ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
2014
1734
Dronsch Strecker VogelZeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 1 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 1 Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, seit fünf Jahren gibt es in unserer Schullandschaft ein neues Unterrichtsfach. Es heißt »Glück«, geht auf die Initiative eines Pädagogen aus Baden-Württemberg zurück und erfreut sich zunehmender Beliebtheit bei Lehrerinnen und Lehrern, die sich an einem eigens gegründeten Institut darin ausbilden lassen und dann »Glück« als Wahlfach unterrichten können. Im Neuen Testament kommt das Wort »Glück«, griechisch eudaimonia, nicht vor, ebenso wenig der Begriff »Lebenskunst«, griechisch technē peri ton bion, der diesem Heft der ZNT sein Thema gegeben hat. Reden also das Neue Testament und die gemeinte Sache an einander vorbei? Der Buchreport von Hanna Roose-- um das Editorial einmal mit dem letzten Beitrag beginnen zu lassen-- scheint in diese Richtung zu weisen: Der 29. Jg. des Jahrbuchs für Religionspädagogik zu »Glück und Lebenskunst« kommt mit nur wenigen neutestamentlichen Referenzen aus, um das Thema aus religionspädagogischer Sicht suffizient zu behandeln. In historischer Perspektive ist freilich bemerkenswert, dass die frühen Christusanhänger inmitten lebhaft philosophischer Glücksdebatten nachhaltig auf sich aufmerksam machen konnten, ohne sich in ihren später als kanonisch angesehenen Schriften an diesen Debatten explizit zu beteiligen (auch in der Bibel Israels spielt »Glück« terminologisch nur eine kleine Nebenrolle). Der Beitrag von Christian Strecker führt mitten in diese historischen Kontexte hinein, wenn er hellenistische Philosophie und paulinisches Denken einander gegenüber stellt. An Paulus wird beispielhaft deutlich, wie frühchristlicher Glaube philosophische Fragen gelingenden Lebens auf dem Hintergrund einer lebensbestimmenden Transformationserfahrung anders gestellt und anders beantwortet hat. Zugleich führt Streckers Beitrag kundig in gegenwärtige philosophische Diskurse ein und gibt auf diese Weise wichtige Anregungen für die theologische Urteilsbildung im Kontext aktueller Debatten um Glück und Lebenskunst. Bernhard Lang ergänzt Streckers Beitrag um eine so ungewöhnliche wie sachhaltige Facette antiker Lebenskunst, wenn er Jesus und den Kyniker Diogenes als Geistesverwandte vorführt. Der in der neutestamentlichen Wissenschaft wenig beachtete Kynismus weist in der Betonung von Besitzverzicht und sozialem Außenseitertum wichtige Gemeinsamkeiten mit dem Auftreten und der Botschaft Jesu auf. Lebenskunst wird kynisch nicht mittels Affektkontrolle erreicht wie in der Stoa, sondern auf dem Wege sozialer Abwärtsorientierung. In eine ähnliche Richtung weist der Beitrag von Judith Perkins, der in einem instruktiven philosophie- und literaturgeschichtlichen Brückenschlag von der Stoa über die antiken Romane bis zu den apokryphen Apostelakten führt. Perkins fragt nicht in erster Linie nach antiker Lebenskunst, sondern in sozialgeschichtlicher Ausrichtung nach ihren Möglichkeitsbedingungen: Subjekt eigener Lebenskunst können nur die sein, die sozial als Subjekte überhaupt wahrgenommen und anerkannt werden. Kristina Dronsch ersetzt den Begriff der Lebenskunst durch den der Lebensform. In einer eindringlichen Analyse eines johnneischen Konzepts macht sie damit zweierlei deutlich: Die Prägung christlichen Denkens durch seinen Christusbezug sowie die bereits eingangs beobachtete Nachrangigkeit einer expliziten Glücksdebatte im Neuen Testament. Die bei Perkins sich abzeichnenden alternativen Zugangsweisen zum Subjektbegriff werden in der Kontroverse thematisiert: Während Theo Kobusch subjektive Entscheidungs- und Handlungsfreiheit anthropologisch verbürgt sieht, liegt die Gegenposition von Manuel Vogel auf der Linie des Beitrages von Judith Perkins: Namentlich an Paulus lasse sich ein soziales Apriori der Subjektkonstitution ablesen. Thomas Popp bringt mit dem 1. Petrusbrief eine neutestamentliche Schrift ins Gespräch, die sich nicht nur in Fragen der Lebenskunst häufig mit einem Randdasein begnügen muss. Er zeigt aber unter dem Leitbegriff der »Konvivenz«, dass 1Petr hierzu maßgeblich etwas zu sagen hat, und verweist damit einmal mehr die Lebenskunstdiskussion in den Raum des Sozialen. Außerdem zeigt der 1. Petrusbrief exemplarisch, dass die neutestamentlichen Schriften das Thema Lebenskunst auf unvermutete Weise zu erschließen vermögen. Als Personalie ist zu vermerken, dass Sebastian Kropp, der die ZNT während der vergangenen fünf Jahre von Jena aus stets zuverlässig, sorgfältig und umsichtig redaktionell betreut hat, zum 1. Oktober dieses Jahres in ein neues berufliches Umfeld wechselt. Wir danken ihm für alle geleistete Arbeit. Für seine weitere Zukunft wünschen wir ihm von Herzen alles Gute. Stefan Alkier, Eckart Reinmuth, Manuel Vogel Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 2 - 2. Korrektur 2 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Aus dunkler, archaischer Zeit ragt er in die unsrige hinein. Entstellt und seiner Extremitäten beraubt, ist er doch voller Anmut. Brust und Bauch enthüllen gestählte Muskelkraft. Bar seines Hauptes bietet er sich uns dar-- und erscheint gerade so voller Charakter: ein glühender Torso, gleich einem strahlenden Leuchter, der in und kraft seiner Fragmentarität zu berücken vermag, die Betrachtenden wie ein Stern anleuchtet, ja, das Verhältnis von Betrachtenden und Betrachtetem verkehrend, sie durchleuchtet und ihnen von jeder Stelle aus wortlos, aber doch unüberhörbar eine Botschaft vermittelt: »Du mußt dein Leben ändern.« So beschreibt Rainer Maria Rilke in hohem Ton in einem seiner berühmten Gedichte einen Torso des Apollon, der griechischen Gottheit des Lichts, der Heilung, der ekstatischen Mantik und der Künste, Sinnbild der Vernunft und Stärke. Die Verse lauten: »Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, darin die Augenäpfel reiften. Aber sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug der Brust dich blenden, und im leisen Drehen der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen zu jener Mitte, die die Zeugung trug. Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz unter der Schultern durchsichtigem Sturz und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle; und bräche nicht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.« Das Gedicht erschien unter dem Titel »Archaischer Torso Apollos« 1908 in dem Band »Der neuen Gedichte anderer Teil«. Die Verszeilen gehen zurück auf Rilkes Zeit in Paris, als er den prominenten französischen Bildhauer Auguste Rodin aufsuchte, sich intensiv mit dessen Plastiken beschäftigte und für acht Monate zwischen 1905 und 1906 sogar als sein Sekretär fungierte. So ist es mutmaßlich jener Apollon-Torso aus dem römischen Theater von Milet, der im Pariser Louvre zu sehen ist, der Rilke zu den Versen inspirierte. Die Anziehungskraft des berühmten Gedichtes erwächst nicht zuletzt aus dem raunenden Schlusssatz: »Du mußt dein Leben ändern.« Ausgelöst durch die immense Vitalität, die das Kunstwerk noch als Torso auf Rilke ausstrahlte, traf dieser leidenschaftliche Imperativ den mit seiner eigenen Kunst ringenden Dichter offenbar wie eine über die Zeiten hinweg in den Stein eingelassene Botschaft in Mark und Bein. Ins dichterische Wort gefügt, rüttelt die Botschaft die Lesenden wie eine aus grauer Vorzeit tönende Weisung Apollons noch heute auf. Doch an dem berühmten Apollontempel in Delphi, in welchem Pythia, ekstatisch ergriffen von Apollon, den ratsuchenden Pilgern weissagende Rätselsprüche kundtat, an diesem Tempel stand bekanntlich nicht: »Du mußt dein Leben ändern«, sondern: GNŌTHI S[E]AUTON. »Erkenne Dich selbst! « Die berühmte Aufforderung zur Selbsterkenntnis hatte wohl ursprünglich folgenden Sinn: Mensch, erkenne deine Hinfälligkeit, deine Sterblichkeit! Erkenne, dass du kein Gott bist! Begreife im Angesicht der Vollkommenheit der Götter deine menschliche Begrenztheit! 1 Die Einsicht in die Begrenztheit des Menschen prägte dann auch die sokratisch-platonische Philosophie. Allerdings bestimmte die klassische griechische Philosophie die Vernunft bzw. das Vernunftvermögen (gr.: nous) als göttliches Prinzip im Menschen und ließ die Erkenntnis des Selbst im Wesentlichen in der Erkenntnis dieses Göttlichen im Menschen gründen (Platon, Alkibiades I, 132b-133c). Die freie und kraftvolle Entfaltung des göttlichen Elements im Menschen, d. h. die Herrschaft der Vernunft, vermochte in dieser Philosophie dann auch ein glückliches Leben, ein Leben in Wohlergehen, zu verbürgen. Schließlich verknüpfte die hellenistische und kaiserzeitliche Philosophie die Selbsterkenntnis mit der Sorge um das eigene Selbst (gr.: epimeleia heautou; lat: cura sui). Das wahre Selbst und ein glückliches Leben waren für die antiken Philosophen aber nur um den Preis einer fundamentalen Änderung des Menschen, einer grundlegenden Transformation seiner Person zu erlangen. Und hier schließt sich der Kreis. »Du mußt Christian Strecker Ritual oder Übung? Ereignis oder Wiederholung? Rettung oder Glück? Gedanken zur frühchristlichen Lebenskunst im Corpus Paulinum Neues Testament aktuell »›Du mußt dein Leben ändern! ‹ Die Rilkesche Losung war gewissermaßen unausgesprochen das Fundament, auf dem die antike Philosophie der Selbstsorge aufbaute.« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 3 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 3 Christian Strecker Ritual oder Übung? Ereignis oder Wiederholung? Rettung oder Glück? Trend, eine Kunst des richtigen Lebens zu etablieren. In aller Regel sind die Sachwalter und Sachwalterinnen der Lebenskunst freilich weit von der Gelehrsamkeit und provokativen Schärfe der Argumentation Sloterdijks entfernt. Zumal das Internet bietet eine kaum mehr überschaubare Fülle oft unterkomplexer und geistesarmer Ratschläge zur Lebenskunst. Nicht selten wird sie als bloße Kunst des Weglassens oder als Kunst des Loslassens angepriesen. Ein eigens mit dem Label »Lebenskunst.de« versehener Internetshop bietet konsumorientiert gar eine ganze Palette entsprechender Literatur und Konsumgüter an. Und natürlich sind Statistiken unvermeidlich, etwa, wenn uns vorgerechnet wird, in welchem Lebensalter es am besten mit der Lebenskunst klappen könnte. 4 Seit geraumer Zeit sickert das Thema »Lebenskunst« aber auch massiv in den christlichen Büchermarkt ein, sei es, dass der allseits bekannte Benediktinerpater Anselm Grün sich dazu äußert, 5 sei es, dass akademische Theologen wie Peter Bubmann und Bernhard Sill ein Konzept christlicher Lebenskunst zu entwickeln suchen. 6 Auf ihre Weise greifen auch diese Autoren das Paradigma des fortwährenden, gezielten Übens auf, um nun eben das Einüben einer spezifisch christlichen Lebenskunst zu propagieren. Nicht unerwähnt darf schließlich bleiben, dass sich neben Sloterdijk auch in der Philosophie zahlreiche Autorinnen und Autoren des Themas annehmen und auf unterschiedlichem Niveau diverse philosophische Hilfen zur Praxis einer philosophischen Lebenskunst anbieten. Einer der prominentesten und profiliertesten Philosophen auf diesem Feld ist Wilhelm Schmid. Er beschreibt das Grundkonzept seiner Philosophie der Lebenskunst wie folgt: »Die reflektierte Lebenskunst setzt an bei der Sorge des Selbst um sich, die zunächst ängstlicher Natur sein kann, unter philosophischer Anleitung jedoch zu einer klugen, vorausschauenden Sorge wird, die das Selbst nicht nur auf sich, sondern ebenso auf Andere und die Gesellschaft bezieht.« 7 Deutlich anspruchsloser fallen dagegen etwa die Beiträge der philosophischen Beraterin Rebekka Reinhard aus. 8 Vor diesem Hintergrund stellt sich nun die Frage, ob und inwieweit sich in der ersten frühchristlichen Theologie, die wir kennen, der Theologie des Apostels Paulus, eventuell ebenfalls der Entwurf einer Lebenskunst abzeichnet. Mit anderen Worten: Lässt sich im Corpus Paulinum das Konzept einer irgendwie gearteten Sorge um das Selbst, das Modell einer auf gelingendes Leben hin angelegten Transformation des Menschen (»Du mußt dein Leben ändern«), das Praxisprojekt einer regelrechten Einübung ins neue Sein entdecken? Präsentiert uns Paulus das Leben »in Christus« gewissermaßen dein Leben ändern! « Die Rilkesche Losung war gewissermaßen unausgesprochen das Fundament, auf dem die antike Philosophie der Selbstsorge aufbaute. »Du mußt dein Leben ändern.« Dieser Gedichtzeile Rilkes bediente sich unlängst auch Peter Sloterdijk als Titel für sein vielbeachtetes Buch über den Menschen als übendes Wesen. 2 In seinem umfänglichen philosophischen Essay bestimmt Sloterdijk den Menschen im Näheren als sich vermittels asketischer Praktiken selbst erzeugendes und v. a. auch über sich selbst hinauswachsendes Tier. Er ruft darin den Einzelnen und Kollektive dazu auf, gegen das grassierende Trägheitsvirus der Moderne anzukämpfen und sich an den Trainingsplänen und Höchstleistungen zahlreicher Virtuosen zu orientieren, seien es über sich hinauswachsende Sportler, Künstler, Krieger, Akrobaten oder Schreiber, um ihnen nachfolgend die Selbstbildung, ja Selbststeigerung des Humanen voranzutreiben. Der Mensch stünde in einer Vertikalspannung. Er sei als übendes Wesen auf Höheres, auf die Vervollkommnung seiner selbst angelegt. Diesen Grundgedanken entnimmt Sloterdijk dann auch dem zitierten Rilkeschen Gedicht: Der Torso Apollons repräsentiere ungeachtet seiner materiellen Verstümmelung Vollkommenheit. Das Gedicht richte diese Vollkommenheit als Appell an uns. 3 Diese Vollkommenheit ist bei Sloterdijk indes nicht mehr am Göttlichen orientiert. Sloterdijk greift mit seinem Buch einen allenthalben in unserer Gesellschaft beobachtbaren Trend auf, den Prof. Dr. Christian Strecker studierte Evangelische Theologie in Neuendettelsau, Hamburg, Heidelberg und Tübingen. 1996 Promotion. 2003 Habilitation. Vertretungsprofessuren in Heidelberg (2005-2006), München (2006/ 07), Mainz (2007) und Neuendettelsau (2004; 2009). Seit 2010 Professor für Neues Testament an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. Forschungsschwerpunkte: Paulusforschung, Jesusforschung, Kulturwissenschaftliche Exegese des Neuen Testaments, Ritual- und Performanzforschung, Philosophische Perspektiven. Christian Strecker Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 4 - 2. Korrektur 4 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Neues Testament aktuell als spezifisch messianische Lebensform? Und wenn ja, wie sieht diese aus? Angesichts der Komplexität der paulinischen Theologie auf der einen und der Vielfalt antiker Philosophien der Lebenskunst auf der anderen Seite kann dieser Fragenkomplex hier nur bruchstückhaft erörtert werden. Dies soll in drei Schritten geschehen: In einem ersten Schritt soll in aller Kürze die »Wiederentdeckung« der antiken Philosophie als Lebenskunst vor Augen geführt werden, um auf dieser Basis dann einige wesentliche Konturen der antiken philosophischen Lebenskunst nachzuzeichnen. In einem zweiten Schritt soll erörtert werden, ob und inwieweit es überhaupt sinnvoll ist, die Aussagen des Apostels Paulus vor dem Hintergrund antiker philosophischer Diskurse auszuleuchten. Schließlich soll in einem dritten und letzten Schritt die Schlüsselfrage beantwortet werden, ob und inwiefern sich in den Schriften des Apostels eine frühchristliche Lebenskunst abzeichnet. 1. Die Wiederentdeckung der antiken Philosophie der Lebenskunst Maßgeblichen Anteil an der gegenwärtigen Wiederentdeckung der antiken Philosophie als Philosophie der Lebenskunst hatte Michel Foucault. Der französische Philosoph war in seinen Studien zur Analytik der Macht an eine Grenze gestoßen. Die von ihm in den Büchern »Überwachen und Strafen« und »Der Wille zum Wissen« herausgearbeitete Einkerkerung des menschlichen Daseins in ein umfassendes Netz der Machtbeziehungen, aus dem es kein Entrinnen zu geben schien, zeichnete ein allzu düsteres Bild. 9 Foucault suchte nach Auswegen, nach Räumen der Freiheit, nach Existenzformen der Selbstregierung. Und er meinte diese in jenen Ratschlägen zur praktischen Lebensgestaltung angesprochen zu finden, die uns in zahlreichen Schriften antiker Philosophen-- angefangen von den platonischen Dialogen bis hin zur späten Stoa-- überliefert sind. Er erblickte in diesen Ratschlägen eine Form der Ethik, die allein Sache der persönlichen Entscheidung war, wenigen Leuten vorbehalten blieb und von daher kein einzwängendes Verhaltensmuster für jedermann sein wollte, kurzum: eine nicht normative und »nicht normalisierende« Ethik, eine Ethik, die folglich durch die Maschen des allerorten ausgebreiteten, eng geknüpften Netzes der Machtbeziehungen fiel. Foucault publizierte diese These umfassend begründet in seinen beiden letzten, kurz vor seinem Tod 1984 erschienenen Büchern »L’usage des plaisirs« (»Der Gebrauch der Lüste«) und »Le souci de soi« (»Die Sorge um sich«). 10 Vor deren Veröffentlichung stellte er in einem Interview mit dem Philosophen Hubert Dreyfus und dem Ethnologen Paul Rabinow die wichtigsten Einsichten der beiden Bücher vor. Darin findet sich folgender Satz: »Mir fällt auf, daß Kunst in unserer Gesellschaft zu etwas geworden ist, das nur Gegenstände, nicht aber Individuen oder das Leben betrifft, daß Kunst etwas Gesondertes ist, das von Experten, nämlich Künstlern gemacht wird. Aber könnte nicht das Leben eines jeden ein Kunstwerk werden? Warum sollten die Lampe oder das Haus ein Kunstgegenstand sein, nicht aber unser Leben? […] Aus der Idee, daß uns das Selbst nicht gegeben ist, kann meines Erachtens nur eine praktische Konsequenz gezogen werden: wir müßen uns selbst als ein Kunstwerk schaffen.« 11 Diese aus seiner Beschäftigung mit der antiken griechisch-römischen Philosophie heraus gewonnene Vorstellung, man könne, ja man solle in Freiheit sein Leben zu einem Kunstwerk erheben, prägte Foucaults Denken und Leben in seinen letzten Jahren maßgeblich. Wie sein eindrücklich souveräner Umgang mit dem eigenen Tod im Jahr 1984 dokumentiert-- viele seiner Freunde berichteten ehrfurchtsvoll davon--, war er bemüht, diese Vorstellung in seiner eigenen Existenz umzusetzen. Darüber hinaus suchte er die besagte Vorstellung in seine gesamte Philosophie einzubinden, indem er vier grundlegende Praxisformen, vier basale menschliche Kunstfertigkeiten bzw. Technologien unterschied: »1. Technologien der Produktion, die es […] ermöglichen, Dinge zu produzieren, zu verändern und auf sonstige Weise zu manipulieren; 2. Technologien von Zeichensystemen, die es […] gestatten, mit Zeichen, Bedeutungen, Symbolen oder Sinn umzugehen; 3. Technologien der Macht, die das Verhalten von Individuen prägen und sie bestimmten Zwecken oder einer Herrschaft unterwerfen, die das Subjekt zum Objekt machen; 4. Technologien des Selbst, die es dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verändern, daß er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt.« 12 Denk- und Handlungshorizont der letztgenannten Kunstlehren des Selbst war für Foucault, wie die Zielbestimmungen »Glück, Reinheit, Unsterblichkeit« implizit anzeigen, neben der Philosophie zumal auch die Religion. Er erkannte und anerkannte zusehends die hohe Relevanz der Spiritualität als Raum der Selbstübung, Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 5 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 5 Christian Strecker Ritual oder Übung? Ereignis oder Wiederholung? Rettung oder Glück? als Horizont der Transformation des Selbst durch die Beziehung zur Wahrheit. Zunächst unabhängig von und dann in Verbundenheit mit Foucault arbeitete auch der französische Philosoph und Historiker Pierre Hadot die große Bedeutung der Lebenskunst und der Technologien des Selbst in der antiken Philosophie heraus. Einschlägig hierfür ist sein Buch »Philosophie als Lebensform« 13 . Darin führt er eindrücklich vor Augen, dass es der antiken Philosophie im Kern nicht um abstrakte Theorien ging, nicht um theoretische Diskurse, sondern um die Formung der Seele, um eine neue Art zu leben bzw. um die Kunst, vermittels bestimmter Übungen wie Meditation, Kontemplation der Natur Wohlergehen (gr.: eudaimonia) zu erlangen. Nach Hadot sind die antiken philosophischen Werke folglich »unter dem Blickwinkel der Vertrautheit mit den geistigen Übungen zu betrachten. Die Philosophie erscheint sodann in ihrer ursprünglichen Gestalt, nicht mehr als eine theoretische Konstruktion, sondern als eine Methode der Menschenformung, die auf eine neue Lebensweise und ein neues Weltverständnis abzielt, als eine Bemühung, den Menschen zu verändern.« 14 Das Christentum habe sich die philosophischen »geistigen« Übungen in der Alten Kirche einverleibt, sie in »geistliche« Übungen verwandelt, was nach Hadot zur Folge hatte, dass der philosophische Diskurs mehr und mehr zu einem rein theoretischen wurde. Unabhängig von der Frage, ob man Hadots Meistererzählung über die Entwicklung der geistigen Übungen im Detail zustimmen mag oder nicht, 15 besteht kein Zweifel, dass die antike Philosophie auf die Formung des Lebens im Sinne einer Kunstfertigkeit, einer technē zielte. 16 Der direkte Äquivalenzbegriff einer solchen Lebenskunst (gr.: technē tou biou) taucht zwar in der antiken Literatur nicht auf, wohl aber der einer technē peri ton bion, d. h. einer Kunstfertigkeit bezüglich des Lebens, bezüglich der Seele. Diese Wendung begegnet im Thesaurus Linguae Graecae, z.T. in Variation, insgesamt 41-mal, und zwar überwiegend in der Stoakritik des Sextus Empiricus (2. Jh. n. Chr.). Dieser Umstand legt eine besondere Betonung der »Lebenskunst« in der Stoa nahe. 17 Die mit dieser Kunst (gr.: technē) verbundene Dimension der Übung (gr.: askēsis) wird aber auch sonst in der antiken Philosophie thematisiert, darüber hinaus ebenso bei dem jüdischen Religionsphilosophen Philon von Alexandrien. In Philons umfangreichen Werk finden sich zwei Askesekataloge: In Quis rerum divinarum heres 253 nennt er folgende Praktiken: Untersuchung (gr.: zētēsis), gründliche Prüfung (gr.: skepsis), Lektüre (gr.: anagnōsis), Anhören (gr.: akroasis), Wachsamkeit (gr.: prosochē), Selbstbeherrschung (gr,: enkrateia), Gleichgültigkeit gegen gleichgültige Dinge (gr.: adiaphorēsis tōn adiaphorōn). In Legum Allegoriae 3,18 werden genannt: Lektüren (gr.: anagnōseis), Meditationsübungen (gr.: meletai), Therapie der Begierden (gr.: therapeiai), Erinnerung an Gutes (gr.: tōn kalōn mnēmai), Selbstbeherrschung (gr.: enkrateia), und Pflichterfüllung (gr.: tōn kathēkontōn energeia). All die genannten Übungen begegnen mit diversen Variationen und Spezifikationen auch in der stoischen und epikureischen Philosophie. Einige wenige Anmerkungen zu den beiden Katalogen müssen hier genügen: 18 Von großer Bedeutung war die Wachsamkeit (gr.: prosochē). Gemeint ist die Konzentration auf den Augenblick, auf das Jetzt. Diese Konzentration sollte frei machen vom Kummer und den Leidenschaften, sind diese doch im Kern auf das ausgerichtet, was nicht mehr ist (Vergangenheit) oder was noch nicht ist (Zukunft). Wichtig waren zudem diverse Meditationsübungen (gr.: meletai). Dazu zählte etwa die praemeditatio malorum, eine Übung, bei der man sich absehbar bevorstehende bzw. unvermeidbare Schwierigkeiten und Übel vorstellte, um dann bei ihrem aktuellen Eintreten möglichst souverän mit ihnen umgehen zu können. Unter den meditativen Praktiken nahm ferner die Besinnung auf den Tod eine Schlüsselrolle ein. Ihr Ziel bestand darin, sich letztlich von der eigenen Individualität und den darin eingelassenen Leidenschaften gänzlich zu befreien. Berühmt ist außerdem die sog. Vierfachmedizin (gr.: tetrapharmakos) des Epikureismus, d. h. die stete Vergegenwärtigung folgender vier Grundregeln: 1) Gott ist nicht zu fürchten. 2) Dem Tod soll man nicht mit argwöhnischer Angst gegenüberstehen. 3) Das Gute ist leicht zu beschaffen. 4) Das Schreckliche ist leicht zu ertragen. 19 Hinzu kamen die intellektuellen Übungen im engeren Sinn. In den Katalogen Philons begegnen Leseübungen bzw. die Lektüre (gr.: anagnōseis; anagnōsis) und das Anhören (gr.: akroasis). Damit dürfte auf das philosophische Eigenstudium und das Lernen von weisen Menschen angespielt sein. Bei den weiteren Praktiken der »Untersuchung« (gr.: zētēsis) und der »gründlichen Prüfung« (gr.: skepsis) hatte Philon wohl die Verarbeitung und Anwendung des Erlernten im Blick, z. B. die Fähigkeit, die Dinge aus der Sicht der Physik zu beurteilen und zu definieren, um sie so zu relativieren und an ihren rechten Platz zu stellen. Schließlich sind praktische Übungen zu nennen, unter denen v. a. die Selbstbeherrschung herausragt, die gezielte Arbeit an der Kontrolle der Affekte, also die Einübung in die Beherrschung des Zorns, die Bewältigung falscher Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 6 - 2. Korrektur 6 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Neues Testament aktuell Scham, die Erfüllung sozialer Pflichten und dergleichen mehr. Wie dieser verkürzte Durchgang durch das Universum der Übungen zeigt, kreisten die »asketischen« Praktiken im Kern um ein besonderes Ziel, nämlich die Ausmerzung der Leidenschaften und Begierden im Dienst der Freiheit des Selbst. Es ging der antiken Philosophie wesentlich um Selbstbeherrschung. Nur sie schien ein Leben in Wohlergehen zu garantieren. Die Lebenskunst bestand mithin darin, die Leidenschaften und Begierden als Erkrankung der Seele zu therapieren. Martha Nussbaum gab ihrer 1994 erschienenen Darstellung der hellenistischen Ethik daher völlig zutreffend den Titel: »The Therapy of Desire«. 20 Die Deutung der Philosophie als Therapie, als Heilung der Begierden, bringt Cicero in seinen Gesprächen in Tusculum besonders klar zum Ausdruck. Er betont darin zunächst: »[D]ie Krankheiten der Seele sind gefährlicher und häufiger als die des Körpers« (3,5). Welches aber sind die Erkrankungen der Seele? Es sind die Leidenschaften und der Kummer, v. a. aber die Leidenschaften. Cicero schreibt: »Alle Leidenschaften nennen die Philosophen Krankheiten« (3,9). Was aber ist das Krankhafte an den Leidenschaften? Cicero gibt zu verstehen, es sei der durch die Leidenschaften bedingte Kontrollverlust; v. a. in ihm manifestiere sich die Erkrankung der Seele. Dafür würde es, so notiert er, keinen besseren Ausdruck geben »als den, der in der lateinischen Sprache üblich ist, wenn wir sagen, jene seien nicht mehr in ihrer Gewalt [lat.: exisse ex postestate], die durch Begierde oder Zorn außer sich geraten« (3,11). Wie aber wird man von dieser Krankheit der Leidenschaften befreit? Durch die Philosophie! Cicero schreibt: »Es gibt nämlich ein Heilmittel für die Seele, die Philosophie. Damit sie hilft, muss man nicht wie bei den Krankheiten des Körpers auswärts suchen, sondern mit allen Mitteln und Kräften darauf hinarbeiten, dass wir uns selbst heilen können« (3,6). 21 2. Paulus und die Philosophen Wie ist es nun vor diesem Hintergrund um die Briefe des Apostels Paulus bestellt? Fügen sie sich auf die eine oder andere Weise dem besagten Diskurs über die Lebenskunst ein? Um darauf antworten zu können, gilt es vorab zu klären, ob es überhaupt sinnvoll und angemessen ist, die Briefe des Paulus zur Philosophie ins Verhältnis zu setzen. Ging es Paulus nicht vielmehr um »Religion« statt um »Philosophie«? Wie nun die vorstehenden Ausführungen zur Asketik im Werk des jüdischen Autors Philon von Alexandrien bereits deutlich gemacht haben, wäre es verfehlt, zwischen »Religion« und »Philosophie« eine allzu strikte Trennung vorzunehmen, zumal auch andere jüdische »religiöse« Schriften auf ihre Weise eine enge Beziehung zur Philosophie offenbaren, so etwa das 4. Buch der Makkabäer. 22 Zudem will bedacht sein, dass der Begriff »Religion«, so wie er heute gebraucht wird, in Diskursen der Neuzeit wurzelt und von daher ohnehin nicht unbesehen in die Antike zurückprojiziert werden sollte. 23 Diese Problematik hat Wolfgang Stegemann in der Zeitschrift für Neues Testament bereits vor einiger Zeit kundig erörtert. 24 Doch selbst wenn man den Religionsbegriff ungebrochen heranzieht, kommt man nicht an der Einsicht vorbei, dass sich das frühe und namentlich das paulinische Christentum erheblich von der gängigen »religiösen« Praxis der damaligen römisch-griechischen Welt unterschied, insofern diese weitgehend kultisch geprägt war. In ihrer klassischen Studie über die »Religions of Rome« stellen Mary Beard, John North und Simon Price nachdrücklich heraus, dass sich der christliche Glaube zusammen mit einigen anderen »religiösen« Bewegungen aus dem Osten signifikant von der klassischen römisch-griechischen Religion abhob. Neben der auffälligen örtlichen Ungebundenheit des christlichen Glaubens zählen sie u. a. den intensiven Umgang mit heiligen Texten und die Relevanz des Glaubens für die Alltagsexistenz wie auch für das Leben nach dem Tod zu den wichtigsten Differenzen. 25 Vor diesem Hintergrund spricht einiges dafür, dass die paulinische Theologie tatsächlich eher von der Philosophie her zu verstehen ist als von der kultisch bestimmten griechischrömischen Religiosität. Wenig Sinn macht es gleichwohl, die paulinische Vorstellungswelt direkt mit einer ganz bestimmten philosophischen Schule zu verbinden. 26 Dies wurde in der exegetischen Forschung zwar immer wieder versucht, sei es, dass man den Apostel und seine Theologie mit den Epikureern, 27 mit den Kynikern, 28 mit den Stoikern 29 oder auch der sog. zweiten Sophistik 30 korrelierte, all diese Versuche blieben jedoch unbefriedigend und stießen auf berechtigte Kritik. Sinnvoller ist es, die Paulusbriefe ganz allgemein im philosophischen Diskurs der Zeit zu verorten. Dies liegt v. a. deshalb nahe, weil sich einige zentrale Charakteristika des Schreibens und Wir- »Es ging der antiken Philosophie wesentlich um Selbstbeherrschung. Nur sie schien ein Leben in Wohlergehen zu garantieren.« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 7 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 7 Christian Strecker Ritual oder Übung? Ereignis oder Wiederholung? Rettung oder Glück? kens des Apostels in den christusgläubigen Gemeinden mit dem allgemeinen Auftreten antiker Philosophen in ihren philosophischen Schulen überschneiden. So gilt: »Teaching or preaching, moral exhortation, and the exegesis of canonical texts are activities associated in the ancient world with philosophy, not religion.« 31 Aber auch die Belehrung bzw. meditatio in Briefform, Gemeinschaftsmähler, das Ringen um das eigene Selbstverständnis gegenüber der Außenwelt u. a. m. spielten in den philosophischen Schulen wie auch in den paulinischen Gemeinden eine Rolle. 32 Wichtiger aber noch ist, dass sich das philosophische Thema der Menschenformung, d. h. der durch Seelenführung (Psychagogik) getragenen Bildung eines neuen Selbst in gewisser Weise auch in den Paulusbriefen findet, 33 thematisieren doch auch die Apostelbriefe eine Transformation des Selbst, dies freilich auf der Basis einer in Christus angestoßenen Transformation der Welt. Darauf gilt es nun einzugehen. 34 3. Frühchristliche »Lebenskunst« bei Paulus? 3.1 »Du mußt dein Leben ändern« oder »Du bist ein/ e Andere/ r (neue Schöpfung)«? Die paulinische Theologie lässt sich im Kern als Transformationstheologie verstehen. Der Gedanke der Veränderung, des Wandels, der Erneuerung ist für den Apostel grundlegend. Im Genaueren lassen sich vier Ebenen unterscheiden, auf denen Paulus eine göttlich getragene Transformationsdynamik am Werk sieht: 35 (1) Auf der individuellen Ebene manifestiert sich die besagte Transformationsdynamik in der persönlichen Wende, die Paulus im sog. Damaskuserlebnis erfuhr. Darüber hinaus manifestiert sich die besagte Transformationsdynamik auch in jener grundlegenden Wandlung des Subjekts, die der Apostel im Ritual der Taufe gründen sieht. (2) Elementarer Brennpunkt der persönlichen Transformationen ist die Transformation Jesu Christi im heilsgeschichtlichen Fundamentalereignis seines Todes und seiner Auferstehung (christologische Ebene). (3) Das Christusereignis hat zugleich kosmologische Bedeutung, insofern in ihm die heilsgeschichtliche Wende der Äonen ankert (kosmologische Ebene). (4) Schließlich wird die besagte Transformationsdynamik auch auf der kollektiven Ebene greifbar, nämlich in der das herkömmliche Miteinander transformierenden Relativierung der ethnischen, sozialen und geschlechtlichen Differenzen in der Gemeinschaft der Getauften. Vor diesem Hintergrund gilt es nun nochmals an Pierre Hadots Verständnis der antiken Philosophie zu erinnern: Diese war Hadot zufolge in ihrer ursprünglichen Gestalt »eine Methode der Menschenformung, die auf eine neue Lebensweise und ein neues Weltverständnis abzielt, […] eine Bemühung, den Menschen zu verändern« 36 . Die in dem Zitat angesprochene umfassende Transformation des Menschen zu einem neuen Leben und einem neuen Weltzugang, die in der antiken Philosophie der Lebenskunst mit so viel Anstrengung, Aufwand und Inbrunst angestrebt wurde, betrachtete Paulus offenbar als rundweg bereits vollbracht! Die Erfüllung dieser umfassenden Transformation gründete in seiner Theologie allerdings nicht in der menschlichen Autonomie, sondern im göttlichen Handeln, genauerhin im Christusereignis und seinen Folgen. Die vielen verzweigten Gedanken und Argumente, die der Apostel bezüglich des den Menschen und die Welt transformierenden Christusereignisses vorträgt, können hier nicht diskutiert werden. Es muss genügen, einen Aspekt herauszugreifen, nämlich den der Bewältigung der Leidenschaften und Begierden. 37 In Gal 5,24 heißt es: »Die aber Christus Jesus angehören, haben das Fleisch samt den Leidenschaften und Begierden gekreuzigt.« Und bereits zuvor in Gal 5,16 ist zu lesen: »Ich sage aber: Wandelt im Geist, und ihr werdet die Begierde des Fleisches nicht erfüllen.« Und weiter heißt es in Röm 6,12: »So herrsche nun nicht die Sünde in eurem sterblichen Leib, dass er seinen Begierden gehorche.« Schließlich Röm 13,14: »[…] sondern zieht den Herrn Jesus Christus an, und treibt nicht Vorsorge für das Fleisch, dass Begierden wach werden! « Diese Stellen machen eines deutlich: Es bedarf keiner übenden, im engeren Sinn »asketischen« Praxis, um der Begierde und der Leidenschaft Herr zu werden, hängt doch alles an der Einswerdung mit Christus. Erforderlich ist mithin alleine die beständige Erhaltung der Christusteilhabe respektive die beständige Reintegration in den Heilsraum des Christus. Garantiert ist die Freiheit von den Leidenschaften freilich nicht, woraus sich die imperativische Form der zitierten Verse erklärt. Worauf es Paulus aber v. a. ankommt, ist die für ihn in Erfahrung gründende Einsicht, dass diejenigen, die Christus angehören und in seinem Herrschaftsbe- »Die paulinische Theologie lässt sich im Kern als Transformationstheologie verstehen. Der Gedanke der Veränderung, des Wandels, der Erneuerung ist für den Apostel grundlegend.« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 8 - 2. Korrektur 8 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Neues Testament aktuell reich verharren, grundsätzlich nicht mehr von Leidenschaften und Begierden fremdbeherrscht werden. Es gilt hier also nicht die Aufforderung: »Du mußt dein Leben ändern.« Vielmehr setzt der Apostel bei seinen christusgläubigen Adressaten bereits eine grundlegende Transformation voraus. Es gilt mit anderen Worten: »Du bist schon verändert.« Du bist getauft, du bist eine neue Schöpfung (vgl. 2Kor 5,17: »Daher, wenn jemand in Christus ist, so ist er eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden«). 3.2 Ritual oder Übung? Ereignis oder Wiederholung? Die Beherrschung und Kontrolle der Begierden bzw. genauer noch der Sünde, die der Apostel ausdrücklich als entscheidendes Agens hinter den Begierden ausmacht (vgl. Röm 7,7 f.), sie erfolgt in den Protopaulinen augenscheinlich nicht-- wie in der Philosophie-- durch Selbsttechniken, vermöge derer sich das Individuum zum Herren seiner selbst zu entwickeln sucht, indem es in der steten Wiederholung bestimmter Praktiken übend lernt, sich von allen Äußerlichkeiten und Bindungen an die habituelle Welt zu lösen und sich als Teil einer die Welt transzendierenden Natur bzw. einer universellen Vernunft zu begreifen. Sie erfolgt im Übrigen auch nicht-- wie im hellenistischen Judentum-- durch Toragehorsam. Darauf weist der Apostel in Röm 6,14 f. eigens hin (»Denn die Sünde wird nicht über euch herrschen, denn ihr seid nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade. Wie nun? Sollen wir sündigen, weil wir nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade sind? Das sei ferne! «). 38 Die Beherrschung der Leidenschaften und damit die Kontrolle über das Selbst gründet Paulus zufolge vielmehr, wie bereits gesehen, im Christusgeschehen und speziell in dessen ritueller Aneignung in der Taufe, die angesichts des die Macht der Sünde überwindenden Todes Christi einem Herrschaftswechsel gleichkommt. Die Beherrschung des begehrenden Selbst und der darin manifesten Sünde erfolgt bei Paulus mit anderen Worten nicht im Modus sich stets wiederholender praktischer Übungen und einer darin konsequent anvisierten Selbstvervollkommnung. Der Apostel pocht vielmehr ganz auf die effektive Dynamis des Ereignisses und des Rituals, eine Dynamis, über die das Subjekt nicht autonom verfügt, sondern in die es wie in ein Kraftfeld hineingenommen ist. Nahezu alle der oben genannten Stellen, die von der Beherrschung der Leidenschaften und Begierden in Christus handeln (Gal 5,24; 5,16; Röm 6,12; 13,14), haben einen Bezug zur Taufe: Die Christusangehörigkeit bzw. die Christusteilhabe, die Paulus in Gal 5,24 als Voraussetzung der Kreuzigung der Begierden und Leidenschaft anspricht, gründet unverkennbar in der Taufe, denn die Taufe ist der Ort, an dem man mit Christus eins wird. So schreibt Paulus in Gal 3,28 explizit über die Getauften (vgl. V. 27): »denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.« Auch in der Rede vom »Anziehen Christi« in Röm 13,14 liegt augenscheinlich eine Anspielung auf die Taufe vor. Dies indiziert Gal 3,27, wo es heißt: »denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft worden seid, ihr habt Christus angezogen.« Und die Aussage in Röm 6,12 steht im Kontext der grundlegenden paulinischen Auslegung der Taufe als Taufe in den Tod Christi. Danach gilt, dass wir in der Taufe mit Christus gestorben sind, mit ihm begraben wurden, um in der Neuheit des Lebens zu wandeln. In der Taufe starb dabei dank der Integration in den Tod Jesu der alte, sündige Adam ab und mit ihm die Begierden und Leidenschaften (Röm 6,3-6). Paulus geht folglich davon aus, dass wir in der Einheit mit Christus nicht mehr von den Begierden bestimmt werden, wenngleich er mahnt, dass dies nicht selbstverständlich sei. Man müsse im Herrschaftsbereich Christi verbleiben, die baptismale Integration in das Christusereignis also aufrechterhalten. Woraus erklärt sich nun aber die mächtige Wirkkraft des in der Taufe zugeeigneten Christusereignisses? Wie vermag dieses Ereignis Menschen derart zu transformieren, dass sie frei werden von der Fremdherrschaft der Sünde, der Begierden und Leidenschaften? Unabhängig von Paulus ist diesbezüglich zunächst allgemein anzumerken, dass sich prinzipiell zwei differente Wege und Formen der Transformation von Subjekten unterscheiden lassen. Zugespitzt und vereinfacht lassen sie sich unter den Überschriften »Entwicklung« und »Ereignis« subsumieren: (1) Auf der einen Seite sind Menschen in der Lage, sich über einen längeren Zeitraum hinweg bewusst und gezielt durch übende Aneignung bestimmter Fähigkeiten, Perspektiven und Praktiken grundlegend zu transformieren. Dies ist das Modell der Entwicklung, welches der antiken Philosophie der Lebenskunst wie auch Sloterdijks Philosophie der Selbstbildung des »Die Beherrschung des begehrenden Selbst und der darin manifesten Sünde erfolgt bei Paulus mit anderen Worten nicht im Modus sich stets wiederholender praktischer Übungen und einer darin konsequent anvisierten Selbstvervollkommnung. Der Apostel pocht vielmehr ganz auf die effektive Dynamis des Ereignisses und des Rituals« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 9 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 9 Christian Strecker Ritual oder Übung? Ereignis oder Wiederholung? Rettung oder Glück? Humanen zugrunde liegt. Es gründet letztlich in der übenden Wiederholung diverser Praktiken. (2) Auf der anderen Seiten werden Menschen immer wieder auch durch unvorhersehbare »Ereignisse«, die den gewöhnlichen und vertrauten Lauf der Dinge jäh unterbrechen, dauerhaft verändert. Die grundlegende Transformation beruht hier nicht auf einer allmählichen Entwicklung, sondern auf dem ins Mark gehenden Einbruch des Unvorhergesehenen, des Schockhaften, des Bruches, sei es eine Nahtoderfahrung, ein Unfall, eine unerwartete manifeste glückliche Wendung o. Ä. Nun ist der Begriff des »Ereignisses« im philosophischen Diskurs Gegenstand einer intensiven, äußerst komplexen Debatte. Die vielen Facetten, Akzente und Füllungen des Begriffs, die darin verhandelt werden, können hier nicht dargelegt und diskutiert werden. 39 Angemerkt sei lediglich, dass der französische Philosoph Alain Badiou seine spezifische Philosophie des Ereignisses just in der Theologie des Apostels wiederzuentdecken glaubt. 40 Ohne Badious Ereignisphilosophie geschweige denn seine Paulusdeutung befürworten zu wollen, ist dem Philosophen gleichwohl darin zuzustimmen, dass sich die Theologie des Paulus in der Tat grundsätzlich als Ereignisphilosophie bzw. »Ereignistheologie« begreifen lässt. Das Christusereignis ist für den Apostel schließlich unverkennbar ein absolut fundamentaler, ereignishafter Einbruch in die Geschichte, eine elementare, göttlich initiierte Wende, die den Verlauf der Dinge umfassend ändert, den neuen Äon einläutet und das Leben all derer fundamental transformiert, die sich in den Ereignishorizont dieses Geschehens begeben. Letzteres geschieht wirkmächtig v. a. im Ritual der Taufe. Ist den Getauften damit aber auch jener Zustand »des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit« zugänglich, den Foucault als Zielpunkt der antiken Selbsttechniken beschrieben hat? 3.3 Glück oder Rettung? Es fällt auf, dass in den Briefen des Paulus-- wie übrigens in allen anderen Schriften des Neuen Testaments auch-- der Begriff der eudaimonia fehlt. Dieser Schlüsselterminus der antiken Lebenskunst, der das »Glück« bzw. »Wohlergehen« als Ziel der strebenden und übenden Existenz des Menschen denotiert, findet an keiner Stelle des umfänglichen paulinischen Schrifttums auch nur eine Erwähnung. Dies gilt ebenso für das dazugehörige Verb eudaimoneō oder andere Formen der fraglichen Begrifflichkeit. Um die Begrifflichkeit angemessen zu verstehen, muss man sich freilich vergegenwärtigen, dass eudaimonia in der antiken Philosophie nicht, wie dies in unserem heutigen Sprachgebrauch häufig der Fall ist, einen rein psychischen Zustand euphorischen Hochgefühls bezeichnete. 41 Der Begriff markierte vielmehr generell ein tugendhaftes und sinnvolles, d. h. der Vernunft gemäßes Leben. Darin war dann subjektives Wohlergehen eingeschlossen. Im Laufe der Philosophiegeschichte bildeten sich diverse Konturierungen und Akzentuierungen des Konzeptes der eudaimonia aus. Markant ist insbesondere die Verschiebung, die das Konzept im Übergang von der klassischen zur hellenistischen Philosophie erfuhr. Verstand man unter eudaimonia in der klassischen Philosophie (Platon, Aristoteles) vorwiegend den objektiven Zustand eines Lebens in Übereinstimmung mit der kosmischen Ordnung, das dem Wohlergehen der Polis diente, so erfuhr das Konzept in der hellenistischen Ethik eine stärkere Verinnerlichung, Subjektivierung und Privatisierung, insofern eudaimonia nun zumal im subjektiven Vermögen gründete, die eigenen Wünsche und selbstgewählten Zwecke in Seelenruhe, d. h. frei von innerer Erregung (Affekte), souverän verwirklichen zu können. Darauf muss hier nicht näher eingegangen werden. 42 Weshalb ignorierte Paulus die Schlüsselterminologie der antiken Lebenskunst? Darüber kann nur spekuliert werden. Ein möglicher Grund mag sein, dass die besagte Terminologie in der Septuaginta fehlte. Hinzu kommt, dass die in dem Begriff eudaimonia enthaltene Vokabel daimōn, die in der griechischen Welt ursprünglich noch für Gottheiten und menschliche Schutzgeister stand, im jüdischen und im frühchristlichen Sprachgebrauch »heidnische« Götter und böse Geistwesen bezeichnete, sodass eudaimonia in dieser Sprachwelt nun einen zumindest zweideutigen wenn nicht negativen Klang besaß. 