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ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
61
2014
1733 Dronsch Strecker Vogel
Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 1 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 1 Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, für dieses Heft haben wir lange nach einem Titel gesucht. Unsere Idee war, einmal in einem eigenen Heft Lektüren des Neuen Testaments vorzustellen, die über den historisch-kritischen Methodenkanon, der bis heute im neutestamentlichen Proseminar an künftige Pfarrerinnen und Religionslehrerinnen weiter gegeben wird, hinaus führen. Die Selbstbesinnung der einzelnen Fächer, Disziplinen und Forschungszweige auf die eigenen Methoden ist ein Grunderfordernis akademischer Wissenschaft. Dass dieser Reflexionsprozess immer wieder zu weitreichenden Veränderungen und Neuaufbrüchen führen kann, zeigt die bisherige Geschichte der Erforschung des Neuen Testaments seit der Mitte des 18. Jh.s praktisch auf Schritt und Tritt. Ob man das Neue Testament »anders lesen« müsse als bisher-- und damit hatten wir unseren Titel--, hat sich jede Generation aufs Neue gefragt. Die sogenannte historisch-kritische Methode ist also alles andere als ein monolithischer Block. Gleichwohl gibt es geschichtsphilosophische, erkenntnistheoretische und wissenschaftstheoretische Grundannahmen, die diese Methode insgesamt prägen, die aber nicht mehr unumstritten sind. In Zeiten, da Begriffe wie »Moderne« und »Aufklärung«-- mit beiden ist die historische Kritik innig verwoben-- längst ihre Selbstverständlichkeit verloren haben und unter dem Banner der »Postmoderne« und einer »über sich selbst aufgeklärten Aufklärung« über sich hinaus weisen, bedarf auch die Methodenreflexion auf dem Feld der neutestamentlichen Wissenschaft gesteigerter Aufmerksamkeit. Das vorliegende Heft der ZNT will zu dieser Reflexion einen Beitrag leisten. Christian Schramm macht unter der Rubrik »NT aktuell« den Anfang mit der Beobachtung, dass nichtwissenschaftliche Bibellektüren, »Alltagsexegesen« genannt, das konstitutive Andere für das Selbstverständnis der Fachexegese bilden. Er konfrontiert die Exegese mit diesem Anderen, jedoch nicht in kritischem, sondern in einladendem Gestus und in der Absicht, eine Brücke zu bauen zwischen zwei Lebenswelten, die einander bisher viel zu wenig zur Kenntnis genommen haben. Die Rubrik »Zum Thema« wird eröffnet von der afrikanischen Exegetin Musa Dube, die anhand der Perikope von der blutflüssigen Frau und der Tochter des Jairus (Mk 5,21-43) in die Fragestellungen feministischer und postkolonialer Hermeneutik einführt und die markinische Erzählung überdies in den Kontext einer von HIV/ AIDS gezeichneten Gesellschaft stellt. Stefan Alkier führt intertextuelle Lektüren zum Gleichnis vom verlorenen Sohn vor, die neue Sichtweisen auf die lukanische Erzählung ermöglichen: Rolf Rameders Der verlorene Sohn und Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge führen in präziser Textanalyse zu einer »intertextuellen Erfahrung«, die ein neues Verständnis der Parabel als »Gegenentwurf« eröffnet. Auch Christian Stein legt einen Beitrag zur biblischen Intertextualität vor. Am Beispiel des Thron- Motivs in einem Liedtext der Musikgruppe Seeed, des »Throns Gondors« in Tolkiens Der Herr der Ringe und der Thronsaalvision in Apk 4 zeigt Stein, wie Texte in gegenseitiger Ergänzung unter Wahrung ihrer Positionalität Interpretationsprozesse freisetzen, die zumal in religionsdidaktischen Kontexten und interdisziplinären Lehrveranstaltungen mit interkulturellem Anspruch von besonderem Wert sind. Die Kontroverse zum Thema »Allegorisch lesen? « wird bestritten von Marius Reiser und Michael Tilly. Während Reiser dafür plädiert, die allegorische Methode der Väterexegese zu würdigen und neu zu entdecken, zieht Tilly umso schärfer einen Trennungsstrich zwischen modernen und vormodernen Hermeneutiken. Unter der Rubrik »Hermeneutik und Vermittlung« fragen Kathrin Oxen und Karl Friedrich Ulrichs in kundiger homiletisch-neutestamentlicher Doppelautorschaft danach, wie sich Exegese und Predigt zu einander verhalten. Anhand mehrerer Beispiele gelungener Predigt führen sie vor, wie exegetische Details homiletisch sinnvoll eingesetzt werden können. Der Buchreport, beigetragen von Manuel Vogel, ist einem Buch gewidmet, das engagiert, mit hoher Sachkenntnis und mit kritischem Blick das Feld neuer Methoden und Theorieansätze in den Bibelwissenschaften vermisst. Wir wünschen unseren Leserinnen und Lesern eine bereichernde Lektüre dieses Heftes, das dazu anregen möge, das Neue Testament vielfältig »anders« zu lesen. Stefan Alkier Eckart Reinmuth Manuel Vogel Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 2 - 3. Korrektur 2 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Wenn heutzutage über das Selbstverständnis wissenschaftlich-universitärer Exegese nachgedacht wird, dann wird die eigene Identität immer noch gerne durch Abgrenzung gewonnen. Wissenschaftliche Bibelauslegung wird definiert qua Negation: Sie ist eben etwas grundlegend anderes als alltägliche Bibelauslegung. Dabei spielt ein Wissensvorsprung der »Profis« gegenüber den »Laien« meist eine wichtige Rolle. Und nicht selten findet sich auch methodisches Arbeiten als Unterscheidungsmerkmal angeführt, oft zugespitzt auf historisch-kritisches Vorgehen, womit die methodische Pluralität innerhalb der wissenschaftlichen Exegese selbst zugunsten einer unwirklichen Eindimensionalität geleugnet wäre. 1 Aber abgesehen davon stellt sich die Frage, ob diese Dichotomie von wissenschaftlicher Exegese auf der einen und alltäglicher Bibelauslegung auf der anderen Seite überhaupt ihre Berechtigung angesichts der konkreten exegetischen Praxis hat: Wird die Bibel an der Universität wirklich fundamental anders gelesen als in alltäglichen Kontexten? Ist es hierbei das historisch-kritische Vorgehen bzw. Bewusstsein, das die entscheidende Demarkationslinie ausmacht? Und weitergefragt: Welchen grundsätzlichen Nutzen kann die wissenschaftliche Exegese selbst aus der Beschäftigung mit Alltagsexegesen ziehen, sprich: Inwiefern zahlt sich ein empirical turn in der Exegese aus? Diesen Fragen nachzugehen, birgt ein gewisses Risiko, rühre ich damit als Exeget doch an seit Jahrhunderten gehegten und gepflegten Grundüberzeugungen und stelle mich selbst ebenso in Frage wie die gesamte Zunft. Aber: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. 1. Entdeckt: Alltagsexegesen als Forschungsgegenstand-- ein Weg aus der Sackgasse? 1.1 Ein überschaubarer Forschungsstand in explizit exegetischer Hinsicht Während wissenschaftliche Exegetinnen und Exegeten durch die Geschichte der Exegese hindurch immer wieder über sich selbst und das eigene Tun nachgedacht und somit das exegetische Geschäft hermeneutisch reflektiert haben, ist der exegetisch forschende Blick auf Alltagsexegesen eher ein Projekt der jüngeren Zeit. Die Anfänge sind im Bereich der praktischen Theologie (Religionspädagogik, Pastoraltheologie) zu finden, wo z. B. das Verstehen bestimmter Textgattungen (beliebt sind Gleichnisse und Wundererzählungen) oder Prozesse im Religionsunterricht empirisch unter die Lupe genommen worden sind. Wenn man nach einem empirical turn in der Exegese Ausschau hält, dann steckt dieser sicherlich noch deutlich in den »Kinderschuhen«. Im engeren Kontext von wissenschaftlicher Exegese sind Alltagsexegesen nämlich bislang nur vereinzelt dezidiert zum Forschungsgegenstand gemacht worden, 2 was sicherlich mit dem Selbstverständnis des Mainstreams der exegetischen Wissenschaft zusammenhängt. Hier versteht man sich (noch) hauptsächlich als Anwälte des Textes, was sowohl historisch-kritisch als auch kanonisch oder synchronnarratologisch akzentuiert sein kann. Für heutige Bibelleseprozesse sind andere zuständig. Wenn die Rezeption biblischer Texte in den Blick kommt, dann meistens auch in historischer (z. B. Erstadressaten, Kirchenväter) oder theoretischer (Modellleser, impliziter Leser, Idealleser) Perspektive. Der heutige Leser, die heutige Leserin als konkrete Person wird eher selten in die exegetischen Überlegungen einbezogen-- leider. 1.2 Ein Aufbruch-- zumindest in Ansätzen Doch es mehren sich die Stimmen, die in dieser Haltung der exegetischen Wissenschaft sowohl eine vergebene Chance als auch ein grundlegendes Problem entdecken. Stellvertretend sei U. Luz zitiert, der bereits 2003 einen entsprechenden Wunsch äußerte: »Gemeinden sind ja hermeneutische Labors, die ›wilden Exegesen‹ bzw. die Applikationen der Bibel, welche in Bibelarbeiten ausgesprochen, in Bibliodramen gespielt, in Zeichnungen und auf Bildern gemalt werden, bieten hermeneutische Beobachtungsfelder von großer Bedeutung. […] Ich wünsche mir also Exegetinnen und Exegeten, welche sich für die Bibellektüren des ›ordinary reader‹ in den und außerhalb der Gemeinden interessieren, nicht, weil sie meist dankbare und interessierte Rezipient/ innen der Früchte exegetischer Arbeit sind, sondern weil sie uns hermeneutisch einiges lehren können.« 3 Christian Schramm Im Alltag liest man die Bibel anders als an der Uni! ? Von Alltagsexegesen als inspirierendem Lernfeld und den Chancen eines empirical turn in der Exegese Neues Testament aktuell Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 3 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 3 Christian Schramm Im Alltag liest man die Bibel anders als an der Uni! ? schließend ernst genommen werden. Wenn man sich universitär-exegetischerseits mehr Beachtung wünscht, so ist die umgekehrte Forderung wohl nicht vermessen: Die Beachtung heutiger Alltagsexegeten im Gefolge eines empirical turn als Voraussetzung dafür, selbst gegenwartsrelevant forschen und lehren zu können-- die Überwindung des Einbahnstraßendenkens als Weg aus der Sackgasse. 4 Dieses »erweiterte Selbstverständnis« 5 muss natürlich einhergehen mit einer grundsätzlichen wechselseitigen Wertschätzung sowie der Begegnung »auf Augenhöhe«. 2. Erforscht: Methodische Optionen und die Notwendigkeit von Interdisziplinarität Ist die vorstehende Option für die Einbeziehung von Alltagsexegesen in das wissenschaftlich-exegetische Forschen als sinnvoller und weiterführender Weg anerkannt, so stellen sich sogleich nicht einfach zu lösende Folgeprobleme: Wie soll ein analysierender Zugriff auf diese Alltagsexegesen gelingen? Diesbezüglich bietet die exegetische Wissenschaft, trotz all ihrem ausgefeilten Methodeninstrumentarium, keine anwendbare Handhabe. Von daher tut der methodische Blick über den Tellerrand hinaus not, ein interdisziplinäres Forschungsdesign ist unumgänglich: Empirische Erhebungsmethoden werden benötigt. Deren gibt es viele; bei der Erforschung von Alltagsexegesen kommen hauptsächlich zwei zum Einsatz: das (problemorientierte bzw. leitfadengestützte) Einzelinterview oder die Gruppendiskussion. In beiden Verfahren werden zumeist biblische Texte eingespielt (die Art der Einspielung variiert) und in der Folge die Rezeption bzw. das Verstehen dieser Texte durch heutige Leser-- z. T. in möglicher Abhängigkeit von Variablen (Geschlecht, Alter, Bildungsstand, religiöse Ausrichtung, psychologischer Typ) 6 - - analysiert. An dieser Stelle ein Werturteil zwischen Einzelinterview und Gruppendiskussion als Datenerhebungsmethode fällen zu wollen, ist nicht weiterführend: Jedes Verfahren hat seine Vor- und Nachteile und vermutlich ist eine wechselseitige Ergänzung und Bereicherung ein produktiv gangbarer Weg. Meine eigenen Forschungserfahrungen beruhen auf empirischem Material, das in einer interdisziplinär zusammengesetzten Forschungsgruppe mit- Dieser zehn Jahre alte Wunsch hat nichts von seiner Aktualität eingebüßt. Und hier klingt eine entscheidende Erkenntnis an: Wissenschaftlich forschende Exegeten können von Alltagsexegesen u. U. viel lernen. Wir lassen ein vielversprechendes Forschungsfeld brach liegen, das zudem bei der Überwindung einer grundsätzlichen Krise der exegetischen Wissenschaft hilfreich in die Überlegungen einbezogen werden könnte. Dem vielerorts beklagten Relevanzverlust der universitären Bibelwissenschaft könnte offensiv und produktiv damit begegnet werden, dass die heutigen Bibelleserinnen und -leser zuerst einmal wahr- und an- Dr. Christian Schramm, Jahrgang 1977, geboren in Bamberg; 1998-2004: Studium der Katholischen Theologie in Bamberg, Jerusalem und Münster; 2004-2006: Wiss. Mitarbeiter im DFG-Forschungsprojekt »Bibelverständnis in Deutschland«; 2006- 2007: Studienassistent in Jerusalem; 2007 Promotion mit der Arbeit: »Alltagsexegesen. Sinnkonstruktion und Textverstehen in alltäglichen Kontexten. Gruppendiskussionen zu neutestamentlichen Texten auf sozialempirisch-rekonstruktiver Grundlage ausgewertet«; 2007-2013: Wiss. Mitarbeiter für Biblische Wissenschaften am Institut für Katholische Theologie und ihre Didaktik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; seit 2013: Dozent für theologische Fortbildung (Schwerpunkt: biblische Bildung) im Bischöflichen Priesterseminar Hildesheim und in der Arbeitsstelle für pastorale Fortbildung und Beratung; Leiter der Bibelschule Hildesheim. Forschungsschwerpunkte: Alltagsexegesen - alltägliche Sinnkonstruktions- und Textverstehensprozesse; Interpretation neutestamentlicher Texte vor ihrem zeit- und sozialgeschichtlichen Hintergrund; Schöpfungstheologie und Markusevangelium; Vermittlung theologischer, insbesondere exegetischer Erkenntnisse in außeruniversitären Kontexten Homepage: www.schrammchristian.de Christian Schramm »Dem vielerorts beklagten Relevanzverlust der universitären Bibelwissenschaft könnte offensiv und produktiv damit begegnet werden, dass die heutigen Bibelleserinnen und -leser zuerst einmal wahr- und anschließend ernst genommen werden.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 4 - 3. Korrektur 4 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Neues Testament aktuell tels des Gruppendiskussionsverfahrens erhoben wurde. 7 Dabei wurde nach einer einleitenden, leitfadengestützten Diskussionsphase zur Bibel im Allgemeinen mit zwei konkreten Texten gearbeitet: Mt 5,38-48 (»Von der Widervergeltung« und »Von der Feindesliebe«) und Mk 5,24b-34 (»Die Heilung der blutflüssigen Frau«). Zu diesen beiden Texten wurden Diskussionen in Gang gebracht, und zwar allein durch den Impuls: »Diskutieren Sie den Text, legen Sie den Text aus! Wie verstehen Sie diesen Text? « 2.1 Orientierungsrahmen, konjunktive Erfahrungsräume und die dokumentarische Methode der Interpretation-- Auswertung sozialempirisch In besagtem Forschungsprojekt ist aus verschiedenen Gründen mit dem Gruppendiskussionsverfahren gearbeitet worden. 8 Ein aus soziologischer Sicht entscheidender: Gruppendiskussionen eignen sich gut dazu, mithilfe der dokumentarischen Methode der Interpretation in der Entfaltung nach R. Bohnsack Orientierungsrahmen zu eruieren. 9 Das vierschrittige soziologische Auswertungsverfahren kann an dieser Stelle nicht näher erläutert werden; nur so viel: Es dient dazu, die drei Hauptbestandteile der Orientierungsrahmen zu ermitteln, nämlich positive und negative Gegenhorizonte sowie Enaktierungspotenziale (= Umsetzung einer Orientierung in Alltagshandeln). Und diese Orientierungsrahmen wiederum lassen Rückschlüsse zu auf die dahinter stehenden und die entsprechenden Menschen prägenden konjunktiven Erfahrungsräume. Konjunktive Erfahrungsräume entstehen durch gemeinsame bzw. strukturidentische (= gleichartige) Erlebnisschichtung; hierzu zählen Generationenzusammenhänge ebenso wie die gemeinsame Geschichte im Sportverein vor Ort. Innerhalb dieser Erfahrungsräume lebt, handelt, denkt man-- und versteht entsprechend auch Texte, sprich: konstruiert Sinn. Daher verspricht der Blick auf konjunktive Erfahrungsräume, vermittelt über die sozialempirisch rekonstruierbaren Orientierungsrahmen, spannende Hintergrundeinsichten, wenn es um das alltägliche Lesen und Verstehen biblischer Texte geht. Insgesamt zwölf nach Alter, Bildungsniveau, Geschlecht und Konfession verschiedene Gruppen sind im Rahmen des genannten DFG-Projektes be- und hinsichtlich ihres Bibelverständnisses untersucht worden. 2.2 Virtueller Hypertext, Methodeneinsatz und Lesestrategien-- Auswertung exegetisch Während für die Auswertung in sozialempirischer Perspektive grundsätzlich vielfältige Möglichkeiten in Frage kommen, steht man diesbezüglich in exegetischer Hinsicht vor der Herausforderung, entweder ein soziologisches Instrument entsprechend zu adaptieren oder eine eigene Auswertungsmethodik zu kreieren. Letzteres habe ich selbst unternommen. Die folgenden Ausführungen sollen ansatzweise das dynamische Wechselspiel zwischen leitenden Beobachtungen am empirischen Material und Methodenentwicklung widerspiegeln, womit natürlich erste Erkenntnisse aus der Beschäftigung mit Alltagsexegesen bereits eingestreut werden. Betrachtet man die Diskussionen der zwölf Gruppen zu den beiden biblischen Texten in einem ersten Überblick, so wird eines schnell deutlich: Obwohl allen Gruppen eine identische schriftliche Textvorlage an die Hand gegeben worden ist, wird noch lange nicht jeweils derselbe Text diskutiert. Jede Gruppe fängt beispielsweise bei einem anderen Vers an. Und verfolgt man den Weg der Gruppen durch den Text, so ist zu beobachten, dass für jede Gruppe ein eigener Text, ein virtueller Text -- gewissermaßen im Kopf der Diskutierenden-- entsteht. Die schriftliche Textvorlage wird dabei in einzelne Einheiten zerlegt, welche anschließend neu zusammengesetzt und gewissermaßen verlinkt werden. Auf diese Weise schafft sich jede Gruppe ihren eigenen Hypertext. Dieser aus der Computerwelt entlehnte Begriff ist für die vorliegende Problemstellung adaptiert worden. Im Hyperspace des PC-Universums versteht man unter einem Hypertext ganz allgemein ein »Medium der nicht-linearen Organisation von Informationseinheiten« 10 . Man klickt sich per Links einen eigenen Text zusammen. Genau dies tun die Gruppen im Prozess der Sinnkonstruktion auch, gewissermaßen virtuell. Bei dieser Hypertextkonstruktion beschränken sich die Diskussionsgruppen meist nicht rein auf die schriftliche Textvorlage. Verlinkungen erfolgen auch zu weiteren Texten (in einem weiteren Sinne verstanden), beispielsweise werden weitere Bibelstellen, Sprichworte, Liedtexte eingespielt. Dabei lassen sich unterschiedliche Intentionen ausmachen, mit denen die Gruppen zusätzliches Material in den eigenen Hypertext einbeziehen, u. a. unterstützen, widersprechen, verallgemeinern, in Frage stellen, ersetzen, ergänzen. »Obwohl allen Gruppen eine identische schriftliche Textvorlage an die Hand gegeben worden ist, wird noch lange nicht jeweils derselbe Text diskutiert.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 5 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 5 Christian Schramm Im Alltag liest man die Bibel anders als an der Uni! ? Zudem zeigt schon eine erste Materialsichtung, dass das auslegende Vorgehen der Gruppen sinnvollerweise nach methodischen Ansatzpunkten-- basierend auf einem weiten Verständnis von »exegetischen Methoden« (grundsätzlich differenziert nach textintern/ textextern)-- durchforstet werden kann. Hier deuten sich vielversprechende Resultate an. Mit diesen ersten Überlegungen sind bereits zwei Analyseschritte für das empirische Material erarbeitet: (A) Blick auf mögliches methodisches Vorgehen; (B) Hypertext(re)konstruktion. Wird noch die Analyse der Positionierung (C) einer Gruppe-- sprich: Wie verhält sich die Gruppe zum eigenen Hypertext? Womit bzw. mit welchen Figuren identifiziert sie sich? Wovon grenzt sie sich ab? -- hinzugenommen sowie die abschließende Frage nach einer Gesamtstrategie des Textverstehens (D), dann ist ein insgesamt vierschrittiges Instrumentarium entwickelt, mit dem das empirische Material intersubjektiv nachvollziehbar und methodisch kontrolliert ausgewertet werden kann. Alles in allem bin ich somit nicht mit der ›klassischen‹ Exegetenfrage »Verstehst du auch, was du liest? « (vgl. Apg 8,30) an die Alltagsexegesen herangegangen und auch die Kategorien »richtig/ falsch« spielten ausdrücklich keine Rolle, sondern das Forschungsinteresse lautete: »Wie verstehst du, wenn du liest-- und warum verstehst du so, wie du verstehst? « 3. Erkannt: Methodisches Vorgehen ab und an, subjektiv geprägte Lesestrategien immer Sollen die wesentlichen Erkenntnisse aus der Beschäftigung mit Alltagsexegesen kurz im Überblick dargestellt werden, so ist zum einen festzuhalten: Der Weg war das Ziel. Die vorstehend skizzierte vierschrittige Auswertungsmethodik stellt einen wesentlichen Forschungsertrag dar, da diesbezüglich in der exegetischen Forschungslandschaft eine Flaute zu konstatieren ist. Besonders die »Entdeckung« der Hypertextkonstruktion (inkl. Verlinkungstätigkeit) als wesentlicher Baustein der Sinnkonstruktion und des Textverstehens ist an dieser Stelle noch einmal hervorzuheben. Zum anderen sind einige Zentralpunkte zu nennen, die angesichts der eigenen Vorerwartungen einmal mehr, einmal weniger überraschend ausfallen. 3.1 Methodische Vielfalt-- zielgerichtet eingesetzt Beginnen wir mit dem (vielleicht) Unerwarteten: Methodisches Vorgehen spielt für einzelne Gruppen immer wieder eine wichtige Rolle. Entgegen der auch eingangs (s. o.) referierten und problematisierten Vorannahme ist methodisches Arbeiten auf keinen Fall ein exklusives Merkmal der wissenschaftlichen Exegese. Alltagsexegesen gehen immer wieder methodisch orientiert vor und sie weisen fast das gesamte Spektrum an methodischen Möglichkeiten (sowohl textintern/ synchron als auch textextern/ diachron) auf, das auch klassischerweise in der wissenschaftlichen Exegese Anwendung findet. Von daher kann in dieser Hinsicht nur bedingt davon gesprochen werden, dass die Bibel im Alltag grundsätzlich anders gelesen würde als an der Universität, auch wenn der eigene Methodeneinsatz den Alltagsgruppen meist nicht terminologisch reflektiert bewusst ist. De facto werden Methoden angewandt-- und zwar problemorientiert und zielgerichtet. Gerade bei alltags exegetischen Gruppen lässt sich somit anschaulich der grundsätzliche Sinn einer Methode als »Weg zu einem bestimmten Ziel hin« 11 studieren. Methoden sind Werkzeuge, mithilfe derer Texte angegangen und ausgelegt werden können. Gemäß dem Motto »Not macht erfinderisch« wird methodisches Arbeiten gerade in der Auseinandersetzung mit Mt 5,38-42 zielgerichtet eingesetzt, um diesen schwierigen, provokativen und herausfordernden Text sinnvoll zu verstehen. Dabei kommt auch die Frage der historisch-kritischen Exegese schlechthin zu Ehren, die Frage nach dem Ursprungssinn, nach der intentio auctoris, nach dem, was der Autor ursprünglich einmal sagen wollte. Dies dürfte die größte Überraschung sein: Sogar das historisch-kritische methodische Vorgehen ist kein zwingendes Alleinstellungsmerkmal der wissenschaftlichen Exegese, auch wenn es bei den Alltagsexegesen keinen dominierenden Stellenwert einnimmt. 3.2 Grundsätzliche Lesestrategien-- gewonnen per Abstraktion Ein weiteres Resultat, das angesichts der offensichtlichen Disparatheit der einzelnen Gruppendiskussionen auch überraschen kann: Trotz der Vielfalt der Auslegun- »Alltagsexegesen gehen immer wieder methodisch orientiert vor und sie weisen fast das gesamte Spektrum an methodischen Möglichkeiten (sowohl textintern/ synchron als auch textextern/ diachron) auf, das auch klassischerweise in der wissenschaftlichen Exegese Anwendung findet.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 6 - 3. Korrektur 6 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Neues Testament aktuell gen lassen sich übergreifende Lesestrategien erarbeiten. Die Gruppen gehen bei ihren Textverstehensversuchen höchst strategisch vor. Drei grundsätzliche Lesestrategien haben sich herauskristallisiert: Übersetzen (Variante 1: implizit-selbstverständlich; Variante 2: problematisierend); Kritisieren (1: Kritik an der Bibel, ausgehend von Welt/ Alltag; 2: Kritik an Welt/ Alltag/ Gesellschaft mithilfe der Bibel); Selektieren (1: Konzentration auf positive Elemente; 2: Fokus auf Negatives). Gruppen, die die Strategie »Übersetzen« anwenden, beziehen einen biblischen Text sofort aufs eigene Leben, greifen plausible Gesichtspunkte heraus und scheuen auch nicht davor zurück, Neuformulierungen vorzunehmen, wenn etwas nicht alltagstauglich erscheint. Dabei wird weitgehend nicht methodisch an die Texte herangegangen und meist verhältnismäßig wenig von der materialen Textvorlage wahrgenommen. Manche Gruppen sind sich der eigenen Übersetzungstätigkeit bewusst (= problematisierend), andere tun dies selbstverständlichimplizit, ohne groß darüber nachzudenken. Bei der Lesestrategie »Kritisieren« 12 kommt vor allem textexternes methodisches Vorgehen zum Einsatz. Hierbei spielt die Frage nach der intentio auctoris eine wichtige Rolle. Mit ihrer Hilfe können nämlich heute gängige Auslegungsangebote, die nicht geteilt oder akzeptiert werden, in Frage gestellt und zurückgewiesen werden. Verlinkungen erfolgen überwiegend in widersprechend-kritisierender Absicht. Grundsätzlich kann die Kritik vom biblischen Text ausgehen und auf die heutigen (Gesellschafts-)Verhältnisse zielen oder es wird umgekehrt bei der alltäglichen (Lebens-)Plausibilität angesetzt und von dieser Basis aus werden die biblischen Texte kritisiert. Die dritte Lesestrategie »Selektieren« zeichnet sich durch eine ausgesprochene Konzentration auf einzelne Textelemente aus. Dabei kann der Fokus auf den als positiv klassifizierten Bestandteilen liegen oder auf den als negativ wahrgenommenen. In beiden Fällen steht der Text als Text im Fokus, entsprechend erfreuen sich vorrangig textinterne Methoden großer Beliebtheit. 3.3 Auf die Orientierung kommt es an-- Persönlichsubjektive Einflussfaktoren jenseits des Textes Und das letzte Grundresultat, das in dieser kurzen Skizze angeführt werden soll, dürfte am wenigsten überraschen und die meisten Vorerwartungen erfüllen: Bei der Auslegung eines Bibeltextes ist der Bibeltext selbst nur eine Einflussgröße neben anderen. Sinnkonstruktion erfolgt vor/ während/ nach bzw. jenseits der Lektüre. In diesem Zusammenhang spielt der jeweilige Orientierungsrahmen eine entscheidende Rolle, das zeigen die hermeneutischen »Live-Beobachtungen« deutlich: Manchmal sagt die Auslegung mehr über die auslegende Person aus als über den ausgelegten Text. An dieser Stelle zahlt sich die interdisziplinäre Grundkonzeption des Forschungsprojektes »Bibelverständnis in Deutschland« aus: Die durch die exegetische Auswertung ermittelten Sinnkonstruktionen lassen sich mit den sozialempirisch-- mittels dokumentarischer Methode der Interpretation- - erarbeiteten Orientierungsrahmen in Beziehung setzen und vergleichen. Auf diesem Wege ist ansatzweise eine Beantwortung der Frage nach dem Warum einer spezifischen Sinnkonstruktion möglich. Dass jede Gruppe die beiden Texte jeweils anders gelesen, verstanden, ausgelegt hat, ist deutlich. Dass dies so ist, weil das auslegende Subjekt in der jeweiligen Auslegung grundlegend beinhaltet ist, ist eine hermeneutische Banalität. Aber warum eine konkrete Auslegung einer ganz bestimmten Gruppe so beschaffen ist, wie sie beschaffen ist, das kann bei der Zusammenschau der beiden unterschiedlichen Auswertungen desselben empirischen Materials z.T. im Detail erklärt werden. Dabei gehen Textwahrnehmung und -ausblendung (manchmal kommt es auf ein einzelnes Wort an) Hand in Hand mit eigenen Positionierungen und methodischem Vorgehen. Dies belegt einmal mehr die Grundeinsicht, dass Methoden ganz und gar nicht als Garanten für Objektivität taugen. Durchgängig ist der jeweilige Orientierungsrahmen als die entscheidende Hintergrundfolie auszumachen. 4. Verglichen: Graduelle statt substanziell-prinzipielle Unterschiede Nun könnte man angesichts des zuletzt angeführten Resultats annehmen, dass gerade dies typisch ist für Alltagsexegesen im Unterschied zu wissenschaftlichen Bibelauslegungen. Doch sollte hier vorsichtig und zurückhaltend argumentiert werden. 4.1 Grundsätzliche Vergleichbarkeit wissenschaftlicher und alltagsexegetischer Bibelauslegung Zwar habe ich selbst keine Analyse wissenschaftlicher Bibelauslegungen vorgenommen, 13 doch schon auf theoretisch-hermeneutischer Ebene ist eine gesunde Skepsis gegen diese Einschätzung angebracht: Dass Bibelauslegung professionell im wissenschaftlich-universitären Kontext betrieben wird, ändert nichts an der grundsätzlichen Prägung jeder Auslegung durch das auslegende Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 7 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 7 Christian Schramm Im Alltag liest man die Bibel anders als an der Uni! ? Subjekt. Dies ist in der exegetischen Wissenschaft seit Langem hinlänglich bekannt-- zumindest auf der theoretischen Ebene (inwiefern die exegetische Praxis davon wirklich durchdrungen ist, ist eine andere Frage). Die empirische Untersuchung der Alltagsexegesen hat nun genau diese grundlegende Erkenntnis, diesen hermeneutischen Basissatz empirisch verifiziert. Und wenn man anerkennt, dass universitäre Exegese zwar in einem anderen Kontext stattfindet, strukturell aber durchaus mit den Alltagsexegesen vergleichbar ist, dann können die Alltagsexegesen der wissenschaftlichen Bibelauslegung einen aufschlussreichen Spiegel vorhalten, einen Spiegel des eigenen Tuns. 4.2 Auf der (schwierigen) Suche nach Unterscheidungsmerkmalen Selbstverständlich gibt es Unterschiede zwischen Alltagsexegesen und wissenschaftlichen Exegesen, doch worin diese genau bestehen, ist gar nicht so einfach festzumachen. Zum einen scheint der mit der jeweiligen Auslegung verbundene Anspruch ein durchaus anderer zu sein, je nachdem, ob alltäglich oder wissenschaftlich die Bibel interpretiert wird: einmal geht es um ein privat-persönliches Verstehen eines Bibeltextes in einer bestimmten Situation, einmal um einen-- meist schriftlich fixierten-- Beitrag zu einer wissenschaftlichen Diskussion. Mit diesem Anspruch sind natürlich umgekehrt auch bestimmte Qualitätsanforderungen an die wissenschaftliche Exegese verbunden, z. B. die intersubjektive, argumentative Plausibilisierung der vorgetragenen Auslegung, die sachliche Auseinandersetzung mit Anfragen und Gegenpositionen im Rahmen wissenschaftlicher Diskurse, die Verpflichtung auf wissenschaftliche Standards. Zum anderen dürfte der methodische Bereich als Unterscheidungsmerkmal trotz allem hilfreich sein. Zwar kann nicht oft genug betont werden, dass einerseits auch alltagsexegetisch methodisch vorgegangen wird und andererseits der Methodengebrauch grundsätzlich immer intentional erfolgt, doch fällt der Grad der Differenziertheit und Reflektiertheit-- etwas pauschal gesprochen-- zwischen Alltagsexegesen und wissenschaftlichen Exegesen im Großen und Ganzen unterschiedlich aus: Wissenschaftliche Exegesen verfügen im Allgemeinen über eine größere Bandbreite an einsetzbaren Methoden und sind sich des Methodengebrauchs zumeist bewusst (methodisch oder sogar methodologisch reflektiert). Dies ist bei alltagsexegetischen Gruppen nur in Ausnahmen der Fall. Dafür kann die wissenschaftliche Exegese durch den Blick auf Alltagsexegesen einmal mehr daran erinnert werden, dass die durch Methoden geleistete Distanzierung vom Text auch nur eine relative ist und schon die Auswahl und die konkrete Anwendung einer Methode auf-- meist im auslegenden Subjekt begründeten-- (Vor-)Entscheidungen basieren. Wissenschaftliche Exegese kann somit von den Alltagsexegesen neu lernen, was Methoden leisten können und was nicht. Und noch ein drittes Differenzierungskriterium kann an dieser Stelle angeführt werden: Wissenschaftliche Exegese weist für gewöhnlich einen deutlichen Wissensvorsprung (kulturelle, zeitgeschichtliche Hintergründe; Texttheorien; Erzähltheorien; Sprachkompetenz hinsichtlich der antiken Sprachen usw.) gegenüber den Alltagsexegesen auf, gekoppelt mit einer breiteren Übung und Praxiserfahrung. 14 Diese drei Aspekte (Anspruch, reflektierter und umfassenderer Methodengebrauch, Wissensvorsprung) kristallisieren sich als die zentralen Unterscheidungsmerkmale heraus- - nicht mehr, aber auch nicht weniger. An der Universität wird die Bibel somit durchaus anders gelesen, aber eben nur graduell anders und nicht substanziell-prinzipiell. 15 Inwiefern dies das Selbstverständnis der wissenschaftlichen Exegese nachhaltig prägen bzw. verändern wird, wird die Zukunft zeigen. 4.3 Kurze Zwischenreflexion: Der Kontext ist entscheidend Durch die Ausführungen hindurch ist immer wieder ganz selbstverständlich von »Alltagsexegese« auf der einen und »wissenschaftlich-universitärer Exegese« auf der anderen Seite gesprochen worden, die zugehörige Definition hebt auf den Kontext der Auslegung ab und sei an dieser Stelle einmal explizit formuliert: Darunter sind Bibelauslegungen in den beiden Kontexten »Alltag« und »Universität/ Wissenschaft«, verbunden mit den vorstehend skizzierten Unterscheidungskriterien, zu verstehen. Allerdings ist diese Abgrenzung nicht immer hundertprozentig trennscharf durchzuhalten. Zudem haben die empirischen Forschungen gezeigt, dass ein und dieselbe Person je nach Situation auch in beiden Kontexten unterwegs sein kann: Die beiden Gruppen 16 »Theologinnen« und »Kirchenmänner« bestanden na- »An der Universität wird die Bibel somit durchaus anders gelesen, aber eben nur graduell anders und nicht substanziell-prinzipiell.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 8 - 3. Korrektur 8 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Neues Testament aktuell hezu ausschließlich aus universitär geschulten Theologinnen/ Theologen bzw. z.T. sogar Exegetinnen/ Exegeten-- und trotzdem wurde in beiden Gruppen in der Forschungssituation Alltagsexegese betrieben. Vereinzelt klang ein Bewusstsein für dieses je nach Zusammenhang und Situation verschiedene Vorgehen und Umgehen mit den biblischen Texten ausdrücklich an: »[I]ch glaube, das liegt auch am Kontext. [… D]a würd ich da ganz anders mit umgehen« (Transkript Gruppe »Theologinnen«, S. 22, Person F 3 ). 5. Gesucht: Brückenbauer mit erweitertem Selbstverständnis zur kritisch-sensiblen Lektürebegleitung Stellt sich zum Ende hin die Frage: Was bringt die Beschäftigung mit Alltagsexegesen, u. a. für wissenschaftlich forschende und lehrende Exegetinnen und Exegeten? 5.1 Alltagsexegetisch bereichert wider die wachsende Entfremdung-- Plädoyer für einen empirical turn Zuallererst einmal ist der konkrete, empirische Bibelleser von heute als möglicher Forschungsgegenstand entdeckt und unter die Lupe genommen worden-- kein (nur) impliziter, historischer oder idealer Leser. Die vorstehenden Ausführungen, die natürlich nur allgemein bleiben und nicht ins Detail gehen konnten, haben hoffentlich eines deutlich gemacht: Es lohnt sich, über den eigenen exegetischen Tellerrand hinauszuschauen, und es ist spannend, alltäglichen Gruppen beim Textverstehen und bei der Sinnkonstruktion über die Schulter zu blicken. Sollen sich exegetische Wissenschaft auf der einen, alltägliche Bibellektüren auf der anderen Seite nicht völlig voneinander entfremden und soll der teilweise bereits bestehende Graben nicht noch tiefer bzw. breiter werden, dann ist die Suche nach Anknüpfungspunkten, nach relevanten Fragestellungen, nach einer verständlichen Sprache etc. in Zukunft unentbehrlich. Somit sind Exegetinnen und Exegeten heute mehr denn je gefordert, den universitären Elfenbeinturm mit einem erweiterten Selbstverständnis im Gepäck zu verlassen, auf einer klassischen Einbahnstraße in der Gegenrichtung unterwegs zu sein und der (drohenden oder vielleicht auch bereits eingetretenen) flächendeckenden Verstehensstörung 17 offensiv entgegenzuwirken: hörend auf Alltagsexegeten. Dabei können auch Exegetinnen und Exegeten noch einiges lernen und damit kann der zunehmenden gesellschaftlichen Anfrage hinsichtlich der Legitimität wissenschaftlich-exegetischen Forschens und Tuns konkret begegnet werden. Der direkte Kontakt zwischen universitärer Exegese und alltäglicher Bibellektüre bereichert beide Seiten. So plädiere ich dafür, den ansatzweise erkennbaren empirical turn in der exegetischen Wissenschaft auf jeden Fall fortzuführen und zu intensivieren. 18 5.2 Unverzichtbare Brückenschläge und wichtige Betätigungsfelder In diesem Zusammenhang darf nicht vergessen werden, ein mögliches außeruniversitäres Publikum als Empfänger für Erkenntnisse der wissenschaftlichen Exegese in den Blick zu nehmen: Hier sind Brückenbauer gefordert, die die ansprechend-verständliche Präsentation der eigenen Arbeit für eine breitere Leserschaft leisten. Denn was nützen die besten Resultate, wenn sie außer dem Fachkollegen niemand versteht und/ oder sich außerhalb der eigenen Fachwelt niemand dafür interessiert? Das Kreisen der exegetischen Wissenschaft um sich selbst ist aufzubrechen und der breite (wissenschaftlich-interdisziplinäre sowie gesellschaftliche) Diskurs zu suchen. Für die wissenschaftliche Exegese selbst lässt sich vor diesem Hintergrund eine »kritisch-sensible Lektürebegleitung« als wichtige zusätzliche Aufgabe in die to-do- Liste eintragen-- dies ist aber nur leistbar, wenn man sich für das potenzielle Gegenüber ernsthaft interessiert. Und im Bereich der Bibelpastoral empfiehlt sich die Grundmaxime »die Menschen dort abholen und ernst nehmen, wo sie lesen und verstehen« als wegweisend für die Zukunft. 