandersetzung und soll die Position des politischen Gegners diffamieren, indem sie diesen auf die Seite der »Bösen« in der Bibel verortet, der eigenen Position dagegen das höhere moralische Recht verleihen, insofern man sich auf der Seite der »Guten« in der Bibel wähnt. Der »Pharisäer« ist immer der andere, man selbst identifiziert sich mit dem »Zöllner« im berühmten Gleichnis. Doch das setzt wiederum voraus, dass der Signifikant »Zöllner« in diesem Fall nicht mit »Kollaborateur«, sondern mit »Demut« assoziiert wird. Das würde nun gar nicht passen zur politischen Exegese von Raheb. Raheb nimmt für seine Ausführungen eine »neues Denken« und einen »befreiungstheologischen Ansatz« in Anspruch. Meißner schreibt dazu, und ich kann es ihm letztlich nicht verdenken: »Wenn antijudaistische Denkfiguren wie diese heute unter palästinensischen Christen als ein ›neues Denken‹ angepriesen werden, wenn Juden aufgrund ihrer DNA ihr Recht auf die Bibel und das Land abgesprochen wird, frage ich mich: Wer befreit uns von einer solchen ›Befreiungs‹-Theologie.« 22 Gleichwohl halte ich, in diesem Falle mit einer gewissen Verzweiflung, daran fest: abusus non tollit usum-- d. h. die Legitimität politischer Bibellektüre wird auch durch die Deutschen Christen und ihre theologischen Protagonisten, die u. a. Jesus zu einem Arier gemacht haben und die jüdische Bibel gegen das jüdische Volk ausgespielt haben, wie auch durch Pfarrer Raheb, der ihn zu einem Palästinenser macht und den jüdischen Staat unter Rückgriff auf die jüdische Bibel delegitimieren will, nicht aufgehoben. Ich stimme vielmehr Stefan Alkier zu, der in einem anderen Zusammenhang schreibt: »Der berechtigte Verweis auf die unterdrückenden Effekte vieler Bibelinterpretationen widerlegt den ebenso berechtigten Hinweis auf die förderliche Kraft der Lektüre biblischer Texte nicht. Beides trifft zu und führt zum Interesse am Bibeltext selbst, sei es, um ihn sachlich zu kritisieren, sei es, um lebenstaugliche Wahrheit zu finden. Dazu bedarf es aber nicht nur plausibler Methoden der Interpretation, sondern auch der ethischen Prüfung ihrer Grundlagen und Anwendungen.« 23 Wenn wir uns darauf einigen können, dass politische Exegese des Neuen Testaments legitim ist, dann können wir uns an die Arbeit machen, ethische Kriterien zu formulieren, die ihre Methoden wie ihre Anwendungen begleiten und überprüfen. Für jetzt genügt mir als ein Leitkriterium Stefan Alkiers Formulierung, dass es darum geht, »lebenstaugliche Wahrheit zu finden«. Denn ich habe die Hoffnung, dass unter diesem konstruktiven hermeneutischen Prinzip politische Exegese zu einer lebensförderlichen Lektüre für alle Menschen werden kann. »Wenn wir uns darauf einigen können, dass politische Exegese des Neuen Testaments legitim ist, dann können wir uns an die Arbeit machen, ethische Kriterien zu formulieren, die ihre Methoden wie ihre Anwendungen begleiten und überprüfen.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 46 - 2. Korrektur 46 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Kontroverse Anmerkungen 1 A. Pecar/ K. Trampedach, Der »Biblizismus«-- eine politische Sprache der Vormoderne, in: Dies. (Hgg.), Die Bibel als politisches Argument, München 2007, 1-18: 2. 2 Ebd., 2 f. 3 Diesen kennzeichnenden Begriff führen Pecar und Trampedach ein (a. a. O., 1). 4 Ch. Strecker, Taktiken der Aneignung. Politische Implikationen der paulinischen Botschaft im Kontext der römischen Wirklichkeit, in: E. Reinmuth (Hg.), Neues Testament und politische Theorie. Interdisziplinäre Beiträge zur Zukunft des Politischen, Stuttgart 2011, 114- 161: 116 ff. 5 Strecker, a. a. O., 116; N. Elliott, Paul and Politics of Empire. Problems and Prospects, in: R.A. Horsley (Hg.), Paul and Politics, Harrisburg 2000, 17-39; ders., The Arrogance of Nations. Reading Romans in the Shadow of Empire, Minneapolis 2010. 6 Strecker, a. a. O., 118; J.D. Crossan/ J.I. Reed, In Search of Paul. How Jesus’ Apostle Opposed Rome’s Empire with God’s Kingdom, London 2005. 7 Strecker, a. a. O., 120; S. Kim, Christ and Caesar. The Gospel and the Roman Empire in the Writings of Paul and Luke, Grand Rapids 2008. 8 A. Pecar/ K. Trampedach, a. a. O., 1; vgl. auch W. Stegemann, Jesus und seine Zeit, Stuttgart 2010, 213f. (dort weitere Literatur). 9 Grundlegend dazu: B.J. Malina, Religion in the World of Paul, Biblical Theology Bulletin 16 (1986), 92 ff. 10 S. auch die Ausführungen von L. Bormann, Befreiung und Rettung. Das Politische in der lukanischen Vorgeschichte (Lk 1-2), in: E. Reinmuth (Hg.), Neues Testament und politische Theorie. Interdisziplinäre Beiträge zur Zukunft des Politischen, Stuttgart 2011, 98-113, bes. 100-104. Er kritisiert in diesem Zusammenhang die von nicht wenigen exegetischen Fachleuten vorausgesetzte vermeintliche »Politikferne des Neuen Testaments.« 11 S. dazu L. Schottroff/ W. Stegemann, Jesus von Nazareth- - Hoffnung der Armen, Stuttgart 3 1990; W. Schottroff/ W. Stegemann, Traditionen der Befreiung. 2 Bände, München 1980. 12 So zu Recht S. Alkier, Bibel und Interesse, in: E. Reinmuth (Hg.), Neues Testament und Politische Theologie. Interdisziplinäre Beiträge zur Zukunft des Politischen, Stuttgart 2011, 215-228: 217. 13 M. Llanque/ H. Münkler (Hgg.), Politische Theorie und Ideengeschichte. Lehr- und Textbuch, Berlin 2007, 13 (Kursivierung von mir). 14 Bormann, a. a. O., 107. 15 Darauf macht Bormann, ebd., aufmerksam: E. Vollrath, Was ist das Politische? Eine Theorie des Politischen und seiner Wahrnehmung, Würzburg 2003. 16 Dazu nur W. Fenske, Wie Jesus zum ›Arier‹ wurde. Auswirkungen der Entjudaisierung Christi im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 2005. 17 S. auch S. Meißner, Sind die Palästinenser die wahren Juden? , in: Religionen in Israel 18 (2012), 73-80. 18 http: / / www.christatthecheckpoint.com/ lectures/ Mitri_ Raheb.pdf. 19 Meißner, a. a. O., 74. 20 Nachzulesen auf der genannten Internetseite. 21 Raheb steht übrigens mit dieser Inanspruchnahme der jüdischen Bibel bzw. des Neuen Testaments für das palästinensische Volk nicht alleine da. Sie ist Teil einer ideologischen Auseinandersetzung palästinensischer Autoritäten, die die historische, kulturelle und genetische Kontinuität zwischen den jüdischen Israelis der Gegenwart und der jüdischen Geschichte im Land Israel von ihren Anfängen an delegitimieren soll: dazu nur D. Bukay, Founding National Myths. Fabricating Palestinian History, in: Middle East Quarterly (19/ 3) 2012, 23-30; nachzulesen unter: http: / / www.meforum.org/ 3273/ palestinian-founding-national-myths. Weitere Hinweise in dem Aufsatz von Meißner. 22 Meißner a. a. O., 78. 23 Alkier, a. a.O, 218 f. Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 47 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 47 1. Einleitung Die Frage, was von einer politischen Exegese des Neuen Testaments zu halten sei, kann ich zunächst einmal nur mit einer Gegenfrage beantworten, und die lautet: Was ist gemeint? Ich kann mir zwei unterschiedliche Antworten vorstellen: 1) Politische Exegese ist der Versuch, historische Quellen, im gegebenen Falle Quellen zur Frühgeschichte des Christentums, mit Hinblick auf die politischen Verhältnisse ihrer Zeit auszuwerten, sei es, dass die Texte eine Stellungnahme enthalten, sei es, dass sich politische Verhältnisse in ihnen widerspiegeln, ohne wirklich Thema zu werden. So verstanden ist politische Exegese schlicht eine der vielen Fragerichtungen historisch-kritischer Arbeit. Der Gegenwartsbezug besteht dabei unter anderem in der Suche nach brauchbaren Analogien im politischen Gegenwartsleben (nicht zuletzt in außereuropäischen Kontexten). Genauso aber sind auch Projektionen zu neutralisieren, die sich aus der Parteinahme der Exegeten in aktuellen Auseinandersetzungen ergeben. Politische Gegenwart hat damit ihren Ort auch im Rahmen exegetischer Selbstkritik. 2) Politische Exegese ist bestrebt, anhand kanonischer Texte Aussagen politischen Inhalts zu gewinnen, die für gegenwärtige Fragen der Gesellschaftsgestaltung relevant sind. Auch ein solches Unterfangen ist wissenschaftlich möglich, gehört jedoch meines Erachtens nicht zur Exegese, sondern zur Hermeneutik. Akteure einer solchen Hermeneutik können gewiss außertheologisch arbeitende und nichtchristliche Forscher sein, denn prinzipiell können biblische Texte genauso wie auch Texte anderer Kulturen für das Verstehen und Bewältigen von Welt erschlossen werden, ohne dass Text und Ausleger einen gemeinsamen weltanschaulichen oder institutionellen Referenzrahmen haben müssten. Ausgangspunkt soll hier aber die vielfach gelebte Konstellation sein, der zufolge der biblische Text kanonischen Rang hat und im Rahmen eines christlichen Diskurses zur Geltung kommt. In diesem Falle sind meines Erachtens zwei Aufgaben für eine politische Hermeneutik biblischer Texte zu unterscheiden, zum ersten eine dogmatische und zum zweiten eine existentialtheologische. Dogmatisch ist zu fragen, was die Kirche aufgrund des ihr aufgetragenen Evangeliums verbindlich über politische Fragestellungen zu sagen hat (bis hin zur Definition häretischer Aussagen, die auch dienstrechtlich von Bedeutung wäre). Existentialtheologisch ist zu fragen, was biblischen Texten auch unterhalb dieses Niveaus und ohne die gleiche Verbindlichkeit an theologischer Lebensorientierung in politischen Fragen zu entnehmen ist, auch diesmal freilich unter Berücksichtigung des Kerngehalts der kirchlichen Botschaft. Zum Potential einer politischen Hermeneutik mit dogmatischer Fragestellung ist zu konstatieren, dass die dogmatischen Überlieferungen der Kirchen, allen voran die drei altkirchlichen Symbole als die primären Bekenntnisschriften 1 , in der Hauptsache die trinitarische Gotteslehre als eine Geschichte von der Erlösung des Gottesvolkes explizieren und abgesehen davon nur wenig Verpflichtendes über die unerlöste Welt aussagen, dem der Bereich des Politischen wohl angehört. Vermutlich wird eine dogmatische Hermeneutik also wenig einbringen, was die Gewissen der Gläubigen, auch das der Amtsträger und Amtsträgerinnen, in Fragen der Politik binden kann. Daher wird von dieser Fragerichtung hier Abstand genommen. Eher schon wird man anhand biblischer Texte zu Aussagen dogmatisch unverbindlicher Art kommen, die der oben erwähnten existentialtheologischen Aufgabe zuzuordnen sind. Diese wird man gewinnen können, indem man fragt, welche Anregungen politischen Gehalts biblischen Texten anhand politischer Herausforderungen der Gegenwart zu entnehmen sind. Diese Anregungen können sowohl auf eine Analyse von politischer Wirklichkeit hinauslaufen als auch Handlungsoptionen eröffnen. Im letztgenannten Fall werden sie eine christliche Individual- oder Sozialethik betreffen, im erstgenannten wäre ein Beitrag zur Analyse von Politik und Gesellschaft geleistet. Über Politik darf also geredet werden, auch in der Bibelwissenschaft, und zwar sowohl exegetisch wie hermeneutisch. Für eine inszenierte Kontroverse, bei der die Kontroverse Jan Dochhorn Ist eine politische Auslegung des Neuen Testaments legitim? Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 48 - 2. Korrektur 48 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Kontroverse Pro-Position schon vergeben ist, erscheint eine solche Stellungnahme wenig hilfreich, aber ich hoffe, dennoch für Dissens sorgen zu können. Dies mag durch die materialen Aussagen erreicht werden, die ich im Folgenden zur politischen Exegese (§ 2) und dann zur politischen Hermeneutik (§ 3) skizzieren werde. Unter § 2 werde ich mich exemplarisch mit der Forschung zum historischen Jesus befassen, und unter § 3 werde ich mit Röm 13,1-7 einen prominenten Text des Neuen Testaments auf die Frage hin untersuchen, welche Anregungen ihm im Sinne einer politischen Hermeneutik existentialtheologischen Charakters zu entnehmen sind. 2. Politische Exegese Das Christentum nimmt seinen Anfang mit dem Wirken Jesu von Nazareth, und damit sind wir schon bei der Politik: Jemand, der vom römischen Präfekten Pontius Pilatus nicht ohne Mitwirken jüdischer Eliten ans Kreuz gebracht wurde-- soviel wird man den Quellen entnehmen dürfen--, ist sicher auch in Kategorien des Politischen zu beschreiben, und dies gilt erst recht dann, wenn der Tempel zu Jerusalem betroffen war, oder wenn Jesus von Nazareth tatsächlich, wie im Rahmen der Third Quest wieder verstärkt angenommen wird, ein messianisches Selbstverständnis hatte. 2 Wie der Rebell Athronges, der nach dem Tod des Herodes die Königswürde beanspruchte (vgl. Josephus, Ant 17,278-284), müsste auch ein sich messianisch gebender Jesus zumindest partiell als ein religiös-politischer Akteur gesehen werden. Doch es reicht schon, wenn das Reich Gottes ein elementarer Bestandteil seiner Botschaft war, wie man ja seit längerem annimmt: In der Assumptio Mosis etwa ist der Beginn der Gottesherrschaft das Ende des Römerreiches (vgl. Ass Mos 10,1), und so haben wir einigen Anlass zu der Annahme, dass eine Rede Jesu vom Königreich Gottes, wie auch immer sie näher zu spezifizieren ist, nicht ohne politische Konnotationen blieb-- problematische Konnotationen, wenn man die Sache mit den Augen eines römischen Politikers oder eines Angehörigen der jüdischen Aristokratie ansieht. Damit sind wir an einem für die Voraussetzungen von Exegese entscheidenden Punkt: Jesus evoziert Reminiszenzen an sozial- und nationalrevolutionäres Vorstellungsgut unserer Tage. Nun gibt es Exegeten, denen derlei Reminiszenzen behagen. Damit steht die Gefahr von Projektionen im Raum, die hier im Sinne der oben genannten exegetischen Selbstkritik zu stören sind-- anhand der Quellen. Es gibt auch andere Projektionen, aber hier soll es um die genannten gehen: --Was das Verhältnis zu Rom betrifft, so lässt Jesus der synoptischen Überlieferung zufolge zelotische Eindeutigkeit vermissen. Die Perikope zur Zinsgroschenfrage ist hierfür geradezu ein Paradebeispiel und wird von den Synoptikern auch entsprechend inszeniert (vgl. Mk 12,13-17 par). 