43 Eventuell gibt es aber noch einen weiteren Grund: Vielleicht erklärt sich der Ausfall des Begriffs eudaimonia im Neuen Testament und namentlich bei Paulus auch damit, dass wir es hier mit einem Schrifttum zu tun haben, das nicht wie die meisten uns überlieferten antiken Texten über die Lebenskunst dem Kreis der sozialen Elite entstammt. In den paulinischen Ausführungen spiegeln sich nicht die Existenz und Alltagserfahrungen von Mitgliedern der Oberschicht, sondern das Leben und Erleben der Nichtelite (vgl. 1Kor 1,26-28). Dieses war weniger durch autonomes Handeln denn durch Fremdbestimmungen geprägt. Das Streben nach einem Zustand des Wohlergehens (eudaimonia) vermittels einer innerlich souveränen, übungsgestützten Erlangung all jener Zwecke, die man sich selbst gesetzt hat, passt nun aber eher in eine Lebenssituation, die Mitgliedern der Elite vorbehalten war. 44 Menschen, die Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 10 - 2. Korrektur 10 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Neues Testament aktuell um ihr tägliches Durchkommen zu kämpfen hatten, die in schlechten Lebensumständen existierten, die äußeres Leid und Unterdrückungen erfuhren, sehnten sich vermutlich eher nach Erlösung und »Rettung«: sōtēria. Auch von daher mag sich erklären, warum die paulinische Heilsbotschaft nicht auf die Erlangung von »Glück« (eudaimonia), sondern auf die Erfahrung von »Rettung« (sōtēria) fokussiert war. In ihrer Ausrichtung auf eine messianische »Rettung« fügt sie sich im Übrigen ganz in die atl.-jüdische Tradition ein, in welcher das Thema der individuellen und kollektiven Erlösung und Errettung aus diversen Situationen des Unglücks, der Not und des Leidens von jeher größten Raum einnahm, angefangen von der vorexilischen, über die exilische bis hin zur nachexilischen Literatur. 45 In diesem Zusammenhang mag man außerdem eine allgemeine Feststellung des Religionswissenschaftlers Günter Lanczkowski mitbedenken. Vor dem Hintergrund des Umstandes, dass die altägyptische Sprache kein Wort für Erlösung kennt, schreibt Lanczkowski: »Der Erlösungsgedanke fehlt, wenn das Heil in der Erhaltung gegenwärtiger Zustände gesehen wird.« 46 Vielleicht darf man in Anlehnung daran im Umkehrschluss sagen, dass der Gedanke des Glücks-- verstanden im antiken Sinn als innerlich souveräner Umgang mit der bestehenden, letztlich nicht hinterfragten Ordnung- - überall dort unpassend zu sein scheint und fehlt, wo man sich das Heil nur als erlösende Überwindung der bestehenden Ordnung bzw. als rettende Befreiung aus derselben vorstellen konnte. Wie auch immer: Dem Ereignischarakter des Christusgeschehens und der Aneignung des darin verbürgten Heils im rituellen Akt der Taufe entsprach der das Moment des Ereignisses konnotierende Gedanke der Rettung in jedem Fall besser als der mehr auf ein dauerhaftes Arrangement mit dem Gegebenen, mithin stärker auf das Sein, denn auf das Ereignis abzielende Begriff der eudaimonia. 47 Allerdings darf bei alledem nicht unerwähnt bleiben, dass die baptismale Integration in das Christusereignis bei Paulus zwar das rettende Heil vermittelt, dies aber nicht in abschließender Form vollzieht, sieht Paulus doch die Christusgläubigen in einen liminalen Prozess gestellt, »der nach der grundlegenden Befreiung in der Taufe über sittliches Ringen und Leidensnachfolge hinführt zur endgültigen Verherrlichung (Röm 8,29; 1Kor 15,49; Phil 3,20)« 48 . Das Stichwort der »Leidensnachfolge« in dem eben angeführten Zitat weist nun noch auf einen weiteren wichtigen Aspekt. Paulus koppelt die »Rettung« mit einer bemerkenswerten Neubewertung, ja Umwertung der Affekte. Dies betrifft insbesondere den Umgang mit Betrübnis, Kummer, Trauer und Schmerz (gr.: lypē). 49 So findet sich in 2Kor 7,10 eine Aussage des Apostels, die in Anbetracht der in den antiken Philosophien der Lebenskunst propagierten Affektkontrolle äußerst ungewöhnlich anmutet: »Denn die Betrübnis gemäß Gott (gr.: hē kata theon lypē) wirkt eine Sinnesänderung (gr.: metanoia) zur Rettung (gr.: eis sōtērian), die nie gereut; die Betrübnis aber der Welt (gr.: hē tou kosmou lypē) bewirkt Tod.« Im Hintergrund steht ein Konflikt: Paulus fühlte sich durch eine nicht näher identifizierbare Person in Korinth offenbar beleidigt und ins Unrecht gesetzt (vgl. 2Kor 2,5-11; 7,8.12). Er verfasste daraufhin einen emotionalen Brief unter Tränen, der wiederum die Korinther betrübte, zugleich aber eine insgesamt zur Aussöhnung und Konfliktschlichtung hinführende Sinnesänderung (metanoia) unter diesen bewirkte (vgl. 2Kor 2,3 f.9; 7,8 ff.). Die vielen komplexen exegetischen Thesen zur genauen Rekonstruktion des Vorfalls müssen hier nicht entfaltet werden. Wichtig ist allein folgender Aspekt: Paulus bekämpft die Betrübnis der Korinther nicht als unangemessenen, falschen Affekt, den es in den Griff zu bekommen gelte! Im Gegenteil, statt sie zu verwerfen wertet er die Betrübnis der Korinther angesichts ihrer positiven Folgen als wertvollen Affekt massiv auf. Er spricht gar von einer gottgemäßen, d. h. Gottes Willen entsprechenden Betrübnis, die nicht wie die herkömmliche Betrübnis der Welt den Tod, sondern die Rettung erwirke. Diese positive Umwertung der Betrübnis manifestiert sich ebenso in der Bekundung des Apostels in 2Kor 2,4, den besagten Brief »unter vielen Tränen« verfasst zu haben. Eine solch positive Haltung gegenüber der Betrübnis und den Tränen steht in deutlichem Gegensatz zu den negativen Aussagen über den Kummer in der antiken Philosophie und Psychagogik. Dort wird die lypē als einer der schlimmsten aller Affekte qualifiziert. In seinen Gesprächen in Tusculum (3,27) schreibt Cicero über die Betrübnis bzw. den Kummer (lat. aegritudo): »Glaubst Du also, daß dies dem Weisen geschehen könne, daß er durch Kummer (aegritudo), also durch Elend bedrückt zu werden vermag? Denn wenn jede Leidenschaft ein Elend ist, so ist der Kummer (aegritudo) ein mörderisches. Die Begierde hat ihren Brand, die unmäßige Freude ihre Leichtfertigkeit, die Angst das »Paulus bekämpft die Betrübnis der Korinther nicht als unangemessenen, falschen Affekt, den es in den Griff zu bekommen gelte! Im Gegenteil, statt sie zu verwerfen wertet er die Betrübnis der Korinther angesichts ihrer positiven Folgen als wertvollen Affekt massiv auf. Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 11 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 11 Christian Strecker Ritual oder Übung? Ereignis oder Wiederholung? Rettung oder Glück? Demütigende, aber der Kummer (aegritudo) ein noch schwereres Leiden, Verfall, Qual, Niedergeschlagenheit, Verworfenheit. Er zerfetzt und zerfrisst die Seele und vernichtet sie ganz. Wenn wir ihn nicht beseitigen, so daß wir ihn von uns werfen, können wir vom Elend nicht wegkommen.« 50 Unmissverständlich äußert sich auch Dion Chrysostomos in seiner Rede PERI LyPēS: »[W]as ist erniedrigender als ein Mann, der sich der Trauer hingibt (andros lypoumenou)? Was böte sonst einen so hässlichen Anblick« (16,1). Daraus leitet Dion den Grundsatz ab, »daß der vernünftige Mann über nichts Trauer empfinden darf« (mē lypēteon). 51 Und in der Tabula Cebetis 23,2 heißt es von der Person, die eudaimonia erlangt hat, ausdrücklich, dass sie nun Kummer und Jammer beherrsche und nicht mehr von diesen beherrscht werde wie vorher. Die positiven paulinischen Aussagen über die Betrübnis (samt der positiven Wertung weiterer problematischer Affekte in 2Kor 7,11) fallen vor diesem Hintergrund aus dem Rahmen des Üblichen. Woraus erklärt sich diese der antiken Lebenskunst so diametral entgegenstehende Beurteilung der Betrübnis und des Kummers? Eine Antwort darauf findet sich zu Beginn des 2. Korintherbriefes. Dort heißt es in 1,5-6: »Denn wie die Leiden des Christus (gr.: ta pathēmata tou Christou) überreich auf uns kommen, so ist auch durch den Christus unser Trost überreich. Sei es aber, dass wir bedrängt werden, (so geschieht es) für euren Trost und eure Rettung; sei es, dass wir getröstet werden, (so geschieht es) für euren Trost, der wirksam wird im Erdulden derselben Leiden, die auch wir leiden.« Jenseits aller weiteren Implikationen dieser Verse deutet sich hier doch eines klar an: Die oben beschriebene Umwertung negativer Affekte gründet offenkundig in der Teilhabe an Christus, die eine Teilhabe an dessen Leiden einschließt. Die in der Taufe verankerte Christusteilhabe wirkt sich mit anderen Worten in einer Teilhabe an den Leiden Christi aus, die als solche wiederum zur Folge hat, dass in der antiken Lebenskunst bekämpfte negative Affekte nun unter bestimmten Umständen positiv in das Leben integriert werden können. Über den leidenden Christus erschließt sich mithin ein offener Umgang mit Kummer und Schmerz, der in Übereinstimmung mit Gottes Willen steht und die Getauften mittels Sinnesänderung (metanoia) zur Rettung führt (2Kor 7,10). 52 Alles in allem propagiert Paulus also nicht die klassische auf das Glück (eudaimonia) hin ausgerichtete Lebenskunst einer sich vermittels Übungen sukzessive steigernden Beherrschung der Affekte, sondern eine in der göttlichen Rettung (sōtēria) begründete Lebensform, die kraft der in der Taufe grundgelegten Teilhabe am leidenden, gekreuzigten und auferstandenen Christus auch negative Affekte jenseits aller übenden Abwehr souverän »in Christus« zu bewältigen weiß. Die Praxis dieser Lebensform entspringt-- wie die antike philosophische Lebenskunst auch-- einem besonderen Wissen, einer besonderen erfahrungsgestützten Erkenntnis. Dieses Wissen tritt bei Paulus jedoch nicht als eine in der menschlichen Autonomie gründenden Anthropotechnik, als eine Kunst oder Wissenschaft der übenden Existenz des Menschen in Erscheinung, sondern als Erkenntnis Christi, des Gekreuzigten und Auferstandenen, sowie als Erfahrungswissen über die baptismale Integration in das rettende Christusereignis. In diesem Sinn kann Paulus in Phil 3,10 betonen, es komme ihm allein darauf an, »ihn [sc. Christus] und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden zu erkennen, gleichgestaltet werdend seinem Tod«. Das Leiden in der Gemeinschaft mit den Leiden Christi gehört für den Apostel also unweigerlich in das Leben, dies aber so, dass darin zugleich die Kraft der Auferstehung und damit auch die Überwindung des Leidens in der Auferstehung Christi manifest wird. Der Aspekt des Leidens darf insofern nicht von der Kraft der Auferstehung, dem darin gründenden Trost wie auch der Freude über das wahre Leben abgetrennt werden, wie dies in extremen Formen der Passionsfrömmigkeiten später bisweilen der Fall sein sollte. Darauf kann hier nicht eingegangen werden. Deutlich aber ist eines: An die Stelle des klassischen apollinischen Mottos der Selbsterkenntnis (GNŌTHI S[E]AUTON) tritt bei Paulus gewissermaßen die Erkenntnis Christi (gnōnai auton), eine Erkenntnis, die das Leben auf ihre Weise kraftvoll transformiert und rettet. Anmerkungen 1 Vgl. hierzu und zum Folgenden Fritz-Peter Hager, Art. »Selbsterkenntnis. I. Antike«, in: HWP 9 (1995), 406- 413; s. auch Christoph Horn, Antike Lebenskunst. Glück und Moral von Sokrates bis zu den Neuplatonikern, München 2 2010, S. 226-231 und ausführlich Pierre Courcelle, Connais-toi toi-même. De Socrate à Saint Bernard (Études Augustiniennes), 3 Bände, Paris 1974-1975. 2 Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a. M. 2009. 3 Vgl. ebd., 40 f. 4 Vgl. http: / / www.sensonet.org/ Sensotionen/ reifelq-machbar.html. 5 Vgl. A. Grün, Das große Buch der Lebenskunst, Freiburg i.Br. 2 2010; ders., Das Glück der Gelassenheit im ABC der Lebenskunst, Freiburg i. B. 2005. 6 Vgl. P. Bubmann/ B. Sill (Hg.), Christliche Lebenskunst, Regensburg 2008. Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 12 - 2. Korrektur 12 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Neues Testament aktuell 7 W. Schmid, Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt a. M. 1998, 51; vgl. ders., Auf der Suche nach einer neuen Lebenskunst. Die Frage nach dem Grund und die Neubegründung der Ethik bei Foucault, Frankfurt a. M. 1991; ders., Mit sich selbst befreundet sein. Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst, Frankfurt a. M. 2007; ders., Ökologische Lebenskunst. Was jeder Einzelne für das Leben auf dem Planeten tun kann, Frankfurt a. M. 2008. 8 Vgl. R. Reinhard, Die Sinn-Diät. Warum wir schon alles haben, was wir brauchen. Philosophische Rezepte für ein sinnerfülltes Leben, München 2009; dies., Würde Platon Prada tragen? Philosophische Überlebenstipps im Lifestyle-Dschungel, München 2011. 9 Vgl. M. Foucault, Überwachen und Strafen, Frankfurt a. M. 1977 (frz.: Surveiller et punir-- la naissance de la prison, Paris 1975); ders., Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a. M. 1983 (frz.: Histoire de la sexualité, vol. 1: La volonté de savoir, Paris 1976). 10 Vgl. M. Foucault, Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Frankfurt a. M. 1989 (frz.: Histoire de la sexualité, vol. 2. L’usage des plaisirs, Paris 1984); ders., Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3, Frankfurt a. M. 1989 (frz.: Histoire de la sexualité, vol. 3. Le souci de soi, Paris 1984). 11 M. Foucault: Genealogie der Ethik. Ein Überblick über laufende Arbeiten, in: H.L. Dreyfus/ P. Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1987, 265-292: 273 f. 12 M. Foucault, Technologien des Selbst, in: L.H. Martin u. a. (Hg.), Technologien des Selbst, Frankfurt a. M. 1993, 24-62: 26. Das Schema ist durch Jürgen Habermas inspiriert; vgl. nur J. Habermas, Technik und Wissenschaft als »Ideologie«, Frankfurt a. M. 1968, bes. 162; dort ist von »Arbeit, Sprache und Herrschaft« als Medien der Vergesellschaftung die Rede. Foucault ergänzt das Raster eigenständig um den vierten Punkt; vgl. dazu auch M. Foucault, Von der Freundschaft als Lebensweise. M. Foucault im Gespräch, Berlin o. J., 35 f. 13 Pierre Hadot, Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike, Berlin 1991. Das frz. Original erschien 1981 in erster, 1987 in zweiter Auflage. Die deutsche Ausgabe ist inhaltlich erheblich erweitert; s. zum Thema auch Pierre Hadot, Wege zur Weisheit-- oder was lehrt uns die antike Philosophie? , Frankfurt a. M. 1999 und die ältere Studie seiner Frau: Ilse Hadot, Seneca und die griechischrömische Tradition der Seelenleitung, Berlin 1969. 14 Hadot, Philosophie, 45. 15 Umstritten ist u. a. der Zeitpunkt der endgültigen Abtrennung der Philosophie von der übenden Lebenskunst. Foucault, Genealogie, 291 verweist diesbezüglich anders als Hadot, Philosophie, 45. 180 f. nicht auf das Hochmittelalter, sondern auf René Descartes; ebenso Horn, Lebenskunst, 239 f. Umstritten ist ferner der Grad der Verwandtschaft zwischen den ignatianischen Exerzitien und den antiken philosophischen Übungen; vgl. dazu Horn, Lebenskunst, 238. 16 Horn, Lebenskunst, 17-31 bestätigt nach eigener Sichtung des Materials Hadots Deutung der antiken Philosophie als Kunst der Lebensführung, nimmt allerdings die Vorsokratiker davon aus. 17 Vgl. J. Sellars, Téchnê perì tòn bíon. Zur stoischen Konzeption von Kunst und Leben, in: W. Kersting/ C. Langbehn (Hg.), Kritik der Lebenskunst, Frankfurt a. M. 2007, 91-117. 18 Vgl. zum Folgenden Hadot, Philosophie, 17-23, s. dazu auch die Typologie der Übungen und ihrer Ziele bei Horn, Lebenskunst, 34-46. 19 Vgl. W. Schmid, Epikur, in: ders., Ausgewählte philologische Schriften, hg. v. H. Erbse/ J. Küppers, Berlin/ New York 1984, 203. 20 M. Nussbaum, The Therapy of Desire. Theory and Practice in Hellenistic Ethics, Princeton 1994. 21 Übersetzungen jeweils nach R. Nickel/ O. Gigon, M. Tullius Cicero, Ausgewählte Werke I: Philosophische Schriften, Darmstadt 2008. 22 Vgl. 4Makk 1,1: »Da ich im Begriff bin, eine höchst philosophische Erörterung (gr.: philosophōtaton logon) darzulegen, nämlich ob die gottesfürchtige Denkkraft Alleinherrscherin ist über die Leidenschaften (gr.: tōn pathōn), möchte ich euch aufrichtig raten, dass ihr bereitwillig aufmerkt auf die philosophische Darlegung« (Übersetzung nach Septuaginta Deutsch, Stuttgart 2009, 730). 23 »Religion« geht auf religio zurück. Die lat. Vokabel steht für die Sorgfalt, mit der darauf geachtet wurde, den Göttern die ihnen gebührende Verehrung (lat.: cultus deorum) zukommen zu lassen. Sie deckt dergestalt nicht das breite Bedeutungsspektrum des neuzeitlichen Religionsbegriffs ab, der das gesamte System kollektiver Praktiken und Symbole, individueller Glaubensvorstellungen und Gefühle, festgelegter Normen und theologischer Erklärungen in Bezug auf übermenschliche bzw. göttliche Wesen umfasst; Näheres bei E. Feil, Religio. Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs vom Frühchristentum bis zur Reformation (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 36), Göttingen 1986. 24 Vgl. W. Stegemann, War das frühe Christentum eine Religion? , in: ZNT Heft 10 (2002), 61-68; s. auch ders., Die Erfindung der Religion durch das Christentum, unter: http: / / www.augustana.de/ newsletter/ Nummer3/ stegemannerfindungreligion.pdf. 25 Vgl. M. Beard/ J. North/ S. Price, Religions of Rome I: A History, Cambridge 1998, 278-291. 26 Vgl. dazu nur E.W. Stegemann, Paulus, die antike Philosophie und Immanuel Kant, in: Chr. Strecker/ J. Valentin (Hg.), Paulus unter den Philosophen (ReligionsKulturen 10), Stuttgart 2013, 31-47. 27 Vgl. N. W. de Witt, St. Paul and Epicurus, Toronto 1954; C.E. Glad, Paul and Philodemus. Adaptability in Epicurean and Early Christian Psychagogy (NT.S 81), Leiden 1995; P. Eckstein, Gemeinde, Brief und Heilsbotschaft. Ein phänomenologischer Vergleich zwischen Paulus und Epikur (HBS 42), Freiburg u. a. 2004. 28 Vgl. A. Malherbe, Paul and the Popular Philosophers, Minneapolis 1989, bes. 11-24.35-48. 29 Vgl. T. Engberg-Pedersen, Paul and the Stoics, Louisville 2000; ders., Cosmology and Self in the Apostle Paul. The Material Spirit, Oxford 2010; R.M. Thorsteins- Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 13 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 13 Christian Strecker Ritual oder Übung? Ereignis oder Wiederholung? Rettung oder Glück? son, Roman Christianity and Roman Stoicism, Oxford 2010. 30 E. Judge, Die frühen Christen als scholastische Gemeinschaft, in: W.A. Meeks (Hg.), Zur Soziologie des Urchristentums, München 1979, 131-164. 31 L. Alexander, Paul and the Hellenistic Schools. The Evidence of Galen, in: T. Engberg-Pedersen (Hg.), Paul in His Hellenistic Context, Minneapolis 1995, 60-83: 60. 32 Vgl. K. Scholtissek, Paulus als Lehrer. Eine Skizze zu den Anfängen der Paulus-Schule, in: ders. (Hg.), Christologie in der Paulus-Schule. Zur Rezeptionsgeschichte des paulinischen Evangeliums (SBS 181), Stuttgart 2000, 11-36: 27 f. 33 In der jüngeren Forschung wurde wiederholt postuliert, die Proto- und z.T. auch die Deuteropaulinen seien im Kern durch den antiken philosophischen Diskurs über die Erlangung von Selbstbeherrschung und Glück vermittels Psychagogik geprägt; vgl. nur S.K. Stowers, A Rereading of Romans. Justice, Jews and Gentiles, New Haven/ London 1994; C.E. Glad, Paul and Philodemus. Adaptability in Epicurean and Early Christian Psychagogy (NT.S 81), Leiden/ New York 1995; W.T. Wilson, The Hope of Glory. Education and Exhortation in the Epistle to the Colossians (NT.S 88), Leiden/ New York 1997. Auf die komplexen und im Einzelnen umstrittenen Thesen kann hier nicht eingegangen werden; vgl. dazu Th. Schmeller, Schulen; s. auch Chr. Strecker, Geistliche Begleitung, antike Lebenskunst und das Neue Testament, in: D. Greiner u. a. (Hg.), Geistliche Begleitung in evangelischer Perspektive. Modelle und Personen der Kirchengeschichte, Leipzig 2013, 24-34: 32. 34 Angemerkt sei am Rande, dass sich auch das Paulusbild der Apostelgeschichte von der antiken Philosophie der Lebenskunst her begreifen lässt; vgl. dazu M. Lang, Die Kunst des christlichen Lebens. Rezeptionsästhetische Studien zum lukanischen Paulusbild (ABG 29), Leipzig 2008. 35 Vgl. dazu im Genaueren Chr. Strecker, Die liminale Theologie des Paulus. Zugänge zur paulinischen Theologie aus kulturanthropologischer Perspektive (FRLANT 185), Göttingen 1999; ders., Im Wandel. Zur paulinischen Theologie der Transformation, in: GPM 64 (2010), 272-278; ders., Leben als liminale Existenz. Kulturanthropologische Betrachtungen zum frühchristlichen Existenzverständnis am Beispiel von Phil 3, in: EvTh 68 (2008), 450-472. 36 Hadot, Philosophie, 45. 37 Vgl. zu dem Thema umfassend P. von Gemünden, Affekt und Glaube. Studien zur Historischen Psychologie des Frühjudentums und Urchristentums (NTOA 73), Göttingen 2009. 38 In Röm 7,7 f. bündelt der Apostel die Torabestimmungen in dem einen Gebot: »Du sollst nicht begehren« (gr.: ouk epithymēseis), um zu betonen, dass es gerade aufgrund dieses Gebots der Sünde möglich wurde, die Begierde (gr.: epithymia) zu wecken. Das Gesetz verhindert hier also nicht, sondern weckt die Begierde, es bewirkt die Leidenschaften der Sünden (Röm 7,5: ta pathmata tōn hamartiōn). Dabei gilt es zu beachten, dass Paulus hier nicht etwa die Situation der Christusgläubigen und auch nicht die seiner jüdischen Brüder und Schwestern beschreibt. Vielmehr skizziert er hier wohl die tragische Situation gottesfürchtiger Nichtjuden, die versuchen, mittels Toraobservanz das hellenistische Ideal der Selbstbeherrschung zu erreichen und darin zwangsläufig scheitern, da Nichtjuden (»Heiden«)-- aus der jüdischen Perspektive des Apostels gesehen-- vollauf ihren sündigen Begierden ausgeliefert sind; s. Röm 1,18 ff., bes. 1,24; s. auch 1Thess 4,5; vgl. dazu insgesamt S.K. Stowers, A Rereading of Romans. Justice, Jews and Gentiles, New Haven/ London 1994, 273-281; A.A. Das, Solving the Romans Debate, Minneapolis 2007, 223-235. 39 Vgl. dazu nur M. Rölli (Hg.), Ereignis auf Französisch. Von Bergson bis Deleuze, München 2004. 40 Vgl. A. Badiou, Das Sein und das Ereignis, Berlin 2005; ders., Paulus. Die Begründung des Universalismus, München 2002 (Zürich/ Berlin 2000). Zur intensiven Rezeption des Apostels in der Philosophie der Moderne und Spätmoderne vgl. insgesamt Chr. Strecker/ J. Valentin (Hg.), Paulus unter den Philosophen (ReligionsKulturen 10), Stuttgart 2013. 41 Daneben markiert der Begriff »Glück« heute auch die günstige Fügung, den glücklichen Zufall. Dafür steht im Griechischen die Vokabel eutychia. 42 Vgl. dazu M. Hossenfelder, Antike Glückslehren. Kynismus und Kyrenaismus, Stoa, Epikureismus und Skepsis. Quellen in deutscher Übersetzung mit Einführungen, Stuttgart 1996, bes. xv-xx; s. ferner ders., Art. »Glück«, in: DNP 4 (1998), 1101-1103; J. Ritter, Art. »Glück, Glückseligkeit. I. Antike«, in: HWP 3 (1974), 679-691; M. Forschner, Über das Glück des Menschen. Aristoteles, Epikur, Stoa, Thomas von Aquin, Kant, Darmstadt 1993. 43 Vgl. R. Holte, Art. »Glück (Glückseligkeit)«, in: RAC 11 (1981), 246-270: 259 (zur Septuaginta s. ebd., 258), 44 Auch wenn sich Stoa und Epikureismus als Philosophien für »kleine Leute« präsentierten und Epiktet z. B. ein Freigelassener war, ist die Prägung der stoischen und epikureischen Philosophie durch eine Art Oberschichtshabitus doch unverkennbar. 45 Vgl. dazu den instruktiven biblischen Überblick von A. Schenker, Art. »Heil und Erlösung. II. Altes Testament«, in: TRE 14 (1985), 609-616. 46 G. Lanczkowski, Art. »Heil und Erlösung. I. Religionsgeschichtlich«, in: TRE 14 (1985), 605-609: 606. 47 Die hier akzentuiert vorgetragene Gegenüberstellung von eudaimonia und sōtēria will und darf nicht den falschen Eindruck erwecken, als handle es sich um klare Oppositionsbegriffe. Dies trifft nicht zu. In der griechischen Literatur kann sōtēria in der Bedeutung von Wohlbefinden und Wohlsein auch neben eudaimonia stehen (vgl. Werner Foerster, Art. sōzō ktl. A. sōzō und sōtēria im Griechentum, in: ThWNT 7 [1964], 967-970: 968). Namentlich in der stoisch geprägten Tabula Cebetis (z. B. 10,2), aber u. a. auch bei Epiktet findet sich die sōtēria-Terminologie in den eudaimonia-Diskurs eingebettet. Sōtēria kann dabei bisweilen die Bedeutung von »Erhaltung« tragen, und zwar im Sinne der Erhaltung des inneren Wesens des Menschen, dann aber auch im Sinne der Erhaltung des Staates, woraus sich nicht zuletzt der im römischen Kaiserkult verwendete Herrschertitel sōtēr erklärt (vgl. Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 14 - 2. Korrektur 14 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Neues Testament aktuell Foerster, ebd., 968 f.; Lang, Kunst, 102 ff.; R. Tiedemann, Art. »Rettung«, in: HWP 8 [1992], 932-941: 934 f.). Der paulinische Gebrauch der Rettungsterminologie ist gleichwohl im oben beschriebenen Sinn eher von der atl.-jüdischen Tradition her zu deuten. Für die Hinweise auf die Tabula Cebetis und Epiktet sowie weitere wichtige Anregungen danke ich Herrn Akad. Dir. Jörg Dittmer. 48 E. Larson, Art. »Heil und Erlösung. III. Neues Testament«, in: TRE 14 (1985), 616-622: 620. Vgl. zur Schwellensituation, in der Paulus die Christusgläubigen verortet, generell Strecker, Liminale Theologie, passim. 49 Vgl. zum Folgenden ausführlich L.L. Welborn, Paul and Pain. Paul’s Emotional Therapy in 2 Corinthians 1.1-2.14; 7.5-16 in the Context of Ancient Psychgogic Literatur, in: NTS 57 (2011), 547-580; ders., An End to Enmity. Paul and the »Wrongdoer« in Second Corinthians (BZNW 185), Berlin 2011. 50 Übersetzung nach R. Nickel/ O. Gigon, M. Tullius Cicero, Ausgewählte Werke I: Philosophische Schriften, Darmstadt 2008, 365. 51 Übersetzung nach W. Elliger, Dion Chrysostomos, Sämtliche Reden, Zürich/ Stuttgart 1976, 280 f. 52 Vgl. Welborn, Paul and Pain, 570. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Eve-Marie Becker / Stefan Scholz (Hrsg.) Auf dem Weg zur neutestamentlichen Hermeneutik Oda Wischmeyer zum 70. Geburtstag 2014 152 Seiten €[D] 19,99 / SFR 28,00 ISBN 978-3-7720-8556-7 Diese Festgabe präsentiert einen zentralen Text aus den Arbeiten von Oda Wischmeyer zur Hermeneutik des Neuen Testaments und zeigt durch Repliken aus den Bereichen der neutestamentlichen Wissenschaft, der Patristik, der Religionspädagogik und der Linguistik, wie vielfältig wirksam der Denkansatz dieser Theologin geworden ist. Dokumentiert wird „Kanon und Hermeneutik in Zeiten der Dekonstruktion. Was die neutestamentliche Wissenschaft gegenwärtig hermeneutisch leisten kann“, die kommentierenden und weiterführenden Texte stammen von Barbara Aland, Eve-Marie Becker, Mechthild Habermann, Uta Heil, Dietrich-Alex Koch, Martin Meiser, Stefan Scholz und Wolfgang Wischmeyer. Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 15 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 15 In Jesus fließen zwei Kulturen zusammen: die traditionelle jüdische Kultur und die praktische Philosophie der hellenistischen Welt. Seine historische Gestalt lässt sich am besten verstehen, wenn wir Jesus als Exponenten sowohl der prophetischen Überlieferung seines Volkes als auch der philosophischen Überlieferung der hellenistischen Welt begreifen. Vielen ist »Jesus der Prophet« vertrauter als »Jesus der Philosoph«. Dieses Essay will Jesu philosophisches Gedankengut hervorheben und von seiner Verwurzelung in der Schule der Kyniker-- der Schule des Diogenes-- her beleuchten. 1 Schon der um 1900 lebenden Gelehrtengeneration stand der griechische Charakter des Neuen Testaments klar vor Augen: »Das Neue Testament ist wirklich ein griechisches Buch.« 2 Machen wir mit dieser Einsicht ernst, ergeben sich mannigfache Korrekturen an traditionellen Jesusbildern. Wichtiger noch scheint mir ein anderer Gewinn: Der philosophische Jesus vermag uns anzusprechen und zu neuem Denken und anderem Verhalten zu bewegen. »Kein Zweifel also«, schreibt der klassische Philologe John Moles, »wie im ersten, so ist auch im einundzwanzigsten Jahrhundert der Kynismus der Ort der Wahl. […] Von allen heidnischen Philosophien der Antike hat Gott nur eine so gut wie bejaht-- den Kynismus.« 3 1. Wer waren die Kyniker? Wir kennen die Philosophie der Kyniker zu einem guten Teil aus einem spätantiken Buch mit dem Titel Leben und Lehre der Philosophen von Diogenes Laërtios (3. Jh. n. Chr.). Dieses Werk überliefert biographische Anekdoten über die Philosophen des klassischen Griechenland. Die Geschichten über Diogenes nehmen einen breiten Raum ein. Sie erzählen von einem Sonderling, der, auf jeden Besitz verzichtend, in Athen und Korinth vom Bettel lebte. Des Nachts soll er sich mangels einer besseren Unterkunft in ein großes Fass-- eine Tonne-- zurückgezogen haben (Abbildung 1). Der Philosoph Diogenes in seiner Tonne (aus: Johann Joachim Winckelmann, Monumenti antichi inediti, Rom 1767, Bd. 2.) Das Bild vereinigt zwei Anekdoten, die von dem griechischen Philosophen Diogenes (403-323 v. Chr.) überliefert werden: (1) Um seine Bedürfnislosigkeit zu demonstrieren, habe er in einer Tonne gehaust, einem riesigen Fass, wie es sonst für die Aufbewahrung von Wein dient. (2) Als ihm der Feldherr Alexander der Große-- der mächtigste Mann der damaligen Welt-- einen Wunsch freistellte, soll der sich in der Sonne ausruhende Philosoph geantwortet haben: »Geh mir aus der Sonne.« Das will besagen: An den Reichtümern, die ein Feldherr zur Verfügung stellen kann, liegt mir nichts. Der Philosoph stellt sich dem Mächtigen als ebenbürtig gegenüber. Der Adel des Geistes gilt nicht weniger als der Adel der Waffe. Diogenes ist eine historische Gestalt, deren Lebensdaten wir kennen (ca. 403-323 v. Chr.). »Der Hund« (gr.: kyōn) genannt, gilt er als die emblematische Gründergestalt der kynischen Philosophie. Deren Lehre fasst die spätantike Schrift wie folgt zusammen: Die Kyniker befassten sich nicht mit Wissenschaften wie Logik, Naturphilosophie (Physik), Geometrie und Musik, sondern nur mit Ethik; ein Leben gemäß der Tugend gelte als das höchste Ziel des Menschen; Tugend sei lernbar und, einmal begriffen, unverlierbar; der Weise solle liebenswert, fehlerlos und anderen Weisen ein Freund sein. Kyniker, so heißt es weiter, führten eine einfache, bescheidene Bernhard Lang Jesus-- ein kynischer Philosoph Philosophische Lebensweise und griechisches Denken in den Evangelien Georg Luck (1926-2013), dem Erforscher der Quellen kynischer Philosophie, in memoriam. Zum Thema Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 16 - 2. Korrektur 16 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Zum Thema Epiktet hat keinen Zweifel an solcher Sendung: »Der wahre Kyniker muss dies wissen: Als Bote ist er von Zeus zu den Menschen gesandt, um ihnen zu zeigen, dass sie, was Gut und Böse anlangt, vom Wege abgekommen sind. Sie suchen das Wesen von gut und böse dort, wo es nicht ist.« 5 Der Philosoph weiß sich von Gott (Zeus) berufen und mit einer Mission beauftragt-- eine stolze, bemerkenswerte Selbsteinschätzung der Kyniker. Die kynische Bewegung hat eine andere Entwicklung genommen als die übrigen antiken philosophischen Schulen. Schulen wie die Stoa und die Akademie Platons haben den Philosophenberuf professionalisiert, ihre Schulen zu festen Institutionen gemacht, ihren Lehrstoff zum Bildungsgut erklärt und ihn durch Vorlesungen an zahlende Studenten vermittelt. Dieser Entwicklung hat sich die kynische Bewegung verweigert. Ihre Vertreter bleiben Einzelgänger-- und die kynische Philosophie insgesamt eine von der gewöhnlichen Kultur abgesetzte Gegenkultur. Die Kyniker legen keinen Wert auf systematische und regelmäßige Vermittlung philosophischen Grundwissens an Studenten; stattdessen treten sie als moralische Volksprediger auf, die durch ihre Reden, aber auch ihr persönliches Vorbild das moralische Klima der antiken Gesellschaft zu heben versuchen. In der hellenistisch-römischen Welt des 3. Jh.s v. Chr. bis ins 4. Jh n. Chr. finden sie großen Anklang, wenn sie auch nur wenige zu einem philosophischen Leben nach der Art des Diogenes bekehren können. 2. Kynische Philosophie im antiken Judentum Zu den Schülern der Kyniker gehören auch Juden. Eine erste Spur des jüdischen Kynismus finden wir im biblischen Buch Prediger oder Kohelet (ca. 200 v. Chr.). Grundlegend für Kohelet ist die Abwendung vom Reichtum, da dieser keine Befriedigung zu bieten vermag-- ein geläufiges kynisches Thema. Noch ein weiterer Zug der Philosophie Kohelets lässt sich auf kynisches Gedankengut zurückführen: seine Mahnung nämlich, Leben und Besitz zu genießen, wenn das Schicksal es erlaubt und solange das Schicksal es erlaubt. »Dies ist eine Art opportunistischer Haltung zum Leben: mit beiden Händen nehmen, wenn es etwas zu nehmen gibt; sich nicht beklagen, wenn die Zeiten mager ausfallen; das Leben genießen, wenn es genossen werden kann; aber die Launen des Schicksals mit Gleichmut anzunehmen.« 6 Bertrand Russell kennzeichnet die kynische Philosophie mit diesen Worten; ihren besten Beleg aber findet diese Auffassung im Buch Kohelet. Lebensweise, trügen nur einen Mantel und verachteten Reichtum, Ruhm und edle Abkunft; sie seien mit bescheidener Kost zufrieden, und manche lebten nur von pflanzlicher Nahrung, würden nur Wasser trinken und begnügten sich mit dem einfachsten Obdach, wofür die Tonne des Diogenes ein Beispiel sei; ihre Bedürfnislosigkeit mache sie den Göttern ähnlich. In dieser Charakterisierung fehlt nur ein Element, das in mehreren Zeugnissen deutlich hervortritt: der Gottesglaube der Kyniker. Mögen einige Vertreter dieser Philosophie vom Götterglauben auch nicht viel gehalten haben, so ist dies jedoch nicht die vorherrschende Meinung. In den Kynikerbriefen-- einem philosophischen Briefroman-- bekennt Diogenes, er lebe so, wie er lebe, »um in Freiheit umherzuwandern unter Zeus, dem Vater, auf der ganzen Erde, und von den großen Herren keinen zu fürchten«. 4 Wollen wir die Sprache späterer christlicher Tradition gebrauchen- - und wir haben keine andere--, dürfen wir vom Bewusstsein der Gotteskindschaft reden. Dabei wird von Gott zumeist im Singular gesprochen, vom einen Gott, nämlich Zeus. Bernhard Lang, geb. 1946, Dr. theol. habil., Dr. theol. h.c., Elève titulaire de l’Ecole biblique, war Professor für Altes Testament und Religionswissenschaft in Tübingen, Mainz, Paderborn und St. Andrews (Schottland). Gast- und Vertretungsprofessuren in Paris, Philadelphia und Aarhus. Drei Jahrzehnte lang erschien die »Internationale Zeitschriftenschau für Bibelwissenschaft und Grenzgebiete« unter seiner Herausgeberschaft. Zu seinen Arbeitsgebieten gehört neben der Bibel die Geschichte des christlichen Glaubens von den Anfängen bis zur Gegenwart. Neuere Veröffentlichungen: Joseph in Egypt. A Cultural Icon from Grotius to Goethe, London 2009; Jesus der Hund. Leben und Lehre eines jüdischen Kynikers, München 2010; Buch der Kriege - Buch des Himmels. Kleine Schriften zur Exegese und Theologie, Leuven 2011; Die 101 wichtigsten Fragen - Die Bibel, München 2013. Für weitere Informationen siehe: http: / / kw.uni-paderborn.de/ institute-einrichtungen/ institut-fuer-katholische-theologie. Prof. Dr. Bernhard Lang Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 17 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 17 Bernhard Lang Jesus-- ein kynischer Philosoph In einem Spruch dieser Schrift begegnen wir auch dem Hund, dem emblematischen Tier der Kyniker: »Ein lebender Hund ist besser als ein toter Löwe« (Koh 9,4). Der lebende Hund ist kein anderer als der Philosoph! Auch im Motto des Koheletbuches lässt sich ein bekanntes Kynikerwort finden. In der Übersetzung Luthers lautet der Spruch: »Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, es ist alles ganz eitel« (Koh 1,2). Die Einheitsübersetzung gibt den hebräischen Wortlaut genauer wieder: »Windhauch, Windhauch, sagte Kohelet, Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch.« Abgelauscht ist der Spruch einem Wort des Monimos, der uns als Hexameter überliefert ist: »Was immer ist, ist Dunst und eitles Wahngebilde.« 7 Monimos von Syrakus war unmittelbarer Schüler des Diogenes. 3. Jesus und Johannes der Täufer als Kyniker: Gib deinen Besitz auf! Nicht nur im Buch Kohelet, auch in den Evangelien treten kynisches Gedankengut und Verhalten immer wieder deutlich hervor. Vor allem Jesus und Johannes der Täufer lassen sich unschwer als Männer verstehen, die kynisches Ideal zu verwirklichen trachten. An erster Stelle ist ihre freiwillige Armut zu nennen, die der kynischen Selbstgenügsamkeit überraschend genau entspricht. Hat sich der Schüler zur kynischen Existenz entschlossen, muss er als erstes seinen Besitz aufgeben-- eine Herausforderung, der nicht jeder gewachsen ist. Jesus empfiehlt dem reichen Jüngling den Verkauf seines Besitzes und die Verteilung des Erlöses an die Armen: »Willst du vollkommen sein, so geh, verkaufe dein Hab und Gut und gib an Arme. So wirst du einen Schatz im Himmel haben. Dann auf, folge mir« (Mt 19,21). 8 Der Jüngling ist von dem Vorschlag überrascht; unfähig sich zur philosophischen Lebensweise zu bekehren, geht er traurig von dannen. Wir können nicht wissen, was den Jüngling im Innersten bewegt hat. Vermutlich hat er den Rat erwartet, den die Mehrheitskultur den Reichen seiner Zeit gegeben hat. Er lautet nämlich: »Nimm von deinem Besitz und geh in deine Vaterstadt. Dort stifte ein öffentliches Bad oder einen Sportplatz oder eine Synagoge. So erwirbst du dir Ehre und Ansehen.« Einen vergleichbaren Rat gab der römische Staatsmann und Philosoph Cicero seinem Sohn Marcus, dem er sein Buch De officiis- - Vom pflichtgemäßen Handeln widmete. Wer es sich leisten kann, rät der Vater, soll dem Gemeinwohl dienen durch »den Bau von Stadtmauern, die Anlage von Werften, Häfen und Wasserleitungen«. Wer eine solche Baumaßnahme finanziert »ohne dass sie ihn sein Vermögen kostet, der hat von seinem Geld zweifellos den größten Genuss«, nämlich den Gewinn von Ansehen. 9 Am gestifteten Bauwerk pflegt eine gut lesbare Inschrift den Namen des »Wohltäters«-- so der Fachausdruck (gr.: euergetēs)-- bekanntzugeben und ihn auf diese Weise zu ehren. 10 Cicero rät zu Wohltätigkeit, die in Bauten auf Dauer sichtbar bleibt, Jesus zum Verschenken des ganzen Besitzes an die Armen, was nach Cicero nichts anderes als nutzlose Verschwendung bedeutet. Doch Jesus wollte den Jüngling nicht zu einem Wohltäter der Stadt machen. Als Vertreter der philosophischen Minderheitskultur wollte er ihn aus seiner Existenz herausreißen, ihn entwurzeln, ihn zum Philosophen machen. »Willst du vollkommen sein, so geh, verkaufe dein Hab und Gut und gib an Arme.« Darauf aber hatte der junge Mann keine Lust. Mit der Minderheitskultur Jesu und anderer Philosophen konnte er sich nicht anfreunden. An dieser Stelle noch ein Wort zur sozialen Herkunft Jesu! Die uns geläufige Tradition ist von der lukanischen Kindheitserzählung geprägt: Jesus ist in einem Stall zur Welt gekommen, er stammt aus einfachsten Verhältnissen. Sein Vater Josef ist einfacher Handwerker gewesen, vielleicht Holzarbeiter, der Pflüge hergestellt und repariert hat, auch Hütten der Bauern gebaut und Ähnliches. Als Beleg dient nicht zuletzt ein angeblicher archäologischer Befund: Nazaret war ein einfaches Dorf, dort lebten im 1. Jh. nur Kleinbauern. Diesem Befund widersprechen neuere Forschungen und Überlegungen in mehrfacher Weise. Woher hatte Jesus seine Bildung? Muss man annehmen, die Familie habe einen wohlhabenden Gönner gehabt, vielleicht einen reichen Verwandten, der Jesu Schulbesuch und höhere Bildung ermöglichte? Liegt es nicht näher, sich Jesu Familie als wohlhabend vorzustellen? Das Matthäusevangelium weiß nichts von Jesu niederer Herkunft; es lässt Jesus in einem Haus in Betlehem geboren sein, nicht in einem Stall (Mt 2,11). Tatsächlich gibt es auch in Galiläa einen Ort namens Betlehem; dieser Ort ist im Buch Josua im Alten Testament erwähnt und könnte Jesu wirklicher Geburtsort sein (Jos 19,15). Jesu Vater könnte es zu Wohlstand gebracht haben. Unweit von Nazaret liegt die Stadt Sepphoris (etwa 7 km entfernt); sie ist zu Beginn des 1. Jh.s von Jesu Landesvater Herodes Antipas zum Schmuckstück Galiläas ausgebaut worden. Hat Josef bei den Bauarbeiten Arbeit gefunden? Vielleicht sogar als Unternehmer? Auch die Spezialisten der Galiläa-Archäologie räumen inzwischen ein, Galiläa sei nicht das ärmliche Land gewesen, als das es bisher gezeichnet worden ist. 11 Schließlich gibt es noch einen Hinweis bei Paulus: »Er, der reich war, wurde euretwegen arm« (2Kor 8,9). Der Kontext handelt vom Geld; schon 1964 hat der amerikanische Exeget George Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 18 - 2. Korrektur 18 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Zum Thema Wesley Buchanan daraus den plausiblen Schluss auf Jesu Herkunft aus einer wohlsituierten Familie gezogen. 12 Als Philosoph habe er jedoch dem Besitz den Rücken gekehrt-- eine erwägenswerte und realistische Annahme. Diogenes als nackter Bettler (aus Johann Joachim Winckelmann, Monumenti antichi inediti, Rom 1767, Bd. 2.) So hat sich ein antiker Künstler den Philosophen vorgestellt. Der Diogenes beigefügte Hund ist nicht als Kamerad des Philosophen zu verstehen, sondern dient nur als Hinweis auf die kynische Philosophie, die Philosophie »der Hunde«. Von einigen seiner Zeitgenossen wurde Diogenes als streunender Hund bezeichnet. Davon leitet sich die Bezeichnung »kynische Philosophie« (wörtlich: Hundephilosophie) ab. Die Nacktheit weist auf Armut, aber auch auf Heldentum, denn der Antike wurden vor allem Helden (Halbgötter wie Herakles) nackt dargestellt. Die Armut des Bettlers paart sich mit der Anmut des Gottes. Nur wenigen gelingt es, sich der Herausforderung des Satzes zu stellen: »Ihr könnt nicht Gottes und des Mammons Knechte sein« (Mt 6,24). Doch einigen gelingt es, die Fesseln des Mammons abzulegen. Einfachste Kleidung ist nun ihr Kennzeichen. Johannes der Täufer, wie Jesus von kynischer Philosophie beeinflusst, trägt in Anlehnung an die Tracht der Philosophen und die Kleidung des alttestamentlichen Propheten Elija »ein Gewand aus Kamelhaar und einen ledernen Gürtel um die Hüfte« (Mt 3,4); er erscheint nicht als »Mann in feiner Kleidung« (Mt 11,8). Der »Gürtel um die Hüfte« mag nichts anderes sein als ein lederner Lendenschurz, wie ihn die Arbeiter im alten Ägypten trugen und wovon ein Exemplar im Britischen Museum zeugt. Deutlich kynischen Klang hat die Ausrüstungsregel, die Jesus seinen engsten Schülern vorschreibt: »Er wies sie an, nichts auf den Weg mitzunehmen, außer einem Stock: kein Brot, keinen Ranzen, kein Kupfergeld im Gurt, nur Sandalen untergebunden. Zieht auch nicht zwei Leibröcke an« (Mk 6,8-9). Noch etwas strenger fällt die Reiseregel in einer anderen überlieferten Fassung aus: »Verschafft euch kein Gold, kein Silber, kein Kupfergeld für den Gürtel, keinen Ranzen für den Weg, keine zwei Leibröcke, keine Sandalen, keinen Stock« (Mt 10,9-10). Keinen Ranzen, keine Sandalen-- das erinnert an eine kleine Statue im Antikenmuseum von Neapel (Abbildung 2): Nackt und barfuß, besitzt der Bettler nichts als einen Stock; der ihn begleitende Hund dient lediglich der Verdeutlichung-- das ist Diogenes, der Kyniker. Rainer Maria Rilke hat in seinem bekannten Gedicht »Archaischer Torso Apollos« die Rollen von Betrachter und Statue vertauscht; nicht der Betrachter erblickt die antike Statue, sondern die Statue erblickt den Betrachter: … denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern. Die Diogenes-Statue predigt Bedürfnislosigkeit, Verachtung von Körper, Schönheit und bürgerlicher Konvention. Wovon leben die Kyniker? In der Regel nicht von ihrer Hände Arbeit, sondern vom Bettel- - und nicht zuletzt von dem, was sie in der Natur finden. Von der Selbstversorgung jüdischer Kyniker berichten Anekdoten und beiläufige Mitteilungen. »Als Nahrung holte er sich nur, was von alleine wuchs«, nämlich in der freien Natur, schreibt der jüdische Historiker Josephus über den von ihm oft besuchten kynischen Asketen Bannus, den er als den Lehrer seiner Jugend bezeichnet. 