6. Gefordert: Sinnkonstruktionssensibilität mit Selbstprüfungspotenzial Durch die intensive, empirisch fundierte Beschäftigung mit dem Phänomen »Sinnkonstruktion« konnte ein wichtiger Clou erkannt werden: Bereits mit der ersten Lektüre schafft sich jeder Leser/ Ausleger (s)einen eigenen virtuellen Hypertext, der mit der vorliegenden schriftlichen Textvorlage z.T. nur entfernt etwas zu tun hat. Ausblendung, Fragmentierung, Neukombination, Umstellung, Einspielung weiteren Materials (»Verlinkung«) mit unterstützender, widersprechender, verallgemeinernder, ersetzender Absicht, Umformulierung-- der kreative Textverstehensprozess ist facettenreich und höchst individuell, meist läuft er jedoch unreflektiert und unbewusst im Verborgenen ab. In diesem Punkt Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 9 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 9 Christian Schramm Im Alltag liest man die Bibel anders als an der Uni! ? scheint mir eine grundsätzliche Sensibilität gekoppelt mit einem entsprechenden Problembewusstsein wichtig und fruchtbar. Vor diesem Hintergrund ist in meinen Augen ein selbstkritischer Blick auf die wissenschaftlich-exegetische Zunft angesagt. Denn wenn wir uns die Landschaft der wissenschaftlichen Auslegungsangebote ansehen, dann werden wir auch hier von einer wahren Sinn-Flut gewissermaßen weggeschwemmt. Nicht nur im alltagsexegetischen Bereich gibt es eine unübersehbare Vielfalt an Auslegungsangeboten, auch in der Wissenschaft kursieren Dutzende von Interpretationen, die strukturell vergleichbar zustande kommen wie das, was bei den Alltagsexegesen unter die Lupe genommen worden ist. Die auslegende Person spielt eine wesentliche Rolle für die Auslegung-- diese hermeneutische Grundmaxime macht auch vor der Tür des Exegeten/ der Exegetin nicht Halt. Diese Grundeinsicht schadet dem Ansehen der exegetischen Wissenschaft nicht, ganz im Gegenteil. Denn dass innerexegetisch nicht immer alle einer Meinung sind, ist ja weithin bekannt. Und vor diesem Hintergrund sollte konstruktiv mit der je eigenen (biographischen) Prägung umgegangen werden, d. h. der Beschäftigung mit der Person des Exegeten/ der Exegetin-- in welcher konkreten Konzeption auch immer-- ist meiner Meinung nach mehr Gewicht zu geben. 19 Die Standortgebundenheit jeder Auslegung sowie die Verantwortung der auslegenden Person für die erarbeiteten Auslegungen werden durch den analytischen Blick auf Alltagsexegesen neu ins Bewusstsein gehoben. Alltagexegeten haben für gewöhnlich kein Problem damit, »ich« oder »meine Auslegung« etc. zu sagen-- in wissenschaftlich-exegetischen Beiträgen findet man dies kaum, stattdessen begegnet ab und an zumindest zwischen den Zeilen ein manchmal beängstigender Absolutheitsanspruch mit Blick auf die vorgetragene eigene (! ) Auslegung. In diesem Punkt sind Alltagsexegesen hermeneutisch deutlich weiter und manchmal auch reflektierter-- hier besteht Lernpotenzial für die wissenschaftliche Exegese. Und von hier aus sind es dann nur noch kleine Schritte hin zu einer erweiterten »Auslegungsethik«, deren Standards im Interesse einer heute diskursfähigen Exegese nicht unterlaufen werden dürfen: Zu den Forderungen nach guter wissenschaftlicher Praxis in all ihren Facetten muss die kritische Sensibilität für das bleibend Subjektive an jeder Auslegung hinzukommen. 7. Gewünscht: Mediative Grundklärungen statt (pseudo-)argumentativer Detailstreitereien Doch sind wir damit gewissermaßen am Ende der Fahnenstange angelangt? Stehen letztendlich nahezu unendlich viele konstruierte Sinnangebote nebeneinander, ohne dass eine begründete Unterscheidung möglich wäre? Ist die Sinn-Flut nicht aufzuhalten oder handelt es sich nicht vielmehr um eine (legitime) Sinn-Fülle, die einmal mehr deutlich macht, wie vielschichtig, reichhaltig, wertvoll, ja inspiriert bzw. inspirierend die biblische Botschaft ist? Die Frage nach »richtig/ falsch« ist bislang-- sowohl bei den empirischen Forschungen zu Alltagsexegesen als auch in den vorliegenden Ausführungen-- bewusst ausgeklammert worden. Und es fällt mir selbst schwer, Bewertungen vorzunehmen. Abgesehen von einigen Auslegungen, die dezidiert dem zugrunde liegenden biblischen Text zuwider laufen, gibt es meiner Meinung nach eine legitime Pluralität an Sinndimensionen, wobei es mir viel sinn-voller erscheint, diese in ein konstruktiv-produktives Gespräch miteinander zu bringen, als sich im Streit um die vermeintlich eine Wahrheit aufzureiben. Statt sich in Detailauseinandersetzungen zu verlieren, ist es weiterführender, erst einmal Grundannahmen, methodische, persönliche usw. Voraussetzungen etc. offenzulegen und wechselseitig wahrzunehmen. Vielleicht braucht es in der exegetischen Wissenschaft bzw. allgemein beim Ringen um das Verstehen biblischer Texte einen Streitschlichter, einen Mediator, der nicht wie ein Richter (ver-)urteilt, sondern gegenseitiges Verstehen befördert, denn das »exegetische Geschäft wäre einfacher und erfolgreicher, wenn die Exegeten wagten, ihre sehr spezifischen Forschungsinteressen und deren Bedingungen explizit zu reflektieren und als Chance der Kommunikation mit dem Text und der Interpretengemeinschaft zu verstehen« 20 . Und in dieser Überzeugung von der legitimen Auslegungsvielfalt möchte ich abschließend dafür plädieren, die seit Jahrhunderten existierende Sinn-Flut als Chance zu begreifen-- als Chance für die Bibel, auch heute Relevanz/ Bedeutung, Aktualität und eine bleibende prägende (kulturelle) Kraft zu entfalten. Denn wenn die Sinn-Flut erst einmal erkannt und grundsätzlich akzeptiert ist und wenn v. a. für die dahinter stehenden Verstehensprozesse und -mechanismen Sensibilität geweckt ist, dann sind die grundlegenden Voraussetzungen dafür »Zu den Forderungen nach guter wissenschaftlicher Praxis in all ihren Facetten muss die kritische Sensibilität für das bleibend Subjektive an jeder Auslegung hinzukommen.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 10 - 3. Korrektur 10 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Neues Testament aktuell geschaffen, in einen ergebnisoffenen, von unterschwelligen ideologischen Voreingenommenheiten befreiten (da geklärten) und damit fruchtbar-bereichernden Dialogprozess eintreten zu können. Dann besteht die begründete Hoffnung, dass die Bibel immer wieder neu lebendig werden kann. Es ist heute meines Erachtens der Mut gefordert, sich-- inspiriert von Alltagsexegesen-- auch im wissenschaftlich-universitären Kontext auf die Sinn-Flut einzulassen und in diesem Sinne die Bibel vielfältig anders zu lesen - im anerkennenden Bewusstsein der je subjektiven Einflussfaktoren. Aber das Wagnis lohnt sich, wie das abschließende Zitat einer Gruppe des Forschungsprojektes zum Ausdruck bringt: »Ja, und das ist […] für mich so spannend, dass eben auch so unterschiedliche Dinge daraus entwickelt werden und jeder da so auch etwas Unterschiedliches zu sagen kann. [… G]anz selten ist das ja so, dass alle dasselbe sagen. Oder auch eine Geschichte baut sich so […] in dem Gespräch auf, also jeder [liefert; C. S.] so […] einen Baustein dazu […] und die Geschichte [wird; C. S.] dadurch erst so richtig interessant und spannend« (Transkript Gruppe »Montagskreis«, S. 43, Person M 4 ). Anmerkungen 1 Zu Belegen und Verweisen vgl. C. Schramm, Alltagsexegesen. Sinnkonstruktion und Textverstehen in alltäglichen Kontexten, Stuttgart 2008, 78-81. Dieser Literaturtitel ist die umfassende Basis für den gesamten vorliegenden Beitrag. Auf eine unübersehbare Schar von weiteren Querverweisen wird in der Folge verzichtet. Vgl. die Kurzpräsentationen C. Schramm, »Wenn zwei einen Text lesen …« Alltägliches Bibelverstehen empirisch untersucht, BiKi 64 (2009), 114-118; C. Schramm, Wie verstehst du, was du liest: Alltagsexegesen, KatBl 137 (2012), 296-301. 2 Ein kurzer Abriss zum Forschungsstand findet sich in C. Schramm, Alltagsexegesen, 24-28, sowie in S. A. Strube, Bibelverständnis zwischen Alltag und Wissenschaft. Eine empirisch-exegetische Studie auf der Basis von Joh 11,1- 46 (Tübinger Perspektiven zur Pastoraltheologie und Religionspädagogik 34), Münster 2009, 37-53. Für eine umfassendere Aufarbeitung des aktuellen Forschungsstandes sowie einen weiterführenden Quervergleich verweise ich auf meinen Beitrag »Empirisch gepflückt: Alltagsexegesen. Forschungsüberblick und methodologische Erwägungen«, der demnächst (geplant ist 2014) in den Protokollen zur Bibel (PzB) erscheinen wird. 3 U. Luz, Was hast du, das du nicht empfangen hast? , in: E.-M. Becker (Hg.), Neutestamentliche Wissenschaft. Autobiographische Essays aus der Evangelischen Theologie, Tübingen 2003, 295-305: 302 f. Daneben ist an dieser Stelle, gewissermaßen als »langjähriger Mahner«, Joachim Kügler zu erwähnen, der als Neutestamentler in zahlreichen Publikationen in eine ähnliche Richtung votiert hat. 4 Vgl. S. A. Strube, Den »garstig breiten Graben« überwinden. Plädoyer für ein erweitertes Selbstverständnis der Exegese-- ein Diskussionsanstoß, Orientierung 68 (2004), 242-245: 243; U. Luz, Was hast du, 302. 5 Vgl. Strube, Diskussionsanstoß. 6 Vgl. z. B. für die Untersuchung von »geschlechtsspezifischer Auslegung« S. Arzt, »Absurd, daß die Frauen so niedergemacht werden«. Zur geschlechtsspezifischen Rezeption der Erzählung vom Widerstand der Waschti in Ester 1, KatBl 121 (1996), 370-373; S. Arzt, Frauenwiderstand macht Mädchen Mut. Die geschlechtsspezifische Rezeption einer biblischen Erzählung, Innsbruck 1999. 7 Den Rahmen bildete das DFG-Forschungsprojekt »Bibelverständnis in Deutschland« (2004-2006; Westfälische Wilhelms-Universität Münster; Seminar für Exegese des Neuen Testaments, Prof. Dr. M. Ebner; Institut für Christliche Sozialwissenschaften, Prof. Dr. Dr. K. Gabriel), vgl. http: / / www.uni-muenster.de/ FB2/ bibel. Die wichtigsten Eckdaten sowie Resultate des Projekts sind dokumentiert in: M. Ebner/ K. Gabriel, Bibel im Spiegel sozialer Milieus. Eine Untersuchung zu Bibelkenntnis und -verständnis in Deutschland (Forum Religion & Sozialkultur. Abteilung A: Religions- und Kirchensoziologische Texte 16), Münster 2008; K. Gabriel u. a., Bibelverständnis und Bibelumgang in sozialen Milieus in Deutschland. Ergebnisse aus einem DFG-Projekt, in: C. Bizer u. a. (Hgg.), Bibel und Bibeldidaktik (JRP 23), Neukirchen-Vluyn 2007, 87-103. Die exegetische Seite des Forschungsprojektes ist das Fundament meiner eigenen Dissertation: C. Schramm, Alltagsexegesen. 8 Vgl. C. Schramm, Alltagsexegesen, 35-39. 9 Vgl. insgesamt R. Bohnsack, Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden, Opladen 5 2003. 10 R. Kuhlen, Hypertext. Ein nicht-lineares Medium zwischen Buch und Wissensbank, Berlin 1991, 27 (im Original kursiv). Stefan Scholz und Volker Eisenlauer haben den Begriff des »Hypertextes« auch verschiedentlich aufgegriffen und auf die Bibel (sowie die Bibellektüre) insgesamt übertragen. Ähnlich wie im obigen Gebrauch legen sie dabei u. a. Wert auf »individualisierte Textwahrnehmung« und »Interaktivität«, jedoch hebt ihr Hypertextkonzept nicht auf die Auseinandersetzung mit einem konkreten biblischen Text ab, sondern sie entwickeln damit einen makrostrukturellen Lese- und Verstehensrahmen, vgl. www. die-bibel-als-hypertext.de [23. 12. 2013]; S. Scholz/ V. Eisenlauer, Hypertextualität als Interpretament der Bibel und ihrer Auslegung, in: O. Wischmeyer/ S. Scholz (Hgg.), Die Bibel als Text. Beiträge zu einer textbezogenen Bibelhermeneutik (NET 14), Tübingen 2008, 69-98; S. Scholz/ V. Eisenlauer, Art. Hypertext, in: O. Wischmeyer (Hgg.), Lexikon der Bibelhermeneutik. Begriffe-- Methoden-- Theorien-- Konzepte, Berlin 2009, 272-274. 11 C.Berg, Art. Methodologie, RGG 5, Tübingen 4 2002, 1187-1189: 1187. 12 Vgl. zur Lesestrategie »Kritisieren« im Besonderen C. Schramm, Kritik und Konstruktion. Kritisieren als Lesestrategie im Rahmen heutiger Alltagsexegesen, in: J. Kügler/ U. Bechmann (Hgg.), Biblische Religionskritik. Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 11 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 11 Christian Schramm Im Alltag liest man die Bibel anders als an der Uni! ? Kritik in, an und mit biblischen Texten. Beiträge des IBS 2007 in Vierzehnheiligen, Münster 2009, 214-228. 13 Diesbezüglich sei auf das Habilitationsprojekt von S. A. Strube verwiesen, die hier pioniermäßig Neuland zu betreten gewagt hat: S. A. Strube, Bibelverständnis. Kurz resümiert in: S. A. Strube, Den »garstig breiten Graben« überwinden. Ein Vergleich alltäglicher und exegetischer Lesarten zur Erzählung von der Auferweckung des Lazarus (Joh 11), Orientierung 72 (2008), 181-185; S. A. Strube, Bibelverständnis zwischen Alltag und Wissenschaft. Eine empirische Studie anhand der Erzählung von der Auferweckung des Lazarus (Joh 11), Info-Dienst theologische Erwachsenenbildung 47 (2008), 11-16; S. A. Strube, Lektüre auf Augenhöhe. Bibellektüren von Alltagsbibelleser/ innen-- eine Bereicherung für alle, BiKi 64 (2009), 216-222. 14 Vgl. zum Vorstehenden auch das Resümee bei H. Roose/ G. Büttner, Moderne und historische Laienexegesen von Lk 16,1-13 im Lichte der neutestamentlichen Diskussion, ZNT 7 (2004), 59-69: 67. 15 Vgl. Strube, Diskussionsanstoß, 244. 16 Zum Profil der beiden Gruppen vgl. C. Schramm, Alltagsexegesen, 336 f. (»Kirchenmänner«: »klerikaler Mittagessenskreis«) und 418 f. (»Theologinnen«: »Kreis theologische Forschung von Frauen«). 17 Vgl. D. Frickenschmidt, Empfänger unbekannt verzogen? Ergebnisse empirischer Glaubensforschung als Herausforderung für die neutestamentliche Exegese, ZNT 2 (1999), 52-64. 18 Mit dieser Forderung stehe ich nicht alleine da. Einige Kolleginnen und Kollegen mit ähnlichem Anliegen sind in den Anmerkungen bereits erwähnt/ zitiert worden. Zu ergänzen ist auf jeden Fall D. Dieckmann, Empirische Bibelforschung als Beitrag zur Wahrnehmungsästhetik. Am Beispiel von Gen 12,10-20, in: A. Grund (Hg.), »Wie schön sind deine Zelte, Jakob! « Beiträge zur Ästhetik des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 2003, 13-43. 19 E.-M. Becker hat hierzu nicht nur eine theoretische Grundlage entfaltet-- vgl. E.-M. Becker, Die Person des Exegeten. Überlegungen zu einem vernachlässigten Thema, in: O. Wischmeyer (Hg.), Herkunft und Zukunft der neutestamentlichen Wissenschaft, Tübingen 2004, 207-243--, sondern auch ein autobiographisch angelegtes Projekt in die Tat umgesetzt: E.-M. Becker (Hg.), Neutestamentliche Wissenschaft. Autobiographische Essays aus der Evangelischen Theologie, Tübingen 2003. Mögliche Konkretionen, wie die auslegende Person im Auslegungsprozess sichtbar gemacht werden kann, werden u. a. im amerikanischen Kontext verhandelt. An dieser Stelle müssen Stichworte genügen: cultural exegesis, autobiographical biblical criticism usw. 20 O. Wischmeyer, Die neutestamentliche Wissenschaft am Anfang des 21. Jahrhunderts. Überlegungen zu ihrem Selbstverständnis, ihren Beziehungsfeldern und ihren Aufgaben, in: O. Wischmeyer (Hg.), Herkunft und Zukunft der neutestamentlichen Wissenschaft, Tübingen 2004, 245-271: 267. A. Francke Verlag • D-72070 Tübingen • info@francke.de • www.francke.de Philipp F. Bartholomä The Johannine Discourses and the Teaching of Jesus in the Synoptics Texte und Arbeiten zum Neutestamentlichen Zeitalter, Band 57 2012, XIV, 491 Seiten, € (D) 78,00/ SFr 105,00 ISBN 978-3-7720-8457-7 Especially those scholars with a negative attitude towards Johannine authenticity have frequently employed the argument based on vast differences between John and the Synoptics as to substantiate their view. Having established the methodological necessity for a clear differentiation between similarity in wording and similarity in content, the study’s main result is that what we —nd in the Johannine discourses is a representation of the teaching of Jesus that corresponds conceptually to a signi—cant degree with the picture offered by Matthew, Mark, and Luke. Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 12 - 3. Korrektur 12 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Einführung: Wie man nicht im Tod bleibt »Talitha kum! «-- Der Markusevangelist erklärt die Bedeutung dieses Satzes: »Mädchen, steh auf! « Die Geschichte erzählt uns, dass Jairus’ zwölfjährige Tochter dem Tode nahe war. Ihr Vater kommt zu Jesus und sagt ihm: »Bitte komm und lege ihr die Hände auf, damit sie gesund wird und am Leben bleibt« (V. 23). Jesus macht sich mit Jairus auf den Weg, um das kranke Kind zu heilen. Er wäre vielleicht rechtzeitig gekommen, hätte ihn nicht eine Frau in Anspruch genommen, die seit zwölf Jahren an Blutungen litt und all ihre Habe für vergebliche Therapien drangegeben hatte. Unauffällig und von hinten berührt sie seine Kleidung. Sie wird nicht nur geheilt, sondern Jesus hält inne und hört ihre Geschichte von zwölf Jahren vergeblicher Hoffnung auf Heilung an. Inzwischen stirbt die kleine Tochter. Jesus geht zu Jairus’ Haus, ergreift ihre Hand und sagt: »Talitha kum! «. »Und sofort«, erfahren wir, »stand das Mädchen auf und fing an umherzulaufen«. Was kommt dabei heraus, wenn man solch eine Geschichte aus einer feministischen, einer postkolonialen und einer HIV/ AIDS-Perspektive liest? Natürlich kann man jeden Text auf jede Weise lesen. Entscheidend ist aber: Jedes der genannten Paradigmen ist in sich selbst schon ein weites Feld aus unterschiedlichen Methoden. Meine eigene Lektüre kann jeweils nur einige wenige Aspekte dieser Paradigmen mit einander kombinieren. Ich beginne damit, dass ich die Narration der Geschichte nach plot und setting nachzeichne. Die Analyse der Charaktere wird auch in den folgenden Abschnitten Thema sein. Auf diese Weise interagiert die narrative Analyse methodologisch mit der postkolonialen, der feministischen und der HIV/ AIDS-Perspektive. Zumal mein postkolonialer Ansatz bestimmt die narrative Analyse an der Oberfläche und in der Tiefe, d. h. ich verstehe die Narration auf dem konkreten Hintergrund des römischen Imperiums. 1 Nachfolgend geht es um folgende Fragen, die diesem Beitrag zugleich seine Zwischenüberschriften geben: (1) Wie stellen sich einer narrativen Analyse setting und plot der Geschichte dar? (2) Wie gestaltet sich Mk 5,21-43 aus einem postkolonialen Blickwinkel? (3) Welches Bild ergibt sich aus feministischer Perspektive? (4) Welches Licht wirft die HIV/ AIDS-Epedemie auf die Geschichte aus Mk 5? Zwar wird jede Perspektive separat behandelt, zugleich werden sie aber auf vielen Ebenen und an vielen Stellen miteinander ins Gespräch gebracht und bestimmen sich so gegenseitig. Alle vier Perspektiven teilen bei ihrem jeweiligen Ringen um den Text gemeinsame Annahmen, Fragen, Anliegen und befreiende Lektüren von Text und Welt. Fragen wie gender, Klasse, Abstammung, Ethnizität, Sexualität, zwischenstaatliche Beziehungen und andere Analysekategorien liegen quer zum postkolonialen, feministischen und HIV/ AIDS-Paradigma. Bevor wir uns jedem einzelnen Punkt zuwenden, will ich noch erklären, warum mir an der von mir gewählten Kombination gelegen ist. Zunächst kann ich mit Fug und Recht sagen: Eine meiner Grundannahmen lautet, dass das Lesen eines Textes eine Weise ist, die Welt zu lesen, und dies nicht nur, um die Welt zu verstehen, sondern auch sie zu ändern, 2 und zwar, wie ich ergänzen möchte, sie zum Besseren zu ändern. Meine wichtigsten Anliegen sind folgende: Die postkoloniale Perspektive ermöglicht es mir, unsere vergangenen und gegenwärtigen internationalen Beziehungen zu untersuchen und zu befreienden Lektüren für unsere heutige Welt zu gelangen. Das ist für eine von HIV/ AIDS geprägte Zeit essentiell wichtig. Die feministische Perspektive ist von zentraler Bedeutung für jeden Versuch, Unterdrückung zu verstehen und Befreiung zu ersinnen, denn hier geht es um gender, eine Analysekategorie, die Konstruktionen des Männlichen und des Weiblichen betrifft und bestimmt und insofern etwas mit allen Menschen zu tun hat, unabhängig von ihrer Identität. Schließlich die HIV/ AIDS-Lektüre: Diese Epidemie wurde vor drei Jahrzehnten entdeckt und ist inzwischen eine globale Krise mit mindestens 22 Millionen Opfern bis 2002 und etwa weiteren 40 Millionen Infizierten innerhalb dieses kurzen Zeitraumes. 3 Während der letzten zehn Jahre hat sich durch die Verfügbarkeit von Medikamenten die Zahl der von AIDS-verursachten Todesfälle Musa Dube Markus 5,21-43 in vier Lektüren Narrative Analyse-- postcolonial criticism-- feministische Exegese-- HIV/ AIDS Zum Thema »Eine meiner Grundannahmen lautet, dass das Lesen eines Textes eine Weise ist, die Welt zu lesen, und dies nicht nur, um die Welt zu verstehen, sondern auch sie zu ändern, und zwar, wie ich ergänzen möchte, sie zum Besseren zu ändern.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 13 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 13 Musa Dube Markus 5,21-43 in vier Lektüren nehmung schärft für gegenwärtige und vergangene internationale Beziehungen. Hinzu kommt meine Identität als Frau samt allen Höhen und Tiefen, die damit zusammen hängen, schließlich die Realität des Lebens in einer Region der Erde, die massiv von HIV/ AIDS betroffen ist. Nach diesen einführenden Bemerkungen wende ich mich nun der narrativen Analyse von Mk 5,21-45 zu, einer Geschichte, die unter afrikanischen Theologinnen überaus populär ist. 6 Diese Lektüre eröffnet zugleich die Möglichkeit des Geschichtenerzählens 7 , und Geschichtenerzählen ist Anlass und Ereignis der Partizipation an gegenseitigen individuellen und sozialen Heilungsprozessen. 1. »Talitha kum! « Eine narrative Lektüre von plot und setting von Mk 5,21-43 Eine narrative Analyse fragt: »Wie erzeugt die Geschichte Bedeutung? « 8 In und mit dieser Frage richten die Lesenden ihre Aufmerksamkeit auf die Bedeutung erzeugenden narrativen rhetorischen Elemente wie etwa plot, setting, Charaktere, Erzähler, Adressat, impliziter Leser, Wiederholung, Anordnung, Symbolik und Ironie. Diese narrativen Gestaltungselemente zielen auf die Beeinflussung der Lesenden, die bestimmte Perspektiven einnehmen und sich von anderen distanzieren sollen. 9 Kurz gesagt: Eine Narration ist nicht neutral, und sie erwartet auch von den Lesenden keine Neutralität. Wer es mit einer Erzählung zu tun bekommt, ist per se aufgefordert, sich zu ihrer Weltsicht zu verhalten. Das setting bestimmt Ort und Zeit der Handlung, und der plot gibt die Handlungs- und Ereignisstruktur der Charaktere vor, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen. 1.1 Notfall-Reisen Die Eingangsszene findet am See statt. Jesus ist gerade mit dem Boot an einem neuen Ort angekommen. Er ist von einer Menschenmenge umgeben. Dann aber führt uns die Handlung auf einen Weg vom öffentlichen Platz am See an einen privaten Ort, in das Haus des Jairus, wo Jesus die Leute aus dem Zimmer schickt, in dem das Mädchen krank daniedergelegen hat und schließlich gestorben ist. Hier ruft er »Talitha kum! «, und das Kind richtet sich auf und beginnt herumzulaufen. Sie muss aus dem Raum gelaufen sein, in dem sie gelegen und von Infektionen während der Geburt wesentlich verringert. Der aktuelle UNAIDS-Bericht für 2012 verzeichnet 38,8 Millionen HIV-Infizierte, 2,7 Millionen Neuinfizierte und 1,9 Millionen Todesfälle. 4 Die Weltgemeinschaft ist angesichts dieser Zahlen mit Nachdruck aufgefordert, sich dieser Realität zu stellen. Für die Bibelwissenschaft ist es an der Zeit, zu fragen, wie und auf welche Weise neutestamentliche Texte eine Hilfe sein können, HIV/ AIDS zu verstehen und damit umzugehen. Mich beschäftigen folgende Fragen: Welchen Beitrag leistet die Erforschung des Neuen Testaments, einer von HIV/ AIDS bestimmten Welt Heilung zu bringen? Wie kann die Neutestamentliche Wissenschaft zur HIV/ AIDS-Prävention, zur Verbesserung und Verbreitung bezahlbarer Therapien, zur Überwindung des mit HIV/ AIDS verbundenen Stigmas und zur Bekämpfung der sozialen Übel beitragen, die die Ausbreitung der Epidemie forcieren? Wie sind wir durch HIV/ AIDS herausgefordert, unsere Lektürekategorien zu erweitern? Im Blick auf diese Fragen bin ich alles andere als sesshaft, führe eher ein wissenschaftliches Nomadendasein in ständiger Suche und Bewegung. 5 Mein methodologisches Interesse rührt außerdem von meiner sozialen Umgebung her, die meine Wahr- Apl. Prof. Dr. Musa W. Dube, Bibelwissenschaftlerin an der Universität von Botswana, apl. Professorin an der Universität von Südafrika, Humboldt-Stipendiatin (2011), studierte in Durham (UK) und an der Vanderbilt Universität, war visiting scholar am Union Theological Seminary (2010) und an der Universität Bamberg (2011). Zahlreiche Veröffentlichungen zu postcolonial criticism, feministischer Exegese, Studien zu HIV/ AIDS, Afrikanische Exegese u. a. In ihren neueren Forschungen befasst sich Dube mit der Frage, wie sich postkoloniale und gender-Strukturen in Übersetzungen der Bibel in indigene afrikanische Sprachen niederschlagen. Musa W. Dube »Für die Bibelwissenschaft ist es an der Zeit zu fragen, wie und auf welche Weise neutestamentliche Texte eine Hilfe sein können, HIV/ AIDS zu verstehen und damit umzugehen.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 14 - 3. Korrektur 14 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Zum Thema hat, denn die Menge erblickt sie und »gerät in großes Staunen« (V. 42). Zugleich ist es aber der Zeitaspekt, der die Geschichte zuspitzt, ihr Spannung verleiht und sie einem Höhepunkt zuführt. Er bündelt sich in einem kritischen Moment von größter Dringlichkeit, und es ist Jairus, der Synagogenvorsteher, der diesen Zeitaspekt in die Erzählung einbringt. Er eilt in großer Verzweifelung herbei und fleht wiederholt: »Meine kleine Tochter liegt im Sterben«. Er redet auf Jesus ein, er solle kommen und die Hände auf sie legen, damit sie gesund wird und am Leben bleibt. So dringlich ist das: Eine Sache auf Leben und Tod. Alles wird sich daran entscheiden, ob Jesus rechtzeitig kommt und ihr die Hände auflegt, bevor sich der Tod ihrer bemächtigt. Jesus muss den Ernst der Lage sofort erkannt haben. Ohne ein Wort der Nachfrage macht er sich mit Jairus auf den Weg zu dem sterbenden Kind. Jesus hat einen Notruf erhalten. Wir Heutigen hören förmlich Martinshorn und Sirenengeheul, sehen das Blaulicht des Notarztwagens, der sich seinen Weg durch den dichten Verkehr bahnt, und jeder Fahrer muss Platz machen, um dem Leben eine Chance zu geben. Es zählt jede Minute, jede Sekunde. Die Lesenden, die Jesus und Jairus auf diesem Weg begleiten, sind sich über die Notlage völlig im Klaren. Die Notlage überträgt sich auf die Ebene des Erzählverlaufs, denn die Lesenden wissen, dass der plot so schnell wie möglich zu Jarirus’ Haus führen muss-- um ein Leben zu retten, das dem Tode nahe ist. Aber es geht sprichwörtlich alles schief, was schief gehen kann. Die nach vorn drängende Handlung wird blockiert, der plot wird abgebogen. Von hinten tritt eine Frau auf. Man liegt nicht ganz falsch, wenn man in ihr eine Saboteurin sieht, die plötzlich hinter den Kulissen hervor tritt, denn sie verfolgt einen Plan. Sie ist eine Frau, die seit zwölf Jahren an Blutungen leidet, und sie hat viele Ärzte aufgesucht, die ihr zwar Geld abgenommen, ihrem anämischen Körper aber nicht die erhoffte Heilung gebracht haben. Diese Frau wird es fertigbringen, den eilig voranschreitenden Handlungsverlauf anzuhalten. Sie unterbricht den linearen plot, indem sie ihre Geschichte in die Geschichte von Jairus und seiner sterbenden Tochter einschaltet. Damit bringt sie das Unvorstellbare fertig: Sie hält Jesus auf und lenkt ihn von seinem Notfalleinsatz ab. Nun ist es nicht gänzlich abwegig, sie in der Rolle einer Entführerin zu sehen, möglich ist aber auch, dass sie den an Jesus ergangenen Notruf eigentlich respektieren wollte. In V. 27 heißt es, dass sie von Jesus gehört hat. Da sie aber unter der Volksmenge war, muss sie auch das Flehen des Jairus gehört haben. Möglicherweise stand sie auch nah genug, um Jesu positive Reaktion mitzubekommen, dass er sich nämlich sofort mit Jairus auf den Weg machte, um seine sterbende Tochter vom Tode zu retten. Diese Frau muss nach zwölf Jahren vergeblicher Suche nach Heilung von diesem plötzlichen Hoffnungszeichen, das sie in der Reaktion Jesu sah, tief getroffen gewesen sein: Jesus, nur einige Meter entfernt, würde nun ein Mädchen heilen, das dem Tode nahe war. Gewiss würde er auch in der Lage sein, sie von ihrer langjährigen Krankheit zu heilen, die sie in Armut gestürzt und stigmatisiert hatte. Möglicherweise hat sie den akuten Notfall, der Jesus, Jairus und die Menge hin zu der sterbenden Tochter in Bewegung versetzt hatte, völlig anerkannt. Aber diesen kostbaren Moment konnte sie nicht ungenutzt verstreichen lassen. Deshalb mag sie beschlossen haben, unauffällig aus dem Hintergrund ihr Glück zu versuchen und so den Notfalleinsatz von Jesus und Jairus nicht zu behindern. Mit diesen Gedanken bahnt sich die blutende Frau ihren Weg hin zu Jesus. Sie sagt zu sich selbst: »Wenn ich auch nur seine Kleider anrühre, so werde ich gesund werden« (V. 28). Noch während der Berührung wird sie geheilt. Sollte sie jedoch darauf gesetzt haben, dass diese Berührung unbemerkt bleiben würde, so hatte sie sich gründlich getäuscht. Außerdem hatte sie Jairus und seine Tochter in eine noch schlimmere Lage gebracht: Jesus bemerkt sofort die von ihm ausgegangene Kraft. Er hält inne. Er wendet sich um. Er fragt: »Wer hat meine Kleider berührt? « (V. 30). Die Frage stößt bei seinen Jüngern angesichts der Menschenmenge auf Unverständnis. Sie antworten: »Du siehst, wie das Volk dich umdrängt, und sagst: Wer hat mich angerührt? « (V. 33). Die Frage kommt ihnen lächerlich vor. Sollte die Frau gehofft haben, Jesus würde sich von der Antwort der Jünger überzeugen lassen, so hat sie sich einmal mehr getäuscht. Jesus forscht weiter nach: »Er blickte umher, um zu sehen, wer die war, die dies getan hatte« (V. 32). Nun war der Frau klar, dass sie sich nicht länger verstecken konnte. Jairus nicht unähnlich »kam die Frau mit Furcht und Zittern, warf sich vor ihm nieder und sagte ihm die ganze Wahrheit« (V. 33). Das Problem ist, dass die »ganze Wahrheit« höchstwahrscheinlich die ganze Geschichte ihrer zwölfjährigen Suche nach Heilung umfasste. Vielleicht hat sie davon erzählt, wie sie verarmte und stigmatisiert wurde, wie Familie, Freunde und die ganze Gesellschaft sie ausschlossen. Während Jesus ihr zuhört, spüren wir die Ungeduld und Verzweiflung des Jairus. Wertvolle Minuten vergehen. Die Zeit ist nicht auf seiner Seite. Seine Tochter ist dem Tode nahe. Es war jetzt wirklich nicht die Zeit, eine langatmige Geschichte anzuhören. Jairus’ Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 15 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 15 Musa Dube Markus 5,21-43 in vier Lektüren schlimmste Befürchtungen werden bestätigt. Boten von Zuhause treffen ein und sagen ihm: »Deine Tochter ist gestorben, was bemühst du den Lehrer noch? « (V. 35). Das Mädchen ist aus dem Rennen ausgeschieden und aus dem Leben. Der Notfall, der bisher den plot vorangetrieben hat auf dem Weg zu Jairus’ Haus, ist zum völligen Stillstand gekommen. Nun ist alles zu spät. Alle Zeit ist verloren: »Was bemühst du den Lehrer noch? « (V. 35). Lesende und Hörende erwarten, dass die Reise nun vorüber ist, denn es gibt nichts endgültigeres als den Tod. 1.2 Reisen des Glaubens Aber: Nein! Die Reise wird fortgesetzt. Jesus wendet sich Jairus zu und sagt: »Habe keine Furcht. Nur dies: Glaube! « (V. 36). Sie setzen ihren Weg zu Jairus’ Haus fort. An diesem Punkt erweist sich der Zeitaspekt des Notfalls als begrenzt. Es zeigt sich, dass er nicht der entscheidende Faktor des Handlungsfortschritts ist. Die Lesenden/ Hörenden werden unsanft dazu gebracht, den ganzen bisherigen Weg nochmals zu gehen, nun unter der Maßgabe, dass nicht Zeit entscheidet, sondern Glaube. Es war Jairus’ Glaube, der Jesus dazu bewegt hat, mit ihm zu gehen, um seine kranke Tochter zu retten. Es war der Glaube der Frau, der Jesus aufgehalten und ihn hat fragen lassen: »Wer hat mich berührt? « In Anerkennung ihres Schrittes sagte er zu ihr: »Tochter, dein Glaube hat dich gerettet. Geh in Frieden und sei heil von deiner Plage« (V. 34). Und so erinnert und ermutigt Jesus den Jairus genau in jenem Moment, da alle Zeit verronnen ist, um das sterbende Mädchen zu retten, dass die Energie seines Glaubens nicht nachlassen soll. Von der Reaktion des Jairus verlautet nichts. Klar ist aber: Beide gehen miteinander zu seinem Haus. Sie treffen ein, finden das Haus in Aufruhr, voll mit Menschen, die trauern und laut klagen. Dieses setting unterstreicht: Die Tochter ist tatsächlich tot. Jesus jedoch fragt: »Was lärmt und weint ihr? Das Mädchen ist nicht gestorben, sondern es schläft« (V. 39). Seine Worte hätten nicht realitätsferner sein können. Dennoch bekräftigt die klagende Menge, dass das Mädchen tot ist, indem die Leute ihn auslachen. Sie bestehen darauf, dass der Tod nicht mit dem zeitlich befristeten Schlaf gleichgesetzt werden kann. Der Tod ist endgültig. Die Klagenden handeln nach Maßgabe realer Zeit, wohingegen Jesus aus Glauben agiert. Jesus tritt dort ein, wo das tote Kind liegt, nimmt ihre Hand und spricht: »Talitha kum! «, und sofort richtet sich das Mädchen auf und läuft umher (V. 41f ). Durchweg geht es darum, die Persönlichkeit Jesu herauszustreichen. In der Erzählung tritt er auf inmitten einer Menschenmenge, die seine Berühmtheit anschaulich macht. Jairus und die Frau stellen einen starken Glauben in die heilenden Kräfte Jesu unter Beweis. Jairus glaubt, dass Jesus ein sterbendes Kind retten kann. Die Frau glaubt, dass er in der Lage ist, eine im Lauf von zwölf Jahren als unheilbar erwiesene Krankheit zu heilen. Die Erwartungen der Frau werden erfüllt, die des Jairus weit übertroffen: Er glaubte an Jesu Macht, sie vor dem Sterben zu bewahren, doch Jesus hat sie aus dem Tode wiedergebracht. Der plot, der auf der Zeitachse eines Notfalls einsetzt, führt konsequent in die Kategorie des Glaubens hinüber. Warum dieser Wechsel? Welches ist seine Funktion und Bedeutung? In seinem Buch The Art of Biblical Narrative von 1981 zeigt Robert Altmeier, dass solche Veränderungen von großer Bedeutung sind und nicht übersehen werden dürfen. Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine wichtige narrative Charakterisierung Jesu. So fällt etwa auf, dass von dem Moment an, da das Mädchen für tot erklärt ist, niemand mehr spricht außer Jesus. Auf der Achse »Glaube«, die keinen Zeitindex aufweist, bleibt Jairus stumm, die anderen lachen, und dann »gerieten sie ganz außer sich« (V. 42), als sie sahen, dass das tote Mädchen umherlief. Der beobachtete Wechsel führt die Lesenden also aus dem Bereich menschlicher Möglichkeiten, wo man ständig gegen die Zeit kämpft, in einen außerordentlichen Raum des Glaubens, wo es nicht nur keine Zeit mehr gibt, sondern wo das menschlich Unmögliche möglich wird. In diesem Raum stehen Tote auf. Tod ist für Jesus nichts als Schlaf. Mag der Tod für alle anderen die schiere Machtfülle sein-- er hat nicht das letzte Wort. Jesus hat es. Damit schreitet die Charakterisierung Jesu fort vom Machtvollen zum Erstaunlichen, vom Menschlichen zum Göttlichen. Hier erreicht der plot seinen Höhepunkt. Jesus tritt als Hauptfigur hervor, und naturgemäß sind alle, die Klagenden, die Lesenden, die Hörenden, überwältigt (V. 42). Sie sind gerufen, von einem Leben innerhalb menschlicher Möglichkeiten in den Raum des Glaubens vorzudringen, wo das Unmögliche möglich ist. Aus theologischer Sicht und für feministische, postkoloniale und HIV/ AIDS-spezifische Belange ist es dieser Raum zwischen Leben und Tod, den ich in meinem Beitrag erkunden will, die Herausforderung des Rufes, vom Tode aufzustehen, die Einladung zu einem Wandel in Hoffnung angesichts krasser Hoffnungslosigkeit, diesen berückenden Akt, tatsächlich von den Toten aufzustehen. Wenn gilt, dass jedes dieser drei Paradigmen damit zu tun hat, gegen Formen des Todes von Beziehungen anzugehen, wie interagiert dann diese Geschichte mit jedem dieser Paradigmen? Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 16 - 3. Korrektur 16 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Zum Thema 2. »Talitha kum! « Eine postkoloniale Geschichte vom Aufstehen aus dem Tod Wie können wir diese Geschichte als postkoloniales Narrativ von Widerstand, Kollaboration und Suche nach Gerechtigkeit lesen, der Suche nach Leben gegen den Tod als Akteur in internationalen Beziehungen? Gewiss gibt es viele Weisen postkolonialer Analysen. 10 In diesem Beitrag geht es mir erstens darum, der historischen Realität der mannigfaltigen Formen des Imperialismus und Kolonialismus unterschiedlicher Zeiten und Orte als einem Phänomen Rechnung zu tragen, das die antike Welt ebenso geprägt hat, wie es unsere heutige Welt prägt. Zweitens-- damit kommen wir zu unserer Geschichte-- wurde der markinische Text von einer kolonisierten Gruppe geschrieben. Es handelt sich mithin um ein postkoloniales Narrativ, dessen Widerstandspotential von den Lesenden wieder zu entdecken ist. Und selbstredend geht es in der markinischen Erzählung rücksichtlich der damaligen Stärke des römischen Imperiums und der patriarchalen Ursprungskultur des Textes auch um Kollaboration. Des Weiteren bin ich der Auffassung, dass wir uns als Lesende bewusst oder unbewusst als Befürworter, Gegner oder Kollaborateure des Imperiums verhalten, das in der Geschichte sichtbar wird. Wir sind nicht neutral. Schließlich meine ich, dass der ideologische Kern in solchen Geschichten bestimmte gegenwärtige Herrschafts- und Unterdrückungsstrukturen zwischen mächtigen und benachteiligten Nationen unterstreicht, und dass deshalb nicht nur feministische Lektüren gefordert sind, sondern dekolonisierende feministische Lektüren. Folgende Fragen stelle ich oft im Rahmen eines postkolonialen Dialogs an einen Text: (a) Hat dieser Text einen klaren Standpunkt gegen den politischen, kulturellen und ökonomischen Imperialismus seiner Zeit? (b) Wie lesen Leserinnen und Leser den Text: Als Kolonisten, als Kolonisierte oder als Kollaborateure? (c) Ermutigt der Text dazu, in ferne bewohnte Länder aufzubrechen? (d) Wenn ja: Wie rechtfertigt der Text sich selbst? Welche Seite des Textes bereise ich als Lesende/ r? 11 (e) Repräsentiert der Text gender-Elemente, um Beziehungen von Unterordnung und Beherrschung zu konstruieren? (f ) Wenn ja: Von welcher Seite lese ich? Von der Seite der Kolonisten, der Kolonisierten oder der Kollaborateure? (g) Wenn ich eine de-kolonisierende Lesehaltung einnehme, lässt sich das in einen de-patriarchalisierenden Akt übersetzen und umgekehrt? (h) Wie affiziert Imperialismus Frauen und Männer? 