ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
2013
1632
Dronsch Strecker VogelZeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 1 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 1 Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, das aktuelle Heft der ZNT ist einem unpopulären Thema gewidmet. Das gilt auch und gerade für die kirchliche Binnensprache, die die Rede von »Sünde« in Predigt und Unterricht wegen ihrer über Jahrhunderte unbeanstandeten moralistischen Verengung vielfach meidet. Umgangssprachlich gehört »Sünde« zwar zum aktiven Wortschatz, hier jedoch selten ohne ein starkes Moment der Ironisierung oder Banalisierung. Biblisch und zumal neutestamentlich handelt es sich fraglos um einen zentralen Begriff, der nicht leichtfertig aufgegeben oder substituiert werden kann. Biblische Hermeneutik steht also vor einer schwierigen Aufgabe, wenn sie das Thema »Sünde« nicht einfach aus dem Inventar von Theologie und theologischer Anthropologie streichen will. Wir hoffen, dass mit dem vorliegenden Heft ein Beitrag zu einer verantworteten Rede von Sünde jenseits von Dogmatismus und wohlfeiler Ermäßigung geleistet wird. Unter der Rubrik »NT aktuell« vermisst Hanna Roose zu Beginn das kirchliche und exegetische Begriffsfeld. Sie legt eine kundige Bestandsaufnahme vor, die auf Konvergenzen wie auch auf Diskrepanzen zwischen Exegese und kirchlicher Praxis aufmerksam macht. Es folgen vier Beiträge »Zum Thema«: François Vouga reflektiert anhand zentraler neutestamentlicher Texte den Zusammenhang von Krankheit und Sünde. Am exegetischen Detail und mit systematischer Stringenz erarbeitet er vier unterschiedliche Konzepte, die der theologischen Reflexion wichtige Anknüpfungspunkte bieten. Einem Randsiedler des neutestamentlichen Diskurses widmet sich Matthias Konradt mit seinem Beitrag zum Jakobusbrief, dessen Auffassung von Sünde differenziert in den theologischen Gesamtzusammenhang des Briefes gestellt wird. Dabei kommen wichtige sozialethische Bezüge zur Geltung, die in dieser Klarheit im neutestamentlichen Spektrum keineswegs selbstverständlich sind. Carl-Friedrich Geyer weitet mit einer konzisen Darstellung der Erbsündenlehre Augustins den Horizont des Themas über das Neue Testament hinaus in die Theologiegeschichte der Spätantike und von da aus bis in den modernen theologischen und philosophischen Diskurs aus. Erhellend ist sowohl die plausible Einzeichnung des augustinischen Gedankens in das Ganze seiner Theologie wie auch der Gang durch die Rezeptionsgeschichte, der zeigt, wie sich Theologie und Philosophie von der stets als schwierig empfundenen Erbsündenlehre bis heute herausfordern lassen. Einen antiken Kontext eröffnet der Beitrag von Troels Engberg-Pedersen. Er verweist auf weit reichende Analogien zwischen der paulinischen Antithese von Fleisch und Geist und vergleichbaren Konzepten bei Aristoteles und in der Stoa. Wo diese Analogien an Grenzen stoßen, ist nicht von vornherein ausgemacht, dass Paulus den Zuschlag erhält. Hier sind die Leserinnen und Leser gefordert, sich selbst ein Urteil zu bilden. Von einigem theologischen Gewicht ist die Kontroverse, die die alte Frage, ob das »Ich« im siebten Kapitel des Römerbriefes auf die vorchristliche oder (auch) auf die christliche Existenz zu beziehen ist, neu stellt. Beide Beiträge aus der Feder von Stefan Schreiber und Günter Röhser zeichnen sich durch eine durchgehende Nähe zum paulinischen Referenztext aus. Der Beitrag von Gary Anderson deckt einen wichtigen Aspekt der Begriffsgeschichte auf, nämlich eine semantische Verschiebung hin zu einer ökonomischen Metaphorik im Sündenbegriff in nachbiblischer Zeit. Damit ist ein Thema angerissen, das auf aktuelle Debatten zur religiösen Grundierung ökonomischer Begriffe hinweist. Inhaltlich geht es Anderson darum, von der Vergebungsbitte des Vaterunser einen Bogen zum rabbinischen Judentum und seiner von christlicher Seite lange verkannten Auffassung von »Schulden« und »Schulderlass« zu schlagen. Mit dem Buchreport von Thomas Schmeller zu einer wichtigen neueren Publikation zum Thema schließt das Heft. In eigener Sache verabschieden wir an dieser Stelle Axel von Dobbeler, der wegen zahlreicher beruflicher Verpflichtungen aus dem erweiterten Herausgeberkreis der ZNT ausscheidet. Er hat vor nunmehr sechzehn Jahren die ZNT mit aus der Taufe gehoben und war zwischen 2003 und 2006 selbst einer der Hauptherausgeber. Die ZNT verdankt ihm wichtige Impulse und Weichenstellungen. Wir danken ihm für seine Mitarbeit und wünschen ihm für seinen weiteren beruflichen und persönlichen Weg alles Gute. Stefan Alkier Eckart Reinmuth Manuel Vogel Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 2 - 2. Korrektur 2 ZNT 32 (16. Jg. 2013) 1. »Sünde« in der Gesellschaft Grüne Blätter, Sonnenschein, Vogelgezwitscher, im Hintergrund Glockengeläut. Das Gesicht einer jungen Frau, an der Kleidung als Nonne zu erkennen, kommt ins Bild. Sie stöhnt erschrocken und erregt auf und fragt: »Ist das nicht eigentlich eine Sünde? « Eine ältere Nonne kommt ins Bild. Sie zuckt zusammen und zieht erschrocken Luft zwischen den Zähnen ein. Zwischen beiden Nonnen sitzt eine dritte, deutlich ältere Nonne. Sie erklärt bestimmt: »Nee, schmeckt nur so.« Die beiden anderen Nonnen atmen erleichtert auf. Jetzt erkennt man, dass die drei mit Hingabe Pudding löffeln. Eine männliche Stimme aus dem off erklärt: »Neu, Light- Pudding von Dr. Oetker. Nur 0,1 % Fett. Und unglaublich schokoladig und cremig. Schmeckt sündhaft, ist er aber nicht. Light-Pudding. Neu von Dr. Oetker.« 1 Dieser Werbespot verrät viel darüber, wie »Sünde« in unserer Gesellschaft konnotiert ist. Da sind zunächst Anklänge an das biblische Paradies: die grünen Blätter, der Sonnenschein, das Vogelgezwitscher. Die religiöse Konnotation wird verstärkt durch das Glockengeläut und dann natürlich durch die Kleidung der Frauen, die sie als Nonnen ausweist. »Sünde« wird außerdem mit Sex, mit sexueller Erregung, in Verbindung gebracht. Die junge Nonne stöhnt erregt auf. Sie hat gerade etwas sehr Schönes erfahren. Doch statt zu genießen, erschrickt sie und fragt besorgt: »Ist das nicht eigentlich Sünde? « Unter Sünde versteht sie offenbar eine Handlung, eine Tat. Worin diese Tat besteht, kann der Zuschauer nur vermuten. Wie kommt die Nonne auf die Idee, dass genussvolle Handlungen Sünde sein könnten? Hier schwingt das gesellschaftliche Bild eines kirchlich geprägten Ethos mit, das Genuss-- und insbesondere sexuellen Genuss- - als Sünde brandmarkt und also verbietet. Der Sündenfall führt-- so lehrt es doch die Bibel-- zur Vertreibung aus dem Paradies. Die zweite Nonne, die ins Bild kommt, scheint diese Befürchtung zu bestätigen. Sie zuckt zusammen und hält in dem, was sie tut, inne. Die ältere Nonne hingegen wischt die Bedenken fort: Was sie tun, ist keine Sünde. Jetzt wird aber auch klar, dass es gar nicht um Sex geht, sondern um Essen. Hier kommt eine dritte Konnotation zum Tragen: »Sünde« wird mit dick machendem, kalorienreichem und reichhaltigem Essen assoziiert. Die Nonnen begehen mit dem Essen des Puddings keine Sünde, weil er nur 0,1 % Fett enthält. »Sünde« gilt also einerseits als etwas Triviales, andererseits als etwas Schönes, Sinnliches, Begehrenswertes, Verlockendes. Beide Konnotationen markieren eine deutliche komplizenhafte Distanz zu und Kritik an einer der Kirche zugeschriebenen Sündenlehre, nach der Sünde(n) über unser »ewiges« Heil oder Unheil entscheiden und die alles als »verboten« brandmarkt, was Menschen-- zu Recht-- genießen. Der Werbespot spielt mit den-- der Lächerlichkeit preisgegebenen-- Vorstellungen »der Kirche« zu »Sünde«, er vertraut darauf, dass die große Mehrheit der Fernsehzuschauer diese implizite Wertung teilt. Insofern präsentiert der Spot eine kritische Außensicht auf Kirche, die auf breite gesellschaftliche Zustimmung hofft. Allerdings ist diese Außensicht so stark ironisiert und überspitzt, dass durchaus auch Personen, die sich der Kirche zugehörig fühlen, mitlachen können. Der Umschlag von sexuellen Anklängen auf das Essen eines kalorienarmen Puddings hat etwas Komisches. In einem Brainstorming, den Jugendliche einer 9./ 10. Klasse zu dem Impuls »Sünde ist…« durchführen, benennen sie z.T. ganz ähnliche, z.T. auch andere Items: • Essen wegwerfen • Filme »runterladen« • Heimlich rauchen • Töten • Stehlen • Sex vor der Ehe • Etwas Verbotenes machen 2 Das letzte Item fasst die vorangehenden zusammen: Die Jugendlichen verstehen unter »Sünde« das, was verboten ist. Es ist aber nicht so, dass die Jugendlichen der Meinung wären, alle von ihnen genannten Handlungen sollten tatsächlich verboten sein. Weiterführend ist vielmehr die Frage, aus wessen Sicht die einzelnen Handlungen ihrer Meinung nach verboten sind. Am ehesten gehen die Jugendlichen damit konform, dass Töten und Stehlen verboten seien. Hier sehen sie eine Verbindung zu den 10 Geboten. Essen wegwerfen und heimlich rauchen sind Tätigkeiten, die die Eltern (unnötigerweise) verbieten, Filme »runterzuladen« verbietet Hanna Roose »Sünde« in Gesellschaft, Kirche und neutestamentlicher Wissenschaft Neues Testament aktuell Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 3 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 3 Hanna Roose »Sünde« in Gesellschaft, Kirche und neutestamentlicher Wissenschaft 2. »Sünde« in der Kirche Der gesellschaftliche Gebrauch von »Sünde« impliziert einen Blick von außen auf die Kirche und ihren Gebrauch von »Sünde«. Wie verhält sich diese gesellschaftliche Außensicht zu einer kirchlichen Binnensicht? Drei kirchliche Stimmen kommen hier zu Wort: ein evangelischer Schulpastor aus Hamburg, eine Superintendentin der Hannoverschen Landeskirche und ein Pastor einer freikirchlichen Gemeinde aus Lüneburg. Der evangelische Schulpastor äußert sich wie folgt zu der Frage, welche Rolle »Sünde« in seiner beruflichen Tätigkeit spielt: »Spielt im umgangssprachlichen Zusammenhang das Wort eine gewisse Rolle, um Fehler und Übertretungen zu benennen, z. B. Verkehrssünder, Temposünder, Steuersünder, Alkoholsünder, so ist diese Festlegung innerkirchlich deutlich anders. Zwar ist Sünde, im Sinne von Trennung von Gott, ein theologisch klarer Sachverhalt, trotzdem hat es den Eindruck, dass in der binnenkirchlichen Kommunikation der Begriff Sünde gemieden wird. Die Ursache liegt wohl in der Wirkungsgeschichte. Sünde wurde lange Jahre seitens der Kirche dermaßen moralisch aufgeladen verwendet, dass diese Verwendung durchaus verheerende Spuren hinterlassen hat. Die die Sünde brandmarkende Kirche ist zum Klischee verkommen und wird auch heute noch, gerade von Kirchenfernen, als das Bild von Kirche wahrgenommen, mit der man schon lange nichts zu tun haben wollte und will. Diese bigotte Moralanstalt, die andere als Sünder bezeichnet und selbst den eigenen Ansprüchen nicht genügt, ist für viele auch heute noch das existierende Bild von Kirche und jeder Vorfall, z. B. sexueller Missbrauch, der daran rührt, bestätigt dieses Bild. Innerhalb der evang. Kirche und seitens evang. Geistlicher wird der Begriff Sünde weitgehendst gemieden. Die Verwechslungsgefahr des theol. Begriffs mit dem moralinsauren Zeigefinger ist zu groß. Sünde ist insofern nicht ›predigttauglich‹. Die eigene Geschichte hemmt sehr, diesen Begriff aktuell zu verwenden. Nur auf dem evangelikalen Rand wird hier unvoreingenommener agiert. Gleichwohl ist der Sachverhalt, den der Begriff meint, nicht verschwunden. Die Kirche äußert sich insofern zu bestimmten ethischen Fragen in umfassenden und abgewogenen Denkschriften, ohne jedoch hier in dem Sinne eindeutig Stellung zu beziehen, dass man klar ein Verhalten als (Tat)Sünde bezeichnet.« Diese Stellungnahme setzt der gesellschaftlichen Wahrnehmung von »Sünde« als »moralinsaurem Zeigefinger« ein theologisches Verständnis im Sinne von »Trennung (ärgerlicherweise) das Gesetz, Sex vor der Ehe verbietet (unsinnigerweise) die Kirche-- ohne dass die Jugendlichen bei diesem Verbot einen biblischen Bezug ausmachen. Für diese Jugendlichen ist der Begriff »Sünde« also z.T. biblisch, z.T. kirchlich verankert. Er ist mehr oder weniger gleichbedeutend mit »Etwas Verbotenes machen«. Die Bibel formuliert nach Meinung der Jugendlichen durchaus sinnvolle Verbote, die Kirche hingegen nehmen sie- - ähnlich wie dies im Werbespot geschieht-- als »prüde« wahr. In der Bedeutung »Etwas Verbotenes machen« strahlt der Begriff »Sünde« für sie dann über den Bereich von Bibel und Kirche hinaus und kann auch »profane« Verbote meinen. Deutlich ist auch hier die moralische Aufladung des Begriffs, ohne dass »Sünde« eindeutig positiv oder negativ konnotiert wäre. Sowohl im Werbespot als auch in den Äußerungen der Jugendlichen ist »Sünde« eine moralische Größe, sie entspricht einer individuellen Tat, die das ethisch Gebotene verletzt. Kirche wird dabei als eine Institution wahrgenommen, die z.T. unsinnige, unzeitgemäße und genussfeindliche Verbote durchsetzen will, indem sie deren Übertretung als »Sünde« (ab)qualifiziert. Prof. Dr. Hanna Roose, geb. 1967 in Kiel, Studium der Ev. Theologie, der Romanistik und Musik an der Universität und Musikhochschule des Saarlandes sowie in Straßburg; Dissertation bei U. B. Müller (Saarbrücken, 1997); Habilitation an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg (2002); von 1997-2000 Lehrkraft an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und kirchliche Honorarkraft im Schuldienst; 2000-2004 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Koblenz-Landau; seit 2004 Professorin für Neues Testament und Religionspädagogik an der Universität Lüneburg. Forschungsschwerpunkte: Bibeldidaktik, Intertextualität, lukanisches Doppelwerk. Hanna Roose »Für diese Jugendlichen ist der Begriff ›Sünde‹ also z.T. biblisch, z.T. kirchlich verankert. Er ist mehr oder weniger gleichbedeutend mit ›Etwas Verbotenes machen.‹« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 4 - 2. Korrektur 4 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Neues Testament aktuell von Gott« entgegen. »Sünde« ist hier also relational gefasst, sie betrifft das Verhältnis (des Einzelnen) zu Gott. Die ethische Dimension von »Sünde« wird im letzten Absatz ebenfalls anerkannt: Ein bestimmtes Verhalten kann prinzipiell als »(Tat)Sünde« bezeichnet werden. Da der Begriff jedoch im gesellschaftlichen Kontext von Kirche als einer »bigotten Moralanstalt« so stark vorbelastet sei, verzichte Kirche darauf, konkrete Handlungen als »(Tat)Sünde« zu qualifizieren. Der Begriff sei insgesamt nicht »predigttauglich«. Die Stellungnahme berührt nicht die Frage, ob bzw. wie »Sünde« als relationaler Begriff und als »Tat« zusammenhängen. Evangelikale Kirchen kommen in der Außenperspektive in den Blick. Einige dieser Aspekte finden sich in Äußerungen von Pastorinnen und Pastoren der Hannoverschen Landeskirche wieder, die eine Superintendentin zur Frage, ob bzw. wie der Begriff »Sünde« in ihrer kirchlichen Arbeit vorkomme, gesammelt hat: • »Wenn ich Sünde sage, hören viele nur: Diät, Falschparken, sexuelle Ausschweifung.« • »Es ist schwer gegen das Zerrbild, dass Sünde nur moralische Verfehlungen meint, anzukommen.« • »Wo in der Kirche von Sünde gesprochen wird, werden Projektionen auf kirchlichen Moralrigorismus wach.« Klar sei aber auch, dass das Phänomen »Sünde« einen wichtigen Platz in der kirchlichen Arbeit einnehme: • »Auf jeden Fall kommt Sünde in meiner Arbeit vor, allerdings meide ich den Begriff und suche Umschreibungen.« • »Sünde ist für mich ein unverzichtbarer theologischer Topos-- der Begriff muss allerdings sehr vorsichtig verwendet werden, da er oft stark moralisch missverstanden wird.« Unter »Sünde« verstehen die Befragten: • »Beziehungsstörung zwischen Menschen und zwischen Menschen und Gott. Jeder ist betroffen davon.« • »Erfahrung einer Macht, die zum Bösen drängt. Sie muss beim Namen genannt und entzaubert werden.« • »Eine kollektive Kategorie: In der globalen Welt nimmt die Verstrickung in ungute Zusammenhänge zu.« Die erste Äußerung hebt wiederum auf den relationalen Charakter von »Sünde« ab, hier explizit in der doppelten Relationalität von Mensch zu Gott sowie Mensch zu Mitmensch. Die zweite Äußerung versteht »Sünde« nicht primär als (Einzel-)Tat, sondern als »Macht, die zum Bösen drängt«. Der dritte Beitrag sieht in dem Phänomen »Sünde« keine individuelle, sondern eine kollektive, ja globale Kategorie. Zwei der zitierten Äußerungen gehen auch bereits darauf ein, wie kirchliche Vertreter mit dem Phänomen »Sünde« umgehen sollten: darüber reden, die »Macht« beim Namen nennen und »entzaubern«. In einem weiteren Beitrag stellt eine Pastorin die Rede von »Sünde« in den Kontext der Rede von »Vergebung«: »Wenn ich von Sünde rede, dann immer mit Blick auf die Vergebung. Darauf kommt es an! « Deutlich wurde im Gespräch mit den Pastorinnen und Pastoren-- so die Superintendentin-- dass die Rede von »Sünde« »im Duktus der Empathie […] und nicht im Duktus von Appell oder Anklage« geschehe. Das markiert eine entscheidende Differenz zum Bild von Kirche, die andere anklage, dabei den eigenen Ansprüchen aber nicht gerecht werde. Die Stellungnahme des Pastors einer freikirchlichen Gemeinde setzt mit dem Zusammenhang von Sünde und Vergebung ein: »Das Thema ›Sünde‹ ist bei uns in der Gemeinde untrennbar mit dem Thema ›Vergebung‹ verbunden. Beide Themen gehören ganz normal zu den Glaubens- und Lebensthemen, die wir miteinander bewegen-- in Lehre und Verkündigung und in der praktischen Lebensgestaltung. Sie gehören für uns deshalb so selbstverständlich dazu, weil sie zentrale Bestandteile der ›Botschaft vom Kreuz‹ sind, die für uns ›der Inbegriff von‹ Gottes Kraft ist (1Kor 1,18). Sünde verstehen wir in ihrem Kern als Trennung von Gott. Menschen, die in unsere Gemeinde kommen, fragen nicht in erster Linie nach einem gnädigen Gott, aber sie sind auf der Suche nach etwas, das bleibt, etwas, das hält, etwas, das Bestand hat. Sie sind auf der Suche nach echtem Leben, nach wirklichem Frieden-- nach dem, was nicht von dieser Welt ist. Vor allem in unseren Glaubensgrundkursen und in unseren Gottesdiensten erleben wir es immer wieder, dass Menschen den Tod Jesu am Kreuz als Angebot zum Leben annehmen. Sie nehmen es für sich ganz persönlich in Anspruch, dass Jesus für ihre Sünde gestorben ist, und sie dadurch in Beziehung mit Gott treten können. Die Bitte um Vergebung der eigenen Sünde, im Sinne von getrennten Leben von Gott, ist für viele ein befreiendes Erlebnis! Das bedeutet für uns in der Gemeinde den Startschuss, dem der Lauf folgt. Wer sein Leben Jesus anvertraut hat, hat eine neue Identität. Dieser Mensch ist nicht mehr ›Sünder‹, da die Macht der Sünde nun über seinem Leben gebrochen ist. Er ist versöhnt mit Gott und dadurch ein ›Kind Gottes‹, das manchmal noch sündigt. Der Umgang mit Sünde gleicht von dem Zeitpunkt an dem Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 5 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 5 Hanna Roose »Sünde« in Gesellschaft, Kirche und neutestamentlicher Wissenschaft »Insgesamt fächern die kirchlichen Stimmen das Bedeutungsspektrum von ›Sünde‹ gegenüber dem gesellschaftlichen Sprachgebrauch deutlich weiter auf. ›Sünde‹ kommt nicht nur als moralischer Begriff im Sinne der individuellen Tatsünde in den Blick, sondern auch als relationaler Begriff sowie als überindividuelle Macht.« Sportler im Lauf, der darauf achtet, dass er gesund und fit bleibt. Wenn sich jemand also in Gedanken, Wort oder Tat so verhält, dass es ihn von Gott oder seinen Mitmenschen trennt, dann ist es ein klarer Schritt, Gott dafür um Vergebung zu bitten. Das geschieht entweder ganz stille oder im Gebet mit einem anderen Christen, der daraufhin die Vergebung der Sünde zuspricht. Der Schlüsselvers, an den wir uns dabei halten, steht in 1Joh. 1,9: ›Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit.‹ […] In unserem Unterwegssein mit Gott bleibt auch die wiederkehrende Vergebung von Sünde keine Selbstverständlichkeit, sondern etwas sehr Kostbares. Indem Menschen dem liebenden Gott begegnen, bekommen sie eine Sündenerkenntnis und den starken Wunsch nach Vergebung. Ich erlebe, wie ernst es den Menschen ist. Es geht nicht um billige Gnade, sondern Vergebung meiner Sünde als Chance für Veränderung zu nehmen.« Stilistisch fällt gegenüber den anderen beiden Stellungnahmen der Gebrauch des »Wir« auf. Die Stellungnahme bestätigt die Einschätzung des Schulpastors, nach der in freikirchlichen Gemeinden »unvoreingenommener« von Sünde die Rede sei. Das geschieht nicht im Sinne des moralischen Zeigefingers, sondern-- ebenfalls-- »im Duktus der Empathie« und im Horizont der Vergebung. Die inhaltliche Bestimmung von Sünde als Trennung von Gott spielt auch hier eine wichtige Rolle. Der Text bezieht eine Differenzierung ein, die die anderen Stellungnahmen so nicht thematisieren: die Verhältnisbestimmung von »Sünde«, bevor jemand sein Leben Jesus anvertraut hat, und »Sünde«, nachdem das geschehen ist. Der »Mensch ist nicht mehr ›Sünder‹, da die Macht der Sünde nun über seinem Leben gebrochen ist«, aber er sündigt noch manchmal. Diese Verhältnisbestimmung beschäftigt auch die neutestamentliche Wissenschaft in ihrer Auslegung paulinischer Texte. Insgesamt fächern die kirchlichen Stimmen das Bedeutungsspektrum von »Sünde« gegenüber dem gesellschaftlichen Sprachgebrauch deutlich weiter auf. »Sünde« kommt nicht nur als moralischer Begriff im Sinne der individuellen Tatsünde in den Blick, sondern auch als relationaler Begriff sowie als überindividuelle Macht. Die landeskirchlichen Stimmen thematisieren die Diskrepanz zwischen dem gesellschaftlichen und dem kirchlich-theologischen Sprachgebrauch als Problem. Sie unterscheiden zwischen dem »Phänomen Sünde«, das für die kirchliche Arbeit von großer Bedeutung sei, und dem Wort, das aufgrund des eingeengten, pejorativen oder ironischen außerkirchlichen Sprachgebrauchs »verbrannt« sei. Die freikirchliche Stellungnahme vollzieht diese Trennung nicht, sondern reklamiert den Begriff »Sünde«-- verbunden mit einer Betonung des »Wir«-- für den eigenen Sprachgebrauch. 3. »Sünde« in der neutestamentlichen Wissenschaft Wie verhalten sich die gesellschaftliche und die kirchliche Wahrnehmung von »Sünde« zur diesbezüglichen Diskussion in der neutestamentlichen Wissenschaft? Zu dieser Frage möchte ich im Folgenden nicht etwa einen Forschungsüberblick bieten, sondern ich zeige anhand ausgewählter Schlaglichter aus der Forschung (umstrittene) Bedeutungsfacetten der neutestamentlichen Rede von »Sünde« auf und skizziere, inwiefern sie an die gesellschaftlichen und kirchlichen Stimmen anknüpfen oder aber über sie hinausgehen bzw. ihnen sogar widersprechen. Anders als das Alte Testament gebraucht das Neue Testament für »Sünde« einen einheitlichen Begriff (gr.: hamartia). Die einzelnen neutestamentlichen Schriften unterscheiden sich allerdings hinsichtlich ihrer Gewichtung und ihrer Interpretation dessen, was sie mit »Sünde« meinen. Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis der »Theologie des Neuen Testaments« von Udo Schnelle zeigt, dass »Sünde« nur im Rahmen der paulinischen Briefe 3 und der johanneischen Schriften 4 einen eigenen Gliederungspunkt erhält. Im Zusammenhang mit der Erörterung des lukanischen Doppelwerks findet sich ein eigener Abschnitt zu »Sünde und Sündenvergebung« unter dem Punkt »Anthropologie« (Lehre vom Menschen). 5 3.1 Lukas Das alltagssprachliche Verständnis von »Sünde« als einer individuellen Tat(sünde) weist am ehesten eine gewisse Nähe zum lukanischen Gebrauch auf. Das lukanische Doppelwerk gebraucht den Begriff »Sünde« im Plural Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 6 - 2. Korrektur 6 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Neues Testament aktuell und bezeichnet damit »ein konkretes Fehlverhalten im ethisch-moralischen Bereich« 6 . So heißt es im lukanischen »Vater-Unser«: »Und vergib uns unsere Sünden« (Lk 11,4). Der lukanische Paulus verteidigt sich in seiner Rede vor Festus damit, dass er gegen den römischen Kaiser nicht »etwas gesündigt« habe- - er habe also nicht gegen Recht und Ordnung verstoßen (Apg 25,7- 8). Soweit entspricht der Gebrauch von »Sünde« dem Alltagsverständnis, nach dem »Sünde« das Übertreten von Verboten und konkretes ethisches Fehlverhalten meint. Die bekannteste einschlägige Textpassage, die aber auch schon über dieses Verständnis hinausweist, findet sich in der Parabel vom »Verlorenen Sohn« (Lk 15,11-32): Bei seiner Rückkehr deutet der jüngere Sohn seinen ehemaligen Lebenswandel mit den Worten: »Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir.« Damit ist eine doppelte Relationalität benannt: Die Tatsünde (z. B. das Verprassen von Geld [15,13], aber auch die Arbeit mit Schweinen, also-- nach jüdischem Verständnis-- unreinen Tieren [Lk 15,15]) beschädigt das Verhältnis zum Mitmenschen (zum Vater) und zu Gott (»gegen den Himmel«). Nur so wird überhaupt verständlich, wie die Parabeln vom verlorenen Schaf (Lk 15,1-7) und vom verlorenen Groschen (Lk 15,8-10) mit der Anwendung enden können, dass Gott sich über einen einzigen Sünder, der umkehrt, mehr freue als über 99 Gerechte-- obwohl weder Schaf noch Groschen »ein konkretes Fehlverhalten im ethisch-moralischen Bereich« begehen (können! ). Auf der zweiten Aussageebene ist hier die »Trennung von Gott« im Blick, die passieren kann (vgl. Schaf und Groschen 7 ) und verschuldet wird (verlorener Sohn). Vergebung impliziert entsprechend eine Doppelbewegung: Der Sünder muss umkehren, Gott kommt auf den Sünder zu und nimmt ihn wieder auf. 8 »Sünden« bezeichnen also ein konkretes ethischmoralisches Fehlverhalten vor der Umkehr zu Gott. 3.2. Paulus Deutlich umstrittener ist in der neutestamentlichen Wissenschaft die Frage, wie Paulus von »Sünde« spricht. Einigkeit herrscht darüber, dass Paulus-- insbesondere im Römerbrief-- die elaboriertesten Aussagen zu Sünde formuliert, so dass sich die neutestamentliche Diskussion über Sünde im Neuen Testament vornehmlich an Paulus orientiert. 9 Die Diskussion greift dabei auf Kategorisierungen zurück, die weit über die gesellschaftliche Wahrnehmung von »Sünde« hinausgehen: Inwiefern ist für Paulus der Mensch Subjekt der Sünde (indem er sie »tut«), inwiefern ist er ihr Objekt (indem sie ihn beherrscht)? Inwiefern ist Sünde eine individuelle, inwiefern eine kollektive oder gar eine universelle Größe? Welche Rolle spielt Sünde nach paulinischem Verständnis vor der Bekehrung (präkonversional), welche Rolle nach der Bekehrung (postkonversional)? Individuelle Tat und universelle Macht Paulus spricht einerseits von Sünden (im Plural) im Sinne individueller Taten (z. B. Röm 5,16), andererseits von Sünde (im Singular) im Sinne einer Macht (z. B. Röm 5,21). Einmal ist der Mensch Autor seiner Sünden, er handelt- - und ist verantwortlich für das, was er tut. Dann ist der Mensch Opfer der Sünde, die über ihn herrscht-- ohne dass er etwas dafür könnte. Mit dieser idealtypischen Differenzierung ist allerdings erst eine Polarität aufgespannt, innerhalb derer die exegetische Auslegung der paulinischen Schriften erheblich variieren kann. Günter Röhser 10 stellt in seiner Studie von 1987 den Machtcharakter der Sünde bei Paulus, insbesondere im Römerbrief 5-7, in Frage. Er bezeichnet den paulinischen Sündenbegriff nach Röm 5-7 als »personifiziertes Abstraktnomen« 11 . Rückblickend umreißt er die Zielsetzung seiner Untersuchung folgendermaßen: »Damit sollte die in der Literatur verbreitete undifferenzierte Redeweise von der Sünde als ›Macht‹ kritisiert, ein mythologischer Vorstellungshintergrund (die Sünde als Dämon) problematisiert[ 12 ] und festgehalten werden, dass es einzig menschliche Sünden und Verfehlungen selbst sind, die eine Eigendynamik entwickeln und auf die Menschen als Täter zurückschlagen.« 13 In die entgegen gesetzte Richtung geht die Studie von Helmut Umbach von 1999 14 : »Vielmehr ist für Paulus der Terminus ›Hamartia‹ immer-- außer in traditionellen Zitaten, wo er im Plural für menschliche Verfehlungen eingesetzt ist- - eine Größe, die nicht menschliches Fehlverhalten und menschliche Verfehlungen bezeichnet, wie G. Röhser meint, sondern eine Macht, der der Mensch ›in Adam‹ total unterworfen ist (Röm 5), ja, die ihn regelrecht ›besessen‹ hat (Röm 7).« 15 Die Taufe in Christus bewirkt im Leben des einzelnen Menschen, dass er der Macht der Sünde entrissen (Röm 6,1-11) und fortan von einer anderen Macht beherrscht wird: dem Geist (gr.: pneuma) Gottes. 16 Das heißt: Die Sünde ist zunächst eine universelle Größe, alle Menschen sind ihr unterworfen (Röm 5; vgl. 8,22). Nach ihrer Taufe sind die Menschen keine Sünder mehr. Die Gemeinde-- so Umbach-- ist bei Paulus ein »sündenfreier Raum«. 17 Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 7 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 7 Hanna Roose »Sünde« in Gesellschaft, Kirche und neutestamentlicher Wissenschaft Präkonversional-- postkonversional Umbach versteht Paulus so, dass »Sünde« für den Apostel eine Größe ist, die ausschließlich vor der Bekehrung zu verorten ist. Denn für die Getauften ist die Sünde entmachtet, sie sind ihr entrissen. »Von ›Sünde‹ im Sinn des absolut gebrauchten Machtbegriffs ›Hamartia‹ findet sich [postkonversional] in allen relevanten Texten nichts.« 18 Damit ist eine Frage aufgeworfen, die eine weitere grundsätzliche Differenzierung nötig macht: Idealtypisch zu unterscheiden ist nicht nur zwischen Sünden als Taten und der Sünde als Macht, sondern auch zwischen der Sünde vor der Bekehrung und (un-)möglichen Sünden nach der Bekehrung. Untersuchungen, die auf die Sünde vor der Bekehrung fokussieren (präkonversional), bewegen sich im Rahmen der Soteriologie, also der Frage, wie (woraus, wovor) der Mensch durch Jesus Christus gerettet werden kann. Untersuchungen, die auf die Sünde(n) nach der Bekehrung fokussieren (postkonversional), berühren auch den Rahmen ekklesiologischer und ethischer Fragestellungen in urchristlichen Gemeinden. Ein in dieser Hinsicht hoch umstrittener Text ist Röm 7 (s. Kontroverse in diesem Heft). Dahinter steht die-- durchaus auch heute gesellschaftlich relevante-- Beobachtung, dass Christinnen und Christen nicht (immer) an ihrem vorbildlichen ethischen Verhalten zu erkennen sind. Müsste die Rettung aus der Sünde nicht am ethischen Verhalten ablesbar sein? Widersprechen Christinnen und Christen nicht ihrer eigenen Überzeugung, wenn sie einerseits an ihrer Rettung durch Jesus Christus festhalten, dem aber andererseits kein verändertes »sündenfreies« Verhalten entspricht? Der manchmal (außerkirchlich) erhobene Vorwurf, Christinnen und Christen meinten, »besser« zu sein als andere Menschen, wären es aber gar nicht, berührt theologisch gesprochen die Frage nach dem Verhältnis von präkonversionaler und postkonversionaler Sünde. Denkbar wäre hier ein Modell, das die Sünde als universale Macht ausschließlich präkonversional, die Sünden als individuelle Taten prä- und postkonversional verortet. Die Getauften wären dann der Macht der Sünde entrissen, würden aber dennoch weiter sündigen. In diese Richtung geht die freikirchliche Stellungnahme. Freilich stellt sich dann »die Frage nach dem sachlichen Zusammenhang zwischen der entmachteten Sünde und dem dann doch wieder (reichlich! ) auftretenden Fehlverhalten in den Gemeinden« 19 . Umbach geht in seiner Auslegung paulinischer Texte an dieser Stelle deshalb noch einen Schritt weiter und bezeichnet die Gemeinde im Untertitel seiner Studie nicht nur als Sünde-freien Raum, sondern als »sündenfreien Raum«. Im Blick auf die Frage, warum Paulus seine Gemeinden trotzdem ermahne, führt Umbach die Unterscheidung zwischen (Tat-)Sünden und Verfehlungen ein. Die Getauften begehen keine Sünden, sondern »Verfehlungen«. Vielleicht überzieht Umbach in seinem Untertitel die eigene These, denn »Paulus spricht doch vom Sündigen (wenn auch nicht von ›der‹ Sünde) in der Gemeinde« 20 . Es ist zumindest fraglich, ob sich diese Belege dadurch »wegargumentieren« lassen, dass sie der Tradition zugeschlagen werden, die Paulus aufnimmt, ohne sie jedoch konstitutiv in seine eigene Konzeption einzubauen. Sünde als soziale Größe Stephan Hagenow widmet seine Studie 21 »Heilige Gemeinde-- Sündige Christen« dem Umgang mit postkonversionaler Sünde bei Paulus. Hagenow unterstellt-- anders als Umbach-- bereits im Titel seiner Studie, dass Paulus postkonversionale Sünde kennt, und er fragt in historischer Perspektive danach, wie Paulus mit diesem Phänomen umgeht. Wesentlich für Hagenows These ist die Unterscheidung zwischen der Gemeinde und dem einzelnen Gemeindemitglied. Sünde-- so Hagenow-- sei für Paulus eine soziale Größe: »Sünde ist nicht in erster Linie die Störung der Gottesbeziehung des Einzelnen, sondern eine Störung und Bedrohung des Sozialgefüges. […] Sünde befleckt und bedroht in diesem Sinne wirklich das Ansehen der Gruppe. Deshalb kann Sünde auch nur durch die Gemeinde wieder beseitigt werden.« 22 Paulus weiß also sehr wohl darum, dass Getaufte sündigen können, aber in der Gemeinde kann keine Sünde toleriert werden, sie ist »heilig«. Deshalb muss die Gemeinde einzelne Sünder ausschließen (vgl. 1Kor 5,12 f.; 6,18). »Es kommt dem Apostel auf die Wahrung der Heiligkeit der Gemeinde an, das Ergehen des einzelnen Sünders-- und sei es noch so gravierend-- interessiert nur am Rande.« 23 Sünde ist also nicht begrenzt auf eine individuell zurechenbare Tat, sondern sie wirkt zurück auf die Gemeinschaft. Aus seelsorgerlicher Perspektive ist diese (Re-)Konstruktion hochproblematisch. Sie steht im Widerspruch zu heutigen kirchlichen Stimmen, die Sünde konstitutiv mit Empathie und Vergebung verbinden. »Der manchmal (außerkirchlich) erhobene Vorwurf, Christinnen und Christen meinten, ›besser‹ zu sein als andere Menschen, wären es aber gar nicht, berührt theologisch gesprochen die Frage nach dem Verhältnis von präkonversionaler und postkonversionaler Sünde.« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 8 - 2. Korrektur 8 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Neues Testament aktuell Eun-Geol Lyu 24 beschäftigt sich im Unterschied dazu mit der präkonversionalen Sünde bei Paulus und fragt danach, »wie der Apostel den Begriff in seinen missionarischen Tätigkeiten aufgreift«. 25 Der soteriologische Fokus zeigt sich in dem Titel »Sünde und Rechtfertigung«. Lyu fragt, »welchen Anhaltspunkt das paulinische Sündenverständnis für die Erhellung der Rechtfertigungslehre gibt« 26 . Er kommt-- in expliziter Nähe zu Martin Luther und Rudolf Bultmann-- zu dem Ergebnis, dass Paulus das Sündersein des Menschen als anthropologische Voraussetzung begreift, ohne die die paulinische Soteriologie nicht auskommt. »Wir brauchen die Rechtfertigung in dem Maße, in dem wir Sünder sind.« 27 Damit wendet Lyu sich u. a. gegen Ed Sanders und die »New Perspective«, die Paulus »andersherum« versteht und meint, dass Paulus von der Rechtfertigung her auf die Sünde der Menschen schließe. 28 Lyu leitet aus seiner Interpretation »einen Anhaltspunkt für die Mission der dritten Welt« ab: »Von großer Relevanz ist jedoch der Einsatz mit dem Sündersein der Zuhörer, weil die Botschaft vor allem die Sündenüberwindung fokussiert.« 29 Für den christlichen Bereich konstatiert Lyu einerseits, dass »die Sündenproblematik heute ihre Relevanz verloren [habe]«, andererseits, dass das Thema nach wie vor dort aktuell sei, »wo Christen den Begriff ›Sünder‹ auf andere Mitchristen anwenden, die der ethischen Richtschnur nicht entgegenkommen« 30 . 3.3 Johannes Im Hinblick auf die johanneischen Schriften ist in der neutestamentlichen Forschung umstritten, welches Gewicht 31 und welchen Grad an Geschlossenheit die Rede von »Sünde« aufweist sowie die Nähe 32 oder Ferne 33 zur paulinischen Sündenkonzeption. Ich beschränke mich hier auf einige Aspekte, die das Gesamtbild um weitere Facetten erweitern. Sünde als Unglaube Hasitschka 34 sieht in Joh 1,29 einen Schlüsseltext zum Verständnis des johanneischen Sündenverständnisses. Der Vers zu Beginn des Evangeliums zeige, dass Johannes die Rede von der Sünde soteriologisch und christologisch verortet: Vor der Rede von der Sünde in der Welt »geht es in 1,29 vorweg um die Befreiung von Sünde. Der ganze Nachdruck liegt darauf zu zeigen, durch wen Sünde hinweggenommen wird« 35 . Hasitschka bestimmt das Verhältnis zwischen der Sünde als »der Grundverfehlung des Kosmos gegenüber Gott« und den vielen Einzelverfehlungen so, dass letztere in ersterer wurzeln. 36 Daraus folgt, dass Jesus Christus, indem er die Sünde als Grundverfehlung aufhebt, auch die Folgen dieser Grundverfehlung hinwegnimmt. Wenn es heißt, dass Jesus Christus als das Lamm Gottes die Sünde der Welt trägt/ hinwegnimmt, dann bezieht sich das also auf »das Geschenk einer neuen, heilen Beziehung zu Gott und die Befreiung von allen Folgen der Sünde« 37 . Diesen Zusammenhang reflektiert Johannes nicht ethisch, sondern im Blick auf den Glauben. »Die Voraussetzung von seiten des Menschen, um dieses Geschenk zu erlangen, ist […] der Glaube an Jesus.« 38 Deshalb kann Johannes Unglaube als Sünde bezeichnen (Joh 8,24; 16,9). »Die Juden« und »die Welt« verharren im Unglauben und erweisen sich so als Kinder des Teufels. Sie sind unfähig, Jesus zu erkennen und ihm zu glauben, und wollen Jesus töten. Verantwortung für das Tun der Sünde und die Versklavung durch die Macht der Sünde (Joh 8,34) gehen ineinander. 39 Die Blindenheilung (Joh 9), die neben einer physischen auch eine tiefere Bedeutung im Sinne von Erkenntnisgewinn habe, zeige, dass Jesus »dem Menschen heilend und helfend entgegenkommen muss, damit die Erkenntnis seiner Person und der rettende Glaube an ihn möglich werden« 40 . Der Mensch könne sich dann frei für oder gegen Jesus Christus entscheiden. Befreiung von Sünde durch das Wort Alois Stimpfle fragt danach, wie der Mensch nach johanneischem Verständnis von der Sünde befreit werde. An dieser Stelle sieht er die Eigenart der johanneischen Konzeption. Anders als Hasitschka sieht Stimpfle nicht in Joh 1,29, sondern in 15,3a den Schlüsseltext: »Ihr seid schon rein durch das Wort.« Johannes verstehe Befreiung von der Sünde als Reinigung. Hierin liege das spezifisch johanneische Profil. Denn: »Weder das Wasser der Taufe noch das Blut des Kreuzes sind reinigungsrelevante Größen.« 41 Die Beseitigung der Sünde vollziehe sich vielmehr für die Erwählten »durch das Offenbarerwort, näherhin durch seine im Menschen Erkennen bewirkende Potenz« 42 . Dies ist insofern eine »sympathische« Auslegung, als sie ohne das Blut am Kreuz »auskommt«. Die Frage, inwiefern das Kreuz im Johannesevangelium soteriologische Bedeutung habe, ist allerdings umstritten. 43 Sünde als offenbarungstheologischer Begriff Rainer Metzner 44 fasst das johanneische Sündenverständnis dementsprechend weiter. »Sünde ist die eine, im Widerspruch gegen Gottes Offenbarung sich manifestierende Verweigerung der Welt gegenüber dem Gesandten Gottes.« 45 In der Offenbarung durch den Sohn Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 9 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 9 Hanna Roose »Sünde« in Gesellschaft, Kirche und neutestamentlicher Wissenschaft geht es sowohl um das, was Jesus Christus sagt, als auch um das, was er tut und was ihm widerfährt. Die Sünde »wird am Kreuz offenbar und mit ihrer Offenbarung zugleich überwunden (1,29).« Diesen Gedanken entfaltet Johannes dramatisch und mit hintergründiger Ironie. Die Rollen vertauschen sich: »Die Ankläger [›die Juden‹, die Welt] werden zu Verurteilten, und der Angeklagte [Jesus Christus] wird zum Richter (9,39-41; 15,22-24; 16,8-11; 19,11). In diesem Rechtsstreit wird dem Sohn (von Gott) das Recht, der ungläubigen und sündigen Welt aber das Unrecht zugesprochen.« 46 Die »Sünde zum Tode« (1Joh 5,16-17) Der 1. Johannesbrief, bei dem die Forschung sich nicht einig ist, ob er vor oder nach dem Johannesevangelium anzusetzen ist, unterscheidet zwischen vergebbaren und nicht vergebbaren Sünden. Bei vergebbaren Sünden darf ein Gemeindemitglied für den Sünder um Vergebung bitten, bei nicht vergebbaren Sünden ist dies nicht möglich. Daher führt die nicht vergebbare Sünde »zum Tode«, sie führt dazu, dass Getaufte wieder aus dem Heils- und Lebensbereich Gottes herausfallen. Diese Differenzierung-- die weder im 1. Johannesbrief noch im Johannesevangelium genauer präzisiert wird-- steht vor dem Hintergrund widersprüchlicher Aussagen. 1Joh 1,8 stellt fest: »Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, betrügen wir uns selbst und die Wahrheit ist nicht in uns.« Im Gegensatz dazu heißt es in 1Joh 3,9: »Jeder, der aus Gott geboren ist, tut keine Sünde; denn sein Same bleibt in ihm. Er kann nicht sündigen, weil er von Gott stammt.« An die Stelle widersprüchlicher Aussagen tritt in 1Joh 5,16-17 eine graduelle Differenzierung zwischen vergebbaren und nicht vergebbaren Sünden. Diese Differenzierung steht in Spannung zu dem von kirchlicher Seite formulierten Anliegen, Sünde grundsätzlich im Horizont (möglicher) Vergebung zu thematisieren. 