13 Von Hunger geplagt, mustert Jesus einen Feigenbaum auf der Suche nach Früchten; er ist enttäuscht, als er nichts findet und stößt einen Fluch aus (Mt 21,18-19). Jesu Jünger streifen durch die Getreidefelder der Bauern, zupfen reife Ähren und stillen ihren Hunger durch die Körner (Mk 2,23). Als Reisende dürfen sie sich nach antikem Brauch auch an den Feldern bedienen; die entsprechende Regel ist im Alten Testament überliefert: »Wenn du in den Weinberg eines anderen kommst, darfst du so viel Trauben essen, wie du magst, bis du satt bist, nur darfst du nichts in ein Gefäß tun. Wenn du durch das Kornfeld eines anderen kommst, darfst du mit der Hand Ähren abreißen, aber die Sichel darfst du auf dem Kornfeld eines anderen nicht Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 19 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 19 Bernhard Lang Jesus-- ein kynischer Philosoph schwingen« (Dtn 23,25-26). Ohne eine solche Regel hätte niemand in der alten Welt reisen können! wird ständig eingeladen; offenbar ist er ein beliebter Gast. Er kehrt bei dem reichen Pharisäer Simon ein, auch bei der vermutlich ebenfalls reichen Frau Martha (Lk 7,36; 10,38). Wohlhabende Frauen, so heißt es in den Evangelien, seien Jesus nachgefolgt und hätten ihm »gedient« (Mk 15,41); »sie unterstützten Jesus und die Jünger mit dem, was sie besaßen« (Lk 8,4). Einer der Jünger Jesu, der Zöllner Levi, besitzt ein Haus, in dem er Jesus und seine Gefährten bewirtet (Mk 2,15). Eine solche Versorgung durch andere mag uns als unsicher und prekär erscheinen; den Kyniker hat das aber gewiss nicht gestört. Die Lebensweise der Kyniker kann als parasitär, wirtschaftsfeindlich und außenseiterisch bezeichnet werden. 4. Sei sorglos wie die Tiere! In den Anekdoten und Aussprüchen der Kyniker spielen Tiere als nachzuahmende Vorbilder eine beachtliche Rolle. So nimmt sich Diogenes-- nach einer bei Plutarch überlieferten Anekdote 15 -- eine Maus zum Vorbild; er ist davon beeindruckt, wie das von ihm beobachtete kleine Tier sorglos umherläuft und sich mit Brotkrümeln beschäftigt: So sorglos muss auch der Philosoph sein! In der Kynikerrede des Dion von Prusa ist von den Beschwernissen die Rede, die der Besitz-- zum Beispiel an Sklaven-- einem Menschen bereitet. Besser als die Menschen handeln die Tiere: »Sieh doch, wie viel sorgloser als die Menschen die Tiere und Vögel hier leben, wie viel glücklicher! Gesünder und kräftiger, lebt jedes, solange es kann, und hat doch keine Hände und keinen menschlichen Verstand. Und dennoch haben sie als Ausgleich für alle die Mängel das beste Los: Eigentum ist ihnen unbekannt.« 16 Auch Jesus kennt das Glück der Tiere. Es wurzelt in ihrer für den Menschen vorbildlichen Freiheit und Sorglosigkeit. »Sorgt euch nicht um euer Leben, was ihr essen oder was ihr trinken, noch um euren Leib, womit ihr euch kleiden sollt. Ist nicht das Leben mehr als die Zehr und der Leib mehr als das Kleid? Blickt auf die Vögel des Himmels: Sie säen nicht und ernten nicht und heimsen nicht in Speicher-- und doch: Euer himmlischer Vater nährt sie. Geltet ihr nicht mehr als sie? Wer von euch aber kann- - mag er sich noch so sorgen-- seiner Lebenszeit nur eine Elle zulegen? « (Mt 6,25-26) Bemerkenswert ist die enge Entsprechung zu dem soeben angeführten Dion von Prusa, der seinen Kyniker ebenfalls im Kontext der Lebenserwartung von der Sorglosigkeit der Vögel sprechen lässt. Offenbar handelt es sich um einen kynischen Topos, Gebet eines kynischen Philosophen Edle Töchter der Mnemosyne und des olympischen Zeus, Musen Pieriens, erhört mein Gebet: Gebt meinem Bauch das tägliche Futter, und gebt, dass ich frei von Sklaverei bin, die das Leben elend macht. Macht mich den Freunden nützlich, aber nicht gefällig. Fabelhaften Reichtum will ich nicht anhäufen, mich gelüstet nicht nach dem Glück des Mistkäfers, dem Besitz der Ameise. Sondern an der Gerechtigkeit will ich teilhaben, und harmlosen Reichtum, leicht zu tragen, ehrlich erworben, wertvoll für die Tugend will ich. Wenn ich das bekomme, will ich Hermes und die keuschen Musen segnen, nicht mit üppigen Opfergaben, sondern durch Frömmigkeit und Tugend. Dem Kyniker Krates (365-285 v. Chr.) zugeschrieben, ist dieses Gebet überliefert von Kaiser Julian, Rede VII: Gegen den Kyniker Herakleios; übersetzt in: G. Luck, Die Weisheit der Hunde. Texte der antiken Kyniker, Stuttgart 1997, 437-438. Erläuterungen: Mnemosyne: Gattin des Zeus, Mutter der Musen. Pierien: Landschaft in Makedonien, Heimat der Musen. Futter: der Kyniker spielt an auf sein »Hundsein«. Mistkäfer, Ameise: der Mistkäfer galt als glücklich, die Ameise als reich; der Kyniker ist mit wenig zufrieden. Hermes: Götterbote, Schutzgott der Reisenden. Mag die Natur auch ihre Früchte spenden, sie kann den Kyniker nicht vollständig ernähren; es bleibt eine Versorgungslücke. Diese Lücke schließen jene, die dem Kyniker Achtung entgegenbringen und ihn materiell unterstützen. Diogenes berichtet: »Einige brachten mir Geld, andere brachten Dinge, die Geldwert hatten, und viele luden mich zum Essen ein.« 14 Auch Jesus Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 20 - 2. Korrektur 20 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Zum Thema der auch jüdische Kyniker erreichte. Innerhalb der jüdischen Weisheit-- der des Alten Testaments und der nachbiblischen rabbinischen Überlieferung-- gibt es keine einzige Parallele zu diesem Ausspruch Jesu; die Herleitung aus der kynischen Tradition ist nicht zuletzt deshalb plausibel. Die Betonung der Sorglosigkeit und des Vertrauens auf Gottes väterliche Fürsorge lässt den optimistischen Grundzug der kynischen Philosophie, gleich ob von Griechen oder Juden vertreten, in aller Deutlichkeit hervortreten. Überlegene, heitere Ruhe ist ihr Kennzeichen. Für das Verständnis der kynischen Weltauffassung ist die neue Bewertung des Tieres von größter Bedeutung. Das herkömmliche griechische Denken ordnet die Lebewesen in eine hierarchische Stufenfolge ein: An unterster Stelle steht das Tier, dann folgt der Mensch als höheres Wesen, gefolgt von den Halbgöttern wie Herakles; an höchster Stelle, den Abschluss bildend, rangieren die Götter. Zugrunde gelegt ist die nach oben zunehmende Intelligenz: die Menschen sind intelligenter als die Tiere und die Götter sind am intelligentesten und verfügen gleichzeitig über die größte Macht. Die uns als natürlich erscheinende Abfolge Tier Mensch Halbgott Gott wird von den Kynikern umgestoßen. Nach ihrer Meinung dürfen Intelligenz und Macht nicht der Maßstab der Bewertung sein, vielmehr ist die Frage nach dem Glück zu stellen. Deshalb die von ihnen vorgeschlagene Rangfolge: Mensch Tier Halbgott Gott Denn ihnen gilt der Mensch als das am wenigsten glückliche Wesen; Tiere sind glücklicher, die Götter am glücklichsten. Diese Neubewertung des Tieres enthält eine Lehre, ja einen Aufruf an den Menschen: Nur wenn du zu deinem ursprünglichen, von der Zivilisation unverdorbenen Tiersein zurückkehrst, indem du die Tiere nachahmst, kannst du das Glück wiedererlangen. Tatsächlich gehört die Lehre vom Glück der Tiere zu den ältesten und grundlegenden Überzeugungen der Kyniker. Der Erwerb des Glücks erfordert als Preis das Aufgeben von typisch menschlichen Institutionen, besonders des Eigentums, aber auch der Ehe. Nur durch solchen Verzicht lassen sich die großen Glücksgüter Freiheit und Sorglosigkeit gewinnen. 5. Die »Diatribe«-- unterhaltsame Laienbelehrung Bekannt sind die kynischen Philosophen für ihre »Diatribe«. Sie lässt sich definieren als Laienbelehrung und Gesellschaftskritik in unterhaltsamer Form. In der Regel zielt sie nicht auf Rekrutierung von Menschen für die philosophische Lebensweise, sondern auf moralische Besserung aller Zuhörer oder Leser. Jeder soll sich angesprochen fühlen, jeder etwas lernen. Zwar dient die Diatribe oft dringlicher Ermahnung, aber trotz pädagogischer Absicht herrscht häufig ein munterer Plauderton, der gerne Vergleiche gebraucht und allerlei Zitate einflicht. Typische Themen sind der Vergleich von Reichtum und Armut (der stets zugunsten der Armut ausfällt, da Reichtum nur Sorgen mit sich bringt), die Empfehlung von Selbstgenügsamkeit als Lebensideal, der Kampf gegen die das Leben erschwerenden Leidenschaften, die Aussöhnung mit der Verbannung aus der Heimatstadt durch politische Gegner, die Warnung vor der Lust, die zu Unrecht als das höchste Gut gilt. Die Bewältigung von Schwierigkeiten im mitmenschlichen Umgang kommt ebenso zur Sprache wie die Aussöhnung mit Alter, Krankheit und Tod. Immer geht es um die Weitergabe einer hilfreichen, von Leid befreienden Sicht der Wirklichkeit. Später haben sich volkstümliche christliche Moralprediger der meisten dieser Themen bedient, so dass sie uns bekannt erscheinen. Auch die jüdischen Kyniker bedienen sich der Diatribe. Von Johannes dem Täufer wird eine zur Solidarität rufende Standespredigt überliefert: »Wer zwei Leibröcke hat, teile mit dem, der keinen hat. Und wer zu essen hat, der tue desgleichen. Es kamen auch Zöllner, um sich taufen zu lassen. Und sie sprachen zu ihm: Lehrer, was sollen wir tun? Er sprach zu ihnen: Treibt nicht mehr ein, als euch angeordnet. Aber auch Kampfsoldaten fragten ihn: Und wir, was sollen wir tun? Und er sprach zu ihnen: Keinen schindet, keinen erpresst, und lasst euch euren Sold genügen! « (Lk 3,11-14)-- eine Ermahnung also zum Teilen und zur Selbstbeschränkung; eine Rede gegen Habgier. Der Diatribenstil ist auch für Jesu Lehrart charakteristisch; darauf verweisen die Gleichnisse und Beispielerzählungen ebenso wie das Einflechten alttestamentlicher Zitate und Anspielungen. Schon in der Antike wurde die Nähe von Jesu Lehrart und der kynischen Diat- Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 21 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 21 Bernhard Lang Jesus-- ein kynischer Philosoph ribe bemerkt: Der Kirchenvater Origenes zählt auf, was Jesus mit Epiktet gemeinsam hat: Beide sprechen eine Sprache, die auch den gemeinen Mann erreicht. Das schwer verständliche Idiom der Platoniker, meint Origenes, habe nur wenigen genützt; »dagegen hat die Redeweise der Männer, die zugleich einfacher und sachlich und mit Berücksichtigung der großen Menge gelehrt und geschrieben haben, einer viel größeren Anzahl von Menschen Nutzen gebracht.« 17 Solche Männer, sagt Origenes, sind Jesus und der dem Kynismus verpflichtete Stoiker Epiktet! Die bei Lukas überlieferte jesuanische Parabel vom reichen Prasser und armen Lazarus ist ein Glanzstück aus dem Repertoire der Diatribe: Der Reiche gewährt dem vor der Tür seines Hauses darbenden Armen von seiner opulent gedeckten Tafel keinen einzigen Bissen; er hat kein Herz für den Armen. Als der Tod beide ereilt, kehrt sich ihr Schicksal um: Nun ruht Lazarus im Himmel, während der Reiche in der Hölle schmachtet, von schrecklichem Durst gequält (Lk 16,19-31). Diese Geschichte findet ihre nächste Entsprechung in der Erzählung vom reichen Tyrannen Megapenthes und dem armen Schuster Mikyllos. Lukians Erzählung 18 gehört zur Gattung der menippeischen Satire, einem Typ von Literatur, den der Kyniker Menippos begründet hat. Die Erzählung spielt in der Unterwelt. Sie berichtet von der Ankunft dreier gerade verstorbener Menschen im Totenreich- - dem Philosophen Kyniskos, dem Tyrannen Megapenthes und dem Schuster Mikyllos. Sie kommen vor den Totenrichter. Dieser schickt den Schuhmacher Mikyllos zusammen mit dem Philosophen Kyniskos (d. h., dem Kyniker) zu den Inseln der Seligen. Was den Reichen angeht, so zögert der Richter: Soll er ihn in den brennenden Feuersee werfen oder dem Kerberos zum Fraß überlassen? Auf den Vorschlag von Kyniskos wird eine andere Strafe verhängt: Gefesselt muss er auf ewig neben Tantalos stehen, Durst erleiden und sich an sein vergangenes Leben erinnern. Kein Leser der jesuanischen Parabel, der die hellenistische Tradition kennt, wird an ihrem kynischen Charakter zweifeln. Der Schuhmacher (bei Lukian) und der Bettler (bei Jesus) verkörpern den armen Philosophen, den ein gutes Schicksal im Jenseits erwartet. Die eigentliche Pointe der Geschichte vom armen Kyniker und vom reichen Prasser ist jedoch nicht die Jenseitslehre. Es geht vielmehr um die Aufforderung an die Reichen, den kynischen Philosophen gastfreundlich aufzunehmen. Darauf weist auch ein leicht übersehbarer Zug der lukanischen Fassung der Parabel: Lazarus kommt in Abrahams Schoß; griechisch betrachtet bedeutet das: Er ist ein Gastfreund des Abraham. Und Abraham ist jener, der nach einer Genesiserzählung fremde Reisende als Gäste empfängt und reichlich bewirtet (Gen 18). Kynische Philosophen wie der Lazarus der Parabel wären natürlich auch schon mit den Brotkrumen zufrieden, die bei einem Gastmahl zur Seite fallen. Eine von Jesus abgewiesene Frau sagt zum Meister: »Ja, du hast recht, Herr. Aber selbst die Hunde bekommen von den Brotresten, die vom Tisch ihrer Herren fallen« (Mt 15,27). Vielleicht hat die Frau Jesus auf seine kynische Philosophie angesprochen, wie ja Jesus selbst in der Parabel vom reichen Prasser darauf anspielt. Soweit zu einem jesuanischen Stück aus dem Repertoire der kynischen Diatribe! 6. Liebe deine Feinde! Wer sich zur philosophischen Lebensweise bekehrt, wird oft ausgelacht, mit Spott überschüttet und verhöhnt. 19 Erst recht, wer bettelt oder als öffentlicher Redner andere belehren will. Wer sich in anderer Leute Angelegenheiten einmischt, erfährt nicht selten schroffe Zurückweisung. Der Kyniker wird abgewiesen, beschimpft und sogar tätlich angegriffen. Wie soll der Philosoph reagieren? Die Antwort ist fester Bestandteil der kynischen Ethik: Misshandlung ist geduldig zu ertragen; der Kyniker soll sich keinesfalls zu nutzlosem Wortgefecht, Balgerei und Händel provozieren lassen. Der in sich gefestigte Philosoph hat gegenüber Angriffen immun zu sein. Das Ertragen von Misshandlung gilt als eine Art Initiationsprüfung für jene, die sich der kynischen Lebensweise anschließen. Laut Epiktet hat jeder, der sich auf den Beruf des Kynikers vorbereitet, viele Hiebe zu gewärtigen. »Auch dies ist ein außerordentlich feiner Faden im Gewebe des Kynikerberufs: Schinden lassen muss er sich wie ein Esel, und geschunden noch seine Schinder lieben-- ist er doch Vater und Bruder von allen.« 20 Trotz der Misshandlung hat der Kyniker die Rolle zu wahren, die er anderen gegenüber einnehmen muss: die eines Vaters und Bruders, der sich zu Nachsicht und Liebe verpflichtet weiß. Zumindest in der römischen Kaiserzeit empfehlen die Kyniker und ihre Anhänger Feindesliebe. Ein Beispiel gibt Seneca in seiner Abhandlung De clementia (Über die Milde, 55/ 56 n. Chr.), die er dem ungestümen Nero zum achtzehnten Geburtstag widmet. Milde und Menschlichkeit werden anhand eines eindrücklichen, wenngleich historisch zweifelhaften Beispiels geschildert: Nach einem gescheiterten Anschlag auf sein Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 22 - 2. Korrektur 22 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Zum Thema Leben lässt Kaiser Augustus seinen Gegner Cinna zu sich rufen. Dem Rat seiner Frau Livia folgend, bietet ihm der Kaiser Freundschaft an und ein hohes Amt in der Regierung: »Mit dem heutigen Tag soll abermals Freundschaft zwischen uns beginnen« (lat.: ex hodierno die inter nos iterum amicitia incipiat). 21 Der Feind soll zum Freund werden. Kein wahrhaft philosophisches Leben ohne Feindesliebe! Damit wird altes aristokratisches Ethos verlassen, dem zufolge galt: Kein wahrhaft heldenhaftes Leben ohne Rache am Gegner! Odysseus, in seine Heimat heimgekehrt, richtet-- pflichtgemäß-- ein Blutbad unter den Freiern seiner Gemahlin an. Die Philosophen verlassen dieses aristokratische Erbe: Odysseus ist zur Rache verpflichtet, Augustus zur Milde. Solche Milde findet ihr Vorbild im Handeln der Götter, die ihre Wohltaten ohne Rücksicht auf die Würdigkeit der Empfänger ausspenden: »Wenn du die Götter nachahmen willst, erweise auch undankbaren Menschen Wohltaten, denn auch Verbrechern geht die Sonne auf, und auch Seeräubern stehen die Meere offen.« 22 Um einen letzten Beleg anzuführen: »Der wahre Kyniker hat niemanden zum Feind, selbst den nicht, der seinen armseligen Körper schlägt oder seinen Namen in den Dreck zieht, ihn beschimpft und beleidigt, denn Hass empfindet man nur für einen [ebenbürtigen] Gegner, während der Überlegene den Konflikt mit einem anderen mit Wohlwollen zu würdigen pflegt.« 23 Mit diesen Worten empfiehlt Kaiser Julian die Feindesliebe, ein unverwechselbares Merkmal kynischer Ethik. Der jüdische Kyniker lehrt: »Liebt eure Feinde, betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters werdet«, denn auch er liebt seine Feinde, lässt er doch »seine Sonne aufgehen über Schlechte und Gute, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte« (Mt 5,44-45; Lk 6,27). So der Wortlaut von Jesu Gebot, das sich wie die Zusammenfassung einer Diatribe liest, die, der Gattung gemäß, eine Begründung und Erläuterung der ethischen Ermahnung bietet. Nur bei Lukas und Matthäus überliefert, entstammt der Spruch der Logienquelle, der ältesten Sammlung der Aussprüche Jesu. Nirgendwo im Alten Testament und auch nirgendwo mehr im Neuen Testament, auch nicht bei anderen jüdisch-hellenistischen Schriftstellern wie Philon oder Josephus, findet sich eine vergleichbare Aufforderung. 24 Nur wo kynischer Geist herrscht, kann Feindesliebe gelehrt und praktiziert werden. 7. Wo ist Jesus der kynischen Philosophie begegnet? Der jüdische Kynismus beruht auf der Begegnung von Judentum und Griechentum im Zeitalter des Hellenismus. Als erstes Zeugnis eines jüdischen Kynismus darf das um 200 v. Chr. entstandene Buch Kohelet gelten. Im ersten Jh. n. Chr. kommt es zu einer erneuten Begegnung von Judentum und kynischer Philosophie, und nun entsteht eine viele Menschen in ihren Bann ziehende soziale Bewegung-- der jüdische Kynismus. Zu ihm gehört auch Jesus. Wo ist Jesus der Philosophie des Diogenes- - der »Weisheit der Hunde«- - begegnet? Im stark hellenisierten Milieu seiner galiläischen Heimat. Schon seine ursprüngliche, von ihm aufgegebene berufliche Tätigkeit als Bauhandwerker erfordert, wie jede Tätigkeit in Handwerk und Handel, gewisse Grundkenntnisse des Griechischen. Sepphoris, die wichtigste Stadt seiner galiläischen Heimat, besitzt eine aus Juden und Heiden gemischte Bewohnerschaft; das offenbar zu Beginn des 1. Jh.s n. Chr. errichtete römische Theater besteht bis in die Spätantike. »Warum soll Jesus, aufgewachsen in der Umgebung von Sepphoris, nicht vereinzelte Aussprüche kynischer Wanderprediger gehört haben, zumal er wahrscheinlich selbst etwas Griechisch sprach? «, fragt Martin Hengel in seiner Studie über das enorme Ausmaß der Hellenisierung Palästinas in jener Zeit. 25 Ohne Griechischkenntnisse, ohne Kontakt zu kynischem Gedankengut, ohne die hellenistische Kultur Galiläas sind Jesus und seine ersten Anhänger nicht zu verstehen. Im Evangelium wird uns eine Frau als »Griechin, Syrophönizierin der Abstammung nach« (Mk 7,26) vorgestellt, also als eine hellenisierte Syrerin. Gerne würden wir wissen, wie diese Frau Jesus eingeschätzt hätte-- möglicherweise als »Grieche, der Herkunft nach ein Jude«. Wir kennen mehrere markante Persönlichkeiten des 1. Jh.s, auf die eine solche Charakterisierung zutrifft: Paulus von Tarsus, Philon von Alexandrien, Titus Flavius Josephus (so der vollständige Name des Historikers) und Justus von Tiberias. Wenn wir auch den Umfang der Griechischkenntnisse Jesu kaum mehr bestimmen können, so ist die Annahme, er habe nur die aramäische Volkssprache beherrscht, kaum glaubhaft; zu viel weist auf Jesu Zweisprachigkeit hin: Er muss neben der aramäischen auch der griechischen Sprache mächtig gewesen sein. 26 Tom Wright, Neutestamentler an der University of St. Andrews in Schottland, ist von der Mehrsprachigkeit Jesu überzeugt. In einem kürzlich veröffentlichten Zeitungsbeitrag verweist er auf die selbstverständliche Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 23 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 23 Bernhard Lang Jesus-- ein kynischer Philosoph Mehrsprachigkeit vieler, auch einfacher Menschen im heutigen Nahen Osten. Mühelos verständigen sie sich auf Arabisch, Griechisch und Englisch. 27 8. Abschließende Überlegung Am Ende angelangt, will ich noch einmal drei Fakten nennen, welche die These von »Jesus dem Hund«-- oder »Jesus als Diogenes«, oder jedenfalls »Jesus der Philosoph«-- unterstützen, ja unausweichlich machen: Erstens: Jüdische Volksprediger sind aus der Zeit Jesu nicht belegt; wohl aber durchwanderten kynische Volksprediger die ganze damalige Welt. Jesus ist kynischer Volksprediger. Zweitens: Begegnung mit einem kynischen Philosophen führte bei vielen Menschen zu spontaner Lebensänderung, zum Beispiel auch zur Aufgabe des gesamten Besitzes; Erzählungen davon gibt es viele; sie finden sich auch im Neuen Testament-- aber sonst nicht im jüdischen Milieu. Drittens: Die Aufforderung zur Feindesliebe ist typisch für Kynismus und Jesus, nicht aber für das traditionelle Judentum. Wir dürfen uns Johannes den Täufer und Jesus als junge Männer vorstellen. Von kynischem Gedankengut berührt, haben sie sich für diese Philosophie begeistert und auch anderen ihren Enthusiasmus zu vermitteln gewusst. Wir können Jesus als eine Diogenesgestalt sehen. Er verdient einen Platz unter den Philosophen der antiken Welt. Anmerkungen 1 B. Lang, Jesus der Hund. Leben und Lehre eines jüdischen Kynikers, München 2010. Zu diesem Thema vgl. auch folgende neuere Beiträge: L.E. Vaage, Q and Cynicism: On Comparison and Social Identity, in: ders., Columbus, Q and Rome: Reframing Interpretation of the Christian Bible (SBAB 52), Stuttgart 2011, 143-169; F. G. Dowing, Jesus and Cynicism, in: Tom Holmén/ Stanley E. Porter (Hgg.), Handbook for the Study of the Historical Jesus, Leiden 2011, Bd. 2, 1105-1136. 2 H. Gunkel, Zum religionsgeschichtlichen Verständnis des Neuen Testaments (FRLANT 1), Göttingen 1903, 6. 3 J. Moles, Cynic Influence upon First-Century Judaism and Early Christianity, in: B. McGing/ J. Mossman (Hgg.), The Limits of Ancient Biography, Swansea 2006, 89-116, hier: 104. 4 Kynikerbrief Diogenes Nr. 34,3; vgl. E. Müseler, Die Kynikerbriefe. Kritische Ausgabe mit deutscher Übersetzung, Paderborn 1994, 51. 5 Epiktet, Vorträge III, 22,23; vgl. G. Luck, Die Weisheit der Hunde. Texte der antiken Kyniker in deutscher Übersetzung, Stuttgart 1997, 347. 6 B. Russell, Wisdom of the West: A Historical Survey of Western Philosophy in Its Social and Political Setting, London 1959, 106. Das Thema »Lebensfreude und Lebensgenuss« fehlte offenbar in der ältesten kynischen Tradition, doch im 1. Jahrhundert n. Chr. war es fest verwurzelt, denn der dem Genuss zugewandte Aristippos von Kyrene wurde nun zu den Kynikern gezählt, vgl. Lang, Jesus der Hund, 59-61. 7 Überliefert von Diogenes Laërtios, Leben und Lehre der Philosophen VI, 83; vgl. ders., Leben und Lehre der Philosophen. Übersetzt von F. Jürß, Stuttgart 1998, 286 (Übersetzung modifiziert). 8 Nach der Übersetzung von Fridolin Stier. 9 Cicero, De officiis II, 60 und 64; vgl. ders., Vom pflichtgemäßen Handeln. Übersetzt von K. Atzert, München 1959, 91 und 92. 10 Ein Beispiel bietet die Stifterinschrift einer griechischsprachigen Synagoge in Jerusalem, 1. Jahrhundert; sie ist als Theodotos-Inschrift bekannt: J. Schröter/ J.K. Zangenberg (Hg.), Texte zur Umwelt des Neuen Testaments, Tübingen 2012, 483. 11 D. Fiensy/ R.K. Hawkins (Hg.), The Galilean Economy in the Time of Jesus, Atlanta, Ga. 2013. 12 G. W. Buchanan, Jesus and the Upper Class, NovT 8 (1964), 195-209. 13 Josephus Flavius, Vita 11; vgl. ders., Aus meinem Leben (Vita). Besorgt von F. Siegert u. a., Tübingen 2001, 26-27. 14 Kynikerbriefe Diogenes Nr. 38, 3; vgl. Luck, Die Weisheit der Hunde, 188. 15 Plutarch, Moralia/ De profectibus in virtutem 77 E; vgl. Luck, Die Weisheit der Hunde, 129-130. 16 Dion Chrysostomos, Rede X, 16; vgl. ders., Sämtliche Reden. Übersetzt von Winfried Elliger, Zürich 1967, 167. 17 Origenes, Contra Celsum VI, 2; vgl. ders., Acht Bücher gegen Celsus. Übersetzt von P. Koetschau (Bibliothek der Kirchenväter), München 1927, Bd. 2, 95. 18 Lukian, Die Reise in die Unterwelt oder der Tyrann, gewöhnlich zitiert als Cataplus ; vgl. Lukian von Samosata,Werke in drei Bänden. Übersetzt von C.M. Wieland, Berlin 1974, Bd. 1, 422-440 unter dem Titel »Die Überfahrt oder Der Tyrann«. Vgl. dazu N. Neumann, Armut und Reichtum im Lukasevangelium und in der kynischen Philosophie (SBS 220), Stuttgart 2010. 19 Epiktet, Encheiridion 22; vgl. ders., Handbüchlein der Moral. Griechisch/ deutsch. Übersetzt von K. Steinmann, Stuttgart 1992, 28-29. 20 Epiktet, Vorträge III, 22, 54; vgl. Luck, Die Weisheit der Hunde, 352. 21 Seneca, De clementia III, 7,11; vgl. L. Annaeus Seneca, De Clementia-- De Beneficiis. Über die Milde-- Über die Wohltaten. Übersetzt von M. Rosenbach (Seneca, Philosophische Schriften, Bd. 5), Darmstadt 1989, 52-53. 22 Seneca, De beneficiis IV, 26,1; vgl. ders., De Clementia-- De Beneficiis, 340-341. 23 Julian, Gegen den Kyniker Herakleios 214 D; vgl. Luck, Die Weisheit der Hunde, 439. Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 24 - 2. Korrektur 24 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Zum Thema 24 Das ist das Ergebnis der Untersuchung von J.P. Meier, A Marginal Jew: Rethinking the Historical Jesus, London 2009, Bd. 4, 532-551.-- Die kynische und jesuanische Feindesliebe gehört zum Ethos philosophischer Menschen, die in der Stadt von Unbekannten ob ihres Auftretens und ihrer Botschaft misshandelt werden. Das ist ein neues Ethos; wir dürfen es nicht verwechseln mit dem weltweit verbreiteten Ethos der Unterstützung der persönlichen Feinde im dörflichen Kontext. Das dörfliche Ethos lässt sich neben der Bibel (Spr 25,21; Ex 23,4-5) z. B. auch aus der altägyptischen »Lehre des Ani« belegen: »Man gibt Brot auch dem, den man nicht mag« (H. Brunner, Die Weisheitsbücher der Ägypter, Düsseldorf 1998, 209). Zum Unterschied zwischen dem dörflichen und dem städtischen Typ der Feindesliebe vgl. B. Lang, Die 101 wichtigsten Fragen-- Die Bibel, München 2013, 97-98. 25 M. Hengel, Judaica et Hellenistica. Kleine Schriften I, Tübingen 1996, 72. 26 S.E. Porter, Did Jesus ever Teach in Greek? , Tyndale Bulletin 44 (1993), 199-235. 27 T. Wright, In Israel’s Scriptures, Times Literary Supplement 5672 (December 16, 2011), 10-12, hier: 12. Martin H. Jung Kirchengeschichte UTB basics 2014, X, 292 Seiten, 30 s/ w Abb., €[D] 24,99 / SFr 34,70 ISBN 978-3-8252-4021-9 Eine Kirchengeschichte kann heute nur als Geschichte des Christentums geschrieben wer den, die das Christentum als Religion unte Religionen ansieht und behandelt, dabei auch die außerkirchlichen Vernetzungen und Wir kungen berücksichtigend. Dieses Lehrbuch vermittelt verständlich und übersichtlich das Basiswissen dazu und erläu tert historische Zusammenhänge ebenso wie theologische Ideen und Grundeinsichten in ihren geschichtlichen Kontexten. Martin H. Jung Kirchengeschichte UTB basics 2014, X, 292 Seiten, 30 s/ w Abb., €[D] 24,99 / SFr 34,70 ISBN 978-3-8252-4021-9 Eine Kirchengeschichte kann heute nur als Geschichte des Christentums geschrieben wer den, die das Christentum als Religion unte Religionen ansieht und behandelt, dabei auch die außerkirchlichen Vernetzungen und Wir kungen berücksichtigend. Dieses Lehrbuch vermittelt verständlich und übersichtlich das Basiswissen dazu und erläu tert historische Zusammenhänge ebenso wie theologische Ideen und Grundeinsichten in ihren geschichtlichen Kontexten. Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 25 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 25 Vor einigen Jahren bin ich in Texten aus unterschiedlichen Bereichen der römischen Kaiserzeit auf ein neues kulturelles »Subjekt« gestoßen, in medizinischen Schriften, paganen kultischen Quellen, in der neu entstehenden Romanliteratur, und ebenso in zeitgenössischen philosophischen und christlichen Schriften. 1 In Quellen aus unterschiedlichen sozialen Kontexten ging man dazu über, eine besondere Repräsentation des menschlichen Selbst in Gestalt des für Schmerz und Leid anfälligen Körpers zu entwerfen. Bis zu dieser Entdeckung las ich diese literarischen Bezüge auf körperliches Leiden als zusammenhanglose Beschreibungen unspezifischer Ereignisse. Als ich mir aber klarmachte, wie etwa Apuleius, ein afrikanischer Philosoph und Prosaschriftsteller des 2. Jhs., in einer öffentlichen Rede seine von einem gezerrten Knöchel herrührende Übelkeit beschreibt (Florida 16), wurde mir deutlich, dass dasjenige, was ich einfach als realistische Beschreibung gelesen hatte, eigentlich Teil der umfassenden Artikulation einer neuen kulturellen Subjektivität war, nämlich, das Selbst als ein Leidendes zu begreifen, und dass damit die vorherrschende Konzeptualisierung des Selbst als einer mit Seele bzw. Verstand identischen Kontrollinstanz über den Körper infrage gestellt wurde. Mir wurde auch klar, dass es jene neue Artikulation des »Subjekts« als leidendes Selbst war, aufgrund derer das Christentum als soziale und politische Größe seine institutionelle Macht gestaltete und erlangte. Dass mir dies nicht früher aufgefallen war, illustriert die inhärente Magie kultureller Diskurse (verstanden als ein Ensemble von Ideen, Bildern und Überzeugungen, die in einer bestimmten Gesellschaft zirkulieren): Sie schläfert die Leute ein und lässt sie vergessen, hinter ihre Projektionen der Realität zu schauen und etwa zu fragen: Warum kommt dieses und jenes Thema gerade jetzt auf? Warum in dieser besonderen Weise? Welchen Zwecken dienen diese Arten kultureller Repräsentation bei Autoren und Rezipienten? Die Macht eines kulturellen Diskurses besteht eben in seiner bemerkenswerten Fähigkeit, den Ton anzugeben und zugleich die eigenen Voraussetzungen dadurch unsichtbar zu machen, dass er sie mit dem Schein des Alternativlosen umgibt. Dabei ist doch jede Repräsentation einseitig und unvollständig. Jede Repräsentation der »Realität« lässt etwas aus, wenn sie etwas anderes integriert. Deshalb kann ein kultureller Diskurs niemals die »reale« Welt repräsentieren, sondern immer nur eine Welt, die durch in der jeweiligen Kultur wirkende soziale Kategorien, Beziehungen und Institutionen vermittelt ist. Was im Raum der Kultur »Realität« heißt, ist immer gemacht und immer veränderbar. Kulturelle Repräsentationen reflektieren stets die besonderen Voraussetzungen und Ziele ihrer Kultur. Und wenn kulturelle Diskurse auch nicht »die Realität« repräsentieren, so haben sie doch sehr reale Auswirkungen. Individuen bilden ihr Selbstverständnis, ihre sozialen Rollen und ihre Welt durch die Linse ihrer spezifischen kulturellen Schwerpunkte, und die »Realität« dieser Praktiken verhilft zur Aneignung eines kulturellen Bewusstseins. Wenn aber Wahrnehmungen der Realität stets durch kulturell vorgegebene Kategorien gefiltert werden, dann ist die Wahrnehmung überall dort eingeschränkt, wo keine passende Beschreibungskategorie vorhanden ist. In der Folge bleiben Dinge dem kulturellen Bewusstsein verborgen. Man kann sich das anhand eines einfachen Beispiels klarmachen: Lernt man ein neues Wort, so begegnet es einem plötzlich auf Schritt und Tritt. Diese gängige Erfahrung nötigt zu der schaurigen Anerkenntnis der Tatsache, dass die bisherige Unkenntnis dieses Wort vor dem eigenen Bewusstsein verborgen hat, obwohl man ihm möglicherweise oftmals begegnet ist. Das Beispiel illustriert, wie es geschehen kann, dass man keine Wahrnehmung von etwas hat, obwohl es einem buchstäblich vor Augen steht. Ein Beispiel von größerer Tragweite ist die kopernikanische Wende: Vorkopernikanisch haben westliche Beobachter Phänomene, die ihrer geozentrischen Kosmologie widersprachen, entweder schlicht nicht gesehen oder aber außer Acht gelassen, etwa die planetarischen Umlaufbahnen. Im Paradigma des operativen Wissens enthielten diese Phänomene keinen Sinn und blieben deshalb unbemerkt. 2 Judith Perkins Verwehrtes Personsein Zum Thema »Wenn [...] Wahrnehmungen der Realität stets durch kulturell vorgegebene Kategorien gefiltert werden, dann ist die Wahrnehmung überall dort eingeschränkt, wo keine passende Beschreibungskategorie vorhanden ist. In der Folge bleiben Dinge dem kulturellen Bewusstsein verborgen.« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 26 - 2. Korrektur 26 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Zum Thema (le souci de soi) betonte. Individuen begannen, sich selbst als »Erkenntnisgegenstand und Handlungsbereich« zu sehen. 3 Foucault zeigt, dass in dieser Zeit »die Kunst der Existenz-- die téchne tû bíu in ihren unterschiedlichen Formen-- von dem Prinzip beherrscht wird, wonach man ›für sich selbst sorgen‹ muß«. 4 Er stellt in Rechnung, dass diese »Sorge des Selbst« ein permanentes Thema bereits der klassischen Philosophie war, sah aber in der frühen römischen Kaiserzeit deren Zenit: »In der langen Entwicklung der Lebenskunst im Zeichen der Sorge um sich können die beiden ersten Jahrhunderte der Kaiserzeit als Scheitelpunkt einer Kurve angesehen werden: eine Art Goldenes Zeitalter in der Kultur seiner selber, ein Phänomen, das freilich nur jene zahlenmäßig geringen sozialen Gruppen betraf, die Kulturträger waren und für die eine téchne tû bíu einen Sinn und eine Realität haben konnte.« 5 Mit seinem Schwerpunkt auf Lebensformen der kulturtragenden Elite bewegt sich Foucault freilich ganz im Fahrwasser antiker philosophischer Konvention. Die Praxis philosophischer enkrateia (Enthaltsamkeit, Selbstbeherrschung) diente dazu, »sich darauf vorzubereiten, Beziehungen der Dominierung Untergebener aufrecht zu erhalten […]. Es handelte sich vorrangig um die moralische Möglichkeitsbedingung der Herrschaft über andere« 6 . Tatsächlich bezieht sich Foucault in seiner Analyse der epistemologischen Dynamik jener Zeit und der »Sorge um sich« (epimeleisthai heautou)-- jener Neubelebung der sokratischen Maxime, die dem »erkenne dich selbst« (gnōthi sauton) Platons voraus ging- - hauptsächlich auf die Oberschicht. Foucault verfolgt das Motiv der Selbstsorge bis in Platons frühe Dialoge zurück und verweist auf Sokrates’ letzte Worte, mit denen er Kriton daran erinnert, den Hahn für Asklepios nicht zu vergessen: »Vergesst dieses Opfer nicht! « (mē amelēsēte; Phaidon 118a) 7 . Die finale Aufforderung »nicht zu vergessen« deckt sich mit dem Insistieren des Sokrates der Frühdialoge auf der »Sorge um sich«, in verwandter Formulierung (heautou epimeleisthai). Mit seinen letzten Worten erinnert sich Sokrates an seine Schulden an Asklepios für seine Heilung: Für ihn ist sein Tod eine Freilassung, kein Übel. Für Sokrates beinhaltet philosophisches Denken das Ablegen des Körpers und das Vertrauen auf die Seele. Der Körper (gr.: sōma) ist ein Hindernis für das philosophische Denken. Er ist ein »Grab«, sēma (Kratylos 400c). Die Unterscheidung zwischen Verstand/ Seele und Körper war traditionell dafür da, soziale Hierarchien zu fundieren. Platon behauptet in der Politeia, dass körperliche Arbeit entwürdigend ist und es Sklaven und Arbeitern verwehrt sei, sich selbst zu beherrschen oder die eigenen Denker des 20. Jhs. wie Hans-Georg Gadamer, Thomas Kuhn und Michel Foucault mit ihren verwandten Begriffen des »Erwartungshorizonts«, des wissenschaftlichen »Paradigmas« und der historischen Episteme haben herausgearbeitet, in welchem Maße die historische Situation die ontologischen Annahmen und die Wahrnehmungen einer Kultur beeinflusst. Für Foucault ist Episteme das »historische Apriori«, die Annahmen und Weisen des Verstehens, die Ideen in einem bestimmten historischen Zeitraum vernünftig erscheinen lassen, während sie unter anderen historischen Bedingungen als ungerechtfertigt und unhaltbar gelten müssen. Foucault hat in seinen Schriften historische Momente untersucht, in denen »epistemische Brüche« bzw. diskursive Verschiebungen auftraten und das bisher Undenkbare und Absurde auf einmal als offensichtlich, vernünftig und erwartbar galt. Foucault beobachtete in den ersten Jahrhunderten der römischen Kaiserzeit solch einen Moment der epistemischen Verschiebung, als das klassische »Subjekt« einer neuen Subjektivität Platz machte, die die »Selbstsorge« Judith Perkins ist emeritierte Professorin an der University of Saint Joseph, West Haftford, Ct. 1972 Ph.D. für Classical Studies University of Toronto; 1967 M.A. Classical Studies. Zu Ihren wichtigsten Veröffentlichungen zählen: Roman Imperial Identities in the Early Christian Era. (2009); The Suffering Self: Pain and Narrative Representation in the Early Christian Era, (1995). Judith Perkins ist Mitherausgeberin von: Dies./ R. Hock/ J.B. Chance (Hgg.), Ancient Fiction and Early Christian Narrative (1998); Dies./ M.F. Pinheiro/ R.I. Pervo (Hgg.), The Ancient Novel and Early Christian and Jewish Narrative: Fictional Intersections, (2012); Dies./ D. Lateiner/ B.K. Gold, Roman Literature, Gender, and Reception: 2013; Dies./ I.Ramelli, Early Christian and Jewish Narrative: Role of Religion in Shaping Narrative Forms, (im Erscheinen) Prof. Dr. Judith Perkins Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 27 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 27 Judith Perkins Verwehrtes Personsein natürlichen Instinkte zu kontrollieren. Die Ideologie der griechisch-römischen Eliten hielt daran fest, dass für Menschen, die zu körperlicher Arbeit gezwungen waren oder körperlichen Bedürfnissen abzuhelfen hatten, ein wirklich ehrenhaftes menschliches Leben nicht möglich war. Platon erklärt im Phaidon, »seinem [des Körpers] Unterhalt als Knechte dienend […] finden wir seinetwegen keine Muße für die Philosophie« (66d). »Solange wir nämlich einen Leib haben und solange unsere Seele mit einem solchen Übel vermengt ist, werden wir niemals besitzen, wonach wir streben, […] das Wahre« (66b). 8 Es galt als ausgemacht, dass die niederen Tätigkeiten von Arbeitern, Handwerkern, Händlern und dergleichen mit naturhafter Notwendigkeit niedere Menschen hervorbringen. In der frühen Kaiserzeit war es die Stoa, die sich die sokratische Präferenz der Selbstsorge am stärksten zu eigen gemacht hat. Die Stoiker Seneca (4 v. Chr.-- 65 n. Chr.), Epiktet (ca. 55-135 n. Chr.) und Marc Aurel (121-180 n. Chr.) verstanden die stoische Ethik als Anleitung zur Kunst eines guten Lebens. Dies wird am Werk Epiktets besonders deutlich. Zwar hat er selbst nichts schriftlich hinterlassen, doch hat sein Schüler Arrian erklärtermaßen Epiktets Lehrvorträge wörtlich mitgeschrieben und sie in den Dissertationes sowie zusammenfassend im Handbuch veröffentlicht. Arrians Texte sind der Niederschlag einer philosophischen Ausbildung, wie sie wohlgeborene junge Männer jener Zeit genossen. Als freigelassener Sklave hatte Epiktet bei dem römischen Stoiker Musonius Rufus studiert. Nach der Vertreibung der Philosophen aus Rom unter Domitian setzte Epiktet seine Lehrtätigkeit in Nikopolis im Nordwesten Griechenlands fort, wo Arrian um 108 sein Schüler wurde. Seine Schüler, allem Anschein nach sämtlich aus gutem Hause, erhielten in Vorbereitung auf ihre Pflichten als Angehörige der städtischen Eliten eine philosophische Ausbildung. Die Texte Epiktets sind eine wichtige Quelle für Ansichten und Selbstverständnis dieser jungen Leute in Vorbereitung auf ihre privilegierte Rolle in der Gesellschaft. Die Stoiker waren der Ansicht, dass die Welt in allen ihren Teilen einer kosmischen Ordnung untersteht, die »von einem Prinzip unter den mannigfachen Namen Zeus, Gott, Vernunft, Ursache, Verstand und Schicksal« konstituiert wird. 9 Alles, was passiert, ist eine Auswirkung dieses einen Prinzips. Emotionale Selbstkontrolle war ein zentraler stoischer Grundsatz. Das Ziel der tugendhaften Person, des stoischen »Weisen« (lat.: sapiens), war ein Leben ohne Leidenschaften, die als gewaltsame Regungen der Seele verstanden wurden. Um diesen Zustand zu erreichen, musste man zu der Auffassung gelangen, dass Tugend das einzig Gute ist und Untugend das einzige Übel. Alles andere ist gleichgültig. Gemäß diesem stoischen Paradigma bedeutet Tugend ein Leben in Übereinstimmung mit der Natur. Gemeint ist eine Konformität mit dem jeweiligen Gang der Dinge. Epiktet formuliert es bündig so: »Verlange nicht, daß alles so geschieht, wie du es willst, sondern wolle, daß alles so geschieht, wie es geschieht, und du wirst in Frieden leben« (Handbuch 8). 10 Der stoische Diskurs konstruiert Subjekte, die ihre ganze Kraft darauf verwenden, nur dasjenige zu kontrollieren, was in ihrer Macht steht, dasjenige, wie Epiktet sagt, das »uns angeht« (gr.: eph' hēmin), nicht aber die äußeren Umstände. Epiktet stellt diejenigen Gegenstände zusammen, die der individuellen Kontrolle unterliegen: »In unserer Gewalt steht unser Denken, unser Tun, unser Begehren, unsere Abneigung, kurz: alles, was von uns selber kommt. Nicht in unserer Gewalt (gr.: ouk eph' hemin) steht unser Leib, unsere Habe, unser Ansehen, unsere äußere Stellung-- mit einem Wort, alles, was nicht von uns selber kommt (Handbuch 1). 11 Tugend ist mithin eine Sache der Selbstbeherrschung. Diese wird erreicht durch eine strenge Selbstkontrolle im Blick auf die eigenen Einstellungen und Wünsche. Dieser Vorrang der Selbstbeherrschung kommt in zwei Worten zum Ausdruck, die Epiktet nach dem Zeugnis des Aulus Gellius verwendet hat, um die Grundlage für ein gutes Leben zusammen zu fassen. Diese Worte werden üblicherweise übersetzt mit »leide« (anechou) und »meide« (apechou). Treffender ist vielleicht »Ertrage und entsage«. Für Epiktet besteht die Tugend in der Entsagung ohne Klage über äußere Umstände, wie hart diese auch sein mögen, und in der Absage an Übertretungen, wie verführerisch sie sich auch geben. Allein Tugend und Untugend zählen. Schmerz gehört zum großen Bereich der Dinge, die jenseits der individuellen Kontrolle liegen und deshalb »gleichgültig« sind. Für Epiktet besteht das Selbst aus zwei Teilen, erstens der prohairesis, der moralischen Wahl, die bei Epiktet geradezu persönliche Züge trägt, wie ein »Selbst«, ein »Ich«, das innere ordnende Vermögen. Der »Die Unterscheidung zwischen Verstand/ Seele und Körper war traditionell dafür da, soziale Hierarchien zu fundieren. Platon behauptet in der Politeia, dass körperliche Arbeit entwürdigend ist und es Sklaven und Arbeitern verwehrt sei, sich selbst zu beherrschen oder die eigenen natürlichen Instinkte zu kontrollieren.« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 28 - 2. Korrektur 28 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Zum Thema andere Teil ist das prosōpon, eine persona, ein objektives Selbst, das oft mit dem Körper assoziiert wird. Es ist das »mich«, das andere wahrnehmen. 12 Epiktet betont immer wieder, dass Menschen äußere Ereignisse nicht kontrollieren können, Tod oder Schiffbruch beispielsweise. Menschen haben aber ihre Einstellungen zu diesen äußeren Ereignissen durchaus unter ihrer Kontrolle, und diese Einstellungen müssen sie für ein tugendhaftes Leben beherrschen. Da der Tod ein äußeres Ereignis ist, ist er für Epiktet per definitionem gleichgültig. Das Urteil, der Tod sei ein widriges Ereignis, ist ein Übel, denn es befindet sich nicht im Einklang mit den Dingen, wie sie sind, d. h. mit der Natur. Epiktet wiederholt diese Lektion von der Gleichgültigkeit der äußeren Dinge wieder und wieder in seinen Dissertationes. Er hält seine Schüler dazu an, bei Tagesanbruch das Haus zu verlassen und sich bei allem, was ihnen begegnet, zu fragen, ob das nun gut oder gleichgültig ist. Alles, was nicht unter die Kontrolle des moralischen Vorsatzes fällt (prohairesis), sollen sie als bedeutungslos ansehen: Was hast du gesehen? Einen, der über den Tod seines Kindes trauert. Nimm die Regel her: Der Tod steht nicht in unserer Macht. Weg mit der Trauer! Es ist dir ein Konsul begegnet, die Regel her: Ist das Konsulat unser oder nicht? Nicht in unserer Gewalt; also laß auch das, es geht dich nichts an. (Diss 3. 3. 15). 13 Seine Schüler müssen dahin kommen, dass sie eine hohe gesellschaftliche Position und Reichtum nicht als Güter ansehen und Schmerz und Armut nicht als Übel. Einmal vermerkt er, dass seine Schüler diese Lektion noch nicht gelernt haben. Sie sehen einen Konsul und denken: Ein glücklicher Mann! Sie sehen gramgebeugte, verbannte oder arme Menschen und denken: Wie jämmerlich sie sind! Aber solche Gedanken sollte man, sagt Epiktet, ablegen: »Was ist denn Weinen und Wehklagen? Die Folgen eines Grundsatzes; und Unglück? Ebenfalls. […] Das sind alles Folgerungen von Grundsätzen und nichts anderes, und zwar Grundsätze über uns fremde Dinge, als wären diese gut oder böse. Das sollte man lieber bei Dingen tun, die in unserer Gewalt stehen, und ich gebe dir meine Hand darauf, du wirst unerschütterlich sein, wie es auch immer um dich bestellt sein mag.« (Diss. 3. 3. 18-19). 