12 Was den historischen Kontext des Markusevangeliums betrifft, so ist anerkannt, dass es innerhalb der geographischen Grenzen des römischen Imperiums geschrieben wurde. 13 Eine präzise Lokalisierung steht aus, doch oszillieren die meisten Debatten zwischen Rom und Jerusalem. Die Datierung steht in engem Zusammenhang mit dem judäisch-römischen Krieg 66-70 n. Chr., dem Jerusalem und der Tempel zum Opfer fielen. Unklar ist auch, ob der Verfasser Jude war oder nicht. Klar scheint dagegen, dass er keine hohe Literatur schrieb. Er scheint aus weniger gebildeten Schichten zu stammen. Möglicherweise trifft das auch für sein Publikum zu (vgl. 1Kor 1,26-28). Jedenfalls gehörte er schwerlich zur herrschenden römischen Klasse. Vielmehr lebten der Verfasser und seine Gemeinde unter der Macht des römischen Imperiums, das Unterdrückung und Gewalt als Instrumente seiner Herrschaft während des jüdischen Krieges hinlänglich unter Beweis gestellt hatte. Gewiss umfasst die markinische Gemeinde Juden wie Nichtjuden, Menschen, die unter der Gewaltsamkeit des Imperiums zu leiden hatten und miterleben mussten, wie das Schicksal des judäischen Tempels durch die nach dem Krieg verhängte Strafsteuer besiegelt wurde. Die Instruktionen im 13. Kapitel des Evangeliums sind in apokalyptischem Ton vorgetragen, und das heißt: in einer Tonlage des Widerstands. Was ist davon in unserem Text zu spüren? Bietet der Verfasser eine Erzählung der Kolonisten, die die Ideologie internationaler Beherrschung und Unterdrückung unterstützt? Oder ist die Erzählung aus der Sicht von Kolonisierten und Kollaborateuren verfasst? Wir werfen an dieser Stelle einen Blick auf das gesamte fünfte Kapitel: Vor der Geschichte von dem sterbenden Mädchen und der an Blutungen leidenden Frau treffen wir auf Jesus und sein Gefolge als er dem Besessenen in Gerasa begegnet, also auf heidnischem Gebiet. Der Mann kommt aus den Gräbern und fleht Jesus an, ihn in Ruhe zu lassen. Jesus fragt ihn: »Was ist dein Name? «, und er antwortet: »Mein Name ist Legion, denn wir sind viele«. Jesus jagt den Dämon »Legion« in eine Schweineherde, und der Dämon treibt sie ins Meer. Jesus muss das Gebiet der Gerasener verlassen. Der subversive politische Ton der Geschichte ist deutlich zu vernehmen. Legion war der terminus technicus für »eine Einheit der römischen Armee« 14 . »Eine komplette Legion bestand aus 6000 Fußsoldaten, 120 berittenen Soldaten und Hilfstruppen. Der Terminus kann ebenso ein Battalion aus 2048 Mann bezeichnen« 15 . Der Gerasener ist jemand, der von den Mächten des römischen Imperiums ergriffen und in Besitz genommen wurde, ein Einfluss, der sich als dämonische Besessenheit äußert. »Die Dämonen haben diesem Mann auch noch das letzte Stückchen Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 17 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 17 Musa Dube Markus 5,21-43 in vier Lektüren Menschlichkeit geraubt«, bis dahin, dass er sich selbst Verletzungen beibringt. 16 Nach dieser Geschichte heißt kolonisiert zu werden, dass die bösen Geister der Legion von den Menschen Besitz ergreifen und sie in ein Dasein bei den Gräbern bannen, d. h. in ein Leben unter den Toten. 17 Seine Postadresse ist ein Gräberfeld. 18 Kolonisiert zu werden, ist nach dieser Geschichte wie Besessenheit von bösen Geistern des Todes. Man koexistiert mit den Toten. Die eigenen menschlichen Möglichkeiten werden unter jedes menschliche Maß gedrückt, wie der Gerasener drastisch vor Augen führt. Wichtiger aber ist: Die Geschichte präsentiert Jesus als Befreier. Die Begegnung Jesu mit den herrschenden Mächten lässt sie erzittern vor einer höheren Macht. Der Legion- Geist erkennt die Macht Jesu und bittet darum, sich anderswo niederlassen zu dürfen, nämlich bei den Schweinen. Jesus treibt den Geist Legion mühelos aus, den Geist Roms, den bösen Geist, der Völker zu Mitbewohnern des Todes gemacht hat. Jesus ist ein machtvoller Heiler und ein politischer Befreier. Jesus repräsentiert den Anbruch des Reiches Gottes. Der römische Geist des Kolonialismus zittert in seiner Gegenwart. »Es entsteht«, so Pheme Perkins, »ein erstaunliches Bild: Sobald Jesus nichtjüdisches Territorium betritt, unterwirft sich ihm eine Legion. Gottes königliche Macht hat die imperiale Herrschaft gebrochen« 19 . Für Dewey ist »das Ertrinken der Dämonen im See eine politische Anspielung auf die Zerstörung der römischen Besatzerarmee« 20 . Aber Jesu Taten der Befreiung sind derart unerhört, dass ihn die Leute auffordern, ihr Gebiet zu verlassen. Wie sollen wir das verstehen? Hieran wird beispielhaft deutlich, dass ein kolonisiertes Volk zu einem Kollaborateur werden kann, der das Leben unter der kolonisierenden Macht vorzieht. Jedenfalls: Mit diesen Ereignissen im Rücken geht Jesus nach der Überfahrt an Land, wo ihn Jairus inmitten eines großen Gefolges antrifft. In der Geschichte von der an Blutungen leidenden Frau und dem sterbenden Mädchen finden wir an der Stelle einen ersten Hinweis auf eine mögliche politische Agenda der Handlung, wo der Text gender-Kategorien verwendet, um imperiale Unterordnung und die Suche nach Befreiung zu artikulieren. Ich meine die Zwölfzahl, die an zwei Stellen eine Rolle spielt: Die zwölf Jahre währende Krankheit der Frau und das Lebensalter des zwölfjährigen Mädchens. Der Bezug zu den zwölf Jakobsöhnen und den zwölf Stämmen Israel liegt nicht fern. Jesus, der auf heidnischem Gebiet dem Imperium furchtlos widerstanden hat, begegnet dieser Frau in seinem eigenen Land von Angesicht zu Angesicht, einer Frau die schon lange vergeblich nach Heilung sucht. Von Angesicht zu Angesicht begegnet er der zwölfjährigen Tochter, deren Vater fest daran glaubt, dass sie leben wird, wenn Jesus kommt und die Hände auf sie legt. Wenn wir darin einig sind, dass die die Geschichte rahmende Zwölfzahl eine Aussage über die nationale Situation Israels ist, dann haben wir ein anschauliches Beispiel dafür, wie Beziehungen von Unterordnung und Widerstand in gender-Kategorien ausgedrückt werden können. Wir stoßen auf Israel-Bezüge, wo von der Frau und dem Mädchen die Rede ist. Die Aussage ist: Israel ist eine verzweifelte Frau, die an Blutungen leidet und auf der Suche nach Heilung alles verloren hat, und ein junges Mädchen, das im Sterben liegt. Die Situation Israels ist bestimmt von einer verzweifelten Suche nach Heilung und nach Leben. Israels ausbeuterische Ärzte haben das Volk über jedes Maß ausgebeutet. Israel ist durch das Blut unrein geworden, ähnlich wie der besessene Gerasener. Wie der Gerasener ist das sterbende Mädchen dem Tode näher als dem Leben. Im Blick auf das ganze Kapitel gilt: »Mk 5 gewinnt mit jeder Episode an politischer und religiöser Tiefe« 21 . Die gute Nachricht besteht nun darin, dass die Geschichte imperialer Unterdrückung nicht einfach immer so weitergehen muss. Jesus ist der Heiler und der Befreier. Ich zögere nicht zu behaupten, dass diese Geschichte im literarischen Kontext von Mk 5 und im historischen Kontext des markinischen Evangeliums eine Geschichte des Widerstands ist. Es ist die Geschichte der Kolonisierten, der in Ketten Gelegten, der Blutenden, der Unreinen (unrein, weil fremde und böse Mächte von ihnen Besitz ergriffen haben) und der Sterbenden. Die Geschichte besteht darauf, dass das Imperium nicht das letzte Wort hat und haben wird. Jesu Taten der Vertreibung der Legion, des Heilens von Kranken und der Auferweckung Toter verkörpern Hoffnung. Hoffnung auf Befreiung liegt in den unterdrückten Regungen der Ermächtigung. Hoffung »Kolonisiert zu werden, ist nach dieser Geschichte wie Besessenheit von bösen Geistern des Todes. Man koexistiert mit den Toten. Die eigenen menschlichen Möglichkeiten werden unter jedes menschliche Maß gedrückt« »Wir stoßen auf Israel-Bezüge, wo von der Frau und dem Mädchen die Rede ist. […]Die Situation Israels ist bestimmt von einer verzweifelten Suche nach Heilung und nach Leben.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 18 - 3. Korrektur 18 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Zum Thema ist bei den Toten, die zum Leben aufstehen. Der Text insistiert darauf, dass die Macht des Imperiums Jesus dem Befreier nicht wird standhalten können. Markus schreibt als ein kolonisiertes Subjekt mit einer Haltung des Widerstands gegen das Imperium. Man kann sogar sagen: »Die markinische Geschichte wurde zuerst unter ›nichtoffiziellen‹ Leuten erzählt, die ein Vergnügen daran hatten, dass über einen offiziell-römischen, jüdischen oder apostolischen ›Glauben‹ nichts verlautet« 22 . An dieser Stelle fragen wir: Warum wird die kolonisierte israelitische Nation als Frau dargestellt? Ist ein solches ideologisches Interpretament dazu angetan, Frauen zu ermächtigen oder ihre Machtlosigkeit zu festigen? An anderer Stelle habe ich die These geäußert, dass koloniale Narrative von Unterdrückung und Widerstand dazu neigen, anhand des weiblichen Körpers ihre Agenda von Herrschaft zu artikulieren, dass sie aber, wo immer sie diese Metaphorik verwenden, zugleich auch der Unterordnung der Frau das Wort reden. 23 Man kann angesichts der weiblichen Symbolik von Unterdrückung immerhin erfreulich finden, dass der besessene Gerasener hierzu ein Gegengewicht darstellt. Doch steht er eher für das Imperium selbst, während die Frau und das Mädchen die Unterdrückten und kolonisierten repräsentieren. Aber auch dann gilt: Das markinische Narrativ veranschaulicht in gewisser Weise, dass Imperialismus in den kolonisierten Gebieten Männer und Frauen gleichermaßen unterdrückt. Die kolonisierten Völker koexistieren mit Krankheit und bewegen sich am Rande des Todes. Dennoch befördert die der Geschichte inhärente gender-Ideologie die Unterordnung von Frauen, und zwar im Einklang mit vielen postkolonialen Aktivisten, die auf dem Standpunkt stehen »die wichtigen Dinge zuerst«, die also der Befreiung vom Imperialismus gegenüber dem feministischen Kampf um gender-Ermächtigung den Vorrang geben. 24 Dass eine kolonisierte Nation mit einer kranken, der Heilung bedürftigen Frau identifiziert wird, zeigt, dass die Geschichte einer patriarchalischen Gesellschaft entstammt, in der »Land« und »weiblicher Körper« gleichgesetzt werden. Außerdem wird deutlich: Kolonisierung toleriert man nicht, dem Patriarchat hat man sich dagegen weitgehend angepasst. Das unterstreicht, so meine ich, die Notwendigkeit einer feministischen Analyse der Geschichte, die darin enthaltene gender-Konstruktionen ebenso aufspürt wie Zeichen der Hoffnung, jenen Konvergenzpunkt, der uns erlaubt, gender-spezifischer Unterdrückung ebenso zu entkommen wie den Zwangsverhältnissen von Kolonisierung und Globalisierung. 3. »Talitha kum! « Eine feministische Geschichte vom Aufstehen aus dem Tod Wenn wir die narrative gender-Analyse einer Geschichte durchführen, dann fragen wir, (a) aus welchen Gründen Männer und Frauen auf welche Weise charakterisiert werden. 25 Wir fragen, (b) ob sie Namen tragen und (c) welches ihre sozialen Rollen sind. Wir untersuchen, (d) was sie sagen und was sie nicht sagen, ob es sich (e) um Haupt- oder Nebenrollen handelt, und wir fragen, (f ) wie diese Charakterisierungen gender-Ideologie reflektieren. Plot und setting befragen wir (g) danach, wo Männer und wo Frauen auftreten, und ob und wann dies etwas mit gender-Konstruktionen zu tun hat. Feministische Lektüren fragen außerdem (h) nach Ansätzen von genderempowerment von Männern und Frauen. Ich wende mich nun Mk 5,21-43 zu und wende einige dieser Fragen auf den Text an, um gender-Konstruktionen zu untersuchen und Möglichkeiten einer feministischen Neuinterpretation zu erkunden. Ich beginne damit, alle auftretenden Frauen zu identifizieren und sie aus narrativer Perspektive einer feministischen gender-Analyse zu unterziehen. Drei Frauen treten in der Geschichte auf: die an Blutungen leidende Frau, das sterbende Mädchen und ihre Mutter. Frauen aus der Volksmenge und den Klagenden in Jairus’ Haus 26 bleiben ungenannt, und auch die drei anderen tragen keine Namen. Zwei von ihnen werden anhand dessen bezeichnet, des sie bedürfen, während die dritte als Mutter des Kindes eingeführt wird und implizit als Frau des Jairus. Keine hat eine öffentliche soziale Rolle inne. Beide, Tochter und Mutter, halten sich im gender-spezifischen Raum des Hauses auf. Soziale Geltung wächst beiden ausschließlich durch ihre Beziehung zum Synagogenvorsteher Jairus zu. Anders die an Blutungen leidende Frau: Sie tritt in einem öffentlichen Raum auf, inmitten einer Menschenmenge, wo sie sich eigentlich gar nicht aufhalten darf, gemessen an ihrer krankheitsbedingten Unreinheit. Wie Bonnie Thurston feststellt, ist die »Frau vierfach marginalisiert: Sie ist weiblich, sie ist ohne männlichen Beistand, sie hat keine finanziellen Ressourcen, und sie unterliegt dem Blut-Tabu« 27 . Sie setzt sich über rituelle Reinheitsbestimmungen hinweg, vielleicht aus Verzweiflung, und de facto schloss ihre Krankheit eine Heirat aus. Nun zu dem, was die Frauen tun und sagen: Wir stellen fest, dass die Mutter und die Tochter nirgends auch nur ein Wort sagen. Jairus spricht für sie und Jesus spricht zu dem toten Mädchen. Was ihr Handeln betrifft, so stellen wir uns die Mutter am besten als diejenige vor, die sich um das im Sterben liegende Kind kümmert. Sie sagt aber nie ein Wort. Das »Handeln« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 19 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 19 Musa Dube Markus 5,21-43 in vier Lektüren der Tochter, wenn man das denn so nennen will, besteht darin, dass sie im Sterben begriffen ist und dies auch zu Ende bringt. Außerdem hört sie die Stimme Jesu, sie wacht auf und läuft herum. Aber sie redet nicht. Dagegen handelt die an Blutungen leidende Frau, indem sie den Entschluss fasst, sich Jesus von hinten zu nähern und seine Kleider zu berühren. Sie hat gewiss nicht um Erlaubnis gefragt und hofft dementsprechend, unbemerkt zu entkommen. Um geheilt zu werden, nimmt sie es auf sich, kulturelle Barrieren zu unterlaufen, die ihr wegen ihrer Krankheit und der ihr zugeschriebenen Unreinheit untersagten, in der Öffentlichkeit zu erscheinen und mit anderen Leuten in Verbindung zu treten. Als Jesus nachforscht, wer ihn berührt hat, tritt sie nach vorn, wenngleich mit Furcht und Zittern, und erzählt ihre Geschichte. Diese Handlungen charakterisieren sie. Was ihre Worte betrifft, so fällt auf, dass am Anfang ein Selbstgespräch steht. Zuerst erfahren wir, dass sie in Jesu Nähe gelangt, weil sie sagt: »Wenn ich auch nur seine Kleider anrühre, werde ich gesund werden« (V. 28). Dies sind also Worte, die nicht hörbar über ihre Lippen kommen. Die zweite Gelegenheit zur öffentlichen Rede bietet sich, als sie nach vorn tritt, um ihre Geschichte zu erzählen. Der Erzähler notiert an dieser Stelle, dass sie Jesus »die ganze Wahrheit« erzählt habe. Was diese Wahrheit alles umfasste, bleibt unausgesprochen. Am Ende verstummt sie. Und: Der Erzähler gestattet ihr nicht, in direkter Rede zu sprechen. Insofern kann man sagen, dass auch ihre Tat, sich Jesus von hinten zu nähren, um geheilt zu werden, den gender-spezifischen Vorgaben stiller Unterordnung Rechnung trägt. Wenden wir uns nun den Männern der Erzählung zu: Jesus, Jairus, Petrus, Jakobus und Johannes sowie die aus der Volksmenge, die Boten und ein Teil der Klagenden. Bemerkenswert ist: Die individuell auftretenden Männer werden mit Namen genannt. Jesus hat außerdem einen hohen sozialen Status als berühmter Heiler, der von einer Menschenmenge belagert wird. Er hat seherische Fähigkeiten, denn er weiß, dass er in einer Kraft übertragenden Weise berührt wurde. Jairus ist ein Synagogenvorsteher, während Petrus, Jakobus und Johannes ihren Status daraus gewinnen, Anhänger eines berühmten Lehrers zu sein. Sie sind privilegierte Geheimnisträger (Mk 4,11), und als Schüler ihres Meisters können sie eines Tages so gut sein wie er oder ihn gar übertreffen. Betreffs der Worte und Handlungen beginnen wir mit Jairus. Er kommt zu Jesus, wirft sich vor ihm nieder, spricht zu ihm und bittet um die Heilung seiner Tochter. Die Bitte wird uns im Wortlaut mitgeteilt. Jarius spricht frei heraus. Im Vergleich mit der an Blutungen leidenden Frau treten die gender-spezifischen Unterschiede klar zutage: Beide sind auf eine Heilung Jesu angewiesen, doch Jairus tritt vor aller Augen direkt auf ihn zu und formuliert klar seine Notlage, während die Frau sich genau gegenteilig verhält: Sie kommt unbemerkt von hinten, sagt zu Jesus kein Wort, und zieht es vor, in aller Stille und Unauffälligkeit Heilung zu erlangen. Erst als nach ihr geforscht wird, gibt sie sich unter Furcht und Zittern zu erkennen, womöglich in der Erwartung, festgenommen zu werden. Was Jesus betrifft, so scheint er lauter Dinge zu tun, die ihm ein derart großes Gefolge beschert haben. Seine Taten werden uns beispielhaft anhand zweier Heilungswunder vor Augen geführt. Ja, er hat sogar Macht über den Tod. Jesus spricht. Er nimmt sich heraus, zu sagen, jemand habe ihn berührt, auch wenn die Bemerkung den Umstehenden lächerlich erscheint. Er nimmt sich heraus, Jairus zu sagen, er solle sich nicht fürchten, wo dessen Tochter doch gerade für tot erklärt wurde. Er nimmt sich heraus, den Weinenden und Klagenden die höchst erstaunlichen Worte ins Gesicht zu sagen: »Was lärmt und weint ihr? Das Kind ist nicht gestorben, sondern es schläft«. Und er nimmt sich heraus, zu einem toten Mädchen zu sagen: »Talitha kum! «. Alle vier Äußerungen Jesu stehen in engem Zusammenhang mit plot und setting: Sie stellen ihn vor als Wesen mit übermenschlichen Fähigkeiten. Er ist von göttlicher Art, oder, mit Markus gesprochen, er ist mit Staunen erregender Macht ausgestattet. Die Jünger, als Handlungssubjekte betrachtet, sind mit Jesus unterwegs. Ihre bloße Stellung als Schüler impliziert, dass sie privilegiert sind, von ihm zu lernen und sich seine Fähigkeiten anzueignen (Mk 4,34). Als sie Jairus’ Haus erreichen, dürfen einige von ihnen Jesus zu dem toten Mädchen begleiten. Sie nehmen sich die Freiheit, Jesu Frage, wer seine Kleider berührt habe, angesichts der ihn umdrängenden Menge als kurios zu bezeichnen. Die bisherigen Beobachtungen zeigen in aller Deutlichkeit: Eine feministische Analyse präpariert männliche und weibliche Erzählfiguren heraus, die gender-spezifisch scharf konturiert sind. Wenn Frauen gerettet werden, dann nicht ohne sie in ihre gender-definierten Schranken zu weisen. Dann aber stellt sich die Frage: Kann diese Geschichte so gelesen werden, dass sie über die Offenlegung gender-spezifischer Ungleichheit hinaus genderempowerment aus sich heraussetzt? Viele feministische Analysen des Textes sprechen für sich: Teresa Okure meint, dass »es ihre Entschlossenheit ist, die diese Frau auszeichnet, ihre Entschlossenheit, geheilt zu werden und ihren rechtmäßigen Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Dadurch war sie imstande, es mit der Menschenmenge aufzunehmen, sich zu Jesus durchzuschlagen und ihn zu berühren« 28 . Nach Joana Dewey »verlangt Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 20 - 3. Korrektur 20 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Zum Thema sie nach Heilung und nimmt sie sich, ohne jemanden um Erlaubnis zu bitten, und sie verletzt Tabus durch ihren öffentlichen Auftritt« 29 . Bonnie Thurston lobt sie dafür, dass sie »soziale Konventionen und […] das Blut-Tabu« gebrochen hat. 30 Für Pheme Perkins »ist die Frau eine Heldin der Hartnäckigkeit und des Glaubens« 31 , »ihre Heilung ist«, so Mary Ann Tolbert, »allein ihre eigene Initiative« 32 . Ihre Eigenständigkeit wird außerdem nach verbreiteter feministischer Sicht durch die Antwort Jesu noch unterstrichen. Teresa Okure konstatiert: Jesus »hat sie nach vorn geholt, sie zu einer öffentlichen Person gemacht, sie ›Tochter‹ genannt und sie in Frieden ihres Weges gehen lassen« 33 . Bonnie Thurston notiert, dass Jesus »an einem öffentlichen Platz mit der Frau spricht« und »sie ›Tochter‹ nennt, sie also als vollwertiges Mitglied seines Volkes anspricht« 34 . Joana Dewey geht noch einen Schritt weiter, wenn sie mutmaßt, dass »ihre Aktion dem markinischen Jesus geholfen hat, sich von patriarchalen Kulturmustern männlicher Privilegierung zu befreien« 35 . Wichtig ist, dass sich feministische Analysen im Blick auf die in dieser Geschichte enthaltenen patriarchalen und kolonialen Ideologeme selbst kritisch prüfen. Während westliche feministische Lektüren den Besessenen in Mk 5,1-20 mit Kolonialismus assoziieren, sind sie weniger mitteilsam, sobald es um die an Blutungen leidende Frau und die sterbende Tochter geht. Geht man von der Identifikation von »Land« und »Frau« aus, dann stellt sich die Frage, ob die Heilung der Israeliten von der römischen imperialen Unterdrückung auch die gender-Beziehungen unter den Israeliten heilt. Die Historie bestätigt dies jedenfalls nicht. 36 Problematisch ist auch, dass sich die meisten feministischen Rekurse auf diese Geschichte auf gender-empowerment konzentrieren und die Symbolik des weiblichen Körpers im Zusammenhang internationaler Unterdrückung außer Acht lassen. Die meisten Frauen leiden aber weltweit gleichermaßen unter kolonialen und patriarchalen Systemen. 4. »Talitha kum! « Eine HIV/ AIDS- Geschichte vom Aufstehen aus dem Tod zum Leben Nach drei Jahrzehnten im Zeichen der HIV/ AIDS- Epidemie ist hinlänglich bekannt, dass es sich um eine Epidemie im Kontext anderer sozialer Epidemien wie Armut, Ungleichheit der Geschlechter, Gewalt, globaler Ungerechtigkeit und mannigfaltiger Diskriminierung nach Alter, Abstammung, ethnischer Zugehörigkeit und sexueller Orientierung handelt. 37 Individuen, Gemeinschaften und Volksgruppen, deren Menschenrechte missachtet werden, sind in erhöhtem Maße anfällig für die Infektion, bedingt durch ein mangelhaftes Gesundheitssystem und durch den fehlenden Zugang zu verfügbaren Medikamenten. Es ist mittlerweile weithin anerkannt, dass es bei HIV/ AIDS nicht einfach um individuelle Moral geht. Es geht auch um soziale Ungerechtigkeit, die Menschen den Zugang zu Informationen verwehrt oder aber ihnen das Recht abspricht, auf der Grundlage dieser Informationen selbst Entscheidungen zu treffen, die dem eigenen Schutz und längerem Leben dienen. HIV/ AIDS handelt auch von globaler Ungerechtigkeit. Es geht um eine Globalisierung, die sozialstaatliche Belange wie Gesundheit und Bildung zunehmend privatisiert, kommerzialisiert und verknappt, und die unsichere und familienzerstörende Beschäftigungsverhältnisse etabliert. 38 Die Globalisierung forciert die Feminisierung der Armut, und sie verändert die Geschlechterbeziehungen zu Lasten der Frauen, und zwar auch dadurch, dass patriarchale und religiöse Traditionen die Globalisierung als Bedrohung wahrnehmen und den erzeugten Druck an die Frauen weitergeben. 39 »Die Globalisierung ist eine anti-soziale Kraft, die Armut verschlimmert, Mobilitätszwänge verstärkt, Sex-Tourismus befördert und damit den Nährboden für die Ausbreitung von HIV/ AIDS bereitet« 40 . HIV/ AIDS hat wesentlich etwas mit ungerechten internationalen Beziehungen zu tun, die die ökonomische Lebensfähigkeit einiger Länder praktisch zum Erliegen gebracht haben. HIV/ AIDS hat etwas damit zu tun, dass Ländern der Zweidrittelwelt die Lizenzen für verfügbare Medikamente zur Behandlung HIV/ AIDS-affiner Infektionen verweigert werden, während täglich Menschen sterben. HIV/ AIDS handelt von ungleichen Geschlechterbeziehungen, die es Frauen unmöglich machen, auf safer sex zu beharren, enthaltsam zu sein oder aber im Schutz gegenseitiger Zuverlässigkeit zu leben. Es geht um die Machtlosigkeit von sexuell missbrauchten, stigmatisierten und ausgebeuteten Waisenkindern. Es geht um die Stigmatisierung und Diskriminierung der Infizierten und ihrer Familien. HIV/ »Problematisch ist […], dass sich die meisten feministischen Rekurse auf diese Geschichte auf gender-empowerment konzentrieren und die Symbolik des weiblichen Körpers im Zusammenhang internationaler Unterdrückung außer Acht lassen. Die meisten Frauen leiden aber weltweit gleichermaßen unter kolonialen und patriarchalen Systemen.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 21 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 21 Musa Dube Markus 5,21-43 in vier Lektüren AIDS handelt auch vom Rassismus, der viele dieser Entwicklungen begünstigt. HIV/ AIDS hat außerdem etwas zu tun mit Bürgerkriegen, in denen Frauen vergewaltigt werden und staatliche Fürsorge zum Erliegen kommt. Es geht um die Zwänge heterosexueller Normativität, die Menschen mit abweichender sexueller Orientierung von medizinischer Versorgung ausschließt und ihnen verwehrt, ihre sexuelle Identität frei zu leben. Mit einem Wort: Der Nährboden für HIV/ AIDS besteht in den sozialen Missständen, die in unseren Hinterhöfen ungehindert gedeihen. Zugleich tun wir gut daran, uns zu vergegenwärtigen, dass HIV/ AIDS eine abwendbare und beherrschbare Epidemie ist, sobald wir die sozialen Probleme angehen, die sie begünstigen. Eine postkoloniale und feministische Lektüre von Mk 5,21-43 im Horizont von HIV/ AIDS sucht nach dem Schnittpunkt von internationalen Beziehungen, Ungleichheit der Geschlechter und dem Kampf gegen HIV/ AIDS, um etablierte Unterdrückungsstrukturen namhaft zu machen und eine neue Geschichte des Aufstehens vom Tod zu erzählen 4.1 Mk 5,21-43 und HIV/ AIDS: Zusammenschau zweier Geschichten Liest man Mk 5,21-43 aus der Sicht von HIV/ AIDS, stößt man auf mehrere Gemeinsamkeiten, etwa die Entsprechung zwischen internationaler Ungerechtigkeit bzw. Kolonialismus und einer Krankheit, die die Unterdrückten angreift. Ebenso fördert soziale Ungleichheit HIV/ AIDS bei den Unterprivilegierten. Das ist so, weil unter den Bedingungen politischer und ökonomischer Unterdrückung weder eine stabile Gesundheitsversorgung noch eine tragfähige Wirtschaft möglich ist. Es ist dann nicht möglich, die vorhandenen Ressourcen zum Wohl der eigenen Bevölkerung zu nutzen. In beiden Geschichten stoßen wir auf Patienten/ Nationen, die schon lange krank sind und deren Zustand sich, obwohl sie all ihren Besitz darauf verwendet haben, gesund zu werden, ständig verschlechtert. Wir treffen auf Patienten/ Nationen, die hochgradig stigmatisiert und von anderen Nationen aus Gesundheitsgründen für unrein erklärt werden. Wir treffen auf qualifizierte Ärzte, die sich um die Kranken kümmern, Geld dafür nehmen, sie aber nicht heilen können, sondern ihren Zustand noch verschlimmern. Wenn wir Mk 5,21-43 aus der Sicht von HIV/ AIDS lesen, sind wir berührt von den kranken und sterbenden jungen Leuten/ Völkern. Verzweifelte Eltern/ Menschen in sozialer Verantwortung, die nach Heilung suchen für ihre Kinder/ Gesellschaften, spielen in beiden Geschichten eine Rolle. Nationen weinen laut um ihre sterbenden Kinder. Die Lesenden treffen auf kranke und arme Frauen/ Nationen und Kinder, die kein Recht auf freie Rede haben. Wir sind betroffen von fürsorglichen Frauen, die Zuhause sitzen und sich still um ihre Kinder sorgen und auf Hilfe warten, so lange warten, bis ihre Kinder sterben. Wenn die Zwölfzahl in Zusammenhang mit der Frau und dem Mädchen auf die international/ kolonial unterworfene Nation Israel anspielt, dann sind postkoloniale feministische Leserinnen, zu denen ich mich zähle, von ihrer eigenen Geschichte des Kolonialismus, des Neo-Kolonialismus und der Globalisierung herausgefordert, die sie zu Mitbewohnerinnen von Krankheit und Tod gemacht hat. Aber wiederum: Wichtig ist der Unterschied, den Jesus gebracht hat. Als Befreier bringt Jesus Heilung. Er treibt Legion/ das römische Imperium aus einem dämonisch besessenen und kranken Mann aus und jagt diese Macht in die Schweineherde. Die an Blutungen leidende Frau, die zwölf Jahre lang ohne jeden Erfolg nach Heilung gesucht hat, wird plötzlich gesund und gehört als »Tochter« wieder vollgültig der Gemeinschaft an. Mehr noch, Jesus bricht das Schweigen und die, die sich bisher verborgen hielt, animiert er dazu, öffentlich ihre Geschichte zu erzählen. Belastete, ausgebeutete, kranke und stigmatisierte Patienten/ Nationen können Jesus berühren und geheilt werden. Wo globale Ausbeutung Völker an den Rand des Todes gebracht und in ein Dasein in Krankheit und Stigmatisierung gebannt hat, eröffnet Jesus den Lebensraum einer neuen Familie, wo die Ausgebeuteten und Unterdrücken als Töchter willkommen geheißen und nicht etwa wegen ihres blutenden/ kolonisierten Zustandes ausgeschlossen werden. Der Unterschied, den Jesus in eine Situation der Verzweiflung bringt, rührt daher, dass er sich darauf einlässt, mit den Leidenden auf ihrer Suche nach Heilung solidarisch zu sein und so Hoffnung in die Hoffnungslosigkeit zu bringen. Er weckt Hoffnung, wenn er zu dem angstvollen Vater sagt: »Habe keine Furcht. Nur dies: Glaube! «. Hoffnung wird geweckt, wenn er die Klagenden zum Lachen bringt und wenn er ein kleines Mädchen ins Leben zurück ruft und sie aufsteht und anfängt umherzulaufen! Jesus macht einen riesigen Unterschied, wenn er die todbringenden Mächte patriarchaler und kolonialer Unterdrückung besiegt, die physische, geistige und soziale Körper angreifen. Das heißt Befreiung: Befreiung, die die Ketten patriarchaler und kolonialer internationaler Beziehungen zerreißt und Heilung für Individuen und Gemeinschaften bringt. Die Herausforderung hierbei ist: Wie können christliche Leserinnen und Leser des Neuen Testaments Teil Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 22 - 3. Korrektur 22 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Zum Thema einer feministischen, postkolonialen Suchbewegung werden, die sich an den harten Fakten von HIV/ AIDS bewährt? Wie können sie sich denen zur Seite stellen und mit ihnen leiden, die von HIV/ AIDS betroffen sind, und so für Hoffnung und Leben das Wort ergreifen inmitten von Verzweiflung und Tod? Wie kann ihre Beziehung zu Jesus, sei es als Individuen oder Gemeinschaften, als Akademiker oder Kirchen, eine Kraft aus sich heraussetzen, die die Bande des Todes sprengt- - koloniale, patriarchale und durch HIV/ AIDS manifeste Ausbeutung und Unterdrückung-- und Heilung bringt? Ich habe hierzu keine einfache Formel parat, bin mir aber völlig sicher, dass genau dies unser aller Pflicht ist, die wir in einer von HIV/ ADIS geprägten Zeit leben, und die wir das Neue Testament lesen auf der Suche nach Heilung und Befreiung. Das ist-- das sollte sein! -- ein wesentlicher Teil unseres Lernens, Lebens, Forschens, Schreibens und Lehrens im akademischen Alltag 41 und in unseren Glaubensgemeinschaften 42 , damit wir Hoffnung, Heilung, und Leben in eine Welt bringen, die so oft vom Tode überschattet ist. Wer nicht in seiner unmittelbaren Umgebung von HIV/ ADIS betroffen ist, kommt gleichwohl um die Frage nicht herum, wie patriarchale Strukturen und ungerechte internationale Beziehungen des eigenen Landes zu den Krankheiten anderer Länder und Regionen und der dort lebenden Menschen beitragen. Man ist dann vor die Frage gestellt, wie die eigene Wirtschaft und Politik viele andere Nationen ausbluten und sterben lässt, die die heilende Berührung der Gerechtigkeit so dringend brauchen. Noch wichtiger aber ist: Wie kann es geschehen, dass wir die Rolle dessen übernehmen, der in einer Zeit der HIV/ AIDS-Epidemie und der sozialen Unterdrückung den Sterbenden und Toten »Talitha kum! « zuruft? Anmerkungen 1 M. W. Dube, Postcolonial Feminist Interpretation of the Bible, St. Louis 2000, 127 f. 2 M. A. Tolbert, Protestants Feminists and the Bible: On the Horns of a Dilemma, in: A. Bach (Hg.), The Pleasures of Her Text: Feminist Readings of Biblical and Historical Texts, Philadelphia 1990, 5-23. 3 Global Report: UNAIDS Report on the Global AIDS Epidemic 2013, Genf UNAIDS, 2013, 8-22. 4 UNAIDS Report (s. Anm. 3), 4. 5 M. W. Dube, Re-reading the Bible: Biblical Hermeneutics and Social Justice, in: E. Katongole (Hg.), African Theology Today Bd. 1, Scranton 2002, 57-68: 65 f. 6 M. A. Oduyoye (Hg.), Talitha kum! , Ibadan 1997; T. Okure, The Will to Arise: Reflections on Luke 8: 40-56, in: M.A. Oduyoye/ M. Kanyoro (Hgg.), The Will to Arise: Women, Tradition and the African Church, New York 1992, 221-230; N. Njoroge/ M. W. Dube (Hg.), Thalitha Cum! Theologies of African Women, Pietermaritzburg 2001. 7 M. W. Dube, Fifty Years Of Bleeding: A Storytelling Feminist Reading of Mark 5: 24-43, in: M. W. Dube (Hg.), Other Ways of Reading: African Women and The Bible, Atlanta 2001, 50-62. 8 E. S. Malbon, Narrative Criticism: How does the Story Mean? , in: J. C. Anderson/ S. Moore (Hgg.), Mark and Method: New Approaches in Biblical Studies, Minneapolis 1992, 23-49: 24. 9 M.A. Powell, The Gospels: Fortress Introduction, Minneapolis 1998. 10 R. S. Sugirtharajah (Hg.), The Postcolonial Bible, Sheffield 1998; M. W. Dube, Postcolonial Feminist Interpretation of the Bible, St. Louis 2000; L. Donaldson (Hg.), Semeia 75: Postcolonialism and Scriptural Reading, Atlanta 1994; F. Segovia, Decolonizing Biblical Studies: A View from the Margins, Maryknoll 2000. 11 M. W. Dube/ J. Staley, Descending From and Ascending into Heaven: A Postcolonial Analysis of Travel, Space and Power in John, in: M. W. Dube/ J. Staley (Hgg.), John and Postcolonialism: Travel, Space and Power, Sheffield 2002, 1-10: 8 f. 12 Vgl. Dube, Re-reading the Bible (Anm. 5), 57. 13 Powell, Gospels (Anm. 9), 40-50. 14 J. Dewey, The Gospel of Mark, in: E. Schüssler Fiorenza (Hg.), Searching the Scriptures 2, A Feminist Commentary, New York 1994, 470-509: 481. 15 P. Perkins, Mark, in: The New Interpreters Bible, Nashville 1995, 507-734: 584 16 Perkins, Mark (Anm. 15), 538. 17 P. Stoller, Embodying Colonial Memories: Spirit Possession, Power and the Hauka in West Africa, New York 1995. 18 T.S. Maluleke, Bible Study: The Graveyard Man, The Escaped Convict and The Girl-Child: A Mission of Awakening, An Awakening of Mission, in: International Review of Mission 91 (2002), 550-57: 554. 19 Perkins, Mark (Anm. 15), 584. 20 Dewey, Gospel (Anm. 14), 481. 21 Dewey, Gospel (Anm. 14), 480. 22 B. Thurston, The Women in the New Testament: Questions and Commentary, New York 1998, 66 f. 23 M. Dube, Postcolonial Feminist Interpretation (Anm. 1), 117-124. 24 A. a. O., 111-115. 25 J. C. Anderson, Feminist Criticism: The Dancing Daughter, in: J. C. Anderson/ St. Moore: Mark and Methods: New Approaches in Biblical Studies, Minneapolis 2008, 29-58; Ch. J. Exum, Feminist Criticism: Whose Interests are Served? , in: G. Yee (Hg.), Judges and Method: New Approaches to Biblical Studies, Minneapolis 1995, 65-90. 26 Dewey, Gospel (Anm. 14), 481. 27 B. Thurston, The Women in the New Testament: Questions and Commentary, New York 1998, 71. 28 T. Okure, The Will to Arise: Reflections on Luke 8: 40-56, in: M. Oduyoye/ M. Kanyoro (Hgg.), The Will to Arise: Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 23 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 23 Musa Dube Markus 5,21-43 in vier Lektüren Women, Tradition and the African Church, New York 1992, 221-230: 227. 29 Dewey, Gospel (Anm. 14), 481. 30 Thurston, Women (Anm. 27), 71. 31 Perkins, Mark (Anm. 15), 590. 32 M.A. Tolbert, Mark in The Women’s Bible Commentary, Knoxville 1992, 268. 33 Okure, The Will to Arise (Anm. 28), 229. 34 Thurston, Women (Anm. 27), 71. 35 Dewey, Gospel (Anm. 14), 482. 36 Dube, Postcolonial Feminist Interpretation (Anm. 1), 111-115. 37 Botswana Human Development Report 2000: Towards and AIDS-Free Generation, Gaborone: UNDP & Botswana Government, 2000, 26-37. 38 K. R. Overberg, Jesus, the Leper, and HIV and AIDS: Suffering, Solidarity and Structural Transformation, in: G. Göran, Vulnerability, Churches and HIV, Oregon 2009, 33-51: 37 f. 39 A.-G.Garba/ K.P. Garba, Trade Liberalization, Gender Equality and Adjustment Policies in Sub-Saharan Africa«, in: Y. Fall (Hg.) Africa: Gender, Globalization and Resistance, New York 1999, 7-40: 24-27. 40 Theological Challenges: Proclaiming the Fullness of Life in the HIV/ AIDS & Global Economic Era, International Review of Mission 91 (2002b): 535-49, 536. 41 M. Dube, Healing Where There is No Healing: Reading the Miracles of Healing in an AIDS Context, in: G. Phillips/ N.W. Duran (Hg.), Reading Communities Reading Scripture: Essays in Honor of Daniel Patte, Harrisburg 2002, 121-133. 42 M. W. Dube, Introduction: Little Girl Get Up, 3-24, in: N. Njoroge/ M. Dube (Hgg.), Talitha cum: Theologies of African Women, Pietermaritzburg 2001. Phi l i ppe Kneubühl er Theologie des Wortes und Sakramentenlehre im Johannesevangelium 2013, 193 Seiten, €[D] 49, 00/ SFr 65, 50 I SBN 978-3-7720-8463-8 A. Francke Verlag • Di schi ngerweg 5 • D-72070 Tübi ngen • Tel . +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 • www. francke. de Di e Frage des Sakramentenverständni sses i m J ohannesevangel i um i st seit l angem bei den Exegeten umstritten. Di ese Stu di e versucht ei ne Antwort aus der neuen Perspekti ve ei ner synchroni schen Si chtwei se zu fi nden, di e von der H ypothese der Kohärenz des textus receptus ausgeht. Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 24 - 3. Korrektur 24 ZNT 33 (17. Jg. 2014) 1. Zufall Da lag es auf meinem Frankfurter Schreibtisch: »Der verlorene Sohn«, ein Buch von Rolf Rameder, zugeschickt vom Verleger Theodor Itten. Viele Bücher gelangen unaufgefordert in mein Dienstzimmer, das bringen meine Herausgeberschaften der ZNT und des www.wibilex.de mit sich. Dieses besondere Buch kam in einem günstigen Augenblick. Ich hatte mich gerade entschlossen, eine Vorlesung über biblische Intertextualität zu halten und mir war klar, dass ich in jedem Fall André Gides und Rainer Maria Rilkes Gegen(ent)würfe der lukanischen Erzählung vom verlorenen Sohn besprechen würde-- aber, ich hatte davon noch niemandem erzählt. Und nun dieses Buch von Rameder. Ich habe es nicht gesucht. Es hat mich gefunden. Auf seinem Umschlag präsentiert es das Bild »Gleichnis vom verlorenen Sohn« von Pompeo Batoni, das im Kunsthistorischen Museum Wien hängt. Ein junger Mann mit nacktem Oberkörper lehnt sich an die Brust eines alten, bärtigen Mannes, dessen Kleidung seinen Reichtum anzeigt. Der junge Mann wirkt erschöpft. Der alte Mann hat die Augen nahezu geschlossen, und doch wirkt es so, als blicke er gleichermaßen gütig und besorgt auf den bei ihm Schutz und Trost Suchenden. Titel und Umschlaggestaltung wecken die Erwartung eines religiösen Romans, vielleicht eine Neuerzählung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn. Ich stecke das Buch ungelesen, aber berührt vom Zufall und vom Bild des Gemäldes in meine Tasche, um es bei nächster Gelegenheit anzulesen, um zu entscheiden, ob ich es wohl für meine geplante Vorlesung gebrauchen kann. 2. Rameder-- Kein Gleichnis Nachdem ich noch am selben Tag den ersten Abschnitt des Buches gelesen habe, bin ich erschreckt und gefesselt: »Sonntag, 16. September 2007, 19 Uhr 36 Sehr geehrter Dr. Holl, ich plane für morgen einen Sprung aus dem Fenster, weil ich das Leben, das ich habe, nicht mehr aushalte. Das Grauenhafteste daran ist die Angst vor mir selbst, das ist mir heute, nach langem Erinnern, Nachdenken und Sortieren, klar geworden. Ich hatte von Kindheit an immer Grund dazu, Angst zu haben, mich nicht heimisch zu fühlen bei mir selbst, Angst zu haben vor meinem Vater, meiner Mutter, Schwestern, Lehrern. Ausführen dazu kann ich hier nichts, nicht viel, oder nur, der Erschöpfung wegen, in dürren, fragmentarischen Zusammenfassungen: wie mich meine Mutter geschlagen hat mit einer Besinnungslosigkeit, die mich aus Todesangst schreien und wimmern hat lassen, wie mich mein Vater verachtet hat, meine Schwestern mich gequält. Wie ich mich noch im Kindergarten angepisst habe« (7) 1 . Wie Lukas an Theophilus schreibt der Ich-Erzähler des Textes von Rameder an Dr. Holl. Der dadurch bewirkte Rezeptionseffekt zielt nicht nur auf die Authentizitätsgarantie durch den explizit genannten Leser, sondern mehr noch auf die referentielle Einbindung des Erzählten in die reale Welt. Die Welt der erzählten Geschichten wird damit nicht als fiktionale Erfindung, sondern als reale Vorgabe deklariert, die jeder Leser durch seine eigene leibhaftige Weltverortung prinzipiell überprüfen kann. Dieser Effekt des expliziten Lesers wird durch zwei Paratexte im Buch von Rameder noch verstärkt. Auf Seite 156 findet sich ein Paratext, der erklärt, wer Dr. Holl ist: »Adolf Holl, 1930 in Wien geboren, 1954 zum Priester geweiht, Verfasser des Buchs ›Jesus in schlechter Gesellschaft‹ (1971), das ihn in Konflikt mit der katholischen Kirche brachte. 1976 folgte die Suspendierung vom Priesteramt. Er lebt heute als Schriftsteller und freier Publizist in Wien. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik.« Dieser so ausgezeichnete explizite Leser empfiehlt Rameders Werk dem Verleger Itten, wie im Nachwort von Holl selbst zu lesen ist, und schreibt sich damit als Förderer des Autors in dessen Buch ein. Der letzte Satz seines Nachworts verstärkt die realistische Referentialisierung unüberbietbar, nicht zuletzt dadurch, dass er den Verleger als zweiten Leser in das Garantiespiel einbezieht: »Dem Verleger ist zu danken, dass er meinen Hinweis auf das Manuskript des nun vorliegenden Buches aufgegriffen hat. Als Heilkünstler hat er erkannt, dass Rameder seiner erbarmungslosen Welt, in die er hineingeboren wurde, etwas Dringendes mitzuteilen hat« (157). Stefan Alkier Verlorene Söhne. Rameder, Rilke, Lukas-- ein intertextueller Bericht Zum Thema Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 25 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 25 Stefan Alkier Verlorene Söhne. Erst die letzten Sätze des Buches berichten vom viele Jahre zurückliegenden Aufbruch des verlorenen Sohnes: »ich verließ den Betrieb von einem Tag auf den anderen. Ebenso mein Elternhaus. Ich ging nach Wien und war 16 Jahre alt. Habe nichts gelernt und mitbekommen, nur Erinnerungen, von denen ich nichts wusste und die sich doch immer wieder melden, als Seiteneinfälle, als Ekelanfall, als Tränenfluss« (155). Der Ich-Erzähler hat keine Chance auf eine Rückkehr: »Meine Eltern haben mir an die zwanzig Jahre vorher schon verboten, mich bei ihnen sehen zu lassen oder mich bei ihnen zu melden. Ich war für sie tot. Kriminell, krank, homosexuell« (123). Kein Gleichnis, keine gute Nachricht, wie sie im Lukasevangelium am Ende der Erzählung vom verlorenen Sohn mitgeteilt wird: »Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden« (Lk 15,32). Rameders Ich-Erzähler bleibt tot, weil er nicht gefunden, ja nicht einmal gesucht wird. Mit die stärksten Passagen des Buches bringen zur Sprache, wie dieser soziale Tod bittere politische Realität inmitten der Wohlstandsgesellschaft ist: »Ausgeschlossen also, vor allem aber heute, jetzt, nicht angeschlossen an Neue Medien und Technologien, also kein Handy, kein Computer, kein Internet. Ohne das gibt es heute kein Leben und auch in Zukunft nicht, das alles ist Teil unserer Körper, unentbehrlich, man ist ohne diese Ergänzungen des Menschseins ein Krüppel ganz neuen Typs und wird genau so wahrgenommen, radikal gnadenlos, als Krüppel. Moderne Zeiten waren immer schon so: gnadenlos und radikal. Und ich finde das gut so, das mit den neuen Medien und Technologien« (8). »Kein Geld, keine Menschen. Ich werde da nirgends mehr dabei sein, nicht zu dem gehören, was community der user genannt wird, ohne dass mich dabei die Anglizismen stören. Also aus, das Verlangen verläuft sich auf toten Gleisen, die Wünsche können scheißen gehen, Geld ist nicht da, Freunde habe ich keine« (9). Rameders verlorener Sohn ist ein verlorenes Kind unserer Zeit, wie es sie millionenfach gibt. In drastischen Worten vermag er seine Verzweiflung, seine Hoffnungslosigkeit, seine Kapitulation vor der Erbarmungslosigkeit gesellschaftlicher Missachtung zur Sprache zu bringen und verleiht damit allen verlorenen Kindern, Kann man die pragmatische Botschaft des Lukasevangeliums mit dem Aufruf zur Barmherzigkeit (vgl. Lk 6,36) charakterisieren, so klassifiziert das Nachwort von Holl Rameders Text als Anti-Evangelium von der »erbarmungslosen Welt«. Rameder erzählt demzufolge gerade kein Gleichnis vom verlorenen Sohn. Der Ich- Erzähler Rameders ist der verlorene Sohn, ein Sohn, der verloren bleibt, weil er keinen Vater, keine Mutter, kein Zuhause hat, zu dem er zurückkehren könnte: Kein Gleichnis, keine Rettung des Verlorenen, kein zurück vom Toten zum Lebendigen, kein Evangelium, nur die unerfüllte Sehnsucht nach Geborgenheit: »Gestern am frühen Abend vom Fenster aus etwas Schönes gesehen. Ein junger Vater ist mit seinem Kind unterwegs, das Kind, vielleicht zwei, drei Jahre alt, jedenfalls spricht es schon, befindet sich in den schönsten Anfängen seiner Welteroberung« (146). »Der Vater gibt dem Kind einen Raum zur Entfaltung, zum Spiel, zum Austausch. Das Kind war vergnügt und ernsthaft zugleich, es war wunderschön, das zu beobachten. […] Fast sechzig Jahre nach meiner Geburt habe ich jetzt alles gesehen, was ich nie gehabt habe und was nicht mehr zu bekommen ist« (147). Prof. Dr. Stefan Alkier ist seit 2001 Professor für Neues Testament am Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt/ Main. 2009 erschien im Francke-Verlag als NET 12 seine Monographie: Die Realität der Auferweckung in, mit und nach den Schriften des Neuen Testaments. 2010 erschien wieder im Francke Verlag sein Lehrbuch: Neues Testament, UTB Basics. Er ist seit Heft 1 der ZNT einer ihrer drei geschäftsführenden Herausgeber. Seit 2008 gibt er zudem den neutestamentlichen Teil des bibelwissenschaftlichen Internetlexikons www.wibilex.de heraus. Stefan Alkier »Rameders verlorener Sohn ist ein verlorenes Kind unserer Zeit, wie es sie millionenfach gibt. In drastischen Worten vermag er seine Verzweiflung, seine Hoffnungslosigkeit, seine Kapitulation vor der Erbarmungslosigkeit gesellschaftlicher Missachtung zur Sprache zu bringen und verleiht damit allen verlorenen Kindern, die diese immense Sprachfähigkeit nicht haben, eine Stimme des Aufschreis« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 26 - 3. Korrektur 26 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Zum Thema die diese immense Sprachfähigkeit nicht haben, eine Stimme des Aufschreis: Unrecht. Nicht blindes Schicksal, nicht individuelles Pech mit seinem Elternhaus, sondern politische, institutionelle, soziale Ungerechtigkeit und Ignoranz wie individuelles Versagen generieren eine unbarmherzige Welt. Rameders verlorener Sohn hat keinen Gefallen am eigenen Leid. Anders als Rilkes verlorener Sohn möchte er geliebt werden, sehnt sich nach Liebe, die ihn hält und trägt und ihn selbst lieben lässt. Tragfähige Beziehungen, Leben in der Geborgenheit liebevoller Menschen und gesellschaftlicher Solidarität. Rameders verlorener Sohn ist ein Kind, das geliebt werden will, so gern heimkehren würde, aber keine Beachtung, keine Liebe, kein zu Hause erfährt: »Ich wäre so gern ein Sohn gewesen. Dessen bin ich beraubt worden« (109). 3. Rilke-- Keine Lösung Schon vor der Bekanntschaft mit Rameders verlorenem Sohn schätzte ich Rainer Maria Rilkes einzigen Roman »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge«. Die Intensität des Stils Rameders hat mich während der Lektüre seines Textes immer wieder an Rilkes Malte Laurids Brigge denken lassen. Rameders Text enthält sogar eine intertextuelle Disposition für diese Textbeziehung: »… erschrocken gelesen ›Malte Laurids Brigge‹ von Rilke, zur Beruhigung Gedichte von ihm« (78 f.). Wird der Grund zur Freude über das heimgekehrte Kind im Lukastext durch den Text Rameders erheblich verstärkt, so liest sich Rameders Verlorener Sohn in Bezug auf Rilkes Malte als Gegenentwurf, als Parabel im wörtlichen Sinn. Das sieht man nicht nur an der Figurenzeichnung. Rameders verlorener Sohn ist arm, krank, homosexuell, straffällig, ohne zu Hause, ohne Liebe. Rilkes Malte aber gleicht dem lukanischen verlorenen Sohn gerade darin: ein reicher Jungspunt, der sein gut situiertes Elternhaus auf dem Land nicht zu schätzen weiß und es verlässt, um sich mutwillig seinen Begierden hinzugeben. Luxusbuben, die den Rausch in der Fremde suchen, bei Lukas den Rausch des flotten Lebens, bei Rilke den Rausch an sich selbst. Der Rausch an sich selbst bestimmt auch die Form von Rilkes Roman. »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« verfolgen keinen mehr oder weniger offensichtlichen Erzählfaden der Ereignisse, die eine Ausgangssituation durch eine spannende Transformationsgeschichte in eine veränderte Schlusssituation münden ließen. Sie präsentieren keine große Erzählung, die die Anordnung von allem anderen bestimmt, sondern komponieren Gedankenströme und Erzählepisoden auf eine Weise, die es dem Leser abverlangt, Verknüpfungen selbst herzustellen. Diese damals neue Romanform inszeniert selbst bereits die Unordnung und Unübersichtlichkeit des modernen Welterlebens, in der das Subjekt auf der Suche nach seiner eigenen Positionierung keinen souveränen Über-Blick hat, sondern sich immer wieder verliert. Während aber Rameders verlorener Sohn durch die Form eines langen Briefes an Holl noch im Entschluss der Selbsttötung einen Adressaten außerhalb seiner selbst sucht, sich also wie Jesus am Kreuz an einen anderen wendet, schreibt Rilkes Malte seine Aufzeichnungen in der Form eines Tagebuches an und für sich selbst. Er bricht jede Kommunikation mit anderen ab, um ganz für und bei sich zu sein: »Ich lerne Sehen. Ich weiß nicht, woran es liegt, es geht alles tiefer in mich ein und bleibt nicht an der Stelle stehen, wo es sonst immer zu Ende war. Ich habe ein Inneres, von dem ich nicht wußte. Alles geht jetzt dorthin. Ich weiß nicht, was dort geschieht. Ich habe heute einen Brief geschrieben, dabei ist mir aufgefallen, daß ich erst drei Wochen hier bin. Drei Wochen anderswo, auf dem Lande zum Beispiel, das konnte sein wie ein Tag, hier sind es Jahre. Ich will auch keinen Brief mehr schreiben. Wozu soll ich jemandem sagen, daß ich mich verändere? Wenn ich mich verändere, bleibe ich ja doch nicht der, der ich war, und bin ich etwas anderes als bisher, so ist klar, daß ich keine Bekannten habe. Und an fremde Leute, an Leute, die mich nicht kennen, kann ich unmöglich schreiben« (10) 2 . Erst der Abbruch aller Beziehungen lässt ihn »sehen«. Seine eindrücklichen Beschreibungen des sozialen Elends und entfremdeten Sterbens in der Großstadt Paris bleiben von Anfang bis Ende distanziert. Der erste Tagebucheintrag lautet: »So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier. Ich bin aus gewesen. Ich habe gesehen: Hospitäler. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und umsank. Die Leute versammelten sich um ihn, das ersparte mir den Rest. Ich habe eine schwangere Frau gesehen. Sie schob sich schwer an einer hohen, warmen Mauer entlang, nach der sie manchmal tastete, wie um sich zu überzeugen, ob sie noch da sei. Ja, sie war noch da. Dahinter? Ich suchte auf meinem Plan: Maison d’Accouchement. Gut. Man wird sie entbinden-- man kann das. Weiter, rue Saint-Jacques, ein großes Gebäude mit einer Kuppel. Der Plan gab an Valde grâce, Hôspital militaire. Das brauchte ich eigentlich nicht zu wissen, aber es schadet nicht. Die Gasse begann von allen Seiten zu riechen. Es roch, soviel sich unterscheiden ließ, nach Jodoform, nach dem Fett von Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 27 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 27 Stefan Alkier Verlorene Söhne. pommes frites, nach Angst. Alle Städte riechen im Sommer. Dann habe ich ein eigentümlich starblindes Haus gesehen, es war im Plan nicht zu finden, aber über der Tür stand noch ziemlich leserlich: Asyle de nuit. Neben dem Eingang waren die Preise. Ich habe sie gelesen. Es war nicht teuer. Und sonst? ein Kind in einem stehenden Kinderwagen: es war dick, grünlich und hatte einen deutlichen Ausschlag auf der Stirn. Er heilte offenbar ab und tat nicht weh. Das Kind schlief, der Mund war offen, atmete Jodoform, pommes frites, Angst. Das war nun mal so. Die Hauptsache war, daß man lebte. Das war die Hauptsache.« Selbst dem Sterben in der Großstadt attestiert der aristokratische Blick des Gutsherrensohnes Malte gegenüber dem Sterben in seiner ländlichen Heimat in Dänemark entmenschlichte Entfremdung: »Dieses ausgezeichnete Hôtel ist sehr alt, schon zu König Chlodwigs Zeiten starb man darin in einigen Betten. Jetzt wird in 559 Betten gestorben. Natürlich fabrikmäßig. Bei so enormer Produktion ist der einzelne Tod nicht so gut ausgeführt, aber darauf kommt es auch nicht an. Die Masse macht es. Wer gibt heute noch etwas für einen gut ausgearbeiteten Tod? « »Wenn ich nach Hause denke, wo nun niemand mehr ist, dann glaube ich, das muß früher anders gewesen sein. Früher wußte man (oder vielleicht man ahnte es), daß man den Tod in sich hatte wie die Frucht den Kern.« Die Aufzeichnungen seiner Erinnerungen an das Leben und mehr noch das Sterben in seiner dänischen Heimat nehmen den größten Raum des Romans ein. Ohne Grenzziehungen von Wirklichkeitsebenen werden realistische Erinnerungen mit der Erscheinung von Toten und eigenständig agierenden Händen ohne Körper ineinander gearbeitet. Den Realitätsgrad bestimmt allein das erinnernde Subjekt. Dessen sprachliche Wirklichkeit tritt immer mehr an die Stelle von Menschen aus Fleisch und Blut. So tritt die literarische Figur Bettine an die Stelle seiner Jugendliebe Abalone: »Das Versprechen erfüllt sich noch immer, irgendwann ist dasselbe Buch unter meine Bücher geraten, unter die paar Bücher, von denen ich mich nicht trenne. Nun schlägt es sich mir an den Stellen auf, die ich gerade meine, und wenn ich sie lese, so bleibt es unentschieden, ob ich an Bettine denke oder an Abelone. Nein, Bettine ist wirklicher in mir geworden, Abelone, die ich gekannt habe, war wie eine Vorbereitung auf sie, und nun ist sie mir in Bettine aufgegangen wie in ihrem eigenen, unwillkürlichen Wesen. Denn diese wunderliche Bettine hat mit allen ihren Briefen Raum gegeben, geräumigste Gestalt« (149). Genau das aber gewähren Malte weder die Großstadt noch die leibhaftigen Liebesbeziehungen: Raum geben. Nach diesem Raum, der das eigene Werden erst ermöglicht, sehnt sich Malte Laurids Brigge. Er findet ihn nicht im realen Leben, sondern nur in der Dichtung. Und so wird ihm das lukanische Gleichnis vom verlorenen Sohn zur »Legende dessen«, »der nicht geliebt werden wollte«: »Man wird mich schwer davon überzeugen, daß die Geschichte des verlorenen Sohnes nicht die Legende dessen ist, der nicht geliebt werden wollte. Da er ein Kind war, liebten ihn alle im Hause. Er wuchs heran, er wusste es nicht anders und gewöhnte sich in ihre Herzweiche, da er ein Kind war. Aber als Knabe wollte er seine Gewohnheiten ablegen. Er hätte es nicht sagen können, aber wenn er draußen herumstrich den ganzen Tag und nicht einmal mehr die Hunde mithaben wollte, so wars, weil auch sie ihn liebten: weil in ihren Blicken Beobachtung war und Teilnahme, Erwartung und Besorgtheit; weil man auch vor ihnen nichts tun konnte, ohne zu freuen oder zu kränken. Was er aber damals meinte, das war die innige Indifferenz seines Herzens, die ihn manchmal früh in den Feldern mit solcher Reinheit ergriff, daß er zu laufen begann, um nicht Zeit und Atem zu haben, mehr zu sein als ein leichter Moment, in dem der Morgen zum Bewusstsein kommt. Das Geheimnis seines noch nie gewesenen Lebens breitete sich vor ihm aus« (180). Der Knabe möchte die gewohnte »Herzweiche« der Kindheit ablegen, um so sein eigenes Leben zu finden. Die liebevollen Bindungen empfindet er als Zwang. Die Erwartungen der anderen, selbst die der Hunde am Hof, machen ihn unfrei. Das ganze Leben zu Hause erscheint ihm als Lüge, aus der er ausbrechen möchte, um sich selbst zu finden: »Wird er bleiben und das ungefähre Leben nachlügen, das sie ihm zuschreiben, und ihnen allen mit dem ganzen Gesicht ähnlich werden? Wird er sich teilen zwischen der zarten Wahrhaftigkeit seines Willens und dem plumpen Betrug, der sie ihm selber verdirbt? Wird er es aufgeben, das zu werden, was denen aus seiner Familie, die nur noch ein schwaches Herz haben, schaden könnte? Nein, er wird fortgehen« (181). In der Fremde lernt er zu lieben, ohne den Geliebten zu binden. Selbst aber erfährt er solche Liebe nicht: »Aus den Wurzeln seines Seins entwickelte sich die feste, überwinternde Pflanze einer fruchtbaren Freudigkeit. Er ging ganz darin auf, zu bewältigen, was sein Binnenleben ausmachte, er wollte nichts überspringen, denn er zweifelte nicht, daß in alledem seine Liebe war und zunahm. Ja, seine innere Fassung ging so weit, daß er beschloß, das Wichtigste von dem, was er früher nicht hatte leisten können, was einfach nur durchwartet worden war, nachzuholen. Er dachte vor allem an die Kindheit, sie kam ihm, je ruhiger er sich besann, desto Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 28 - 3. Korrektur 28 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Zum Thema ungetaner vor; alle ihre Erinnerungen hatten das Vage von Ahnungen an sich, und daß sie als vergangen galten, machte sie nahezu zukünftig. Dies alles noch einmal und nun wirklich auf sich zu nehmen, war der Grund, weshalb der Entfremdete heimkehrte. Wir wissen nicht, ob er blieb; wir wissen nur, daß er wiederkam. Die die Geschichte erzählt haben, versuchen es an dieser Stelle, uns an das Haus zu erinnern, wie es war; denn dort ist nur wenig Zeit vergangen, ein wenig gezählter Zeit, alle im Haus können sagen, wieviel. Die Hunde sind alt geworden, aber sie leben noch. Es wird berichtet, daß einer aufheulte. Eine Unterbrechung geht durch das ganze Tagewerk. Gesichter erschienen an den Fenstern, gealterte und erwachsene Gesichter von rührender Ähnlichkeit. Und in einem ganz alten schlägt ganz plötzlich blass das Erkennen durch. Das Erkennen? Wirklich nur das Erkennen? -- Das Verzeihen. Das Verzeihen wovon? -- Die Liebe. Mein Gott: die Liebe. Er, der Erkannte, er hatte daran nicht mehr gedacht, beschäftigt wie er war: daß sie noch sein könne. Es ist begreiflich, daß von allem, was nun geschah, nur noch dies überliefert ward: seine Gebärde, die unerhörte Gebärde, die man nie vorher gesehen hatte; die Gebärde des Flehens, mit der er sich an ihre Füße warf, sie beschwörend, daß sie nicht liebten. Erschrocken und schwankend hoben sie ihn zu sich herauf. Sie legten sein Ungestüm nach ihrer Weise aus, indem sie verziehen. Es muß für ihn unbeschreiblich befreiend gewesen sein, dass sie ihn alle mißverstanden, trotz der verzweifelten Eindeutigkeit seiner Haltung. Wahrscheinlich konnte er bleiben. Denn er erkannte von Tag zu Tag mehr, daß die Liebe ihn nicht betraf, auf die sie so eitel waren und zu der sie einander heimlich ermunterten. Fast mußte er lächeln, wenn sie sich anstrengten, und es wurde klar, wie wenig sie ihn meinen konnten. Was wußten sie, wer er war. Es war jetzt furchtbar schwer zu lieben, und er fühlte, dass nur Einer dazu imstande sei. Der aber wollte noch nicht« (185 f.). Hat sich der heimkehrende Sohn wirklich geändert? Der Erzähler meint wohl ja, weil er den Sohn erkennen lässt, dass die Liebe der zu Hause gebliebenen ihn gar nicht betreffe. Dies macht ihn nun freier inmitten der Erwartungen der anderen, die er nicht bereit ist, Liebe zu nennen. Die Geste des Niederfallens ist nicht die Demut des Gefallenen, sondern der aristokratische Hochmut dessen, der meint, besser zu lieben als die anderen. Rilkes verlorener Sohn muss die Liebe der anderen als »eitel« diffamieren, um sich weiter einsam und damit ungebunden überlegen zu fühlen. Mit dieser aristokratischen Haltung begegnet Malte Laurids Brigge auch seinen Mitmenschen in Paris. Obwohl ihn das ausgehende Geld, die beengte Wohnung, der Verschleiß der Kleidung und schließlich seine aufkeimende Krankheit ihn den verlorenen Gestalten, die er in seinen Aufzeichnungen beschreibt, äußerlich immer ähnlicher werden lässt, kommt es nicht zu einem solidarischen Gefühl gelebter Mitmenschlichkeit. Malte braucht das aristokratische Gefühl, besser zu sein als die anderen. Er kann und will sich nicht gemein mit ihnen machen. Der verlorene Sohn Rilkes ist der Aristokrat, dem die ganz gewöhnliche Liebe nicht genug ist, der diese Liebe, die Bindungen eingeht und seine Autokratie dadurch begrenzt, nicht will. Der verlorene Sohn Rilkes ist der Mensch, der die ihm entgegengebrachte Liebe ausschlägt, aus Angst, sich zu verlieren. Er ist sich zu schade für die Gewöhnlichkeit menschlicher Liebe. Keiner, so meint er, könne ihn nunmehr lieben außer Gott, der ihm aber seine Liebe wohl noch nicht offenbart habe. Wie bei Rameder, so gibt es auch bei Rilke keinen Grund zu feiern. Das Fest der Barmherzigkeit bleibt aus unterschiedlichen Gründen bei beiden aus. Der eine erzählt die Geschichte vom verlorenen Sohn, als Geschichte desjenigen, der nicht geliebt wird, der andere als die von dem, der nicht geliebt werden will. Wer feiern will, wird von diesen Texten auf Lukas zurückgeworfen. 4. Lukas-- Das Fest der Barmherzigkeit findet dennoch statt Aus der intertextuellen Erfahrung 3 der Texte von Rameder und Rilke lese ich die in Lk 15,11-32 erzählte Geschichte nicht mehr als das Gleichnis vom verlorenen Sohn, auch nicht als Allegorie vom liebenden Vater, sondern als Parabel vom Fest der Barmherzigkeit. Den Begriff der Parabel verstehe ich dabei im Sinne des objektsprachlichen griechischen Wortes parabolē mit dem Lukas seine Gleichnisse nicht nur im 15. Kapitel seines Evangeliums selbst metasprachlich klassifiziert. Es handelt sich um einen neben die herrschende Ansicht geworfenen Vergleich, der alternative Denkmöglichkeiten entwirft: Gegen(ent)würfe zur herrschenden Weltsicht, Gegenentwürfe zur Erbarmungslosigkeit, die aus dem Eintreten für Barmherzigkeit heraus formuliert werden, Gegenentwürfe, die zum Umdenken (gr. metanoia, vgl. Lk 3,3; Mk 1,4.15) anleiten-- nichts anderes bedeutet der Ruf zur Umkehr, der meistens irreführender Weise »Wie bei Rameder, so gibt es auch bei Rilke keinen Grund zu feiern. […] Wer feiern will, wird von diesen Texten auf Lukas zurückgeworfen.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 29 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 29 Stefan Alkier Verlorene Söhne. mit »Buße« übersetzt wird und dadurch seine politische Kraft individualisierend, moralisierend verliert. Die pragmatische Botschaft des Evangeliums vom auferweckten Gekreuzigten, dem Opfer der Unbarmherzigkeit und des institutionalisierten wie individuellen Unrechts schlechthin, formuliert Lukas in 6,36: »Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.« Gottes schöpferische Liebesmacht siegte über den Tod am Kreuz, und seitdem gibt es was zu feiern: Evangelium-- der Tod ist besiegt von Gottes Barmherzigkeit. Christinnen und Christen partizipieren an diesem Fest in der Abendmahlsfeier. Für Christinnen und Christen gibt es Grund zu feiern und ihre Freude am Evangelium äußert sich, spricht an-- das wäre missionarische Verkündigung im Sinne des lukanischen Evangeliums von der Barmherzigkeit Gottes. Mit Lukas gibt es Grund zum Feiern und nach der Lektüre der berührenden Texte von Rameder und Rilke lese ich die Parabel vom Fest der Barmherzigkeit aus der Perspektive dieser literarischen Ereignisse. Ein Friede-- Freude-- Eierkuchen-Verständnis der Parabel vom verlorenen Sohn wird durch die Texte von Rilke und Rameder heilsamer Weise verunmöglicht. Es fällt dann gleich ins Auge, dass in Lk 15 vor der ersten Parabel vom Verlorenen-- der Gegenentwurf vom verlorenen Schaf (Lk 15,3-7)-- folgende Beschreibung der Erzählsituation angeführt wird: »Alle Zöllner und Sünder kamen zu ihm, um ihn zu hören. Die Pharisäer und Schriftgelehrten empörten sich darüber und sagten: Er gibt sich mit Sündern ab und ißt sogar mit ihnen« (Lk 15,1 f.). Wer darf eingeladen werden in das Reich Gottes? An wen richtet sich die Botschaft des Messias, des Sohnes Gottes? Die in Lk erzählten Parabeln sind Argumente im Streit um die Frage nach den rechtmäßig intendierten Adressaten des Evangeliums. Die unbarmherzige Meinung, die die Pharisäer und Schriftgelehrten hier repräsentieren, lautet: Mit diesen Leuten gibt man sich nicht ab. Jesus aber gibt ihnen nicht nur Almosen im Vorbeigehen, sondern er schenkt ihnen Zeit und körperliche Nähe: Er ißt mit ihnen. In der Logik der Unbarmherzigkeit sind die da draußen abgeschrieben, aussortiert. Menschen, wie sie exemplarisch Rameders verlorener Sohn darstellt und wie sie Rilkes Malte in Paris zuhauf sieht-- wertlos, nutzlos, Abfall. In diese abseitige Gesellschaft gerät der jüngere Sohn aus Lk 15,11, dem Eingangsvers des sogenannten Gleichnisses vom verlorenen Sohn. Er nimmt seinen Erbteil und verprasst es. Er sinkt so tief, dass er sogar Schweinefutter fressen möchte, aber nicht einmal das wird ihm gegeben. Er wird nicht als aristokratischer Schöngeist gezeichnet, wie Rilke ihn sehen möchte. Er verprasst seinen Reichtum mit unmäßigen Saufgelagen und mit Hurerei bis er am Ende ist. Aber anders als Rameders verlorener Sohn hat der bis in den Schweinetrog hinein Erniedrigte einen Vater, an den er sich in seinem selbst verschuldeten ausweglosen Schlamassel neue Hoffnung schöpfend erinnern kann. Er fasst den Entschluss zurückzukehren, nicht wegen seiner Liebe zum Vater, sondern wegen des Brotes, das dessen Tagelöhner bekommen. Darauf hofft er. Dafür will er dem Vater seine Einsicht in sein Fehlverhalten mitteilen. Aber es kommt anders. Noch bevor er sein Schuldbekenntnis sagen kann, wird der Vater von seinem Anblick körperlich berührt. Wir würden sagen: es ging ihm an die Nieren. Im Griechischen wird das mit dem Verb splanchnizomai zur Sprache gebracht, was soviel heißt, dass der Anblick des heruntergekommenen Sohnes die Eingeweide des Vaters in Aufruhr bringt-- also körperlich empfundenes Mit-Leid--, noch bevor der Sohn irgendetwas sagen kann. Der Vater weiß nichts von der Einsicht seines Sohnes, sie ist nicht Voraussetzung seiner Zuwendung. Er ist einfach froh, ihn gesund und lebendig zurück zu sehen. Er kleidet ihn prächtig neu ein und gibt ihm damit seine verlorene Würde der Sohnschaft zurück. Er ordnet ein Freudenfest an und fordert zur Mitfreude auf: »denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an, fröhlich zu werden« (Lk 15,24). Tot-sein ist hier keine pleonastische Metapher, das lehren die Texte Rameders und Rilkes: Armut raubt Leben. Die Reaktion des heimgekehrten Sohnes wird von Lukas nicht geschildert. Ihn interessiert vielmehr der Versuch des älteren, daheimgebliebenen Sohnes, das Fest zu verhindern. Bewirkt der Anblick des heimgekehrten jüngeren Sohnes beim Vater körperliches Mit-Leid, das in Freude umschlägt, so löst die Freude des Vaters über den heimgekehrten im älteren Sohn Empörung aus. Er lässt sich nicht anstecken von der Zumutung der Freudenbotschaft, sondern er interveniert: »Siehe, so viele Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten, und du hast mir noch nie einen Bock geschenkt, damit ich mit meinen Freunden ein Fest feiern konnte. Kaum aber ist der hier ge- »Ein Friede - Freude - Eierkuchen- Verständnis der Parabel vom verlorenen Sohn wird durch die Texte von Rilke und Rameder heilsamer Weise verunmöglicht.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 30 - 3. Korrektur 30 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Zum Thema kommen, dein Sohn, der dein Vermögen mit Dirnen durchgebracht hat, da hast du für ihn das Mastkalb geschlachtet« (Lk 15,29b-32). Man sollte diesen Text laut lesen und das Wort »Sohn« im Munde des Bruders ironisch betonen. Der alltagsweltlich verständliche erbarmungslose Zorn des älteren Sohnes, verwehrt dem Zurückgekommenen die Akzeptanz als »Bruder«. »Der da« ist kein Bruder, der Sohnschaft nicht wert, Müll, Abfall, dahin gehört er. Das Fest findet trotz der Einwände des älteren Sohnes statt. Der Vater hört nicht auf dessen Empörung. Nichts und niemand kann das Freudenfest der Barmherzigkeit verhindern-- und selbst der erzürnte ältere Sohn bleibt geladener Gast dieses Festes. Der Zorn des Bruders bewirkt beim Vater keinen Gegenzorn. Der mehr oder weniger verständliche Zorn kann die Stimmung der Freude nicht trüben. Ob der ältere Bruder dann doch noch die Zumutung der Freude annehmen kann und mitfeiert, oder er in seiner freudlosen Empörung verharrt, lässt Lukas offen. Nicht, wie sich der Unbarmherzige schließlich entscheidet, interessiert Lukas. Die Pointe des offenen Schlusses liegt vielmehr darin, dass keiner vom Fest ausgeschlossen wird. Selbst die Unbarmherzigen bleiben geladen. Das Freudenfest der Barmherzigkeit findet statt-- mit oder ohne sie. 5. Wen sprechen Christen heute an? Rameder schreibt über die Christenheit von heute: »Christen interessieren sich eigentlich für gar nichts mehr. Die Welt ist ihnen abhanden gekommen« (86 f.). Soll ich der Hüter meines Bruders sein, fragt der erbarmungslose Kain? Ja, sagt Lukas. Seid anspruchsvoll: Kümmert euch um die Zurückkehrenden. Geht hinaus zu den Verlorenen. Sucht diejenigen, die keiner vermisst. Christliche Mission heute-- das wäre nicht nur unbedingter sozialer, diakonischer Dienst an den Verlorenen, Verwahrlosten, Vergessenen, Ausgesonderten, Abgehalfterten, Übersehenen, Unbrauchbaren. Christliche Mission heute ist sich-gemein-machen mit den Abgeschriebenen und sich politisch einmischen, nach den politischen und sozialen Ursachen von Unrecht, Armut und Gewalt fragen und Gegenentwürfe entwickeln zu Gunsten der Erniedrigten und Beleidigten im Wissen um das große Fest der Barmherzigkeit, das schon jetzt in der Weise des Abendmahls gefeiert wird. Alle sind eingeladen. Anmerkungen 1 Rolf Rameder, Der verlorene Sohn, St. Gallen 2010. 2 Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Frankfurt a. M. 2009. 3 Eine ganze Reihe anderer Texte wären noch hinzuzunehmen, wie etwa André Gides »Die Rückkehr des verlorenen Sohnes« oder »Die Heimkehr« von Franz Kafka. Vgl. W. Brettschneider, Die Parabel vom verlorenen Sohn. Das biblische Gleichnis in der Entwicklung der europäischen Literatur, Berlin 1978; M. Siebald, Der verlorene Sohn in der amerikanischen Literatur, American Studies MS 100, Heidelberg, 2003. Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 31 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 31 Leere Stühle als Herausforderung der Legitimation und der Geduld »Das Licht geht an, der Thron ist leer«-- das Syntagma »leerer Thron« deutet in seinem einen Teil auf eine Abwesenheit von etwas oder jemandem hin. In seinem anderen Teil bezeichnet es einen Stuhl mit besonderer Bedeutung für Macht und Herrschaft. Der Thron ist der Stuhl des Herrschers. Der Stuhl, auf dem ein Mächtiger sitzt. Es ist ein Unterschied, ob ein Text nur von einem Stuhl oder von einem leeren Stuhl spricht. Handelt es sich um den Stuhl als einem Ding an sich, so spielt es keine Rolle, ob der Stuhl gerade als Sitzmöbel dient oder nicht. Anders verhält es sich mit der Rede von leeren Stühlen. Sei es der leer bleibende Stuhl für den erhofften wiederkehrenden Elia oder eine ganze Reihe leer bleibender Stühle bei den sogenannten »Geisterspielen« in der Bundesliga. »Leer« meint an dieser Stelle, dass der Stuhl unbesetzt ist und nicht, dass er ein ungefülltes Gefäß darstellt, so viel ist auf jeden Fall klar: ein leerer Stuhl zeigt an, dass jemand fehlt, eine Lücke vorhanden ist, die gefüllt werden soll oder muss. Es existiert Hoffnung, dass jemand kommt und diesen Platz einnimmt. Es handelt sich also zunächst um den Hinweis auf einen Mangel. Anders verhält es sich, wenn von einem freien Stuhl die Rede ist-- hier geht es darum, die Verfügbarkeit einer Sitzgelegenheit anzuzeigen. Das Wort »frei« verweist auf eine positiv konnotierte Möglichkeit, während »leer« an dieser Stelle negativ konnotiert ist. Der leere Stuhl steht für mehr als die reine Verfügbarkeit. Diese Unterscheidung zeigt sich besonders am Stuhl Petri. Der Sitz des Papstes bleibt nicht unbesetzt, es muss jemanden geben, der auf diesem Stuhl sitzt. Gleichzeitig ist es nicht egal, wer diesen Sitz einnimmt. Wenn der Stuhl Petri unbesetzt ist, gibt es mit dem Ausdruck der »Sedisvakanz« bzw. »sede vacante« sogar einen eigenen Terminus technicus, um diese Situation zum Ausdruck zu bringen. Ein leerer Stuhl kann auf so manches hinweisen, sei es ein vorübergehend unbesetzter Bischofssitz in Limburg oder der verwaiste Thron eines Zwergenkönigs unter dem Berg Erebor in J. R. R. Tolkiens »Der Hobbit«. Das Bild vom leeren Stuhl eines Mächtigen begegnet enzyklopädisch in verschiedenen Situationen und Kontexten. Es kann für die Hoffnung auf einen (eschatologischen) Herrscher, eine rasche Nachbesetzung oder einen Mangel, der nicht von Dauer sein soll, stehen. Das Bild des leeren Throns ist strukturkonservativ und weist auf Tradition hin. Gleichermaßen ist es dynamisch, indem es auf rasche Nachbesetzung und Behebung des Mangels drängt. Der leere Thron bedroht die Tradition, da er die Möglichkeit des Traditionsabbruchs eröffnet. Der leere Thron, eine unbesetzte Machtposition, drängt auf Nachbesetzung und weckt Diskussionen und Fragen um Nachbesetzung, Legitimation, Eignung und steht exemplarisch für Aufgaben die bis zur Wiederbesetzung unerledigt bleiben. In der frühchristlichen Eschatologie johanneischer Prägung verbindet sich mit der vorübergehenden Vakanz und der Besetzung des Throns die Hoffnung auf das Anbrechen der ewigen Gottesherrschaft. Doch gerade diese eschatologischen Motive und ihre Interpretation zeigen die theologische Komplexität der Rede vom leeren Thron. Diese Rede droht entweder durch allzu schnell gefundene lebensweltliche Analogien oder durch die Ignoranz ihrer Metaphorizität biblizistisch missverstanden zu werden. Kontrollierte Assoziationen mit Hilfe intertextueller Lektüre Um willkürliche Funktionalisierung und verkürzende Lektüren biblischer Herrschaftsmetaphern wie der des Throns zu vermeiden, ist eine methodisch klare Interpretation grundlegend. Eine Möglichkeit kann die intertextuelle Lektüre im Rahmen einer vorgegebenen Enzyklopädie sein. Intertextualität ist längst kein Novum mehr. Vielmehr lässt sich sagen, dass sie einen festen Platz im exegetischen Methodenkanon eingenommen hat. Im Rahmen theologischer Forschung dient das Intertextualitätsparadigma zunächst dazu, Bezüge zwischen biblischen Texten zu untersuchen und kanonische Lektüren zu kontrollieren. Intertextualität wird auch genutzt, um auch jenseits des Kanons Text-Text- Beziehungen zu erforschen. Das Paradigma hilft in diesem Zusammenhang, die irreduzible Positionalität und den semantischen Beziehungsreichtum der biblischen Texte zu wahren. 