3 Zu beachten ist auch, dass Jesus laut Lk 13,1-5 eine Gewalttat des Pilatus genauso wie einen einstürzenden Turm als Mittel des Strafhandelns Gottes ansehen konnte. War eine Theologie, die obrigkeitliche Gewalt derart in ein religiöses Weltbild einordnet, darauf angelegt, aktiven oder passiven Widerstand zu legitimieren? Und wenn beide Texte mit dem historischen Jesus nicht viel zu tun gehabt haben sollten, weil er in Wirklichkeit viel mehr den jüdischen Rebellen seiner Zeit geglichen hätte, wie kommt es dann, dass eine von Jesus ausgehende Bewegung sie ihm hätte zuschreiben können? --Seit der Arbeiterfrage des 19. Jahrhunderts sehen wir Fragen der Verteilung volkswirtschaftlicher Ressourcen oder näherhin »die soziale Frage« als Teil des Politischen. Sozialkritik wird dementsprechend als eine Form politischen Verhaltens verstanden. Setzen wir diese Kategorisierungen einmal voraus und suchen wir in unseren Texten nach Aussagen, die moderner Sozialkritik ähneln, so stoßen wir beispielsweise auf Jak 5,4, wo reiche Grundbesitzer als Ausbeuter ihrer Erntearbeiter angesprochen werden. Hier zeigt sich: Das frühe Chris- Prof. Dr. Jan Dochhorn, dr. theol., geboren 1968 in Hannover, arbeitet seit 2007 als Lektor / Associate Professor für Neues Testament an der Universität Aarhus (Dänemark). Zuvor war er u. a. Mitarbeiter am Septuaginta-Unternehmen der Göttinger Akademie der Wissenschaften (2005-2007). Er hat über die Apokalypse des Mose promoviert und eine Disputats über die Johannesoffenbarung abgelegt. Seine nächsten Buchprojekte betreffen das koptische Testament Jakobs sowie den Teufel in der Religion Israels und im frühen Christentum. Jan Dochhorn Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 49 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 49 Jan Dochhorn Ist eine politische Auslegung des Neuen Testaments legitim? tentum hat »sozialkritisches« Potential. Aber man wird es wohl nicht überschätzen dürfen. Vieles nämlich von dem, was ausgerechnet in der synoptischen Jesusüberlieferung über die Reichen verlautet, trägt nicht ohne weiteres sozialkritische Züge. So besteht beispielsweise die Begründung für Jesu Weheruf gegen die Reichen gerade nicht darin, dass diese die Armen ausgebeutet hätten; Ausgangspunkt ist eher die Vorstellung, dass gegenwärtiges Glück durch künftiges Unglück ausgeglichen werde und umgekehrt (vgl. Lk 6,24). Auch im Gleichnis vom reichen Mann und dem armen Lazarus ist nicht mehr als dies zu erkennen (vgl. Lk 16,25). Und beim Gleichnis vom reichen Kornbauern geht es eben auch nicht darum, dass des Bauern volle Scheuern unrechtmäßig so voll geworden sein könnten oder dass Reichtum an sich auf Unrecht beruhen würde, sondern um die angesichts des Todes absurde Idee, dass Reichtum auch schon Sicherheit bedeute (vgl. Lk 12,20). --Noch weniger sozialkritisch erscheinen Gleichnisse Jesu, in denen für Gott ein reicher Großgrundbesitzer figuriert, der uneingeschränkt über seine Untergebenen verfügt. Dies gilt für das Gleichnis von den anvertrauten Pfunden (vgl. Lk 19,11-27 par) und noch mehr für das Gleichnis vom unnützen Knecht (Lk 17,7-10), das sich als Rede an Sklavenhalter gibt und deren gebieterischen Umgang mit ihren Knechten mit der Autorität der an »uns« ergangenen Gebote vergleicht. Auch das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg lässt eine solche Struktur erkennen: Die Begründung für die offenkundig ungerechte Entlohnungspraxis liegt hier eben nicht, wie in Sonntagspredigten immer wieder zu hören, darin, dass Gott über Leistung »ganz anders« denke (also wie ein evangelischer Pfarrer? ), sondern in seiner absoluten Vollmacht: »Habe ich nicht das Recht, in meinem Bereich zu tun was ich will? « (Mt 20,15). So ist es mit Gott, und mit einem Weinbergbesitzer ist es auch so, ohne dass die Verhältnisse auf der Bildebene auch nur andeutungsweise der Kritik unterzogen würden. --Man wird für die Rekonstruktion der Politik Jesu berücksichtigen müssen, dass schon kurze Zeit nach Jesu Tod ein wesentlicher Akteur des frühen Christentums, nämlich Paulus, eine dem Römerreich gegenüber submissive Tendenz an den Tag legte (s. u.). Ist das denkbar in einer religiös-politischen Bewegung, die wesentlich durch eine antiimperiale oder antielitäre Tendenz gekennzeichnet gewesen sein soll? Ich schreibe hier nicht ein Alterswerk zur Geschichte des frühen Christentums, aber ich wage die Vermutung, dass die Synoptiker-- historisch zutreffend-- auf einen Messias Jesu hindeuten, der ein theologisch stärker differenziertes und politisch weniger operationalisierbares Programm verfolgte als andere Messiasprätendenten: zu kompliziert, um als Machtfaktor bei Josephus auch nur annähernd so viel Eindruck zu hinterlassen wie der wohl unmessianische Täufer Johannes (vgl. Ant 18,116-119), aber immerhin verdächtig genug für eine politisch bedingte Todesart. Vielleicht hat Pilatus ihn aus Mangel an Überblick ans Kreuz gebracht. Die synoptischen Evangelien scheinen Pilatus so zu schildern, und bei Josephus gewinnt man nicht den Eindruck, dass dieser Mann seinem Amt gewachsen war (vgl. etwa Ant 18,15-62; Bellum 2,169-177). 3. Politische Hermeneutik Der Obrigkeitstext in Röm 13,1-7 nimmt mehr als die meisten neutestamentlichen Texte explizit auf den Bereich des Politischen Bezug, und zugleich werden politisch interessierte Theologen ihm heute wenig Positives abgewinnen können. Hier deutet sich eine Spannung an, die im Sinne einer für das hermeneutische Gespräch fruchtbaren Dissensgewinnung genutzt werden kann, wenn ich nun einen affirmativen Zugang zum Text unternehme. Meine Ausführungen sind, wie unter § 1 angedeutet, nicht im dogmatischen Sinne zu verstehen, sondern als praktischer Vollzug theologischer Existenz. Zentrale Momente des Textes sollen als Anstoß für die Analyse gesellschaftlicher Gegenwart genommen werden. Mögliche Mängel des Textes sollen dabei nicht diskutiert werden, zum einen aus Platzgründen und zum anderen, weil die theologische Praxis eher profitiert, wenn die Stärken des Textes genutzt werden. Ich werde versuchen, dem Text ein politisches, ein im engeren Sinne theologisches und ein dekonstruktives Potential zu entnehmen. 1. Politik Theologen sind seit geraumer Zeit bemüht, das politische Potential dieses Textes so eng einzugrenzen wie nur irgend möglich. Beispielhaft hierfür ist die-- exegetisch zweifellos ertragreiche-- Abhandlung von Stefan Krauter, die mit der Feststellung endet, dass von Röm 13,1- 7 »zu einer theologisch verantworteten politischen Ethik kein Weg führt«. 4 Damit sind dem Text die Zähne gezogen, und wir brauchen uns nicht weiter beunruhigen »Das frühe Christentum hat ›sozialkritisches‹ Potential. Aber man wird es wohl nicht überschätzen dürfen.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 50 - 2. Korrektur 50 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Kontroverse »Mit Röm 13,1-7 in der Hand kann man darauf insistieren, dass politische Macht eben auch wirklich beim Staat und nicht im politischen Irgendwo verortet sein sollte.« zu lassen. Aber ist ein solcher Ertrag hermeneutischer Arbeit eigentlich- - interessant? Kann man mit Röm 13,1-7 wirklich so wenig anfangen? Meines Erachtens wird hier zumindest ein Punkt übersehen, der für den gegenwärtigen politischen Diskurs außerordentlich produktiv sein kann. Es ist in Röm 13,1-7 überhaupt erst einmal-- bestätigend-- von staatlicher Gewalt die Rede! Damit ist der Anarchie gewehrt, die kaum jemandem, von reichen Gaunern abgesehen, wirklich von Nutzen sein wird. Doch aktueller ist ein anderer Zusammenhang: Mit Röm 13,1-7 in der Hand kann man darauf insistieren, dass politische Macht eben auch wirklich beim Staat und nicht im politischen Irgendwo verortet sein sollte. Das ist wichtig in einer zunehmend staatenlosen (Welt-)Gesellschaft, in der Macht auf nichtstaatliche Akteure übergeht, die politisch nicht hinreichend kontrolliert werden. Ist Europa heute eine politische Idee oder eine Reaktion auf unkontrollierte Finanzmärkte? Was ist die Volkszählung zu Beginn der Ära Kohl, vor der so viele sich fürchteten, gegen die Veröffentlichung der Privatsphäre durch Facebook und Google? Kaum je ist die Rede von privaten Sicherheitsdiensten, die-- politisch diskret-- in den Kriegen des Westens Aufgaben übernehmen, welche man den politisch domestizierten Armeen lieber vorenthält. Wäre eine offen mit robusten militärischen Handlungsmöglichkeiten ausgestattete Armee nicht demokratischer? Und was ist von einem Staat zu halten, der formal zwar die Wissenschaftsfreiheit unangetastet lässt, zugleich aber gestattet oder sogar dafür sorgt, dass halbstaatliche Bürokratien wie die (durchaus nicht transparente) DFG, eine sich verselbständigende Universitätsbürokratie oder von Wirtschaftslobbyisten frequentierte Hochschulräte das Forschen und Lehren in geordnete Bahnen lenken? Wie gerecht ist ein Staat, dessen Polizeiapparat rechtsfreie Räume zulässt, ob es sich nun um national befreite Zonen handelt, die Hafenstraße in Hamburg oder von Rockerbanden kontrollierte Wirtschaftsbereiche? Und der Mangel an Sicherheit gereicht wohl vor allem den Unterschichten zum Nachteil, die ihr Leben in graffitiverschmierten Stadtvierteln verbringen, relativ klaglos zwar, aber politisch zunehmend abstinent, mit gelegentlichem Interesse für Rechts- und Linkspopulisten. Der Staat verzichtet auf Macht-- zu Lasten der unteren Schichten, er versteckt Macht bei privaten Akteuren, weil auf diese Weise prekäre Politikerkarrieren besser vor dem Zugriff der Öffentlichkeit geschützt werden können, und er überlässt die eigentlichen Entscheidungen demokratisch kaum legitimierten internationalen Strukturen wie der EU, der OECD oder dem GATS, während man sich auf der politischen, und das heißt eben immer noch: der nationalen Ebene über das Betreuungsgeld oder die Entfernungspauschale streitet. Ich bin der Meinung, dass es für ein von Röm 13,1-7 angeregtes Denken heute mehr als früher ein Betätigungsfeld gibt, oder anders ausgedrückt: Etwas mehr Staatsmetaphysik steht heute auch Demokraten gut, und dafür ist Röm 13,1-7 ein Ausgangspunkt, nicht nur mit problematischen Folgen. 2. Theologie In Röm 13,1-7 ist von Gott die Rede, und auch hierin steckt ein Potential des Textes, könnte sich damit doch für Christen die Aufgabe erleichtern, angesichts des Politischen den Glauben an Gott zu leben. Paulus assoziiert in diesem Text ein gerechtes Strafhandeln der Obrigkeit mit Gottes Zorn. Damit erscheint der Staat mit einem Phänomen assoziiert, das im Römerbrief charakteristisch ist für die konflikthafte Beziehung zwischen Gott und der unerlösten Menschheit, die Christen inklusive, falls es diesen, etwa im Umgang mit der Obrigkeit, einfällt, wie unerlöste Menschen zu handeln (Röm 13,4). Gottes Zorn äußert sich im Endgericht angesichts böser Werke (Röm 2,5), aber er ist auch in der Jetztzeit aktiv, indem Gott die Menschen für ihren Götzendienst durch Auslieferung an ihre Begierden bestraft (Röm 1,18-32) und indem er Menschen wie Esau hervorbringt, die so sind wie sie sind, weil Gott sie zu »Gefäßen« (Manifestationen) seines Zorns erschafft (und schließlich für ihre schlechten Taten bestraft), vgl. Röm 9,13.19-23. 5 Den durch die Begierden hervorgerufenen Lastern soll der Leser nichts Positives abgewinnen (auch wenn er heute in puncto Homosexualität vielleicht nicht zustimmen mag), und an Esau soll er ebenfalls keine Freude haben, doch bei der Obrigkeit verhält es sich anders: Hier haben wir inmitten der misslungenen Geschichte zwischen Gott und den Menschen ein Ordnungsmoment, und daraus wird man folgern dürfen, dass eine rein hamartiologische Betrachtung der menschlichen Gesellschaft und der Menschheitsgeschichte eben auch nicht den Realitäten entspricht. Es findet sich ein Moment des Gott Entsprechenden in der Art, wie Menschen ihr Zusammenleben organisieren; menschliche Macht als Ordnungsfaktor soll es nach Gottes Willen Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 51 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 51 Jan Dochhorn Ist eine politische Auslegung des Neuen Testaments legitim? geben; inmitten der Geschichte des Zornes, die Gott mit den Menschen hat, existiert eine Form der Gewaltausübung, deren Ziel Gerechtigkeit durch Bestrafung ist. Seien es die orientalischen Bewässerungskulturen, die attische Demokratie oder Metternichs Heilige Allianz, es gibt in der Geschichte der Menschheit zentralisierte Macht, und wir sind mit dem Apostel nicht genötigt, dieses Phänomen ausschließlich im Sinne einer Kriminalgeschichte zu beschreiben. Wir können die damit verbundenen zivilisatorischen Vorteile unbefangen als solche benennen, und Gott darf im Hintergrund geahnt werden; es darf aber auch geahnt werden, dass es der zornige Gott ist. Für einen aufgeschlossenen Umgang mit Geschichte hält Röm 13,1-7 Chancen bereit. Damit ist über den Staat und insbesondere seine Perversionen nicht alles gesagt, aber wir haben ja auch noch andere Texte. 