14 Epiktet wiederholt diesen Punkt oft: Gut und Böse sind niemals Eigenschaften äußerer Dinge, sondern immer nur Eigenschaften individueller Urteile über äußere Dinge. Er besteht darauf, dass es nicht ein Zeichen göttlicher Ungunst ist, wenn einzelnen Menschen Armut, Krankheit, Exil oder gesellschaftlicher Abstieg widerfährt. Vielmehr setzt Gott diese Menschen als Zeugen (im Griechischen: »Märtyrer«) ein, dass nichts außerhalb des moralischen Urteils Schaden zufügen kann. Schmerz, Armut, Verbannung, Gefängnis und Ähnliches ist gleichgültig und kann das wirkliche Selbst nicht affizieren. Es geht Epiktet allein darum, die eigene Haltung zu kontrollieren, indem man sie in Einklang bringt mit dem, was der Fall ist. Das ist das Reich der Tugend. Äußerliches ist gleichgültig. Entscheidend ist die individuelle Reaktion darauf. Epiktet vergleicht wiederholt den Menschen mit einem Schauspieler, der seine Rolle spielt. Um welche Rolle es sich handelt, ist gleichgültig. Entscheidend ist, wie man sie spielt: »Merke: du hast eine Rolle zu spielen in einem Schauspiel, das der Direktor bestimmt. Du mußt sie spielen, ob das Stück lang oder kurz ist. Gibt er dir die Rolle eines Bettlers, so mußt du diese dem Charakter der Rolle entsprechend durchführen; ebenso, wenn du einen Krüppel, einen Herrscher oder einen Philister spielen sollst. Deine Aufgabe ist einzig und allein, die zugeteilte Rolle gut durchzuführen; die Rolle auszuwählen, steht dir nicht zu.« (Handbuch 17). 15 Demzufolge ist es jedermanns Pflicht, die je eigene Rolle gut zu spielen, ganz gleich unter welchen Umständen. Außerdem ist es unerheblich, welche Rolle jemand zugewiesen bekommt. Ein Schauspieler spielt Ödipus den König nicht mit schönerer Stimme oder größerem Vergnügen als Ödipus den Bettler in der Verbannung. Ebenso sollte es dem Einzelnen gleichgültig sein, welche Rolle ihm zugewiesen wurde, nicht aber, wie er ihr gerecht wird: »So ist auch das Leben etwas Gleichgültiges […], was man aber für einen Gebrauch davon macht, ist nicht gleichgültig« (2.6.1) 16 . Es gibt keine schlechten Rollen. Menschen können wie Schauspieler in jeder Rolle glänzen, als Krüppel ebenso wie als König. Sie tun das, wenn sie ihren Gleichmut und ihre Seelenruhe angesichts äußerer Umstände vorführen. Für Epiktet ist »Fest« bzw. »Feiertag« der passende Ausdruck aller menschlicher Existenz (3,5,10; 4,4,24). Man müsse sich nur klarmachen, dass jedes Leben einem göttlichen Plan folgt und dass nichts äußeres einem schaden kann, dann würde man alles, was einem widerfährt, willkommen heißen. Weil Schmerz das eigentliche Selbst nicht affizieren oder belästigen kann, gibt es niemals eine Ursache für Kummer. An denen, die jammern, hält sich Epiktet nicht auf. Beispielweise tadelt er jemanden, der sich grämt, der Tod könne ihm seine Familie entreißen: »Willst du dem Stärkeren nicht nachgeben? Warum hat er mich unter diesen Bedingungen in die Welt gesetzt? -- Wenn es dir nicht paßt, dann geh doch fort. Gott braucht keinen unzufriedenen und streitsüchtigen Zuschauer.« (Diss. 4. 1. 107-9). 17 Epiktet prägt seinen Schülern ein, dass sie die Dinge so akzep- Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 29 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 29 Judith Perkins Verwehrtes Personsein tieren sollen, wie sie sind, und nur so lange in diesem Leben zu verweilen, wie sie das Fest des Lebens zu genießen vermögen. Der Freitod ist eine vernünftige Antwort auf unerwünschte Umstände. Es scheint, dass sich nur derjenige, der keine eigene Anschauung von bitterer Armut hat, zu der Behauptung versteigen kann, es mache keinen Unterschied, ob man die Rolle eines Königs oder eines Bettlers spielt. Epiktet verrät seine bestenfalls oberflächliche Kenntnis von den tatsächlichen Lebensumständen eines Bettlers, wenn er räsoniert, Armut sei einem langen Leben förderlich: »Man sieht ja nicht bald einen Bettler, der nicht alt, der nicht steinalt sei. Sie stehen Tag und Nacht Frost aus; sie liegen auf der bloßen Erde, haben gerade nur so viel zu essen, als unbedingt nötig ist, und bringen es doch beinahe so weit, dass sie nicht sterben können.« (Diss.3.26.6) 18 . Epiktets Einschätzung scheint von den Auswirkungen eines Lebens in Armut auf die, die sie ertragen müssen, doch sehr weit entfernt zu sein. Hungersnöte waren in seiner Zeit an der Tagesordnung. 19 Es kommt ihm nicht in den Sinn, dass eine Existenz wie die von ihm beschriebene jeden, der sie führt, vorzeitig altern und deshalb alt aussehen lässt. Epiktets Lehre über das Innere, über Selbstbeherrschung und Selbstbildung, wie auch seine Leugnung jeglicher Bedeutung äußerer Dinge, war geeignet, die Aufmerksamkeit seiner Schüler von den sozialen und materiellen Gegebenheiten ihrer Umwelt abzulenken. Epiktet notiert ausdrücklich, dass Probleme und Belange anderer Leute das eigene Wohlbefinden niemals beeinträchtigen sollen. Er rügt einen Schüler, der der sich um den Kummer seiner Mutter Gedanken macht, die ihren Sohn nicht sehen kann: »Warum hat sie sich nicht auch diese Lehren angeeignet? Ich will damit nicht sagen, daß du dich nicht darum kümmern sollst, daß sie aufhört zu seufzen; sondern man soll sich um das uns Fremde nicht kümmern; und die Trauer eines anderen ist etwas Fremdes, nur die meinige Trauer geht mich etwas an.« (Diss. 3. 24. 20). 20 Epiktet macht geltend, dass die Mutter wissen sollte, dass ihr Kummer unerwünscht ist. Und der Sohn sollte nicht seinen Gleichmut für den Fehler der Mutter aufs Spiel setzen. Er muss sich klarmachen: »Man soll sich um das uns Fremde nicht kümmern«. Epiktets Auffassung, dass Krankheit, Armut, soziale Stellung und alle anderen äußerlichen Dinge dieser Art keine Bedeutung haben, arbeitet ganz offensichtlich den Eliten in die Hände, nicht den Rechtlosen. Sein Rat, allein wichtig sei, wie gut man mit Armut, Gefangenschaft oder politischer Bedeutungslosigkeit sich arrangiere, und dass man sich verbieten solle, sich von derlei Umständen stören zu lassen, legitimiert den sozialen gesellschaftlichen status quo und damit die sozialen und politischen Machtverhältnisse. »Die Stoa erhob die Aufrechterhaltung der vorherrschenden sozialen und politischen Ordnung zu einem Gebot der Vernunft und der Natur und gab ihr die höchsten philosophischen Weihen« 21 . Es ist unschwer zu erkennen, inwiefern die von Epiktet und anderen zeitgenössischen Philosophen vertretenen Grundsätze maßgeblich zum sozialen »Schleier der Macht« beitragen, zu jenem ideologischen Schleier, der dazu da ist, die Fakten der sozialen Realität von den Eliten selbst wie auch von anderen gesellschaftlichen Gruppen zu verbergen. Richard Gordon verwendet diesen Ausdruck, um die soziale und religiöse Funktion antiker Religionen zu beschreiben. Diese erzeugten nach Gordon die Struktur der »Reziprozität zwischen Ungleichen: schicksalhafte Gunst und Unveränderlichkeit«, und sie verliehen den Beziehungen zwischen den Eliten und den anderen Schichten im Bewusstsein aller Beteiligten den Schein der Normalität. 22 Gordon arbeitet präzis heraus, dass Eliten nicht bewusst religiöse und andere Institutionen zur Verschleierung der wahren gesellschaftlichen Machtverhältnisse gebrauchten, dass sie also nicht etwa ein groß angelegtes soziales Betrugsmanöver vollführten. Eine soziale Ideologie funktioniert vielmehr so, dass sie »einen unbewussten Schleier erzeugt, der das Bild der sozialen Realität verzerrt […] und die ihr zugrunde liegenden Interessen vergeistigt« 23 , und zwar auch gegenüber denjenigen, die davon am meisten profitieren.Ein Effekt dieses Schleiers ist eine verzerrte Sicht auf die Situation der Unterschicht. Epiktets Lehren waren offensichtlich ein Beitrag hierzu. Seine Behauptung, das Leben eines Bettlers sei kein Nachteil, solange der Betreffende seine Rolle gut spielt, schließt jedes Mitleid mit denjenigen, die in bitterer Armut leben, aus und behindert Versuche, die Situation der Armen zu verbessern. Denn es ist ja Sache der Anderen, ihr eigenes Elend dadurch zu bewältigen, dass sie es als Teil eines göttlichen Planes erkennen. Jedes Unterfangen, sich der Not anderer anzunehmen, wird dann gegenstandslos. »Es ist unschwer zu erkennen, inwiefern die von Epiktet und anderen zeitgenössischen Philosophen vertretenen Grundsätze maßgeblich zum sozialen ›Schleier der Macht‹ beitragen, zu jenem ideologischen Schleier, der dazu da ist, die Fakten der ›sozialen Realität von den Eliten selbst wie auch von anderen gesellschaftlichen Gruppen zu verbergen.« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 30 - 2. Korrektur 30 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Zum Thema In der Zeit Epiktets kam eine neue Literaturgattung auf: Der griechische Roman. Diese Romane haben fast ausnahmslos denselben plot: Die Liebe eines jungen Paares, die Trennung, Reisen, Prüfungen und Beschwernisse, schließlich das Wiedersehen und der Beginn eines gemeinsamen glücklichen Lebens. Diese Erzählungen beschreiben Heldinnen und Helden, die Epiktets philosophischem Ideal sehr nahe kommen, Menschen, die Bedrängnisse überstehen, sich jeglicher Übertretungen enthalten, und für die Schmerz und Leiden keine dauerhafte Rolle spielen. An einem Punkt in diesen Romanen verlieren die Oberschicht-Protagonisten ihre privilegierte Stellung und sehen sich Gefahren, Notlagen und dem Verlust von Ansehen ausgesetzt. Am Ende erlangen sie jedoch ihre soziale Position zurück, dazu Ehre und Reichtum. Die Forschung hat in diesen thematischen Gemeinsamkeiten den Niederschlag des Geschicks griechischsprachiger Provinz-Eliten gesehen, die sich in römischer Zeit behauptet haben und zu bedeutendem Wohlstand gelangt sind. Epiktets Lehren nicht unähnlich betonen diese Romane den Anspruch griechischer Eliten der Kaiserzeit auf Prosperität und Wohlergehen, und sie verschleiern zugleich, dass dieses Leben nur sehr wenigen offen steht. Die Romane werben für das, was Max Weber die »Theodizee des Glücks« genannt hat, den Glauben, dass die Eliten verdientermaßen dazu bestimmt waren, genau dort zu leben, wo sie lebten: ganz oben. 24 Fast ausnahmslos beginnen diese Romane mit einer Beschreibung des Reichtums und der Oberschicht-Existenz der Protagonisten. Das überrascht insofern nicht, als die antike Literatur sich ganz überwiegend mit den privilegierten Schichten befasst. Kennzeichnend für die Romane ist aber, dass ihre Protagonisten trotz aller Katastrophen ihren Reichtum und ihren sozialen Status mit erstaunlicher Leichtigkeit und Regelmäßigkeit wiedererlangen. Schiffbrüchig, von Piraten entführt, in fremden Ländern gestrandet, ist es doch für die Romanheldinnen und -helden am Ende nur ein kleiner Schritt zurück in ihr privilegiertes Leben. Solch mühelos wiedererlangter Reichtum transportiert die Botschaft, dass diejenigen, die ihn genießen, ihn auch verdient haben, und wiederum wird die harte Realität, die die meisten in einer ganz anderen und mühseligen Existenz gefangen hält, verschleiert. Dieser Anspruch ist bereits bei Xenophon, dem Verfasser des wahrscheinlich frühesten Romans, prägend. Habrokomas und seine wunderschöne Braut Anthia, die Hauptpersonen des Romans, werden nach der Hochzeit von Piraten entführt und getrennt. Zunächst erleidet Habrokomas Folter und Gefangenschaft, weil die Tochter des Anführers der Piraten ihn fälschlich der Vergewaltigung bezichtigt, nachdem er ihre Avancen nicht erwidert. Der Anführer findet jedoch bald die Wahrheit heraus, holt ihn aus dem Kerker und setzt ihn über seinen gesamten Haushalt. Er bietet ihm sogar eine freigeborene Frau an (2.10.2). Habrokomas vermisst jedoch seine geliebte Anthia und flieht. Der Erzähler notiert seine Gedanken: »Was soll mir die Freiheit? Was nützen mir die Reichtümer? « (4.10.3). 25 Die Erzählung hat freilich bereits gezeigt, wie einfach Habrokomas wieder in den Besitz seines Reichtums gelangt, der für den Großteil der damaligen Gesellschaft für immer unerreichbar war. Später braucht der Präfekt von Ägypten nur Habrokomas’ Geschichte zu hören, und schon überhäuft er ihn mit Geld und Geschenken (4.4.1). Als er später erneut mittellos dasteht, versucht er sich als Arbeiter in einem Steinbruch. Die Arbeit ist jedoch zu anstrengend, und so macht er sich auf nach Rhodos. Dort begegnet er seinen früheren Sklaven, die ihm sofort alles geben, was sie besitzen, und sich um ihn kümmern (5. 10. 12). Dieser Teil der Geschichte suggeriert, dass sogar die Sklaven ihren Part in der Theodizee des Glücks spielen. Es stellt sich nämlich heraus, dass sie von Piraten an einen alten Mann verkauft worden waren, der sie wie eigene Kinder behandelt und ihnen sein großes Anwesen hinterlassen hat (5.6.3). Dieses überschreiben sie nun Habrokomas. Der Schleier der Macht erzeugt wiederum den Eindruck, als sei es für Leute wie Habrokomas, dem sogar seine Sklaven Geld überlassen, keine große Sache, zu Reichtum und Ansehen zu gelangen. Am Ende dieser Abenteuerromane sind alle Oberschicht-Paare wieder glücklich vereint und leben ein glückliches Leben. Die Romane vermitteln den Eindruck, dass es mit dem unausrottbaren Glück dieser Leute schon seine Richtigkeit hat. Liest man die Romane auf dem Hintergrund der Lehren Epiktets, ist auffällig, dass sie mehrheitlich als Erzählungen von ertragenem und überwundenem Leid konzipiert sind. Achilles Tatius etwa lässt die Handlung mit der Antwort des Helden auf die Frage beginnen: »Was hast du erlitten? « (1.2.2). Seine Leiden sind solche, die ihm von Eros auferlegt wurden. Ebenso führt Chariton seinen Roman als eine Geschichte von Leiden ein. Am Schluss stattet die Heldin Kallirhoë nach ihrer glücklichen Rückkehr nach Syrakus ihren Dank im Tempel der Aphrodite ab. Sie betet: »Ich danke dir, Aphrodite! Du hast mir meinen Chaireas wieder in Syrakus gezeigt, wo ich ihn nach deinem Willen auch als junges Mädchen gesehen habe. Ich bin dir nicht böse, Herrin, für das, was ich erlitten habe. Das war mir eben vom Schicksal bestimmt. Ich bitte dich, trenne mich nie Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 31 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 31 Judith Perkins Verwehrtes Personsein mehr von Chaireas, sondern gewähre uns ein glückliches Leben und einen gemeinsamen Tod.« (8. 8. 16). 26 Damit endet die Erzählung. Auch Xenophons Roman endet mit einem Dank für glücklich überstandene Leiden. Als das liebende Paar nach Ephesus zurückkehrt, besuchen sie zuerst den Tempel der Artemis und errichten eine Inschrift für die Göttin, die alles auflistet, was sie erlitten und überstanden haben (5.15.4). Bei Heliodor klagt die Heldin gegen Ende der Handlung nach einer abermaligen Verschleppung durch Banditen dem Gott Apollo ihr Leid: »Apollon […], deine Strafe ist schwerer als unsere Schuld. Haben wir noch nicht genug gebüßt mit unserem bisherigen Leid? Trennung von den Unsrigen, Gefangenschaft bei Piraten, das Meer mit seinen unendlichen Gefahren und nun zu Lande ein zweites Mal in der Hand von Räubern! Und dunkler noch liegt die Zukunft vor uns« (1.8.2). 27 Diese Romane präsentieren sich als Erzählungen von ertragenem Leiden vor dem glücklichen Ende, an dem das Oberschicht-Paar wieder seine rechtmäßige gesellschaftliche Stellung einnimmt. Diese Elite-Literatur hebt wie auch Epiktet Personen lobend hervor, die imstande sind, ihre emotionalen Reaktionen zu kontrollieren und im Leiden treu ihre Pflicht zu tun, und sie verschleiern ebenso die sozialen Barrieren und Bedingungen, die die meisten Menschen in weitaus schlimmere Lebensverhältnisse einschließen. In der Weltsicht der griechisch-römischen Antike hatte die in Armut und Krankheit lebende Unterschicht vor dem Aufkommen der christlichen Bewegung eine nur sehr geringe kulturelle Präsenz. Das heißt selbstredend nicht, dass in dieser Zeit nicht zahllose Menschen Schmerzen und Leid ausgeliefert waren. Tatsächlich war die frühe Kaiserzeit von »atemberaubender« 28 Ungleichheit geprägt. In vorchristlicher Zeit wurden, wie Paul Veyne notiert, »die Armen, Kranken und Alten ohne größere Skrupel sich selbst überlassen« 29 . Neue Studien haben versucht, Veynes Urteil etwas abzumildern, aber ohne großen Erfolg. Anneliese Parkin hat in ihrer Arbeit über Almosen 30 einige Belege für pagane Wohltätigkeit gefunden, meint aber, dass die meisten Gaben an die Notleidenden nicht von den Eliten kamen. Die Oberschicht kam mit den wirklich Bedürftigen selten in Kontakt. Sie waren von diesen Gruppen durch ihre Sklaven und ihr Gefolge zuverlässig abgeschirmt. Die Armen und andere Leidtragende verfügten über eine nur sehr geringe soziale Sichtbarkeit im kulturellen Raum dieser Zeit. Sie waren in der Episteme ihrer Zeit kaum präsent und kamen im sozialen »Diskurs« so gut wie gar nicht vor. Allerdings haben Texte wie die Epiktets oder die Romanliteratur der Oberschicht durch die Darstellung des Ertragens körperlichen Leids als Tugend und Zeichen moralischer Stärke den sozialen Raum für neue Stimmen aus neuen sozialen Lagen geöffnet. Diese Stimmen haben sich den kulturellen Diskurs des Leidens angeeignet und ihm eine neue Richtung gegeben. Gemeint sind die Stimmen christlicher Autoren. In Gesellschaften haben nicht alle Gruppen die gleichen Möglichkeiten, ihren Standpunkt zu artikulieren. Ökonomische, politische und genderspezifische Standpunkte bestimmen die Möglichkeiten und Spielräume sozialer Selbstdarstellung. In kulturgeschichtlichen Untersuchungen muss immer gefragt werden: Wer hat von wo aus die Möglichkeit sich zu äußern? In den Romanen verwendeten die griechischsprachigen Eliten das Bild des gequälten und seiner Freiheit beraubten Körpers zur Erzeugung sozialen Zusammenhalts und zur Darstellung ihrer Selbstbehauptung unter den Bedingungen des römischen Imperiums. Dagegen macht sich in den frühen apokryphen Apostelakten (Paulus-, Petrus-, Johannes-, Andreas- und Thomasakten) eine neue christliche Identität bemerkbar. Diese Texte haben viele Motive der Romane übernommen, diese jedoch im Sinne abweichender Auffassungen über das Göttliche und die Gemeinschaft verändert, mit dem Ziel, einen neuen sozialen Körper zu formen und zu stärken, die christliche Gemeinde, die Paulus als »Leib des Christus« bezeichnet (1Kor 12,27). Wie die Romane lassen auch die Apostelakten eine spezifische Grundausstattung an Personen und Handlungen erkennen: Der Apostel predigt, tut Wunder, ist erfolgreich bei Eliten und Nicht-Eliten und gliedert die Bekehrten in sozial integrierte solidarische Gemeinden ein. Außer den Johannesakten endet jede mit dem Martyrium des Apostels, nachdem er die Frau eines hohen Würdenträgers zum christlichen Leben in strenger Askese bekehrt hat (alle Apostelakten sind rigoros asketisch). Ungeachtet ihrer späteren Ablehnung durch die Kirche aus dogmatischen Gründen sind die Apostelakten eine wertvolle Quelle über das Denken und die Belange früher Christen aus dem einfachen Volk. 31 Die Thomasakten, die als einzige vollständig erhalten sind, illustrieren die für die Apostelakten überhaupt »Die Armen und andere Leidtragende verfügten über eine nur sehr geringe soziale Sichtbarkeit im kulturellen Raum dieser Zeit. Sie waren in der Episteme ihrer Zeit kaum präsent und kamen im sozialen ›Diskurs‹ so gut wie gar nicht vor.« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 32 - 2. Korrektur 32 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Zum Thema kennzeichnende inklusive soziale Mission. 32 Die Erzählung beginnt in Jerusalem, wo die Apostel ihre Missionsgebiete auslosen. Indien fällt an Thomas, der dieses Gebiet aber unter Verweis auf seine schwache körperliche Konstitution und seine fehlenden Sprachkenntnisse sogleich ablehnt. Des Nachts erscheint ihm Jesus und versichert ihn seiner Gnade und Hilfe für seinen Auftrag in Indien (1/ 100). Thomas lehnt dennoch ab. Daraufhin lässt Jesus einen Kaufmann namens Abban auftreten, der für den indischen König einen Zimmermann sucht. Der Herr bietet ihm seinen Sklaven, einen Zimmermann, zum Kauf an und deutet auf Thomas. Als sie sich auf einen Preis geeinigt haben, setzt Jesus einen Kaufvertrag mit folgendem Text auf: »Ich, Jesus, der Sohn des Zimmermanns Joseph, bestätige, einen Sklaven von mir, namens Judas […] verkauft zu haben« (2/ 102). 33 Dieses Dokument bestätigt, dass beide, Herr und Apostel, nicht der Elite angehören und über keinen gesellschaftlichen Einfluss verfügen: Jesus, der Sohn eines Zimmermanns, und Thomas, ein Zimmermann und Sklave. Der Herr führt Thomas zu Abban, der ihn fragt: »Ist dieser dein Meister (despotēs)? «, und Thomas antwortet: »Ja, er ist mein Herr (kyrios)« (2/ 102). Am nächsten Morgen fügt sich Thomas schließlich mit den Worten »Dein Wille geschehe« und schließt sich Abban an in Richtung Indien. Er trägt nichts bei sich als allein den für ihn gezahlten Kaufpreis, den Jesus ihm überlässt. Jennifer Glancy 34 stellt die Drastik dieser Szene heraus, die die Metapher der Gläubigen als Sklaven Gottes reifiziert, und die Leser mit der Verwundbarkeit der realen Sklaven in den Reihen ihrer Gemeinden konfrontiert, die jederzeit verkauft und aus allem Vertrauten herausgerissen werden konnten. Obwohl Thomas während der gesamten Erzählung ein Sklave bleibt, wird seine missionarische Aktivität dadurch nicht eingeschränkt. Auf dem Weg nach Indien bekehrt er als erstes die frisch verheiratete Tochter eines Königs und seinen Schwiegersohn zu einem christlichen Leben in Enthaltsamkeit. Am nächsten Morgen erklärt die Tochter ihren Eltern, warum sie die Ehe nicht vollzogen hat. Der König lässt sofort nach dem »Zauberer« (pharmakos) suchen, doch Thomas und Abban sind bereits mit dem Schiff abgereist. Schließlich werden auch der König und viele andere für den Glauben gewonnen und schließen sich der christlichen Gemeinde an. Hier stoßen wir auf ein Handlungsmuster, das im Laufe der Erzählung noch mehrfach verwendet wird, dass nämlich Angehörige der Oberschicht sich bekehren und in der Rolle von Wohltätern ihren Platz in der christlichen Gemeinde finden. 35 Beim nächsten Aufenthalt ihrer Reise spielt sich eine ähnliche Episode ab, als Thomas seinem neuen Eigentümer König Gundafor übergeben wird. Der König erklärt Thomas, dass er einen Palast zu bauen gedenkt und stattet ihn mit den Mitteln für die Durchführung aus. Thomas verteilt das Geld des Königs sofort unter die Armen und Notleidenden (19/ 128). Schon bald erbittet er weitere Summen, angeblich für die Fertigstellung des Daches, und verwendet auch dieses Geld für die Unterstützung der Bedürftigen. Schließlich wird Gundafor hinterbracht, dass Thomas bisher noch überhaupt nichts gebaut hat. Stattdessen »gibt er alles den Armen und lehrt einen neuen Gott und pflegt Kranke und treibt Dämonen aus und tut viele Wunder« (20/ 131). Gundafor ist außer sich und verurteilt Thomas und Abban sofort zum Tode. In jener Nacht stirbt jedoch Gad, der Bruder des Königs, und kommt in den Himmel, wo die Engel ihm einen prächtigen Palast zeigen, den Thomas, sagen sie, für Gads Bruder erbaut habe. Gad erhält von den Engeln die Erlaubnis, in sein irdisches Leben zurückzukehren, um dem König den Palast abzukaufen. Der König erkennt daraufhin, dass Thomas ihm einen ewigen Palast erbaut hat. Er holt Thomas aus dem Gefängnis und schließt sich zusammen mit seinem Bruder der christlichen Gemeinde an und unterstützt hinfort Thomas bei seiner wohltätigen Arbeit. Sie »wichen niemals von ihm [sc. Thomas] und halfen den Bedürftigen, gaben allen und erquickten alle« (26/ 141). Anders als Epiktet, der empfiehlt, ein Bettler solle lernen, sein Elend zu ertragen, rufen die Thomasakten die Reichen dazu auf, Armut zu lindern. Die Thomasakten enthalten wie andere Apostelakten auch Szenen mit sprechenden Tieren. 36 Diese Szenen artikulieren ein inklusives Verständnis von Erlösung, das sogar Tiere umfasst, und betont damit die Würde all derer, denen die gesellschaftliche Geltung als Menschen abgesprochen wurde. Platon, Epiktet und andere lassen erkennen, dass in der antiken Kultur viele Menschen in die Nähe von Tieren gerückt wurden. Dies klingt auch in einer Stelle der Thomasakten an: Mygdonia, die Frau des Charisios, eines nahen Verwandten des Königs, sucht Thomas auf, um ihn predigen zu hören: »Sie wurde aber von ihren eigenen Sklaven getragen, aber wegen des vielen Volks und des engen Raumes konnten sie sie nicht zu ihm hinführen. Sie schickte aber zu ihrem Manne, er solle ihr mehr von ihren Dienern schicken. Sie kamen nun und gingen vor ihr her, dabei die Leute drängend und schlagend« (82/ 197). Zeitgenössische Quellen zeigen, dass Mygdonias Gewalt gegen die Volksmenge für die Frau eines hohen Würdenträgers durchaus üblich war. Thomas tadelt jedoch die Diener dafür, dass sie die Leute treten und schlagen. Er zitiert Mt 11,28: »Kommt Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 33 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 33 Judith Perkins Verwehrtes Personsein her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken« und wendet sich den Trägern der Mygdonia zu und erklärt ihnen, dass diese Worte nun ihnen gelten, denn »obwohl ihr Menschen seid, legt man euch, wie unvernünftigen Tieren (hōsper tois alogois zōois), Lasten auf, indem eure Machthaber glauben, dass ihr nicht Menschen seid wie sie selbst« (83/ 198-99). Der Apostel greift damit die zeitgenössische Auffassung an, die Sklaven und andere, die körperlich arbeiten, Tieren gleichstellt. Im Gegensatz dazu erkennt er an, dass Sklaven Menschen sind und ermutigt sie. Die Episode führt die harten Realitäten antiker hierarchischer Gesellschaften vor Augen. Die Elite stellte unverfroren und öffentlich ihre willkürliche Gewalttätigkeit gegenüber den unteren Schichten zur Schau, genauso wie die Bediensteten der reichen Frau die Volksmenge stoßen und schlagen. Die Worte des Thomas formulieren bündig die Basis für Gewalt in jeder Gesellschaft, nämlich die Leugnung der Menschlichkeit der Anderen: »Eure Machthaber glauben, dass ihr nicht Menschen seid wie sie selbst«. Die Wahrnehmung der anderen als nicht eigentlich menschlich hat weitreichende Auswirkungen, die verwundbare Menschen derselben Missachtung und Grausamkeit ausliefert, die oft gegen Tiere angewendet wird. Durch das Motiv der sprechenden Tiere invertieren die Thomasakten die traditionellen Hierarchien und konstatieren, dass die christliche Botschaft denen eine Stimme verleiht, denen sie in ihrer jeweiligen Kultur verweigert wird. Unter den sprechenden Tieren der Thomasakten ist eine Schlange (30-33/ 147-150), ein Eselsfohlen, das den sprechenden Esel Bileams aus dem Buch Numeri und jenen Esel, auf dem der Herr in Jerusalem eingezogen war, zu seinen Vorfahren zählt (40-41/ 158), und ein Wildesel (onagros, 68-80/ 186- 196). Der Wildesel tritt unmittelbar vor der Begegnung des Thomas mit den Trägern der Mygdonia auf. Beide Episoden reklamieren Personalität für Menschen, die aus Sicht der Hochkultur ihrer Zeit traditionell Tieren gleichgestellt wurden. Auf dem Weg zu einer Dämonenaustreibung an einer Mutter und ihrer Tochter vollführt Thomas ein von ihm so bezeichnetes »großes Wunder« (69/ 186). Er fordert vier wilde Esel auf, seinen Wagen zu ziehen. Am Ziel seiner Fahrt beauftragt er eines der Tiere, zu den Dämonen zu gehen und sie aufzufordern, dass sie sich zeigen und sich ihm stellen sollen. Der Wildesel gehorcht, wobei der Text seine Sprachfähigkeit herausstellt, indem das Tier die Dämonen viermal mit dem Satz »Euch sage ich« (hymin legō) anredet. Als Thomas die Dämonen austreibt, fallen beide, Mutter und Tochter, sofort tot um. Nach einigem Zögern tadelt der Wildesel, »dem durch die Kraft des Herrn die Rede verliehen war«, den Apostel viermal und drängt ihn, die Frauen aufzuerwecken: »Was stehst du müßig, Apostel Christi, des Höchsten […], was zögerst du? « (78/ 193- 94). Er beendet seine Rede mit einem Lobpreis des Apostels und mit einer Warnung vor falschen Lehrern. Diese Darstellung eines Wildesels, der den Apostel berät und mit Schriftverweisen gespickte Predigten hält, spricht solche Fähigkeiten all jenen Menschen zu, die von der Gesellschaft nicht höher geachtet werden als Tiere. Dass diese wilden Tiere die Unterprivilegierten symbolisieren, wird durch die Reaktion des Thomas auf die Rede des Wildesels bestätigt. Thomas sieht in diesem Schauspiel eines sprechenden Esels nicht nur ein Lehrstück dafür, dass Christus Mitleid mit allen Menschen hat, sondern auch für seine eigene Selbsterniedrigung. Thomas antwortet auf die Rede des Esels mit einem Lobpreis Christi: »Preis sei deiner Majestät, die sich um unseretwillen herabgelassen hat; Preis sei deinem höchsten Reiche, das sich um unseretwillen erniedrigt hat; Preis sei deiner Stärke, die um unseretwillen schwach wurde; Preis sei deiner Gottheit, die um unseretwillen in einem Menschenbilde erschien (doxa tē theotēti sou hē di’ hēmas eis apeikasian anthrōpōn); Preis sei deiner Menschheit, die um unseretwillen starb, um uns lebendig zu machen; Preis sei deiner Auferstehung von den Toten, denn durch sie wird unsern Seelen Auferstehung und Ruhe zuteil« (80/ 196-97). Die Worte des Thomas erinnern daran, dass Jesus sich selbst erniedrigt und einen entehrenden Statusverlust auf sich genommen hat um der Menschlichkeit der Menschen willen. Sein Beispiel zeigt, dass niemand das Recht hat, Menschen mit niedrigem Status ihrer Würde zu berauben. Indem Jesus Mensch wurde, blieb er Gott. Menschen, die wie Tiere behandelt werden, sind Menschen. Dafür steht der gläubige Wildesel. Die Thomasakten wenden sich gegen die gesellschaftlichen Hierarchien ihrer Zeit und entwerfen ein christliches Gegenmodell. Nach der Wildesel-Szene, als Thomas den Trägern der Mygdonia angesichts ihrer Behandlung wie unvernünftige und der Sprache nicht mächtige Tiere (alogois zōois) Mut zuspricht, springt Mygdonia, kaum dass er seine Rede beendet hat, von »Anders als Epiktet, der empfiehlt, ein Bettler solle lernen, sein Elend zu ertragen, rufen die Thomasakten die Reichen dazu auf, Armut zu lindern.« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 34 - 2. Korrektur 34 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Zum Thema ihrer Sänfte herunter, wirft sich vor Thomas auf den Boden und bittet ihn, sich ihm anschließen zu dürfen, denn sie und die Ihren »[gleichen] durch ihren Wandel vernunftlosen Tieren« (87/ 202). Mygdonia verwendet also dieselbe Formulierung, derer sich Thomas bedient hat, um die Geringschätzung der Träger durch ihre Herrin zu beschreiben. Sie ändert aber das Paradigma: Nicht »Status« sondern »Verhalten« macht Menschen den Tieren gleich. In seiner Antwort an Mygdonia stellt Thomas nochmals heraus, dass ein hoher sozialer Status vor Gott nichts gilt: »[Z]u nichts wird dir dieser angelegte Schmuck nützen noch die Schönheit deines Körpers noch deiner Kleider. Weder der Ruf von dem dich umgebenden Ansehen noch die Macht dieser Welt noch dieser schmutzige Verkehr mit deinem Mann wird dir nützen, wenn du dem wahren Verkehr beraubt bist«. All dies, erklärt Thomas, wird vergehen, aber »Jesus allein bleibt immer und die, so auf ihn hoffen« (88/ 203). Thomas’ Auflistung-- Schmuck, Schönheit, Kleider, Ehre, Einfluss-- benennt die geläufigen Statusausstattungen, die aber zugunsten der Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinde aufgegeben werden müssen. Der Aufruf des Wildesels »Glaubt an Jesus! Glaubt an Christus, der geboren wurde, damit die Geborenen durch sein Leben das Leben hätten« (79/ 194), bringt diese besondere Hoffnung zur Sprache. Als der Wildesel und seine Gefährten nach Hause aufbrechen, lässt ihnen Thomas seine Fürsorge zuteil werden: »Der Apostel aber stand und achtete auf sie, damit ihnen nicht von jemand ein Unrecht zugefügt würde, bis sie, weit weg, unsichtbar wurden« (81/ 197). Die Darstellung wilder Tiere, die predigen und den Apostel beraten, fordert die Wertschätzung all derer, die in der Gesellschaft gleich Tieren verachtet werden, und Thomas’ Fürsorge für die Wildesel bildet das geforderte Mitgefühl mit genau diesen Leuten ab, die so oft Opfer von Gewalt werden. Die frühen apokryphen Apostelakten und viele andere frühchristliche Quellen inszenieren soziale Sichtbarkeit (öffnen die kulturelle Linse, erweitern den kulturellen Diskurs), um die Armen, Leidenden und Bedürftigen zu inkludieren. Es war dieses neue kulturelle Subjekt, das das Christentum groß gemacht hat. Wie die meisten Apostelakten enden auch die Thomasakten mit dem Tod des Apostels. Thomas erleidet das Martyrium, als er die gesamte Familie des indischen Königs Misdai zum christlichen Glauben bekehrt hat. Mit ihrer Bereitschaft, für ihre Überzeugungen zu sterben, empfahlen sich die frühen Christen ihrer Zeit als philosophische Charaktere. 37 Clemens von Alexandrien formuliert dies gegen Ende des 2. Jhs. so: »Voll ist nun die ganze Kirche von solchen, die ihr ganzes Leben hindurch all ihr Denken auf den lebenbringenden Tod, der sie zu Christus führt, gerichtet haben, wie von sittsamen Männern so auch von sittsamen Frauen. Denn wer sein Leben nach unseren Grundsätzen führt, der kann auch ohne wissenschaftliche Bildung philosophieren, mag er ein Barbar sein oder ein Grieche, ein Sklave, ein Greis oder ein Kind oder eine Frau. Denn die kluge Mäßigung seiner selbst (sōphrosynē) ist für alle Menschen, die sich für sie entscheiden, in gleicher Weise zugänglich« (Stromateis 4,8,58). 38 Clemens gibt damit dem philosophischen Ideal einer todesmutigen Selbstbeherrschung ein christliches Gepräge: Menschen gleich welchen Alters, Geschlechts, gleich welcher sozialen Herkunft können in der Nachahmung Christi und im Bedenken seines Todes zu philosophischer Erkenntnis gelangen. Dies ist ein Kerngedanke der frühchristlichen Literatur insgesamt. Christliche Schriftsteller wenden sich immer wieder gegen die Annahme, Gotteserkenntnis sei ein Vorrecht der Gebildeten. Justin bezeichnet Märtyrer als Philosophen: »Denn dem Sokrates hat niemand so weit geglaubt, dass er für diese Lehre in den Tod gegangen wäre; dem Christus aber […] haben nicht allein Philosophen und Gelehrte geglaubt, sondern auch Handwerker und ganz gewöhnliche Leute, und zwar mit Hintansetzung von Ehre, Furcht und Tod« (Zweite Apologie 10,8). 39 Wie Clemens beharrt Justin darauf, dass Christen, obwohl sie aus einfachen Verhältnissen stammen und über keinerlei Bildung verfügen, durch ihre Todesverachtung mit Sokrates auf Augenhöhe stehen. Tertullian geht noch weiter: Während Sokrates »den Tod fast mit Genuss aus einem Becher trank«, übertreffen ihn die Christen, die »an Kreuzen und auf Scheiterhaufen jede Art der Grausamkeit ertragen« (De anima 1). 40 Die christlichen Quellen haben sich in den kulturellen Diskurs des Leidens eingeschaltet und auf diese Weise einen kulturellen Raum für die Nicht-Eliten, die Armen und Leidenden eröffnet, ihnen einen Platz in der Weltauffassung ihrer Zeit verschafft und dem frühen Christentum zu kultureller Identität und institutioneller Präsenz verholfen. Im Hinblick auf die Fähigkeit sich fremden Leides anzunehmen, bleiben freilich Grenzen. In ihrer nuancierten und einfühlsamen Interpretation der Thomasakten kritisiert Jennifer Glancy das Versäumnis, Sklaverei in derselben Entschiedenheit zu verurteilen, wie sie für Enthaltsamkeit eintreten: »Anders als die Verurteilung der Sexualität, die einen radikalen Verzicht auf jegliche sexuelle Aktivität fordert, entspricht der gleichfalls geäußerten Kritik an der Sklaverei keine entsprechende Forderung, in christlichen Kreisen auf die Haltung von Sklaven zu verzichten« 41 . Glancy bezieht sich auf Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 35 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 35 Judith Perkins Verwehrtes Personsein die Szene, in der Thomas die Träger der Mygdonia anspricht (83/ 198). Der Apostel schließt mit der goldenen Regel in ihrer negativen Form: »[W]ir haben das Gebot vom Herrn empfangen, dass wir das, was uns nicht gefällt, wenn es uns von einem andern geschieht, keinem andern zufügen« (83/ 199). Für moderne Leser schreit dies geradezu nach einer Abschaffung der Sklaverei oder doch zumindest danach, sie entschieden anzuprangern. An dieser Stelle schwenkt die Erzählung, wie Glancy notiert, jedoch auf das Thema Sexualität um. Der Apostel ermahnt die Träger und die umgebende Menge: »Enthaltet euch nun zuerst des Ehebruchs, denn dieser ist Veranlassung zu allem Bösen« (84/ 199), und er beschließt den dann folgenden Lasterkatalog mit einem weiteren Hinweis auf das »Lager der Unreinheit«, das »Verdammnis« nach sich zieht (84/ 200). Dann ermahnt der Apostel sein Publikum, dass sie in Heiligkeit, Freundlichkeit und Frieden wandeln, dass sie den Armen helfen und dem Mangel der Bedürftigen abhelfen sollen (85/ 200-01). Er bezeichnet die Heiligkeit (hagiosynē) als höchste Tugend: »[D]ie Heiligkeit erscheint von Gott her, die Hurerei vernichtend, den Feind bezwingend, Gott wohlgefällig […] [W]enn jemand sie erwirbt, so bleibt er ohne Sorge, indem er dem Herrn gefällt und die Zeit der Erlösung erwartet« (85/ 201). Für die Thomasakten ist Sexualität weitaus schrecklicher als Sklavenhaltung. Sexualität ist das schlechthin Abzulehnende, wogegen das Halten von Sklaven eine bedauerliche soziale Praxis darstellt. Nach den ersten Kapiteln ist von Thomas’ Sklavenstand kaum mehr die Rede. Glancys kritische Beobachtungen treffen zweifellos zu. Darin bleiben Verfasser und Gemeinde der Thomasakten Kinder ihrer Zeit. Glancy sieht dies selbst, wenn sie abschließend notiert, dass die Thomasakten schlicht von der Unentrinnbarkeit der Skalverei ausgehen. Die Thomasakten bewegen sich in einer Episteme, die von der unseren sehr verschieden ist: Man konnte sich eher eine Welt ohne Sexualität vorstellen als eine Welt ohne Sklaverei. Ungeachtet vereinzelter christlicher Stimmen gegen die Sklaverei bilanziert eine neuere Darstellung: »Soweit wir sehen, bleibt es ein Faktum, dass es in der gesamten Antike keine Bewegung gegeben hat, die für die Abschaffung der Sklaverei eingetreten ist« 42 . Weder die Thomasakten noch andere christliche Texte haben ihren kulturellen Horizont so weit für die Bürde des Sklavenstandes geöffnet, dass sie sich einer Abschaffung dieser Praxis verschrieben hätten-- ein epistemischer blinder Fleck, der noch Jahrhunderte andauern wird. Solche blinden Flecken mahnen heutige Leserinnen und Leser zur Vorsicht. In ihrer Studie über körperlichen Schmerz stellt Elaine Scarry eine für historisches Verstehen grundlegend wichtige Frage: »Welcher Wahrnehmungsprozess führt dazu, dass ein Mensch neben einem anderen Menschen stehen kann, der qualvolle Schmerzen erleidet, ohne davon eine Kenntnis zu haben, die ihn zu dem Punkt führt, wo er selbst es ist, der diese Schmerzen zufügt? « 43 . In seiner Rede an Mygdonias Träger gibt Thomas eine Antwort auf diese Frage: »[E]ure Machthaber glauben, dass ihr nicht Menschen seid wie sie selbst« (83/ 199). Menschen wissen nichts vom Schmerz der anderen, sei es physischer, sozialer oder psychischer Schmerz, weil ihr durch ideologische oder diskursive Kategorien gesteuerter Wahrnehmungsprozess dies ausschließt. Römische Autoritäten sahen in den verfolgten Christen nicht Menschen in Schmerzen, sondern Kriminelle, die den Staat destabilisieren. Christliche Inquisitoren sahen nicht Menschen in Schmerzen, sondern Häretiker, die auf Linie gebracht werden mussten. Eine Lektion, die man aus historischer Forschung lernen kann, ist die Notwendigkeit einer dauernden Aufmerksamkeit sich selbst gegenüber, damit wir nicht anderen, die wir gar nicht wahrnehmen, Schmerzen zufügen, über die die Geschichte dereinst urteilen wird, dass sie unsere Opfer waren. Anmerkungen 1 J. Perkins, The suffering self. Pain and narrative representation in the early Christian era, London 1995. 2 Vgl.T. S. Kuhn, The Copernican Revolution: Planetary astronomy in the development of Western thought. New York 1959. 3 M. Foucault, Die Sorge um sich, in: Ders., Die Hauptwerke, übers. von U. Raulff/ W. Seitter, Franfurt a. M. 2008, 1408 4 A. a. O., 1409 5 A. a. O., 1410. Foucault notiert in aller Kürze, dass das »christliche Asketentum […] extrem starke Betonung der Selbstbeziehungen« (a. a. O., 1408) darstellt. Hier spricht er allerdings von Asketen einer späteren Zeit, nicht von christlichen Texten aus der Zeit eines Seneca, Artemidor, Plutarch, Galen oder anderer in seinem Buch untersuchter paganer Autoren. 6 J. Oksala, Foucault on freedom, Cambridge 2005, 195. »Darin bleiben Verfasser und Gemeinde der Thomasakten Kinder ihrer Zeit. [...] Die Thomasakten bewegen sich in einer Episteme, die von der unseren sehr verschieden ist: Man konnte sich eher eine Welt ohne Sexualität vorstellen als eine Welt ohne Sklaverei.« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 36 - 2. Korrektur 36 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Zum Thema 7 Platon Werke I.4: Phaidon, Übersetzung und Kommentar v.T. Ebert, Göttingen 2004, 84. 8 A. a. O. 24. 9 A.A. Long, Epictetus: A Stoic guide to life, Oxford 2002. 10 Übersetzung: Epiktet, Handbüchlein der Moral und Unterredungen, hrsg. v. Heinrich Schmidt, Stuttgart 1984, 25. 11 A. a. O., 21. 12 Epictetus, Discourses, Book 1, translated and with an introduction and commentary by R. Dobbin, Oxford 1998, XV. 13 Übersetzung: Epiktet, Handbüchlein der Moral und Unterredungen, hrsg. v. Heinrich Schmidt, Stuttgart 1984, 80. 14 A. a. O., 80 f. 15 A. a. O., 29. 16 Übersetzung: R. Mücke (Hg.), Epiktet. Was von ihm erhalten ist, Heidelberg 1926, 101. 17 Übersetzung: Epiktet, Teles, Musonius, Ausgewählte Schriften, hg. u. übers. von R. Nickel, Zürich 1994, 267. 18 Übersetzung: R. Mücke (Hg.), Epiktet. Was von ihm erhalten ist, Heidelberg 1926, 256 (mit Änderungen). 19 P. Garnsey, Food and society in classical antiquity Cambridge 1999. 20 Übersetzung: Epiktet, Handbüchlein der Moral und Unterredungen, hrsg. v. Heinrich Schmidt, Stuttgart 1984, 112. 21 J. Francis, Subversive Virtue: Asceticism and Authority in the Pagan World of the Second Century C.E, Pennsylvannia 1995, 19 . 22 R. Gordon, »From Republic to Principate: Priesthood, Religion and Ideology«, in: M. Beard/ J. North, Pagan priests: Religion and power in the ancient world, Ithaca 1990, 177-255: 229. 23 A. a. O., 192. 24 A. a. O., 238. 25 Xenophon, Abromokes und Anthia. Die Liebenden von Ephesos, übers. v. Bernhard Kytzler, Leipzig 1981, 32. 26 Chariton von Aphrodisias, Kallirhoe, eingel., übers. und erläutert v. Karl Plepelits, Stuttgart 1976, 156 f. 27 Heliodor, Die Äthiopischen Abenteuer von Theagenes und Charikleia, übers. v. H. Gasse, Leipzig 1957, 13 28 A. Zuiderhoek, The politics of munificence in the Roman Empire. Citizens, elites and benefactors in Asia Minor, Cambridge 2009, 4. 29 P. Veyne,1990. Bread and Circuses: Historical Sociology and Political Pluralism, Translated by B. Pearce, London 1990, 33. 30 A. Parkin, »You do him no service: An exploration of pagan almsgiving«, in: E.M. Atkins/ R.Osborne (Hgg.), Poverty in the Roman world, Cambridge 2006, 60-82. 31 F. Bovon, »Canonical and Apocryphal Acts of the Apostles«, in: Journal of Early Christian Studies 11 (2003): 165- 94, 194. 32 J. Perkins, »Reimagining Community in Christian Fictions«, in: E.P. Cueva/ Sh. N. Bryne (Hgg.), Companion to the Ancient Novel, Chichester, West Sussex 2013, 535- 551. 33 Deutsche Übs. aus E. Hennecke/ W. Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen II: Apostolisches Apokalyptisches und Verwandtes, Tübingen 5 1989, 303-367. 34 J.A. Glancy, »Slavery in the Acts of Thomas«, Journal of Early Christian History 2,2 (2012), 3-21: 7-8. 35 Vgl. ActThom, 26f: König Gundafor, Gad und seine Untergebenen; 121: Mygdonia; 157f: die Familie von König Misdai außer dem König selbst, der vermögende General Sifor und seine Familie. 36 Vgl. dazu: J. Perkins, »Animal Voices«, in: Religion and Theology 12 (2005), 385-396. 37 Vgl. hierzu J. Perkins 2012 »Jesus was no Sophist: Education in Christian Fiction.«, in: M. P. F. Pinheiro/ J. Perkins/ R.Pervo (Hgg.), The Ancient Novel and Early Christian and Jewish Narrative: Fictional Intersections, Groningen 2012, 109-131. 38 Übersetzung: Clemens von Alexandrien, Teppiche (BKV 2/ 19) München 1936-1938, 45, mit Änderungen. 39 Übersetzung: Frühchristliche Apologeten und Märtyrerakten Band I. (Bibliothek der Kirchenväter, 1/ 12) München 1913, 150 f. 40 Eigene Übersetzung. 41 J.A.Glancy, »Slavery in the Acts of Thomas«, in: Journal of Early Christian History 2/ 2 (2012), 3-21: 14. 42 K.R. Bradley/ P. Cartledge u. a.(Hgg.) 2011. The Cambridge World History of Slavery, 4 Bde., Cambridge 2011, 2. 