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ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
61
2015
1835 Dronsch Strecker Vogel
Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 22.04.2015 - Seite 1 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 1 Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, das aktuelle Heft der ZNT widmet sich einem Thema, das nicht in Verdacht steht, ein Modethema zu sein. In der deutschsprachigen Forschungslandschaft harrt die Ritualtheorie als Zugang zu Texten des Neuen Testaments und des frühen Christentums erst noch ihrer Entdeckung. Gründe hierfür nennen die informativen forschungsgeschichtlichen Passagen in den einzelnen Beiträgen dieses Heftes zur Genüge, vor allem aber zeigen sie beispielhaft auf, dass ritualtheoretische Ansätze zu neuen Einsichten verhelfen und Texte als Niederschlag konkreter soziokultureller Lebenszusammenhänge neu zum Sprechen bringen können. Gleich im ersten Beitrag unter der Rubrik »NT aktuell« bietet Christian Strecker nicht nur einen innerwie außerneutestamentlich bewanderten und methodologisch reflektierten Forschungsüberblick, sondern auch kundige Vermessungen des neutestamentlichen Terrains ritualtheoretisch relevanter Texte, und er eröffnet Perspektiven auf künftige Forschungsfragen. Die Rubrik »Zum Thema« wird mit einem Beitrag von Hal Taussig eröffnet. Taussig, der seit vielen Jahren zu frühchristlichen Mählern im Kontext der griechischrömischen Mahlkultur forscht, entwickelt eine neue Sicht auf die Einsetzungsworte der synoptisch-paulinischen Abendmahlstradition. Taussig ergänzt die gewohnten Deutungen auf dem Hintergrund von Sühnetod und Gottesbund, indem er auf die soziokulturellen Rahmenbedingungen von Vereinsbildungen im Kontext des römischen Imperiums aufmerksam macht und auf die ritualwissenschaftlich erschließbare Bedeutung von Vereinsmählern hinweist, die unter vielfach als krisenhaft erlebten reichsrömischen Bedingungen neue Gemeinschaftsformen ermöglichten. Taussig gelingt es außerdem, die synoptisch-paulinischen Mahlworte zur Vielfalt der übrigen frühchristlichen Mahlterminologie ins Verhältnis zu setzen. Richard E. DeMaris befasst sich mit der Frage nach dem soziologischen Profil der johanneischen Gemeinschaft im Spiegel des vierten Evangeliums. Auf dem breiten Hintergrund griechisch-römischer Mahlkonventionen stellt er Überlegungen vornehmlich zur Speisung der Fünftausend (Joh 6) und zur Fußwaschung (Joh 13) an und kommt zu dem Ergebnis, dass die weithin übliche Auffassung von der johanneischen Gemeinschaft als einer isolierten Gruppe, die in der Eigenwelt einer esoterischen Sondersprache lebte, aus ritualtheoretischer Sicht nicht bestätigt werden kann. Peter Wick wendet sich in seinem Beitrag dem Markusevangelium zu. Er analysiert die rituelle Welt, in der sich Jesus innerhalb der Narration des Markusevangeliums bewegt hat, und positioniert den markinischen Jesus innerhalb dieser Welt als Charismatiker. Auf dieser Grundlage stellt er Überlegungen zur Stellung der markinischen Gemeinschaft in ihrem jüdischen Lebenszusammenhang an und versteht sie als charismatische Bewegung, die zu den Riten und Institutionen ihrer Umgebung auf Distanz ging, ohne sie grundsätzlich infrage zu stellen oder ihnen gar eigene Riten und Institutionen entgegen zu stellen. Die von Kristina Dronsch eingeleitete Kontroverse zwischen Jan Heilmann und Udo Schnelle diskutiert die Frage, ob die Brotrede des Johannesevangeliums in ihrer Schlusspassage einen Bezug auf das Abendmahl erkennen lässt. Hierbei geht es nicht nur um eine mögliche rituelle Verfasstheit der johanneischen Gemeinschaft, sondern auch um Grundentscheidungen des Textverständnisses: Zielt die Zuspitzung der Brotrede auf das »Essen von Jesu Fleisch« und das »Trinken von Jesu Blut« auf eine aus der synoptisch-paulinischen Tradition bekannte Mahlpraxis und -deutung, oder stellt der Ritualbezug ein Ausscheren aus dem Text dar, das den Verstehensprozess stört? Anni Hentschel wendet sich unter der Rubrik »Hermeneutik und Vermittlung« der Fußwaschungserzählung in Joh 13 zu. Sie zeigt anhand der viel beachteten Fußwaschung durch Papst Franziskus am Gründonnerstag des vergangenen Jahres, ergänzt durch instruktive kirchengeschichtliche Schlaglichter, dass dieses Ritual seine zeitübergreifende Wirksamkeit gerade seiner Vieldeutigkeit bzw. Deutungsoffenheit verdankt. Zwar votiert Hentschel für ein symbolisches Verständnis der Fußwaschungserzählung »auf den zweiten Blick«, sie zeigt aber zugleich, dass die Ritualisierung der Erzählung bis heute zur Aktualisierung ihres symbolischen Gehalts beiträgt. Der Buchreport von Elena Belenkaja befasst sich mit einer Studie, die die ritualtheoretisch interessante Verschränkung von Raum (himmlisches Heiligtum) und Zeit (Sabbat) im Hebräerbrief zum Thema hat. Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 22.04.2015 - Seite 2 - 2. Korrektur 2 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Editorial Schließlich: In diesem Heft sind wieder Personalia zu vermelden. Thomas Schmeller hat nach acht Jahren seine Mitarbeit bei der ZNT zugunsten anderer Projekte, die ihn stärker als bisher beanspruchen, beendet. Wir danken ihm für alle geleistete Arbeit und lassen ihn nur ungern ziehen. Umso mehr freut es uns, Tobias Nicklas als neues Mitglied im erweiterten Kreis der Herausgeberinnen und Herausgeber der ZNT begrüßen zu dürfen. Wir sagen ihm ein herzliches Willkommen, ebenso Marion Hauck, die in der Nachfolge von Sebastian Kropp in die geschäftsführende Redaktionsarbeit der ZNT eingetreten ist. Stefan Alkier Eckart Reinmuth Manuel Vogel Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 3 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 3 »Mit jeder Religion, gehöre sie der alten oder der neuen Zeit an, finden wir einerseits bestimmte Glaubensvorstellungen, andererseits bestimmte rituelle Institutionen, Bräuche und Lebensregeln verknüpft. Unsern modernen Anschauungen entspricht es, die Religion mehr nach der Seite ihres Glaubensinhaltes [belief] als nach der des Brauches [practice] zu betrachten. […] Aber die antike Religion war zum grössten Teil nicht ein Glauben; sie bestand hauptsächlich aus Institutionen und Bräuchen. […] Von der höchsten Wichtigkeit ist es, sich von Anfang an klar zu vergegenwärtigen, dass Ritus und praktischer Brauch [ritual and practical usage] den Gesamtinhalt [the sum-total] der alten Religionen ausmachten.« 1 Es ist der schottische Gelehrte William Robertson Smith, der diese Sätze in seinen berühmten, 1894 in zweiter Auflage publizierten »Lectures on the Religion of the Semites« formulierte. Der zunächst als Professor für Hebräisch und Altes Testament in Aberdeen und dann-- nach einem Konflikt mit der Kirche-- als Professor für Arabisch in Cambridge lehrende Robertson Smith sollte mit seinen bahnbrechenden »Lectures« zu einem der bedeutendsten Gründerväter der sozialanthropologischen Forschung und der vergleichenden Religionswissenschaft werden. 2 Neben vielen anderen wegweisenden Einsichten, war insbesondere seine konsequent durchgehaltene These revolutionär, der Kern antiker Religionen liege im rituellen Handeln und nicht in bestimmten Glaubensvorstellungen. Er behauptete dementsprechend, dass in den alten Religionen »beinahe in jedem Fall der Mythus aus dem Ritus hergeleitet ist und nicht der Ritus im Mythus wurzelt« 3 . Diese innovative Fokussierung auf das Ritual als Kern antiker Religiosität, die bald darauf von den sog. Cambridge Ritualists um Jane Ellen Harrison aufgegriffen, vertieft und auf andere Felder der Altertumsforschung-- etwa die Entstehung des Theaters-- übertragen wurde, 4 hinderte Robertson Smith aber nicht daran, für die moderne Religiosität ausdrücklich am Primat des Glaubens gegenüber dem Ritual festzuhalten, ein Umstand, der sich wohl nicht zuletzt aus der Ritualskepsis seiner protestantischen Herkunft erklärt. 5 Einer im Wesentlichen vergleichbaren Konstellation begegnet man nur wenig später in Deutschland in den Forschungen der sogenannten Religionsgeschichtlichen Schule. 6 Deren Vertreter gingen durchweg davon aus, dass die Basis der theologischen Aussagen im Neuen Testament im Kultus, d. h. im Gottesdienst, also letztlich im rituellen Handeln lag. Dementsprechend fokussierten sie ihre Forschungen über das frühe Christentum ganz auf die kultische Verehrung Christi, wie sie sich namentlich im gottesdienstlichen und zumal im sakramentalen Vollzug manifestierte. Die im Neuen Testament vielfach bezeugten Geistwirkungen deuteten sie vor diesem Hintergrund als reale Erlebnisse im Kontext des Kultes. Aber auch hier wurde die resolute Fokussierung auf die rituelle Welt von jener skeptischen Haltung gegenüber Ritualen konterkariert, die schon bei Robertson Smith begegnete: Als protestantische Theologen waren sich die Religionsgeschichtler nämlich »in der Relativierung der Bedeutsamkeit des Kultischen und der Rituale für die eigene Theologie und Frömmigkeit einig« 7 . Die exegetisch detailliert eruierte Priorität des Kultus im frühen Christentum verwarfen sie genauerhin aus der dogmatischen Erwägung heraus, dass sich Heil nicht an historisch-kontingenten Kultvollzügen festmachen lasse. Stattdessen beriefen sie sich, dem Erbe der liberalen Theologie folgend, ganz auf die vermeintlich persönlich-ethische Religion Jesu, wie sie sie den synoptischen Evangelien entnahmen. Diese bei Robertson Smith und den Religionsgeschichtlern gleichermaßen begegnende theologische Ambivalenz gegenüber Ritualen schlug in der Folgezeit rundweg in Desinteresse bzw. in Missfallen an Ritualen um. Die Einsicht in die hohe historische Relevanz von Ritualen in der antiken Religiosität und im frühen Christentum ging in der Exegese weithin verloren. Bis heute erfährt die gezielte Erforschung der rituellen Dimension der frühchristlichen Lebenswelt in der neutestamentlichen Forschung nur begrenzt Beachtung. Dies ist umso erstaunlicher, als die Ritualforschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und mehr noch Christian Strecker Anstöße der Ritualforschung Das Ritual als Forschungsfeld der neutestamentlichen Exegese Neues Testament aktuell »Bis heute erfährt die gezielte Erforschung der rituellen Dimension der frühchristlichen Lebenswelt in der neutestamentlichen Forschung nur begrenzt Beachtung. Dies ist umso erstaunlicher, als die Ritualforschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und mehr noch in den beiden letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte machte.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 4 - 2. Korrektur 4 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Neues Testament aktuell geprägten Terminus auf antike Texte bzw. antikes Handeln impliziert. Weder im antiken Griechisch noch im Hebräischen begegnet ein terminologisches Pendant. 8 Allerdings geht der Ritualbegriff, vermittelt über das Adjektiv ritualis (= den ritus betreffend), auf die alte lateinische Vokabel ritus (= Gebrauch Sitte, Gewohnheit, Art) zurück, 9 die in der antiken römischen Welt eine nach alter, rechter Weise bzw. mit Erfolg durchgeführte Handlung bezeichnete. Dieser ursprüngliche lateinische Sprachgebrauch überschneidet sich jedoch offenkundig nur bedingt bzw. nur in Teilsaspekten mit jenem modernen Konzeptbegriff »Ritual«, der in seiner Abstraktheit ein ausgesprochen weites, nur schwer eingrenzbares Feld disparater Handlungen und Handlungstypen bezeichnet. 10 Im Englischen taucht der Begriff des »Rituals« seit dem 17., im Deutschen seit dem 18. Jahrhundert auf, und zwar zunächst jeweils als Bezeichnung für die in Buchform fixierte liturgische Ordnung der römisch-katholischen Kirche (Rituale Romanum) bzw. allgemein für die Durchführungsordnung festgelegter religiöser Zeremonien. 11 Als besonderer wissenschaftlicher Konzeptbegriff etablierte sich der Terminus »Ritual« erst um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Die einschlägigen Einträge der Encyclopaedia Britannica führen diesen terminologischen Umbruch deutlich vor Augen: Darin wird der Ritualbegriff von der ersten Auflage im Jahr 1771 bis zur siebten Auflage im Jahr 1852 durchweg als Bezeichnung für ein Buch bzw. Skript religiöser Praktiken geführt. In den folgenden drei Auflagen begegnet bezeichnenderweise weder ein Eintrag zu »ritual« noch zu »rite«. In der elften Auflage aus dem Jahr 1910 erscheint dann allerdings ein umfänglicher neuer Artikel, den der bedeutende britische Religionswissenschaftler und Ethnologe Robert Ranulph Marett verfasste. Der Begriff markiert hier nun nicht mehr primär ein Buch, sondern ein spezifisches religiöses-- nicht länger zwingend christliches-- Handeln und darüber hinaus jedes nicht strikt religiöse Agieren, welches etwas Bestimmtes zu symbolisieren oder auszudrücken vermag und darin das individuelle Bewusstsein und die soziale Organisation tangiert. 12 Über die Gründe dieses einschneidenden, sich offenkundig zwischen 1852 und 1910 in England vollziehenden und dann schnell in anderen Ländern verbreitenden Begriffswandels 13 ist viel spekuliert worden. Vermutlich erklärt sich der Wandel aus dem in jener Zeit massiv aufkommenden wissenschaftlichen Interesse an fremdartig, zumal auch bizarr und irrational anmutenden Praktiken nichtchristlicher Völker und Religionen, die sich mit den herkömmlichen, meist christlich geprägin den beiden letzten Jahrzehnten enorme Fortschritte machte. Die Untersuchung ritueller Motive im Neuen Testament und der rituellen Welt des frühen Christentums kann heute auf einem viel höheren Niveau erfolgen als dies noch zu Zeiten von Robertson Smith und der Religionsgeschichtlichen Schule möglich war. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden den »Anstößen« der Ritualforschung für die neutestamentliche Exegese nachgegangen werden. Der Begriff des »Anstoßes« ist dabei bewusst in seiner ganzen Mehrdeutigkeit gewählt. In den Blick genommen werden sollen sowohl die Herausforderungen der Ritualforschung für die neutestamentliche Forschung samt den theologischen Vorbehalten bzw. Befangenheiten (»Anstoß« im Sinn von Provokation) wie auch die Impulskraft der ritual studies für die neutestamentliche Forschung (»Anstoß« im Sinne von Impetus, Anregung). Zudem sollen die Anfänge und Neuanfänge (»Anstoß« im Sinn von Spielbeginn) der Ritualforschung im Allgemeinen und der neutestamentlichen Ritualforschung im Speziellen dargelegt werden. 1. Entdeckung und Abwertung des Rituals Zunächst gilt es unumwunden einzuräumen, dass die Verwendung des Ritualsbegriffs in der neutestamentlichen Exegese die Übertragung eines in der Neuzeit Prof. Dr. Christian Strecker studierte Evangelische Theologie in Neuendettelsau, Hamburg, Heidelberg und Tübingen. 1996 Promotion. 2003 Habilitation. Vertretungsprofessuren in Heidelberg (2005-2006), München (2006/ 07), Mainz (2007) und Neuendettelsau (2004; 2009). Seit 2010 Professor für Neues Testament an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. Forschungsschwerpunkte: Paulusforschung, Jesusforschung, Kulturwissenschaftliche Exegese des Neuen Testaments, Ritual- und Performanzforschung, Philosophische Perspektiven. Prof. Dr. Christian Strecker Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 5 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 5 Christian Strecker Anstöße der Ritualforschung ten oder konnotierten Begriffen nicht in der gewünscht neutralen und distanzierten bzw. distanzierenden Form beschreiben ließen, weshalb sich in der Wissenschaftssprache neben der Einführung indigener Begriffe wie taboo, totem und mana nun eben auch das Fremdwort »Ritual« als allgemeiner religionswissenschaftlicher und ethnologischer Fachbegriff einbürgerte. 14 Intensive Reflexionen über die Bedeutung und Wirksamkeit von Ritualen sind freilich älter als die Einführung des besagten Konzeptbegriffs. Von zentraler Bedeutung war diesbezüglich die Reformation. Mit den protestantischen Angriffen auf das katholische Sakramentsverständnis und den innerreformatorischen Abendmahlsstreitigkeiten rückten Rituale und ihre Effektivität in den Fokus eines hochkomplexen intellektuellen Diskurses. Nicht zu Unrecht beschreibt der britische Kulturhistoriker Peter Burke die Reformation als eine-- neben anderen wichtigen Aspekten-- große Debatte über die Bedeutung, die Funktionen und angemessenen Formen des Rituals, die in ihrem Umfang und ihrer Intensität ohne Parallele sei. 15 Weitere wichtige Impulse erhielt der Ritualdiskurs aber auch durch das Interesse der deutschen Romantik an volkstümlichen Bräuchen. Zu nennen ist hier insbesondere die einflussreiche Studie des Volkskundlers Wilhelm Mannhardt über die Wald- und Feldkulte. 16 All diese Aufmerksamkeit für rituelle Praktiken änderte freilich-- von wenigen Ausnahmen abgesehen-- nichts an der bis in die jüngere Zeit hinein allenthalben verbreiteten grundsätzlichen Reserve gegenüber rituellen Praktiken. So stellte die bekannte Kulturanthropologin Mary Douglas in ihrer 1970 erschienenen Untersuchung »Natural Symbols« einen allgemein verbreiteten Abscheu und Widerwillen gegen das Ritual fest und betonte: »›Ritual‹ ist ein anstößiges Wort geworden, ein Ausdruck für leeren Konformismus.« Und weiter: »Viele Soziologen verwenden […] den Ausdruck ›Ritualist‹ für jemanden, der gewisse äußerliche Gesten vollzieht, ohne sich den in ihnen zum Ausdruck kommenden Idealen und Werten innerlich verbunden zu fühlen.« 17 Noch 1991 zeichnete Rainer Wiedenmann in seiner Dissertation »Ritual und Statustransformation« für den Bereich der sog. »Mainstream-Soziologie« folgendes Bild: »Rituelle Praktiken gelten häufig als anachronistisch, als Überbleibsel oder Atavismus eines für das westliche Modell ›moderner‹, ›säkularisierter‹ Gesellschaften untypischen Verhaltens, wenigstens aber als Krisensymptom der Moderne.« 18 Die Ursachen für diese bis heute verbreiteten Vorbehalte gegenüber Ritualen sind vielfältig. In einem lehrreichen Beitrag zum Thema führt der Alttestamentler Frank Gorman Jr. die zumal auch in der Bibelauslegung greifbare Reserve gegenüber Ritualen auf drei, teilweise sich überschneidende abendländische Diskurse zurück: den reformatorischen Diskurs über Theologie, den aufklärerisch-rationalen Diskurs über Religion und den historisch-kritischen Methodendiskurs. 19 Die Abwertung des Rituals im protestantischen Diskurs über Theologie macht Gorman dabei im Näheren an folgenden drei Punkten fest: (1) an der reformatorischen Unterscheidung zwischen Werk und Glauben im Sinne einer qualitativen Differenzierung zwischen bloß äußerlichem Handeln (Ritual) und der wesenhafteren innerlichen Glaubenserfahrung, (2) an der christozentrischen Auslegung biblischer Texte, namentlich des Alten Testaments, die das Gesetz Israels mitsamt seinen rituellen Inhalten zu einer vorläufigen bzw. beendeten Instanz erklärte, und (3) überhaupt an antijudaistischen und antikatholischen Tendenzen, die es mit sich brachten, dass die hohe Bedeutung des Gesetzes und der Sakramente durch Schlagwörter wie »Werkgerechtigkeit« oder »Sakramentalismus« diskreditiert wurde. Dem rationalen Diskurses über Religion entnimmt Gorman ebenfalls drei antiritualistische Komponenten: (1) Im Rahmen des aufklärerischen Projektes einer universal gültigen rationalen Religion habe man das Ritual, zumal das Opferritual, als ein überholtes irrationales Relikt der »Primitiven« verpönt. (2) Die Reduktion von Religion auf Ethik sei mit einer Ablehnung des Rituals als ethisch irrelevantes und der menschlichen Autonomie hinderliches Unterfangen einhergegangen. (3) Die konsequente Ausrichtung der Religion auf Rationalität habe zu einer einseitigen Aufwertung der kognitiven Aspekte von Religiosität zuungunsten der religiösen Dimension ritueller Körpererfahrungen geführt. Was die historisch-kritische Bibelforschung anbelangt, macht Gorman schließlich (1) in der einseitigen Konzentration auf eine rationale, objektive und neutrale Auslegung der Texte, (2) in der konsequenten Fokussierung der Forschung auf die Wortebene und (3) in der im Gefolge des deutschen Idealismus etablierten Suche nach der »wahren Bedeutung« der Texte »hinter« bzw. »über« diesen eine verfehlte Ausblendung der rituellen Hintergründe und Dimensionen der biblischen Schriften aus. »Die Ursachen für die[se] bis heute verbreiteten Vorbehalte gegenüber Ritualen sind vielfältig.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 6 - 2. Korrektur 6 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Neues Testament aktuell 2. Konturen der Ritualforschung und der jüngste Neuaufbruch Die massiven Vorbehalte gegenüber dem Ritual wurden erst im Kontext des dynamischen Aufbruchs der kulturanthropologischen Ritualforschung in den 1960er und 1970er Jahren einschneidend infrage gestellt. 20 Damals entstanden richtungsweisende Ritualtheorien--- u. a. von Mary Douglas, Victor Turner und Clifford Geertz--, die die verbreitete Assoziierung rituellen Handelns mit solch pejorativen Stichworten wie Primitivität, Irrationalität, Formalismus, Konformismus aufkündigten und die Abqualifizierung der rituellen Welt als eine gegenüber der Welt des Diskursiven minderwertige Form des menschlichen Ausdrucks und der Kommunikation aufgaben. Gleichwohl blieb außerhalb des kulturanthropologischen Fachdiskurses die Reserve gegenüber Ritualen vielfach weiter bestehen. Erst mit dem im Zuge des sog. cultural turn ab den 1990er Jahren neu einsetzenden Aufschwung der Ritualforschung scheint sich der lange und breit verwurzelte Antiritualismus allmählich zu verflüchtigen. Bevor die jüngsten Fortentwicklungen gesichtet werden, ist ein knapper Überblick über die Ritualforschung angezeigt, um deren Bedeutung und enorme Produktivität zu erfassen und um eine zumindest grobe Orientierung in dem verzweigten Forschungsfeld zu gewinnen. Über den gesamten Zeitraum der Ritualwissenschaft seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gesehen, lassen sich vier basale Forschungsparadigmen unterscheiden, 21 die sich sukzessive herausbildeten, ohne dabei einander abzulösen. In diversen Ausformungen und Überschneidungen bestimmen sie die Ritualforschung bis heute. 22 (1) Das erste Forschungsparadigma ist durch die Leitfrage nach dem historischen Ursprung und Wesen des Rituals geprägt. Von Beginn an stand die Ritualforschung im Zeichen einer intensiv geführten, essentialistisch ausgerichteten Debatte darüber, ob Religion primär dem Mythos oder dem Ritual entsprang. Während Robertson Smith und die Cambridge School of Myth und Ritual, wie eingangs dargelegt, auf den Primat des Rituals pochten, räumten religionsphänomenologisch orientierte Forscher wie etwa Mircea Eliade eher dem Mythos Priorität ein. Auch Sigmund Freuds psychoanalytische Vorstellungen über den totemistischen Kult und René Girards vieldiskutierte mimetische Theorie, die das Ritual mit der Ausübung von Gewalt assoziiert, folgen dem an essentialistischen Ursprungs- und Wesensfragen orientierten Paradigma. (2) Das zweite Forschungsparadigma ist auf die gesellschaftliche Funktion von Ritualen ausgerichtet. Rituellen Praktiken werden hier u. a. folgende Aufgaben zugeschrieben: Formierung und Erhaltung sozialer Bindungen bzw. die Errichtung von Gemeinschaft (Émile Durkheim), Sozialisierung von Individuen qua ritueller Übernahme gemeinsamer Werte und Wissensbestände (Erik Erikson), Regulierung sozialer Konflikte (Max Gluckman) sowie Erneuerung und Transformation sozialer Statuspositionen und gesellschaftlicher Strukturen (Arnold van Gennep). (3) Im dritten Paradigma steht die kulturelle Bedeutung und Performanz von Ritualen im Fokus. Primärer Untersuchungsgegenstand ist das jeweils kulturell geprägte symbolische und bedeutungsbzw. wirklichkeitsgenerierende Handeln in Ritualen. Dieses ist von der sozialen Einbettung ritueller Praktiken nicht gänzlich zu lösen, weswegen das dritte Paradigma eng auf das zweite bezogen bleibt. Das dritte Paradigma vereint äußerst differente Forschungsansätze. Dazu zählen u. a. Claude Lévi- Strauss’ strukturalistische These, die Produktion kultureller Phänomene wie Kunst, Mythos und Ritual würde durch verborgene Regelsysteme geleitet, die einer Grammatik glichen und letztlich im menschlichen Geist ankerten. Zu nennen ist weiter Milton Singers Einbindung ritueller Vollzüge in das Konzept öffentlicher Darbietungen, sog. kultureller Performanzen (cultural performances), in denen sich das Selbstverständnis einer Kultur in besonderer Weise verdichtet und anschaulich wird, ferner Victor Turners Deutung des Rituals als ein in soziale Dramen eingebettetes dreiphasiges symbolisches Prozessgeschehen, das in seiner mittleren Schwellenphase einen Raum der kreativ-spielerischen Umgestaltung und Modifikation tragender Elemente der jeweiligen kulturellen Matrix öffnet und darin zum Motor der Transformation existierender sozialer Strukturen werden kann, Clifford Geertz’ Theorie, wonach im Ritual vorgestellte und gelebte Welt, Weltauffassung und Ethos verschmelzen, Catherine Bells an Pierre Bourdieus Praxistheorie orientiertes dynamisches Konzept der Ritualisierung von Handlungen und ihre auf Michel Foucault rekurrierende Analyse der darin eingelassenen Machtkonstellationen sowie die mit unterschiedlichen Akzenten von Fritz Staal und Caroline Humphrey/ James Laidlaw ausgearbeitete These der generellen Bedeutungslosigkeit von Ritualen, die rituelles »Erst mit dem im Zuge des sog. cultural turn ab den 1990er Jahren neu einsetzenden Aufschwung der Ritualforschung scheint sich der lange und breit verwurzelte Antiritualismus allmählich zu verflüchtigen.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 7 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 7 Christian Strecker Anstöße der Ritualforschung Agieren als rein regelgeleitete Aktivität, d. h. als eine Art Syntax ohne Semantik, bestimmt, welche ihre Bedeutung allererst sekundär durch den Kontext gewinnt. (4) Schließlich sind die im Rahmen der sog. kognitiven Religionswissenschaft entwickelten neurobiologischen bzw. kognitionspsychologischen Erklärungen zu nennen, die rituelles Verhalten biologistisch auf kognitive Universalien zurückführen. Hierzu zählen die ritual form hypothesis von Thomas Lawson und Robert McCauley sowie die ritual frequency hypothesis von Harvey Whitehouse. 23 Insofern diese Erklärungen bewusst als Gegenmodelle zu den sozial- und kulturwissenschaftlichen Ritualtheorien konzipiert sind, mag man in ihnen ein eigenes naturalistisches Forschungsparadigma erblicken, dem sich dann evtl. auch die älteren naturalistischen Ritualtheorien der Verhaltensforschung zuordnen lassen. Dieser alles andere als vollständige Überblick mag vielleicht die komplexe Vielfalt der älteren und jüngeren Ritualforschung hinlänglich verdeutlicht haben. Wie auch immer, wichtig ist: Ab den 1990er Jahren und mehr noch ab dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts erfuhr die Ritualforschung nochmals einen weiteren Schub. In dieser Zeit etablierte sich nicht nur das bereits 1987 gegründete Journal of Ritual Studies, es erschienen nun auch diverse ritualwissenschaftliche Einführungs- und Überblickswerke. 24 Im Jahr 2005 wurde dann in Nimwegen der weltweit erste Lehrstuhl für ritual studies eingerichtet. Besetzt wurde er mit dem amerikanischen Ritualforscher und Mitbegründer der Oxford Ritual Studies Series Ronald Grimes. Maßgeblich vorangetrieben wurde und wird die Ritualforschung schließlich seit der Jahrhundertwende namentlich in Deutschland, insbesondere in Form zweier wissenschaftlicher Großprojekte: So spielten in dem an der Freien Universität Berlin angesiedelten und von 1999 bis 2010 aktiven DFG-Sonderforschungsbereich »Kulturen des Performativen« rituelle Praktiken eine wichtige Rolle. 25 Bedeutsamer aber noch war und ist die im Jahr 2002 erfolgte Etablierung des ebenfalls von der DFG geförderten und bis heute aktiven Sonderforschungsbereichs 619 »Ritualdynamik. Soziokulturelle Prozesse in historischer und kulturvergleichender Perspektive«. Wie die Verantwortlichen betonen, handelt es sich dabei um den weltweit größten Forschungsverbund, der sich ausschließlich mit dem Thema »Rituale«, deren Veränderungen und ihrer Dynamik befasst. 26 Höhepunkt der bisherigen Arbeit war die internationale Konferenz »Ritualdynamik und Ritualwissenschaft« in Heidelberg, an der im Herbst 2008 über 600 Ritualforscher und -forscherinnen teilnahmen. 27 Im Rahmen dieses nunmehr über ein Jahrzehnt währenden Forschungsprojekts entstanden darüber hinaus zahlreiche wichtige Publikationen. 28 Die professionelle Erforschung von Ritualen ist insofern heute- - v. a. auch in den deutschen Sozial- und Kulturwissenschaften-- kein Randthema mehr. Inzwischen steht weithin außer Frage, dass Rituale das menschliche Leben auf vielen Ebenen maßgeblich prägen und strukturieren, und zwar so, dass sie dem menschlichen Miteinander einerseits Bindekraft verleihen und es andererseits über der Erschließung neuer Erfahrungen und Handlungsspielräume für Veränderungen öffnen. Christoph Wulf und Jörg Zirfass bündelten diese Einsicht vor einiger Zeit in dem zunächst lapidar klingenden Satz, »dass Rituale und Ritualisierungen in allen Bereichen menschlichen Lebens eine wichtige Rolle spielen«, um dann fortzufahren: »Für die Entstehung und Praxis von Religion, Gesellschaft und Gemeinschaft, Politik und Wirtschaft, Kunst und Kultur, Erziehung und Bildung sind sie [Rituale und Ritualisierungen] unerlässlich. Mit ihrer Hilfe werden die Welt und die menschlichen Verhältnisse geordnet und interpretiert; in ihnen werden sie erlebt und konstruiert. Rituelle Handlungen erzeugen einen Zusammenhang zwischen Geschichte, Gegenwart und Zukunft; sie ermöglichen Kontinuität und Veränderung, Struktur und Gemeinschaft sowie Erfahrungen von Transition und Transzendenz.