3. Dekonstruktion Gottes Zorn ist die Hintergrunderzählung zu der in Röm 13,1-7 bejahten politischen Macht. Das aber ist eine reichlich prosaische Erzählung. Wie schöne Geschichten aber kann man doch von politischer Herrschaft erzählen! Das salomonische Kaisertum in Äthiopien etwa umgab sich mit dem Glanz der gestohlenen Bundeslade 6 , und die Zivilreligion in Amerika schildert die amerikanische Nation in überwiegend alttestamentlichen Kategorien 7 , und man hat ja auch noch Freiheit und Demokratie, die sich so organisch mit den Interessen der United Fruit Company und der Ölindustrie verbinden. Über die herrschaftsbegründenden Erzählungen des Kommunismus brauche ich mich hier wohl gar nicht erst zu verbreiten (eine säkulare Apokalyptik mit materialistischen Doktrinen aus dem 19. Jahrhundert; 100 Millionen Leichname). Gegenüber all diesen Geschichten von erwählten Nationen oder- - noch schlimmer-- universaler Menschheitsbeglückung verhält sich Röm 13,1-7 indifferent; der Text erklärte den Herrschenden, wären sie auf ihn angewiesen und würden sie zuhören, gerade ins Gesicht, dass sie keine Geschichten erzählen sollen, sondern einfach Obrigkeit sind, der Christen sich fügen. Und die Herrschenden sollten wissen: Dieser Text lebt promisk, er sagt dasselbe auch zum nächsten Herrscher. Diese Eigenschaft mag anderenorts problematisiert werden; im Sinne der Distanzgewinnung zur Welt und zur politischen Macht erscheint sie ganz brauchbar. Ein Moment der Dekonstruktion kann mit Röm 13,1-7 als Ausgangspunkt auch in demokratischen Gesellschaften fruchtbar gemacht werden. Und hier komme ich zurück zu Stefan Krauters Diktum, dass die Obrigkeitsparänese des Römerbriefs in einer demokratischen Gesellschaft nicht zu gebrauchen sei. Zugrunde liegt dieser Sicht offenbar unter anderem die ebenfalls herrschaftsbegründende Erzählung, dass Demokratie etwas ganz anderes sei als Obrigkeit und dass wir seit Erfindung der Demokratie nicht mehr Untertanen seien. 8 Der Apostel aber-- nehmen wir ihn als jemanden, der heute noch redet- - hält sich nicht an diese Sprachregelung. Er klebt dem demokratischen Staat das Label »Obrigkeit« auf. Dies mag nachlässig erscheinen, aber es ist damit eine Chance verbunden: Man sieht den Kaiser-- mit Pickelhaube und ohne die demokratischen Kleider-- und wird einer Sache gewahr, die man zuvor verdrängt hat: Könnte es nicht sein, dass sich hinter der demokratischen Erzählung einiges verbirgt, das mit dem Begriff »Obrigkeit« viel klarer zur Sprache gebracht wird? Was etwa in unserer Politik beruht eigentlich auf demokratischer Entscheidungsfindung, und was auf dem Wirken quasi-autonomer Bürokratien, seien diese national oder international? Und wo »kommt« etwas einfach, ohne dass klar ist, wer es eigentlich wollte, z. B. die Bolognareform oder andere Freiheitsberaubungen? Und umgekehrt: Wo verhält es sich nicht auch notwendigerweise so, dass unsere Demokratie nicht einfach nur demokratisch ist? Die Grundordnung unserer Gesellschaft, bis vor kurzem sogar die Bundesbank, ist vor dem demokratischen Prozess weitgehend geschützt. Damit aber kommt neben dem Demokratischen auch ein Moment des Konstitutionellen zum Tragen, ein Phänomen, das sich gut begreifen lässt im Rahmen einer Staatsmetaphysik, die den Staat als eine Größe sui generis, als ein dem Volk Gegenüberstehendes begreift. Es ergibt sich damit zwischen dem paulinischen Text und unserer Herrschaftserzählung eine Spannung, die im Sinne einer Freisetzung des Demokratischen genutzt werden kann. Demokratie und gesellschaftliche Grundordnung werden allzu leicht verwechselt, und noch schlimmer wird es, wenn der Konsens der Demokraten in Wirklichkeit Fügsamkeit gegenüber demokratisch nur unzureichend legitimierten Akteuren ist, so heute »[Röm 13,1-7] erklärte den Herrschenden, wären sie auf [diesen Text] angewiesen und würden sie zuhören, gerade ins Gesicht, dass sie keine Geschichten erzählen sollen, sondern einfach Obrigkeit sind, der Christen sich fügen. Und die Herrschenden sollten wissen: Dieser Text lebt promisk, er sagt dasselbe auch zum nächsten Herrscher.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 52 - 2. Korrektur 52 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Kontroverse vor allem im europapolitischen Zusammenhang. Eine vergleichbare Struktur liegt vor, wenn Politik in Deutschland auf die Anpassung an internationale Standards reduziert wird (etwa an die bildungspolitischen Vorgaben der OECD). Zu fragen bleibt hierbei, wo das Wort »demokratisch« nicht einfach nur noch Wohlanständigkeit beschreibt. Vieles von dem, was heute als Demokratieerziehung gilt, ist wohl eher Erziehung zu angepasstem Verhalten. 9 Man wird leichter auf solche Schieflagen aufmerksam, wenn man den Begriff des Demokratischen nicht im Sinne der politischen Korrektheit transformiert, sondern seiner Tradition entsprechend auf politisch faire Entscheidungsfindung nach dem Mehrheitsprinzip unter Beteiligung aller bezieht. Dass man hierzu angeregt sein kann, wenn ein Text wie Röm 13,1-7 die Kreise des politischen Denkens stört, habe ich zu zeigen versucht. Anmerkungen 1 Zu dieser Differenzierung innerhalb der Bekenntnisschriften vgl. L. Hutter, Compendium Locorum Theologicorum, herausgegeben von W. Trillhaas (KlT 183), Berlin 1961 (nach der Ausgabe Wittenberg 1610), Locus I,12- 13, 3. 2 Vgl. C. A. Evans, Assessing Progress in the Third Quest of the Historical Jesus, Journal for the Study of the Historical Jesus 4 (2006), 35-54, speziell: 47-48. 3 Vgl. R. A. Horsley, Jesus and the Politics of Roman Palestine, Journal for the Study of the Historical Jesus 8 (2010), 99-145, für den sich die Sache eindeutiger verhält: »Jesus stated simply and bluntly that the people did not owe tribute to Caesar«. 4 Vgl. S. Krauter, Studien zu Römer 13,1-7. Paulus und der politische Diskurs der neronischen Zeit (WUNT 243), Tübingen 2009, 287. 5 Vgl. hierzu J. Dochhorn, Das Böse und Gott im Römerbrief-- eine Skizze (demnächst veröffentlicht von F. Wilk). 6 Grundlegend ist die Erzählung in Kebra Negast, vgl. C.-Bezold (Hg.), Kebra Negast. Die Herrlichkeit der Könige. Nach den Handschriften in Berlin, London, Oxford und Paris zum ersten Mal im äthiopischen Urtext herausgegeben und mit deutscher Übersetzung versehen (Abhandlungen der philosophisch-philologischen Klasse der königlich bayrischen Akademie der Wissenschaften 23), München 1909. 7 Vgl. R. N. Bellah, Zivilreligion in Amerika, in: H. Kleger/ A. Müller (Hgg.), Religion des Bürgers (RWK[M] 3), München 1986, 19-41. 8 Vgl. Krauter (wie Anm. 4), 285-286, wo m. E. die Partizipationsmöglichkeiten moderner Demokratien etwas überschätzt werden. 9 Kritisches zur Demokratiepädagogik s. bei A.B. Kunze, Selbst denken! Zur »zeitgemäß unzeitgemäßen« Bildungsaufgabe studentischer Korporationen, in: Die Schwarzburg. Mitteilungen des Schwarzburgbundes (SB) 120 (2011/ 2), S. 15-21 (dort Abschnitt 4). Vorschau auf Heft 32 »Sünde« Mit Beiträgen von: Hanna Roose, François Vouga, Matthias Konradt, Troels Engberg-Petersen, Carl- Friedrich Geyer, Stefan Schreiber, Günter Röhser und Gary Andersen. Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 53 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 53 Was hat Lk 3,7-14, die so genannte Täuferpredigt, mit »Politik« zu tun? Diese Frage legt sich nahe, wenn man bedenkt, dass im Zentrum dieses Textes doch die Aufforderung angesichts des nahen Zorngerichts Gottes steht: »Macht also Früchte, die der Umkehr [gr. metanoia] würdig sind.« 1 Da der Begriff metanoia dem ursprünglichen Sprachgebrauch nach eine Sinnes-Änderung beschreibt, 2 ruft Johannes also eigentlich zu einem ›Umdenken‹ auf. Inwiefern enthält dieses ›Umdenken‹ in Lk 3,7-14 politische Horizonte? Um Antwortversuche auf diese Frage finden zu können, betrachte ich Lk 3,7-14 im Folgenden als einen literarischen Text bzw. als eine ›Erzählung‹ 3 , die einen Teil ihres Kontextes Lukasevangelium bzw. lukanisches Doppelwerk bildet und diesen mitgestaltet. Dementsprechend werde ich zunächst den Text in seinen Kontext einordnen und danach fragen, inwiefern hierin Spuren von politischen Implikationen enthalten sein können. Daraufhin werde ich in einer Art kanonisch-intertextueller Lektüre untersuchen, inwiefern intertextuelle Bezüge zu anderen Texten der christlichen Bibel zum Verständnis und zur Entdeckung politischer Sinndimensionen von Lk 3,7-14 beitragen können. 1. Geschichte des »Weges des Heils« Das lukanische Doppelwerk wird aufgrund seines Selbstverständnisses und seiner Intention, die im Proömium des Lukasevangeliums Lk 1,1-4 formuliert werden, sowie aufgrund motivischer, gestalterischer und sprachlicher Merkmale in die antik-jüdische Geschichtsschreibung eingeordnet. 4 Diese zielt darauf ab, im Ringen um das Zusammenleben mit der dominanten hellenistischen Kultur jüdisches Selbstverständnis zu formulieren. In einer Übergangssituation, in der die eigene jüdische Identität in Frage gestellt wird, erfolgt mithilfe von Geschichtsschreibung in (aktualisierender) Erinnerung an die eigene Vergangenheit Selbstvergewisserung ›nach innen‹ und Selbstbehauptung ›nach außen‹. 5 Dementsprechend dient auch das lukanische Doppelwerk der Selbstvergewisserung und Identitätssicherung der entstehenden christlichen Gemeinschaft, die sich in ihrer kulturellen, religiösen, sozialen und politischen Umwelt verorten muss. Da das inhaltliche Zentrum antik-jüdischer Geschichtsschreibung in der Geschichte Gottes mit Israel liegt, ist immer zugleich Geschichtstheologie enthalten. 6 Ähnlich ist es auch im lukanischen Doppelwerk, dessen Gegenstand ebenfalls die Geschichte der Gottesbegegnung ist, so dass Lukas 7 auch als »Theologe der Heilsgeschichte« 8 bezeichnet wird. Diese Auffassung lässt sich beispielsweise durch die sog. »Synchronismen« 9 , d. h. Eintragungen weltgeschichtlicher Ereignisse in die Darstellung der ›Jesus-Christus-Geschichte‹ des Lukasevangeliums (vgl. Lk 1,5; 2,1; 3,1), begründen, die primär dazu dienen, zu zeigen, dass die Geschichte Gottes mit Israel alle Menschen und Völker angeht und sich innerhalb der Weltgeschichte ereignet. 10 Noch stärker verwoben mit weltgeschichtlichen Ereignissen ist die Erzählung der Apostelgeschichte. Vor diesem Hintergrund beschreibt Hans Klein in Aufnahme von Apg 16,17 das Konzept des lukanischen Doppelwerks mit der Wendung »Weg des Heils«. 11 Inhaltlich umschreibt »Weg des Heils« sowohl eine verheißungsvolle Botschaft als auch einen Lebenswandel und verweist darauf, dass Heil nur auf einem Weg zu erreichen ist, der den Weg Jesu nachahmt. 12 Das zeigt sich z. B. an der breit entfalteten Darstellung des Weges Jesu nach Jerusalem (Lk 9,51-19,27), an Paulus’ Weg, der dem Weg des Herrn entspricht (Apg 13,10; 18,25), sowie an der Bezeichnung der christlichen Botschaft oder des entstehenden Christentums als »Weg Gottes« (Apg 9,2; 18,26; 19,23; 22,4; 24,14.22). Vermittelt wird die Theologie des »Weges des Heils« primär im Erzählen verschiedener Episoden. Diverse Gestaltungselemente binden diese zu einer Einheit zusammen und heben unter anderem die Kontinuität mit dem bisherigen Weg Israels, d. h. der Geschichte Gottes mit Israel, hervor. So fassen beispielsweise Summarien wichtige Inhalte zusammen und Reiseberichte verorten den »Weg des Heils« geographisch in einer Kontinuitätslinie-- von Jerusalem (Lk 1,5) bis nach Rom (Apg 28,16-31). 13 Sogar sprachlich spiegelt sich die Kontinuität des erzählten Geschehens als Fortsetzung des vergangenen Weges Israels wider. Denn es werden nicht nur die Sprache und zum Teil auch der episodische Erzählstil der Septuaginta nachgeahmt (vgl. Lk 1,5-79), 14 sondern auch durch Anspielungen oder sogar wörtliche Einspielungen Ereignisse der Geschichte Israels vergegenwärtigt. 15 Hermeneutik und Vermittlung Heike Hötzinger Umdenken als Politik (Lk 3,7-14) Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 54 - 2. Korrektur 54 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Hermeneutik und Vermittlung Vor dem Hintergrund, dass in der lukanischen Erzählung des »Weges des Heils« die Geschichte Gottes mit Israel und in Fortsetzung mit Jesus und seinen Nachfolgern in besonderer Weise mit Weltgeschichte verknüpft und so im Sinne antik-jüdischer Historiographie um das religiöse Selbstverständnis innerhalb des Weltgeschehens gerungen wird, findet im lukanischen Doppelwerk schon aufgrund seines Konzepts auch eine Auseinandersetzung mit politischen Situationen statt. So wird hier mithilfe der literarischen Form der Erzählung von einzelnen Episoden gewissermaßen indirekt »Politik« betrieben. Inwiefern spiegeln sich nun in Lk 3,7-14 Charakteristika der Erzählung des »Weges des Heils«? 2. Lk 3,7-14 als Station des »Weges des Heils« Zur Strukturierung des lukanischen Doppelwerks dienen primär zeitliche und örtliche Dimensionen, die sehr eng mit den inhaltlichen Dimensionen verbunden sind. Dadurch wird der »Weg des Heils« als eine Art mehrdimensionaler Weg mit verschiedenen Etappen skizziert. 16 Eine zeitliche Dimension wird schon im Proömium des Lukasevangeliums (Lk 1,1-4) durch das Vorhaben formuliert, basierend auf Augenzeugen »alles der Reihe nach genau aufzuschreiben«. Dementsprechend wird der Eindruck chronologisch zuverlässiger Abfolge stellenweise durch die Aufnahme weltgeschichtlicher Ereignisse und Gestalten in die Erzählung (Lk 1,5; 2,1; 3,1- 2a; Apg 18,2 u. ö.) verstärkt. Durch deren Kombination mit fiktionalen Erzählelementen werden die jeweiligen historischen Ereignisse aber transparent für theologische Interessen. 17 Das Lukasevangelium, als Erzählung der Geschichte Jesu Christi von seiner Geburt bis zu seiner Erhöhung, umfasst in zeitlicher Hinsicht eine Etappe von ca. 30 Jahren. 