4. Schluss Der Blick auf den gesellschaftlichen, den kirchlichen und den neutestamentlich-exegetischen Sprachgebrauch von »Sünde« hat eine steigende Anzahl von Bedeutungsfacetten deutlich gemacht. Der gesellschaftliche Sprachgebrauch arbeitet mit der kritischen Distanz zwischen außerkirchlichen und innerkirchlichen Verwendungsweisen. Der Kirche wird dabei- - mehr oder weniger ernsthaft-- ein Sprachgebrauch unterstellt, der Sünde als ein moralisch verwerfliches Tun »der anderen« versteht. Von diesem Verständnis distanziert sich die Gesellschaft durch Ironisierung und Trivialisierung. Damit entfernt sie sich deutlich vom biblischen Sprachgebrauch, der Sünde an keiner Stelle als etwas Triviales versteht. Insbesondere die landeskirchlichen Stimmen reflektieren und problematisieren den eigenen Gebrauch von »Sünde« vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen Distanzierung. Dabei kommen insbesondere Bedeutungsfacetten ins Spiel, die auf die Paulusbriefe zurückgehen. Die neutestamentliche Wissenschaft konzentriert sich bei der Diskussion um »Sünde« ebenfalls schwerpunktmäßig auf die Paulusbriefe. Sie arbeitet-- auch mit Blick auf weitere neutestamentliche Schriften-- weitere Bedeutungsfacetten von »Sünde« heraus. Von diesen Facetten erscheinen insbesondere diejenigen für heutige kirchliche Arbeit als problematisch, die »Sünde« mit dem (endgültigen) Entzug des Heils in Verbindung bringen (1Kor 5,12-13; 6,18; 1Joh 5,16-17)-- dies umso mehr, als sie den gesellschaftlichen Eindruck verstärken könnten, die Kirche würde unter Berufung auf die Bibel »andere« als Sünder brandmarken und ausschließen. Andere Facetten spielen in der kirchlichen Arbeit durchaus eine wesentliche Rolle-- etwa die »Sünde« als Macht und als relationaler Begriff--, weil sie das enge, moralische Verständnis von »Sünde« im Sinne einer individuellen Tatsünde erweitern und aufbrechen. Anmerkungen 1 http: / / www.youtube.com/ watch? v=3tAfSTbvQfM&feat ure=player_detailpage. 2 H. Roose, »Sünde ist…«-- Biblische Texte bei Jugendlichen ins Spiel bringen, in: V.-J. Dieterich (Hg.), Theologisieren mit Jugendlichen. Ein Programm für Schule und Kirche, Stuttgart 2012, 135-149: 143. 3 U. Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2007, 261-268. 4 A. a. O., 684-686. 5 A. a. O., 465-469. 6 A. a. O., 466. 7 »Manch eine gerät unverschuldet in Not und verliert darin den Glauben, manch einer stellt plötzlich im alltäglichen Einerlei fest, wie verloren er ist. Die bloße Erfahrung des Gefundenwerdens, ausgelöst durch ein Wort, eine menschliche Begegnung, eine neue Erfahrung, kann dann genug sein, um eine radikale Veränderung der Einstellung zu Gott, den Mitmenschen und der Welt hervorzubringen.« A. Merz, Last und Freude des Kehrens (Lk 15,8- »Verantwortung für das Tun der Sünde und die Versklavung durch die Macht der Sünde (Joh 8,34) gehen ineinander.« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 10 - 2. Korrektur 10 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Neues Testament aktuell 10), in: Ruben Zimmermann (Hg.): Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 610-617, hier: 616. 8 H. Roose, Umkehr und Ausgleich bei Lukas: Die Gleichnisse vom verlorenen Sohn (Lk 15.11-32) und vom armen Mann und reichen Lazarus (Lk 16) als Schwestergeschichten, NTS 56 (2010), 1-21. 9 R. Kampling, Art. »Sünde«, Handbuch theologischer Grundbegriffe zum Alten und Neuen Testament, hg. v. A. Berlejung und C. Frevel, Darmstadt 2006, 381-384; hier: 382. 10 G. Röhser, Metaphorik und Personifikation der Sünde. Antike Sündenvorstellungen und paulinische Hamartia (WUNT 2/ 25) Tübingen 1987. 11 A. a. O., 157. 12 Dieses Anliegen erinnert an die Aussage einer Pastorin, die Macht der Sünde zu »entzaubern«. 13 G. Röhser, Vom Gewicht der Sünde und des Redens davon. Biblische Aspekte für eine heutige Vermittlung, Ökumenische Rundschau 2005, 427-445; hier: 431 f. 14 H. Umbach: In Christus getauft-- von der Sünde befreit. Die Gemeinde als sündenfreier Raum bei Paulus (FR- LANT 181) Göttingen 1999. 15 A. a. O., 314. 16 Ebd. 17 So der Untertitel der Untersuchung von Umbach. 18 Umbach, In Christus getauft, 315. 19 Röhser, Gewicht der Sünde, 442. 20 Ebd. 21 Hagenow, Heilige Gemeinde-- Sündige Christen. Zum Umgang mit postkonversionaler Sünde bei Paulus und in weiteren Texten des Urchristentums (TANZ 54) Tübingen 2011. 22 A. a. O., Heilige Gemeinde, 316. 23 A. a. O., Heilige Gemeinde, 34. 24 E. G. Lyu, Sünde und Rechtfertigung bei Paulus. Eine exegetische Untersuchung zum paulinischen Sündenverständnis aus soteriologischer Sicht (WUNT 2/ 318) Tübingen 2011. 25 A. a. O., 3. 26 A. a. O., 23. 27 A. a. O., 356. 28 »Die Schlussfolgerung [! ], dass alle unter der Sünde sind, ist so fundiert wie das Dogma, dass alle der Rettung durch den Glauben an Christus bedürfen.« (E.P. Sanders, Paulus. Eine Einführung, Stuttgart 1995, 130). 29 Lyu, Sünde und Rechtfertigung, 356. 30 Ebd. 31 E. Haenchen urteilt: »Es ist längst aufgefallen, dass der Begriff der Sünde im vierten Evangelium zwar 16mal vorkommt, aber dennoch keine entscheidende Rolle spielt.«, in: Das Johannesevangelium. Ein Kommentar, aus den nachgelassenen Manuskripten hg. v. U. Busse, Tübingen 1980, 493-494. R. Metzner hält dagegen: »Johannes hat ein ausgeprägtes Sündenverständnis entwickelt.«, in: Das Verständnis der Sünde im Johannesevangelium (WUNT 122) Tübingen 2000, 351. 32 H. Hübner, Biblische Theologie des Neuen Testaments. Band 3: Hebräerbrief, Evangelien und Offenbarung. Epilegomena, Göttingen 1995, 181. 33 A. Stimpfle, »Ihr seid schon rein durch das Wort« (Joh 15,3a). Hermeneutische und methodische Überlegungen zur Frage nach »Sünde« und »Vergebung« im Johannesevangelium, in: H. Frankemölle (Hg.), Sünde und Erlösung im Neuen Testament (QD 161), Freiburg u. a. 1996, 108-122. 34 M. Hasitschka, Befreiung von Sünde nach dem Johannesevangelium (IthS 27), Innsbruck/ Wien 1989. 35 A. a. O., 164. 36 A. a. O., 166. 37 Ebd. 38 A. a. O., 170. 39 A. a. O., 279. 40 A. a. O., 341. 41 Stimpfle, Ihr seid schon rein, 121. 42 A. a. O., 122. 43 Vgl. einerseits Th. Knöppler, Die theologia crucis des Johannesevangeliums. Das Verständnis des Todes Jesu im Rahmen der johanneischen Inkarnations- und Erhöhungschristologie (WMANT 69), Neukirchen-Vluyn 1994; andererseits U.B. Müller, Zur Eigentümlichkeit des Johannesevangeliums. Das Problem des Todes Jesu, ZNW 88, 1997, 24-55. 44 R. Metzner, Das Verständnis der Sünde im Johannesevangelium (WUNT 122), Tübingen 2000. 45 A. a. O., 354. 46 A. a. O., 353. Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 11 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 11 1. Einleitung Die menschliche Intelligenz sucht nach Rationalität. In das Chaos der Existenz muss Ordnung gebracht werden, damit die Erfahrung der alltäglichen Wirklichkeit eine verständliche Form annimmt und einen Sinn bekommen kann. So steht die Fantasie der Fiktion vor der Aufgabe, für die Zufälle von Krankheit und den offensichtlichen Mangel an Gerechtigkeit, mit welcher Gesundheit, Unglück und Leiden verteilt werden, berechenbare Erklärungen zu erfinden. Erfreulicherweise braucht keiner zu wissen oder zu verstehen, um zu erklären. Nichts muss bewiesen werden, nur geglaubt und gesellschaftlich angenommen. Mit vielfältigen Variationen scheint sich die logische Verbindung zwischen Krankheit und Schuld-- oder, religiös konnotiert: Sünde-- als evident darzustellen. Zwischen beiden herrscht entweder eine unmittelbare Kontinuität, weil Fehlverhalten als Ursache von Pathologien gedeutet wird, oder eine Solidarität, weil man letztere als symptomatische Erscheinungsbilder von moralischer Schwachheit oder Fehlverhalten sieht, oder die ausgleichende Herstellung einer übergeordneten Gerechtigkeit, weil Götter oder höhere Mächte beauftragt sind, Sünder und Böse zu strafen. Zur Diskussion um den Zusammenhang von Krankheit und Schuld oder Sünde liefert das Neue Testament einige originelle Beiträge. 1 Der erste Beitrag besteht in der ausdrücklichen, theologisch und anthropologisch begründeten Ablehnung jedes Ursache-Wirkung-Zusammenhanges zwischen der Sünde einer einzelnen Person und der Krankheit oder der Behinderung, unter welcher sie leidet (Joh 9,1-12). Der zweite Beitrag verweist auf eine nicht pathologische Form der Krankheit, die Søren Kierkegaard die »Krankheit zum Tode« oder die »Verzweiflung« genannt hat, die das Markusevangelium als Flucht in die Besessenheit (Mk 5,1-20; 7,24-30; 9,14-29) und Paulus als Existenz unter der Macht der Sünde (Röm 6,1-23; 7,7-25) beschrieben und analysiert haben. Es handelt sich nicht um eine Pathologie, die medizinisch therapiert werden könnte, sondern einen Irrweg auf der geistigen Suche nach einer personalen Identität, der sich als unglückliche, aber auch universale Möglichkeit anbietet. Der dritte Beitrag lenkt die Aufmerksamkeit auf Systeme, zum Beispiel die Einbindung in »Häuser« oder Gemeinschaften, die einzelne Menschen krank machen. Der Patient erscheint als Symptomträger einer kranken Gesellschaft, in welcher die zwischen-personellen Beziehungen durch Anerkennung und Gegenseitigkeit wiederhergestellt werden müssen (1Kor 11,17-34). Der vierte Beitrag baut eine Solidarität zwischen Sündenvergebung und Heilung auf: Heilung geschieht im Zusammenhang mit Vergebung (Mk 2,1- 12; Jak 5,13-16). Der Sinn dieser Verbindung muss reflektiert werden. Klar ist aber, dass die Zusammengehörigkeit von Vergebung und Heilung kein Verhältnis von Schuld oder Sünde und Krankheit-- in Mk 2,1-12 und in den synoptischen Parallelen: Lähmung-- voraussetzt: Die Aussage, nach welcher die Sündenvergebung dem Gelähmten die Möglichkeit geben soll, sein Bett zu nehmen und zu gehen, schließt in keiner Weise ein, dass die Lähmung irgendwie durch eine Schuld oder eine Sünde ausgelöst wurde. Und die Wirksamkeit einer therapeutischen Handlung impliziert selbstverständlich auch nicht, dass der Therapeut oder die Behandlung für die Krankheit mit-verantwortlich waren. 2. Die Aporie des Ursache-Wirkung- Zusammenhangs zwischen Sünde und Krankheit Ausdrücklich wird die Frage des Ursache-Wirkung- Zusammenhangs zwischen Sünde und Krankheit im johanneischen Zeichen des Blindgeborenen gestellt (Joh 9,1-41). Die Jünger, die von Jesus wissen möchten, ob der Blindgeborene selbst oder seine Eltern gesündigt haben, setzen diese kausale Verbindung als doppelt evident voraus. Das bloße Faktum der Behinderung ließe sich zunächst automatisch auf die Anwesenheit von Sünde zurückführen: Wenn es einen Blinden gibt, dann hat notwendigerweise jemand gesündigt. Fraglich bleibt folglich nicht ob, sondern nur noch wer gesündigt hat. Dieser ersten Evidenz liegt eine zweite zugrunde: Das Leiden, das auch als Bestandteil der Endlichkeit des Lebens und als gegebene Dimension der Zerbrechlichkeit der Existenz verstanden werden könnte, erhält eine eindeutige Bedeutung in einem berechenbaren System von Belohnung und Strafe. Die Krankheit bekommt einen klaren Sinn, und die erste sinnvolle Reaktion gegenüber François Vouga Krankheit und Sünde Zum Thema Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 12 - 2. Korrektur 12 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema der Behinderung ist die Suche nach der Schuld, die sie notwendigerweise und ausreichend erklärt. Es mag dann naheliegend sein, dass sich die Schuld unter denen findet, die an der Geburt des Blindgeborenen unmittelbar beteiligt waren. Indem sie die Frage nach der kausalen Verbindung zwischen Krankheit und Sünde anhand der Geschichte eines Blindgeborenen stellt, liefert aber die johanneische Komposition die Falsifizierung der Theorie eines Ursache-Wirkung-Zusammenhangs zusammen mit ihrer impliziten, nicht-gesagten Formulierung-- implizit und nicht gesagt, weil die Frage der Jünger sie logisch voraussetzt, ohne sie ausdrücklich zu formulieren: Die von den Jüngern formulierte Alternative führt nämlich die explikative Theorie ad absurdum, indem sie die Form einer illusorischen Alternative 2 annimmt, denn weder eine Sünde des Mannes noch eine Sünde der Eltern können die Blindheit befriedigend erklären: Entweder haben die Eltern des Blindgeborenen gesündigt, so dass die Blindheit die falsche Person betrifft, oder er selbst hat sündigen müssen. Er selbst kann aber nicht gesündigt haben, bevor er geboren worden ist. Die theologische Erklärung der Pharisäer, nach welcher er »in den Sünden geboren ist« (Joh 9,34), führt also unvermeidlich in eine logische Aporie. Mit der Frage der Jünger-- die sich als ihre Problematisierung vorstellt- - bereitet also der johanneische Dialog die eindeutige Antwort Jesu vor. Diese kurze Offenbarungsrede besteht aus zwei Thesen: Es gibt einfach keinen Zusammenhang zwischen der Behinderung des Blindgeborenen und einer vermeintlichen Sünde dieses Menschen oder seiner Eltern (Joh 9,3a), und die Haltung, die die Behinderung herausfordert, soll sie nicht erklären, sondern vielmehr die Situation des Behinderten verändern (Joh 9,3b, in Joh 9,4-5 kommentiert). Johannes 9,1-12 ( P 66 )-: (1) »Und als er [sc. Jesus] vorüberging, sah er einen Menschen, der von Geburt an blind war, (2) und seine Jünger fragten ihn sagend ›Rabbi: Wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, so dass er blind geworden ist? ‹ (3) Jesus antwortete: ›Weder dieser hat gesündigt noch seine Eltern. Aber auf dass die Werke Gottes an ihm geoffenbart werden! (4) Wir müssen wirken die Werke dessen, der uns gesandt hat, solange es Tag ist; die Nacht kommt, wenn niemand wirken kann; (5) solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.‹« Die Zeichensetzung einer der ältesten Handschriften des Johannesevangeliums, P 66 , überrascht: Um zu vermeiden, dass die Leser die zweite These an die erste unmittelbar anschließen, hat der Kopist einen deutlichen Punkt zwischen den beiden Aussagen gesetzt 3 : - Erste Aussage: »Weder dieser hat gesündigt noch seine Eltern«. - Zweite Aussage: »Auf dass die Werke Gottes geoffenbart werden! « Werden beide Aussagen miteinander verbunden, wird vorausgesetzt, dass die Konstruktion elliptisch ist und Prof. Dr. theol. Dr. theol. h. c. François Vouga, Jahrgang 1948, ist Professor an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/ Bethel. 1973-1974 war er Assistent von Christophe Senft in Lausanne; 1975-1982 Gemeindepastor in Avully und Chancy (Genf ); 1982-1985 Maître assistant in Montpellier; 1985 Thèse de doctorat und venia legendi im Fach Neues Testament in Genf; 1984-1985 Gastprofessor in Neuchâtel; 1985-1986 Professor in Montpellier, 1986-2009 an der Kirchlichen Hochschule Bethel, seit 2008 in Wuppertal. Seit 1988 regelmäßige Gastprofessuren an der Facoltà Valdese di Teologia in Rom; 1998 Ehrendoktor der Universität Neuchâtel; 1999 und 2001 Gastprofessur, 2008-2010 Honorarprofessur an der Faculté de théologie et de sciences religieuses de Université Laval, Québec. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der frühchristlichen Literatur, Einheit und Vielfalt der neutestamentlichen Theologie, Paulus und die paulinische Theologie, die Petrusbriefe, Theologie und Ästhetik (Kunst und Musik), Theologie und Naturwissenschaften. Zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt: Politique du Nouveau Testament, Genf 2008; Pâques ou rien. La Résurrection au coeur du Nouveau Testament, Genf 2010; und: La religion crucifiée. Essai sur la mort de Jésus, Genf 2013. Für weitere Informationen siehe: www.kiho.thzw.de . François Vouga Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 13 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 13 François Vouga Krankheit und Sünde dass die beiden Sätze als die Nebensätze eines impliziten Hauptsatzes zu lesen sind: - Der Blindgeborene ist blind - nicht, weil er oder seine Eltern gesündigt haben, - sondern damit die Werke Gottes an ihm offenbar werden. »Damit« führt eine Umstandsbestimmung des Zieles an, so dass die Antwort Jesu auf die Frage der Jünger den Ursache-Wirkung-Zusammenhang durch den Gedanken eines Zieles ersetzt: Der Mensch ist nicht krank, weil er oder seine Eltern gesündigt haben, sondern damit er Jesus die Möglichkeit bietet, die Werke des Vaters zu offenbaren. 4 Die kausale Erklärung der Behinderung durch die Sünde wird zugunsten der religiösen Wahrheit, auf welche die Geschichte seiner Krankheit und seiner Heilung hinweisen wird, aufgegeben. Er leidet nicht wegen einer vergangenen Schuld, sondern um einer neuen Zukunft willen, die ihm angeboten wird. An die Stelle einer moralischen Erklärung tritt in dieser Lesart eine Sinngebung der Krankheit, die ihr ebenfalls fremd bleibt und die den kranken Menschen ebenso instrumentalisiert. Die Behinderung findet darin ihren Grund, dass sie eine allgemeine Theorie beweisen soll.Die Fassung des Textes, die P 66 überliefert, unterscheidet sich aber deutlich von dieser Auslegung. Mit dem Punkt, den er zwischen den beiden Aussagen setzt, bringt der Kopist drei grundlegende Veränderungen. Erstens: Er hebt die Bedeutung der ersten Aussage hervor, indem er sie als einen unabhängigen Satz formuliert. Die Erklärung, dass weder der Blindgeborene noch seine Eltern gesündigt haben, bereitet keine andere Theorie vor, sondern sie wird als erste selbständige und an und für sich gültige These formuliert. Zweitens: Er korrigiert die Bedeutung des »Damit«, das einen Finalsatz einleitete, in eine Konjunktion des Willens: »Auf dass« mit der Bedeutung: »Ich befehle dass... «. 5 Drittens: Er verändert dadurch die Bedeutung der zweiten Aussage, die ebenfalls als ein unabhängiger Satz gelesen werden muss und den Wert eines Imperativs annimmt: »Auf dass wir an ihm die Werke Gottes offenbaren! « Daraus ergibt sich ein klarer Sinn-- ein dezidierter Widerstand gegen die Versuchung, die Krankheit innerhalb einer religiösen oder moralischen Weltanschauung verobjektivierend zu erklären-- und eine systemische Umrahmung-- im Sinne der paradoxen Pragmatik der Kommunikation 6 -- sowohl des Verständnisses der Krankheit als auch des Verhältnisses zum kranken Menschen: - Es gibt keinen relevanten Grund, von Schuld oder Sünde im Zusammenhang von Krankheit oder Behinderung zu reden, da die Behinderung oder die Krankheit keine Erklärung in einer Sünde des Betroffenen oder seiner Eltern findet (Joh 9,3a). - Es geht vielmehr darum, weil der Mensch mit seinem Leiden vorhanden ist, etwas für ihn zu unternehmen (Joh 9,3b). Sobald die Konstruktion von Ursache-Wirkung-Zusammenhängen oder finale Begründungen aufgegeben sind, wird der Blindgeborene von jeder Funktion in allgemeinen Erklärungssystemen befreit, um als Person in einer Ich-Du-Beziehung präsent zu sein. Behindert oder krank ist er weder aus schlechten vergangenen noch aus guten zukünftigen Gründen, sondern er ist da, im gegenwärtigen Augenblick, als eine Person mit ihren Erwartungen und ihren Verheißungen. 2. Die Sünde als Krankheit zum Tode Die Krankheit hat mit der Sünde nichts zu tun. Zerbrechlichkeit und Fehlbarkeit gehören nämlich zum normalen Alltag, zu der Vollkommenheit der von Gott geschaffenen Endlichkeit der Existenz, auch wenn Jesus viele Kranke pflegt. Auch für Paulus bietet die Krankheit, die er »Schwachheit« nennt, eher eine Chance als ein Hindernis für die apostolische Verkündigung und für das Verständnis der befreienden Kraft des Evangeliums (2Kor 12,1-10; Gal 4,12-20). Der Apostel wird nicht durch die Gesundheit, sondern umgekehrt in seiner Schwachheit durch die Gnade seines Herrn qualifiziert. Paradox berichtet er, den Herrn mehrfach gebeten zu haben, ihn von seiner Schwachheit zu heilen (2Kor 12,8). Auffällig erscheint aber, dass Paulus die Erhörung nicht in der Erlösung von der Schwachheit-- vom »Dorn im Fleisch«- - sieht, sondern vielmehr in der Offenbarung und entsprechend in der Entdeckung der Möglichkeiten, die diese Schwachheit gerade bietet (2Kor 12,9-10 7 ): (8) »Um dessentwillen habe ich dreimal den Herrn angerufen, dass er von mir ablassen möge. »Sobald die Konstruktion von Ursache- Wirkung-Zusammenhängen oder finale Begründungen aufgegeben sind, wird der Blindgeborene von jeder Funktion in allgemeinen Erklärungssystemen befreit, um als Person in einer Ich-Du- Beziehung präsent zu sein.« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 14 - 2. Korrektur 14 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema (9) Und er hat zu mir gesagt: ›Meine Gnade genügt dir, denn meine Kraft kommt in Schwachheit zum Ziel.‹ Sehr gerne will ich mich nun vielmehr der Schwachheiten rühmen, damit die Kraft Christi bei mir wohne. (10) Deshalb kann ich gut umgehen mit Schwachheiten, Misshandlungen, Nöten, Verfolgungen, Ängsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark.« Die universale Abkoppelung jeder logischen Kontinuität und die ausdrückliche Aufhebung jedes Ursache-Wirkung-Zusammenhangs zwischen Schuld oder Sünde einerseits und Behinderung, Schwachheit oder Krankheit andererseits gehen einher mit einem wertfreien Verständnis von Krankheit und Behinderung. Der christliche Glaube als Vertrauen in die bedingungslose Anerkennung Gottes setzt ein befreites Verhältnis zur Gesundheit voraus. Auf ein ganz anderes Problem verweist das Markusevangelium durch seine Darstellung der Figuren der Besessenen (Mk 1,23-28; 5,1-20; 7,24-30; 9,14-29). Die Erzählungen des Markusevangeliums unterscheiden einerseits ganz genau Heilungen von Dämonenaustreibungen, und sie verwandeln andererseits die Figuren der Besessenheit in eine anthropologische Analyse der Verzweiflung. Erstens drehen die markinischen Erzählungen die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Dämonen und den Besessenen um: Nicht der unreine Geist ergreift die Macht in einem Menschen, sondern ein Mensch findet umgekehrt seine Nische in einem Dämon: »Und sofort befand sich in der Synagoge ein Mensch in einem unreinen Geist« (Mk 1,23), »sofort kam ihm [sc. Jesus] entgegen aus den Gräbern ein Mensch in einem unreinen Geist« (Mk 5,2). Zweitens führt Jesus den Dialog nicht mit dem Dämon, sondern entweder mit den Eltern, die ihn wegen ihrer Kinder ansprechen (Mk 7,24-30; 9,14-29), oder mit dem Besessenen selbst (Mk 5,9): (9) »Und er [sc. Jesus] fragte ihn [Maskulinum]: ›Was ist dein Name? ‹ Und er sagt ihm: ›Legion ist mein Name, weil wir viele [Maskulinum Plural] sind.‹« Die Dialoge der markinischen Dämonenaustreibungen erzählen keine Machtkämpfe zwischen einem Exorzisten und bösen Geistern, wie es die Gattung des Exorzismus verlangt, sondern therapeutische Gespräche mit Menschen, die ein Abhängigkeitsverhältnis als Ersatz für ihre eigene Identität gefunden haben oder deren Kinder ihr Unvertrauen bösen Geistern ausgeliefert hat. Drittens lassen sich die jeweiligen Beschreibungen der Besessenheit mit keinen identifizierbaren Krankheitsbildern deuten. Bestimmte Momente sind zwar wiedererkennbar und erinnern an Symptome bekannter Leiden. Die Auswirkungen des stummen und tauben Geistes nehmen z. B. gewisse Züge epileptischer Anfälle an (Mk 9,14-29). Der Ablauf der Krise wählt aber andere Wege, so dass evident wird, dass der Erzähler vertraute Krankheitsbilder übernommen hat, um einen Konflikt anderer Ordnung darzustellen. Viertens fällt in diesem Zusammenhang die plötzliche Erscheinung der Besessenheit (»sofort«, Mk 1,23; 5,2! ) in der Gegenwart Jesu auf, als ob seine Präsenz die Wirklichkeit der Abhängigkeitsverhältnisse offenbaren würde, und die enge Verbindung, die das Markusevangelium zwischen der Befreiung von den Dämonen und dem Gebet als Bekenntnis des Vertrauens herstellt (Mk 7,29; 9,24.28-29): (7,29): »Und er sagte zu ihr: ›Durch dieses Wort, gehe hin, hinausgegangen ist aus deiner Tochter der Dämon.‹« (9,28) »Und als er zu Hause hereinkam, fragten ihn privat seine Jünger: ›Warum konnten wir ihn nicht austreiben? ‹ (29) Er sagte zu ihnen: ›Diese Art kann durch nichts ausfahren, es sei denn durch Gebet.‹« Worin das Gebet besteht, erklärt das Bekenntnis des Vaters, denn er ist der einzige, der in der Erzählung »betet« und daher der einzige, auf den Jesus sich beziehen kann (Mk 9,24): (24) »Sofort schreiend, der Vater des Kindes sagte: ›Ich vertraue, hilf meinem Unvertrauen! ‹« Fünftens besteht die Befreiung nicht in der Beseitigung einer Krankheit, einer Behinderung oder eines pathologischen Zustands, sondern in der Entstehung eines selbständigen Subjektes, das sinnvoll reden und handeln kann, das Integration in sein Haus findet und seines Selbst bewusst wird (Mk 5,15-20). »Der christliche Glaube als Vertrauen in die bedingungslose Anerkennung Gottes setzt ein befreites Verhältnis zur Gesundheit voraus.« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 15 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 15 François Vouga Krankheit und Sünde Die Dämonenaustreibungen des Markusevangeliums inszenieren keine Heilungen von psycho-somatischen, psychischen oder neurologischen Krankheiten, sondern die Befreiung von einer Krankheit des Selbst, die Kierkegaard die »Verzweiflung« oder die »Krankheit zum Tode« nennt und die er mit der Sünde selbst identifiziert, sobald sie die Dimension der Transzendenz Gottes einbezieht: 8 I. Die Krankheit zum Tode ist Verzweiflung. Verzweiflung ist eine Krankheit im Geist, im Selbst, und kann somit ein Dreifaches sein: verzweifelt sich nicht bewusst sein, ein Selbst zu haben (uneigentliche Verzweiflung); verzweifelt nicht man selbst sein wollen; verzweifelt man selbst sein wollen. II. Verzweiflung ist die Sünde. Die Sünde ist: vor Gott oder mit dem Gedanken an Gott verzweifelt nicht man selbst sein wollen oder verzweifelt man selbst sein wollen. Die Dämonenaustreibungen des Markusevangeliums konstruieren keine kausalen Zusammenhänge zwischen Krankheit und Sünde. Sie erzählen vielmehr die im Vertrauen möglich gewordene Befreiungsgeschichte von der selbstgewählten und zur Abhängigkeit gewordenen Gefangenschaft der Seele unter einer universalen Krankheit, die Matthäus als »Heuchelei« versteht und die Paulusbriefe als »Sünde« personifizieren (Röm 7,7-23). Die markinische Besessenheit schildert keine Konsequenz der Sünde, sie erzählt die Sünde selbst. Die Exorzismen bilden insofern die narrative Rückseite der zentralen Einladung des Evangeliums: »Habt vertrauen in Gott« (Mk 11,22). 9 3. Die Krankheit des Einzelnen als Symptom systemischer Störung Die enge Verbindung zwischen dem Vertrauen der syrophönizischen Mutter und der Subjektwerdung ihrer Tochter (Mk 7,24-30) und zwischen dem Vertrauen des Vaters und der Befreiung seines Sohnes (Mk 9,14-29) setzt ein systemisches Denken voraus, nach welchem die Person, die Symptome trägt, mit dem Sitz der Störung nicht unbedingt identisch ist. Familien, »Häuser« oder Gesellschaften bilden Organismen, und jedes beliebige anfällige Glied kann leiden, weil das gesamte System krank ist. Krankheit kann dann ihre Ursache in einer Dysfunktion haben, aber der Kranke ist nicht mit den Schuldigen identisch. Dieser Gedanke fällt in der paulinischen Diskussion über den pathologischen Charakter, den die Feier des Herrenmahls in Korinth angenommen hat (1Kor 11,17-34), auf. Aus dem Zitat der Einsetzungsworte folgen zum einen praktische Konsequenzen und zum anderen Betrachtungen über die pathogene Auswirkung des Gemeindelebens auf die einzelnen Mitglieder der lokalen Kirche (1Kor 11,27-32): »Folglich: Wer auf unwürdige Weise das Brot isst oder den Kelch des Herrn trinkt, wird schuldig sein am Leib und am Blut des Herrn. (28) Der Mensch prüfe sich selbst; und so esse er aus dem Brot und trinke er aus dem Kelch. (29) Denn der Essende und Trinkende isst und trinkt sich Gericht, wenn er den Leib nicht in kritischer Distanz richtig erfasst [unterscheidet]. (30) Darum sind bei euch viele schwach und krank, und etliche entschlafen. (31) Wenn wir aber mit uns selbst ins Gericht gingen, würden wir nicht gerichtet; (32) vom Herrn gerichtet, werden wir aber gezüchtigt, damit wir nicht zusammen mit der Welt verurteilt werden.« Im Gegensatz zum johanneischen Zeichen (Joh 9,1-12) konstruiert die paulinische Seelsorge einen direkten Ursache-Wirkung-Zusammenhang zwischen einem Fehlverhalten der gesamten Kirche und der »Schwachheit«, der »Krankheit« und sogar dem Tod ziemlich »vieler« einzelner Mitglieder (1Kor 11,30): »Darum«, »aus diesem Grund« baut ausdrücklich eine logische Verbindung auf. Beachtet werden muss dabei, dass diese Verbindung die Gemeinde in ihrer Gesamtheit im Blick hat und dass sie in keiner Weise theologisch begründet wird. Erstens wird kein Bezug auf das Verhalten einzelner Mitglieder genommen. Die Argumentation lautet nicht: Etliche bei euch sind schwach, krank oder bereits gestorben, weil sie auf unwürdige Art und Weise das Brot gegessen oder den Kelch des Herrn getrunken »Die Dämonenaustreibungen des Markusevangeliums inszenieren keine Heilungen von psycho-somatischen, psychischen oder neurologischen Krankheiten, sondern die Befreiung von einer Krankheit des Selbst« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 16 - 2. Korrektur 16 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema haben. Paulus denkt nicht an einen direkten Zusammenhang zwischen dem Verhalten des Einzelnen und seinem eigenen Gesundheitszustand. Die Ursache liegt nicht beim Einzelnen, sondern beim System, das die gesamte Gemeinde bildet: Alle sind dafür verantwortlich, dass einzelne-- wenn auch viele-- unter Schwachheit, Krankheit oder frühem Tod leiden. Diese Vision von einer unglücklichen Form der Solidarität kann als ein Korollarium der Metapher des Leibes für das christliche Haus betrachtet werden (1Kor 12,1-31). Der Solidaritätsgedanke lautet hier allerdings nicht: »Wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit« (1Kor 12,26), sondern: »Das Glied, das leidet, nimmt auf sich oder trägt das Symptom der universalen Krankheit des ganzen Körpers«. Eine ähnliche systemische Vision entwickelt der Römerbrief, wenn Verhaltensweisen, die als unsittlich angesehen sind, als Belege für die Universalität der Ungerechtigkeit der Menschen gedeutet werden (Röm 1,17-31). Zweitens wird in den Ursache-Wirkung-Zusammenhang keine Dimension eines göttlichen Gerichts oder einer religiösen Strafe eingeschaltet. Verwiesen wird weder auf ein Gericht Gottes über das Verhalten der Korinther, das sich in der hohen Zahl der Krankheitsfälle zeigen würde, noch auf eine magische, krankheitserregende Wirkung des Brotes oder des Kelchs, die nicht beachtet worden wäre. Die Argumentation setzt keine Kette, sondern eine direkte Kontinuität zwischen der kollektiven Schuld und den Folgen, die sie für beliebige Einzelne bringt, voraus. Die paulinische Argumentation konstruiert also keine indirekte Kausalität zwischen Sünde und Krankheit, sondern gibt eine ganz andere, rein immanente Erklärung der Krankheitsfälle in Korinth. Die vielen Mitglieder der Gemeinde leiden weder, weil sie sich falsch verhalten hätten, noch, weil Gott sein Gericht auf sie oder auf die Gemeinde-- also stellvertretend auf sie-- üben würde, sie tragen vielmehr die Konsequenzen der mangelnden Anerkennung und der Missachtung, die im alltäglichen Leben der Ortskirche herrschen. Das Denkmodell verleiht der Krankheit keinen religiösen Charakter und sucht für sie keine theologische Erklärung. Im Gegenteil: Die statistisch hohe Zahl der Gesundheitsstörungen hat nach Paulus einen rein immanenten Grund, 10 und seine Deutung weist eine enge Verwandtschaft mit Vorstellungen der modernen systemischen Therapien auf. 11 4. Die Verwandtschaft zwischen Vergebung und Heilung In den Evangelien und den Briefen schließt die Ablehnung einer religiösen kausalen Verbindung zwischen Krankheit und Sünde nicht die Herstellung einer anderen, therapeutischen Verbindung zwischen Vergebung und Heilung aus. Es wird jedoch keine direkte logische Kontinuität hergestellt, sondern eine Parallelität, eine Analogie oder eine Solidarität. Die Gesamtarchitektur der markinischen Erzählung von der Heilung des Gelähmten (Mk 2,3-12), die den programmatischen Bericht der Predigt Jesu kommentiert (Mk 2,1-2), ist dazu angelegt, Sündenvergebung und Heilung zusammenzudenken. Die performative Aussage Jesu (»Kind, deine Sünden werden vergeben«, Mk 2,5), die dem Vertrauen der vier Träger entgegenkommt, bereitet den Dialog vor, der in der paradoxen Frage mündet: »Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: ›Deine Sünden sind vergeben‹ oder zu sagen: ›Stehe auf, und nimm deine Trage, und geh! ‹? « (Mk 2,3-12): (3) »Und sie kommen zu ihm einen Gelähmten bringend, von vier getragen. (4) Und weil sie ihn wegen der Menge nicht zu ihm bringen konnten, deckten sie das Dach ab dort, wo er war, gruben es auf und lassen die Trage, auf der der Gelähmte lag, herab. (5) Und als Jesus ihr Vertrauen sieht, sagt er zu dem Gelähmten: ›Kind, deine Sünden werden vergeben! ‹ (6) Es gab da einige der Schriftgelehrten, die da saßen und dachten in ihren Herzen: (7) ›Warum redet dieser so? Er lästert! Wer kann Sünden vergeben außer Gott allein? ‹ (8) Und sofort als Jesus in seinem Geist erkannte, dass sie so dachten, sagte er zu ihnen: ›Warum denkt ihr dies in euren Herzen? (9) Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: ›Deine Sünden werden vergeben‹ oder zu sagen: ›Stehe auf, und nimm deine Trage, und geh! ‹? (10) Damit ihr wisst, dass der Menschensohn Autorität hat, »Alle sind dafür verantwortlich, dass einzelne - wenn auch viele - unter Schwachheit, Krankheit oder frühem Tod leiden. Diese Vision von einer unglücklichen Form der Solidarität kann als ein Korollarium der Metapher des Leibes für das christliche Haus betrachtet werden (1Kor 12,1-31).« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 17 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 17 François Vouga Krankheit und Sünde die Sünden auf Erden zu vergeben, sagt er zum Gelähmten: (11) ›Ich sage dir: Steh auf, heb deine Trage auf, und geh nach Hause! ‹ (12) Und er stand auf und sofort hob er seine Trage auf und ging weg vor allen Augen, so dass alle außer sich gerieten und Gott priesen, indem sie erklärten: ›So etwas haben wir noch nie gesehen.‹« Die Frage Jesu ist doppelt paradox. Zunächst wird nicht gefragt, was schwieriger, sondern was leichter sei. Durch den darauf folgenden Satz (»damit ihr wisst...«, Mk 2,10-11) bekommt diese Frage, wie die Frage der Jünger im Zeichen des Blindgeborenen (Joh 9,2), die Form einer illusorischen Alternative. Eine illusorische Alternative stellt als Alternative, die vor eine freie Entscheidung stellen sollte, zwei Möglichkeiten, die sich jedoch nicht gegenseitig ausschließen, wie es die logische Form der Alternative impliziert, sondern die miteinander so verbunden sind, dass keine echte Entscheidung übrig bleibt. Die Frage, ob Sündenvergebung oder Heilung leichter ist, stellt vor kein Entweder-Oder. Sie setzt vielmehr voraus, dass der Menschensohn, der die Autorität hat, performativ zu sagen, »Stehe auf, nimm deine Trage und geh! «, ebenfalls die Autorität hat, die Sünden zu vergeben, und umgekehrt: Wer performativ sagen darf, »Deine Sünden werden vergeben«, kann auch dem Gelähmten die Möglichkeit geben, aufzustehen und zu laufen. In dieser nicht-gesagten Voraussetzung besteht die wesentliche Aussage der dramatischen Komposition: Sündenvergebung und Heilung gehören in der markinischen, und dann auch in der matthäischen und in der lukanischen, Vorstellung der therapeutischen Handlung zusammen, ohne dass diese Zusammengehörigkeit jedoch durch die Formulierung der Frage präziser definiert oder gedeutet würde. Erstens erlaubt die illusorische Alternative keinen logischen Rückschluss auf die Ursache der Sünde oder der Lähmung. Die Zusammengehörigkeit von Vergebung und Heilung setzt in keiner Weise voraus, dass die Krankheit ihre Ursache in der Sünde hat oder die Sünde ihre Ursache in der Krankheit finden sollte. Die Tatsache, dass die beiden Momente der Vergebung und der Heilung im Prozess der therapeutischen Handlung assoziiert werden, impliziert keine Erklärung der Behinderung durch die Sünde, und sie nimmt keine Stellung zu den religiösen oder gesundheitswissenschaftlichen Versuchen, das Auftreten von Leiden durch eine berechenbare Rationalität-- man denke an Hjobs Freunde: »wenn er leidet, muss er gesündigt haben«-- oder durch eine nachvollziehbare Gerechtigkeit zu begründen. 12 Zweitens erlaubt die illusorische Alternative auch keine systematische Formulierung des Zusammenhangs von Vergebung und Heilung. Die Heilung bedingt nicht die Vergebung und die Vergebung gilt auch nicht als Bedingung für die Heilung. Die Präzisierung scheint trotz ihres evidenten Charakters relevant, weil sonst eine Nicht-Heilung-- eine bestehende Krankheit oder Behinderung-- auf eine Nicht-Vergebung zurückgeführt werden könnte, was einen Ursache-Wirkung-Zusammenhang indirekt wiederherstellen würde. Oder eine Nicht-Vergebung- - eine Unmöglichkeit der Vergebung-- würde aus der Nicht-Heilung folgen, was zu einer religiösen Disqualifizierung des behinderten oder kranken Menschen und zu einer Infragestellung seiner Identität als von und vor Gott bedingungslos anerkannte Person führen müsste. Die freie Konstellation der drei Begriffe des Vertrauens, der Vergebung und der Heilung, die durch die Erzählung nahe zueinander gerückt, ohne logisch untereinander verbunden zu werden, setzt allein eine Verwandtschaft voraus, die die Bedeutung des jeweils anderen erweitert: - Die Heilung des kranken Körpers beinhaltet Dimensionen, die sich nicht auf physische, chemische oder mechanische Reparaturen beschränken lassen, sondern Veränderungen des Verhältnisses des Subjektes zu sich selbst und zur Geschichte seines geistigen Lebens einschließen. - Die Vergebung ereignet sich als performative Handlung, wenn sie jeden religiösen Rahmen sprengt, um die Wirklichkeit des alltäglichen Lebens neu zu gestalten, wenn sie eine bedingungslose Anerkennung der Person zum Ausdruck bringt, eine Befreiung ihres Verhältnisses zu sich selbst-- und dann auch zu ihrem Körper-- und befreite Lebensmöglichkeiten vermittelt. - Das Vertrauen fordert die Reaktion Jesu bestehend in Adoption (»Kind! «, Mk 2,5), Vergebung (Mk »Die Tatsache, dass die beiden Momente der Vergebung und der Heilung im Prozess der therapeutischen Handlung assoziiert werden, impliziert keine Erklärung der Behinderung durch die Sünde, und sie nimmt keine Stellung zu den religiösen oder gesundheitswissenschaftlichen Versuchen, das Auftreten von Leiden durch eine berechenbare Rationalität [...] oder durch eine nachvollziehbare Gerechtigkeit zu begründen.« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 18 - 2. Korrektur 18 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema 2,5 und 2,9-10) und Heilung (Mk 2,9-11) heraus. Auch hier wird aber jede allzu einengende logische Verbindung vermieden: Das Vertrauen wird nicht als Bedingung für die Vergebung oder die Heilung dargestellt. Eine feine Diskontinuität ist in die Erzählung eingebaut: Den Beginn des therapeutischen Ereignisses leitet nicht der Glaube des Behinderten oder Kranken selbst ein, sondern die Hoffnung und Zuversicht der Menschen, die ihn umgeben und ihn tragen. Auch hier bleibt Markus offen: Sind alle Zuhörer gemeint, die den Gelähmten zu Jesus bringen, oder nur die vier, die ihn tragen? Entscheidend ist die Gegenwart des Vertrauens, die durch das von Jesus gepredigte »Wort« ermöglicht wird und den Weg für Vergebung und Heilung eröffnet. Der Offenheit am Anfang der Geschichte entspricht die Freiheit, zu welcher sie hinführt: Erzählt wird nicht, wie Jesus eine Krankheit beseitigte, sondern wie ein Mensch geheilt wurde. Was im Evangelium (wieder)hergestellt wird, beschränkt sich nicht auf die Gehfähigkeit, sondern lenkt die Aufmerksamkeit des Lesers auf die befreite Beweglichkeit und Handlungsfähigkeit einer Person, auf seine Möglichkeit, als freies, selbständiges und verantwortliches Subjekt zu leben. Nicht nur Vergebung und Gesundheit hängen zusammen, 13 sondern das geistige Leben einer anerkannten Person in Vergebung und Heilsein. Insofern nimmt auch der ehemalige Gelähmte seine Trage mit nach Hause, und setzt seine persönliche Geschichte mit der geschenkten und wahrgenommenen Offenheit neu fort. 14 Das Thema der therapeutischen Kraft des Vertrauens wird im Jakobusbrief ausgeführt (Jak 5,13-16): (13) »Geht es jemandem unter euch schlecht, so bete er; hat jemand Grund zur Freude, so singe er ein Loblied! (14) Ist jemand unter euch krank, so rufe er die Ältesten der Gemeinde zu sich. Die sollen über ihm beten, ihn im Namen des Herrn mit Öl salbend. (15) Und das Gebet des Vertrauens wird den Ermatteten retten, und der Herr wird ihn erwecken. Und wenn er Sünden begangen hat, wird es ihm vergeben werden. (16) Bekennt einander also die Sünden und betet füreinander, damit ihr geheilt werdet! « Frei assoziiert werden wiederum in einer unsystematischen Konstellation »Vertrauen der Gemeinde«, »Vergebung« der »Sünden«, »Krankheit«, »Heilung« und-- verglichen mit der markinischen Komposition (Mk 2,1-12) neu-- »Rettung« und »Auferweckung«. Als These wird an die therapeutische Kraft (Jak 5,16) des vertrauensvollen Gebets der Gemeinde-- und nicht mehr an die Autorität des Menschensohns (Mk 2,10)-- erinnert: »Das Gebet des Vertrauens wird den liegenden Menschen retten« (Jak 5,15). Die Erwähnung der Situation von Krankheit zieht aber unmittelbar den Gedanken nach sich, dass der kranke Mensch Sünden begangen haben könnte (Jak 5,15). Der Brief betont demgegenüber ohne zu zögern zunächst seine Gewissheit, dass ihm vergeben werden wird, um dann auf eine Therapie zu verweisen: Die Behandlung der Sünden besteht gegebenenfalls im gegenseitigen Bekenntnis und im gegenseitigen Fürbittengebet, mit dem Ziel, dass alle »geheilt werden« (Jak 5,16). Die Gemeindedisziplin des Fürbittengebets für die Kranken, zu welcher der Jakobusbrief einlädt, gibt der therapeutischen Praxis des Vertrauens, der Vergebung und der Heilung eine ritualisierte, fast liturgische Form. Die symbolischen Handlungen und ihre Begründungen werden präzise definiert, so dass wesentliche Unterscheidungen fein respektiert werden. Erstens werden Krankheit und eventuelle Sünden ebensowenig logisch verbunden wie in den Erzählungen der Evangelien: Der Kranke kann nämlich Sünden begangen haben oder nicht, 15 und die mögliche Rettung von der Krankheit geschieht ohne jede Bezugnahme auf-- gegebenenfalls-- vorhandene Sünden oder auf ihre Vergebung: Der Verfasser des Briefes setzt ausdrücklich keinen kausalen Zusammenhang zwischen Krankheit und Sünden voraus. Er denkt aber durchaus daran, dass der Kranke Sünden begangen haben könnte oder auch nicht. Seine Deutung akzentuiert die Situation der Krankheit und die Suche nach Sündenvergebung hingegen anders: Mit der kritischen Bedrohung der Gesundheit rückt die Perspektive des Todes näher, und mit dem möglichen baldigen Lebensende die Notwendigkeit einer Lebensbilanz. Zweitens wird die Bedeutung der beiden Verben »heilen« und »retten« genau unterschieden. »Heilen« ist ein medizinischer Begriff, der die therapeutische Handlung eines Arztes, der seine Patienten pflegt und manchmal heilt, bezeichnet. »Retten« deckt ein breiteres semantisches Feld ab, aber wird im Jakobusbrief immer mit der Bedeutung Gottes endgültiger und endzeitlicher Erlösung verwendet (Jak 1,21; 2,14; 4,12; 5,20). 