« 29 Wer Einblicke in die Konstitution und Konstruktionen von Gesellschaft und sozialer Gemeinschaft, in die Emergenz und Ausformung von Kultur und Religion, in die Prozesse der Subjektwerdung und Habitualisierung von Lebensformen gewinnen will, kommt insofern an einer Erforschung ritueller Praktiken kaum vorbei. Ist es vor diesem Hintergrund nicht geboten, den Reichtum der Ritualwissenschaft verstärkt auch in der neutestamentlichen Forschung fruchtbar werden zu lassen? »Die professionelle Erforschung von Ritualen ist [...] heute - v. a. auch in den deutschen Sozial- und Kulturwissenschaften - kein Randthema mehr.« »Wer Einblicke in die Konstitution und Konstruktionen von Gesellschaft und sozialer Gemeinschaft, in die Emergenz und Ausformung von Kultur und Religion, in die Prozesse der Subjektwerdung und Habitualisierung von Lebensformen gewinnen will, kommt [...] an einer Erforschung ritueller Praktiken kaum vorbei.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 8 - 2. Korrektur 8 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Neues Testament aktuell 3. Die rituelle Welt des Neuen Testaments Gegen die Heranziehung von Ritualtheorien in der historischen Forschung im Allgemeinen und in der biblischen Exegese im Speziellen wurden immer wieder zwei Argumente angeführt: (1) Antike Rituale lassen sich naturgemäß nicht mehr beobachten. Ihr konkreter Vollzug und ihre Bedeutung müssen aus den Quellentexten allererst sekundär erschlossen werden. Jonathan Z. Smith mahnte vor diesem Hintergrund bereits in den 1980er Jahren, das fragliche biblische Material sei allzu lückenhaft, um Einsichten der Ritualforschung sinnvoll anwenden zu können. Es ließe sich heute kein einziges in der Bibel erwähntes Ritual allein auf der Basis dessen durchführen, was überliefert sei. Die Bibel biete mithin nur bruchstückhafte Darbietungen dessen, was damals tatsächlich praktiziert wurde. 30 Zu diesem Problem gesellt sich die Schwierigkeit, dass die biblischen Ritualbeschreibungen meist im Dienst bestimmter Interessen stehen und insofern verfälscht oder auch gänzlich fiktiv sein können. (2) Mit dem Begriff des »Rituals« wird überdies-- wie oben bereits dargelegt-- ein moderner Konzeptbegriff an die historischen Texte und die darin beschriebenen Praktiken angelegt. Über die Ritualtheorien würden daher, so die Kritik, implizit moderne Vorstellungen in die antiken Texte eingetragen und darin die historischen Sachverhalte entstellt. Beide Kritikpunkte, nämlich die Bruchstückhaftigkeit der bibischen Ritualdarstellungen samt ihres unüberprüfbaren Realitätsgehaltes und die Gefahr anachronistischer Verzerrungen durch die Heranziehung moderner Ritualtheorien machte im Jahr 2001 der Mediävist Philippe Buc in dem Buch »The Dangers of Ritual« nachdrücklich geltend, um die Relevanz der ritual studies für die historische Forschung grundsätzlich zu diskreditieren. 31 Die Polemik Bucs stieß freilich ihrerseits auf Kritik. 32 Und in der Tat stehen die genannten Einwände keineswegs zwingend einer Verwertung ritualtheoretischer Erkenntnisse in der historischen bzw. biblischen Forschung entgegen: (1) Jede Beschreibung von Ritualen, auch die aktuell beobachtbarer ritueller Praktiken, ist notgedrungen fragmentarisch. Die Forderung nach einer alle möglichen Perspektiven ausleuchtenden und dabei völlig interesselosen Ritualschilderung ist nicht zuletzt angesichts der hohen symbolischen Komplexität ritueller Handlungen grundsätzlich verfehlt. Im Übrigen lassen sich bisweilen die in einem konkreten Ritualportrait übergangenen Elemente aus vorhandenen Angaben, dem Kontext oder auch Parallelen zumindest partiell erschließen. 33 Schwerer aber noch wiegt, dass der Berücksichtigung ritualwissenschaftlicher Erkenntnisse ja gerade dazu verhilft, fragmentarische und interessegeleitete Ritualportraits in wissenschaftlich verantwortlicher Weise neu auszuleuchten, und zwar keineswegs nur im Hinblick auf das faktische Geschehen und seine Bedeutung, sondern auch im Hinblick auf literarische Ritualtopoi und die Wirkabsicht der Quellen. (2) Die Anwendung moderner Konzeptbegriffe lässt sich weder in der historischen noch in der biblischen Forschung rundweg vermeiden. Jeder historischen bzw. historischbiblischen Betrachtung liegt in der einen oder anderen Weise unweigerlich ein von außen an die Quellen herangetragener theoretischer Rahmen zugrunde, der die alten Quellen unserem Denken öffnet. Nur so ist ein Brückenschlag über die Zeiten hinweg möglich. Selbstverständlich hat die Verwendung moderner Theorien und Konzeptbegriffe reflektiert zu geschehen. 34 Mit welchem Ritualbegriff soll man nun aber das neutestamentliche Material sichten und deuten? Eine allgemein akzeptierte Ritualdefinition liegt in der Ritualforschung nicht vor, vielmehr begegnet man dort angesichts des komplexen Reichtums ritueller Praktiken einer kaum mehr überschaubaren Vielfalt verschiedenster Bestimmungen. Vor diesem Hintergrund zeichnet sich in der jüngeren Ritualwissenschaft der Trend ab, auf klassische Definitionen, die die Phänomenfülle unsachgemäß einengen, zu verzichten und stattdessen qualitative Charakteristika zu sammeln, die eine bestimmte Handlung »mehr oder weniger« als Ritual ausweisen. Es liegen inzwischen diverse Listen ritueller Handlungsqualitäten vor. Sie können hier allerdings nicht genauer diskutiert werden. 35 Wenn man nun in dieser Weise ein weit gespanntes Netz möglicher Charakteristika an die neutestamentlichen Texte anlegt, stellt sich freilich die weitere Frage, wie man die solcherweise freigelegte Fülle rituellen Handelns und ritueller Topoi ordnen und kategorisieren soll. Möglich wäre es, sich an Catherine Bells Unterscheidung sechs basaler Typen ritueller Aktivität zu orientieren, nämlich: Passageriten, Kalendarische Riten, Tausch- und Kommunikationsriten, Riten zur Überwindung der Gefährdung oder Störung einer Ordnung (Heilungsrituale, Konfliktrituale etc.), Feste und Fasten »Eine allgemein akzeptierte Ritualdefinition liegt in der Ritualforschung nicht vor, vielmehr begegnet man dort angesichts des komplexen Reichtums ritueller Praktiken einer kaum mehr überschaubaren Vielfalt verschiedenster Bestimmungen.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 9 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 9 Christian Strecker Anstöße der Ritualforschung sowie politische Rituale. 36 James R. Davila präsentierte vor einigen Jahren eine an diesem Schema orientierte Sichtung ritueller Motive in den jüdischen Pseudepigraphien. 37 Bells Kategorisierung orientiert sich allerdings überwiegend an ethnographischen Beobachtungen bestimmter Rituale, weniger an der textlichen Verarbeitung derselben. Zieht man dagegen das Spektrum möglicher Verflechtungen von Texten und Ritualen als Unterscheidungskriterium heran, lassen sich grundsätzlich sechs Formen der textlichen Verarbeitung ritueller Handlungen, Elemente und Strukturen im Neuen Testament ausmachen, die im Folgenden jenseits aller exegetischen Detaildebatten und Reflexionen auf mögliche historische Hintergründe anhand einiger weniger Beispiele grob vor Augen geführt werden sollen. (1) Texte, die zur Ausführung eines Rituals anweisen. Zu nennen wären hier etwa die sog. Gedächtnisworte in 1Kor 11,24.25 und Lk 22,19, die die regelmäßige Feier des Abendmahls anordnen, ebenso der Taufbefehl Jesu in Mt 28,19f. und Mk 16,15f. (unechter Markusschluss) wie auch die Aufforderungen zur Taufe in der Apostelgeschichte (Apg 2,38; 10,48). Weiterhin wäre an das in Joh 13,12-15 im Rahmen der Fußwaschung formulierte mandatum Jesu zu denken, seinem Exempel zu folgen, das neben einer ethischen Bedeutung evtl. auf eine entsprechende rituelle Praxis in der johanneischen Gemeinde zielt. Aber auch die in 1Kor 5,4 f.13 von Paulus geforderte Exkommunikation eines Unzüchtigen im Rahmen einer Gemeindeversammlung ließe sich unter dieser Rubrik einordnen. (2) Texte, die den Vollzug einer rituellen Handlung konstatieren oder genauer schildern. Zahlreiche Stellen mit mannigfaltigen Ritualformen oder Ritualelementen kommen bei dieser Kategorie in Betracht. So finden sich im Neuen Testament mehrfach Taufberichte, angefangen von der Taufe Jesu durch Johannes (Mk 1,9-11 par.), die freilich in mancherlei Hinsicht einen Sonderfall darstellt, bis zu den Taufschilderungen und kurzen Taufnotizen in der Apostelgeschichte (Apg 2,41; 8,12; 8,36-39; 9,18; 16,15.33; 18,8). Weiterhin sind unter dieser Überschrift die Berichte über die Einsetzung des Abendmahls durch Jesus anzuführen (Mt 26,26-29; Mk 14,22-25; Lk 22,15-20; 1Kor 11,23-26), die als Ätiologien des nachösterlichen Herrenmahls fungierten. Auch die in der synoptischen Tradition verankerten Mahlgemeinschaften Jesu mit sozial Ausgegrenzten (Mk 2,15-17; Lk 15,2; 19,1-10), Zuhörern (Mk 6,35-44; 8,1-10) oder Pharisäern (Lk 7,36-50; 11,37-54; 14,1- 24) besitzen nicht zuletzt vor dem Hintergrund der antiken Mahltraditionen rituellen Charakter. Die bereits oben erwähnte rituelle Fußwaschung wird in Joh 13,4 ff. bekanntlich ebenfalls im Kontext eines Mahls entfaltet. Zudem weisen die Heilungen Jesu und der Jünger rituelle Züge auf. Dazu zählen Handauflegungen (Mk 1,41; 5,23; 6,5, 7,32; 8,23.25; Lk 4,40), Speichelgebrauch (Mk 7,33; 8,23; Joh 9,6), Ölungen (Mk 6,13; vgl. Jak 5,14), verbale Formeln (Mk 5,41; 7,34) sowie Beten und Fasten (Mk 9,29). Formale Amtseinsetzungen begegnen in Apg 1,15-26; 6,1-6; 13,1-3; 14,23, wobei erneut die Handauflegung eine zentrale Rolle spielt (s. auch 1Tim 4,14; 2Tim 1,6). Darüber hinaus erscheint im Neuen Testament häufig die Praxis des Betens (Jesus: Mk 1,35; 14,35-42; Mt 11,25 f. u. ö.; Gemeinde: Apg 1,14; 2,42; 4,23-31 u. ö.). Auch vom Fasten wird wiederholt berichtet (Lk 2,37; Apg 13,2 f.; 14,23). Relativ selten ist dagegen von konkreten Opfervollzügen die Rede (Lk 1,8-11; 2,22-24; vgl. Mk 1,44; Mt 5,23). Nicht unerwähnt soll schließlich bleiben, dass sich die Berichte über die Passion Jesu in den Evangelien als Darstellungen eines umfassenden Statuserniedrigungsrituals erhellen lassen. (3) Texte, die sich mit der Bedeutung, Funktion oder rechten Durchführung rituellen Handelns auseinandersetzen. Auch in dieser Hinsicht sind die Belege breit gestreut. In 1Kor 14 diskutiert der Apostel Paulus ausführlich die Bedeutung ritueller Elemente im Gottesdienst. Dies gilt v. a. für die Glossolalie. Bereits die vorausgehenden Kapitel des ersten Korintherbriefes sind durch die Auseinandersetzung mit rituellen Fragestellungen bestimmt: 1Kor 8 und 10,14 ff. kreisen um das Problem des rechten Umgangs mit Götzenopferfleisch und heidnischen Kulten; 1Kor 11 erörtert das strittige Verhalten der korinthischen Frauen im Gottesdienst (11,2-16) sowie die angemessene Form der Feier des Herrenmahls (11,17-34). Mehrfach hebt Paulus in seinen Briefen die Bedeutung der Taufe hervor (Röm 6,1-14; 1Kor 6,11; 12,13; Gal 3,26-28). Das Beschneidungsritual negiert er mit Blick auf nichtjüdische Christusgläubige (Gal 2,1- 10; 5,1-12; 6,12-15; Röm 2,25-29; 4,9-12; 1Kor 7,18f.; Phil 3,3ff.). Auch die Jesustradition ist durch Auseinandersetzungen über die Bedeutung ritueller Vorschriften und Handlungen geprägt. Hierzu zählen etwa die Streitigkeiten im Zusammenhang mit dem Sabbatgebot (Mk 2,23-28; 3,1-6; Mt 12,11f.; Lk 13,10-17; 14,1-6; Joh 5; 7,22f.; 9), die Diskussion um Reinheitsvorschriften (Mk 7,1-23; Mt 23,25f.; Lk 11,37ff.) oder die Frage nach dem rechten Fasten (Mk 2,18-22; Mt 6,16-18). Hinzu kommen Texte, die das Opfern relativieren oder kritisieren (Mk 12,33; Mt 5,23 f.; 9,13; 12,7; s. auch Mk 11,15-19; 14,58 und Hebr). (4) Texte, die direkt rituellem Gebrauch entstammen. Dazu zählen die vielen unterschiedlichen traditionel- Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 10 - 2. Korrektur 10 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Neues Testament aktuell »Rituale begegnen im Neuen Testament keineswegs als marginale, rein äußerliche Phänomene. Rituelle Akte, Elemente, Muster und Strukturen prägen vielmehr große Teile der in den neutestamentlichen Schriften enthaltenen Erzählungen, Auseinandersetzungen und Argumentationen.« len Formeln (z. B. Röm 10,9; 1Kor 8,6), Gebete (z. B. Mt 6,9-13) und Hymnen (z. B. Phil 2,6-11; Kol 1,15- 20). Die Identifizierung und Gattungsbestimmung dieses breit gestreuten Formelgutes ist freilich Gegenstand zahlreicher Kontroversen. Es ist oft nicht leicht zu bestimmen, ob und in welchem konkreten rituellen Kontext (Gemeindeversammlung, Taufe, Abendmahl) traditionelles Gut ursprünglich Verwendung fand. (5) Texte, die eine unmittelbare rituelle Funktion besitzen. In diesem Zusammenhang ist etwa an die Grüße in der ntl. Briefliteratur zu denken, die den rituellen Akt der Begrüßung qua Schrift direkt transportierten. Ähnliches gilt für Doxologien bei der förmlichen Beendigung eines Briefes (Röm 16,27; Phil 4,20; 2Tim 4,18; Hebr 13,21), eines Lobpreises (Röm 11,36; Eph 3,21), eines Briefpräskipts (Gal 1,5) bzw. eines Textabschnittes (1Tim 1,17) oder auch für Eulogien, die als Schlussformeln am Ende eines Satzes (Röm 1,25; 9,5) oder am Anfang einer längeren Preisung bzw. einem Proömium (2Kor 1,3; Eph 1,3; 1Petr 1,3) begegnen. 38 Zu nennen ist hier auch die Aufforderung zum rituellen Kuss in der Gemeindeversammlung (1Thess 5,26; 1Kor 16,20; 2Kor 13,12; Röm 16,16), der die Maxime der christlichen Agape gleichsam physisch umsetzt (1Petr 5,14: »Kuss der Liebe«). In diesem Zusammenhang gilt es ferner zu sehen, dass die Briefe in der Gemeindeversammlung verlesen wurden (vgl. 1Thess 5,27; Kol 4,16; Apg 15,30 und Offb 1,3). Unter dem Label »Performanzkritik« (performative criticism) wird in diesem Zusammenhang die These diskutiert, die Texte seien nicht nur lapidar vorgetragen, sondern geradezu rituell »aufgeführt« worden. John Paul Heil meint gar, die Briefe enthielten im Kern auf die Verlesung im Gottesdienst hin verfasste rituelle Sprechakte. Er spricht diesbezüglich von »epistulary rituals of worship« 39 . Die These ist freilich umstritten. 40 (6) Texte, die synekdochisch mit einem Ritual vernetzt sind. Oftmals begegnen im Neuen Testament Texte, die auf ein bestimmtes Ritual anspielen oder in denen sich die Struktur eines Rituals spiegelt. Relativ klar zielen in diesem Sinn Joh 3,3-8 und 6,51c-58 auf die Taufe bzw. das Abendmahl. Erwogen wurde dies auch für Joh 2,1- 10 und 13,1-30, obwohl die These hier weitaus schwieriger zu belegen ist. Deutlicher fungieren hingegen die Speisungsgeschichten der Evangelien als Vorschattung des Abendmahls, und auch bestimmte Ostererzählungen reflektieren erkennbar dieses Ritual (Joh 21,13; Lk 24,30 f.). Äußerst umstritten ist indes, wo und inwiefern im Neuen Testament Opfer-, Eliminations- oder auch andere Todesrituale zur Deutung des Todes Jesu herangezogen werden. 41 Debattiert wird darüber hinaus, inwieweit ganze neutestamentliche Schriften in ihrem Aufbau durch Rituale oder rituelle Strukturen geformt sind. Nach Ansicht einiger älterer Exegeten spiegelt sich etwa im 1Petr möglicherweise eine Taufliturgie wider, auch wenn das Stichwort »Taufe« nur einmal, nämlich in 3,21 genannt ist. 42 Auf einer etwas abstrakteren Ebene bewegen sich Versuche, bestimmte Evangelien durch die typische Drei-Phasen-Struktur von Passageriten (Separation, Liminalität, Wiedereingliederung) geprägt zu sehen oder die Grundzüge der paulinischen Theologie vermittels ritologischer Einsichten zu erhellen. 43 Trotz seines stark fragmentarischen Charakters mag dieser knappe Überblick vielleicht einen hinlänglichen Eindruck über die Variationsbreite vermitteln, in der das Neue Testament Rituale thematisiert bzw. zum Inhalt hat. Auf unterschiedlichsten Ebenen sind rituelle Praktiken, rituelle Erfahrungen, rituelle Konflikte und rituelle Reflexivität in die Texte eingewebt. Rituale begegnen im Neuen Testament keineswegs als marginale, rein äußerliche Phänomene. Rituelle Akte, Elemente, Muster und Strukturen prägen vielmehr große Teile der in den neutestamentlichen Schriften enthaltenen Erzählungen, Auseinandersetzungen und Argumentationen. Darin öffnet sich ein weites Forschungsfeld für die Anwendung ritualwissenschaftlicher Einsichten. Dies gilt umso mehr, als mit der Publikation des mehrbändigen Thesaurus Cultus et Rituum Antiquorum 44 inzwischen ein beeindruckend umfängliches Werk über die antike Welt der Rituale bei Griechen, Etruskern und Römern vorliegt, dass mindest zu einem Teil die Suche nach antiken rituellen Hintergründen und Parallelen erleichtert. 4. Anfänge der neutestamentlichen Ritualforschung und weitere Impulse Es ist das Verdienst von Wayne Meeks, erstmals kenntnisreich die Ritualforschung für die neutestamentliche Exegese erschlossen zu haben. In seiner 1983 erschienenen Monographie »The First Urban Christians«, einer Untersuchung der sozialen Welt der paulinischen Ge- Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 11 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 11 Christian Strecker Anstöße der Ritualforschung meinden, widmete er dem Thema »Ritual« einen eigenen Abschnitt und rekurrierte darin namentlich auf die Ritual- und Gesellschaftstheorie Victor Turners, um u. a. die Bedeutung der Taufe als Initiationsritual zu ergründen und die Frage nach den sozialen Grenzen der paulinischen Gemeinden abzuklären. 45 Nur wenig später bediente sich Norman Petersen in seiner zu Unrecht wenig rezipierten Auslegung des Philemonbriefes und der paulinischen Theologie ausführlich Turners ritualtheoretisch fundierter Rede von Struktur und Anti-Struktur. 46 1990 durchleuchtete Jerome Neyrey die paulinischen Briefe mit Hilfe Turners Unterscheidung zwischen »Ritualen«, die Individuen, Gruppen oder Gesellschaften verändern, und »Zeremonien«, die die herkömmliche Ordnung stabilisieren. 47 Hierzulande erschloss der Autor dieses Beitrags die Ritualforschung im Allgemeinen sowie Victor Turners ritualtheoretische Konzepte der »Liminalität« und »Communitas« im Speziellen für die Deutung der auf Transformation und Partizipation hin angelegten Theologie des Paulus und darüber hinaus für das Verständnis der Taufe und des Abendmahls im Neuen Testament. 48 In seiner viel beachteten Studie über die »Religion der ersten Christen« widmete auch Gerd Theißen dem Thema »Ritual« ein eigenes Kapitel. 49 Unter dem Titel »Bridging the Gap« legte dann Gerald Klingbeil im Jahr 2007 eine ganz dem Thema Ritual gewidmete Studie vor. 50 Allerdings konzentriert sich das Buch trotz des Untertitels »Ritual and Ritual Texts in the Bible« de facto überwiegend auf das Alte Testament. Klingbeil entfaltet darin nach einer generellen Einführung in die ritual studies ein eigenes, an den Grundlagen der linguistischen Theorie orientiertes Ritualkonzept, um es an diversen biblischen Texten zu verifizieren. Ein Jahr später untersuchte Richard DeMaris in seiner Studie »The New Testament and Its Ritual World« exemplarisch die Bedeutung diverser »boundary-crossing rites« (Rituale des Gruppenein- und -ausschlusses), nämlich der Taufe, des Ausschlussrituals in 1Kor 5,1-5 und der rituellen Prägung der markinischen Passionsgeschichte, und zwar jeweils unter Rekurs auf kulturanthropologische Ritualtheorien und unter Bezug auf Zeugnisse der antiken griechisch-römischen Welt der Rituale. Die innovative Untersuchung gab und gibt in ihrer interdisziplinären Ausrichtung wichtige Anstöße zur Entwicklung einer neutestamentlichen Ritologie. 51 Anzumerken ist weiter, dass etliche skandinavische Exegeten in jüngster Zeit die kognitionswissenschaftlichen Ritualtheorien von Lawson/ McCauley und Whitehouse in der neutestamentlichen Forschung zu verankern suchen, 52 und zwar mit dem Anspruch, die vermeintlich allein auf »Intuitionen« beruhende klassische hermeneutische neutestamentliche Forschung mit dieser »wissenschaftlichen« Analyse zu überwinden. Angesichts der verbreiteten Kritik an der vermeintlichen Objektivität »strenger Wissenschaften« samt den darin eingelassenen Herrschaftsformen 53 überrascht dieser Anspruch allerdings. Schließlich soll nicht unerwähnt bleiben, dass inzwischen auch erste Überblicks- und Grundsatzartikel zur neutestamentlichen Ritualforschung erschienen sind. 54 Ungeachtet all dieser Aufbrüche harren viele Konzepte, Theorien und Themen der Ritualforschung noch einer intensiveren Rezeption in der neutestamentlichen Exegese. Das Spektrum möglicher Impulse ist groß. Eine nachhaltige Rezeption erfuhr bislang nur das Konzept der »Liminalität«, das die bei rituellen Transformationsprozessen in der Übergangsphase (»Schwellenphase«) auftretenden und über das Ritual hinaus wirkenden Erfahrungen der Ambiguität, der Außerkraftsetzung etablierter sozialer Strukturen und der damit einhergehenden Emergenz nichtalltäglicher egalitärer Sozialbeziehungen (»Communitas«), der kreativen Inversionen tragender Elemente der Kultur und der Erfahrungen von Transzendenz bezeichnet. 55 Wichtige Impulse können aber auch die ritologischen Konzepte der rituellen »Performanz«, der agency, des embodiment oder des »Habitus« geben. 56 Unter dem Stichwort der »Performanz« wird in jüngerer Zeit die Verlagerung des Fokus der Ritualforschung von den klassischen Leitfragen nach der »Bedeutung« und »sozial-kohäsiven Kraft« von Ritualen auf Fragen der »Aufführung« und »Transformationskraft« von Ritualen diskutiert. Rituale kommen hier nicht mehr nur als symbolisches, sondern zumal auch als wirklichkeitsgenerierendes Handeln in den Blick. Mit dieser Wende werden vermehrt Fragen nach der Handlungs- und Wirkmacht (agency) in rituellen Akten virulent. Wer oder was ist eigentlich für die performative Kraft ri- »Das Verdienst der ritual studies liegt nicht zuletzt darin, die große Relevanz von Körpertechniken und -praktiken für das Verständnis menschlicher Lebenswelten neu ins Bewusstsein gerufen und im wissenschaftlichen Diskurs fest verankert zu haben.« »Ungeachtet all dieser Aufbrüche harren viele Konzepte, Theorien und Themen der Ritualforschung noch einer intensiveren Rezeption in der neutestamentlichen Exegese.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 12 - 2. Korrektur 12 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Neues Testament aktuell tueller Handlungen verantwortlich? Wer oder was führt die Wirksamkeit respektive den Erfolg ritueller Praktiken herbei? Welche Kräfte kommen den rituellen Subjekten und darüber hinaus möglicherweise den rituellen Objekten bzw. anderen Faktoren zu, und wie verhalten sich diese zueinander? Welche Rolle spielt dabei die für den Vollzug religiöser Rituale häufig konstitutive »Beteiligung« unsichtbarer Wesen (Götter, Geister, Ahnen etc.)? Als weiterer wichtiger Aspekt kommt hinzu, dass rituelles Handeln wesentlich körperliches Handeln ist. Das Verdienst der ritual studies liegt nicht zuletzt darin, die große Relevanz von Körpertechniken und -praktiken für das Verständnis menschlicher Lebenswelten neu ins Bewusstsein gerufen und im wissenschaftlichen Diskurs fest verankert zu haben. In diesem Zusammenhang verdient schließlich auch die Erkenntnis Beachtung, dass Verhaltens-, Denk- und Wahrnehmungsdispositionen, die Pierre Bourdieu unter dem Leitbegriff des »Habitus« zusammenfasste, über rituelle Prozesse in den Körper eingeschrieben werden. Der »Habitus« ankert mit anderen Worten im Körper, er artikuliert sich somatisch in der Art der Körperhaltung, des Gehens, des Redens, im Geschmack u. a. m. 57 Es bleibt abzuwarten, ob bzw. wie diese Impulse in der Exegese breiter aufgegriffen werden. Wie auch immer: Selbst wenn Rituale nicht »den Gesamtinhalt [the sum-total]« des frühen Christentums ausmachten, 58 wie dies Robertson Smith dereinst für die »alten Religionen« behauptete, so spielen rituelle Akte, Motive und Strukturen im Neuen Testament doch eine derart prominente Rolle, dass eine völlige Ignorierung der ritual studies der neutestamentlichen historisch-kritischen Exegese nur zu ihrem eigenen Nachteil gereichen würde. Anmerkungen 1 W. R. Smith, Die Religion der Semiten, Freiburg u. a. 1899, 12.14 (engl. Original: Lectures on the Religion of the Semites, London 1894 2 , 16.20). 2 Näheres bei B. Maier, William Robertson Smith. His Life, his Work and his Times (FAT 67), Tübingen 2009. 3 Smith, Religion, 13. 4 Näheres bei R. Ackerman, The Myth and Ritual School, New York 2002 2 ; W. M. Calder III (Hg.), The Cambridge Ritualists Reconsidered, Atlanta 1991. 5 So R. A. Segal, Transaction Introduction, in: W.R. Smith, The Religion of the Semites, New Brunswick 2002, vii- xlii: x. 6 Vgl. zum Folgenden die lehrreiche Studie von K. Lehmkühler, Kultus und Theologie (FSÖTh 76), Göttingen 1996. 7 G. Lüdemann, Das Wissenschaftsverständnis der Religionsgeschichtlichen Schule im Rahmen des Kulturprotestantismus, in: H.M. Müller (Hg.), Kulturprotestantismus, Gütersloh 1992, 78-107: 100. 8 Zur Suche nach möglichen Äquivalenten vgl. A. Chanoitis, »Greek«, in: J. Kreinath u. a. (Hg.), Theorizing Rituals I, Leiden/ Boston 2006, 69 f.; H.-M. Haußig, »Hebrew«, in: ebd., 71 f.; s. auch J. N. Bremmer, Götter, Mythen und Heiligtümer im antiken Griechenland, Darmstadt 1996, 43 f. 9 Die Vokabel wird etymologisch abgeleitet entweder aus dem Sanskritwort rta, das die gesetzmäßige, wahre »Ordnung« markiert, oder aus der indogermanischen Wurzel *rei, ri für »fließen« bzw. der gleichlautenden indogermanischen Wurzel für »zählen«; s. dazu B.M. Linke, Sicherheit im Ungewissen, in: ders. (Hg.), Rituale in den Religionen, Frankfurt a. M. 2007, 9-63: 21. 10 »Hinter dem lateinischen Vokabular verbirgt sich ein neuzeitliches Verständnis von rituellem Verhalten, das in seiner Abstraktionsfähigkeit weit über den antiken Ritusbegriff hinausgeht« (A. Henrichs, Dromena et Legomena, in: F. Graf (Hg.), Ansichten griechischer Rituale. FS W. Burkert, Stuttgart/ Leipzig 1998, 33-71: 37). 11 Vgl. dazu T. Asad, Genealogies of Religion, Baltimore 1993, 56; B. Boudewijnse, British Roots of the Concept of Ritual, in: A.L. Molendijk (Hg.), Religion in the Making, Leiden u. a. 1998, 277-295: 278; W. Pfeifer (Hg.), Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, München 2008 8 , 1132. 12 Vgl. Asad, Genealogies, 56-58; Boudewijnse, Roots, 278 f.; C. Bell, Ritual. Perspectives and Dimensions, New York/ Oxford 1997, 259. 13 Vgl. zur Verbreitung im Genaueren Boudewijnse, Roots, 283 f.287-292, die ebd. W. R. Smith und A. Lang als wichtige Impulsgeber des Wandels anführt. 14 Vgl. Boudewijnse, Roots, 286 f.292 (unter Rekurs auf F. Steiner, Taboo, London 1956); J.G. Platvoet, Ritual: Religious and Secular, in: J. Kreinath u. a. (Hg.), Theorizing Rituals I, Leiden/ Boston 2006, 161-205: 173-179. 15 Vgl. P. Burke, The Historical Anthropology of Early Modern Italy, Cambridge 1987, 226; s. dazu insgesamt ebd., 223-238.258-260; s. auch J.Z. Smith, To Take Place, Chicago 1987, 96-103. 16 W. Mannhardt, Wald- und Feldkulte, 2 Bde., Berlin 1875/ 1877; vgl. dazu J. N. Bremmer, ›Religion‹, ›Ritual‹ and the Opposition ›Sacred vs. Profane‹, in: F. Graf (Hg.), Ansichten griechischer Rituale. FS W. Burkert, Stuttgart/ Leipzig 1998, 9-32: 18. 22. 17 M. Douglas, Ritual, Tabu und Körpersymbolik, Frankfurt a. M. 1981, 11 f. 18 R.E. Wiedenmann, Ritual und Sinntransformation (Soziologische Schriften 57), Berlin 1991, 11 f.; s. zum Thema auch ebd., 69 ff. 19 Vgl. zum Folgenden F. H. Gorman Jr., Ritual Studies and Biblical Studies, in: Semeia 67 (1994), 13-42: 14-20. 20 Die zweite Hälfte der 1960er Jahre gilt vielen als »a watershed in the scholarly study of ritual« (J. Kreinath u. a., Ritual Studies, Ritual Theory, Theorizing Rituals, in: dies. [Hg.], Theorizing Rituals I, Leiden/ Boston 2008, Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 13 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 13 Christian Strecker Anstöße der Ritualforschung xiii-xxv: xvii); Näheres bei M. Stausberg, Introduction, in: J. Kreinath u. a. (Hg.), Theorizing Rituals II, Leiden/ Boston 2007, ix-xix: xiii; Bremmer, Religion, 23; s. auch B. Dücker, Rituale, Stuttgart/ Weimar 2007, 179-185. 21 Vgl. Bell, Ritual, 1-89. Anders konturierte Forschungsüberblicke bieten etwa A. Michaels, »Le rituel pour le rituel« oder wie sinnlos sind Rituale? , in: C. Caduff/ J. Pfaff-Czarnecka (Hg.), Rituale heute, Berlin 1999, 23-47: 24-26, der die Forschung in Funktionalismus, Konfessionalismus und Formalismus unterteilt, sowie H.G. Hödl, Ritual (Kult Opfer, Ritus, Zeremonie), in: J. Figl (Hg.), Handbuch Religionswissenschaft, Innsbruck u. a. 2003, 664-689: 667-677, der folgende drei Forschungsschwerpunkte nennt: Opfer und Gabe, regulative Funktionalität sowie Symbol, Intention und Bedeutung. 22 Genauere Angaben und Literaturbelege zum Folgenden bei Bell, Ritual, 3-89. 269-286. 23 Näheres dazu bei S. Schüler, Religion, Kognition, Evolution, Stuttgart 2012, 150-155. 24 Vgl. C. Bell, Ritual Theory, Ritual Practice, New York/ Oxford 1992; dies., Ritual (s. Anm. 12); R.L. Grimes, Beginnings in Ritual Studies, Columbia 1995 2 ; A. Belliger/ D.J. Krieger (Hg.), Ritualtheorien, Opladen/ Wiesbaden 1999; C. Caduff/ J. Pfaff-Czarnecka, Rituale heute, Berlin 1999; K.-P. Köpping/ U. Rao, Im Rausch des Rituals, Münster u. a. 2000; B. Dücker, Rituale (s. Anm. 20); J. Kreinath u. a. (Hg.) Theorizing Rituals I-II, 2 Bde., Leiden/ Boston 2006/ 2007; B. Stollberg-Rilinger, Rituale, Frankfurt a. M. 2013; Chr. Brosius u. a. (Hg.), Ritual und Ritualdynamik, Göttingen 2013. 25 Vgl. dazu E. Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt a. M. 2004; dies., Performativität. Eine Einführung, Bielefeld 2013 2 . 26 Vgl. dazu im Näheren die Angaben unter www.ritualdynamik.de. 27 Die Beiträge liegen inzwischen in fünf Tagungsbänden veröffentlicht vor; vgl. A. Michaels u. a. (Hg.), Ritual Dynamics and the Science of Ritual, Wiesbaden 2010/ 11. 28 Vgl. nur D. Harth/ G.J. Schenk (Hg.), Ritualdynamik, Heidelberg 2004; J. Karolewski u. a. (Hg.), Ritualdesign, Bielefeld 2012. 29 Chr. Wulf/ J. Zirfas, Performative Welten, in: dies. (Hg.), Die Kultur des Rituals, München 2004, 7-45: 7 f. 30 Vgl. J. Z. Smith, Discussion, in: R.G. Hamerton-Kelly (Hg.), Violent Origins, Stanford 1987, 210. 31 Vgl. Ph. Buc, The Dangers of Ritual, Princeton 2001. 32 Vgl. G. Koziol, The Dangers of Polemic, in: Early Medieval Europe 11 (2002), 367-388, s. auch V. Postel, Rez. zu Ph. Buc, The Dangers of Ritual, in: HZ 279 (2004), 147-150. 33 Vgl. J. Klawans, Purity, Sacrifice, and the Temple, Oxford 2006, 52. 