18 In örtlicher Hinsicht wird dabei- - stark vereinfacht-- eine Wegstrecke von Galiläa nach Jerusalem zurückgelegt. Von Anfang an wird die Geschichte Jesu narrativ in die Geschichte Israels eingeschrieben, indem die lukanische Kindheitsgeschichte (Lk 1,5- 2,52) durch Sprache, Handlungsträger, szenische Darstellung und verheißungsgeschichtliche Leitmotive biblische Erzählungen der Geschichte Israels einspielt. Dadurch entsteht der Eindruck von Kontinuität der Jesus-Geschichte und des Christus-Geschehens mit dieser Vergangenheit. Diese wird zugleich bleibend aktualisiert, indem Jesus mit seinem Weg die Richtung des Weges Israels fortschreibt. Auch inhaltlich wird in der Kindheitsgeschichte-- ebenfalls in Analogie und sogar direkter Aufnahme alttestamentlicher Darstellungsweise- - das Ziel der Erzählung des »Weges des Heils« umrissen, wenn im prophetischen Wort des Simeon (Lk 2,30-32) in Anspielung auf Jesajaworte ›Heil für die Völker und das Volk Israel‹ formuliert wird. 19 So wird deutlich, dass das Lukasevangelium den Weg Jesu nicht nur als Fortsetzung des Weges Israels erzählt, sondern auch als Ausgangspunkt für das verheißene Ziel ›Heil für die Völker zusammen mit Israel‹, dessen Erfüllung noch aussteht. 20 Zugleich wird die Geschichte Jesu in verschiedener Weise in die Weltgeschichte eingetragen, was nicht nur an der Notiz zu Beginn der Geburtserzählung Jesu (Lk 2,1-20) zur Regierungszeit des Kaisers Augustus und des Statthalters Quirinius (Lk 2,1-2) zu sehen ist. Auch die narrative Gestaltung der lukanischen Geburts- und Kindheitsgeschichte Jesu zeugt von einer Verbindung mit Weltgeschichte, da formale und inhaltliche Elemente auch auf dem Hinter- Dr. Heike Hötzinger (geb. Braun), geb. 1977 in Burghausen an der Salzach, Studium der Sozialpädagogik und der Katholischen Theologie in Benediktbeuern und Regensburg, 2004-2005 Pastoralassistentin in Regensburg, 2005-2010 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Exegese und Hermeneutik des Neuen Testaments an der Universität Regensburg, dort Promotion, seit 2010 Akademische Rätin auf Zeit am genannten Lehrstuhl. Schwerpunkte: Lukanisches Doppelwerk, laufendes Habilitationsprojekt: Paradiesesvorstellungen in neutestamentlicher, frühjüdischer und antikchristlicher Literatur. Heike Hötzinger »Mithilfe der literarischen Form der Erzählung von einzelnen Episoden [wird] gewissermaßen indirekt ›Politik‹ betrieben.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 55 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 55 Heike Hötzinger Umdenken als Politik (Lk 3,7-14) grund der Konzeption des Goldenen Zeitalters und dessen Propagierungsmethoden gelesen werden können. 21 Diese Verknüpfung mit der Weltgeschichte lässt sich auch für Lk 3,7-14 feststellen. Denn diese Täuferpredigt bildet einen Teil des Überblicks über das Wirken von Johannes dem Täufer (Lk 3,1-20), 22 das sich unmittelbar an die Geburts- und Kindheitserzählung von Johannes und Jesus (Lk 1-2) anschließt und damit der Erzählung über das öffentliche Wirken Jesu vorausgeht. 23 Die Einbettung in diesen Kontext ist schon zu Beginn der Lektüre von Lk 3,7 zu sehen: »Er sagte also zu den Volksmengen, die hinausgingen, um von ihm getauft zu werden …«. Dass die in Lk 3,1-6 gezeichnete Szenerie voraus- und fortgesetzt wird, zeigt sich daran, dass kein neues Subjekt genannt wird, sowie an der Wiederaufnahme des Themas ›Taufe‹, das in Vers 3 als Inhalt der Verkündigung des Johannes genannt wurde. Demnach ereignet sich die Täuferpredigt ebenfalls »im fünfzehnten Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius, als Pontius Pilatus Judäa regierte und Herodes Tetrarch von Galiläa war, Philippos aber, sein Bruder, Tetrarch von Ituräa und des trachonitischen Landes und Lysanias Tetrarch der Abilene war, unter dem Hohepriester Hannas und Kajaphas« (Lk 3,1-2a). Mit diesem ausführlichen Synchronismus als Einleitung der Erzählung über Johannes’ Wirken wird nicht nur ein zeitlicher, sondern auch ein politischer Rahmen umrissen und in Erinnerung gerufen, in den die Geschichte Gottes mit Johannes, an den sich in der Wüste das Wort Gottes »ereignet« (Lk 3,2b), eingezeichnet wird. Dabei entsteht durch die Aufzählung einer ganzen Reihe an politischen und religiösen Führungsgrößen das Bild einer dominanten Herrschergewalt, die in verschiedener Weise Macht über das Volk Israel ausübt. Ohne den Inhalt des Wortes Gottes an Johannes auszuführen, berichtet Lk 3,3 summarisch von Johannes’ Verkündigung einer »Taufe der Umkehr [gr. metanoia]«, die mit dem Erlass von Sünden zusammenhängt. Diese nur kurz notierten Ereignisse werden dann in den Versen 4-6 als identisch mit Worten des Propheten Jesaja (vgl. Jes 40,3-5) ausgewiesen. So wird also durch die Rückbindung an die lukanische Geburtserzählung mithilfe von Stichwortverknüpfungen und durch die direkte Interpretation mithilfe eines Prophetenwortes die Kontinuität zwischen der Geschichte Gottes mit Israel und mit Johannes hergestellt, wie es auch sonst charakteristisch für das lukanische Doppelwerk als Erzählung des »Weges des Heils« ist. Inwiefern das Wirken des Johannes eine Station auf diesem »Weg des Heils«, der unter anderem als ein Weg durch die politische Lage der damaligen Zeit geschildert wird, darstellt, zeigt sich weiterhin in Lk 3,7-14 anhand von inhaltlichen Aspekten. 24 3. Johannes als prophetischer Wegbereiter des Herrn Da die Szene ihren zentralen Handlungsträger Johannes nicht näher vorstellt und in der Einleitung zu seiner Rede (Lk 3,7) nicht einmal mehr namentlich erwähnt, ist auf die Erzählung über seine Geburt (Lk 1,5-80) zurückzugreifen, um das hier von ihm vorausgesetzte Bild nachzuzeichnen. Lk 3,2 gibt mit der Bezeichnung des Johannes als Sohn des Zacharias und mit der Nennung der Wüste als seines Aufenthaltsorts immerhin schon Grundlinien zu dieser Gestalt an. Der Vater des Johannes spielt nämlich auch in Lk 1,5-80 eine entscheidende Rolle und bürgt als Priester aus der Klasse des Abija (Lk 1,5) für die priesterliche Herkunft des Johannes und damit für seine Verwurzelung in Israel. 25 Außerdem ist Zacharias in der Geburtserzählung als Adressat der Ankündigungen des Engels von Bedeutung. Besonders aussagekräftig für das Bild des Johannes sind in diesem Zusammenhang folgenden Worte: »15 Denn er wird groß sein vor dem Herrn, Wein und Rauschtrank wird er gewiss nicht trinken, und mit heiligem Geist wird er erfüllt werden schon vom Mutterleib an, 16 und viele der Söhne Israels wird er hinwenden zum Herrn, ihrem Gott. 17 Und er wird vorangehen vor ihm in Geist und Kraft des Elias, um hinzuwenden die Herzen der Väter zu den Kindern und Ungehorsame zur Einsicht von Gerechten, um zu bereiten dem Herrn ein zugerüstetes Volk.« Nicht nur der Verzicht auf Alkohol weist darauf hin, dass Johannes in die Folie eines Propheten eingezeichnet wird, sondern auch das Erfülltsein vom Heiligen Geist schon vom Mutterleib an. Dieser Hinweis auf eine grundlegend besondere Gottesbeziehung und Erwählung des Johannes für eine besondere Aufgabe zeigt eine Analogie zur Berufung des Jeremia, bei der Gott zu diesem sagt: »Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, »Dabei entsteht durch die Aufzählung einer ganzen Reihe an politischen und religiösen Führungsgrößen das Bild einer dominanten Herrschergewalt, die in verschiedener Weise Macht über das Volk Israel ausübt.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 56 - 2. Korrektur 56 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Hermeneutik und Vermittlung habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt, zum Propheten für die Völker habe ich dich bestimmt« (Jer 1,5). Gemeinsam ist Johannes also mit Jeremia die Erwählung durch Gott »vom Mutterleib an« für eine prophetische Aufgabe. Unterschiedlich sind allerdings die Adressaten, denn Jeremia ist »Prophet für die Völker«, Johannes soll dagegen primär im Volk Israel wirken. Als prophetische Gestalt wird Johannes ausdrücklich vorgestellt, wenn sein »Vorangehen« vor dem Herrn mit dem Wirken des Propheten Elija verglichen und als ein »Vorbereiten für den Herrn« umschrieben wird. Dabei wird die Vorstellung von Elija, der zu Beginn der Endzeit wiederkehrt, um Gottes endzeitliches Handeln vorzubereiten (vgl. Mal 3,1.23-24; Sir 48,10), auf Johannes übertragen. Darauf wird auch im Lied des Zacharias nach der Geburt des Johannes angespielt: »76 Und du aber, Kind, wirst Prophet des Höchsten gerufen werden, denn du wirst voranziehen vor dem Herrn, zu bereiten seine Wege, 77 zu geben Erkenntnis der Rettung [gr. sōteria] seinem Volk im Erlass ihrer Sünden, 78 Erbarmen unseres Gottes, in dem nach uns schauen wird der Aufgang aus der Höhe, 79 zu erscheinen den in Finsternis und Schatten des Todes Sitzenden, auszurichten unsere Füße auf den Weg des Friedens.« Wenn Johannes hier ausdrücklich Prophet des Höchsten genannt und dies damit begründet wird, dass er dem Herrn die Wege bereiten werde, wird also wieder auf die Funktion des Elija als Vorbereiter des endzeitlichen Handelns Gottes angespielt. Demnach setzt der Text mit Johannes »ein Signal für den sich nun geschichtlich vollziehenden Anbruch der Endzeit.« 26 Politische Dimensionen enthält dieses Bild des Johannes als eschatologisch wirkender Prophet insofern, als er von römischer Seite auch als Volksverführer verstanden werden konnte, der zum Aufstand gegen die Römer anstacheln könnte. 27 Zum einen kann die Betitelung Gottes als »der Höchste« im Sinne einer Konkurrenz zum römischen Kaiser betrachtet werden, und zum anderen die »Wege des Herrn«, die mit »Rettung« und »Weg des Friedens« zusammenhängen, als Hinweis auf einen ›Aus-Weg‹ aus der römischen Herrschaft. Was in der Geburtsgeschichte über Johannes angekündigt wird, erfüllt sich in der Erzählung über sein Wirken, wie zahlreiche Stichwortverknüpfungen zeigen. Wenn nämlich Lk 3,3 als Zentrum von Johannes’ Wirken die Verkündigung »der Taufe der Umkehr zum Erlass von Sünden« beschreibt, wird damit zum Teil wörtlich die in Lk 1,77 verheißene Funktion von Johannes aufgegriffen: seinem Volk Erkenntnis der Rettung im Erlass ihrer Sünden zu geben. Dass Johannes damit als Vorbereiter des Weges des Herrn fungiert, wie Lk 1,17.76 voraussagt, erklärt auch die Deutung von Johannes’ Wirken in Lk 3,4-6: »4 Stimme eines Rufenden in der Wüste: ›Bereitet den Weg des Herrn, gerade macht seine Straßen; 5 Jede Schlucht wird gefüllt werden und jeder Berg und Hügel wird niedrig gemacht werden, und es wird werden das Krumme zu Geradem und die rauen zu glatten Wegen; 6 und es wird sehen alles Fleisch das Heil [sōtēria] Gottes.« Indem hier fast wörtlich der Beginn der Ankündigung der Befreiung aus dem babylonischen Exil (Jes 40,3-5) wiedergegeben wird, bestätigt sich das Bild von Johannes als prophetischer Gestalt, die das endzeitliche Handeln Gottes vorbereitet. Ziel dieses Vorbereitens ist das »Heil Gottes«, das »alles Fleisch«, d. h. alle Menschen, sehen wird. Da sich dieses Ziel mit der programmatischen Aussage über Jesus, er sei »Heil [sōtēria] für die Völker und das Volk Israel« (Lk 2,30-32), worin zugleich das Ziel des lukanischen Doppelwerks liegt, deckt, werden die Konturen des Johannes als prophetischen Vorbereiters dieses »Weges des Heils« umso deutlicher. Als Vorbereiter des »Weges des Herrn«, der zum »Heil Gottes« führt, zeigt Johannes auch Analogien zu Jesus, dessen Weg er vorbereitet. Sehr deutlich wird das in der parallelen Erzählung der Geburtsgeschichten von Johannes und Jesus, die in komplexer Weise miteinander verwoben sind. Aber auch die Notiz über die Verkündigung »der Taufe der Umkehr zum Erlass von Sünden« durch Johannes erinnert an die spätere Verkündigungstätigkeit und an das Wirken Jesu (vgl. Lk 4,18; 5,21.24; 7,49; 24,47). Eine weitere Analogie zwischen Johannes und Jesus findet sich im Dialog des Johannes mit den Zöllnern (Lk 3,12-13), denn auch für Jesus ist der wiederholte Umgang mit Zöllnern bekannt (vgl. Lk 5,27-32; 7,29; 18,9-14). Außerdem wird die Anrede des Johannes als »Lehrer« durch die Zöllner (Lk 3,12) sonst ausschließlich auf Jesus bezogen (vgl. Lk 7,40; 9,38; 10,25 u. a..). Insgesamt entsteht also in Lk 3,1-6 vor dem Hintergrund von Lk 1-2 von Johannes das Bild eines von Gott ›berufenen‹, prophetischen Verkündigers der Taufe der Umkehr zum Erlass von Sünden. Als solcher ist er- - analog zu bekannten Propheten Israels-- Vor-Bereiter des Weges des Herrn (Jesus), der zum »Heil Gottes« führt und zwar inmitten einer Situation von anscheinend übermächtigen weltlichen Herrschern (Lk 3,1-2a). Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 57 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 57 Heike Hötzinger Umdenken als Politik (Lk 3,7-14) 4. Die Adressaten des Johannes Der Adressatenkreis und damit das Wirkungsfeld des Johannes ist ebenfalls interessant für die Frage nach politischen Implikationen in Lk 3,7-14. Nachdem in Lk 1,16-17.77 das Volk Israel als Zielgruppe von Johannes erscheint, nennt der Bericht über sein Wirken in Lk 3,3 keinen Adressatenkreis, sondern macht nur die Ortsangabe »in der ganzen Umgebung des Jordan«. Dadurch entsteht der Eindruck eines unbestimmt großen Wirkkreises. 