1 Mit Hilfe intertextueller Hermeneutik ist es möglich, die Neukonstituierungen des Bibeltexts in intertex- Christian Stein Sede vacante Intertextuelle Lektüren zum Motiv des Throns in Offb 4 Zum Thema Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 32 - 3. Korrektur 32 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Zum Thema Die Auskopplung »Deine Zeit« aus dem 2013 erschienenen Album »Seeed« der gleichnamigen Dance-Hall- Gruppe greift mehrere biblische Motive auf unterschiedlichen Ebenen auf: Das Lied selbst entwirft unvermittelt ein Bild, in dem es mit Hilfe des Wortes »Thron« die Gedanken auf Herrschaft und Macht lenkt. Die Worte »Das Licht geht an« deuten einen Szenenwechsel an. Etwas wird sichtbar, dass vorher nicht sichtbar war. Die Wahrnehmung des Lesers wird mit Hilfe einer visuellen Metaphorik gezielt gesteuert. Der Umstand, dass der Thron leer ist, führt im Sinne des oben Gesagten zu einer Erwartungshaltung hinsichtlich der Identität dessen, der auf dem Thron sitzen soll. Aufschlussreiche Hinweise, wer (oder was) auf dem Thron sitzen sollte, welche Funktionen, Aufgaben und Erwartungen damit verbunden sind oder welche Legitimation nötig ist, um auf dem Thron sitzen zu dürfen, sucht man indes vergebens. Das Bild dieses Mangels wird erweitert um die Feststellung, dass niemand kommt um das Meer zu teilen. Die Erwartung wird frustriert, der Mangel an Mächtigen bleibt bestehen. Mit dem weiteren Bild der Meeresteilung wird der Hörer ernüchternd auf sich selbst zurückgeworfen: »Keiner kommt und teilt das Meer«-- auf einen Helfer oder Unterstützer kann man anscheinend nicht hoffen. Wobei aus dem Refrain des Liedes allein nicht klar wird, worauf sich die Hoffnung auf Hilfe oder Unterstützung beziehen sollte. Die folgenden Zeilen spiegeln sowohl Ratals auch Führungslosigkeit wider, es gibt keine Anweisung wie »es geht«, niemanden, der den Weg weisen könnte. Im Zusammenspiel mit dem leeren Thron entsteht das Bild eines Machtvakuums, von Führungslosigkeit, die Raum für Chaos bietet und damit bedrohlich ist. Auf diesen Eindruck antwortet der zweite Teil des Refrains. Eröffnen die ersten vier Zeilen die Szenerie und erzählen von einem leeren Thron und einer nicht näher ausgeführten Situation, in der der Hörer ganz auf sich gestellt ist, so richten sich die letzten vier Zeilen antwortend an den Hörer und rufen ihm zu, dass es »seine Zeit« sei. Eine Wahl hat er dabei nicht. Auch wenn er sich noch nicht bereit fühlt, so ist doch jetzt seine Zeit angebrochen. Was für eine Zeit hier gemeint ist und in welchem Zusammenhang das Bild des leeren Throns damit steht, wird nicht explizit. Textpragmatisch lässt sich jedoch eine implizite Aufforderung lesen, den Thron nicht leer zu lassen, sich selbst darauf zu setzen und einen Weg zu finden. Der Text gestaltet in seinen Metaphern einen Appell an den Leser. Der leere Thron scheint nicht gewollt und soll nicht leer bleiben. Diese Lesart wird plausibilisiert durch den Fortgang des Texts: tuellen und intermedialen Zusammenhängen im Rahmen einer gegebenen Kultur zu beschreiben und kritisch zu begleiten. 2 Durch die Kombination von populären Texturen wird es möglich, Bibeltexte im Kontext gegenwärtiger Auslegungsgemeinschaften zu transponieren und sinnstiftend zu aktualisieren. 3 In einem solchen Setting fragt eine intertextuelle Lektüre nach möglichen Sinneffekten für konkrete Leser. Das methodische Ziel ist es, Sinnpotentiale, die keiner der beiden Texte allein aufweist, zu untersuchen. 4 Lesen in intertextueller Perspektive besteht darin, »die Vielfalt der wahrgenommenen Zeichen so zu verknüpfen und mit Bedeutung zu belegen, dass ein stimmiges Gesamtbild entsteht« 5 . Die Zeichen der mit intertextueller Lektüre in Korrelation gesetzten Texte ergeben auf diese Weise ein neues Sinngefüge, welches den hermeneutischen Horizont über den jeweiligen Einzeltext hinaus erweitert. Das Thronmotiv im Wechselspiel der Gegenwartskultur Seeed-- Deine Zeit »Das Licht geht an, der Thron ist leer, keiner kommt und teilt das Meer, niemand sagt uns, wie es geht, niemand weiß, den geraden Weg. Doch diese Zeit, ist deine Zeit, und du meinst, du seist noch nicht so weit, doch jeder Tag, ruft deinen Namen, du weißt, du hast keine Wahl.« Christian Stein, geb. 1986 in Frankfurt/ Main, Studium der Evangelischen Theologie und Geschichte in Frankfurt, seit 2011 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche an der Goethe-Universität Frankfurt. Arbeitsgebiete: Bildungsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Bibeldidaktik, Bibel in der Gegenwartskultur und Hochschuldidaktik. Christian Stein Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 33 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 33 Christian Stein Sede vacante »Doch diese Zeit, ist deine Zeit, und du meinst, du seist noch nicht so weit, doch jeder Tag, ruft deinen Namen, du weißt, du hast keine Wahl.« Die Aufforderung gerät zur Notwendigkeit. Der Appell ließe sich folgendermaßen paraphrasieren: Warte nicht auf irgendjemanden, der dir helfen soll. Da wird keiner kommen und dir den Weg zeigen. Du musst dich selbst bewegen und eigentlich hast du auch keine Wahl: diese Zeit ist deine Zeit. Oder in den Worten der Band: »… uns ist nur sehr bewusst, dass unsere Generation jetzt eigentlich am Ruder sein müsste. Es verlassen sich aber immer alle darauf, dass es irgendwer anders schon machen wird. Der Song soll sagen: Guck nicht nach links und rechts, da kommt kein Messias, der alles löst. Wenn wir es nicht selber machen, macht’s keiner.« 6 Der Thron Gondors in »Der Herr der Ringe« Tolkiens »Der Herr der Ringe« 7 ist zum Gegenstand einer Vielzahl religionspädagogischer Untersuchungen und Überlegungen geworden. 8 Durch intertextuelle Lektüre lässt sich jedoch weit mehr erreichen als die bloße Produktion eines lebensweltlichen Bezugsrahmens, in den dann mehr oder weniger passend biblische Texte integriert werden. Setzt man Tolkiens Text mit Texten der Bibel in Bezug, entstehen semantisch-produktive Sinneffekte und neue Interpretationshorizonte. Tolkien platziert mitten in seiner Trilogie einen leeren Thron und lässt ihn unauffällig eine zentrale Rolle spielen. Der Thron steht in Minas Tirith, der Hauptstadt Gondors, dem letzten bedeutenden Königreich der Menschen. Gondor wird in der erzählten Zeit von einer Dynastie von Truchsessen 9 regiert, nachdem die ursprüngliche Königslinie unterbrochen wurde. Der Thron bleibt leer. Der Truchsess bezieht indes seine Legitimation aus dem Bestehen dieses Throns. Die ungelöste Nachfolgefrage führt die Truchsesse, ursprünglich nur Berater des Königs, zu einer Übernahme der herrschaftlichen Angelegenheiten und zu einer Ausweitung ihres Machtbereichs. Der in der erzählten Zeit amtierende Truchsess ist Denethor. Denethor regiert mit Gondor das letzte verbliebene große Königreich der Menschen Mittelerdes. Einen regierenden König hat Gondor nicht. Der Thron des Königs ist leer. Der Stuhl des Truchsess ist besetzt. Die Macht des Truchsess ist nicht zu unterschätzen, er hat mehr Macht als der König von Rohan. In der bedrohten Welt Mittelerdes begegnet Denethor dem Leser zwar als unangenehm und verbittert, aber dennoch als jemand, der von guter Gesinnung ist und für die rechte Sache kämpft (wenn auch mit zweifelhaften Mitteln). Die Macht Gondors muss erhalten bleiben, damit es seine Funktion als Bollwerk an der Grenze zu Mordor erfüllen kann. In diesem Umstand lässt sich ein Grund für eine Substitution des leeren Throns in Gestalt des Truchsess finden. Obwohl die Macht Gondors durch Denethor und seine Söhne gesichert zu sein scheint, kommt es zu Fehlentscheidungen, Hybris und dem drohenden Untergang. Denethor wählt den Suizid und entzieht sich damit der Verantwortung seiner Fehlentscheidungen. All dies geschieht im dritten Teil des Buches, der programmatisch den Titel »Die Wiederkehr des Königs« trägt. 10 Die Rettung Gondors kommt schließlich von außen, in Gestalt eines Thronanwärters aus einer königlichen Seitenlinie: Aragorn besteigt als neuer König von Gondor den leeren Thron. Eingebettet in die Geschichte des Herrn der Ringe findet sich im Handlungsstrang um Gondor und den Truchsess von Gondor eine Warnung vor dauerhafter Stellvertretung und einer anhaltenden Delegierung von Macht. Die formale Substitution des Throns von Gondor erfüllt solange ihren Zweck wie Gondor nicht einer außergewöhnlichen Bedrohung ausgesetzt ist. Kommt es aber zu einer Verschärfung der Lage, schickt sich Mordor also an, zu alter Stärke zurückzukehren und die gelegentlichen Übergriffe in einen richtigen Krieg auszuweiten, wird die Person des Truchsess von der Situation überfordert, begeht Fehler, versinkt in Passivität und Verzweiflung. In entscheidenden Passagen der Geschichte des Kampfes um Minas Tirith wird der Truchsess seiner Rolle als regierender Statthalter und Herrschaft-Bewahrender nicht mehr gerecht und zieht sich vom Geschehen zurück. Mitten im Text, in der Erzählung um den kriegerischen Konflikt, gibt es eine Diskussion um legitimen Herrschaftsanspruch und das Ablösen von Stellvertretern. Der Thron Gondors wird vom Symbol für das Schicksal Mittelerdes zum Kristallisationspunkt von gesellschaftspolitischem Interesse. Die Wahl zwischen Traditionsabbruch und Neubesetzung muss getroffen werden. Weder das Eine noch das Andere schafft der durch Substitution mächtige Truchsess. »Durch intertextuelle Lektüre lässt sich jedoch weit mehr erreichen als die bloße Produktion eines lebensweltlichen Bezugsrahmens, in den dann mehr oder weniger passend biblische Texte integriert werden.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 34 - 3. Korrektur 34 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Zum Thema Die Thronsaalvision in Offenbarung 4 als biblischer Intertext Das Bild vom Thron bildet nach Elisabeth Schüssler- Fiorenza das rhetorische Fundament für das biblische Buch der Offenbarung. 11 In Offb 4 wird das Motiv des himmlischen Throns zum ersten Mal genannt. Auf die dortigen Thronmetaphern 12 folgt in Offb 5 der Empfang der versiegelten Buchrolle und die »Einsetzung des Helden« 13 . Beide Kapitel setzen eine Doppelvision in Szene und können als analeptischer und proleptischer Referenzpunkt für die folgenden Kapitel gelesen werden. 14 Das Bildinventar aus Offb 4 weist deutliche intertextuelle Bezüge zu Ez 1 und Jes 6 auf. Gott wird als königlicher Schöpfergott thronend inmitten eines himmlischen Hofstaats dargestellt. 15 Die Gestalt Gottes ist gleichwohl nicht zu erkennen, der Text spricht lediglich von dem überwältigenden Glanz, von Macht und Herrlichkeit und verhüllt damit mehr als er offenbart. Den Thron umgeben verschiedene Gestalten (Offb 4,4.6 ff.), die als Repräsentanten gedacht sind. Das übrige Setting ist kosmologisch ausgestaltet: Blitze, Donner und kristallenes Meer (vgl. Offb 4,5.6). Der Thron bildet das Zentrum des Kosmos, den Ort der ewigen Anbetung Gottes, seiner Präsenz und Entzogenheit zugleich. In Offb 4,11 erfolgt die Begründung für die Anbetung Gottes: Er steht über den Zeiten. Er ist der Schöpfer. Er allein ist der Mittelpunkt. Er und der Thron. Dieser Thron stellt das manifeste Zentrum des Kosmos und damit den Omphalos, den Punkt auf den sich alles Umgebende hin orientiert, dar. Mit dem Motiv des Thrones ist unauflöslich die Frage nach legitimer Herrschaft verbunden. Die theozentrische Ordnung des Kosmos wird sichtbar repräsentiert durch die kosmologische Zentralstellung des Thrones. Der Thron wird nicht detailliert beschrieben, seine Bedeutung ergibt sich in Relation zur umgebenden Szenerie. Semantische Wechselwirkungen in der intertextuellen Lektüre Jeder Leser hat bis zu diesem Punkt intuitiv die vorgestellten Texte, Seeeds »Deine Zeit«, Tolkiens »Herr der Ringe« und Offb 4, intertextuell miteinander verwoben. Im Akt der Lektüre haben sich immer wieder die semantischen Potentiale von Dialogizität und Differenz der Texte gezeigt. Die hohe intertextuelle Dispositionalität von Offb 4 lässt eine Lektüre mit Texten wie »Herr der Ringe« und »Deine Zeit« für eine Interpretation in gegenwärtigen Kontexten als lohnend erscheinen. Im Lied »Deine Zeit« ist der Thron unbesetzt. Er erscheint leer vor den Augen des Lesers. Anders dagegen Offb 4, hier ist der Thron nicht leer. Während das Lied die Menschen dazu auffordert, zu handeln und nicht länger zu warten, spricht Offb 4 davon, dass Gott schon immer gehandelt hat. Der Thron war nie leer, Gott hat und hatte diese Machtposition seit jeher. Hier kann der Liedtext als Anfrage an den biblischen Text gelesen werden: Der Thron des Liedes ist leer, es gibt niemanden, der darauf sitzt oder sitzen sollte. Die Notwendigkeit menschlichen Handelns (»du weißt, du hast keine Wahl«) folgt aus der Vakanz des Thrones. Im Dialog mit Offb 4 eröffnet das Lied den menschlichen Erfahrungshorizont und die Frage nach Rolle und Zeitpunkt menschlicher Aktivität. Dieses Thema bleibt in Offb 4 unerwähnt, während es in »Deine Zeit« zentral ist. Das Lied verweist den Leser auf die eigene Handlungsfähigkeit, Offb 4 spricht diese nicht an und verweist darauf, dass der Thron schon immer von Gott besetzt ist. Auf der einen Seite erscheint also das eigene Handeln aufgrund einer Thronvakanz notwendig, auf der anderen Seite durch die Beschreibung der Herrschaft Gottes schon nicht mehr notwendig. Der leere Thron und die Aufforderung zu handeln (»jeder Tag ruft deinen Namen, du weißt, du hast keine Wahl«) stehen den Aussagen von Offb 4 vermeintlich entgegen. Wenn Gott auf dem Thron sitzt und herrscht, in welcher Perspektive ist menschliche Herrschaft dann legitim? Gibt es menschliche Herrschaft überhaupt oder ist diese im Rahmen der göttlichen Herrschaft nicht denkbar? Während Offb 4 dem Leser das Bild des himmlischen Thronsaals darlegt und das ewige Lob Gottes ausführlich beschreibt, findet der Mensch keine Erwähnung in diesem Setting. Einzig der Seher der Offenbarung weiß um den besetzten Thron und lässt den Leser mit Hilfe des Textes daran teilhaben. Das Bild des leeren Throns aus »Deine Zeit« ist in diesem Kontext eine nachvollziehbare menschliche Erfahrung bzw. Interpretation. Der Herrscher aus Offb 4 ist für den normalen Menschen nicht erlebbar und operiert außerhalb menschlicher Erfahrungsräume. Der Gedanke, dass der kosmologische Thron unbesetzt, also leer, sein könnte, lässt sich im Rahmen von Alltagserfahrungen nicht von der Hand weisen. Das theozentrische Bild von Offb 4 gerät im Dialog mit dem Lied von Seeed zur Theodizeefrage: Was ist, wenn Gott zwar auf dem Thron sitzt, aber nicht »Das theozentrische Bild von Offb 4 gerät im Dialog mit dem Lied von Seeed zur Theodizeefrage« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 35 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 35 Christian Stein Sede vacante handelt? Welche Handlungsoptionen und -spielräume kann der Mensch im Angesicht des herrschenden Gottes haben? Müssen die Menschen ihren eigenen »geraden Weg« finden oder ist dieser Weg bereits vorgezeichnet? Der Gott der Offenbarung herrscht bereits, er sitzt auf dem Thron. Die Menschen und ihre mit der Gottesherrschaft verbundenen Erwartungen aber haben dort keinen Raum. Dennoch fehlt der Aspekt der Erwartung im biblischen Text nicht: Ein Spannungsbogen führt von Offb 4 zu Offb 21-22, wo mit Freuden die Ankunft des himmlischen Jerusalem erwartet wird. In dieser zukünftigen Stadt teilt das Lamm als Zeichen der endgültigen Heilsherrschaft den Thron mit Gott. Es ist jedoch das Lamm und nicht ein menschlicher Herrscher. Die Offenbarung bleibt auch hier eine Thematisierung menschlicher Herrschaftsbereiche schuldig. Die Erwartung einer für die Menschen anbrechenden Heilszeit teilt die Offenbarung mit dem Thronmotiv in »Herr der Ringe«. Der Gedanke jedoch, dass die endgültige Herrschaft eine gemeinsame sein könne, mit anderen Worten, dass der königliche Herrscher sich selbst beschränkt, scheint der Herrschaftskonzeption im »Herrn der Ringe« fremd: Die Position des Truchsess ist deutlich subordiniert. Während Offb 4 um den Herrscher auf dem Thron weiß, offenbart sich der ernstzunehmende Thronanwärter im »Herr der Ringe« erst im dritten und letzten Teil des Werkes. Auch hier begegnen wieder die Gegensätze von einem seit Anbeginn der Zeit herrschenden Gott und dem noch zu erwartenden, legitimen menschlichen Herrscher. Offb 4 begegnet der Frage nach der Person des Herrschenden mit einem festen Gefüge und betont damit die bereits gelöste Frage nach der kosmologischen Herrschaft. Gott sitzt bereits auf dem Thron, wenn auch für die Menschen nur in Form eines Visionsberichts ersichtlich. Direkt erlebbar ist diese Form der Herrschaft aber in Offb 4 nicht. Es braucht den Seher und den Text der Offenbarung, um davon zu erfahren. Dabei zeigt der Text mit seinem Reichtum an Metaphern, dass der Herrscher auf dem Thron sich ebenfalls der menschlichen Sprache entzieht. Diese Entzogenheit des Herrschenden kennen sowohl Seeed als auch »Der Herr der Ringe«. Während der Text von Offb 4 jedoch keine Aussagen über den Umgang mit diesem Problem trifft, verweisen die Texte von Tolkien und Seeed auf jeweils eigene Lösungsstrategien (Substitution oder eigenmächtiges Handeln). Die Orientierungslosigkeit, die anklingende Verzweiflung und der Anthropozentrismus, die das Lied »Deine Zeit« mit dem »Herr der Ringe« teilt, liegen der Gedankenwelt in Offb 4 fern. Verweist der Refrain des Liedes den Leser darauf, dass es »seine Zeit« sei und er »keine Wahl« habe, so beschreibt Offb 4 den Kairos göttlichen Handelns. Der Thron ist das kosmologische Zentrum legitimer und heilstiftender Macht, nicht jedoch der Ausgangspunkt menschlichen Dichtens und Trachtens. Einen Thron für Menschen gibt es dort nicht und wird es auch nicht geben. Das Prinzip einer durch den Menschen organisierten Substitution von Macht kann mit Offb 4 nicht gedacht werden. In den beiden anderen Texten ist es hingegen zentral-- im »Herr der Ringe« ambivalent besetzt, im Lied »Deine Zeit« adhortativ. Der Gott der Offenbarung als Souverän räumt dem Lamm eine Mitherrschaft auf dem Thron ein. Er ist jedoch zu keiner Zeit ein Deus otiosus (»müßiger Gott«). Die Mitherrschaft des Lammes ist gleichsam eine Absage an menschliche Bestrebungen und menschlich geschaffene Substitutionsmodelle, wie sie bei Seeed und Tolkien existieren. In den Texten begegnet auf unterschiedliche Weise die Frage nach Macht, Legitimation und Stellvertretung. Im Zuge intertextueller Lektüren wird eine Interpretation von Offb 4 nicht nur alteriert, sondern theologisch bedeutsam erweitert. Der theozentrischen Sicht werden Fragen mit anthropologischer Perspektive entgegengestellt. Die Theologie von Offb 4 erhält mit der Frage nach menschlicher Macht und dem Verhältnis dieser Macht zum göttlichen Thron eine bisher nicht explizit genannte Komponente. Die problematischen Implikationen der Möglichkeit eines leeren Throns treten durch die Intertexte deutlich ins Bewusstsein. Was sind die Konsequenzen eines leeren Throns? Ist der Thron auch dann besetzt, wenn die von ihm ausgehende Macht nicht direkt erlebbar ist? Auch die Fragen nach dem richtigen Zeitpunkt menschlichen Handelns (zentral im Lied »Deine Zeit«) und nach legitimer Stellvertretung (zentral im Handlungsstrang um den Truchsess von Gondor in »Herr der Ringe«) treten hervor. Die an einen Thron als Machtzentrum geknüpften Erwartungen drängen auf die theologisch verantwortliche Reflexion machtpolitischer Fragen. Die intertextuelle Lektüre der Texte zeigt mit Blick auf Offb 4, dass dort die Frage nach der Gottesherrschaft zwar beantwortet, aber mit Blick auf die Spielräume menschlichen Han- »Im Zuge intertextueller Lektüren wird eine Interpretation von Offb 4 nicht nur alteriert, sondern theologisch bedeutsam erweitert. Der theozentrischen Sicht werden Fragen mit anthropologischer Perspektive entgegengestellt.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 36 - 3. Korrektur 36 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Zum Thema delns nicht zufriedenstellend gelöst ist. Zwar sitzt Gott auf dem Thron, die Fragen nach der eigenen Aktivität und legitimen Stellvertretern werden in anderen Texten dennoch gestellt. Offb 4 legt die kosmologische Besetzung des Throns dar, während Seeed und Tolkien eine Auseinandersetzung mit der Erfahrung eines unbesetzten Machtbereichs aufweisen. Im Dialog der Texte zeigt sich ihre gegenseitige Ergänzung, ohne sie unzulässig zu harmonisieren. Grundlegende Fragen nach legitimer Macht, Herrschaft und ihrer Stellvertretung werden in diesem Zusammenspiel der Texte diskutiert und nebeneinander gestellt. Während Offb 4 auf die unterschiedlichen Dilemmata von »Deine Zeit« und »Herr der Ringe« antwortet, belegen eben diese Texte anthropozentrische Fragestellungen, die neue Lesarten von Offb 4 einfordern. Skizzen zu einer intertextuellen Lektürepraxis in didaktischer Absicht Bibel in religionsdidaktischer Perspektive Der Mehrwert intertextueller Lektüren für die religionsdidaktische Perspektive liegt in der methodisch kontrollierten Öffnung für Text-Text-Beziehungen. Das zentrale Anliegen besteht nicht darin, eine Textlektüre anzustoßen und lebensweltlich zu verrechnen. Durch intertextuelle Lektüre von Texten, die für die gegenwärtige westliche Enzyklopädie bedeutsam sind, werden sowohl die Aspekte der jeweiligen Einzeltexte gewahrt als auch ihre sinnstiftende Aktualisierung verwirklicht. Intertextualität leistet einen unverzichtbaren Beitrag für eine verantwortbare Interpretation in religionsdidaktischen Umgebungen. 16 Mit Hilfe der Text-Text-Beziehungen entstehen neue Sinneffekte, während der Leser durch das Paradigma der Intertextualität vor assoziativer Beliebigkeit geschützt ist. Diese Beziehungen lassen sich bspw. zwischen Texten der Bibel und ihrer Neuinterpretation, wie sie sich in literarischen Adaptionen ereignen, finden. Solche Adaptionen liegen bspw. in Tolkiens »Herr der Ringe«, C. S. Lewis’ »Die Chroniken von Narnia«, José Saramagos »Kain« und vielen weiteren Werken mehr oder weniger offensichtlich vor. Mit dem Wissen um die Texte der Bibel und ihre Inhalte steigt das Potential, diese Adaptionen als solche zu erkennen und die in ihnen vorgenommene Interpretation zu erschließen. Ist das Wissen um die Texte der Bibel jedoch gering, so können diese Werke ihre Aussagevielfalt nicht zur Gänze entfalten. Der durch intertextuelle Lektüre neu entstandene hermeneutische Horizont belegt die Relevanz biblischer Texte und trägt seinen Teil dazu bei, die Texte anschlussfähig zu erschließen. Intertextuelle Lektüre »macht darauf aufmerksam, dass die Texte über ihre Zeit hinaus reichen und sich in der Gegenwart neu ereignen, indem sie gelesen, gedeutet und ins Handeln übersetzt werden« 17 . Bibel in interdisziplinärer Perspektive In der Begegnung mit anderen (geisteswissenschaftlichen) Disziplinen treten weitere Anregungen zur intertextuellen Lektüre in Lehr-Lern-Situationen hervor. 18 Vor allem theologische Lehrveranstaltungen mit einem hohen Maß an Interdisziplinarität tragen an dieser Stelle dazu bei, die Vorteile von Intertextualität über den Bereich der Religionsdidaktik hinaus zu nutzen. Seit dem Sommersemester 2012 bietet der Fachbereich Evangelische Theologie in Frankfurt explizit eine Lehrveranstaltung für Studierende anderer Disziplinen an. In diesem Lehrformat wird den intertextuellen Bezügen biblischer Texte in Fächern wie bspw. Islamische Studien, Pädagogik, Geschichte, Germanistik und Kunstgeschichte nachgegangen. Dabei liegt der Fokus nicht auf der Frage, welche Texte für den Theologen interessant sind, sondern vielmehr darauf, welche biblischen Texte erschlossen werden müssen, um die Bezugnahmen der jeweiligen Fachgegenstände zu entdecken und aufzuschlüsseln. Ohne Kenntnis biblischer Texte und Motivik lassen sich Filme, Texte, Bilder und auch historische Quellen nur unzureichend verstehen und erschließen. Werden Bezüge zur Bibel nicht erkannt, so bleibt die jeweilige Fachhermeneutik hinter ihren Potentialen zurück. Der Untersuchungsgegenstand wird nicht hinreichend erschlossen und nur unzureichend diskutiert. In der Begegnung mit biblischen Texten werden Bezüge zu den Kernthemen anderer Disziplinen erkennbar. Intertextualität stellt einen Weg dar, diese Bezüge kontrolliert aufzuspüren, sie zu ergründen und in ihrer gemeinsamen Neukonstituierung zu interpretieren. Die Diskursuniversen der unterschiedlichen Fachkulturen werden mit Hilfe intertextueller Lektüren in einen Dialog gebracht und erschließen sich gegenseitig. Es lassen sich Aussagen über das Zusammenspiel der Bibel mit anderen kulturellen Manifestationen treffen. Mit Hilfe der biblischen Texte entstehen neue Deutungshorizonte für Texturen der Gegenwartskultur. »Der Mehrwert intertextueller Lektüren für die religionsdidaktische Perspektive liegt in der methodisch kontrollierten Öffnung für Text-Text- Beziehungen.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 37 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 37 Christian Stein Sede vacante Bibel in interkultureller Perspektive In den Erfahrungen mit Studierenden anderer Texttraditionen zeigt sich der Nutzen von intertextuellen Lektüren in Lehrveranstaltungen. In der interkulturellen Begegnung von unterschiedlichen kulturellen Enzyklopädien tragen intertextuelle Lektüren biblischer Texte dazu bei, die jeweiligen Lesarten hervorzuheben und gleichwertig zu betrachten. Der Mehrwert eines solchen Vorgehens zeigt sich beispielsweise an den Themen »Gottesvorstellungen«, »Marienbild« und »Wunderinterpretationen«. Bereichernde Begegnungen dieser Art sind beispielsweise mit Texten des Korans oder der Wunderinterpretation im Rahmen westafrikanischer Kulturtraditionen 19 denkbar. Die Potentiale der Texte schimmern auf und eine gegenseitige Bereicherung wird möglich. Die Positionalität und die semantische Pluralität bleiben dabei jedoch gewahrt. Gerade im Grenzbereich der Begegnung von unterschiedlichen Enzyklopädien erweist sich das hermeneutische Potential intertextueller Lektüren. »Der interreligiöse Dialog kann nur gelingen, wenn wir dem Anderen respektvoll und neugierig auf seine Welt gegenübertreten und wenn wir die eigene Welt kennen. Dann kann auch vertrauensvoll erkundet werden, welche Schritte gemeinsam gegangen, welche Welten gemeinsam bewohnt werden können und wo und warum sich Wege trennen. Dass auf diese Weise der eigene Glaube, die eigenen Traditionen, die eigenen Geschichten im Angesicht des Anderen neu formuliert werden müssen und so vielleicht neu verstanden werden, könnte nicht das geringste Ergebnis eines aufrichtigen Dialogs sein.« 20 Intertextuelle Lektüren im Rahmen didaktischer Settings eröffnen für unterschiedliche Adressatenkreise Räume der Auseinandersetzung und der Aneignung. Die Vielzahl intertextueller Dispositionen biblischer Texte zeigt ihre enge Verbindung mit den Texturen gegenwärtiger Kulturen. Intertextuelle Lektüre verweist in didaktischen Settings auf die Neukonstituierung der biblischen Texte in den Zusammenhängen der gegenwärtigen Auslegungsgemeinschaften. Neben diese Neukonstituierung tritt die kritische Bereicherung der Texte. Intertextuelle Lektüre bedeutet auch die In- Frage-Erstellung und Neuerschließung der jeweiligen Texte. Sie trägt zur Dekonstruktion der biblischen Texte durch das Zusammenspiel mit anderen Texten bei. Intertextuelle Lektüre darf in theologischer Perspektive nicht die absolute Relativierung der Texte bedeuten, die Positionalität der Texte muss gewahrt werden. Es wird jedoch deutlich: In ihren intertextuellen Bezügen bleiben die Texte der Bibel über zeitliche, räumliche und enzyklopädische Grenzen hinweg immer anschluss- und auch wahrheitsfähig. Anmerkungen 1 Vgl. M. Schambeck, Bibeltheologische Didaktik, Göttingen 2009, 94. 2 S. Alkier, Die Bibel- - das Buch der Bücher. Kanongeschichtliche, theologische, intertextuelle und poetologische Anmerkungen zu einem Bestseller, in: S. Alkier/ R. B. Hays (Hgg), Kanon und Intertextualität, Kleine Schriften des Fachbereichs Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt, Main 1, Frankfurt/ Main 2010, 45. 3 Vgl. M. Schambeck, Bibeltheologische Didaktik, Göttingen 2009, 86. 4 Vgl. S. Alkier, Die Bibel im Dialog der Schriften und das Problem der Verstockung in Mk 4. Intertextualität im Rahmen einer kategorialen Semiotik biblischer Texte. in: S. Alkier/ R. B. Hays (Hgg.), Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre, Tübingen/ Basel 2005, 8. 5 S. Alkier, Die Johannesoffenbarung als »ein zusammenhängendes und vollständiges Ganzes«, in: M. Labahn/ M. Karrer (Hgg.), Die Johannesoffenbarung. Ihr Text und ihre Auslegung, Leipzig 2012, 148. 6 Süddeutsche; http: / / www.sueddeutsche.de/ kultur/ neuesalbum-von-seeed-wille-zum-happening-11481920-2 letzter Zugriff: 24. 11. 2013. 7 Die hier dargelegten Untersuchungen beziehen sich auf das literarische Werk Tolkiens, nicht auf die Verfilmung durch Peter Jackson. 8 Bspw. W. Gräb u. a. (Hgg.), »Irgendwie fühl ich mich wie Frodo«: eine empirische Studie zum Phänomen der Medienreligion, Frankfurt/ Main 2006; A. Dinter u. a. (Hgg.), »Vom Logos zum Mythos«, Berlin 2010. 9 Im englischen Original »Steward«, in der neuen deutschen Übersetzung mit »Statthalter« wiedergegeben. 10 J. R. R. Tolkien, Der Herr der Ringe-- Die Wiederkehr des Königs, Fünftes Buch, Kapitel 1, 4, 7. 11 E. Schüssler-Fiorenza, Das Buch der Offenbarung: Vision einer gerechten Welt, Berlin 1994, 79. 12 In Anschluss an D. deSilva, Seeing Things John’s Way. The Rhetoric of the Book of Revelation, WJK, Lousiville, Kentucky 2009, 196. 13 S. Alkier, Die Johannesoffenbarung als »ein zusammenhängendes und vollständiges Ganzes«, in: M. Labahn/ M. Karrer (Hgg.), Die Johannesoffenbarung. Ihr Text und ihre Auslegung, Leipzig 2012, 151. 14 J. Roloff, Die Offenbarung des Johannes, Zürich 3 2001, 66. 15 Vgl. bspw. S. Alkier Die Johannesoffenbarung als »ein zusammenhängendes und vollständiges Ganzes«, in: M. Labahn/ M. Karrer (Hgg.): Die Johannesoffenbarung. Ihr Text und ihre Auslegung, Leipzig 2012, 163; M. Karrer, Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 38 - 3. Korrektur 38 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Zum Thema Die Johannesoffenbarung als Brief: Studien zur ihrem literarischen, historischen und theologischen Ort, Göttingen 1986, 228. 16 S. u. a. B. Porzelt, Grundlinien biblischer Didaktik, Bad Heilbrunn 2012, 127. 17 M. Schambeck, Bibeltheologische Didaktik, Göttingen 2009, 88. 18 S. bspw. K. Schöpflin, Die Bibel in der Weltliteratur, Tübingen 2011; A. Polaschegg (Hg.), Das Buch in den Büchern: Wechselwirkungen von Bibel und Literatur, München 2012. 19 Siehe bspw.: W. Kahl, Jesus als Lebensretter. Westafrikanische Bibelinterpretationen und ihre Relevanz für die neutestamentliche Wissenschaft, Frankfurt 2007. 20 S. Alkier, Neues Testament, Tübingen/ Basel 2010, 77 f. Martin H. Jung Kirchengeschichte UTB basics 2014, X, 292 Seiten, 30 s/ w Abb., €[D] 24,99 / SFr 34,70 ISBN 978-3-8252-4021-9 Eine Kirchengeschichte kann heute nur als Geschichte des Christentums geschrieben wer den, die das Christentum als Religion unte Religionen ansieht und behandelt, dabei auch die außerkirchlichen Vernetzungen und Wir kungen berücksichtigend. Dieses Lehrbuch vermittelt verständlich und übersichtlich das Basiswissen dazu und erläu tert historische Zusammenhänge ebenso wie theologische Ideen und Grundeinsichten in ihren geschichtlichen Kontexten. Martin H. Jung Kirchengeschichte UTB basics 2014, X, 292 Seiten, 30 s/ w Abb., €[D] 24,99 / SFr 34,70 ISBN 978-3-8252-4021-9 Eine Kirchengeschichte kann heute nur als Geschichte des Christentums geschrieben wer den, die das Christentum als Religion unte Religionen ansieht und behandelt, dabei auch die außerkirchlichen Vernetzungen und Wir kungen berücksichtigend. Dieses Lehrbuch vermittelt verständlich und übersichtlich das Basiswissen dazu und erläu tert historische Zusammenhänge ebenso wie theologische Ideen und Grundeinsichten in ihren geschichtlichen Kontexten. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 39 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 39 Allegorisch Lesen? -- Einleitung zur Kontroverse Michael Tilly übernimmt die Fragestellung dieser Kontroverse samt Fragezeichen in den Titel seines Beitrages, Marius Reiser ersetzt das Fragezeichen durch ein Ausrufezeichen. In dieser minimalen Differenz steckt der Dissens: Bei Reiser ist »Allegorese« in einem weiteren Sinn auch in der heutigen Predigt so gebräuchlich wie unumgänglich, sobald sich die Aufgabe einer aktualisierenden Übertragung stellt. Für Tilly ist Allegorese hingegen dasjenige, was die Moderne zu Recht als vormodern abgetan hat. Für Reiser hat der unstrittige Umstand, dass in den neutestamentlichen Texten selbst häufig allegorisiert wird, methodologische Relevanz: Man soll genau hinsehen, wie die neutestamentlichen Verfasser das gemacht haben, und dann darf und soll man es ebenso machen. Bei Tilly dagegen gilt: Wer so das Neue Testament auslegt, appliziert anachronistisch »ein offenbarungstheologisch-dogmatisches Paradigma der Spätantike«. Nach Reisers Auffassung bleibt die historische Kritik »hinter ihrer Aufgabe zurück«, wenn sie nicht in der Lage ist, der Predigt einen Weg zur Übertragung in das Heute zu weisen. Dagegen konstatiert Tilly: »Die historischkritische Betrachtung des Neuen Testaments verfolgt […] nicht die Absicht, Glauben zu bewirken«. Nach seiner Ansicht ist Allegorese wesentlich ein assoziativer Vorgang, der der Willkür Vorschub leistet, wogegen Reiser der allegorischen Auslegung methodische Klarheit attestiert. Bei Reiser ist die Allegorese eine mögliche Form der Übertragung und als solche, mit Bonhoeffer gesprochen, »eine schöne Freiheit der kirchlichen Auslegung der Schrift«. Anders Tilly, für den hinter solchen Freiheitsforderungen nichts anderes steht als eine Misstrauenserklärung gegen die akademische Bibelwissenschaft. Wo liegen die Gemeinsamkeiten? Sehr allgemein gesprochen darin, dass beide zwischen Wortsinn und Übertragung unterscheiden, und ebenso zwischen historischer Kritik und Allegorese. Von einer kategorischen Ablehnung der historischen Kritik verlautet außerdem bei Reiser kein Wort, und umgekehrt konzediert Tilly der Allegorese dann doch, dem kreativen aktualisierenden Schriftgebrauch nützlich sein zu können. Die historische Kritik verhält sich dazu nicht antagonistisch, sondern, so Tilly, durchaus konstruktiv »als hermeneutisch-kritisches Korrektiv«. Die zwischen Reiser und Tilly geführte Diskussion lässt sich gut am Beispiel der biblischen Rachepsalmen illustrieren. Bei Reiser steht in Ps 137 die Stadt »Babylon« allegorisch für den »inneren Schweinehund«, und ihre »Kinder« für dessen »unreine Gedanken und Absichten«, die man an jenem »Felsen« zerschmettern soll, der »nach 1Kor 10,4 Christus ist«. Für Tilly dagegen ist die »eigentliche Sinngebung« dieser Texte nur zu erheben unter Berücksichtigung ihrer »eigentlichen historischen Funktion«, und diese besteht darin, Not und Verzweiflung in der Situation der Bedrängnis zu artikulieren und in entlastender Weise Aggression auf die göttliche Vergeltung zu übertragen. Was heißt nun »eigentliche Sinngebung«? Wenn darin auch ein Moment der Applikation enthalten sein soll, laufen die allegorische wie historische Auslegung beide auf eine Psychologisierung hinaus, sei es, dass man unreine Gedanken »an Christus zerschmettert«, oder dass man Rachegedanken »auf Gottes Vergelten überträgt«. Wie groß ist hier der Abstand tatsächlich? Ein Unterschied besteht freilich: Die historische Zugangsweise funktioniert nur, wenn sie einen moralisch irgendwie darstellbaren Ursprungssinn des Textes annimmt (»Not artikulieren«, »Aggression übertragen«), die allegorische funktioniert dagegen auch im Falle seiner wortwörtlichen Gewaltsamkeit. Will der Psalm zu Mord und Totschlag anstiften? Historische Anthropologen würden jetzt vielleicht antworten: Ja, das will er. Operiert historisch-kritische Auslegung also mit einem allzu oft textfremden Moral-Postulat (im Sinne der Moral Bible von Moore und Sherwood, s. den Buchreport), oder entdeckt sie an den Texten Aspekte des Ethischen, über die die Allegorese blind hinweggeht? An die Adresse der Allegorese gefragt: Wieviel Mühe gibt sie sich um den Literalsinn, den sie, so Reiser, ja jedenfalls kennt und in Rechnung stellt? Kann man auch und erst recht allegorisieren, wenn man sich dieser Mühe unterzogen hat? Die Schlussfrage der Kontroverse Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 40 - 3. Korrektur 40 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Kontroverse Einleitung geht an die historische Kritik: Ist es nicht denkbar, dass sie einen kleinen postmodernen Anlauf nimmt, über ihren eigenen Schatten springt und die Allegorese als das wertschätzt, was sie ist, nämlich ein Spiel? Die Leserinnen und Leser dieses Heftes sind nun eingeladen zur Lektüre einer gehaltvollen Kontroverse, die reichlich zu weiteren eigenen Fragen anregt. Manuel Vogel Weit über 5000 griechische Handschriften des Neuen Testaments sind bis heute bekannt. Davon werden im vorliegenden Band 104 Handschriften ediert, die aus dem ersten bis vierten Jahrhundert stammen und damit einen besonderen Thesaurus für die gesamte Christenheit darstellen. Sie umfassen bereits 60 Prozent vom griechischen Text des Neuen Testaments. Die Handschriften werden jeweils nach acht Gesichtspunkten präsentiert: Herkunft, Auf bewahrung, Beschreibung, Inhalt, Datierung, Bibliographie, Hinweise, wo die Abbildungen zu finden sind, und Transkription. Jede transkribierte Zeile ist mit einer deutschen Übersetzung versehen. Die genaue Kenntnis der ältesten griechischen Textüberlieferung ist für Theologen und für jeden wichtig, der sich ernsthaft mit der Bibel und der Entstehung der einzelnen Schriften des Neuen Testaments beschäftigen will. 2014. 