34 Vgl. zu dieser Problematik Chr. Strecker, Die liminale Theologie des Paulus (FRLANT 185), Göttingen 1999, 26-34. 35 Vgl. dazu R.L. Grimes, Ritual Criticism, Columbia 1990, 9-15, bes. 14; J.M. Snock, Defining ›Rituals‹, in: J. Kreinath u. a. (Hg.), Theorizing Rituals I, Leiden/ Boston 2006, 3-14, bes. 11; s. zum Thema auch Bell, Ritual Theory, 69-93; Platvoet, Religious, 199-202. 36 Vgl. Bell, Ritual, 91-137; s. auch Hödl, Ritual, 680-687. 37 Vgl. J. R. Davila, Ritual in the Jewish Pseudepigraphia, in: J.L. Lawrence/ M.I. Aguilar (Hg.), Anthropology and Biblical Studies, Leiden 2004, 159-183. 38 Zur Verbreitung dieser »rituellen Sprache« in den Paulusbriefen und den Deuteropaulinen vgl. W. A. Meeks, Urchristentum und Stadtkultur, Gütersloh 1993, 198 f. Da diese rituelle Sprache häufig gottesdienstlichem Gebrauch entstammt, fließen hier die Kategorien (4) und (5) ineinander über. 39 Vgl. J. P. Heil, The Letters of Paul as Rituals of Worship, Eugene 2011. 40 Näheres zur Performanzforschung bei Chr. Strecker, Performanzforschung und Neues Testament, in: Interkulturelle Theologie 39 (2013), 357-376: 362-370. 41 Vgl. J. Frey/ J. Schröter, Deutungen des Todes Jesu (WUNT 181), Tübingen 2005. 42 Vgl. dazu D.E. Aune, Art. »Worship, Early Christianity«, in: ABD VI (1992), 973-989: 987. 43 M. McVann, Baptism, Miracles and Boundary Jumping in Mark, in: BTB 21 (1991), 151-157; K.C. Hanson, Transformed on the Mountain, in: Semeia 67 (1994), 147-170; Strecker, Liminale Theologie. 44 Thesaurus Cultus et Rituum Antiquorum (ThesCRA), 8 Bde. und Index, Los Angeles 2004-2014. 45 Vgl. Meeks, Urchristentum, 288-331 und bes. 188 f.320 f. 46 Vgl. N. R. Petersen, Rediscovering Paul, Philadelphia 1985, 151 ff. 47 J. H. Neyrey, Paul, in Other Words, Louisville 1990, 75- 101. 48 Vgl. Strecker, Liminale Theologie; s. auch ders., Auf den Tod getauft, in: JBTh 19 (2004), 259-295; ders., Macht-- Tod-- Leben-- Körper, in: G. Theißen/ P. v. Gemünden (Hg.), Erkennen und Erleben, Gütersloh 2007, 133-153; ders., Leben als liminale Existenz, in: EvTh 68 (2008), 460-472; ders., Taufrituale im frühen Christentum und der Alten Kirche, in: D. Hellholm u. a. (Hg.), Ablution, Initiation, and Baptism III (BZNW 176), Berlin/ New York 2011, 1383-1440; ders., Die frühchristliche Taufpraxis, in: W. Stegemann/ R.E. DeMaris (Hg.), Alte Texte in neuen Kontexten, Stuttgart 2015, 347-410. 49 Vgl. G. Theißen, Die Religion der ersten Christen, Gütersloh 2001 2 , 171-194. 50 Vgl. G. A. Klingbeil, Bridging the Gap, Winona Lake 2007. 51 Vgl. R. E. DeMaris, The New Testament in Its Ritual World, London/ New York 2008; s. auch ders., Die Taufe Jesu im Kontext der Ritualtheorie, in: W. Stegemann u. a. (Hg.), Jesus in neuen Kontexten, Stuttgart 2002, 43-52. 52 Vgl. R. Uro, Ritual and Christian Origins, in: D. Neufeld/ R.E. DeMaris (Hg.), Understanding the Social World of the New Testament, London/ New York 2010, 220-232: 227-231. 53 Vgl. nur K. Knorr-Cetina, Die Fabrikation von Erkenntnis, Frankfurt a. M. 2002 2 ; H. Taussig, Rez. zu P. Luomanen u. a. (Hg.), Explaining Christian Origins, in: Biblical Interpretation 18 (2010), 188-190. Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 14 - 2. Korrektur 14 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Neues Testament aktuell 54 Vgl. J.T. Lamoreaux, BTB Readers Guide: Ritual Studies, in: BTB 39 (2009), 153-165; L.I. Lawrence, Ritual and the First Urban Christians, in: T.D. Still/ D.G. Horrell, After the First Urban Christians, New York 2009, 99-115; J. Schwiebert, Evading Rituals in New Testament Studies, in: CSSR 10 (2004), 10-13. 55 Vgl. dazu die Lit. in den Anm. 45 f.48. 56 Vgl. zum Folgenden die genaueren Darlegungen und Anwendungen bei Strecker, Macht, 139 ff.; ders., Taufrituale, 1416-1430; ders., Taufpraxis, 378-402. 57 Diese explizit leibliche Dimension des »Habitus« benennt Bourdieu mit der entsprechenden griechischen Vokabel »Hexis«. In Form der »Hexis« stellt der »Habitus« die »Inkorporation« des Sozialen dar; vgl. zum Thema insgesamt P. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt a. M. 1979; ders., Sozialer Sinn, Frankfurt a. M. 1997 2 . 58 Es ist ein Proprium des Christentums, von den frühesten Anfängen an Glaube und Vertrauen in das Zentrum menschlicher Religiosität gerückt zu haben; vgl. Chr. Strecker, Fides-- Pistis-- Glaube, in: M. Bachmann (Hg.), Lutherische und Neue Paulusperspektive (WUNT 182), Tübingen 2005, 223-250. In Bezug auf Gerichtsvorstellungen ist die Endzeitrede der wohl wirkmächtigste biblische Text. Die interdisziplinär angelegte Arbeit untersucht diesen als Rede Jesu stilisierten Text aus narratologischer und intertextueller Perspektive. In einem zweiten Schritt wird die Rezeption ihrer Gerichtsvorstellungen in Liedern des Evangelischen Gesangbuchs untersucht: Wie werden sie in den Liedtexten gedeutet, welche Aspekte werden betont, welche werden ignoriert oder verfälscht? Dafür werden zunächst theologische und anthropologische Aspekte gottesdienstlichen Singens erörtert und das Gerichtsthema in das Kirchenjahr eingeordnet. Nach einem rubrikengeschichtlichen Überblick werden sieben Lieder ebenfalls aus narratologischer und intertextueller Perspektive analysiert. In diesen Analysen kommt auch die Veränderungsgeschichte der Lieder und ihre Wirkpotentiale im Gottesdienst und im Kirchenjahr in den Blick. Die Arbeit verbindet somit neutestamentliche, hymnologische und praktisch-theologische Perspektiven und ist für Wissenschaft und kirchliche Praxis gleichermaßen relevant. Anne Smets Das Endgericht in der Endzeitrede Mt 24-25 und im Evangelischen Gesangbuch MAINZER HYMNOLOGISCHE STUDIEN 27 2015, 4 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-7720-8570-3 NEUERSCHEINUNG Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen • Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de 5 1 Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 15 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 15 In diesem Beitrag soll es unter anderem um wichtige Entwicklungen auf zwei Forschungsfeldern während der letzten drei Jahrzehnte gehen, genauer gesagt um die Überschneidungen zwischen beiden Feldern. Es handelt sich erstens um die Ritualwissenschaft und zweitens um die Geschichte der Festmähler der Jesus-Christus- Bewegungen [Jesus/ Christ(ian) movements] während der ersten beiden Jahrhunderte 1 . Die auf beiden Feldern erzielten Fortschritte haben in ihrem Zusammenspiel unser Verständnis des kultischen und gottesdienstlichen Lebens der Jesus-Christus-Bewegungen des 1. und 2. Jh. wesentlich befördert. Der Ertrag dieser Forschungen besteht namentlich in einer historischen und literarischen Neubewertung der eucharistischen »Einsetzungsworte«. Deren ritualwissenschaftliche Analyse muss im Rahmen eines Aufsatzes notwendigerweise holzschnittartig bleiben. Ihr wesentlicher Ertrag für die Einsetzungsworte im Kontext der Abendmahlstexte ist aber auch auf begrenztem Raum darstellbar. Während der genannten drei Jahrzehnte wurden in Europa, Nordamerika und Australien auf dem Schnittfeld von Ritualwissenschaft und der Erforschung frühchristlicher Mähler wesentliche Fortschritte erzielt. Gemeinsames Forum waren während der letzten fünfzehn Jahre wesentlich die Seminare der Society of Biblical Literature (SBL) zum Thema Meals in the Greco-Roman World (2002-2015). Wichtige internationale Forschungsinitiativen verdanken sich außerdem den Sitzungen der SBL International meetings, 2 dem Forschungsschwerpunkt zu frühchristlichen Mählern an der Technischen Universität Dresden 3 , sowie den Seminaren zum selben Themenfeld an der Universität Basel 4 . Diese miteinander vernetzten Projekte haben vier Sammelbände 5 und mindestens fünf Monographien 6 hervorgebracht, in denen ritual studies und Forschungen zu frühchristlichen Mählern einander vielfältig bereichern und ergänzen und unser Verständnis der sozialen und kultischen Dimensionen der Jesus- Christus-Bewegungen und des (sonstigen) Judentums im 1. und 2. Jh. befördern. Auf zwei wichtige Studien noch aus der Zeit vor den miteinander vernetzten Forschungsinitiativen auf der SBL, in Dresden und Basel, die diesen Projekten den Weg gewiesen haben, sei eigens hingewiesen. Sie sind unabhängig voneinander auf zwei verschiedenen Kontinenten entstanden, sind aber zu ganz ähnlichen neuen Fragestellungen und Einsichten vorgedrungen. Matthias Klinghardts Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft: Soziologie und Liturgie frühchristlicher Mahlfeiern und Dennis Smiths From Symposium to Eucharist: The Banquet in the Early Christian World sind unter Anwendung neuer Begriffe und Typologien zu einer neuen Sicht auf die Entstehung und Entwicklung frühchristlicher Mähler gelangt. Beide Werke unterzogen die traditionellen Theorien über die Herkunft der frühchristlichen Mahlfeiern einer profunden Kritik 7 und setzten an die Stelle unterschiedlicher Mahltypen eine einzige archäologisch und literarisch breit bezeugte Grundform griechisch-römischer Festmähler, die im gesamten Mittelmeerraum verbreitet war. Dennis Smith beschreibt diese Mahlform wie folgt: »Förmliche Mahlzeiten in der Kultur des hellenistischrömischen Mittelmeerraumes in frühchristlicher Zeit folgten überall dem gleichen Muster. Ungeachtet vieler unterschiedlicher regionaler und gruppenspezifischer Ausprägungen einzelner Mahlsitten legen die Quellen eine einheitliche Mahlform mit einem überall in der antiken Welt geläufigen Verstehensrahmen nahe.« 8 Matthias Klinghardt unterstreicht diese Auffassung 9 und betont, dass diese neue Sicht etablierte Unterscheidungen der älteren Forschung (jüdisch/ hellenistisch, privat/ vereinsförmig) aufhebt: Es bestehe »grundsätzlich kein Unterschied zwischen hellenistisch-paganen und jüdischen Gemeinschaftsmählern […]« und es sei »nicht ratsam Privat- und Vereinsmahlzeiten getrennt zu behandeln« 10 . Ich selbst habe die von Klinghardt und Smith erarbeiteten Merkmale des griechisch-römischen Mahles wie folgt zusammengefasst: • Das »zu Tisch liegen« mehr oder weniger aller Mahlteilnehmer beim gemeinsamen Essen und Trinken in den Abendstunden, • die Mahlordnung »Abendessen« (deipnon) zur Sättigung, gefolgt von einer längeren Zeitspanne gemeinsamen Trinkens, verbunden mit Gesprächen und/ oder Darbietungen, • der gestaltete Übergang vom deipnon zum symposion mit einer zeremoniellen Libation, in den allermeisten Fällen mit Wein, • die Mahlleitung durch einen »Präsidenten« (Symposiarch), mit wechselnder Besetzung, die bisweilen Anlass zu Diskussionen gab, HalTaussig Was bei Tisch passiert: Ein ritualtheoretischer Blick auf die eucharistischen »Einsetzungsworte« Zum Thema Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 16 - 2. Korrektur 16 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Zum Thema hundertfünfzig bis zweihundert Jahre 16 weitestgehend auf der Partizipation der Jesus-Christus-Bewegungen an der beschriebenen griechisch-römischen Mahlpraxis fußte. Überzeugend formuliert Andrew McGowan: »[D]ie Eucharistie gleicht nicht einem Festmahl. Sie ist ein Festmahl« 17 . Ein stärker formalisiertes Ritual, das sich auf die symbolische Teilhabe an Brot und Wein beschränkte, hat es mindestens während der ersten hundertfünfundzwanzig Jahre nicht gegeben. Stattdessen ist von einer noch viel länger andauernden frühchristlichen Praxis auszugehen, die sich an der Form ausgedehnter Festmähler orientierte. Der vorliegende Beitrag wird sich mit den Konsequenzen dieses Befundes für die sogenannten »Einsetzungsworte« und die spätere eucharistische Praxis der christlichen Messe befassen. 1. Ritualtheorie nach Eliade, Jung und L vi-St auss Das 20. Jh. erlebte allerorten eine Abwendung von den sozialen Perspektiven auf das Ritual, die für Emil Durkheim, Max Weber und Karl Marx maßgeblich waren, hin zu universalisierenden Ansätzen. Mircea Eliade, Carl G. Jung und Claude L vi-Strauss waren je auf ihre Weise an der kulturübergreifenden Bedeutung von Ritualen interessiert. Diese Suche nach universalen Strukturen des Rituals bestimmte die ersten acht Jahrzehnte des 20. Jh. Obwohl die Bibelwissenschaft weder von diesem noch von jenem Ansatz nennenswert Notiz genommen hat, ist doch zu vermuten, dass sie mit der universalisierenden Perspektive von Eliade, Jung und L vi-Strauss besser zurecht kam und unterschwellig davon beeinflusst war. Seit den 1980er Jahren hat man nach Struktur und Sinn von Ritualen wieder verstärkt im Kontext partikularer kultureller und sozialer Formationen gefragt. Die Bedeutung der ritual studies liegt in dieser Fokussierung auf konkrete lokale Kontexte. Sie haben damit auch zu einem neuen Verständnis früher jüdischer und christlicher Rituale beigetragen, vor allem der Mahl-Rituale. Soham A-Suadi charakterisiert die neue Forschungssituation wie folgt: • eine Vielzahl möglicher Randfiguren, darunter Diener, ungebetene Gäste, »Unterhalter«, Hunde 11 . Die von Smith und Klinghardt unabhängig voneinander beschriebene Grundform fand in den 1990er Jahren weithin Beachtung 12 und wurde 2005 vom SBL- Seminar den Forschungen und Veröffentlichungen der folgenden zehn Jahre zu Grunde gelegt 13 . Damit war die Vielzahl von Mahltypen, die seit einem Jahrhundert gegeneinander in Anschlag gebracht worden waren, überwunden 14 . Es folgten zahlreiche Studien, die das Smith-Klinghardt’sche Mahl-Paradigma auf ein großes Spektrum neutestamentlicher und anderer frühchristlicher Texte anwendeten. Aus den frühen 1990er Jahren stammt das von Smith und mir verfasste Werk Many Tables: The Eucharist in the New Testament and Liturgy Today, in welchem erstmals Ritualtheorien auf diese griechisch-römische Mahl-Typologie angewendet wurden. Es wurde rasch ergänzt durch den Band von Klinghardt und den von ihm durchgeführten Ritual-Analysen 15 . Die Bedeutung dieser und der anderen bereits genannten Publikationen besteht in der gemeinsamen Annahme, dass das frühchristliche kultische bzw. gottesdienstliche Leben während der ersten Prof. Dr. Hal Taussig (Methodist Theological School in Ohio, M.Div., 1973; Union Institute, Ph. D., 1975) ist seit 2001 Visiting Professor of New Testament am Union Theological Seminary in New York und seit 2006 Professor of Early Christianity am Reconstructionist Rabbinical College in Wyncote, Pennsylvania. Taussig gilt als Experte auf dem Forschungsgebiet frühchristlicher Mähler und Mahlfeiern im griechisch-römischen Kulturraum. Er ist Autor des renommierten Werkes »In the Beginning Was the Meal: Social Experimentation and Early Christian Identity, Minneapolis 2009«. Prof. Dr. Hal Taussig »Seit den 1980er Jahren hat man nach Struktur und Sinn von Ritualen wieder verstärkt im Kontext partikularer kultureller und sozialer Formationen gefragt. Die Bedeutung der ritual studies liegt in dieser Fokussierung auf konkrete lokale Kontexte. Sie haben damit auch zu einem neuen Verständnis früher jüdischer und christlicher Rituale beigetragen, vor allem der Mahl-Rituale.« r é é é Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 17 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 17 Hal Taussig Was bei Tisch passiert: Ein ritualtheoretischer Blick auf die eucharistischen »Einsetzungsworte« »Die Relationalität, in der Objekte und Handlungen verstanden werden sollen, fordert die Ritualtheoretiker dazu auf, den rituellen Kontakt genauer anzuschauen. Dort, wo Anthropologen begonnen haben, Mahlgemeinschaften zu analysieren, werden sie aufgefordert, unter anderen Bedingungen wieder anzufangen-- bei den situativen Kontexten. Dieses Mal tun sie es nicht mit dem Anspruch, eine allgemeine rituelle Gültigkeit zu ermitteln, sondern die rituelle Verschiedenheit zu würdigen« 18 . An diese Einschätzung schließt Al-Suadi ein Zitat von Johanthan Z. Smith an, einem der wichtigsten Ritualforscher an der Wende zum 21. Jh.: »[I]n der Kultur gibt es keinen Text. Alles ist Kommentar […]. Es gibt keinen Uranfang. Alles ist Geschichte.« 19 J. Z. Smiths Arbeiten 20 stehen zusammen mit denen von Catherine Bell am klarsten und umfassendsten für den ritualtheoretischen Perspektivwechsel während der letzten dreißig Jahre. Obwohl die Arbeiten von Victor Turner 21 , Mary Douglass 22 und Pierre Bourdieu 23 Wesentliches zur Ritualtheorie beigetragen haben, stützt sich die vorliegende forschungsgeschichtliche Skizze hauptsächlich auf Bell und J. Z. Smith 24 . In meinem Buch In the Beginning Was the Meal: Social Experimentation and Early Christian Identity von 2009 bin ich einer älteren Interpretation der Ritualtheorie von J. Z. Smith gefolgt 25 , die von drei »einander überlagernden Wirkungen auf die involvierten Gruppen« ausgeht. Dies habe ich wie folgt ausgearbeitet: 1. Ein Aufmerksamwerden oder Wahrnehmen einer Begebenheit, einer Struktur oder einer dynamischen Kraft innerhalb einer Situation: Nach J. Z. Smith machen Rituale generell auf ein problematisches Ereignis oder Muster im Lebenszusammenhang einer distinkten Gruppe aufmerksam. Rituale verweisen pointiert, wenn auch zumeist symbolisch und indirekt, auf diese problematischen Größen. Die rituellen Markierungen solcher Aspekte im Lebenszusammenhang der Ritualteilnehmer »lösen nicht das Problem, überwinden nicht das Missverhältnis, lösen nicht die Spannung auf. Vielmehr zeitigen sie den Gedanken. Sie stellen die Eignung und Verwendbarkeit traditioneller Muster und Kategorien für neue Situationen und Gegebenheiten auf die Probe, in der Hoffnung, zu einer Lösung zu gelangen« 26 . Insofern sind Rituale eine »Fokussierlinse« 27 , die problematische Phänomene sichtbar macht. 2. Eine Vervollkommnung oder Rationalisierung solcher beobachteter Phänomene: Catherine Bell versteht J. Z. Smiths Auffassung wie folgt: »Das Ritual veranschaulicht für Smith einfach die ideale Weise, auf welche die Dinge in dieser Welt organisiert werden sollten« 28 . In der konstruierten Umgebung des Rituals werden die problematischen Phänomene wegerklärt oder beschönigt. In seinem Aufsatz The Bare Facts of Ritual 29 befasst sich J. Z. Smith kritisch mit einer Reihe älterer Interpretationen eines sibirischen Rituals, in dem ein Bärenjunges gefangen, innerhalb eines Dorfes großgezogen und dann zeremoniell geschlachtet wird. Smith sieht in diesem Geschehen nicht ein archetypisches Opferritual, sondern eine rituelle Vervollkommnung der lebensnotwendigen Bärenjagd, die für die Menschen in Sibirien oft auf tragische Weise misslingt. Aus seiner Sicht »erlaubt das Ritual darzustellen, dass wir wissen, was hätte getan werden und was hätte stattfinden müssen. Aber weil es um eine rituelle und nicht um eine alltägliche Handlung geht, wird demonstriert, dass wir wissen, ›was der Fall ist‹. Das Ritual eröffnet einen Raum für die Reflexion und Rationalisierung der Tatsache, dass das, was hätte getan werden müssen, nicht getan wurde, und dass dasjenige, das hätte passieren müssen, nicht passiert ist« 30 . 3. Eine Konstatierung einer Differenz innerhalb des sozialen Körpers. In bestimmten Fällen handelt es sich bei dem problematischen Phänomen um eine Differenz innerhalb der betreffenden Gesellschaft oder Gemeinschaft. Dann stehen üblicherweise unterschiedliche symbolische Handlungen innerhalb des Rituals beieinander, die die Differenzen innerhalb der Gruppe markieren. Für J. Z. Smith ist wichtig, dass das rituelle Sichtbarmachen von Unterschieden zwischen Angehörigen einer Gruppe schwerlich eine Überwindung dieser Unterschiede evoziert. Vielmehr gehe es darum, sich mit den Unterschieden in einer Weise zu arrangieren, die sämtliche involvierte Parteien anerkennt. Diese spezifische Ritualdynamik lässt sich anhand seiner ausgedehnten Studien zu nahöstlichen Tempelritualen veranschaulichen 31 . Die soziale Differenz, mit der Ethnien im Nahen Osten sich regelmäßig auseinanderzusetzen hatten, waren, so Smith, die einander widerstreitenden Machtansprüche von Königen und Priestern, und, davon abgeleitet, von priesterlichen und monarchischen Klassen. J. Z. Smith zeigt, wie choreographierte Bewegungen und Sitzordnungen von König und Priester in Tempeln ihre jeweiligen Ansprüche innerhalb der Gesellschaft markieren. Diese ritualisierten Bewegungen und Sitzordnungen sind nicht dazu da, den Machtkampf zu entscheiden, sondern ihm eine sichtbare Gestalt zu geben und ihn damit als gegeben anzuerkennen. An anderer Stelle habe ich den von J. Z. Smith erzielten Durchbruch im Verständnis des Rituals als eines kreativen Umgangs mit sozialen Differenzen wie folgt beschrieben: Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 18 - 2. Korrektur 18 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Zum Thema »Rituelle Symbole erlauben die Wahrnehmung und Anerkennung sozialer Differenzen, ohne dass dies notwendigerweise mit dem Versuch verbunden wäre, diese zu beseitigen. Damit wird das Leben der Gruppe, in der soziale Unterschiede bestehen, auf ganz eigene Weise organisiert: Anstelle einer gemeinsamen und endgültigen Lösung des Problems sozialer Unterschiede erlauben die vieldeutigen rituellen Symbole die indirekte Anerkennung dieser Unterschiede und damit auch jeder einzelnen Untergruppe als Grundlage für eine andauernde, vorläufige und einem ständigen Revisionsprozess unterliegende Bildung von Kompromisslösungen. Endgültige Auflösungen von Differenzen ziehen fast immer die Eliminierung bewährter differenter Perspektiven nach sich. Dagegen stärkt die andauernde rituelle Gestaltung und Anerkennung von Differenzen die jeweiligen Untergruppen.« 32 J. Z. Smiths Ritualtheorie ist für die Analyse der sozialen Funktionen hellenistischer Mähler besonders erhellend, weil sie erlaubt, diese Funktionen in verschiedener Hinsicht in den weiteren Kontext ihrer Zeit zu stellen. Wir sind mithilfe seiner Sicht des Rituals als einer Fokussierlinse im Stande, anhand von Mahlritualen vielfach zu einer differenzierteren Sicht der hellenistischen Ära zu gelangen. Das Augenmerk dieser Theorie auf die »vorläufige Vervollkommnung« in Bezug auf rituell symbolisierte Probleme ist namentlich für den bereits beobachteten experimentellen Charakter hellenistischer Mähler erhellend. Beispielsweise wurde die Armut als gesellschaftlich weit verbreitetes Phänomen in mehrerer Hinsicht »perfekt« gehandhabt. Einige Gruppen wählten den Weg, für jeden Mahlteilnehmer gleich große Portionen sicherzustellen. Oder man verteilte, was übrig blieb, an Bedürftige 33 . Vor allem aber schärft J. Z. Smiths Auffassung des Rituals als Markierung innergruppaler Unterschiede den Blick dafür, wie hellenistische Mähler die manifeste ethnische Vielfalt und Disparatheit des hellenistisch-römischen Mittelmeerraumes aufnahmen und verarbeiteten. So wird viel klarer, inwiefern diese Mähler selbst zu sozialen Experimenten werden konnten. 34 Wichtig ist der Hinweis, dass J. Z. Smith das Ritual nicht auf einer kosmischen Ebene interpretiert. Für ihn ist das Ritual eine gemeinsame menschliche Arbeit an Dimensionen des Lebens, die als problematisch erfahren werden. Das Ritual bemerkt, bedenkt und imaginiert Weisen der Veränderung oder Verbesserung dieser Dimensionen. Das Ritual transformiert nicht das Leben, öffnet es nicht einer göttlichen Ebene oder Wesenheit, regiert es auch nicht. Das heißt nicht, dass das Ritual nicht auch solche verändernden oder stabilisierenden Effekte haben kann. Vielmehr spielen diese Momente in den sozialen Strukturen und im menschlichen Bewusstsein von den besonderen problematischen Dimensionen des Lebens eine wichtige Rolle. Es ist in dem Maße hilfreich, wie es dazu anleitet, diese Dimensionen zu reflektieren oder sich bewusst zu machen. Außerdem deckt J. Z. Smiths Ritualbegriff auch solche Handlungen ab, die nicht notwendigerweise hochgradig formalisiert oder institutionalisiert sind. Auch bestimmte Muster alltäglichen Verhaltens, die dazu verhelfen, mit andauernd ungelösten Rätseln, Komplikationen oder Störungen des Lebens in seiner ganzen Breite zurecht zu kommen. Obwohl ich J. Z. Smiths Ritualtheorie hilfreich finde, menschliches Verhalten insgesamt besser zu verstehen, scheint mir diese doch von besonderem Wert zu sein, wenn es darum geht, die Mähler der Jesus- Christus-Bewegungen der ersten beiden Jahrhunderte inmitten ungehobelter, ungleich organisierter und teils ekstatischer, teils chaotischer Verhaltensweisen besser zu verstehen. 35 Seine Theorie verhilft dazu, das »kultische« bzw. »rituelle« Leben der frühen Jesus-Christus- Bewegung im größeren sozialen Zusammenhang der vielfältigen gesellschaftlichen Herausforderungen zu verstehen, denen diese Gruppen ausgesetzt waren. Die Erforschung frühchristlicher Mähler gibt dann Aufschluss über Erfahrungen imperialer Gewalt, gender-Auseinandersetzungen innerhalb der Gemeinden, Armut, Mobilität und Handel, kulturübergreifende Kontakte und gegenkulturellen Widerstand. 36 Die Auffassung von Catherine Bell stimmt wie gesagt mit der von J. Z. Smith im Wesentlichen überein. Bells analytischer Zugang unterscheidet sich jedoch von demjenigen J. Z. Smiths, ebenso die von ihr verwendeten Begriffe. Al-Suadi notiert dazu: »Bell nimmt […] die alte Fragestellung von Körperlichkeit, Macht, praktischer Methodik, Beziehung zwischen Ritual und Gesellschaft und Performanz neu auf. Doch anders als ihre Vorgänger untersucht Bell die Abhängigkeit dieser Begriffe zueinander und verneint damit, dass das Ritual eine innere, universal gültige Kategorie oder Eigenschaft menschlichen Verhaltens ist. Um nicht in kulturelle oder historische Konstruktionen des Rituals zu verfallen, benutzt Bell nicht den Begriff ›Ritual‹, sondern ›Ritualisierung‹. »Die Erforschung frühchristlicher Mähler gibt […] Aufschluss über Erfahrungen imperialer Gewalt, gender- Auseinandersetzungen innerhalb der Gemeinden, Armut, Mobilität und Handel, kulturübergreifende Kontakte und gegenkulturellen Widerstand.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 19 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 19 Hal Taussig Was bei Tisch passiert: Ein ritualtheoretischer Blick auf die eucharistischen »Einsetzungsworte« […] [E]ntscheidend für den Begriff der Ritualisierung ist der innere Zusammenhang im Zusammenspiel mit und im Kontrast zu anderen Praktiken. Insofern wäre jeder Versuch, eine kulturübergreifende bzw. universale Bedeutung des Rituals zu erheben, wenig sinnvoll. Dies bedeutet auch, dass die Bedeutung rituellen Verhaltens nicht darin liegt, dass es einen völlig separaten Modus des Handelns darstellte, sondern darin, wie sich solche Handlungen als von anderen unterschieden und im Kontrast zu diesen konstituieren […]. Rituelles Handeln ist zuerst und vor allem eine Sache nuancierter Kontraste und der Herausbildung strategischer wertbehafteter Unterscheidungen (Bell, 1992, 90). Sie versteht das Ritual folglich nicht als bestimmte Handlungen, sondern als Handlungsweise (»way of acting«). Mit diesem Umgang bezieht sich die Ritualisierung nicht nur auf eine Nichtübereinstimmung zwischen Ideal und Realität, sondern auf einen Widerspruch zwischen der kulturellen Ordnung und der Bedingung des historischen Moments. Besonders in Situationen, in denen Widersprüche etabliert werden, eignet sich der Begriff der Ritualisierung.« 37 Für Bell meint »Ritualisierung« die »Fähigkeit, elementare Muster auf eine Weise anzuwenden und mit diesen zu spielen, sie zu manipulieren, die Erfahrungen wirksam zuordnet und konditioniert« 38 . Es handelt sich um einen sozialen Aushandlungsprozess von Angelegenheiten, die im Lebenszusammengang einer bestimmten Gruppe strittig sind. Die Worte und Handlungen eines Rituals erscheinen so gesehen als »die Quelle der Muster und ihrer Werte« 39 , aber die Handlungen und Worte unterliegen im Fortgang des Aushandlungsprozesses strittiger Angelegenheiten subtilen, oft unterschwelligen Veränderungen. Hierzu nochmals Al-Suadi: »Ritualisierung ist also nicht nur das Produkt seiner eigenen Differenzierung, sondern auch im hohen Maße von der sozialen Praxis abhängig, die wiederum auf spezifische Gegebenheiten strategisch reagiert. ›Ritualisierung‹ wird somit zu einer Fähigkeit ausgeweitet, die Kennzeichen des Rituals zu verändern und grundlegende Schemata in ihren Konstitutionen zu manipulieren. Damit wird die ›Ritualisierung‹ nicht in universalistischen Kategorien verortet, sondern in sozialen Netzwerken und Beziehungen.« 40 Bells Analyse und Terminologie kommt für die griechisch-römischen Mähler einschließlich ihrer Varianten der frühen Jesus-Christus-Bewegungen eine hohe Erklärungsleistung zu. Anhand ihrer Theorie lässt sich zeigen, wie augenscheinlich alltägliche Handlungen der griechisch-römischen Mähler zu Medien elementarer sozialer Aushandlungsprozesse im weiten soziokulturellen Umfeld der mediterranen Antike werden. In der griechisch-römischen Antike war gemeinsames Essen, betrachtet durch die Linse der ritual studies, ein »komplexer Rhythmus sozialer Gesten, relationaler Muster und subtiler Gegensätze zu dem, was gewöhnliches Essen an und für sich selbst wäre« 41 , ein codierter und unterschwelliger Modus, Antagonismen des sozialen Lebens wirksam zu verhandeln. Insgesamt haben also während der zwei letzten Generationen Turner, Douglas, Bourdieu, J. Z. Smith und Bell in ihren Arbeiten eine Auffassung des Rituals entwickelt, die den metaphysischen, psychologischen oder auch sozial-funktionalen Aspekt tendenziell zurückstellt und im Ritual statt dessen eine Weise des Umgangs von Gruppen mit spezifischen Problemlagen in ihren mehr oder weniger lokalen Lebenszusammenhängen sieht. An anderer Stelle habe ich dies folgendermaßen formuliert: »Das Ritual ist, so gesehen, eine Erscheinungsweise sozialer Intelligenz, oftmals vorbehalten für Problemlagen, die sich als zu komplex für das individuelle Urteilsvermögen erwiesen haben, zu beängstigend, um direkt angegangen zu werden, bezogen auf dauerhaft konfligierende soziale Loyalitäten […]. Die Ausführung eines Rituals erweist sich als ein Weg, verschiedene Problemlagen neu zueinander ins Verhältnis zu setzen […]. Diese Ausführungen werden selten als realistische Lösungen hartnäckiger Probleme aufgefasst. Sie eröffnen aber den Ritualteilnehmern […] eine Perspektive auf diese Probleme und einen Freiraum zur Reflexion. Allem Anschein nach lokalisiert und transformiert das Ritual einfach das problematische Thema in einer sicheren konstruierten Umgebung […]. All dies geschieht auf eine eigentümlich implizite, halbbewusste Weise. Der problematische Sachverhalt ist fast immer zu brisant, um explizit eingestanden zu werden […]. Der hellenistische Mittelmeerraum steckte tief in solchen unauflösbaren Widersprüchen. Die Werte des klassischen Griechenland waren noch immer Grundlage einer ganzen Kultur, und ironischerweise hat das Imperium Romanum die helleni(sti)sche Kultur mit großer Kraft bis in entfernte Orte getragen. Der gesamte Mittelmeerraum genoss einen militärisch durchgesetzten Frieden, der nicht nur inhärent ironisch war, sondern auch völlig kopflos die Vermischung ehedem getrennter Kulturen forciert hat […]. Familien- und Stammeskulturen büßten ihren originären sozialen Ort ein, den sie in ihrer ursprünglichen Kultur innehatten. Mit dem Verlust regionaler kultureller Kohärenz und der Einführung neuer Strukturen gerieten gender-Identitäten in Fluss. Ökonomische Enteignungen durch die »In der griechisch-römischen Antike war gemeinsames Essen, betrachtet durch die Linse der ritual studies [...], ein codierter und unterschwelliger Modus, Antagonismen des sozialen Lebens wirksam zu verhandeln.