16 Der Leser könnte also erwarten, dass das Gebet des Vertrauens den Kranken heile-- ihn in einen gesunden Zustand zurückbringe (vgl. Jak 5,15)-- und dass das Sündenbekenntnis und das Fürbittengebet ihn von einer Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 19 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 19 François Vouga Krankheit und Sünde endzeitlichen Verurteilung und Zerstörung erlöse (vgl. Jak 5,16). Der Verfasser des Briefes tauscht hier aber beide Begriffe aus: - Therapeutischen Charakter haben das Sündenbekenntnis und das Fürbittengebet in der Gemeinde (Jak 5,16): Die Verheißung der pragmatischen Befreiung von den Lasten der Vergangenheit als performative Handlung gehört nach dem Jakobusbrief zur Pflegekunst der Kirchen. - Das Ziel und der Grund des Gebetes des Vertrauens für die kranken Geschwistern besteht nicht in einer medizinischen Genesung-- in einem »Heilen«, sondern in ihrer Rettung und in der Gewissheit, dass der Herr sie erwecken wird (Jak 5,15). Zu dieser doppelten Formulierung gehört eine große Offenheit: unentscheidbar ist, und wahrscheinlich soll unentschieden bleiben, ob die Zuversicht der Rettung eine Wiederherstellung der Gesundheit oder einen neuen möglichen Umgang mit der Krankheit bedeutet, ob die Verheißung der Erweckung durch den Herrn eine Erneuerung der Hoffnung in der Gegenwart oder eine endzeitliche Auferstehung meint. Krankheit, Sünde, Vertrauen, Rettung, Vergebung und Heilung werden in einer Konstellation assoziiert, die den therapeutischen Auftrag einer Gemeindedisziplin definiert, die eine aktive Begleitung der Kranken durch Hausbesuche, Fürbittengebet und gegenseitige Bekenntnisse beinhaltet. Zusammenfassung Die menschliche Intelligenz versucht, Rationalität und Ordnung in das Chaos der Existenz zu bringen. Sie steht immer wieder in der Versuchung, die Zufälligkeit von Krankheit und die offensichtliche Ungerechtigkeit, mit welcher Gesundheit, Unglück und Leiden verteilt werden, durch religiöse, kulturelle Wertsysteme und durch wissenschaftliche Weltanschauungen zu erklären. Die angenommene Evidenz einer kausalen Verbindung von Schuld oder Sünde und Krankheiten liegt sowohl an vermeintlichen-- statistisch dokumentierten-- Zusammenhängen von Fehlverhalten und Erkrankungen, an den Bemühungen einer Gesellschaft der Gesunden, sich durch eine tadellose Disziplin-- Einhaltung von Reinheitsgeboten in allen Bereichen des Lebens, Essen, Sexualität, Sport-- zu immunisieren; als auch an der Bereitschaft kranker Menschen, aufgrund von Schuldgefühlen Werturteile zu übernehmen und zu verinnerlichen. Den Hiob-Freunden aller Zeiten ist die Illusion gemeinsam, dass das Wissen um die Ursachen einer Krankheit dem Leiden einen Sinn verleihen kann. Die Evangelien und die Briefe des Neuen Testaments äußern sich demgegenüber weder über die Ursachen noch über den eventuellen Sinn einer Krankheit. Sie verzichten auf spekulative Erklärungen, explikative Systeme werden abgelehnt: Weder der Blindgeborene noch seine Eltern haben gesündigt (Joh 9,1-12). An die Stelle der Ursachenspekulation tritt der Versuch, die Krankheit subjektiv zu verstehen und sie in den Alltag der Ich-Du-Beziehungen des Gemeindelebens zu integrieren: Die Situation des kranken Menschen wird als Herausforderung wahrgenommen, für ihn selbst wie für den Körper der Gemeinschaft, zu der er als Glied gehört (1Kor 11,17-34, vgl. 1Kor 12,1-31; Jak 5,13-16): - Paulus entdeckt seine »Schwachheit« als Chance. Die Selbstbetrachtung des Apostels bietet keine Erklärung über die Ursache oder über den Sinn des sog. »Dornes im Fleisch«. Er erkennt ihn insofern als eine Gabe, die er bekommen hat (2Kor 12,7, passivum divinum), als eine Gnade Gottes, die gerade in dieser Situation mit ihrer vollen schöpferischen und befreienden Kraft für die Korinther und für ihn wirken kann (2Kor 12,1-10). - Auch das Zeichen des Johannesevangeliums gibt keine alternative Erklärung für die Behinderung des Blindgeborenen (Joh 9,1-12). Die Frage nach den Ursachen wird durch eine andere ersetzt: Die Frage der Verantwortung Jesu und-- mit ihm-- der Mitglieder seiner Gemeinde (1.Pers.Pl., Joh 9,4-; wie auch Joh 1,14.16; 3,11; 4,22; 21,24) gegenüber dem leidenden Menschen. Genauer: durch die Aufforderung oder den Befehl, die therapeutische Dimension der »Werke Gottes« an ihm wirksam werden zu lassen. - Die Verantwortung der Gemeinde gegenüber ihren kranken Mitgliedern kommt unter drei Aspekten zur Sprache. Negativ wird auf die mögliche systemische Mitverantwortung der gesamten Versammlung für die Krankheiten und Schwachheiten innerhalb der christlichen Häuser verwiesen (1Kor 11,27-32). Positiv wird sie dann an ihre liturgische Aufgabe der therapeutischen Begleitung der kranken Brüder und Schwestern erinnert. Der Jakobusbrief definiert eine Gemeindedisziplin der Hausbesuche, des Fürbittengebets und der Salbung der Kranken, die von den Ältesten als Vertreter der ganzen Gemeinde übernommen werden (Jak 5,14-15). Mit diesem Auftrag der seelischen und medizinischen Pflege verbindet die Gemeindedisziplin eine Einladung zum gegenseitigen Bekenntnis und zur Vergebung der Sünden Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 20 - 2. Korrektur 20 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema (Jak 5,15-16). Die Verbindung zwischen Vertrauen, Heilung und Vergebung nimmt eine Konstellation wieder auf, die in den Erzählungen der Evangelien bereits aufgebaut worden war (Mk 2,1-12) und die das Matthäusevangelium als Programm formuliert (Mt 9,8): »Als sie es sahen, wurden die Leute von Furcht ergriffen, und sie priesen Gott, der den Menschen solche Autorität gegeben hat.« Anmerkungen 1 Dr. med. Astrid Hehmeyer danke ich für viele Anregungen. 2 P. Watzlawick, The Language of Change, New York 1978. 3 V. Martin (Hg.), Papyrus Bodmer II. Evangile de Jean chap 1-14, Bibliotheca Bodmeriana V, Cologny-Genève 1956, 92. 4 H. Thyen, Das Johannesevangelium. HNT 6, Tübingen 2005, 457, verweist auf Joh 11,4 und spricht von der »Ersetzung der kausalen Frage nach Ursachen und deren Wirkungen durch den teleologischen Blick auf das göttliche Ziel«. 5 H.G. Liddell/ R. Scott, A Greek-English Lexicon I, Oxford 9 1940, 830. 6 P. Watzlawick/ J.H. Weakland/ R. Fisch, Lösungen. Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels, Bern 1974. 7 F. Vouga, »Gott existiert nicht, aber er lebt ...«-- Wäre Gott tot, könnte man dann noch mit und aus Freude lachen? , in: C.-F. Geyer/ D. Schneider-Stengel (Hgg.), Denken im offenen Raum. Prolegomena zu einer künftigen postmetaphysischen Theologie, Darmstadt 2008, 132-146. 8 J. Conrady/ F. Vouga, Zur Interpretation der Erzählungen von Exorzismen im Markusevangelium. Ein Werkstattbericht aus einem interdisziplinären Dialog zwischen einem Arzt und einem Theologen, in: R. Brucker/ S. Alkier (Hgg.), Exegese und Methodendiskussion, TANZ 23, Tübingen 1998, 257-270. 9 E. Cuvillier, L’évangile de Marc, Bible en face, Paris/ Genève 2002, 103-105: »Diableries et naissance du sujet«. 10 A. Lindemann, Der erste Korintherbrief, HNT 9/ I, Tübingen 2000, 259-260: »Die unangemessene Praxis hat bereits zu Krankheit und sogar Tod geführt [...]. ›Unter euch viele usw.‹ meint nicht, daß die ›unwürdig‹ Handelnden selbst die Opfer sind, sondern daß durch solches Handeln die Gemeinde als ganze bereits geschädigt wurde. Paulus sagt insbesondere nicht, Gott (oder Christus) habe die Betreffenden zur Strafe krank gemacht oder gar getötet [...]. Wohl aber behauptet Paulus, es bestehe ein Zusammenhang zwischen der korinthischen Art der Mahlfeier und den Krankheiten [...] bzw. den Todesfällen, die in Korinth selber offenbar keine Beunruhigung ausgelöst hatten«. 11 G. Bateson, Steps to an Ecology of Mind. Collected Essays in Anthropology, Psychiatry, Evolution, and Anthropology, Chicago 1972; Mara Selvini-Palazzoli, Luigi Boscolo, Giancarlo Cecchin, Giuliana Prata, Paradosso e Controparadosso. Un nuovo modello nella terapia della famiglia e transazione schizofrenica, Milano 1975. 12 L. Hartman, Mark for the Nations. A Textand Reader- Oriented Commentary, Eugene 2010, 113: In der nichtjüdischen religiösen Welt, in der das Markusevangelium gelesen wurde, war das Schuldgefühl, gegen Gott Sünden begangen zu haben, kein ernstes Problem. Man wollte aber mit den geheimnisvollen Mächten, die das Leben regieren, versöhnt sein. 13 E. Cuvillier, L’évangile de Marc, 58: «Le pardon, c’est la guérison véritable. L’un ne va pas sans l’autre». 14 Die Erinnerung an diese Dimension der Erzählung verdanke ich Christina Schäfer. 15 Chr. Burchard, Der Jakobusbrief, HNT 15/ I, Tübingen 2000, 211: »Für den Fall [...], daß der Kranke Sünden auf dem Gewissen hat [...], d.h. wohl schwere [...]: Er gesundet auch moralisch«. 16 F. Vouga, L’épître de saint Jacques, CNT XIIIa, Genève 1984, 140-144: »L’accompagnement des malades et la guérison des pécheurs«. Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 21 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 21 Wer von Paulus’ Sündenverständnis herkommt, wie der Apostel es tiefschürfend insbesondere in Röm 7 entfaltet, wird die Rede von der Sünde im Jakobusbrief je nach eigenem Sündenverständnis als oberflächlich oder als wohltuend nüchtern empfinden. Für Jakobus 1 ist Sünde nämlich »weder überindividuelle Macht noch individuelle Sucht (so Röm 7,7-25)« 2 , sondern schlicht Übertretung des Willens Gottes, »Handeln wider Gottes Gesetz« 3 . Der Konkordanzbefund ist schnell notiert: Von hamartia(i) (»Sünde[n]«) ist in 1,15; 2,9; 4,17; 5,15. 16. 20 die Rede, vom hamartōlos (»Sünder«) spricht Jakobus in 4,8 und 5,20; das Verb fehlt. Angesichts der Kürze des Briefes ist die Zahl der Belege relativ hoch; unter den Paulusbriefen weist nur der Römerbrief eine höhere Belegdichte auf. Sieht man von der Nennung konkreter Vergehen oder Laster ab, so ist ergänzend zudem noch auf die Rede vom ptaiein (»sich verfehlen«: 2,10; 3,2), vom parabatēs (»Übertreter«: 2,9.11), von der adikia (»Unrecht«: 3,6), von der kakia (»Schlechtigkeit«: 1,21; vgl. 1,13) oder auch auf die Wertung eines Verhaltens als ponēros (»böse«: 4,16; vgl. 2,4) hinzuweisen. Die relative Häufigkeit des Vorkommens von »Sünde/ r« spiegelt die Ausrichtung des Jakobusbriefes, angesichts von ethischen Missständen, die der Verfasser in den ihm vor Augen stehenden Gemeinden meint diagnostizieren zu können, korrigierend eingreifen zu wollen. Von grundlegender Bedeutung für das jakobeische Sündenverständnis ist 1,15: »Dann, wenn die Begierde empfangen hat, gebiert sie Sünde, die Sünde aber, wenn sie groß geworden ist, gebiert den Tod.« Ich setze daher mit dieser Aussage ein. Im zweiten Abschnitt werde ich mich dann der Problematik des Umgangs mit und der Stellung zum Besitz als dem ethischen Feld zuwenden, auf dem Jakobus sündhaftes Verhalten seiner Adressaten hauptsächlich feststellt. Der Schlussabschnitt stellt die Sündenproblematik in den soteriologischen Horizont des Gerichts ein. 1. Die Begierde als Quellgrund der Sünde Jak 1,13-25 bildet die theologische Grundlegung des Briefes, die die von 1,26 an folgenden konkreten ethischen Mahnungen und Argumentationen fundiert. Man kann darüber streiten, ob 1,13-25 zusammen mit 1,2-12 zum dann zweiteiligen Prolog gehört oder ob der Passus das Briefkorpus eröffnet und dann die erste Entfaltung des Programms des Briefes bietet, das in 1,2- 4 summarisch dargelegt wurde: Die Adressaten sollen sich in den mannigfaltigen Versuchungen, mit denen sie als Fremdlinge in der »Diaspora« (1,1) der gottfernen Welt konfrontiert sind, als standhaft erweisen, und diese Standhaftigkeit soll mit einem vollkommenen Werk einhergehen, damit sie selbst der Vollkommenheit entgegenstreben. 4 Unabhängig davon, ob man 1,13-25 zum Prolog oder zum Korpus zieht, kommt dem Passus zur Erfassung der theologischen Konzeption des Jakobusbriefs fundamentale Bedeutung zu. Jakobus setzt in 1,13 damit ein, dass er der Ausflucht wehrt, sich im Falle eines Scheiterns in den in 1,2 genannten Versuchungen zu Lasten Gottes selbst zu entlasten, indem man sagt, man sei von Gott versucht worden. Jakobus bezeichnet mit dem Substantiv »Versuchung/ Prüfung« (1,2.12) die an sich neutrale Situation, die im Falle des Standhaltens positiv zu werten und daher für lauter Freude zu erachten ist (1,2), weil das Standhalten in den Versuchungen das »Immunsystem« stärkt. Das in 1,13 f. verwendete Verb hingegen meint das tatsächliche »Versucht-werden« im Sinne des Scheiterns in der Versuchung. Da nach dem jakobeischen Gottesbild 5 von Gott ausschließlich Gutes kommt (1,17), ist ausgeschlossen, dass Gott jemanden (zum Bösen) versucht. Wenn also jemand der Versuchung unterliegt, liegt das, wie 1,14 ausführt, an der eigenen Begierde: »Jeder wird aber versucht, indem er von seiner eigenen Begierde herausgelockt und geködert wird.« Von »Begierde« und »Begehren« spricht Jakobus allein in rein negativer Ausrichtung. »Begehren« bedeutet für Jakobus, nach Dingen zu streben, die dem Willen Gottes widersprechen, bzw. in einer Weise nach Dingen zu streben, die Gottes Willen verletzt. Zu beachten ist, dass Jakobus in 1,14 f.-- im Unterschied zur unter den frühchristlichen Belegen verbreiteten pluralischen Rede von Begierden im Sinne der einzelnen bösen Leidenschaften 6 -- im Singular (vgl. 2Petr 1,4; 1Joh 2,16) und in personifizierter Weise von der Begierde spricht. 7 Die Begierde erscheint als die im Innern des Menschen verortete, zugleich aber vom Ich des Menschen unterschiedene Instanz, 8 die ihn zu einem dem Willen Gottes entgegenstehenden Verhalten zu Matthias Konradt Sünde im Jakobusbrief Zum Thema Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 22 - 2. Korrektur 22 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema verleiten sucht. Die der Fischereisprache entnommene Metaphorik des Fortreißens und Köderns stellt dabei anschaulich das versucherisch-verführerische Potential der Begierde heraus. Wie sich dieses Treiben der Begierde im Menschen und das Wirken des in 4,7 erwähnten Teufels, der durch Widerstand gegen ihn in die Flucht geschlagen werden soll, genau zueinander verhalten, ist dem Jakobusbrief nicht zu entnehmen. Führt Jakobus mit V. 14 das Versucht-werden auf die Begierde zurück, so wendet er sich in V. 15 mittels eines klimaktischen Kettenschlusses den Folgen zu. Wenn- - um im Bilde von V. 14fin zu bleiben- - der Christ »anbeißt«, dann empfängt die Begierde, wie Jakobus in veränderter Bildsprache sagt, und sie gebiert Sünde. Eine wichtige Frage ist, ob man aus V. 15a den Umkehrschluss ziehen darf, dass jede Sünde auf die Begierde zurückzuführen ist. Eine solche Annahme liegt gleich aus mehreren Gründen nahe. Erstens wurde die Begierde in 1,14, wie gesehen, personifiziert als Instanz im Menschen eingeführt. Zweitens ist zu beachten, dass sich in 1,13-25 mit der nachfolgenden Rede von der Einstiftung des Wortes in 1,18.21 ein konzeptioneller Zusammenhang ergibt: Begierde und Wort stehen einander gegenüber, diese als Instanz im Menschen, die zur Sünde verleitet und darüber zum Tod führt, jenes als dem Christen eingestiftete Größe, die zum Tun des Guten verhilft und zum Leben führt. Kurz gesagt: Begierde und Wort stehen einander als Todeskeim und Lebenskeim gegenüber. Drittens wird in 4,1-3 das Begehren als Wurzel des Fehlverhaltens der Adressaten benannt. Nicht zuletzt lässt sich viertens ein Verständnis der Begierde als des Quellgrundes des Sündigens traditionsgeschichtlich plausibilisieren. Denn die Vorstellung, dass sündhaftes Verhalten in der Begierde wurzelt, lässt sich in mehreren frühjüdischen Schriften nachweisen: • Nach der Paraphrase der biblischen »Sündenfallgeschichte« (Gen 3) in der Apokalypse des Mose »kontaminierte« die Schlange die Frucht, bevor sie sie Eva gab, mit dem »Gift ihrer Bosheit, d. h. der Begierde«, woran als Erklärung angefügt wird: »Denn die Begierde ist (Ursache) jeder Sünde« (ApkMos 19,3). • Nach ApkAbr 24,8 hält die Begierde »in ihrer Hand das Haupt jeder Gesetzlosigkeit«. • Im hellenistischen Judentum konnte das zehnte Gebot, indem »du sollst nicht begehren« ohne Objekt zitiert wurde, als Zusammenfassung der zweiten Tafel des Dekalogs aufgefasst werden (4Makk 2,6; Philo, Dec 142). Auch Paulus zitiert das Gebot in dieser verkürzten Fassung (Röm 7,7; 13,9). Entsprechend resümiert Philo in seiner Gebotsauslegung: »Ein so großes und überragendes Übel ist also die Begierde oder vielmehr, um es richtig zu bezeichnen, sie ist die Quelle aller Übel; denn Raub, Plünderei und Nichtbezahlen von Schulden, Verleumdung und Beschimpfung, ferner Verführung, Ehebruch, Mord und alle die anderen Verbrechen […], aus welch anderer (Quelle) fließen sie? « (SpecLeg 4,84). Ganz ähnlich heißt es in der Schrift Über den Dekalog 173: »Das fünfte Gebot [sc. der zweiten Tafel] endlich sucht die Quelle alles Unrechts, die unlautere Begierde, zurückzudrängen, von der die gesetzwidrigsten Handlungen ausgehen«. Überblickt man die Streuung der Belege, so erscheint es auch traditionsgeschichtlich als plausibel, dass Jakobus die Begierde als den Quellgrund der Sünde betrachtete. Als Hintergrund von Jak 1,13-15 im Ganzen wird häufig auf Sir 15,11-20 verwiesen, 9 wo ebenfalls eine Rückführung der Sünde auf Gott abgewehrt wird (15,11f.20), doch begegnet dieses Motiv auch anderorts (z. B. äthHen 98,4; Philo, Fug 79 f.). Zugleich sind Differenzen zwischen Jak 1,13-15 und Sir 15,11-20 nicht zu übersehen. Gerade die Differenzen helfen freilich, Jak 1,13-15 Profil zu geben: Während Sir 15 vom Menschen allgemein spricht, also schöpfungstheologisch orientiert ist und in diesem Kontext auf den freien Willen des Menschen abhebt (V. 14-17), hat Jakobus in 1,13-15 speziell den Christen im Blick und thematisiert die Be- Prof. Dr. Matthias Konradt, Jahrgang 1967, studierte Evangelische Theologie in Bochum sowie Heidelberg und wurde 1996 in Heidelberg promoviert. Nach seinem Vikariat war er von 1999 bis 2003 am Sonderforschungsbereich »Judentum - Christentum« an der Universität Bonn tätig, wo er sich Ende 2002 habilitierte. Von 2003 bis 2009 war er Ordinarius für Neues Testament an der Universität Bern. Seit dem Wintersemester 2009/ 10 lehrt er an der Theologischen Fakultät der Universität Heidelberg. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind die Neutestamentliche Ethik, das Matthäusevangelium, Paulus, Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti. Matthias Konradt Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 23 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 23 Matthias Konradt Sünde im Jakobusbrief gierde, die auch diesem noch Schwierigkeiten bereiten kann. Dem Christen ist allerdings mit dem wirkmächtigen, »eingeborenen« Wort (1,18.21) 10 eine Gegenmacht zur Begierde eingestiftet, so dass es ihm grundsätzlich möglich ist, sich von der Begierde nicht zum Sündigen verführen zu lassen. Wenn Jakobus das Gesetz in 1,25 als »Gesetz der Freiheit« bezeichnet, so wird damit die Überzeugung auf den Punkt gebracht, dass der, der sich in das Gesetz vertieft und es entsprechend befolgt, Freiheit von der Begierde samt ihren Folgeerscheinungen Sünde und Tod (1,15) gewinnt. 11 Anders als für Paulus in Röm 7 ist das Gesetz für Jakobus ein effektives Mittel, um der Begierde und der Sünde Herr zu werden. Allerdings ist zu beachten, dass Röm 7 die Situation des Menschen vor und außerhalb der Christuswirklichkeit thematisiert, während Jakobus in 1,13-25 eben den Christenmenschen im Blick hat. Die Frage, ob der Mensch einen freien Willen hat, wird in Jak 1,13-15 hingegen gar nicht gestellt. Weil Jakobus’ Thema in 1,13-15 der Christ, nicht der Mensch ist, ist dem Passus zugleich allerdings auch keine ausdrückliche Aussage darüber zu entnehmen, inwiefern es dem »natürlichen« Menschen möglich ist, nicht von der Begierde beherrscht zu werden. Man kann nur darauf hinweisen, dass Jakobus nirgends im Brief auf ein dem Menschen eigenes Vermögen, der Begierde Herr zu werden, wie z. B. die Vernunft rekurriert. Ferner wird das von der Begierde angetriebene Verhalten eines Christen in 4,4 pauschal als (Suche nach) Weltfreundschaft bezeichnet, worin impliziert ist, dass der Kosmos grundlegend durch die Begierde und ihre Lüste geprägt und »gezeichnet« ist. Dies muss nicht zu dem Schluss führen, dass der Mensch in seiner natürlichen Ausstattung prinzipiell gegen die Begierde wehrlos ist. Wesentlich wahrscheinlicher ist auf frühjüdischem Hintergrund die Sicht, dass der Mensch die Möglichkeit, der Begierde nicht verfallen zu sein, faktisch nicht nutzt. 12 Die Sünde ist zwar kein Verhängnis, aber faktisch die allgemeine Realität des Menschen und die Begierde dabei das anthropologische Grunddatum. Fragt man, auf welchen Gebieten des Handelns Jakobus im Adressatenkreis sündhaftes Verhalten hauptsächlich diagnostiziert, so ist an erster Stelle das weite Feld des Umgangs mit und der Stellung zum Besitz zu nennen. Konzeptionell wird dabei deutlich, dass Jakobus den sündhaften »Mammondienst« von Christen als Ausdruck von Gespaltenheit zwischen Gott und Welt versteht. 2. Der sündhafte »Mammondienst« von Christen als Gespaltenheit zwischen Gott und Welt Während in der summarischen Exposition der Themen des Briefes in 1,2-12, der theologischen Grundlegung in 1,13-25 und der Entfaltung von 1,2-4 in 1,26-3,12 der Brudertitel die Anrede der Adressaten bestimmt, 13 begegnet dieser in 3,13-5,6 nur in 4,11. Im vorangehenden Abschnitt 4,1-10 hingegen werden die Adressaten als »Ehebrecherinnen« (4,4), »Zweiseeler« (4,8) und eben als »Sünder« (4,8) angeredet. Den Kontext dazu bildet die Thematisierung der »Kriege und Kämpfe«, der sozialen Disharmonie unter den Adressaten, die Jakobus auf die »zu Felde ziehenden« Lüste in den Gliedern 14 zurückführt (V. 1). Diese These wird in V. 2 f. durch eine klimaktische Reihe erläutert, bei der Jakobus, wie oben angedeutet, in Entsprechung zur Rückführung der Sünde auf die Begierde in 1,14 f. mit dem Begehren einsetzt. Jakobus führt hier nicht ausdrücklich aus, worauf sich das Begehren richtet, doch kann man dies aus dem Kontext erschließen. Denn dem Argumentationsduktus nach muss das Begehrte nach V. 2-3 zum einen auch Gegenstand des Gebets sein können. Zum andern ist das Begehrte bzw. Erbetene etwas, das man nach V. 3 »in den Lüsten« verschwenden kann. Es handelt sich also offenbar um materielle Güter. Jakobus kritisiert hier »die leidenschaftliche Gier nach Besitz und Lust« 15 . Die klimaktische Reihe in V. 2-3 besteht aus drei Gliedern. Das Fortschreiten zur nächsten Stufe ist jeweils darin begründet, dass mit dem Vorangehenden das Ziel nicht erreicht wurde. Also: 1.) »Ihr begehrt-- und habt nicht.« 2.) »Ihr tötet und eifert-- und vermögt es nicht zu erlangen.« 3.) »Ihr kämpft und bekriegt.« Dass das erstrebte Ziel nicht erreicht wird, kann objektiv meinen, dass das Begehrte tatsächlich versagt bleibt; oder aber, was wahrscheinlicher ist, in subjektivem Sinn bzw. in psychologischer Hinsicht darauf abheben, dass die Befriedigung eines Begehrens sogleich neue Begehrlichkeit freisetzt und es insofern nie zu einem bleibenden Besitz kommt 16 : Dem Begehrenden ist das Erreichte nie das Begehrte. Dass diese psychologische Einsicht in der antiken Welt nicht unbekannt war, lässt sich exemplarisch anhand von Senecas Epistulae Morales illustrieren. So zitiert Seneca in seinem 94. Brief als Beispiel für einen unmittelbar einleuchtenden Spruch, der in der antiken Welt umläuft: »Einen Habsüchtigen sättigt kein Gewinn« (94,43). 17 »Die Sünde ist zwar kein Verhängnis, aber faktisch die allgemeine Realität des Menschen und die Begierde dabei das anthropologische Grunddatum.« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 24 - 2. Korrektur 24 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema Steht bei Jakobus am Anfang das bloße Begehren nach Besitz und nach dem damit verbundenem Sozialprestige, so wächst sich diese Disposition in den nächsten Entwicklungsstufen zu einem handfesten, Gemeinschaft zerstörenden Verhalten aus. Die beiden im mittleren Glied genannten Verhaltensweisen sprechen komplementär das Verhalten gegenüber sozial Schwächeren (»töten«) und Bessergestellten (»eifern«) an. »Töten« ist dabei in einem weitgefassten Sinn zu verstehen. In slHen 10,5 wird bereits mangelnde karitative Unterstützung Bedürftiger als »töten« aufgefasst (s. auch Sir 34,21f.). In diese Richtung dürfte auch Jak 4,2 gehen. Neben Defiziten in der Unterstützung Bedürftiger (vgl. Jak 2,15f.) ist ferner auch an die Durchsetzung (vermeintlicher) finanzieller Ansprüche gegenüber Verarmten vor Gericht (vgl. Jak 2,6; 5,6) sowie an Ausbeutung von Armen etwa durch Vorenthaltung von Lohn zu denken (vgl. Jak 5,4 und Sir 34,21 f.: »Brot der Bittenden ist der Lebensunterhalt der Armen; wer ihn raubt, ist ein Blutmensch. Der tötet den Nächsten, der ihm die Nahrung stiehlt, und der vergießt Blut, der dem Lohnarbeiter seinen Lohn raubt«). Kurzum: »Töten« meint hier im weiten Sinne ein rücksichtsloses Verhalten, das sozial Schwächere in ihrer Existenzgrundlage trifft. Wenn Jakobus nun »töten« in diesem Sinn mit »eifern« zusammenstellt, so spricht sich darin die Beobachtung aus, dass der, der gegenüber Armen eine solche Lebensorientierung zeigt, im Regelfall zugleich zum »Eifern« nach Sozialprestige neigt, das von Eifersucht gegenüber den (noch) Bessergestellten angeheizt wird bzw. damit einhergeht. Die »Kämpfe und Kriege« sind letzter Ausdruck dieser Gemeinschaft zerstörenden Disposition, in der die anderen im Wesentlichen als Konkurrenten wahrgenommen und die Armen missachtet werden. Die in 4,1-3 geschilderte verfehlte Lebensorientierung stellt Jakobus in V. 4 in einen theologischen Interpretationsrahmen ein: Der in der skizzierten Weise auf sich selbst bezogene Mensch verschließt und verfehlt sich nicht nur dem Mitmenschen gegenüber, sondern damit (! ) auch Gott gegenüber. Mit der Invektive »Ehebrecherinnen« greift Jakobus auf das Motiv des Ehebundes zwischen Gott und seinem Volk zurück 18 . Die dargelegte sozial destruktive Orientierung am Besitz wird nun als »ehebrecherische« Freundschaft mit der Welt, die gewissermaßen als Nebenbuhlerin Gottes erscheint, klassifiziert. Analog zum Gegenüber von Wort und Begierde in 1,13-25 bewegt sich Jakobus auch hier in einem klaren Entweder-Oder: Freundschaft mit der Welt bedeutet Feindschaft mit Gott. Traditionsgeschichtlich betrachtet, zeigt sich Jak 4,4 als eine Transformation des Mammonwortes Jesu in Mt 6,24 par Lk 16,13. Der Mammondienst wird als die zentrale Signatur der Welt gewertet, so dass die strenge Alternative von Gott und Mammon zum antithetischen Gegenüber von Gott und Welt transformiert werden kann. 19 In V. 7-10 lässt Jakobus eine ausführliche Umkehrmahnung folgen, in der er die Adressaten, wie erwähnt, expressis verbis als »Sünder« und »Zweiseeler« anspricht (4,8). Die beiden Anreden interpretieren sich wechselseitig. »Zweiseeler« bezeichnet das Doppelleben derer, die meinen, ihre Gottesbeziehung würde sich mit »Weltfreundschaft« vertragen. Die Sünde der in 4,1-10 anvisierten Gemeindeglieder wird von Jakobus also als Gespaltenheit zwischen Gott und Welt in der Lebensorientierung aufgefasst. Pointiert kommt hier zum Ausdruck, dass Gottesfreundschaft und Weltfreundschaft zwei miteinander schlechthin unvereinbare Sinnwelten darstellen. Zur weiteren Illustration dieses Ansatzes ist Jakobus’ Opposition gegen das Ansehen der Person, d. h. gegen die Ungleichbehandlung von Armen und Reichen in 2,1-13 instruktiv. In der einleitenden Mahnung weist Jakobus die durch das Beispiel in V. 2 f. illustrierte Bevorzugung von Reichen implizit als mit dem Glauben an die Herrlichkeit unseres Herrn Jesus Christus 20 unvereinbar auf. Denn mit dieser auffälligen inhaltlichen Bestimmung des Glaubens setzt er einen Kontrast zwischen der Herrlichkeit des erhöhten Herrn und der demgegenüber belanglosen und im Grunde lächerlichen »Herrlichkeit« des in seinem glänzenden Gewand daherkommenden Goldfingers. Wie kann man solchem Prunk Beachtung schenken und Wert beimessen, wenn der Glaube auf die einzig wahre, da himmlische Herrlichkeit gerichtet ist, mit der der auferstandene und erhöhte Kyrios Jesus Christus umkleidet ist »Steht bei Jakobus am Anfang das bloße Begehren nach Besitz und nach dem damit verbundenem Sozialprestige, so wächst sich diese Disposition in den nächsten Entwicklungsstufen zu einem handfesten, Gemeinschaft zerstörenden Verhalten aus.« »[M]it dieser auffälligen inhaltlichen Bestimmung des Glaubens setzt er einen Kontrast zwischen der Herrlichkeit des erhöhten Herrn und der demgegenüber belanglosen und im Grunde lächerlichen ›Herrlichkeit‹ des in seinem glänzenden Gewand daherkommenden Goldfingers.« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 25 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 25 Matthias Konradt Sünde im Jakobusbrief und die die Glaubenden selbst am Ende zu empfangen hoffen (vgl. Phil 3,20 f.; 2Thess 2,13 f.) 21 ? Indem Jakobus das Beispiel (V. 2 f.) in V. 4 in die rhetorische Frage einmünden lässt: »seid ihr da nicht in euch zwiespältig und übel gesonnene Richter geworden? « 22 , wird wieder das Motiv der Gespaltenheit vorgebracht, das Jakobus bereits an prominenter, programmatischer Stelle im Rahmen des Prologs eingeführt hat (1,6-8): Wer an die Herrlichkeit des Herrn glaubt und dennoch Reiche bevorzugt-- mit der entsprechenden Konsequenz für die eigene Lebensorientierung--, führt ein »Doppelleben«. Mit der Thematisierung des Ansehens der Person deckt Jakobus dabei die Wurzel der auch in Jak 4 verhandelten Fehlorientierung auf: Wert und Würde eines Menschen werden mit seinem sozialen Stand korreliert. Hingegen weiß der Glaubende darum, dass Gottes Zuwendung gerade den in den Augen der »Welt« Armen gilt (2,5; vgl. 1,27). Kurz gesagt: Wer Reiche hofiert und Arme missachtet, handelt nicht der vom Glauben gestifteten Wirklichkeitsgewissheit entsprechend. In V. 8-11 wird ein solches glaubenswidriges Ansehen der Person dann explizit als Sünde und zugleich als Übertretung des Gesetzes ausgewiesen. Glauben und die sich im Lebenswandel manifestierende Orientierung am Gesetz bilden bei Jakobus eine unauflösliche Einheit. Der Glaube erschließt eine Sicht der Wirklichkeit, mit deren lebenspraktischen Konsequenzen das im Liebesgebot (2,8) zentrierte Gesetz kongruent zusammenklingt. Positiv gefordert ist die barmherzige Zuwendung zu den Bedürftigen, die für Jakobus elementarer Ausdruck des wahren Gottesdienstes ist (1,27; vgl. 2,15 f.). Entsprechend wird wiederum als Sünde gebrandmarkt, wenn der, der wie die Großkaufleute in 4,13-17 in der Lage ist, Gutes zu tun, solches Tun unterlässt (4,17). 23 Zieht man 2,12 f. (sowie 1,22-25 und 2,14-26) hinzu, wird deutlich, dass dort, wo das Tun des Guten, d. h. hier der Barmherzigkeit, ausbleibt, unbarmherzig das Gericht droht. Barmherzigkeit aber »triumphiert über das Gericht« (2,13). Damit ist die im folgenden Abschnitt zu behandelnde Frage aufgeworfen: Welche endgerichtlichen soteriologischen Folgen zeitigt das Begehen von Sünden? 3. Sünden der Gerechten und Sünden von Sündern im Horizont des Gerichts Die Überschrift mag irritierend klingen, denn sie hebt die Gleichung, dass der, der sündigt, ein Sünder ist, auf. Man mag auch gleich kritisch einwenden, dass die in der Überschrift enthaltene Differenzierung schon deshalb problematisch ist, weil die Übergänge fließend sind und es deshalb unmöglich ist, eine klare Grenze zu markieren. Konzeptionell ist die Unterscheidung für Jakobus gleichwohl zwingend, und es ist eben auch nicht Sache von Menschen, das Gericht vorwegzunehmen und die Grenze festzulegen. Konzeptionell zwingend ist die Unterscheidung für Jakobus deshalb, weil für ihn das Bleiben in dem von Gott eröffneten heilvollen Leben (1,18) ohne einen dem Willen Gottes entsprechenden Lebenswandel nicht möglich ist. Das bloße zustimmende Hören des Wortes genügt nicht; das entsprechende Tun ist entscheidend, nur dieses führt zur Seligkeit (1,25). Das ist keine jakobeische Sondermeinung, sondern gut jüdisch und wurde, wenn man Mt 7,24-27 par Lk 6,47-49 folgen darf, auch von Jesus von Nazareth nicht anders gesehen. Das in 2,14-26 entfaltete Insistieren darauf, dass zur Rechtfertigung Werke notwendig sind bzw. Gott einen Menschen nur dann als gerecht anerkennt, wenn er einen durch Werke zur Ganzheit gelangten Glauben (2,22) hat, ist dabei nichts anderes als Variation von 1,22-25. 24 Seine Überzeugung, dass Glaube nur dann rechtfertigt, wenn er mit Werken einhergeht (2,22 f.), oder, kurz gesagt: dass Werke rechtfertigen (2,21.24), geht bei Jakobus aber nicht mit einem ethischen Perfektionismus einher. Vielmehr wird nüchtern konstatiert, dass »wir uns alle viel verfehlen« (3,2). Gerechtsein und Vollkommenheit sind für Jakobus nicht dasselbe. Vollkommenheit (1,4; 3,2) erscheint bei Jakobus als Ideal, das anspornen soll, aber Jakobus ist, wie 3,2 zeigt, Realist genug, um zu wissen, dass dies im Allgemeinen nicht erreicht wird. Als gerecht hingegen erkennt Gott einen Glaubenden an, der sich ungeteilt auf ihn ausrichtet und sich in allem an seinem Wort zu orientieren sucht, auch wenn er hier und da einmal scheitert. Besonders schwierig, ja unmöglich ist es nach 3,1-12, sich auf dem Gebiet der Sprachethik niemals zu verfehlen. Entsprechend ist Vollkommenheit auch mehr als das positive Gegenstück zur Gespaltenheit. Vollkommenheit ist vielmehr erst dann gegeben, wenn die ungeteilte Orientierung des Glaubenden auf Gott hin Tag für Tag in völlig makelloser Weise realisiert wird. Diesen Differenzierungen fügt sich ein, dass es nach Jak 5,15 f. Sünden von Gerechten gibt. Jakobus thematisiert hier zunächst das »Gebet des Glaubens« für einen Kranken, das diesen zu retten vermag. Mit der in V. 15 angefügten Verheißung »und wenn er Sünden begangen hat, wird ihm vergeben werden« schafft Jakobus eine Überleitung zur in V. 16 folgenden Aufforderung, einander die Sünden zu bekennen. Dieses Bekenntnis soll dann mit der Fürbitte füreinander verbunden Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 26 - 2. Korrektur 26 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema werden, »damit ihr geheilt werdet«. Die Rede von der Heilung ist offenbar von V. 14 inspiriert, wo es um die Heilung des Kranken ging, doch wechselt Jakobus hier zu einem metaphorischen Gebrauch: Heilung meint die Vergebung der Sünden. Auffallend sind hier die reziproken Formulierungen: Die Christen sollen einander ihre Sünden bekennen und füreinander beten. Hier wird nicht unterteilt in Gerechte und Sünder; es wird nicht gesagt, dass die Sünder ihre Sünden bekennen und dann die anderen für sie beten sollen. Vielmehr macht der Schlusssatz in V. 16 deutlich, dass die Adressaten hier als Gerechte angesprochen werden, die durchaus einmal sündigen können, denn Jakobus motiviert die gegenseitige Fürbitte in V. 16b mit der Zusage: »Viel vermag das wirkmächtige Gebet eines Gerechten.« Die, die hier einander ihre Sünden bekennen und füreinander bitten sollen, sind also Gerechte, deren Gebet viel vermag. Der Text bestätigt damit, dass Gerechtigkeit im Jak nicht mit Vollkommenheit identisch ist und nicht Sündlosigkeit zur Voraussetzung hat. 25 Auch Jak 1,5 fügt sich hier ein: Jakobus fordert den, dem es an Weisheit mangelt, dazu auf, diese von Gott zu erbitten. Weisheit ist bei Jakobus handlungsorientierte Einsicht. Man braucht sie, um die in der Welt lauernden mannigfaltigen Versuchungen (1,2) zu erkennen und zu bestehen und um das von Gott im Gesetz Gebotene situativ angemessen umzusetzen. Fehlt sie, ist die Gefahr von Fehltritten erhöht. Dem, der sie, wie V. 6 ausführt, in ungeteiltem Glauben erbittet, wird sie von Gott gegeben werden. Dass Gott dabei zugeschrieben wird, dass er nicht schilt (1,5), bekräftigt, dass das Gebet um Weisheit nötig ist, wenn es zu einem Fehltritt gekommen ist: Wie im Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11-32) hält Gott dem, der sich verfehlt hat, aber nun in ungeteiltem Glauben um Weisheit bittet, um es zukünftig besser zu machen, sein Vergehen nicht vor, sondern er gibt vorbehaltlos. In Anlehnung an 5,16 formuliert: Das Gebet des Gerechten (aber keineswegs Vollkommenen) wird erhört. Der sündige »Zweiseeler« (vgl. 4,8) hingegen wird von Gott nichts empfangen (1,7 f.). Es kann vor diesem Hintergrund nicht überraschen, dass Jakobus das Gericht zwar dezidiert an den Lebenswandel bindet und also in fragloser Selbstverständlichkeit ein Gericht nach den Werken mit doppeltem Ausgang vertritt, er zugleich aber das Bestehen (der Gerechten) im Gericht mit Gottes Barmherzigkeit in Zusammenhang bringt, wie dies im antiken Judentum und im entstehenden Christentum auch anderorts der Fall ist (z. B. PsSal 2,33.36; Philo, Imm 75; Mt 5,7; grApkEsr 1,12). Dies gilt nicht nur für Jak 2,13, wo die Drohung, dass den Unbarmherzigen ein unbarmherziges Gericht erwartet, die Überzeugung impliziert, dass Gott im anderen Fall Barmherzigkeit walten lässt, sondern auch für Jak 5,11, wo das dem standhaften Hiob von Gott bereitete gute Ende gerade nicht mit einem Verweis auf Hiobs Verhalten, sondern mit einem Verweis auf Gottes Barmherzigkeit begründet wird. Selbst ein Hiob erwarb sich also kein Anrecht auf Belohnung, sondern blieb auf das Erbarmen Gottes angewiesen. Auf die Adressaten bezogen: Die Rechtfertigung und Rettung aufgrund von Werken (2,14-26) ist für Jakobus keine von Gott in irgendeiner Weise pflichtmäßig geschuldete Anrechnung von Verdiensten, sondern ein Gnadenakt Gottes (vgl. 4,6). Auf dieser Basis ist nun ferner noch einmal auf Jak 1,15 zurückzukommen: Die von der Begierde hervorgebrachte Sünde gebiert ihrerseits den Tod (vgl. Röm 5,12.21; 6,23), allerdings nicht sogleich, sondern erst dann, wenn sie selbst ausgereift, groß geworden ist. Ohne Bild gesprochen: Zum »Tod« führt nicht bereits eine einzelne, gelegentliche Sünde, sondern das Sündigen, das sich bei einem Christenmenschen soweit entwickelt und ausgebreitet hat, dass es geradezu zur Gewohnheit geworden ist, ja das Wesen dieses Menschen betrifft 26 und dieser insofern als ein »Sünder« (4,8; 5,20) zu klassifizieren ist. »Tod« meint in 1,15 offenkundig nicht bloß das Ende des Lebens im physisch-biologischen Sinn, sondern ist im soteriologischen Sinn zu verstehen. Des Näheren geht es nicht erst um die zukünftige endzeitliche Verdammnis, sondern-- wie auch in 5,19 f.-- um die bereits gegenwärtige Unheilssituation des gottfernen Sünders (vgl. Lk 15,24.32; Eph 2,1-3), die durch das Endgericht irreversibel wird. »Tod« meint also die Unheilssituation, aus der Gott die Christen mit der »Geburt« durch das »Wort der Wahrheit« herausgeführt hat (1,18). Wer die durch die Einstiftung des Wortes (1,21) eröffnete Lebenschance nicht ergreift, sondern der Begierde nicht nur einmal erliegt, sondern in seiner Weltliebe das Sündigen zum Habitus werden lässt, fällt in die präkonversionale Todessphäre zurück. Bei den Adressaten, die Jakobus in 4,8 als »Sünder« und »Zweiseeler« bezeichnet, ist dies seines Erachtens der Fall. Fordert Jakobus diese in 4,7-10 zur Umkehr auf, so ist darin impliziert, dass solch ein Rückfall in die Todessphäre kein finales Verdikt bedeutet. Wer umkehrt »Die Rechtfertigung und Rettung aufgrund von Werken (2,14-26) ist für Jakobus keine von Gott in irgendeiner Weise pflichtmäßig geschuldete Anrechnung von Verdiensten, sondern ein Gnadenakt Gottes (vgl. 4,6).« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 27 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 27 Matthias Konradt Sünde im Jakobusbrief und sich in Demut vor Gott erniedrigt, wird erhöht werden (4,10), d. h. durch Gottes Gnadenhandeln (4,6) des Heils (wieder) teilhaftig werden. Der Briefschluss in 5,19 f. nimmt diese Heilsoption auf und leitet daraus einen Appell an die (»gerechten«) Adressaten zur »correctio fraterna« ab. Motiviert wird die Hinwendung zum Sünder dabei nicht mit einer Verbesserung der eigenen Heilsaussichten, sondern ausschließlich mit der möglichen Wendung des Ergehens des anderen: Wer einen Sünder vom Irrtum seines Weges bekehrt, wird seine, d. h. des Sünders, Seele aus dem Tode erretten und eine Menge von Sünden bedecken, d. h. dem sich bekehrenden Sünder wird von Gott vergeben werden. 