28 Dies bestätigt sich in Lk 3,6, wo von »allen Menschen« die Rede ist, die das von Johannes vorbereitete Heil Gottes sehen werden. Der Eindruck einer umfassenden Wirkung und Anziehungskraft entsteht weiterhin in Lk 3,7, wenn als Zuhörer des Johannes »die Volksmengen« (gr. hoi ochloi) eingeführt werden. Über diese unbestimmt große Menge erfährt man lediglich, dass sie »herausgehen« zu Johannes und die Absicht haben, von ihm getauft zu werden. Aber ihre ethnische, religiöse und politische Zuordnung sowie ihre Motivation zur Taufe bleiben offen. Diese Schemenhaftigkeit der »Volksmengen« fällt noch mehr angesichts der Beobachtung auf, dass die Parallele in Mt 3,7 Pharisäer und Sadduzäer als Ansprechpartner des Johannes nennt, also ethnisch und religiös qualifizierte Gruppen, die sich eindeutig als spezielle Gruppen des Volkes Israel identifizieren lassen. Durch die Unbestimmtheit in Lk 3,7 öffnet sich die Szene für alle Leser, die implizit angesprochen werden und sich mit den »Volksmengen« identifizieren können. Zu dieser Offenheit trägt außerdem bei, dass weder eine konkrete Ortsnoch Zeitangabe gemacht wird. Der Eindruck eines umfassenden Adressatenkreises und einer breiten Wirkkraft von Johannes’ Verkündigung bestätigt sich, wenn zu Beginn der Reaktion auf die Rede die Zuhörer in Vers 10 erneut in Wiederaufnahme von Vers 7 als »Volksmengen« bezeichnet werden. Genau diese umfangreiche Anziehungskraft der Botschaft des Johannes enthält implizit politische Brisanz, 29 weil damit die Gefahr besteht, durch ein ›Umdenken‹ einer breiten Masse im Volk die bestehenden Herrschaftsstrukturen zu relativieren. Dieser Gedanke bestätigt sich angesichts der beiden speziellen Untergruppen, die aus den »Volksmengen« herausgehoben werden: Die Zöllner stellen Vertreter finanzieller Machtmittel des römischen Herrschaftssystems dar, die Soldaten sogar Vertreter militärischer Macht, mit der Aufgabe, die Interessen der Amtsinhaber notfalls mit Gewalt durchzusetzen. Die Befürchtungen einer Relativierung der weltlichen Machtverhältnisse durch ein von Johannes bewirktes ›Umdenken‹ der »Volksmengen« sind auch durchaus berechtigt, wenn man zentrale Inhalte der Rede betrachtet. 5. Konsequenzen von Gottes Zorngericht Schon die schroffe Anrede der Zuhörer mit »Schlangenbrut« 30 (Lk 3,7b), die angesichts der Notiz über die Taufwilligkeit der »Volksmengen«, die eine bereits vollzogene ›Umkehr‹ suggeriert, überrascht, 31 deutet den autoritativen Charakter des Redners und seiner Rede an. Unterstrichen wird die hohe Brisanz der Rede weiterhin durch die rhetorische Frage »Wer hat euch gezeigt, zu fliehen vor dem kommenden Zorn? «, denn damit wird auf die Unentrinnbarkeit von Gottes Zorngericht hingewiesen. Dass die Rede vom Zorn das »Vernichtungsgericht Gottes« 32 impliziert, wird angesichts diverser alttestamentlicher Texte deutlich, in denen das Motiv »Zorn« explizit Teil einer Gerichtskonzeption ist. So spricht Gott in der Anklage gegen Jerusalem vom »Feuer meines Zorns«, das alle vernichten werde (Ez 22,21), 33 und in der Beschreibung der Endzeit (Jes 66,1-24) wird angekündigt: »der Herr wird kommen wie Feuer […], um Strafe zu verhängen in seinem Grimm und Verfluchung in der Flamme [seines] Feuers. Denn durch das Feuer des Herrn wird die ganze Erde gerichtet werden« 34 (Jes 66,15-16). In diesen Texten steht »Zorn« also metonymisch für Feuer, Untergang oder Vernichtung. 35 Die Unentrinnbarkeit vor Gottes Zorn(-gericht) transportiert zugleich die Vorstellung von Gottes absoluter Souveränität und Macht. Nachdem in Lk 3,1 mit der Aufzählung diverser Führungsgestalten der Eindruck geballter weltlicher Macht entstand, wird dieser mit dem unausweichlichen Zorngericht Gottes ein unüberbietbar mächtiger Gegenpol entgegengesetzt. Die Absolutheit, mit der von Gottes Zorn gesprochen wird, weist darauf hin, dass Gott auch diesen weltlichen Herrschern überlegen ist: Wirklich niemand kann Gottes Zorn entkommen. Angesichts der bisherigen Informationen über Johannes’ Verkündigung einer »Taufe der Umkehr zum Erlass von Sünden« als »Vorbereitung des Weges des Herrn«, so »Nachdem in Lk 3,1 mit der Aufzählung diverser Führungsgestalten der Eindruck geballter weltlicher Macht entstand, wird dieser mit dem unausweichlichen Zorngericht Gottes ein unüberbietbar mächtiger Gegenpol entgegengesetzt.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 58 - 2. Korrektur 58 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Hermeneutik und Vermittlung dass alle Menschen das »Heil Gottes« sehen werden, überrascht die Rede vom Zorngericht Gottes. Wie passt diese Gerichtsankündigung zu der oben erwähnten Heilsverheißung? Eine erste Spur für eine Antwort gibt Vers 8 mit der Aufforderung zu Taten, 36 die dadurch charakterisiert sein sollen, dass sie »der Umkehr würdig sind«. Trotz der Unentrinnbarkeit des Zorngerichts wird hier also ein Weg aufgezeigt, der davor bewahrt, im Zorngericht vernichtet zu werden, und stattdessen ›Freispruch‹ von den Sünden zu erhalten und damit letztlich Gottes Heil zu sehen. Dieser Weg besteht nicht allein darin, »getauft zu werden« (vgl. die passive Formulierung in Lk 3,7a), sondern im aktiven Tun von »Früchten«. Mit der metaphorischen Bezeichnung der Taten als »Früchte« wird darauf hingewiesen, dass die Handlungen Folge eines Vorgangs oder Seins sind, so wie es in paränetischen Kontexten häufig der Fall ist (vgl. Mt 7,16.20; Röm 6,22; Gal 5,22 u. a..). Zusätzlich wird die Forderung durch die Verwendung des Adjektivs »würdig« (gr. axios) unterstrichen, das dazu dient, »ein bestimmtes Sollen als Konsequenz eines bestimmten Seins zu qualifizieren.« 37 Das Sein, das sich in den »Früchten« ausdrücken soll, wird mit dem Begriff metanoia umschrieben, womit im wörtlichen Sinn eine »(Sinnes-)Änderung« bzw. ein »Umdenken« gemeint ist. Da metanoia die Verkündigung »der Taufe der Umkehr [metanoia] zum Erlass der Sünden« aus Vers 3 aufgreift, besteht der Zusammenhang zu der Aufforderung in Vers 8 darin, dass das Umdenken der erste Schritt der Umkehr ist, die zur Vergebung der Sünden führen kann, aber diesem Umdenken entsprechende Taten folgen müssen. 38 Ohne diese Taten zu konkretisieren, folgt eine weitere-- nun negative-- Forderung: »Und beginnt nicht zu sagen bei euch: ›Als Vater haben wir den Abraham.‹« Demnach sollen sich die Zuhörer nicht einfach auf ihre Abstammung von Abraham, durch die sie in den Bund Gottes und die damit verbundenen Heilsverheißungen eingeschlossen sind, als Mittel zur Abwendung des vernichtenden Zorns Gottes verlassen. 39 Zwar überrascht diese Forderung angesichts der bisher im Lukasevangelium betonten heilsgeschichtlichen Kontinuität mit der Geschichte Israels, wobei ebenso auf die Abrahamskindschaft rekurriert wurde (vgl. Lk 1,55.72-73). Denn nun entsteht der Eindruck, diese habe ihre heilsgeschichtliche Relevanz verloren. Aber deutlicher wird der Gedanke durch die sogleich folgende Begründung in prophetischer Manier (vgl. die Einleitung mit »denn ich sage euch«): »Es kann Gott aus diesen Steinen dem Abraham Kinder erwecken.« Der Grund für die Polemik gegen ein blindes Verlassen auf die genealogische Herkunft von Abraham liegt also in Gottes Macht, aufgrund anderer Kriterien als der leiblichen Abstammung die Zugehörigkeit zu Abraham und zum Bund Gottes zu bestimmen. Gottes absolute Souveränität wird dabei dadurch illustriert, dass Steine als potentielle Grundsubstanz der von Gott erweckten Kinder Abrahams genannt werden. Da Steine mit dem Aspekt des Leblosen konnotiert sind (vgl. z. B. Ez 36,26), kann hierin auf Gottes schöpferische Macht hingewiesen werden. 40 Es geht also nicht darum, die theologische Bedeutung der Abrahamskindschaft im Hinblick auf den damit zusammenhängenden Bund und die Heilszusagen Gottes zu leugnen, sondern ganz im Gegenteil den Grund der Abrahamskindschaft betont auf Gottes schöpferische Macht zurückzuführen und damit deren theologische Relevanz zu untermauern. 41 Insofern demnach das in Aussicht gestellte »Heil Gottes« (Lk 3,6) ausschließlich in der Initiative Gottes begründet ist, kann die Forderung nach Taten, die dem Umdenken entsprechen, als Antwort auf die von Gott grundgelegte Heilsverheißung für die von ihm erwählten Kinder Abrahams verstanden werden. ›Umdenken‹ ist also der erste Schritt auf diesem »Weg des Heils«, der zweite Schritt sind Taten, die dem Umdenken entsprechen. Gottes Macht und Entscheidungsgewalt wird durch Lk 3,9 zusätzlich unterstrichen: »Schon ist auch die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt; jeder Baum nämlich, der keine gute Frucht bringt/ macht [gr. poioun], wird umgehauen [gr. ekkoptetai] und ins Feuer geworfen.« Nicht nur das betont vorangestellte Zeitadverb »schon«, sondern auch das Bild von der Axt, die an die Wurzel der Bäume angelegt ist, deutet darauf hin, dass Gottes Gericht bereits angefangen hat. Damit wird der Aufforderung zum ›Umdenken‹ und dem entsprechenden Handeln zusätzliche Dringlichkeit verliehen. Die Warnung gilt ausnahmslos »jedem Baum, der keine gute Frucht bringt«, was der impliziten Aussage von V. 7-8 entspricht, dass niemand dem kommenden Gericht entrinnen kann. Mit der Rede vom Fällen fruchtloser Bäume, einer Praxis aus der Landwirtschaft, als Metapher für Gottes Gericht wird Johannes mit Jesus parallelisiert. Denn auch Jesus wird dieses Bild einige Male in den Mund gelegt, wie z. B. im Gleichnis vom fruchtlosen Feigenbaum in einem Weinberg, der »umgehauen« werden soll (Lk 13,6-9), womit ebenfalls zur Umkehr ermahnt wird. 42 Vor diesem Hintergrund verwirklicht Johannes mit der Aufforderung zu Taten, die dem ›Umdenken‹ würdig sind, also seine in Lk 1,17.76 angekündigte Funktion. Er ist damit prophetischer Vorbereiter des »Weges des Herrn«, der der »Weg des Heils« ist. Dass die Metapher vom Umhauen von Bäumen mit schlechten Früchten auch politisches Sinnpotential ent- Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 59 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 59 Heike Hötzinger Umdenken als Politik (Lk 3,7-14) halten kann, ist an Intertexten zu sehen, die ebenfalls dieses Bild verwenden und deutlich politische Horizonte haben. Beispielsweise sieht König Nebukadnezzar in einem Traum einen immer höher und mächtiger werdenden Baum (Dan 4,8-9) und hört einen Wächter vom Himmel herab befehlen: »Fällt [ekkopsate] den Baum und vernichtet ihn! « (Dan 4,11). Diese Aufforderung deutet Daniel später als Beschluss Gottes, den König zu verstoßen, bis dieser erkenne, dass der Höchste über die Herrschaft bei den Menschen gebietet und alleinige Macht hat (Dan 4,20-23). Hier steht also »der schlechte Baum« metaphorisch für den König und das »Fällen dieses Baumes« wird als Gerichtshandeln Gottes über die anmaßende politische Macht des Königs interpretiert. Vor diesem Hintergrund kann auch Lk 3,9 politische Implikationen enthalten, zumal in der Einleitung zum Wirken des Johannes in Lk 3,1-2a die weltlichen Führungsgestalten aufgelistet werden. So kann in der Verkündigung des schon begonnenen Gerichts Gottes mit Hilfe derselben Metaphern wie in Dan 4 unterschwellig Kritik gegen eine Überhöhung der weltlichen Machthaber zum Ausdruck kommen. ›Umdenken‹ bedeutet dann: Die Macht der politischen Größen relativieren angesichts der absoluten (Heils- und Unheils-) Macht Gottes. Eine Steigerung erfährt die Gerichtsdrohung in Lk 3,9 durch den Zusatz, jeder Baum mit schlechten Früchten werde »ins Feuer geworfen«, womit absolute Vernichtung ausgedrückt wird. Feuer als Mittel von Gottes strafender Vernichtung ist nämlich aus diversen Texten, wie z. B. aus Gen 19,24-25 im Hinblick auf Sodom und Gomorra oder in Ez 15,6-7 bezüglich der Bewohner Jerusalems, 43 bekannt. Besonders relevant für die Rede des Johannes sind deutliche Parallelen zu Jer 22,7: »Ich biete Verwüster gegen dich auf, die mit ihren Äxten kommen, deine auserlesenen Zedern umhauen [ekkopsousin] und ins Feuer werfen.« Diese als JHWH-Rede gestaltete Unheilsankündigung ist Teil längerer Drohworte des Propheten Jeremia gegen das »Haus des Königs von Juda« (Jer 22,1) sowie gegen alle Menschen, die sich in Jerusalem aufhalten, wie der Kontext nahe legt (vgl. Jer 21,11; 22,6). Darin wird zu Recht und Gerechtigkeit aufgefordert, wobei die gesellschaftlich Schwachen (Ausgeplünderte, Fremde, Weisen, Witwen) besonders im Blick sein sollen (Jer 22,3). Im Falle der Beachtung dieser Forderung, wird dem davidischen Haus Bestand angekündigt (22,4), im Fall von Missachtung allerdings Zerstörung (22,5), die auch die ganze Stadt Jerusalem betreffe (Jer 22,6-9). Selbst wenn das Haus des Königs bzw. die Stadt Jerusalem für JHWH sehr wertvoll sind, wie die Bezeichnung »auserwählte Zedern« (Jer 22,7) ausdrückt, wird JHWH dennoch Stadt und Palast völlig vernichten (»zur Wüste, zur unbewohnten Stadt« machen; Jer 22,6), indem er die auserlesenen Zedern mit Äxten aushauen und ins Feuer werfen wird (Jer 22,7). Als Grund für dieses Vernichtungsgericht nennt Vers 9, dass die Betroffenen den Bund Gottes aufgegeben und anderen Göttern gedient hätten. Deutlich ist im Jeremiatext also ein politisches und soziales Moment enthalten, da das Haus des Königs als Verantwortlicher und die Bewohner Jerusalems als Gemeinschaft angesprochen sind, und besonders die sozial Marginalisierten thematisiert werden. Das politische und soziale Handeln wird zugleich mit dem Bund Gottes in Verbindung gebracht, insofern schlechtes Handeln implizit mit einem Verlassen des Bundes gleichgesetzt wird. Dafür kündigt JHWH sein Vernichtungsgericht als Strafe an, in dem seine absolute Souveränität deutlich wird. Die Rede des Johannes verwendet nicht nur zum Teil dieselben Worte zur Darstellung von Gottes Gerichtshandeln wie Jer 22,7 (»umhauen« und »ins Feuer werfen« der Bäume), sondern zeigt auch weitere motivische Ähnlichkeiten zum Drohwort Jer 22,1-9. Werden im Jeremiatext das Haus des Königs von Juda und die Bewohner Jerusalems als Hörer vorgestellt, so ist der Adressatenkreis in Lk 3,7-9 ähnlich groß, denn hier werden ganz pauschal die »Volksmengen« angesprochen. Implizit gehören auch die religiös und politisch Mächtigen zur Szenerie, da Lk 3,1-2a mit dem Synchronismus anzeigt, unter welchem politischen und religiösen Machtgefüge sich die Worte des Johannes ereignen. Weiterhin ähnelt sich der Adressatenkreis hinsichtlich seines Gottesbezugs: Ist in Jeremia 22,1-9 deutlich, dass es sich um das erwählte Volk Israel handelt, dieses Privileg allerdings nicht vor dem Abfall von Gottes Bund und vor dem darauf folgenden Vernichtungsgericht bewahrt, so deutet sich in Lk 3,8 Ähnliches an. Die Rede vom »Vater Abraham« weist auf das Selbstverständnis der Zuhörer als zum Bund mit Gott Gehörige und damit von ihm Erwählte hin. Die Aussage, Gott könne aus Steinen Kinder Abrahams erstehen lassen, zeigt, dass dieses Privileg nicht automatisch bedeutet, dem Gericht Gottes zu entkommen. Das Thema der Sorge für die sozial Schwachen fehlt in der Rede des Johannes zwar bisher, wird aber in Lk 3,10-14 ebenfalls anvisiert (s. u.). Ähnlich wie der Prophet Jeremia also das Halten bzw. Nichthalten des Bundes Gottes mit politisch-sozialem Handeln verbindet und in diesem Zusammenhang die Drohung des Gerichts Gottes durch die bildhafte Sprache nachdrücklich betont, kann vor dem Hinter- Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 60 - 2. Korrektur 60 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Hermeneutik und Vermittlung grund der Parallelen zu Jer 22,1-9 auch Johannes als prophetische Gestalt verstanden werden, deren Aufruf zur Umkehr, verstärkt durch die Gerichtsandrohung, mit einem politisch-sozialen Impetus verbunden ist. Zugehörigkeit zum Bund Gottes und die damit verbundene Realisierung des »Weges des Heils« bedeutet auch, die zum Bund gehörende Forderung nach sozialem Handeln zu erfüllen. 