952 S. 5 S/ W-ABB. GB. 200 X 270 MM | ISBN 978-3-412-22215-4 KARL JAROŠ DIE ÄLTESTEN GRIECHISCHEN HANDSCHRIFTEN DES NEUEN TESTAMENTS BEARBEITETE EDITION UND ÜBERSETZUNG böhlau verlag, ursulaplatz 1, d-50668 köln, t: + 49 221 913 90-0 info @ boehlau-verlag.com, www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 41 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 41 Bereits die apologetische Mytheninterpretation der Stoiker verfolgte die Absicht, den moralisch fragwürdigen Göttergeschichten in den Epen Homers eine vernunftgemäße und ethisierende Deutung abzugewinnen. Antike jüdische Bibelausleger wie Aristobulos und Philon von Alexandria übernahmen diese seinerzeit verbreitete Auslegungsmethode, um den eigentlichen Sinn (insbesondere der kultischen Partien) des Mosegesetzes zu erheben und hierdurch seinen bleibenden und vernünftigen ethischen Charakter zu beweisen. In beiden Fällen diente die allegorische Auslegung ihres Wortsinns zunächst dazu, autoritative Texte und Traditionen, die mittlerweile unverständlich, unglaubwürdig oder mit ihrem veränderten kulturellen und religiösen Kontext inkompatibel geworden waren, in apologetischer Weise mit Gegenwartsrelevanz und Autorität auszustatten. 1 Als ein Instrument der aktualisierenden Schrifterklärung prägte die Allegorese, die den Bibeltext als Allegorie versteht, d. h. neu kontextualisiert und mittels Sinnübertragung aus diesem neuen, sachfremden Kontext seinen semantischen »Mehrwert« erhebt, die traditionelle christliche Schriftauslegung von ihren Anfängen bis weit in die aufgeklärte Neuzeit. 2 Die vehemente Zurückweisung der allegorischen Textinterpretation als eines angemessenen wissenschaftlichen Auslegungsverfahrens durch die Vertreter der »Religionsgeschichtlichen Schule« während des ausgehenden 19. Jahrhunderts war die Folge ihrer dezidierten Ablehnung einer konfessorisch bestimmten biblizistischen Theologie und eines supranaturalistischen Verständnisses des frühchristlichen Schrifttums. 3 Der Neutestamentler Adolf Jülicher und seine wissenschaftlichen Weggefährten betrachteten das Neue Testament ganz im Sinne des positivistischen Historismus als ein historisch erschließbares Erkenntnisobjekt, dessen wissenschaftliche Erforschung ihrerseits einen von der Geschichte her erneuerten modernen christlichen Glauben ermöglichen sollte. 4 Jülichers Überzeugung, dass die Entstehung und Entwicklung des Christentums grundsätzlich historisch bedingt seien, begründete für ihn die zwingende Notwendigkeit, Jesus aus Nazareth und die ersten Christen als Menschen zu betrachten, die in konkreten geschichtlichen Zusammenhängen handelten und redeten, und zwar genau das, was sie meinten. Dabei schied der Marburger Gelehrte die allegorischen Reden Jesu gerade aufgrund ihrer »unjesuanischen« prinzipiellen Erklärungsbedürftigkeit aus dem von ihm rekonstruierten Bestand »ursprünglicher« bzw. »echter« Herrenworte aus 5 und ordnete sowohl das literarische Gestaltungsmittel der Allegorie als auch das Auslegungsverfahren der Allegorese der missverständlichen Traditionsaneignung und den sekundären literarischen Deutungsbemühungen des nachösterlichen Christentums zu. Die hermeneutische Technik der Allegorese überließ Jülichers theologischer Rationalismus großzügig demjenigen, der »seine Seligkeit auf ein: ›das ist‹ gründen könnte«. 6 In der neutestamentlichen Wissenschaft seit Jülicher ist eine negative Konnotation des Allegoresebegriffs üblich geworden. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen bibelexegetischen Forschungsdiskurse lässt sich indes auch eine Reihe begründeter Einwände gegen eine solche pauschalierende Ablehnung der allegorischen Sinndimension des Bibeltextes vorbringen. Längst als abwegig erwiesen hat sich die Überzeugung, der christliche Glaube könne mittels historischer Forschung und Erkenntnis innerweltlich und innergeschichtlich begründet werden. Tatsächlich lenkt die Allegorese den Blick auf die Unmöglichkeit einer solchen Historisierung des Christentums. Fest steht zudem, dass die Allegorese als ein zwar recht seltener, aber durchaus konstruktiver Bestandteil der literarischen Gestaltungsmittel und hermeneutischen Methoden innerhalb des antiken Judentums und des frühen Christentums zu betrachten ist (z. B. Mk 4,13-20; Mt 22,1-14; 1Kor 9,9; 10,4; Gal 4,21-31). Der Prozess der Allegorisierung kann als ein Merkmal der Aktualisierung der Tradition in der frühchristlichen Überlieferung gelten. Durchgesetzt hat sich die Auffassung, dass auch ein allegorisch aufgeladener Text, der historisch nicht als »zuverlässig« gelten kann, durchaus einen theologischen Wert hat: »Die Allegorese erkennt an, daß die Bedeutung eines erzählenden Textes nicht unbedingt von seinem hist. Wahrheitsgehalt abhängt.« 7 Unbeschadet der hiermit skizzierten positiven Aspekte der allegorischen Auslegung als Korrektiv und Gegenstand der exegetischen Untersuchung des Neuen Testaments, das seinerseits als literarischer Ausdruck MichaelTilly Allegorisch lesen? Kontroverse Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 42 - 3. Korrektur 42 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Kontroverse literarischen, sprachlichen und kommunikativen Entstehungsbedingungen. Die Erfassung ihres besonderen Kontextes, die stets überprüfbaren und kommunizierbaren wissenschaftlichen Kriterien auf der Basis des aktuellen Standes der historischen, archäologischen und bibelexegetischen Forschung in der gesamten Breite ihrer jeweiligen Spezialisierung zu unterliegen hat, 8 ist für die Erhebung der Aussageintention und Textpragmatik neutestamentlicher Schriften von fundamentaler Bedeutung. Auch die Sprachbilder und Allegorien innerhalb des Neuen Testaments (z. B. 1Kor 5,6-8; Gal 3,16; Hebr 1,13-16) können keineswegs aus diesem Kontext gelöst und zur literarischen Trägersubstanz einer vergegenwärtigenden kirchlichen Bibelauslegung instrumentalisiert werden, zumal die mit einer solchen Vergegenwärtigung einhergehende christliche Lehre von der Totalinspiration der Schrift ihrerseits religionsgeschichtlich bedingt ist (vgl. Dtn 18,2 f.; Neh 9,30; Jer 23,20). Vielmehr ist einerseits durchgehend danach zu fragen, welche kognitiven, expressiven und textkonstitutiven Funktionen den verschiedenen Sprachbildern und Allegorien innerhalb ihres literarischen Zusammenhangs zukamen und welche Haltungen gegenüber dem jeweiligen Bildspender bzw. welche Teilmenge seiner Eigenschaften die impliziten Adressaten jeweils auf den Bildempfänger übertragen sollten. Andererseits ist zu untersuchen, welche sozialen, kulturellen und religiösen Traditionen und lebensweltlichen Gegebenheiten als artikulierte Bestandteile der besonderen Erfahrungswelt des antiken Verfassers und seiner Adressaten in den Sprachbildern und Allegorien zu erkennen sind. 9 Viele vermeintlich bedeutungsoffene semantische Zuordnungen erweisen sich bei näherer Betrachtung als zur Zeit der ersten Christen bereits kulturgeschichtlich geläufig oder sogar allgemein lexikalisiert (vgl. Mk 12,1-9); auch ihre »eigentlich gemeinte« Figuraldeutung war oft von Anfang an habitualisiert. Mittels allegorischer Auslegung erhobene und vermeintlich neue, tatsächlich jedoch ahistorische und willkürliche Deutungen des Bibeltextes rühren viel zu oft daher, dass sie vom Verständnis dieser Zusammenhänge und der hinter dem Text stehenden Vorgänge völlig unbelastet sind. Auch die drastische Gewaltmetaphorik der biblischen Rachepsalmen erfährt ihre eigentliche Sinngebung erst durch die Berücksichtigung ihrer eigentlichen historischen Funktion, nämlich der Artikulation der -- ganz unalder historisch, situativ und kommunikativ bedingten Glaubensvorstellungen, religiösen Weltdeutungen und Praktiken innerhalb des Christentums in seiner formativen Phase zu betrachten ist, sprechen vor allem drei wesentliche Gründe gegen ihre Eignung als sachgemäße Methode zur Analyse und Interpretation biblischer Texte und gegen die damit verbundene Relativierung der Leistungsfähigkeit des ausdifferenzierten historisch-kritischen Methodenkanons. 1. Die Allegorese entkontextualisiert den Bibeltext Der Sinn der neutestamentlichen Schriften steht in unmittelbarem Zusammenhang mit ihren jeweiligen historischen, gesellschaftlichen, religiösen, kulturellen, Prof. Dr. Michael Tilly, Jahrgang 1963, 1982-1989 Studium der Evangelischen Theologie in Mainz und Heidelberg, 1993 Promotion, 2001 Habilitation in Mainz. Lehraufträge und Lehrstuhlvertretungen in Koblenz, Schwäbisch Gmünd, Jena, Saarbrücken, Wuppertal, Jerusalem und Landau, seit 2012 Professor für Neues Testament und Antikes Judentum und Leiter des Instituts für antikes Judentum und hellenistische Religionsgeschichte an der Eberhard Karls Universität Tübingen, Research Associate am Department of New Testament Studies, University of Pretoria (South Africa). Derzeitige Forschungsschwerpunkte: Neutestamentliche Zeitgeschichte, Literatur und Religion des Judentums in hellenistisch-römischer Zeit, Religionsgeschichte des frühen Christentums, 1. Makkabäer, Tosefta. Homepage: http: / / www.uni-tuebingen.de/ fakultaeten/ evangelisch-theologische-fakultaet/ lehrstuehleund-institute/ neues-testament/ neues-testament-i/ mitarbeiter/ tilly-michael-prof-dr.html Michael Tilly »Mittels allegorischer Auslegung erhobene und vermeintlich neue, tatsächlich jedoch ahistorische und willkürliche Deutungen des Bibeltextes rühren viel zu oft daher, dass sie vom Verständnis dieser Zusammenhänge und der hinter dem Text stehenden Vorgänge völlig unbelastet sind.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 43 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 43 Michael Tilly Allegorisch lesen? legorische- - Not und Verzweiflung des von allen Seiten bedrängten und wehrlosen Beters bzw. der entlastenden Übertragung seiner Aggression auf einen machtvollen Vergeltungsakt Gottes. 2. Die Allegorese nimmt den Bibeltext in perspektivischer Weise wahr Das allegorische Deutungsverfahren geht oft einher mit der vormodernen Glaubensüberzeugung von der Existenz einer ursprünglichen, echten und verbindlichen Textform sämtlicher Schriften des Alten und Neuen Testaments und der Existenz eines festen kanonischen Gesamtbestandes als ihres Referenzrahmens. Nicht hinreichend berücksichtigt wird dabei, dass bei der Entstehung und Transmission der biblischen Schriften von Anfang an keine kategoriale Differenz zwischen Tradition und Text anzunehmen ist, sondern ein heterogener geschichtlicher Übergabebereich hinsichtlich der allmählichen Artikulation und literarischen Gestaltwerdung unterschiedlicher religiöser Erfahrungen und Ideen. 10 Nicht hinreichend berücksichtigt wird auch, dass der lange und komplizierte kanonisierende Sammlungs- und Auswahlprozess des neutestamentlich gewordenen Schrifttums in den Großkirchen erst Jahrhunderte nach der Entstehung der Texte abgeschlossen war und letztendlich auf historischen Kontingenzen beruhte. Insbesondere die allegorische Auslegung des Alten und des Neuen Testaments als sachlicher Einheit geht einher mit einer perspektivischen christlich-theologischen Bewertung der hebräischen Bibel, nämlich der Relativierung ihrer normativen und heilstiftenden Geltung als selbstständige und in sich abgeschlossene jüdische Offenbarungs- und Glaubensurkunde angesichts der als grundlegend wahrgenommenen Bedeutung des Christuszeugnisses. Die reiche allegorische Schriftverwendung im Neuen Testament diente dazu, das christologische Heilsereignis theologisch zu identifizieren und die Geschichte Jesu aus Nazareth wie auch das nachösterliche Christusbekenntnis in begründender und bestätigender Weise mit dem Gott Israels in Verbindung zu bringen. Der allegorisierende Nachweis der Erfüllung alttestamentlicher Weissagungen im Christusgeschehen und die damit einhergehende Grundannahme eines direkten und harmonischen offenbarungsgeschichtlichen Bezuges zwischen Altem und Neuem Testament entsprechen traditionellen christlichen Bekenntnisaussagen und haben ihr Gegenstück im Bemühen der Rabbinen, ihre halachischen (insbesondere strittigen) Positionen von der Schrift her zu begründen. Das Alte Testament ist auch für Christen ein verbindliches Zeugnis von Gott. Eine moderne Exegese, welche die biblischen Texte sachgemäß, nachvollziehbar und kommunizierbar zu interpretieren beabsichtigt und zugleich mittels der Auslegung hintergründiger Bedeutungen im vordergründigen Text der jüdischen heiligen Schriften (und entgegen ihrem ursprünglichen Sinn) auf genuin christliche Themen hinführen will, 11 muss sich jedoch-- nicht nur von jüdischer Seite-- den schwerwiegenden Vorwurf gefallen lassen, dass sie ein offenbarungstheologisch-dogmatisches Paradigma der Spätantike in ebenso anachronistischer wie übergriffiger Weise zur Anwendung bringt. 3. Die Allegorese bedeutet eine hermeneutische Engführung Bereits Albert Schweitzer betonte in seiner »Geschichte der Leben-Jesu-Forschung«, 12 dass die historische Bibelwissenschaft wie jede moderne Geschichtsschreibung zunächst aktuelle Fragestellungen bedient und stets interessengeleitet ist. Die von ihr rekonstruierte Vergangenheit habe somit einen grundsätzlichen Projektionscharakter, was eine »objektive« Exegese geradezu unmöglich mache. Fast ein Jahrhundert später hat Jan Assmann in seiner Arbeit über »Das kulturelle Gedächtnis« 13 zudem dargestellt, dass nicht die bloße Ansammlung vorzeitiger realgeschichtlicher Daten und Fakten, sondern vor allem aktuelle Erfordernisse und der sich stetig wandelnde kontextuelle Bezugsrahmen der Gegenwart die erinnernde Wahrnehmung prägen. 14 Unser heutiges Vorverständnis bei der Lektüre der neutestamentlichen Schriften- - unsere geschichtlich bedingte Existenz, unsere kulturelle Enzyklopädie und unsere eigenen erkenntnisleitenden und sinnstiftenden Lebenskontexte-- entspricht niemals dem Vorverständnis ihrer antiken Rezipienten oder gar den Intentionen ihrer Verfasser. 15 Das Eingeständnis der Existenz einer solchen unüberbrückbaren Differenz hinsichtlich der jeweiligen Verstehensvoraussetzungen führt wiederum zu dem Schluss, dass es uns unmöglich ist, die »ursprünglichen« Kontexte und den hierdurch bedingten Sinn der neutestamentlichen Schriften als Ausdruck historisch zurückliegender Kommunikationssituationen umfassend und objektiv zu erfassen, ohne dabei zugleich selbst aktiv an der Konstitution dieses Sinnes beteiligt zu sein. Fraglos trägt eine ausschließlich historisch-kritische Betrachtung biblischer Texte, die sie allein als Zeugnisse einer vergangenen Zeit betrachtet, diesem hermeneutischen Prozess nicht hinreichend Rechnung. n Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 44 - 3. Korrektur 44 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Kontroverse Dass die notwendige Erweiterung der diachron orientierten klassischen exegetischen Arbeitsschritte durch synchron orientierte rezeptionsästhetische Auslegungsmethoden, intertextuelle oder narratologische Ansätze gerade die Allegorese nicht mit einschließt, liegt ganz wesentlich daran, dass gerade sie die sinnstiftende Bedeutung der Textrezeption ausblendet und von einem allein im Text selbst kodierten und aus ihm zu erhebenden Sinn ausgeht, der mittels eines amplifizierenden bzw. vergegenwärtigenden Referentenwechsels verständlich, aktuell und applizierbar gemacht werden kann. Auch jede allegorische Auslegung des Bibeltextes als dessen »methodisch gelenkte Rezeption« 16 unterliegt selbstverständlich bestimmten erkenntnisleitenden Interessen und kann nur im Rahmen einer bestimmten kulturellen Enzyklopädie formuliert werden. Aber im Gegensatz zur historisch-kritischen Auslegung ist die reproduktive Einbildungskraft der Allegorese methodisch nicht kontrolliert, sondern wesenhaft assoziativ und von subjektiven Prämissen geleitet. Allegorese als applikative Methode der Bibelauslegung leistet keinen Beitrag zu einem umfassenden Schriftverständnis, sondern macht die Bibel zu einer theologischen Bezeugungsinstanz ex eventu und produziert letztendlich nur religiöse Gebrauchsliteratur für den Moment. Nichts ist so überholt, wie die Allegorese von gestern. Ebenso wie die Massen von Seeigeln im Uferbereich des Meeres vor Eilat als deutliches Indiz für ein aus dem Gleichgewicht geratenes Ökosystem gelten können, lässt sich das verstärkte Bemühen um die Schaffung interpretatorischer Freiräume mittels der allegorischen Schriftlektüre als beredtes Zeugnis des von den Befürwortern dieses Auslegungsverfahrens offenbar wahrgenommenen Glaubwürdigkeits- und Autoritätsproblems der biblischen Tradition in Kirche und Gesellschaft deuten. Die historisch-kritische Betrachtung des Neuen Testaments verfolgt in der Tat nicht die Absicht, Glauben zu bewirken. 17 Es ist unbedingt daran festzuhalten, dass die wissenschaftliche Exegese des frühchristlichen Schrifttums allein von ihrem Gegenstand geleitet sein darf, unabhängig vom Sinnkriterium seines theologischen bzw. lebensdienlichen »Wertes« im Zusammenhang mit aktuellen kirchlichen Fragestellungen und Problemen. Daneben ist auch zu berücksichtigen, dass gerade die fortwährende erfahrungsproduktive Bedeutung des Bibeltextes bis heute die prinzipielle Relationalität zwischen den in ihm sich widerspiegelnden Möglichkeiten vergangenen menschlichen Seins und den erkenntnisleitenden Interessen bzw. der kulturellen Enzyklopädie seiner Rezipienten bedingt. Allein hier hat die Allegorese ihren besonderen Ort, denn sie vermag zwischen dem tradierten historischen Literalsinn des Bibeltextes und seinem kreativen aktualisierenden Gebrauch in sämtlichen kirchlichen Vollzügen immer wieder von neuem eine Brücke zu schlagen. 18 Die methodisch reflektierte, allgemein nachvollziehbare und vernünftige Beschreibung des unverfügbaren Offenbarungshandelns Gottes in der Geschichtlichkeit der biblischen Sinnentwürfe mittels des historisch-kritischen Methodenpluralismus 19 der bibelwissenschaftlichen Analysearbeit hingegen dient-- gleichsam als ihr hermeneutisch-kritisches Regulativ-- der möglichst umfassenden Explikation des Spannungsverhältnisses zwischen Bibeltext und Gegenwart und als »Anwältin der Autonomie der Texte« 20 zugleich der Abwehr von religiöser Beliebigkeit und fundamentalistischem Biblizismus. Anmerkungen 1 Vgl. G. Stemberger, Art. Schriftauslegung I. Judentum, in: TRE 30 (1999), 442-457 (hier: 444). 2 Vgl. K. Erlemann, Art. Allegorie/ Allegorese II. Neutestamentlich, in: O. Wischmeyer (Hg.), Lexikon der Bibelhermeneutik, Berlin 2009, 5 f. 3 Vgl. R. Hoppe, »Keine Prophetie ist Sache eigenwilliger Schriftauslegung« (2Petr 1,20b). Zur Begründung, Zielsetzung und zum Ertrag der historisch-kritischen Exegese, in: Th. Söding (Hg.), Geist im Buchstaben. Neue Ansätze in der Exegese (QD 225), Freiburg/ Br. u. a. 2007, 51-67 (hier: 55 f.). 4 Vgl. G. Lüdemann/ Th. Schröder, Die Religionsgeschichtliche Schule in Göttingen, Göttingen 1987; G. Lüdemann/ A. Özen, Art. Religionsgeschichtliche Schule, in: TRE 28 (1997), 618-624. 5 A. Jülicher, Die Gleichnisreden Jesu, Bd. 1, Tübingen 2 1910, 118. 6 A. Jülicher, Gleichnisreden, Bd. 1, 80. 7 F. B. Watson, Art. Allegorie/ Allegorese V. Systematisch, in: RGG 4 1 (1998), 308 f. (hier: 308). 8 Vgl. K. Finsterbusch/ M. Tilly, Ein Plädoyer für die historisch-kritische Exegese, in: Dies. (Hg.), Verstehen, »Allegorese als applikative Methode der Bibelauslegung leistet keinen Beitrag zu einem umfassenden Schriftverständnis, sondern macht die Bibel zu einer theologischen Bezeugungsinstanz ex eventu und produziert letztendlich nur religiöse Gebrauchsliteratur für den Moment. Nichts ist so überholt, wie die Allegorese von gestern.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 45 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 45 Michael Tilly Allegorisch lesen? was man liest. Zur Notwendigkeit historisch-kritischer Bibellektüre, Göttingen 2010, 9-17. 9 Vgl. P. Ricoeur, Stellung und Funktion der Metapher in der biblischen Sprache, in: Ders./ E. Jüngel (Hg.), Metapher (EvTh Sonderheft 1974), 45-70; (hier: 53 f.). 10 Vgl. J. Lauster, Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart, Tübingen 2004, 444. 11 Vgl. J. Becker, Die Herde des Hirten und die Reben am Weinstock. Ein Versuch zu Joh 10,1-18 und 15,1-17, in: U. Mell (Hg.), Die Gleichnisreden Jesu 1899-1999. Beiträge zum Dialog mit Adolf Jülicher (BZNW 103), Berlin/ New York 1999, 149-178 (hier: 153). 12 A. Schweitzer, Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, Tübingen 6 1951. Hierzu J. Roloff, Jesusforschung am Anfang des 20. Jahrhunderts, in: SBAW.PH 1998/ 4, 3-57. 13 J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, München 1992; Ders., Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 2000. 14 Vgl. M. Tilly, Jerusalem-- Nabel der Welt, Stuttgart u. a. 2002, 3 f. 15 Vgl. J. Schröter, Erinnerung an Jesu Worte. Studien zur Rezeption der Logienüberlieferung in Markus, Q und Thomas (WMANT 76), Neukirchen-Vluyn 1997. 16 J. Becker, Herde, 156. 17 Vgl. R. Hoppe, »Prophetie«, 67. 18 Vgl. J. Becker, Herde, 153. 19 Vgl. J. Lauster, Religion als Lebensdeutung. Theologische Hermeneutik heute, Darmstadt 2005, 38. 20 K. Finsterbusch/ M. Tilly, Plädoyer, 14. JETZT BES TELLEN! Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de Michael Tilly Apokalyptik UTB Pro le 2012, 144 Seiten, €[D] 12,99/ SFr 18,50 ISBN 978-3-8252-3651-9 Die Erwartung eines radikalen Endes dieser Welt begegnet in der jüdischen und christlichen Tradition seit der Antike, und bis heute gehört die Vorstellung vomnahen Weltuntergang zu den mm Glaubensüberzeugungen zahlreicher religiöser Sondergemeinschaften. Vom Holzschnitt bis zum Horrorfilm fand das Thema immer wieder Eingang in die populäre Kultur. Dieser Band bietet gezielte und präzise Informationen über die antike jüdische und frühchristliche Apokalyptik sowie eine anschauliche Darstellung der Geschichte des Phänomens von der Spätantike bis in die Gegenwart. Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 46 - 3. Korrektur 46 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Schlägt man unser Thema in den heute üblichen Handbüchern zur Exegese nach, findet man gewöhnlich Klischees und Halbwahrheiten. Was man über die Hermeneutik des Origenes liest, sind zumeist Phantasien, die eine entfernte Ähnlichkeit mit der Realität aufweisen. 2 Allegorische Auslegung gilt als eine Methode, die »einen verborgenen tieferen Sinn des Textes hinter dem Wortverständnis« annimmt. 3 Die biblischen Autoren hätten sie eben benutzt, weil sie zu ihrer Zeit üblich war. Im Mittelalter habe man diese Methode dann zur Lehre vom vierfachen Schriftsinn ausgebaut, und fast immer folgt dann der unselige Merkvers dazu, der seit Luthers Zeiten die Geister verwirrt und die denkbar schlechteste Einführung in die Sache darstellt (Littera gesta docet…). 4 Es wird höchste Zeit, dass wir ihn vergessen. Josef Schmid schreibt in der 2. Auflage des Lexikons für Theologie und Kirche: Die Probleme, die die moderne Bibelkritik findet, habe man in jenen Zeiten »teils noch nicht zu sehen vermocht, teils mit Hilfe der allegorischen Auslegung mühelos überwunden, d. h. praktisch ignoriert«. 5 Das ist eher eine Verleumdung als eine Beschreibung des historischen Sachverhalts. Eine verständnisvolle Einordnung der Allegorese unter heutigen Bedingungen ist demgegenüber Wilhelm Egger gelungen. In seiner heute leider nicht mehr gebräuchlichen »Methodenlehre zum Neuen Testament« behandelt der letzte Teil die »Lektüre unter hermeneutischem Aspekt«. Hier geht er auch auf »Lese- und Verstehensmodelle für aktualisierendes Lesen der Schrift« ein. Diese versteht er als »Amplifikation« des Textes durch Lesen in einem neuen Kontext. Als eine mögliche Form einer solchen Amplifikation versteht er auch die allegorische Lektüre als Lektüre eines Textes im Kontext der ganzen Schrift, der Liturgie, der Überlieferung der Gesamtkirche und der persönlichen Lebensgeschichte. Das lateinische allegoria übersetzt er mit »Glaubenssicht«. 6 1. Was geschieht bei einer allegorischen Deutung? Nehmen wir als Beispiel die Auslegung, die Paulus in 1Kor 10 dem wasserspendenden Felsen beim Wüstenzug des Volkes Israel gibt. Er erklärt ohne direkten Anhalt am alttestamentlichen Text: »Dieser Felsen war Christus« (1Kor 10,4). Diese Deutung ist wohl kaum im Sinne des alttestamentlichen Autors, als er diese Erzählung niederschrieb. Ebenso fremd war ihm zweifellos die Idee, mit dem Wasser aus diesem Felsen den eucharistischen Wein zu verbinden und mit dem Manna das eucharstische Brot. Aber für Paulus erzählt das Alte Testament nicht einfach die Geschichte der Vergangenheit, sondern zugleich die Geschichte der Gegenwart, freilich auf eine manchmal verborgene Weise. »Diese Dinge sind als Symbole im Hinblick auf uns geschehen« (1Kor 10,6). Das führte zu einer einfachen exegetischen Regel, die für viele biblische Erzähltexte gilt: Man ersetze nur die Protagonisten oder den Referenten durch entsprechende Beispiele aus der Gegenwart und verstehe alles in einem übertragenen Sinn, und schon hat man eine hochaktuelle Geschichte. Der Referentenwechsel ist das entscheidende Kriterium dafür, ob eine Allegorese vorliegt oder nicht. Und das entscheidende Kriterium dafür, ob eine sinnvolle Allegorese vorliegt, liefert die Frage, ob der neue Referent passend gewählt ist oder nicht. Dass diese Frage nicht immer eindeutig zu beantworten ist, steht auf einem anderen Blatt. Auch in einem bekannten Jesuswort liegt eine solche Allegorese vor. Es ist die Geschichte von der reichen Dame, die Jesus mit einem teuren Parfüm salbt (Mk 14,3-9). Die Jünger sind ärgerlich und meinen, man hätte das Geld sinnvoller verwenden können zugunsten der Armen. Jesus verteidigt die Frau, indem er zunächst bemerkt, zur Armenunterstützung hätten sie noch Gelegenheit genug, ihn aber hätten sie nicht immer. Und dann kommt der eigentliche Clou, denn Jesus macht noch einen merkwürdigen Zusatz: »Sie hat getan, was ihr möglich war. Sie hat meinen Leib vorweg gesalbt für das Begräbnis« (Mk 14,8). Daran kann die Frau nun wirklich nicht gedacht haben. Sie hatte lediglich eine Geste der Liebe und Verehrung im Sinn. Hat Jesus diese Absicht der Frau verkannt? Wohl kaum. Aber er gibt ihrer Geste bewusst einen weiteren, tieferen Sinn und wendet dabei ein ihm offenbar vertrautes Verfahren an, eben jenes, das wir heute als Allegorese bezeichnen. Er nimmt eine leichte Marius Reiser Allegorisch lesen! 1 Kontroverse Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 47 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 47 Marius Reiser Allegorisch lesen! später sehr übel genommen und konnte sich deshalb bis zur Aufklärung nicht durchsetzen. Die Aufklärung aber schüttete dann das Kind mit dem Bad aus. 9 Das allegorische Deutungsverfahren eröffnet ein Meer von Möglichkeiten: Jedes Wort, jede Geschichte, jedes einzelne Detail einer Erzählung ist potentiell als Metapher oder Symbol zu verstehen und kann nicht nur einen, sondern mehrere neue Referenten und Bedeutungen erhalten. Dem kreativen Geist scheint keine Grenze gesetzt. Stichwörter bilden Brücken und stellen ein unendliches Geflecht von Verbindungen zwischen Schriftstellen her, deren Zusammenfügung wie bei einer chemischen Reaktion Neues hervorbringt. Die Stichwortassoziation ist das häufigste Mittel bei allegorischen Deutungen. Durch eine solche Stichwortassoziation gerieten bekanntlich Ochs und Esel an unsere Krippen. Das Kind in der Krippe (Lk 2,7. 12. 16) verknüpften die Väter mit Jes 1,3: »Der Ochse kennt seinen Besitzer und der Esel die Krippe seines Herrn. Israel aber hat keine Erkenntnis, mein Volk hat keine Einsicht.« Ochs und Esel waren ursprünglich als Symbole und Aufforderung gedacht, diese Krippe mit der rechten Erkenntnis und Einsicht zu betrachten. Aber die Aufklärung, die uns das poetische und symbolische Denken abgewöhnt hat, führte dazu, dass diese Tiere als unhistorische, sentimentalische Zutaten verstanden wurden. Von den bisher genannten Beispielen her ist deutlich, was der Hauptzweck der Allegorese war und ist: die Aktualisierung. Wer einen Text der Vergangenheit aktualisieren möchte, muss ihn irgendwie symbolisch oder metaphorisch und das heißt, wenn damit ein Referentenwechsel verbunden ist: allegorisch verstehen. Damit ist aber auch deutlich, dass Predigten bis heute, soweit sie wirklich aktualisierende Schriftauslegung sind, großenteils Allegoresen darstellen. Ihre exegetischen Hauptmittel sind Metaphorisierung, Referentenwechsel und Stichwortassoziation. Vom weggerollten Stein vor dem leeren Grab können die Prediger auf die noch nicht weggerollten Steine vor unseren leeren Herzen kommen. Durch weitere Stichwortassoziationen lassen sie sich oft wild treiben, so dass der Gedanke im Gestrüpp der Metaphern nicht selten ganz verschwindet, falls er überhaupt vorhanden war. Denn den heutigen Predigern ist meistens gar nicht bewusst, wie oft sie die verpönte Methode der Allegorese anwenden. Würden sie das bewusst und gemäß den traditionellen Spielregeln dieser Form der Auslegung tun, dann wären ihre Predigten besser. Verschiebung des Bezugs der Handlung vor, indem er die Geste auf eine Situation in der Zukunft anwendet, und gibt ihr so einen zusätzlichen, neuen Sinn. Die Äußerungen des Origenes zum Thema versteht man nur, wenn man sich klar macht, dass er zur allegorischen Dimension der Heiligen Schrift nicht nur die Deutungen des Exegeten zählt, die über den Literalsinn hinausgehen, sondern auch die Metaphorik des Literalsinns selbst. Eine literaturwissenschaftlich genaue Unterscheidung zwischen der vom Autor intendierten Metaphorik und der metaphorischen Deutung eines gar nicht metaphorisch gemeinten Textes hat erst Thomas von Aquin getroffen. 7 Origenes aber war es, der erstmals in der Bibel Texte entdeckte, die nicht als Gleichnisse gekennzeichnet sind, aber wörtlich genommen »unmöglich« und deshalb nur im übertragenen Sinn als wahr betrachtet werden müssen, z. B. die Urgeschichte der Genesis (Gen 1-3). Die Zahl dieser Texte war seiner Ansicht nach sehr begrenzt und bedurfte einer gründlichen Untersuchung. 8 Diese richtige Einsicht wurde ihm Prof. Dr. Marius Reiser, geboren 1954, verheiratet. Studium in Tübingen und Paris (Katholische Theologie, Sinologie, Klassische Philologie). Promotion 1983 mit der Dissertation: »Syntax und Stil des Markusevangeliums im Licht der hellenistischen Volksliteratur« (erschienen Tübingen 1984). Habilitation 1989 mit der Habilitationsschrift: »Die Gerichtspredigt Jesu. Eine Untersuchung zur eschatologischen Verkündigung Jesu und ihrem frühjüdischen Hintergrund« (erschienen Münster 1990). Von 1991 bis 2008/ 9 Professor für Neues Testament an der Fakultät Katholische Theologie der Johannes-Gutenberg- Universität Mainz. Zum Ende des Wintersemesters 2008/ 9 Verzicht auf die Professur aus Protest gegen den Bologna-Prozess. Seither Privatgelehrter. Marius Reiser »Wer einen Text der Vergangenheit aktualisieren möchte, muss ihn irgendwie symbolisch oder metaphorisch und das heißt, wenn damit ein Referentenwechsel verbunden ist: allegorisch verstehen. « Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 48 - 3. Korrektur 48 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Kontroverse 2. Die Einheit von Altem und Neuem Testament Bildet der Kanon nicht ein Sammelsurium von Schriften? Inwiefern haben wir überhaupt das Recht, von der Bibel als einem Buch im Singular zu sprechen? Mit welchem Recht ist das Neue Testament mit dem Alten zusammengebunden? Gibt es nicht unvereinbare Widersprüche zwischen diesen beiden Teilen? Die Antwort der Väter auf diese Fragen war eindeutig: Die Bibel bildet nur als Heilige Schrift eine Einheit. Denn ihre Einheit wird nicht etwa durch einen irgendwie gearteten historischen oder traditionsgeschichtlichen Zusammenhang konstituiert, sondern einzig und allein durch den Geist, der das Ganze durchdringt. Der Heilige Geist garantiert die Einheit von Altem und Neuem Testament und rechtfertigt allegorische Deutungen. Nur auf der Ebene der allegorischen Deutungen können wir zu einer Harmonie zwischen Altem und Neuem Testament gelangen. Wer die Inspiration dieses Buches und die auf ihr basierende allegorische Deutung ablehnt, hat nur noch »menschliche Aufzeichnungen« vor sich, die sich vielfach uneins sind und Widersprüche aufweisen. Das hat Origenes bereits mit aller Deutlichkeit gesehen. 10 Die aufgeklärte Exegese lehnte Inspiration und Allegorese ab und hat seither die von Origenes vorhergesehenen Probleme. Markion spukt in vielen Formen durch die heutige Theologie. Was sollen die vielen Ritualgesetze des Alten Testaments in unseren Bibeln? Sind sie nicht, historisch betrachtet, »der Juden Sachsenspiegel«, wie Luther sagte? 11 Aber warum werfen wir sie dann nicht aus dem Kanon? Origenes und die Väter waren der Meinung, dass sie nur sinnvoll allegorisiert eine christliche Bedeutung haben. Was fangen wir mit den grausamen Eroberungskriegen im Buch Josua an? Sind sie nicht, im Literalsinn verstanden, eine Aufforderung zum Blutvergießen? Ohne Zweifel, meinte Origenes und bemühte sich deshalb, ihnen einen christlichen Sinn durch Allegorese abzugewinnen. Was sollen wir mit den sogenannten Fluchpsalmen tun? Können wir sie überhaupt beten? Viele Christen sagen »Nein« und lassen sie beim Gebet einfach weg. So machen es auch Klöster in ihren Stundengebeten. Warum streichen wir sie nicht einfach aus unseren Texten? Die historischkritische Exegese hat auf solche Fragen keine Antwort. Die Väter hatten eine. Sie erklärten: Im wörtlichen Sinn können wir diese Texte nicht akzeptieren, denn Christus hat uns die Feindesliebe gelehrt. Aber da sie in der Heiligen Schrift stehen, müssen sie einen christlichen Sinn erhalten können. Das ist nach Lage der Dinge nur durch Allegorese möglich. Wie so etwas im konkreten Fall aussehen kann, zeigt die Auslegung von Ps 137 durch Origenes. Dieser Psalm schließt bekanntlich mit der schrecklichen Seligpreisung dessen, der die Kinder Babels packt und sie am Felsen zerschmettert. Origenes beobachtet nun, dass im ganzen Psalm Jerusalem und Babel kontrastiert werden. Jerusalem ist im Neuen Testament aber ein Symbol des Gottgefälligen, Babel dagegen ein Symbol des Gottwidrigen. Beides, erklärt Origenes, haben wir auch in unserer Seele. Die Verwüsterin Babel ist ungefähr das, was wir Deutsche den inneren Schweinehund nennen. 12 Die Kinder dieser Verwüsterin sind unsere schlimmen, unreinen Gedanken und Absichten. Was können wir Besseres tun, als sie beim Schopf packen und am Felsen zerschmettern, jenem Felsen nämlich, der nach 1Kor 10,4 Christus ist. Tatsächlich lassen sich alle Einzelheiten des Psalms problemlos in dieses Deutungsmuster einfügen, und auf diese Weise erhält er einen betbaren und aktuellen Sinn. 13 Und niemand kann behaupten, dieses Deutungsmuster sei willkürlich. Die allegorische Exegese der Väter beruht auf einer durchdachten Hermeneutik und geht nach einsichtigen methodischen Grundsätzen vor. Die immer noch vielfach herrschende Ansicht unter Exegeten, die Väter hätten den Literalsinn nicht ernst genommen, verrät nur Ignoranz. Der Literalsinn ist vielmehr stets der Ausgangspunkt ihrer Exegese, der auch die Allegorese bestimmt. Im übrigen muss man sich klar machen: »Das vor der Ankunft Christi entstandene Gebetbuch des alttestamentlichen Bundesvolkes ist nicht etwa wegen der ganz seltenen prophetischen Vorausblicke auf den Messias, die sich in ihm finden, Gebetbuch der christlichen Kirche geworden, sondern weil man es in seiner Gänze christlich verstanden hat.« 14 Das Büchlein von C.S. Lewis »Reflections on the Psalms« (dt. unter dem unglücklichen »Nur auf der Ebene der allegorischen Deutungen können wir zu einer Harmonie zwischen Altem und Neuem Testament gelangen. Wer die Inspiration dieses Buches und die auf ihr basierende allegorische Deutung ablehnt, hat nur noch ›menschliche Aufzeichnungen‹ vor sich, die sich vielfach uneins sind und Widersprüche aufweisen.« »Die allegorische Exegese der Väter beruht auf einer durchdachten Hermeneutik und geht nach einsichtigen methodischen Grundsätzen vor.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 49 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 49 Marius Reiser Allegorisch lesen! Titel »Das Gespräch mit Gott«) enthält nicht nur ein ausgezeichnetes Kapitel über die Fluchpsalmen, sondern in den letzten drei Kapiteln auch so etwas wie eine literaturwissenschaftliche Einführung in das allegorische Verständnis, wie man sie bei Fachexegeten vergeblich sucht. Das Hohelied ist bei Juden wie Christen nur in seiner allegorischen Deutung kanonisch. Bereits im Jahr 1967 veröffentlichte Norbert Lohfink, ohne an Allegorese zu denken, einen Aufsatz mit dem Titel: »Die historische und die christliche Auslegung des Alten Testaments«. 