27 Überblickt man 5,16-20 im Ganzen, so zeigen sich zwei nicht nur graduell unterschiedene Formen der Belastung eines Menschen mit Sünden. Auf der einen Seite stehen für Jakobus gerechte Christen, die sich hier und da verfehlen und denen durch gegenseitiges Bekenntnis der Sünden und Fürbitte Vergebung von Gott zuteil wird. Auf der anderen Seite geht es in 5,19 f. um von der Wahrheit Abgeirrte, die notorisch sündigen und daher förmlich als Sünder rubriziert werden können. Aber nicht nur dem »Gerechten«, sondern auch dem umkehrenden bzw. zurechtgebrachten Apostaten werden die Sünden vergeben, so dass ihm die erneute Rückkehr aus der »Todessphäre«, in die er zurückgefallen ist, in die »Lebenssphäre« nicht verschlossen ist. Zumal der in 4,7-10; 5,19 f. zutage tretende Konnex von Umkehr, Sündenvergebung und Heil macht deutlich, dass die Vorstellung des Gerichts nach den Werken im Jakobusbrief nicht im Sinne einer nach mehr oder weniger strengem oder barmherzigem Maßstab vollzogenen Vergeltung all dessen, was ein Mensch im Laufe seines gesamten Lebens an guten und schlechten Taten angehäuft hat, ausformuliert werden kann. Positiv impliziert dies, dass begangene Sünden nicht als lebenslange Hypothek stehen bleiben. Das, worauf es ankommt, ist, pointiert gesagt, am Ende als Gerechter im Bereich des Lebens angetroffen zu werden (vgl. Ez 18; 33,10-19). Gerechtsein setzt dabei nicht weniger als die ungeteilte Orientierung auf Gott hin und damit an seinem Willen voraus, mit der der Christ das in 1,18 in Erinnerung gerufene Heilshandeln aufnimmt. Der gerechte Lebenswandel eines Christen basiert dabei in Jakobus’ theologischer Konzeption keineswegs allein auf dem eigenen menschlichen Vermögen, sondern er ist durch die Einstiftung des Wortes (1,21) grundsätzlich ermöglicht und er wird ferner durch Gottes Gabe der Weisheit (1,5; 3,17) befördert. Darüber hinaus ist die Anerkennung eines Christen als eines »Gerechten« von der Barmherzigkeit Gottes umfangen, denn auch der Gerechte ist nicht frei von Sünden. Schließlich bleibt auch dem, der, nachdem Gott ihn durch das Wort der Wahrheit ins Leben geführt hat, wieder von der Wahrheit abirrt und in die Todessphäre zurückfällt, der Weg zurück offen. Jakobus’ Rede von den Bedingungen des Heilsempfangs bleibt daher deutlich unterbelichtet, wenn nur auf Sätze geachtet wird, die in eschatologisch-soteriologischer Perspektive das Tun des göttlichen Willens einklagen. 28 Voll ausgeleuchtet ist die Thematik nur, wenn diese Sätze eingeordnet werden in Jakobus’ Gesamtsicht der Beziehung zwischen Gott und Mensch, wenn sie in Beziehung gesetzt werden zu seiner Rede von der Möglichkeit zur Umkehr und der Vergebung der Sünden, wenn Gott nicht nur als fordernder, sondern auch als barmherziger, als den Sündern vergebender Gott in den Blick kommt. 29 Oder anders: Gottes Barmherzigkeit ist ein wesentliches Strukturmoment des gesamten Lebensverhältnisses, das Gott mit der Geburt durch das Wort der Wahrheit eröffnet hat. Anmerkungen 1 »Jakobus« meint den leiblichen Bruder Jesu (Mk 6,3) und Jerusalemer Gemeindeleiter (Apg 12,17; 15,13-21; 21,18-25; Gal 1,19; 2,9.12) namens Jakobus. Gewichtige Gründe sprechen allerdings dafür, dass der Brief als pseudepigraphisch zu werten ist. Siehe dazu M. Konradt, »Jakobus, der Gerechte«: Erwägungen zur Verfasserfiktion des Jakobusbriefes, in: J.Frey, (Hg.) Pseudepigraphie und Verfasserfiktion in frühchristlichen Briefen/ Pseudepigraphy and Author Fiction in Early Christian Letters (WUNT 246), Tübingen 2009, 575-597. 2 C. Burchard, Der Jakobusbrief (HNT 15/ I), Tübingen 2000, 74. 3 Burchard, Jakobusbrief 74. Anders aber H. Lichtenberger, Das Ich Adams und das Ich der Menschheit: Studien zum Menschenbild in Römer 7 (WUNT 164), Tübingen 2004, 252, zu Jak 1,15: »›Sünde‹ ist in dieser Reihe der Personifikationen gewiß nicht lediglich die Tatsünde, sondern die zu ihrem Ziel kommende Macht, die den Tod hervorbringt«. 4 Zur Gliederung vgl. M. Konradt, Der Jakobusbrief, in: Einleitung in das Neue Testament (KThSt 6), Stuttgart 2008, 496-510: 496-499. 5 Siehe dazu S. Wenger, Der wesenhaft gute Kyrios: Eine exegetische Studie über das Gottesbild im Jakobusbrief (AThANT 100), Zürich 2011. 6 Mk 4,19; Joh 8,44; Röm 1,24; 6,12; 13,14; Gal 5,24; Eph 2,3; 4,22; 1Tim 6,9; Tit 2,12; 3,3; 1Petr 1,14; 2,11; 4,2.3; 2Petr 2,18; 3,3; Jud 16.18; Did 1,4; 5,1; 1Klem 3,4; 2Klem 16,2; 17,3; 19,2; Polyk; 2Phil 5,3; 7,1; Herm, Vis III 7,2.3; M XI 2 u. ö. 7 Vgl. für viele M. Dibelius, Der Brief des Jakobus (KEK 15), Göttingen 12 1984, 124; H. Frankemölle, Der Brief Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 28 - 2. Korrektur 28 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema des Jakobus (ÖTBK 17/ 1), Gütersloh 1994, 285-288; W.T. Wilson, Sin as Sex and Sex with Sin: The Anthropology of James 1: 12-15, HThR 95 (2002), 147-168: 159, der zudem betont, dass die Begierde als »a female figure« dargestellt werde. 8 Vgl. F. Mußner, Der Jakobusbrief (HThK XIII/ 1), Freiburg 5 1987, 88; P. Davids, The Epistle of James: A Commentary on the Greek Text (NITGC), Grand Rapids (MI) 1982, 84. 9 Siehe z. B. Mußner, Jakobusbrief 89. Frankemölle denkt sogar an »literarische Rezeption« (Zum Thema des Jakobusbriefes im Kontext der Rezeption von Sir 2,1-18 und 15,11-20, BN 48 (1989), 21-49: 34; vgl. ders., Brief des Jakobus, Bd. 1, 190 ff.278 f.), was bei ihm im Rahmen seiner These zu sehen ist, der Jak sei insgesamt »eine relecture von Jesus Sirach« (a. a. O., 85). 10 Ausführlich dazu M. Konradt, Christliche Existenz nach dem Jakobusbrief: Eine Studie zu seiner soteriologischen und ethischen Konzeption (StUNT 22), Göttingen 1998, 67-100. 11 Ausführlich zur Interpretation der Wendung »Gesetz der Freiheit« Konradt, Existenz 92-99. 12 Der Gedanke der Universalität der Sünde ist in der antiken Welt weit verbreitet. Siehe die Belegsammlung in Konradt, Existenz 275, Anm. 43. 13 Siehe Jak 1,2.16.19; 2,1.5.14; 3,1. 10. 12. 14 Zur Möglichkeit des Bezugs von »in den Gliedern« auf die »Lüste« statt auf das Partizip »die zu Felde ziehenden« s. Konradt, Existenz 87.-- Die Verortung der Begierde im Innern des Menschen in 1,14 f. sowie der Lüste in den Gliedern in 4,1 entspricht anthropologisch der Verbindung der Begierde mit dem »Fleisch« in anderen frühchristlichen Schriften (Gal 5,16.24; Eph 2,3; 1Petr 2,11; 2Petr 2,10.18; 1Joh 2,16; Did 1,4; Barn 10,9; auch Röm 13,14). 15 W. Schrage, Der Jakobusbrief, in: H. Balz (Hg.), Die »Katholischen« Briefe: Die Briefe des Jakobus, Petrus, Johannes und Judas (NTD 10), Göttingen 14 1993, 5-59: 45. 16 Vgl. Mußner, Jakobusbrief 178. 17 Siehe ferner z. B. Philo, All 3,149; Dec 146-151; SpecLeg 4,80-82 oder Sextus, Sentenzen 274b. 18 Vgl. Jer 2,20-33; 3,1-13; 13,27; Ez 16,15-63; (23); Hos 1-3; 4,12 f.; 9,1; TestMos 5,3 und öfter. 19 Vgl. die Rezeption des Mammonwortes in 2Klem 6,1-7. Ausführlich zum traditionsgeschichtlichen Befund zu Jak 4,4 Konradt, Existenz 131-134. 20 Zur Auflösung der Genitivkette s. C. Burchard, Zu einigen christologischen Stellen des Jakobusbriefes, in: Anfänge der Christologie, FS F. Hahn, Göttingen 1991, 353-368: 354-358. 21 Vgl. ferner z. B. äthHen 62,16; syrApkBar 48,49; 51,1-16; Röm 5,2; 8,17 f.21.30; 1Petr 5,1. 4. 10. 22 Zur Deutung s. Konradt, Existenz 138 f. 23 Zur Auslegung des Verses vgl. Konradt Existenz 152-154. 24 Ausführlich zur Deutung von Jak 2,14-26 Konradt, Existenz 207-248. 25 Zur Interpretation von Jak 5,15 f. vgl. Konradt, Existenz, 191; A. Wypadlo, Viel vermag das inständige Gebet eines Gerechten (Jak 5,16): Die Weisung zum Gebet im Jakobusbrief (fzb 110), Würzburg 2006, 290-319: 316-319. 26 Ähnlich W. Beyschlag, Der Brief des Jacobus (KEK 15), Göttingen 4 1882, 68; F. Hauck, Der Brief des Jakobus (KNT 16), Leipzig 1926, 63; J.B. Adamson, James: The Man and His Message, Grand Rapids (MI) 1989, 341; J.B. Mayor, The Epistle of James, Neudr. der 3. Aufl. London 1913, Grand Rapids (MI) 1990, 55: »Sin when full-grown, when it has become a fixed habit determining the character of the man, brings forth death«. 27 Zum Bezug des Personalpronomens in der Rede von »seiner Seele« auf den Sünder sowie dazu, dass »Menge von Sünden« sich nur auf die Sünden des von der Wahrheit Abgeirrten beziehen kann, s. Konradt, Existenz 56 f. 28 Siehe z. B. die Erörterung der Gerichtsthematik bei M. Klein, »Ein vollkommenes Werk«: Vollkommenheit, Gesetz und Gericht als theologische Themen des Jakobusbriefes (BWANT 139), Stuttgart 1995, 163-184, der postuliert: »Einziges Kriterium für den Ausgang des Gerichts ist die Erfüllung der Gebote, des Gesetzes« (178). 29 Treffend M. Karrer, Christus der Herr und die Welt als Stätte der Prüfung: Zur Theologie des Jakobusbriefes, KuD 35 (1989), 166-188: 182: »Das theologische Gesamtprofil des Jak erfährt seine Rundung in der Zuwendung zu den Sündern«. Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 29 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 29 I. Dem forschenden Blick können sich bisweilen Zusammenhänge eröffnen, deren adäquate Erfassung ihre größte Schwierigkeit nicht darin findet, sich bislang Unbekanntes anzueignen oder gar einem Denken zu folgen, das gänzlich in sich verschlossen scheint, sondern darin, all das zu vergessen, was man bisher darüber wusste oder zu wissen glaubte. Dafür bietet das, was sich mit dem deutschen Begriff »Erbsünde« verbindet, ein gutes Beispiel. Um nämlich zu verstehen, was dieser Begriff meint, muss man das ursprünglich darunter Verstandene vergessen oder als der gemeinten Sache nicht entsprechend zurückweisen. Um über die Sache selbst etwas zu lernen, ist ein Blick auf denjenigen wichtig, der Begriff und Sache in die Welt gebracht hat, in diesem Falle Augustinus, denn »es gab in der christlichen Antike Tausende von Bischöfen. Es gab zahlreiche Leser der Paulusbriefe. Und doch hat nur Augustin die Erbsündenlehre entwickelt« 1 . Der gesamte christliche Osten kennt beispielsweise keine »Erbsünde«, und auch die Auseinandersetzung mit Pelagius zeigt sehr deutlich, wie befremdlich die Lehre von der Erbsünde auch im Westen gewirkt haben muss. Es ist ja auch festzuhalten, dass es sich bei der sog. »Erbsünde« weder um ein Erbteil noch um eine Sünde im gewöhnlichen Sinne handelt; es geht auch nicht um eine biologisch-genetische Gegebenheit, auch wenn der Begriff vielfach so definiert wird, noch um eine Sünde im Sinne individueller Schuld und Zurechenbarkeit. Von »Sünde«-- und damit befindet man sich bereits auf interpretatorischer Ebene-- kann allenfalls in der Weise die Rede sein, als dass hier ein Zustand gemeint ist, in dem die menschliche Existenz sich immer schon und vor jeder individuellen Ausprägung befindet, um eine umfassende Erlösungsbedürftigkeit, die das augustinische Paradigma von der concupiscentia (der überwiegend sexuell verstandenen »Begierde«) sprengt. II. Augustinus hat mit seiner Erbsündenlehre eine Synthese von Neuplatonismus und jüdischchristlicher Überlieferung vorgelegt, die sich mit dem Anspruch verbindet, die Aporien der stoischen, mittel- und neuplatonischen Lösungsversuche endgültig zu überwinden (philosophischer Aspekt) und deren wesentliche Implikationen dem Christentum zu integrieren. Damit sollte im Rekurs auf die menschliche Willensfreiheit Gott in theodizeeanaloger Weise entlastet werden. Die Bedeutsamkeit dieser Lehre unterstreicht eine, auch im säkularen Kontext unvergleichliche Wirkungsgeschichte in der Neuzeit (unter anderem bei Herder, Schiller, Schelling, von Baader, Schleiermacher, Rousseau und vielen anderen). Die Methode, deren sich Augustinus bedient, ist eine Exegese, die von sich aus bereits theologische Interpretation ist. Daneben greift er auf zeittypische Vorstellungen wie jene von der corporative personality (der Gattungsmensch) zurück, den Traduzianismus (die Lehre, nach der die Seele von den Eltern auf die Kinder übertragen wird), den Sühnebzw. Genugtuungsgedanken sowie auf die Adam-Christus- Typologie (der Vergleich zwischen Christus, dem vollkommenen Menschen, dem zweiten Adam und Initiator des Heils, und dem ersten Menschen, dem ersten Adam, dem Urheber des Verderbens). Die Erbsündenlehre bezieht ihre biblische Begründung (Schriftstellen, die hier in Frage kommen, sind Gen 3, Gen 19 f., Ex 7, Röm 5,12 f.19 ff.) aus einer ganz bestimmten Lesart zweier Worte: »eph hō« (Röm 5,12), wörtlich übersetzt: »per unum«, »durch einen bzw. einen einzelnen Menschen«. Das griechische eph hō kann in mehrfachem Sinne übersetzt werden: »in dem«, »wodurch«, »wonach«, »weil«. Wenn Augustinus die Stelle mit in quo übersetzt, haben in Adam alle gesündigt und sind alle ohne Ausnahme schuldig. Augustinus begründet dieses ›in Adam‹ mit der Vorstellung vom Gattungsmenschen. Die Konsequenz daraus ist das bekannte »non posse non peccare« (wörtlich: das nicht Nicht-sündigen können), dem Pelagius, der das ›in Adam‹ im Sinne der Nachahmung als ›wie Adam‹ verstand, die libertas ad peccandum et ad non peccandum (die Freiheit, sowohl zu sündigen als auch nicht zu sündigen) entgegensetzte. Für Augustinus ist die Sünde Adams primär eine jeden einzelnen Menschen betreffende persönliche Schuld. Sie wird juristisch und biologisch ausgelegt als todeswürdiges Vergehen und als eine mit der Tatsache der Geburt ererbte Last. Die Textstellen Gen 25,19 ff. und Ex 7 begründen die aus dem Erbsündentheorem hervorgegangene Prä- Carl-Friedrich Geyer Erbsünde Zum Thema Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 30 - 2. Korrektur 30 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema destinationslehre; in ihr verknüpft sich der Gedanke von Auserwählung und Verwerfung, Vorherbestimmung und ererbter Schuld in der Geburt in der Weise miteinander, dass gilt: »Alle Menschen zusammen bilden eine Art Sündenmasse, die vor der göttlichen und höchsten Gerechtigkeit als Sühneschuld dasteht. Gott kann diese Schuld einfordern oder erlassen, ohne dadurch ungerecht zu werden. Es wäre eine Anmaßung der Schuldner, zu entscheiden, von wem die Einlösung der Schuld zu fordern und wem sie zu erlassen ist.« 2 Entsprechend den Überlegungen Augustins wird der freie Wille des Menschen infolge der Sünde Adams zum bösen Willen, der sich vererbt (»per generationem«) und, sofern jeder Mensch an Adam Anteil hat, im Recht gründet. Die Verwerfung des Menschen ist deshalb das ›Naturgemäße‹, seine Auserwählung oder Rettung dagegen das ›Gnadenhafte‹. Auf diese Gnade gibt es keinerlei im Handeln des Menschen beschlossenen Anspruch. Der Frage nach dem Bösen, seiner Herkunft und seiner Rechtfertigung kommt in diesem Zusammenhang nicht zufällig eine besondere Bedeutung zu. Dabei wirken verschiedene Motive einer kohärenten Erklärung des Negativen, des Leidens und des Bösen zusammen. Das erste dieser Motive ist eine Distanzierung von der Gnosis, und zwar in der Überführung des Mythos ins Dogma. Dem Mythos von einem präkosmischen Sündenfall in der Gnosis des zweiten Jahrhunderts bei Valentinus und der Vorstellung von einer Aggression des Fürsten der Finsternis bei Mani setzt Augustinus ein Ur-Geschehen im Sinne eines historischen Faktums entgegen (mit juristischen und biologischen Folgen), das dann Fundament einer Geschichtstheologie wird. 3 Sie macht das nachfolgende historische Faktum der Erlösung erforderlich und soll die Notwendigkeit der Institution der Kirche fortdauernd unter Beweis stellen. Man hat in diesem Zusammenhang von einer pessimistischen Anthropologie Augustins gesprochen. III. Anthropologisch ist das zweite Motiv des Erbsündengedankens. Seine These lautet in Kürze: Das eigene Handeln des Menschen, außerhalb der zeitlichen Dimension vollzogen, macht ihn zum Schuldner. Das Schuldner- Sein gründet im Tod als Verdienst der Sünde sowie in der biologisch und psychologisch ihn bestimmenden Konkupiszenz. Die vergängliche Leiblichkeit symbolisiert den schuldhaften Zustand der Seele. »Der Mensch hat jetzt den Part des bösen Prinzips übernommen […] Der Leidende ist schuldig. An die Stelle des Zweifels an Gott tritt der prinzipielle Zweifel am Menschen […] Der Mensch muss lernen, sein Elend als Strafe zu begreifen.« 4 Zusätzliche Motive Augustins finden sich in der Soteriologie und in der Christologie. Aus der ›pessimistischen‹ Anthropologie folgt konsequent die Rechtlosigkeit des Menschen vor Gott, welche die Größe der Erlösung durch Christus ganz besonders sichtbar machen soll. Wenn Christus nicht umsonst gestorben sein soll, so die Prämisse Augustins, dann müssen alle, für die er starb, vorher im Tode gewesen sein. Die unendliche Genugtuung (Satisfaktion), die Christus durch sein Leiden und Sterben leistet, setzt deshalb auch eine unendliche, irreversible Beleidigung Gottes durch den Menschen, in diesem Falle durch Adam (und implizit durch alle seine Nachkommen), voraus. Sie kann nur durch den Sohn Gottes selber gesühnt werden. Anselm von Canterbury wird diesen Aspekt (»Cur Deus homo? «) später ausbauen. Andererseits muss Augustinus um des Gottesbegriffs der Prädestinationslehre willen die Erlösungstat Christi relativieren: Das Heil, das mit Christus dem Menschen zugesprochen wird, ist nur ›Heil nach Maßgabe des prädestinierenden Gottes‹. Die Heilsvermittlung bewegt sich in den Grenzen des »decretum horribile«. 5 Das Motiv, das bei der Herausbildung des Erbsündentheorems im Vordergrund steht, ist allerdings ein ekklesiologisches, ein- - wie spätere Kritiker behaupten werden- - institutionenlegitimierendes, d. h. also ein ›ideologisches‹ Motiv. In De bapt. IV. 17,24 steht der berühmte Satz Augustins: »Wer wollte daran zweifeln, dass es außerhalb der Kirche kein Heil gibt? « Prof. Dr. phil. habil. Carl-Friedrich Geyer, geb. 1949: Lehrtätigkeiten u. a. in Bochum, Saarbrücken, Paderborn und an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal-Bethel. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Fragen und Themen der Philosophie und Theologie. Zuletzt erschienen: Wahrheit und Absolutheit des Christentums - Geschichte und Utopie, Göttingen 2010. Carl-Friedrich Geyer Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 31 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 31 Carl-Friedrich Geyer Erbsünde M. a. W.: Die Zugehörigkeit zur (katholischen) Kirche ist für die Erlangung des ewigen Heils schlechterdings unverzichtbar. Gemäß der ›apriorischen‹ Geltung dieses ekklesiologischen Axioms ist die vocatio/ electio der Prädestinationslehre diejenige zur Taufe und damit zur Kirchenzugehörigkeit. Gleichzeitig macht sie, weil die Taufe im Verständnis Augustins primär Sündenvergebung ist, die Sünde aller, d. h. auch der Neugeborenen, die nach menschlichem Ermessen gar nicht gesündigt haben können, zur unerlässlichen Voraussetzung des Erlösungswerks Jesu Christi. Erst die Erbsündenlehre rechtfertigt die Kindertaufe und erst diese die ›Institution Kirche‹. Der Kirchenbrauch der Kindertaufe-- die Frontstellung gegen den Montanismus ist hier offensichtlich-- ist nur notwendig und sinnvoll unter der Voraussetzung, die ungetauften Kinder seien ewig verloren, eine Annahme, die wiederum nur einleuchtet, wenn die Kinder, wie die Erbsündenlehre nicht müde wird zu betonen, Schuld auf sich geladen haben. Der ›Kirchenbrauch‹, nicht übergeordnete und aus sich selbst heraus notwendige dogmatische Erfordernisse, stellen jene Herausforderungen dar, auf die sich das Erbsündentheorem als zeitgemäße Antwort versteht. Entsprechend lässt sich mit K. Flasch folgern: »Die Institution normiert intern die Theoriebildung; die Theorie wird Ideologie. Was Schuld, was Sünde ist, soll jetzt von der Institution her gedacht werden.« 6 Augustinus will im Rückgriff auf Röm 5,12 zu verstehen geben, dass durch das peccatum originale, die ›Ursünde‹, das Menschengeschlecht zu einer massa perditionis geworden sei, einer Masse, dem Verderben überantwortet. Durch die concupiscentia carnis wird jene ›Erbsünde‹ fortgepflanzt, die in einem Sünde und Strafe für die Sünde ist. Zu ihrem Wesen zählt der reatus incupiscentiae, der ererbte Mangel der ›geistigen Lebensverbindung mit Gott‹. Da nur die Taufe diesen Mangel auszutilgen vermag, wird sie-- und damit die Kirche-- zur heilsnotwendigen, weil allein heilvermittelnden Instanz. Theologisch wird damit (spätestens seit der Schrift Ad Simplicianum [396 n. Chr.]) die Allmacht und Allursächlichkeit Gottes sowie die Unwiderstehlichkeit der göttlichen Gnade zum alles beherrschenden und alles bestimmenden Gesichtspunkt, sowohl der kirchlichen Praxis wie der theologischen Theoriebildung. Das menschliche Wollen vermag nichts, wenn Gott nicht hilft, das Gute zu vollbringen. Die Existenz von Guten und Bösen, Gläubigen und Ungläubigen, wird ausdrücklich auf das göttliche Wollen zurückgeführt. Augustinus begegnet dem Vorwurf, er leugne die menschliche Willensfreiheit, mit einer Hypostasierung des freien Willens und seiner spekulativen Überhöhung: Weil alle in Adam gesündigt haben und alle als in ihm enthalten zu denken sind, haben sich alle Menschen in Adam ein für alle Mal und unwiderruflich frei für das Böse entschieden. Der nachfolgende, nunmehr ›unfreie‹ Wille des Menschen ist die Folge aus dieser einmaligen, unwiderruflichen freien Entscheidung. Obwohl alle Menschen auf diesem Hintergrund als verloren gelten müssen, hat Gott, zum Erweis seiner Barmherzigkeit, eine im Voraus bestimmte Anzahl von Menschen zur ewigen Seligkeit bestimmt (genau genommen so viele, als Engel von Gott abgefallen sind). Ihnen, die ganz unabhängig von ihren Verdiensten gerettet werden, kommt die Erlösungstat Christi zugute. Die sehr viel größere Anzahl der Menschen, die massa perditionis (die zum Verderben bestimmte Masse der Vielen) oder vasa irae (»Gefäße des Zorns«) heißen, werden verdammt. Ihnen geschieht deshalb kein Unrecht, weil niemand einen Rechtsanspruch auf die Barmherzigkeit Gottes hat, ist es doch nach Augustin gerade dieses Schicksal des Menschen, das die Gerechtigkeit Gottes offenbart. Gottes Entscheidung (er verhält sich den Nicht-Erwählten gegenüber ›passiv‹, den Erwählten gegenüber ›aktiv‹) bedarf keiner Erklärung, weil ja bereits im ›Begriff Gottes‹ selbst mitgesetzt ist, dass es bei ihm keine Ungerechtigkeit geben kann. Die Auseinandersetzung mit der Erbsündenlehre Augustins ist überwiegend als ein die Zeiten überspannender Versuch einer Entschärfung ihres theologischen Radikalismus zu werten, sei es durch den Nachweis der Zeitbedingtheit ihrer Voraussetzungen, sei es durch die Insistenz auf ihrem Ursprung in einer nach heutigen Maßstäben zweifelhaften Exegese, sei es durch symbolische Umdeutung und durch den Hinweis darauf, dass sie im Grunde genommen ohne theoretischen Ertrag und Erklärungswert sei. Dazu einige ausgewählte und repräsentative, die Problemlage skizzierende Beispiele: 1. H. Jonas versucht der augustinischen Erbsündenlehre dadurch eine fortdauernde Bedeutung abzugewin- »Erst die Erbsündenlehre rechtfertigt die Kindertaufe und erst diese die ›Institution Kirche‹.« »Weil alle in Adam gesündigt haben und alle als in ihm enthalten zu denken sind, haben sich alle Menschen in Adam ein für alle Mal und unwiderruflich frei für das Böse entschieden.« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 32 - 2. Korrektur 32 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema nen, dass er den Prozess ihrer Entstehung umkehrt: Die vielgestaltige Verwendbarkeit des Dogmas kann nach Jonas nicht darüber hinwegtäuschen, dass es, »genau betrachtet und den einmal betretenen Boden ernst genommen-- nichts« leistet. 7 Jonas spricht von einem »merkwürdige[n], mythologische[n] Gedankengebilde« 8 , dem ähnlich wie dem gnostischen Mythos dadurch ein Sinn abzugewinnen versucht wird, dass die Grundbestimmungen der Heideggerschen Existentialanalyse in das überlieferte Sündenschema hineinprojiziert werden. Bezogen auf die faktische Lebenserfahrung und Daseinsauslegung verweist die Vorstellung von einer ›Erbsünde‹ auf das Faktum der »menschlichen Insuffizienz vor Gott« und die ihr korrespondierende Prädestinationslehre auf jene »vorgreifende Bestimmung […], die über alles Wissen und Sich-vergewissern-Können hinweg bereits über den Sinn unseres zeitlichen Daseins entschieden hat« 9 . Für die Rezeptionsgeschichte hat das zwei Konsequenzen: Philosophisch ist die Erbsündenlehre ein zusätzliches Argument für die Fundierung der Existentialontologie und Existentialdialektik im Kontinuum des okzidentalen Selbstverständigungsprozesses; theologisch lässt sie sich der praktischen religiösen ›Erlebnisproblematik‹ zuordnen, z. B. als Tatbestand der sog. konkreten Daseinserfahrung. Inhaltlich wird sie in beiden Fällen überflüssig. 2. Auch für P. Ricoeur steht und fällt die Idee einer ›Ursünde‹ mit der Sichtbarmachung ihrer symbolischen Funktion. Sie enthüllt eine zeitlos gültige Menschennatur, das heißt eine Erfahrung, die in den Rang eines ›Existentials‹ gerückt wird: »Für jedes Bewusstsein, das zur Verantwortlichkeit erwacht, ist das Böse schon vorhanden. Indem der Mythos den Ursprung des Bösen auf einen fernen Ahnen überträgt, enthüllt er die Situation eines jeden Menschen: Was er erzählt, hat bereits stattgefunden; ich beginne das Böse nicht; ich setze es nur fort; ich bin in das Böse hineinverwickelt; das Böse hat eine Vergangenheit; es ist seine Vergangenheit; es ist seine eigene Tradition.« 10 Dabei ist für P. Ricoeur die Ursünde nur »ein rationalisierter Mythos« 11 , der seine Überzeugungskraft ausschließlich aus dem Sündenbekenntnis der Kirche herleitet. Es ist dieses Bekenntnis, das es verbietet, über das Böse, das wir nicht selbst tun, zu spekulieren: »Wir haben kein Recht, weder über das Böse, das wir beginnen, noch über das Böse, das wir vorfinden, außerhalb jeder Heilsgeschichte zu spekulieren.« 12 3. Der Interpretationsversuch K. Rahners will das Erbsündentheorem einerseits anerkennen, zumindest dogmengeschichtlich ernst nehmen und würdigen, kann jedoch wegen der aus ihm abzuleitenden Folgerungen den eher distanzierenden Umgang mit diesem Traditionsbestand andererseits nicht leugnen. Rahners Ausweg ist im Sinne seines transzendentaltheologischen Ansatzes eine Stilisierung des Sündenfallgeschehens zum quasitranszendentalen Faktum, also zu jenem »Minimum«, das unverzichtbar ist, wenn nach Schrift, Tradition und Dogma von einer »Erbsünde« überhaupt noch die Rede sein soll. Was bleibt, ist »eine allgemeine, alle Menschen im Voraus zu ihrer eigenen personalen Freiheitsentscheidung umfassende Unheilssituation, die dennoch Geschichte und nicht Wesensbestand ist, durch den Menschen geschehen und nicht einfach mit der Kreatürlichkeit gegeben […], denn eine Unheilssituation kann nur von einem kommen, der selbst ganz dieser zeithaften Geschichte angehört […] Die geschichtliche Tat, die eine universale Unheilssituation des einen Geschlechtes begründet, muss also notwendig am Ursprung des Geschlechtes begründet worden sein« 13 . IV. Die meisten modernen und ideologiekritischen Überlegungen verbinden sich mit der Kritik an Augustins »concupiscentia«- Lehre, die, so der Einwand, »so deutlich sexuelle Färbung hat, dass in ihr die bis in die Religion des Bürgertums virulente Verortung von Sünde vor allem im Bereich der Sexualität grundgelegt ist […]. Bürgerlicher Religion konnte Lust als sündig und tierisch zugleich gelten, christlichem Bürgertum konnte die Unterwerfung der Lebenswelt unter die Herrschaft der Zwecke als unschuldig und wahrhaft human zugleich erscheinen. Mögen sich die jeweiligen Begründungslinien auch ausschließen, gemeinsam hielten sie umso fester«. 14 Die Auseinandersetzung mit der Erbsündenlehre ist in gewisser Weise noch in ihrer Infragestellung dem ›Urbild‹ bei Augustin darin verhaftet, dass in der Transformation wie in der Kritik die dogmatische Vorstellung der Idee einer vererbten Ursünde präsent bleibt. Wenn diese weder ersatzlos eliminiert noch durch scheinbar plausiblere Äquivalente aufgefangen werden kann und soll (auf letzteres zielen ebenso die geschichtsphilosophischen Spekulationen im deutschen Idealismus wie das, was Rousseau im ›Discours über die Ungleichheit unter den Menschen‹ entwickelt hat), dann bleibt nur der Mythos als Alternative zum Dogma. Gemeint ist freilich nicht der Mythos im Sinne eines Gegensatzes zu einer wahren Geschichte, sondern der Mythos als Gegensatz zu einer Theorie. Entsprechend erklärt die Erbsündenlehre-- so die Antwort R. Spaemanns 15 -- die gegenwärtige Verfassung des Kosmos dadurch, dass sie eine ›Geschichte‹ erzählt, die gerade nicht in den Kos- Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 33 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 33 Carl-Friedrich Geyer Erbsünde mos, so wie wir ihn kennen, eingebettet ist. Der Sinn der biblischen Erzählung ist dann vor allem eine Sicht des Menschen, nach der dieser dazu bestimmt war, jene Selbstzentriertheit und ›Natürlichkeit‹, die für alle Wesen gleichsam konstitutiv ist, zu verlassen; ein Schritt, den der Mensch verweigert hat, mit allen Folgen für sich und die Schöpfung. Der Genesisbericht über den Sündenfall entfaltet eine Lehre, die erklärt, warum die Welt so ist wie sie als reine Schöpfung nicht sein dürfte. Ähnlich interpretiert J. Ratzinger Gen 3,17 als einen Text, der angesichts gegenwärtiger Welterfahrung längst kein mythologisches Wort mehr sei: »Am Anfang des Weges stand der Hochmut ›wie Gott sein‹ zu wollen. Den Aufpasser Gott musste man abschütteln, um frei zu sein; den an den Himmel projizierten Gott in sich zurücknehmen und selbst als Gott über der Schöpfung zu walten. So kam es dann allerdings wirklich zu einer Art von Geist und Wille, die gegen das Leben standen und stehen, Herrschaft des Todes sind. Und je fühlbarer das wird, desto mehr kehrt sich nun der anfängliche Vorsatz in sein Gegenteil um und bleibt dabei doch dem gleichen Ausgangspunkt verhaftet: Der Mensch, der nur noch sein eigener Schöpfer sein und die Schöpfung selbst neu montieren wollte mit einer von ihm erdachten besseren Evolution […], endet in der Selbstverneinung und Selbstzerstörung. Er findet, es gäbe ihn besser nicht.« 16 Es gibt freilich auch Deutungen, die das biblische Ursprungsgeschehen durchaus im Einklang mit den Ergebnissen der evolutionistischen Forschung sehen. Ist jene im ersten Falle das negative Argument für den Rückgriff auf den Mythos, so im anderen Falle ihre positive Bestätigung. Die Wissenschaft hat in gewisser Weise ans Licht gebracht, was der hebräische Mythos von Anfang an sagen will: »Erstens besteht Erbsünde nicht darin, dass die Menschheit die Sünde eines einzelnen erbt, sondern darin, dass der einzelne einen Teil der Sünde der Menschheit erbt-- und natürlich auch einen Teil ihrer Gutheit. Zweitens zeigt die Paläontologie, dass der Tod lange vor dem Menschen in der Welt war; und auch der Mensch als Teil einer absterbenden Welt unterlag dem Tod. Trotz Tod wird die Welt bevölkert. Ohne Tod wäre die Welt vor langer Zeit erstickt. Der Tod ist zwar furchterregend, aber nötig« 17 . Die angedeutete Sicht des biblischen Mythos konvergiert mit jenen Neoevolutionismen (ihrerseits nicht ebenfalls ›Mythen‹? ), für die die Dualität, wenn nicht gar der Dualismus von ›Lieben und Sterben‹ für alles Leben konstitutiv sind: »Die Sexualität und der Tod sind die beiden Tribute, die wir für den evolutionären Fortschritt entrichten. Die beiden Phänomene sind einander komplementär, aber auch erstaunlich entgegengesetzt. Begleitumstände des ersten sind Freude, Lust und Hoffnung, die Umstände des zweiten Leiden, Entsetzen und das Nichts. […] Absolutes Glück jedoch sollten wir nicht erwarten auf einer Erde, die sich uns so widerstrebend erschlossen hat, in einer Menschheit, deren Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist. Dieses Glück-- das eitle Versprechen aller philosophischen Gesellschaftsutopien und politischen Regime- - liegt nicht in unserer Reichweite. Die Angst ist ein wesentliches Element des menschlichen Lebens […]. Unser Schicksal ist ein Zustand der Unzufriedenheit […]« 18 . Theologisch entspringt aus dieser Einsicht die gleichsam ins ›Metaphysische‹ gewendete Dualität von Gut und Böse, die ein ›Gutes/ Böses‹-- ›Böses/ Gutes‹ vor jeder individuellen Zurechnung meint. Für das Böse wie für das Gute gilt deshalb, dass es da ist, bevor wir auf die Welt kommen. Der Mythos belehrt darüber, dass der Sieg über das Böse nur ein vorläufiger ist, weshalb »ein Großteil der christlichen Theologie zu Sünde und Erlösung etwas seltsam Unwirkliches hat. Einer der Mängel des Jesus-Mythos ist, dass er den Eindruck erweckt, Jesus hätte ein für alle Mal einen Endsieg über die Sünde errungen« 19 . V. Diesseits theologischer Sprachspiele dominiert die »Metamorphose der absoluten Lehre« (R. Spaemann). Sie findet ihren Ausdruck in Säkularisierungen, deren folgenreichste jene Transformationen von Sündenfall und Erbsünde darstellen, die in der Philosophie des deutschen Idealismus entwickelt worden sind. Charakteristisch ist hier der Zusammenhang von Spekulation, Natur-, Geschichts- und Religionsphilosophie, der den Ursprung des Bösen in der Entwicklung der Freiheit im Menschen verortet. So bedarf es nach Kant, weil der Mensch ein potentiell vernünftiges Wesen ist, nur eines geringfügigen äußeren Anstoßes, um den ersten Schritt aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit zu tun. Nichts anderes verberge sich hinter dem, was in der Bibel »Frucht der Erkenntnis« heißt. Eine besondere Bedeutung im Konzert der säkularen Metamorphosen der Erbsündenlehre kommt J.- J. »Wenn [die Idee einer vererbten Urkunde] weder ersatzlos eliminiert noch durch scheinbar plausiblere Äquivalente aufgefangen werden kann und soll [...], dann bleibt nur der Mythos als Alternative zum Dogma.« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 34 - 2. Korrektur 34 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema Rousseau zu. Sie steht nach Rousseau für das Heraustreten des Menschen aus dem Naturzustand hin zu einer höheren Bestimmung. Der Mensch, im Unterschied zum Tier mit einem freien Willen begabt, missbraucht seine Freiheit und setzt damit den Ursprung des Übels in der Welt. Weil aber das Ganze gut ist-- der Leibniz‘sche Optimismus durchzieht das gesamte Denken Rousseaus und wird auf keiner seiner Stufen preisgegeben--, kann der Freiheitsmissbrauch durch den Menschen die allgemeine Ordnung nicht stören. Die Thesen vom Optimismus und von der Unverrückbarkeit einer ein für alle Mal vorgegebenen Ordnung sind mit der Idee einer ›Erbsünde‹ unvereinbar. Die Frage nach einer potentiellen totalen Korrumpierung des Menschen wird daher abschlägig beschieden. Seiner Gattungsnatur nach ist der Mensch nicht in einem solchen Maße geschwächt und entstellt, dass ein Fortschritt zum Besseren nicht mehr möglich wäre. Andererseits bleibt die Korrumpierung dennoch so groß, dass Vorstellungen von einer politisch-ethischen Besserung der Sozialität nicht als Garantien einer realen Besserung angesehen werden dürfen. Tieferliegende Verankerungen sind notwendig. Rousseau versucht sie im Kontext seines ›metaphysischen Optimismus‹ zu entwickeln. Der Denkrahmen dieses Optimismus ist ein Deismus, der sich in mehrfacher Hinsicht vom jüdisch-christlichen Schöpfer- und Erlösergott unterscheidet. Dieser ›Gott ohne Offenbarung‹ wird zu einem Garanten der Güte des Ganzen, der Unsterblichkeit der Seele und der Freiheit des menschlichen Willens, die diesen über das Tier erheben. In diesem Begriff Gottes ist seine ›Entlastung‹ folglich immer schon mitgesetzt. Der Glaube an Gott schließt, wie Rousseau gegen Voltaire argumentiert, die ganze Theodizee ein, denn wenn Gott existiert, muss all das von ihm ausgesagt werden können, was die überlieferten Attribute Gottes enthalten, einschließlich ihrer Widerspruchsfreiheit. Als ›Übel‹ kann entsprechend nur das malum morale bezeichnet werden, eine Konsequenz, die allerdings erheblich mit dem Fundamentalsatz Rousseaus kollidiert, nach dem der Mensch von Natur aus gut ist. Diese Widersprüche führen auf das Feld der Anthropologie, so etwa, wenn Rousseau von der »Hölle im Herzen der Bösen« (durchaus als innerweltliche Vergeltung gedacht) oder von jenem »seligen Gefühl der Existenz« spricht, durch das dem Menschen die Möglichkeit zuwächst, Gott erfahren und erleben zu können. Rousseaus Überlegungen stehen sicherlich außerhalb des Kontextes einer jeden möglichen Theodizee, wenn man eine solche streng an den von Leibniz aufgestellten Prämissen misst. Gleichwohl wurden die Überlegungen Rousseaus-- auch dies ein Beispiel für die zunehmende Unschärfe von Begriff und Sache der Theodizee-- immer wieder als Beispiel einer gelungenen Entlastungstrategie zitiert. E. Cassirer 20 und in seiner Nachfolge J. Starobinski 21 haben die These vertreten, von den Postulaten Rousseaus her lasse sich das Problem der Theodizee lösen, ohne den Ursprung des Bösen entweder Gott oder dem Menschen, der aus freien Stücken gesündigt habe, anzulasten. Wäre dies so, dann müsste man in Rousseau jenes Genie vermuten, dem als einzigem die ›Quadratur des Kreises‹, nämlich die Lösung der Theodizeefrage, gelungen wäre. Umgekehrt beziehen sich auf das, was gemeinhin »jüdisch-christliches Erbsündendenken« genannt wird, philosophische Entwürfe-- etwa Schopenhauer und in seinem Gefolge Max Horkheimer 22 - -, die einen pessimistischen Blick auf den Menschen und seine Geschichte werfen, auch wenn sich dies alles nicht dem Topos von dem »Jüdisch-Christlichen« zuordnen lässt. Das Judentum hat das in Gen 2 Berichtete niemals im Sinne eines biologisch vermittelten Verhängniszusammenhangs interpretiert. Auch das orientalische Christentum kennt keine Erbsündenlehre. Sie ist als »Erbe Augustins« eine Last, die das westliche Christentum bis in seine Säkularisierungen hinein begleitet und zu verschiedenen Zeiten je entsprechende Reaktionen erzwang. Neben den angesprochenen philosophischentmythologisierenden Versuchen einer Entschärfung war der Streit um die Erbsünde auch ein bevorzugtes Feld, Motive der abendländischen Kirchenspaltung zu Beginn der Neuzeit zu artikulieren. In betonter Weise und an prominenter Stelle hält sich beispielsweise die Confessio Augustana an die augustinische Vorstellung, »dass nach Adams Fall alle Menschen […] in Sünden empfangen und geboren werden«. 23 Sie geht jedoch nicht der Frage nach, wie denn im Einzelnen der Zusammenhang zwischen der Ursünde Adams und unserer ›ererbten‹ Sünde zu denken sei; sie verzichtet ebenso darauf, eine biologistische Sicht der ›imputatio‹ (der Zurechnung der Schuld Adams an seine Kinder) zu entwickeln oder die Begierde, von der Augustinus spricht, primär sexuell zu interpretieren. Die auf dem Konzil von Trient entworfene katholische Gegenposition bleibt bei der Begierde (Konkupiszenz) als dem zentralen Terminus der Erbsündenlehre stehen, was auch damit zu tun hatte, dass man die reformatorische Sicht der Konkupiszenz missverstand; man wertete sie moralisch und bezog sie auf die sündhaften Einzelakte, während sie-- beispielsweise bei Luther-- als Aussage über eine in sich verkehrte Daseinshaltung der Menschen insgesamt zu verstehen ist. Legt man diese Lesart Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 35 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 35 Carl-Friedrich Geyer Erbsünde wie auch den Entwurf des Tridentinums zugrunde, der in der Konkupiszenz weniger die Sünde als die Strafe, die sowohl Demut wie Kampf bewirken soll, sieht, dann sind beide Perspektiven von sich aus bereits Entschärfungen der ursprünglichen Erbsündenlehre; die ›verteufelte‹ Begierde erscheint bereits fast als natürliche Lebensäußerung-- freilich theologisch reflektiert. Der Bezug zu Augustin besteht jetzt nur noch darin, dass hier wie in den genannten Dokumenten das »Sünder-Sein« die Brücke ist, die Institution, die jeweilige Gestalt von Kirche also, zu legitimieren. 24 Ungeachtet der jeweiligen Terminologie hinsichtlich des gemeinten Sachverhalts kann also nur in einem analogen Sinne von »Sünde« gesprochen werden. Fünfhundert Jahre nach dieser letzten theologischen Kontroverse um die sog. »Erbsünde« und im Blick auf gegenwärtige interkonfessionelle theologische Überlegungen zur Taufe und zur Sakramententheologie darf man konstatieren, dass Begriff und Sache der »Erbsünde«-- gerade im ursprünglichen Sinne als »peccatum originale«-- die Philosophen 25 viel mehr umtreiben als die Theologen-- ganz zu schweigen vom Alltagsbewusstsein des potentiell »religiösen Analphabeten« am Beginn des dritten Jahrtausends. Anmerkungen 1 K. Flasch, Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 3 2003, 201. 2 Ad Simplicianum I,2,16. Vgl.: E.F. Brown, The first evil must be incomprehensible. A critique of Augustin, in: JAAR 46 (1978) 315 ff. 3 Vgl.: K. Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart 1950. 4 H. Häring, Die Macht des Bösen. Das Erbe Augustins, Einsiedeln 1979, 209. 5 Jansenius folgerte daraus, Christus könne unmöglich für alle Menschen gestorben sein. Das »decretum horribile« bezeichnet den fürchterlichen Ratschluss Gottes, ohne Rücksicht auf Verdienst oder Nichtverdienst die große Mehrzahl der Menschen zu verdammen. 6 Flasch, a. a. O., 195 f. 7 H. Jonas, Augustin und das paulinische Freiheitsproblem, Göttingen 3 1965. 8 H. Jonas, Augustin, 89 (oben Anm. 7). 9 Ebd. 10 P. Ricoeur, Die Erbsünde-- Eine Bedeutungsanalyse, in: C. Andresen (Hg.), Zum Augustin-Gespräch der Gegenwart, Darmstadt 1981, 329-351, 348 f. 11 Ebd., 351. 12 Ebd. 13 K. Rahner, Theologisches zum Monogenismus, in: Ders., Schriften zur Theologie I, Einsiedeln 1954, 253-322, 306 f. 14 J. Ebach, Ursprung und Ziel, Neukirchen-Vluyn 1986, 119 f. 15 R. Spaemann, Transformation des Sündenfallmythos, in: W.Oelmüller (Hg.), Worüber man nicht schweigen kann, München 1992, 14-24. 16 J. Ratzinger, Auf Christus schauen. Einübung in Glaube, Hoffnung und Liebe, Freiburg i. Br. 1989, 75. 17 J. Ruffié, Leben und Sterben. Zur Evolution von Sexualität und Tod, Reinbek bei Hamburg 1990, 352. 