43 E. Scarry, The Body in Pain. The Making and Unmaking of the World, Oxford 1985, 2 Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 37 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 37 Ein Bild, das im wahrsten Sinne unter die Haut geht und zudem zu den bekanntesten visuellen Umsetzungen zu einer Erzählung aus dem Johannesevangelium zählt: Thomas ausgestreckter Zeigefinger seiner rechten Hand dringt in die Seitenwunde des Auferstandenen ein, so dass an dieser Stelle das Fleisch aufgeworfen wird. Während Jesus mit dem Griff seiner Linken die Hand von Thomas führt, hat er mit seiner Rechten sein Gewand beiseitegeschoben, um die rechte Hälfte seines Oberkörpers und damit die Seitenwunde für die Berührung durch Thomas zu entblößen. Tief stößt der Jünger den Zeigefinger seiner alles andere als sauberen Hand in die Wunde Christi. Der Vorgang wird als regelrecht verletzend und anstößig greifbar. Der suggestiven Kraft von möglicherweise berstendem Fleisch durch zu starken Druck und dem Kontrast zwischen der Wunde im hellen reinen Körper des Auferstandenen und der dunkler getönten Hand mit den verschmutzten Fingernägeln von Thomas ist nur schwer auszuweichen. Thomas von Furchen überzogene Stirn und seine weit aufgerissenen Augen betonen die Körperlichkeit dieser Szene. Auch die anderen zwei Jünger auf dem Bild beugen ihre Köpfe hin zum Geschehen. Mit der Neigung seiner linken Hand scheint Jesus auch ihre Blicke mit in seine Wunde zu leiten. Das Gedränge der vier Häupter in der oberen Bildmitte spitzt die Dramatik des Geschehens in Caravaggios »Ungläubigem Thomas« ebenso zu wie die für den Künstler so typische Hell-Dunkel-Malerei. Der »Ungläubige Thomas« aus der Bildergalerie von Schloss Sanssouci gilt als eines der im 17. Jahrhundert meist rezipierten Werke aus dem Œuvre Caravaggios und stellt zugleich eine Urszene von Erkenntnis dar. In der Figur des Thomas und den eng bei ihm stehenden zwei Jüngern wird ein Modell von Erkenntnis künstlerisch in Szene gesetzt, nach dem nur das als Wissen zu gelten hat, was man selbst erkannt, in das man selbst Einsicht genommen hat. Erst die eigene Wahrnehmung schafft ein Wissen, das Gültigkeit hat. Mit gutem Grund hat Caravaggio in seiner visuellen Umsetzung von Joh 20 deshalb alle Einzelheiten vernachlässigt, die von der Wissensermittlung von Thomas und den zwei ihn rahmenden Jüngern ablenken. Ihr gesamtes Wesen erschöpft sich bei Caravaggio im Sehen und Betasten. Zugleich ist Caravaggios »Ungläubiger Thomas« auch ein Lehrstück, was passiert, wenn wir biblische Texte rezipieren. Die Geschichte aus Joh 20 zu lesen, heißt sie in im Akt der Lektüre zu aktualisieren. Denn ein Text ist ein Produkt, »dessen Interpretation Bestandteil des eigentlichen Mechanismus seiner Erzeugung sein muß. Einen Text hervorbringen, bedeutet, eine Strategie zu verfolgen, in der die vorhergesehenen Züge eines Anderen mit einbezogen werden« 1 . Oder um es mit Hartwig Thyen im Anschluss an Goethes West-östlichen Diwan zu formulieren: »Wer Johannes will verstehen, der muss seine Welt begehen« 2 . Damit ist keine Spielart biblizistischer Unmittelbarkeit gemeint, sondern der Umstand ausgedrückt, das jedes Verstehen von der narrativen Welt des Johannesevangeliums auszugehen hat. Das Johannesevangelium ist somit eine narrative Welt, die darauf wartet, im Akt der Interpretation entdeckt zu werden. Mit Umberto Eco kann diese narrative Welt als eine parasitäre bezeichnet werden, die nur vor dem Hintergrund der realen entfaltet werden könne. 3 Der Text stellt somit eine bewohnte Welt dar. Dementsprechend sind die im Text befindlichen erkannten immanenten Strukturen, Strategien und Techniken von größtem Interesse, die einen Effekt der Lektüre darstellen. Einerseits wird auf die im Text befindlichen Strategeme geantwortet, andererseits ist die erkannte Struktur eines Textes letztendlich selbst auch ein Effekt der Lektüre, da sie nur durch die Leistungen der Interpretation hervorkommt. Eine wesentliche Rolle spielen in diesem Kontext die sogenannten Unbestimmtheitsbzw. Leerstellen. Die Unbestimmtheit eines Textes ergibt sich stets im dialektischen Gegenüber zu den in ihm explizit formulierten Bestimmtheiten, die die von ihm organisierte Wirklichkeit vermitteln. Kristina Dronsch Prekäres Wissen Zeugenschaft als Lebensform im Johannesevangelium Zum Thema Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 38 - 2. Korrektur 38 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Zum Thema Nach acht Tagen des Wartens kommt der Auferstandene erneut zu seinen Jüngern (vgl. 20,26) und spricht nach einem Gruß an alle anwesenden Jünger Thomas direkt an: »Leg deinen Finger hierher und sieh meine Hände an! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite …! « (Joh 20,27) Der nächste Satz lautet: »Thomas antwortete ihm: Mein Herr und mein Gott! « (Joh 20,28) Das Berühren der Wundmale des Auferstandenen wird also gerade nicht erzählt. D. h. auf die in Joh 20,25 profiliert geäußerte Forderung des Thomas sowie auf das durch Jesus angebotene Eingehen auf dessen Forderung in Joh 20,27 erzählt der Text gerade nicht, wie Thomas’ »Autopsie« vonstatten geht. Im Text bleibt zudem vollkommen unbestimmt, was ihn genau zum Bekenntnis gebracht hat. Diese beiden Unbestimmheitsstellen im Text nun hat Caravaggio künstlerisch in der totalen Fokussierung auf die handgreifliche Autopsie des Auferstandenen durch Thomas in Szene gesetzt. Der Thomas von Carravaggio glaubt nur, wenn er selbst Einsicht nehmen kann. Als Wissen gilt ihm nur jenes Wissen, welches durch seine Erfahrung gedeckt ist, und erst dieses Erfahrungswissen ermöglicht ihm das Bekenntnis: »Mein Herr und mein Gott! « Man muss nicht so weit gehen wie der Gräzist Glenn Most in seiner glänzenden Studie »Der Finger in der Wunde. Die Geschichte des ungläubigen Thomas« 5 , der Caravaggios Gemälde für das Ergebnis einer anderthalbtausendjährigen andauernden Fehllektüre von Joh 20 hält. Jedoch stellt die Einseitigkeit der Fokussierung auf den Vorgang der tastenden Wissensermittlung in der Figur des Thomas bei Caravaggio die Frage nach dem Wissenskonzept des Thomas der johanneischen Erzählung. 1. Thomas der Wissenszweifler An der narrativen Figur des Thomas wird im Johannesevangelium die Frage problematisiert, welche Form von Wissen unter der Bedingung von Tod und Auferstehung Jesu Christi Gültigkeit hat. In allen neutestamentlichen Narrationen ist eine Situation vorherrschend, die durch Tod und Auferstehung Jesu Christi gekennzeichnet ist, und die für die Adressaten die Entzogenheit des irdischen Jesus mit sich bringt. Alle Evangelien im Neuen Testament beschreiben deshalb diese Situation als eine durch die Abwesenheit von Jesus Christus gekennzeichnete. 6 Von Jesus gilt: ouk estin ōde-- »er ist nicht mehr hier« (Mk 16,6b; vgl. Lk 24,6; Mt 28,6). Oder in den Worten von Joh 20,2. »Wir wissen nicht, wo sie ihn hingelegt haben«. Jesus ist nicht mehr da, er ist abwesend. Damit Die Unbestimmtheitsbzw. Leerstellen eines Textes entsprechen den noch offenen Fragen der LeserInnen an den Text. Finden sich Antworten auf diese Fragen, so werden die betreffenden Leerstellen ausgefüllt. Dies erfolgt entweder mit Hilfe von Informationen aus dem Textverlauf oder aber durch Inferenzen, bei denen unter Rückgriff auf das Wissen der LeserInnen selbst entsprechende Informationen generiert werden. Inferenzen sind somit Antworten der LeserInnen auf die von ihnen selbst gestellten Fragen. Sie haben die Funktion, die mentale Repräsentation anzureichern und zu differenzieren. 4 Soviel zur Theorie der Leerstellen, doch nun zur Praxis von Caravaggios Lektüre von Joh 20,19-29. Das Johannesevangelium hat Thomas in tragender Rolle auf die narrative Bühne gestellt im Rahmen der Erscheinungen des Auferstandenen: Nachdem der Auferstandene den Jüngern unter Abwesenheit von Thomas erschienen war, berichten diese Thomas, dass Jesus zu ihnen gekommen ist. Den Erzählungen der Jünger kann Thomas nicht glauben, vielmehr fordert er: »Wenn ich in seinen Händen nicht die Male der Nägel sehe und meinen Finger nicht in die Nägelmale und meine Hand nicht in seine Seitenwunde lege, so werde ich nie und nimmer glauben.« (Joh 20,25). Kristina Dronsch, Jahrgang 1971, studierte Evangelische Theologie in Bonn, Göttingen, Zürich, Neuchâtel und Hamburg. Von 2001 bis 2010 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche am Fachbereich Ev. Theologie an der Goethe-Universität in Frankfurt und wurde dort 2006 promoviert. 2010-2012 Projektkoordinatorin für die Encyclopedia of the Bible and its Reception beim De Gruyter Verlag. Seit Juli 2012 Referentin für Frauen und Reformationsdekade angesiedelt beim Verband Evangelischer Frauen in Deutschland. Forschungsschwerpunkte: Markusevangelium, Johannesevangelium, Gleichnisse, Bedeutungs- und Medientheorien. Dr. Kristina Dronsch Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 39 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 39 Kristina Dronsch Prekäres Wissen steht das evidente Problem zur Disposition, »wie […] die an Christus Glaubenden in der von Christus verlassenen Welt« 7 als eine Gemeinschaft zu existieren vermögen. Oder um es mit Joh 15 zu formulieren: Wie kann derjenige, der die Seinen verlässt, unter ihnen bleiben und sie in ihm? Konkret stand somit im Zentrum der Erfahrung der frühen Christen die Abwesenheit Jesu Christi. Sie waren somit eine Gemeinschaft, die aufgrund der Entzogenheit von Jesus Christus auch vor ein Erkenntnisproblem gestellt war: Wie kann ich wissen, dass Jesus Christus »Mein Herr und mein Gott« (Joh 20,28) ist, wenn er doch als abwesend zu verstehen ist. Diese Frage wird anhand der narrativen Figur des Thomas im Johannesevangelium in Szene gesetzt. Thomas wird im Johannesevangelium nur an vier Stellen als narrativer Akteur eingeführt: Joh 11,16; 14,5 f.; 20,24-29; 21,2, wobei er in Joh 21,2 nur namentlich erwähnt wird, aber nicht weiter aktiv ist. Deshalb konzentrieren sich die folgenden Überlegungen auf die drei übrigen Stellen im Johannesevangelium. Gleich bei seinem ersten Erscheinen auf der narrativen Bühne des Johannesevangeliums in 11,16 tritt er in eine Szenerie hinein, die thematisch von Sterben und Auferstehung gekennzeichnet ist. In die Lazaruserzählung (Joh 11,1-12,11) eingebettet ist ein Dialog zwischen Jesus und seinen Jüngern (11,6-16), in dem Thomas zum ersten Mal prominent in Erscheinung tritt. In diesem Gespräch erklärt Jesus den Tod des Lazarus als Grund zur Freude: »Lazarus ist gestorben und ich bin froh um euretwillen, dass ich nicht dort war, damit ihr glaubt« (Joh 11,14-15). Daraufhin entgegnet Thomas nicht zu Jesus, sondern zu den Jüngern: »Lasst auch uns gehen, damit wir mit ihm sterben« (Joh 11,16). Völlig offen bleibt in der Erzählung, auf wessen Sterben sich Thomas bezieht-- auf das von Lazarus (vgl. Joh 11,14) oder auf das von Jesus (vgl. Joh 11,8). 8 Klar ist aber, dass er den Tod und die dadurch mitbedingte Abwesenheit nicht als einen Anlass zur Freude erkennen kann. Somit erweist sich Thomas schon mit seinem ersten Auftreten im Johannesevangelium als derjenige, der aufgrund von Tod und der damit einhergehenden bleibenden Entzogenheit der Person ein Wissensproblem hat, das ein positives und freudiges Verstehen unter den Bedingungen von Abwesenheit nicht erlaubt. Auffällig ist zudem, dass sein Aufruf aus Joh 11,16 im weiteren Handlungsverlauf keine Berücksichtigung erfährt, so dass auch hier eine Unbestimmtheitsstelle entsteht, die die LeserInnen auffordert, über den Zusammenhang von Tod und Auferstehung nachzudenken. Das Wissensproblem von Thomas manifestiert sich weiter bei seinem zweiten Auftritt in Joh 14,5 f.: hier tritt Thomas mit einer Frage auf den Plan, die zu einer Reihe von Jüngerfragen gehört, die im ersten Teil der Abschiedsreden an Jesus gestellt werden. Wieder geht es um Fragen der Abwesenheit und Entzogenheit von Jesus. Auf die Ankündigung Jesu von seinem Weggang zum Vater und seiner Erläuterung »Wohin ich gehe, dahin kennt ihr den Weg« (Joh 14,4) entgegnet Thomas: »Herr wir wissen nicht, wohin du gehst. Wie sollen wir da den Weg kennen? « (Joh 14,4). Wieder erweist sich Thomas als derjenige, der unter den Bedingungen von Abwesenheit und Entzogenheit ein Wissensproblem hat. Es ist für ihn unvorstellbar, dass in einer Situation von Ungewissheit und Unsicherheit überhaupt Wissen erlangt werden kann. Das direkt anschließende Ichbin-Wort, »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater, außer durch mich« (Joh 14,6), sowie die weiteren Ausführungen heben hervor, dass die Abwesenheit von Jesus nicht das Wissen verunmöglicht, sondern gerade ermöglicht. Jesu Weggang zum Vater »n’est plus conçu comme un déplacement spatial, mais comme un processus de connaissance sur le mode de la promesse« 9 . In der letzten Szene, in der Thomas aktiv die narrative Bühne betritt, spitzt sich die Frage nach dem Wissen unter den Bedingungen der Abwesenheit von Jesus dramatisch zu. Thomas, der im gesamten Abschnitt Joh 20,24-29 im Fokus der Erzählung steht, ist nun selbst abwesend bei der ersten Erscheinung Jesu vor den Jüngern und damit wird von vornherein ausgeschlossen, dass er auf sein Erfahrungswissen zurückgreifen kann. Ganz im Sinne seiner bisherigen Erkenntnislogik reagiert er auf die übermittelte Botschaft der Jünger, dass sie »den Herrn gesehen« haben, mit dem Verweis, dass nur selbst ermitteltes Wissen Gültigkeit für ihn hat. Das ihm durch die Mitjünger übermittelte Wissen weist er zurück. In einem Bedingungssatz weist er alternative Wissensformen des übermittelten Wissens mit der stärksten Form der Negation zurück (»nie und nimmer glauben«, Joh 20,25). Löning hat hervorgehoben, dass »die Bedingungen, unter denen Thomas nicht zustimmt«, dieselben sind, »unter denen der Leser liest« 10 . Es ist die Figur des Thomas, an der ein Wissensmodell nach dem Modell der Autopsie problematisiert wird: »Es ist die Figur des Thomas, an der ein Wissensmodell nach dem Modell der Autopsie problematisiert wird: Wissen, das durch die eigenen Augen oder durch die eigene Einsicht verbürgt ist, wird unter den Bedingungen von Abwesenheit unzureichend.« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 40 - 2. Korrektur 40 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Zum Thema Wissen, das durch die eigenen Augen oder durch die eigene Einsicht verbürgt ist, wird unter den Bedingungen von Abwesenheit unzureichend. Die Figur des Thomas wird nicht durch einen Glaubenszweifel charakterisiert, sondern durch einen Wissenszweifel, der sich weigert, andere Wissensformen in den Blick zu nehmen. Die Unbestimmtheitsstellen in Joh 20,24-29, die gerade nicht die Berührung der Wundmale Jesu durch Thomas erzählen und unerzählt lassen, warum Thomas zu seinem Bekenntnis »Mein Herr und mein Gott! « kommt, überlassen den LeserInnen nicht nur die Beantwortung der Frage, hat er oder hat er nicht die Finger in die Wundmale gelegt, sondern fordern die LeserInnen auch auf, nach Figuren im Evangelium Ausschau zu halten, die als Beispiele für andere Wege des Wissens stehen können, die auch dann Gültigkeit haben, wenn Jesus als gekreuzigter Auferstandener bleibend entzogen ist. Diese Suche der LeserInnen wird noch einmal besonders motiviert durch den abschließenden Makarismus »Selig sind die nicht sehen und dennoch glauben« (Joh 20,29), mit dem die LeserInnen direkt angesprochen werden 11 . 2. Im Wissensnetz der Zeugen Bei einer aufmerksamen Lektüre des Johannesevangeliums fällt auf, das neben der johanneische Figur des Thomas, für den nur selbstermitteltes Wissen echtes Wissen ist und der auf ein Wissensproblem stößt, wenn er mit Distanz und Differenz konfrontiert wird, ein Netz von Akteuren tritt, für die sich Wissen als Zeugenwissen konkretisiert. 12 So sind die Werke, die der Vater dem Sohn gegeben hat, um sie zu vollenden, im johanneischen Erzählzusammenhang Zeugen. Denn die Werke geben Zeugnis über den johanneischen Jesus und über die legitime Sendung durch den Vater (Joh 5,37). Ebenso geben die Schriften Zeugnis über Jesus und auch die Menge (gr.: ho ochlos) tritt als Zeuge im Johannesevangelium im Anschluss an die Lazaruserzählung auf die narrative Bühne. Auch die nur im Johannesevangelium auftretenden Figur des Lieblingsjüngers wird erst greifbar in seiner Funktion als Zeuge: Nicht umsonst endet das Evangelium mit einer Fokussierung auf den Akt des Zeugnisgebens des sogenannten Lieblingsjüngers. »Das ist der Jünger, der von diesen Dingen zeugt und der dies geschrieben hat, und wir wissen, dass sein Zeugnis wahr ist. Es gibt aber auch viele andere Dinge, die Jesus getan hat, wenn diese alle einzeln niedergeschrieben würden, so würde, scheint mir, selbst die Welt die geschriebenen Bücher nicht fassen.« (Joh 21,24-25) Wie ein roter Faden zieht sich das Thema Zeugenschaft durch das gesamte Evangelium. Deswegen soll anhand eines Akteurs exemplarisch dargestellt werden, was Zeugenschaft in der Konzeption des Johannesevangeliums bedeutet. Schon gleich zu Beginn der Erzählung des Johannesevangeliums begegnen wir dem ersten Zeugen auf der narrativen Bühne des Evangeliums, denn mit der überschriftartigen Eröffnung des erzählenden Teils des Evangeliums in Joh 1,19 wird sogleich die entscheidende Funktion des ersten Handlungsträgers benannt: es geht um dessen Zeugnis! Was das Zeugnis (gr. martyria) in der Erzählung grundlegend bedeutet, wird an dieser Figur deutlich. Zur »Grammatik der johanneischen Zeugenschaft« gehört als erstes, dass Johannes in seiner Zeugenfunktion eingeführt wird als einer, der gesandt ist. Und zwar gesandt von Gott. Als von Gott Gesandter ist es seine Aufgabe, von etwas ihm Mitgeteilten zu zeugen. Als Gesandter ist er nicht autonom, sondern heteronom. Johannes, der gesandt ist, untersteht nicht seinem eigenen »Gesetz«, sondern-- wenn man so will-- dem Gesetz eines anderen. Johannes der Zeuge handelt im Auftrag eines anderen. Er spricht mit fremder Stimme, wie es in Joh 1,23 heißt: »›Ich bin die Stimme eines Rufenden in der Wüste: Macht gerade den Weg des Herrn‹, wie Jesaja der Prophet gesagt hat«. Seine Zeugenschaft untersteht einer göttlichen Urheberschaft und Legitimation. Somit ist Johannes ein Mittler zwischen der göttlichen Sphäre und der menschlichen Sphäre. Diese Funktion wird noch unterstrichen durch die Beobachtung, dass es die Figur des Johannes ist, die den Prolog (Joh 1,1-18) mit dem narrativen Teil des Evangeliums verbindet. »Über diese Figur gelingt die Verbindung von kosmischen und irdischen Szenario«. 13 Diese Verbindung ist eine durch die Zeugenschaft des Johannes gewährleistete, denn schon gleich in dem das Evangelium eröffnenden Prolog wird das Motiv vom Zeugnisgeben greifbar und paradigmatisch mit der johanneischen Figur Johannes verbunden: »Es war ein Mensch, von Gott gesandt, sein Name Johannes. Dieser kam zum Zeugnis, dass er zeuge von dem Licht, damit alle glaubten durch ihn. Nicht jener war das Licht, sondern damit er über das Licht Zeugnis ablegt.« (Joh 1,6-8) Erst Johannes als »wissender Zeuge« erschließt den »unwissenden AdressatInnen« die göttliche Dimension seines Zeugnisses. Johannes’ göttliche Legitimation wird auch hier wieder betont über sein Gesandtsein. Diese göttliche Legitimation macht ihn zum ersten und grundlegenden Zeugen des Evangeliums und ist mit einer speziellen Aufgabe verbunden. Die Aufgabe von Johannes Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 41 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 41 Kristina Dronsch Prekäres Wissen ist es, Zeugnis zu geben über das Licht mit dem Ziel, dass »alle« (gr. pantes) durch sein Zeugnis glauben. Als Zeuge ist es die Funktion von Johannes, sein Wissen von dem Licht zu übermitteln an die AdressatInnen. Der mit »damit« (gr. hina) eingeleitete Satzteil gibt Ziel und Zweck des Zeugnisgebens von Johannes an: »damit alle durch ihn glauben«. Damit tritt eine weitere Dimension johanneischer Zeugenschaft auf den Plan: Zeugenschaft schafft eine soziale Beziehung zwischen dem, der zeugt, und vor denen bzw. für die bezeugt wird. Diese soziale Beziehung ist a) nicht begrenzt, sie gilt »allen« und b) sie wird in ihrer praktischen Konsequenz benannt als »glauben« (Aor. pisteusōsin). Dass das übertragene und übermittelte Wissen des Johannes in der Erzählung des Johannesevangeliums nichts Defizitäres ist, wird auch in der Geistbegabung Jesu deutlich. So heißt es in Joh 1,32-34: »Und Johannes legte Zeugnis ab und sagte: Ich sah den Geist wie eine Taube vom Himmel herabschweben und auf ihm bleiben. Und auch ich kannte ihn ja nicht, aber der mich dazu gesandt hat, mit Wasser zu taufen, der hatte zu mir gesagt: Der, auf den du den Geist herabkommen und auf ihm bleiben siehst, der ist es, der mit dem Heiligen Geist taufen wird. Und eben das habe ich gesehen und habe Zeugnis abgelegt: Dieser ist Gottes Sohn.« Ganz im Gegensatz zu der synoptischen Darstellung findet sich im Johannesevangelium kein Hinweis auf die Taufe Jesu, vielmehr wird-- wie Stefan Alkier formuliert-- die »Geistbegabung Jesu […] retrospektiv aus der Sicht des Täufers geschildert und als gültige und beständige Markierung benutzt, die die Identifikation Jesu als des erwarteten Messias und als ›Sohn Gottes‹ (1,34b) durch Johannes den Täufer begründet«. 14 Dies impliziert, dass nach der johanneischen Konzeption der Geistempfang nicht im Sinne eines »christologischen Gründungsgeschehens« 15 zu begreifen ist, sondern ausschließlich als ein Identifizierungszeichen gelten kann. Der Geist hat die Funktion eines identity markers, der von Gott kommt und der es dem Täufer ermöglicht, Jesus als den Geistträger und Geistspender erst zu identifizieren. Hier ist nun von Interesse, dass dieses Wissen um Jesus ein auf Vermittlung und Zeugenschaft gründendes Wissen ist. Die Erzählung bestätigt, dass Johannes Jesus nicht kannte (V. 33 bestätigt dieses Nichtwissen durch die Worte »Und auch ich kannte ihn ja nicht«, siehe auch V. 31). In der johanneischen Erzählung wird also betont hervorgehoben, dass Johannes nicht das Wissen über Jesus selbstständig ermittelt hat, dass er der mit heiligem Geist taufende Sohn Gottes ist, sondern es wurde ihm- - durch den, der ihn gesandt hat-- übermittelt. Als Zeuge, der das Wissen von Jesus als dem Sohn Gottes übermittelt, ist Johannes selbst schon eingebunden in die sein Zeugnisgeben erst ermöglichenden Übertragungs- und Vermittlungsprozesse. In der narrativen Figur des Johannes tritt somit deutlich hervor, dass übermitteltes Wissen kein defizitäres ist, sondern notwendiges Wissen in Situationen, wo Abstand, Differenz und Entfernung vorherrschen. Als Zeuge übermittelt Johannes Wissen für diejenigen, die nicht über dieses Wissen verfügen (können), und schafft eine Verbindung zwischen der urhebenden Instanz des übermittelten Wissens sowie den AdressatInnen. In Kongruenz zur Konzeption der Zeugenschaft von Johannes charakterisiert John Durham Peters den Zeugen als »the paradigm case of a medium: that means by which experience is supplied to others who lack the original«. 16 Ganz in diesem Sinn überbrückt Johannes als Zeuge Abstände für die anderen, denen-- wie Peters es nennt-- das Original fehlt. Der Zeuge übermittelt in den Fällen ein Wissen, wo Wissen nicht einfach ermittelt werden kann. Zeugenwissen hebt den Abstand zwischen dem Original und denen, denen das Original fehlt, nicht auf, sondern schafft eine Verbindung trotz der Ferne voneinander. Notwendig wird Zeugenschaft also immer dort, wo Abstand und Differenz vorherrschen. Alexander García Düttmann hält deshalb fest: »Man wird nur dort zum Zeugen, wo man sich auf kein Wissen mehr verlassen kann […] und man sich dennoch zu einem Geschehen verhalten muß, das in sich un-eins ist«. 17 Genau diese Funktion als Zeuge wird durch Johannes im Verlauf des Johannesevangeliums weiter exemplifiziert. In Joh 3,22-4,3 wird die Notwendigkeit der Zeugenschaft des Johannes als des göttlichen Gesandten noch einmal deutlich hervorgehoben und qualifiziert. Das Un-eins-Sein wird hier geradezu zur Signatur der »Zeugenschaft schafft eine soziale Beziehung zwischen dem, der zeugt, und vor denen bzw. für die bezeugt wird. Diese soziale Beziehung ist a) nicht begrenzt, sie gilt ›allen‹ und b) sie wird in ihrer praktischen Konsequenz benannt als ›glauben‹« »Als Zeuge übermittelt Johannes Wissen für diejenigen, die nicht über dieses Wissen verfügen (können), und schafft eine Verbindung zwischen der urhebenden Instanz des übermittelten Wissens sowie den AdressatInnen.« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 42 - 2. Korrektur 42 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Zum Thema Zeugenschaft des Johannes (bes. Joh 3,31-36) erhoben. Denn es fällt auf, »dass sich das Motiv martyria gehäuft in zentraler Position findet, genau dort nämlich, wo die Wahrnehmung der Diskrepanz zwischen Himmel und Erde zum Entscheidungskriterium für die Zugehörigkeit zum Kreis der Wissenden avanciert« 18 . Beim nächsten Auftreten von Johannes als Zeugen tritt eine weitere Signatur der johanneischen Zeugenschaft hervor. In Joh 5,33-44 tritt das Zeugnis des Johannes in einem groß angelegten Diskurs narrativ exponiert in Erscheinung, denn Johannes’ Zeugnis ist ein Zeugnis »für die Wahrheit« (Joh 5,33). Die seltene Wendung martyria tē alētheia begegnet nur hier im Johannesevangelium und nicht im Munde von Johannes, sondern von Jesus. Johannes’ Zeugnis für die Wahrheit ist im Munde von Jesus ein Zeugnis, dass nicht mehr von anderen Instanzen akkreditiert werden muss. Als Zeugnis für die Wahrheit gibt es die Qualität an, in der es steht. Johannes Zeugnis ist deshalb nicht einfach ein Erkenntnismittel, welches durch einen Anerkennungsakt in Kraft gesetzt wird, sondern als »Zeugnis für die Wahrheit« ist es in seinem unverbrüchlichen Zeugnischarakter schon in seiner Qualität festgelegt und bedarf keiner weiteren Autorisierung-- und deshalb hat sein Zeugnis auch eine soteriologische Funktion (vgl. Joh 5,34). Ein letztes Mal zeigt das Johannesevangelium die Wirkung von Johannes’ Zeugenwissen in Joh 10,40-42 auf. Auch diesmal spricht Johannes wieder nicht selbst, sondern es wird über sein Zeugnis gesprochen von den »vielen«, wenn es in Joh 10,41 f. heißt: »Es kamen viele zu ihm [sc. Jesus] und sagten: Johannes hat zwar keine Zeichen gewirkt, doch alles, was Johannes über diesen gesagt hat, war wahr. Darum fanden dort viele zum Glauben an ihn« Mit diesen Sätzen wird nicht nur in grundlegender Weise noch einmal das Zeugnis von Johannes aus dem Prolog des Johannesevangeliums bestätigt, sondern einmal direkt in positiver Konsequenz und einmal indirekt in negativer Konsequenz ein weiteres Merkmal von Zeugenschaft ausgeführt, welches schon einmal im Prolog im Rahmen des Zeugnisses von Johannes thematisiert wurde. Sowohl im Prolog wie auch in Joh 10,41 f. wird noch einmal bestätigt, dass die Wahrhaftigkeit und Vertrauenswürdigkeit des Zeugen Johannes von grundlegender Qualität ist für sein Zeugenwissen. Wahrhaftigkeit und Vertrauenswürdigkeit sind die tragenden Grundlagen des Zeugenwissens, welches durch Johannes verfügbar gemacht wird. Als Zeuge gründet die Wahrhaftigkeit seines Sagens in der Wahrhaftigkeit seiner Person. Johannes überzeugt, weil ihm vertraut wird, denn sein Zeugnis ist wahr. Hier tritt nun eine Qualität von Zeugenschaft hervor, die nicht mehr mit einer reinen Informationsübermittlung erfasst werden kann: Wahrhaftigkeit und Vertrauenswürdigkeit setzen deswegen immer auch eine Anerkennungspraxis derer voraus, denen das Zeugnis von Johannes übermittelt wurde. Es muss ein soziales Band zwischen dem, der bezeugt, und den AdressatInnen existieren. Wenn dieses soziale Band existiert, dann tritt die kreative Seite von Zeugenschaft im Johannesevangelium zutage. Denn das durch den Zeugen Johannes übermittelte Wissen vom Licht, welches den AdressatInnen übermittelt wird, weist-- wenn diesem Zeugen vertraut wird und seine Wahrhaftigkeit anerkannt wird-- auf eine poietische Struktur von Zeugenschaft im Johannesevangelium hin: Der Zeuge Johannes, der in der Heteronomie seines Gesandtseins den AdressatInnen das Wissen über das Licht übermittelt, ermöglicht durch seine Zeugenschaft das Entstehen von Neuem bei den AdressatInnen: Dieses Neue wird im Johannesevangelium als »Glauben« zum Ausdruck gebracht. Doch ohne Vertrauen wird nicht nur diese poietische, wirklichkeitsschaffende Seite eines Zeugnisses für die Anderen nicht greifbar, sondern wo immer die ethische Gabe des Vertrauenschenkens, welche im Johannesevangelium den Nukleus des Bezeugens bildet, unterlaufen wird, wird das Fundament der johanneischen Wissenspraxis verfehlt, die im Kern in einer sozialen Epistemologie gründet. Wenn in Joh 10,41 im Tempus der Vergangenheit die Glaubwürdigkeit des Zeugen Johannes (»alles, was Johannes über diesen gesagt hat, war wahr«) narrativ eingespielt wird, so wird nicht nur sein erzählter gewaltsamer Tod in Erinnerung gerufen, sondern auch und vor allem verdeutlicht, dass diese soziale Epistemologie, für die das Wissen durch die Worte anderer paradigmatisch ist, immer auf die Gabe des Vertrauenschenkens durch die AdressatInnen angewiesen bleibt. 3. Zeugenschaft als Lebensform Im letzten Abschnitt wurde als grundlegende Signatur des Zeugeseins anhand der Figur Johannes herausgearbeitet, dass er als Mittler für all jene fungiert, denen »das Original« fehlt, all jene, die keine Autopsie vornehmen können. Das von ihm bezeugte Wissen wird somit denen zugänglich gemacht, die in einer unüberbrückbaren Distanz zum Bezeugten stehen. Zugleich setzt das Zeugnisgeben immer eine Instanz voraus, vor der oder für die bezeugt wird. Damit steht sein Zeugenwissen bzw. seine Zeugenschaft nicht für eine bestimmte Information, sondern für eine Lebensform. Johannes ist als Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 43 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 43 Kristina Dronsch Prekäres Wissen Zeuge fundamental daran beteiligt, Orientierungswissen für jemanden bereitzustellen und ermöglicht durch seine Zeugenschaft eine epistemische Sozialität, die sich keineswegs in der Beweisfunktion seines Zeugnisses erschöpft. Zugleich wird mit dem Netz des Zeugenwissens, welches sich durch das gesamte Johannesevangelium spannt, die Wissenskonzeption, für die die narrative Figur des Thomas steht, düpiert. Ein Alleingängertum im Erkenntnishandeln verfehlt die wirklichkeitsschaffende Kraft durch Akte des Zeugnisempfangs, die auf Seiten der Rezipierenden ermöglicht wird: zu glauben, ohne zu sehen (Joh 20,29). Zu glauben, ohne zu sehen, wird besonders für die Zeit der Abwesenheit von Jesus vonnöten. Und Zeugenschaft nimmt ihren Ausgangspunkt dort, wo Unwissenheit und Unsicherheit aufgrund von Distanz und Entfernung vorherrschen, wie an der narrativen Figur von Johannes schon aufgezeigt wurde. In einer gegenüber den übrigen Evangelien sehr eigenständigen Weise legt das Evangelium über die Problematik der Abwesenheit Jesu intensiv Rechenschaft ab in den Abschiedsreden (vgl. Joh 13,31-16,33). 19 Es sind die Abschiedsworte des scheidenden Jesus, wobei zu betonen ist, dass das hier dominierende Zeitverhältnis ein paradoxes ist. Denn es handelt sich um eine »als prospektive Verhältnisgabe Jesu erzählte retrospektive Verhältnisnahme« 20 der durch das Evangelium Angesprochenen. Was auf der textinternen Ebene als zukünftig angekündigt wird, ist für den AdressatInnenkreis- - also auf textexterner Ebene-- bereits eingetreten. Innerhalb der Abschiedsreden kommt der Figur des Parakleten eine zentrale Rolle zu, denn an dieser johanneischen Figur konkretisiert sich einmal mehr, was Zeugenschaft als Lebensform bedeutet. Sein Zeugesein ist in einer Situation von Unsicherheit und Unwissenheit gefragt und er macht durch sein Zeugnis eine Erfahrung bzw. Erinnerung anderen verfügbar, denen das Bezeugte nicht mehr direkt zugänglich ist. In nur fünf knappen Textstellen weisen die Abschiedsreden auf den Parakleten hin: Joh 14,16; 14,26; 15,26; 16,7b-11; 16,16 f. 21 Der Paraklet, von dem es ausdrücklich heißt, dass er nicht kommen könne, wenn Jesus noch anwesend ist (vgl. Joh 16,7), übernimmt seine Funktion erst mit der Abwesenheit Jesu. Seine Aktivität beginnt erst, wenn es für die Angesprochenen keine Möglichkeit mehr gibt »auf das Original zurückzugreifen«. Trotz der überaus komplexen Begriffsbestimmung des Lexems paraklētos lässt sich dennoch eine Grundfunktion herausarbeiten. Etymologisch ist paraklētos ein aus dem Passiv parakleisthai gebildetes Verbaladjektiv, »das einen als Beistand oder Zeugen zur Hilfe Herbeigerufenen bezeichnet.« 22 Der Parakletbegriff erschließt sich dementsprechend über seine Funktion, die er ausübt. Sehr allgemein kann man den Parakleten als den zugunsten eines anderen Tätigen verstehen. 23 Seine Funktion ist es, zugunsten des abwesenden Jesus tätig zu sein, indem er zwischen dem abwesenden Jesus und den angesprochenen AdressatInnen vermittelt. Seine Funktion ist die eines bezeugenden Mittlers. Somit ist auch die schon bei Johannes dem Täufer festgestellte Heteronomie als Kennzeichen der Zeugenschaft des Parakleten zu finden. Er ist der Gesandte des abwesenden Jesus (»ich werde ihn zu euch senden« in Joh 16,7 bzw. der Paraklet wird »gesendet vom Vater in Jesu Namen« in Joh 14,26). Als derjenige, der von Jesus zeugen wird-- wie es in 15,27 heißt-- spricht auch der Paraklet nicht mit eigener Stimme, sondern spricht für den abwesenden Jesus. Der Paraklet verbürgt in vollkommener Transparenz den Sinn, die Qualität des von ihm Bezeugten (vgl. Joh 16,13-15). In seiner Bezogenheit auf Jesus wird er nichts anderes lehren als das, »was Jesus gesagt hat« (Joh 14,26), und er wird »nicht aus sich selbst reden, sondern was er hören wird, wird er reden« (Joh 16,13). Auch der johanneische Paraklet ist eine Figur, die Wissen in Form von Zeugenwissen für die AdressatInnen verfügbar macht. In Joh 14,16 wird festgehalten, dass das Wirken des Parakleten nicht zeitlich-- bzw. lebenszeitlich-- determiniert, sondern-- ganz im Duktus biblischen Sprache-- »bis in Ewigkeit« (gr. eis ton aiōna in Joh 14,16) zeitlich entfristet ist, so dass durch die Qualifizierung einmal mehr unterstrichen wird, dass es im Johannesevangelium kein bleibendes Wissen jenseits von Übermittlung gibt und dass dieses Wissen ein durch Übertragung und Übermittlung gesichertes ist und als solches qualifiziert auch Wissen bleibt. Wenn es in Joh 15,26 nun heißt, dass der Paraklet der Zeuge Jesu sein wird, dann wird einmal mehr betont, dass der Paraklet in vollkommener Transparenz den Sinn, die Qualität des von ihm Bezeugten (vgl. Joh 16,13-15) verbürgt und so die Erinnerung ermöglicht. Da der Paraklet nicht nur als Gabe gegeben wird (vgl. das Verb dōsei in Joh 14,16) und als solche Gabe erkannt werden kann (vgl. das Verb gignōskete in Joh 14,17), sondern bleibt (vgl. das Verb menei in Joh 14,17) und in ihnen sein wird (vgl. en hymin estai in Joh 14,17), wird »Auch der johanneische Paraklet ist eine Figur, die Wissen in Form von Zeugenwissen für die AdressatInnen verfügbar macht.« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 44 - 2. Korrektur 44 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Zum Thema ein Ermöglichungsgrund des Zeugnisablegens gegeben: Die Gabe, die bleibt, ermöglicht das Zeugnisablegen. Der Sinn der Aussagen, die vom Bleiben, In-Sein und Mit-Sein des Parakleten sprechen, liegt in zwei Aspekten: Damit es Gabe gibt, ist es zum einen nötig, dass der Gabenempfänger nicht zurückgibt. Durch das Bleiben, In-Sein und Mit-Sein der Gabe wird die Möglichkeit der GabenempfängerInnen markiert, nicht zurückzugeben, denn die Gabe erscheint nicht mehr als Gabe. Zum anderen wird durch die Rede vom Bleiben, In-Sein und Mit-Sein des Parakleten zum Ausdruck gebracht, dass trotz aller bleibenden Differenz Gemeinschaft ermöglicht wird. In Form eines vom johanneischen Jesus ausgesprochenen Versprechens, das unlösbar mit der Figur des Parakleten verbunden ist, wird in Joh 14,18 festgehalten: »Ich lasse euch nicht als Waisen zurück, ich komme zu euch! « Die Qualität der Zeugenschaft trägt immer gemeinschaftskonstitutive Züge! Mit der Gestalt des Parakleten wird verdeutlicht, »dass Erinnerung nicht bloss die menschliche Fähigkeit ist, sich Dinge wieder ins Bewusstsein zu rufen«, 24 sondern eingebunden ist in eine Lebensform, die als Zeugenschaft sich aktualisiert und die es nicht jenseits von Gemeinschaft gibt. Der Paraklet ist der Ermöglichungsgrund für den Prozess der Erinnerung an den abwesenden Jesus, er ist die »Kraft der Erinnerung« für die AdressatInnen. 25 Deshalb ist dieses »Erinnern« keineswegs ein rein passives Tradieren oder Archivieren, sondern entspricht einem eminent kreativen Erkenntnisvorgang, der auf Übermittlung und Übertragung gründet. Dieses durch den Parakleten übermittelte Wissen an die AdressatInnen ist zu beschreiben als erinnernde Vergegenwärtigung, die sich ebenfalls nur in Gemeinschaft vollziehen kann. 26 Der Paraklet verbürgt nicht die faktische Wahrheit von archivierbaren Aussagen, sondern deren Unarchivierbarkeit, die auf Seiten der RezipientInnen im Prozess der Erinnerung eingebunden ist. Erinnerung meint nicht die faktische Vergegenwärtigung des Vergangenen, sondern das Lehren und Erinnern des Parakleten weisen darauf hin, dass es um »alles« geht (vgl. das zweimalige panta in Joh 14,26; 27 siehe auch Joh 16,13). Dieses »alles« bezieht sich keineswegs nur auf die im Johannesevangelium gesprochenen Jesusworte, sondern ist deutlich entgrenzter zu verstehen und somit eine Größe, die jenseits von Tradierung und Archivierung einsetzt. Durch das betonte »alles« wird im Johannesevangelium klargestellt, dass sich Erinnerung nicht auf mitgeteilte Botschaften beschränken lässt, die durch die so Erinnerten bewahrt werden. Dass das kreative Potential der Erinnerung gerade die Abwesenheit Jesu voraussetzt, zeigen auch die signifikanten »Erinnerungsstellen« bezüglich der Jünger in Joh 2,17.22 und 12,16. Beide Stellen betonen, dass die Jünger nach der Auferweckung Jesu (also mit Beginn seiner Abwesenheit) erinnert wurden. Die im griechischen Text zu findende Formulierung emnēsthēsan ist zu lesen als ein Aorist Passiv des Verbs mimnēskō. 28 Das Passiv weist darauf hin, dass die Erinnerung ihnen übermittelt wurde. Damit sind alle Leserinnen und Leser des Evangeliums in der gleichen Situation, da die Kraft der Erinnerung auch für sie zugänglich ist und mittels dieser Kraft ihnen zugemutet wird, Zeugnis ablegen zu können. Wobei Zeugnis ablegen konkret in der Perspektive der Parakletstellen des Evangeliums bedeutet, die eigene Stimme durch die Kraft der Erinnerung für denjenigen zu erheben, der gegenwärtig nicht anwesend ist. Aus diesem Grund betont Joh 15,27, dass die Zeugen »ursprunghaft«-- im Sinne einer qualitativen Bestimmung-- mit dem Abwesenden verbunden sind. 29 Die Figuren der Zeugen im Johannesevangelium übernehmen die Funktion, Wissen für die AdressatInnen in einer Situation der Unwissenheit zu übermitteln. Das Wissen, welches die Figuren der Zeugen übermitteln, geht über das Wissen einer Information hinaus, denn die Akte der Zeugenschaft im Johannesevangelium tragen in sich eine eminent soziale Komponente: sie verlangen nach einer sozialen Epistemologie. Als narrative Ermöglichungsfiguren in Zeiten der Entzogenheit stiften sie Verbindungen und sind eine Antwort auf die Frage, wie die an Jesus Glaubenden in der Zeit seiner Abwesenheit als Gemeinschaft zu existieren vermögen-- nämlich über die Lebensform Zeugenschaft. Anmerkungen 1 U. Eco, Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München 3 1998, 65. 2 H. Thyen, Das Johannesevangelium als literarisches Werk, in: D. Neuhaus (Hg.), Teufelskinder oder Heilsbringer-- die Juden im Johannesevangelium, Frankfurt a. M. 1993, 112-132: 119. 3 Vgl. U. Eco, Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur, München 1996, 112. Auch W. Iser stellt die Interdependenz zwischen realer und fiktionaler Welt heraus, wenn er schreibt: »Indem das Lesen den Text als Prozeß der Realisierung entfaltet, konstituiert es den Text als Wirklichkeit, denn was immer Wirklichkeit sein mag, sie ist, indem sie geschieht« (W. Iser, Die Wirklichkeit der Fiktion. Elemente eines funktionsgeschichtlichen Textmodells der Literatur, in: R. Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 4 1994, 277-324: 297). 4 Vgl. dazu T. van Dijk/ W. Kintsch, Strategies of Discourse Comprehension, New York 1983, 11 ff., die die Funktion der Inferenzbildung von der linguistischen Ebene hin zur Ebene der mentalen Modellbildung vollziehen. Vgl. zu Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 45 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 45 Kristina Dronsch Prekäres Wissen W. Iser, Der Akt des Leses. Theorie ästhetischer Wirkung, München 4 1994, 284. 5 München 2007. 6 Dass die Abwesenheit nicht nur eine grundlegende Erfahrung des frühen Christentums war, äußert Nehemia Polen mit Blick auf das Judentum des Zweiten Tempels. Dieses war nach seiner Meinung »consciously constructed as a religion of absence«. (N. Polen, God’s Memory, in: Obliged by Memory. Literature, Religion, Ethics. A Collection of Essays Honoring Elie Wiesel’s Seventieth Birthday, hg. v. St.T. Katz/ A. Rosen, New York 2006, 139-153: 145). 7 Chr. Dietzfelbinger, »Die größeren Werke (Joh 14,12 f.)«, in: NTS 35 (1989), 27-47: 34. 8 Vgl. dazu J. Hartenstein, Charakterisierung im Dialog. Maria Magdalene, Petrus, Thomas und die Mutter Jesu im Johannesevangelium (NTOA 64), Göttingen 2007, 216. 9 J. Zumstein, L évangile selon Saint John (13-21), Commentaire du Nouveau Testament IVb, Genf 2007, 67. 10 K. Löning, Als Anfang schuf Gott. Biblische Schöpfungstheologien, Düsseldorf 1997, 117. 11 Vgl. L. Schenke, Johannes. Kommentar, Düsseldorf 1998, 380: »Jeder Leser soll sich fragen, ob der Auferstandene in dieser Seligpreisung ihn mitgemeint hat. Genügt ihm das erzählte Zeichen, das Zeugnis der Augenzeugen und die Darstellung des JohEv, um zu glauben? « 12 Der Hauptanteil aller neutestamentlichen Belege der Wurzel matyrfindet sich im Johannesevangelium, so dass auch aufgrund dieser wortstatistischen Erhebung die Relevanz des Wortfeldes »Zeuge/ Zeugnis« deutlich wird. 13 A. Leinhäupl-Wilke, Rettendes Wissen im Johannesevangelium. Ein Zugang über die narrativen Rahmenteile (Joh 1,19-2,12- - 20,1-21,25) (Neutestamentliche Abhandlungen N.F. 45), Münster 2003, 50. 14 S. Alkier, Realität der Auferweckung in, nach und mit den Schriften Neuen Testaments (NET 12), Tübingen 2009, 152. 15 H.-Chr. Kammler, »Jesus Christus und der Geistparaklet. Eine Studie zur johanneischen Verhältnisbestimmung von Pneumatologie und Christologie«, in: O. Hofius/ H.-Chr. Kammler, Johannesstudien. Untersuchungen zur Theologie des vierten Evangeliums (WUNT 88), Tübingen 1996, 87-190: 156 16 J. Durham Peters, Witnessing, in: Media, Culture and Society 23 (2001), 707-723: 709. 17 A.G. Düttmann, Uneins mit Aids. Wie über einen Virus nachgedacht und geredet wird, Frankfurt/ M. 1993, 99. 18 A. Leinhäupl-Wilke, Rettendes Wissen im Johannesevangelium. Ein Zugang über die narrativen Rahmenteile (Joh 1,19-2,12- - 20,1-21,25) (Neutestamentliche Abhandlungen N.F. 45), Münster 2003, 50. 19 Vgl. A. Dettwiler, Die Gegenwart des Erhöhten. Eine exegetische Studie zu den johanneischen Abschiedsreden (Joh 13,31-16,33) (FRLANT 169), Göttingen 1995, 299: »Die Grundfrage der johanneischen Abschiedsreden ist ›die nach der Abwesenheit Jesu‹«. 20 J. Rahner, »Vergegenwärtigende Erinnerung. Die Abschiedsreden, der Geist-Paraklet und die Retrospektive des Johannesevangeliums«, in: ZNW 91 (2000), 72-90: 74. 21 Darüber hinaus ist im Neuen Testament nur noch in 1 Joh 2,1 die Rede vom Parakleten. 22 H. Thyen, Der Heilige Geist als paraklētos, in: H. Thyen, Studien zum Corpus Iohanneum (WUNT 214), Tübingen 2007, 663-688: 664. 23 Mit H. Thyen, Der Heilige Geist als paraklētos, in: H. Thyen, Studien zum Corpus Iohanneum (WUNT 214), Tübingen 2007, 663-688: 668 f., ist die Rede vom »anderen Parakleten« in Joh 14,16 so zu verstehen, dass der scheidende Jesus in der Welt selbst als Paraklet gewirkt hat und dass Jesu Abwesenheit die Bedingung für die Möglichkeit für das Kommen des anderen Parakleten ist. 24 H. Weder, Evangelische Erinnerung. Neutestamentliche Überlegungen zur Gegenwart des Vergangenen, in: Ders., Einblicke in das Evangelium, Göttingen 1992, 183-200: 198. 25 H. Weder, Evangelische Erinnerung. Neutestamentliche Überlegungen zur Gegenwart des Vergangenen, in: Ders., Einblicke in das Evangelium, Göttingen 1992, 183-200: 196 f. 26 Dieses aktive Erinnerungsverständnis wird in der gegenwärtigen Johannes-Forschung von vielen betont. 27 Nicht nur das erinnernde Wirken des Parakleten, sondern auch das lehrende Wirken sind auf »alles« bezogen, was Jesus sagte. Zur Argumentation vgl. Chr. Hoegen-Rohls, Der nachösterliche Johannes. Die Abschiedsreden als hermeneutischer Schlüssel zum vierten Evangelium (WUNT II/ 84), Tübingen 1996, 115. 