15 Darin macht er eine Feststellung, die für die Alte Kirche eine Selbstverständlichkeit war: »Wir lesen das Alte Testament ja nicht deshalb so aufmerksam, weil es Zeugnis aus einer vergangenen Zeit ist-- dann müssten wir die griechische, die mesopotamische, die indische und die chinesische Literatur mit der gleichen Verehrung und Intensität lesen. Wir lesen es vielmehr, weil wir als Christen davon ausgehen, dass es Heilige Schrift, das heißt in einem hier nicht näher zu erörternden Sinn ›Wort Gottes‹ ist.« 16 Faktisch liest die heutige christliche Fachexegese die Bibel aber lediglich als Zeugnis aus einer vergangenen Zeit, nicht anders als andere Klassiker, jedenfalls dort, wo sie sich auf die sogenannte historisch-kritische Methode beschränkt. Damit bleibt sie hinter ihrer Aufgabe zurück und lässt die Prediger allein. Norbert Lohfink formuliert: »Wenn wir davon ausgehen, dass Jesus Christus das letzte und alles umfassende Wort Gottes ist, daß also die Jesus Christus verkündende Botschaft des Neuen Testaments letzter Maßstab sein muß, dann kann das Alte Testament für uns nur Wort Gottes sein, wenn es in Harmonie zur Botschaft des Neuen Testaments verstanden und ausgelegt wird.« 17 Genau das war die Überzeugung der Alten Kirche und ein Grund für die Anwendung der Allegorese. 3. Wie viele Schriftsinne gibt es? In fast allen Handbüchern wird als Gipfel der Allegorese des Mittelalters der vierfache Schriftsinn hingestellt. Meistens wird ohne weiteres so getan, als rechnete man ganz schematisch mit vier verschiedenen Schriftsinnen. Und immer folgt dasselbe Beispiel: Jerusalem in vierfacher Bedeutung. Aber diese vier Schriftsinne sind eine Schimäre der Lehrbücher, die in der Praxis keine Rolle spielt. Sie entspricht auch nicht der wirklichen Theorie. Grundsätzlich werden in der Väterzeit wie im Mittelalter nur zwei Schriftsinne oder besser: zwei Dimensionen des Textes unterschieden. Die eine ist das, was als literaler oder historischer Sinn bezeichnet wird, die andere ist die übertragene Bedeutung, die u. a. als spirituelles, symbolisches oder mystisches Verständnis bezeichnet wird. Leider benutzen manche Theologen wie Thomas von Aquin den missverständlichen Begriff »sensus« (im Singular und Plural). So weit ich sehe, ist aber häufiger von einem mehrfachen »Verstehen« oder »Erklären« die Rede. Origenes kennt den Begriff »Schriftsinn« noch gar nicht. Hennig Brinkmann spricht in seinem Standardwerk zur Allegorese des Mittelalters deshalb konsequent von »vier Verstehensweisen« des Textes. 18 Die zweite Dimension des Textes kann sehr verschiedenen Charakter haben, je nach dem Referenten, auf den ein Text metaphorisch bezogen wird. Da reichen die drei Varianten der Lehrbücher und des unseligen Merkverses bei weitem nicht hin. Im Jahr 1935 hielt Dietrich Bonhoeffer einen Vortrag über »Vergegenwärtigung neutestamentlicher Texte«. Darin kommt er auch auf die Frage der allegorischen Auslegung zu sprechen. Seine Stellungnahme ist aus der Sicht der modernen Exegese überraschend, aber nicht aus der Sicht der traditionellen: »Warum soll das Wort [der Schrift] nicht auch symbolische oder allegorische Bedeutung haben können? Entscheidend ist doch nur, und das einzige Kriterium, ob hier nichts anderes entdeckt wird als eben Christus- - also 1.) auf das Was! Auf den Inhalt der allegorischen und symbolischen und typologischen Auslegung kommt es an. 2.) Darauf, dass nur dem Wort der Schrift diese Kraft des allegorischen, symbolischen etc. Christuszeugnisses, diese Durchsichtigkeit zugemessen wird. Innerhalb dieser beiden Schranken scheint mir der allegorischen etc. Auslegung ihre Freiheit bleiben zu müssen und innerhalb dieser Schranken hat sie das Neue Testament selbst geübt. Wie dürften wir sie für unmöglich halten? Nicht als falsches Beweismittel, aber als Lobpreis auf die Fülle des Christuszeugnisses der Schrift bleibt die allegorische Auslegung eine schöne Freiheit der kirchlichen Auslegung der Schrift.« 19 Die hier von Bonhoeffer genannten Kriterien sind die seit der Väterzeit für die Allegorese geltenden. Ich würde mir wünschen, dass diese »schöne Freiheit der kirchlichen Auslegung« wieder Allgemeingut wird. »Und, könnte es nicht sein, dass uns bald eine neue allegorische Lust packte? « 20 Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 50 - 3. Korrektur 50 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Kontroverse Anmerkungen 1 Für nähere Ausführungen verweise ich auf die einschlägigen Aufsätze zu dieser Thematik in: M. Reiser, Bibelkritik und Auslegung der Heiligen Schrift. Beiträge zur Geschichte der biblischen Exegese und Hermeneutik, Tübingen 2007. 2 Wer die wirkliche Konzeption des Origenes kennenlernen will, lese M. Harl, Introduction, in: Origène, Philocalie, 1-20: Sur les Écritures (SC 302), Paris 1983, 42-157. Hilfreich ist R. Voderholzer, Die Einheit der Schrift und ihr geistiger Sinn, Einsiedeln/ Freiburg 1998, 177-234; H. de Lubac, Typologie-- Allegorie-- geistiger Sinn. Studien zur Geschichte der christlichen Schriftauslegung. aus dem Französischen übertragen und eingeleitet von R. Voderholzer, Einsiedeln/ Freiburg 1999. 3 Ch. Dohmen/ Th. Hieke, Das Buch der Bücher. Die Bibel-- eine Einführung, Kevelaer 2005, 71. 4 Zu diesem in jeder Hinsicht verunglückten Vers vgl. M. Reiser, Bibelkritik (s. Anm. 1) 139-141. 5 J. Schmid, Art. Bibelkritik: LThK 2 2 (1958) 364. 6 W. Egger, Methodenlehre zum Neuen Testament. Einführung in linguistische und historisch-kritische Methoden, Freiburg i. B. 1987, 204-222. Gut informiert auch der Art. Allegorie/ Allegorese: RGG 4 1 (1998) 303-310. 7 Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae I 1,10 ad 3; in ep. ad Gal IV 7 (ed. Fretté 21,250f ). 8 Vgl. Orig., princ. IV 3, 5 (Görgemanns/ Karpp 744-747). 9 Vgl. M. Reiser, Bibelkritik (s. Anm. 1) 355-371. 10 Orig., princ. IV 2,2 (Görgemanns/ Karpp 700). 11 M. Luther, WA 16, 386. 12 Zu diesem eigenartig deutschen Vieh vgl. Asfa-Wossen Asserate, Draußen nur Kännchen. Meine deutschen Fundstücke, Frankfurt a. M. 2010, 65-70 (»Mein innerer Schweinehund«). 13 Vgl. B. Steidle, Vom Mut zum ganzen Psalm 137 (136): EuA 50 (1974) 21-36. 14 B. Fischer, Dich will ich suchen von Tag zu Tag. Meditationen zu den Morgen- und Abendpsalmen des Stundenbuches, Freiburg i. B. 1985, 15. 15 N. Lohfink, Die historische und die christliche Auslegung des Alten Testaments, in: Ders., Bibelauslegung im Wandel. Ein Exeget ortet seine Wissenschaft, Frankfurt a. M. 1967, 185-213. 16 Ebd. 197. 17 Ebd. 18 H. Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik, Tübingen 1980. 19 D. Bonhoeffer, Vortrag über Vergegenwärtigung neutestamentlicher Texte, in: E. Bethge u. a. (Hgg.), Dietrich Bonhoeffer Werke Bd. 14: Illegale Theologenausbildung: Finkenwald 1935-1937, Gütersloh 1996, 399-421, hier: 416 f. 20 Botho Strauß, Paare, Passanten, München/ Wien 1981, 148. A. Francke Verlag • D-72070 Tübingen • info@francke.de • www.francke.de Matthias Klinghardt/ Hal Taussig (Hrsg.) Mahl und religiöse Identität im frühen Christentum - Meals and Religious Identity in Early Christianity Texte und Arbeiten zum Neutestamentlichen Zeitalter, Band 56 2012, 372 Seiten, € (D) 78,00/ SFr 105,00 ISBN 978-3-7720-8446-1 Das gemeinsame Essen und Trinken prägte wesentlich die Identität antiker Gemeinschaften: Soziales und religiöses Selbstverständnis, Zugehörigkeit und innere Struktur sowie die Abgrenzung von anderen Gruppen waren in hohem Maße durch das gemeinsame Mahl bestimmt. Unter diesem Paradigma behandeln die Beiträge des vorliegenden Bandes frühchristliche Gemeinschaftsmähler in ihrem kulturellen und religionsgeschichtlichen Kontext. Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 51 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 51 1. Die Hand in der Bibel Die Predella des Cranach-Altars in der Wittenberger Stadtkirche zeigt, wie es geht. So programmatisch wie auf den Tafeln des Altars die Grundlagen der neuen Lehre in Taufe, Abendmahl und Beichte zu sehen sind, wird hier die Predigt dargestellt. Mit Martin Luther als gestenreichem Prediger ist gleichzeitig auch ein prinzipielles Verständnis des Verhältnisses von biblischem Text und gesprochenem Wort in der Predigt zu sehen. Luthers rechte Hand weist auf den gekreuzigten Christus und auf die Gemeinde. Die andere Hand liegt auf einem Buch, auf der Bibel-- oder liegt sie darin? Er hat sie nicht weggenommen, obwohl er ja gerade nicht ins Buch sieht, sondern zu den Menschen blickt. Sucht ein Finger eine Zeile, ein Wort und bewahrt so den Kontakt zu den Worten, von denen die Gedanken sich lösen im Sprechen? Eine Geste, die Sicherheit gibt, Vergewisserung, einen Halt. Die gesprochenen Worte wehen durch den Raum, so geistgetrieben-dynamisch, dass selbst das Lendentuch des Gekreuzigten in wilde Bewegung gerät. Sie sind so beweglich. Das kann beängstigend sein. Das geschriebene Wort ist da anders. Es ist fixiert auf den Seiten. Daran kann man sich halten, auch festhalten. Liegt deswegen die Hand im Buch? Es ist eine geläufige Predigterfahrung: Wer sich festhält am geschriebenen biblischen Wort, kann Sicherheit gewinnen. Die bibelwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Predigttext nimmt auch im Ergebnis der Predigtarbeit, im Manuskript, erheblichen Raum ein. In Studium und Vikariat ist dies eine häufige Beobachtung. Das Übergewicht der Exegese in Examensarbeiten oder auch der mangelnde Zusammenhang von sorgfältig erarbeiteter Exegese und der daraus entstandenen Predigt sind oft augenfällig. Vielfach funktionieren exegetische Aussagen innerhalb der Predigt wie Rettungsanker. Bevor man die allzu beweglichen (oder auch viel zu schwerfälligen) eigenen Worte wagt, hält man sich lieber an die zwar meist strittigen, aber immerhin gut belegbaren exegetischen Einsichten zum biblischen Text. Auch erfahrene Predigerinnen und Prediger spüren häufig, dass ihre Predigt dezidiert exegetische Teile enthält. In der Predigtanalyse werden sie gelegentlich als ein Predigtbestandteil sui generis benannt: »Jetzt kommt das Exegetische.« In der Dynamik des Predigtgeschehens sind diese Abschnitte, positioniert oft nach einem motivierenden, eher lebensweltlich geprägten Einstieg oder dem Predigttext, häufig von geringer Dynamik. Im schlimmsten Fall wirken sie wie Fremdkörper und erzeugen eine spürbare Distanz zum Erleben der Hörerinnen und Hörer, die dann im weiteren Verlauf der Predigt nur sehr mühsam wieder eingeholt werden kann. Was vor vielen tausend Jahren unter irgendwelchen Flüchtlingen im Nahen Osten relevant gewesen sein mag, hat doch mit mir nichts zu tun. Auch eine von beiden Seiten wahrgenommene Distanz zwischen dem Wissensvorsprung der Theologin und des Theologen und der ahnungslosen Gemeinde tut sich auf: Dass ich als Predigthörerin des klassischen Griechisch eben nicht mächtig bin, wissen wir doch auch beide. Nachfolgend möchten wir darstellen, dass und wie es gelingen kann, exegetische Einsichten auf die Kanzel zu bringen. Dazu formulieren wir nach einem kurzen Überblick über neuere Entwicklungen in Exegese und Homiletik (2.) unsere These (3.). Anschließend geben wir, statt ein Regelwerk aufzustellen, einige kommentierte Beispiele für eine Predigtpraxis, die »das Exegetische« im Modus des RedenMit in konkrete Predigtsprache überführt (4.). Ein vertiefender Aspekt dieser Predigtpraxis wird unter der Überschrift »Anreden und Berühren« anhand eines Klassikers aus der Kinderliteratur vorgestellt (5.), bevor mit qualitätssichernden Fragen ein Fazit gezogen wird (6.). 2. Neuere Entwicklungen in Exegese und Homiletik 2.1. Die »Wut des Verstehens« Die fleißige und kundige Exegese während der Predigtarbeit (und in Maßen auch noch in der Predigt selbst) gilt weithin als Ausweis dafür, dass die protestantische Devise des sola scriptura glücklich in die Tat umgesetzt wurde. Im Kollegenkreis wird sie mit Respekt vermerkt und von anspruchsvollen Gemeindegliedern durchaus mit Wohlwollen registriert. Das ist offensichtlich insofern naiv, als damit Bibeltext und Bibelwissenschaft unter der Hand in eins gesetzt werden. Differenzierter wird dieser exegetische Anspruch so vorgebracht, dass die Exegese (vor allem in ihrer Kathrin Oxen, Karl Friedrich Ulrichs RedenMit Exegese auf der Kanzel Hermeneutik und Vermittlung Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 52 - 3. Korrektur 52 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Hermeneutik und Vermittlung Der Gemeinde soll das Ergebnis solch sorgfältiger Arbeit vorgetragen werden.« 5 2.2. Konvergenzen in Exegese und Homiletik Für unsere Frage nach dem Zusammenhang von Exegese und Homiletik wird es nützlich sein, sich die paradigmatischen Entwicklungen in Exegese und Homiletik der vergangenen Jahrzehnte klar zu machen. Die Konvergenz dieser Entwicklungen wird bisher in ihrer Bedeutung für die Predigtarbeit kaum wahrgenommen. In der Exegese hat sich eine unübersehbare Verlagerung des Schwerpunktes weg von den diachronen Methoden hin zur synchronen Analyse vollzogen. Dabei ist auch die Wahrnehmung unterschiedlicher Forschungskontexte hilfreich. Unsere historisch-kritisch geprägte Tradition mit ihrem Schwerpunkt auf den diachronen Methoden hat, so scheint es, zu einem eher akademischerklärenden Modus auch in der Predigtsprache und zur oben beschriebenen Isolierung des »Exegetischen« innerhalb der Predigt geführt. Im angelsächsischen Kontext oder auch in den Niederlanden (Amsterdamse school: Breukelman, Deurloo, Zuurmond u. a.), wird seit längerem exegetisch stärker synchron gearbeitet. Die Predigt selbst kann dadurch möglicherweise leichter zu narrativen, paraphrasierenden und emotional wirkenden Sprachmodi kommen und eine neue Art von Unmittelbarkeit erzeugen. »Es kann ja sein, dass wir nicht die ersten Adressaten des Evangeliums sind. Dann sind wir eben die zweiten Adressaten. Auch wir haben unsere Schmerzen, auch uns sterben Menschen, auch wir geraten in Schuld und brauchen Freispruch. Und so schleichen wir uns ein in die alte Nachricht.« 6 Auch die Formen engagierter Lektüre im 20. Jahrhundert, wie die feministische, die befreiungstheologisch-materialistische und die dem christlich-jüdischen Dialog verpflichtete Bibellektüre, können diese Art von Unmittelbarkeit erzeugen, indem sie versuchen, »biblische Texte für das gegenwärtige soziale und individuelle Leben fruchtbar zu machen und christliche Identität zu ermöglichen«. 7 Sie geben Anstöße, die Bibel so zu lesen, »als sei sie für uns geschrieben, für uns zum Trost, für uns zur Mahnung, für uns zum Gericht und für uns zur Hoffnung.« 8 Was exegetisch mit der Schwerpunktverlagerung von diachroner hin zu synchroner exegetischer Methoetablierten historisch-kritischen Gestalt) eine Anwältin des Textes gegenüber allzu forschen und raschen Vereinnahmungen durch Prediger und Gemeinde sei. Das ist zweifellos ein wichtiger Hinweis für die Predigtarbeit: Der Text ist zunächst als »Text für sich« wahrzunehmen. 1 In seinen Überlegungen zur »Biblizität der Predigt« macht Karl Barth als eine maßgebliche homiletische Grundhaltung den Respekt vor dem biblischen Text aus. 2 Das bedeutet immer auch, eine Domestizierung des Bibeltextes nach traditionellen, konventionellen Vorgaben, auch etablierten Methoden und eigenen Vorlieben zu vermeiden und seine prinzipielle Fremdheit zu respektieren. Der Literaturwissenschaftler Jochen Hörisch warnt mit Schleiermachers berühmtem Diktum aus der dritten Rede über die Religion vor einer »Wut des Verstehens«. 3 Dieses wütende Verstehen kann sich auch das gelehrte Gewand der Exegese überwerfen. Es bleibt dennoch eine offene Frage, wie denn genau der Schritt von der historisch-kritischen Konzentration auf den Text als solchen zur Arbeit an der Predigt getan werden kann. Dass er getan werden muss und nicht etwa exegetische Aufgaben aus der Predigtvorbereitung in die Predigt aufgenommen werden können, ist dabei unumstritten. 4 »Auf der Kanzel soll kein Exeget stehen, der erwägt, ob ein Wort so oder so zu verstehen sei. Das ist notwendige Vorarbeit, die in die Studierstube gehört. Kathrin Oxen leitet seit 2012 das Zentrum für evangelische Predigtkultur, eine Einrichtung der EKD in Wittenberg. Sie ist Pfarrerin und Absolventin der Meisterklasse Predigt des Atelier Sprache e.V. in Braunschweig und Autorin homiletischer Zeitschriften. Die Predigtbeispiele in Abschnitt 4 stammen von ihr. Dr. Karl Friedrich Ulrichs arbeitet als Dozent am Evangelischen Predigerseminar in Wittenberg; an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig versieht er einen Lehrauftrag für Neues Testament. Kathrin Oxen Karl Friedrich Ulrichs »Die fleißige und kundige Exegese während der Predigtarbeit (und in Maßen auch noch in der Predigt selbst) gilt weithin als Ausweis dafür, dass die protestantische Devise des sola scriptura glücklich in die Tat umgesetzt wurde. […] Das ist offensichtlich insofern naiv, als damit Bibeltext und Bibelwissenschaft unter der Hand in eins gesetzt werden.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 53 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 53 Kathrin Oxen, Karl Friedrich Ulrichs RedenMit dik beschrieben ist, findet einen vergleichbaren homiletischen Ausdruck in den Kategorien des »RedenÜber« und »RedenIn«, die Martin Nicol seinem homiletischen Ansatz von 2002 zugrunde legt. Ein solches »RedenIn« »entfernt sich kategorial von allem ›Reden über‹: über das Bibelwort, über Gott und die Welt, über die Gemeinde. ›Preaching from within‹ ist ›Reden in‹: Reden im Bibelwort, im Handeln Gottes, im Beziehungsgeschehen von Predigerin und Gemeinde, im Hier und Jetzt der Situation-- und mit alledem hoffentlich auch im Ereignis. Eine solche Predigt versucht-- sie versucht es zumindest, nicht über das Trösten zu reden, sondern zu trösten.« 9 Im Anschluss an die »ästhetische Wende« in der Praktischen Theologie wurde die Predigt mit der berühmten Formulierung von Gerhard Marcel Martin im Anschluss an Umberto Eco als »offenes Kunstwerk« bestimmt. Nachdem zunächst lediglich diese prinzipielle Bestimmung stattgefunden hatte, blieben Prediger mit der Aufgabe der Gestaltung solcher offenen Predigtkunstwerke zunächst auf sich gestellt. Erst die Arbeiten von Martin Nicol und Alexander Deeg gaben auch formal-homiletische Anregungen zur Predigtarbeit. Dieses ausgeprägte formal-homiletische Interesse mag ein Grund für den Erfolg des Ansatzes der Dramaturgischen Homiletik sein. Auch hier ist ein kontexttypisches Phänomen zu beachten. Im deutschen Sprachraum lag die Leidenschaft von jeher mehr bei prinzipielldenn bei formalhomiletischen Fragestellungen, während andernorts Predigten sehr selbstverständlich mit den Mitteln der Poetik und Rhetorik und anderen exegetischen Zugängen als den historisch-kritischen Methoden erarbeitet wurden. Einen beachteten ersten Versuch einer engeren Verknüpfung von Exegese und Homiletik unternahm vor zwanzig Jahren Gerd Theißen mit seinem Entwurf einer »Zeichensprache des Glaubens«. Er beschreibt seine deduktiv angelegte homiletische Methode als den Versuch, sich »die implizite Homiletik meiner eigenen Predigten bewusst zu machen« 10 und gab mit dem Konzept einer biblischen Axiomatik vielfältige Anregungen zur Variation dieser Grundmotive und zur Entfaltung des »offenen Textes« der Bibel in der Predigt. 11 »Text und Auslegung machen Vorgaben, die nicht beliebig sind, sondern einen Spielraum von Möglichkeiten für aktives Hören und Lesen eröffnen.« 12 Viele Anregungen Theißens wurden im Entwurf Martin Nicols aufgenommen 13 , dort aber stärker, als es bei Theißen der Fall ist, formal-homiletisch akzentuiert. Auch erscheint die von Theißen vorgeschlagene Axiomatik gelegentlich dem Anliegen der Entfaltung eines »offenen Textes« zu widersprechen, in dem ja immer ganz unterschiedliche Motive vorhanden sind bzw. akzentuiert werden können. So wird die Reduktion auf bestimmte Grundmotive gelegentlich doch wieder zu einem Versuch, den Text in einer bestimmten Weise zu verstehen und objektivierbar in einem Grundmotiv zu »fassen«. 3. RedenMit-- »Das Exegetische« in der Predigt Exegetisches findet in der Predigt seinen legitimen Ort, weil es der biblischen Textwelt zuzurechnen ist. 14 Zwischen protestantischem Ethos biblisch fundierter Predigt und homiletischer Kritik an blanker Exegese auf der (mit einem kleinen Katheder verwechselten) Kanzel plädieren wir für einen homiletisch reflektierten Umgang mit exegetischen Fragen in der Predigt: Exegetisches, aber nicht exegetisch, sondern homiletisch verarbeitet. Die in der exegetischen wie in der homiletischen Diskussion der vergangenen Jahrzehnte gewonnenen Einsichten können für die Predigtarbeit fruchtbar gemacht werden, wenn der biblische Text stärker als Subjekt wahrgenommen wird, als dies bislang vielfach der Fall war. Predigttexte sind keine Texte, über die gepredigt werden kann. Auch wenn der konventionelle Aufbau der Predigt diese Haltung nahelegt, indem zunächst der Text verlesen wird, um anschließend darüber zu predigen, haben die exegetischen und homiletischen Erkenntnisse der vergangenen Jahrzehnte erheblich dazu beigetragen, mit dem biblischen Text als einem wirklichen Gegenüber ins Gespräch zu kommen. Die Wahrnehmung des Textes geschieht sowohl exegetisch als auch homiletisch ausdrücklich nicht mit dem Ziel, ihn abschließend zu verstehen oder unter eine Aussage subsumieren zu können. »Nicht faktenartige Ergebnisse, sondern Spannungen sind es, die eine Inszenierung lohnen« 15 , befindet Martin Nicol und nennt ausdrücklich klassisch exegetische Zugänge als Voraussetzung der Entdeckung des Spannungspotenzials biblischer Texte, wie Literarkritik, Redaktions-, Traditions- und Formgeschichte oder auch sozialgeschichtliche Zugänge. 16 Den biblischen Text als Gesprächspartner ernst zu nehmen, heißt zunächst einmal, ihn ausreden zu lassen, bevor man ihm sozusagen mit eigenen Deutungen ins Wort fällt. Das RedenMit dem biblischen Text hat formal-homiletische Konsequenzen. Nach dem Modell von Nicol »Predigttexte sind keine Texte, über die gepredigt werden kann. Auch wenn der konventionelle Aufbau der Predigt diese Haltung nahe legt« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 54 - 3. Korrektur 54 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Hermeneutik und Vermittlung und Deeg gearbeitete Predigten verlassen auch formal entschlossen das Schema von explicatio und applicatio, indem sie ausdrücklich dazu ermuntern, den Text nicht nur vor der Predigt zu verlesen, sondern ihn selbst in unterschiedlicher Weise zum Gestaltungselement der Predigt werden zu lassen. 17 Sie suchen ausgehend von Struktur und Motivik biblischer Texte nach Formen für die Predigtsprache. Auch wenn der biblische Text zunächst wie ein »fremder Gast« 18 erscheinen mag, handelt es sich bei ihm keineswegs um einen passiv verharrenden, stummen, sondern um einen in vielfältiger Weise beredten Gast. Sich anzuhören, was er zu sagen hat, und dieses dann in eigener, biblisch inspirierter Sprache weiterzusagen, wäre eine Art zu predigen, die in Analogie zu Ingo Baldermanns Entwurf einer »Biblischen Didaktik« 19 -- Biblische Didaktik fragt nicht nach einer Didaktik, mit der biblische Texte vermittelt werden können, sondern nach der den biblischen Texten selbst inhärenten Didaktik-- als »Biblische Homiletik« bezeichnet werden kann. Es geht auf der Suche nach homiletischen Impulsen in biblischen Texten um ein zweifaches RedenMit: Der erste Gesprächsgang wird durch das Methodenreservoir der Exegese unterstützt und gehört zur Vorbereitung der Predigt, der zweite führt in die sprachliche Gestaltung der Predigt hinein. 4. Kommentierte Predigtbeispiele Im Folgenden werden einige Predigtbeispiele wiedergegeben, in denen »das Exegetische« im Sinne eines RedenMit in Predigtsprache überführt wird. Dabei werden verschiedene Methoden der diachronen Analyse ebenso fruchtbar gemacht wie mehr von synchronen Zugängen her angelegte Exegeseformen. Der jeweiligen Predigtpassage schließt sich eine kurze Einordnung und eine Identifikation des jeweiligen exegetischen Zugangs an. 4.1. Kleines Groß machen - Textkritik und Predigt Aus einer Predigt zu Mk 14,66-72: »Ich sehe Petrus in Nahaufnahme, seine Tränen, seine Verzweiflung über sein eigenes Unvermögen und ich will nicht so schnell wissen, dass ja alles so kommen musste und Jesus ihm schon lange verziehen hat, ganz zu schweigen von all dem, was hinterher noch aus ihm geworden sein soll. Wenn ich seine Geschichte höre mit ihrem dunklen, vorerst letzten Kapitel, dann frage ich mich: Kann mir das auch passieren? Kann mein Scheitern, meine Schwäche eine Geschichte werden-- oder sogar Geschichte werden? Den ersten Hahnenschrei überhört man so leicht. »Juden dürfen keine Haustiere mehr halten.« Heute weiß ich, heute wissen wir, dass das ein erster Schritt war, der zu dem Tag führte, als die Synagogen brannten und zu dem Tag im Januar, als sie fortmussten und nie mehr schrieben und nicht zurückkamen. Auf den Kirchen ringsum im Viertel saß der Hahn, das Tier der Wachsamkeit und des Verrats.« Die Passage aus einer Predigt zum Gedenken an die Reichspogromnacht 1938 nimmt auf ein textkritisches Detail des Predigttextes Bezug. In Mk 14,68 findet sich eine im ursprünglichen Text nicht vorhandene Erwähnung eines ersten Hahnenschreis, die auf der Textoberfläche als logische Ergänzung zur Erwähnung des zweiten Hahnenschreis in V. 72 fungiert. Die Predigtpassage arbeitet die uneinheitliche Überlieferung eines Textteils, des ersten Hahnenschreis, in der Motivik der Predigt zu einem Überhören eines Warnsignals um. Damit werden die Predigthörer zu einem genauen Hinhören auf Signale animiert, die den Beginn eines mit der Verleugnung des Petrus vergleichbaren Verhaltens von Verleugnung und Verrat markieren. Die Übertragbarkeit dieses Vorgangs von dem im Predigttext beschriebenen Verhalten des Petrus über das Verhalten gegenüber Jüdinnen und Juden im Dritten Reich bis zur heutigen Situation von Predigthörern verleiht der Predigt eine bis in die Gegenwart reichende Dynamik. Im Sinne eines RedenMit wird nicht das textkritische Problem zunächst erläutert, um dann ausgelegt zu werden, wodurch der Predigteinfall seiner Spannung beraubt werden würde, sondern exegetische Beobachtung wird symbolisch-metaphorisch gedeutet und direkt in Predigtsprache überführt. Es wäre zu überlegen, inwieweit beim Lesen des Predigttextes der entsprechende Versteil ausgelassen werden sollte bzw. eine Übersetzung ausgewählt werden kann, in der diese textkritische Unsicherheit berücksichtigt wird (in der Lutherübersetzung ist das nicht der Fall). Diese Auslassung sollte dann nicht wieder thematisiert werden. Auch die sich einem mehr literaturwissenschaftlichen Zugang verdankende Beobachtung, dass dies im Markusevangelium die letzte Stelle ist, in der von Petrus die Rede ist, wird zu Beginn der Passage in eine für die Hörer unmittelbar anschlussfähige Weise in der Predigt verarbeitet. Dabei wird auf eine explizite Benennung des Sachverhalts zugunsten einer die Predigt emotional verdichtenden Andeutung (das »dunkle, vorerst letzte Kapitel«) verzichtet. Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 55 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 55 Kathrin Oxen, Karl Friedrich Ulrichs RedenMit 4.2. Ins Heute holen-- Biblische Realien und Predigt 4.2.1. Aus einer Predigt zu Mt 25,1-13: »Was unterscheidet die klugen Mädchen von den anderen? Diese zehn Mädchen tragen keine kleinen Öllämpchen mit sich, wie man sich es vielleicht vorstellt und wie es manchmal dargestellt wird. Sie haben Fackeln dabei, Gefäße auf Stäben, in denen man Stoffreste verbrennen kann. In diesen Fackeln ist bei allen Mädchen das Gleiche: Alte Lumpen. Graues, zerrissenes Zeug. Es taugt nur noch zum Verbrennen. Das ist der Alltag, der nicht nur im November ziemlich grau sein kann. Und das ist alles, was man sonst noch ausgemustert hat in seinem Leben, weil es grau und löchrig geworden ist mit der Zeit. Große Wünsche, zurechtgestutzt auf ein sogenanntes normales Maß. Träume. Die haben irgendwann die Motten gekriegt und wurden dann gleich ganz eingemottet. Die Fackeln sind jedenfalls gut gefüllt. Und an Nachschub herrscht kein Mangel.« In diesem Predigtbeispiel geht es um die durchaus strittige exegetische Frage, um welche Art von Leuchtmitteln es sich bei den Lampen der zehn Jungfrauen wohl gehandelt haben mag. »Die Parabel verrät jedoch nicht, wie die Mädchen die Fackeln mit Öl zum Brennen bringen. Wickeln sie ölgetränkte Lappen um den Fackelhals (so häufig seit Jeremias 1965, 198, aber ohne Hinweis auf antike Quellen)? Oder gebrauchen sie »Gefäßfackeln« mit einem aufgesteckten Feuergefäß (Luz 1997, 471)? Der Gebrauch von Stoff als Brennmaterial ist für die Antike nicht belegt und scheint zudem weder besonders praktisch (abfallende brennende Stoffstücke, Rußentwicklung) noch ökonomisch allzu vernünftig (Stoff war schwer und teuer herzustellen) zu sein.« 20 Die Predigerin entscheidet sich für eine der vorgeschlagenen Alternativen, ohne jedoch diese Entscheidung in der Predigt eigens zu thematisieren. Ihr ist bewusst, dass die Beschreibung biblischer Realien häufig eine Art »Museumseffekt« erzeugen kann und die Distanz zwischen Hörern und biblischem Text eher vergrößert als verkleinert. Daher führt sie den exegetischen Befund weiter und entwickelt daraus ein Motiv für ihre Predigt, das die Hörer animiert, eigene Übertragungsvorgänge zu vollziehen. Die beschriebene biblische Realie verwandelt sich dadurch von einem bloß betrachteten Objekt zu einem Gegenstand im Erleben der Hörer. 4.2.2. Aus einer Predigt zu Mt 9,9-13: »Es ist Teil der Strategie der Mächtigen, dass der Hass auf das System in den Dienststellen bleibt. Das soll so sein und funktioniert gerade dort, wo es nur einen Tisch, einen Stuhl, einen Menschen gibt. Beim Zöllner in Kapernaum, beim Blockwart, beim Hausvertrauensmann. Dort beginnt der Hass auf das System-- und da ist man auch schon wieder ruhiger, wenn man endlich draußen ist. Und dort, auf der anderen Seite des Tisches, unter dem Bild an der Wand beginnt es auch, dass ein Mensch sein Herz nicht mehr spürt, Glied einer Kette wird, Rädchen im Getriebe. Matthäus ist so ein Mensch. Schon hat es begonnen, dass er sich hart macht gegen das Unverständnis der anderen. Wie kannst du nur, fragen die Augen derer, die vor seinem Tisch warten. Du bist doch einer von uns. Aber er macht sein Herz hart, bis er die Blicke nicht mehr spürt.« Die biblische Realie, die den Hintergrund dieser Predigtpassage bildet, ist nicht dinglicher, sondern sozialgeschichtlicher Natur. Die Tatsache, dass Zolleinnehmer zur Zeit Jesu im Römischen Reich als Systemkollaborateure nicht gerade wohlgelitten waren, ist eine (beispielsweise im Online-Lexikon zur Neuen Genfer Übersetzung) leicht zugängliche exegetische Information: »Jeder Zolleinnehmer musste also einen gewissen Betrag abliefern, doch was er darüber hinaus eintrieb, konnte er behalten. Dieses System leistete dem Betrug und der Ausbeutung Vorschub und führte dazu, dass der Zolleinnehmer im Urteil des jüdischen Volkes einem Räuber und Betrüger gleichgestellt war. Außerdem war er als Kollaborateur verhasst, weil er im Dienst des heidnischen Römerreiches stand, und wurde wegen seines Umgangs mit Nichtjuden als unrein und als ›Sünder‹ verachtet.« 21 In der Predigtpassage wird diese Information ebenfalls gegeben. Auch hier wird versucht, einen »Museumseffekt« zu vermeiden. Die Situation des Matthäus wird übertragen auf andere Formen der Anpassung an ein herrschendes System. Mit den Stichworten »Blockwart« und »Hausvertrauensmann« werden analoge Verhaltensweisen aus den Diktaturen der jüngeren Vergangenheit aufgerufen. Die Predigt setzt zudem auf eine emotionale Beteiligung der Hörer, indem sie ermöglicht, sich in die Situation in der »Dienststelle« des Matthäus hineinzuversetzen. Sprachlich wird das durch die Anredeform noch verstärkt. 4.3. Weiter sehen-- Kontext des Textes und Predigt Aus einer Predigt zu Mt 9,9-13: »Jesus sieht Matthäus da sitzen, am Zoll. Gerade hat er einen gesund gemacht, der auf seinem Bett lag und seine Beine nicht mehr spürte. Steh auf, hebe dein Bett auf und geh heim! Das hat der getan. Und jetzt sitzt da Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 56 - 3. Korrektur 56 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Hermeneutik und Vermittlung einer auf einem Stuhl hinter seinem Tisch, in seiner Dienststelle. Der spürt sein Herz nicht mehr. Der ist ein schwererer Fall. Den kann Jesus nicht nach Hause schicken, der muss bei ihm bleiben. Folge mir! Die schweren Fälle kommen mit Jesus. All die, die gehen und sprechen und hören und sehen können. All die, die herzgelähmt sind.« Die Predigtpassage erzeugt aus der Wahrnehmung des unmittelbar vorangehenden Kontextes des Predigttextes in Mt 9,6 ff. mit der Geschichte der Heilung des Gelähmten eine überraschende Konsequenz. Der Ruf zur Nachfolge und die ja durchaus überraschend konsequente Reaktion des Angesprochenen wird im Sinne eines reframing als Beleg für die besondere Bedürftigkeit des Matthäus nach einer Beziehung zu Jesus, zu Umkehr und Nachfolge interpretiert. Gleichzeitig wird auch die in den Evangelien selbst immer wieder aufscheinende Frage nach der Beurteilung der Wunder Jesu angesprochen. Die Predigtpassage markiert deutlich, dass für die Außenstehenden nicht immer unmittelbar einsichtig ist, wo das größere Wunder geschieht. Sie deutet damit auch grundsätzlichere Fragen nach der Hermeneutik von Wundererzählungen an. 4.4. Zusammenführen-- Intertextualität und Predigt Aus einer Predigt zu 1Kor 12,21-27: »Ich dreh den Kopf und seh mich um. Da kommen die beiden mir entgegen. Die alte Frau und die junge, Naomi und Ruth. Die beiden verbindet nichts mehr, sie sind leiblich nicht verwandt, formal könnte ihre Beziehung zu Ende sein. Die junge Frau hätte umkehren können an der Grenze. Es wäre bei einigem Nachdenken sicher viel klüger gewesen. Warum hängst du dich mit deinem ganzen Leben und mit all deinen Möglichkeiten bloß an diese alte, verbrauchte und unansehnliche Frau? Du musst ja jetzt schon langsam gehen, damit sie überhaupt mitkommen kann. Und so wird es weitergehen. Wenn du mit ihr gehst, wirst du Ausländerin und gehörst ewig zu den Benachteiligten. Was hast du davon? Ruth hat nur eine Antwort auf all diese berechtigten Fragen: Dein Gott ist mein Gott. Dass wir beide an ihn glauben, das verbindet uns. Und dieser Gott sagt: Das Schwache ist wichtig. Das Unansehnliche genießt großes Ansehen. Dem Benachteiligten kommt besondere Ehre zu.« Intertextualität, hier zunächst verstanden als die innerbiblische Beziehung zwischen Texten, wird schon immer in vielfältiger Weise für die Predigt fruchtbar gemacht. Aber auch in diesem Bereich gibt es höchst konventionelle Wege, die stereotyp werden können, etwa dann, wenn die Beziehungen zwischen alt- und neutestamentlichen Texten ausschließlich im Schema von Verheißung und Erfüllung gedeutet werden. In dieser Predigtpassage wird ein paulinischer Text mit einer alttestamentlichen Erzählung verbunden. Eine Paraphrase paulinischer Aussagen wird in die Geschichte von Ruth und Naomi eingefügt und der hohe Abstraktionsgrad der paulinischen Textwelt damit narrativ gebrochen. Zudem wird die Auslegung des paulinischen Sprachbildes vom Leib und seinen Gliedern, die ein erster Zugang für die Predigtarbeit sein könnte, einmal verlassen und damit ein unkonventionellerer Weg der Auslegung ermöglicht. Die Verknüpfung mit der Ruthgeschichte verdankt sich dem Textraum des Sonntags, der Ruth 4,9-17 als Marginaltext vorschlägt. Auch diese von der Perikopenordnung inspirierte Spielart der Intertextualität ist für die Predigtgestaltung reizvoll und ertragreich. 4.5. Bilder malen-- biblische Motive und Predigt 4.5.1. Aus einer Predigt zu Gen 28,10-19a: »Ein Kissen wie ein Stein. Nicht weit weg von dem Ort, wo Jakob lag, liegen in diesen Tagen Menschen, in Syrien und den Nachbarländern. Sie sind auf der Flucht, wie Jakob es war. Kein weiches Polster, kein Zuhause mehr und vorm Einschlafen noch einmal die Hand der Mutter auf der Stirn. Das ist vorbei. Was im Traum alles zu ihnen kommt, wissen wir nicht.« Aus der biblischen Realie einer Mazzebe 22 , auf die Jakob auf der Flucht seinen Kopf bettet, wird ein Predigtmotiv entwickelt. Dieses Motiv beschreibt zunächst Jakobs Erfahrung bei seiner Übernachtung auf der Flucht und kann dann auf die Situation von Flüchtlingen in unserer Zeit übertragen werden. Die haptisch erfahrbare Sinnlichkeit des Motivs ermöglicht den Hörern zudem einen empathischen Zugang zur Situation von Flüchtlingen auf einer ganz anderen als der kognitiven Ebene. »Intertextualität […] wird schon immer in vielfältiger Weise für die Predigt fruchtbar gemacht. Aber auch in diesem Bereich gibt es höchst konventionelle Wege, die stereotyp werden können« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 57 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 57 Kathrin Oxen, Karl Friedrich Ulrichs RedenMit 4.5.2. Aus einer Predigt zu Mt 22,1-14: »Einer, zwei, so betreten sie zögernd den Saal. Treten sich wieder und wieder die Füße ab, streichen ihre zerknitterten Kleider glatt, so gut es geht und fahren sich durchs Haar. Unsicher suchen sie sich einen Platz. Die Tischordnung gilt ja wohl nicht mehr. Vor ihnen noch die Karte mit einem Namen. Die nehmen sie vorsichtig und legen sie umgedreht auf den Tisch, bevor sie sich setzen. Wie gut, dass Musik gespielt wird. Sie wüssten ja gar nicht, was sie reden sollten an diesen Tischen voller fremder Gesichter. Als das Essen kommt und der Wein, greifen sie zu. Fleisch und Brot und Wein, reichlich und köstlich, beruhigend konkrete Zeichen für ein Fest. Und nun auch der Blick des Sitznachbarn, des Gegenübers. Ein vorsichtiges Lächeln beim Anheben des Glases. Die ersten Worte werden gewechselt, über das Essen, über den Saal und von welchem Ende welcher Straße man hier hinein gefunden hat. Aber die Gespräche verstummen wieder, als der König den Saal betritt. Er hat Ruß an den Kleidern und Blut an den Händen.