18 Ebd., 165. 19 P. de Rosa, Der Jesus-Mythos. Über die Krise des christlichen Glaubens, München 1991, 164. 20 Vgl. E. Cassirer, Das Problem Jean-Jacques Rousseau, Darmstadt 1970. 21 J. Starobinski, Rousseau. Eine Welt von Widersprüchen, München/ Wien 1968, 36 ff. Karl Barth sieht das Neue der Sicht Roussaeus darin, »dass er mit der längst von allen Seiten angefochtenen Lehre von der Erbsünde und mit der ebenfalls längst bedrohten Auffassung von der Offenbarung als einem von der immanenten Entwicklung der Menschheit verschiedenen Geschehen gänzlich gebrochen und beides: die Sünde und die Gnade als relative Bewegungen innerhalb der menschlichen Wirklichkeit verstanden hat, Bewegungen, in denen der Mensch von Natur aus gut und der in dieser natürlichen Güte verharrende Mensch seiner Freiheit sicher bleibt. […] Von Rousseau und erst von Rousseau ab gibt es im Vollsinn des Begriffs das, was man theologischen Rationalismus nennt: eine Theologie, der das Christliche identisch ist mit dem wahrhaft Humanen.« (Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte, Zürich 1981, 206 f.). 22 Entsprechend antwortet Horkheimer in dem Interview mit H. Gumnior aus dem Jahre 1970 [Max Horkheimer, Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Ein Interview mit Kommentar von Helmut Gumnior, Hamburg 1970, 64]: »Frage: Glauben Sie nicht, dass die Lehre von der Trinität, von den drei Personen in einem Gott, eher der Versuch war, den jüdischen Monotheismus mit der Vorstellung zu verbinden, dass Christus Gottes Sohn war? Das war für das Christentum sehr wichtig, denn Christus als Sohn Gottes lieferte den Beweis, dass das Gute in diese Welt von Gott kommen muss? H. Ich würde sagen, die Trinitätslehre war auch der Versuch, Christus als Sohn Gottes in den strengen jüdischen Monotheismus einzubeziehen. Doch ich möchte auf Ihre zweite Bemerkung näher eingehen. Sie sagten, das Gute muss von Gott kommen. Dem kann ich- - und zwar orthodox-christlich wie orthodox-jüdisch-- entgegenhalten, dass das Gute nicht bloß von Gott kommt. Denn Christen wie Juden glauben daran, dass Gott den Menschen nach seinem Ebenbilde geschaffen und der Mensch deshalb einen freien Willen hat. Wenn der Mensch das Gute tut, tut er es aus freiem Willen, genauso wie er aus freiem Willen das Schlechte tut, das ja auch nicht von Gott kommt. Die großartigste Lehre in beiden Religionen, der jüdischen wie der christlichen, ist-- ich berufe mich hier auf ein Wort Schopenhauers-- die Lehre von der Erbsünde. Sie hat die bisherige Geschichte bestimmt und bestimmt heute für den Denkenden die Welt. Möglich ist sie nur Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 36 - 2. Korrektur 36 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema unter der Voraussetzung, dass Gott den Menschen mit einem freien Willen geschaffen hat. Das Erste, was der Mensch tat, war, im Paradies diese große Sünde zu begehen, aufgrund deren die ganze Geschichte der Menschheit eigentlich theologisch zu erklären ist. Frage: Teilen Sie diese Ansicht Schopenhauers? H. Ich bin auch in diesem Punkt ein Anhänger Schopenhauers. Auch ich glaube, dass die Lehre von der Erbsünde eine der bedeutendsten Theorien in der Religion ist. Die Religion hatte doch eine gesellschaftliche Funktion, die sie heute verloren hat. Sie sagte nämlich: Wenn Du das Gute tust im Sinne der Religion, dann wirst Du belohnt werden, Deine Seele wird in die Seligkeit eingehen; wenn Du das Schlechte tust, wenn Du sündigst, wirst Du bestraft werden, dann wartet die Hölle auf Dich. Das hat Schopenhauer natürlich geleugnet, aber er hat etwas Ähnliches gesagt. Für ihn wird derjenige, der das Schlechte tut, der mit seinem Willen zum Leben den Willen der anderen Individuen negiert, der sein Glück auf Kosten des Glücks der anderen sucht, wiedergeboren in irgendeiner Weise, ohne dass er um sein vorheriges Leben weiß. Er muss all die Leiden selber durchmachen, bis ihm wie einem wahren und echten Märtyrer, das Leid der anderen so nahe ist wie sein eigenes Leid, bis er Mitleid und Mitfreude empfinden kann. Jetzt können Sie auch verstehen, warum Schopenhauer die Erbsünde eine so großartige Lehre nannte. Die Bejahung des eigenen Selbst, die Negation der anderen Individuen ist für Schopenhauer eigentlich die Erbsünde.« 23 CA II. 24 In diesem Sinne heißt es weiter in der Confessio Augustana (ebd.), »dass auch dieselbe angeborene Seuche und Erbsünde wahrhaftig Sünde sei und verdamme alle unter Gottes Zorn, so nicht durch die Taufe und den Heiligen Geist wiederum neu geboren werden. 25 Vgl. dazu: S. Biebl/ C. Pornschlegel (Hgg.): Paulus-Lektüren, München 2013. N EUERSCHEI N UN G AU GU ST 2013 I ngri d Fi scher Die Tagzeitenliturgie an den drei Tagen vor Ostern Pi etas Liturgi ca Stu di a, Band 22 2013, VI I , 423 Seiten, €[D] 68, 00/ SFr 87, 60 I SBN 978-3-7720-8493-5 Fei er - Theol ogi e - Spi ritu al ität A. Francke Verlag • Di schi ngerweg 5 • D-72070 Tübi ngen • Tel . +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 • www. francke. de Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 37 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 37 Die Frage Begriffe wie »Sünde« und »Tugend« sind aus der heutigen Reflexion über das menschliche Leben fast ganz verschwunden. Man kann fragen: Gehört »Sünde« nicht einer spezifisch »religiösen« Gedankenwelt an, die fast ausgestorben ist? Und entstammt nicht »Tugend« einer »bürgerlichen« Gedankenwelt des 19. Jahrhunderts, die im Laufe des 20. Jahrhunderts glücklicherweise überwunden wurde, zumal »Tugend« in spezifischer Weise mit sexueller Reinheit assoziiert wurde? Geben wir also diese Begriffe auf und denken besser ohne sie über die ethischen Aspekte des menschlichen Lebens nach! Das wäre eine mögliche Reaktion. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, die Begriffe zu hinterfragen, um herauszufinden, worum es eigentlich den Leuten ging, die sie verwendeten. Diesen Weg möchte ich in meinem Aufsatz beschreiten und die Bedeutung der beiden Begriffe in der Antike erheben. Dort spielten sie nämlich nicht nur eine zentrale Rolle, sie sind auch in der griechisch-römischen Antike überhaupt gebildet worden. Wenn wir hier aus dem Neuen Testament Paulus und dazu einige wichtige Köpfe der griechischrömischen Philosophie aufgreifen-- darunter Aristoteles und die Stoiker-- dann ist zu zeigen, worum es ihnen über die Verwendung der Begriffe hinaus in der Sache ging. Was die Begriffsverwendung betrifft, so ist die Situation geradezu paradox: Bei Paulus ist der Begriff »Sünde« fast überall zu finden, der Begriff »Tugend« aber nicht. Und doch stößt man auf letzteren Begriff an einigen Stellen, sowohl terminologisch als auch der Sache nach, so zum Beispiel in der Rede von der »Frucht des Geistes« in dem Text aus dem Galaterbrief, mit dem wir uns näher befassen wollen. 1 Bei Aristoteles und den Stoikern ist der Begriff »Tugend« fast überall zu finden, der Begriff »Sünde« aber nicht. Und doch findet man auch hier den zweiten Begriff an einigen Stellen, sowohl wörtlich (oft als »Fehler« übersetzt) als auch der Sache nach. 2 Diese Tatsache deutet darauf hin, dass es keinen radikalen Gegensatz zwischen dem christlichen und dem nicht-christlichen, philosophischen Denken auf diesem Felde gibt. Im Gegenteil kann man, wie wir sehen werden, Grundzüge des philosophischen Denkens mit einbeziehen, um zu zeigen, worum es Paulus auf diesem ganzen Feld des christlichen Lebens im Lichte des Christus-Ereignisses ging, jenseits der für uns recht problematischen Begriffe. Wenn es gelingt, in dieser Weise hinter die Begriffe zurückzufragen, kann man dann aber auch schon sicher sein, dass man auf Gedankengut stößt, das ohne weiteres in modernes Denken übernommen werden kann? Gewiss nicht. Es mag sehr wohl sein, dass das alte Gedankengut uns nicht mehr zugänglich ist, dass es so veraltet ist, dass es zwar zur antiken Kultur passte, aber eben nicht unbesehen in der Moderne rezipierbar ist. Das ist in der Tat teilweise der Fall. Dann müssen wir auch bereit sein, beiseite zu lassen, was nicht mehr zugänglich ist, und einzugestehen, dass es einige-- mehr oder wenig zentrale-- Ideen sowohl bei Paulus wie auch bei den antiken Philosophen gibt, die wir ganz einfach nicht übernehmen können. Dennoch scheint es mir mehr als der Mühe wert, diesem ganzen Begriffsfeld bei Paulus und den Philosophen nachzugehen. Es ging ihnen nämlich um zwei Fragen, die auch uns Heutige intensiv beschäftigen. Erstens: Was ist ethisch gut und schlecht (wobei das ethisch Schlechte bei Paulus unter den Begriff der »Sünde« fällt)? Und zweitens: Wie bringt man Leute (zum Beispiel Kinder), die zunächst das Gute nur unter (»gesetzlichem«, d. h. psychischem und eventuell auch physischem) Zwang tun, dazu, aus eigenem, freien Willen das Gute-- und nur das Gute-- zu tun? Kurz gesagt: Wie bringt man die Leute zur »Tugend«? Obwohl uns die Antworten der alten Texte auf beide Fragen nicht in jeder Hinsicht befriedigen können, ist doch nicht zu übersehen, dass beide Fragen und auch Teile der Antworten uns direkt angehen. Im Folgenden werde ich einen Text aus dem Galaterbrief des Paulus aus verschiedenen Perspektiven analysieren. Zuerst werden wir unter inhaltlichem Gesichtspunkt den Charakter der »Sünde« bestimmen. Dann werden wir in mehr formaler, moralpsychologischer Hinsicht die Frage beantworten, wie man Paulus zufolge von der »Sünde« zur »Tugend« (bzw. in paulinischer Formulierung: zur »Frucht des Geistes«) hinübergelangen kann. Unterwegs werden wir von Zeit zu Zeit überlegen, was wir selbst aus diesem Gedankengut übernehmen können, und was wir beiseite lassen müssen. 3 Troels Engberg-Pedersen Von der »Sünde« zur »Tugend«: Worum geht es eigentlich bei Paulus? Zum Thema Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 38 - 2. Korrektur 38 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema Galater 5,13-26 Der Text lautet wie folgt: 4 13 Ihr seid ja zur Freiheit berufen, Brüder; nur macht die Freiheit nicht zu einem Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander durch die Liebe. 14 Denn das ganze Gesetz wird in einem Wort erfüllt, in dem: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst«. 15 Wenn ihr aber einander beißt und fresst, so habt Acht, dass ihr nicht voneinander aufgezehrt werdet! 16 Was ich meine: 5 Wandelt im Geist, so werdet ihr die Lust des Fleisches nicht vollbringen. 17 Denn das Fleisch begehrt gegen den Geist und der Geist gegen das Fleisch; und diese widerstreben einander, damit ihr nicht das tut, was ihr wollt. 6 18 Wenn ihr aber vom Geist geleitet werdet, so seid ihr nicht unter dem Gesetz. 19 Offenbar sind ja die Werke des Fleisches, welche sind: Unzucht (porneia), Unreinheit (akatharsia), Zügellosigkeit (aselgeia), 20 Götzendienst (eidōlolatria), Zauberei (pharmakeia), Feindschaften (echthrai), Streit (eris), Eifersucht, Fälle des Zorns, der Selbstsucht, der Zwietracht, Parteiungen, 21 Fälle des Neides, der Trunkenheit (methai), Gelagen und dergleichen, 7 wovon ich euch voraussage, wie ich schon zuvor gesagt habe, dass die, welche solche Dinge tun, das Reich Gottes nicht erben werden. 22 Die Frucht des Geistes aber ist Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freundlichkeit, Güte, Treue, 23 Sanftmut, Selbstbeherrschung. Über solche Dinge ist das Gesetz nicht. 8 24 Die aber Christus angehören, die haben das Fleisch gekreuzigt zusammen mit den Leidenschaften und Begierden. 25 Wenn wir im Geist leben, so lasst uns auch im Geist wandeln. 26 Lasst uns nicht nach leerem Ruhm streben, einander nicht herausfordern noch einander beneiden! Der inhaltliche Charakter der »Sünde« In den Versen 19-21 des zitierten Textes zählt Paulus eine Reihe von Phänomenen auf, die er »Werke des Fleisches« nennt. Man hat hier traditionell von einem »Lasterkatalog« gesprochen. In der Tat sind die »Werke des Fleisches« sämtlich Formen dessen, was Paulus unter »Sünde« versteht, obwohl er das Wort »Sünde« hier nicht verwendet. Doch müssen wir schon hier feststellen, dass die genannten Phänomene in Wirklichkeit keine »Laster« sind, sondern eher lasterhafte-- und das heißt, sündhafte-- Handlungs-Typen. Die später genannten Beispiele von der »Frucht des Geistes« dagegen-- wie zum Beispiel die Liebe- - sind im präzisen Wortsinn »Tugenden«, also moralpsychologisch betrachtet mentale »Haltungen«, obwohl auch sie von Paulus nicht so genannt sind. Dieser Unterschied zwischen Handlungs- Typen und mentalen Haltungen wird uns später beschäftigen. Hier geht es vielmehr darum, ob wir einen Gesamt-Charakter der lasterhaften Handlungs-Typen feststellen können. Nun können wir tatsächlich unschwer drei fundamental verschiedene Typen isolieren. Erstens gibt es einige Handlungs-Typen-- wie porneia, akatharsia, aselgeia, methai und dergleichen--, die alle spezifisch auf den eigenen Leib gerichtet sind. Zweitens gibt es mehrere Handlungs-Typen-- wie echthrai, eris und dergleichen--, die alle spezifisch gegen andere und an das Selbst gerichtet sind. Drittens gibt es einige wenige Handlungs- Typen-- wie eidōlolatria und pharmakeia--, die gegen Gott gerichtet sind oder vielleicht besser: ein eigenes Interesse in religiösen Belangen reflektieren. Können wir das alles auf einen einzigen Nenner bringen? Hier dürfen wir uns von unseren Philosophen helfen lassen. Die Stoiker hatten eine Theorie entwickelt, die alle menschlichen Handlungen, auch die von neuge- Prof. Dr. Troels Engberg-Pedersen, geboren 1948, Ordinarius für Neues Testament an der Universität Kopenhagen, Dänemark. Engberg-Pedersen hat (ganz ungewöhnlich im dänischen Kontext) zwei Doktorarbeiten vorgelegt: Die erste Arbeit über die Ethik des Aristoteles wurde 1983 eingereicht; die zweite Arbeit über den Zusammenhang von Stoizismus und dem Apostel Paulus erschien 2000. Sein letztes Buch, über Cosmology and Self in the Apostle Paul: The Material Spirit, erschien in 2010 bei Oxford University Press. Gegenwärtig arbeitet er zum Johannesevangelium und plant ein Buch unter dem Titel John and Philosophy, das innerhalb der nächsten beiden Jahre erscheinen soll. 2001 erschien ein von ihm herausgegebener Sammelband, der die grundlegende Hypothese von Engberg-Pedersens Arbeiten zum Neuen Testament im Titel führt: Paul Beyond the Judaism/ Hellenism Divide. Troels Engberg-Pedersen Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 39 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 39 Troels Engberg-Pedersen Von der »Sünde« zur »Tugend«: Worum geht es eigentlich bei Paulus? borenen Kindern, auf zwei Grund-Phänomene zurückführte, die beide mit der Leiblichkeit des Menschen zusammenhängen. 9 Erstens gab es eine rudimentäre Art von »Selbstbewusstsein« (bei Cicero sensus sui genannt), das mit einer genauso rudimentären Art von »Selbstliebe« (bei Cicero: diligere se) zusammenhängt. Zweitens gab es eine rudimentäre Art des Bewusstseins von der körperlichen »Struktur« (bei Cicero: constitutio) des Selbst. Auf dieser Basis möchten die Stoiker dann alle menschlichen Handlungen erklären, nämlich als Versuche die körperliche »Selbststruktur« des Lebewesens zu bewahren, indem man entweder alles zu dieser Struktur Gehörige herbeischafft oder aber alles zur Struktur Ungehörige fortschafft. Aus dieser Grundstruktur allen Handelns entwickelt sich dann-- leider allzu oft-- bei heranwachsenden Menschen eine innerlich zusammenhängende Art des Handelns, die entweder auf die Körperlichkeit des Handelnden gerichtet ist oder aber auf das Selbst. Mit Rudolf Bultmann kann man diese beiden Handlungs-Typen als auf »Sinnlichkeit und Selbstsucht« gerichtet verstehen, 10 aber der stoischen Theorie entsprechend können die beiden Handlungs-Typen auf ein einziges Phänomen zurückgeführt werden: auf die Körperlichkeit des Menschen mit seinem rudimentären Selbstbewusstsein und dem Bewusstsein der körperlichen Struktur des Selbst. Auf Grund dieser Theorie schlage ich vor, dass man die beiden nicht-»religiösen« lasterhaften Handlungs- Typen, die Paulus als »Werke des Fleisches« kategorisiert, auf die Körperlichkeit des Menschen, d. h. auf das »Fleisch« als solches, zurückführen kann. Wenn diese Körperlichkeit, die wie gesagt ein rudimentäres Selbstbewusstsein beinhaltet, im Zentrum des menschlichen Bewusstseins steht, dann besteht das Resultat in lasterhaften Handlungs-Typen der Art, die Paulus in seinem Katalog aufzählt. Kann man aber auch die von Paulus genannten, in spezifisch »religiösem« Sinne lasterhaften Handlungs- Typen im selben Zusammenhang verstehen? Hier scheint die paulinische Antwort die zu sein, dass der Blick auf das eigene Selbst und den eigenen Körper ebenso auch hinter den von ihm genannten schlechten »religiösen» Beziehungen liegt. In »Götzendienst« und »Magie« geht es der handelnden Person-- so Paulus-- gerade nicht um die Orientierung »nach außen«, das heißt, weg vom Selbst, um die es in der richtigen Orientierung an (dem jüdischen) Gott geht. Im Gegenteil wird er sowohl »Götzendienst« als auch »Magie« als auf das eigene Selbst hin orientiert verstanden haben. Dass es sich so verhält, wird er später in aller Klarheit im Römerbrief (siehe 1,18-32) ausarbeiten. Hier dürfen wir auf Grund des Gesagten feststellen, dass Paulus alle »Werke des [sündhaften] Fleisches« auf eine einzige Wurzel zurückzuführen beabsichtigt hat: auf das »Fleisch« selbst und damit auf den menschlichen Körper mit dem damit zusammenhängenden elementaren Selbstbewusstsein. Paulus über Körper und Selbst im Vergleich mit den Stoikern Worum aber ging es Paulus eigentlich mit dieser Zurückführung der »Sünde« auf das körperliche Selbst? Anhand der stoischen Theorie erschließt sich präzise, wie das körperliche Selbst als Wurzel aller Handlungen aufgefasst werden kann. Aber heißt das auch, dass alles menschliche Handeln notwendigerweise sündhaft ist, weil es im körperlichen Selbst wurzelt? Zum Beispiel können wir durchaus verstehen, warum alle von Paulus in unserem Text aufgezählten Handlungs-Typen, die gegen andere gerichtet sind, als sündhaft angesehen werden können, nämlich die Typen, die aus »Selbstsucht« entspringen. Diesen Handlungs-Typen wird ja gerade eine Liste guter, nämlich auf andere gerichteter Haltungen in den Versen 5,22-23 gegenüberstellt, die mit Liebe beginnt. Aber sind nicht auch diese guten Haltungen im körperlichen Selbst verankert, zumindest wenn sie in Handlungen Ausdruck finden, so dass man nicht sagen kann, dass das körperliche Selbst an sich und notwendigerweise sündhaft sei? Dieselbe Frage könnte man dann auch für die Handlungs-Typen stellen, die aus »Sinnlichkeit« entspringen. Sind alle Handlungen, die auf den eigenen Körper gerichtet sind, an sich und notwendigerweise sündhaft? Gibt es nicht auf den eigenen Körper gerichtete Handlungen, die an sich gut sind und so in derselben Relation zu den lasterhaften, Körper-orientierten Handlungen stehen, wie zum Beispiel die Liebe zur eris (»Streit«)? Hier müssen wir einen wichtigen Unterschied zwischen Paulus und unseren philosophischen Gewährsmännern, den Stoikern, feststellen, der uns zugleich am Ende unausweichlich vor die Frage stellt, ob wir den ganzen Weg mit Paulus zu gehen bereit sind. In der stoischen Theorie von der Wurzel allen Handelns liegt beschlossen, dass die grundlegende Körper- und Selbstbezogenheit des Menschen in allen Fällen besteht, so lange der Mensch am Leben ist. Dennoch kann diese Körper- und Selbstbezogenheit zwei gegensätzliche Formen annehmen, die beide als Entwicklungen (eine schlechte und eine gute Entwicklung) der permanenten Handlungswurzel zu verstehen sind. Bei der schlechten Entwicklung wird die ursprüngliche Körper- und Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 40 - 2. Korrektur 40 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema Selbstbezogenheit zur allgemeinen Norm des Menschen, so dass die herangewachsene Person grundsätzlich alle ihre Handlungen auf den eigenen Körper oder das eigene Selbst zu beziehen wünscht. Bei der guten Entwicklung dagegen geschieht eine Art von »Sprung«, der damit zusammenhängt, dass die Person jetzt ihre eigene »Struktur« (die das Selbst ist) ganz anders sieht als zuvor. Wo die schlechte Person ihre eigene Struktur als identisch mit der des körperlichen Selbst ansieht, sieht die gute Person ihre »Struktur« als die eines rationalen Selbst, das die Person mit allen anderen rationalen Wesen verbindet. Diese ganz neue Sicht und dieses Selbstverständnis, das wie gesagt auf eine »sprunghafte« Weise erreicht wird (in Form einer plötzlichen Einsicht), bedeutet dann, dass die »neue« Person grundsätzlich »altruistisch« handelt, das heißt: Handlungen tut, die ebenso auf andere wie auf das eigene rationale Selbst gerichtet sind. Dennoch bleibt natürlich die grundsätzliche Körper- und Selbstbezogenheit bestehen, und das ist auch der Grund, warum die »neue« Person mit Bezug auf andere überhaupt handeln kann. Bei den Stoikern besteht also eine grundsätzliche Körper- und Selbstbezogenheit, die an sich als »neutral« anzusehen ist. Sie wird aber in zwei entgegengesetzte Richtungen entwickelt, von denen die erste eine nur »potenzierte«, aber qualitativ identische, die zweite aber eine qualitativ ganz verschiedene Version der ursprünglichen ist. Dieser Unterschied und zugleich die Tatsache, dass die grundsätzliche Körper- und Selbstbezogenheit überall bestehen bleibt, zeigt sich dann in zwei Begriffsfeldern, die die Beziehungen der »guten« und der »schlechten« Person zu den basalen körper- und selbstbezogenen »Gütern« artikulieren. Die »gute« Person bezieht sich grundsätzlich nur auf das eigentlich Gute, das sie mit allen rationalen Personen teilt, und das in einem Leben »gemäß der Natur«, und das heißt: gemäß der Wirklichkeit von Welt und Mensch, besteht. Im Verhältnis zu diesem einzigen Guten sind alle »Güter«, die die »neue« Person früher als direkt gut ansah, und die aus der ursprünglichen, natürlichen Körper- und Selbstbezogenheit entsprangen, nur »gleichgültig« oder »indifferent« (adiaphora). Ob die »neue« Person zum Beispiel die für den Körper notwendige Nahrung bekommt oder nicht, ist an sich »gleichgültig« für die Person selbst, wenn die Situation der ganzen Lage der Natur entspricht, der die »neue« Person ausschließlich zu folgen wünscht. Dennoch gilt auch, und zwar als Teil der ausschließlichen Beziehung zum einzigen Guten, dass die adiaphora einen jeweils relativ positiven und einen relativ negativen Wert für die »neue« Person besitzen. Sie sind, wie die Stoiker sagten, entweder proēgmena (»zu bevorzugen«) oder apoproēgmena (»zurückzusetzen«). Das ist zum Beispiel der Grund, warum die stoische »neue« Person (der stoische »Weise«) heiraten, Kinder zeugen und eine Familie gründen wird usw. Hier ist die natürliche Beziehung zum eigenen Körper also bewahrt- - obwohl immer nur als Teil der alles übergreifenden Beziehung zum Guten. Ganz anders im Falle der schlechten Person, bei der die ursprüngliche Körper- und Selbstbezogenheit alles bestimmt. Hier gerät die ursprüngliche Körper- und Selbstbezogenheit, die an sich, wie wir sahen, »neutral« ist, außer Kontrolle. In der technischen Sprache der Stoiker wird sie zur »Passion« (pathos). Was ursprünglich da war, und was relativ wertvoll bleibt, wenn es unter der Kontrolle der Einsicht in das einzige Gute steht, gerät jetzt außer Kontrolle und wird damit zu einer »Passion«, die an sich schlecht ist. Deshalb gilt es, diese emotionalen Reaktionen, die genau in die von Paulus aufgezählten, lasterhaften Handlungs-Typen ausmünden, ganz außer Kraft zu setzen. Das ist die berühmte stoische Theorie von der apatheia, das »Ohne-Passionen-sein«. Dennoch gilt wie gesagt, dass es auch innerhalb der apatheia des Weisen legitime Beziehungen zur ursprünglichen Körper- und Selbstbezogenheit gibt. Wie ist nun dies alles für Paulus relevant? In Gal 5,24 sagt er ja, dass die zu Christus Gehörigen »das Fleisch zusammen mit den Passionen und Begierden gekreuzigt haben«. Das könnte man nun ganz analog der stoischen Theorie verstehen. Dann würde Paulus hier prägnant nur über die spezifisch schlechte Entwicklung der ursprünglichen Körper- und Selbstbezogenheit sprechen, und zwar genau über die (stoisch verstandenen) »Passionen«, von der die »Begierde« (epithymia) die prominenteste war. Diese Rechnung geht aber leider nicht auf. Im Unterschied zur stoischen Theorie, die, wie wir gesehen haben, immerhin einen Platz für den menschlichen Körper vorsieht, geht es Paulus nicht nur darum, die »Passionen« und »Begierden«, d. h. das Übermaß an Körper- und Selbstbezogenheit, zu überwinden und außer Kraft zu setzen, sondern auch das Fleisch als Ganzes. Er spricht ja sowohl von dem Fleisch »zusammen mit« den »Passionen« und »Begierden«, im Sinne der »Passionen« und »Begierden«, die von dem Fleisch notwendigerweise erzeugt werden, als auch davon, dass die zu Christus Gehörigen das Fleisch ganz und gar »gekreuzigt« haben. Wir werden gleich mehrere Argumente dafür vorlegen, dass Paulus in der Tat so zu verstehen ist. Zuerst bedenken wir aber die Konsequenzen aus der paulinischen Auffassung: Nehmen wir also an, dass Pau- Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 41 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 41 Troels Engberg-Pedersen Von der »Sünde« zur »Tugend«: Worum geht es eigentlich bei Paulus? lus nicht nur die fehlerhaft gegen andere gerichteten Handlungs-Typen außer Kraft zu setzen wünschte, sondern auch alle Handlungs-Typen, die auf irgendwelche Weise gegen den eigenen Körper gerichtet waren. Dann sind alle diese Handlungs-Typen Paulus zufolge von vornherein Fälle von »Unzucht« usw. Das ist auch der Grund, warum es keine guten körper-orientierten Haltungen unter den in Gal 5,22-23 aufgezählten guten Haltungen gibt. Die einzige hier erwähnte Haltung, die direkt mit dem Körper zusammenhängt, ist die enkrateia, und sie bedeutet gerade »Selbstbeherrschung« im Sinne der »Enthaltsamkeit«, also das Nicht-Gebrauchen des Körpers. 11 Die andere Folge der hier vorgelegten Deutung ist, dass es-- stoisch betrachtet-- schwer zu erkennen ist, wie Paulus überhaupt jene Handlungen verstehen konnte, die aus den in Gal 5,22-23 aufgezählten guten Haltungen entspringen. Wenn das Fleisch mit seiner grundlegenden Körper- und Selbstbezogenheit ganz und gar »gekreuzigt« ist, wie kann eine Person dann überhaupt handeln? Allem Anschein nach hat Paulus, um Platz für eine Art von »radikalem Altruismus« zu schaffen, eine Position konstruiert, die als Ganzes jenseits der Möglichkeiten des notwendigerweise körper- und selbstbezogenen Menschen liegt. Eine so scharf pointierte Auffassung wäre aber kein Einzelfall. In Phil 2,3-4 ermahnt Paulus die Philipper, nichts zu tun »aus Selbstsucht (eritheia), auch nicht aus nichtigem Ehrgeiz (kenodoxia), sondern in Demut achte einer den anderen höher als sich selbst./ Jeder schaue nicht auf das Seine, sondern jeder genau auf das des anderen.« 12 Worum es Paulus hier geht, ist nicht eine Art von Gleichgewicht des Bezogenseins auf die anderen und auf sich selbst. Er denkt auch nicht im Modell des stoischen Weisen, dem es immerhin erlaubt war, »Güter« für sich selbst als etwas nur »zu bevorzugendes Gleichgültiges« zu verschaffen. Stattdessen ermahnt er hier die Philipper dazu, überhaupt keinen Bezug auf sich selbst zu pflegen, sondern nur auf die anderen. Natürlich ist hier voraussetzt, dass es irgendeine Art von »Selbstbewusstsein« bei dem so Handelnden gibt-- sonst wüsste die Person ja gar nicht, wer die »anderen« überhaupt sind. Aber die Ermahnung des Paulus läuft darauf hinaus, jeden Bezug auf das eigene Selbst aufzuheben. 13 Wie eine solche Person dann überhaupt handeln könnte, ist nicht ohne weiteres erkennbar. Sind wir aber berechtigt, bei Paulus eine derart radikale Distanz zum menschlichen Körper anzunehmen? Finden wir nicht auch bei ihm eine sehr viel positivere Haltung zu all den Handlungen, die der zu Christus Gehörige als Ausdruck seines Christseins vollzieht? Lesen wir zum Beispiel nicht einige wenige Verse vor unserem Text, dass das, worauf es bei dem Christen ankommt, nur eines ist: Glaube, der durch Liebe »tätig« ist (pistis di` agapēs energoumen), das heißt: ein Glaube, der sich in Handlungen erweist (5,6)? Gewiss. Dennoch bleibt auch hier die Frage, wie man eine solche »Tätigkeit« seitens einer Person verstehen soll, die das ganze Fleisch zusammen mit den »Passionen« und den »Begierden« gekreuzigt hat. Von einer solchen Person, nun durch Paulus selbst exemplifiziert, sagt er früher im selben Brief: »Ich bin mit Christus gekreuzigt; ich lebe nicht mehr, in mir lebt der Christus. In dem Maße, worin ich jetzt im Fleisch lebe, lebe ich im Glauben usw.« (2,19-20). Mit dem »ich« spricht Paulus hier nicht direkt vom Körper, sondern-- ganz analog der von den Stoikern ausgearbeiteten Körper- und Selbstorientierung-- von dem »Selbst«, das zum Körper gehört. Dieses Selbst ist tot, weil mit Christus gekreuzigt. Dann wird es aber auch schwierig zu verstehen, was solch ein Selbst denn tun kann, während es noch »im Fleische lebt«. Dieselbe Frage könnte man angesichts eines Verses (6,14) am Ende des Briefes stellen, der deutlich in den selben Zusammenhang gehört. Hier sagt Paulus, dass durch Christus (oder sein Kreuz) »mir die ganze Welt (kosmos) gekreuzigt ist und ich der Welt«. Paulus gehört also-- sehr überspitzt von ihm selbst formuliert-- überhaupt nicht länger zu »dieser Welt«. Bedenkt man außerdem, dass Christus in diese Welt gekommen ist, »um uns aus dieser schlechten Welt (aiōn) herauszureißen«, wie es am Anfang des Briefes heißt (1,4), dann versteht man sofort, dass es Paulus grundsätzlich um einen »apokalyptischen« Gegensatz zwischen »dieser Welt« geht, die in kosmologischer Hinsicht ganz von physischem Fleisch durchdrungen ist, und einer anderen Welt, die außerhalb der fleischlichen Welt zu finden ist. Es ist dann nicht verwunderlich, dass Paulus das Fleisch in seinen Adressaten ganz und gar außer Kraft setzen wollte, und zwar während sie (wie er selbst) noch »im Fleische« waren. Und doch: Muss man die »apokalyptischen« Äußerungen des Paulus unbedingt in einer solchen Weise verstehen, dass sie das außer-Kraft-Setzen des irdischen, leiblichen Körpers in der Zeit vor dem Ende mit ein- »Allem Anschein nach hat Paulus, um Platz für eine Art von ›radikalem Altruismus‹ zu schaffen, eine Position konstruiert, die als Ganzes jenseits der Möglichkeiten des notwendigerweise körper- und selbstbezogenen Menschen liegt. Eine so scharf pointierte Auffassung wäre aber kein Einzelfall.« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 42 - 2. Korrektur 42 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema schließen? Im zweiten Teil dieses Aufsatzes, zu dem wir jetzt übergehen, werden wir sehen, dass es einen weiteren Text gibt (nämlich im Römerbrief: Kap. 7), der eindeutig zeigt, dass der leibliche Körper als solcher notwendigerweise zur Sünde gehört, weil der Mensch, der im leiblichen Körper lebt, immer riskiert, sündhafte Handlungen zu begehen. Dafür steht der Körper. Wenn dem so ist, dann sind gewiss nicht alle Handlungen, die dem Körper entspringen, notwendigerweise auch sündhaft, aber das Risiko ist immer da, weshalb der Körper als solcher ganz und gar außer Kraft gesetzt werden muss. Erste Zusammenfassung Fassen wir kurz zusammen, was wir aus unserem Text aus dem Galaterbrief, der weiter im Zentrum unseres Interesses steht, bis jetzt für das Verständnis der Sünde bei Paulus gelernt haben. Und vergessen wir dabei nicht zu überlegen, was wir selbst aus dem paulinischen Gedankengut problemlos übernehmen können. Der erste Punkt war der, dass Paulus offensichtlich analog der stoischen Sicht eine einzige, gemeinsame Wurzel der verschiedenen in 5,19-21 aufgezählten sündhaften Handlungs-Typen gesehen hat, nämlich die Körper- und Selbstorientierung, die jedem leiblichen menschlichen Körper inhärent ist. Paulus hat diese theoretische Sicht nicht selbst entwickelt. Dennoch scheint sie am besten sowohl den Zusammenhang der aufgezählten Handlungs-Typen als auch den Zusammenhang mit den spezifisch »religiösen« Handlungs- Typen erklären zu können. Wenn wir uns dann fragen, ob wir diese Bestimmung einer einzigen Wurzel der aufgezählten Handlungs-Typen (wie auch immer wir sie sonst kategorisieren mögen) akzeptieren können, scheint es mir, dass wir diese Frage bejahen sollten. Hier ist sowohl Paulus als auch den Stoikern, die wir zur Erklärung herangezogen haben, uneingeschränkt zuzustimmen. Eine rudimentäre Körper- und Selbstorientierung scheint wirklich ein allgemeines Merkmal jedes mit einem leiblichen Körper begabten Menschen (und das heißt natürlich: aller Menschen) zu sein. Der zweite Punkt war der, dass wir zugleich auf einen wichtigen Unterschied zwischen Paulus und den Stoikern gestoßen sind: Paulus ist darauf aus, den ganzen leiblichen Körper hinter sich zu lassen auf dem Weg zum endlichen Ziel, das außerhalb dieser Welt zu finden ist. Die Stoiker dagegen lassen den leiblichen Körper an seinem Platz und sprechen von zwei entgegengesetzten Entwicklungsmöglichkeiten, die beide auf der ursprünglichen Körper- und Selbstorientierung basieren. Wenn wir uns hier fragen, ob uns die eine oder die andere Position zusagt (zumindest als Daseinsbestimmung der Menschen, während sie noch auf dieser Erde weilen), scheint es mir klar, dass wir der stoischen Position den Vorzug geben müssen. Denn wir wollen ja die Menschen so verstehen, wie sie sind, und das heißt hier: als Wesen, die notwendigerweise mit einem leiblichen Körper versehen sind. Die Konsequenz dieses Unterschieds verdient verdeutlicht zu werden. Während wir sowohl Paulus wie auch den Stoikern im Prinzip darin folgen können, dass die von Paulus aufgezählten gegen andere gerichteten Handlungs-Typen tatsächlich verfehlte und lasterhafte (oder auch »sündige«) Handlungs-Typen sind, müssen wir uns von Paulus scheiden, wenn er impliziert, dass alle Handlungs-Typen, die auf den eigenen Körper gerichtet sind, notwendigerweise auch verfehlt und sündig sind. Besser wird man mit den Stoikern einigen dieser Handlungs-Typen einen gewissen, wenn auch nur relativen, positiven Wert beimessen. Ja, man könnte geneigt sein, hier noch einen weiteren Schritt weg von Paulus (und jetzt auch weg von den Stoikern) zu gehen und zum Beispiel mit der Ethik des Aristoteles einigen auf den eigenen Körper gerichteten Handlungs-Typen einen nicht nur relativen, sondern absoluten Wert beizumessen (als Teile des Glücks, wie es Aristoteles verstand), so lange sie-- um mit Aristoteles zu sprechen-- »in der Mitte zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig« positioniert sind, was bedeutet: dass sie sich unter Kontrolle befinden. 14 Der dritte Punkt war endlich der, dass wir Schwierigkeiten hatten, zu verstehen, wie bei Paulus Handlungen als solche überhaupt möglich sein sollen, wenn der leibliche Körper in allen relevanten Hinsichten »tot« (nämlich »gekreuzigt«) war. Hier war klarzustellen, dass es einer ausführlicheren Argumentation bedarf, um glaubhaft zu machen, dass die von uns skizzierte Relation zum Körper, aus der diese Schwierigkeit folgt, wirklich die paulinische war. Der formale Charakter der »Sünde« Kehren wir zu unserem Grundtext zurück. Bevor Paulus hier die »Werke des Fleisches« aufzählt und diese der »Frucht des Geistes« gegenüberstellt, beschreibt er auch das Widerspiel der den beiden Paaren zugrundeliegenden Phänomene »Fleisch« und »Geist«. Dies geschieht in einer Weise, die ebenfalls aus der zeitgenössischen Philosophie erhellt werden kann, und die sich auf weite Strecken mit dieser deckt. Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 43 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 43 Troels Engberg-Pedersen Von der »Sünde« zur »Tugend«: Worum geht es eigentlich bei Paulus? Was Paulus hier sagt, ist zuerst, dass die Galater nach dem Geist wandeln müssen, weil sie dann die »Begierde des Fleisches« nicht vollziehen werden (5,16). Hier bekommen die Galater also eine Aufgabe, die, falls sie sie erfüllen, ein günstiges Ergebnis erzielen wird in Bezug auf »die Begierde des Fleisches«: Sie wird sicher nicht zum Ziel kommen. Danach begründet Paulus diese Behauptung mit der Aussage, dass Fleisch und Geist wider einander »begehren« und einander konfrontieren, »damit Ihr nicht das tut, was Ihr jeweils wollt« (5,17). Was Paulus hier beschreibt, ist das moralpsychologische Phänomen, das in der griechischen Philosophie seit Sokrates und (nicht zuletzt) Aristoteles intensiv studiert wurde: die Willensschwäche (akrasia), das heißt, dass eine Person etwas (A, zumeist »das Gute«) will, zugleich aber daran gehindert wird, A zu tun, weil sie auch etwas anderes (B, zumeist »das Schlechte«) begehrt. 15 Wie wird bei Paulus die Aussage von Vers 16 nun durch die von Vers 17 begründet? Das zeigt Vers 5,18, wo es heißt, dass die Galater, wenn sie vom Geist geführt werden, nicht länger unter dem Gesetz sind. Der Zusammenhang scheint der folgende zu sein: Geist und Fleisch liegen im Allgemeinen gegen einander im Krieg, um die Menschen zu hindern, das Gegenteil von dem, was sie selbst wollen, zu tun (so: 5,17). Dies würde eine ausweglose Situation erzeugen, wäre es nicht der Fall, dass eine der beiden Kräfte die stärkere ist: der Geist. Deshalb gilt, dass wenn die Galater die Ermahnung des Paulus befolgen und wirklich im Geist wandeln, dann werden sie sicherlich keine Begierde des Fleisches erfüllen, wie es Paulus zuerst gesagt hat (5,16). Aber woher kommt es, dass die Kraft des Geistes stärker ist als die des Fleisches, zumal die beiden einander als Gegensätze gegenüberstehen, wie Vers 17 es beschrieben hat? Diese Frage wird in Vers 18 im weiteren Kontext beantwortet, wo es heißt, dass die Galater, wenn sie sich vom Geist leiten lassen, nicht länger unter dem Gesetze sind, das offensichtlich in den »Werken des Fleisches« zum Erscheinen kommt. Was ist gemeint? Hier müssen wir beachten, dass die in 5,19-21 aufgezählten lasterhaften Handlungs-Typen eben dies sind: Handlungs-Typen, von denen das Gesetz spricht, wenn es sie verbietet. »Du sollst nicht dies oder das tun« (oder »Du sollst dies oder das tun«)- - das sind eben Handlungs-Typen, die unter das Gesetz fallen. Ganz anders verhält es sich mit der »Frucht des Geistes«, die in 5,22-23 aufgezählt wird. Dies sind Haltungen, und »über solche Dinge spricht das Gesetz nicht« (Ende von 5,23). Der allgemeine Gedanke scheint der folgende zu sein: Das Gesetz kann Handlungs-Typen verbieten (oder auch verordnen). Es kann aber niemals das Gebot selbst durchsetzen. Deshalb ist das Risiko immer da, wenn man (nur) unter dem Gesetz lebt, dass das Fleisch sich durchsetzt und vom Gesetz verbotene »Werke des Fleisches« hervorbringt. Ganz anders wenn jemand vom Geist durchdrungen ist und stabile, vom Geist erzeugte Haltungen erworben hat. Dann will diese Person nur das, was der Geist auch »will«. Es bedarf daher überhaupt keines Gesetzes, und diese Person ist deshalb nicht länger »unter dem Gesetz«. Das heißt dann auch, dass wenn jemand nach dem Geist wandelt (und also mit all den Geist-erzeugten Haltungen erfüllt worden ist), dann wird diese Person gewiss keine Begierde des Fleisches erfüllen. Denn es gibt solche nicht mehr. Der Geist ist also die stärkere Kraft. Und so gilt, wie Paulus die ganze Erörterung schließt, auch das folgende: Die Christus Angehörenden haben das Fleisch ganz und gar gekreuzigt mit den »Passionen« und Begierden (5,24). Deshalb gilt auch: »Da wir im Geist leben, lasst uns auch im Geist wandeln! « (5,25). Was dieser Text bietet, ist also teils eine Ermahnung an die Galater, nach dem Geist, den sie schon haben, im konkreten Alltag auch zu leben, teils ist es eine Erklärung, warum diese Ermahnung am Platze ist und auch erfolgreich sein wird. Denn die Galater haben ja schon den Geist; sie leben nicht (mehr) unter dem Gesetz; die Werke des Fleisches sind bei ihnen schon überwunden; und der Grund dafür ist, dass sie schon das Fleisch mit all seinen »Passionen« und »Begierden« gekreuzigt haben. Was ist dann hier »Sünde«? »Sünde« ist, im Fleisch und unter dem Gesetz zu leben, wo man vielleicht im Prinzip das Gesetz befolgen möchte, dennoch aber immer auch mit dem Risiko lebt, dass Begierden des Fleisches sich in der einen oder anderen Weise gegen das Gesetz durchsetzen, und die Person dann Werke des Fleisches tut. »Sünde« ist also, nicht ganz vom Geist Gottes durchdrungen zu sein, was bedeuten würde, dass man immer Gefahr läuft, anders zu handeln, als der Geist und die Person selbst wollen. Hier, im Durchdrungensein vom Geist Gottes, ist endlich das Risiko eines vom Fleisch bedingten, fehlerhaften Handelns beseitigt. Kann man wirklich all dies aus diesem einzigen Text erheben? Ich glaube, ja. Dennoch ist es natürlich eine beträchtliche Stütze, dass einige der zentrale Pointen »›Sünde‹ ist also, nicht ganz vom Geist Gottes durchdrungen zu sein, was bedeuten würde, dass man immer Gefahr läuft, anders zu handeln, als der Geist und die Person selbst wollen.« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 44 - 2. Korrektur 44 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema auch in dem Paralleltext vorkommen, den ich als eine Art von entwickelter »Ausschrift« des Galatertextes ansehe: Röm 7,7-25 (über den fleischlichen Menschen, der eben unter dem Gesetz lebt) und 8,1-13 (über den geisterfüllten Menschen, der nicht mehr fleischlich ist und nicht mehr unter dem Gesetz lebt, sondern das vom Gesetz Intendierte jetzt wirklich tut). 