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 20 - 2. Korrektur 20 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Zum Thema römischen Oberherren produzierten für weite Teile der Bevölkerungen verheerende Armut. Massive Versklavung Armer wie Reicher dislozierte und relozierte ganze Bereiche regionaler Gesellschaften. Unterschiedliche kulturelle Codes von Ehre und Schande überlagerten einander mit verwirrenden und widersprüchlichen Ergebnissen. Patron-client-Beziehungen wurden zum Bestandteil von kulturübergreifenden […] staatlichen Handlungszusammenhängen, die neue Machtdynamiken in nahezu jeder Region auslösten. Es war diese umfassende transkulturelle Situation, die im gesamten Mittelmeerraum zur Entwicklung einer gemeinsamen, Interesse und Zugehörigkeit steuernden Mahlpraxis führte […]. [D]ie Form war nicht völlig neu, aber ihr soziales Gewicht und der Aspekt der Identitätsbildung wurde erheblich verstärkt. Der ritualtheoretische Blick auf Weisen der Ritualisierung als Abbildung der komplexen Handlungs- und Lebenszusammensetzung der Ritualteilnehmer versetzt in die Lage wahrzunehmen, wie gemeinsame Mähler soziale Identität organisierten.« 42 2. Ritualtheorie, das Entstehen einer Mahltypologie und die »eucharistischen Einsetzungsworte« Der Brückenschlag zwischen Ritualtheorie und griechisch-römischer Mahltypologie hat auf die Wahrnehmung der frühen Jesus-Christus-Bewegungen, ihrer sozialen Interaktion mit der griechischrömischen Welt, des kultischen Lebens dieser Gruppen und nicht zuletzt vieler neutestamentlicher Texte einen erheblichen Einfluss. Ich habe während der vergangenen fünfzehn Jahre zahlreiche Aspekte dieses Themas untersucht 43 , und ich bin noch immer damit befasst, den Ertrag dieser Arbeit für soziale, kultische und textbezogene Forschungsfragen auszuloten. Beispielhaft wende ich mich nun den sogenannten »Einsetzungsworten« der christlich-eucharistischen Tradition zu (d. h. der textuellen Überlieferung der Phrase »dies ist mein Leib/ dies ist mein Blut«) 44 . Aus Sicht des in diesem Beitrag vorgestellten ritualtheoretischen Ansatzes gibt es zwei neuere und wichtige Untersuchungen dieses Themas, auf die ich zunächst kurz eingehen möchte. Obwohl ich anschließend über beide Untersuchungen hinausgehe und auch von ihnen abweiche, möchte ich doch nicht versäumen, meinen Dank für und meine vielfältige Abhängigkeit von Soham Al-Suadis Monographie Essen als Christusgläubige: Ritualtheoretische Exegese paulinischer Texte 45 zum Ausdruck zu bringen. Dies gilt auch für die beiden Essays »Einführung: Mahl und religiöse Identität im frühen Christentum« und »Bund und Sündenvergebung: Ritual und literarischer Kontext in Mt 26« in Mahl und religiöse Identität im frühen Christentum von Matthias Klinghardt 46 . Ich möchte nun in der Hauptsache zwei neue ritualtheoretische Perspektiven auf die »Einsetzungsworte« vorschlagen. Diese betreffen (1) die rituelle Funktion des Teilens von Brot und der Libation, und (2) das Spektrum anderer ritualbezogener Worte zu Brot und Wein innerhalb der Jesus-Christus-Bewegungen. 2.1 Die rituelle Funktion des Teilens von Brot und der Libation im Kontext griechischrömischer Mähler Versteht man die kohärente Ritualisierung von Handlungen und Erfahrungen in griechisch-römischen Mählern, erschließen sich die Worte »dies ist mein Leib/ dies ist mein Blut« in allen Bestandteilen und Versionen in ihrem je besonderen historischen, rituellen und textuellen Zusammenhang. Die angenommene rituelle Kohärenz der auch für die Jesus- Christus-Gemeinden maßgeblichen Mahlform erweitert das Spektrum der Bedeutungen der einzelnen Leib/ Blut-Worte erheblich. Dieses Spektrum erschließt sich gerade dann, wenn man die Leib/ Blut-Worte in die diese Bedeutung generierenden, weithin etablierten rituellen Mahlstrukturen einordnet. Eine Interpretation, die von diesem Zusammenhang absieht, verliert dann erheblich an Plausibilität. Der theologische Sinngehalt der Leib/ Blut-Worte wird durch den griechisch-römischen Vergleichskontext einerseits reduziert, andererseits aber auch aufgewertet. Die theologischen Bezüge werden insofern abgeschwächt, als diese von dem dichten Sinngefüge des griechisch-römischen Mahltypus und den damit verbundenen vielfältigen sozialen, politischen und kulturellen Faktoren überlagert werden. Es ist dann nicht »Versteht man die kohärente Ritualisierung von Handlungen und Erfahrungen in griechisch-römischen Mählern, erschließen sich die Worte ›dies ist mein Leib/ dies ist mein Blut‹ in allen Bestandteilen und Versionen in ihrem je besonderen historischen, rituellen und textuellen Zusammenhang.« »Der theologische Sinngehalt der Leib/ Blut-Worte wird durch den griechisch-römischen Vergleichskontext einerseits reduziert, andererseits aber auch aufgewertet.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 21 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 21 Hal Taussig Was bei Tisch passiert: Ein ritualtheoretischer Blick auf die eucharistischen »Einsetzungsworte« mehr möglich, den Sinngehalt des Mahles allein von den Leib/ Blut-Worten her zu verstehen. Zugleich werden diese und andere Bezüge aber auch verstärkt, weil sie durch die den Mahlhandlungen inhärenten Sinngehalte selbst angereichert werden. Beispielsweise wirkt sich der enge Zusammenhang von Mahl und sozialer Gemeinschaft auf das Verständnis der Leib-/ Blut- Terminologie aus. Der im Zuge imperialer Gewalt fragmentierte und entfremdete Charakter so vieler ehedem kohärenter sozialer Zugehörigkeiten zu Stamm und Nation und die neuen Möglichkeiten mahlförmiger Zugehörigkeit in Vereinen, Gilden und Klubs indizieren vielfältige soziale Formationen von hoher Sinndichte. 47 Vor dem Hintergrund des Verlusts tribaler, ethnischer und nationaler Zugehörigkeiten und des sprunghaften Ansteigens antiker Vereine mit ihrer jeweiligen Mahlpraxis in griechisch-römischer Zeit wird die Signifikanz von untereinander geteiltem Leib und Blut hinreichend klar. 48 Die Mähler selbst, die unter Mitgliedern verhältnismäßig junger Vereine abgehalten wurden, stehen für neu konstituierte soziale Körper. Das fiktive Verwandtschaftsverhältnis vereinsförmiger Zugehörigkeit ruft die Vorstellung einer Blutsverwandtschaft auf, die die Blutsverwandtschaft realer Familien und Clans zu ersetzen imstande war. Die bedrohliche Realität imperialer Gewalt gegen alle Arten des Vereinswesens, einschließlich der Christus- Vereine, verdoppeln die Blut-/ Körper-Bezüge, sofern die Versammelten sich dem Risiko ausgesetzt sahen, miteinander blutig geschlagen und/ oder als sozialer Körper zerbrochen zu werden. 49 Versteht man, wie solche Mähler in vereinsförmigen und anderen Kontexten inmitten sozialer Entfremdung neue Zugehörigkeiten ermöglichten, dann vervielfacht die Dynamik ritueller Improvisation die möglichen Sinnbezüge von miteinander geteiltem Brot und Wein als Teil einer lebendig gestalteten Mahlpraxis. Möglicherweise wirkten sogar Brot und Wein innerhalb der intensiven und hoch verdichteten rituellen Sinnbezüge des gemeinsamen Mahls wenigstens zum Teil als geläufige Symbole für die neue mahlförmig realisierte soziale Zugehörigkeit. Die Libation des griechisch-römischen Mahles beispielsweise hatte (auch, aber nicht nur in vereinsförmigen Kontexten) häufig die Funktion, gegenüber dem römischen Imperium Positionen des Widerstandes, des Kompromisses und der Konformität auszuhandeln. Dies ist als entscheidend wichtiger Kontext auch für das Gefüge der Wein/ Blut-Worte in den frühchristlichen Mählern zu veranschlagen. 50 Die kombinierten Bezüge zu Kreuzigung, Mahl und Blut eröffnen eine Fülle von ironischen, doppelt und dreifach anspielungsreichen und strapazierbaren Weisen behaupteter sozialer Zugehörigkeit 51 , die im Mahl und im neuen sozialen Körper selbst verwurzelt sind. Es handelt sich also nicht einfach um neue Elemente eines als Überzeugungssystem verstandenen Glaubens. Schließlich werden aus der Sicht dieses rituell inspirierten Theoretisierens die Bedeutungen, die sozialer Zugehörigkeit inhärent sind, in den Texten des Neuen Testaments und anderswo sprachlich überdeutlich repräsentiert. Das Ereignis selbst wird meist als »sich zu Tisch legen« charakterisiert. Die verwendeten Termini klinō, keimai (Lk 9,12; 24,29; Joh 21,9; Apk 4,2), keisthai und (gelegentlich) piptō erscheinen oft in Verbindung mit präpositionalem Präfix, etwa ana (anakeimai in Mt 9,10; 22,10; 22,11; 26,7; 26,20; Mk 6,26; 14,18; 16,14; Lk 22,27; Joh 6,11; 12,2; anaklinō in Mt 8,11; Mk 6,39; Lk 13,29; anapiptō in Mt 15,35; Mk 6,40; 8,6; Lk 11,37; 14,10; 17,7; 22,14; Joh 6,10a; 6,10b; 13,12; 13,25; 21,20) syn-ana (synanakeimai in Mt 9,10; Mk 2,15; 6,22; Lk 14,10; 14,15) kata (katakeimai in Mk 2,15; 14,3; Luke 5,29; 7,37; 1Kor 8,10; kataklinō in Lk 7,36; 9,14; 9,15; 14,8; 24,30). Dazu habe ich an anderer Stelle ausgeführt: »[D]er gebräuchliche Ausdruck für das Mahl ist in der hellenistischen Welt die eine oder andere Form von sich zu Tisch legen. Dieser Ausdruck referiert auf hellenistische Mähler insgesamt wie auch auf ihr entscheidendes Handlungsmoment. Wie schon erwähnt, indiziert sich zu Tisch legen Muße und Status zugleich. Wer dies tat, handelte erkennbar privilegiert. Es ist dieser Ausdruck, den das Neue Testament durchgängig verwendet, um »Vor dem Hintergrund des Verlusts tribaler, ethnischer und nationaler Zugehörigkeiten und des sprunghaften Ansteigens antiker Vereine mit ihrer jeweiligen Mahlpraxis in griechischrömischer Zeit wird die Signifikanz von untereinander geteiltem Leib und Blut hinreichend klar.« »Die bedrohliche Realität imperialer Gewalt gegen alle Arten des Vereinswesens, einschließlich der Christus-Vereine, verdoppeln die Blut-/ Körper-Bezüge, sofern die Versammelten sich dem Risiko ausgesetzt sahen, miteinander blutig geschlagen und/ oder als sozialer Körper zerbrochen zu werden.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 22 - 2. Korrektur 22 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Zum Thema ein für frühchristliche Versammlungen konstitutives Handlungsmoment zu benennen. Partizipiale, nominale und verbale (aktive wie passive) Wortformen von sich zu Tisch legen finden sich gehäuft im Neuen Testament und in der übrigen frühchristlichen Literatur. Mit einigen wenigen Ausnahmen weisen sie alle einen Bezug zu Mählern auf. Für die griechischen Termini gibt es im Englischen erstaunlicherweise keine Standard-Übersetzung. Verbreitet ist bei Tisch (at table), was treffend den Sinn, wenn nicht gar die Stimmung des hellenistischen Mahles wiedergibt. Weniger adäquat, aber immer noch passabel, ist sitzen (sitting, Mt 14,19 New Jerusalem Bible), das aber leider allzu oft die Mahlhandlung ausblendet, die im griechischen Wort für zu Tisch liegen (recline) klar zur Geltung kommt. Außerdem findet sich die Übertragung mit Gäste (guests, Mk 6,22 New Revised Standard Version), Platz (place, Lk 14,8 New American Standard Bible) oder sie waren zuhause (were at home, Mk 2,15 The Message). Diese Übertragungen verdecken den Mahlkontext. Dasselbe ist bereits in der koptischen Übersetzung des Thomasevangelium zu beobachten. In Logion 61 sagt Salome zu Jesus: ›Du hast […] auf meinem Bett Platz bekommen‹ (Übs. H.-G. Bethge [Nag Hammadi Deutsch, Studienausgabe, Berlin 2007, 133]). Dies weckt unwillkürlich eine sexuelle Assoziation. Es geht aber darum, dass ein Mann und eine Frau miteinander essen.« 52 Aus ritualtheoretischer Sicht bilden also das zu Tisch Liegen und die damit verbundenen komplexen Gesten und kulturellen Anverwandlungen des griechisch-römischen Mahles einschließlich der Libation den unmittelbaren interpretativen Kontext für die Leib-/ Blut-Worte. Die Texte selbst, die das zu Tisch Liegen als situativen Kontext überdeutlich herausstreichen, widerraten der verbreiteten Forschungsmeinung, die Leib-/ Blut-Worte seien vorrangig aus anderen Kontexten zu erklären, etwa dem Jerusalemer Tempel oder dem Passa-Mahl. 53 Die Rede von Leib und Blut fügt sich in den situativen Kontext enger und demonstrativer körperlicher Tischgemeinschaft. Die Nähe der Leib-/ Blut-Terminologie zum gemeinschaftlichen zu Tisch Liegen und die dramatische soziale Zugehörigkeit, die dieser Mahlform inhärent ist, verstärken die Gestaltungen des sozialen Körpers und des (fiktiven) miteinander geteilten Blutes. Es ist erstaunlich, dass die Forschung sich über Jahrhunderte weithin auf die dekontextualisierten Worte beschränkt und die üppige Körperlichkeit der Mähler ausgeblendet hat. Es ist allein dem Zusammenwirken der Arbeiten von Klinghardt, D. Smith und der SBL zum griechisch-römischen Mahltypus mit den ritual studies zu danken, dass in der neueren Forschung ein Interesse an den evidenten und vielschichtigen sozialen Bezügen der Leib-/ Blut-Terminologie in ihrem originären Mahlkontext erwacht ist. Aus ritualtheoretischer Sicht ist für das Verständnis der Leib-/ Blut-Worte als Element der Bedeutung generierenden rituellen Strukturen eines weithin verbreiteten Mahltypus außerdem in Rechnung zu stellen, dass die obligatorischen Libationen dieser Mähler samt den darin enthaltenen Segenssprüchen nicht traditionell vorgegeben oder durch standardisierte Formulierungen fixiert waren. Im Gegenteil: Segens- und Spendeworte der Libation weisen eine erhebliche Variationsbreite auf, manchmal sogar innerhalb derselben Mahlversammlung. Dies entspricht der neueren ritualtheoretischen Einsicht, dass Gruppen üblicherweise zu unterschiedlichen Gelegenheiten unterschiedliche Dinge sagen, um den besonderen Moment und Ort zu »vervollkommnen« (J. Z. Smith), »auszuhandeln« (Catherine Bell) oder ihn als Schwellensituation zu inszenieren (Victor Turner). Stellt man dies in Rechnung, ist es unwahrscheinlich, dass die Jesus-Christus- Gruppen bei ihren Mählern stets nur die uns bekannten Leib-/ Blut-Worte verwendet haben. 54 2.2 Das Spektrum anderer Worte zu Brot und Wein in den frühen Jesus-Christus-Mählern und ihre rituelle Funktion. Die Ritualanalyse der aus der synoptisch-paulinischen Tradition geläufigen Leib-/ Blut-Worte wirft die Frage auf, welche Rolle diese Worte in den ersten beiden Jahrhunderten gespielt haben. In mancher Hinsicht kann diese Frage geklärt werden (1) unter Einbezug von Forschungen zur Didache, (2) durch weitere Erkenntnisse im Schnittfeld von Ritualtheorie und Mahlforschung, (3) durch das Augenmerk auf Texte der frühchristlichen Literatur, die die Leib-/ Blut-Worte dort, wo sie von Gemeinschaftsmählern handeln, nicht verwen- »Die Texte selbst, die das zu Tisch Liegen als situativen Kontext überdeutlich herausstreichen, widerraten der verbreiteten Forschungsmeinung, die Leib-/ Blut-Worte seien vorrangig aus anderen Kontexten zu erklären, etwa dem Jerusalemer Tempel oder dem Passa-Mahl.« »Die Rede von Leib und Blut fügt sich in den situativen Kontext enger und demonstrativer körperlicher Tischgemeinschaft.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 23 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 23 Hal Taussig Was bei Tisch passiert: Ein ritualtheoretischer Blick auf die eucharistischen »Einsetzungsworte« den, und (4) durch die Erhebung weiteren Vokabulars zu Brot, Wein und Mählern im Neuen Testament und verwandten Texten. Die Forschung kennt seit mehr als einem Jahrhundert die Anweisungen der Didache zum eucharistischen Brot und Wein. Anerkanntermaßen ist hier erstmals die Verwendung des griechischen eucharistia (»Danksagung«) im Kontext einer frühchristlichen Mahlgemeinschaft zu Brot und Wein belegt. Im Schnittfeld von Ritualtheorie und Mahlforschung erscheint die Didache nun in zweierlei Hinsicht in neuem Licht: (a) Matthias Klinghardt hat gezeigt, dass die Didache durchgängig dem griechisch-römischen Mahl-Paradigma entspricht. 55 Diese Einsicht steigert die Bedeutung der Mahlgebete der Didache für unsere Fragestellung erheblich. (b) Üblicherweise wird davon ausgegangen, dass die Anweisungen der Didache nicht im Blick auf eine konkrete Situation, sondern für eine unspezifische Vielzahl von Gruppen gedacht waren. 56 Dass die Mahlgebete der Didache sich von der synoptisch-paulinischen Abendmahlsparadosis in jeder Hinsicht unterscheiden, ist dann nicht eine Ausnahme von den ansonsten-- wie man annahm-- überall gültigen synoptisch-paulinischen Worten zu Brot und Wein. Vielmehr stoßen wir hier auf einen größeren Verband von Gemeinden, die völlig andersartige Gebete zu Brot und Wein verwendeten: Was aber die Eucharistie betrifft, sagt folgendermaßen Dank: Zuerst beim Kelch: »Wir danken dir, unser Vater, für den heiligen Weinstock Davids, deines Knechtes, den du uns offenbar gemacht hast durch Jesus, deinen Knecht.« Beim gebrochenen Brot: »Wir danken dir, unser Vater, für das Leben und die Erkenntnis, die du uns offenbar gemacht hast durch Jesus, deinen Knecht. Dir sei Herrlichkeit in Ewigkeit! « Wie dieses gebrochene Brot zerstreut war auf den Bergen und zusammengebracht eines geworden ist, so soll zusammengeführt werden deine Kirche von den Enden der Erde in dein Reich; denn dein ist die Herrlichkeit und die Macht durch Jesus Christus in Ewigkeit (Did 9,1-4). 57 Auf dem doppelten Hintergrund (i) eines besseren Verständnisses dieser Worte als Momente eines griechischrömischen Mahlgeschehens und (ii) der erzielten Einsichten in die Innovations- und Anpassungsleistung eines rituell gestalteten Wortgeschehens an Momente gemeinschaftlicher Lebenszusammenhänge werden die Anfragen an die gängige Auffassung von der dominierenden Stellung der Leib-/ Blut-Worte in den frühchristlichen Mählern der ersten beiden Jahrhunderte noch verstärkt. Nichts deutet in der Didache auf ein letztes Mahl Jesu, noch gar auf seinen Tod. Außerdem richtete sich die Didache an eine Mehrzahl von Gruppen, nicht nur primär an eine einzelne Gemeinde wie der 1. Korintherbrief. Diese weitreichende Infragestellung der Annahme eines weit verbreiteten Gebrauchs der synoptisch-paulinischen Leib-/ Blut-Worte im 1. und 2. Jh. deckt sich mit den wichtigen liturgiewissenschaftlichen Arbeiten zur Alten Kirche von Andrew McGowan. 58 McGowan hat sich mit der Frage befasst, wo der Terminus »Herrenmahl« und die Leib-/ Blut-Worte in frühchristlichen liturgischen Texten und in Bezugnahmen auf diese Texte belegt sind. Er ist zu dem Ergebnis gelangt, dass »[m]it der möglichen Ausnahme der Traditio Apostolica ›Herrenmahl‹ während der ersten drei Jahrhunderte kein terminus technicus ist. Vielmehr referiert dieser Terminus auf Gemeinschaftsmähler, die spezifisch andere Namen trugen, etwa agapē. 59 McGowan stellt außerdem fest, dass die Leib-Blut-Worte bis ins frühe 3. Jh. praktisch nirgends Eingang in Dankgebete gefunden haben. Die vorhandenen Bezüge auf Dankgebete variieren und haben kein erkennbares Interesse daran, den 1. Korintherbrief oder die synoptischen Evangelien als autoritative Schriftbelege für die Frage der zu Brot und Wein zu sprechenden Worte aufzurufen. 60 McGowan kommt zu einem klaren Ergebnis: »Trotz der verbreiteten Annahme, dass das eucharistische Dankgebet vor allem aus der Zitation des ›Einsetzungs-Narrativs‹ während des Mahls bestand, scheint dies in der Frühzeit nicht stattgefunden zu haben. Die ältesten bekannten Eucharistie-Gebete […], nämlich die Didache […], die Johannesakten […] und der Straßburg-Papyrus 254, enthalten dieses Einsetzungs-Narrativ nicht. Dies ist erst in jener ägyptischen Kirchenordnung der Fall, die unter dem Namen Traditio Apostolica bekannt ist. Das Eucharistiegebet der Traditio Apostolica enthält dieses Narrativ nicht so sehr als separate Rezitation, sondern eher als Einfügung in ein Gebet, das, wie frühere auch, auf die Benediktion und/ oder den Dank für Christus ausgerichtet ist […]. Die geläufige Erzählung vom letzten Mahl als Bestandteil des eucharistischen Gebetes ist eine späte Entwicklung, nicht eine ursprüngliche oder omnipräsente Gegebenheit.« 61 Schließlich wird die angenommene zentrale Stellung der Leib-/ Blut-Worte auch durch die unterschiedlichen sprachlichen Bezeichnungen für die frühchristlichen Mähler im Neuen Testament und in verwandten Texten zweifelhaft. Die Didache ist nicht die einzige Quelle, die einen abweichenden Sprach- und Bildgebrauch für die Charakterisierung dieser Mähler aufweist, sei es beschreibungssprachlich oder im Mahlvollzug selbst. Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 24 - 2. Korrektur 24 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Zum Thema Obwohl die Forschung bis zur ersten Hälfte des 20. Jh. der Auffassung war, dass die Agape-Mähler vom Herrenmahl, vom Abschiedsmahl und von der Eucharistie zu unterscheiden seien, ist es der Forschung in den vergangenen sechzig Jahren nicht gelungen, ein von anderen frühchristlichen Mählern zu unterscheidendes Agape-Mahl zu identifizieren. Dennis Smith resümiert: »Die als agape oder ›Liebesmahl‹ bekannte Mahlform hat sich anscheinend zusammen mit oder besser Seite an Seite mit der Eucharistie entwickelt. Es ist unklar, wann sich beides in unterschiedliche Traditionsstränge ausdifferenziert hat. In der Zeit des Paulus […] sind Herrenmahl und Gemeinschaftsmahl ein und dasselbe. Dagegen wird die agape in Jud 12 und bei Ignatius (Röm 7,1; Smyrn 8,2) bereits erwähnt« 62 . Obwohl dies in der Forschung selten angesprochen wird, scheint es sich doch so zu verhalten, dass der Terminus agapē nicht akzidentiell, sondern beschreibungssprachlich und im Vollzug des Mahles selbst das Wesentliche dieses Mahles benennt. Stellt man die mögliche Variationsbreite sprachlicher Äußerungen innerhalb ein und desselben rituellen Ereignisses in Rechnung, liegt es nahe, die um »Herrenmahl«, »Eucharistie« und »Agape« entstandene begriffliche Verwirrung den verbrauchten und ungenügenden Kategorien der modernen Forschung zuzuschreiben, nicht aber vorgeblich unterschiedlichen frühchristlichen Mahltypen. Unter dieser Voraussetzung nimmt aber der Terminus agapē, wenn wir denn von einem einzigen griechisch-römischen Mahltypus ausgehen, eine gewisse Sonderstellung ein. Es ist unschwer zu erkennen, dass die Bedeutung von agapē beschreibungssprachlich und im Mahlvollzug der Rede vom sozialen Leib und der fiktiven Blutsverwandtschaft sehr nahe kommt. Zugleich liegt klar zutage, dass die Formulierungen der agapē-Terminologie (wie immer diese lautete) und der Leib-/ Blut-Worte nicht identisch sind. Die sonderbare Verbindung zwischen späterer christlicher Eucharistie- und Herrenmahls-Tradition einerseits und der ebenfalls späteren (artifiziellen) Annahme, dass die Leib-/ Blut-Worte in den frühen Gemeinden immer schon in Geltung standen, hat zu verzerrten Charakterisierungen der agapē-Feiern geführt. In der Annahme der vorherrschenden Stellung der Leib-/ Blut-Worte in der frühchristlichen Mahltradition musste man zu dem Schluss gelangen, dass die agapē-Feiern eine irgendwie minderwertige Mahlform darstellten. Ich meine dagegen, dass die beobachteten terminologischen Differenzen einfach Teil einer größeren und weithin improvisierten sprachlichen Vielfalt sind, die auch das Verhältnis von Brot und Kelch umfasst. Das lukanische Doppelwerk lässt augenscheinlich einen technischen Gebrauch von klasis tou artou (»Brechen des Brotes«) erkennen (Lk 24,30.35; Apg 2,46; 20,7.11; 27,35). Zumal die Charakterisierung eines regelmäßigen Gemeindemahles in Apg 2,46 zu einem technischen Gebrauch dieser Wendung tendiert. Gut denkbar ist auch, dass die Begegnung Jesu mit den Emmausjüngern in Lk 24,30.35 mit demselben technischen Wortgebrauch spielt. Möglich ist schließlich, dass die erkennbare Favorisierung des Brotes mit dem auf das Brot bezogenen Befehl »tut dies zu meinem Gedächtnis« in 22,19 zusammen hängt. Auch hier sind die unterschiedlichen Formulierungen und Bedeutungszuschreibungen m. E. am besten als Niederschlag einer größeren und rituell improvisierten und kontextualisierten Praxis zu sehen. Auch das Johannesevangelium, das keinerlei Deuteworte zu den Mahlelementen seines Abschiedmahles enthält, hat seine eigene Sprache, die in Joh 6,51b-58 möglicherweise einen Bezug zu Brot und Wein enthält, wo das, was man isst »wahre« (alēthē) Speise genannt wird, und wo nicht von »Leib« die Rede ist, sondern in einigen deutlichen Aufforderungen vom Essen von »Fleisch«. Hier ist der Bezug zu technischer Sprache johanneischer Mahlterminologie weniger deutlich, aber der Vergleich mit der in 1Kor und den Synoptikern verwendeten Mahlterminologie unterstreicht die umfassendere Beobachtung des flüchtigen und improvisierten Charakters von Ritualen, und er hinterfragt einmal mehr die Annahme eines sich herausbildenden Konsenses über die beim Mahlritual als Brotsegen und Weinlibation zu sprechenden Worte. In der Johannesoffenbarung kündigt eine große Menge »die Hochzeit des Lammes« an, und der Engel respondiert: »Selig sind die, welche zum Hochzeitsmahl des Lammes geladen sind« (Apk 19,7-9). Dies nimmt die an die Gemeinde von Laodizea ausgesprochene Einladung auf: »Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wer immer auf meine Stimme hört und die Tür öffnet, bei dem werde ich einkehren und das Mahl halten, ich mit ihm und er mit mir« (3,20). Obwohl die Rede vom Hochzeitsmahl des Lammes Metaphern-- gelinde gesagt-- vermischt, stellt sich doch die Frage ob die Festmähler im Himmel und in Laodizea auch etwas verraten über Mähler im Milieu der Johannesoffenbarung. Eine Zeitlang war dies Gegenstand gelehrter Mutmaßungen. Selbstredend konnte es sich beim Hochzeitsmahl des Lammes nicht um das Passamahl handeln. 63 Auch müssen an den genannten Stellen nicht notwendigerweise tatsächliche Mähler im Spiel sein. Der Passus 19,7-9 könnte aber Pate gestanden haben für die Schaffung eines realen Mahles, das Erfahrungen realisierter Escha- Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 25 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 25 Hal Taussig Was bei Tisch passiert: Ein ritualtheoretischer Blick auf die eucharistischen »Einsetzungsworte« tologie bei einem »Festmahl des Lammes« vermittelte. Das vorherige 18. Kapitel vermittelt eine solche Vorwegnahme, da der Seher die ersehnte Zerstörung Babylons/ Roms mit seinen eigenen Augen schaut. Es ist dieser Sieg über »Babylon«, der die Ankündigung der Zeit des Hochzeitsmahles des Lammes hervorruft. Insofern sind die Worte über das Hochzeitsmahl des Lammes gut vorstellbar als Segensworte innerhalb eines realen Mahles in der Funktion eines proleptischen Rituals. 64 Das Motiv des Hochzeitsfestes unterhält vielfältige textuelle und sozio-historische Beziehungen zur Mahltypologie 65 in den ersten beiden Jahrhunderten. Namentlich das »Hochzeitsfest« und das »Brautgemach« wurden dem Terminus eucharistia assoziiert. Im 2. Jh. fällt die Verbindung von eucharistia und »Brautgemach« am intensivsten im Philippusevangelium aus. 66 Hier begegnet die eucharistia als Teil einer drei- oder fünfteiligen Folge von Ritualen. Die eucharistia kann auf zwei Weisen mit dem Brautgemach verbunden werden: als Teil dieser Sequenz ritueller Teilhabe, oder aber, wie Elaine Pagels und andere vorgeschlagen haben, als Synonyme füreinander. 