« In dieser Predigtpassage wird zunächst die im Gleichnis erwähnte Situation nach der Einladung der Gäste von den Straßen (Mt 22,8-10) imaginiert. In diese Situation hinein tritt, wie im Gleichnis auch, der König. Aus der Erwähnung des Mordens und Niederbrennens in V. 7 wird das Bild des Königs mit Ruß an den Kleidern und Blut an den Händen entwickelt, das wiederum das Potential besitzt, die Hörer emotional anzusprechen. Dass es sich dabei um ambivalente Emotionen handelt, entspricht durchaus dem Charakter matthäischer Endzeitgleichnisse. 4.6. Ansprechen-- Emotion und Predigt Aus einer Predigt zu Ex 15,21f: »Du kennst das doch auch, du warst doch auch schon in Ägypten und dein Leben nichts als ein Frondienst. Du kennst das zaghafte Ziehen an den Ketten und den Ruck zurück in die Realität, die halbherzigen Versuche, wegzukommen und die Angst im Nacken, dass dich doch noch einholt, was du hinter dir lassen wolltest. Vielleicht bist du noch auf der Flucht und noch lange nicht am Ziel und es fehlt dir einfach die Luft. Hör einfach zu, wie sie singen, dort am Ufer. Davon, dass eigentlich nichts mehr zu machen war und dass doch alles anders wurde. Die Bedrückung wird einmal zu Ende sein. Du wirst nicht dein Leben lang keuchend auf der Flucht sein. Mit einem Mal bleibt die Vergangenheit zurück und vor dir öffnet sich ein neues Land. Und wenn du durch bist, wirst du singen.« Dieser Predigtschluss verdichtet noch einmal Motive des Predigttextes, die während der Predigt entfaltet wurden. Sie werden stichwortartig aufgerufen (Ägypten, Frondienst, Ketten, Bedrückung, Flucht) und den Hörern zur Übertragung angeboten. Durch die Anredeform gelingt eine Überbrückung der Distanz zwischen der existenziellen Dimension im Damals und im Heute. Eine Wendung wie Du warst doch auch schon in Ägypten ist deutungsoffen, kann als metaphorische Redeweise verstanden und auf eigene Lebenserfahrungen übertragen werden. Sinnlich erfahrbare Sprachbilder wie das Ziehen an der Kette, der Ruck zurück in die Realität, die Angst im Nacken, die fehlende Luft helfen zu einem intensiven und auch emotionalem Zugang zu dem, was in der Predigt gesagt wird. 4.7. Verzicht, Verarbeitung, Verdichtung-- Ein Fazit aus den Predigtbeispielen Das Kleine groß machen, ins Heute holen, weiter sehen, zusammenführen, Bilder malen und anreden-- es sind sich ergänzende Aspekte genauer Wahrnehmung, die den biblischen Text nicht länger als Objekt exegetischer Betrachtungsweisen behandeln, sondern ihn Subjekt und Gegenüber in einer dialogischen Situation sein lassen. Für das Gelingen dieser Weise des RedenMit dem biblischen Text in der Predigt sind drei Aspekte maßgeblich. Das RedenMit erfordert zunächst vom Prediger/ von der Predigerin einen Verzicht auf eine (Selbst)darstellung als exegetisch kundige Theologin. Dass ich weiß, was ich weiß, darf in der Predigt nicht zur Sprache gebracht werden, sondern hat ausschließlich eine dem Gelingen der Predigtkommunikation dienende Funktion. Ich darf als Predigerin also niemals die Situation des ersten RedenMit dem Predigttext auf die Kanzel holen und muss in der zweiten Phase jenes Gesprächs all das unkenntlich machen, was auf mich als predigende Person hinweisen könnte. Neben diesen Verzicht tritt als zweite Grundanforderung die Verarbeitung exegetischer Einsichten in der Predigt. Sie können niemals als reine Information in der Predigt laut werden, sondern sollen im Sinne eines Verständnisses der Predigt als offenem Kunstwerk Rezeptionsprozesse bei den Hörern anregen und befördern. Daher müssen sie überführt sein in einen Predigtgedanken, eine paraphrasierende Passage, ein sprachliches Bild oder ein Motiv in der Predigt. Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 58 - 3. Korrektur 58 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Hermeneutik und Vermittlung Schließlich sollte die Verarbeitung exegetischer Einsichten in verdichteter Form geschehen. Aus dem Umgang mit biblischer Sprache und ihrer Verarbeitung in der Lyrik lässt sich lernen, dass Sprache von biblischer Sprache gleichsam infiziert sein kann, auch ohne dass die Herkunft jeder Wendung explizit deutlich gemacht wird. Gerade der Verzicht auf explizite Erklärung trägt so zum Anliegen der Verdichtung entscheidend bei und erzeugt eine Wirksamkeit von Sprache, die in die Nähe der Wirksamkeit biblischer Texte geraten kann. Die Emotionen der Hörer können dabei im zweifachen Sinne des Wortes angesprochen werden. 5. Ansprechen und Berühren-- Kommunikation und Emotion in der Predigt Zur Frage nach der Darbietung exegetischer Informationen in der Predigt kann ein vergleichender Blick in die Belletristik weiterhelfen. Denn dort gibt es eine vergleichbare Nötigung, Information geben, um Verständnis zu ermöglichen oder zu erleichtern. Wie wird der Kommunikationsprozess zwischen Autor oder implizitem Erzähler und den Lesern gestaltet-- in welcher Form, in welcher Sprache, in welchem Gestus? Wie können literarisch Begriffe erläutert, Informationen zum historischen und sozialen Hintergrund gegeben werden-- so, dass es der literarischen Intention zugutekommt? Als instruktives Exempel dafür kann Astrid Lindgrens Trilogie »Michel aus Lönneberga« dienen. 23 Die imaginierte Erzählerin wendet sich wiederholt an die Leser, um im fiktiven Dialog mit ihnen Wissen zu vermitteln, Wissensstände abzugleichen, die für das Verständnis der Erzählung wichtig sind. 24 In direkter Anrede und in unterhaltsamem Ton werden Begriffe (»der Militärpflicht genügen«) erklärt oder historische, soziale, kulturelle Umstände (ein Kometeneinschlag, ein Armenhaus, die småländischen Blutklöße) erläutert-- beides findet sich in Predigten auch. Solche gelungene literarische Information wird also beschränkt auf das, was zum Verständnis der weiteren Erzählung zu wissen nötig ist. In einer direkten sprachlichen Beziehung zwischen dem Erzähler (nicht der Autorin) und den Lesenden begegnet ein starkes, wenn auch imaginiertes Ich, das das Du ernst nimmt als Partner im Erzählen und Lesen, das Du anspricht auf sein Mitdenken und Nachempfinden, seine Imaginationskraft (»Wenn du einmal an einem Jahrmarktstag in Vimmerby gewesen bist…«). Die ihre jungen Leser informierende Literatin vermeidet die Falle einer kognitiven Engführung, indem sie Emotionales aufruft. Und das mit literarisch kalkulierter Freundlichkeit, in leichtem, gelegentlich launigem Gestus. Ihre Informationen sind nicht Belehrung, sondern augenzwinkernde Verständigung. Das Einbringen der Information wirkt sich nicht distanzierend auf das Hören der Predigt aus. Und der Leser gerät nicht aus dem Duktus der Erzählung. Eine Distanzierung im homiletischen Dreieck zwischen Predigt-Prediger-Gemeinde ist damit vermeidbar. Die Weitergabe von exegetischen Informationen in der Predigt kann dem RedenMit dienen, mehr noch: kann als solches gestaltet sein, indem emotional formuliert, nicht referiert, sondern erzählt wird mit direkter Anrede und Humor. 6. Zusammenfassung und Ausblick Aus unseren Überlegungen zu Exegese und Homiletik können Fragen zur qualitätssichernden Selbstkontrolle abgeleitet werden, mit denen Predigende ihre eigene Predigtpraxis befragen können: Wird immer dieselbe exegetische Methode angesprochen, etwa Textkritik, Einleitungsfragen (z. B. Pseudepigraphie), Übersetzungsprobleme (hier ist besonders die Semantik des Hebräischen beliebt), biblische Realienkunde und Zeitgeschichte? Erweist sich meine exegetische Arbeit auf der Kanzel durch ihre Einförmigkeit als eine bloße Marotte? An welcher Stelle der Predigt wird Exegetisches genannt, welche Funktion hat es? Wird aus dem exegetischen Detail ein Funke geschlagen, der in der Predigt weiter glimmt, oder nur eine für das Ganze nicht nötige Pointe? Ist das exegetische Detail für die Predigt, genauer: für ihr von der Gemeinde zu leistendes Verständnis nötig-- oder für den Prediger und sein Selbstverständnis? Was fehlt der Predigt und der Gemeinde, wenn das exegetische Detail nicht genannt wird? Ein Blick zurück auf die Predella des Wittenberger Cranachaltars zeigt: Es ist die Hand des exegetisch bewanderten Predigers, die im Buch sein muss. Sie tastet »Aus dem Umgang mit biblischen Sprache und ihrer Verarbeitung in der Lyrik lässt sich lernen, dass Sprache von biblischer Sprache gleichsam infiziert sein kann, auch ohne das die Herkunft jeder Wendung explizit deutlich gemacht wird.« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 59 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 59 Kathrin Oxen, Karl Friedrich Ulrichs RedenMit nach dem Leben, das darin verborgen ist, das aufwecken und lebendig machen wird, was erstarrt und fast schon tot war. Die Hand im Buch spürt Leben, fremdes, pulsierendes, eigenwilliges Leben. Ein Puls, der sich überträgt, eine Entdeckung, die das Herz schneller schlagen lässt und den Mund öffnet. Anmerkungen 1 Vgl. P. Bukowski, Predigt wahrnehmen. Homiletische Perspektiven, Neukirchen-Vluyn 1990, 50. 2 Vgl. K. Barth, Homiletik. Wesen und Vorbereitung der Predigt, Zürich 3 1986, 58-64. 3 Vgl. J. Hörisch, Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik, Frankfurt/ M 1988; s. auch M. Josuttis, Über die »Wut des Verstehens« als homiletisches Problem: W. Engemann (Hg.), Theologie der Predigt. Grundlagen-- Modelle-- Konsequenzen, APTh 21, Leipzig 2001, 35-50. 4 Vgl. W. Engemann, Einführung in die Homiletik, Tübingen/ Basel 2002, 22 f. 5 Barth, Homiletik, 107. 6 F. Steffensky, Der Schatz im Acker. Gespräche mit der Bibel, Stuttgart ²2011, 23. 7 G. Theißen, Zeichensprache des Glaubens. Chancen der Predigt heute, Gütersloh 1994, 65. 8 Steffensky, Schatz, 22. 9 M. Nicol, Einander ins Bild setzen, Dramaturgische Homiletik, Göttingen 2 2005, 55; M. Nicol/ A. Deeg, Im Wechselschritt zur Kanzel. Praxisbuch Dramaturgische Homiletik, Göttingen 2 2013, 15 f. (hier die Schreibweise der Begriffe mit der Binnenkapitale). 10 Theißen, Zeichensprache, 9. 11 Vgl. a. a. O., besonders das Kapitel »Predigt als Chance zur Entfaltung des offenen Textes«, 45-79. 12 A. a. O., 74. 13 Vgl. Nicol, Bild, 60 f. 14 Vgl. A. Grözinger, Homiletik, Lehrbuch Praktische Theologie 2, Gütersloh 2008, 139. 15 Nicol, Bild, 86. 16 Vgl. a. a. O. 17 Vgl. Nicol/ Deeg, Wechselschritt, bes. das Kapitel »Bibelwort und Kanzelsprache«, 109 ff. 18 H. Weder, Neutestamentliche Hermeneutik, Zürcher Grundrisse zur Bibel, Zürich 2 1989, 428-435. 19 S. nur I. Baldermann, Einführung in die Biblische Didaktik, Darmstadt 1996. 20 M. Mayordomo, Kluge Mädchen kommen überall hin … (Von den zehn Jungfrauen). Mt 25,1-13, in: R. Zimmermann (Hg.): Kompendium der Gleichnisse Jesu, Gütersloh 2007, 488-503: 493. 21 http: / / www.die-bibel.de/ online-bibeln/ neue-genferuebersetzung-ngue/ lexikon/ sachwort/ anzeigen/ details/ zolleinnehmer-1 (abgerufen am 12. 1. 2014). 22 Vgl. http: / / www.bibelwissenschaft.de/ wibilex/ das-bibellexikon/ lexikon/ sachwort/ anzeigen/ details/ mazzebe-3/ ch/ 9c0 077 855bc79b756d4884b0dd0c5e5f/ (abgerufen am 10. 01. 2014). 23 Astrid Lindgren, Michel in der Suppenschüssel, orig. schwed. 1963, dt. 1964; Michel muss mehr Männchen machen, orig. schwed. 1966, dt. 1966; Michel bringt die Welt in Ordnung, orig. schwed. 1970, dt. 1970. Ähnliches ließe sich, um aktuelle Kinderliteratur zu nennen, für Kirsten Boie (z. B. Der kleine Ritter Trenk und der Turmbau zu Babel, Hamburg 2013) zeigen. 24 Dazu Vivi Edström, Astrid Lindgren. Im Land der Märchen und Abenteuer, Hamburg 1997 (orig. schwed, Stockholm 1992), 178 f. »Informationen werden nach strikten rhetorischen Regeln wiedergegeben, wenngleich auch hier der Tonfall vertraulich ist. Vor allem wird die Belehrung nicht von oben nach unten erteilt.« Vorschau auf Heft 34 »Lebenskunst« Mit Beiträgen von: Christian Strecker, Samuel Vollenweider, Judith Perkins, Thomas Popp, Klaus Berger, Theo Kobusch, Kristina Dronsch Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 60 - 3. Korrektur 60 ZNT 33 (17. Jg. 2014) Buchreport Stephen D. Moore, Yvonne Sherwood The Invention of the Biblical Scholar. A Critical Manifesto, Minneapoils Fortress Press 2011 xiii. 138 S. 22 USD Was heißt auf dem Feld der Bibelwissenschaft Alten und Neuen Testaments »anders lesen«? Stephen D. Moore und Yvonne Sherwood sind in besonderer Weise kompetent, hierauf zu antworten. Beide sind nicht nur in vielfältigen Lektüren, die über den historisch-kritischen Methodenkanon hinausgehen, bestens bewandert und vielfach ausgewiesen, sie überblicken auch das riesige Gebiet u. s.-amerikanischer literary studies und cultural studies, von wo die Bibelwissenschaften seit etwa dreißig Jahren immer wieder wichtige Impulse empfangen. Moore, Professor für Neues Testament an der Drew-Universität, forscht auf den Gebieten der literary studies, cultural studies, gender studies, queer studies, postcolonial studies und ecological studies. Als Kostprobe zwei seiner bisherigen Publikationen: Empire and Apocalypse: Postcolonialism and the New Testament, Sheffield, 2006. Und: God’s Beauty Parlor: And Other Queer Spaces in and around the Bible, Stanford 2001. Sherwood, seit 2013 Professor of Biblical Cultures and Politics an der Universität von Kent, notiert zu ihrem neuesten Buch Biblical Blaspheming: Trials of the Sacred for a Secular Age, Cambridge 2012, auf ihrer Internetseite: I explore the strange persistence (and mutation) of the logic of blasphemy, and bring the Bible into dialogue with a host of interlocutors including John Locke, John Donne and the 9/ 11 hijackers as well as artists such as Sarah Lucas and René Magritte. Will sagen: Moore und Sherwood haben nicht nur einen Begriff von »anders lesen«, sie betreiben es selbst mit Verve. Das von beiden gemeinsam verfasste Buch, das hier vorzustellen ist, ist aus drei Beiträgen in der Zeitschrift Biblical Interpretation aus dem Jahr 2010 hervorgegangen, die nun in bearbeiteter und erweiterter Fassung in Buchform vorliegen. Moore und Sherwood geht es indes nicht, wie man erwarten könnte, darum, einer im historisch-kritischen Einerlei befangenen Exegetenzunft die postmodernen Leviten zu lesen oder Nachhilfeunterricht in kontextuellen Bibellektüren zu erteilen. Vielmehr werden diese Lektüren in einen weiten forschungsgeschichtlichen Horizont gestellt, der auch auf diese Lektüren selbst ein kritisches Licht wirft. Insofern könnte der Untertitel des Buches auch lauten: a self-critical manifesto. Eine Hauptthese des Buches lautet: Postmoderne Bibellektüren sind ungeachtet ihrer stets werbewirksam vorgetragenen Innovationsversprechen Teil eines in Wahrheit schon sehr alten Projekts, nämlich der Bibel der Aufklärung (Enlightenment Bible). Damit ist einerseits gesagt: Diese Lektüren sind so wenig hintergehbar wie die Moderne selbst, die die Aufklärung hervorgebracht hat. Zugleich gilt aber: Sie partizipieren vollumfänglich auch an den Aporien, die einer über sich selbst aufgeklärten Moderne heute deutlich vor Augen stehen. Es ist wohl dieser forschungsgeschichtlichen Weitsicht geschuldet, dass dem Buch jede postmoderne Selbstgerechtigkeit und jegliche moralisierende Kurzatmigkeit völlig fern liegt. Sobald man das merkt, vertraut man sich ihm an und folgt ihm Seite um Seite auf Schritt und Tritt mit ständig steigender Aufmerksamkeit. Hinzu kommt, wie gesagt, die für Bibelwissenschaftler ungewöhnlich gute Kenntnis der amerikanischen literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschungslandschaft. Dadurch entsteht eine Doppelperspektive, die Krisen- und Niedergangsphänomene bestimmter Forschungsdiskurse diagnostiziert, bevor diese Diskurse die Bibelwissenschaft überhaupt erreicht haben. Was nicht heißt, die Bibelwissenschaft müsse sich damit gar nicht erst befassen. Sondern: Sie tue es mit Neugier, aber ohne überzogene Heilserwartungen an neue Methoden-- though we ourselves, admittedly, have delighted in spinning such soteriological stories in the past (x). Anliegen des Buches ist nicht, der Bibelwissenschaft neue Methoden zu verkaufen. Our intent, rather, is diagnostic and analytic. We want to look at what has happened, what has failed to happen, and what might yet happen in biblical studies under the heading of »Theory« (14). »Theory«, im Buch stets groß geschrieben, ist Sammelbegriff für eine Vielzahl von Ansätzen, die in der amerikanischen Literaturwissenschaft mehr oder weniger breit rezipiert wurden: Russian formalism, French structuralism, semiotics, poststructuralism, deconstruction, Lacanian and post-Lacanian psychoanalytic theory, assorted Marxisms and neo-Marxisms, reader-response criticism and Rezeptionsästhetik, »French feminist theory« (more precisely, écriture féminine), »thirdwave« feminist theory, gender studies, queer theory, New Historicism, cultural materialism, cultural studies, postcolonial studies, and (academic) postmodernism tout court, along with carefully selected slices of what is known (often polemically) as »continental philosophy« (3f ). Aus Sicht der Bibelwissenschaft nimmt man interessiert und vielleicht auch ein wenig schadenfroh zur Kenntnis, dass dieser evidente Theorieüberhang innerhalb der literary studies bereits zu deutlichen Ermüdungserscheinungen geführt hat, wie an Schlagworten wie »Post-Theory«, »After Theory«, »Reading after Theory« und »What’s left of Theory? « (4f ) hinreichend deutlich wird. Theory hat, das ist eines ihrer manifesten Probleme, auf dem Feld der literary studies die Spezies der unlettered students hervorgebracht, die, aus zweiter Hand theoriegesättigt, schlicht keine Literatur mehr kennen. Und: Theory, einst mit der Aura von Aufbruch und Abenteuer umgeben und mit großen Namen verbunden, wird Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 61 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 61 zum gelangweilt konsumierten Lernstoff, just waiting for the lecture to be over (14), dessen revolutionäres Pathos-- wir reden von deconstruction, gender-theory und postcolonialism! -- zugleich seine Antiquiertheit ausmacht: Theory atmet den Geist der 68er, und die sind nun einmal vorbei (13f ), jedenfalls einstweilen. Dass die Bibelwissenschaft von diesen Problemen weitgehend unberührt ist, gereicht ihr freilich nicht zur Ehre: Der Grund ist einfach, dass sie an diesen Diskursen bisher schlicht nur am Rande oder gar nicht teilgenommen hat. Der inhaltliche Zuschnitt der jährlichen Programmhefte nicht nur der SNTS sondern auch der SBL (die 2002 das Erscheinen der Zeitschrift Semeia eingestellt hat) spricht eine deutliche Sprache (10f ). Leitmotive der Theory-Kritik innerhalb der literary studies sind: die verlorene Liebe zur Literatur, die Banalisierung der Forschungsfelder, die Auflösung jedes Autor-Begriffs in bloße Textualität, die ästhetisch armselige politische Instrumentalisierung der Literatur und der Verlust des Humanen durch anti-humanistische Theoriekonzepte (19-27). Auf die (ohnehin marginale) Theory-Rezeption innerhalb der Bibelwissenschaft hat diese Kritik kaum durchgeschlagen, denn innerhalb dieser scientific community ist der Habitus historisch-philologischer Unterkühltheit gerade das Signum der Professionalität: lt is hard to imagine biblical scholars uniting around a critique of the coldblooded, since warm-bloodedness is not a criterion for membership in our discipline (27). Die Textkritik beider biblischer Disziplinen jenseits des Urtext-Paradigmas versteht sich gut auf einen autorlosen Textbegriff, und die ins Detail sich verlierende Kommentarphilologie ist dem poststrukturalistischen Spiel mit dem Partikularen nicht unähnlich (28- 30). Freilich gilt [i]n a final twist of irony (30) auch das Gegenteil: Mit der bibelwissenschaftlichen Theory-Rezeption war und ist auch die Hoffnung auf eine Humanisierung dieser Disziplin verbunden. Bevor hiervon zu handeln ist, bedarf aber die methodolatry and methodone-addiction (31) der biblical studies weiterer Betrachtung. Die Diagnose lautet: Die Bibelwissenschaft verwandelt alles, was sie in die Finger bekommt, in Methode, selbst solch offene Theoriekonzepte wie »Dekonstruktion« und »Intertextualität« (31-36). Der Grund: Methodenkompetenz ist in der Bibelwissenschaft als Distinktionsmerkmal in Abgrenzung zu jeglicher »nichtwissenschaftlicher« Bibellektüre, mit der man unter keinen Umständen verwechselt werden will, schlechterdings unerlässlich. Methodology is what is meant to keep our discourse on the Bible from being subjective, personal, private, pietistic, pastoral, devotional, or homiletical. Methodologie ist eine Chiffre for »objectivity«, »neutrality«, »disinterestedness« and all of the other related and foundational values of biblical studies as an academic discipline (40). Die Folge: -a mountainous excess of dull and dreary books, essays, and articles-(41f ). Wie ist aber nun die Bibelwissenschaft zu dem geworden, was sie heute ist? Zur Beantwortung dieser Frage holen Moore und Sherwood weit aus bis in die Zeit der Frühaufklärung. Ihre These lautet erstens: Die frühe Kritik der Aufklärung an der Bibel bezog sich nicht in erster Linie auf ihre historische Zuverlässigkeit, sondern zuerst und vor allem auf ihre moralische Integrität. Bestimmte Episoden der Bibel, etwa die erst im letzten Moment verhinderte Opferung Isaaks aus Gen 22, können historisch so nicht stattgefunden haben, weil sie ein Handeln Gottes beinhalten, das gegen das moralische Gesetz verstoßen würde. Gegenüber dem möglichen Verstoß der Bibel gegen das Moralgesetz war ihre historische Glaubwürdigkeit, etwa in der Wunderfrage, nachrangig. [M]iracles and immoral action waren twin branches of the one problem: exceptions to the universal law (55). Erhellend ist, wie sich etwa bei Thomas Morgan (1740) am Beispiel von Gen 22 historische und moralische Kritik zu einander verhalten: »It may be probable enough, that either Abraham had such a belief or conceit, or that Moses mistook this case; but that God, in this, or any other case, should dissolve the law of nature and make it a man’s duty … to act contrary to all the principles and passions or the human constitution, is absolutely incredible« 1 . Die Unterscheidung eines (möglichen) Irrtums des Mose oder Abrahams und dem (unmöglichen) moralischen Irrtum Gottes eröffnete den Freiraum zur sachkritischen Sichtung der biblischen Stoffe und zu historischen und philologischen Kritik. Hier kommt nun der zweite Teil der These von Moore und Sherwood zum Tragen: Die moralische Frage sei gegen Ende des 18. Jh. unbeantwortet zu den Akten gelegt worden zugunsten einer nunmehr rein historischen Bibelkritik. Die Frage »Kann etwas so geschehen sein? « wurde nun als rein historische Frage gestellt, while closing the question down in its moral or philosophical sense (58f ). In einem Akt strategischen Vergessens (strategic forgetting, 59) kaprizierte man sich auf Probleme des historisch Möglichen, während early interrogations of the Bible’s morality … collapsed back into affirmations or assumptions of its morality (59). Moralische und theologische Gültigkeit werden nun einfach vorausgesetzt, während auf historischem Gebiet die Skepsis sich austoben kann (Die daraus resultierende eigentümliche Verhältnislosigkeit von Historie und Ethik/ Theologie tritt am deutlichsten in der Johannesforschung zu Tage: Historisch behandelte man das vierte Evangelium mit dem Vorschlaghammer, theologisch mit dem Staubwedel, 63). Das moralische apriori der Frühaufklärung bleibt freilich in der weiteren Forschungsgeschichte präsent, und die vorgeblich interesselose historische Kritik ist jederzeit auf dem Sprung, das Projekt der Moral Bible zu ihrer Sache zu machen. Liberale Jesusforschung und third quest fragen nicht nach dem historischen, sondern nach dem moralischen Jesus (64), wobei die Sachkritik der Literarkritik Kriterien vorgibt, die alles andere als historisch sind. Die Arbeitsweise des Jesus Seminar hat in Thomas Jeffersons The Life and Morals of Jesus von Nazareth von 1904 einen bizarren Vorläufer: Jefferson hat seine King-James-Bibel buchstäblich »Die Diagnose lautet: Die Bibelwissenschaft verwandelt alles, was sie in die Finger bekommt, in Methode, selbst solch offene Theoriekonzepte wie ›Dekonstruktion‹ und ›Intertextualität‹ Der Grund: Methodenkompetenz ist in der Bibelwissenschaft als Distinktionsmerkmal in Abgrenzung zu jeglicher ›nichtwissenschaftlicher« Bibellektüre, mit der man unter keinen Umständen verwechselt werden will, schlechterdings unerlässlich.‹« Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 62 - 3. Korrektur 62 ZNT 33 (17. Jg. 2014) mit der Schere zerschnitten und die Schnipsel mit »echtem Jesusgut« in ein Notizbuch geklebt (65). Wie ist nun die Theory-Rezeption innerhalb der Bibelwissenschaft in diesen forschungsgeschichtlichen Bogen einzuzeichnen? Hier geht, so Moore und Sherwood, nichts Geringeres vonstatten als eine Rückkehr zu den Anfängen der Aufklärung, insofern nämlich als die moralische Frage nun neu gestellt wird, und zwar in einer Radikalität, die die venerable gentlemen der Frühaufklärung sich nicht hätten träumen lassen-- except in a nightmare (69). Feministische, postkoloniale und andere ideologiekritische Ansätze reopened the interrogation of biblical morality (69), nun aber so, dass auch die Aufklärung selbst ins Visier der Kritik gerät. Der Totalanspruch ihrer Universalbegriffe wird im Namen der moral minorities kritisiert, die sich in zahlreichen kontextuellen Bibellektüren mannigfaltig zu Wort melden (70-75). An die Stelle aufgeklärter Toleranz auf der Grundlage eines universalen Menschenbildes tritt die Toleranz des Partikularen und der Diversität (72f ). Es sind namentlich die leidenden und unterdrückten Minderheiten, die Theory-geleiteter Kritik an der Bibel ihren gültigen Ort zuweisen: Such critique is often made in the name of pain, victimization, and injustice. We hear and must hear the voices of those who have been damaged by a Bible that has repeatedly lent itself to racist, sexist, homophobic, colonizing, and other dehumanizing agendas (74). Dieser Abschnitt enthält einen der ganz wenigen normativen Sätze des Buches: We hear and must hear. Doch es bleibt ein Vorbehalt: Keinesfalls darf sich diese Kritik der Aufklärung als ihre Vollendung stilisieren. Und: Je weiter man in der Parteinahme für moral minorities die Universalbegriffe wegwirft, desto weiter muss man gehen, wenn man sie (wofür es ja Gründe geben könnte) wiederhaben will (71). Moore und Sherwood kommen am Ende des Buches hierauf zurück. Zuvor ist noch weiteres Terrain der biblical studies zu vermessen, wieder im instruktiven Vergleich mit den literary studies: Im New Criticism, der in der Zeit seiner Hochblüte von den biblischen Fächern praktisch keines Blickes gewürdigt wurde, haben diese ihr Gegenbild: Im New Criticism wurde die akademische Literaturwissenschaft zu einer affair of »unmediated« and intimate engagement with the literary artifact that set all previously distracting concern for »background« aside (77). Die damit gegebene Affinität des New Criticism zur vorkritischen Exegese ließ die Bibelwissenschaft einen weiten Bogen um diesen Ansatz schlagen, for biblical scholars have always regarded the pre-critical interpreter as their constitutive other (76). Ergebnis ist ein Expertentum, das sich nicht nur nicht um ein breites außerakademisches Publikum schert, sondern auch darum nicht, dass dieses Publikum seinerseits jedes Interesse an den Einsichten der Bibelwissenschaft zu verlieren im Begriff ist (78). Forschungsgeschichtlich lassen sich Linien zurück in die Gegenreformation ziehen, die sich darüber empörte, dass der gemeine Mann sich auf einmal unterstand, die Bibel zu lesen (78), sowie in den »Deismus« 2 , der jedes Interesse an einer »komplizierten« Bibel hatte (80). Im akademischen Diskurs ist die Bibel bis heute ein Buch der Probleme, deren endlose Diskussion die Fortdauer eines ganzen Berufsstandes sichert (80f ). Dieser Berufsstand kultiviert den Typus des biblical sub-sub-sub-specialist, der beispielsweise innerhalb des »weiten Feldes der Markusforschung« die Position des »Markan literary critic« vertritt und als subspecialist in a subdiscipline of a subdiscipline mit zwanzig Seiten Evangelientext möglicherweise ein ganzen Forscherleben zubringt (84). Es versteht sich von selbst, dass der Methodenüberhang der Theory der Bibelwissenschaft höchst willkommen ist, ist so doch gesichert, dass die zu diskutierenden Probleme absehbar für alle reichen (85). Fraglos ein Gegengewicht zu solcher Weltenthobenheit ist die Öffnung von Teilen der Bibelwissenschaft für das Politische. Die SBL presidential adress von Elisabeth Schüssler-Fiorenza von 1987 war ein Meilenstein. Auch hier folgen kritische Reflexionen: to claim the term »political« for one’s work is implicitly to claim the moral high ground and a nimbus of virtue …, while failiure on the part of others to claim that term and terrain is just as regularly construed as the mark of a (possibly moral) lack (89). Und: Theoretische Radikalität steht nicht selten in einem surrealen Gegensatz zu den gehobenen Tagungshotels, in denen die einschlägigen Vorträge gehalten werden (89f ). Schließlich und vor allem: Die Ausdifferenzierung und Pluralisierung der hermeneutischen Kontexte der moral minorities befördert einen Relativismus, mit dem der globale Neoliberalismus bestens auskommt. [A]cademic themes of plurality, difference, and even transgression dovetail all too seamlessly with Western capitalism (90). Auch auf dem Gebiet der culture ist die Bibelwissenschaft um den Nachweis ihrer Nützlichkeit nicht verlegen, und dies in besonderer Nähe zum Projekt der Aufklärung, die Bibel als Grundlage der westlichen Kultur auszuweisen (92-98). Dabei wird die Autorität des Kanons durch seine Wirkungsgeschichte noch verstärkt (im Gegensatz zu den literary studies, denen ein klar umrissenes Gegenstandsfeld im Paradigma der cultural studies völlig abhanden zu kommen droht). »Anspielungen an das äthiopische Henochbuch in Reden von George W. Bush« wären, wie jeder sofort einsieht, eine unsinnige Fragestellung (98). Theory, on entering biblical studies, this time under the rubric of cultural studies, is once again pulled into orbit around the Enlightenment Bible (94). Im Übrigen verhilft Theory einer Wissenschaft, die sich gar zu lange ungestört in den Gefilden des historisch-kritischen Positivismus bewegt hat, zu revolutionary old discoveries (99), zu der Entdeckung etwa, dass die Erkenntnis des Objekts nur über das Subjekt vermittelt ist, und dergleichen mehr, was man schon bei old man Kant (100) nachlesen kann. Einmal mehr werden Innovationsversprechen (oder -projektionen! ) forschungsgeschichtlich ins Verhältnis gesetzt. Für die Anverwandlung von Theory an die ureigenen Interessen der biblical studies bietet namentlich die Rezeption des reader-response-criticism ein anschauliches Beispiel. Dieser in den biblical studies in Gestalt der Arbeiten Wolfgang Isers ungewöhnlich breit rezipierte Ansatz could be assimilated suprisingly easily to the historicist ethos of the discipline (101). Auch hier bildet die Aufklärung den Epochenbruch: Während die Frühaufklärung einen Begriff von der Freiheit des Lesers entwickelte-- nach Anthony Earl of Shaftesbury (1711) gebührte dem Leser »the upper Zeitschrift für Neues Testament_33 typoscript [AK] - 22.04.2014 - Seite 63 - 3. Korrektur ZNT 33 (17. Jg. 2014) 63 hand and place of honour« (102)-- verwarf die Enlightenment Bible das Ideal einer Vielzahl von Bedeutungen zugunsten des einen Ursprungssinns, der nur einer Expertenkaste zugänglich war und von dieser kontrolliert wurde (102f ). Nach Moore und Sherwood besteht die Attraktivität des reader-response-criticism darin, dass er scheindemokratisch dem Leser neue Freiheiten einräumt, diesen aber tatsächlich doch wieder nur an der kurzen Leine des Autors hält. Mit dem von Iser beschworenen »Picknick«, zu dem der Autor die Worte und der Leser die Bedeutung mitbringt, verhalte es sich in Wahrheit so, dass der Leser allenfalls den Korkenzieher beisteuern darf (105f ). Hier bilden sich Strukturen heutiger Inszenierungen von Demokratie ebenso ab wie Tiefenstrukturen des sorgsamen Ausgleichs von Prädestination und freiem Willen, immer mit der Sorge, nicht durch ein Übermaß an Freiheit dem Pelagianismus anheim zu fallen (107). Überhaupt herrscht in den biblical studies vielerorts die Mentalität von Staatsbeamten, die es mit der Theory-Rezeption nur ja nicht »zu weit zu treiben« wollen (107f ). Neue Ansätze, deren Reiz in ihrer Radikalität läge, werden weichgezeichnet und auf längst Bekanntes herunter gebrochen. Narrative criticism etwa ist am Ende dann eigentlich doch dasselbe ist wie Redaktionskritik (108-110). Die Farblosigkeit bibelwissenschaftlicher Prosa ist symptomatisch (111), zugleich ist sie gewollt, denn fachwissenschaftliche credibility and authority hängen an maßvollem Ausdruck und stilistischer Zurückhaltung (112f ). An der Wissenschaftsprosa der literary studies könnte man lernen, dass es auch anders geht, doch mag sich der Exeget als »bescheidener Diener des Wortes« solche Freiheiten nicht herausnehmen (113f ). Dass auch die Exegeten an einem babylonischen Turm bauen, intent on making a name for themselves (114), ist unbenommen. Nach wie vor stabil ist der aus Aufklärung und liberaler Theologie ererbte Konsens über die moralische Integrität der Bibel (116f ). Feministische Exegese und postcolonial criticism, die noch am ehesten geeignet wären, die moralische Frage (als eine echte Frage! ) aus ihrem Jahrhunderte währenden Schlaf zu wecken, sind in dem Maße ihrer Kraft beraubt, wie sie sich in den bunten Reigen kontextueller Lektüren einordnen lassen (117f ), denn die zahllosen Lektüren from the margins irritieren den mainstream umso weniger, je zahlreicher sie werden (118f ). Die von Moore und Sherwood beobachtete grassierende Ausdifferenzierung und Fragmentierung dieses Feldes-- was früher einfach Indian tribal theology war, ist längst zerfallen in Ao, Khasi, Mizo theologies (R.S. Sugirtharajah, 120)-- macht die Verständigung auf gemeinsame Werte wie soziale Gerechtigkeit oder Menschenrechte zunehmend schwierig. An dieser Stelle beobachten Moore und Sherwood Anzeichen für eine Gegenbewegung, die sie Theory in the second wave (115-131) nennen. Während sich die biblical studies noch immer in emphatischer Distanz zu ihrem Gegenstand üben (so als gälte es, die fachfremden Kollegen davon zu überzeugen, dass der theologische Hörsaal nicht der Ort für Zeugnisgeben, Zungenreden und Bekehrungspredigt ist, 123), macht sich innerhalb der Theory ein vermehrtes Interesse an Religion bemerkbar. Derrida und Badoiu sind nur zwei Namen aus einer Liste, die sich wie das Who’s Who of High Theory liest (124). Diese Gegenbewegung ist allemal bemerkenswert: Während die Bibelwissenschaft ihren Gegenstand säkularisiert, fragt Theory nach Religion (126) und entwickelt zugleich ein neues Interesse an big bad oldfashioned words, among them universalism, democracy, humanism…, faith, belief, Christianity, the messianic, Saint Paul, truth, justice, forgiveness, friendship, the kingdom, the neighbour, hospitality, and even, for God’s sake, evil (127). Nicht nur Religion im Allgemeinen, sondern auch die Bibel im Besonderen is now being used as a resource for philosophers to think beyond the limits of empiricism, ontology, and metaphysics (129). Welche Perspektiven sich daraus für die biblical studies künftig ergeben, ist offen. Es gilt aber Ausschau zu halten nach modes of biblical analysis that cannot at present easily be envisioned (131). Unerlässlich ist dabei die ständige Bereitschaft, sich auf eine Reflexion der eigenen Denkgewohnheiten einzulassen: Welches system of exclusions konstituiert unsere disziplinäre Identität? Und in welchem Verhältnis steht dieses System zu den Denkweisen, die wir »modern« nennen (130)? Dass das Buch mit einer offenen Frage endet, erhöht nur die Glaubwürdigkeit der darin vorgetragenen Kritik und die Dringlichkeit des Appells, der seinen Schlusssatz bildet: We need to find religion. Manuel Vogel Anmerkungen 1 Thomas Morgan, The Moral Philosopher in a Diologue between Philalethes, a Christian Deist, and Theophanes, a Christian Jew, Vol.3, London, 1740, 134-35 (Zitat im Buch S. 56). 2 Da »Deismus« eine polemische Fremdzuschreibung ist, gebrauchen Moore und Sherwood diese nur in Anführungszeichen. »We need to find religion.« Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Kurt Erlemann / Irmgard Nickel-Bacon Gleichnisse, Fabeln und Parabeln Exegetische, literaturtheoretische und religionspädagogische Zugänge UTB S 2014, 144 Seiten, €[D] 12,99/ SFr 18,70 ISBN 978-3-8252-4134-6 Der Band beschäftigt sich mit den Gleichnissen in der Theologie und Literatur. Das bisherige Nebeneinander des literaturwissenschaftlichen, des theologisch-exegetischen und des religionspädagogischen Zugangs wird aber zugunsten einer Gesamtsicht überwunden. Die Hauptkapitel untergliedern sich in einen Überblick über die Grundfragen und die wichtigsten wissenschaftlichen Diskurse, in eine formkritische Einführung, eine Darstellung der Auslegungsmethodik sowie in Fallbeispiele für die Anwendung in der Praxis. Ein Serviceteil mit Glossar und Literaturhinweisen rundet den Band ab.