16 Was man hier findet, ist erstens eine überaus intensive Darstellung der Willensschwäche (siehe Röm 7,14-25), das heißt, der psychischen Spaltung, auf die Paulus schon in Gal 5,17 anspielt. Zweitens findet man eine denkbar enge Verbindung des Risikos der Willensschwäche mit dem leiblichen Körper selbst: Die willensschwache Person sieht die entgegengesetzte Begierde in den Gliedern des eigenen Körpers (7,23). Und der Text endet mit dem Hilfeschrei, wer wohl diesem »Leib des Todes« (7,24) Hilfe bringen wird. Drittens findet man auf der anderen Seite auch die Aussage, dass »der Geist Gottes«, »der Geist Christi«, ja »Christus« selbst in den Adressaten »wohnt«, weshalb auch ihr Leib »tot ist (nekron) in Bezug auf (dia) die Sünde« (8,10). Viertens ist das dann auch der Grund, warum das Gesetz nun wirklich auch »erfüllt« wird »in uns, die wir nicht nach dem Fleisch wandeln, sondern nach dem Geist« (8,4). Hier ist also die furchtbare innere Spaltung der Person, die nur unter dem Gesetz lebt, endlich vollständig überwunden in der Person, die vom Geist Gottes erfüllt ist. Paulus über die Überwindung der »Sünde« im Vergleich mit den Stoikern und Aristoteles Die hier vorgelegte Interpretation der Überwindung der »Sünde« bei Paulus integriert das Denken des Apostels in die philosophische Reflexion der Antike. Denn wie wir hier Paulus verstanden haben, sieht er die Überwindung des Risikos der Willensschwäche (akrasia) als den ultimativen Punkt, wo die »Sünde« endgültig überwunden wurde. 17 Wenn dieses Risiko nicht mehr besteht, dann ist die »Sünde« endgültig ausgerottet, dann gibt es keine Möglichkeit mehr zu »sündigen«, das heißt, durch das Fleisch zu »Werken des Fleisches« verleitet zu werden. Um den genauen Charakter dieser Überwindung der »Sünde« bei Paulus zu verstehen, lohnt es sich, sie mit dem Verständnis der akrasia sowohl bei Aristoteles wie bei den Stoikern zu vergleichen. Aristoteles hat-- im Anschluss an den platonischen Sokrates, etwa im Dialog Protagoras-- den Begriff akrasia zu einem Kernbegriff seiner Ethik gemacht. Der Grund dafür war, dass Aristoteles- - wie fast alle griechisch-römischen Philosophen-- in der Ethik vor allem daran interessiert war, darzulegen, wie ein Mensch ein in ethischer Hinsicht guter Mensch werden könnte. Dazu war nach Aristoteles ein Zusammenwirken von zwei Aspekten der menschlichen Seele nötig: von der Vernunft oder der Einsicht in das Gute und vom Willen zum Guten. Aus diesem Grund war der Fall für Aristoteles hochinteressant, dass eine Person eigentlich sowohl die richtige Einsicht in das Gute als auch den Willen dazu hatte- - und dennoch etwas Schlechtes tat. Wie war das zu erklären? Wir brauchen hier nicht auf die Lösung des Aristoteles einzugehen und begnügen uns mit der Feststellung, dass Aristoteles sein Augenmerk auf das Willens-Element richtete und einen Mangel an vollständiger Eindeutigkeit dieses Elementes feststellte. Der Wille war also teilweise zwiespältig. Diese Lösung hängt eng damit zusammen, wie Aristoteles sich vorstellte, dass ein Mensch durch und durch gut werden könnte. Dazu bedarf es der Gewöhnung, damit das Willens-Element in der richtigen Weise geformt werden kann (so am Anfang des zweiten Buches der Nikomachischen Ethik), und für diese Gewöhnung waren mitunter Gesetze nötig, die die Menschen unter eine Art von Zwang stellten (so am Ende des zehnten Buches desselben Werkes). 18 Denn die Vernunft allein war nicht stark genug, um den Willen vollständig formen zu können. Bei Aristoteles sind also Gesetze mitunter nötig, wohingegen sie bei Paulus eben unzulänglich sind. Dennoch war es auch für Aristoteles das Ziel, dass ein Mensch durch und durch gut wird-- durch die richtige Einsicht in das Gute (die man bei Aristoteles aus der Praxis und durch Wahrnehmung gewinnt) und durch die richtige Formung des Willens. Gab es dann bei Aristoteles einen durch und durch guten Menschen? Er hat das nicht ausdrücklich gesagt, und die Forderungen waren natürlich hoch. Dennoch scheint es einem Menschen bei ihm nicht ganz unmöglich, real gut zu werden, zumal man bei Aristoteles gewiss nicht die menschliche Körperlichkeit hinter sich lassen sollte. Bei ihm lag ja das Gute in Bezug auf die ethischen Tugenden, wie wir schon angedeutet haben, in der metriopatheia, das heißt, in der rechten Mitte zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig. Ganz anders liegt es dann- - und in viel größerer Nähe zu Paulus-- bei den Stoikern. Hier gab es nicht zwei verschiedene psychische Bereiche (die Einsicht und den Willen), die zum Idealzustand gebracht werden sollten. Vielmehr kam alles auf die Einsicht an. Wenn man wirklich das Gute sah und verstand, dann wollte man auch danach leben. Um so problematischer war es dann auch, wenn eine Person eigentlich das Gute im Allgemeinen erfasst hatte, dennoch aber etwas anderes tat-- also nochmals das Phänomen akrasia. Die Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 45 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 45 Troels Engberg-Pedersen Von der »Sünde« zur »Tugend«: Worum geht es eigentlich bei Paulus? »Bei Paulus wie bei den Stoikern geht es darum, dass man die richtige Einsicht bekommt, die in beiden Fällen durch den Geist (der ja auch ein kognitives Phänomen ist) zustande kommt. Hat jemand diese Einsicht erworben, ist das Risiko der akrasia im Prinzip überwunden.« stoische Erklärung dieses Phänomens bestand darin, auf eine Art Reaktivierung der noch-nicht-guten Sichtweise hinzuweisen, die damit zusammenhängt, dass diese ursprüngliche Sichtweise stark angewöhnt war, und auch damit, dass sie von der »Frische« der in der konkreten Situation wahrgenommenen Objekte direkt reaktiviert wurde. Genauer heißt das, dass die konkret wahrgenommenen Objekte Anstoß zu den von den Stoikern so stark kritisierten »Passionen« gaben. Denn diese waren genau als Fälle von akrasia zu verstehen, wo die richtige Einschätzung der wahrgenommenen Objekte, nämlich als »zu bevorzugende, gleichgültige Dinge«, »außer Kontrolle geriet«. Demgegenüber galt es-- in der stoischen Version der Ermahnung oder eben der »Paränese«, worüber auch sie sprachen-- die Leute an die Einsicht in das Gute zu erinnern, die sie im Prinzip zuvor gewonnen hatten. 19 Aber gab es bei den Stoikern einen durch und durch guten Menschen? Im Prinzip, ja. Dennoch war er-- nämlich der stoische »Weise«-- so selten wie der Vogel Phönix. Und man versteht warum. Denn die Einsicht in das Gute, um die es hier ging, war nicht nur die, dass das Gute in der »Übereinstimmung mit der Natur« bestehe; sie wusste auch davon, worin solche Übereinstimmung konkret besteht. Dazu braucht man aber mehr als eine nur menschliche Einsicht, ja geradezu die Einsicht Gottes. Und so ist der stoische »Weise« als solcher mit Gott identisch. Dennoch können wir feststellen, dass es den Stoikern erstens (wie zuvor auch Aristoteles) darum ging, jenseits des Risikos von akrasia zur vollständigen Einsicht zu gelangen, und zweitens, dass es den Stoikern (anders als Aristoteles, der auch vom Willen sprach) nur darum ging, dass man diese richtige Einsicht in das Gute bekam. Wenn das geschah, würde man sicherlich auch danach handeln. Sieht man nun das paulinische Verständnis im Lichte der beiden anderen Positionen, dann ist ohne weiteres klar, dass es grundsätzlich sehr viel näher bei der stoischen als bei der des Aristoteles liegt. Bei Paulus wie bei den Stoikern geht es darum, dass man die richtige Einsicht bekommt, die in beiden Fällen durch den Geist (der ja auch ein kognitives Phänomen ist) zustande kommt. Hat jemand diese Einsicht erworben, ist das Risiko der akrasia im Prinzip überwunden. Man weiß, was man tun soll, und man will es auch (und zwar durch und durch). Dennoch kann es mitunter auch einiger Ermahnung bedürfen, die aber die logische Form hat, dass sie den Adressaten daran erinnert, was diese Person schon sehr wohl weiß. Sowohl bei den Stoikern wie auch bei Paulus hat die Ermahnung also nicht die Funktion, eine Änderung der Seele zu bewirken; vielmehr setzt sie die volle Einsicht voraus und tut nichts anderes als an diese zu erinnern. Gab es dann bei Paulus den christlichen »Weisen«, oder war diese Figur wie bei den Stoikern ebenso selten wie der Phönix? Nein, den gab es gewiss: Alle zu Christus Gehörenden, die auch das pneuma empfangen hatten, waren paulinische »Weise«. Sie waren pneumatikoi (»vom Geist erfüllt«). So lagen die Dinge also nach Aristoteles, den Stoikern und Paulus. Was sollen wir selbst aber darüber sagen? Geht man davon aus, dass die Menschen physische Wesen sind, die sowohl Individuen als auch soziale Wesen sind, dann könnte man behaupten, dass die aristotelische Position diejenige ist, die am meisten dem Menschen entspricht. Auch könnte man geneigt sein, die aristotelische Moralpsychologie mit ihren beiden Wurzeln des Handelns, darunter auch der des Willens, als die adäquatere anzusehen. Dennoch gilt auch bei den Stoikern, dass dem physischen und individuellen Mensch sein Genüge getan wurde, wenn sie unter den »indifferentia« zwischen »zu bevorzugenden« und »zurück zu setzenden« Objekten unterschieden. Hier wurde die konkrete Menschlichkeit-- allem zum Trotz-- völlig anerkannt, dennoch aber wurde auch das nur Individuelle und Körperliche am Menschen stark relativiert unter dem Gesichtspunkt des universalen Guten. Auch könnte man geneigt sein, das stoische Wertlegen auf die kognitive Dimension des Menschen zu begrüßen, das der praktischen Durchsetzungskraft der Vernunft Genüge tut. Und man könnte der Idee zustimmen, dass es überhaupt Platz für die plötzliche Einsicht gibt, die einen Menschen grundsätzlich verändert. Wenn man auf diese Weise Aristoteles und die Stoiker auf einer Linie sieht, die von zunehmender Radikalität geprägt ist (a) hinsichtlich der Rolle anderer Aspekte des Menschen als dem der individuellen Körperlichkeit und (b) im Blick auf die Rolle, die der Fähigkeit zu einer radikalen, kognitiv herbeigeführten Veränderung des Menschen zukommt, dann befindet sich Paulus am Ende dieser Linie. Bei ihm darf die individuelle menschliche Körperlichkeit überhaupt keine Rolle spielen; dagegen legt er das ganze Gewicht darauf, dass der Mensch die Chance hat, Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 46 - 2. Korrektur 46 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Zum Thema durch eine neue Einsicht eine vollständige Änderung zu erfahren. Welche Position innerhalb der Linie von Aristoteles zu Paulus sollte man dann vorziehen? Anstelle des Versuchs einer eindeutigen Antwort sollte man vielleicht auf die jeweilige Stärke der verschiedenen Positionen verweisen und es dem Einzelnen überlassen, zu einer eigenen Auffassung zu gelangen. Unter diesem Gesichtspunkt erscheint es als eine Stärke der aristotelischen Position, dass sie dem faktischen, physischen, individuellen und auch sozialen Charakter des Menschen Rechnung trägt. Eine Stärke der stoischen Position könnte darin liegen, dass das Gewicht ausschließlich auf den gemeinschaftlichen Aspekt des menschlichen Wesens gelegt wird, obwohl, wie wir gesehen haben, es auch den Stoikern gelang, die physischen und individuellen Aspekte des Menschseins unter dieser Perspektive zu integrieren. Schließlich hat die paulinische Position augenscheinlich für sich, dass hier das reale Risiko der Selbstbezogenheit, die mit dem »Fleisch«, d. h. mit der mit dem Körper verbundenen Körper- und Selbstorientierung, zusammenhängt, genau diagnostiziert wird, und dass dagegen eine ganz eindeutige Form von »Altruismus« in Anschlag gebracht wird, die in einem jenseits aller Selbstbezogenheit gelegenen, nur auf die anderen gerichteten Gemeinschaftsbezug besteht. Die Wahl zwischen diesen Positionen ist möglicherweise schwieriger als gedacht. Zweite Zusammenfassung »Sünde« bei Paulus wurde auf zwei verschiedene Weisen bestimmt, einmal »substanziell« und einmal »formal«. In substanzieller Hinsicht sündhaft sind alle drei in unserem Text aus dem Galaterbrief (und auch anderswo) aufgezählten schlechten Handlungs-Typen, die alle ihre Wurzel im »Fleisch« haben, d. h. in dem von Körper- und Selbstorientierung durchdrungenen, menschlichen Körper aus Fleisch und Blut. Diesen Körper gilt es dann-- zusammen mit den »Passionen« und »Begierden«, zu denen er Anlass gibt- - ganz und gar außer Kraft zu setzen, und das geschieht, wenn ein Christus- Gläubiger das göttliche pneuma empfängt. In formaler Hinsicht ist jede psychische Spaltung sündhaft, und hier nicht zuletzt die Spaltung der akrasia, die am meisten in der Nähe des Zustandes liegt, wo es überhaupt keine innere Spaltung mehr gibt. Das Risiko dieser Spaltung besteht nach Paulus ständig, wenn jemand unter dem (jüdischen) Gesetz lebt, weil das Gesetz nicht imstande ist, sich selbst durchzusetzen. Dafür braucht es ein anderes, etwas, das eine radikale Veränderung der mentalen Struktur des Menschen herbeiführt, nämlich das pneuma. Gottes Geist kann und will das Fleisch selbst außer Kraft setzen zusammen mit den »Passionen« und »Begierden«, die genau wie bei den Stoikern als Fälle von akrasia (im Verhältnis zu dem Wunsch, nach dem Gesetz zu leben) angesehen werden können. Wir haben diese paulinische Gesamtkonzeption mit den ethischen Theorien des Aristoteles und der Stoiker verglichen, ohne dass wir uns für die eine oder die andere Theorie entschieden hätten. Wir haben aber gesehen, dass es in diesen Theorien hinter den teilweise verschollenen Begriffen um durchaus verständliche und allgemeine Probleme des menschlichen Lebens ging, die hier präzise zu erfassen waren. Die späteren philosophischen Positionen, die dieselben Probleme behandeln, sind nicht weit über die antiken hinausgelangt. Zu ihnen gehört auch, wie wir gesehen haben, die christliche Position, die zuerst von Paulus voll ausgeformt wurde. Anmerkungen 1 Paulus benutzt nur einmal das Wort »Tugend« (aretē): in Phil 4,8. Im Allgemeinen scheut er sich davor, zu »philosophisch« zu sprechen. Der Sache nach liegt es aber anders. 2 Siehe für die Stoiker H. von Armin, Stoicorum Veterum Fragmenta III, Stuttgart 1903, Kap. 8 § 3 (S. 140-145). Die Stoiker sprachen sowohl von hamartēma (so die Mehrzahl der Texte) wie auch von hamartia, aber ohne Bedeutungsunterschied. 3 Diesem Aufsatz liegen mehrere Untersuchungen zu Grunde, die ich anderswo mit erschöpfender Bezugnahme auf die jeweilige Forschungssituation veröffentlicht habe, zum Beispiel: Aristotle’s Theory of Moral Insight, Oxford1983; The Stoic Theory of Oikeiosis. Moral Development and Social Interaction in Early Stoic Philosophy, Aarhus 1990; »Galatians in Romans 5-8 and Paul’s Construction of the Identity of Christ Believers«, in: T. Fornberg/ D. Hellholm (Hgg.), Texts and Contexts. Biblical Texts in Their Textual and Situational Contexts, FS Lars Hartman, Oslo 1995, 477-505; Paul and the Stoics, Edinburgh/ Louisville (KY)/ Westminster 2000; (ed.), Paul Beyond the Judaism/ Hellenism Divide, Louisville/ Westminster 2001; »The Reception of Graeco-Roman Culture in the New Testament: The Case of Romans 7.7-25«, in: M. Müller/ H. Tronier (Hgg.), The New Testament as Reception, London/ New York 2002, 32-57; »Radical Altruism in Philippians 2: 4«, in: J.T. Fitzgerald/ T.H. Olbricht/ L.M. White(Hgg.), Early Christianity and Classical Culture, FS Abraham J. Malherbe, Leiden/ Boston 2003, 197-214; »Stoicism in the Apostle Paul: A Philosophical Reading«, in: S.K. Strange/ J. Zupko (Hgg.), Stoicism. Traditions and Transformations, Cambridge 2004, 52-75; »The Concept of Paraenesis«, in: J. Starr/ T. Engberg-Pedersen (Hgg.), Early Christian Paraenesis in Context, Berlin 2005, 47-72; Cosmology and Self in the Apostle Paul: The Material Spirit, Oxford 2010. Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 04.10.2013 - Seite 47 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 47 Troels Engberg-Pedersen Von der »Sünde« zur »Tugend«: Worum geht es eigentlich bei Paulus? 4 Schlachter Version 2000 mit mehreren Änderungen. 5 Für diese Übersetzung siehe: Paul and the Stoics (oben Anm. 3), 341. 6 Für den finalen Sinn des hina (»damit«) siehe: Paul and the Stoics (oben Anm. 3), 162-163 mit Anmerkungen. 7 Hier sollte man beachten, dass viele der von Paulus aufgezählten Phänomene im Plural genannt sind, das heißt: als »Fälle von …«. So werden sie aber nur selten wiedergegeben. 8 Für diesen Sinn des kata (»über«, nicht »gegen«) siehe: Paul and the Stoics (oben Anm. 3), 164 mit Anmerkungen. 9 Ich habe diese Theorie anhand eines zentralen Textes bei Cicero, De Finibus 3.16-21, in: The Stoic Theory of Oikeiosis (oben Anm. 3), Kap. III und IV, in allen Einzelheiten analysiert. 10 R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 9 1984, 239. 11 Ich habe meine Argumente für diese denkbar radikale Deutung des Verhältnisses zum Körper bei Paulus in einem Aufsatz ausgeführt, der demnächst unter dem Titel »The Sinful Body: Paul on Marriage and Sex« erscheinen wird. 12 Schlachter Version 2000 mit Änderungen, die ich in »Radical Altruism« (oben Anm. 3) verteidigt habe. 13 Siehe meinen Aufsatz, »Radical Altruism« (oben Anm. 3). 14 Dies ist ein Hauptpunkt der Nikomachischen Ethik, siehe: Aristotle’s Theory (oben Anm. 3). 15 Siehe die Nikomachische Ethik VII.1-3 (1145a15- 1147b19). 16 Siehe meinen Aufsatz »Galatians in Romans 5-8« (oben Anm. 3). 17 Siehe meinen Aufsatz »The Reception of Graeco-Roman Culture» (oben Anm. 3). 18 Nikomachische Ethik II.1 (1103a14-b25) und X.9 (1179a33-1181b23). 19 Siehe meinen Aufsatz »The Concept of Paraenesis« (oben Anm. 3). N EUERSCHEI N UN G FEBRU AR 2013 Phi l i ppe Kneubühl er Theologie des Wortes und Sakramentenlehre im Johannesevangelium 2013, 193 Seiten, €[D] 49, 00/ SFr 65, 50 I SBN 978-3-7720-8463-8 A. Francke Verlag • Di schi ngerweg 5 • D-72070 Tübi ngen • Tel . +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 • www. francke. de Di e Frage des Sakramentenverständni sses i m J ohannesevangel i um i st seit l angem bei den Exegeten umstritten. Di ese Stu di e versucht ei ne Antwort aus der neuen Perspekti ve ei ner synchroni schen Si chtwei se zu fi nden, di e von der H ypothese der Kohärenz des textus receptus ausgeht. Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 48 - 2. Korrektur 48 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Kontroverse Einleitung zur Kontroverse: Das »Ich« in Römer 7: vorchristlich oder christlich? Das Thema der Kontroverse dieses Heftes ist längst bis in jeden Winkel erforscht, durchforstet, jedes Detail ist vielfach gedreht und gewendet. In immer neuen Anläufen wird eine alte Frage neu aufgeworfen, ein alter Streit weitergestritten. Wie ein Gipfel der Musikliteratur, den jeder Virtuose erklimmen will und muss, so stellt »Römer sieben« eine immer neue Herausforderung für die Paulusforschung dar, ja, für die christliche Theologie insgesamt. Auch diese Kontroverse-- das ist sogleich klarzustellen-- wird das Problem nicht suffizient bewältigen, den Knoten nicht lösen. Es scheint, als sorge der Text selbst dafür, dass man mit ihm nicht fertig wird. Er selbst erzwingt immer neue Lektüren und lässt doch keine davon an ein Ende gelangen und zur Ruhe kommen. Soll das aber nun heißen, dass diese Einleitung durch die Blume empfiehlt, die beiden folgenden Beiträge elegant zu überblättern? Das sei ferne! Denn mit den Beiträgen von Stefan Schreiber und Günter Röhser liegen zwei Lektüren vor, die textnah und unprätentiös wichtige Interpretationsprobleme der jeweiligen Position namhaft machen und damit auch Leserinnen und Leser, die der älteren Forschung unkundig sind, in die Lage versetzen, mitzudenken und sich von diesem Text berücken, sich in ihn verstricken zu lassen. Wozu aber das Ganze? Die Antwort lautet: Es geht hier in gewisser Weise ums Ganze, um das Ganze christlicher Existenz, christlicher Selbstauffassung. Es geht um die Frage, was eigentlich Christinnen und Christen von sich halten, wie sie sich selbst verstehen sollen. Dass dies so wenig festzustehen scheint wie die Antwort auf die Fragestellung dieser Kontroverse, hat etwas Beunruhigendes, ja, Bestürzendes. Gibt es denn keine Kongenialität von paulinischem Text und christlichem Leben? Schafft der Christenstand, schaffen denn Taufe und Geistempfang, schafft die Gemeinschaft der Heiligen nicht Tatsachen solcher Art, die die Frage klar beantwortet, ob der Hilfeschrei von Röm 7,24a vorchristliche Verzweiflung paraphrasiert oder eine auch christlich mögliche und wirkliche Befindlichkeit? Welch eine Alternative! Gewiss: Hier wird exegetisch und philologisch gefragt, und ginge dieses Fragen noch weiter, würden sich die vielerlei grammatischen Probleme wohl immer stärker in einander verschlingen und verwirren. Aber dass wir Paulus fragen und gebannt auf jedes Wort schauen, dass die Frage nach dem präzisen Textsinn immer wieder neu verhandelt wird, liegt doch daran, dass die Fragenden selbst nicht zu antworten wissen auf eine Frage, die der Klärung dringend bedürfte. Tua res agitur. Mit dem Überblättern wird es also nichts! Manuel Vogel Kontroverse Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 49 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 49 Ein offener Text: Das »Ich« und seine Befindlichkeit in Römer 7 Die Auslegung von Römer 7 ist auffallend umstritten. Dabei ist noch nicht einmal klar, worin eigentlich die zentrale Thematik des Textabschnitts besteht. Macht Paulus die Abschaffung der Tora durch das Christus- Ereignis bewusst? Entfaltet er-- zum ersten Mal! -- eine christliche Anthropologie, die die Spannung des christlichen Lebens zwischen neuer Existenz und alter Welt beschreibt? Schwierigkeiten bereitet die Sprachform ab Röm 7,7, wo unvorbereitet die 1. Person Singular dominiert, also ein »Ich« spricht. Bei der Identifizierung dieses »Ich« hat die Exegese bislang keinen Konsens erreicht. 1 Zunächst liegt eine biographische Deutung nahe, bei der Paulus selbst als Sprecher angenommen wird. Doch bleibt unklar, ob er seine innere Zerrissenheit in der Zeit vor seiner Berufung rekapituliert, oder ob er seine Erfahrung als Christ in der Gegenwart, die damit auch die Erfahrung anderer Christen einschließt, darstellt: den Widerstreit zwischen Wollen und Misslingen, zwischen Neuwerdung und Sündersein. 2 Das »Ich« lässt sich freilich auch als Stilform im Kontext antiker Rhetorik verstehen, so dass es einen typischen Blick vom Standort des Christen auf die Zeit vor Christus entwirft. Dabei kann man an ein »generisches Ich« denken, das die Situation aller Menschen ohne Christus zur Sprache bringt. Doch bevor das »Ich« spricht, diskutiert Paulus in 7,1-6 ein Fallbeispiel, das den Schlüssel zum Verstehen von Römer 7 bereitstellt. 3 1. Die neue Lebenswirklichkeit und die Tora: Röm 7,1-6 Das in 7,1-6 diskutierte Fallbeispiel gibt das Thema des ganzen Abschnitts 7,1-25 vor. Es geht um die Geltung des nomos (des »Gesetzes«), und aus dem Kontext wird deutlich, dass damit die Tora Israels gemeint ist. Paulus führt mit seinem Beispiel vor Augen, wie die Tora je nach der spezifischen Lebenssituation unterschiedlich angewendet werden muss. Die Erfahrungsaussage in 7,1, dass der nomos das Leben eines Menschen in Israel bestimmt, solange der Mensch lebt, spricht grundsätzlich die Voraussetzungen für die Geltung und Anwendung der Tora an. Paulus nimmt also an der jüdischen Toradiskussion seiner Zeit teil, führt sie jedoch in ganz eigener Weise fort. In 7,2 f. bringt er die Ehetora ins Gespräch, die die Bindung der Frau an ihren Ehemann festlegt (z. B. Dtn 24,1-4). Diese Bindung endet dann, wenn der Ehemann stirbt. Der Tod des Ehemannes bedeutet eine einschneidende Wirklichkeitsveränderung im Leben der Frau-- sie ist nun Witwe--, und damit findet auch die Tora eine andere Anwendung-- sie bindet die Frau nicht mehr an ihren verstorbenen Mann. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die Ehetora dadurch nicht ungültig wird; sie betrifft das Leben aber nun in anderer Weise. Die Tora ist also auf die Lebenswirklichkeit anzuwenden. Diese Einsicht überträgt 7,4- 6 auf die neue Lebenswirklichkeit der Christen, deren Existenz sich durch die Zugehörigkeit zu Sterben und Erweckung Christi grundlegend verändert hat (vgl. zuvor Röm 6). Die Übertragung basiert auf den Sinnlinien »Sterben«, das existentielle Veränderung schlechthin bedeutet, und »Beziehung«, wobei die Mann-Frau-Beziehung eine besonders intensive Nähe andeutet. Diese Linien laufen nun in der Beziehung der Christen zu Christus und der neuen Wirklichkeit in seinem Sterben zusammen. Damit ändert sich aber auch die Anwendung der Tora, und zwar so drastisch, wie es der Veränderung der Wirklichkeit in Christus entspricht. Diese Drastik spiegelt sich in den Formulierungen des Paulus: »Ihr seid dem Gesetz gestorben durch den Leib des Christus«, »ihr gehört einem anderen, dem aus Toten Erweckten« (7,4); »ihr seid losgemacht vom Gesetz, ihm gestorben« (7,6). So bringt Paulus die hermeneutische Distanz zum Ausdruck, die aus der neuen Existenz in Christus resultiert und eine neue Freiheit in der Anwendung des Gesetzes, ein Gegenübertreten zur Tora ermöglicht. Der Jude Paulus praktiziert diese Freiheit im Rahmen der Tora und nicht als Freiheit vom Gesetz. 4 Die Gegenüberstellung der alten und der neuen Lebenswirklichkeit in 7,5 f. (»als wir im Fleisch waren«-- »nun«) macht die veränderte Voraussetzung für die Kontroverse Stefan Schreiber Wer bin »Ich«? Die Rolle Adams und die neue Tora-Hermeneutik in Römer 7 Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 50 - 2. Korrektur 50 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Kontroverse Anwendung der Tora sichtbar. Hier klingt schon ein Gedanke an, der später ins Zentrum rücken wird: Vor dem Christus-Ereignis war man gerade durch das Gesetz in den Unheilszusammenhang von »Leidenschaften der Sünden« und Tod eingebunden (7,5). 5 Das aber hat sich »nun« geändert, und damit ändert sich auch das Verhältnis zur Tora. Am Ende fasst Paulus seine neue Tora-Hermeneutik in einer prägnanten Opposition zusammen: »dass wir dienen in der Neuheit des Geistes und nicht in der Altheit des Buchstabens« (7,6). Der »Buchstabe« bezeichnet dabei pauschal frühjüdische Tora-Verständnisse, die vom paulinischen Tora-Verständnis abweichen. Der Geist als Instanz des Tora-Verstehens 6 wird zum hermeneutischen Prinzip aus christlicher Perspektive. Auslegungsgeschichtlich bedeutet dies tatsächlich eine »Neuheit«, indem die neue Beziehung zu Gott in Christus die neue Tora-Hermeneutik freisetzt. Der Unterschied zur »alten« Auslegung bedeutet einen hohen Anspruch der neuen Interpretation, die aber immer noch im Diskussionsraum des Frühjudentums bleibt. Die Begründung einer neuen Tora-Hermeneutik lässt sich gut in die historische Gesprächssituation des Römerbriefs einordnen. 7 Heftig umstritten war die paulinische Praxis der Heidenmission, bei der Juden- und Heidenchristen in einer Gemeinschaft zusammenlebten, ohne dass jüdische Identitätsmerkmale wie Beschneidung, Speise- und Reinheitsgebote sowie Sabbatobservanz eine Trennungslinie markierten. Diese Toragebote, die der Abgrenzung jüdischer Identität von den Völkern dienen sollten, verloren in den Gemeinden des Paulus ihre Bedeutung. Damit steht die Anwendung der Tora überhaupt in Frage! Hebt Paulus die Tora nicht faktisch auf? Genau das will Paulus nicht, vielmehr bleibt auch für sein Gottesbild, sein Verständnis Christi und seinen Entwurf eines christlichen Ethos die Tora grundlegend. Er muss allerdings seine neue Anwendung der Tora in der neuen Lebenssituation mit Christus gegenüber Vorwürfen, er hebe die Tora auf (vgl. Röm 3,31), begründen. 2. Die Rolle Adams, die Sünde und das Gesetz in Röm 7,7-13 Die Formulierungen in 7,5 f. könnten leicht zu einem Missverständnis führen, das Paulus in 7,7a mit der Frage »Ist das Gesetz Sünde? « anspricht. Diese Folgerung lehnt Paulus sofort klar ab. Das Verhältnis von Gesetz und Sünde bleibt aber das Problem, das in den folgenden Ausführungen behandelt wird. Es geht also nicht um Fragen christlicher Anthropologie, wie in der Forschung häufig angenommen. Der Abschnitt 7,7-13 will den Gedanken plausibel machen: Die Sünde als handelndes Subjekt instrumentalisiert das in sich gute Gesetz und wirkt damit Begierde und Tod. Damit kann Paulus auf der einen Seite ohne Einschränkung die Gültigkeit und Würde der Tora, die Gottes Heilswillen für Israel repräsentiert, festhalten: »das Gesetz ist heilig« und »das Gebot« (gr.: entolē)-- das hier metonymisch für das Gesetz steht-- »ist heilig, gerecht und gut« (7,12). Auf der anderen Seite bereitet Paulus aber schon den Gedanken vor, dass erst das Christus-Ereignis die Macht der Sünde brechen konnte (vgl. 8,3 f.). Doch welche Sprecherperspektive signalisiert das »Ich« ab 7,7? Meine These ist, dass es sich dabei um ein rhetorisches Stilmittel handelt, das die Hörer/ innen des Briefs am abrupten Wechsel zum »Ich« und an dem im Griechischen betonten egō in 7,9.10 wahrnehmen konnten. Paulus wendet die aus dem antiken Drama und der Schullektüre bekannte Form der Prosopopoiie an. Bei diesem Rollenspiel repräsentiert das sprechende »Ich« eine andere Person oder einen Rollentypus, um Prof. Dr. Stefan Schreiber, Studium der Katholischen Theologie in Augsburg und Vallendar 1988-1993. Promotion 1995 an der Universität Augsburg mit der Arbeit »Paulus als Wundertäter. Redaktionsgeschichtliche Untersuchungen zur Apostelgeschichte und den authentischen Paulusbriefen« (BZNW 79, Berlin/ New York 1996). Habilitation 1999 an der Universität Augsburg mit der Arbeit »König und Gesalbter. Titel und Konzeptionen der königlichen Gesalbtenerwartung im Frühjudentum« (unter dem Titel »Gesalbter und König« BZNW 105, Berlin/ New York 2000). 2003-2010 Universitätsprofessor und Direktor des Seminars für Zeit- und Religionsgeschichte des Neuen Testaments an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seit 2010 Lehrstuhlinhaber für Neutestamentliche Wissenschaft an der Universität Augsburg Stefan Schreiber Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 51 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 51 Stefan Schreiber Wer bin »Ich«? (typische) Standpunkte oder Verhaltensweisen zu demonstrieren. 8 Vor Gericht kann der Anwalt die Rolle seines Klienten übernehmen; so kann Quintilian die Prosopopoiie definieren als »erfundene Reden fremder Personen, wie sie der Anwalt den Prozessierenden in den Mund legt« (Quint. inst. 6,1,25). Er betont dabei auch die emotionale Wirkung dieser Redeweise. Welche Rolle das »Ich« ab Röm 7,7 spielt, dürfte den Hörer/ innen schnell klar geworden sein. Paulus spielt die Rolle Adams, der nach dem »Sündenfall« das Gesetz beurteilt-- und typologisch für alle auf der Basis des Gesetzes Lebenden steht. In der Aussage von 7,9 (»ich lebte einst ohne Gesetz«) wird dies deutlich: Das Gebot kam im Paradies hinzu. 9 Die zentrale strukturelle Gemeinsamkeit mit der biblischen Erzählung vom Sündenfall (Gen 3) besteht in der Frage, wie das Böse bzw. die Sünde Einfluss auf den Menschen gewinnt trotz bzw. mittels des Gebots. »Adam« beantwortet die Frage nach dem Verhältnis von Sünde und Gesetz in 7,7b-10 in drei Schritten: (1) Erst durch das Gesetz erkannte ich die Sünde (7,7b). Durch das Gesetz wird diese in sprachlichen Kategorien fassbar und damit erfahrbar. (2) Durch das Gebot wirkte die Sünde in mir alle Begierde (7,8). Wichtig ist, dass die Sünde als Subjekt die handelnde Macht darstellt und am Menschen aktiv wird; sie instrumentalisiert das Gebot für ihre Zwecke. Man muss den schwierigen Text genau übersetzen: »Anlass nehmend durch das Gebot wirkte die Sünde in mir alle Begierde«. Die Sünde reizte Adam durch das Gebot zu dessen Übertretung. 10 (3) Durch das Gesetz brachte mir die Sünde den Tod (7,9 f.). Durch das Gebot lebte die Sünde auf, »Adam« aber starb, d. h. seine Existenz geriet unter die Macht der Sünde und des Todes. Und so führt durch das Wirken der Sünde das Gebot, das doch von Gott eigentlich zum Leben gegeben ist, zum Tod. Im jüdischen Kontext bedeutet dies eine Provokation: Die Tora verkörpert doch den Heilswillen Gottes und buchstabiert den Bund Gottes mit Israel aus! Die frühjüdische Adam-Tradition kennt den Zusammenhang von Gebot/ Gesetz, Übertretung und Tod, 11 und auch die Figur eines Verführers (Schlange, Teufel) ist eingeführt. Paulus geht hier aber einen Schritt weiter, indem die Sünde als aktive Macht hinzutritt, die sich der Tora bemächtigt und ihre gute Intention zum Tode verkehrt. In 7,11 fasst »Adam« noch einmal zusammen und greift dabei die Aussage von 7,8 auf: »Die Sünde nahm Anlass durch das Gebot und täuschte mich und tötete mich durch es«. Durch das »Täuschen«- - das Verb apataō verwendet auch Gen 3,13(LXX)-- übernimmt die Sünde die Rolle der Schlange im Paradiesgarten. Das Gesetz wird von der Sünde instrumentalisiert. So bleibt die gute Intention des Gesetzes uneingeschränkt gültig, wie 7,12 folgert. 7,13 hält als Ergebnissicherung fest, dass es die Sünde ist, die in mir durch das gute Gesetz den Tod wirkt. Umso verhängnisvoller ist ihre Macht. 3. Der vernichtende Einfluss der Sünde Die Sünde (gr.: hamartia) gehört zum Figureninventar von Röm 7. Analog zur Schlange in der Erzählung vom Sündenfall in Gen 3, hinter der nach ApkMos 16,1-5; 17,4 der Teufel steht, verkörpert sie eine übernatürliche, dem Menschen feindliche Macht. In Röm 7,7-25 erscheint sie als aktiv handelnde Entität, die über den menschlichen Verfügungsbereich hinausgeht. Sprachlich liegt eine Personifikation des Handelns gegen Gottes Heilswillen vor. Im antiken Kontext ist eine Personifizierung konkreter Erfahrungen oder abstrakter Ideen geläufig, die so als übernatürliche Mächte bzw. Gottheiten vorstellbar wurden. 12 Beispiele sind Thanatos bzw. Mors (»Tod«) oder negative Mächte wie Febris (»Malaria«), Mala Fortuna (»Unglück«) oder Asebeia (»Gottlosigkeit«). Als Gottheiten konnten diese zum Teil anthropomorph dargestellt und kultisch verehrt werden. Dabei leisteten sie eine Integration persönlicher und sozio-politischer Erfahrungen in die Lebenswelt durch eine kultische Rückbindung an verschiedene göttliche Adressaten. Auch hinter der Personifikation der Sünde in Röm 7 dürfte die Erfahrung bzw. Idee einer übernatürlichen Macht stehen, die die gute Intention der Tora in ihr Gegenteil verkehrt und die menschliche Absicht, das Gute zu tun, scheitern lässt. 13 Die Sünde erscheint so als reale Macht, die von außen auf den Menschen einwirkt, in ihm die »Begierde« wirkt und auch auf die Möglichkeiten der Tora, das Leben Israels zum Guten zu führen, zerstörerischen Einfluss nimmt. Durch ihr Wirken steht die personifizierte Sünde in enger Verbindung mit dem Handeln des Menschen. Die Aussage in Röm 7,7 stellt die Sünde parallel zur »Begierde« (gr.: epithymia) und konkretisiert damit ihre Wirkung: Sie setzt im Menschen selbst an. In ethischen Diskursen des Frühjudentums kann die Begier- »Welche Rolle das ›Ich‹ ab Röm 7,7 spielt, dürfte den Hörer/ innen schnell klar geworden sein. Paulus spielt die Rolle Adams, der nach dem ›Sündenfall‹ das Gesetz beurteilt« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 52 - 2. Korrektur 52 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Kontroverse »Auch hinter der Personifikation der Sünde in Röm 7 dürfte die Erfahrung bzw. Idee einer übernatürlichen Macht stehen, die die gute Intention der Tora in ihr Gegenteil verkehrt und die menschliche Absicht, das Gute zu tun, scheitern lässt.« de, das selbstsüchtige Wollen, das nicht an den Mitmenschen und an Gott, sondern nur an sich denkt, als Ursache allen sündigen Tuns verstanden werden (z. B. Philo, spec.leg. 4,82.84 f.; ApkMos 19,3; 4Makk 2,5 f.). Mittels der Begierde nimmt die Sünde Einfluss auf den Menschen, und sie benutzt dazu selbst die Tora, die hier als zusammenfassendes (und um die jeweiligen Objekte verkürztes) Dekalog-Gebot zitiert wird: »Du sollst nicht begehren« (Ex 20,17; Dtn 5,21 LXX). Weil in der Welt »Adams« die Macht der Sünde herrscht, steht ihm nach Paulus der Weg zum rechten Tora-Verständnis und zum guten Verhalten nicht mehr offen, was in der Erzählung vom Sündenfall als Urerfahrung Adams typisiert wird. Dass die Sünde durch die Instrumentalisierung des Gesetzes noch an Gefährlichkeit gewinnt, hält 7,13 fest. Das zentrale Thema von Röm 7 bildet die Begründung für die neue Anwendung der Tora. Daher wird die Frage nach der persönlichen Schuld des Menschen (Röm 1,18-32) hier überhaupt nicht gestellt-- so sehr der Mensch am Prozess des Sündigens beteiligt ist. Aber er ist letztlich nicht frei, sich gegen die Sünde zu entscheiden, denn diese ist unabänderlich an ihm wirksam. Erst das Christus- Ereignis bringt hier Rettung. Auch im folgenden Abschnitt wird die Sünde als Macht, die den Menschen beherrscht, gezeichnet: »verkauft unter die Sünde«; »die Sünde, die in mir wohnt«; »dann bin nicht mehr ich es, der handelt, sondern die Sünde, die in mir wohnt« (7,14. 17. 20). 4. Unter fremder Herrschaft: Die Rolle des »Toratreuen ohne Christus« in Röm 7,14-25 Nach einer kurzen Feststellung im allgemeinen »Wir« beginnt in 7,14 wieder ein »Ich« zu sprechen. Es liegt nahe, dass Paulus damit noch einmal auf die rhetorische Figur der Prosopopoiie zurückgreift. Er nimmt freilich einen Rollenwechsel vor, der am Wechsel des Tempus ins Präsens und an der Bestimmung des »Ich« als »fleischlich« und »verkauft unter die Sünde« kenntlich wird. Es handelt sich demnach um ein zeitgleiches und vorchristliches »Ich«, das ich als die Rolle des »Toratreuen ohne Christus« umschreibe. Der Sprecher kann kein Christus- Anhänger sein, da ein solcher gerade nicht mehr der Sphäre des »Fleisches« zugehört und grundsätzlich von der Macht der Sünde befreit ist (vgl. Röm 3,21-26; 6,1- 11; 8,1-17). Das Thema des Abschnitts bleibt weiter die Tora, denn 7,14 beginnt mit der anerkannten Feststellung, dass der nomos »geistlich« ist. Weil das Gesetz zum Geist Gottes gehört, besitzt es höchste Würde. 14 Der Textteil 7,14b-21 demonstriert die Diskrepanz zwischen Wollen und Tun als Veranschaulichung der Wirkung der Sünde und damit die Ausweglosigkeit des »Ich«. Er erzielt seine rhetorische Wirkung durch eine Doppelung der zentralen Aussagen: 7,14b.15a/ 18 Negative Voraussetzung: »im Fleisch« 7,15b/ 19 Diskrepanz Wollen-- Tun 7,16a.17/ 20ab Sünde wohnt in mir (Ursache) 7,16b/ 21 Blick auf den nomos Paulus greift dabei einen kulturellen Diskurs der Antike auf, der aus Theater und Schullektüre bekannt war und den ich unter Bezug auf ein klassisches Drama des Euripides als »Medea-Motiv« bezeichne. Die Gestalt der Medea wurde zur Verkörperung eines zerstörerischen Zwiespalts im Menschen, einer unbegreiflichen Machtlosigkeit über sich selbst, die im Tod endet. Medea begreift sehr wohl, dass ihr geplantes Tun böse ist (Mord an ihren Kindern), doch die Leidenschaft (Rache an ihrem untreuen Gatten) ist stärker als ihre rationalen Überlegungen. 15 Ovid lässt seine Medea die Spannung auf den Punkt bringen: »Aber gegen meinen Willen zieht mich eine unbekannte Macht, das eine rät mir das Verlangen, die Vernunft das andere: Ich sehe das Bessere und finde es gut, dem Schlechteren folge ich« (Ov. met. 7,19-21). Diese anthropologische Dramatik macht Paulus zum Bestandteil seiner Argumentation. Doch während in den paganen Texten die Affekte (Zorn, Lust) oder die Natur gegen das gute Wollen stehen, tritt bei Paulus die Macht der Sünde auf den Plan, die im »Ich« wohnt, es besetzt hält. Und daher kann es die Tora nicht erfüllen. Das »Ich« gibt folglich zu, dass der nomos an sich gut ist (7,16), aber es findet sich so mit dem nomos konfrontiert, dass ihm, obwohl es das Gute tun will, das Böse nahe liegt (7,21). Nomos kann in 7,21 eine allgemeine anthropologische Gesetzmäßigkeit oder konkret die Tora bedeuten; vielleicht gebraucht Paulus den Begriff bewusst doppeldeutig im Sinne eines Sprachspiels: Was für Medea gilt, gilt auch für die vorchristliche Wahrnehmung der Tora: Gutes Wollen führt nicht zum Guten. Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 53 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 53 Stefan Schreiber Wer bin »Ich«? Diese Spannung im »Ich« führt in 7,22 f. zu zwei unterschiedlichen Weisen der Tora-Anwendung: das Gesetz Gottes bzw. das meiner Vernunft und das andere Gesetz bzw. das der Sünde in meinen Gliedern. Die jeweiligen Genitivattribute geben die verschiedenen Existenzweisen an, innerhalb derer die Tora verstanden wird. Für das nichtchristliche »Ich« dominiert das »Gesetz der Sünde« und nimmt das »Ich« gefangen, d. h. die Sünde beherrscht das gute Gesetz. Das »Gesetz Gottes« deutet aber bereits die paulinische Tora-Hermeneutik an-- und zugleich den Rettungsweg für das zerrissene »Ich«. Mit 7,24 gelangt die Prosopopoiie zu ihrem Höhepunkt. Das »Ich« stößt einen Verzweiflungsschrei angesichts seiner aussichtslosen Lage aus: »Wer wird mich retten aus diesem Leib des Todes? « Das Rollen-Ich erkennt, dass Rettung von außen nötig ist. Das Futur belegt, dass diese Rettung für den »Toratreuen ohne Christus« erst noch eintreten muss-- womit implizit auf das Christus-Ereignis verwiesen ist. In 7,25a findet ein kurzer Sprung aus der Rolle statt, in dem der Briefverfasser zeigt, wo diese Rettung zu finden ist: Der Dank dieser kurzen Doxologie geht an Gott durch Jesus Christus. So kann Paulus nur aus christlicher Perspektive sprechen, die bereits auf den Beginn der eschatologischen Herrschaft Gottes, zu dem die grundsätzliche Entmachtung der Sünde zählt, zurückblicken kann. In 7,25b kommt-- durch betontes »Ich selbst« (gr.: autos egō) markiert-- noch ein letztes Mal das Rollen-Ich zu Wort, um sein Fazit zu ziehen: Es dient mit der Vernunft dem Gesetz Gottes, mit dem Fleisch aber dem Gesetz der Sünde. Die beiden unterschiedlichen Existenzweisen-- im Fleisch meint vor Christus, die Vernunft deutet schon die neue Existenz an-- implizieren zwei unterschiedliche Verstehensweisen der Tora. 5. Ausblick auf die neue Tora-Hermeneutik In Röm 7,14-25 liegt eine kunstvolle Argumentation vor, mit der Paulus in der Rolle eines »Toratreuen ohne Christus« spricht und dabei die Notwendigkeit der Rettung durch Christus und einer damit verbundenen neuen Tora-Hermeneutik entwirft. Dabei zeigt Paulus zuerst, dass das Wollen und vor allem das Tun des Menschen von der Sünde besetzt sind. Dann wendet er diese Einsicht auf die Tora an, deren bisheriges Verständnis in die Aporie führt. Dass mit Christus ein neues Verständnis der Tora möglich und gefordert ist, deutet 7,22-25 an und entfaltet dann 8,1-11, wo das neue Leben in Christus beschrieben wird. Jetzt spricht Paulus wieder selbst, aber mit der Anrede »dich« in 8,2 antwortet er dem Rollen-Ich von 7,14-25, setzt also das Rollenspiel noch einmal fort. Er betont dabei die in Christus gesetzte neue Gottes-Beziehung, denn durch die Sendung seines Sohnes in die Sphäre des Fleisches verurteilte und überwand Gott (endgültig) die »Sünde im Fleisch« (8,3) und setzte im Leben im Geist eine neue Lebensweise frei (8,5-11). Dem entspricht die neue Tora-Hermeneutik, die Paulus in 8,2 so formuliert: Das »Gesetz des Geistes des Lebens im Christus Jesus« steht dem »Gesetz der Sünde und des Todes«, der von der Sünde gestörten Tora-Deutung, gegenüber. Der Geist und Christus bestimmen nun die Perspektive auf die Tora, weil sie eine neue Wirklichkeit des Lebens brachten-- der Kreis schließt sich zum Fallbeispiel von 7,1-6. Anmerkungen 1 Zur Auslegung von Röm-7 vgl. H. Lichtenberger, Das Ich Adams und das Ich der Menschheit. Studien zum Menschenbild in Römer 7 (WUNT 164), Tübingen 2004; S. Schreiber, Der Römerbrief, in: Ders./ M. Ebner (Hgg.), Einleitung in das Neue Testament (KStTh 6), Stuttgart 2 2013, 281-307, 300 f. 2 J. Müller, Willensschwäche und innerer Mensch in Röm 7 und bei Origenes. Zur christlichen Tradition des Handelns wider besseres Wissen, ZNW 100 (2009), 223-246, 236 f., denkt an einen Christen, der an sich selbst die Erfahrung der Willensschwäche macht und das neue ethische Handeln noch nicht umsetzen kann. 3 Ich gliedere den Text in die Abschnitte 7,1-6; 7,7-13; 7,14-25. Dabei stellt 7,13 eine Inklusion mit 7,7 dar: Parallel sind jeweils ein Fragesatz, die klar ablehnende Antwort mē genoito und die mit alla eingeleitete Begründung; 7,14 bietet einen Neueinsatz mit »wir wissen«. 4 Das spricht gegen die Forschungsposition, die eine Abschaffung der Tora bei Paulus annimmt; so E. Käsemann, An die Römer (HNT 8a), Tübingen 4 1980, 181; vgl. E. Lohse, Der Brief an die Römer (KEK 4), Göttingen 2003, 204-209; mit starker theoretischer Differenzierung U. Wilckens, Der Brief an die Römer. Bd. 2 (EKK 6/ 2), Zürich/ Neukirchen-Vluyn 3 1993, 67-71. 5 Vgl. schon Röm 5,20; ferner 1Kor 15,56; Röm 3,20; 4,15. 6 Analogien zum Geist als Instanz des gruppenspezifischen Verstehens finden sich in 1QS 3,2b-9a; 4,20-23; 1QH 5,18 f. (vgl. 4,26). 7 Dazu S. Schreiber, Römerbrief, 295 f. »Paulus greift dabei einen kulturellen Diskurs der Antike auf, der aus Theater und Schullektüre bekannt war und den ich unter Bezug auf ein klassisches Drama des Euripides als ›Medea-Motiv‹ bezeichne« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 54 - 2. Korrektur 54 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Kontroverse 8 Die Prosopopoiie als rhetorische Technik beschreiben u. a. Cicero und Quintilian. Dazu S.K. Stowers, Romans 7,7- 25 as a Speech-in-Character (prosōpopoiia), in: T. Engberg- Pedersen (Hg.), Paul in his Hellenistic Context, Edinburgh 1994, 180-202 (mit der Deutung des »Ich« als Heide, der dem Judentum nahe steht); vgl. J. A. Harrill, Slaves in the New Testament. Literary, Social, and Moral Dimensions, Minneapolis 2005, 18-21. 9 Adam als Typos thematisierte bereits Röm 5,12-21; dort ist davon die Rede, dass es für Adam eine Zeit »ohne Gesetz« gab. Die Hörer/ innen sind also auf die Rollenfigur vorbereitet. 10 Dass ein Verbot geradezu seine Übertretung provoziert, war ein in der römischen Literatur verbreiteter Topos. Belege bei K. Haacker, Der Brief des Paulus an die Römer (ThHK 6), Leipzig 4 2012, 143 Anm. 13; M. Theobald, Römerbrief. Bd. 1 (SKK 6/ 1), Stuttgart 2 1998, 207. 11 Gen 2,16 f.; 3,17-19; ApkMos 14,2 f. (vgl. 7,1; 17,5); 4-Esr 3,7. 12 Dazu A. Bendlin, Art. Personifikation I. Begriff. II. Historische Entwicklung, in: DNP 9 (2000), 639-643. 13 Gegen die Sünde als Macht kann die menschliche Seite der Sünde betont werden: E. Wasserman, The Death of the Soul in Romans 7. Sin, Death, and the Law in Light of Hellenistic Moral Psychology (WUNT II/ 256), Tübingen 2008, 81-84. 148, leitet die Sünde aus der platonischen Moralphilosophie ab und identifiziert sie mit den irrationalen Teilen der menschlichen Seele, während das sprechende »Ich« der »innere Mensch« bzw. die Vernunft sei. G. Röhser, Paulus und die Herrschaft der Sünde, ZNW 103 (2012) 84-110, sieht die Sünde als »›Inbegriff‹ […] aller menschlichen Sündentaten« und erkennt darin »eine spezifische anthropologische ›Wirklichkeit‹« (97 f.). 14 Das Thema ist nicht die christliche Anthropologie. Anders jedoch E. Käsemann, Römer 201: jeder Mensch sei im Blick, »verstrickt […] in die eigene Lebensgier«; vgl. E. Lohse, Brief 222. 15 Eur. Med. 1077-1080; zu weiteren Belegen H. Lichtenberger, Ich 176-186. N EUAUFLAGE J U N I 2013 Otfri ed H öffe (H rsg. ) Einführung in die utilitaristische Ethik U TB S 5. , ergänzte u nd aktu al i si erte Aufl age 2013 285 Seiten , €[D] 22, 99/ SFr 31, 90 I SBN 978-3-8252-3985-5 A. Francke Verlag • Di schi ngerweg 5 • D-72070 Tübi ngen • Tel . +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 • www. francke. de Di e bewährte Ei nführu ng versammel t di e wi chti gsten kl assi schen u nd zeitgenössi schen Texte des U ti l itari smus, ergänzt durch ei ne i nstrukti ve u nd kriti sche Ei nl eitu ng des H erausgebers, di e auch neue Entwi ckl u ngen berücksi chti gt. Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 55 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 55 Ein Text mit einem »unverstandenen Rest« Unverändert gilt die Feststellung von Hermann Lichtenberger zur Auslegungsgeschichte des 7. Kapitels des Römerbriefes: »Was als Konsens der Bemühungen um den Text als gesichert schien, mußte oft ins Wanken geraten, so daß jeder Ausleger genötigt war, erneut mit dem Buchstabieren zu beginnen.« 1 Deshalb mag es gestattet sein, hier abermals-- und in behutsamer Aufnahme und Weiterführung eigener Bemühungen 2 -- einen Auslegungsvorschlag zu Röm 7 zu unterbreiten, der von der gegenwärtigen-- auch von Stefan Schreiber vertretenen-- Mehrheitsmeinung in der Exegese abweicht. Dabei ist mir deutlicher als bei anderen Texten jener unverstandene und unerklärte »Rest« im Hintergrund bewusst geworden, von dem Karl Barth im Vorwort zur 2. Auflage seines »Römerbriefes« von 1922 spricht, an den auch Lichtenberger im vorliegenden Zusammenhang erinnert und den es wahrzunehmen gelte 3 -- wobei mir diese Wahrnehmung am Ende darauf hinauszulaufen scheint, dass Römer 7 zum leuchtendsten Paradigma eines Textes wird, zu dem es mindestens (! ) zwei völlig verschiedene, jeweils textgestützte und gut begründete Auslegungen gibt und geben darf-- ein Leckerbissen für jeden Semiotiker! Dass diese Offenheit nicht mit Beliebigkeit und Willkür zu verwechseln ist, wird schon allein daran deutlich, dass ich mit Stefan Schreiber in zwei grundlegenden exegetischen Entscheidungen zu Röm 7 übereinstimme: Wie er verstehe ich das Ich dieses Kapitels als ein »generisches«, d. h. durch diese Redefigur werden typische, zu verallgemeinernde Erfahrungen zum Ausdruck gebracht, 4 die einen (auto)biographischen Rahmen des Autors (Apostel Paulus) bei weitem übersteigen und einen großen Teil der Menschheit (wenn nicht die ganze) betreffen. Allerdings möchte ich dieses Ich anders als Schreiber, Lichtenberger u. v. a. (auch) auf die Christusgläubigen beziehen, die zwar grundsätzlich aus dem Herrschaftsbereich der Sünde in denjenigen Jesu Christi übergewechselt sind, die aber immer noch (und bis zur endgültigen Erlösung) unter dem Einfluss der Sünde und des hieraus resultierenden existenziellen Konflikts stehen (Röm 7,7-25). Zum anderen stimme ich mit Schreiber darin überein, dass es in Röm 7 um die Rolle des Gesetzes und um dessen Verteidigung gegen ungerechtfertigte Angriffe (und damit auch um diejenige des Paulus gegen unbegründete Einwände) geht: Von dem Ehebeispiel aus der Tora (7,1 ff.) über die rhetorischen Fragen in 7,7 (Ist das Gesetz Sünde? ) und 7,13 (Ist das Gute = Gesetz mir nun zum Tod geworden? ) sowie grundsätzliche Feststellungen über die Dignität des Gesetzes (7,12.14a) zieht sich das Thema bis hin zu seinem (vorläufigen) Abschluss in Röm 8,2-4 (Gesetz des Geistes, Erfüllung seiner Forderungen). Dies schließt jedoch nicht aus, dass es im Rahmen dieses Themas auch zu ausführlichen anthropologischen Reflexionen kommt-- Schreiber spricht ja selbst von der »anthropologische(n) Dramatik« in der Argumentation von Röm 7,14b-21. Und diese verdient bei der Frage nach dem christlichen oder vorchristlichen Ich in Röm 7 im Grunde noch mehr Aufmerksamkeit als die neue Tora-Hermeneutik im Sinne Schreibers. Auf den Kontext kommt es an Um eine neue, erweiterte Perspektive auf Röm 7,7-25 zu gewinnen, ist es hilfreich, auf den vorderen und hinteren Gesamtkontext des Abschnitts zu achten. Spätestens mit Röm 6,1 befinden wir uns im 2. Hauptteil des Römerbriefes, wo es um die Freiheit von Sünde, Gesetz und Tod, um die eschatologische Hoffung sowie die Rolle des Heiligen Geistes geht. Umso mehr überrascht es, dass zwischen der Taufe, in der grundsätzlich die Freiheit der Christusgläubigen von der Herrschaft der Sünde und des Todes erreicht wird (6,3-11), und der Gabe des Geistes (5,5; 8,9-11.15 f.23) kein direkter Zusammenhang zu bestehen scheint. Überhaupt ist die Verbindung zwischen (Wasser-)Taufe und individuellem Geistempfang bei Paulus auch sonst prekär und theologisch nicht ausgearbeitet. Eher ist an so etwas wie einen der Gemeinde als ganzer gegebenen Gemeinschaftsgeist zu denken, für den zu öffnen und an dem Anteil zu gewinnen der bzw. die Einzelne in der Taufe die grundsätzliche Fähigkeit gewinnt (durch Trennung Kontroverse Günter Röhser Der lange Schatten der Vergangenheit Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 56 - 2. Korrektur 56 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Kontroverse und Abkehr von der Existenzweise des »alten Menschen«) und die grundsätzliche Verpflichtung dazu (durch gehorsamen Wandel in der neuen Existenzweise) übernimmt. 5 Von daher wären dann in Röm 6-8 mögliche und notwendige Etappen auf dem Weg zur endgültigen Erlösung (7,24; 8,23) anvisiert und nicht der gesicherte Heilsstand in einem »sündenfreien« Raum (der notwendige Zuspruch an »Heilsgewissheit« legte sich dann in 5,1-11 und 8,18-39 wie in einem Rahmen um die ganze Erörterung). Das bedeutet dann natürlich auch eine neue Perspektive auf Röm 7,7-25 als (durchaus auch) christliche Erfahrungsmöglichkeit in der noch unvollkommenen Gegenwart. Doch betrachten wir einige Stationen des Gesamtkontextes etwas genauer: Mit der Rede vom Gestorbenbzw. Tot-Sein (für das Gesetz, d. h. frei zu sein von seiner verurteilenden Funktion) durch den Leib Christi (7,4a; vgl. V. 3) und der Zugehörigkeit zu ihm als dem aus Toten Auferweckten (V. 4b) schließt Paulus explizit erkennbar an das Gestorben-Sein mit Christus in der Taufe samt zukünftigem Auferstehungsleben mit ihm aus Röm 6,3-8 an. Die Abfolge von Alt und Neu (einschließlich ethischer Implikationen) in 6,4-6 und 7,4a.b spiegelt sich dann auch in 7,5-6 wider: Durch die Formulierung »als wir im Fleisch waren, wirkten sich die durch das Gesetz (ausgelösten) sündigen Leidenschaften in unseren Gliedern aus« (V. 5) wird der beschriebene verhängnisvolle Vorgang und damit auch das »Sein im Fleisch [sarx]« (scheinbar) eindeutig der Vergangenheit zugewiesen, während V. 6 (»Jetzt aber sind wir von dem Gesetz losgekommen, indem wir dem gestorben sind, worin wir festgehalten waren, so dass wir im neuen Bereich des Geistes dienen und nicht im alten des Gesetzesbuchstabens«) ebenso (scheinbar) eindeutig die nunmehr erreichte Heilswirklichkeit anhand ihrer ethischen Implikationen beschreibt. Inhaltlich nimmt V. 5 nach allgemeiner Ansicht in komprimierter Form die folgenden Verse 7-23 voraus, während V. 6 mit seiner Vorstellung von der Befreiung vom Gesetz als einer unheilvollen Instanz und v. a. mit seiner Rede vom Geist unmittelbar auf 8,2.9-11 voraus weist. Gleichzeitig erscheint dort aber auch die Rede vom »Sein im Fleisch« (im Präsens: 8,8 f.) sowie die Verpflichtung, nicht »nach dem Fleisch« zu leben, sondern durch den Geist die »Machenschaften des Leibes« (Übers. U. Wilckens) zu töten (sie dürften den »Werken des Fleisches« von Gal 5,19 entsprechen) bzw. sich durch den Geist leiten zu lassen (8,12-14). Denn nur solches »vom Geist bestimmte Trachten« besitzt die Verheißung von Leben und Frieden, während das »vom Fleisch bestimmte« Trachten im Tod endet (8,6). Nur solches geistbestimmte Trachten hat dann die fleischliche Existenzweise auch wirklich hinter sich gelassen. So wird deutlich: Ein vollständiges Bild von den in 7,5-6 beschriebenen Sachverhalten und verwendeten Kategorien erhält man erst durch die Einbeziehung des gesamten Kontextes bis einschließlich Kap. 8. Dann aber gilt: Nur die Christusgläubigen besitzen überhaupt die Fähigkeit, sich dem Gemeinschaftsgeist in ihrer Mitte zu öffnen und ihr Leben an ihm zu orientieren. Sie müssen dies dann aber auch tun und sich gegen die Bestrebungen des Fleisches zur Wehr setzen. Jesus selbst ist »im Fleisch« (d. h. hier: als Mensch, im irdischen Leben; vgl. Phil 1,21 ff.; Gal 2,20) erschienen und hat den Weg dafür frei gemacht (8,3). Von daher kann man dann auch 7,14 lesen: Das »Fleischlich«-Sein als Gefahr dauert an und sichert der Sünde einen bleibenden Angriffspunkt auf die Christusgläubigen-- was nicht heißt, dass sie ihr erliegen müssen (im Gegenteil: Sie haben ja den Geist als Gegenmittel [8,9]). Es gibt also drei Verwendungsweisen von »Fleisch« bei Paulus in diesem Zusammenhang, die genau zu unterscheiden sind: das Leben »im Fleisch« (8,3 von Jesus; wertneutral), das »Sein im Fleisch« (für die Christusgläubigen vergangen: 7,5; 8,8 f.; negativ), das »Sein/ Wandeln/ Leben nach dem Fleisch« (eine für Christusgläubige aktuelle Möglichkeit und Gefahr der falschen Orientierung: 8,4 f.12f.; negativ). Prof. Dr. Günter Röhser, Jahrgang 1956, Studium der Evangelischen Theologie in Erlangen, Heidelberg und Neuendettelsau. Promotion (1986) und Habilitation (1993) in Heidelberg. Pfarrer der Evang.-Luth. Kirche in Bayern, Lehrtätigkeit in Bamberg und Siegen, 1997-2003 Professor für Bibelwissenschaft an der RWTH Aachen, seit 2003 für Neues Testament an der Universität Bonn. Forschungsschwerpunkte: Religiöse Vorstellungen der (biblischen) Antike, paulinische Theologie, Fragen der Bibelübersetzung. Homepage: www.guenter.roehser.de Günter Röhser Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 57 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 57 Günter Röhser Der lange Schatten der Vergangenheit 7,7-13 beschreibt unter diesem Aspekt, was das Im- Fleisch-Sein in der Vergangenheit bedeutete und wozu es führte (vgl. 7,5). In der Begegnung mit dem guten Gebot Gottes stellte sich nämlich heraus, dass der Mensch-- das »Ich« in der »Rolle Adams« (vgl. Schreiber)-- sich vollständig in der Gewalt der Sünde befand, die vermittels des Gebotes die sündige Begierde in ihm weckte und ihn so zugrunde richtete (V. 11: »betrog« und »tötete«). Ob es in der Vorstellung des Paulus jemals eine Phase gab, in welcher der Mensch (Adam) in Übereinstimmung mit den Geboten Gottes lebte, muss offenbleiben (V. 9a); Röm 5,13 (»Sünde wird nicht angerechnet, wenn kein Gesetz da ist«) bezieht sich m. E. nur auf die Phase zwischen Adam und Mose (5,14) und lässt deshalb keine Aussage über den Status Adams vor dem »Sündenfall« zu. In dem Augenblick jedenfalls, in dem das Gebot gegeben wurde, lebte die Sünde auf (7,9b), und eine Phase »Gebot/ Gesetz ohne Sünde« hat es bis zum Erscheinen Jesu nicht gegeben. Eine »übernatürliche Macht«, die sich gar mit heidnischen Gottheiten vergleichen ließe (Schreiber), kann ich freilich in der personifizierten Sünde nicht erkennen, sondern vielmehr den Inbegriff der Menschheitssünden und Verstöße gegen Gottes Gebot, die sich über ihr und jedem/ jeder Einzelnen zusammenballen und für alle zum unentrinnbaren Unheilskomplex geworden sind. So führte das unheilvolle Wirken der Sünde für alle-- trotz oder gerade wegen des Gesetzes-- zum Tod, solange sie »im Fleisch waren« (7,5). Ein Gegenmittel oder eine Hoffnungsperspektive war nicht in Sicht. Tempora mutantur? Dies ändert sich mit 7,14-25. Nach der Feststellung in V. 13, dass die Sünde durch das Gute (= Gesetz) mir den Tod bewirkte, damit sie als solche im Übermaß in Erscheinung trete, folgt zunächst eine allgemeine, zeitlose Aussage (im Präsens) über den Gegensatz zwischen dem Gesetz (»geistlich«) und »mir« (»fleischlich«), bevor dann-- wiederum im Präsens-- eine Art Gegeninstanz zu dem oder innerhalb des fleischlichen »Ich« auf den Plan tritt, die ebenfalls in der Ichform sagt, dass sie nicht das tut, was sie will, und dass sie damit dem Gesetz zugesteht, dass es gut ist (V. 15 f.). Dieser Konflikt setzt sich nun durch den ganzen Abschnitt hindurch fort; es stehen sich gegenüber: Ich und die Sünde, genauer: mein Wollen und das Wirken der Sünde, das Wollen des Guten und das Tun des Bösen, die Mitfreude am Gesetz »gemäß dem inneren Menschen« bzw. das »Gesetz meiner Vernunft« und das (andere) »Gesetz der Sünde in meinen Gliedern«, das Dienen mit der Vernunft und das Dienen mit dem Fleisch. Es besteht ein anhaltender Konflikt in dem gespaltenen Ich, der den betroffenen Menschen nach einem Ausweg rufen lässt und in dem dieser ganz offensichtlich auch eine Antwort erhält (7,24 f.: »wird erlösen«; 8,2: »hat dich befreit«). Damit liegt eine wichtige Frage auf dem Tisch, die die Diskussion über Röm 7 seit jeher bestimmt, nämlich die Frage nach den im Text verwendeten Zeitstufen (Tempora). V.7-13 verwenden nach den einleitenden Überlegungen für die absolute Zeitstufe ausschließlich das Präteritum (überwiegend Aoristformen). Da es hier um Entstehung und Folgen der Sünde geht, kann dies nicht verwundern; denn schließlich sind die Christusgläubigen über diese Phase hinausgelangt in einen neuen Heilsbereich-- »in Christus Jesus«-- hinein und haben den Tod (in der Taufe) hinter sich gelassen. Damit ist nicht gesagt, dass der in V. 7-13 beschriebene Prozess nicht noch einmal für Gläubige in der einen oder anderen Art relevant oder gefährlich werden könnte; der Schwerpunkt des Aussageziels liegt aber eindeutig in der Vergangenheit. Mit 8,1 ist eindeutig die Gegenwart des Heils erreicht: »Also (gibt es) jetzt keine Verurteilung für die, die in Christus Jesus (sind)« (vgl. 7,6 »jetzt aber«). Nach dem Rückblick auf das Heilsgeschehen in V. 2-3 (überwiegend Aoristformen) finden sich ab V. 4 fast nur noch Präsensformen, die beschreiben, was die Christusgläubigen tun bzw. sind oder tun/ sein können bzw. sollen und was der Geist an und mit ihnen tut. Symptomatisch für die noch ausstehende Vollendung ist aber, dass sich ab V. 11b schon deutlich Zukunftsaussagen (z.T. Futurformen) in die präsentischen Aussagen mischen bis hin zur endgültigen Befreiung der Schöpfung und Erlösung unseres Leibes (V. 21-23). Somit ist der zeitliche Spannungsbogen der paulinischen Abhandlung klar, der von Gebot und »Sündenfall« (7,9; vgl. 5,12) über das Kommen des Gesetzes (5,13.20) und das Erscheinen des Messias und Gottessohnes (8,3) bis hin zur zukünftigen »Eine ›übernatürliche Macht‹, die sich gar mit heidnischen Gottheiten vergleichen ließe [...], kann ich freilich in der personifizierten Sünde nicht erkennen, sondern vielmehr den Inbegriff der Menschheitssünden und Verstöße gegen Gottes Gebot, die sich über ihr und jedem/ jeder Einzelnen zusammenballen und für alle zum unentrinnbaren Unheilskomplex geworden sind.« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 58 - 2. Korrektur 58 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Kontroverse »In der jetzt begonnenen letzten Phase müssen die Christusgläubigen sich bewähren, indem sie sich an der Gabe des Geistes orientieren und sich so ihre Zugehörigkeit zu Christus und dem neuen Heilsbereich erhalten (8,9b); ansonsten gehen sie ihrer heilvollen Zukunft verlustig.« Vollendung (Auferstehung, Leben und Herrlichkeit) reicht. In der jetzt begonnenen letzten Phase müssen die Christusgläubigen sich bewähren, indem sie sich an der Gabe des Geistes orientieren und sich so ihre Zugehörigkeit zu Christus und dem neuen Heilsbereich erhalten (8,9b); ansonsten gehen sie ihrer heilvollen Zukunft verlustig. Was ist nun aber mit 7,14-25? Von wem und was ist hier die Rede? Wir notieren die Verwendung von Präsensformen in jedem Vers dieses Textes außer V. 24. Dass dieses Präsens nicht einfach auf derselben Ebene liegt wie dasjenige in Kap. 8, hatten wir oben schon im Übergang von Kap. 7 zu Kap. 8 festgestellt. Denn die ersten Verse von Kap. 8 reagieren ganz offensichtlich auf den Konflikt von 7,14-25 und sind ihm insofern zumindest logisch nachzuordnen. Trotzdem ist ernst zu nehmen, dass die Präsensformen von Kap. 8 zumindest rein grammatikalisch Gleichzeitigkeit mit den Präsensformen von Kap. 7 suggerieren. Für das Verhältnis von 7,14-25 zu 7,7-13 gilt dies nicht in gleicher Weise. Für Letzteres hatten wir schon festgestellt, dass der Schwerpunkt des Aussageziels auf der Vergangenheit liegt. Insofern muss ein deutlicher Unterschied zu 7,14-25 vorliegen. Umstritten ist zunächst die Textgliederung. Soll man einen Einschnitt nach der Schlussfolgerung V. 12 (Rückbezug auf V. 7a) oder nach dem eine Inklusion mit V. 7 bildenden V. 13 (Rückbezug auf V. 7b) annehmen? 6 Entscheidet man sich für Ersteres, so würde deutlicher bleiben, dass die Apologie des Gesetzes das eigentliche Hauptthema der Erörterung ist, und der Tempuswechsel zwischen V. 13 und 14 würde in seiner Bedeutung relativiert. Dem entspricht, dass eine viel größere inhaltliche Nähe von V. 13-24 zu V. 7-12 besteht (Dignität des Gesetzes, Not des Menschen angesichts des Gesetzes mit der Folge Tod) als zu 8,1 ff. Wenn man den Einschnitt hinter V. 13 macht, müsste man den Tempuswechsel angesichts der inhaltlichen Nähe erst recht erklären: Wie können sich die Präsensformen in V. 14-25 auf dieselbe Vergangenheit (vorchristliches »Ich«) beziehen wie die Aoristformen in 7,7-13? Und wie kann gleichzeitig der Zusammenhang gewahrt werden mit den Präsensformen in Kap. 8? Offenkundig doch nur so, dass 7,13/ 14-25 nicht nur in der Struktur des Gesamttextes, sondern auch zeitlich eine Zwischenstellung einnimmt und bezeichnet zwischen der Vergangenheit in 7,7 ff. und der Gegenwart in 8,1 ff. Oder anders und besser ausgedrückt: dass das Mittelstück überhaupt keine absolute Zeitstufe zum Ausdruck bringt, sondern die Beschreibung eines Konfliktes liefert, der sowohl zur sündigen Vergangenheit des Menschen gehört als auch in der Gegenwart des Heils wieder akut werden kann und insofern die Zeiten überdauert bis zur endgültigen Erlösung. Das impliziert zugleich, dass das christliche Ich im schlimmsten Fall wieder in das tödliche Verhängnis von 7,7 ff. zurückfallen kann, wie auch das zurückgefallene (und insofern »vorchristliche«) Ich jederzeit wieder zu dem Heilsstatus von 8,1 ff. zurückkehren (und insofern »voranschreiten«) kann. Tempora non mutantur-- in dieser Hinsicht. Versteht man so, dann liegt es nahe, den Verzweiflungsschrei von 7,24 (auch) auf die zukünftige und endgültige Erlösung des Leibes ausblicken zu lassen (Futurform), die den Christusgläubigen jetzt schon durch die Gabe des Geistes (als »Erstlingsgabe«) verbürgt ist (8,23) und Anlass zur Doxologie bietet (7,25a). Nach wie vor ist der Leib des Menschen (auch des christusgläubigen) dem Tod verfallen (V. 24b)-- wenn auch nicht ohne Hoffnung--, und nur durch leibliche Auferstehung kann der Mensch (auch der christusgläubige) das endgültige Heil erreichen und seine Sterblichkeit hinter sich lassen. Diese »Zwitterstellung« unseres Abschnitts kann man noch einmal bestätigt finden durch eine Betrachtung der Art und Weise, wie Paulus im vorliegenden Zusammenhang von dem »inneren Menschen« redet (V. 22). Zunächst scheint dieser Ausdruck ja die stärkste Bestätigung für ein »christliches« Verständnis des Ich in Röm 7,14-25 zu sein, da so eine gleichsinnige Erklärung mit 2Kor 4,16 möglich zu werden scheint. Wenn Paulus dort davon spricht, dass unser »innerer« Mensch »Tag um Tag erneuert wird«, so meint er mit jenem Ausdruck die Wirklichkeit des neuen Menschen, die durch die Gabe des Geistes (»in uns«) begründet wird (vgl. Röm 8,9; 7,6) und sich allmählich entfaltet. Damit ist jedoch im Hinblick auf Röm 7,22 f. Vorsicht geboten: Die Aussage über die Rolle des inneren Menschen ist gegenüber 2Kor 4,16 stark eingeschränkt. Dieser stimmt zwar dem Gesetz zu und freut sich an ihm mit, aber von einer täglichen Erneuerung wie in 2Kor 4,16 (oder gar einem Wachstum) kann keine Rede sein-- im Gegenteil: Ein Leben nach dem Willen Gottes (»nach dem Geist«), die Erfüllung des Gesetzes (Röm 8,4) ergibt sich daraus nicht; das Ich und das Gesetz seiner Vernunft (welches Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 59 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 59 Günter Röhser Der lange Schatten der Vergangenheit dem inneren Menschen entspricht) befinden sich vielmehr immer schon im Widerstreit mit dem Gesetz der Sünde, welches sie an der Erfüllung des Gesetzes Gottes hindert. So dient das Ich beiden, mit der Vernunft dem Gesetz Gottes und mit dem Fleisch dem Gesetz der Sünde (V. 25b)-- es kommt aber nicht aus dem Konflikt heraus. Als Lösung bietet sich an, was zugleich als Bestätigung für die vorgeschlagene Deutung dient, nämlich den inneren Menschen als zeitübergreifende Instanz zu verstehen, als Vermögen des natürlichen Menschen und seiner Vernunft sowohl beim Christen als auch beim Nichtchristen, das Gesetz Gottes anzuerkennen und sich an ihm zu freuen (vgl. auch Röm 2,14 f.). 7 Auch bezüglich des inneren Menschen gilt: Tempora non mutantur. Heikle Punkte Eine solche Auslegung kann man nicht vorschlagen, ohne die heiklen Punkte, den immer noch und immer wieder »unerklärten Rest« im Sinne K. Barths offen anzusprechen. 1. Der Ausdruck »verkauft unter die Sünde« (7,14) ist als Zustandsbeschreibung des christlichen Menschen sehr stark-- zumindest wenn man es im Sinne eines Sklavenstatus gegenüber der Sünde versteht, den die Christusgläubigen nach Röm 6 eigentlich hinter sich gelassen haben. John Byron hat gezeigt, dass man die Metapher so auch nicht verstehen muss 8 -- einen starken Einfluss, ja Kontrolle über den Menschen beinhaltete sie aber immer noch. 2. Vergleichbares gilt für die Metapher des Innewohnens der Sünde (7,17.20). Kann man vom Christen sagen, dass die Sünde noch in ihm wohnt? -- Nur dann, wenn man die Sünde in strikter Entsprechung zum »Gemeinschaftsgeist« von Röm 8 (s. o. bei Anm. 5) als »Gemeinschaftssünde« begreift, als einen Einflussbereich, dem sich der/ die einzelne Christusgläubige auch verschließen und entziehen kann (der vor- und außerchristliche Mensch jedoch nicht! ). Umgekehrt vollbringt auch der/ die Christusgläubige im Tiefsten nicht immer das, was er/ sie eigentlich will (7,15 ff.-- indem er nämlich diesem Einfluss sich öffnet und ihn in sich einlässt). Diesen Schwierigkeiten versucht die im Aufsatztitel gewählte Metapher zu begegnen, indem sie - einerseits »nur« von einem »Schatten« spricht, der in die christliche Existenz hineinragt und sie in Spannung hält, dem man aber durch den Geist Gottes auch leicht begegnen kann, indem man sich in seinem christlichen Leben an dieser Gottesgabe orientiert und sich ihrer Kraftwirkung überlässt (vgl. 8,14 »sich durch den Geist leiten lassen«); - andererseits von einem »langen« Schatten spricht, weil sich der Weg des Christen doch auch wieder stark verdunkeln kann- - bis hin zur Gefahr des Glaubensabfalls und der Zerstörung der Gemeinde, wie gerade die Briefe des Apostels Paulus schmerzlich bezeugen-- und insofern das christliche »Ich« in einer echten eschatologischen Spannung gehalten wird, der es nicht ausweichen kann und die es zu bestehen gilt (vgl. auch Phil 3,11-14). Wenn dieses Bild zu Recht gewählt ist und den Sachverhalt in Röm 7 angemessen wiedergibt, wird man das »Ich« in Röm 7 auch auf den christusgläubigen Menschen beziehen können und müssen. Ich betone aber noch einmal als besondere Pointe meines Kontroversbeitrages, dass ich vorschlagen möchte, Röm 7,14-25 (und zwar nur diese Verse! ) als zeitlose Beschreibung eines Konfliktes zu lesen, der jeden Menschen (mehr oder weniger) betrifft. Damit grenze ich mich gegen Timo Laato ab, dessen folgende Feststellung ich für einseitig halte: »Röm 7 umfaßt nichts, was nicht auf den Christen paßt, oder-- zugespitzt formuliert-- alles, was Röm 7 umfaßt, paßt nur auf den Christen.« 9 3. Schließlich muss darauf hingewiesen werden, dass die Mehrheit der Exegeten (in Deutschland) Röm 7,25b für eine nachpaulinische Glosse und sekundäre Interpretation zu V. 14-24 hält und dass es auch eine Reihe von Argumenten dafür gibt, auf die hier nicht mehr eingegangen werden kann. 10 Allerdings ist es nicht der geringste Vorzug der hier vorgeschlagenen Deutung von Röm 7, dass mit ihr die Notwendigkeit einer solchen Annahme entfällt bzw. diese unmöglich wird. Außer der nachklappenden Stellung und einer etwas sperrigen Formulierung im Detail gibt es eigentlich keine Argumente mehr dafür-- zumal es auch sonst keine ausreichenden Gründe für die Annahme von Glossen im Römerbrief gibt. Das Nachklappen kann man vielleicht damit erklären, dass dadurch eine eindrückliche Gegenüberstellung zwischen dem auf sich gestellten gespaltenen Ich (autos ego) von »[Es] bietet sich an, [...] den inneren Menschen als zeitübergreifende Instanz zu verstehen, als Vermögen des natürlichen Menschen und seiner Vernunft sowohl beim Christen als auch beim Nichtchristen, das Gesetz Gottes anzuerkennen und sich an ihm zu freuen (vgl. auch Röm 2,14f ).« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 60 - 2. Korrektur 60 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Kontroverse 7,(14-)25 und »denen in Christus Jesus«, also der Gemeinde, von 8,1 entsteht, in deren Gemeinschaft durch das »Gesetz des Geistes des Lebens« immer wieder neu aus dem isolierten und verzweifelten Ich von V. 24.25b ein befreites Du (8,2) mit eschatologischer Hoffnungsgewissheit (vgl. noch einmal das Futur in 7,24b und die Fortsetzung in 8,11.12 ff.) hervorgeht. Aber unsere Gesamtdeutung von Röm 7 hängt von dieser Erklärung von V. 25b nicht ab. So bleibt am Ende der Versuch, Röm 7-8 fast nach der Art eines Zwei-Wege-Schemas zu lesen, bei dem sich allerdings die Möglichkeit zu wählen erst unterwegs auf dem einen (dem neuen) der beiden Wege ergibt, so dass eine Überlappung zwischen den beiden Möglichkeiten entsteht-- und diese Überlappung wird quasi durch Röm 7,14-25 repräsentiert: Es ist die Möglichkeit und Gefahr, auf den alten Weg zurückzukehren und damit unter den langen Schatten der Vergangenheit zu fallen (jedoch ggf. mit erneuter Rückkehroption). Es geht also nicht um die Situation der »Bekehrung« (conversio; diese liegt mit Röm 6 hinter dem Ich), sondern um eine postconversionale Situation und Argumentation, aus der heraus dieser Abschnitt in einer doppelten Perspektive erscheint. Anmerkungen 1 H. Lichtenberger, Das Ich Adams und das Ich der Menschheit. Studien zum Menschenbild in Römer 7 (WUNT 164), Tübingen 2004, 8. 2 Unmittelbarer Vorläufer ist: Paulus und die Herrschaft der Sünde, ZNW 103 (2012), 84-110. Vgl. auch meinen Beitrag: Vom Gewicht der Sünde und des Redens davon. Biblische Aspekte für eine heutige Vermittlung, ÖR 54 (2005), 427-445, bes. 441-443; außerdem meine Rezension zu H. Umbach, In Christus getauft-- von der Sünde befreit. Die Gemeinde als sündenfreier Raum bei Paulus (FRLANT 181), Göttingen 1999 (zu finden auf der ZNT- Homepage unter www.znt-online.de/ roehser3.html sowie unter www.guenter.roehser.de/ downloads.html). 3 Lichtenberger, Ich 9 (vgl. auch VII das Vorwort). 4 Dies kann man schon an dem nahtlosen Übergang von der 1. Person Plural in die 1. Person Singular in 7,7 und 7,14 erkennen. 5 Diese Darstellung ist angeregt durch die Konzeption von Stephan Hagenow, Heilige Gemeinde-- sündige Christen. Zum Umgang mit postkonversionaler Sünde bei Paulus und in weiteren Texten des Urchristentums (TANZ 54), bes. 156-160. 173 f.179 (vgl. den Buchreport von Thomas Schmeller in diesem Heft). 6 S. zuletzt A. Reichert, Literarische Analyse von Römer 7,7-25A, in: U. Schnelle (Hg.), The Letter to the Romans (BEThL CCXXVI), Leuven u. a. 2009, 297-325: 300 m. Anm. 16. 7 Zum Problem vgl. Lichtenberger, Ich 91. 8 J. Byron, Slavery Metaphors in Early Judaism and Pauline Christianity. A Traditio-Historical and Exegetical Examination (WUNT II 162), Tübingen 2003, 223-225. 9 T. Laato, Paulus und das Judentum. Anthropologische Erwägungen, Abo 1991, 163. Laatos gründliche Überlegungen zur »christlichen« Deutung von Röm 7,14-25 (ebd. 137-182) sind im Übrigen äußerst lehrreich und seien hier nachdrücklich zum Studium empfohlen. 10 S. dazu Lichtenberger, Ich 92-94. 150-160. Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 61 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 61 »Gott handelt gnädig nicht in Widerspruch zu seiner Gerechtigkeit, sondern über seine Gerechtigkeit hinaus. Wenn jemand beispielsweise 200 Denare von seinem eigenen Geld einem anderen gibt, der hundert Denare zu bekommen hätte, dann handelt er großzügig oder auch gnädig, nicht aber ungerecht. Dasselbe gilt, wenn jemand eine Beleidigung, die ihm widerfahren ist, verzeiht. Wenn er diese Schuld vergibt, macht er nämlich in gewisser Weise ein Geschenk daraus. So nennt der Apostel in Eph 4,32 die Vergebung ein Geschenk: ›Beschenkt einander, wie Christus euch beschenkt hat‹.« (Thomas von Aquin, Summa Theologiae I q. 21 a.3). Wer die Bibel aufmerksam liest, wird auf die vielfältige Metaphorik zur Bezeichnung menschlicher Sünde aufmerksam. Dies könnte die Annahme nahe legen, dass es in der Antike ein Standard-Repertoire an Sprachbildern gab, aus dem die unterschiedlichen Verfasser entsprechend ihrer jeweiligen rhetorischen Absichten ausgewählt haben. Das trifft aber nur teilweise zu. Die »Sünde« hat nämlich, so meine ich, eine Geschichte in dem Sinne, dass Konzepte von »Sünde« im Laufe der biblischen Geschichte einen Wandel erfahren haben. 1 Im Alten Testament ragt beispielsweise unter den verschiedenen Metaphern diejenige der »Last« hervor. Dagegen nimmt in jüdischen Quellen aus neutestamentlicher Zeit die Metapher der »Schuld« den ersten Platz ein. Das ist insofern erstaunlich, als es für diesen Wandel in den hebräischen Texten aus der Zeit des Ersten Tempels kaum eine philologische Basis gibt. Dieser Wandel kommt sozusagen aus dem Nichts. Seine Bedeutung lässt sich am besten durch einen Blick in das Lexikon des rabbinischen Hebräisch erhellen. Hierzu drei repräsentative Beispiele: (a) Die Bezahlung einer Rechnung, (b) der Status des Schuldners und (c) der Akt, jemanden von seiner Zahlungsverpflichtung zu entbinden. Hier ist eine vollständige Austauschbarkeit ökonomischer und theologischer Terminologie festzustellen, wobei die Bedeutung dieser nur im Lichte jener verstehbar ist: (a) Die Bezahlung einer Rechnung: Das Verb p-raʿ meint üblicherweise »für etwas bezahlen«, d. h. einen Geldwert für eine Schuld entrichten: »Ich habe dir zurückbezahlt (p-raʿt‘îka) [das Geld, das ich dir schuldete]« 2 . In der reflexiven Form (das niphal im Hebräischen) hat derselbe Verbstamm die wörtliche Bedeutung »Schulden von jemandem eintreiben«. Da aber körperliche Strafen als eine Art Währung angesehen werden, mit der man eine Schuld zurückzahlen kann, kann das Verb auch mit »bestrafen« übersetzt werden. In der Mekhilta de Rabbi Ismael, einem rabbinischen Kommentar zum Buch Exodus, erfahren wir, dass Gott die Wasser des Schilfmeeres geteilt hat, um Israel in Sicherheit zu bringen und die »zu bestrafen« (nipraʿ), die darauf aus waren, Israel zu zerstören. 3 Die reflexive Form des Verbs (nipraʿ) impliziert, dass Gott die Schulden, die der Pharao und sein Gefolge bei ihm hatten, eingetrieben hat: Das Entgelt für die Sünde war Tod (vgl. Röm 6,23). (b) Der Status des Schuldners: Der gebräuchlichste Verbstamm ist ḥāb, was normalerweise »etwas schulden« bedeutet. Das substantivierte Adjektiv ḥayyāb bedeutet »Jemand, der etwas schuldig ist«, und das Nomen ḥôb bezeichnet die »Schuld« im Sinne der geschuldeten Sache. Da eine Geldschuld immer mit einem Vertrag einher geht, ist der Gläubiger derjenige, der den Schuldnachweis besitzt (baʿal ḥôb), nämlich das Dokument (šṭar), das bei der vertraglichen Regelung des Darlehens unterschrieben wurde. Vorausgesetzt ist, dass der Gläubiger das Recht hat, seine Schulden einzutreiben, solange er im Besitz der Schuldurkunde ist. Dementsprechend wurde nach Rückzahlung sorgfältig darauf geachtet, dass die Urkunde entweder in zwei Stücke gerissen, die Bezahlung darauf vermerkt oder aber das Dokument an den Schuldner zu dessen freier Verfügung ausgehändigt wurde. In einem weiteren metaphorischen Sinn bedeutete die Bestrafung eines Sünders durch Gott nichts anderes, als dass der göttliche Gläubiger (in Form einer Strafe) seine Schulden eintreibt: »[Wenn jemand im Begriff ist, bestraft zu werden,] sagt Rabbi Isaak: ›Der Gläubiger (baʿal ḥôb) ergreift die Gelegenheit, seine beurkundeten Schulden (šṭar) einzutreiben‹« 4 . (c) Der Akt, jemanden von seiner Zahlungsverpflichtung zu entbinden: Das Verb māḥal bedeutet wörtlich »eine Schuldverschreibung annullieren« und übertragen »eine Sünde vergeben«. Die wörtliche Bedeutung wird durch folgendes Zitat aus dem Babylonischen Talmud illustriert: »Wenn man auf einen Schuldschein (šṭar) [Geld] geborgt und bezahlt hat (pāraʿ), so darf man auf diesen nicht wiederum borgen, weil seine Bürgschaft bereits erloschen ist (nimḥal)« 5 . Die übertragene Bedeutung liegt hier vor: »Der Regen kommt nur dann, wenn Israel seine Sünden vergeben werden (nimḥălû), Gary A. Anderson »Vergib uns unsere Schulden« Hermeneutik und Vermittlung Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 62 - 2. Korrektur 62 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Hermeneutik und Vermittlung denn es heißt: ›Du hast dein Land begnadigt, o Herr, hast das Geschick Jakobs gewendet, du hast die Schuld deines Volkes weggetragen, all ihre Sünden bedeckt‹ (Ps 85,1-3)« 6 . Bemerkenswert ist, dass der biblische Begriff von Sünde als »Last« (»du hast die Schuld deines Volkes weggetragen«) ausgeblendet wird zugunsten der Bedeutung »Schuld«. Dieses Beispiel zeigt, dass die Auffassung von Sünde als »Last« bzw. »Gewicht« im rabbinischen Hebräisch umgangssprachlich verschwunden ist, und zwar fast vollständig. Jesus und das Vaterunser Im Neuen Testament ist die Rede von Sünde als »Schuld« allgegenwärtig. Jesus hat immer wieder Geschichten von Schuldnern und Gläubigern erzählt, um die Dynamik von Sünde und Vergebung zu veranschaulichen. Wenn seine Alltagssprache dem Hebräisch der Rabbinen nahe stand, ist dies nicht verwunderlich. Wie Lakoff und Johnson gezeigt haben, bestimmen Metaphern unser alltägliches Denken, Handeln und Erzählen. 7 Schauen wir uns beispielsweise jene berühmte Zeile aus dem Vaterunser in der Fassung des Matthäusevangeliums an: »Erlasse uns unsere Schulden, wie auch wir unseren Schuldnern das Geschuldete erlassen« (6,12). Vergebung ist hier der großzügige Verzicht auf das Eintreiben von Schulden. Wer so betet, bittet darum, dass Gott so handeln möge, und er beteuert zugleich, dass er seinerseits in gleicher Absicht handelt. Die Forschung ist sich weitestgehend darin einig, dass der griechische Text, wie er uns im Neuen Testament vorliegt, nur auf dem Hintergrund seiner semitischen Vorlage eine sinnvolle Aussage ergibt. »Der matthäische Sprachgebrauch von ›Schuld‹ hat«, so Raymond Brown, »einen semitischen Klang. Während nämlich ›Schuld‹ im paganen Griechisch keinerlei religiöse Färbung hat, ist das aramäische ḥôbâ ein finanzieller bzw. kommerzieller Ausdruck, der in die religiöse Sprache übernommen wurde […]. Die Bitte um das ›Erlassen‹ (aphiēmi) von Schulden ist dementsprechend stärker semitisch als griechisch gedacht, denn eine religiöse Bedeutung von ›Erlassung‹ finden wir nur im hebräisch grundierten Griechisch der Septuaginta« 8 . Die Bedeutung der »Schuld«-Terminologie ist nicht auf das Vaterunser beschränkt. Am klarsten liegt das Gemeinte in der Parabel vom unbarmherzigen Knecht in Mt 18,23-35 zu Tage. 9 »Darum ist es mit dem Himmelreich wie mit einem König, der mit seinen Knechten abrechnen wollte. Als er abzurechnen begann, wurde einer vor ihn gebracht, der ihm zehntausend Talent schuldig war. Weil er sie nicht zurückzahlen konnte, befahl der Herr, ihn mit Frau und Kind und seiner ganzen Habe zu verkaufen und so die Schuld zu begleichen. Da warf sich der Knecht vor ihm auf die Knie und flehte: ›Hab Geduld mit mir, und ich werde dir alles zurückzahlen! ‹ Da hatte der Herr Mitleid mit jenem Knecht und ließ ihn gehen, und die Schuld erließ er ihm. Als aber der Knecht wegging, traf er einen seiner Mitknechte, der ihm hundert Denare schuldig war; und er packte ihn, würgte ihn und sagte: ›Bezahle, wenn du etwas schuldig bist! ‹ Da fiel sein Mitknecht vor ihm nieder und bat ihn: ›Hab Geduld mit mir, und ich werde es dir zurückzahlen! ‹ Er aber wollte nicht, sondern ging und ließ ihn ins Gefängnis werfen, bis er die Schuld beglichen hätte. Als nun seine Mitknechte sahen, was geschehen war, überkam sie große Trauer, und sie gingen und berichteten ihrem Herrn alles, was geschehen war. Da ließ sein Herr ihn zu sich rufen und sagte zu ihm: ›Du böser Knecht! Die ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich gebeten hast! Hättest nicht auch du Erbarmen haben müssen mit deinem Mitknecht, so wie ich Erbarmen hatte mit dir? ‹ Und voller Zorn übergab ihn sein Herr den Folterknechten, bis er ihm die ganze Schuld bezahlt hätte.