67 Entscheidend ist, dass das EvPhil 68 und die sekundären (und höchst kritischen) Beschreibungen bei Irenäus 69 das Brautgemach als primäre Metapher für das Mahl aufweisen. Indem aber Brautgemach und Mahlmotivik einander gegenseitig erklären, werden Aspekte des Raumes (Mahlsaal und Brautgemach als zwei verhältnismäßig kleine Räume), der Versorgung (das antik-mediterrane Brautgemach war ein Ort nicht nur des Liebesspiels, sondern auch des Essens) und der Intimität aufgerufen (das gemeinsame sich Niederlegen im Brautgemach wie auch im Mahlsaal schafft intime Nähe). Im EvPhil werden sodann weitere Bilder für das Mahl aufgerufen, die den uns geläufigen Leib-/ Blut- Worten sehr fern stehen, etwa wenn es in 75,15-20 vom »Kelch des Gebets« heißt, dass er »Zeichen des Blutes« ist, und vom Blut: »Wenn wir dies trinken, werden wir uns den vollkommenen Menschen aneignen« 70 . Hier macht die Vorstellung keinerlei Schwierigkeiten, dass diese Sprache zu einer dem EvPhil geläufigen Form des zu Tisch Liegens bei einem frühchristlichen Mahl gehörte. Die hier kurz vorgestellten-- je nach Zählung-- sechs bis neun zusätzlichen Texte mit Worten, die in den ersten beiden Jahrhunderten bei frühchristlichen Mählern über Brot und Wein gesprochen wurden oder zumindest dafür konzipiert waren, stützen die ritualtheoretische These, dass Worte so sorgfältig wie improvisiert innerhalb eines etablierten Ritualgeschehen wie dem griechisch-römischen Mahl eine Funktion ausübten. Diese zusätzlichen Texte 71 aus der Didache, dem Judasbrief, Ignatius, der Johannesoffenbarung, dem Lukas-, dem Johannes- und dem Philippusevangelium widerraten außerdem der Annahme, dass die Leib-/ Blut-Worte aus 1Kor (und dann Mk, Mt und-- in unterschiedlichen Fassungen-- Lk) omnipräsent und überall gültig waren. Stattdessen liegt es nahe, von einer großen Vielfalt an sprachlichen Gestaltungen von Libation und Segen auszugehen, entsprechend der angenommenen allgemeinen griechisch-römischen Mahltypologie. Mir liegt daran, eine Sicht auf die Leib-/ Blut-Worte innerhalb dieser Mähler zu befördern, die darin nicht mehr und nicht weniger als eine Ausprägung innerhalb eines weitaus breiteren sprachlichen Spektrums von Worten zu Brot und Wein erkennt. Allerdings muss ich, bevor ich zum Schluss komme, noch kurz auf Burton Macks ausführliche und gut begründete Auffassung eingehen, dass die Leib-/ Blut-Worte in 1Kor 11,23-25 ätiologisch zu verstehen sind. 72 Obwohl Mack nicht notwendigerweise voraussetzt, dass diese Leib-/ Blut-Worte über zwanzig Jahrhunderte hinweg liturgisch als Ätiologien gewirkt und so die im 21. Jh. verbreitete christliche Anschauung geprägt haben, bedarf doch die nachhaltige und paradoxe Wirkung dieser Anschauung auf das übliche Verständnis von 1Kor 11,23-25 als eines »Gründungstextes« einer gewissen Aufmerksamkeit. Macks eigene Erklärung beugt jedem Missverständnis vor: »In Anwendung auf die Mahlsituation sollte man die übermäßigen Ausschmückungen, die Symbole erwiesenermaßen im Zuge ihrer Wiederholung erhalten, beiseitelassen. Die ätiologischen Elemente […], die die Vorstellung hervorrufen, dass Jesus dem Mahl vorsitzt und diese Worte spricht, sind eine Kultlegende. Die sekundäre Übertragung dieser Szene auf die Gegenwart mittels der Imperative ›Tut dies zu meinem Gedächtnis‹ muss man ebenfalls in Klammern setzen. Was bleibt […], ist eine gewisse Verbindung zwischen zwei speziellen Momenten des Mahles und dem von Christus ins Spiel gebrachten Märtyrergedanken […]. Das eine war der Tod selbst, das andere war die Deutung seines Todes als Gründungsereignis »für« die Gemeinde. Der Becher Wein konnte ohne Schwierigkeiten mit dem Tod assoziiert werden, zumal dann, wenn die früheste Praxis eine Libation war. »Mir liegt daran, eine Sicht auf die Leib-/ Blut-Worte innerhalb dieser Mähler zu befördern, die darin nicht mehr und nicht weniger als eine Ausprägung innerhalb eines weitaus breiteren sprachlichen Spektrums von Worten zu Brot und Wein erkennt.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 26 - 2. Korrektur 26 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Zum Thema Das Brechen des Brotes als Signal des Beginns an die Mahlteilnehmer war ein geeigneter Moment, sich an das Gründungsereignis zu erinnern«. 73 Mack erläutert seine Sicht in einer Anmerkung: Die Abendmahlsparadosis war nicht ein Skript für die Wiederholung desselben. Als Ätiologie erfüllte sie eine mythische Funktion in Ergänzung des Kerygmas. 74 Macks ätiologisches Verständnis widerspricht der Annahme eines durch den Text intendierten Nachvollzugs, und es zeigt, dass Paulus der Gemeinde die umfassendere ethische und kosmische Bedeutung des Mahles und der Gemeinde selbst klarmachen wollte. Außerdem bringt Mack durch seine prononciert ätiologische Interpretation zur Geltung, dass die Mahlparadosis in 1Kor 11 zu einer Konfrontation mit dem Selbstverständnis der korinthischen Gemeinde führte, nicht zu einer Charta christlicher Liturgie. Andererseits können die Leib-/ Blut-Worte mithilfe der Ritualtheorie ihren Platz finden als eine unter vielen Weisen, Segensworte und Libation frühchristlicher Mähler zu gestalten. 2.3 Die Bedeutung der Ritualtheorie für das Verständnis frühchristlicher Mähler und anderer Ritualisierungen der frühen Jesus-Christus-Bewegungen. In diesem Essay habe ich das Schnittfeld der neueren Ritualtheorie und der aktuellen Erforschung frühchristlicher Mähler in den Blick genommen. Ich bin nicht dazu gekommen, die gesamte einschlägige Forschung zusammenzufassen. Vielmehr habe ich lediglich einen kleinen Beitrag zu diesen Forschungen geleistet durch die Untersuchung, wie ritual studies und griechischrömische Mahltypologie auf einen bestimmten Aspekt dieser Mähler angewendet werden können, nämlich auf die Leib-/ Blut-Worte, die so lange die Diskussion der frühchristlichen Mahlforschung dominiert haben. Der im Umfeld der SBL organisierte Forscherverbund zum griechisch-römischen Mahl hat sich mit zahlreichen anderen Fragen zu den frühchristlichen Mählern befasst, auf die in diesem Beitrag nur mittels der bibliographischen Angaben in den Anmerkungen verwiesen werden konnte. Wichtig ist: Die Mahlforschung der SBL zeigt beispielhaft, wie die ritual studies dazu verhelfen, frühchristliche Ritualisierungen viel stärker als bisher wahrzunehmen. Hier ist v. a. auf die Erforschung der christlichen Taufe während der ersten beiden Jahrhunderte zu verweisen, die hinter dem ritualtheoretischen Reflexionsstand in vieler Hinsicht zurück bleibt. Weitere Ritualisierungen der frühen Jesus-Christus-Bewegungen wären ritualtheoretisch zu erschließen: Salbungen, Exorzismen, Begräbnisse, Segen und Fluch, Hochzeit. Hier ist von den ritual studies derselbe Erkenntnisgewinn zu erwarten wie auf dem Feld der frühchristlichen Mähler. Anmerkungen 1 Klärungsbedürftig ist die unscharfe Formulierung Jesus/ Christ(ian) movements, im Deutschen behelfsweise wiedergegeben mit »Jesus-Christus-Bewegungen«, gerade in Bezug auf Festmähler, welche die Grundstruktur für Versammlungen aller Art bzw. für das kultische Leben eines breiten Spektrums an Gruppierungen oder Bewegungen bildeten. Unklarheit herrscht in der Forschung insbesondere hinsichtlich der Frage nach dem zeitlichen Rahmen, innerhalb dem sich in den ersten beiden Jahrhunderten die Nomenklatur »christlich« für einige dieser Bewegungen herausgebildet haben mag, während andere Bewegungen dagegen weiterhin als dem breiten Spektrum jüdischer Bewegungen angehörend betrachtet wurden. Der terminologischen Unschärfe von »Jesusbewegung(en)« bzw. »(früh)christliche Bewegung(en)« begegnet der folgende Artikel mit Hilfe einer dreifachen Unterscheidung: (1) »Jesusbewegung(en)« verweist auf nach wie vor im Konglomerat des antiken Judentums zu verortende Gruppierungen; (2) dies gilt auch für den »Christus-«-Teil der Formulierung; die zusammengesetzte Wendung »Christusbewegung« steht-- im Unterschied zu (1)-- allerdings für unterschiedliche Ausgestaltungen des Judentums in ihrem Bezug zu Bewegungen, die an der Person Jesu als eines »Gesalbten/ Christos« interessiert waren; (3) Die Endung »-lich« meint dagegen schließlich Bewegungen, die sich an einigen Orten im Zuge des 2. Jh. herausgebildet haben, als außerhalb des Judentums stehend charakterisiert und mit Hilfe einer Art »christlichen« Kategorie erfasst werden können; diese Unterscheidung will nicht zu einer Klärung der Frage beitragen, wann und wo die »Jesus-/ Christus-/ christliche(n) Bewegung(en)« anzusiedeln waren; vielmehr folgt sie der in diesem Artikel zum Ausdruck gebrachten Annahme, dass Gruppierungen und Bewegungen, die sich auf diese oder jene Weise als mit der Person Jesu in Verbindung stehend betrachteten, zwar noch kein christliches »Selbstbewusstsein« entwickelt hatten, ihre Mahlpraxis aber bereits starke Ähnlichkeit zur Praxis derjenigen Gruppierung aufwies, die sich selbst irgendwann im Verlauf der ersten beiden Jahrhunderte als christlich verstand. 2 Vgl. dazu die Forschungsarbeiten zum Thema »Mahl«, präsentiert von Dennis Smith (»Hospitality and Early Christian Meals«) und Soham Al-Suadi (»The Ambivalent Symposiarch Role in Greco-Roman Meals«) auf der Jahresversammlung der International Society of Biblical Literature in Rom, 6.-9. Juli 2009. 3 Vgl. die Konferenz zu »Mahl und religiöse Identität«, die vom 11.-15. Juni 2011 im Rahmen des DFG-Projektes »Tranzendenz und Gemeinsinn« der Technischen Universität Dresden stattgefunden hat. Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 27 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 27 Hal Taussig Was bei Tisch passiert: Ein ritualtheoretischer Blick auf die eucharistischen »Einsetzungsworte« 4 Das vom Schweizer Nationalfond geförderte Basler Forschungsprojekt »Tischgemeinschaften. Orte religiöser Praxis und Identität im Judentum zur Zeit des Zweiten Tempels und im frühen Christentum« (2007-2013), hat ein breites Spektrum an innovativen Forschungsarbeiten und Veröffentlichungen hervorgebracht, von denen eine Reihe in explizitem Bezug zum SBL-Seminar standen. 5 Vgl. D. Smith/ H. Taussig (Hgg.), Meals in the Greco- Roman World: Social Conflict, Experimentation, and Formation at the Meal, New York 2012; S. Marks/ H. Taussig (Hgg.), Meals in Early Judaism: Social Formation at the Table, New York 2014; K. Ehrensperger/ N. MacDonald/ L. Sutter Rehmann (Hgg.), Decisive Meals: Table Politics in Biblical Literature, London 2012; M. Klinghardt/ H.Taussig (Hgg.), Mahl und religiöse Identität im frühen Christentum (TANZ 56), Tübingen 2012. 6 Vgl. A. McGowan, Ancient Christian Worship: Early Church Practices in Social, Historical, and Theological Perspective, Grand Rapids, MI 2014; S. Al-Suadi, Essen als Christusgläubige: Ritualtheoretische Exegese paulinischer Texte (TANZ 55), Tübingen 2011; H. Taussig, In the Beginning Was the Meal: Social Experimentation and Early Christian Identity, Minneapolis 2009; S. Marks, First Came Marriage: The Rabbinic Appropriation of Early Jewish Wedding Ritual (Judaism in Context 13), im Druck; J.D. Rosenblum, Food and Identity in Early Rabbinic Judaism, Cambridge UK/ New York 2010; P. Harland, Dynamics of Identity in the World of the Early Christians: Associations, Judeans, and Cultural Minorities, New York/ London 2009. 7 Bei Smith und Klinghardt kommt es beidesmal zur Dekonstruktion der zwei, auf diesem Gebiet für das 20. Jahrhundert führenden Werke, nämlich: H. Lietzmann, Messe und Herrenmahl. Eine Studie zur Geschichte der Liturgie, Bonn 1926; sowie J. Jeremias, Die Abendmahlsworte Jesu, Göttingen 1935. 8 D. Smith, From Symposium to Eucharist: The Banquet in the Early Christian World, Minneapolis 2003, 2. 9 Die Ansätze von Klinghardt und Smith greifen ineinander und stimmen in ihrer Grundthese überein, was sich für einen Zeitraum von zwanzig Jahren zurückverfolgen lässt: Smith verfasste 1980 eine Harvard Divinity School Th. D.-Dissertation mit dem Titel »Social Obligation in the Context of Communal Meals: A Study of the Christian Meal in I Corinthians in Comparison with Graeco- Roman Communal Meals«. Einige Jahre später, in den späten 1980er Jahren, verfasste er einige Artikel zu diesem Thema und brachte mit mir 1990 (zu diesem weiten Dissertationsfeld) ein kleines Büchlein mit dem Titel »Many Tables« heraus, welches auch auf eine breitere, kirchenorientiertere Leserschaft außerhalb des akademischen Forschungsdiskurses zielte. 1996 veröffentlichte Klinghardt seine Habilitationschrift mit dem Titel »Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft: Soziologie und Liturgie frühchristlicher Mahlfeiern«, welche die Kernthese im Rahmen einer Forschungsarbeit erstmalig erfolgreich zur Anwendung brachte. In der Zwischenzeit gründeten Smith und ich die SBL-Konsultation zum Thema »Meals in the Greco-Roman World«, ihrerseits Wegbereiter für das stabilere Lehrgebäude des SBL-Seminars unter demselben Titel. 2003 veröffentlichte Smith dann schließlich sein Hauptwerk zu diesem Forschungsansatz (vgl. D. Smith, From Symposium to Eucharist: The Banquet in the Early Christian World, Minneapolis 2003). 10 M. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft, Soziologie und Liturgie frühchristlicher Mahlfeiern (TANZ 13), Tübingen [u. a.] 1996, 24 f. 11 Vgl. Taussig, In the Beginning, 26. 12 Zur erstmaligen, vollständig veröffentlichten Anerkennung vgl. D. Smith/ H. Taussig, Many Tables: The Eucharist in the New Testament and Liturgy Today, Harrisburg 1990; maßgeblich gewürdigt wurde die Arbeit von Smith dann durch Burton Mack, vgl. B. L. Mack, A Myth of Innocence: Mark and Christian origins, Philadelphia 1994; es war auch Mack, der sich in den späten 1990er Jahren im Rahmen des SBL-Seminars zu »Ancient Myths and Modern Theories of Christian Origins« Smiths neuem Mahl-Paradigma zugespitzt zuwandte. Zur erstmaligen Vernetzung zwischen Smith und Klinghardt kam es meines Erachtens in Klinghardts JBL-Beitrag 1998. 13 Das SBL-Seminar wurde geleitet von Smith und mir, mit Klinghardt im Vorstand, und markierte die erste explizite und institutionelle Zusammenarbeit von uns dreien. 14 Einen guten forschungsgeschichtlichen Überblick zu Fortschritten, Oppositionen und Ausarbeitungen bietet Klinghardt, Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft, 1-20; ebenso die Version von Smith, From Symposium, 295-298 (vgl. FN-Apparat! ). 15 Der Formation des SBL-Seminars war eine dreijährige SBL-Konsultation zum Thema »Meals in the Greco- Roman World« vorangegangen. Das erste Jahr der SBL- Konsultation (2002) brachte papers zum Thema der Klinghardt-Smith-Typologie von seiten beider Autoren hervor; ich selbst steuerte ein ritualwissenschaftliches paper bei. 16 Diese generalisierende Aussage lässt sich allerdings nicht auf den Vollzug der Taufe innerhalb des oben genannten Zeitraumes anwenden. Das Verhältnis von Taufe und Festmahl war in der neuen Mahlforschung bisher noch kein Thema. 17 A. McGowan, Rethinking Eucharistic Origins, Pacifica 23, (2010), 173-191, hier: 186. 18 Al-Suadi, Essen als Christusgläubige, 58. 19 Burkert, Hammerton-Kelly, Girard und Smith, 1987, 196, in: Al-Suadi, Essen als Christusgläubige, 58. 20 Vgl. J. Z. Smith, To Take Place: Toward Theory in Ritual, Chicago 1987; ders., The Bare Facts of Ritual in: Imagining Religion: From Babylon to Jonestown, Chicago 1982; vgl. ebenso ders. (Hg.), HarperCollins Dictionary of Religion, San Francisco 1995 (ein voluminöses und zum Thema Ritual äußerst zweckdienliches Werk); eine systematische Zusammenfassung der Arbeit von Smith bietet B.L. Mack, Introduction: Ritual and Religion, in: R.G. Hamerton-Kelly (Hg.), Violent Origins: Walter Burkert, René Girard, and Jonathan Z. Smith on Ritual Killing and Cultural Formation, Stanford 1987. 21 So besitzen insbesondere die beiden Turner’schen Begrifflichkeiten Communitas und Liminalität als ritualwissenschaftliche Konzepte das Vermögen, die zentrale Rolle Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 28 - 2. Korrektur 28 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Zum Thema von Festmählern im kultischen Kontext frühjüdischer und -christlicher Gruppierungen treffend zu erfassen. Auf folgende Arbeiten des Kulturanthropologen sei in diesem Zusammenhang verwiesen: V. Turner, The Ritual Process: Structure and Anti-Structure, Chicago 1976; ders., The Forest of Symbols: Aspects of Ndembu ritual, Ithaca, NY 1967; ders., The Drums of Affliction: A study of religious processes among the Ndembu of Zambia, Oxford 1968; ders., Dramas, Fields, and Metaphors, symbolic action in human society, Ithaca, NY 1975 usw. Mit Blick auf die frühjüdische und -christliche Mahlthematik rekurrieren folgende Untersuchungen auf Turners Ansatz: Al-Suadi, Essen als Christusgläubige, 50-57, 218-229; J. Brumberg- Kraus, Meals as Midrash: A Survey of Ancient Meals in Jewish Studies Scholarship, in: L.J. Greenspoon (Hg.), Food and Judaism, Omaha, Neb. 2005; B. Kahl, Galatians Reimagined: Reading With the Eye of the Vanquished, Minneapolis 2010, 199-202; 274-279; M. Klinghardt, The Ritual Dynamics of Inspiration: The Therapeutae’s Dance, in: S. Marks/ H. Taussig, Meals in Early Judaism: Social Formation at the Table, New York 2014; P. Bradshaw, Foundations in Ritual Studies: A Reader for Students of Christian Worship, Grand Rapids, MI 2007; Chr. Strecker, Die liminale Theologie des Paulus: Zugänge zur paulinischen Theologie aus kulturanthropologischer Perspektive (FRLANT 185), Göttingen 1999; Smith/ Taussig, Many Tables; Taussig, In the Beginning, 2009. 22 Auch wenn sich Douglas selbst in ihrem Werk nicht zur (Fest-)Mahlthematik im Judentum und Christentum des 1.-2. Jh. äußerte, so inspirierten ihre Analysen zur westlich-säkularen Mahlkultur des 20. Jh. die neutestamentliche Fachwelt. Zu ihren von neutestamentlicher Seite am häufigsten zitierten Werken zählen: M. Douglas, Deciphering a Meal, in: C. Geertz (Hg.), Myth, Symbol and Culture, New York 1974, 61-81; dies., The Eucharist: Its Continuity with the Bread Sacrifice of Leviticus, in: Modern Theology, 15.1 (1999), 209-224; folgende Untersuchungen zum frühjüdischen und -christlichen Mahlverständnis verweisen auf Douglas: Al-Suadi, Essen als Christusgläubige, 50-54; 199-201; A. McGowan, Ascetic Eucharists: Food and Drink in Early Christian Ritual Meals, Oxford 1999, 3-7; Marks/ Taussig, Meals in Early Judaism, 14 f.; Smith/ Taussig, Many Tables, 123-126; Taussig, In the Beginning, 29; 57; 65; 72 u. a. 23 Im Rahmen seiner soziologischen und sozialphilosophisch motivierten Analysen konstatierte Bourdieu eine wechselseitige Beeinflussung von sozialer Konvention, rituellem Vollzug und habitus, vgl. ders. Outline of a Theory of Practice, Cambridge [u. a.] 2010, 99-190; ebenso ders., Language and Symbolic Power, Cambridge 1991. Eben diese Analysen Bourdieus übten wiederum großen Einfluss auf Untersuchungen zum frühjüdischen und -christlichen Mahl aus. Von großer Bedeutung für den vorliegenden Aufsatz ist Bourdieus Interesse am sprachlosen Potenzial von Praxis und Ritual: nämlich insofern, als auch frühjüdische und -christliche Mähler die Bedeutung der Sprache dezentrieren. 24 So verweist J. Z. Smith im Folgenden stets auf den Ritualwissenschaftler Jonathan Z. Smith, der Neutestamentler Dennis Smith wird dagegen mit vollem Namen aufgeführt. 25 Vgl. Smith/ Taussig, Many Tables, 100 ff. 26 J. Z. Smith, To Take Place, 100 f. 27 J. Z. Smith, Imagining Religion, 64. 28 C. Bell, Ritual: Perspectives and Dimensions, New York 1997, 12. 29 J. Z. Smith, Imagining Religion, 54-66. 30 Bell, Ritual: Perspectives and Dimensions, 12. 31 Vgl. J. Z. Smith, To Take Place, 131-162. 32 Smith/ Taussig, Many Tables, 102. 33 Zur weitverbreiteten apophoreta-Praxis vgl. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft, 143-152. Der Brauch der Verteilung von Überresten des Gastmahls an Bedürftige ist seinem Ursprung nach wohl im Tempelkult zu verankern und bezieht sich auf die im Tempel geopferten Weihegaben. 34 Vgl. Taussig, In the Beginning, 59-61. 35 War J. Z. Smith auch in erster Linie kein Neutestamentler bzw. Forscher des frühen Christentums, so war er dennoch am Phänomen der Jesus-/ Christus-/ christlichen Bewegung(en) der ersten beiden Jahrhunderte überaus interessiert und galt zehn Jahre lang (ca. 1990-2000) als ein engagierter und einflussreicher Teilnehmer der SBL-Konsultation und des Seminars zu »Ancient Myths and Modern Theories of Christian Origins«. Zu seinen Veröffentlichungen im Rahmen der Teilnahme am SBL- Seminars zählen: J. Z. Smith, Dayyeinu, in: R. Cameron/ M.P. Miller (Hgg.), Redescribing Christian Origins, Brill/ Leiden/ Boston 2004; ders., Re: Conrinthians, in: R. Cameron/ M.P. Miller (Hgg.), Redescribing Paul and the Corinthians, Atlanta 2011. 36 Vgl. an dieser Stelle eine Reihe von Forschungsarbeiten, die im Rahmen von und an der Seite des SBL-Seminars zum Thema »Mahl« im frühen Christentum erschienen sind und die sämtlich zu finden sind in: D. Smith/ H. Taussig (Hgg.), Meals in the Early Christian World: Social Formation, Experimentation, and Conflict at the Table, New York 2012; ebenso die Arbeiten in: S. Marks/ H. Taussig (Hgg.), Meals in Early Judaism: Social Formation at the Table, New York 2014. 37 Al-Suadi, Essen als Christusgläubige, 58. 38 C. Bell, Ritual Theory, Ritual Practice, New York 1992, 221. 39 Ebd., 140. 40 Al-Suadi, Essen als Christusgläubige, 182. 41 Taussig, In the Beginning, 59. 42 Taussig, In the Beginning, 66 f. Im Anschluss an diese Textpassage wird vom Autor entfaltet, inwiefern die für ein Mahl typische Weise des Liegens, Trinkens, Essens, ebenso wie die Frage, wer beim Mahl die leitende Funktion besitzt und welche Personen den Randbezirk des Mahles bilden, die einfache Mahlhandlung übersteigt, was im Rückgriff auf ritualwissenschaftliche Terminologie zum Ausdruck gebracht wird (vgl. dazu auch Kap. 5-8 des Buches). 43 Zusätzlich zu den bereits genannten Veröffentlichungen vgl. H. Taussig, Dealing Under the Table: Ritual Negotiation of Women’s Power in the Syro-Phoenician Woman Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 29 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 29 Hal Taussig Was bei Tisch passiert: Ein ritualtheoretischer Blick auf die eucharistischen »Einsetzungsworte« Pericope, in: E. Castelli/ H. Taussig (Hgg.), Reimagining Christian Origins: A Colloquium in Honor of Burton L. Mack, Philadelphia 1996; ders., The Emergence of Christian Community in the Hellenistic Mediterranean, in: C. Nerney/ H. Taussig, Reimagining Life Together in America: A New Gospel of Community, Lanham, MD 2002; ders., Five Early Christian Communities, in: ebd.; ders., Meals as Acts of Resistance and Experimentation: The Case of the Revelation to John, in: K. Ehrensperger/ N. MacDonald/ L. Sutter Rehmann (Hgg.), Decisive Meals: Table Politics in Biblical Literature, London 2012. 44 So gehe ich davon aus, dass es sich bei 1Kor 11,23-25 um den ältesten Text handelt, gefolgt von Mk 14,22-25, dann Mt 26,26-29 und zuletzt Lk 22,15-20. Daneben tendiere ich zu der Annahme, dass Markus wahrscheinlich den ersten Korintherbrief kannte und in irgendeinem (literarischen) Abhängigkeitsverhältnis zu diesem stand. 45 Das Leitmotiv dieses umfangreichen Werkes bildet eine Ritualanalyse zu 1Kor 11,23-25. 46 Dieses Werk, welches gemeinsam von Klinghardt und mir herausgegeben wurde, ist das Produkt zahlreicher Forschungsbeiträge, eingereicht für eine Konferenz der TU Dresden (15.-18. Juni), die in Zusammenhang mit Klinghardts Projekt »Mahl und Kanon« stattfand. 47 Vgl. dazu M. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft; Taussig, In the Beginning, 115-191; ders., Meals as Acts of Resistance and Experimentation: The Case of the Revelation to John, in: K. Ehrensperger/ N. MacDonald/ L. Sutter Rehmann (Hgg.), Decisive Meals: Table Politics in Biblical Literature, London 2012; Al- Suadi, Essen als Christusgläubige, 63-209; 255-316. 48 Vgl. H. Taussig, Meals as Acts of Resistance and Experimentation: The Case of the Revelation to John, in: K. Ehrensperger/ N. MacDonald/ L. Sutter Rehmann (Hgg.), Decisive Meals: Table Politics in Biblical Literature, London 2012. 49 Eine umfangreiche Abhandlung zur römisch-imperialen Besorgnis, die Vereinigungen könnten dem Staat feindselig gesonnen sein, findet sich bei Taussig, In the Beginning, 115-144. 50 Zur Topik »Early Christian Meals and the Cross« und zur darauffolgenden Betrachtung von Formen des Widerstands gegenüber dem Imperium Romanum, wie sie in den frühen Jesus-/ Christus-/ christlichen Mählern auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck kamen, vgl. Taussig, In the Beginning, 130-139; 139-143; zur weiteren Ausarbeitung dieser Thematik vgl. H. Taussig, Meals as Acts of Resistance and Experimentation: The Case of the Revelation to John, in: K. Ehrensperger/ N. MacDonald/ L. Sutter Rehmann (Hgg.), Decisive Meals: Table Politics in Biblical Literature, London 2012. 51 Vgl. dazu Klinghardt, Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft, 269-371. 52 Taussig, In the Beginning, 45 f. 53 Die Bedeutung der Israeltradition bleibt mit Blick auf diese Thematik unbestritten, doch um ein kohärenteres Bild zu erhalten, ist es angebracht, in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung des Liegens während des Mahlvollzugs im Hellenismus/ der griechisch-römischen Kultur hinzuweisen; vgl. dazu J. Kulp, The Origins of the Seder and Haggadah, CBR4: 1, 2005; B. Bokser, The Origins of the Seder: The Passover Rite and Early Rabbinic Judaism, Berkeley [u. a.] 1984. Die mögliche Bedeutung der Liegeordnung während eines Mahls zur Zeit des Zweiten Tempels wäre einer Betrachtung wert und wurde bisher noch nicht erforscht. 54 Schon die Varianten der synoptisch-paulinischen Abendmahlsparadosis sprechen für den improvisierten Charakter der Segensworte zu Brot und Wein-Libation. 55 Vgl. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft, 373-492. 56 Vgl. ebd. 477-497; K. Niederwimmer, Die Didache, Göttingen 1993, 11-19; ders., The Didache: A Commentary, Minneapolis 1998, 35-55. 57 Deutsche Übersetzung von G. Schöllgen, Didache = Zwölf- Apostel-Lehre, Freiburg [u. a.], Herder 1991, 121; 123. 58 Vgl. A. McGowan, ›Is There a Liturgical Text in this Gospel? ‹: The Institution Narratives and Their Early Interpretive Communities, JBL118 (1999), 77-89. 59 Vgl. A. McGowan, in: The Myth of the Lord’s Supper, 18. 60 Vgl. dazu folgendes Dankgebet aus Nag Hammadi, dessen Rahmen rituelle Praktiken (insbesondere Mahlpraxis, d. h. die Einnahme einer reinen Speise) bilden, das aber-- trotz des Leib-Motives-- in keinem Bezug zu 1 Kor steht: »Wir freuen uns, daß du uns, die wir noch im Leibe sind, vergottet hast durch deine Gnosis« (NHC IV, 7, p. 64); deutsche Übersetzung von K.-W. Tröger, in: H.-M. Schenke (Hg.), Nag Hammadi Deutsch, Studienausgabe, Berlin/ New York 2010, 368. 61 McGowan, Rethinking Eucharistic Origins, 188. 62 Smith, From Symposium to Eucharist, 285. 63 Das Johannesevangelium datiert Jesu Todestag auf den Tag des Passafestes. So handelt es sich bei Jesus, dem Lamm Gottes (vgl. Joh 1,29) um das Lamm, welches zum Passafest geschlachtet wird. Im Großen und Ganzen galt es bisher als wissenschaftlicher Konsens, diese johanneische Angabe eher als theologisches/ mythisches Konstrukt denn als Artikulierung eines Mahles zu deuten. 64 Zur ausführlicheren Argumentation vgl. Taussig, In the Beginning, 127-130. 65 Vgl. dazu S. Marks detaillierte und komplexe Analyse zu spätisraelitischen und rabbinischen Hochzeiten und Festen unter Einbeziehung von Elementen der griechischrömischen Typologie, vgl. S. Marks, Jewish Weddings in the Greco-Roman Period: A Reconsideration of received Ritual, Philadelphia 2003. 66 Vgl. EvPhil 57,9; 59,5.6; 64,24-31; 67,10; 73,2-6.17-19; 74,22; 86,6-10. 67 Zur These, die Brautkammer stehe für das Ergebnis des Taufvollzugs, der Salbung und der Eucharistie (mehr als jedes andere Ritual) vgl. E. Pagels, Ritual of the Gospel of Philip, in: John D. Turner (Hg.), The Nag Hammadi Library After 50 Years: Proceedings of the 1995 Society of Biblical Studies Commemoration, Leiden/ New York/ Köln/ Brill 1997, 281; dazu auch E. Thomassen, The Spiritual Seed: The Church of the Valentinians, Leiden 2006, 100. 68 Vgl. insbesondere Kap. 67. Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 30 - 2. Korrektur 30 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Zum Thema 69 Vgl. Adversus haereses 1.6.4; 1.21.3. 70 Deutsche Übersetzung aus H.-M. Schenke, Nag Hammadi Deutsch, Studienausgabe, Berlin 2007, 157. 71 Zur Annahme, dass die Jesus-/ Christus-/ christlichen Mähler das kompositionelle, performative und auf Wiederholung ausgerichtete setting für zahlreiche weitere, variationsreiche (Jesus-/ Christus-/ christliche) Texte bildeten, vgl. Taussig, In the Beginning, 178-192. 72 Vgl. B. Mack, A Myth of Innocence: Mark and Christian Origins, Philadelphia 1988, 103-142. 73 Ebd., 119 f. 74 Vgl. ebd., 120. „Wie sollen Christen mit Besitz umgehen? Wie können Reiche zur christlichen Gemeinde gehören? “ - Im Lukasevangelium und besonders im lukanischen Sondergut finden sich zu diesen Fragen divergierende Aussagen. Die vorliegende Studie deutet dies als Indiz für einen kontrovers geführten Diskurs um das Thema Armut und Reichtum/ Umgang mit materiellen Gütern. Ihr liegt nicht daran, ein lukanisches Konzept zu erschließen, sondern die Geschichte eines Diskurses zu rekonstruieren. Die Diskursanalyse interpretiert die einschlägigen Texte als Diskursstrang in einem ethischen Diskurs. Er musste geführt werden, da sich die Frage des Umgangs mit materiellen Gütern als unumgängliche ethische Frage für christliches Leben darstellte. Antworten wurden in der Jesusüberlieferung gesucht und gefunden. Das lukanische Sondergut fand neben den anderen Diskurssträngen Mk und Q den Weg ins Lukasevangelium. Im Schlussteil der Untersuchung wird gezeigt, wie Lukas in seinem Evangelium diese drei konkurrierenden Diskursstränge zum Thema Armut und Reichtum/ Umgang mit materiellen Gütern ordnete. Helga Kramer Lukas als Ordner des frühchristlichen Diskurses um „Armut und Reichtum“ und den „Umgang mit materiellen Gütern“ Eine überlieferungsgeschichtliche und diskurskritische Untersuchung zur Besitzethik des Lukasevangeliums unter besonderer Berücksichtigung des lukanischen Sonderguts NET NEUTESTAMENTLICHE ENTWÜRFE ZUR THEOLOGIE 21 2015, 380 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-7720-8569-7 NEUERSCHEINUNG Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen • Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@narr.de • www.narr.de - Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 31 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 31 Neu ist die Idee der Erforschung frühchristlicher Rituale nicht, auch nicht auf dem Gebiet des Neuen Testaments. Bereits die sogenannte Mythen- und Ritualwissenschaft, wie sie von William Robertson Smith begründet und u. a. von James Frazer und Jane Harrison zur Schultradition der Cambridge Ritualists ausgebaut wurde, erklärte das Ritual zum unerlässlichen Bestandteil eines jeden Mythos. Einige Anhänger dieser Denkrichtung machten die Ritualhandlung sogar zur Grundvoraussetzung für die Entstehung eines Mythos oder einer Erzählung. 1 Das europäische Pendant zu diesem Ansatz war die Religionsgeschichtliche Schule, die in Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts aufkam. Führende Vertreter dieser Schule wie etwa Richard Reitzenstein rückten das Ritual in den Fokus wissenschaftlicher Betrachtung, ein Denkansatz, der nicht der konventionellen philologischen und theologischen Betrachtungsweise dieser Zeit entsprach. 2 Im Rahmen dieser Schule entstanden Untersuchungen zum frühchristlichen Ritual. 