28 Vgl. zu dieser Möglichkeit O. Schwankl, Recordati sunt. Erinnerungsarbeit in den Evangelien, in: »Für alle Zeiten zur Erinnerung« (Jos 4,7). Beiträge zu einer biblischen Gedächtniskultur (FS F. Mußner), hg. v. M. Theobald/ R. Hoppe, SBS 209, Stuttgart 2006, 53-94: 84. 29 Zu diesem Verständnis von ap‘ archēs vgl. H.-Chr. Kammler, Jesus Christus und der Geistparaklet. Eine Studie zur johanneischen Verhältnisbestimmung von Pneumatologie und Christologie, in: O. Hofius/ H.-Chr. Kammler, Johannesstudien. Untersuchungen zur Theologie des vierten Evangeliums (WUNT 88), Tübingen 1996, 87-190: 121 f.. Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 46 - 2. Korrektur 46 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Einleitung zur Kontroverse: Die frühen Christen-- selbstbestimmt oder fremdbestimmt? Das Thema »Lebenskunst« zeitigt in diesem Heft eine folgerichtige Kontroverse. Denn der Streit um die Bedingungen und Möglichkeiten gelingenden, »glückenden« Lebens ist nicht erst nachaufklärerisch ein Streit um die Verheißungen und Zumutungen von Selbstgewinn und Selbstverlust. So verweist das Thema »Lebenskunst« mit der Frage, ob das Selbstverständnis früher Christen als selbstbestimmt oder als fremdbestimmt zu bezeichnen ist, mitten in gegenwärtige kulturwissenschaftliche Subjektdiskurse, bei denen es um nicht minder drängende Fragen geht. Es sind Lebensfragen, die erst in zweiter Linie akademisch zu reflektieren sind. Sie stellen sich stets dringlich und unabweisbar da, wo Selbstverständlichkeiten beschädigt, Erfahrungen brüchig, Deutemuster hinfällig und alle Antworten widersprüchlich werden. Wo zunehmend diejenigen aufgefordert sind, ihr »unternehmerisches Selbst« zu entwickeln, die ökonomisch und gesellschaftlich mehr und mehr ins Hintertreffen geraten, wird die Frage nach den Gewichtungen von Fremd- und Selbstbestimmtheit existentiell. Können Techniken der Selbstoptimierung emanzipatorisch sein, oder sind sie nichts als entmündigende Zustimmungsrituale gegenüber den Ansprüchen heteronomer Macht? Kann der Umgang mit Brüchen, Ungerechtigkeit und Leid so gelebt werden, dass Menschen sich jenseits der weglosen Alternative von Selbst- und Fremdbestimmtheit als Subjekte ihres Lebens begreifen? Führen die Entschuldungs-, Befreiungs- und Vergebungsdiskurse des Neuen Testaments aus der dilemmatischen Alternative von »fremd« und »selbst« heraus zu neuen Lebensformen von Selbstannahme und Mündigkeit, von Angenommensein und neuer Freiheit? Das Thema dieses Heftes wird mit der Kontroverse auf Zusammenhänge gelenkt, die eine überraschende Aktualität aufweisen. Beide Beiträge zur Kontroverse schärfen zudem die Aktualität der Problematik, als was das Neue Testament heute gelesen werden kann. Sie entwickeln spannende Perspektiven auf die Frage, ob das Neue Testament uns gleichsam zuerst in unserem Sein oder in unserem Sollen anspricht, ob es die Unterwerfung unter eine uns fremd gewordene Ordnung fordert oder uns so adressiert und freispricht, dass die Erfahrungen der Fremdbestimmtheit unhintergehbar durchkreuzt werden-- und sie brechen auf je eigene Weise zu einfache Alternativen auf-- auch damit, dass sie gemeinsam auf eine Entwicklungsgeschichte verweisen, die uns zu denken gibt. Eckart Reinmuth Kontroverse Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 47 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 47 1. Die Freiheit des inneren Menschen im NT Das Prinzip der christlichen Freiheit besteht nach Hegel darin, dass ein »Ort im Innersten des Menschen gesetzt worden [ist], auf den es allein ankommt und wo der Mensch nur bei sich und bei Gott ist« 1 . Dieses Prinzip ist schon im Neuen Testament erkennbar. Es ist möglicherweise auf stoischen Einfluss zurück zu führen. Die Vorstellung von einer inneren Freiheit ist überall präsent. Das belegen schon all jene Stellen, wo von einem Wollen die Rede ist, auch die, die von einem göttlichen Wollen sprechen. Hinter der an seinen himmlischen Vater gerichteten Bitte Jesu, die in den Evangelien (Lk 22,42 parr) überliefert ist: »nicht mein Wille geschehe, sondern dein Wille«, scheint in der Tat die stoische Umdeutung des aristotelischen Begriffs der prohairesis im Sinne eines wahren Selbst oder einer personalen Identität erkennbar zu sein, auch wenn die Evangelisten durchgehend von thelēma sprechen. 2 Wenn, wie in 2Kor 8,10 das Wollen vom Vollbringen oder Vollenden unterschieden wird, ist die innere Absicht gegenüber der äußeren Handlung gemeint. Gott kann das Wollen und Vollbringen im Menschen bewirken, freilich nicht ohne das Wollen des Menschen, aber doch über seine Anstrengungen hinaus (Phil 2,13). Auch der spezifisch christliche Gedanke von der Selbstverleugnung ist nur als eine Willensbewegung verständlich. Wer sein Leben retten will, der verliert es, und wer es um Christi willen verliert, der findet es gerade (Mt 16,25). Diese Dialektik des Willens ist im Neuen Testament geradezu omnipräsent. Wenn jemand »unter euch groß sein will, dann wird er euer Diener«, also klein sein. Wenn er der erste sein will, so »wird er euer Knecht sein«. Es handelt sich um die Dialektik des göttlichen Willens, denn der Menschensohn hat den Menschen dieses Beispiel gegeben (Mt 20,26). Die Allmacht Gottes ist da am größten, wo sie umschlägt in Ohnmacht. Von einem Willen, der solcherart um des Menschen willen sich seiner Macht entäußert, ist nicht denkbar, dass er bestimmte Gruppen unter den Menschen, bestimmte Rassen, bestimmte Völker oder Nationen, bestimmte Berufe oder Religionsangehörige aus seinem Reich der Freiheit, aus der freien Stadt Jerusalem (Gal 4,27) ausschließen könnte. Deswegen heißt es in 1Tim 2,4 er »will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen«. Wer in seinem Wort bleibt, der wird die Wahrheit erkennen, und diese »Wahrheit wird euch frei machen« (Joh 8,33). Die Befreiung des Christen ist in erster Linie eine Befreiung zur inneren Freiheit, d. h. eine Befreiung von der Sünde. Einerseits heißt es, dass alles Böse im Inneren des Menschen sei (Mk 7,20), andererseits: »Das Reich Gottes ist in euch« (Lk 17,21). Gut und Böse sind im Herzen des Menschen. Das Gute, insofern es das Gute will, das Böse, weil es schwach werden kann. Im 7. Kapitel des Römerbriefes haben wir sozusagen die christliche Version des philosophischen Stücks von der Willensschwäche vor uns. Das Wollen des Guten liegt bei mir, nicht aber die Verwirklichung, sagt Paulus. Nicht was ich will, tue ich, sondern was ich hasse, das tue ich. Nicht das Gute, das ich will, verwirkliche ich, sondern was ich nicht will, das Böse. Wenn es um das Tun, das Wirklichmachen geht, bin nicht mehr ich der Akteur, sondern vielmehr die in mir wohnende Sünde (Röm 7,14-20). Es ist zweifellos ein besonderer antiker Text, der uns hier begegnet. Denn einerseits fügt er sich mit seinen Anspielungen an stoische Philosopheme in die Entwicklung des Willensschwächeproblems in der antiken Philosophie, andererseits bricht er gerade mit dieser Tradition, insofern hier von einer »klarsichtigen«, d. h. nicht durch ein Wissens- oder Bewusstheitsdefizit bedingten Willensschwäche die Rede ist. 3 Es ist der in der Sünde gefangene, von der Sünde beherrschte Mensch, der hier im Vordergrund steht. In keinem Text des NT kommt der Begriff der »Sünde« so häufig vor wie im Römerbrief. Kann da eigentlich noch von der Freiheit des Menschen gesprochen werden, der so tief in Sünde verstrickt ist, dass er sich selbst daraus nicht befreien kann? Ist das Theo Kobusch Selbstbestimmte Freiheit Das frühe Christentum im Kontext der antiken Philosophie Kontroverse »Die Befreiung des Christen ist in erster Linie eine Befreiung zur inneren Freiheit, d.h. eine Befreiung von der Sünde.« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 48 - 2. Korrektur 48 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Kontroverse d. h. von einem äußeren Indeterminismus, die gegen verschiedene philosophische Richtungen verteidigt wird. Justin hat als einer der ersten in diesem Sinne gegen die stoische Doktrin von der universalen und durchgängigen Determiniertheit aller Dinge und Geschehnisse Stellung genommen. Bemerkenswert ist die Differenziertheit seiner Kritik. Denn während die stoische Ethik durchaus anerkannt und einzelne Vertreter dieser Schule, wie z. B. Musonius, neben Heraklit oder Sokrates als »Christen« vor oder neben dem Christentum eingeschätzt werden, 6 hat Justin die stoische Lehre von den Prinzipien und dem »Unkörperlichen«, d. h. die Physik und Metaphysik einer unbarmherzigen Kritik unterworfen. Dazu gehört aber die Ansicht von der durchgehenden Determiniertheit aller menschlichen Handlungen. Ein solcher Determinismus widerspricht nach Justin einem Urphänomen des menschlichen Willens. Wenn alles determiniert wäre, könnte es nämlich nicht das Phänomen der menschlichen Verantwortung geben, das darauf beruht, dass der Wille Gegensätzliches tun kann. Indem der Mensch das Moralische als das in seiner Macht Stehende, d. h. in seine Verfügungsgewalt und Kompetenz Gelegte, erkennt, hat er schon den »freien Willen« in sich vorausgesetzt. 7 Deswegen ist anzunehmen, dass der Wille des Menschen, wie auch der der Engel, von Gott mit einer autonomen, souveränen und selbstmächtigen Wahlfreiheit (gr.: autexousion) ausgestattet erschaffen wurde, durch die er befähigt ist, sich nach beiden Seiten hin, zum Guten oder Bösen, wenden zu können. Wenn diese ursprüngliche Wahlfreiheit in den geschaffenen Wesen nicht angenommen würde, wäre weder Lob noch Tadel denkbar. Denn wer würde schon das von der heimarmenē Festgelegte, das, was nicht anders sein kann, loben oder tadeln? 8 Das Argument, die Phänomene des Lobens und Tadelns setzten notwendig die Freiheit des autexousion bzw. die Verantwortung des Menschen (eph' hēmin) voraus, gehört in den Zusammenhang einer gegen die Stoa gerichteten Kritik, die von Platonikern oder Aristotelikern stammt. Sie könnte aber auch auf eine innerstoische Kritik an der alten Stoa zurück gehen. Die stoische Lehre über das Verhältnis von »Schicksal« und »Freiheit« ist alles andere als einheitlich. 9 Was die Kritik Justins an dem stoischen Determinismus angeht, so scheint sie einerseits vorgebildet zu sein beim Platoniker Plutarch und andererseits eine besondere Nähe zu seinem jüngeren Zeitgenossen Alexander von Aphrodisias aufzuweisen. 10 Insbesondere ist es die oben schon erwähnte Umdeutung des Begriffs der prohairesis durch Epiktet, die sich hier, bei Justin, aber auch bei anderen Vertretern der christlichen Philosophie niederschlägt: prohairesis ist nicht mehr, wie nicht hoffnungslose Knechtschaft? Hatte Luther nicht allen Grund, sich für seine These vom servum arbitrium auf Röm 7 zu berufen? Paulus nimmt im 7. Kapitel des Römerbriefes interessanterweise auch Bezug auf die schon vorchristlich belegbare Lehre vom »inneren Menschen« (Röm 7,22). 4 Der innere Mensch ist es, der Freude am göttlichen Gesetz hat und dem Gesetz der Sünde in den Gliedern Widerstand leisten kann. Der innere Mensch, d. h. die Vernunft oder das Gewissen, ist jene Instanz, die überhaupt urteilen kann, dass ich das, was ich gerade tue, in Wirklichkeit hasse und das, was ich eigentlich will, nicht tue. Der innere Mensch, das ist der klare Blick auf mich selbst, auf mein Tun und mein Wollen. Er ist sozusagen der Sitz der Freiheit, die sich zwar nicht selbst aus den Verstrickungen der Sünde befreien, aber doch »Scham« empfinden kann (Röm 6,23) und gegenüber der Gnade Gottes offen ist. 2. Freiheit und Verantwortung in der frühen christlichen Philosophie Zwar nennt sich das patristische Denken erst vom 4. Jahrhundert an selbst die »christliche Philosophie«, aber man hat guten Grund, es von den Anfängen an so zu benennen und es als eine Form der Philosophie, nicht der Theologie anzusehen. 5 Zu ihren unverkennbaren Merkmalen gehört die Lehre vom freien Willen, Theo Kobusch, wurde 1972 an der Universität Gießen mit der Arbeit »Studien zur Philosophie des Hierokles v. Alexandrien« promoviert; 1982 Habilitation an der Universität Tübingen. Seit 2003 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Philosophie des Instituts für Philosophie der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Seine Forschungsschwerpunkte sind: die Geschichte der Philosophie, Metaphysik, Freiheit und Personalität, Religionsphilosophie, Ethik, Sprachphilosophie. Prof. Dr. Theo Kobusch Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 49 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 49 Theo Kobusch Selbstbestimmte Freiheit bei Aristoteles, die ganz im Dienst der Natur, auch der »zweiten Natur« stehende Entscheidungsfähigkeit, sondern-- sozusagen-- das Ich selbst, die Identität der Person, das wahre Selbst von einem praktischen Standpunkt aus, während bei Platon und Aristoteles dafür eher der (theoretische) nous steht 11 . Wenn Justin kurz darauf die Stoiker kritisiert, weil sie Gott nicht von dem »Sichwendenden« und »Sichverändernden« zu unterscheiden wissen, hat er offenbar einen doppelten Sinn des Begriffs »Sichwenden« (gr.: trepesthai) vor Augen, nämlich die Hinwendungsmöglichkeit des Willens, also einen ethischen Sinn, und die Veränderungsmöglichkeit von Naturdingen, d. h. einen physischen Sinn. Der ethische Sinn des Begriffs ist es, der später sozusagen Schule gemacht hat. Denn die Vorstellungen vom Menschen als einem »amphibischen« Wesen, das auf der »Grenzscheide« (gr.: methorios) steht zwischen Sinnfälligem und Intelligiblem, das nach beiden Seiten sich orientieren kann (epamphoterizein), das eine Mittelstellung innehat und ähnliche Charakterisierungen, die z.T. schon bei Philo von Alexandrien vorkommen und im Neuplatonismus breit aufgenommen worden sind, werden in der späteren christlichen Philosophie durch die besondere Stellung und Funktion des menschlichen Willens und seiner Autonomie begründet 12 . Für Gregor von Nyssa z. B. ist diese beidseitige Neigungs- oder Wendungsmöglichkeit des Willens das spezifische Merkmal des Menschlichen, zumal auch ein ständiges Anwachsen im Guten nicht denkbar wäre ohne diese Fähigkeit 13 . Justins Schüler, Tatian, der, wie er selbst am Ende seiner Rede an die Hellenen sagt, »aus dem Land der Assyrer stammt« und die griechische Philosophie studiert hat, bezieht sich am Anfang und am Ende der Rede auf die Philosophie der Barbaren als den Ursprung aller Philosophie, auch der christlichen. Deswegen nennt er sich selbst den Barbarenphilosophen. Die christliche Philosophie sticht aber besonders auch durch ihre Freiheitslehre gegenüber dem griechischen Astraldeterminismus hervor, nach dem Reichtum und Armut, aber auch moralische Zustände wie Zorn oder Geduld auf eine astrale notwendige Bestimmung zurück zu führen seien. Doch, so wendet Tatian ein, des Menschen Zustand ist nicht Produkt fremder Bestimmung. »Zugrunde gerichtet hat uns das Selbstmächtige unserer Freiheit (autexousion). Denn wir, die Freien, haben uns selbst zu Sklaven gemacht, zu Sklaven der Sünde. Das Böse haben wir hervorgebracht, nicht Gott, von dem nichts Böses kommen kann.« Gott hat in diesem Sinne Engel und Menschen, damit sie nicht Produkte einer naturhaften Notwendigkeit würden, als mit selbstmächtiger Freiheit ausgestattete Wesen erschaffen, die das Gute nicht naturhaft haben, sondern kraft der »Freiheit ihres Willens« verwirklichen müssen, sei es dass sich der Gute Lob und Verdienst erwirbt, sei es, dass der Schlechte sich der Strafe stellt. 14 Parallelen zu Tatians Lehre vom freien Willen scheint die Freiheitslehre des Syrers Bardesanes (154-223) zu enthalten, dessen Rolle in der Freiheitsgeschichte unabhängig vom Urteil seines Kritikers und Landmanns Ephräm gewürdigt werden müsste. 15 Eine vergleichbare Vorstellung begegnet uns im Werk des Theophilus, des Bischofs von Antiochien. Auch hier ist der Einfluss des stoischen Denkens unverkennbar. Gott hat nach Theophilus den Menschen nicht als von Natur aus sterblich oder unsterblich erschaffen, sondern als das für Sterblichkeit oder Unsterblichkeit empfängliche Wesen (dektion), je nach dem, wohin er sich kraft seines freien und selbstbestimmenden Willens hinwendet. Der Mensch ist so sich selbst die Ursache seines Todes, wenn er aus »Nachlässigkeit« (gr.: ameleia) das göttliche Gesetz missachtet, oder er verschafft sich selbst die Aussicht auf das ewige Leben. 16 Wenig später, im Jahre 207/ 208, hat Tertullian ein fünf Bücher umfassendes Werk gegen Marcions Theologie verfasst (Adversus Marcionem). Es gehört mit Adversus Hermogenem (204/ 05), Adversus Valentinianos (206/ 07), De anima (210) und De resurrectione mortuorum (211) in die Reihe jener Schriften, die Tertullian gegen die Gnostiker geschrieben hat. Es ist besonders das zweite Buch von Adversus Marcionem, in dem Tertullian seine Freiheitslehre expliziert hat. Die Gnostiker zweifelten daran, dass Gott die Prädikate der Güte, Allmacht und Vorsehung zukämen. Denn warum duldete es Gott, dass der Mensch, sein Bild und Gleichnis, ja sogar seine Substanz, vom Teufel verführt dem Tode verfiel? Da es aber geschehen ist, kann man-- so die Gnosis-- daraus nur schließen, dass Gott weder gut noch mächtig noch vorausschauend ist. Tertullian zeigt im Gegenzug dazu, dass Gott die Möglichkeit der Verfehlung einrichten »musste«, gerade im Sinne seiner Güte und Allmacht. Er sieht es als seine Aufgabe an, die Notwendigkeit (debuisse) dieser göttlichen Einrichtung zu verteidigen. Denn in der Güte liegt das Moment der Notwendigkeit des Sichmitteilens. Was aber könnte nun der göttlichen Selbstmitteilung würdiger sein als sein Bild und Gleichnis, das, wie er selbst, durch Freiheit und Macht ausgezeichnet ist! Was Gott von Natur aus ist, das ist der Mensch durch göttliche Einrichtung bedingt, nämlich gut. Damit aber der Mensch dieses Gute als ein von Gott »emanzipiertes«, also als sein eigenes habe, und Tertullian fügt bedeutungsvoll hinzu: »irgendwie von Natur aus« habe, d. h. es im Sinne der zweiten Natur erlangen könne, hat Gott ihm den freien Willen gegeben. Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 50 - 2. Korrektur 50 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Kontroverse In der Schrift De anima hat sich Tertullian zur Verdeutlichung seiner Theorie vom liberum arbitrium auch auf die griechische Tradition des autexousion bezogen und gegenüber den Gnostikern Marcion und Hermogenes darauf hingewiesen, dass die so verstandene Freiheit ein dem Menschen von Natur aus Gegebenes sei, so dass die Wendung dieses veränderbaren Willens auch immer eine Wendung der menschlichen Natur, verstanden als zweite Natur, darstellt. 17 Es fällt auf, dass gegenüber den Gnostikern, d. h. jenen Theoretikern der starren Naturen und Prinzipien, von christlicher Seite aus das Reich der zweiten Natur, also das vom menschlichen Willen Geformte, entgegen gehalten wird. Denn wenig später wird auch Origenes zwischen dem unterscheiden, was zum Reich des fest »Konstituierten« (gr.: kataskeuē) und Dinghaften gehört und dem, was »aufgrund einer Veränderung und eigenen Willens so geworden und, mit einem Neologismus ausgedrückt, seine Natur geworden ist«. 18 Offenbar hat Origenes hier die Vorstellung der sog. »zweiten Natur« vor Augen, die durch den Willen begründet wird. Tertullian und Origenes haben einen gemeinsamen Gegner, die Gnosis, d. h. die Nachfolgerin des stoischen Determinismus. Deswegen ist es sicher kein Zufall, dass beide Autoren auch den Gottesbegriff, was vorher in der antiken Philosophie nie geschehen ist, in dem Rahmen ihrer Freiheitsphilosophie neu bestimmen, indem sie Gott als die andere Freiheit ermöglichende Freiheit selbst verstehen. 19 Denn es gehört zur Bestimmtheit des Guten, dass es aus Freiheit verwirklicht wird. Also-- so könnten wir schließen-- ist das eigentlich Gute die Freiheit selbst. Damit der Mensch aber wirklich als sein eigener Herr (sui dominus) auftreten und das Gute wirklich freiwillig beobachten und das Schlechte wirklich freiwillig vermeiden könne, musste Gott ihm die nach beiden Seiten offene Wahlfreiheit (libertas ad utramque partem) geben. Das Gesetz aber, das dem Menschen gegeben ist, d. h. das Sittengesetz, ist nicht eine Behinderung der Freiheit, sondern geradezu ein Beweis der Existenz derselben. 20 Gott konnte auch, nachdem er dem Menschen die Freiheit geschenkt und der Mensch mit diesem Geschenk Missbrauch getrieben hatte, nicht in irgendeiner Weise intervenieren und die Willensfreiheit wieder aufheben-- was für ein Geschrei hätte dann Marcion über diesen treulosen, wetterwendischen Gott erhoben! --, sondern er musste sich gewissermaßen angesichts der einmal zugestandenen Freiheit zurück- und an sich halten (»igitur consequens erat, uti deus secederet a libertate semel concessa homini, id est contineret in semetipso«), damit das Gute, das unter Zwang kein Gutes ist, weiterhin frei verwirklicht werden könne. 21 Die Willensfreiheit aber kann ihre Schuld oder Verfehlung nicht auf den zurückführen, von dem sie verliehen wurde, sondern nur auf den, der sie selbst pflichtwidrig angewendet hat. 22 3. Die Vollendung der Freiheitslehre bei Clemens und Origenes Wie Tertullian die Freiheit des Menschen im Westen, nämlich in Karthago oder auch Rom verteidigte, so wurde auch im Osten, in Alexandria, von Clemens der Grundstein zu einer Philosophie der Freiheit gelegt. Das »Werk« der Freiheit besteht nach Clemens aus zwei Elementen, die eng zusammen gehören: nämlich aus dem Wollen und der Ausführung des Gewollten. Das Erstere ist Sache der Seele, genauer gesagt: des Willens, bei dem es im Sinne des stoischen eph’ hēmin liegt, z. B. den Geboten Gottes zu folgen oder nicht. Die Ausführung aber kann nicht ohne den Körper vollzogen werden. Clemens weiß in diesem Zusammenhang auch das menschliche Handeln vom Herstellen zu unterscheiden, denn es geht nicht, wie bei diesem, bloß um das Endprodukt, sondern auch um den Willen, d. h. die Absicht und ebenso, im Falle einer Fehlleistung, um die Reue, also wiederum um eine Willensbewegung. 23 Clemens bezieht sich auch direkt auf die stoische Lehre vom eph’ hēmin, also dessen, was in unserer Verantwortung liegt. Das zu unterscheiden von dem, was außerhalb unserer Verantwortung liegt, war für die Stoiker von äußerster Wichtigkeit. In unsere Verantwortung fallen in diesem Sinne vor allem unsere Willensbewegungen, allen voran die »Zustimmung«. Und da jede Stellungnahme, sei es in Form einer »Meinung« oder »Annahme« oder eines »Urteils« oder auch, was für Clemens besonders bedeutsam ist, des »Glaubens«, eine Zustimmung enthält, gehört sie in erster Linie zu dem, wofür die Menschen Verantwortung tragen. 24 Um dies jedoch angemessen denken zu können, dass der Mensch selbst für etwas verantwortlich sein kann oder griechisch ausgedrückt: dass es in seiner Hand liegt, dies oder das zu wählen, muss eine Voraussetzung noch erfüllt sein: Dem Willen muss der Charak- »Dem Willen muss der Charakter des Selbstbestimmenden (autexousion) zukommen, damit die ›Handhabung‹, d. h. der rechte Gebrauch oder auch Missbrauch der von Gott geschenkten Freiheit in seine Verantwortung fällt und nicht in die des göttlichen Gebers.« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 51 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 51 Theo Kobusch Selbstbestimmte Freiheit ter des Selbstbestimmenden (autexousion) zukommen, damit die »Handhabung«, d. h. der rechte Gebrauch oder auch Missbrauch der von Gott geschenkten Freiheit in seine Verantwortung fällt und nicht in die des göttlichen Gebers. 25 Wenn wir das eph’ hēmin der Stoiker tatsächlich im Sinne dessen verstehen dürfen, wofür der Mensch Verantwortung trägt, dann muss doch gleich hinzugefügt werden, dass hier nicht an einen »abgrundtiefen Gegensatz« zwischen Verantwortungsethik und Gesinnungsethik wie bei M. Weber zu denken ist. Vielmehr sind »Gesinnung«, d. h. prohairesis oder schlicht: der Wille und »Verantwortung«, also eph’ hēmin eine Einheit, indem sie zwei Seiten einer Medaille darstellen. Im Namen der so verstandenen Verantwortung hat Clemens nicht nur alle griechischen Vorstellungen von einem verhängnisvollen Schicksal zurückgewiesen, sondern vor allem auch die (z. B. bei Basilides zu findende) gnostische These von der für Verfehlungen in einem vorherigen Leben jetzt zu ertragenden Strafe kritisiert: »Wie sollte das wahr sein können, da es doch bei uns liegt, (die Tat) zuzugeben und bestraft zu werden oder nicht« 26 . Die Strafe für eine Verfehlung erfolgt ja auch nicht, um die entsprechende Handlung ungeschehen zu machen, sondern »weil sie geschehen ist«. Die Strafe gehört deswegen zu jenen Folgen der Tat, die auch in unserer Verantwortung liegen. Das setzt voraus, wie Clemens sehr klar dargelegt hat, dass unser Verantwortungswille als ein Wollen begriffen wird, das sich nach beiden Seiten hinwenden, also z. B. den Entschluss fassen kann, Philosophie zu treiben oder nicht zu philosophieren und ebenso moralisch das Gute zu tun oder das Böse, letzteres freilich ohne es eigentlich zu wollen, denn »niemand wählt das Schlechte insofern es schlecht ist«, sondern in der Annahme, es sei gut (Strom. I 17,84). Für beides ist er verantwortlich und in beiden Fällen auch für die Folgen, nämlich einerseits für das Lob oder die Ehrung, andererseits für den Tadel oder die Strafe. 27 Im Falle des Guten freilich erhält der Mensch auch göttliche Hilfe, so dass ein Synergismus von endlicher und göttlicher Freiheit denkbar wird. 28 Gegen welche Vorstellungen sich Clemens’ Freiheitslehre richtet, ist vielleicht aus dem Vorhergehenden noch nicht deutlich geworden. Es ist nicht mehr, wie bei den frühen Apologeten, hauptsächlich die stoische Lehre von der heimarmenē, obwohl auch sie der Kritik verfällt. Doch der eigentliche Gegner ist jetzt ein anderer, so dass auch der terminologische Gegenbegriff zur Freiheit, (d. h. eph’ hēmin oder prohairesis oder autexousion) sich verändert. Das wird da deutlich, wo Clemens seinen eigenen Glaubensbzw. Erkenntnisbegriff dem des Basilides gegenüber stellt. Nach dem Gnostiker ist Glauben und Erkennen eine »Naturanlage«, Clemens aber begreift beides als eine Form der vernünftigen Zustimmung und damit der »selbstbestimmenden Seele«. Basilides, sagt Clemens, spricht von »physis« und »hypostasis« und »ousia« und vergisst darüber-- wie wir es im Deutschen kaum nachformulieren können-- die »exousia«, d. h. die Freiheit. 29 Freiheit wird hier verstanden aus dem Gegensatz zu allem, was eine festumrissene Natur hat oder eine dinghafte Subsistenz oder ein festgelegtes Wesen. Freiheit ist das »Außerwesentliche«. Hier wird, so scheint es, ein Denken und mit ihm verbunden eine neue Terminologie auf den Weg gebracht, die, denkt man an den Gegensatz von prohairesis und ousia bei den griechischen Vätern und von natura und voluntas bei Augustinus, über Jahrhunderte gültig bleiben sollte. Was Clemens vorbereitet hat, hat Origenes vollendet. Die Vollendung besteht darin, dass in dieser Philosophie die Freiheit erstmals als Prinzip begriffen wird, und wie man hinzufügen muss: die menschliche Freiheit, die bei Origenes prohairesis, eph’ hēmin, autexousion, aber nicht thelēma genannt wird. 30 Die Freiheit als Prinzip zu begreifen bedeutet aber, schlechthin alles, die materiellen Dinge wie die intelligiblen Wesen, alles Naturgeschehen, Schöpfung und Apokatastasis, Gott und sein Heilshandeln, das menschliche Handeln und seine Motive und Antriebskräfte und was es sonst gibt, so zu denken, dass es mit der Existenz der menschlichen Freiheit verträglich ist. Die Bewahrung der Freiheit des Menschen, das ist der absolute Standpunkt des Origenes, von dem aus er Gott und die Welt betrachtet. Dem wird nicht gerecht, wer, wie H. Holz, den göttlichen Willen als einen Durchsetzungswillen begreift, der zwar nicht durch Zwang, aber doch durch die »innere Gewalt des Guten selbst« wirke. 31 Hinter dieser Ansicht verbirgt sich die Position des Kelsos, die Origenes ablehnt. Denn Kelsos hatte schon die Frage gestellt, ob es denn der göttlichen Allmacht nicht möglich war, den Menschen von vorneherein und unmittelbar (autothen) so tugendhaft und vollkommen einzurichten, dass es keiner weiteren »Korrektur« bedurft hätte und so nicht das mindeste Übel existierte (Contr. Cels. IV 3). Beide, der antike Christentumskritiker und der moderne Origenesinterpret, haben nicht begriffen, um was es »Origenes’ Antwort auf die Frage des Kelsos fasst in einen Satz, was doch eigentlich eine ganze Abhandlung verdiente: ›Wenn Du das Freiwillige an der Tugend aufhebst, würdest Du ihr Wesen aufheben‹.« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 52 - 2. Korrektur 52 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Kontroverse Origenes zu tun war. Origenes’ Antwort auf die Frage des Kelsos fasst in einen Satz, was doch eigentlich eine ganze Abhandlung verdiente: »Wenn Du das Freiwillige an der Tugend aufhebst, würdest Du ihr Wesen aufheben«. Ohne Freiheit gibt es keine Tugend, und ohne Freiheit gibt es nichts Gutes, deswegen ist das eigentlich Gute die Freiheit. Deswegen kann auch Gott nicht das Gute direkt und unmittelbar bewirken, sondern nur vermittelt durch die menschliche Freiheit. In diesem Sinne heißt es in der Gebetsschrift, dass Gott das Gute einem Menschen niemals im Modus des Zwangs, sondern immer nur unter der Bedingung der Freiheit zukommen lassen will. 32 Dazu passt gut ein anderes großes Wort, nach dem Gott kein Tyrann, sondern ein König ist, und ein König übt keine Gewalt aus, sondern überzeugt, denn er will, dass seine Untertanen sich in Freiheit auf seinen Heilswillen einlassen. 33 Gregor von Nyssa hat wenig später den Gedanken aufgenommen, wenn er sagt, dass Gott der vernunftbegabten Natur die Gnade der Selbstbestimmung (autexousion) gegeben hat, damit das Verantwortungsbewusstsein (to eph' hēmin) Platz greife und das Gute nicht erzwungenermaßen und unfreiwillig, sondern mit Freiheit vollbracht werde. 34 Hier erscheint die Freiheit, die fehlbare, die endliche, als von Gott anerkannte höchste Würde des Menschen. Die Anerkennung der Freiheit bedeutet aber die Anerkennung des »inneren Menschen«, d. h. der Subjektivität, denn Origenes identifiziert letzteren ausdrücklich mit dem Willen. 35 Andere Freiheit anerkennen kann aber nur ein Wesen, das selbst frei ist. Es ist deswegen nur konsequent, wenn Origenes Gott selbst auch die »ungezeugte Freiheit« nennt. 36 Dieses Gott-Mensch-Verhältnis aber impliziert die von den Stoikern übernommene These von der Gleichartigkeit der Tugend bei Gott und den Menschen oder, wie man auch sagen kann, von der Univozität des Moralischen. 37 Im Sinne dieser Freiheitsphilosophie hat Origenes in vielen seiner Werke der Grundthese der Gnostiker (Valentinus, Basilides, Herakleon) widersprochen, die alles auf feste Naturen oder Wesen oder Konstitutionen zurück führen wollen. 38 Origenes stellt dem seine Lehre von der universalen Freiheitsbedingtheit alles Seienden gegenüber. Die Verschiedenheit der Vernunftwesen ist so nicht auf den Willen des Schöpfers zurück zu führen, sondern sie verdankt sich der Willensfreiheit der Vernunftgeschöpfe selbst, die entweder durch die Nachahmung Gottes »Fortschritte« machten oder durch »Nachlässigkeit« von Gott abfielen. Der Zustand, der so aufgrund der eigenen Willensbewegung erreicht wurde, ist einer »Natur« oder einem »Wesen« durchaus ähnlich. Origenes versteht offenbar eine solche durch Freiheit konstituierte Natur im Sinne der »zweiten Natur«, d. h. als ein durch Gewohnheit Festgewordenes. 39 Es ist der freie Wille, der einem jeden seine Natur macht. 40 Diese Lehre von der durch den menschlichen Willen gemachten Natur ist ein Resultat der Auseinandersetzung mit den Gnostikern, die die Naturen, Wesen und Konstitutionen als von Gott eingerichtete, dem menschlichen Willen vorgegebene, ihn total bestimmende Ordnung verstanden. Deswegen muss Origenes’ Freiheitslehre vor allem von diesem Gegensatz zur Vorstellung einer fertigen Ordnung her betrachtet werden. Eine solche nimmt z. B. Kelsos an, so dass immer dasselbe in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geschehen, Sokrates also immer angeklagt würde und nichts aus der Geschichte gelernt werden könnte. Origenes sieht in einer solchen Annahme den Ruin des freien Willens und jeglicher Verantwortung. Lob und Tadel verlören ihren Sinn. So kann die Geschichte nicht verstanden werden. 41 In ähnlicher Weise gehen auch die Gnostiker von einer festen, fertigen Ordnung aus. So verstehen sie z. B. den Unterschied zwischen Gut und Böse und die Trennung zwischen den Guten und den Bösen. Sie glauben, dass die Bösen »von Natur aus« nach dem Johanneswort in der Finsternis »sind«. Origenes hält dem entgegen, dass jeder von ihnen allein durch seinen Willen dort ist, weil er das Böse liebt. Entsprechendes gilt von den Guten und vom Licht. Bemerkenswerterweise werden beide, das Licht wie die Finsternis als »nichtseiendes« bezeichnet. Nicht das »Sein« der Finsternis bringt die schlechten Werke hervor, sondern weil sie Schlechtes tun, deswegen sind sie im Finstern. Das Zum-Licht-Gehen oder das Inder-Finsternis-Sein meint auch nicht eine Ortsangabe im Sinne der aristotelischen Ding-Kategorien (topikos), sondern drückt eine-- wir könnten sagen-- ethische Kategorie (energetikos) aus. Somit ergibt sich: Das Handeln, das immer mit dem Wollen beginnt, bestimmt das Sein, nicht umgekehrt. 42 Dieser Grundsatz steht bei Origenes im Hintergrund all seiner Auseinandersetzungen mit der Gnosis. Wenn Herakleon, der Gnostiker, den Willen anerkennte, ohne die Natur mit ins Spiel zu bringen, so würden wir ihm, sagt Origenes, »zustimmen«. Da er aber die »physische Konstitution« für die Ursache der Zustimmung hält, also dessen, was Origenes mit der Stoa für das eigentliche Adyton der Freiheit hält, »muss seine Rede zurückgewiesen werden« 43 . Den gnostischen »Natur«-Theoretikern hält er entgegen: Nicht eine Natur in mir ist der Grund meiner sittlichen Schlechtigkeit, sondern allein mein freier Wille ist der Übeltäter. Und wie könnt ihr erklären, dass ein Gesetzesübertreter, wenn er eine schlechte Natur hat, sich von der Gesetzlo- Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 53 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 53 Theo Kobusch Selbstbestimmte Freiheit sigkeit abwendet? 44 Auch das Skandalon des Todes wollen sie auf das Konto einer »Natur« oder »Konstitution« schreiben, wo es doch der selbstbestimmende Wille war, der keine Mühen für die Tugend ertragen wollte. 45 Der begriffliche Gegensatz von Natur, Konstitution und Wesen auf der einen und Freiheit, Verantwortung, freiem Willen und Selbstbestimmtheit auf der anderen Seite durchzieht das Werk des Origenes. Es ist sein umfassendes Denkprinzip. Die gewaltige Wirkungsgeschichte dieses Prinzips, die nur in Ansätzen erforscht ist und bis weit in die neuzeitliche Philosophie hineinreicht, 46 könnte, wenn sie im Einzelnen dargelegt würde, die Bedeutung dieser Freiheitsphilosophie unterstreichen. Schließlich hat Origenes im Rahmen seiner Freiheitsphilosophie ein Zeichen gesetzt, das von außerordentlicher Bedeutung für den Freiheitsbegriff selbst ist und das eine eigene Wirkungsgeschichte entfaltet hat. Die Kirchenväter haben fast durchweg von Tertullian an das aus der Septuaginta stammende Wort, dass der Mensch Bild und Gleichnis Gottes sei, auf seine Freiheit bezogen, d. h. auf das praktische, nicht das theoretische Erkenntnisvermögen 47 In der Freiheit aber liegt nach allgemein patristischer Ansicht die Würde des Menschen begründet. 48 Origenes hat nun im Rahmen dieses patristischen Denkens »Bild« und »Gleichnis« erstmals als zwei verschiedene, nicht aufeinander reduzierbare Elemente der menschlichen Freiheit, und das bedeutet auch: der menschlichen Würde, verstanden. Bild Gottes ist der Mensch, insofern ihm Gott das »Herz«, d. h. ein verborgenes Inneres, das Gewissen oder modern: die Subjektivität geschenkt hat. Gleichnis Gottes dagegen ist er, insofern er durch tugendhaftes Handeln die ihm gegebene Freiheit auch verwirklicht-- oder verfehlt. Mit anderen Worten, die später in der Wirkungsgeschichte auch gewählt wurden: Das Bild ist ein unverlierbares Element der menschlichen Freiheit, so dass auch der schlimmste Verbrecher es durch seine Untaten nicht verliert und er z. B. nicht gelyncht werden darf, sondern vor Gericht gestellt werden muss, das Gleichnis aber ist das verlierbare Element der menschlichen Würde, das durch die sittlichen Verfehlungen verlorengehen kann. Auch hier ist die Wirkungsgeschichte, in der die Anthropologie der sog. »Tübinger Schule«, allen voran des Franz Anton Staudenmaier hervorragt, 49 von enormer Bedeutung. Sie reicht bis zu der Überzeugung, dass die Würde des Menschen einerseits unantastbar ist und andererseits gegen den Missbrauch der Freiheit geschützt werden muss. Anmerkungen 1 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Teil 4, Philosophie des Mittelalters und der neueren Zeit, hg. von P. Garniron/ W. Jaeschke, Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Bd. 9, Hamburg 1986, 63. 2 Vgl. C. H. Kahn, Discovering the Will. From Aristotle to Augustine, in: The Question of »Eclecticism« (Studies in Later Greek Philosophy) hg. v. J.M. Dillon/ A.A. Long, Berkeley/ Los Angeles/ London 1988, 234-259, hier: 254. 3 J. Müller hat in seiner Habilitationsschrift Willensschwäche in Antike und Mittelalter. Eine Problemgeschichte von Sokrates bis Johannes Duns Scotus, Leuven 2009, die Geschichte der Willensschwäche dargelegt und dabei dem 7. Kapitel des Römerbriefes ca. 30 Seiten gewidmet (211-242), deren Lektüre auch für die Exegeten ein Gewinn sein könnte. Zum klarsichtigen Charakter der Willensschwäche s. ebd., 238. Zum Ich-Stil im Römerbrief s. bes. H. Schelkle, Meditationen über den Römerbrief, Einsiedeln 1963, 102 ff. 4 Vgl. dazu J. Müller, Willensschwäche, 233 ff., 239. Zur Vorstellung vom inneren Menschen s.T. K. Heckel, Der Innere Mensch. Die paulinische Verarbeitung eines platonischen Motivs, Tübingen 1993 und T. Kobusch, Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität, Darmstadt 2006. 5 Vgl. T. Kobusch, Christliche Philosophie, Einleitung und Kap. I; G. Karamanolis hat es in seinem Buch The Philosophy of Early Christianity, Durham 2013, unternommen, die Christliche Philosophie bis zum Beginn des 4. Jh.s als Philosophie ernst zu nehmen. 6 Justin, Apologia Minor 8,1, hg. v. M. Marcovich, Berlin/ New York 1994, 149; vgl. Apologia Maior 46, 97. Zur Idee eines universalen Christentums siehe: T. Kobusch, Universales Christentum. Zur christlichen Idee einer universalen Religion, in: C. Bickmann/ M. Wirtz, Religion und Philosophie im Widerstreit? , Bd. 2, Nordhausen 2008, 465-490. 7 Justin, Apologia Maior 43, hg. v. M. Marcovich, 92.- - Merkwürdigerweise kommt C.H. Kahn, Discovering the Will, 248 f. nach Spekulationen über die Modernität des Ausdrucks des »freien Willens« zu dem Ergebnis, dass »most ancient discussions of moral freedom, both in Greek and in Latin, do not present the will as the direct subject of freedom«. Es genügt ein Blick auf-- gerade auch-- Epictet II 15 oder Justin, Dialogus cum Tryphone 88,5 oder auch Origenes, Fragmenta in evangelium Joannis fr. 43 oder Didymus Caecus, Comm. In Zachariam II 176; Comm. In Psalmos 3, Codex 232 und andere, um zu sehen, dass das falsch ist. 8 Justin, Apologia Minor 7,5, ed. Marcovich 148; vgl. auch Dialogus cum Tryphone 88,5. 9 Vgl. Chrysipp, Fragmenta logica et physica, fr. 984 (Alex. Aphrod., De fato XXVI. XXXV, hg. v. Bruns, 197-207).-- Während Zeno und Chrysipp die heimarmenē und das autexousion zusammen zu denken versuchten (fr. 975 Hülser)-- mit ruinösen Folgen für das autexousion--, ist die Philosophie Epiktets im ganzen und besonders seine Freiheitsabhandlung (IV 1) ein einzigartiges hohes Lied auf Freiheit, Verantwortung und autexousion, ohne dass die heimarmenē auch nur ein einziges Mal erwähnt würde. Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 54 - 2. Korrektur 54 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Kontroverse 10 Vgl. S. D. Minns, Justin Martyr, in: The Cambridge History of Philosophy in Late Antiquity, Vol. I, hg. v. L. G. Gerson, Cambridge 2010, 258-269, hier: 268 spricht von »affinities« mit der Schrift De fato des Alexander von Aphrodisias. G. Karamanolis, The Philosophy of Early Christianity, 160, hält sie zusammen mit Plutarchs Kritik an der Stoa sogar für eine »Inspirationsquelle« der Justinschen Stoakritik, obwohl das schon aus zeitlichen Gründen im Falle der Schrift De fato nicht möglich ist, da diese erst in der Zeit von 198-209 verfasst worden sein muss. 11 Vgl. C. H. Kahn, Discovering the Will, 253. 12 Vgl. dazu T. Kobusch, Studien zur Philosophie des Hierokles von Alexandrien, München 1976, 123-141 ff. 13 Gregor Nyss., Contra Eunomium III 6,76, GNO II, ed. W. Jaeger, Leiden 1960, 213,3; De perfectione, hg. v. W. Jaeger, GNO VIII/ 1, Leiden 1986, 213,18; In inscript. Psalmorum, GNO V, hg. v. J. McDonough, Leiden 1962, 79,13. An einer interessanten Stelle in Athanasius’ Orationes contra Arianos, PG 26, 84, wird den Arianern der stoische Gedanke (und die Terminologie) von der im autexousion des Willens begründeten, amphibolischen Natur auch des göttlichen Logos in den Mund gelegt, damit so die Wandelbarkeit des Logos erwiesen würde-- was Athanasius freilich kritisiert. 14 Tatian, Rede an die Hellenen 7,1-4. 11,2. Vgl. zu Tatian auch G. Karamanolis, The Philosophy of Early Christianity, 161. 15 Zu Parallelen mit Tatian vgl. E. J. Hunt, Christianity in the Second Century, London/ New York 2003, 166-168. Zu Bardesanes vgl. auch A. Dihle, Die Vorstellung vom Willen in der Antike, 121 f. 16 Theophilus, Ad Autolycum II 27. 17 Tertullian, De anima XXI.6, ed. J. H. Waszink, CCSL 2, Turnhout 1954, 814. 18 Origenes, Commentaire sur S. Jean XX 174, hg. v. C. Blanc, Bd. IV, SC 290, Paris 1982, 242: »einai tina <ou> tē hypostasei ek kataskeuēs, alla ek metabolēs kai idias proaireseōs toiouton gegenēmenon, kai houtōs, hina kainōs onomasō, pephysōmenon.«; Vgl. auch De principiis II 6,5, hg. v. H. Görgemanns/ H. Karpp, Darmstadt 1976, 368, und C. Cels. III 69. 19 Vgl. Tertullian, Adversus Hermogenem, XVI.4, ed. E. Kroymann, CCSL 1, Turnhout 1954, 410: »Libertas, non necessitas, deo competit.« Origenes, Homélie sur le Lévitique XVI,6, ed. M. Borret, Bd. II, SC 287, Paris 1981, 288: »Vides constantiam et virtutem animae custodientis mandata Dei et habentis fiduciam libertatis ingenitae.« 20 Tertullian, Adversus Marcionem II 5-6, ed. E. Kroymann, CCSL 1, Turnhout 1954, 479-482. 21 Tertullian, Adversus Marcionem II 7, ed. Kroymann, 482 f. 22 Tertullian, Adversus Marcionem II 9, ed. Kroymann, 484- 486. 23 Clemens Alexandrinus, Stromata II 26,4-5 (GCS Clem. Al. 2, 127). 24 Clemens Alexandrinus, Stromata II 55,1 (GCS Clem.Al. 2,142). 25 Vgl. Clemens Alexandrinus, Quis dives salvetur 14,4 (GCS Clem.Al. 3,169). 26 Clemens Alexandrinus, Stromata IV 83,2 (GCS Clem.Al. 2,285). 27 Clemens Alexandrinus, Stromata IV 153,1-2 (GCS Clem. Al. 2,316). 28 Clemens Alexandrinus, Stromata VII 48,4 (GCS Clem. Al. 3,36). 29 Clemens Alexandrinus, Stromata V 3,2 (GCS Clem.Al. 2,327). 30 H. Holz, Über den Begriff des Willens und der Freiheit bei Origenes, in: NZSTh 12 (1970), 63-84, hat das göttliche Wollen, das biblisch fast durchgehend bei Origenes thelēma genannt wird, zum Ausgangspunkt und Zentrum seiner Interpretation gemacht, nach der die apokatastasis, von der Origenes bekanntlich nur im Modus der Hoffnung spricht, das »völlige Sich-Durchsetzen des absoluten Willens im Bereich des geschöpflichen Seins« sei. Nichts ist unorigeneischer als das! Vom spezifisch menschlichen Willen ist kaum die Rede. Prohairesis ist (wie auch das eph’ hēmin) bei H. Holz Origenes die Bezeichnung für den spezifisch menschlichen Willen, nicht für Gottes Willen. Vgl. C. Blanc, Origène, Commentaire sur S. Jean, Bd. II, SC 157, Paris 1970, 155: »Nous n’avons pas vu d’exemple où ce terme désignerait la volonté de Dieu …« Clemens dagegen kann auch von der göttlichen prohairesis sprechen (vgl. Stromata VII 3,16). 31 H. Holz, Über den Begriff des Willens, 74. 32 Origenes, De oratione 29,15, (GCS Orig. 2,390) 33 Origène, Homélies sur Jérémie XX 2, Bd. II, ed. P. Nautin, SC 238, Paris 2008, 256. 34 Gregor Nyss., In Canticum Canticorum II, GNO VI, ed. H. Langerbeck, Leiden 1960, 55. Was für ein Fehlurteil bei A. Dihle, Die Vorstellung vom Willen in der Antike, Göttingen 1985, 134: »Der Wille als eigenständiger Faktor fehlt«! 