6. »Was sollen wir tun? « Johannes bleibt nicht bei dieser metaphorischen Aufforderung zum Umdenken und dementsprechenden Handeln stehen, sondern konkretisiert diese im Dialog mit seinen Zuhörern insgesamt (Lk 3,10-11) sowie mit den beiden speziellen Gruppen, den Zöllnern (Lk 3,12-13) und den Soldaten (Lk 3,14). Angestoßen werden diese Konkretisierungen jeweils von der Frage »Was nun sollen wir tun [gr. poiēsōmen]? «, in der die Aufforderung, der Umkehr würdige Früchte zu tun (Lk 3,8), aufgegriffen wird. Nachdem in der Rede des Johannes die Dringlichkeit dieser Forderung angesichts des schon begonnenen Zorngerichts überaus deutlich geworden ist, handelt es sich bei dieser Frage der Zuhörer um eine bedeutende Frage, mit der eine Entscheidung über ihr Schicksal im Zorngericht Gottes zusammenhängt. Auch für die Erzählung des »Weges des Heils« stellt diese eine ›entscheidende‹ Frage dar, die immer wieder von verschiedenen Figuren des lukanischen Doppelwerks formuliert wird (vgl. Lk 12,17; Apg 2,37). 44 Die Antwort auf die erste Frage von den »Volksmengen« besteht in einem zweifachen Imperativ, der sich auf konkrete Situationen bezieht: 1) »Der, der zwei Untergewänder 45 hat, soll Anteil geben dem, der nicht hat.« 2) »Der, der Speisen hat, soll gleichermaßen tun [poieitō].« Insofern es sich bei Kleidung und Nahrung um Dinge handelt, die für das menschliche Überleben erforderlich sind, stehen sie beispielhaft für die existentiell notwendigen menschlichen Grundbedürfnisse. 46 Demnach fordert Johannes nichts Außergewöhnliches, sondern die Erfüllung eines Anspruchs, der für das Bundesvolk Israel grundlegend ist: Keiner in Israel soll Not leiden (Dtn 15,4). 47 Mit dieser selbstverständlichen Sorge für Arme entspricht Johannes nicht nur einer Basis sozialen Handelns im Volk Israel, sondern auch Jesus. Dieser fordert nämlich speziell von den Zwölf bei ihrer Aussendung, das zweite Untergewand nicht mitzunehmen (Lk 9,3), und von all seinen Nachfolgern, ihren gesamten Besitz zu verkaufen und den Erlös den Armen zu geben (Lk 12,33; 18,22). Da also Jesu Anspruch noch radikaler ist als der des Johannes, der nur dazu auffordert »Anteil zu geben«, wird er erneut als Wegbereiter Jesu gezeichnet. 48 Nach dieser ethischen Grundforderung an die gesamten Volksmengen wird in Vers 12 die Gruppe der Zöllner als Dialogpartner des Johannes herausgegriffen. Im Unterschied zu der Betonung des schlechten Rufs von Zöllnern in sehr vielen anderen Texten, die Zöllner in einem Atemzug mit Sündern (Lk 7,34; 15,1 u. a..), 49 mit Prostituierten (Mt 21,31.32) oder in der Reihe »Räuber, Ungerechte, Ehebrecher« (Lk 18,13) nennen, werden sie hier mit ihrer Absicht beschrieben, sich taufen zu lassen. Damit wird also angedeutet, dass sie die Verkündigung und den Umkehrruf des Johannes annehmen. Dass zunächst nicht das negative Bild der Zöllner im Vordergrund steht, sondern die Akzeptanz von Johannes und seiner Botschaft, bestätigt sich in der respektvollen Anrede »Lehrer«, mit der sie sich an Johannes wenden. 50 Wenn Johannes den Zöllnern antwortet »Nicht mehr als das euch Angeordnete fordert ein [gr. prassete]! « (Lk 3,13), wird doch das schlechte Ansehen der Zöllner in Erinnerung gerufen. Als Abgabenpächter, die sich die Lizenz zur Erhebung von Gebühren und Abgaben von einem Steuerpächter erworben haben, mussten Zöllner versuchen, die Kosten für diese Lizenz zu decken und möglichst noch eigenen Gewinn zu erwirtschaften. 51 Da jede Mehreinnahme vom Zöllner selbst behalten wurde, waren sie sehr daran interessiert, möglichst hohe, also über die festgesetzten Tarife hinausreichende Gebühren zu kassieren. Wegen dieses wirtschaftlichen Interesses standen Zöllner in sehr schlechtem Ansehen. 52 Darauf bezieht sich dann auch Johannes’ Forderung, die mit dem Verb prassō, einem terminus technicus für das Eintreiben von Geld, 53 formuliert wird. Durch den Zusatz »mehr als das, was angeordnet ist« wird deutlich, dass Johannes keine Abschaffung von Abgaben verlangt. Vielmehr geht es darum, sich nicht in betrügerischer Art selbst zu bereichern und die Grenzen des herrschenden ethischen Konsenses einzuhalten. 54 Auch hier verlangt Johannes also nichts Außergewöhnliches und akzeptiert das herrschende Wirtschaftssystem. Allerdings soll dieses nicht für egoistische Zwecke ausgenutzt werden. »›Umdenken‹ bedeutet dann: Die Macht der politischen Größen relativieren angesichts der absoluten (Heils- und Unheils-)Macht Gottes.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 61 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 61 Heike Hötzinger Umdenken als Politik (Lk 3,7-14) Die Soldaten als weitere Gruppe aus dem Zuhörerkreis des Johannes werden nicht näher vorgestellt. Deshalb könnte man zwar fragen, ob es sich um römische, d. h. nichtjüdische Soldaten oder um Soldaten aus dem Heer des Herodes Antipas, die auch Juden gewesen sein könnten, handelt. Allerdings zeigt die Antwort des Johannes, dass die religiöse und ethnische Zugehörigkeit der Soldaten nicht im Zentrum des Interesses steht. Vielmehr geht es um ihren Umgang mit der Zivilbevölkerung, wenn Johannes zwei negative und eine positive Forderung an die Soldaten richtet. Schon mit der ersten negativen Mahnung »niemanden misshandelt« (gr. diaseisēte) kommt zum Ausdruck, dass die Beziehung zwischen Stärkeren und Schwächeren thematisiert wird. Auch die zweite Aufforderung »niemanden unterdrückt« fügt sich in diese Thematik ein, denn das Verb sykophanteō erinnert an Texte der Septuaginta, die damit das hebräische Wort für »unterdrücken, Gewalt ausüben« übersetzen. 55 Zwar ist das Bedeutungsspektrum davon ziemlich breit, denn es reicht vom »unrechtmäßigen Erwerben von Gewinn« (Koh 7,7), über »Verleumdung« in der Mahnung zur Heiligung des Alltags (Lev 19,11) 56 bis hin zu »gewaltsamer Unterdrückung« (Koh 4,1; Ps 118,134 LXX), aber der Aspekt von Gewaltausübung von Stärkeren gegenüber Schwächeren klingt überall an. In Lk 3,14 legt sich diese Konnotation von gewaltsamer Unterdrückung aufgrund des ersten Imperativs ebenfalls nahe. Die positive Aufforderung an die Soldaten, »seid zufrieden mit eurem Sold«, wird mit dem Verb arkeō formuliert, das auch in anderen Zusammenhängen das ethische Ideal ausdrückt, sich mit den eigenen Dingen zu begnügen (vgl. 1Tim 6,8; Hebr 13,5). 57 Dies ähnelt der Mahnung an die Zöllner, nur das Festgesetzte einzutreiben. Beide Gruppen haben besondere Machtmittel und werden so ermahnt, diese nicht zu missbrauchen, weder zur eigenen betrügerischen Bereicherung noch zum Schaden für die weniger Mächtigen durch gewalttätige Unterdrückung. 58 Insgesamt behandeln die Forderungen, mit denen Johannes auf die dreimalige Frage »Was sollen wir tun? « antwortet, Beispiele aus der alltäglichen Situation »im fünfzehnten Jahr der Regierung des Kaisers Tiberius, Pilatus war Statthalter von Judäa«. Damit verdeutlichen sie, dass genau in diesem Alltag das ›Umdenken‹ entsprechende »Früchte« tragen soll. Somit haben die Aufforderungen auch eine politische Dimension, da sie sich indirekt mit den bestehenden Machtverhältnissen auseinandersetzen und darauf reagieren. Auffällig dabei ist, dass sie nicht nach einer Umwälzung der Verhältnisse verlangen, sondern vielmehr nach einem Handeln genau in dieser Situation. So zeichnen sich diese ethischen Weisungen im Großen und Ganzen durch eine »ausgeprägte Durchschnittlichkeit« 59 aus. Umdenken bedeutet demnach: Dem Umdenken in der jeweiligen Lebenswelt Ausdruck durch entsprechende Taten verleihen, denn genau darin ereignet sich der »Weg des Heils«. Umdenken als Politik Obwohl Johannes der Täufer in keiner Weise ausdrücklich zu einem Widerstand gegen die politische Situation, die mit dem Synchronismus in Lk 3,1-2a umrissen wird, aufruft, enthält seine Rede dennoch politische Horizonte. Diese sind auf der literarischen und auf der inhaltlichen Ebene impliziert. Auf literarischer Ebene gewinnt Lk 3,7-14 durch verschiedene gestalterische Mittel politische Sinnpotentiale. Grundlegend ist die starke Einbettung des Textes in seinen Kontext des lukanischen Doppelwerks mit seinem theologischen Konzept des »Weges des Heils«, das deutlich macht, dass die Geschichte Gottes mit Israel nicht an der weltlichen Geschichte vorbeigeht, sondern sich nur darin ereignen kann. Zu diesem Konzept trägt auch die Rede des Johannes bei, zumal Johannes als prophetische Gestalt mit eschatologischer Ausrichtung in Analogie zu Propheten Israels dargestellt wird. Dieses Bild des Johannes deutet ebenfalls darauf hin, dass sein Wirken auch politisch verstanden werden kann. Weiterhin bietet der Adressatenkreis des Johannes Anhaltspunkte für implizit politische Dimensionen. Mit den »Volksmengen«, die für das Wirken und die Verkündigung des Johannes empfänglich sind, ist nämlich eine unbestimmt große Gruppe gemeint. Wenn eine solche Gruppe zum »Umdenken« motiviert wird, kann auch das scheinbar unpolitische Denken und Handeln, das Gott als absolutem Herrscher verpflichtet ist, politische Auswirkungen haben. Denn dann handelt eine große Gruppe nach den Maßstäben Gottes und nicht nach denen des bestehenden Machtsystems. Außerdem verleihen diese »Volksmengen« Lk 3,7-14 eine politische Note, insofern sie den Text von einer konkreten Zielgruppe, wie etwa in der matthäischen Version mit den Pharisäern und Sadduzäern als Zuhörern, abheben. Dadurch wird der Text geöffnet für verschiedene potenti- »Somit haben die Aufforderungen auch eine politische Dimension, da sie sich indirekt mit den bestehenden Machtverhältnissen auseinandersetzen und darauf reagieren.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 62 - 2. Korrektur 62 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Hermeneutik und Vermittlung elle Adressaten-- auch für den jeweiligen Leser. Offenen Charakter erhält der Text weiterhin dadurch, dass zunächst ganz allgemein von Gottes Zorngericht gesprochen und zu dem Umdenken entsprechenden Taten aufgefordert wird. Die Beispiele in Lk 3,10-14 sind zwar aus der Lebenswelt zur Zeit der Entstehung des Textes entnommen, bleiben aber zugleich so allgemein, dass sie leicht auf verschiedene Situationen übertragen und aktualisiert werden können. Die inhaltliche Grundlage bildet die Verkündigung des unentrinnbaren Zorngerichts Gottes und damit verbunden die absolut souveräne Macht Gottes. Mit dieser kann er in schöpferischer Art Anteil an seinem Bund und somit Heil bewirken, aber ebenso völlig vernichtend in seinem Zorn handeln. Vor diesem Hintergrund ist die Aufforderung, »dem Umdenken würdige Früchte zu tun«, zentral und ›entscheidend‹ für den Verlauf des bereits begonnenen Zorngerichts Gottes. Dem entspricht dann auch die ebenfalls ›entscheidende‹ Frage der Adressaten des Johannes »Was sollen wir tun? «. Die implizit politischen Aussagen dieser bildhaft ausgedrückten Inhalte lassen sich angesichts diverser Intertexte erkennen, auf die Lk 3,7-14 anspielt, indem dieselben Motive oder sogar Begriffe verwendet werden. Da etwa das Bild von einem Baum, der keine guten Früchte trägt, in Dan 4,8-9.20 und Jes 22,1-9 jeweils auf bestimmte weltliche Machthaber übertragen wird, denen-- ebenfalls mit Bildern, die auch in Lk 3,7-14 auftauchen-- Gottes Vernichtungsgericht angekündigt wird, können diese politischen Konnotationen auch ein Sinnpotential in der Rede des Johannes darstellen. Dies wird noch deutlicher angesichts der Aufzählung der politischen Größen zur Zeit des Wirkens des Johannes (Lk 3,1-2a). »Umdenken« bedeutet in diesem Zusammenhang, die absolute Macht Gottes als Schöpfer und endzeitlicher Richter sowie seine Forderungen anzuerkennen. Nur »Umdenken« reicht allerdings nicht, was sich schon darin andeutet, dass »getauft werden« wollen allein nicht vor dem Zorn Gottes bewahrt. Vielmehr ist »Umdenken« der erste Schritt, dem