3 Ebenso wurde die Möglichkeit einer rituellen Funktion frühchristlicher Schriften erwogen. 4 Im 20. Jahrhundert entstanden außerdem Studien, die das Neue Testament im rituellen, liturgischen oder kultischen Kontext des antiken Judentums oder frühen Christentums positionierten. Im Unterschied zum historisch-vergleichenden Ansatz der Religionsgeschichtlichen Schule 5 stand nun die literarische Analyse eines neutestamentlichen Textes, dessen Inhalt, Form oder Struktur im Mittelpunkt. Die These, dass es sich beim 1. Petrusbrief ursprünglich um eine Taufrede handelte, geht auf Wilhelm Bornemann zurück. Sie wurde von Herbert Preisker weiterentwickelt und später von Frank Leslie Cross übernommen, der den Taufkontext als Passahfeier spezifizierte. 6 Auf ähnliche Weise wurde die Passionsgeschichte untersucht und, im Falle des Markusevangeliums, das gesamte Evangelium. Karl Ludwig Schmidt sah im literarischen Charakter der Passionsgeschichte einen Nachweis für ihren liturgischen Gebrauch. 7 Bei Étienne Trocmé kam es später zur Anbindung der Passionsgeschichte an umfangreiche Erzählungen, die während jüdischer Feste verlesen wurden, woraus er schlussfolgerte, dass die frühesten Christen die Passionsgeschichte im Rahmen ihrer Passahfeier gelesen hatten. 8 Dies führte bald darauf zu der Annahme, dass das Evangelium in seinem Gesamtaufriss einem liturgischen setting entstammte bzw. eine liturgische Funktion erfüllte. 9 Benoît Standaert, gefolgt von Augustine Stock, vertrat nicht nur die Auffassung, das Markusevangelium sei während des Passahabends (Osternacht) verlesen worden, sondern nahm auch an, dass es als Taufliturgie diente, sofern Ostern für die junge Kirche einen beliebten Zeitpunkt für Taufen darstellte. 10 Weder die religionsgeschichtlichen noch die späteren literarischen Bemühungen einer Anbindung neutestamentlicher Schriften an ein rituelles setting stießen innerhalb des konventionellen Forschungsdiskurses auf nennenswerte Resonanz. Man könnte sogar sagen, dass die Forschung des 20. Jahrhunderts sich generell einem solchen Zugang verweigerte. Dies ist überaus erstaunlich angesichts derzeitiger Forschungsinteressen zu Bildung, Zusammensetzung, Identität und institutioneller Entwicklung christlicher Gruppierungen-- sämtlich Themen, die ritualtheoretische Fragen berühren. Sodann sind sozialgeschichtliche und sozialwissenschaftliche Untersuchungen seit etwa vierzig Jahren en vogue, doch nur sehr wenige widmen sich dem Thema Ritual. 11 In den letzten Jahren wirkte sich diese Nichtbeachtung von Ritualen in anderer Weise aus. Seit den 1990er Jahren etablierte sich die Ritualforschung als eine eigenständige Disziplin. Literatur und Theorien zum Thema sind reichlich vorhanden. Dennoch machen Forscher des frühen Christentums kaum oder gar keinen Gebrauch von Ritualwissenschaft. Dies ist selbst dann der Fall, wenn das Ritual als zu behandelnder Gegenstand in den Fokus tritt. Everett Fergusons maßgebende Untersuchung zur Taufe gibt hierfür ein anschauliches Beispiel ab. 12 Das umfangreiche Werk erhebt zwar den Anspruch, seinen Gegenstand umfassend abzudecken, bietet jedoch keine Abhandlung zur Taufe als Ritual. Nur wenig besser steht es um das voluminöse, über drei Bände und vierundfünfzig Beiträge sich erstreckende Sammelwerk Waschungen, Initiation und Taufe: Spätantike, Frühes Judentum und Frühes Christentum. Nur drei Beiträge bedienen sich eines ritualwissenschaftlichen Ansatzes. 13 Sind somit auch enzyklopädische Studien zur christlichen Taufe in der Antike in jüngster Zeit auf beiden Seiten des Atlantiks erschienen, so hat das Thema Taufe als Ritual gleichwohl nur geringe oder gar keine Beachtung gefunden. Die weitgehende wissenschaftliche Nichtbeachtung antiker christlicher Rituale kann jedoch ebenso Richard E. DeMaris Ritualforschung: Eine Bereicherung für die neutestamentliche Wissenschaft Zum Thema Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 32 - 2. Korrektur 32 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Zum Thema konkret aufgezeigt werden. Eine langjährige, im Kern soziologische Debatte befasst sich mit der Eigenart der sogenannten johanneischen Gemeinschaft. Als seit den 1970er Jahren sozialgeschichtliche Fragestellungen im Bereich der Bibelwissenschaft aufkamen, befassten sich historische und theologische Studien zum Johannesevangelium zunehmend mit der Erscheinungsform dessen, was schließlich unter dem Terminus johanneische Gemeinschaft subsummiert wurde. Beispielsweise entwarf John Louis Martyn eine Geschichte dieser Gemeinschaft als einer Synagogen-Gruppe des späten 1. Jh. n. Chr., die das Trauma des Ausschlusses und die darauffolgende Geburt als neue und separate soziale Einheit durchlebt. 14 Raymond Brown zeichnete in Kombination einer Kompositionsanalyse zum Johannesevangelium 15 und einer Untersuchung zur johanneischen Briefliteratur vier Phasen einer Geschichte der johanneischen Gemeinschaft nach. 16 Brown stellte sein Vorgehen unter den Begriff der Ekklesiologie, doch sein Ansatz berührte die Frage nach der sozialen Konstellation und dem Profil der Gemeinschaft. Konsequenterweise fühlte er sich dazu verpflichtet, auf die Frage einzugehen, ob die Gemeinschaft als »Sekte« einzustufen sei oder nicht, eine explizit soziologische Fragestellung also. 17 Rekonstruktionen dieser Art waren zu dieser Zeit häufig, stets mit primär theologischer Ausrichtung, jedoch unter soziologischem Aspekt. 18 Browns Arbeit war eine Antwort auf stärker soziologisch und sozialwissenschaftlich motivierte Untersuchungen zum Johannesevangelium, eine Vorgehensweise, die auf Wayne L. Meeks bahnbrechendem Werk zu den speziellen Sprachmustern innerhalb des Evangeliums basierte. 19 Die verwirrende Sprache des Evangelisten deutete Meeks als Indiz für den Sektenstatus der johanneischen Gemeinschaft. So bildete sich in den 1980er und 1990er Jahren eine bedeutende Forschungsrichtung heraus, die sich nicht nur mit der johanneischen Gemeinschaft, sondern mit der Jesusbewegung insgesamt befasste. 20 Leitfrage war: Wie können die vielen Gruppierungen, Gemeinschaften, Versammlungen oder Kirchen, welche die Jesusbewegung konstituierten, präzise charakterisiert werden? Als Splittergruppe? Als Sekte? Als Kultgemeinschaft? Im Falle der johanneischen Gemeinschaft kam es vermehrt zu Vorschlägen bezüglich ihres sozialen Profils und ihres Verhältnisses zur umgebenden Gesellschaft, eine Tendenz, die bis heute andauert. 21 wenig wie jegliche Indifferenz gegenüber der Ritualwissenschaft über die zentrale Bedeutung von Ritualen für alle Formen menschlichen Zusammenlebens, inklusive des Zusammenlebens in der frühen Kirche, hinwegtäuschen. Positiv gesprochen: Ein erhöhtes Maß an Aufmerksamkeit gegenüber Ritualen und die Anwendung ritualwissenschaftlicher Ansätze auf dem Gebiet neutestamentlicher Wissenschaft könnte zur Beantwortung zahlreicher soziologischer Fragen auf dem Feld frühchristlicher Gemeinschaften beitragen. 1. Ein Testfall: Die johanneische Gemeinschaft in ritualwissenschaftlicher Perspektive Der erhebliche Nutzen der Ritualforschung für die neutestamentliche Wissenschaft soll nun aber nicht nur generell behauptet, sondern auch anhand eines Beispiels Prof. Dr. Richard E. DeMaris studierte Philosophie und Religious Studies an der University of Illinois - Urbana, Biblical Studies am Princeton Theological Seminary und New Testament Studies an der Columbia University - Union Theological Seminary (M.Phil., 1986; Ph.D., 1990). Heute ist er Professor für New Testament Studies an der Valparaiso University (USA). Sein Interessengebiet umfasst die Archäologie der Neutestamentlichen Welt sowie die Erforschung frühchristlicher Rituale. Bekannt ist er für sein Werk »The New Testament in Its Ritual World,« London 2008. Daneben zahlreiche Veröffentlichungen, zuletzt: »Backing away from Baptism: Early Christian Ambivalence about Its Ritual,« Journal of Ritual Studies 27 (2013), 11-19; »Sacrifice, an Ancient Mediterranean Ritual,« Biblical Theology Bulletin 43 (2013), 60-73. Prof. Dr. Richard E. DeMaris »Ein erhöhtes Maß an Aufmerksamkeit gegenüber Ritualen und die Anwendung ritualwissenschaftlicher Ansätze auf dem Gebiet neutestamentlicher Wissenschaft könnte zur Beantwortung zahlreicher soziologischer Fragen auf dem Feld frühchristlicher Gemeinschaften beitragen.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 33 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 33 Richard E. DeMaris Ritualforschung: Eine Bereicherung für die neutestamentliche Wissenschaft Paradigmatische sozialwissenschaftliche Untersuchungen zur johanneischen Gemeinschaft wurden unter Verwendung sozialwissenschaftlicher Deutungsmodelle expliziert und verfeinert. Bruce Malina kombiniert beispielsweise das Kulturmodell einer grid-group der Sozialanthropologin Mary Douglas mit soziolinguistischen Ansätzen, um die Art Gruppe zu beschreiben, die den für das Johannesevangelium charakteristischen Sprachtypus hervorgebracht haben könnte. Grob gesprochen steht die klare und zugleich verwirrende johanneische Sprache, die Malina »Gegen-Sprache« nennt, für eine Gegengruppierung zur sozialen Ordnung, welche eine alternative soziale Realität konstruiert. 22 Parallel wäre hier auf Jerome Neyreys Anwendung des Douglas’schen grid-group-Modells auf die Weltauffassung der Evangelien, insbesondere der dort zum Ausdruck gebrachten Kosmologie und Christologie, zu verweisen. Neyrey kommt zu dem Schluss, dass die johanneische Gemeinschaft ihrer sozialen Umwelt, ebenso wie anderen Gruppierungen innerhalb der Jesusbewegung, als zutiefst entfremdet gegenüberstand. 23 So fortschrittlich sich diese Studien in ihrem Gebrauch sozialwissenschaftlicher Modelle auch erweisen: Eine sozialwissenschaftliche Untersuchung zur johanneischen Gemeinschaft unter Berücksichtigung sämtlicher sozialer Charakteristika vermögen sie nicht zu leisten. Große Aufmerksamkeit galt bislang der Sprache und Weltauffassung dieser Gemeinschaft, wenig Beachtung erfuhr dagegen die rituelle Praxis, ein konstitutiver Aspekt jeder Gemeinschaft. Eine Ritualanalyse zum Johannesevangelium ist demnach ein so notwendiger wie konsequenter weiterer Schritt für die sozialwissenschaftliche Erforschung der johanneischen Gemeinschaft. Das Evangelium bietet zwar keinen direkten Einblick in das Gemeinschaftsleben seiner Trägergruppe, wohl aber eine Darstellung der rituellen Praxis des Gründers und der ersten Anhänger. Daraus lassen sich Rückschlüsse auf die Gemeinschaft des späten 1. Jahrhunderts ziehen. 2. Das rituelle Profil des vierten Evangeliums Die Behauptung, das rituelle Leben der johanneischen Gemeinschaft habe bislang in der Forschung wenig Aufmerksamkeit erfahren, erfordert eine gewisse Relativierung. Taufe und Abendmahl-- oder die Abwesenheit beider-- wurden in der Johannesforschung unter der Rubrik »Sakrament« oder »Sakramentalismus« behandelt. 24 Des Weiteren zogen die dem Johannesevangelium eigenen Rituale, beispielsweise die Fußwaschung, das Interesse der Forschung auf sich. Doch haftet einer Einordnung von Taufe, Abendmahl und Fußwaschung in ein sakramentales System ein reduktionistischer Zug an. Gegenwärtige Untersuchungen zur Fußwaschung richten den Fokus stets auf eine »tiefere« Bedeutung, die sie hinter dem Ritual verborgen meinen. So sieht man in der Fußwaschung ein Symbol für das Martyrium 25 , für eschatologische Gastfreundschaft 26 , für Liebe 27 , usw. Dies entspricht der allzu gängigen Betrachtungsweise von Ritualen, wie nicht wenige Ritualwissenschaftler bemerkt haben. 28 Die Rituale der johanneischen Gemeinschaft erfahren lediglich Beachtung in der ihnen unterstellten, referentiellen Funktion, d. h. insofern sie auf etwas verweisen. Dadurch gerät das Ritual als Phänomen in den Hintergrund. Anders als bei den meisten Untersuchungen kommt in der Studie von Jerome Neyrey zur Fußwaschungsszene in Joh 13,6-11 und zur darauffolgenden Rede in 13,12-20 ein ritualtheoretischer Ansatz mit Gewinn zur Anwendung. 29 Doch ist dies nur der erste Schritt einer erforderlichen umfassenden Studie, die die Rituale der johanneischen Gemeinschaft überblicksartig zusammenstellt, die Anordnung ihrer Komponenten analysiert und die Konturen der rituellen Welt nachzeichnet, innerhalb der sich die johanneische Gemeinschaft selbst vorfand. Für das Verstehen von Ritualen ist die Betrachtung des rituellen Kontextes dabei stets von entscheidender Wichtigkeit. 30 Rituale interagieren nämlich mit weiteren Ritualen, mit deren setting. Auch ist der jeweilige Kontext zur Bestimmung ihrer Wirkung ausschlaggebend, zumal diese nicht von vornherein feststeht. 31 Je nach Kontext vermag eben dasselbe Ritual die soziale Ordnung zu festigen oder zu verändern. Ein Festmahl beispielsweise festigt bestehende Sozialbeziehungen zwischen den Gästen, wohingegen ein Begräbnis- oder Hochzeitsmahl ebenso einen Wandel sozialer Verhältnisse markieren und befördern kann. Eine gegenwärtige Tendenz innerhalb der Johannesforschung begünstigt die umfassendere Betrachtung von Ritualen. Zwar besteht wenig Zweifel an der erheblichen literarischen und kompositorischen Komplexität des Evangeliums, doch gibt es seit einiger Zeit eine deutliche Tendenz von einer diachronen hin zu einer synchronen Betrachtungsweise. 32 Das Verdienst älterer Arbeiten zur Quellen- und Redaktionskritik bleibt un- »Je nach Kontext vermag eben dasselbe Ritual die soziale Ordnung zu festigen oder zu verändern.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 34 - 2. Korrektur 34 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Zum Thema bestritten. Ebenso gewinnen nun aber aktuell Ansätze an Bedeutung, die vom literarischen Ganzen des Evangeliums ausgehen, unter Einbezug von Rhetoriktheorie, reader response criticism oder Rezeptionskritik. Die von der modernen Bibelwissenschaft aufgedeckten Unstimmigkeiten, Brüche, Verschiebungen und Aporien, einst Impulse für Quellen- und Redaktionskritik, können nun als Teil der literarischen Strategie des Evangelisten bzw. des Redaktors verstanden werden. 33 Ebenso erwägenswert ist die Frage, wie wohl die antike Hörerschaft auf den Text reagiert hat. Hätte sie dieselben Unstimmigkeiten wahrgenommen wie der moderne Exeget? Die folgende ritualwissenschaftliche Analyse zum Johannesevangelium will das Evangelium als ein integriertes Ganzes betrachten. 2.1 Taufen, Waschen und Abtrocknen Würde der Taufe im Johannesevangelium eine zentrale Bedeutung zukommen, so wäre dies nicht verwunderlich. Tatsächlich trifft dies auch in gewisser Hinsicht zu. In der Nikodemus-Episode in Joh 3, wo Jesus vom Sehen oder Hineinkommen in das Reich Gottes spricht, gilt die Taufe als Vorbedingung. Oftmals wird zumindest Joh 3,5 als Anspielung darauf verstanden: »Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.« 34 Die hier zum Ausdruck gebrachte Koppelung von Wasser und Geist erinnert an die paulinische Verknüpfung von Taufe und Geist in 1Kor 12,13 (vgl. 6,11), ebenso an Passagen in der Apostelgeschichte, wo Taufe und Geistverleihung Teil desselben Geschehenszusammenhangs sind (10,44-48; 19,1-6). An anderer Stelle in der Apg spricht Petrus eine Taufempfehlung für potentielle Konvertiten aus, da mit der Taufe die Gabe des Heiligen Geistes einhergeht (2,38). Bezeichnet der Eintritt in das Reich den Beitritt zur Glaubensgemeinschaft, so bildet die Taufe im Johannesevangelium das obligatorische Eingangsritual. Dies wäre eine Erklärung für die Notiz, dass Jesus im Raum Judäa taufte und dass von dieser Aktivität im Anschluss an die Nikodemus-Episode berichtet wird (3,22; 4,1). In 4,1 geht die Gewinnung von Jüngern Hand in Hand mit dem Taufen derselben. Als Beleg für die Bedeutung der Taufe im Johannesevangelium ist dies gleichzeitig die einzige Stelle in den kanonischen Evangelien, wo Jesus selbst taufend tätig wird. Die Darstellung des taufenden Jesus wird allerdings in Joh 4,2 (ein den Erzählverlauf störender und in seinem Inhalt widersprüchlicher Vers) sofort rückgängig gemacht: »-- obwohl Jesus nicht selber taufte, sondern seine Jünger-- .« 35 Die Distanzierung Jesu gegenüber der Taufe findet sich nicht nur in Joh 4. Das Johannesevangelium unterscheidet sich von den Synoptikern darin, dass Jesu Taufe selbst unerwähnt bleibt. Auffallend ist diese Auslassung angesichts der Tatsache, dass das johanneische Eröffnungskapitel (1,19-34) sonst Elemente enthält, die die Synoptiker ihrem Bericht über Jesu Taufe beifügen: Johannes der Täufer (Mt 3,14; Mk 1,9), 36 der Jordan (Mt 3,13; Mk 1,9; Lk 3,3), der auf Jesus herabsteigende Geist (Mt 3,16; Mk 1,10; Lk 3,22). Das Johannesevangelium bietet, mit anderen Worten, eine Taufszene ohne Taufe. Einer Distanzierung Jesu von der Taufe korrespondiert eine Dezentrierung oder Herabminderung der Taufe, wie sie an späterer Stelle im Evangelium durch das Auftreten eines weiteren Wasserrituals erfolgt (13,1- 20). Als Jesus damit beginnt, seinen Jüngern die Füße zu waschen, befragt ihn Petrus und will ihm das Waschen seiner Füße verweigern. Jesu Antwort ist bemerkenswert: »Wenn ich dich nicht wasche, so hast du kein Teil an mir« (vgl. 13,8). Jerome Neyrey versteht diesen Kommentar als Hinweis darauf, dass die Fußwaschung des Petrus (oder auch die der anderen Jünger) eine rituelle Statustransformation darstellt, durch die Petrus von einer niedrigeren zu einer höheren Stufe der Zugehörigkeit zu Jesus aufrückt. 37 Dies könnte einer durch Jesus initiierten Aufnahme des Petrus in den inneren Kreis von Gläubigen, welche sich um den Lieblingsjünger scharen (vgl. 13,23), gleichkommen. Hätte Neyrey recht, so wäre die Fußwaschung eine Ergänzung der Taufe, denn Jesus bemerkt, dass diejenigen, die vom Bad kommen-- aller Wahrscheinlichkeit nach ein Verweis auf die Taufe-- dennoch der Fußwaschung bedürfen, um gänzlich rein zu sein (13,10). Die Fußwaschung könnte aber ebenso die Ablösung der Taufe darstellen, was allerdings im Evangelium nicht klar zutage tritt. Nach Joh 3,5 heißt es, nur die aus Wasser und Geist Geborenen, d. h. die Getauften, können in das Reich eingehen. In 13,8 wird vermittels derselben Formel, eingeleitet durch »wenn nicht« (ean mē), die Fußwaschung zur Zulassungsbedingung: »Wenn ich dich nicht wasche, so hast du kein Teil an mir.« Doch einige Verse weiter scheint die Fußwaschung einen anderen Zweck zu erfüllen. Sie »Bezeichnet der Eintritt in das Reich den Beitritt zur Glaubensgemeinschaft, so bildet die Taufe im Johannesevangelium das obligatorische Eingangsritual.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 35 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 35 Richard E. DeMaris Ritualforschung: Eine Bereicherung für die neutestamentliche Wissenschaft gilt nicht als ein einmaliges Ereignis, welches einen Statuswechsel herbeiführt. Jesus legt den Jüngern vielmehr ans Herz, dass sie sich gegenseitig die Füße waschen, indem sie seinem Beispiel folgen (13,14 f.). Treffend deutet Neyrey den wiederholbaren Akt der Fußwaschung als ein statusbekräftigendes oder -erneuerndes (und nicht -transformierendes) Ritual. So verstanden entspräche die Fußwaschung eher einer Ergänzung der Taufe als einer Ablösung derselben. Als entscheidendes Ritual zur Kennzeichnung von Jesuszugehörigkeit und Gruppensolidarität gilt die Fußwaschung jedenfalls als derjenige Wasserritus im Johannesevangelium, der die größte Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die vom johanneischen Jesus eingeführte Fußwaschung schließt die Abtrocknung der Füße mit ein. Es ist einer Betrachtung wert, ob das Abtrocknen ebenso wichtig für das Ritual ist wie das Waschen. Hierfür sei auf eine frühere Mahlszene verwiesen, die einige Ähnlichkeit mit der Fußwaschungsszene in Joh 13 aufweist. Joh 12 berichtet von einem Mahl Jesu mit den Geschwistern Maria, Martha und Lazarus, allesamt Jünger, welche Jesus liebte und welche den Status von paradigmatischen Gläubigen aufweisen (11,1-44). 38 Während des Mahlverlaufes salbt Maria die Füße Jesu mit Öl und trocknet sie (vgl. denselben Wortgebrauch in 13,5! ) mit ihren Haaren (12,1-8). Maria tut bereits hier, was Jesus seinen Jüngern in Joh 13 anempfiehlt: der rechte Jünger nimmt die Rolle eines Sklaven an und reinigt-- wäscht und/ oder salbt-- die Füße der Mahlteilnehmer. Es gibt aber noch ein weiteres überraschendes und überraschend übereinstimmendes Detail. In der antiken mediterranen Welt bildeten Baden und sich Feinmachen den Auftakt zum eigentlichen Mahl. 39 Üblich war es, vor dem Mahl ein öffentliches Badehaus aufzusuchen (Xenophon, Symp. 7; Lucian, Asin. 3). Waren die Gäste danach am Ort des Festmahls angekommen, so standen den Eintretenden für gewöhnlich die Sklaven des Gastgebers zur Verfügung, was das Waschen von Händen und Füßen und das Auftragen von Öl mit einschloss (Plato, Symp. 175a; Plutarch, Sept. sap. conv. 3 [=Mor. 148b]; Athenaios, Deipn. 4169a). Salbt Maria folglich die Füße Jesu und wäscht Jesus die Füße seiner Jünger nach Mahlbeginn, so stellt dies eine augenfällige Abweichung von der Mahlordnung dar. Zur Waschung der Hände kann es während des Mahlverlaufs gelegentlich gekommen sein (Athenaios, Deipn. 2.60a; 9408b-409a). Petrus könnte sich auf diese Praxis berufen, wenn er Wasser für Hände, Haupt und Füße fordert (Joh 13,9). Doch handelt es sich bei Fußwaschung und Salbung um Rituale vor dem eigentlichen Mahlbeginn. Während des Mahles unterbrechen sie den Mahlvollzug und bewirken die Umkehrung der etablierten Ritualfolge. Von der Regelwidrigkeit der Fußsalbung während des Mahles weiß das Satyricon des Petronius zu berichten: Im Verlauf von Trimalchios’ Gastmahl reiben Sklaven die Füße der Gäste mit parfümiertem Balsam ein, was der Erzähler als Verstoß gegen die Mahlkonvention wertet; eine der vielen Scham und Empörung hervorrufenden Szenen, die dem Text seine Würze verleihen (Petronius, Sat. 7). Als ebenso zugespitzte wie eklatante Abweichung von der Mahlkonvention notiert das Johannesevangelium, wer die Salbung oder Waschung vollzieht. Maria und Jesus, beide im Evangelium Träger eines hohen Status, erfüllen die Funktion von Sklaven. Dieser Rollentausch bildet mithin das zweite Beispiel für Inversion im Rahmen johanneischer Mahlszenarien. 2.2 Essen und Feste feiern Anders als bei den Synoptikern kommt es im Johannesevangelium (abgesehen von Joh 12 und 13) zur Schilderung verhältnismäßig weniger Mahlszenen. Auch fehlt eine Mahlszene unmittelbar vor dem Verrat Jesu, die den Berichten im 1 Korintherbrief und in den synoptischen Evangelien vergleichbar wäre, wo Jesus für Brot und Kelch Dank sagt und beides an die beim Mahl Anwesenden austeilt (1Kor 11,23-26; Mt 26,26-29; Mk 14,22-25; Lk 22,15-20). Diese Leerstelle ist auffällig, weil das vierte Evangelium ja keineswegs eine Kurzversion des letzten Mahles im Kreis der Anhängerschaft Jesu bietet. Im Gegenteil: Die sich über fünf Kapitel (Joh 13-17) erstreckende Erzählung ist sogar erheblich länger gestaltet als bei den Synoptikern. Es hat den Anschein, als habe Johannes das Mahlritual samt Segnung und Austeilen von Brot und Wein durch die Fußwaschung samt dem Abtrocknen ersetzt. Ein die dauerhafte Wiederholung des Rituals autorisierender Sprachgebrauch begleitet beide Riten. Doch »Als entscheidendes Ritual zur Kennzeichnung von Jesuszugehörigkeit und Gruppensolidarität gilt die Fußwaschung [...] als derjenige Wasserritus im Johannesevangelium, der die größte Aufmerksamkeit auf sich zieht.« »In der antiken mediterranen Welt bildeten Baden und sich Feinmachen den Auftakt zum eigentlichen Mahl.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 36 - 2. Korrektur 36 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Zum Thema anstelle einer Aufforderung zum Gedenken des Mahles -- »Das tut zu meinem Gedächtnis« (1Kor 11,24; Lk 22,19)-- kommentiert der johanneische Jesus die Fußwaschung mit folgenden Worten: »Wenn nun ich, euer Herr und Meister, euch die Füße gewaschen habe, so sollt auch ihr euch untereinander die Füße waschen. Ein Beispiel habe ich euch gegeben, damit ihr tut, wie ich euch getan habe« (Joh 13,14 f.). Außerdem gerät dieses besondere Mahl keineswegs aus dem Blickfeld. Ein Sprachgebrauch, sehr ähnlich demjenigen während des letzten Abendmahls, begegnet gegen Ende der langen Rede, die die Speisung der Fünftausend in Joh 6 beschließt. Mit Jesu Anspruch, das Brot des Lebens zu sein (6,35), das nachhaltiger nährt als das vom Himmel herabgekommene Brot (eine Anspielung auf die Manna-Erzählung der Wüstentradition der hebräischen Bibel [Ex 16; Num 11]), geht Jesu Behauptung einher, das Brot sei sein Fleisch (6,51). Einige Verse weiter spricht er von seinem Blut als wahrem Trank (6,55). Dadurch verwendet der johanneische Jesus offenkundig Abendmahlsterminologie, wie sie sich auch bei den Synoptikern findet: Brot als Symbol für Jesu Leib, Wein für Jesu Blut. Demzufolge hat die Fußwaschung nicht das Abendmahl ersetzt. Allerdings wurde das besondere Mahl in Jesu öffentliche Wirksamkeit verlegt, und es erfuhr eine Neudefinition. Wie bei den Synoptikern fällt es auf den Tag des Passahfestes (6,4); es stehen jedoch Gerstenbrote und Fisch auf der Speisekarte, nicht Brot und Wein. Das Mahl findet öffentlich statt, nicht im privaten Raum, und es bezieht alle Kommenden mit ein, nicht einige wenige Anhänger. Der das Ritual definierende Akt ist nach wie vor vorhanden: »Jesus aber nahm die Brote, dankte und gab sie denen, die sich gelagert hatten; desgleichen auch von den Fischen, soviel sie wollten« (6,11). 40 Trotz ihrer Andersartigkeit gleicht die in Joh 6 geschilderte Speisung somit im entscheidenden Moment der Abendmahlstradition der Synoptiker. Gleichwohl sind die Unterschiede zu beachten. Die jeweilige Sitz- oder Liegeordnung galt bei einem Mahl als Niederschlag und Untermauerung der sozialen Hierarchie. 41 Das vierte Evangelium verrät Kenntnis von dieser Realität, wenn es den Lieblingsjünger an die Seite Jesu legt und der vermutlich entfernter liegende Petrus diesem signalisiert, er solle Jesus fragen, wer seiner Ansicht nach der Verräter sei (13,23-25). Die Rangordnung zwischen Petrus und dem Lieblingsjünger im Kreis der Gläubigen tritt somit klar hervor, ein Motiv, welches später an mehreren Stellen im Erzählverlauf wieder aufgegriffen wird, wo der Lieblingsjünger stets eine Stufe über Petrus steht (z. B. 20,1-10; 21,4-8). Doch das Mahl in Joh 6 unterläuft diese Struktur: Es gibt keine Liste mit geladenen Gästen, nur eine riesige Menschenmenge, geschart um Jesus; es gibt keine Sitzordnung, wie in den Parallelen bei Markus und Lukas, wo sich die Menschen zu hundert und zu fünfzig niederlassen (Mk 6,40; Lk 9,14); ferner teilt Jesus die Speisen persönlich aus, nicht die Jünger an seiner statt (vgl. dagegen Mt 14,19; Mk 6,41; Lk 9,16). So weichen die in der antik-mediterranen Gesellschaft für ein Mahl so bedeutsamen, die sozialen Unterschiede und Ungleichheiten markierenden Eigenschaften dem integrierenden und einigenden Potenzial, das einem Mahl ebenso inhärent ist. 42 Dadurch dass die Einladung ferner offen ergeht und die Leute sich wahllos lagern-- ohne Berücksichtigung statusbedingter Unterschiede-- begünstigt das Mahl die Überschreitung sozialer Grenzen, anstatt sie zu spiegeln und zu festigen. 43 Innerhalb dieses Kontextes könnte das Mahlhalten möglicherweise als Eingangsritual in den Kreis um die Person Jesu dienen, auch wenn dies nicht den Ausgang der Erzählung in Joh 6 darstellt. Dasselbe johanneische Mahl taucht auf modifizierte Weise gegen Ende des Evangeliums wieder auf. Auch an dieser Stelle begünstigt es eher eine Statustransformation als eine Affirmation desselben. Der auferstandene Jesus bereitet einer Gruppe von Jüngern, welche Petrus und den Lieblingsjünger umfasst, ein Mahl: »Da kommt Jesus und nimmt das Brot und gibt’s ihnen, desgleichen auch die Fische« (Joh 21,12). Vor dem Hintergrund dieses Mahles erfolgt die prüfende Befragung des Petrus durch Jesus. In Zuge dieser Befragung setzt Jesus Petrus zum Hirten, d. h. zum Leiter der Gemeinschaft ein (21,15-19). In Analogie zu Jesus als dem guten Hirten, welcher sein Leben für die Schafe hingibt (10,11), ist es nun Petrus, der sich zukünftig um die Schafe kümmern, sie speisen und Gott durch seinen Tod verherrlichen wird (21,19). 44 Petrus, der Jesus dreimal verleugnet hatte (18,15-18), tritt nun auf als derjenige, der seine Loyalität und sein Bekenntnis zu Jesus auf dessen Fragen hin dreimal bekräftigt. Die Statustransformation des Petrus vom Leugner zum Leiter ereignet sich zur Morgenmahlzeit. Eine weitere Mahlszene, die in diesem Zusammenhang Aufmerksamkeit verdient, findet sich nicht gegen »[I]n Joh 6 [...] weichen die in der antik-mediterranen Gesellschaft für ein Mahl so bedeutsamen, die sozialen Unterschiede und Ungleichheiten markierenden Eigenschaften dem integrierenden und einigenden Potenzial, das einem Mahl ebenso inhärent ist.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 37 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 37 Richard E. DeMaris Ritualforschung: Eine Bereicherung für die neutestamentliche Wissenschaft Ende, sondern gleich zu Beginn des Johannesevangeliums: die Hochzeit zu Kana in Joh 2. Den Festessen in Joh 6 und 21 vergleichbar markiert hier das Hochzeitsmahl eine Statustransformation: den Statuswechsel von Braut und Bräutigam und die Neuanordnung zweier Familienkonstellationen. Wie beim Festessen in Joh 6 handelt es sich um eine wirkliche Feier. Freigebigkeit wird sichtbar im Übermaß an Gütern. Kommt es in Joh 6 durch Jesus zur Darreichung von so viel Brot und Fisch, dass fünftausend Personen sich mehr als satt essen können und dazu noch zwölf Körbe übrig bleiben (Joh 6,12 f.), so teilt Jesus in Joh 2 um die sechshundertachzig Liter Wein an die Hochzeitsgäste aus (2,6-9). Ein Tafeln im großen Stil! Feste dieser Art, bei denen so unglaublich reichhaltig für das leibliche Wohl gesorgt war, fanden zweifelsohne im Empfängerkreis des vierten Evangeliums auf vielen Ebenen einen Widerhall. Gerstenbrote in solchem Übermaß, dass viele davon gesättigt wurden, ein beträchtlicher Rest aber auch übriggeblieben war, erinnert an die israelitische Elisha-Tradition (Joh 6,9; vgl. 2 Kön 4,42 ff.). Die Notiz, dass die Überreste zwölf Körbe füllten, gilt als deutlicher Hinweis auf die zwölf Stämme des antiken Israel. Das Vermögen, Wasser in Wein umzuwandeln, wurde normalerweise mit dem griechischen Gott Dionysos in Verbindung gebracht. 