« Prof. Dr. Gary Anderson ist Professor für katholische Theologie am Department of Theology der Universität Notre Dame. Er erwarb den Ph. D. 1985 an der Harvard University. Seine Forschungsinteressen liegen bei der Religion und Literatur des Alten Testaments mit besonderem Fokus auf seiner Rezeption im Frühen Judentum und Christentum. Darüber hinaus beschäftigt er sich mit kanonischer Exegese, Biblischer Theologie, jüdischer Kultur und Religion sowie den Beziehungen zwischen Judentum und Christentum. 2009 erschien seine Monographie Sin: A History (Yale University Press, 2009), die den Veränderungen in der Metaphorik der Sünde während der Zeit des Zweiten Tempels und den daraus folgenden Verschiebungen der Perspektive auf Sünde und ihre Vergebung in Judentum und Christentum nachgeht. Gary Anderson Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 63 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 63 Gary A. Anderson »Vergib uns unsere Schulden« Die Parabel zeigt in aller Deutlichkeit was Jesus meinte, als er seine Jünger unterwies, um Vergebung ihrer Schuld zu beten, so wie auch sie ihren Schuldnern vergeben sollten: Nach der Logik dieser Metaphorik drohen wir in Schuldsklaverei zu fallen, wenn wir sündigen. Wenn die Dinge ihren Lauf nehmen, muss man die »Kosten« des schuldhaften Handelns »bezahlen« mittels einer »Währung«, die durch körperliche Bestrafung generiert wird. Weil aber Gott barmherzig ist, wird er die Schulden erlassen, wenn wir ihn demütig bitten. »Der König, der mit seinen Knechten abrechnen will, steht«, so nochmals Raymond Brown, »offensichtlich für Gott, und die Situation ist die des Gerichts. Die Parabel macht deutlich, dass die Vergebung Gottes gegenüber dem Sklaven in Zusammenhang steht mit des Sklaven Vergebung gegenüber dem Mitsklaven. Wenn diese brüderliche Vergebung unterbleibt, wird er gepeinigt, bis er bezahlt hat« 10 . Die Parabel illustriert also die Logik des Vaterunser, die nicht nur die Bitte eines Sklaven an seinen Herrn um Schuldenerlass enthält (»erlasse uns unsere Schulden«), sondern diesen Erlass vom Verhalten des Sklaven gegenüber seinem bei ihm selbst verschuldeten Mitsklaven abhängig macht (»so wie wir unseren Schuldnern ihre Schulden erlassen«). Man beachte, dass Jesus den Sünder nirgends als jemanden darstellt, der sich mit einer schweren Last abmüht. Auch die Szene vom Sündenbock aus Lev 16 oder die Figur Ezechiels, dem Gott aufträgt, auf der Seite liegend die Schuld Israels zu tragen (Ez 4,4 f.), kommt im Neuen Testament nicht vor, aber nicht nur dort nicht, sondern auch nirgends in der rabbinischen Literatur. Hier kommt die konsequente Ersetzung von »Last« durch »Schulden« in aller Deutlichkeit zur Geltung. Trotz des prominenten Belegs im Vaterunser wurde gegen diesen Sündenbegriff der jüdischen Tradition von Seiten einiger christlicher Denker heftig polemisiert. Zumal Neutestamentler in der Tradition eines protestantischen Gesetzesbegriffs tendierten zu einem wenig schmeichelhaften Bild des rabbinischen Judentums. Die Rede von »Sünde« als »Schuld« evoziere das Bild eines Gottes, der über seinen himmlischen Büchern sitzt und gewissenhaft jede menschliche Handlung auf der Soll- oder Habenseite verbucht. Dann scheint es kaum mehr Raum zu geben für das göttliche Erbarmen. Man muss dann, um diesen Gott zu verstehen, nicht Theologie studieren. Es genügt auch eine Ausbildung zum Buchhalter. Beispiele für diese christliche Sicht des rabbinischen Judentums enthält der mehrbändige Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch von Hermann Leberecht Strack und Paul Billerbeck. 11 Billerbeck (1853-1932) untersuchte das Neue Testament Zeile für Zeile im Blick auf rabbinische Parallelen. Dieses überaus gelehrte Werk, von dem die Forschung bis heute regen Gebrauch macht, unterzieht regelmäßig die Auswahl der rabbinischen Textstellen dem theologischen Programm der Autoren. In der Vergangenheit hat man in Unkenntnis dieser unvorteilhaften Tendenz einen vielfach unkritischen Gebrauch von diesem Werk gemacht und sein Bild vom rabbinischen Judentum für bare Münze genommen. Einen Wandel brachte erst das viel beachtete Buch Paul and Palestinian Judaism von E. P. Sanders, das die neutestamentliche Wissenschaft mit einer vernichtenden Kritik dieser Art von Forschung aufgerüttelt hat. 12 Sanders bringt die von Strack und Billerbeck geteilte Sicht des rabbinischen Judentums bündig auf den Begriff: »Gott gab Israel die Tora und damit die Gelegenheit, sich Verdienst und Lohn zu erwerben. Der Einzelne hat die Möglichkeit, das Gute zu wählen, und das gesamte System der ›pharisäischen Soteriologie‹ steht und fällt damit, dass der Mensch in der Lage ist, das Gesetz zu erfüllen. Mit jeder Erfüllung eines Gebotes erwirbt sich ein Israelit ein Verdienst (zekût), wohingegen jede Übertretung als Schuld (ḥôbâh) zu Buche schlägt. Gott führt ein Verzeichnis über die Verdienste wie auch über die Schulden. Überwiegen die Verdienste eines Menschen, gilt er als Gerechter, andernfalls als Übeltäter. Besteht ein Gleichgewicht, ist er ein Mittlerer. Der Mensch kann nicht wissen, wie es um sein Konto bei Gott bestellt ist, und dementsprechend kann er sich auf Erden seines Heils nie sicher sein. Jederzeit kann die Waagschale in die eine oder andere Richtung sich neigen. Am Ende entscheiden sich Wohl und Wehe auf der Grundlage der himmlischen Buchführung. Überwiegen die Gebotserfüllungen, geht es in den Garten Eden, überwiegen die Übertretungen, wartet die Gehenna, die Hölle. Bei den Mittleren nimmt Gott Übertretungen weg, sodass die Erfüllungen schwerer wiegen« 13 . Diese Theologie der Buchhaltung wird als Quintessenz des rabbinischen Denkens präsentiert. Billerbeck sagt es so: »Die altjüdische Religion ist hiernach eine »Die Rede von ›Sünde‹ als ›Schuld‹ evoziere das Bild eines Gottes, der über seinen himmlischen Büchern sitzt und gewissenhaft jede menschliche Handlung auf der Soll- oder Habenseite verbucht. Dann scheint es kaum mehr Raum zu geben für das göttliche Erbarmen. Man muss dann, um diesen Gott zu verstehen, nicht Theologie studieren. Es genügt auch eine Ausbildung zum Buchhalter.« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 64 - 2. Korrektur 64 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Hermeneutik und Vermittlung Religion völligster Selbsterlösung; für einen Erlöser- Heiland, der für die Sünde der Welt stirbt, hat sie keinen Raum« 14 . Es gibt rabbinische Texte, die diese Sicht zu stützen scheinen. Andere Texte besagen jedoch, dass Gott seine Buchführung nicht in dieser mechanischen Weise handhabt. Weit entfernt davon, den Buchhalter zu spielen, der jeden Verdienst und jede Schuld vermerkt, ist Gott darauf aus, ausstehende Zahlungen zu ignorieren, um sein Volk zu retten. Während in der Finanzwelt ein derart kreatives Verhalten katastrophale Folgen hätte, gelten in der spirituellen Welt andere Regeln. Gott hat mit Bilanzfälschung kein Problem, wenn sie nur seinem geliebten Volk zugute kommt. Manche Erzählungen des Midrasch lassen jeden kaufmännischen Anstand außer Acht. An seine Stelle tritt eine Findigkeit der Gnade, die unverdiente Verdienste quittiert. Es ist schon merkwürdig, dass Strack und Billerbeck solche Textbeispiele unerwähnt lassen. Um diese andere Seite des rabbinischen Denkens näher zu beleuchten, möchte ich einen Text aus Pesikta Rabbati diskutieren, einer verhältnismäßig späten Sammlung rabbinischer Homilien zu verschiedenen Anlässen des jüdischen Festkreises. Kapitel 45 enthält eine Homilie zum Versöhnungstag. Nach rabbinischer Vorstellung richtet Gott an diesem Tag über die Sünden Israels und entscheidet über das Geschick jedes einzelnen Sünders während des nächsten Jahres. Würde nun Gott wie ein penibler Banker gedacht, der eine gerechte Bestrafung für jede einzelne Person ausarbeitet, dann müsste doch dieser Tag die Gelegenheit für ihn sein, sämtliche Schuldscheine in seinem Besitz zusammenzusuchen und alle Schulden einzutreiben, um sein Geschäftsjahr mit ausgeglichener Bilanz abschließen zu können. Jeder Israelit mit Zahlungsrückständen hätte dann allen Grund, vor Angst zu zittern. Solchen Vorstellungen läuft jedoch die folgende Auslegung von Ps 32,1 f. völlig zuwider: »Eine Unterweisung Davids. Wohl dem, dessen Übertretung vergeben (nĕśûy pešaʿ) und dessen Sünde bedeckt ist (kĕśûy ḥaṭṭāʾt). Dies ist es, was David meint: ›Du hast weggetragen die Sünden (nāśāʾ ʿăwōn) deines Volkes, alle ihre Sünden hast du bedeckt.‹ Einst kam Satan am Versöhnungstag, um Israel anzuklagen. Er listete ihre Sünden auf und sprach: ›O Herr des Universums, so wie es Ehebrecher unter den Völkern gibt, so gibt es sie auch in Israel. So wie es Diebe unter den Völkern gibt, so gibt es sie auch in Israel‹. Der Heilige, gepriesen sei er, listete die Verdienste (zĕkûyôt) Israels auf. Und was tat er dann? Er nahm eine Waage und wog die Sünden gegen die Verdienste ab, und die Waage war im Gleichgewicht. Da fing Satan an, weitere Sünden in die Waagschale zu werfen, und sie neigte sich. Und was tat da der Heilige, gepriesen sei er? Als Satan nach weiteren Sünden suchte, nahm er die Sünden und verbarg sie unter seinem Purpurmantel. Als Satan wiederkam, fand er keine Sünde mehr, wie geschrieben steht: ›Man wird nach der Schuld Israels suchen, aber sie ist nicht mehr da‹ (Jer 50,20). Als Satan dies sah, sprach er vor dem Heiligen, gepriesen sei er: ›Herr der Welt, du hast die Freveltaten deines Volkes weggenommen und alle ihre Sünden bedeckt‹ (Ps 85,2). Als David dies sah, sprach er: ›Wohl dem, dessen Übertretung vergeben und dessen Sünde bedeckt ist‹ (Ps 32,1)«. Wichtig ist, dass Satan nicht, wie man erwarten könnte, als Personifikation des Bösen auftritt. Er steht vielmehr für das Prinzip Gerechtigkeit. Er behauptet, dass Israel keine Vergebung verdient, weil die Schulden dieses Volkes sein Guthaben überwiegt. Aber Gott lässt nicht zu, dass die Ergebnisse einer genauen Buchprüfung sein Herz bestimmen. Auch wenn Satan im Recht ist, kann er nicht gewinnen. Gott schafft eine neue Situation, indem er die Sünde Israels »wegnimmt«. In diesem Fall nimmt er aber nicht eine Last von jemandes Schulter, wie der biblische Ausdruck nahelegt, sondern einen Schuldschein. Indem diese Schuldscheine aus der Waagschale genommen werden, hat das Guthaben Israels die Oberhand, und Gott kann »gerecht« seinem Volk vergeben. Das Motiv des Ärgers der Engel über die Generosität Gottes ist in der rabbinischen Literatur keineswegs selten, wie die Textsammlung Peter Schäfers zu diesem Thema eindrucksvoll unter Beweis stellt. 15 In einigen dieser Geschichten werden die Engel bestraft, in anderen werden sie hinters Licht geführt. Entscheidend ist stets, dass der Umgang Gottes mit menschlicher Sünde nicht nach dem von Billerbeck gestrickten Muster vonstatten geht. Obwohl Gott gerecht ist, ist er doch großzügig. Im eingangs zitierten Text notiert Thomas von Aquin, dass diese Großzügigkeit nicht der Gerechtigkeit widerstreitet. Denn wie jemand, der hundert Dollar schuldig ist, die Freiheit hat, zweihundert Dollar zurück zu zahlen, so kann einer, dem jemand hundert Dollar schuldig ist, darauf verzichten, überhaupt etwas zurück zu fordern. Denn beim Vergeben macht der Gläubiger aus der Schuld in gewisser Weise ein Geschenk, und Gott hat jederzeit die Freiheit, Geschenke zu machen. Natürlich gibt es auch viele rabbinische Geschichten von Sündern, die für ihre »Manche Erzählungen des Midrasch lassen jeden kaufmännischen Anstand außer Acht. An seine Stelle tritt eine Findigkeit der Gnade, die unverdiente Verdienste quittiert.« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 65 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 65 Gary A. Anderson »Vergib uns unsere Schulden« Vergehen bestraft werden. Aber um einer ausgewogenen Darstellung willen müssen diese Geschichten zu solchen ins Verhältnis gesetzt werden, in denen Gott die Regeln ändert, sodass die Gnade gewinnen kann. Da in einem letzten Sinn alles Gott geschuldet ist, hat er das Recht, auf die Rückzahlung zu verzichten. Er handelt, wenn er einem Schuldner ein solches Geschenk macht, nicht ungerecht. Man mag einwenden, die Geschichte aus Pesikta Rabbati sei zu spät, um für das rabbinische Judentum insgesamt repräsentativ zu sein. Es gibt jedoch eine Parallele zu Pesikta Rabbati, die aus dem bedeutend älteren Jerusalemer Talmud stammt (5. Jh.). Im Traktat Peah heißt es, dass, wer ein Übermaß an Verdiensten besitzt, das Paradies erben wird, jemand mit einem Übermaß an Übertretungen dagegen die Feuer der Gehenna. Was ist aber mit jenen, die von beidem gleich viel haben? Dazu sagt Rabbi Jose b. Hanina: »Bedenke die Beschreibung von Gottes Eigenschaften [Ex 34,6 f.]: Es heißt nicht: ›Der die Übertretungen [pl.] ergreift und sie fortschafft‹, sondern: ›der die Übertretung [sg.] vergibt‹. Das heißt, dass der Heilige [er sei gepriesen] eine Schuld wegnimmt, sodass die guten Taten überwiegen.« Rabbi Eleazar zitiert den Vers »›Dein, o Herr, ist die Gnade. Denn du vergiltst einem jeden nach seinem Tun‹ (Ps 63,2). Wenn aber jemandem [ausreichende Verdienste] fehlen, gibt Gott etwas von den seinen! Das stimmt mit R. Eleazar überein, denn er hat [auch] mit Bezug auf den Vers ›Gott ist reich an Huld‹ [Ex 34,6] gesagt, dass Gott die Waagschalen der Gerechtigkeit in Richtung einer gnädigen Entscheidung ausschlagen lässt« (jPeah 5a). Im ersten Textbeispiel nimmt Rabbi Jose den biblischen Text allzu wörtlich. Das Nomen in »Der die Übertretung vergibt« steht im Singular, obwohl die hebräische Formulierung sinngemäß eine Mehrzahl meint. Dennoch haftet am grammatischen Singular das besondere Interesse des Rabbi Jose: Warum redet dieser Vers, der Gottes Gnade beschreiben will, davon, dass Gott nur eine einzige Übertretung wegnimmt? Die Antwort des Rabbi lautet, dass der biblische Text eine Person meint, deren Schulden und Verdienste sich die Waage halten. In diesem Fall erweist Gott dadurch seine Gnade, dass er einen einzigen Negativposten wegnimmt, damit die Schulden nicht überwiegen. Rabbi Eleazar kommt zu einem ähnlichen Ergebnis, doch von einem anderen Ausgangspunkt. Ps 62,13 besagt, dass jeder Mensch nach seinen Taten vergolten bekommt, doch wird diese Aussage modifiziert durch die Feststellung: »Dein, o Herr, ist die Gnade.« Was könnte das bedeuten? Für Rabbi Eleazar bedeutet es, dass Gott zwar das Recht hat, der Gerechtigkeit entsprechend der Taten der Menschen Genüge zu tun, dass dies aber kein eisernes Gesetz ist. Wird Gott vom Prinzip der Gnade her verstanden, ist er gänzlich frei, aus seinen eigenen, unendlichen Beständen denjenigen etwas abzugeben, denen es an Verdiensten mangelt. Eleazar bekräftigt dieses Prinzip mit dem Zitat Ex 34,6 über die gnädigen Eigenschaften Gottes. Dass Gott »reich an Huld ist«, bedeutet: Er legt seinen Daumen auf die Waagschale, sodass sie sich zu Gunsten derer neigt, die er so innig liebt. Da zuerst und vor allem Gott der Schuldner ist, ist es ihm auch freigestellt, Schulden zu ignorieren, wann immer er will. Wie Paul Ricœur zutreffend feststellt, gibt es keinen Zugang zum Begriff der Sünde unabhängig von den Metaphern der jeweiligen Sprache. 16 Ricœur ging es nicht darum, dass Metaphern schematisch einen bestimmten Typ von Erzählungen prädeterminieren. Vielmehr sind Metaphern das Rohmaterial, das durch verschiedene religiöse Traditionen in unterschiedliche Richtungen geformt wird. Der Fehler Stracks und Billerbecks und ganzer nachfolgender Generationen von Neutestamentlern bestand in der Annahme, jüdisches Denken über Sündenvergebung gehorche den strikten Regeln des Finanzwesens. Wie wir aber gesehen haben, wurde dieses Motiv auf komplexe und subtile Weise angewendet. Unbestritten konnte Gott als fordernder Kreditgeber beschrieben werden, der auch noch den letzten Cent zurückforderte. Im selben theologischen Repertoire findet sich aber auch das Bild der weichherzigen Tante, die geneigt ist, die Schulden, die ihr Lieblingsneffe bei ihr hat, dem Vergessen anheim fallen zu lassen. Hier kommt alles auf den literarischen Kontext an, in dem die jeweilige Metaphorik verwendet wird. In einem paränetischen Kontext liegt der Nutzen der Buchführungsmetapher auf der Hand. Aber an Jom-Kippur, dem heiligsten Feiertag des Jahres, wenn Gott die ganze Welt richtet, nimmt die Metapher eine andere Textur an. In diesen Narrationen ist Gott immerzu bereit, die Regeln zu brechen, damit Israel vergeben werden kann. Wo immer die Bewahrung Israels zur Entscheidung steht, ist jede Form der »kreativen Buchführung« statthaft und gerechtfertigt. 17 »Dass Gott ›reich an Huld ist‹, bedeutet: Er legt seinen Daumen auf die Waagschale, sodass sie sich zu Gunsten derer neigt, die er so innig liebt.« Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 66 - 2. Korrektur 66 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Hermeneutik und Vermittlung Anmerkungen 1 Grundlage für diesen Essay ist ein Teil meines Buches Sin: A History, New Haven, 2009. Interessierte Leserinnen und Leser finden dort eine ausführlichere Behandlung des Themas. Ausführlicher gehe ich dort auch auf die sprachlichen Verbindungen zwischen der rabbinischen Literatur und dem Hebräischen und Aramäischen zur Zeit des zweiten Tempels ein. Die biblischen und rabbinischen Texte im deutschen Text sind, wenn nicht anders angegeben, aus der englischen Übersetzung übernommen. 2 bBabaBathra 5a. 3 Mekhilta deRabbi Ismael zu Ex 14: 21. 4 Genesis Rabba 85,2 5 bGittin 26b nach der Übersetzung von Goldschmidt. 6 bTaanit 26b nach der Übersetzung von Goldschmidt mit leichten Änderungen. 7 G. Lakoff, Mark Johnson: Metaphors We Live By, Chicago, 1980. 8 Ders., The Pater Noster as an Eschatological Prayer, TS 22 (1961), 175-208. Nachdruck in: New Testament Essays, Milwaukee/ WI, 1965, 217-253, 244. 9 Übersetzung: Neue Züricher Bibel. 10 A. a. O., 245. 11 H.-L. Strack/ P. Billerbeck: Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, 4 Bde. in 5 Teilbdn. und Indexband, München 1924-56. 12 E.P. Sanders, Paul and Palestinian Judaism. A Comparison of Patterns of Religion, Philadelphia, 1977 (deutsche Übersetzung 1985). 13 A. a. O., 42 f. 14 H.-L. Strack/ P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. 4.1, 6. 15 P. Schäfer, Rivalität zwischen Engeln und Menschen. Untersuchungen zur rabbinischen Engelvorstellung, Berlin, 1975. 16 Paul Ricoeur, The Symbolism of Evil, Boston, 1967, passim. Vorschau auf Heft 33 »Anders Lesen« Mit Beiträgen von: Christian Schramm, Musa Dube, Christian Stein, Stefan Alkier, Marius Reiser, Michael Tilly, Kathrin Oxen/ Karl-Friedrich Ulrichs Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 67 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 67 Buchreport Stephan Hagenow Heilige Gemeinde-- Sündige Christen Zum Umgang mit postkonversionaler Sünde bei Paulus und in weiteren Texten des Urchristentums, Narr Francke Attempto, Tübingen 2011 ISBN: 978-3 772 084 195 68,00 € »[D]ie Glaubwürdigkeitsfrage stellt sich bis heute: Wenn Christenmenschen dem Evangelium vertrauen, wie können sie dann Unrecht tun und wie fällt man als Gemeinde und als Einzelner dem Rad der Sünde in die Speichen? « (V). Die zu besprechende Monographie, die auf eine bei Klaus Berger geschriebene und 1996 (! ) eingereichte Dissertation zurückgeht, will dieser Frage für das Urchristentum nachgehen. Im Zentrum steht Paulus, aber es werden auch Mt, Jak, 1Joh und die Apostolischen Väter einbezogen. In seiner »Einführung« (1-25) formuliert H. zunächst »Anfragen an ein gängiges Geschichtsbild« (3), das bis vor kurzem nicht nur in der exegetischen Wissenschaft verbreitet war. In der akuten Erwartung der Parusie vertraten und lebten-- diesem Bild zufolge-- die ersten Christen das Ideal radikaler Sündlosigkeit. Erst mit der Verzögerung der Parusie und mit der Entwicklung der kleinen Bewegung zu einer großen Kirche sei dieses Ideal aufgegeben worden und habe man begonnen, mit der Realität der Sünde umzugehen, indem man Ämter und die Möglichkeit der Buße entwickelte. Um zwischen dem genannten Geschichtsbild und den vielen ntl. Texten zu vermitteln, in denen von Sünden die Rede ist, wurden und werden häufig zwei exegetische Brücken gebaut: Entweder werden im NT Vorstufen der späteren Bußpraxis gefunden. Oder die Frage wird mit der paulinischen Rechtfertigungslehre beantwortet, d. h. mit der gerechtfertigten, aber zugleich immer noch angefochtenen Existenz des Einzelnen. H. kann zeigen, dass beide Lösungsansätze unbefriedigend sind, weil sie auf unangemessenen Systematisierungen und Eintragungen beruhen. Daraus ergeben sich Konsequenzen für das eigene Vorgehen: H. will anachronistische durch adäquate Modelle ersetzen, stärker als üblich differenzieren und die Möglichkeit einer Entwicklung im paulinischen Sündenverständnis prüfen. Ein religionsgeschichtlicher Teil (27- 66) erhebt atl. und frühjüdische Vorstellungen von einem Ende und einem Wiederaufleben der Sünde, die sich mit den paulinischen Aussagen vergleichen lassen. Im AT sind besonders prophetische Texte relevant, die sich auf das Exil und die Folgezeit beziehen. In manchen frühjüdischen Pseudepigrapha (äthHen, ApkMos, OrSib, Jub, TestLev, auch in Qumranschriften) wird die Sünde vor allem kultisch interpretiert. Das Ende der Sünde wird hier als das von Gott-- z.T. durch die Gabe des Geistes-- herbeigeführte Ende aller Unreinheit verstanden. Hier sieht H. große Nähe zu Paulus. H. konstatiert eine Vielfalt von Entwürfen, die er auf zwei Modelle reduziert: das »einer apokalyptisch-heiligkeitsethisch orientierten Sündlosigkeit« und das »einer weisheitlich geprägten Sündlosigkeit« (64). Erstere ist charakterisiert durch Reinheit, Geist, Neuschöpfung und die Priorität der Gemeinschaft, letztere ist weniger absolut, juristisch geprägt und auf den einzelnen Sünder hin orientiert. Wie Paulus diese traditionsgeschichtlichen Deutehorizonte rezipierte und in seinen frühen Briefen (d. h. in 1Thess und 1/ 2 Kor) mit konkreten Gemeindesituationen in Verbindung brachte, untersucht der längste Teil der Arbeit (67-163). Im 1Thess ist von Sündlosigkeit nicht die Rede. Die Sünde betrifft vor allem die Gemeinde insgesamt, weniger das einzelne Gemeindemitglied. Anhand von 1Kor wird das Konzept der Tempelförmigkeit der Gemeinde untersucht. Es ist u. a. durch einen Prozesscharakter gekennzeichnet. Der Bau ist nicht abgeschlossen, die Heiligung der Christen nicht vollendet. Auch hier überwiegt der kollektive Charakter. Dieses Konzept steht für H. hinter 1Kor 5. Der Unzuchtsünder muss ausgeschlossen und dem Satan übergeben werden, um die Heiligkeit des Ganzen zu bewahren. Das pneuma, das gerettet werden soll, ist für H. der Geist der Gemeinde, ihr »Gemeinschafts-Geist« (97). Es geht weniger um die Bestrafung des Sünders als um die »Stärkung der zerrissenen Einheit« (100). In Auseinandersetzung mit J.T. South plädiert H. entschieden dafür, mit einem physischen Fluchtod des Sünders zu rechnen. Dadurch kommt es zur vollen Wiederherstellung der Heiligkeit der Gemeinde, die zuvor beeinträchtigt, aber nie verloren war. Diese Heiligkeitsbzw. Tempeltheologie hält H. für den Hintergrund auch von 1Kor 6,1-11. Wieder ist das Thema die Bewahrung der Tempelförmigkeit und ihre Verteidigung nach außen. Warum es beim Thema der Gerichtsbarkeit gerade um Tempelförmigkeit gehen soll (der Tempel kommt ja erst in 6,19 vor), wird von H. nicht wirklich begründet. Immerhin ist die Abgrenzungsbemühung gegenüber der paganen Umwelt im Text klar erkennbar. Die Heiligen dürfen sich auf keinen Fall mit den Ungerechten zusammentun, um ihre internen Streitfälle zu lösen. Das gefährdet die Heiligkeit der Gemeinde. Gegen die Mehrheitsmeinung findet H. in 6,11 keinen direkten Bezug zur Taufe, sondern sieht diesen Vers in der Tradition der Geistverheißung (wie z. B. Ez 36,25). Die Heiligen können »als Individuen ohne Verlust ihrer Heiligkeit sündigen« (120), weil es bei der Heiligkeit vor allem um eine kollektive Größe und um einen Prozess geht: »Für unser Denken ist es schwer, die Spannung zwischen dem gleichzeitigen Heiligsein und Heiligwerden auszuhalten« (121). Ein unzweifelhafter Beleg für den Tempelförmigkeitsgedanken ist 2Kor 6,14-7,1. H. hält diesen Text für Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 68 - 2. Korrektur 68 ZNT 32 (16. Jg. 2013) Buchreport paulinisch, weil er gut zu der aus 1Kor erhobenen Heiligkeitstheologie passe. Wieder geht es um eine klare Abgrenzung von der Welt, die der neuen, durch Christi Tod zuteil gewordenen Gerechtigkeit (2Kor 5,21) entsprechen soll. Auch 1Kor 6,19 verwendet das Bild des Tempels, um die Abgrenzung und die zu bewahrende Reinheit zu propagieren. Dass das Bild jetzt auf die individuellen Christen und nicht mehr auf die Gemeinde bezogen wird, vermerkt H. zwar. Das scheint für ihn aber erstaunlicher Weise keinen großen Unterschied zu machen. Unklar ist auch, warum es »nicht auf den vergangenen individuellen Taufakt […], sondern auf die gegenwärtige Bindung an den Kyrios« (128) ankommt und warum das einander ausschließende Alternativen sein sollen. Ausführlich widmet sich H. dem Text 1Kor 11,17-34, wo wieder der kollektive Aspekt der Sünde hervortritt. Ein Forschungsüberblick (Theißen, Lampe, Klinghardt, Schröter) zeigt, dass heute soziale Missstände als Kern des Problems angenommen werden. Die korinthische Abendmahlspraxis gefährdet die Gemeinschaft innerhalb der Gemeinde und zwischen der Gemeinde und ihrem Herrn. Bei der umstrittenen Deutung des sōma in V. 29b entscheidet sich H. für eine Beziehung sowohl auf die Gemeinde als auch auf den Leib Christi: Es gehe um »die sich das Gericht zuziehende Gemeinde, wenn sie es versäumt, ihren Leib von Verunreinigungen fernzuhalten« (147). Der Kyrios selbst greift ein und merzt durch Krankheiten und Todesfälle (11,30) die Sünde aus. Im Rückblick konstatiert H. deutliche Unterschiede zu den traditionsgeschichtlichen Vorgaben. Der wichtigste von ihnen ist, dass die Tradition mit einer Sündlosigkeit erst nach dem Endgericht oder sogar erst nach der allgemeinen Auferstehung rechnete. Diese beiden eschatologischen Akte stehen für Paulus noch aus. Dennoch kann bei ihm, wenn nicht von Sündlosigkeit, so doch von »einer relativen Sündenfreiheit« (150) gesprochen werden, auch wenn Satan noch am Werk ist. Die Sündenfreiheit ist aber auf die Gemeinde, nicht auf die Schöpfung bezogen. Wegen dieser starken kollektiven Ausrichtung will H. nicht von postbaptismaler, sondern von postkonversionaler Sünde sprechen. Nicht die individuelle Tauferfahrung, sondern die Konversion zu einer neuen Gemeinschaft steht in Spannung zur Sünde der Christen, und nicht die Taufgnade, sondern die Heiligkeit der Gemeinde wird durch diese gefährdet. Der nächste Teil (165-212) ist dem Römerbrief gewidmet. Er unterscheidet zwischen diachronen und synchronen Aspekten der Sünde. Erstere beziehen sich auf die Frage, »[i]nwiefern die Sünde wirklich vergangen ist« (167). Eine wichtige einschlägige Stelle ist Röm 8,1: »Der mit Christus verbundene Glaubende ist der Verurteilung [katakrima] entgangen, die für die weiterhin unter der Hamartia stehenden Juden und Heiden unumgänglich ist« (172 f.). Nachdem die Sünde verurteilt ist, können die Christen die Forderungen des Gesetzes erfüllen, weil der Geist ihnen hilft. Auch hier hebt H. das kollektive Element hervor: Diese Zusage gilt zunächst den Angehörigen der neuen Gemeinschaft, erst sekundär den Einzelnen. Die alte Frage nach der Identität des Ich in Röm 7 streift H. nur, spricht sich jedenfalls gegen die traditionelle protestantische Deutung aus und will »unter den Ich-Formulierungen besser nicht mehr als eine rhetorische Figur verstehen« (178) (was auch immer das heißen soll). Neben diesem diachronen Zugang, der das bereits über die Sünde vollzogene Gericht betont, gibt es aber auch synchrone Aspekte: Die vielen in Röm 5-7 gebrauchten militärischen Metaphern zeigen, dass immer noch Krieg herrscht und dass die Christen in diesen Entscheidungskampf zwischen den Mächten bzw. der Sünde und Christus einbezogen sind. Die Sünde bleibt eine Gefahr für die Christen, von absoluter Sündlosigkeit kann nicht die Rede sein. Den Neuschöpfungsaussagen wie Röm 6,6; 2Kor 5,17; Gal 6,15 geht es nicht um einen individuell neuen Menschen, sondern um den Eintritt in die christliche Erlösungsgemeinschaft, die (kollektiv und diachron gesehen! ) der Herrschaft der Sünde nicht mehr unterliegt. Die Sündenfreiheit ist nur im diachronen Sinn absolut; im synchronen Sinn ist sie relativ. Röm 6,7 (ho gar apothanōn dedikaiōtai apo tēs hamartias) bezieht sich nicht auf Christen, sondern auf Christus, der als einziger dem Einfluss der Sünde vollständig entnommen ist. Die Christen begeben sich durch die Taufe unter seinen Schutz. Allerdings wird mit der Taufe das Heilsgeschehen nicht abgeschlossen, sondern ein Heilsprozess eröffnet: »Am Ende dieses Prozesses steht nach Paulus die Hoffnung, dass die Getauften nicht nur mit Christus gestorben und begraben sind, sondern auch mit ihm auferstehen (6,6). Bis dahin aber muss der Einzelne die Sünde zurückdrängen und überwinden« (197). Frei von der Sünde ist er nicht im Sinn einer Vergebung aller früheren und einer Immunisierung gegen zukünftige Sünden in der Taufe, sondern darin, dass er durch die Taufe unter der Herrschaft Christi steht und so im Zuge der Heiligung die Sünde immer mehr zurückdrängen kann. Diese Christusbindung ist für H. ein Kennzeichen des spätpaulinischen Denkens, während der frühpaulinische Umgang mit der Sünde (s. o.) vor allem pneumatologisch ausgerichtet war. Mit dieser Entwicklung geht eine stärkere Reflexion auf die Situation der einzelnen Christen einher. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass eine Systematisierung der paulinischen Aussagen immer wieder an Grenzen stößt. Deutlich ist aber auch, dass der Eschatologie eine zentrale Rolle zukommt: »Christen leben in einer Zeit des Übergangs« (219). Wie lässt sich diese Zeit des bereits gegenwärtigen und doch noch nicht erfüllten Heils, des bereits erfolgten und doch noch zu erwartenden Gerichts charakterisieren? Gibt es eine Größe, »die es zulässt, gegenwärtiges Heil zu beschreiben, ohne den Zukunftsaspekt zu vernachlässigen« (225)? Für H. ist eine solche Größe das Reich Christi, das er im kurzen nächsten Teil (213-246) untersucht. Im Unterschied zum Mainstream der Forschung sieht er das Messiasreich von 1Kor 15,20-28 nicht als zukünftige, sondern als gegenwärtige Realität, die Christi Heilspräsenz zum Ausdruck bringt. Die Herrscherfunktion Christi ist dabei weder auf den Kosmos (unter Absehung von der Menschenwelt) bezogen noch auf die Kirche beschränkt. Es handelt sich um eine Herrschaft, die sich erst allmählich überall in der Schöpfung durchsetzt. Die Kirche ist also nicht einfach mit dem Reich Christi identisch, repräsentiert es aber besser als der Kosmos. Denselben Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 69 - 2. Korrektur ZNT 32 (16. Jg. 2013) 69 Gedanken eines gegenwärtigen Messiasreichs findet H. in Röm 8,31-39. An die Stelle der Durchsetzung seiner Herrschaft nach außen tritt hier ein anderer Aspekt des Königtums Christi, nämlich seine Schutzfunktion als Anwalt und Fürsprecher (Röm 8,34). Weitere paulinische Belege bietet H. nicht (immerhin aber einen außerkanonischen: den Barnabasbrief ). Angesichts dieses mageren Befunds klingt sein Fazit erstaunlich zuversichtlich: »Es hat sich herausgestellt, dass die Annahme eines gegenwärtigen Christusreichs als ein paulinisches Denkmodell durchaus geeignet ist, sich dem Problemfeld christlicher Sünde angemessen zu nähern. […] Der Eintritt in das Reich Christi durch Taufe und Geistempfang garantiert noch keine Aufnahme in das endgültige Reich Gottes, vor dessen Vollendung noch die Verantwortung des Einzelnen im Gericht liegt. Aber mit der Aufnahme in das Reich Christi liegt die Erwählung zum Heil beschlossen« (244). Der eschatologische Vorbehalt wird in dieser Konzeption als ein »linearer Prozess der sich allmählich kosmisch durchsetzenden Christusherrschaft« (245) gesehen. Die himmlische Fürsprecherfunktion Christi hat eine irdische Entsprechung im fürbittenden Gebet der Christen für sündige Mitchristen. Dieser »Tradition der stellvertretenden Gebetserrettung« (249) ist ein umfangreicher Teil der Arbeit gewidmet (247-311). Näherhin geht es um eine zweifache Stellvertretung: »Einmal übernimmt die Gemeinde das Gebet für den Sünder selbst, der in der Ausübung seiner Vollmachten eingeschränkt ist, zum anderen vertritt die Gemeinde Gott selbst im Vollzug des Urteils« (308). Die wesentlichen Elemente der genannten Tradition sind »Feststellung einer Sünde«, »Herstellung einer Öffentlichkeit«, »Gebet für den Sünder« und »Darstellung der Wirkung des Gebets« (250). Bevor H. den Befund bei Paulus untersucht, will er die weite Verbreitung der Tradition hervorheben, indem er sie im Jakobusbrief (5,13-15.16-18.19 f.), im 1. Johannesbrief (5,13-21) und im Matthäusevangelium (18,15-20) nachzuweisen versucht-- m. E. nicht immer erfolgreich. Um die vier konstitutiven Elemente identifizieren zu können, muss er z.T. einige Kunstgriffe anwenden. Ein Beispiel: Das Gebet für den Sünder ist in Mt 18,15-18 nicht enthalten. Deshalb nimmt H. die Verse 19 f. dazu und postuliert, hier werde das fürbittende Gebet nachgetragen, das in V. 15-18 für jede Instanz gelte, ohne eigens genannt zu werden. Auf ähnlich kreative Weise findet er die »Tradition der stellvertretenden Gebetserrettung« auch bei Paulus bezeugt, und zwar in 2Kor 12,19-13,10. An Stelle der Gemeinde, die eigentlich für ihre Sünder bitten sollte, übernimmt Paulus diese Aufgabe. Nicht nur die Verteilung der behaupteten Traditionselemente auf einen größeren Zusammenhang ist hier problematisch. Auch H.s Versuch, die »Herstellung einer Öffentlichkeit« zu belegen, ist schwer nachvollziehbar. Er verweist auf die rätselhafte Zeugenformel in 13,1 und lehnt die verbreitete Deutung auf Besuche und Mahnungen ab. Er selbst scheint an ein öffentliches Verfahren zu denken, das Paulus einfordere. Nur ist davon einfach nicht die Rede. Wie hätten die Korinther wahrnehmen sollen, »dass Paulus auf ein bekanntes Instrument im Umgang mit Sünde anspielt« (292), wie H. es behauptet? Diesen Teil abschließend identifiziert H. die genannte Tradition auch in einigen Schriften der Apostolischen Väter (Did, Barn, 2Clem). Die »Systematische Schlussbetrachtung« (313-328) hebt vor allem auf die Fremdartigkeit ab, mit der die ntl. Texte mit Sünde umgehen. Moderne Begriffe und Konzepte (Autonomie des Subjekts, Sünde als gestörte Gottesbeziehung des Einzelnen) sind hier nur beschränkt anwendbar. Entscheidende Bedeutung hat die kollektive Dimension der Sünde, also »die Frage, ob sich der Sünder durch seine Tat aus der Gemeinschaft heraus nimmt oder nicht« (318, im Original kursiv). Paulus versucht, die Gemeinden insgesamt von der Sünde reinzuhalten bzw. zu reinigen, vertritt aber keine Sündlosigkeit der einzelnen Christen. Es ist zunächst die Tempelförmigkeit der Gemeinde, die geschützt werden muss. Das paulinische Denken hat sich allerdings insofern entwickelt, als in den späteren Briefen die Gerechtigkeit gegenüber der Heiligkeit eine größere Rolle spielt und die Situation der einzelnen Christen stärker in den Blick kommt. In Abgrenzung von dem »Zerrbild eines perfektionistischen Urchristentums, das sich schließlich mit der durchschnittlichen Rechtschaffenheit seiner Gemeindeglieder abfinden musste« (328), hält H. als paulinischen Befund fest: »Christen leben in einem Zwischenreich, in dem Christus König ist, regiert und dort eingreift, wo seine Gemeinde bedroht ist. Das Auftreten von Sünde unter Christen führt nicht zur Preisgabe der Gemeinde der Heiligen und Gerechten« (328). Das Buch schließt mit einem guten Literaturverzeichnis, bietet aber leider kein Register der Schriftstellen. Es handelt sich um eine ungewöhnlich anregende Monographie. Viele vertraute Interpretationsmuster werden kritisch betrachtet. H. bietet neuartige Leseweisen an, mit denen die Fragen etwa nach dem Verhältnis von Sünden und Sündlosigkeit oder nach der Funktion des ausstehenden Gerichts angemessener als bisher beantwortet werden können. Das ist unbestreitbar ein großes Verdienst. Vielleicht ist es gerade dieser innovative Habitus, dessen Abgrenzung vom Mainstream manchmal zu Verabsolutierungen und Zuspitzungen führt, die kaum nachvollziehbar sind. Schon bei der Herabstufung der Bedeutung individueller Sünden und der Taufe dürfte H. übers Ziel hinausschießen (und sich im Übrigen auch selbst widersprechen, vgl. z. B. S. 155 mit 161). Vor allem scheint mir aber problematisch, dass er die Konzepte der Tempelförmigkeit, des Reichs Christi und der stellvertretenden Gebetserrettung, die an manchen Stellen durchaus Sinn machen, leider auch auf Stellen anwendet, wo sie einfach keinen Sinn machen. Einige Beispiele wurden oben genannt. Kritisch anzumerken ist zudem, dass H. es seinen Leser/ innen nicht gerade leicht macht. Dem Gedankengang zu folgen, ist wegen unklarer Formulierungen, undefinierter Übergänge und mangelnder Stringenz oft nur schwer möglich. Das ändert aber nichts daran, dass H. ein wichtiges Buch geschrieben hat. Er hat der Forschung Neuland erschlossen. Wie sie damit umgeht, wird sich zeigen. Sie sollte es jedenfalls nicht ignorieren. Thomas Schmeller Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 69 - 2. Korrektur Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Max Seckler Glaubenswissenschaft und Glaube Beiträge zur Fundamentaltheologie und zur Katholischen Tübinger Schule Band I 2013, X, 634 Seiten geb. €[D] 98,00/ geb. SFr 124,00 ISBN 978-3-7720-8511-6 Umrisse einer Aufgabe Glaubenswissenschaft • Fundamentaltheologie Zur theologischen Prinzipien- und Erkenntnislehre Theologein • Struktur der Theologie • System der loci theologici • Communio-Ekklesiologie • Wesen, Aufgabe, Stellung der Theologie • Theologie als kirchliche Wissenschaft • Dialog zwischen Lehramt und Theologen • Kompromiß in Sachen der Lehre • Philosophia ancilla theologiae • Vernunft und Glaube • Schöpfung • Anfangslosigkeit der Welt • Problematik des biblischen Kanons • Fundamentaltheologie und Dogmatik • Intrinsezistische Fundamentaltheologie • Karl Rahners Grundkursidee • Evangelische Fundamentaltheologie Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 69 - 2. Korrektur Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Max Seckler Glaubenswissenschaft und Glaube Beiträge zur Fundamentaltheologie und zur Katholischen Tübinger Schule Band II 2013, X, 634 Seiten geb. €[D] 98,00/ geb. SFr 124,00 ISBN 978-3-7720-8512-3 Im Spannungsfeld von Offenbarung und Religion Aufklärung und Offenbarung • Wort Gottes • Wandlungen im christlichen Offenbarungsverständnis • Begriff der Offenbarung • Offenbarungsreligion • Begriff der Religion • Theosoterik und Autosoterik • Potentia oboedientialis bei Rahner und de Lubac • Theologie der Religionen • Synodos der Religionen • Dominus Iesus • Toleranz, Wahrheit, Humanität • Religionsfreiheit und Toleranz • Christentum • Geschichtstheologie bei Vergil • Thomas von Aquin und die Theologie • Geist und Funktion der Theologie im MA Zur Katholischen Tübinger Schule und zu Johann Sebastian Drey Wiederentdeckung und Neuevaluierung von Dreys ‚Kurzer Einleitung’ • Drey und die Theologie • Katholische Tübinger Schule • Reich-Gottes-Motiv bei Drey und Hirscher • Dreys Revisionsschrift von 1812 • Weltoffene Katholizität • Geist und Wesen des Katholizismus Zeitschrift für Neues Testament_32 typoscript [AK] - 26.09.2013 - Seite 69 - 2. Korrektur Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Bernhard Mutschler Beziehungsreichtum Bibelhermeneutische, sozialanthropologische und kulturgeschichtliche Erkundungen 2013, 272 Seiten €[D] 29,99/ SFr 40,10 ISBN 978-3-7720-8495-9 Ein verantwortungsvoller, zeitgemäßer Umgang mit biblischen Texten ist alles andere als einfach. Besonders bedeutsam wird dies bei den grundlegenden Fragen menschlichen Miteinanders: Mann und Frau, Kinder, Haus, Familie, Gemeinde. Nach einer Einführung in Fragen der Bibelübersetzung und der Geschichte des Bibelkanons werden Grundfragen zeitgemäßen Bibelverständnisses und zeitgemäßer Bibelauslegung beleuchtet. Im Anschluss daran kommen Grundtexte und Grundthemen eines beziehungsreichen Lebens in den Blick. Kulturgeschichtliche, hermeneutische und anthropologische Einsichten bereichern das Gespräch und zeigen Orientierungsräume für ein beziehungsreiches Leben heute.