weitere Schritte in Form von entsprechenden Taten folgen müssen, um den »Weg des Heils« zu gehen. Worin diese »dem Umdenken würdigen Früchte« und weiteren Schritte konkret liegen, formulieren die Antworten des Johannes auf die entscheidende Frage verschiedener Zuhörerkreise »Was sollen wir tun? «. Dabei wird deutlich: »Umdenken« bedeutet zunächst eine Besinnung auf das Wesentliche. Es wird nämlich zur Fürsorge für die existentiell notwendigen Dinge (Kleidung und Nahrung) im direkten Umfeld aufgefordert, genauso wie es seit jeher im Volk Israel geboten wird. Darauf aufbauend (wenn also für das Wesentliche gegenseitig gesorgt ist) bedeutet »Umdenken« ein Anerkennen der festgesetzten Grenzen des herrschenden Systems, d. h. beispielsweise seine eigene Position im politischen Machtgefüge nicht auszunutzen, um seine eigene Macht zu stärken und dabei andere zu schwächen. Wenn nämlich die Basis des Umdenkens ist, die absolute Macht Gottes als Schöpfer und endzeitlicher Richter anzuerkennen, relativiert sich jede weltliche Macht, auch die eines jedes einzelnen. »Umdenken« im Sinn einer Anerkenntnis von Gottes Herrschaft und Gericht, das schon begonnen hat, führt also zu einer neuen Wahrnehmung der politischen Herrschaftsgefüge und zu einer gewissen ›Unabhängigkeit‹, weil primär-- im Rahmen der jeweiligen Möglichkeiten-- nach Gottes Vorstellungen gehandelt werden kann. Das Beispiel der Zöllner und Soldaten zeigt, dass damit nicht unbedingt ein Ausbruch aus dem politischen System nötig ist, sondern eine Integration des davon Geforderten in die Forderungen Gottes. Oder umgekehrt: Die Forderungen Gottes werden innerhalb der bestehenden weltlichen Systeme und deren Grenzen erfüllt. Was ist das ›Neue‹ daran? -- Vielleicht, dass das alles nichts Neues ist. In Anknüpfung an ethische Weisungen Israels 60 und als deren Aktualisierung formuliert Johannes seine Aufforderung zur Umkehr, die sich konkret im Alltag bewähren muss und nicht bei einem »Umdenken« stehen bleiben darf. Damit bereitet Johannes als »Prophet des Höchsten« die »Wege des Herrn« (Lk 1,76; 3,4) vor, die ein »Weg des Heils« sein wollen. Anmerkungen 1 Wenn nicht anders vermerkt, stammen die Übersetzungen der neutestamentlichen Texte der eigenen Übersetzung der Verfasserin dieses Artikels. Die alttestamentlichen Texte sind der Einheitsübersetzung entnommen. 2 Vgl. H. Merklein, μετάνοια, μετανοέω, in: EWNT 2 (1992), 1022-1031, hier: 1024. 3 In Anlehnung an U. Schnelle, Historische Anschlussfähigkeit. Zum hermeneutischen Horizont von Geschichts- und Traditionsbildung, in: J. Frey/ U. Schnelle, Kontexte des Johannesevangeliums (WUNT 175), Tübingen 2004, 47-78, hier: 57 Anm. 51, wird hier ein weiter Erzählbe- »Wenn nämlich die Basis des Umdenkens ist, die absolute Macht Gottes als Schöpfer und endzeitlicher Richter anzuerkennen, relativiert sich jede weltliche Macht, auch die eines jedes einzelnen.« Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 63 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 63 Heike Hötzinger Umdenken als Politik (Lk 3,7-14) griff vorausgesetzt, der nicht auf bestimmte literarische Gattungen fixiert ist. Erzählung wird »als eine bedeutungs- oder sinnhafte bzw. Bedeutung oder Sinn stiftende Sprachform« aufgefasst. Vgl. auch U. Eisen, Die Poetik der Apostelgeschichte. Eine narratologische Studie (NTOA 58), Göttingen 2006, 40. 4 Vgl. K. Backhaus/ G. Häfner, Historiographie und fiktionales Erzählen. Zur Konstruktivität in Geschichtstheorie und Exegese, Neukirchen-Vluyn 2007, 31. 5 Vgl. Backhaus, Historiographie, 31-34. Ähnlich K. Schiffner, Lukas liest Exodus. Eine Untersuchung zur Aufnahme ersttestamentlicher Befreiungsgeschichte im lukanischen Werk als Schrift-Lektüre (BWANT 172), Stuttgart 2008, 58; S. Hagene, Zeiten der Wiederherstellung. Studien zur lukanischen Geschichtstheologie als Soteriologie, Münster/ Aschendorf 2003, 53-58. 6 Vgl. Hagene, Zeiten, 55. Für weitere Kennzeichen antikjüdischer Geschichtsschreibung vgl. J. Zmijewski, Die Apostelgeschichte (RNT 5), Regensburg 1994, 24-30; Backhaus, Historiographie, 30-35. 7 Es besteht weitgehender Konsens darüber, dass Lukasevangelium und Apostelgeschichte auf einen Verfasser zurückgehen, von dem zwar nicht viel bekannt ist, der aber traditionell ›Lukas‹ genannt wird. Zur Diskussion um die Verfasserfrage des lukanischen Doppelwerks vgl. H. Klein, Lukasstudien (FRLANT 209), Göttingen 2005, 11-40; J. Schröter, Lukas als Historiograph. Das lukanische Doppelwerk und die Entdeckung der christlichen Heilsgeschichte, in: E.-M. Becker (Hg.), Die antike Historiographie und die Anfänge der christlichen Geschichtsschreibung (BZNW 129), Berlin 2005, 237-240. 8 Klein, Lukasstudien, 105; J. Zmijewski, Apostelgeschichte, 25; Schröter, Lukas als Historiograph, 247-254 u. a. 9 Zmijewski, Apostelgeschichte, 319. 10 Vgl. Hagene, Zeiten, 55-56, fügt hinzu, dass in jüdischer Geschichtsschreibung häufig Existenzbedrohung und radikales Infragestellen des gesamten Volkes thematisiert werden. 11 Damit wird nämlich in Apg 16,17 das Geschehen, das im lukanischen Doppelwerk erzählt wird, prägnant zusammengefasst, wenn die von einem Wahrsagegeist besessene Magd in Philippi von Paulus und seinen Begleitern sagt: »Diese Menschen sind Diener des höchsten Gottes, die euch den Weg des Heils [gr. hodon sōtērias] verkündigen.« Vgl. Klein, Lukasstudien, 106; H. Klein, Das Lukasevangelium (KEK 1,3), Göttingen 10 2006 53. 12 Vgl. Klein, Lukasstudien, 111. Heil und der Weg dorthin bestehe primär in der Nachfolge Jesu, in Glaube, Offenheit für die Zukunft und für die Königsherrschaft Gottes. 13 Auch verschiedene Arten von Reden verstärken die Einheit des »Weges des Heils«, indem sie vorangegangene Ereignisse rückblickend deuten, ihre übergeschichtliche Bedeutung aufzeigen und gelegentlich vorausschauend künftige Ereignisse vorbereiten. Für einen ausführlichen Überblick dazu vgl. E. Plümacher, Apostelgeschichte, in: TRE 3 (1978), 502-506. 14 Vgl. M. Wolter, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen 2008, 21. Zur ausführlichen Charakterisierung des Episodenstils vgl. ebd., 16-22; M. Wolter, Das lukanische Doppelwerk als Epochengeschichte, in: C. Breytenbach/ J. Schröter/ D.S. du Toit (Hgg.), Die Apostelgeschichte und die hellenistische Geschichtsschreibung. FS E. Plümacher (AJEC 57), Leiden/ Boston 2004, 253-284, bes. 258-279. 15 Beispielsweise zeigt Schiffner, Lukas liest Exodus, strukturelle, motivische und sprachliche Analogien des lukanischen Doppelwerks mit der Exoduserzählung. B. Koet, Isaiah in Luke-Acts, in: Ders., Dreams and Scripture in Luke-Acts. Collected Essays, Leuven u. a. 2006, 51-79, untersucht, inwiefern Jesajatexte das lukanische Doppelwerk prägen. 16 Ausführlich dazu vgl. H. Braun, Geschichte des Gottesvolkes und christliche Identität. Eine kanonisch-intertextuelle Auslegung der Stephanusepisode Apg 6,1-8,3 (WUNT II 279), Tübingen 2010, 48-56. 17 Vgl. Backhaus, Historiographie, 35-41. Auch die zum Teil nicht ganz korrekten bzw. widersprüchlichen Angaben in den Synchronismen könnten zu dieser Transparenz beitragen. 18 Vgl. Eisen, Poetik, 221-222. 19 Lk 2,34 greift außerdem das spezielle Schicksal Jesu in verschlüsselter Weise auf. Vgl. Backhaus, Historiographie, 51-52; Eisen, Poetik, 150-151. Für ausführliche Untersuchungen zu Lk 2,30-32 und die Anspielungen auf Jes 40,3-5; 42,6; 49,6; 60,1-3 vgl. Wolter, Lukasevangelium, 139-143; Koet, Dreams, 99-122; D. Rusam, Das Alte Testament bei Lukas (BZNW 112), Berlin u. a. 2003, 78-85 u. a. 20 Das wird auch am Ende des Lukasevangeliums deutlich. Denn auf dem Weg nach Emmaus deutet Jesus seinen Tod und seine Auferstehung als Erfüllung der gesamten Schrift (Lk 24,26-27), betont also die Kontinuität zur Geschichte Israels. Außerdem beauftragt der Auferstandene seine Jünger zur Verkündigung an alle Völker (Lk 24,47) und mit der Erzählung von der Erhöhung des Auferstandenen wird seine Wiederkunft vorbereitet (Lk 24,50). 21 Eine Schilderung dieser Rezeptionsmöglichkeit würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Ausführlich dazu vgl. S. Schreiber, Weihnachtspolitik. Lukas 1-2 und das Goldene Zeitalter (NTOA 82), Göttingen 2009. 22 Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 153. 23 Zur Vorbereitung auf das Wirken Jesu (ab Lk 4,14) zählt neben dem Überblick über Johannes den Täufer weiterhin die Taufe Jesu (Lk 3,21-22), der Stammbaum Jesu (Lk 3,23-38) und Jesu Versuchung (Lk 4,1-13). 24 Darüber hinaus wird in der Fortsetzung über die Erzählung hinaus deutlich, dass es sich um eine Station auf dem »Weg des Heils« handelt, wenn Johannes in Lk 3,16-17 auf die Überlegung des Volkes Israel, ob Johannes der erwartete Christus/ Messias sei, antwortet. Dabei verweist er nämlich ausdrücklich auf einen anderen, der »stärker« sei als er. Nach einer summarischen Zusammenfassung über die Verkündigungstätigkeit des Johannes in Lk 3,18 berichtet Lk 3,19-20 von der Gefangennahme des Johannes durch Herodes. Damit wird erneut der Zusammenhang zur politischen Situation, in der Johannes wirkt, etwas expliziter hergestellt und zugleich der Überblick über das Wirken des Johannes abgeschlossen. Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 21.03.2013 - Seite 64 - 2. Korrektur 64 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Hermeneutik und Vermittlung 25 Zusätzlich wird Johannes’ vollkommen priesterliche Herkunft durch seine Mutter Elisabeth gewährleistet, die aaronidischer Abstammung ist. 26 Schreiber, Weihnachtspolitik, 71. 27 Zu politischen Dimensionen der Vorstellung von Johannes als Prophet vgl. auch U.B. Müller, Johannes der Täufer. Jüdischer Prophet und Wegbereiter Jesu (Biblische Gestalten 6), Leipzig 2002, 45-49. 28 Vgl. auch Wolter, Lukasevangelium, 156. 29 Vgl. Chr. Riedo-Emmenegger, Prophetisch-messianische Provokateure der Pax Romana. Jesus von Nazaret und andere Störenfriede im Konflikt mit dem Römischen Reich (NTOA 56), Fribourg 2005, 282. 30 Laut Wolter, Lukasevangelium, 159, ist diese Wendung (gennēmata echidnōn) analogielos, abgesehen von der Anrede der Pharisäer und Schriftgelehrten durch Jesus in Mt 12,34; 23,33. Möglicherweise ist die Wendung als Versuch der Übersetzung einer aramäischen Bezeichnung für ein bestimmtes Tier ins Griechische entstanden, ähnlich wie in Jes 11,8; 14,29. 31 Diese Beschimpfung überrascht auch deshalb, weil sie durch keinerlei Handlungen begründet wird. Vgl. J.-Ernst, Das Evangelium nach Lukas (RNT), Regensburg 1993, 109. 32 Wolter, Lukasevangelium, 159. 33 Vgl. ähnlich Ez 21,36; Jes 5,25; 9,18; 26,11; 30,27; Jer 4,4; 7,20; Zeph 1,15 u. v. m. 34 Übersetzung aus W. Kraus/ M. Karrer (Hgg.), Septuaginta Deutsch. Das griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung, Stuttgart 2009. 35 Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 159. Vgl. auch die Rede Jesu gegen Jerusalem Lk 21,23. 36 Die Formulierung mit dem pointiert vorangestellten Imperativ poiēsate unterstreicht die Dringlichkeit der Aufforderung. 37 Wolter, Lukasevangelium, 159. 38 Vgl. auch Merklein, Metanoia, 1024, 1028. 39 Vgl. auch Ernst, Evangelium nach Lukas, 109. 40 Vgl. Klein, Lukasevangelium, 165, sieht im Bild, dass Gott aus Steinen Kinder erweckt, sogar eine Verschärfung gegenüber der Überlieferung von der Schöpfung des Menschen aus Ton (Gen 2,7), die den Menschen als Lehmgebilde in seiner Vergänglichkeit sieht (Hi 10,9; 33,6; Jes 41,25). Eventuell steckt in Lk 3,8c auch einfach ein Wortspiel, da die aramäischen Wörter für »Steine« (bnn) und »Kinder« (bnn) sich nur sehr geringfügig unterscheiden. Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 160. 41 Ein ähnlicher Umgang mit der Erwählung Israels erfolgt in der Petrusrede in Jerusalem Apg 3,19-26: Nachdem Petrus zur Umkehr (metanoia) auffordert, nennt er als entscheidendes Kriterium für die Teilhabe am verheißenen Heil die Hinwendung zu Jesus Christus. Zwar unterscheiden sich die beiden Texte in diesem Punkt voneinander, da Johannes als Kriterium »Früchte, die der Umkehr entsprechen« nennt, aber gemeinsam ist ihnen, dass die Zugehörigkeit zu Abraham (»Abrahamskindschaft«) von Gott nicht nur auf Grund der leiblichen Abstammung festgestellt werden kann, sondern auch auf Grund von anderen Kriterien. Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 160. Vgl. auch Röm 9,6-13; Gal 3,6-29. 42 Auch in der Warnung vor den falschen Propheten (Mt 17,17-19), die man daran erkenne, dass sie »schlechte Früchte machen«, verwendet Jesus diese Bilder, wenn er ankündigt, jeder Baum, der keine guten Früchte macht, werde ausgehauen und ins Feuer geworfen (Mt 7,19). 43 Dass mit dem Motiv des Feuers der Aspekt absoluter Vernichtung angedeutet wird, legt sich von äthHen 48,9 her nahe, wo angekündigt wird: »Wie Stroh im Feuer […] so werden sie brennen […], und es wird keine Spur von ihnen zu finden sein.« Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 161. 44 Vgl. auch Lk 16,3; 20,13; Apg 22,10 u. a.. 45 Das Lexem chitōn bezeichnet das Untergewand, das auf der Haut oder über einem leinenen Hemd getragen wird. Es reicht bis zu den Knien oder Knöcheln und hat lange oder halblange Ärmel. Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 161. 46 Mit Nahrung und Kleidung wird auch in einigen anderen Texten exemplarisch auf das existentiell Notwendige verwiesen. Vgl. Lk 12,23 par.; Mt 6,25; Gen 28,20; Dtn 10,18; Jes 4,1 u. a.. 47 Dies wird auch in verschiedenen anderen Kontexten formuliert, wie z. B. in Tob 1,17; 4,16; Jes 58,7; Ez 18,7. 48 Das Ideal, dass niemand Not leidet, findet sich auch in der Schilderung der idealisierten Gemeinde von Jerusalem, die in Gütergemeinschaft lebte Apg 2,42. 