35 Origenes, In Rom. VI 9 (1088A), ed.T. Heither, Fontes Christiani 2/ 3, Freiburg u. a. 1993, 276 »… quia interior homo, hoc est voluntas et propositum …« 36 Origenes, Homélie sur le Lévitique XVI,6, hg. v. M. Borret, Bd. II, SC 287, Paris 1981, 288. Vgl. E. Schockenhoff, Zum Fest der Freiheit. Theologie des christlichen Handelns bei Origenes, Mainz 1990, 170. 37 Vgl. dazu H.S. Benjamins, Eingeordnete Freiheit. Freiheit und Vorsehung bei Origenes, Leiden/ New York/ Köln 1994, 53; C. Hengstermann, Leben des Einen-- Der Tugendbegriff des Origenes, in: F.W. Horn/ U. Volp/ R. Zimmermann (Hgg.), Ethische Normen des frühen Christentums. Gut-- Leben-- Leib-- Tugend, Tübingen 2013, 433- 453, hier: 441-445; A. Fürst, Einleitung, in: Origenes. Die Homilien zum Ersten Buch Samuel, eingel. und übers. von A. Fürst, Berlin u. a. 2014, 43-46; T. Kobusch, Die Univozität des Moralischen. Zur Wirkung des Origenes in Deismus und Aufklärung (Akten des Origenes-Kongresses in Aarhus, unveröffentlicht). 38 Zum gnostischen Stichwort der Konstitution als Ursache des Heils oder Verderbens des Menschen vgl. auch M. Frede, A Free Will. Origins of the Notion in Ancient Thought, hg. v. A. A. Long, Berkeley u. a. 2011, 112-118. 39 Origenes, In Matth. 22,1-14 (GCS Orig. 10,642) und 22,15-22 (GCS Orig. 10,659); De principiis I 6,3, hg. von H. Görgemanns/ H.Karpp, Darmstadt 1976, 226 f. Im Johanneskommentar XX 174 (Commentaire sur S. Jean, Bd. IV, ed. C. Blanc, SC 290, Paris 2008, 242) wird vom Teufel bzw. Antichrist, dem Vater der Lüge, gesagt, dass er nicht dem Sein nach und aufgrund der Konstitution so ist, wie er ist, sondern weil er aufgrund einer Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 55 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 55 Theo Kobusch Selbstbestimmte Freiheit »Veränderung seines eigenen Willens so geworden und um einen Neologismus zu gebrauchen, naturiert worden ist.« 40 Origenes, In Epist. ad Romanos VIII 11 (1194 C), ed.T. Heither, Fontes Christiani 2/ 4, Freiburg u. a. 1994, 298. 41 C. Cels. IV 67. In C. Cels. V 61 charakterisiert Origenes Valentinus und seine Anhänger als die, die Heil und Verderben der Menschen von ihrer Natur oder Konstitution abhängig machen. 42 Origenes, Johanneskommentar, Catenenfragment Nr. XLII (GCS Orig. 4,517 f.). In ähnlicher Weise wird auch im Commentaire sur S. Jean XX 219, Bd. IV, hg. v. C. Blanc, SC 290, Paris 2008, 264, hervorgehoben, dass die »Kinder des Teufels« nicht aufgrund ihres »Wesens« und ihrer »Konstitution« so sind, wie sie sind, sondern aufgrund der »Werke«, d. h. durch ihren Willen. Zum Unterschied zwischen dem dinghaften Ort und dem willentlichen Standort vgl. auch Origenes, Homélies sur Samuel V 8, hg. v. P. Nautin/ M.-T. Nautin, SC 328, Paris 1986, 198, und Porphyrios, Sententiae c. 3, hg. v. E. Lamberz, Leipzig 1975, 2, ähnlich auch Gregor Nyss., De prof. christ., GNO VIII/ 1, hg. v. W. Jaeger, Leiden 1986, 140, 2 ff. 43 Origène, Commentaire sur S. Jean XIII 63, Bd. III, ed. C. Blanc, SC 222, Paris 2006, 64. 44 Origenes, Commentaire sur l’évangile selon Matthieu X 11, Bd. 1, ed. R. Girod, SC 162, Paris 1970, 182. 45 Origenes, In Matth. XIII 23, (GCS Orig. 10,243). 46 Zur unmittelbaren Wirkung des origeneischen Freiheitsgedankens vgl. T. Kobusch, Die philosophische Bedeutung des Kirchenvaters Origenes, Theologische Quartalschrift 165 (1985) 94-105; Die Würde des Menschen-- ein Erbe der christlichen Philosophie, in: R. Gröschner/ S. Kirste/ O. Lembcke (Hgg.), Des Menschen Würde-- entdeckt und erfunden im Humanismus der italienischen Renaissance (Politica 4), Tübingen 2008, 235-250. Zum Einfluss der Lehre des Origenes vgl. bes. die von A. Fürst bzw. A. Fürst und C. Hengstermann herausgegebenen Bände: Origenes und sein Erbe in Orient und Okzident (Adamantiana 1), Münster 2011; Autonomie und Menschenwürde. Origenes in der Philosophie der Neuzeit (Adamantiana 2), Münster 2012; Die Cambridge Origenists, George Rusts Letter of Resolution Concerning Origen and the Chief of His Opinions (Adamantiana 4), Münster 2013. 47 Vgl. T. Kobusch, Bild und Gleichnis Gottes. Elemente menschlicher Freiheit, in: I. Atucha u. a. (Hgg.), Mots médiévaux offerts à R. Imbach, Porto 2011, 143-151. 48 Vgl. Origenes, Homélie sur la Genèse XVI 2, hg. v. L. Doutreleau, SC 7 bis, Paris 1985, 376: »Qui vero libertatis animae curam gerit et dignitatem mentis caelesti cogitatione nobilitat, iste ex filiis Israel est.« 49 S. den ausgezeichneten Beitrag von M. Wasmaier-Sailer, Die Origenes-Rezeption in der theologischen Anthropologie Franz Anton Staudenmaiers, in: A. Fürst/ C. Hengstermann (Hgg.), Autonomie und Menschenwürde. Origenes in der Philosophie der Neuzeit (Adamantiana 2), Münster 2012, 235-251. Bruno Kern Theologie der Befreiung UTB S 2013, 144 Seiten €[D] 12,99/ SFr 18,70 ISBN 978-3-8252-4027-1 Die Theologie der Befreiung ist einer der wirkmächtigsten Ansätze systematischer Theologie aus jüngerer Zeit. Die Kenntnis von Geschichte, Methode und Hauptinhalten ist im Theologiestudium beider großer Konfessionen Grundvoraussetzung. Innerhalb des theologischen Diskurses wurden zentrale Gedanken der Theologie der Befreiung von vielen anderen Ansätzen systematischer Theologie rezipiert, etwa von der „Politischen Theologie“ (J. Moltmann, J.B. Metz), der Feministischen Theologie u.ä. Der Band fasst die Grundinformationen zu dieser wichtigen theologischen Strömung zusammen und erläutert sowohl die theologischen Grundlagen als auch die Auswirkungen in der Kultur und Kirche der Gegenwart. Die „Hinwendung zu den Armen“ im Christentum wird so greifbar und verständlich. Glossar und Chronologie vervollständigen den Überblicksband. Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 56 - 2. Korrektur 56 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Das Subjekt wird konstituiert in seinen Beziehungen und in seiner Geschichte. Die biblischen Schriften sind ein unerschöpflicher Resonanzraum, weil sie eine Geschichte erzählen, und weil sie Beziehungen eröffnen. Das Subjekt ist keine ontologische, sondern eine narrative und relationale Größe. 1 Das Beharren auf einem schöpfungstheologisch formulierten ontologischen Subjektbegriff hat, wie der Beitrag von Theo Kobusch zeigt, seine philosophiehistorischen Gründe und Kontexte, aber die Bibel hat ihre Stärken nicht auf diesem Feld. Den Schriften des Neuen Testaments liegt zumal der diesem Subjektbegriff assoziierte Freiheitsbegriff fern. Verfolgt man dessen von Kobusch skizzierte Problemgeschichte bis Origenes, wird solche Freiheit zum reinen Postulat: Origenes muss seinen gnostischen Kontrahenten zugestehen, dass sich Unfreiheit naturhaft verfestigen kann. Dass sich außerdem sein Freiheitsbegriff im abstrakten Raum vertut, wird daran deutlich, dass er mit dem Gottesbegriff in Konflikt gerät: Die Freiheit wird zum Prinzip, dem auch Gott unterworfen ist als dem eigentlich Guten. Wenn die philosophische Reflexion zu solchen Gedankenfiguren gelangt, sollte sie kehrt machen. Zurück auf »Los«. Wenn Origenes insistiert, die quasi-naturhafte Unfreiheit sei selbstgewählt, will er doch wohl sagen: Sie ist entrinnbar. Darin wäre ihm zuzustimmen. Freiheit wird, wie Kobusch mit dem schönen Wortspiel des Clemens von Alexandrien sagt, zur ex-ousia, von der aus dem ansonsten totalen Verhängnis der ousia widersprochen werden kann. Aber wie ist Unfreiheit entrinnbar, und wie kann Freiheit gewonnen werden? Hier gabeln sich allerdings die Wege gleich am Anfang. Gleich dem ersten Satz kann und muss in derselben Klarheit widersprochen werden, in der er formuliert ist: Der Mensch ist niemals »nur bei sich« und deshalb auch nicht in nämlicher Weise »bei Gott«. Bei jenem »Ort im Innersten des Menschen« handelt es sich nicht um dasjenige, worauf »es allein ankommt«, sondern um eine Abstraktion. Macht man sie sich zu eigen, gelangt man immer nur zur Verantwortlichkeit des Individuums, und das ist wohl auch ihr Zweck: Den Einzelnen auf sich selbst zurückzuwerfen und ihn des eigenen Glücks wie Unglücks Schmied sein zu lassen. Außerdem stellt sich die Frage nach dem sozialen Ort dieses Diskurses: Im Studierzimmer kann sich das autonome Subjekt entfalten, in der Wellblechhütte nicht. Wird dies zugestanden, lautet die Anschlussfrage nicht, wie man der Wellblechhütte entkommt, sondern zunächst, wen es warum dorthin verschlagen hat. Diese Frage markiert gegenüber Reflexionen zu Gott und Freiheit das andere Ende der Fahnenstange, und zwar das untere. Gegenwärtige Subjekttheorien haben hier unten angesetzt und die soziale und gesellschaftliche Bedingtheit des Subjekts erhoben, indem sie »Momente der Heterogenität, Passivität, Unterordnung, Fremdheit, Materialität, Körperlichkeit, Emotionalität und des Begehrens« 2 betonten. Solche Akte der Dekonstruktion dienen nicht dazu, das Subjekt am Ende für tot zu erklären, sondern es im Gegenteil aus seiner idealistischen Verflüchtigung zurück zu holen in seine realen Möglichkeitsräume, in denen es sich ganz anders als im Modus der Selbstbehauptung eines unverlierbaren Wesenskerns gegenüber seinen kontingenten Daseinsbedingungen bewegen und entfalten kann. Neben die Autarkie als Ziel philosophischer Lebenspraxis tritt dann ebenbürtig die Bejahung des Verstricktseins in Abhängigkeiten und das Verwiesensein auf die Anderen, ohne das die eigene Freiheit weder gedacht noch gelebt werden kann. In der von Kobusch nachgezeichneten Diskussion spielen Sozialität und Geschichtlichkeit keine Rolle. Beides ist aber für die Lebenszusammenhänge und Lebensmodelle der frühen Christusanhänger, die sich in den neutestamentlichen Schriften niederschlagen, konstitutiv. Leib und Geist Die tiefgreifende soziale Verfasstheit des Christusglaubens kommt am deutlichsten bei Paulus zur Sprache. Zugespitzt kann man sagen, dass das ganze Denken des Paulus um die Umgestaltung und Neugestaltung von Beziehungen kreist: Die Beziehung Gottes zu den Menschen und der Menschen untereinander. Er konzeptualisiert die Gruppen der Christusanhänger als realen Leib (1Kor 12,12-27; Röm 12,4 f.). Die Gläubigen bilden Manuel Vogel Fremdbestimmte Freiheit Einige vorwiegend paulinische Paraphrasen Kontroverse Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 57 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 57 Manuel Vogel Fremdbestimmte Freiheit Der Leib Christi ist also ein vom Geist bestimmter sozialer Raum, der diejenigen, die sich darin bewegen, umgibt und durchdringt. Er evoziert nach 1Kor 12,26 die gegenseitige »Sym-Pathie« seiner Glieder: »Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit; wenn einem Glied Herrliches zuteilwird, so freuen sich alle Glieder mit«. Wird Geistbesitz dagegen als Distinktionsmerkmal gegenüber anderen Gläubigen aufgefasst- - eine Gefahr, die Paulus in Korinth als gegeben ansieht, etwa durch einen kompetitiven Umgang mit unterschiedlichen Geistmanifestationen-- wird der soziale Organismus der Gemeinde beschädigt (»Spaltungen«). Fleisch Der Gegenbegriff zu »Geist« ist bei Paulus »Fleisch«. Hier geht es entgegen einer verbreiteten lutherischen Tradition nicht um eine falsche Sicherheit gegenüber Gott oder ein sonstwie fehlgeleitetes »Selbstverständnis«, sondern um die Haltung, sich auf Kosten anderer mit anderen zu vergleichen. Die kreuzestheologische Option für die sozial Bedeutungslosen (1Kor 1,26-28) zielt darauf, »dass sich vor Gott kein Fleisch rühme« (1,29). Hier wird nun nicht die Mensch-Mensch-Horizontale in die Mensch-Gott-Vertikale überführt, sondern Gott führt Aufsicht darüber, wie die Menschen miteinander umgehen. Gott ist wie ein Bademeister, der darauf achtet, dass niemand vom Beckenrand ins Wasser gestoßen wird. Das meint »vor Gott«. Wo Gott die Aufsicht führt, wird nicht geduldet, dass Menschen sich auf Kosten anderer mit anderen vergleichen. »Fleisch« heißt bei Paulus: Selbstbestimmung, Selbstbehauptung, Selbstdarstellung. »Fleisch« ist, wenn das agonistische Lebensideal, »immer der Erste zu sein und vorzustreben vor andern« (Ilias 6,208; 11,784), die Gemeinschaft der Christusanhänger bestimmt: »Und ich, Geschwister, konnte mit euch nicht reden als mit Geistbegabten, sondern als mit Fleischlichen […]. Noch seid ihr fleischlich: Denn wo unter euch Eifersucht und Zank sind, seid ihr da nicht fleischlich? « (1Kor 3,1-3). Das paulinische Konzept von Gemeinde passt nicht in die antike Elite-Kultur der Selbstoptimierung. Der Christusglaube ist auch keine »Technologie des Selbst«, sondern eine umfassende und tiefgreifende Orientierung am neuen Lebenszusammenhang des Geistes. Aussagen, die im Sinne individuellen Geistbesitzes vereinen realen sozialen Organismus, der nur in seinem organischen Zusammenhalt existiert, durch die Christuszugehörigkeit seiner Glieder zustande kommt und vom Geist Christi belebt wird. Der Geist ist im Lebenszusammenhang des Leibes Christi wirksam und erfahrbar, und zwar nur so und nur dort, 3 nicht aber als individuelle Ausstattung. Individueller Geistbesitz ist bei Paulus nirgends erkennbar. Vielmehr ist der Geist dasjenige, das die Einzelnen miteinander als Leib Christi konstituiert: »Wir sind in einem Geist alle zu einem Leib getauft worden […], und sind alle mit einem Geist getränkt« (1Kor 12,13). Die hier verwendeten Verben baptizō und potizō meinen nicht Taufe und Abendmahl (denn für Paulus wird der Geist nicht bei der Taufe verliehen, sondern schon beim Gläubigwerden, so Gal 3,2, und ebenso wenig gehören Geistempfang und Abendmahl zusammen), sondern offenbar eine realistische Vorstellung vom Wirken des Geistes: Man wird äußerlich von ihm ganz umhüllt wie beim Untertauchen in bzw. Übergossenwerden mit Wasser und man nimmt ihn in sich auf, so wie man Wasser trinkt. Vergleichbar ist auch das Stehen im dichten Nebel: Man wird vom Nebel eingehüllt und atmet ihn zugleich ein. Prof. Dr. Manuel Vogel, geb. 1964 in Frankfurt/ Main, Studium der Evangelischen Theologie in Erlangen, Heidelberg und Frankfurt, 1994-1996 Vikariat in Bayern, 1995 Promotion in Heidelberg, 1996-2003 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institutum Judaicum Delitzschianum in Münster, 2003 Habilitation in Münster, 2003-2006 Pfarramt in Hessen-Nassau, 2006-2008 Pfarrer im Hochschuldienst an der Goethe-Universität Frankfurt, seit 2009 Professor für Neues Testament an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Veröffentlichungen u.a. zu Paulus, Josephus und zum Hellenistischen Judentum. Manuel Vogel »Das paulinische Konzept von Gemeinde passt nicht in die antike Elite-Kultur der Selbstoptimierung. Der Christusglaube ist auch keine ›Technologie des Selbst‹, sondern eine umfassende und tiefgreifende Orientierung am neuen Lebenszusammenhang des Geistes.« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 58 - 2. Korrektur 58 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Kontroverse standen werden können, lassen deutlich die doppelte Außenorientierung an Gott und den anderen Menschen erkennen. So kann in 1Kor 6,19 der individuelle Leib der einzelnen Christusgläubigen »Tempel des heiligen Geistes« heißen, jedoch nur um deutlich zu machen, dass jeder Einzelne Gottes Eigentum ist: »Wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des heiligen Geistes ist, den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst gehört? «. Nach Gal 6,1 gilt: Die sich selbst für »geistbegabt« (pneumatikos) halten, sollen ihren pneuma-Besitz dadurch zum Ausdruck bringen, dass sie mit denen, die sich verfehlen, im »Geist der Sanftmut« umgehen und sich daran erinnern lassen, dass auch sie selbst nicht unfehlbar sind. Damit codiert Paulus den Geistbesitz um vom möglichen Distinktionsmerkmal zu einer Praxis der Solidarität der Fehlbarkeit. Entscheidend ist, dass diese Praxis ihre Kriterien und ihre Motivation aus dem sozialen Gefüge bezieht, in dem sie allein möglich und zugleich ohne Alternative ist. Sie fordert und versetzt in die Lage, die Übereinstimmung mit sich zugunsten der Übereinstimmung des schwächeren Anderen mit sich zu dispensieren. Die Rücksicht auf das Gewissen des Bruders, der im Verzehr von Fleisch, das bei paganen Kulthandlungen verwendet wurde, nichts anderes sehen kann als eine Spielart von Götzendienst, sticht die von Paulus geteilte Erkenntnis aus, dass dieser Fleischverzehr für Christusanhänger unbedenklich ist (1Kor 8,7-13). Paulus eröffnet diese Erörterung mit einer kleinen erkenntnistheoretischen Betrachtung: »Was aber das Götzenopferfleisch betrifft, so wissen wir, dass wir insgesamt Erkenntnis haben. Die Erkenntnis bläht auf, die Liebe aber baut auf. Wenn jemand meint, etwas erkannt zu haben, so hat er noch nicht erkannt, wie man erkennen soll; wenn aber jemand Gott liebt, der ist von ihm erkannt« (8,1-3). Hier wird das menschliche Erkenntnisvermögen im Sinne der genannten doppelten Außenorientierung doppelt relativiert, man kann ruhig auch sagen: düpiert. Für die Erbauung (oikodomē) des von Gottes Geist bestimmten Leibes Christi kann Erkenntnis nachgerade schädlich sein, weil sie regelmäßig zur Angeberei mit der eigenen Intelligenz verführt und den Bruder schwächeren Verstandes (und dann auch schwächer ausgeprägter Gottebenbildlichkeit? ) einschüchtert. Und zweitens: Auch wenn es um Gott geht, muss die Erkenntnis zugunsten der Liebe ihren Platz räumen, um verwandelt wiederzukehren, nicht mehr als selbstmächtiges Vermögen, sondern als Widerfahrnis: Das Erkennen ohne Gemeinsinn und Verstand weicht dem Erkanntwerden dessen, der liebt. Dass Paulus die Erkenntnis ins passive Genus setzt, liest sich für das über sein Erkenntnisvermögen sich definierende gottebenbildliche Subjekt wie eine ausgesuchte Kränkung. Freiheit Auch Freiheit wird bei Paulus nicht als Erinnerung an den Urstand thematisch, sondern als Rettungsgeschehen. Auch Freiheit ist ein Widerfahrnis. Klaus Berger beschreibt die Differenz zwischen modernem und paulinischen Freiheitsbegriff wie folgt: »Unter Autonomie des Ich versteht man heute die Selbstbestimmung des Menschen, seine Befähigung zur Selbstbehauptung, zu ›persönlicher‹ Gestaltung des Lebens. Freiheit gilt dabei als selbstverständlicher, in diesem Sinne positiv bestimmter Wert; sie besteht wesentlich darin, das, was man will, auch ungestraft tun zu können. Dabei gelten eben der Wille und der Lebensplan jedes einzelnen Menschen als Ausgangsbasis. Hier, in dem, was er selbst darstellt und will, liegt der höchste Wert. Für die psychologische Fragestellung ist dabei das konstitutive Gewicht des Willens von Bedeutung. Für Paulus dagegen wird nach Röm 6,15-23 Freiheit nicht durch Wertvorstellungen gefüllt, die mit dem Individuum eo ipso verbunden sind. Während im modernen Autonomiebegriff Freiheit vom Personzentrum her gedacht wird, ist nach Paulus Freiheit vornehmlich negativ bestimmt. Freiheit des Christen nach Paulus besteht darin, der Begierde nicht mehr gehorchen zu müssen, das Gesetz nicht übertreten zu müssen, sie ist am Ende und in der Konsequenz Freiheit vom Tod. Freiheit gibt es daher nur als ›Freiheit von …‹. Die letzte Freiheit, die man erlangen kann, ist die von der Vergänglichkeit. Daher ist ihre Freiheit nicht Selbstbestimmung, sondern zunächst auf jeden Fall Zugehörigkeit zu einem Befreier (und damit neue Bindung). So bleibt Freiheit von außen her bestimmt. Hinzu kommt noch dies: In der Freiheit von Begierde, Sünde und Tod gewinnt der Mensch nun nicht eine ›neutrale‹ Freiheit von allem, sondern er bleibt eingespannt in die Alternative von Leben und Tod. Weil dieser doppelte ›Ausgang‹ besteht, deshalb gibt es keine neutrale Freiheit nur vom Tod ›in der Mitten‹. Weil der Mensch nur entweder tot oder lebendig sein wird, deshalb kann er nur frei vom Tod sein, wenn er gleichzeitig dem Geber des Lebens zugehört. Für die psychologische Fragestellung ist dabei die Einsicht entscheidend, dass der Mensch »Auch Freiheit wird bei Paulus nicht als Erinnerung an den Urstand thematisch, sondern als Rettungsgeschehen. Auch Freiheit ist ein Widerfahrnis.« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 59 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 59 Manuel Vogel Fremdbestimmte Freiheit so oder so von außen bestimmt ist (M. Luther: ›vom Satan oder von Gott geritten wird‹) und sich stets und grundsätzlich in einer Verbindlichkeit vorfindet. Dabei unterscheidet sich die neue Verbindlichkeit, in der der Mensch darinsteht, von der alten vor allem durch ihren Ausgang: Sie bedeutet nicht seine Zerstörung, sondern seine Rettung.« 4 Leben und Tod Wo es um Leben und Tod geht, kommt zur Sprache, was zählt und was bleibt. Was heißt dann Seele, Person, Individuum, Subjekt? Eine Diskussion um die Unsterblichkeit der Seele, der Platons Phaidon durch die Antike hindurch den Weg gewiesen hat, gibt es in den neutestamentlichen Schriften nicht. Gewiss lassen sich Voraussetzungen neutestamentlicher Aussagen über ewiges Leben und postmortales Ergehen philosophiehistorisch ins Verhältnis setzen. Aber es gab im 1. Jh. allem Anschein nach kein Bedürfnis, derlei im christlichen Schulgespräch zu thematisieren. Historische Psychologie Auf die Möglichkeit, dass bereits zwischen der neutestamentlichen und der Väterzeit die anthropologischen Formationen sich in einer Weise verschoben haben, dass bereits hier (und nicht erst in der Moderne) Barrieren des Verstehens sich auftaten, sei nur eben hingewiesen. Hierzu nochmals Klaus Berger: »Bei der Frage nach Identität und Person geht es um den Träger des seelischen Lebens, um die Konstante in der Abfolge psychischer Wahrnehmungen und Äußerungen. Dieser sich durchhaltende Bezugspunkt wird nun im Neuen Testament weitaus anders wahrgenommen als bei uns. Welche enormen Schwierigkeiten das neutestamentliche Denken hier bereits der Alten Kirche bereitete, davon zeugt die Entwicklung der christologischen bzw. trinitarischen Lehraussagen. Denn diese sind weitgehend nichts anderes als der Versuch, die neutestamentlichen Auffassungen mit Hilfe griechischer und lateinischer Begrifflichkeit zu erfassen-- ein Unternehmen, das Jahrhunderte dauerte und an dessen Ende erst die Entfaltung des abendländischen Personbegriffs steht. Für das, was wir heute unter Person verstehen, ist mithin die Diskussion über die trinitarischen Fragen konstitutiv gewesen. Am Anfang dieser Aussagen stehen die biblischen Texte mit ihren meist knappen Formulierungen über Christus und Christen. Es wäre nun freilich verhängnisvoll, wollte man die neutestamentlichen Aussagen einfach in eine Linie mit den altkirchlichen stellen und sich vormachen, sie seien so etwas wie ein unentfaltetes Stadium des Späteren, welches sich nurmehr als konsequentes Durchdenken vom Früheren unterscheide. Vielmehr sind die neutestamentlichen Vorstellungen von seelischer Identität offensichtlich durchaus in sich stimmig, nur sind sie von den späteren und von unserer Auffassung grundverschieden. Das Problem wird etwa deutlich, wenn man nach dem Verhältnis des präexistenten Logos (Joh 1,1; Kol 1,15) zum irdischen Jesus (Joh 1,14; Kol 1,12) ›naiv‹ fragt: Ist Jesus als Geist oder als Seele schon vorher da? Nimmt man sein Menschsein wirklich ernst, wenn man nur eine bereits fertige Seele in einen menschlichen Leib einziehen lässt? Und wie ist es, nun auf den Christen bezogen, wenn Paulus vom ›Christus in mir‹ redet-- hat dieser dann das Ich verdrängt, so wie der Logos vielleicht das menschliche Ich Jesu? Beim Aufgreifen dieser Fragen geht es uns jetzt nicht um eine Klärung der Christologie, sondern um die Weise, in der im Rahmen der neutestamentlichen Offenbarung das Ich des Menschen erfahren wird. Im ganzen gewinnt man den vorläufigen Eindruck, dass im Unterschied zu unserem geläufigen Personbegriff (Person als strikt abgegrenztes, einmaliges Wesen) die Abschottung nach außen hin beim biblischen Konzept weniger ausgeprägt ist.« 5 Enklitisches Personverständnis Das Wort Joh 11,25 f. »Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird in Ewigkeit nicht sterben« bindet die Fortdauer nach dem Tod an den Glauben an Jesus. Gewiss gibt es hier ein grammatisches Subjekt, dass sich durch die Aussagen zu Leben und Tod durchhält. Aber dieses Subjekt markiert kein anthropologisches Kontinuum. Vielmehr gilt: »Das Joh[annesevangelium] gibt der Erkenntnis, dass nur durch und in Jesus zu bestimmen ist, was Auferstehung und Leben besagen, ihren letzten Ernst. Wenn dem nämlich so ist, so steht Jesus in Person für diese Erkenntnis. Ja, er ist sie. In Person ist er die Auferstehung und das Leben. Zur Auferstehung gelangt der Mensch deshalb nicht in einem neu einsetzenden Schritt nach dem Tod, sondern durch die Anlehnung seiner Person an die Person Christi. Wenn an einer Stelle des Neuen Testaments, lässt sich bei Joh[annes] von einem › enklitischen‹ Personverständnis reden Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 60 - 2. Korrektur 60 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Kontroverse (nach dem griechischem Wort ›eg-klinein‹, › sich neigend [an Christus] anlehnen‹)« 6 . Auch Röm 14,7-9 gehört hierher, weil auch hier die Todesgrenze nicht von einer unsterblichen Seele überschritten wird. Vielmehr wird sie dadurch relativiert, dass Leben und Tod Bereiche sind, die beide der Herrschaft des kyrios unterliegen. Durch seinen Tod ist Christus in den Bereich des Todes eingedrungen und hat ihn in Besitz genommen: »Unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei.« Der unmittelbare umgebende Kontext der Stelle ist beachtlich: Es geht darum, dass keiner dem Anderen etwas voraus hat, und dass deshalb alle einander sollen gelten lassen. Das »sich selbst Leben« (heautō zēn) ist aus der Perspektive des »dem Herrn Leben« (kyriō zēn) eine doppelte Unmöglichkeit. Lebensmodelle der Selbstbestimmung werden aufgebrochen in der doppelten Fremdbestimmung durch Gott/ Christus und die Anderen. Eine kurze Geschichte der Welt Die Adam-Christus-Typologie (1Kor 15,21 f.; Röm 5,12-21) erzählt das Wesentliche, das über die Welt und den Menschen zu sagen ist, in Form einer Geschichte. Erzählt wird eine Geschichte, die an ihrem Anfang einen unheilvollen Verlauf nimmt und am Ende gut ausgeht. Ob und inwiefern sich Adam freiwillig ins Unglück gestürzt hat, wird nicht thematisiert. Was Paulus interessiert, ist die Universalität des Unheils als Steilvorlage für die Universalität seiner Beseitigung und Überbietung durch die Gnade. Gewiss kann man mit Kobusch darauf beharren, dass auch das, was in diesem Beitrag Fremdbestimmung heißt, selbstgewählt ist, wie sein Freiheitsbegriff ja selbst die Figur der göttlichen und menschlichen Selbstentäußerung umfasst. Der Mensch in seiner Freiheit kann sich seiner Freiheit entschlagen, zum Guten wie zum Bösen. Verhielte es sich so, dann führe am Ende der Mensch gar noch stolz zur Hölle, weil er darauf verweisen könnte, er habe sich das Ticket dorthin selbst gelöst. Es gibt aber Gründe anzunehmen, dass es so weit nicht kommen wird. Eine Grundüberzeugung frühchristlicher Eschatologie besteht darin, dass Gott am Ende sein Recht auf die Welt und die Menschen universal durchsetzt. Dann wird sich »jedes Knie beugen«, ob freiwillig oder unfreiwillig, spielt keine Rolle. Anmerkungen 1 Vgl. dazu E. Reinmuth, Subjekt werden. Zur Konstruktion narrativer Identität bei Paulus, Johannes und Matthäus, in: Ders. (Hg.), Subjekt werden. Neutestamentliche Perspektiven und politische Theorie (TBT 162), Berlin/ Boston 2013, 251-284. 2 Ch. Strecker, Das liminale Subjekt. Modelle der Subjektivierung im Neuen Testament, in: E. Reinmuth (Hg.), Subjekt werden (s. Anm. 1), 97-123: 101. 3 Vgl. dazu G. Röhser, Das lange Schatten der Vergangenheit, ZNT 32 (16. Jg. 2013), 55 f., der mit Blick auf den Römerbrief feststellt, »dass zwischen der Taufe, in der grundsätzlich die Freiheit der Christusgläubigen von der Herrschaft der Sünde und des Todes erreicht wird (6,3- 11), und der Gabe des Geistes (5,5; 8,9-11.15 f.23) kein direkter Zusammenhang zu bestehen scheint. Überhaupt ist die Verbindung zwischen (Wasser-)Taufe und individuellem Geistempfang bei Paulus auch sonst prekär und theologisch nicht ausgearbeitet. Eher ist an so etwas wie einen der Gemeinde als ganzer gegebenen Gemeinschaftsgeist zu denken, für den zu öffnen und an dem Anteil zu gewinnen der bzw. die Einzelne in der Taufe die grundsätzliche Fähigkeit gewinnt (durch Trennung und Abkehr von der Existenzweise des »alten Menschen«) und die grundsätzliche Verpflichtung dazu (durch gehorsamen Wandel in der neuen Existenzweise) übernimmt.« 4 K. Berger, Historische Psychologie des Neuen Testaments (SBS 146/ 147), Stuttgart 1991, 55 f. 5 Berger, Historische Psychologie (s. Anm. 4), 45 f. 6 M. Karrer, Jesus Christus im Neuen Testament (NTD.E 11), Göttingen 1998, 63. »Das ›sich selbst Leben« (heautō zēn) ist aus der Perspektive des ›dem Herrn Leben« (kyriō zēn) eine doppelte Unmöglichkeit. Lebensmodelle der Selbstbestimmung werden aufgebrochen in der doppelten Fremdbestimmung durch Gott/ Christus und die Anderen.« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 61 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 61 Der 1. Petrusbrief wird im Folgenden durch die Brille der Lebenskunst gelesen. Dabei ist zu bedenken, was Albert Einstein 1926 in einem Gespräch mit Heisenberg über die Frage der Datengrundlagen von Theorien gesagt haben soll: »Die Theorie bestimmt, was wir beobachten können.« 1 Den Auftakt bildet eine blitzlichtartige Annäherung an aktuelle philosophische und theologische Lebenskunstdiskurse. Aus dieser Perspektive erfolgt eine Spurensuche im 1. Petrusbrief in Gestalt einer kursorischen Lektüre mit einem Ausblick auf die Bedeutung für die zu Beginn skizzierten Diskurse. 1. Aktueller Einblick Die Lebenskunstfrage ist ein zeit- und kulturbedingtes Phänomen. Ein Witz pointiert es: »Ein Engländer, ein Franzose und ein Deutscher unterhalten sich, was sie zu ihrer Entspannung tun: Der Engländer trinkt einen Sherry und geht zur Rennbahn. Der Franzose trinkt einen Cognac und geht zur Freundin. Der Deutsche nimmt seine Herztropfen und geht zur Arbeit.« 2 1.1. Lebenskunst in der Philosophie In Deutschland ist der Begriff der Lebenskunst von Wilhelm Schmid wiederentdeckt und popularisiert worden. 3 In dem von ihm vorgelegten Entwurf einer Philosophie als Lebenskunst im Anschluss an Michel Foucault definiert er diesen Begriff mit dem ethischen Blick auf die Lebensführung wie folgt: »Unter Lebenskunst wird grundsätzlich die Möglichkeit und die Anstrengung verstanden, das Leben auf reflektierte Weise zu führen und es nicht unbewusst einfach nur dahingehen zu lassen.« 4 Für den deutschen Lebenskunstphilosophen ist die Frage nach Lebenskunst besonders dann virulent, wenn Menschen mit von Grund auf fremden Situationen konfrontiert sind: »Nach Lebenskunst fragen diejenigen, für die sich das Leben nicht mehr von selbst versteht, in welcher Kultur und welcher Zeit auch immer.« 5 In diesem Kontext wirft Schmid die alte Frage neu auf, was die Philosophie zur Lösung von Problemen des Lebens und Zusammenlebens beisteuert. 6 Dabei rekurriert er auch auf die antike Philosophie als Lebenskunst. 7 In ihr wird nicht nur theoretisiert, sondern die Lebensführung reflektiert. Sie ist eine Lebensform. 8 Generell ist auch die Bibel ein Buch, das die Kunst des Lebens lehrt. 9 1.2. Lebenskunst in der Theologie Schmids ›Philosophie der Lebenskunst‹ hat eine Renaissance des Lebenskunstbegriffes in der Praktischen Theologie ausgelöst. 10 Beispielsweise plädiert Michael Schibilsky im Anschluss an Schmid für eine Theologie als Theorie der Lebenskunst im Sinne einer biblisch orientierten Lebensdeutung und Lebensbegleitung. 11 Im Anklang an Schmids Definition von Lebenskunst als Bezeichnung für bewusste Lebensgestaltung zielt christliche Lebenskunst nach Peter Bubmann und Bernhard Sill darauf, »das eigene Leben bewusst in, mit und unter dem Wirken des Geistes Gottes zu gestalten.« 12 Im Anschluss an die mittelalterliche Lebenskunst betonen sie den Konnex von ars vivendi und ars moriendi. 13 Im Bewusstsein der Endlichkeit und Gefährdung menschlichen Lebens bedeutet christliche Lebenskunst als Form von Christusnachfolge immer auch, sich in der Kunst des Zusammenlebens zu üben. 14 2. Lebenskunst im 1. Petrusbrief 2.1. Kunst der Konvivenz Der 1. Petrusbrief ist für eine Lektüre einer christusorientierten Lebenskunst offen. 15 Der ganze Brief kann unter diesem Aspekt wahrgenommen werden. 16 Dieses erlesene Schreiben initiiert anerkennungstheologisch in die Kunst der Konvivenz. 17 Der aus dem Spanischen (convivencia) bzw. Portugiesischen (convivência) abgeleitete Begriff bedeutet ›Zusammenleben‹. In der lateinamerikanischen Befreiungstheologie bezeichnet Konvivenz die Lebens- und Hilfsge- Thomas Popp »damit ihr seinen Fußspuren nachfolgt« (1 Petr 2,21) Christus als Leitbild der Lebenskunst im 1. Petrusbrief Hermeneutik und Vermittlung »Der 1. Petrusbrief ist für eine Lektüre einer christusorientierten Lebenskunst offen. [...] Dieses erlesene Schreiben initiiert anerkennungstheologisch in die Kunst der Konvivenz.« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 62 - 2. Korrektur 62 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Hermeneutik und Vermittlung 5,12) eine christusorientierte Kunst des Zusammenlebens skizziert: 20 1) 1,1 f.: friedvoll leben 2) 1,3-12: hoffnungsvoll leben 3) 1,13-2,10: bewusst leben 4) 2,11-3,12: konvivial leben 5) 3,13-4,11: kraftvoll leben 6) 4,12-5,11: gelassen leben 7) 5,12-14: vernetzt leben Der Autor, der unter dem Namen des Petrus schreibt, 21 wendet sich vor allem an eine Adressatenschaft aus griechisch-römischer Religiosität (1,1). 22 Aus religionsgeschichtlicher Sicht ist für das Verständnis der Vorstellungswelt des 1Petr vor allem der Priester und Philosoph Plutarch (46/ 47-125 n. Chr.) aufschlussreich. 23 Sein Werk ist ein Musterbeispiel religiös-philosophischer bzw. weisheitlicher Lebenskunst (technē peri bion 2,613B). 24 Aus dem Bereich der alttestamentlich-frühjüdischen Texte ist unter dem Aspekt der Lebenskunst insbesondere das Proverbia-Buch in den Blick zu nehmen. 25 ›Petrus‹ rezipiert die Proverbien in (1) Anspielungen (1 Petr 1-5) und (2) Zitaten (1 Petr 4-5): 26 1 Petr Prov (1) Anspielungen 1,7 17,3 1,13 31,17 2,17 24,21 3,6 3,25 4,12 27,21 (2) Zitate 4,8 10,12 4,18 11,31 5,5 3,34 Geschickt integriert der Autor diese Anspielungen und Zitate in seine Argumentation, um seine Adressatinnen und Adressaten von Anfang an zu einem weisheitlichen Lebensstil des Glaubens und der Liebe in ihrem angefochtenen Alltag zu animieren (vgl. nur 1,1-9). 2.3. Durchblick: Kursorische Lektüre 2.3.1 »wiedergeboren zu lebendiger Hoffnung« (1,3): Das Fundament der Lebenskunst (1,1-12) Ihr besonderes Profil gewinnt christliche Lebenskunst durch den Bezug auf Jesus Christus. Von Beginn an wird meinschaft unter den Armen, die im kirchlichen Leben die Gestalt von Basisgemeinden annimmt. Durch Theo Sundermeier hat dieser Begriff Eingang in die deutschsprachige Theologie gefunden. Sundermeier kennzeichnet Konvivenz dreifach: (1) gegenseitige Hilfe, (2) wechselseitiges Lernen und (3) gemeinsames Feiern. Kirche existiert konvivial: »Missionarische Kirche ist nicht Kirche für andere, sondern Kirche mit anderen.« 18 Für eine konviviale Theologie ist es unabdingbar, dass das Hoffnungszeugnis nur im Rahmen einer offenen Weggemeinschaft adäquat ausgesprochen werden kann: »Den Grund der christlichen Identität kann niemand ändern, Jesus Christus. Doch es gehört zur Besonderheit der christlichen Identität, dass sie nach vorne hin offen und nicht festgelegt ist […] Es ist gerade die Begegnung mit fremden Menschen, fremden Religionen und Kulturen, die jene Erfahrung verstärkt, die kennzeichnend ist für alle interreligiösen Dialogsituationen: Man wird auf sich selbst verwiesen, muss nach den eigenen Wurzeln fragen und über die Hoffnung Rechenschaft ablegen, die einen bestimmt (vgl. 1Petr 3,15).« 19 Sundermeier legt mit dem in der neutestamentlichen Wissenschaft noch nicht etablierten Konzept der Konvivenz ein auf biblischen Einsichten basierendes, richtungsweisendes Modell vor, das auch für die Exegese des 1. Petrusbriefes neue Perspektiven eröffnet. 2.2. Einleitungsfragen In dieser wohl um 90 n. Chr. im kleinasiatischen Raum entstandenen Schrift wird in konzentrierter Form (vgl. Thomas Popp, geb. 1966, Promotion 2000, Habilitation 2009 und Privatdozent für Neues Testament an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg; seit 2013 Ausbildungsleiter der Rummelsberger Diakone und Diakoninnen sowie Professor für Praktische Theologie (Schwerpunkt Diakoniewissenschaft) an der Evangelischen Hochschule Nürnberg Prof. Dr. Thomas Popp Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 63 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 63 Thomas Popp »damit ihr seinen Fußspuren nachfolgt« (1 Petr 2,21) die Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet und im Akt der Lektüre gebildet. 27 Im Präskript (1,1 f.) wird ›Petrus‹ als dessen Apostel ausgewiesen (1,1). Die Empfängerinnen und Empfänger werden auf das grundlegende Erlösungshandeln Christi verwiesen (1,2). Im Exordium (1,3-9) wird Gott als »Vater unseres Herrn Jesus Christus« und die »lebendige Hoffnung« der Glaubenden durch den Bezug auf die Auferstehung Christi spezifiziert (1,3). Die Hoffnung lebt in ihnen (vgl. 3,15), d. h., das Leben des dreieinen Gottes (vgl. 1,2) erfüllt sie und fundiert ihre Lebenskunst. Schon jetzt leben sie im Horizont endzeitlicher Anerkennung und Freude (1,4-9). In der brieflichen Selbstempfehlung wird das Heil durch Christus mit der durch seinen Geist gedeuteten biblischen Geschichte verknüpft (1,10-12). Die im 1Petr präsentierte Lebenskunst speist sich aus dieser geistlichen Schriftauslegung. Sie bringt auf den Geschmack, »dass der Herr köstlich (gütig) ist« (2,3). 28 2.3.2. »Ihr wisst ja« (1,18): christusbewusst leben (1,13-2,10) Diese Passage intoniert, wie der Glaube an und die Liebe zu Christus (1,7-9) im Leben der Wiedergeborenen konkret Gestalt gewinnt. 29 Aus Lebenskunstperspektive verdient vor allem der Auftaktvers Aufmerksamkeit. Die anfängliche Aufforderung zum Hoffen auf die Gnade (1,13; vgl. 1,2.10) wird durch die Wendung »Gürten der Hüften der Gesinnung« vor Augen gemalt. Die Kleidungsmetaphorik (vgl. 2,1.16; 3,3-5; 5,4) hat ihre Basis im empirischen Bezugssystem. Das Hochgürten des Gewandes bezieht sich in seinem Primärsinn auf das Kürzen des den Schritt hemmenden langen Gewandes. Es signalisiert den Einsatzwillen bzw. die Bereitschaft zum Aufbruch. Mit den Proverbien vertraute Leserinnen und Leser könnten darin eine Anspielung auf die Anerkennung der unübertroffen tüchtigen Frau sehen (Prov 31,17): »Sie gürtet kraftvoll ihre Lende und stärkt ihre Arme zur Arbeit.« Vor dem Hintergrund, dass Kleidung in der antiken Ehrenkultur den sozialen Status darstellt, 30 entspricht die Bekleidung mit hoffnungsvoller Einsatzbereitschaft dem neuen Status der zu einer lebendigen Hoffnung Wiedergeborenen (vgl. 1,3.23; 2,2). Insofern ist die christliche Lebenskunst-- vergleichbar mit der Philosophie bei Seneca (vgl. Ep 4,2-6)-- ein Leben in einem neuen Gewand bzw. die Einkleidung in das neue Sein bei der Taufe, dem Ort der Wiedergeburt. 31 Für ein Leben auf dem Grund der Taufe ist Bewusstheit geboten: Hoffnungsvoller Aufbruch hat nicht kopflos, sondern »nüchtern« zu geschehen (gr.: nēfō: 1,13; vgl. 4,7; 5,8). In der Tradition der biblischen Weisheitsliteratur stehend, bezeichnet die Metapher der Nüchternheit im Gegensatz zur Trunkenheit (vgl. 4,3) die Weisheit, sich unverhüllt der Wirklichkeit zu stellen. 32 Auch Plutarch rühmt die Nüchternheit. Zur ethischen Ästhetik der Existenz eines Herrschers gehört es, sich mehr zu scheuen, Böses zu tun als Böses zu leiden. Der menschenfreundliche Regent tut alles, um seine Untertanen vor jeder Schädigung zu bewahren (4,781C). Als Vorbild fungiert u. a. Epaminondas, der selbst an Festtagen »nüchtern« blieb (gr.: nēfein) und wachte, um den Anderen ausgelassenes Feiern zu ermöglichen (4,781D). Im Gegensatz zur früheren ›Unwissenheit‹ (gr.: agnoia 1,14) sind die Wiedergeborenen jetzt ›Wissende‹ (gr.: eidotes 1,18). Der folgende Rekurs auf eine Bekenntnisformel dient der Vergewisserung: Die Getauften werden an das rettende Wissen ihrer Erlösung durch den für sie gestorbenen und auferstandenen Christus erinnert (1,18-21). Eine wesentliche Konsequenz ist-- im Kontrast zu in einem Lasterkatalog komprimierten lieblosen Verhaltensmustern (2,1)-- beharrliche Geschwisterliebe unter den Wiedergeborenen (1,22-25) und Sehnsucht nach dem Wort Gottes (2,2 f.). Es ist ihre Bestimmung, als Volk Gottes zeugnishaft in der Welt zu leben (2,4-10; vgl. 1,14-16). 2.3.3. »in seinen Fußspuren« (2,21): Lebensform der Nachfolge (2,11-3,12) Für die in 2,9 f. präsentierte missionarische Vision wird in 2,11-3,12 vor allem eine nonverbale Strategie mit Anweisungen zur taktischen Realisierung entwickelt. 33 ›Petrus‹ schärft ein, dass die Sonderexistenz der Wiedergeborenen als Volk Gottes nicht zur Absonderung von der Mitwelt führen darf, selbst wenn sie ihnen feindlich gesonnen ist. Sie sollen in ihren jeweiligen Subkulturen »als Außenseiter und Fremde« (2,11) durch ihren vorbildlichen Lebenswandel missionarisch wirksam sein (2,12). Die verleumderischen Vorurteile der paganen Mitwelt sollen nicht im theoretischen Diskurs, sondern durch ihre vorbildliche Lebenspraxis entkräftet werden. Nur in der Begegnung mit ihnen kann die nichtchristliche Mitwelt lernen, was aus deren Sicht gut ist. Letztlich entscheidet daher die Übersetzung in die konkrete Lebenspraxis darüber, was als gut gelten kann. Für die Christinnen und Christen gilt, was auch für den Philosophen als Lehrer in »christliche Lebenskunst [ist] - vergleichbar mit der Philosophie bei Seneca (vgl. Ep 4,2-6) - ein Leben in einem neuen Gewand bzw. die Einkleidung in das neue Sein bei der Taufe, dem Ort der Wiedergeburt.« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 64 - 2. Korrektur 64 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Hermeneutik und Vermittlung der Antike maßgeblich war. Man nahm ihn dadurch beim Wort, »dass man sich für seine eigene Lebensweise ebenso interessierte wie für seine Lehre. Max Schelers Ausspruch vom Wegweiser, der den Weg nicht selber geht, wäre damals auf wenig Verständnis gestoßen.« 34 Für eine werbende christliche Lebenspraxis werden in 2,13-3,12 chancenreiche Anknüpfungspunkte an das bestehende gesellschaftliche Leben angeboten. In der Mitte dieser Paraklese zum Leben in der paganen Mitwelt ist eine Passionserinnerung planvoll positioniert (2,21-25; vgl. 1,18- 21; 3,18-22). Makrokontextuell bildet sie das christologische Briefzentrum. 35 Christus ist das Leitbild (2,21-25). 36 Mikrokontextuell begründet sie nicht nur die Unterordnung und Würde der Sklaven christologisch (2,18-20), sondern auch die Anweisungen zum Leben im Staat (2,13-17), in der Ehe (3,1-7), in der Gemeinde (3,8) und Mitwelt (3,9-12). Das Verhalten der christlichen Sklaven und Sklavinnen (2,18-20) wird im Verhältnis zu Christus als Ur- und Vorbild verankert (2,21-25). Sein Leiden hat paradigmatische Bedeutung. 37 Gerade als der leidende Gerechte erfährt er Gottes Anerkennung (2,21-23; vgl. 1,18-21). Im Hintergrund des Auftaktverses 2,21 dürfte wieder die Erinnerung an die Taufe stehen. Sie ist das Symbol-Sakrament für den Übergang zur Christusnachfolge. Als Leitverb fungiert ›leiden‹ (gr.: paschō). Es verknüpft 2,18-20 (V. 19 f.) und 2,21-25 (V. 21.23). Der nur zu Beginn ausdrücklich genannte Christus (vgl. 2,5), der in 2,21b-24a Subjekt ist, hat für die Angeredeten gelitten. Mit der ›für‹- Formel (gr.: hyper) bringt der Autor nicht nur den exemplarischen, sondern auch den fundamentalen Charakter des Leidens Christi zum Ausdruck. Sein Todesleiden begründet und motiviert die Leidensnachfolge (vgl. 1,2,18 f.). Seine leidende Proexistenz zielt auf Nachfolge in seinen ›Fußspuren‹ (gr.: ichnos). Das Bild vom ›Nachfolgen in der Spur‹ betont die Konformität der Adressatinnen und Adressaten mit Christus und akzentuiert zugleich dessen Andersartigkeit. Sie gehen in seinen Spuren ihren Weg. Diese Nachfolge gibt ihrem Leben neue Form und Richtung. Werden sie in 2,1 und 3,10 aufgefordert, allen Betrug abzulegen bzw. damit aufzuhören, Betrug zu reden, ist auch diesbezüglich Christus das Leitbild (2,22). Als er litt, drohte er nicht (2,23). Der Grund für dieses außergewöhnliche Verhalten ist seine vorbildliche Gottesbeziehung: Er überließ sich dessen Fürsorge. Das verlieh ihm Gelassenheit. Er war frei von der Verpflichtung, die eigene Ehre hochzuhalten, weil er sich dem gerechten Richter anvertraute. Seine Vergebungstat besteht darin, dass er für die sündigen Menschen den stigmatisierten Tod eines Sklaven erlitten hat (2,24). In klimaktischer Fortschreibung von 2,21 steht die am Vorbildgedanken orientierte Paraklese auf dieser christologisch-soteriologischen Grundlage. Die neue Lebenspraxis, das Leben der Gerechtigkeit (2,24), ist Ausdruck der durch die Lektüre des 1. Petrusbriefes ›eingebildeten‹ Christus-Mentalität. 