49 Vgl. auch Mk 2,15.16; Mt 11,19; Lk 18,13; 19,7. 50 Zur Parallelisierung mit Jesus, der sonst mit »Lehrer« angesprochen wird, siehe oben. 51 Vgl. Klein, Lukasevangelium, 224. 52 Nicht wegen der angeblichen Kollaboration mit der fremden Besatzungsmacht hätten die Zöllner ihren schlechten Ruf, betont Wolter, Lukasevangelium, 162. 53 Vgl. W. Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, hg. von Kurt und Barbara Aland, Berlin/ New York 6 1988, 1400. 54 Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 162. 55 Vgl. Ps 71,4; 118,122.134 LXX; Spr 14,31; Koh 4,1 u. v. m. 56 Vgl. F. Bovon, Das Evangelium nach Lukas (EKK 3,1), Neukirchen-Vluyn 1989, 174. 57 Vgl. Wolter, Lukasevangelium, 163. 58 Ähnliches findet sich auch in Spr 22,16; 28,3. Vgl. Ernst, Lukasevangelium, 111; Wolter, Lukasevangelium, 163. 59 Wolter, Lukasevangelium 163. 60 Vgl. Bovon, Evangelium nach Lukas, 175. Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 13.03.2013 - Seite 65 - 2. Korrektur ZNT 31 (16. Jg. 2013) 65 Buchreport C. Kavin Rowe World Upside Down. Reading Acts in the Greco-Roman Age Oxford University Press: Oxford 2009 X. 300 Seiten ISBN: 978-0-19-537 787-3 Preis: 43,- £ (Hardback), 15,99 £ (Paperback) Ist die Apostelgeschichte das Dokument eines frühen Friedenschlusses zwischen dem jungen Christentum und dem römischen Imperium? Hat der Auctor ad Theophilum, den wir mit der Tradition Lukas nennen, den zweiten Teil seines Doppelwerkes in den Dienst einer Apologetik gestellt, die einerseits die Christen den Römern als loyale Reichsbürger empfiehlt und andererseits ein positives Rombild propagiert? Mit einem Wort: Hat Lukas dem Christentum noch vor dem Ende des 1. Jh.s politisch den Zahn gezogen? Wo immer diese Frage bejaht wird, erleidet Lukas dasselbe Schicksal wie sein Zeitgenosse Flavius Josephus. Wie es das Judentum Josephus nie verziehen hat, dass er als einstiger General im jüdischen Krieg seinen zweifelhaften Frieden mit Rom gemacht hat und es sich fortan als kaiserlicher Pensionär wohl sein ließ, so haftet Lukas bis heute der schlechte Ruf des Römerfreundes an. In Wissenschaftsdiskursen, die es sich mit eigener politischer Unauffälligkeit und Unanstößigkeit ihrerseits wohl sein lassen, taugt solche Lukas-Schelte dazu, am toten Objekt ein kritisches politisches Bewusstsein zu simulieren, das man sich im echten Leben lieber verkneift. Von so manchem Exegetenschreibtisch, der sich auf die politische Stummheit seiner Produkte schon allein wegen der gebotenen wissenschaftlichen Unparteilichkeit viel zugute hält, mag schon jenes berühmte »Danke, dass ich nicht bin wie dieser da« zum Himmel gestiegen sein. Über »diesen da«, Lukas mit Namen, hat Kavin Rowe, Associate Professor für Neues Testament an der Duke University Divinity School, ein bemerkenswertes und in der englischsprachigen Forschung bereits viel beachtetes Buch geschrieben. Nach seinem Urteil unterläuft der skizzierten Sicht, die auf eine lange Forschungsgeschichte zurückblickt, eine Reihe unzulässiger Vereinfachungen. »For almost three hundred years […] the dominant trend in New Testament interpretation has been to read the Acts of the Apostles as a document that argues for the political possibility of harmonious existence between Rome and the early Christian movement« (3). Regelmäßig werde hier, so Rowe, der Begriff des Politischen zu einfach gefasst: »[W]here the question of Luke’s politics has been taken up, it has been thought about as though one could speak of politics simpliciter« (4). Gefordert sei dagegen eine Ausweitung des Begriffs auf die Christologie und Ekklesiologie der Apostelgeschichte. Die Offenbarung Jesu Christi als kyrios und das soziale Gefüge der ekklesia bilden nach lukanischem Verständnis einen komplexen, eminent politischen Sachzusammenhang, der im Erzählverlauf der Apostelgeschichte narrativ zur Darstellung gelangt. Dann aber gilt: »No longer can Acts be seen as a simple apologia that articulates Christianity’s harmlessness vis-á-vis Rome […] Luke’s second volume is a highly charged and theologically sophisticated political document that aims at nothing less than the construction of an alternative total way of life-- a comprehensive pattern of being- - one that runs counter to the life-patterns of the Graeco-Roman world« (4). Im so knappen wie instruktiven Einleitungskapitel (»Reading Acts«, 3-16) skizziert der Verfasser den Gang der Darstellung und erörtert in souveräner Kürze einige Fragen zu Methode und Begrifflichkeit. Die Diskussion der Sekundärliteratur wird mit Augenmaß weitgehend in den Anmerkungen geführt, die, wie in englischsprachigen Fachbüchern bis heute üblich, als Endnoten gesetzt sind (177-265, die »Select Bibliography« schließt 267-282 an). Auf die Einleitung folgen drei Kapitel, in denen der Verfasser seine Sicht auf die Apostelgeschichte entfaltet. Rowe sieht den zweiten Teil des lukanischen Doppelwerkes von einer tiefgreifenden Spannung (»profound tension«, 4) durchzogen, die er in diesen Kapiteln in einem dialektischen Dreischritt darzustellen unternimmt. Der dialektische Gegensatz besteht in der mit der christlichen Mission einhergehenden kulturellen Destabilisierung einerseits und ihrer gleichzeitigen politischen Unbedenklichkeit andererseits. Dieser Gegensatz kann, so Rowe, keinesfalls im Sinne einer romfreundlichen Grundtendenz der Apostelgeschichte eingeebnet werden. Im ersten der drei Kapitel (»Collision: Explicating Divine Identity«, 17- 51) schreitet Rowe vier Stationen ab, die die destabilisierende Wirkung der christlichen Mission auf die pagane Kultur insgesamt-- »Kultur« verstanden als umfassender Begriff mit den Aspekten des Politischen, Ökonomischen und Religiösen-- paradigmatisch herausstellen: In Lystra (Apg 14) werden Paulus und Barnabas zunächst als Götter verehrt. Als sie aber den paganen Kultbetrieb als »nichtig« (mataia) schmähen, schlägt die Stimmung um, und die Menge steinigt Paulus fast zu Tode. In Philippi (Apg 16) exorziert Paulus einen Wahrsagegeist, schädigt damit massiv fremdes Eigentum, provoziert einen Tumult, wird samt Timotheus verprügelt, eingesperrt und schließlich aus der Stadt verwiesen. Besondere politische und juridische Bezüge erhält das Auftreten des Paulus in Athen (Apg 17): Der »Areopag« ist, so Rowe, nicht lediglich Ortsangabe, sondern bezeichnet den athenischen Gerichtshof. Bezüge zum Prozess des Sokrates klingen an (17,19f.). Der von Paulus namhaft gemachte Altar des »unbekannten Gottes« dient nicht als theologischer Anknüpfungspunkt, sondern stellt ironisch die Ignoranz der Athener bezüglich der wahren Gottesverehrung heraus. In Ephesus (Apg 19) gefährdet die christliche Missionspredigt einen ganzen Erwerbszweig und verletzt die religiösen Gefühle der Artemisverehrer. Wieder kommt es zu Tumulten und zu Festnahmen der christlichen Missionare. Rowe resümiert: »There are priests and crowds in Lystra, religious salesmen and colony magistrates in Philippi, philoso- Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 13.03.2013 - Seite 66 - 2. Korrektur 66 ZNT 31 (16. Jg. 2013) Buchreport phers and political authorities in Athen, magicians and craftsmen in Ephesus. Taken together these figures demolish the possibility of holding that, as Luke narrates it, the Christian mission was in its essence culturally innocuous (i. e., it was purely about eusebeia/ religio). To the contrary, in their social, political, and economic breadth, such persons exhibit the far-reaching and profoundly troubling effects of Christianity for pagan culture« (51). Das folgende Kapitel (»Dikaios: Rejecting Statecraft«, 53-89) setzt neu an und untersucht ein zweites Set an Texten, in denen Lukas exemplarisch (18,12-17: Gallio, 21,27-23,30: Claudius Lysias, 24,1-27: Felix; 25,1- 26,32: Festus) die Haltung der römischen Autoritäten gegenüber Paulus als Repräsentanten der christlichen Mission vorführt. In Korinth wird es für Paulus gefährlich, weil seine Ankläger darauf spekulieren, dass Gallio seine Handlungen als eine Verletzung römischen Rechts einstuft. Gallio erklärt sich jedoch für unzuständig und bescheinigt Paulus damit, dass sein Handeln aus römischer Sicht unbedenklich ist: »[T]he Christian mission in Korinth is not legally culpable« (61). Ein wichtiges Detail bei der Begegnung mit Claudius Lysias ist die betonte Abgrenzung der paulinischen Mission von jüdischen Aufstandsgruppen (21,38f.). Auch nach Lysias’ Urteil stellt Paulus im Übrigen keine Gefahr dar. Wiederum geht es für den Römer um eine binnenjüdische Kontroverse, die aus römischer Sicht weder Haft noch gar ein Todesurteil rechtfertigt (23,29). In der Anklage des Paulus vor Felix fällt ein Reizwort, das den Römer sofort hellhörig machen musste: stasis, »Aufruhr«. Paulus wird Felix als stasiastēs, als »Aufrührer«, vorgeführt, die Anklage mithin in einen politischen Kontext gerückt. Paulus bestreitet diesen und andere Vorwürfe ausdrücklich und stellt die Kontroverse als rein innerjüdische Angelegenheit dar. Zu einer Anklage von römischer Seite kommt es nicht. Paulus bleibt nur deshalb in Haft, weil Felix korrupt ist. Vor Festus (25,8) insistiert Paulus, dass er nichts »wider das jüdische Gesetz, den Tempel oder den Kaiser« getan hat, und am Ende steht Festus’ und Agrippas gemeinsame Erklärung von Paulus’ Unschuld (26,31f.). Allein aus dem formal-juristischen Grund seiner Appellation an den Kaiser bleibt er in römischem Gewahrsam. Selbstredend referiert Lukas in den genannten Texten nicht die römische Rechtsauffassung, sondern seine eigene. Das römische Recht wird damit auf eine Weise in die Pflicht genommen, die an Kühnheit kaum zu überbieten ist: Die christlichen Missionare sollen, obwohl sie überall Unruhe stiften, von römischer Seite als Reichsbewohner angesehen werden, denen strafrechtlich nichts vorzuwerfen ist: »Acts’ political strategy is […] a legal tour de force that argues for the right testimony and application of the Roman law itself. […] Luke’s work stands between the Roman law and his Christian readers and reshapes the former to fit the latter. Rightly read for the question of insurrection in the case of Christians, the law yields the verdict ›innocent‹.« (148). Die Überschrift des Schlusskapitels (»World Upside Down: Practicing Theological Knowledge«, 91-137), ist einer Formulierung aus Apg 17,6 entlehnt, die auch dem Buch seinen Titel gegeben hat: Den Christen wird vorgeworfen, dass sie »die ganze Welt aufwiegeln«, ja, dass sie gegen die Gesetze des Kaisers handeln und einen anderen, Jesus, zum König erklären. Rowe knüpft an die Ereignisse in Thessalonich in Apg 17,1-9, in denen sich der stasis-Vorwurf dramatisch zuspitzt, die Frage, ob und warum der in den beiden vorangehenden Kapiteln beschriebene Gegensatz »does not yield a final or irresolvable contradiction but a complex unity« (135). Die Antwort lautet: Weil die Proklamation Jesu als universaler Herrscher nicht in einem Staatsstreich oder in einer Revolution mündet, sondern »in a new, worldwide and publicly identifiable form of communal life«-- d. h. im Leben der Kirche- - und »because of the peacemaking character of Jesus’s Lordship« (136). Die Tumulte, die die christliche Missionspredigt regelmäßig nach sich zieht, führen nicht zu einer Auflösung der sozialen Ordnung, sondern, je nach missionarischem Erfolg, zur Bildung neuer sozialer Gefüge in Gestalt neuer Christengemeinden; nicht zu einem abstrakten politischen Programm, sondern zu einem neuen Lebensstil, dem »Weg«, wie Lukas ihn nennt, »a different way« in der dreifachen Praxis des Bekenntnisses, der Mission und der Gemeinschaft. Das letzte Kapitel (»The Apocalypse of Acts and the Life of Truth«, 139-176) löst mit der Frage »what it means to read Acts in the first part of the twenty-first century« ein schon am Anfang des Buches gegebenes Versprechen ein (»the very real problems that face us today«, 7). Inhaltlich geht es dabei hauptsächlich um eine kritische Auseinadersetzung mit dem von Odo Marquardt und Jan Assmann ins Spiel gebrachten Konzept eines aufgeklärten Polytheismus als Träger kultureller und religiöser Toleranz, sowie mit der modernen Fiktion einer Politik ohne metaphysische bzw. religiöse Grundannahmen. Die Ausführungen Rowes stoßen über diese wiederum überzeugenden, doch recht abstrakten Folgerungen hinaus Überlegungen an, die in konkrete politische Sachzusammenhänge hineinreichen. Christliche Existenz ist in der lukanischen Zeichnung bis zu einem gewissen Grad immer ein politischer Störfaktor. Sie kann, will sie sich selbst treu bleiben, gar nicht anders als negativ aufzufallen. Zugleich beansprucht sie aber ihren rechtmäßigen Platz im gesellschaftlichen Ganzen und erwartet gerade von den höchsten Staatsorganen, dass ihr dieser Platz zuerkannt wird. Die lukanische Formel »acknowledging cultural disruption and insisting on its specifically Christian interpretation« (151) führt, auf moderne Verhältnisse gewendet, geradewegs zum Konzept des zivilen Ungehorsams im Rechtsstaat: Ziviler Ungehorsam insistiert, ganz im Einklang mit der von Rowe so überzeugend dargestellten lukanischen Dialektik, gegen alle Versuche seiner Kriminalisierung auf seiner Rechtsstaatlichkeit. Für den Auctor ad Theophilum hat solcher Ungehorsam einen genuinen und ursprünglichen Ort: Die Kirche. Manuel Vogel Zeitschrift für Neues Testament_31 typoscript [AK] - 13.03.2013 - Seite 65 - 2. Korrektur Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BES TELLEN! 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