38 Die einst irrenden Schafe gehören nun zu Christus, dem Hirten und Bischof ihrer Seelen (2,25). Das Leitbild des leidenden Jesus ist auch für das Zusammenleben der christusgläubigen Adressatinnen mit ihren paganen Ehemännern maßgeblich (3,1-6). Wie jedes Handeln etwas über die dahinterstehende Mentalität aussagt, ist die alltägliche Lebensführung der Christinnen »ohne Wort« (3,1) Ausdruck ihrer Christus-Mentalität mit missionarischer Ausstrahlung (3,1 f.). Da die Erlösung nicht durch Gold geschah (1,18), kann auch Goldschmuck keine werbende Wirkung für den Christusglauben haben (3,3). Lebenskunst heißt nicht nur in diesem Kontext, Wesentliches und Unwesentliches bzw. Unvergängliches und Vergängliches unterscheiden zu können (vgl. nur 1,4- 7.18 f.23-25; 5,4). Für die Christinnen ist in den Spuren von Christus »sanftmütige« Gelassenheit geboten (gr.: praüs: 3,4). 39 Die Sanftmut agiert nicht mit Hinterlist (vgl. 2,1), sondern zielt auf friedliches Zusammenleben. Sie ist-- wie die Demut (vgl. 3,8; 5,5 f.)-- »keine manipulative Strategie der Schwachen, sondern eine offene Lebenshaltung der Starken, die ihre eigene Differenz nicht durch Aggressivität untermauern müssen.« 40 Auch für Plutarch hat die soziale Tugend der Sanftmut wegweisende Bedeutung. In der Einleitung des wohl zwischen 90 und 100 n. Chr. verfassten Lehrbriefes ›Eheliche Ratschläge‹ (Coniugalia praecepta) führt er aus, dass die Philosophie auch Ruhe lehrt (138B- C): In ihr »gibt es viele schöne Themen, von denen das nun anstehende Thema der Ehe nicht weniger als die anderen der Mühe wert ist. Mit dem Singen dieses Themas bezaubert die Philosophie diejenigen, die sich zu einer Lebensgemeinschaft vereinigen, und macht sie sanft und handzahm füreinander (gr.: tous epi biou koinōnia syniontas eis tauto praous te parechei kai cheiroētheis allēlois).« 41 Wie in der Sklavenparaklese (2,18-25) illustriert ›Petrus‹ auch die Frauenparaklese durch ein exemplum: Vorbildcharakter haben die einst »auf Gott hoffenden heiligen Frauen« (3,5), allen voran Sara (3,6). Die pointierte abschließende Ermahnung an die christusgläubigen Ehemänner zum vernünftigen Zusammenle- »Letztlich entscheidet [...] die Übersetzung in die konkrete Lebenspraxis darüber, was als gut gelten kann. Für die Christinnen und Christen gilt, was auch für den Philosophen als Lehrer in der Antike maßgeblich war.« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 65 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 65 Thomas Popp »damit ihr seinen Fußspuren nachfolgt« (1 Petr 2,21) ben mit ihren christlichen Gattinnen lässt u. a. durch den Gebrauch des neutestamentlichen Hapaxlegomenon ›zusammenwohnen‹ (gr.: synoikeō) aufhorchen (3,7). Plutarch verwendet dieses Verb sowohl für das bürgerliche Zusammenleben wie auch für das häusliche Zusammenwohnen der Eheleute. 42 So soll die Ehefrau stets freundlich mit ihrem Mann ›zusammenwohnen‹ (gr.: synoikē: 28,142A) und in allen Belangen ihren gepflegten Charakter und Lebenswandel als wahren Schmuck an den Tag legen (29,142B). Eheleute, die sich lieben, sind »wie ein einziges, zusammengewachsenes Wesen« (gr.: symphysēs 34,142E), dagegen bestehen die, die nur aufgrund der Mitgift oder der Nachkommenschaft geheiratet haben, »aus ineinander verhafteten Teilen [gr.: synaptomenōn 34,142F], und wenn sie nur miteinander schlafen, dann sind sie getrennte Teile, zwei, die sozusagen miteinander hausen, aber nicht miteinander leben« (gr.: hous synoikein an tis allēlois ou symbioun nomiseie: 34,142F). Die christlichen Ehefrauen sind als getaufte Mitglieder des Gottesvolkes (vgl. 3,6) gleichwertige ›Miterbinnen‹ (gr.: synklēronomos) der »Gnade des Lebens« (3,7; vgl. 1,4). Die gläubigen Gatten sollen ihre physisch zerbrechlicheren Frauen als geistlich gleich Gewürdigte erkennen, aufgrund dieser Einsicht anerkennen und diese Anerkennung durch ein entsprechendes Handeln beglaubigen. Dabei hat das sprachlich mit synoikeō korrespondierende syn-Kompositum synklēronomos Signalwirkung: »Das hier gebrauchte Wort mit bezeichnet die letzte Bindung, die tiefste Gemeinschaft der Ehegatten.« 43 Die zum achtsamen Zusammenwohnen animierende Ehegattenparaklese (3,7) leitet zur Etablierung des neuen reziproken christlichen Ethos der Liebe und Demut über (3,8-12). Diese Präsentation des neuen Modells des Zusammenlebens ist ein Konzentrat der konvivialen Theologie der Anerkennung im 1Petr. Den Auftakt bildet eine ausdrücklich für alle geltende programmatische Handlungsweisung zu einem neuen Mit- und Füreinander (vgl. die Vorsilben homo- und syn- 3,8). Als Komplement zum fünfgliedrigen polysyndetischen Lasterkatalog in 2,1 werden asyndetisch fünf genderübergreifende Tugenden chiastisch angeführt: A ›gleichgesinnt‹ (gr: homophrones) B ›mitleidend‹ (gr.: sympatheis) C ›die Geschwister liebend‹ C (gr.: philadelphoi) B ›barmherzig‹ (gr.: eusplanchnoi) A ›demütig‹ (gr.: tapeinophrones) In der Mitte dieser konvivialen Alltagstugenden steht die Geschwisterliebe. Sie wird durch die Innenglieder Sympathie/ Barmherzigkeit und die Außenglieder Einheit/ Demut gerahmt. In der frühchristlichen Literatur wird die Demut im 1Petr erstmals zu einem Zentralbegriff der Ethik. 44 Nur hier erscheint das Adjektiv ›demütig‹. Wie im NT ist tapeinophrōn auch in der Septuaginta ein Hapaxlegomenon. Es findet sich bezeichnenderweise in den Proverbien (29,23). Im Gegensatz zum Hochmütigen erlangt ein Demütiger Ehre (vgl. 3,34; 1Petr 5,5). Demut bedeutet, sich im Vertrauen auf Gott selbst zu Gunsten Anderer zurücknehmen zu können (vgl. 2,23; 4,17-19; 5,5-7). 45 Ohne solche zuvorkommende Selbstzurücknahme ist Einheit nicht lebbar. 46 Die Gemeinde ist der erste modellhafte Ort für diese Lebenskunst (3,8). Die mit der Christusnachfolge gegebenen neuen konvivialen Regeln und Maßstäbe lassen sich auch auf das Verhältnis zur Mitwelt beziehen (3,9-12). Als auf Vergeltung Verzichtende und stattdessen Segnende (3,9) bewegen sich die Wiedergeborenen in den Fußspuren Christi (vgl. 2,21). Diese Lebensform ermöglicht friedliches Zusammenleben in einer feindlichen Mitwelt (vgl. 3,10-12.13-17). Die Forderungen in 3,8-12 »stellen geradezu eine Magna Charta gemeinschaftsfreundlicher Achtsamkeit dar. Sie schließen Aggressionen, die Androhung oder Anwendung physischer oder psychischer Gewalt kategorisch aus.« 47 Diese humanisierende Kraft praktizierten Glaubens setzt wie die Demut nicht Schwäche voraus, sondern gottgegebene Souveränität und Stärke. 2.3.4. »aus der Kraft, die Gott gewährt« (4,11): glaubwürdig leben (3,13-4,11) Das im Grundsatzprogramm 2,11 f. intonierte, nach 2,13-3,12 durch vorbildliches christuskonformes Verhalten zu bewältigende Problem der Anfeindung durch die Mitwelt wird im Zusammenspiel mit innergemeindlicher Paraklese in 3,13-4,11 erörtert. 48 Der Anstoß durch das nicht mehr ins alte Schema passende Leben (vgl. 1,14) der Neugeborenen ist nicht nur Anlass zum Leiden, sondern provoziert auch die Rückfrage nach der Herkunft dieses unterscheidbaren Lebensentwurfs in der Christusnachfolge (3,13-16). Sie bezeugen ihrer nichtchristlichen Mitwelt ihre im Auferstandenen gründende Hoffnung (3,15). Für ihr Hoffnungszeugnis gilt der auch von der christlichen Gemeinschaft rezipierte sokratische Grundsatz, Rechenschaft nach Maßgabe des logos abzulegen. 49 Das setzt wiederum bewusstes Leben im Glauben voraus (vgl. nur 1,18). Das glaubwürdige »In der Mitte dieser konvivialen Alltagstugenden steht die Geschwisterliebe.« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 66 - 2. Korrektur 66 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Hermeneutik und Vermittlung Mitleben-- und nicht nur Überleben-- der »zu lebendiger Hoffnung« (1,3) Wiedergeborenen mit allen Menschen kann Feindschaft in friedliches Miteinander verwandeln (vgl. 3,9-12). Der Appell zur sanftmütigen und furchtlosen Apologie (3,13-16) wird erneut durch den Rekurs auf den Willen Gottes (3,17; vgl. 2,15) und die Jesus-Christus- Geschichte (3,18-22; vgl. 2,21-25) plausibilisiert. In die imperativisch intonierte Paraklese 4,1-6 ist der Verweis auf den Willen Gottes (4,2) sowie frühchristliches Wissen (4,6; vgl. 1,14.18) als Maßstab für das Verhältnis zur paganen Mitwelt verwoben. Daran schließen sich in Wiederaufnahme insbesondere von 1,22; 2,17 und 3,8 Anweisungen zum innergemeindlichen konvivialen Miteinander an (4,7-11). Im Bewusstsein des nahenden Endes ist Besonnenheit und Nüchternheit zum Gebet angesagt (4,7; vgl. 1,13; 5,7 f.). Wesentlich ist, an der vergebenden Liebe zueinander festzuhalten (4,8), gegenseitig gastfreundlich zu sein (4,9) und einander charismenorientiert zu dienen (4,10). Wie die Liebe (vgl. 4,8) die unterschiedlichen Charismen verbindet, so entspricht deren Vielfalt der ›bunten‹ göttlichen Gnade. 50 Dieser Dienst geschieht nicht eigenmächtig, sondern »aus der Kraft, die Gott gewährt« (4,11). Diakonische Konvivenz im Sinne des in 4,7-11 (vgl. 1,22; 2,4-10.17; 3,8) entworfenen Gemeindebildes verdankt sich göttlichem Empowerment. Gott ermächtigt zu einem Gemeindeleben, dessen Kennzeichen reziproke Zugewandtheit in Liebe und Solidarität ist. 2.3.5. »denn der Geist…ruht auf euch« (4,14): in leidenschaftlicher Gelassenheit leben (4,12-5,11) Auch in dem Textkomplex 4,12-5,11 sind die Passagen planvoll aufeinander bezogen. 51 Das Leben in Schicksalsgemeinschaft mit Christus (4,12-19; vgl. 2,21-25) impliziert geistgeschenkte Gelassenheit (4,14; vgl. 2,18-20). 52 Der entehrenden Schmähung der »Fremden in der Diaspora« (1,1) wird-- in Anspielung auf Jes 11,2LXX (vgl. Ps 88,51 f.LXX)-- ihre Geistbegabung gegenübergestellt. Das ›Ruhen‹ des göttlichen Geistes der Herrlichkeit auf ihnen wird durch eine Präsensform verbalisiert (gr.: anapauetai). Geistesgegenwart macht sie in der ›Feuersglut‹ (4,12) ihrer Verfolgung gelassen. Dagegen ist Senecas Ruheverständnis im Zusammenhang der Weltüberlegenheit der kynisch-stoischen Ataraxie zu verstehen (Const 9,2 f.): Ein Weiser lässt sich weder von Hoffnung und Furcht bestimmen noch durch Unrecht aus der Fassung bringen, sondern er moderiert sich selbst (lat.: moderator sui), erfüllt von tiefer und friedlicher Ruhe (9,3). Ihn wird keines Menschen Missachtung aus der Ruhe bringen. Würde er sich nämlich herablassen, sich von Unrecht oder von Beschimpfung betroffen zu fühlen, würde er niemals innerlich ruhig sein können (13,5). Die Adressatinnen und Adressaten werden als Gottes Geschöpfe dazu animiert, ihre Seelen dem treuen Schöpfer anzuvertrauen (4,19; vgl. 5,7). Auch und gerade in diesem Vertrauen äußert sich ihre Christusnachfolge, denn er ist die Inkarnation dieser spirituellen Lebenskunst (vgl. 2,21-23). 53 Ihr Leben liegt in Gottes Hand (vgl. 5,6). Er ist der Grund ihrer Gelassenheit. Diese geistgeschenkte Gelassenheit bewährt sich in der Kunst, auch in der Situation der Verfolgung das Gute zu tun: » Ebenso wie die in der Taufe geschenkte Begnadung den ganzen Menschen erfasst, bezieht sich die Befähigung zur Gelassenheit in der Welt auf die Lebensganzheit. Handeln in dieser Gelassenheit in der Welt ist in Zeiten, die hoffnungslos erscheinen, Ausdruck der Hoffnung, die die Christen auszeichnet, ist Zeugnis im Alltag der Welt.« 54 Da dieses Handeln ihr Weiterleben voraussetzt, ist 4,12- 19 kein Beleg für eine Märtyrertheologie. ›Petrus‹ ruft durch seinen Brief nicht zum Martyrium auf, sondern bereitet sie implizit durch die Bestärkung ihrer in dem auferstandenen Christus verankerten »lebendigen Hoffnung« (1,3) auf ihr Sterben vor (ars moriendi). Die Schlussparaklese richtet sich zunächst an die Gemeindeleitung (5,1-5a), dann an alle Gemeindeglieder (5,5b-11). Erneut wird die Demut als konkrete konviviale Grundhaltung präsentiert (5,5b-6). Wie in 3,8 bezieht sie sich zunächst auf das reziproke zwischenmenschliche Verhalten (5,5b) und bezeichnet zudem-- im wörtlichen Rekurs auf Prov 3,34LXX-- das angemessene Verhältnis zu Gott (5,5b). 55 Zur demütigen Bergung in Gottes Hand (5,6) gehört die geistliche Lebenskunst, alle Sorgen dem fürsorgenden Gott zu überlassen (5,7; vgl. 4,19). Er wird sie in ihrer leidvollen Situation (5,8 f.) »in Ordnung bringen, stärken, kräftigen, gründen« (5,10). Zur Lebenskunst der Christinnen und Christen zählt nicht zuletzt die Einsicht in die Fragmentarität der eigenen Existenz und das Vertrauen, dass Gott vollenden wird, was bruchstückhaft ist (gr.: katartizō 5,10). 56 2.3.6. »Es grüßt euch …« (5,14): vernetzt leben (5,12-14) Im Postskript wird als erste Person im geistlichen Netzwerk des ›Petrus‹ Silvanus als Briefüberbringer benannt »Zur Lebenskunst der Christinnen und Christen zählt nicht zuletzt die Einsicht in die Fragmentarität der eigenen Existenz und das Vertrauen, dass Gott vollenden wird, was bruchstückhaft ist« Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 67 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 67 Thomas Popp »damit ihr seinen Fußspuren nachfolgt« (1 Petr 2,21) (5,12). 57 Er gehört als zuverlässiger ›Bruder‹ (gr.: adelphos) zum leidgeprüften weltweiten Beziehungsgefüge der ›Bruderschaft‹ (gr.: adelphotēs 5,9; vgl. 2,17). Der »mit wenigen [Worten]« geschriebene Brief zielt darauf, die stigmatisierten und diffamierten Empfängerinnen und Empfänger durch die verdichtete theologisch-seelsorgliche Deutung ihrer Situation darin zu bestärken, auch im Leiden in unverbrüchlicher Gemeinschaft mit Gott zu stehen. 58 So kann die Lektüre dieser Literatur für sie zum Lebenselixier werden, das ihre Widerstandskraft in diabolischer Bedrängnis stärkt (vgl. 5,8-10). Diesem Ziel dient auch die Ausrichtung von Grüßen der mitauserwählten Gemeinde in ›Babylon‹ sowie von ›Markus‹ (5,13; vgl. 1,1). Wiederum werden die Wiedergeborenen darauf aufmerksam gemacht, dass sie Teil des globalen Netzwerkes der bedrängten ›Geschwisterschaft‹ sind (vgl. 5,9). Die im 1Petr entfaltete ars vivendi ist nicht zuletzt eine ars amandi: Die ›Geliebten‹ (gr.: agapētoi 2,11; 4,12) werden aufgerufen, einander mit dem »Kuss der Liebe« (5,14a) zu grüßen. 59 Er ist eine berührende Expression ihrer Communitas als Geschwisterschaft (vgl. 2,17; 5,9). Sie ist unter den bei der gottesdienstlichen Verlesung des Briefes körperlich anwesenden Personen interaktiv erlebbar. Im Liebeskuss somatisiert sich die geistige Vorstellung ihrer wechselseitigen Agape (vgl. 4,8). Indem ›Petrus‹-- in Modifikation des paulinischen ›heiligen Kusses‹ (1Thess 5,26; 1Kor 16,20; 2Kor 13,12; Röm 16,16)- - den Rang der Agape betont, unterstreicht er die basale Bedeutung der reziproken Liebe für die diskriminierte und kriminalisierte christliche Gemeinschaft. 60 Als von Gott Geliebte bilden sie ein Netzwerk der wechselseitigen liebenden Anerkennung. Der-- vor dem Lebenskontext der Pax Romana ergehende-- abschließende Friedenszuspruch in 5,14b bildet mit 1,2b eine Inklusion. Wie der Brief begonnen hat, so endet er auch. In Analogie zur Geste des Kusses der Liebe als Ausdruck der gemeinsamen Anerkennung durch Gottes Gnade wird durch den Friedenswunsch die Horizontale betont, d. h. »das heile Verhältnis zu Gott und zu den Mitmenschen (vgl. 1,2), das die Konfliktsituation in Hoffnung, Glaube und Liebe überwindet (1,3-7; vgl. Joh 14,27).« 61 Die Wiedergeborenen leben in aller Bedrängnis gelassen im Frieden Gottes, weil sein Geist auf ihnen ruht (vgl. 4,14). Schließlich wird der anerkannte Heilsstand der Adressatinnen und Adressaten durch die zum dritten Mal gebrauchte Formel ›in Christus‹ (en christō 5,14b; vgl. 3,16; 5,10) herausgestellt. Mit dem Schlüsselgedanken der Konvivenz mit Christus, zu der genuin das Zusammenleben mit den Mitchristinnen und -christen und der Mitwelt gehört, klingt der Brief wirkungsvoll aus. 3. Rückblick und Ausblick Aufgabe der im 1Petr mit Christus als Leitbild entworfenen Lebenskunst ist es, theologische Deutungen und Handlungsanweisungen bereitzustellen, mit deren Hilfe die bedrängten Christinnen und Christen ihr in Christus gründendes Leben in »seinen Spuren« (2,21) konvivial gestalten können. Im Sinne von Bubmanns und Sills eingangs zitiertem Ziel christlicher Lebenskunst (siehe 1.2) ist die im 1Petr vor Augen gemalte Lebenskunst »ein geschenktes Können« 62 . Der Mensch lebt nicht in erster Linie von dem, was er konstruiert, sondern von dem, was er rezipiert. Entsprechend ist die Gelassenheit der Wiedergeborenen keine ›stoische‹, sondern eine geistgegebene (vgl. 4,14). 63 Für die Ganzheit ihres Lebens müssen sie nicht selbst sorgen. Sie können alle Sorgen Gott im Gebet lassen (vgl. 4,19; 5,6 f.). Er ist ihre Ganzheit und wird ihr bruchstückhaftes Leben vollenden (vgl. 5,10). 64 Diese durch die Lektüre des 1Petr geschärfte Sehweise unterbricht alltägliche Wahrnehmungsmuster wie etwa utopische Gesundheits- und Ganzheitsvorstellungen und lässt das Leben in einem anderen Licht erscheinen: »selbst als Fragment kann ich noch darauf vertrauen, dass Gott mein mehr oder weniger gelungenes Lebenskunstwerk bejahen wird.« 65 Die im 1. Petrusbrief entfaltete Theologie als Form der Lebenskunst inspiriert dazu, in aller Fragmentarität schon jetzt im Horizont endzeitlicher Anerkennung und Freude zu leben (vgl. nur 1,7-9; 5,10 f.). Mit der erfreulichen Aussicht auf die bereits gegenwärtige Teilhabe an der »ewigen Herrlichkeit in Christus Jesus« (5,10; vgl. 5,14b) lässt sich gut leben und sterben (ars vivendi et moriendi). Diese Hoffnung erfüllt das Herz (vgl. 3,15). Die Dimension der göttlichen Unendlichkeit lässt sich in der brüchigen menschlichen Endlichkeit durch das Sein in Christus erfahren (vgl. 3,15; 5,10.14). Diese Lebensform der geisterfüllten leidenschaftlichen Gelassenheit mit Christus als Leitbild übersteigt auf wunderbare Weise die durch den Witz am Anfang persiflierte deutsche Art, zur Entspannung Herztropfen zu nehmen und zur Arbeit zu gehen-- Gott sei Dank (5,11): »Ihm sei die Macht in Ewigkeit. Amen.« Anmerkungen 1 Zit. bei P. Watzlawick, Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Wahn-- Täuschung-- Verstehen, München 1977, 57. 2 Zit. n. W. Vorländer, Gastfreundschaft als Gotteserfahrung, in: Markenzeichen Gastfreundschaft. Grundlagen und Bausteine einer wertschätzenden Kultur der Gemein- Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 68 - 2. Korrektur 68 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Hermeneutik und Vermittlung de, hg. v. Amt für missionarische Dienste der Evangelischen Kirche von Westfalen, Dortmund 2001, 4-7: 7. 3 Vgl. dazu aus der Publikationsfülle basal W. Schmid, Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, Frankfurt a. M. 12 2012 (zur Bezugnahme auf Foucaults Entwurf einer Ästhetik der Existenz vgl. z. B. a. a. O., 165-172) ; komprimiert: ders., Schönes Leben? Einführung in die Lebenskunst, Frankfurt a. M. 3 2008 (zu Foucault vgl. a. a. O., 186-195); zur philosophischen Kritik an Schmids Lebenskunstkonzept vgl. nur C. Langbehn, Grundlegungsambitionen, oder der Mythos vom gelingenden Leben. Über Selbstbewusstsein und Selbstgestaltung in der Ethik, in: Ders./ Kersting, W. (Hg.), Kritik der Lebenskunst, Frankfurt a. M. 2007, 201-234, 215-234. 4 W. Schmid, Philosophie, 9. 5 loc. cit. W. Schmid, Philosophie, 9. 6 Vgl. a. a. O., 49. 7 Vgl. a. a. O., 27; zur antiken Philosophie als Lebenskunst vgl. nur A. Dihle, Philosophie als Lebenskunst, RhWAW.G 304, Opladen 1990; P. Hadot, Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der antike, Berlin 2 1991; ders., Wege zur Weisheit-- oder was lehrt uns die Antike Philosophie? , Frankfurt a. M. 1999; C. Horn, Antike Lebenskunst. Glück und Moral von Sokrates bis zu den Neuplatonikern, München 1998; H. Niehues-Pröbsting, Die antike Philosophie. Schrift, Schule, Lebensform, Frankfurt a. M. 2004, 142-219; M. Lang, Die Kunst des christlichen Lebens. Rezeptionsästhetische Studien zum lukanischen Paulusbild, ABG 29, Leipzig 2008, 97-167. 8 Vgl. dazu P. Hadot, Philosophie; vgl. auch H. Niehues- Pröbsting, Philosophie, 142: »Die literarischen und schulischen Formen der antiken Philosophie sind in ihrem Sinn wesentlich auf das Ziel einer philosophischen Lebensform, auf eine spezifische philosophische Führung und Gestaltung des Lebens bezogen.« 9 Vgl. W. Schmid, Gottvertrauen. Oder: Die Kunst des Lebens, Psychologie Heute compact 19 (2008), 12-17, 16. 10 Vgl. dazu aus der Literaturfülle seit der Jahrtausendwende P. Bubmann, Freiheit wahrnehmen-- die ästhetische Dimension christlicher Lebenskunst, in: H.-R. Reuter u. a. (Hg.), Freiheit verantworten (FS W. Huber), Gütersloh 2002, 504-516; ders., Gemeindepädagogik als Anstiftung zur Lebenskunst, PTh 93 (2004), 99-114; ders./ B. Sill (Hg.), Christliche Lebenskunst, Regensburg 2008; W. Engemann, Lebenskunst als Beratungsziel. Zur Bedeutung der Praktischen Philosophie für die Seelsorge der Gegenwart, in: M. Böhme u. a. (Hg.), Entwickeltes Leben. Neue Herausforderungen für die Seelsorge (FS J. Ziemer), Leipzig 2002, 95-125; ders., Die Lebenskunst und das Evangelium. Über eine zentrale Aufgabe kirchlichen Handelns und deren Herausforderung für die Praktische Theologie, ThLZ 129 (2004), 875-896; ders., Aneignung der Freiheit. Lebenskunst und Willensarbeit in der Seelsorge, WzM 58 (2006), 28-48; ders., Aneignung der Freiheit. Essays zur christlichen Lebenskunst, Stuttgart 2007; ders., Gemeinde als Ort der Lebenskunst. Glaubenskultur und Spiritualität in volkskirchlichem Kontext, in: I. Karle (Hg.), Kirchenreform. Interdisziplinäre Perspektiven, APrTh 41, Leipzig 2009, 269-291; C. Schwindt, Glaube und lebe. Lebenskunst als Thema christlicher Bildungsarbeit, PTh 91 (2002), 168-182; M. Schibilsky, Lebensbegleitung und Lebenskunst, Zeitzeichen 4 (2003), 38-40; ders., Theologie als ars vivendi, in: W. Huber (Hg.), Was ist gute Theologie? , Stuttgart 2004, 113-127; T. Erne, Die Kunst zu leben. Christlicher Glaube und Lebenskunst, PrTh 41 (2006), 144- 151; C. Burbach, Weisheit und Lebenskunst: Horizonte zur Konzeptualisierung von Seelsorge, WzM 58 (2006), 13-27; I. Kirsner/ F. Hiddemann, Lebenskunst im Film, WzM 58 (2006), 49-63; R. Zitt, Abschied, Trauer und Neuanfang. Menschsein als Lebenskunst in den existentiellen Lebensumbrüchen, WzM 58 (2006), 358-372; R. Schieder, Seelsorge und Lebenskunst, in: W. Engemann (Hg.), Handbuch der Seelsorge. Grundlagen und Profile, Leipzig 2007, 379-389; H. Wahl, Theologische Erwachsenenbildung: Sinnagentur oder Provokation zur Lebenskunst? , WzM 59 (2007), 354-369; R. Kunz, Weisheit: Konzepte der Lebensklugheit, in: T. Klie u. a. (Hg.), Praktische Theologie des Alterns, Praktische Theologie im Wissenschaftsdiskurs 4, Berlin 2009, 155-205; I. Karle, Lebensberatung-- Weisheit-- Lebenskunst. Herausforderung für die Theologie, in: Dies. (Hg.), Lebensberatung-- Weisheit-- Lebenskunst, Leipzig 2011, 7-14. 11 Zu Schibilskys Entwurf der Theologie als Theorie der Lebenskunst vgl. J. Gohde, »Theologie als Theorie der Lebenskunst«. Michael Schibilskys Vermächtnis in Kirche und Diakonie, PrTh 41 (2006), 180-186. 12 P. Bubmann / B. Sill, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Christliche Lebenskunst, Regensburg 2008, 9-19, 10. 13 Vgl. a. a. O., 11-15; vgl. dazu auch W. Schmid, Philosophie, 348-355; ders., Leben, 67-75; P. Hadot, Philosophie, 29-37. 14 Vgl. P. Bubmann/ B. Sill, Einleitung, 15-19; vgl. auch P. Bubmann, Gemeindepädagogik, 107.114. 15 Vgl. dazu-- im Bewusstsein der Relativität durch diese Perspektivität-- T. Popp, Die Kunst der Konvivenz. Theologie der Anerkennung im 1. Petrusbrief, ABG 33, Leipzig 2010; zur Bezugnahme auf den Lebenskunstbegriff vgl. a. a. O., 25- 27; zur Lektüre des 1 Petr unter dem Aspekt der Lebenskunst vgl. auch M. Lang, Lebenskunst und Ethos. Beobachtungen zu Plutarch, Seneca, Philo von Alexandrien und dem 1.-Petrusbrief, in: F.W. Horn/ R. Zimmermann (Hg.), Jenseits von Indikativ und Imperativ. Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik. Bd. 1, WUNT 238, Tübingen 2009, 57-76; zur Rezeption des Lebenskunstbegriffes in der ntl. Forschung vgl. auch ders., Art. Lebenskunst, www.bibelwissenschaft.de/ de/ stichwort/ 59 490/ (erstellt: Mai 2011); zum lk Paulusbild vgl. ders., Kunst; zur Lebenskunst bei Paulus vgl. ders., Lebenskunst und Kohärenz. Beobachtungen anhand von Epiktet und dem Römerbrief, in: F.W. Horn u. a. (Hg.), Ethische Normen des frühen Christentums. Gut-- Leben-- Leib-- Tugend, Kontexte und Normen neutestamentlicher Ethik/ Contexts and Norms of New Testament. Bd. IV, WUNT 313, Tübingen 2013, 207- 224; zur Lebenskunst im Blick auf Paulus vgl. auch H. Löhr, Paulus und der Wille zur Tat. Beobachtungen zu einer frühchristlichen Theologie als Anweisung zur Lebenskunst, ZNW 98 (2007), 165-188; zur paulinischen ars moriendi vgl. M. Vogel , Commentatio mortis. 2 Kor 5,1- 10 auf dem Hintergrund antiker ars moriendi, FRLANT 214, Göttingen 2006; zur lukanischen ars moriendi vgl. S. Schreiber, »Ars Moriendi« in Lk 23,39-43. Ein pragmatischer Versuch zum Erfahrungsproblem der Königsherrschaft Gottes, in: C. Niemand (Hg.), Forschungen zum Neu- Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 69 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 69 Thomas Popp »damit ihr seinen Fußspuren nachfolgt« (1 Petr 2,21) en Testament und seiner Umwelt (FS A. Fuchs), Linzer Philosophisch-Theologische Beiträge 7, Frankfurt a. M. 2002, 277-297; zur Lebenskunst im Jak vgl. P. Wick, Der Jakobusbrief und die Grenzen des weisheitlichen Rates, in: I. Karle (Hg.), Lebensberatung-- Weisheit-- Lebenskunst, Leipzig 2011, 65-79; zur ntl. Freundschaftsethik unter dem Aspekt der Lebenskunst vgl. R. v. Bendemann, Frühchristliche Freundschaftsethik, in: I. Karle (Hg.), Lebensberatung, 80-99. 16 Vgl. dazu generell W. Schmid, Philosophie, 13: »Ist denn alles Lebenskunst? Nein, aber in der Tat kann alles unter dem Aspekt der Lebenskunst betrachtet werden.« 17 Referenzrahmen für diese Sehweise ist das Konvivenzkonzept des Heidelberger Missions- und Religionswissenschaftlers T. Sundermeier; vgl. dazu T. Popp, Kunst, 1-25; zum Folgenden vgl. a. a. O., 6 f.17-25. 18 T. Sundermeier, Konvivenz als Grundstruktur ökumenischer Existenz heute, in: V. Küster (Hg.), Konvivenz und Differenz. Studien zu einer verstehenden Missionswissenschaft (FS T. Sundermeier), MWF.NF 3, Erlangen 1995, 43-75, 71. 19 T. Sundermeier, Den Fremden verstehen. Eine praktische Hermeneutik, Göttingen 1996, 227 f. 20 Zur Datierung vgl. T. Popp, Kunst, 106 mit Anm. 638 (Lit.! ); zur späteren Ansetzung um die Jahrhundertwende vgl. G. Guttenberger, Passio Christiana. Die alltagsmartyrologische Position des Ersten Petrusbriefes, SBS 223, Stuttgart 2010, 92 f. 21 Der 1 Petr ist ein pseudepigrafisches Schreiben. Deshalb wird im Folgenden für den Autor die Schreibweise ›Petrus‹ gewählt; vgl. dazu T. Popp, Kunst, 106 mit Anm. 639 (Lit.! ). 22 Zur Adressatenschaft vgl. a. a. O., 14-16 106 f. mit Anm. 640 (Lit.! ). 23 Vgl. nur a. a. O., 15 f.85-89; zum lateinischsprachigen römischen Kontext (Seneca) vgl. a. a. O., 89-93. 24 Zur besonders markanten Verkörperung der Synthese von Religion und Philosophie bzw. Weisheit durch Plutarch vgl. R. Feldmeier, »Göttliche Philosophie«: Die Interaktion von Weisheit und Religion in der späteren Antike, in: R. Hirsch- Luipold u. a. (Hg.), Religiöse Philosophie und philosophische Religion der frühen Kaiserzeit. Literaturgeschichtliche Perspektiven, Ratio Religionis Studien I, Tübingen 2009, 99- 116, 102 f.; R. Hirsch-Luipold, Die religiös-philosophische Literatur der frühen Kaiserzeit und das Neue Testament, in: ders. u. a. (Hg.), Philosophie, 117-146, 129-137 (zum 1 Petr vgl. a. a. O., 122); zur Plutarchschen technē peri bion vgl. T. Popp, Kunst, 85 f. mit Anm. 522 (Lit.! ). 25 Vgl. T. Popp, Kunst, 16.95-104. 26 Vgl. a. a. O., 95 mit Anm. 582 (Lit.! ). 27 Zur Auslegung von 1,1-12 vgl. T. Popp, Kunst, 122-159. 28 Zur Übersetzung vgl. R. Feldmeier, Der erste Brief des Petrus, ThHK 15/ I, Leipzig 2005, 83.87. 29 Zur Auslegung von 1,13-2,10, vgl. T. Popp, Kunst, 159- 218. 30 Vgl. C. Bender/ S. Bieberstein, Art. Kleidung, SWB, 295- 300. 31 Zum Leben in einem neuen Gewand bei Seneca vgl. M. Lang, Kunst, 165; ders., Lebenskunst, 63.75. 32 Vgl. dazu T. Popp, Kunst, 163 mit Anm. 977 (Lit.! ). 33 Zur Auslegung vgl. a. a. O., 218-322. 34 A. Dihle, Philosophie 19; zur großen Relevanz des Vorbildgedankens in der paganen Antike vgl. auch T. Popp, Kunst, 406 f. 35 Vgl. T. Popp, Kunst, 262 mit Anm. 1615 (Lit.! ); zu den programmatischen christologischen Passagen vgl. nur a. a. O., 465 f. 36 Zu Christus als Leitbild im Blick auf 2,21 vgl. a. a. O., 262 mit Anm. 1616 (Lit.! ). 37 Zum Leiden Christi als Paradigma vgl. F. Vouga, »Auch Christus hat für uns gelitten«. Christologie und Soteriologie im 1. Petrusbrief, in: D.S. du Toit (Hg.), Bedrängnis und Identität. Studien zu Situation, Kommunikation und Theologie des 1. Petrusbriefes (In memoriam L. Goppelt), BZNW 200, Berlin 2013, 205-222, 214-218. 38 Zu dieser ›Einbildung‹ vgl. T. Popp, Kunst, 269 491 f. 39 Vgl. dazu im Rekurs auf griechisch-hellenistisches Denken L. Goppelt, Der erste Petrusbrief, KEK 12/ 1, Göttingen 1978, 217 Anm. 34. 40 M. Volf, Christliche Identität und Differenz. Zur Eigenart der christlichen Präsenz in den modernen Gesellschaften, ZThK 92 (1995), 357-375, 366. 41 Übers. R. Hirsch-Luipold, Pferde, Musen und Spargelkranz. Die Bedeutung der Bildersprache bei Plutarch am Beispiel der »Eheratschläge« zur Fülle an Metaphern, Vergleichen und Bildern bei Plutarch, in: M. Baumbach u. a. (Hgg.), Mousopolos Stephanos (FS H. Görgemanns), BKAW 2102, Heidelberg 1998, 105-118, 109 f.114. 42 Zur frühjüdischen und paganen Verwendung dieses Verbs vgl. T. Popp, Kunst, 298-300. 43 H. Rendtorff, Getrostes Wandern. Eine Einführung in den ersten Brief des Petrus, UCB 20, Berlin 5 1936, 63. 44 Vgl. dazu R. Feldmeier, Macht-- Dienst-- Demut. Ein neutestamentlicher Beitrag zur Ethik, Tübingen 2012, 84.113-120. 45 Für R. Feldmeier, a. a. O., 120, ist Demut »Ausdruck einer Selbstbeschränkung, um für Begegnung Raum zu schaffen und so Gemeinschaft zu ermöglichen.« Zur Kunst der Selbstzurücknahme vgl. auch G. Langenhorst, »Aber wer bin ich, dass …« Zu einer Spiritualität der Selbstzurücknahme, BiKi 50 (1995), 108-115. 46 Zur Übersetzung von tapeinophrōn mit ›zuvorkommend‹ vgl. L. Goppelt, 1Petr, 223; im Anschluss R. Feldmeier, Macht, 115. 47 M. Evang, Gewalt und Gewaltlosigkeit in der Strategie des 1. Petrusbriefs, ZNT 9 (2006), 21-30: 24. 48 Zur Auslegung von 3,13-4,11 vgl. T. Popp, Kunst, 322- 377. 49 Zum hellenistischen Sprachgebrauch vgl. a. a. O., 329- 331. 50 Vgl. dazu R. Feldmeier, 1Petr, 147. 51 Zur Auslegung von 4,12-5,11 vgl. T. Popp, Kunst, 377- 443. 52 Z um Konnex von Geist und Gelassenheit im 1Petr vgl. a. a. O., 469 f. 53 Zum ›Lebensstil der Nachfolge‹ und zur ›Kultur der Geschöpflichkeit‹ vgl. aus christlicher Lebenskunstperspektive P. Bubmann/ B. Sill, Einleitung, 17: »Das bewahrende und Leben schaffende Wirken Gottes zu ›erspüren‹, ist daher eine erste Grundaufgabe der Lebenskunst.« Vgl. dazu auch aus Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 70 - 2. Korrektur 70 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Hermeneutik und Vermittlung philosophischer Lebenskunstperspektive W. Schmid, Gottvertrauen, 16: »Für die Lebenskunst kommt es darauf an, die endliche Welt von einer unendlichen Dimension durchdringen zu lassen, und sei es nur als denkerische Möglichkeit. Für die Lebenskunst macht es einen Unterschied, sich in einem solchen Horizont zu sehen oder nicht, unabhängig davon, wie dieses Verständnis zum Ausdruck gebracht wird: sich als Teil der Unendlichkeit oder, poetischer, als ›Kind Gottes‹ zu verstehen.« 54 F.R. Prostmeier, Handlungsmodelle im ersten Petrusbrief, fzb 63, Würzburg 1990, 516; zu dieser Gelassenheit vgl. auch N. Brox, Der erste Petrusbrief, EKK 21, Zürich/ Neukirchen- Vluyn 4 1993, 223; zur Gelassenheit als Lebenskunst vgl. W. Schmid, Philosophie, 137 f.393-398; ders., Leben, 129-136; ders., Gelassenheit. Was wir gewinnen, wenn wir älter werden, Berlin 2014; A. Pieper, Gelassenheit als Lebenskunst, in: C. Neuen (Hg.), Gelassenheit. Vom Umgang mit Angst und Krisen, Düsseldorf 2004, 34-52; dies., Glückssache. Die Kunst gut zu leben, Hamburg 4 2007, 50 f.237 f. 55 Vgl. dazu R. Feldmeier, 1 Petr, 159-163; ders., Macht, 117 f. 56 Vgl. dazu L. Goppelt, 1Petr, 344; zur fragmentarischen Identität im 1Petr vgl. T. Popp, »… den erwählten Fremden« (1 Petr 1,1). Theologie der Anerkennung im 1. Petrusbrief, in D.S. du Toit (Hg.), Bedrängnis und Identität. Studien zu Situation, Kommunikation und Theologie des 1. Petrusbriefes (In memoriam L. Goppelt), BZNW 200, Berlin 2013, 183-203. 57 Zur Auslegung von 5,12-14 vgl. T. Popp, Kunst, 443-455. 58 Vgl. dazu R. Feldmeier, 1Petr, 9-12.170. 59 Zur Bedeutung des Kussrituals in der in der Antike vgl. a. a. O., 449-454. 60 Vgl. R. Feldmeier, 1Petr, 171. 61 L. Goppelt, 1Petr, 355. 62 P. Bubmann/ B. Sill, Einleitung, 14. In diesem Zusammenhang stellen sie u. a. an W. Schmid die kritische Rückfrage, ob seine Theorie das Subjekt als ›Organisator der Lebenskunst‹ letztlich nicht überfordert und überschätzt (ebd.). 63 Vgl. dazu aus der Sicht christlicher Lebenskunst P. Bubmann/ B. Sill, Einleitung, 18 f. 64 Vgl. dazu pointiert F. Steffensky, Schwarzbrot-Spiritualität, Stuttgart 2006, 15 f.: »Gott ist die ungeschuldete Güte. Die Erfahrung der ungeschuldeten Güte befähigt den Menschen dazu, sich als Fragment zu erkennen. Gott ist unsere Ganzheit, nicht wir selber.« 65 R. Schieder, Seelsorge, 382.; vgl. auch klassisch H. Luther, Identität und Fragment, in: Ders., Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 160-182, 172: »Glauben hieße dann, als Fragment zu leben und leben zu können.« Vgl. dazu ferner I. Kirsner/ F. Hiddemann, Lebenskunst, 63; G. Schneider- Flume, Leben ist kostbar. Wider die Tyrannei des gelingenden Lebens, Göttingen 3 2008; dies., Perfektionierte Gesundheit als Heil? Theologische Überlegungen zu Ganzheit, Heil und Heilung, WzM 61 (2009), 133-150. Vorschau auf Heft 35 »Rituale« Mit Beiträgen von: Christian Strecker, Anni Henschel,Richard deMarris, Peter Wick, Udo Schnelle, Jan Heilmann, Hal Taussig Bernhard Mutschler Beziehungsreichtum Bibelhermeneutische, sozialanthropologische und kulturgeschichtliche Erkundungen 2013, 272 S €[D] 29,99/ SFr 40,10 ISBN 978-3-7720-8495-9 Ein verantwortungsvoller, zeitgemäßer Umgang mit biblischen Texten ist alles andere als einfach. Besonders bedeutsam wird dies bei den grundlegenden Fragen menschlichen Miteinanders: Mann und Frau, Kinder, Haus, Familie, Gemeinde. Nach einer Einführung in Fragen der Bibelübersetzung und der Geschichte des Bibelkanons werden Grundfragen zeitgemäßen Bibelverständnisses und zeitgemäßer Bibelauslegung beleuchtet. A. Francke Verlag • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen • info@francke.de • www.francke.de Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 71 - 2. Korrektur ZNT 34 (17. Jg. 2014) 71 Buchreport Rudolf Englert, Helga Kohler-Spiegel u.a.(Hgg.) »Glück und Lebenskunst« Jahrbuch der Religionspädagogik 29 Neukirchen-Vluyn 2013 ISBN: 978-3-7887-2734-5 Preis: 26,99 € Welche Rolle spielen neutestamentliche Texte in einem religionspädagogischen Jahrbuch zum Thema »Glück und Lebenskunst«? Um es gleich zu sagen: Quantitativ keine große. Eine ganze Reihe von Beiträgen kommt ohne biblische Bezüge aus. Der systematischtheologische Beitrag von Michael Roth konzentriert sich bei der biblischen Fundierung ganz auf das Alte Testament. Hat das Neue Testament also nicht viel beizutragen? Insbesondere der Neutestamentler Peter Müller und der Praktische Theologe Michael Meyer- Blanck sehen das anders. Unter dem Titel »Viel Glück und viel Segen« fragt Peter Müller nach dem »Reden von Glück in der Bibel« (40- 50). Sein Befund ist zunächst ernüchternd: »Weder im hebräischen Alten noch im griechischen Neuen Testament gibt es ein zusammenfassendes Wort für Glück.« (41) Inhaltlich spiele aber das gute, erfüllte Leben durchaus in vielen Texten eine wichtige Rolle. Von ihm könne biblisch allerdings nur »in Verbindung mit Gott gesprochen werden« (41). Aus neutestamentlicher Sicht sind dabei die Seligpreisungen zentral (Mt 5,3-12; Lk 6,20-26). Müller verhandelt sie unter der Überschrift »Die Paradoxie des Glücks«. Die Paradoxie bestehe darin, dass Jesus gerade diejenigen selig preist, »die nichts zu lachen haben«: die Armen, die Hungernden, die Weinenden (47). Diese Paradoxie sieht Müller bereits in der alttestamentlichen Überlieferung angelegt (z. B. Ps 73). Sie erwächst aus der grundlegenden Einsicht, dass es zumindest einigen Gottlosen im Hier und Jetzt besser zu gehen scheint als den Frommen. Angesichts dieser Paradoxie vereinigen die Seligpreisungen eine weisheitliche und eine eschatologische Traditionslinie. Der weisheitliche Gedanke besteht darin, dass die Frommen trotz widriger Umstände auf Gott vertrauen (vgl. Ps 2,12). Der eschatologische Gedanke richtet den Blick vom elenden Hier und Jetzt auf ein herrliches Ende aus (äthHen 103,5). Müller betont aber, dass die Seligpreisungen über diese beiden Gedanken hinausgehen. Denn Jesus »holt das ihnen [den Elenden] zugesagte Heil in den Umgang mit ihnen hinein und wendet sich ihnen konkret zu« (48). Es geht also nicht um eine Vertröstung auf später, sondern um ein Hineinholen des herrlichen Endes in die Gegenwart. Von hier aus schlägt Müller einen Bogen zur Offenbarung des Johannes, die ihren Leserinnen und Lesern nach zahlreichen Katastrophenbildern Bilder von Glück und Heil im himmlischen Jerusalem vor Augen stellt. Gott wird alle Tränen abwischen (Offb 21,4). Auch hier betont Müller die Funktion der Heilsbilder für die Gegenwart: »Sie vertrösten nicht, sondern richten den Blick über die Leiden der Gegenwart hinaus. […] Glück ist so verstanden Geborgenheit und aktives Leben auf das zugesagte Heil hin.« (49) Unter der Überschrift »Glück, in Geschichten eingewickelt«, verweist Müller auf eine Reihe von neutestamentlichen Texten, die auf den ersten Blick nicht an Glück denken lassen und dennoch-- narrativ-- von Glück handeln: Da ist der »Schalksknecht« (Mt 18,23-35), dem unverhofft eine riesige Schuld erlassen wird. Müller fragt: »Kann er sein Glück fassen? « Er fasst es zu fest und verliert es dadurch- - weil er nichts davon an seinen Mitknecht abgeben möchte. Bartimäus stellt Müller als jemanden vor, der Glück in der Begegnung mit Jesus erfährt. Der Blinde ergreift die Chance, die sich ihm bietet, als Jesus vorbei kommt- - und er gewinnt eine Perspektive für sein Leben. Der »verlorene Sohn« wird vom Vater festlich empfangen und wird zum glücklichen Sohn. Müller resümiert: »In diesen und ähnlichen Erzählungen kommt zwar das Glück nicht als Begriff vor, aber es wird als Erfahrung greifbar, als Einladung hörbar, und es ist gleichsam eingewickelt in Erfahrungen, nicht auf den Begriff gebracht, sondern erzählt. Vielleicht ist das die angemessenste Weise, vom Glück zu sprechen.« (50) Michael Meyer-Blanck fragt aus der Perspektive der Praktischen Theologie nach dem Zusammenhang von Lebenskunst und christlicher Tradition (131-139). Im Anschluss an Schleiermacher beschreibt Meyer-Blanck Künste als menschliche Tätigkeiten, »für die es zwar Regeln gibt, bei denen aber die Regeln als solche noch nicht die Anwendung enthalten« (131). Bei der Lebenskunst gehe es dann darum, Freiheit und Kontingenz »miteinander ins Spiel und in ein optimales Verhältnis zu bringen« (133). Damit ist die Matrix benannt, vor der Meyer-Blanck »Lebenskunst in der Bibel« deutet. Joh 9,3 widerspricht demnach einer weisheitlichen Tendenz, scheinbar »auch die Zufälle des Lebens mit weisheitlichen Regeln in den Griff zu bekommen« (137). Die Behinderung des Blindgeborenen lässt sich nicht nach einer (weisheitlichen) Regel erklären. Die irrige Meinung, alle Ereignisse kausal auf eine Wirkursache zurückführen zu können, führt ins Unglück. Lebensglück lässt sich nicht erzwingen- - wie das Gleichnis vom reichen Kornbauern zeige (Lk 12,16-21). »Der Mensch ist dem Leben unterworfen. Der Versuch, sich die Welt mittels Regeln zu unterwerfen, endet darum im Verlust von Freiheit und Kontingenz gleichermaßen.« (138) Die Seligpreisungen zeigen, dass der Mensch dem Leben in Armut, Hunger und Leid unterworfen ist (Mt 5,3-12). Aber die Bergpredigt weist auch Handlungsspielräume auf: beim Zeitschrift für Neues Testament_34 typoscript [AK] - 07.10.2014 - Seite 72 - 2. Korrektur 72 ZNT 34 (17. Jg. 2014) Buchreport Rechtsstreit (Mt 5,25 f.), beim Umgang mit Feindschaft (Mt 5,38-48) und bei der Sorge (Mt 6,25-32). Die (Berg-) Predigt Jesu-- so Meyer-Blanck-- »lässt Handlungsalternativen wie Deutungen offen und wahrt den Bezug auf das Leben in seiner Ambivalenz, Kontingenz und Freiheit« (138). Von diesem Ansatz aus bezeichnet Meyer-Blanck die neutestamentliche Debatte darum, ob die Predigt Jesu stärker weisheitlich oder stärker eschatologisch geprägt gewesen sei, als irreführend (139). Denn: »Eine und dieselbe Schöpferkraft und Liebe ist sowohl in dem Gott des kommenden Reiches wie schon in den von ihm geschaffenen Lebensordnungen wirksam.« (139) Unter der Rubrik »Ausblick« fragt Bernd Schröder: »Glück + Lebenskunst = Segen? « (197-210). Er stellt fest, dass Theologie und Religionsdidaktik in der aktuellen Debatte um »Glück« auf »eines ihrer Anliegen in fremder Gestalt« treffen (204). »Einerseits stoßen sie auf blinde Flecken ihrer eigenen Tradition-- auf Versäumtes, unzureichend Betontes, kontroverse Anliegen--, andererseits können und müssen sie eigene einschlägige theologische Figuren mit Gewinn einspeisen« (204). Als Beispiele nennt Schröder den Segen, den er biblisch v. a. im Alten Testament verankert (aber auch 1Petr 3,8-22: Aufforderung zum Segnen nach Empfang des Segens): »Wer sein Leben im Licht der biblischen Segenserzählungen interpretiert, wird Glück als bestimmtes Geschenk deuten können und als etwas, das man nur behalten kann, indem man es weitergibt.« (206). Als weiteres Beispiel verweist Schröder auf die (biblische) »Reich- Gottes-Hoffnung«. Sie zeichnet Freude, Seligkeit und Rettung in eine eschatologische Spannung ein-- entweder mit Metaphern der Zeit (schon jetzt-- noch nicht), oder in Metaphern des Raums (hier/ Erde-- dort/ Himmel), oder auch in Metaphern der Personalität (inwendig- - sozial). Biblische Tradition wird zu einer bestimmten Deutungschiffre für Glück. Denn: »Die Figuren aus der Tradition ändern nichts an dem, was für Einzelne ›Glück‹ ist oder was sie dafür halten, sie bieten indes eine Perspektive zur Deutung dieses Glücksempfindens an, die insbesondere für jene lebensgestaltend fruchtbar werden kann, die ihr Leben im Licht des Evangeliums zu sehen versuchen.« (205) Das heißt: Glück »geht« tatsächlich auch ohne das Neue Testament. Neutestamentliche Erzählungen können aber angesichts von Erfahrungen des Glücks neue Deutungsperspektiven auffächern. (rez. von Hanna Roose) A. Francke Verlag • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen • info@francke.de • www.francke.de Wichard v. Heyden Doketismus und Inkarnation Die Entstehung zweier gegensätzlicher Modelle von Christologie Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter, Vol. 58 2014, XIV, 567 Seiten, €[D] 88,00 / Sfr 112,00, ISBN 978-3-7720-8524-6 Doketismus und Inkarnation als diametral entgegengesetzte Positionen der frühen Christologie werden erstmals in ihrem Zusammenhang und von ihren Entstehungsmöglichkeiten her erklärt und analysiert. Der Erste Johannesbrief, der lange als Kronzeuge für doketistische Christologie galt, hat im Gegensatz zu den späteren Ignatiusschriften zwar mit Doketismus noch nichts zu tun, liefert aber Hinweise auf die Entstehung der Inkarnationschristologie, die wiederum Voraussetzung für spätere doketistische und gnostische Auffassungen ist. Für beide Positionen spielt die Orientierung an Engeln, frühjüdischer Mystik und Tempelkult eine herausragende Rolle. Die Entstehung der Christologie, das Zentrum christlicher Theologie, wird mit dieser Arbeit in neuer Weise erschlossen.