45 Die Thematik einer überreichen Darreichung von Wein und Speise an alle, wie sie in einer zusammenschauenden Betrachtung von Joh 2 und 6 zum Ausdruck kommt, würde wohl antike Assoziationen an das Handeln des idealen Wohltäters wecken, wie er in Gestalt einer Gottheit oder eines äußerst freigiebigen und großzügigen menschlichen Gönners auftritt. 46 An der Spitze aller potentiellen menschlichen Wohltäter stand im römischen Imperium der Kaiser. Neben den zahlreichen, vom Kaiser bereiteten Wohltaten, wie der Gewährleistung der Getreideversorgung und der Veranstaltung von Spielen, kam es gelegentlich zur Ausrichtung von Festessen für die gesamte Bevölkerung. Cassius Dio erwähnt beispielsweise ein Fest, das Octavian zugunsten der Bürgerschaft der Stadt Rom abhalten ließ (Dio 48,9). Anlässlich seiner Vermählung gab Elagabal Spiele und äußerst kostspielige Festessen für die Gesamtbevölkerung in Auftrag (Dio 80,9). Von Domitian aufgebotene Festveranstaltungen sind bei Sueton im Rahmen einer langen Liste seiner kaiserlichen Wohltaten aufgeführt: »Dreimal spendete er dem Volk ein Geldgeschenk von dreihundert Sesterzen pro Kopf, und anlässlich des «Festes der sieben Hügel» ließ er während der Gladiatorenkämpfe ein üppiges Mal servieren: der Senat und die Ritter erhielten ihren Teil in großen Brotkörben, das Volk in kleinen Körbchen, und er selbst machte mit dem Essen den Anfang.« (Dom. 4) 47 Ein Übermaß an Freigiebigkeit konnte innerhalb antikmediterraner Gesellschaften zur Aufhebung gängiger gesellschaftlicher Ordnungsmuster, insbesondere der Rangordnung, führen, die durch die Teilnahme am Mahl für gewöhnlich forciert wurden. Eine ungleiche Behandlung in der Bewirtung der Gäste, insbesondere was Menge und Qualität der Speisen anbelangt, ebenso wie die Regel, wer wann zu speisen begann, verschwanden im Angesicht des Überflusses. Wie Amy Shuman bemerkt: »Exzessives Feiern […] schafft Raum für ein breites Spektrum an Interpretationen oder für eine alternative Gestaltung des sozialen Raumes.« 48 Das überreiche Angebot an Brot und Fisch in Joh 6 erweckt den Eindruck, dass hier ein Festmahl stattfindet, welches, wie bereits bemerkt, offen ist für alle, und das ohne feste Sitzordnung auskommt. Ebenso impliziert das Überangebot an Wein in Joh 2 eine Abweichung von Ordnung und Brauchtum: Jesus wird zum eigentlichen Gastgeber der Hochzeit, der er als Geladener beiwohnte; der qualitativ hochwertigste Wein wurde nicht zuerst, sondern zuletzt gereicht. Allerdings konnte die offizielle Hierarchie trotz eines Überflusses an Speisen bestehen bleiben, etwa wenn Sueton berichtet, dass ungeachtet der Großzügigkeit Domitians die soziale Ordnung nach wie vor in Geltung stand: Die gesellschaftlich Höhergestellten erhalten mehr Speise als das gemeine Volk; Domitian selbst macht mit dem Essen den Anfang. Wenn auch nur vorrübergehend, so führte ein zeitliches Zusammentreffen von kaiserlicher Freigiebigkeit mit dem römischen Saturnalien-Fest zur Außerkraftsetzung jeglicher Manifestationen des sozialen status quo. Die wohl augenfälligste Abweichung von der sozialen Ordnung betraf das Rollenverhältnis zwischen Freien und Sklaven, was sich insbesondere bei Tisch auswirkte. 49 Während des Festes war es möglich, dass Sklaven in den Kleidern ihrer Herrschaft auftraten (Dio 60,19). Sklaven konnten mit ihren Herren bei Tisch speisen, anstatt bereit zu stehen und ihren Herren und deren Gästen zu dienen (Seneca, Ep. 47,14). Belegt ist auch die Sitte, dass die Söhne des Hausherrn (oder dieser selbst) die Haussklaven bewirteten (Athenaios, Deipn. »Ein Übermaß an Freigiebigkeit konnte innerhalb antik-mediterraner Gesellschaften zur Aufhebung gängiger gesellschaftlicher Ordnungsmuster, insbesondere der Rangordnung, führen, die durch die Teilnahme am Mahl für gewöhnlich forciert wurden.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 38 - 2. Korrektur 38 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Zum Thema 14,639b). Mit Blick auf die Tischordnung kam es zu einer Umkehrung oder gar Aufhebung aller (Rollen-) Unterschiede und standesrechtlicher Bestimmungen. Trotz komisch-komödialer Verzerrung bezeugt Lukians Werk Saturnalia gleichwohl die Aufhebung der Ungleichheit von Herren und Sklaven in jeder Hinsicht: Bei Tische sitzt jeder, wo er will und in der Bewirtung mit Wein und Speisen soll durchgängige Gleichheit walten (17). Statius’ Beschreibung der Festveranstaltung, die Domitian anlässlich der Saturnalien ausrichtete, wirkt in ihrem Überschwang in diesem Zusammenhang äußerst erhellend: »Siehe, da kommen durch alle Sitzreihen andere Leute, (beinahe) ebenso viele wie die sitzenden, ausgezeichnet durch ihre Erscheinung und schön herausgeputzt. Sie bringen Brotkörbe und weiße Servietten und ziemlich üppige Speisen und sie reichen milden Wein; […] Die Welt, zumal die bessere und strengere, und die Familien in der Toga ernährst du alle zusammen und, obwohl du so viele Völker, du Glücklicher, versorgst, kennt die stolze Annona diesen Tag nicht. […] Von e i n e m Tisch ernährt sich jeder Stand: die Kinder, die Frauen, das Volk, die Ritter, der Senat. Die Freizügigkeit hat Ehrfurcht und Scheu gemindert. […] Schon rühmt sich, wer es auch ist, ein glücklicher Armer, Gast eines Fürsten zu sein. Unter solchem Lärm und unbekanntem Luxus wurde man schnell der leichten Lust des Schauens müde. Da steht das in den Waffen nicht ausgebildete und unerfahrene Geschlecht, wie nimmt es wagemutig männliche Kämpfe auf sich! « (Silv. 1,6,28-54). 50 Die Schilderung des Statius belegt ein Vorhandensein von Speisen und Wein in Hülle und Fülle, in Verbindung mit einer zeitweisen Außerkraftsetzung der offiziellen Ordnung, mit der Folge einer tiefgreifenden sozialen Egalisierung und der Umkehrung sozialer Rollenmuster, hier der Geschlechterrollen. 2.3 Die rituelle (Aus-)Gestaltung des vierten Evangeliums und die Saturnalien Statius sieht das Saturnalien-Fest als Fest der Umstrukturierung ritueller und sozialer Praktiken. Hier bestehen deutliche Entsprechungen zum Johannesevangelium. Der überreichen Festversorgung beim Hochzeitsgastmahl in Joh 2, insbesondere aber auch beim öffentlichen Festmahl in Joh 6 korrespondiert eine Abweichung von den Mahlkonventionen. Gleichbehandlung steht auf der Tagesordnung: Eine riesige Menschenmenge teilt miteinander dieselbe Speise und isst sich daran satt. Menschen lagern beieinander en masse, eine Sitzordnung scheint nicht zu existieren. Des Weiteren begünstigt die offene Einladung die Aufweichung sozialer Statusgrenzen. Im Unterschied zu den in der antik-mediterranen Gesellschaft üblichen Festessen, die exklusiv und hierarchisch organisiert waren, befördern Johannes und die Saturnalien ein Mahlverständnis sozialer Grenzüberschreitung. Claude Grignons Gegenüberstellung einer »segregativen« und »transgressiven« Tischgemeinschaft erfasst diesen Kontrast äußerst treffend. 51 Rituelle und soziale Umkehrung bzw. Verkehrung prägen somit das rituelle Profil des Johannesevangeliums, ähnlich einer Umstülpung jeglicher Ordnung während der Saturnalien. Die Überschreitung sozialer Grenzen im Rahmen johanneischer Mahlszenen zeigt, dass Mahlrituale das Potenzial besitzen, den sozialen Status nicht nur zu untermauern, sondern auch zu transformieren. Deutlich wird dies an Petrus, der bei der Morgenmahlzeit in Joh 21 eine Transformation vom Verräter zum Hirten erfährt. Mit Blick auf Fußwaschung und Salbung kehrt Johannes das konventionelle Mahlprotokoll um, indem er Riten, die vor dem Beginn des eigentlichen Festmahls stattfinden, in den Mahlverlauf hinein verlegt. Die Umkehrung des offiziellen status quo wird dadurch erreicht, dass Jesus und Maria in der Rolle von Sklaven auftreten und dienend tätig werden. Vermittels der beiden Wasserrituale Fußwaschung und Taufe inszeniert Johannes ein Spiel der Verkehrung der offiziellen Welt, das Assoziationen an antike Festzeiten hervorruft. Jesus tauft und dann auch wieder nicht (3,22; 4,1 vs. 4,2). Die Taufe garantiert als grundlegender Ritus die Zugehörigkeit zum Kreis um Jesus (3,5), erfährt aber gleichzeitig an späterer Stelle ihre unbedingt notwendige Ergänzung durch die Fußwaschung (13,8). Doch im nächsten Moment scheint die Fußwaschung eher zu einer Statusuntermauerung denn zu einem Statuswechsel beizutragen (13,12-17). Feste schaffen den Raum und die Zeit für rituelle Neukombinatonen und Neuerfindungen. 52 Auf diesem Hintergrund erschließt sich die Darstellung von Wasserriten des Johannesevangeliums. »Im Unterschied zu den in der antik-mediterranen Gesellschaft üblichen Festessen, die exklusiv und hierarchisch organisiert waren, befördern Johannes und die Saturnalien ein Mahlverständnis sozialer Grenzüberschreitung.« »Vermittels der beiden Wasserrituale Fußwaschung und Taufe inszeniert Johannes ein Spiel der Verkehrung der offiziellen Welt, das Assoziationen an antike Festzeiten hervorruft.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 39 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 39 Richard E. DeMaris Ritualforschung: Eine Bereicherung für die neutestamentliche Wissenschaft 3. Zur Charakterisierung der johanneischen Gemeinschaft Die bisherigen ritualtheoretischen Beobachtungen legen die Revision des in der Forschung verbreiteten Urteils nahe, dass die johanneische Gemeinschaft als »Sekte« organisiert war. Malina charakterisierte die Gemeinschaft als anti-soziale Gruppierung, welche sich vermittels ihrer Sprache eine Alternativwelt konstruierte. Ausgehend von der dualistischen Kosmologie und der eigentümlichen Christologie des Evangeliums schloss Neyrey auf eine Gemeinschaft, die ihrer sozialen Umwelt stark entfremdet war. Träfe dies zu, dann entspräche die johanneische Gemeinschaft stark dem Profil anderer Gruppierungen von Jesusnachfolgern, die in der Forschung oft als isolierte Sondergruppen betrachtet werden. Sobald sich die Jesusbewegung von den vielen facettenreichen Parteiungen innerhalb der jüdischen Kultur des 1. Jh. n. Chr. entfernt hatte, so John Elliott, wurde sie zur »Sekte«. Klare Anzeichen für diese Entwicklung sind u. a. ein zunehmender Konflikt der Jesusbewegung mit einer ihr feindlich gesonnenen Kultur, ihre Ablehnung der vorherrschenden bzw. etablierten Weltsicht, die Bildung alternativer Gemeinschaften mit egalitären Tendenzen sowie neuer Riten und Institutionen anstelle derjenigen der feindlichen Kultur usw. 53 Auch wenn im Johannesevangelium einiges auf eine so verfasste Gemeinschaft hindeutet, sein rituelles Profil lässt ein anderes Verhältnis zwischen ihr und ihrer Umwelt vermuten. Entgegen der verbreiteten Sicht auf Rituale der Umkehrung und Verkehrung als Ritualisierung von Rebellion oder Konflikt bringen diese nicht unbedingt eine Entfremdung von oder ein Aufbegehren gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zum Ausdruck. 54 Vielmehr stellen sie eine Form des legitimen bzw. institutionalisierten Protests dar, der die geltende Ordnung bestätigt, sich aber zugleich von ihrem Geltungsanspruch teilweise abgrenzt und diesen kritisiert. 55 Auf eben diese Weise versteht Hendrik S. Versnel die Saturnalien-Feste in den Ausprägungen des attischen Kronia- und des römischen Saturnalien-Festes. Sie ermöglichen die zeitweise Abkehr von der geltenden Ordnung und dienen als Ventil für aufgestaute Aggressionen, um im Ergebnis einer Erneuerung und Wiederherstellung des status quo zu dienen: »Die etablierte Ordnung wird bestärkt eben durch die Absurdität einer auf den Kopf gestellten Welt.« 56 So betrachtet erscheint die rituelle Umkehrung und Verkehrung, wie sie im Johannesevangelium zum Ausdruck kommt, nicht als eine gegen die Mehrheitskultur gerichtete subversive Praxis. Sie konstruiert auch nicht eine alternative soziale Welt, wie es für eine »Sekte« typisch ist. Die Funktion der johanneischen Rituale wäre dann anders zu bestimmen, und sie würden eine Gemeinschaft widerspiegeln, die ihrer Umwelt deutlich weniger entfremdet gegenüberstand, als dies häufig angenommen wird. Wie eingangs bereits notiert, ist der jeweilige Kontext ein entscheidender Faktor für die Wirkung eines Rituals. Dies gilt sicherlich auch für Rituale der Umkehrung und Verkehrung. 57 In einer durch Stabilität gekennzeichneten Lebenswelt markiert rituelle Umkehrung und Verkehrung Momente des Übergangs im sozialen Leben oder im Jahreskalender dieser Gemeinschaft, so im Falle der Saturnalien, ein Fest, das den Übergang zur Wintersonnenwende anzeigt. War das Fest beendet, nahmen die Sklaven den Dienst an ihren Herren wieder auf. In weniger stabilen Lebenswelten dagegen oder in sozialen Krisenzeiten kann die aufkommende Inversion ein verstärktes Maß an Widerstand gegenüber dem Normalzustand zum Ausdruck bringen und ein größeres Maß an sozialer Experimentierfreude zur Folge haben. 58 Kann die Umkehrung der geltenden Ordnung zur Untermauerung des Normalzustandes beitragen, so kann sie ebenso als Herausforderung desseben in Erscheinung treten: »Jede Form symbolischer Umkehrung steckt den definitorischen Rahmen einer Kultur ab, stellt aber gleichzeitig den Wert und Absolutheitsanspruch ihrer Ordnung infrage.« 59 So ist der im Rahmen des Johannesevangeliums zum Ausdruck gebrachte Übergang offenkundig nicht jahreszeitlich oder kalendarisch fixiert. Vielmehr sieht sich die johanneische Gemeinschaft allem Anschein nach mit einem schwerwiegenderen sozialen Übergang konfrontiert. Vor fünfunddreißig Jahren schlug Raymond Brown vor, das Johannesevangelium als Spiegel zu betrachten, der bis zu einem gewissen Grad die Beziehungen der johanneischen Gemeinschaft des späten 1. Jh. n. Chr. zu den von ihm so bezeichneten »apostolischen Kirchen« reflektiert. 60 Brown zufolge gestalteten sich diese Beziehungen deutlich weniger feindselig als die mit anderen Gruppierungen, weshalb er es ablehnte, die johanneische Gemeinschaft als »Sekte« zu bezeichnen. In der Interaktion des Lieblingsjüngers mit Petrus im Schlusskapitel sah Brown den entscheidenden Verhandlungsprozess zwischen johanneischen und petrinischen Kreisen sich niederschlagen. Browns seinerzeit weithin kritisierte Chrakterisierung dieser Gemeinschaft lag keine sozialwissenschaftliche Analyse zugrunde, 61 doch wird Browns Sicht durch die Ergebnisse der vorliegenden Ritualanalyse gestützt. Die johanneische Gemeinschaft scheint nicht annähernd so sektenförmig gewesen zu sein wie vielfach angenommen. Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 40 - 2. Korrektur 40 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Zum Thema Sollte der johanneische Petrus ein cluster von Gruppierungen repräsentieren, die zu dem zusammenwuchsen, was zu einer führenden Partei innerhalb der Jesusbewegung wurde, so ist es nicht schwer, sich die mit diesem Zusammenwachsen verbunde rituelle Seite dieser Hegemonie vorzustellen. Ende des 1. Jahrhunderts war die Taufe zum grundlegenden Eingangsritual der Jesusbewegung geworden. Bei Matthäus findet diese Entwicklung ihren Niederschlag, indem der auferstandene Jesus seine Jünger beauftragt, durch die Taufe alle Völker zu Jüngern zu machen (28,19). Ebenso verhält es sich mit dem letzten Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern. Ungeachtet der mutmaßlichen Variationsbreite der frühen Abendmahlspraxis ist mit dem synoptisch-paulinischen Mahltypus ein Normativitätsanspruch verbunden, der zur Durchsetzung dieser Mahlform und -deutung führte (Lk 22,19; 1Kor 11,24). Das Verhältnis beider Rituale zueinander war wahrscheinlich noch definitionsbedürftig. Bildete die Taufe das Eingangsritual in die Jesusbewegung, so festigte das Mahlritual Binnensolidarität und Gruppenidentität. Das Mahl war segregativ und exklusiv; die Taufe wurde zur notwendigen Teilnahmevoraussetzung: »Doch niemand soll essen und trinken von eurer Eucharistie außer denen, die auf den Namen des Herrn getauft sind« (Did. 9,5). 62 Das Johannesevangelium anerkennt sowohl Taufe wie Abendmahl, widersetzt sich aber einer zunehmenden Zentralität derselben, ihrem aufeinander abgestimmten Ordnungsverhältnis und den ihnen zugeschriebenen Funktionen. Johannes dezentriert die Taufe, indem er Jesus davon distanziert und einen alternativen Wasserritus als notwendige Ergänzung der Taufe autorisiert. Des Weiteren bietet Johannes eine eigene Version des Gemeinschaftsmahles, verlegt es vom privaten in den öffentlichen Raum, öffnet es für alle als Weg hinein in den Kreis um Jesus. Dieses neu definierte Mahl bildet das setting für die Statustransformation des Petrus, ebenso für die Verhältnisbestimmung zwischen Petrus und dem Lieblingsjünger im Schlusskapitel des Evangeliums. So impliziert die im Evangelium zum Ausdruck gebrachte Umstülpung und Umgestaltung der geltenden rituellen Ordnung beides, Anpassung und Widerstand. In diesem Sinne ist sie zu verstehen als Teil einer dynamischen Interaktion zwischen den verschiedenartigen Strängen der Jesusbewegung, unter denen die johanneische Gemeinschaft ihren eigenen Platz einnahm. 4. Schlussbetrachtung Eine vollständige Ritualanalyse hätte noch weitere Rituale zu berücksichtigen, die im Johannesevangelium einen literarischen Niederschlag gefunden haben, und sie müsste weitere rituelle Kontexte erschließen. Der vorliegende Beitrag war mit Ritualen der griechischrömischen Mahl- und Festkultur befasst, unter Ausblendung antiker jüdischer Ritualpraktiken. Trotz dieser Einschränkung wurde deutlich, inwiefern Ritualforschung die neutestamentliche Wissenschaft bereichert. Im Blick auf das Johannesevangelium trägt sie zur Klärung, mindestens aber zur Weiterentwicklung unserer Sicht auf die johanneischen Gemeinschaft bei. Forschungsgeschichtlich betrachtet sind ritualtheoretische Ansätze geeignet, ererbte Einseitigkeiten der neutestamentlichen Wissenschaft auszugleichen. Die moderne Bibelwissenschaft ist in Protestantismus und Aufklärung fest verankert. Von beiden Seiten wurde das Ritual notorisch abgewertet. Namentlich der Protestantismus hat im Laufe seiner Geschichte stets den Glauben und die innere Gesinnung gegenüber dem Ritual und dem äußerem Ausdruck bevorzugt. Die neutestamentliche Wissenschaft steht bis heute unter diesem Negativeinfluss. Ritualtheoretische Ansätze können das Ihre dazu tun, den genannten forschungsgeschichtlich bedingten Einseitigkeiten gegenzusteuern und auf diese Weise dem Ritual seine zentrale Stellung zurückzugeben, die es im kulturellen Kontext der frühen Gemeinden innehatte. 63 Anmerkungen 1 Vgl. R. A. Segal (Hg.), The Myth and Ritual Theory: An Anthology, Oxford 1998, 1-8. 2 Vgl. R. Reitzenstein, Die hellenistischen Mysterienreligionen: Ihre Grundgedanken und Wirkungen, Leipzig 1910. 3 Als repräsentatives Beispiel sei hier verwiesen auf W. Heitmüller, Taufe und Abendmahl bei Paulus: Darstellung und religionsgeschichtliche Beleuchtung, Göttingen 1903. 4 Vgl. z.B. R. Perdelwitz, Die Mysterienreligion und das Problem des 1. Petrusbriefes: Ein literarischer und religionsgeschichtlicher Versuch, Gießen 1911. 5 Vgl. G. Lüdemann, Im Würgegriff der Kirche: Für die Freiheit der theologischen Wissenschaft, Lüneburg 1998, 60-63. 6 Vgl. dazu W. Bornemann, Der erste Petrusbrief - eine Taufrede des Silvanus? , ZNW 19 (1920), 143-165; F.L. Cross, I. Peter: A Pascal Liturgy, London 1954; H. Preisker, Anhang zum ersten Petrusbrief, in: H. Windisch (Hg.), Die Katholischen Briefe (HNT 15), Tübingen 3 1951, 152-162. Einen guten Überblick bietet D.G. Horrell, Becoming Christian: Essays on 1 Peter and the Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 41 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 41 Richard E. DeMaris Ritualforschung: Eine Bereicherung für die neutestamentliche Wissenschaft Making of Christian Identity (Early Christianity in Context/ LNTS 394), London 2013, 67-72. 7 Vgl. K. L. Schmidt, Die literarische Eigenart der Leidensgeschichte Jesu, Die Christliche Welt 32 (1918), 114-116; reprinted in: M. Limbeck (Hg.), Redaktion und Theologie des Passionsberichtes nach den Synoptikern (WdF 481), Darmstadt 1981, 17-20. 8 Vgl. É.Trocmé, The Passion as Liturgy: A Study in the Origin of the Passion Narrative in the Four Gospels, London 1983, 81 f. 9 Paradigmatisch sei hier verwiesen auf J. Bowman, The Gospel of Mark: The New Christian Jewish Passover Haggadah (SPB 8), Leiden 1965; vgl. dazu auch D. Daube, The Earliest Structure of the Gospel, NTS 5 (1958), 174-187. 10 Vgl. B. Standaert, L’Évangile selon Marc: Composition et genre littéraire, Nijmegen 1978; A. Stock, The Method and Message of Mark, Wilmington 1989. 11 Sachgemäße Untersuchungen sind selten. Bemerkenswert immerhin G. Theißen, Eine Theorie der urchristlichen Religion, Gütersloh 1999; W. A. Meeks, The First Urban Christians: The Social World of the Apostle Paul, New Haven 1983, 140-163. 12 Vgl. E. Ferguson, Baptism in the Early Church: History, Theology, and Liturgy in the First Five Centuries, Grand Rapids 2009. 13 Vgl. A. K. Petersen, Rituals of Purification, Rituals of Initiation: Phenomenological, Taxonomical and Culturally Evolutionary Reflections; D. Sänger, ›Ist er heraufgestiegen, gilt er in jeder Hinsicht als ein Israelit‹ (bYer 47b); C. Strecker, Taufrituale im frühen Christentum und in der Alten Kirchen: Historische und ritualwissenschaftliche Perspektiven, in: D. Hellholm/ T. Vegge/ Ø. Norderval/ C. Hellholm (Hgg.), Waschungen, Initiation und Taufe: Spätantike, frühes Judentum und frühes Christentum (3 Bde.; BZNW 176/ I-III), Berlin 2011, 3-40; 291-334; 1383- 1440. 14 Vgl. J. L. Martyn, The Gospel of John in Christian History: Essays for Interpreters (Theological Inquiries: Studies in Contemporary Biblical and Theological Problems), New York 1978, 90-121. 15 Vgl. R. E. Brown, The Gospel According to John (2 vols.; AB 29-29A), Garden City 1966-1970, 1: xxxiv-xxxix. 16 Vgl. R. E. Brown, The Community of the Beloved Disciple: The Life, Loves, and Hates of an Individual Church in New Testament Times, New York 1979. 17 Vgl. Brown, Beloved Disciple, 14-16; 88-91. 18 Vgl. z. B. T. Onuki, Zur literatursoziologischen Analyse des Johannesevangeliums-- auf dem Wege zur Methodenintegration, AJBI 8 (1982), 162-216; ders., Gemeinde und Welt im Johannesevangelium: Ein Beitrag zur Frage nach der theologischen und pragmatischen Funktion des johanneischen »Dualismus« (WMANT 56), Neukirchen- Vluyn 1984. 19 Vgl. W. A. Meeks, The Man from Heaven in Johannine Sectarianism, JBL 91 (1972), 44-72; dazu auch H. Leroy, Rätsel und Missverständnis: Ein Beitrag zur Formgeschichte des Johannesevangeliums (BBB 30), Bonn 1968, 191-193. 20 Vgl. z. B. J.H. Elliott, The Jewish Messianic Movement: From Faction to Sect, in: P.F. Esler (Hg.), Modelling Early Christianity: Social-Scientific Studies of the New Testament in Its Context, London 1995, 75-95. 21 Zur jüngsten detaillierten Studie vgl. K. S. Fuglseth, Johannine Sectarianism in Perspective: A Sociological, Historical, and Comparative Analysis of the Temple and Social Relationships in the Gospel of John, Philo, and Qumran (NovTSup 119), Leiden 2005. 22 Vgl. B. J. Malina, The Gospel of John in Sociolinguistic Perspective (Protocol of the 48 th Colloquy, 11 March 1984, Center for Hermeneutical Studies in Hellenistic and Modern Culture), Berkeley 1985. 23 Vgl. J. H. Neyrey, An Ideology of Revolt: John’s Christology in Social-Science Perspective, Philadelphia 1988, 171f; 196. 24 Vgl. Brown, 1: cxi-cxiv; jüngst auch F.J. Moloney, »A Hard Saying«: The Gospel and Culture, Collegeville 2001, 9-30; R.E. Brown, An Introduction to the Gospel of John (Francis J. Moloney, ed.; Anchor Bible Reference Library), New York 2003, 229-234; F.W. Guyette, Sarcramentality in the Fourth Gospel: Conflicting Interpretations, Ecclesiology 3 (2007), 235-250. 25 Vgl. H. Weiss, Foot Washing in the Johannine Community, NovT 21 (1979), 298-325. 26 Vgl. A. J. Hultgren, The Johannine Footwashing (13: 1- 11) as Symbol of Eschatological Hospitiality, NTS 28 (1982), 539-546. 27 Vgl. L. P. Jones, The Symbol of Water in the Gospel of John (JSNTSup 145), Sheffield 1997, 217-218. 28 Vgl. F. H. Gorman, Jr., Ritual Studies and Biblical Studies: Assessment of the Past, Prospect for the Future, Semeia 67 (1994), 13-36, bes. 23-24; R.L. Grimes, Beginnings in Ritual Studies (rev. ed.; SCR), Columbia 1995, 66. 29 Vgl. J. H. Neyrey, The Foot Washing in John 13, 6-11: Transformation Ritual or Ceremony? , in: L.M. White/ O.L. Yarborough (Hgg.), The Social World of the First Christians: Essays in Honor of Wayne A. Meeks, Minneapolis 1995, 198-213. 30 Vgl. R. L. Grimes, Ritual Criticism: Case Studies in Its Practice, Essays on Its Theory (SCR), Columbia 1990, 90; 219; C.M. Bell, Ritual: Perspectives and Dimensions, New York 1997, 171. 31 Vgl. S. J. Tambiah, Culture, Thought, and Social Action: An Anthropological Perspective, Cambridge 1985, 125. 32 Vgl. J. Beutler, In Search of a New Synthesis, in: T. Thatcher (Hg.), What We Have Heard from the Beginning: The Past, Present, and Future of Johannine Studies, Waco 2007, 23-34; E. Kobel, Dining with John: Communal Meals and Identity Formation in the Fourth Gospel and its Historical and Cultural Context (BIS 109), Leiden 2011, 20-22; B. Salier, Jesus, the Emperor, and the Gospel According to John, in: J. Lierman (Hg.), Challenging Perspectives on the Gospel of John (WUNT 2219), Tübingen 2006, 284-301. 33 Vgl. J. Ashton, Second Thoughts on the Fourth Gospel, in: T. Thatcher (Hg.), What We Have Heard from the Beginning: The Past, Present, and Future of Johannine Studies, Waco 2007, 1-21. Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 42 - 2. Korrektur 42 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Zum Thema 34 Die deutsche Übersetzung des neutestamentlichen Textes entstammt-- wie auch im Folgenden-- der Revidierten Lutherbibel (1984). 35 G. R. O’Day, The Gospel of John: Introduction, Commentary, and Reflections, in: L.E. Keck et al. (Hgg.), The New Interpreter’s Bible (12 vols.), Nashville, 9: 491-865, hier: 9: 560. 36 In der lukanischen Version ist Johannes der Täufer bei Jesu Taufe selbst abwesend. 37 Vgl. Neyrey, Foot Washing, 202-205. 38 Zu Lazarus, Maria und Martha als Prototypen in der Christus-Nachfolge vgl. P. F. Esler and R.A. Piper, Lazarus, Mary and Martha: Social-Scientific Approaches to the Gospel of John, Minneapolis 2006. 39 Vgl. D. E. Smith, From Symposium to Eucharist: The Banquet in the Early Christian World, Minneapolis 2003, 22. 40 Vgl. »Dank sagen« (eucharisteō): Joh 6,11; 1 Kor 11,24; Lk 22,19; »geben, zuteilen« (didōmi, diadidōmi): Joh 6,11; Mk 14,22; Mt 26,26; Lk 22,19. 41 Vgl. H. Taussig, In the Beginning Was the Meal: Social Experimentation and Early Christian Identity, Minneapolis 2009, 26-32; Smith, Symposium, 9-11. 42 Vgl. R. E. DeMaris, The New Testament in Its Ritual World, London 2008, 29. 43 Gegen Neyrey, der davon ausgeht, dass Festessen immer dazu dienen, den gesellschaftlichen status quo und damit einhergehende Grenzen aufrechtzuerhalten; vgl. dazu J.H. Neyrey, Ceremonies in Luke-Acts: The Case of Meals and Table Fellowship, in: J.H. Neyrey (Hg.), The Social World of Luke-Acts, Peabody 1991, 361-387. 44 Vgl. Neyrey, Foot Washing, 209-212. 45 Vgl. Kobel, Dining with John, 215-249. 46 Vgl. Salier, Jesus, 291f; 294 f. 47 Deutsche Übersetzung von A. Lambert, Gaius Suetonius Tranquillus: Leben der Caesaren, Zürich/ Stuttgart 1955, 453. 48 A. Shuman, Food Gifts: Ritual Exchange and the Production of Excess Meaning, JAF 113 (2000), 495-508, hier: 496. 49 Vgl. J. H. D’Arms, Slaves at Roman Convivia, in: W.J. Slater (Hg.), Dining in a Classical Context, A. Arbor 1991, 171-183. 50 Deutsche Übersetzung von H. Wissmüller, Statius: Silvae. Das lyrische Werk in neuer Übersetzung, Neustadt/ Aisch 1990, 36 f. 51 Vgl. C. Grignon, Commensality and Social Morphology: An Essay of Typology, in: P. Scholliers (Hg.), Food, Drink and Identity: Cooking, Eating and Drinking in Europe Since the Middle Ages, New York 2001, 23-33. 52 Vgl. V. u. E. Turner, Religious Celebration, in: V. Turner (Hg.), Celebration: Studies in Festivity and Ritual, Washington 1982, 201-219. 53 Vgl. J. H. Elliott, Phases in the Social Formation of Early Christianity: From Faction to Sect—A Social Scientific Perspective, in: P. Borgen/ V.K. Robbins/ D.B. Gowler (Hgg.), Recruitment, Conquest, and Conflict: Strategies in Judaism, Early Christianity, and the Greco-Roman World (ESEC), Atlanta 1998, 273-313. 54 Vgl. M. Gluckman, Order and Rebellion Tribal Africa, London 1963, 110-136; E. Norbeck, African Rituals of Conflict, AA 65 (1963), 1254-1279; P. Weidkuhn, The Quest for Legitimate Rebellion: Towards a Structuralist Theory of Rites of Reversal, Religion 7 (1977), 167-179. 55 Vgl. C. Auffarth, Der drohende Untergang: »Schöpfung« in Mythos und Ritual im Alten Orient und in Griechenland am Beispiel der Odyssee und des Ezechielbuches (RVV 39), Berlin 1991, 27. 56 Vgl. H. S. Versnel, Inconsistencies in Greek and Roman Religion II: Transition and Reversal in Myth and Ritual (2 vols.; SGRR 6, II), Leiden 1993, 2: 116-117. 57 Vgl. S. Stewart, On Longing: Narratives of the Miniature, the Gigantic, the Souvenir, the Collection, Baltimore 1984, 106. 58 Vgl. Versnel, Transition and Reversal, 118 f. 59 B. A. Babcock, Introduction, in: B.A. Babcock (Hg.), The Reversible World: Symbolic Inversion in Art and Society (Symbol, Myth, and Ritual Series), Ithaca 1978, 13-36, hier: 29. 60 Vgl. Brown, Beloved Disciple, 81-91. 61 Ähnlich dazu O. Cullman, der den eher unpräzisen Terminus Kreis dem der Sekte vorzieht, eine soziologisch nur schwach fundierte Charakterisierung; vgl. ders., Der johanneische Kreis: Sein Platz im Spätjudentum, in der Jüngerschaft Jesu und im Urchristentum, Tübingen 1975, 41-60, bes. 59 f. 62 Deutsche Übersetzung von G. Schöllgen, Didache = Zwölf-Apostel-Lehre, Freiburg [u. a.] 1991, 123. 63 Der Autor des Artikels dankt seinem Kollegen, Prof. Dr. Christoffer Grundmann von der Valparaiso Universität, für seine freundliche Unterstützung beim Korrekturlesen. Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 43 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 43 1. Ritual, ein offener und dynamischer Begriff Menschliches Leben und Zusammenleben wird stark von rituellen Praktiken mitgeprägt. Doch was ist ein Ritual? Die Antwort auf diese Frage ist viel schwieriger, als die Frage selbst das vermuten lässt. Die Ritualforschung öffnet eine Spannbreite von Definitionen, die von eng begrenzten rituellen Handlungsfeldern des individuellen Lebens und des gemeinschaftlichen Zusammenlebens bis zu einer hohen Durchdringung aller Lebensvollzüge und selbst der Sprache mit Ritualen reicht. 1 Die neutestamentliche Wissenschaft kann gewinnbringend entweder ein Ritualmodell mit der entsprechenden Theorie übernehmen 2 oder im Hören auf die Ritualforschung den Begriff in seinem vielfältigen Bedeutungspotenzial wahrnehmen, um ihn in seiner dynamischen Variabilität mit dem eigenen Forschungsgegenstand ins Gespräch zu bringen. Letzteres soll hier probeweise in Bezug auf das Markusevangelium geschehen. Durch ein dialogisches Vorgehen soll zuerst mit einer vorläufigen Definition von Ritualen das Markusevangelium nach rituellen Praktiken und Ritualen durchgesehen werden. Ein Ritual ist eine Handlung, die in einer festgelegten Form, wiederholt und nach bestimmten Regeln vollzogen wird. Handlungsträger kann ein Einzelner, eine Gemeinschaft oder auch ein Beauftragter einer Gemeinschaft sein. Rituelle Handlungen sind Praktiken, die Elemente dieser vorläufigen Definition aufweisen. Um mit dem Begriff Ritual operieren zu können, sollen sprachliche Konventionen, die zwar ebenfalls dieser Definition entsprechen, aber in der Regel unbewusst angewandt werden, nicht mit berücksichtigt werden. Die Grenzen zwischen Sitte, Gepflogenheit und Ritual können hier hingegen nicht scharf gezogen werden. Ein Ritual wird als etwas, das sich vom Alltag abhebt oder eine Zäsur im Alltagsgeschehen bildet, zum Gegenstand der Untersuchung. Wer einen Bissen Brot in den Mund schiebt, hat nach dieser Definition noch kein Ritual vollzogen, obwohl er dies wahrscheinlich nicht immer neu und anders und gegen gesellschaftliche Konvention machen wird. Wer aber nach allgemeiner Gepflogenheit vor jedem Essen nach festen Regeln ein Dankgebet spricht, isst erst, wenn er ein Ritual vollzogen hat. Rituale sind in einem begrenzten Sinn vorhersagbar. Eine bestimmte Situation, Zeit oder Raum lässt von einer Gruppe vorhersagbare Handlungsabläufe erwarten, weil diese bei solchen Gelegenheiten immer auf dieselbe Weise mit einer gewissen Intentionalität handelt. Soviel muss genügen als Arbeitsdefinition, auch wenn der Ritualbegriff ohne Weiteres auf das ganze Leben ausgeweitet werden könnte. Der Gegenbegriff zum Ritual scheint die Spontanität zu sein. Spontane Handlungen, intendierte wie nicht intendierte, sind keine Rituale. 2. Jesus und die Rituale seiner Zeit im Markusevangelium Alle Evangelien bezeugen je auf ihre Art, wie das Leben von Jesus durch Rituale geprägt worden ist und alle lassen ihn je unterschiedlich mit diesen Ritualen umgehen. Der Jude Jesus war in eine jüdische Alltagswelt eingebettet, die von Ritualen durchdrungen war. 3 So bildete der Tempel eine zentrale Institution für das Judentum seiner Zeit. Der Tempelkult war durch und durch ritualisiert. Selbstverständlich ist jedes Evangelium nicht historisches Zeugnis in einem abstrakten historischen Sinn, sondern Zeugnis einer lebendigen Erinnerungskultur aus der Jesusbewegung und der sich formierenden Kirche einige Jahrzehnte nach ihren Anfängen. Als solches Zeugnis soll das Markusevangelium hier ausgewertet werden. In Bezug auf die Gestalt jüdischer und alltäglicher Rituale muss der Graben zwischen dem Evangelium zum-- direkt nicht fassbaren-- historischen Jesus und seiner Zeit Peter Wick Übernahme und Zurückweisung von Ritualen und rituellen Praktiken im Markusevangelium Zum Thema »Ein Ritual ist eine Handlung, die in einer festgelegten Form, wiederholt und nach bestimmten Regeln vollzogen wird. […] Wer einen Bissen Brot in den Mund schiebt, hat […] noch kein Ritual vollzogen, obwohl er dies wahrscheinlich nicht immer neu und anders und gegen gesellschaftliche Konvention machen wird. Wer aber nach allgemeiner Gepflogenheit vor jedem Essen nach festen Regeln ein Dankgebet spricht, isst erst, wenn er ein Ritual vollzogen hat.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 44 - 2. Korrektur 44 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Zum Thema vor Pessachbeginn (Mk 11,1-14,11). Das Pessach feiert diese Gruppe mit den üblichen Ritualen. Die Jünger fragen Jesus danach, wo er das Pessach in der Stadt essen will (Mk 14,12). Schließlich bereiten sie alles nach seiner Anordnung vor (Mk 14,16). »Das Pessach bereiten« beziehungsweise »das Pessach essen« impliziert eine Aneinanderreihung vieler Rituale, die jedes Jahr von jeder Familie oder Gruppe, die am Fest teilgenommen hat, praktiziert worden sind. Am letzten Vorbereitungstag schlachteten Familien und Gruppen kurz vor dem Festbeginn am Abend ein Opfertier, das dann zu Beginn des ersten Festtages zusammen mit ungesäuerten Broten und bitteren Kräuter und diversen Vorspeisen 4 verzehrt wurde (Ex 12,8; Num 9,11). Die Opfertiere wurden im Gegensatz zu Schlachtungen im Rahmen des Tempelkultes vom Volk selbst, das heißt von den jüdischen Männern und nicht von den Priestern geschlachtet (2Chr 30,17). 5 Das Opfertier wurde für je mindestens zehn Mahlteilnehmer geschlachtet. 6 Der Autor kann so mit seinen knappen Worten einen ganzen rituellen Komplex anführen und dem Leser vermitteln, dass Jesus in großer Selbstverständlichkeit an diesem nicht nur teilgenommen, sondern ihn auch als Vorsteher seiner Gemeinschaft verantwortlich durchgeführt hat. Dafür muss dem Leser dieser Ritualkomplex nicht im Detail bekannt sein. Der Tempelvorfall ist schwieriger zu deuten. Unmittelbar nachdem Jesus Jerusalem erreicht hat, geht er in den Tempel und besichtigt ringsum alles (Mk 11,11). Es ist wahrscheinlich, dass auch hier Jesus, entsprechend einer Sitte der Wallfahrer, den Tempel sofort nach dem Eintreffen in Jerusalem aufsuchte, obwohl der Tag sich schon neigte. Die Grenze zwischen dem Befolgen einer Sitte und der Vollführung eines Rituals ist fließend. Der Evangelist legt nahe, dass der Aufbruch von Jericho, die Heilung des blinden Bartimäus und der Einzug in Jerusalem an demselben Tag stattgefunden haben. Offensichtlich war Jesus alles andere als zufrieden mit dem, was er sah. Der Tempel war in den Augen dieses Wallfahrers nicht bereit für das Fest, sondern durch diverse Praktiken verunreinigt. Am nächsten Morgen schreitet er, nachdem er den Tempel betreten hat, zur Tat. Er beginnt, die Verkäufer und die Käufer dort hinauszutreiben und wirft die Tische der Geldwechsler und die Stühle der Taubenverkäufer um (Mk 11,15). Der Text sagt nichts davon, dass Jesus in Kultrituale eingegriffen oder diese gestört habe. Irgendein Teil des riesigen, von Säulenhallen umgebenen Vorhofes des Tempels ist der einzig vorstellbare Schauplatz dieses Geschehens. Gut möglich ist, dass er in der großen Basilika stattfand, die den südlichen Abschluss des Vorhofes bildete. 7 Weder nicht allzu groß gemacht werden, da Rituale in der Regel eine hohe Stabilität aufweisen. Dies gilt in Bezug auf das Markusevangelium ganz besonders auch für die Hinweise auf den Tempelkult, denn ob nach den gängigen Datierungen die Zerstörung des Tempels unmittelbar bevorstand oder vor Kurzem geschehen ist, wird nicht so ins Gewicht fallen, da auch kurz nach 70 n. Chr. nirgendwo im Judentum eine ritualprägende Verarbeitung der Tempelzerstörung greifbar wird und die Jesusbewegung auch um 70 n. Chr. Teil des damals sehr heterogenen Judentums ist. Hingegen muss bei der markinischen Darstellung, wie Jesus mit vorgegebenen Ritualen umgeht, mit einem hohen Eigeninteresse des Autors für aktuelle Herausforderungen seiner Adressaten gerechnet werden. Die Frage, ob Jesus die Sakramente als Rituale für seine Kirche geschaffen habe, ist anachronistisch und kann nicht zum Ziel führen. Hingegen kann untersucht werden, wie der Autor Jesus in seine ihn umgebende Ritualwelt stellt und ob Rituale als selbstverständlich vorausgesetzt oder missachtet oder transformiert werden, um daraus Hinweise zu gewinnen, ob und wie sich in der Jesusbewegung eine Praxis gottesdienstlichen Handelns zur Zeit der Abfassung in ritueller Hinsicht entwickelt hat. Der Jesus des Markusevangeliums bewegt sich sehr vielschichtig in der ihn umgebenden Ritualwelt. Als Festbesucher erreicht Jesus mit seine Anhängern Jerusalem nach den damaligen Gepflogenheiten einige Tage Prof. Dr. Peter Wick (geboren 1965 in Basel, verheiratet, vier Kinder, wohnhaft in Hattingen an der Ruhr) studierte Evangelische Theologie in Basel und Fribourg. Promotion 1993 in Basel über Form und Inhalt des Philipperbriefes. 1994 -1995 Studienaufenthalt in Jerusalem. 1999 Habilitation über die Entstehung der urchristlichen Gottesdienste im jüdischen Kontext in Basel. 2000 - 2003 Assistenzprofessor für Neues Testament und Antike Religionsgeschichte an der Universität Basel. Seit 2003 auf dem Lehrstuhl für Exegese und Theologie des Neuen Testaments / Geschichte des Urchristentums an der Ruhr-Universitat Bochum (D). Seit 2008 im Vorstand des Käte- Hamburger Kollegs »Dynamiken der Religionsgeschichte zwischen Asien und Europa«. Prof. Dr. Peter Wick Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 45 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 45 Peter Wick Übernahme und Zurückweisung von Ritualen und rituellen Praktiken im Markusevangelium der Vorhof der Frauen, den jüdische Frauen betreten durften, noch der eigentliche Tempelhof, von dessen Rand her jüdische Männer den Opferungen auf dem großen Brandopferaltar durch die Priester zuschauen konnten, kann davon betroffen gewesen sein. All dies ist der Tempel (to hieron). Das eigentliche Tempelgebäude (ho naos) bleibt sowieso gänzlich unberührt. Jesus stört nicht die Kultrituale, sondern die weitere Infrastruktur dafür, die auch außerhalb des Tempels hätte stattfinden können. Allerdings ist das in der Forschung bei seiner nächsten Handlung umstritten, die keine Erwähnung in den anderen Evangelien findet. »Und er ließ nicht zu, dass irgendjemand ein Gerät durch den Tempel trug« (Mk 11,16). Das Wort skeuos bezeichnet irgendein Gerät oder Gefäß. Gewisse Exegeten wollten diesen Begriff auf Kultgeräte beziehen. Wenn aber Jesus den Transport von Gegenständen, die für kultische Rituale notwendig sind, verbietet, dann wäre seine Aktion gegen diese selbst gerichtet. 8 Andere vertraten die Ansicht, dass hier »die-- in der Perspektive dieses strenggläubigen Juden-- missbräuchliche Praxis, den Tempelplatz als Abkürzungsweg für Händler und Lastenträger von einem Teil Jerusalems zum anderen zu benützen« 9 , unterbunden werden soll. Diese Hypothese ist durchaus plausibel, da sie der Größe des Vorhofes, dessen geografischer Lage und auch späteren rabbinischen Quellen Rechnung trägt. 10 Der Kontext lässt eine antikultische Handlung als nicht plausibel erscheinen. Im Duktus der vorangehenden Aussagen richtet sich Jesus auch mit dieser gegen jede profane Tätigkeit auf dem Vorhof, vor allem gegen jegliche Form von Handel. Es ist davon auszugehen, dass der Verfasser eine intendierte kultkritische Spitze dieser Geschichte deutlicher herausgearbeitet und sie nicht alleine am Allerweltswort »Gefäß« festgemacht hätte. Schließlich wird er Jesus in seinem Evangelium über das Essen des Pessachs wieder positiv in einen kultischen Zusammenhang zum Opferkult treten lassen. Die Tempelaktion lässt sich problemlos als »Protest gegen die Entheiligung des heiligen Ortes« 11 verstehen. Der Kult und dessen Rituale werden nicht angegriffen, sondern vor profanen Handlungen in seinem direkten Umfeld geschützt. Zugleich ist dieser erste und größte Vorhof als Vorhof der Heiden bekannt. Nichtjuden durften nur diesen betreten, ein tieferes Eindringen war ihnen unter Androhung der Todesstrafe verboten. So war dieser Vorhof der einzige Ort, an dem sie anbeten konnten. Für Jesus ist seine Aktion ein Anlass zum Lehren. Mit dem Propheten Jesaja und Jeremia (Jes 56,7) will er, dass der Tempel ein Haus des Gebets genannt werden und nicht zu einer Räuberhöhle (Jer 7,11) verkommen soll. Der Kontext von Mk 11,16 zeigt somit deutlich, dass sich Jesus hier nicht gegen den Tempelkult oder an den Tempel gebundene Rituale, sondern gegen Praktiken richtet, die diese stören. Der ganze Tempel soll ein ungestörter und durch keinen Handel behinderter Ort des Gebets sein. Allerdings ist solch ein Einsatz nur durch einen militanten Eifer zu erklären. Denn der Vorhof (samt Basilika) war als Agora beziehungsweise Forum konzipiert und es war selbstverständlich, dass viele mit dem Tempel verbundene geschäftliche Aktivitäten dort stattfanden. 12 Eine solche Aktion ist ein Einsatz für eine radikale Ausweitung der Heiligkeit des Tempels. 13 Zugleich scheint sich Jesus hier nicht für irgendein konkretes Ritual einzusetzen, denn das Gebet ist dafür viel zu offen und unkonkret angesprochen, als dass damit bestimmte Gebetsrituale am Tempel gemeint sein könnten. Ja, sein Einsatz für das Gebet auf dem Vorhof der Heiden lässt sowohl an fixiertes und ritualisiertes als auch an freieres Gebet denken. Nachdem Jesus einen Aussätzigen geheilt hat, setzt er sich dafür ein, dass sich dieser dem rituellen Prozedere am Tempel durch die Priester gemäß der Tora unterzieht: »Gehe hin und zeige dich dem Priester und bringe das für deine Reinigung dar, was Mose geboten hat, ihnen zum Zeugnis« (Mk 1,44). Mit den mosaischen Reinheitsgesetzen stimmt diese Erzählung ganz überein. 14 3. Distanzierungen zu rituellen Praktiken durch Jesus Jesus distanziert sich im Markusevangelium nicht vom Tempel und dessen Ritus und der damit verbundenen rituellen Praxis, doch von anderen jüdischen Ritualen distanziert er sich in diesem Evangelium deutlich. Jesus hat eine fromme jüdische Gruppe gegründet. Andere fromme Gruppierungen haben-- immer nach dem Plot der markinischen Erzählung-- erwartet, dass er gewisse rituelle Praktiken in seiner Gruppe einführt. So wundern sich die Anhänger des Johannes des Täufers und die Pharisäer, warum seine Anhänger nicht fasten (Mk 2,18). Jesus begründet dies mit der Besonderheit seiner Person und der Zeit: »Die Hochzeitsgäste können nicht fasten, solange der Bräutigam bei ihnen ist.« Es werden allerdings Tage kommen, an denen dies nicht mehr der Fall sein wird, dann werden sie fasten. Jegliche Fastenpraxis, die bei den anderen Teil der Gruppenrituale war, wird so zurückgewiesen und zugleich auf einen späteren Zeitpunkt verschoben, an dem diese aufgenommen werden soll. Es muss hier also von einer vorläufigen Distanzierung gesprochen werden. Interes- Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 46 - 2. Korrektur 46 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Zum Thema sant ist, dass-- streng genommen-- Jesus die eine rituelle Praxis aufgrund einer anderen, die einer Hochzeitsfeier angemessen ist, zurückweist. Das Lukasevangelium arbeitet den Ritualcharakter des Fastens der Pharisäer und die Vorläufigkeit des Fastenverzichts in der Jesusgruppe deutlicher heraus. »Sie aber sprachen zu ihm: ›Die Jünger des Johannes fasten oft und verrichten (machen) Gebete, ebenso auch die der Pharisäer, die deinen aber essen und trinken‹« (Lk 5,33). Die Wendung »Gebete verrichten« lässt an festgesetzte Gebete denken, die zu bestimmten Zeiten gebetet worden sind. Nach Lukas 18,12 haben die Pharisäer zweimal die Woche gefastet. Dies sind Hinweise auf den nicht spontanen, rituellen Charakter von Gebet und Fasten bei den Pharisäern und in der Johannesgruppe. Im Lukasevangelium gibt Jesus seinen Jüngern mit dem »Vater-Unser-Gebet« wenigstens ein festgesetztes Gebet (Lk 11,2-4), im Matthäusevangelium ist das »Vater Unser« ein Angebot mit rituellem Charakter an die Jünger und das Volk (Mt 6,9-13). Die Gebetspraxis der Jünger wird im Markusevangelium kaum sichtbar. Die Gebetspraxis Jesu scheint betont spontan zu sein und richtet sich nach keinen Ritualen. Immer wieder zieht Jesus sich an einsame Ort zum persönlichen Gebet zurück (Mk 1,35; 6,46). Mit den Jüngern betet Jesus nie. Auch im Garten Gethsemane betet er für sich allein (Mk 14,32. 35. 39). Er gibt ihnen allerdings Anweisungen zum Beten (Mk 9,29; 11,24f; 13,18; 14,38). Doch weder bei Jesus noch bei den Jüngern kommt ein rituelles Gebet in den Blick. Die einzige Ausnahme bildet vielleicht die Todesstunde. Am Kreuz könnte Jesus mit den Worten »mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen« den Psalm 22 gebetet haben (Ps 22,2). Dies ist das einzige Gebet, das Jesus in Mk in der Öffentlichkeit gebetet hat. Da er dies aber in einer einzigartigen Situation vorträgt, vervollständigt sich das Bild dieses Evangeliums. Jesus wird nicht mit rituellem Beten in Verbindung gebracht, sondern eher von diesem abgerückt. Der Autor macht sich für ein persönliches, individuelles und spontanes Beten stark, Jesus und seine Bewegung werden-- gegen Erwartungen anderer jüdischer Gruppierungen-- von jeglichem rituellen Gebet distanziert. Noch schärfer wird die Distanzierung von der hoch ritualisierten Reinheitspraxis der Phariäser und pauschal von der des ganzen jüdischen Volks herausgehoben (Mk 7,1-23). Rituelle und ethische Unreinheit sind zwei verschiedene Kategorien, die sich in der Tora und im Frühjudentum nicht generell voneinander trennen lassen. Sie können miteinander vermischt sein und mit göttlicher Strafe sanktioniert werden (Lev 18,19-25). Gerade in Judäa zur Zeit Jesu gab es möglicherweise manche Juden, die versuchten, rein zu leben, auch wenn sie nicht den Tempel besuchten. 15 Ab dem ersten Jahrhundert vor Christus finden sich Stufenpools als Reinigungsbad (Miqweh). Solche Bäder dienten zur rituellen Reinigung des Körpers durch ein Bad (vgl. Joh 13,10). 16 Diese wurden im Zugangsbereich des Tempels, vor einer Synagoge und in Wohnhäusern in Judäa, in Jerusalem und in Qumran, in Galiläa aber auch bei den Samaritanern gefunden. Die Pharisäer waren eine der treibenden Kräfte einer besonderen »Durchritualisierung« des Alltags, da sie so sich und der jüdischen Bevölkerung eine vom Priesteramt und Tempel unabhängige Möglichkeit boten, einem priesterähnlichen Reinheitsideal nachzueifern. 17 Der Verfasser lässt Jesus sich deutlich von der ganzen Reinheitspraxis distanzieren. »Und sie sahen einige seiner Jünger, dass sie mit gemeinen, das bedeutet mit ungewaschenen Händen die Brote essen. Denn die Pharisäer und alle Juden essen nicht, wenn sie sich nicht mit einer Faust [voll Wasser] die Hände gewaschen haben-- so halten sie die Überlieferungen der Ältesten-- auch essen sie nicht, wenn sie vom Markt kommen, wenn sie nicht ein Tauchbad genommen haben. Auch gibt es viele andere [Praktiken], die sie zu halten übernommen haben: Tauchbäder von Bechern, Krügen und ehernen Gefäßen. Und die Pharisäer und Schriftgelehrten fragten ihn: ›Weshalb wandeln deine Jünger nicht gemäß den Überlieferungen der Ältesten, sondern essen das Brot mit gemeinen Händen? ‹« (Mk 7,2-5). Jesus hebt nach diesem Evangelium die ganze jüdische rituelle Reinheitspraxis auf und will nur noch ein ethisiertes Reinheitsverständnis gelten lassen (Mk 7,6-23). 18 Dies steht im deutlichen Gegensatz zu Lukas, gemäß dem sich Jesus nur von einer pharisäischen rituellen Praxis distanziert (Lk 11,37.39). Auch bei Matthäus scheint es um eine spezifische Praxis jüdischer Gruppierungen und nicht um alle Praktiken des ganzen Volks zu gehen (Mt 15,1f ). Später wird Jesus nach Matthäus dem Volk und den Jüngern sagen, dass sie alles befolgen sollen, was die Pharisäer und die Schriftgelehrten lehren (Mt 23,3). Bemerkenswert ist ebenfalls, dass Matthäus und Lukas den Satz von Markus, dass Jesus mit diesen Worten alle Speise für rein erklärt hat, auslassen (Mk 7,19). »Die Pharisäer waren eine der treibenden Kräfte einer besonderen ›Durchritualisierung‹ des Alltags.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 47 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 47 Peter Wick Übernahme und Zurückweisung von Ritualen und rituellen Praktiken im Markusevangelium Gerade der synoptische Vergleich zeigt, dass nur Markus in dieser Hinsicht ein radikales Bild von Jesus zeichnet. Jesus distanziert sich von der jüdischen Ritualisierung des Alltags zugunsten einer Freiheit von Ritualen und Spontanität. 4. Rituelle Praktiken im Gemeinschaftsmahl Eine Untersuchung der Mahlpraxis Jesu im Markusevangelium zeigt ein ganz anderes Bild. Mähler waren in der Antike sehr stark rituell konstituiert. So war die allgemein verbreitete hellenistische Deipnon-Symposionpraxis durch feste Rituale geprägt, die auch vom Judentum übernommen worden sind. Abendmahl und anschließendes Weingelage zur gegenseitigen Unterhaltung der Teilnehmer waren durch Rituale geprägt, von denen viele über Jahrhunderte zuerst in der griechischen, dann aber auch in der hellenistisch-römischen Welt stabil blieben. 19 Das fängt schon mit der Körperhaltung an. Jedes Mal, wenn Jesus und seine Jünger sich in den Evangelien zu Tisch begeben, setzen sie sich nicht hin, sondern legen sich zu Tische nach der damaligen Gepflogenheit in der hellenistisch-römischen Welt. Die Ereignisse, die zum Tod des Johannes des Täufers geführt haben, bettet nur Markus explizit in die typischen rituellen Praktiken einer Deipnon-Symposionfeier ein, die zu Ehren des Geburtstages von Herodes begangen wird. Nur dieser Evangelist erwähnt, dass Herodes ein Deipnon veranstaltet hat. Die über Jahrhunderte ziemlich stabile Ritualform erlaubte den Ehefrauen oft, am Deipnon teilzunehmen. Hingegen standen Frauen, die am Symposion teilnahmen, in der Regel den Symposiasten auch zur sexuellen Unterhaltung zur Verfügung. Die Tochter der Herodias tanzt und gefällt dem König und allen seinen Gästen. Er gewährt ihr eine beliebige Bitte. Um die Mutter um Rat zu fragen, muss sie den Raum verlassen. Offensichtlich nimmt die Ehefrau an dieser Runde nicht teil, was ein deutliches Indiz dafür ist, dass das Symposion begonnen hat und die Tochter einen erotisch konnotierten Tanz zur Unterhaltung der Männer aufgeführt hat. In einer Schüssel wird dann zur perversen Unterhaltung am Symposion das Haupt Johannes des Täufers gebracht (Mk 6,21-28). Diese Geschichte gewinnt erst ihr volles Profil, wenn der vorgegebene rituelle Rahmen beachtet wird. Offensichtlich war diesem Evangelisten dieser Rahmen sowohl im Negativen als auch im Positiven wichtig. Im Judentum wurde in den vorgegebenen Deipnon- Rahmen ein rituelles Dankgebet (Eucharistie) beziehungsweise ein Segensgebet (Beracha) über dem Brot eingefügt, das mit einer ebenfalls rituellen Handlung gebrochen worden ist. Wenn Jesus im Markusevangelium Herr des Mahles ist, beachtet er diese rituelle Praktik. So spricht er bei der Speisung der Fünftausend den rituellen Segen (eulogeō 6,41) über den fünf Broten, die er bricht, bei der Speisung der Viertausend tut er das auch über den Fischen (8,7), spricht aber das rituelle Dankgebet (eucharisteō 8,6) über den Broten. Gerade die Erzählung von der Speisung der Fünftausend betont, dass Jesus sich genau an die Mahlordnungen und Tischgepflogenheiten hält. Er lässt die Menschen in sympotischen Gruppen niedersetzen (Mk 6,39: symposia symposia; Vgl. V. 40). Auch bei seinem letzten Deipnon mit seinen Jüngern beachtet er die vorgegebenen hellenistischen und jüdisch adaptierten Mahlrituale auf das Genaueste, die offensichtlich schon traditionell im Judentum auch den Grundrahmen des Pessachmahles bildeten. Er bricht das Brot während des Essens und spricht eine Beracha darüber (Mk 14,22) und danach über dem Becher ein Eucharistiegebet (Mk 14,23). Offensichtlich ist es dem Verfasser wichtig, zwischen Beracha und Eucharistie zu alternieren. 20 Paulus betont, dass dies der erste Becher nach dem Mahl war. Damit verortet er ihn eindeutig im Ritual, das das Symposion eröffnet. Bei Markus ist das nicht so deutlich. Es scheint, dass dieser Kelch eher ein gemeinsames Einander-Zutrinken während des Symposions war. Eine solche Proposis gehörte zu den rituellen Praktiken des Symposions. 21 Der Zugang über die rituellen Praktiken beim Mahl ändert die Perspektive. Es ist nicht so, das eucharistische Elemente und Anspielungen im Sinne eines Sakramentes in den Erzählungen der Speisungswunder enthalten sind, sondern die dafür in Frage kommenden Elemente dieser Geschichten folgen der rituellen Mahlpraxis ihrer Zeit und das letzte Deipnon stimmt mit ihnen deshalb so überein, weil auch dieses ganz in diese Praktiken eingebettet ist. Das, was dieses Deipnon von anderen unterscheidet, sind die spezifischen Deuteworte Jesu über der Brotverteilung und der Trinkgemeinschaft aus dem einen Becher (Mk 4,22-24). Jesus erscheint so in diesem Evangelium nicht als Begründer eines neuen Mahlrituals und schon gar nicht als der Stifter eines Sakramentes, sondern er verwendet allgemein verbreitete Rituale so, dass ein Deipnon allein durch seine Deuteworte zu einem einzigartigen und un- »Mähler waren in der Antike sehr stark rituell konstituiert.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 48 - 2. Korrektur 48 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Zum Thema terscheidbaren wird. Es kann also von einer spontanen Erweiterung der rituellen Praxis gesprochen werden, da die Deuteworte selbst nicht Bestandteil des Rituals sind und in der Erzählung nicht rituellen Charakter aufweisen, sondern vorgegebene Rituale deuten. Einen Hinweis im Text, dass diese spontane und individuelle Interpretation Jesu zu einem fest gefügten Ritual der christlichen Gemeinde zur Zeit der Niederschrift dieses Evangeliums werden soll, gibt es in diesem Text nicht. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein: Die Deuteworte sind in ihrer erzählten Spontanität das A-Rituelle an diesem Mahl. 22 Der Fortgang der Geschichte weist darauf hin, dass sich Jesus nach seinen spontanen Deuteworten wieder ganz im Rahmen der Ritualordnung des Pessachs bewegt. Zum Abschluss der Feier singen sie den Lobgesang und gehen hinaus (Mk 14,26). Sogar das Verlassen des Symposion-Saales, der gerade nach Markus ganz nach der Sitte der damaligen Zeit vorbereitet worden war (Mk 14,12-16), könnte noch zum rituellen Rahmen des Symposions gehören. Ein Symposion konnte rituell durch den gemeinsamen Auszug der Symposiasten aus dem Triklinum (Raum für das Symposion) in die Nacht abgeschlossen werden. 5. Jesus, Stifter von Ritualen? Gemäß dem Markusevangelium hat Jesus keine Rituale gestiftet. Er lebte in der Ritualwelt seiner Zeit und hat sich in der Regel an die gesellschaftlich vorgegebenen rituellen Praktiken gehalten. Dies gilt auch für den Tempelkult. Allerdings hat er die für seine Zeit und für verschiedene jüdische Gruppen typische Ritualisierung des Alltags abgelehnt. Die den Alltag prägenden Reinheitsgebote und Speiseregeln erklärt er für seine Jünger als irrelevant. Alle Speise sei rein. Hier setzt das Markusevangelium einen deutlich anderen Akzent als die anderen Evangelien. Allerdings finden solche anti-rituellen Forderungen ihre Grenzen an den rituellen Praktiken, die in der ganzen hellenistischen Welt und mit leichten Abwandlungen auch im Judentum üblich waren. Zwei Gründe können dafür genannt werden. Der erste bezieht sich mehr auf die Darstellung von Jesus selbst, der zweite ist auf mögliche Adressaten des Evangeliums bezogen. Jesus wird in diesem Evangelium ganz besonders als Charismatiker und Gründer einer charismatischen Bewegung im soziologischen Sinn dargestellt. Er bricht in einer für eine charismatische Bewegung typischen Weise nicht mit den Institutionen, sondern geht zu diesen in eine freiheitliche Distanz. 23 Letztlich entscheidet er in dieser Erzählung immer wieder und abhängig von der Situation, wie viele von den Institutionen für ihn und seine Bewegung gelten und wie groß zugleich seine Freiheit und Unabhängigkeit von ihnen ist. Tempel, Synagoge und Haus, aber auch die Thora und andere feste Größen für das Judentum können als solche Institutionen betrachtet werden. Jesus hält gemäß der Thora und selbstverständlich auch gemäß jüdischer Sitte den Sabbat, interpretiert aber den Umgang mit dem Sabbatgebot sehr eigenwillig und freiheitlich, indem er dieses Gebot den Bedürfnissen der Menschen unterordnet. Der Sabbat ist um der Menschen willen da, nicht umgekehrt. Er selbst ist als Charismaträger Herr des Sabbats (Mk 2,27f.). Das Doppelgebot der Liebe wird-- ganz anschlussfähig für einen Schriftgelehrten- - zum Zentrum seiner Ethik und damit auch der Thora (Mk 12,28-30). Das Gebot »Vater und Mutter zu ehren« erhält einen sehr hohen Stellenwert, Speisegebote werden pauschal aufgehoben (Mk 7,1-23). Der Charismatiker Jesus entscheidet aus seiner Vollmacht heraus. Selbstverständlich können Gegner von Jesus in solch einem Vorgehen leicht Willkür ausmachen. Die Synagoge ist für Jesus eine selbstverständliche und unhinterfragte Institution (Mk 1,21; 3,1). An Synagogenversammlungen nimmt Jesus teil. Doch er ordnet sich nicht nur dieser Institution unter, sondern funktionalisiert sie zugleich als öffentliche Plattform für seine Lehre und seine Heilungshandlungen und Exorzismen (Mk 1,23-27; 6,2). Jesus akzeptiert in ähnlicher Weise die Institution des Tempels, unternimmt zu Pessach eine Tempelwallfahrt nach Jerusalem und lässt das Pessach nach den Ordnungen vorbereiten. Als Anführer einer Gruppe nimmt er am Wettstreit jüdischer Gruppierungen um die Heiligkeit des Tempels und am Protest gegen dessen Entheiligung teil. Allerdings konzentriert er sich dabei nicht auf die rituelle Kultpraxis, wie das sowohl von den Pharisäern 24 als auch von den Essenern überliefert ist, 25 sondern auf die Würde des Vorhofes der Heiden als Ort des Gebets für Juden und Nichtjuden. Jesus will weder den Rahmen des Tempelkults sprengen, »Gemäß dem Markusevangelium hat Jesus keine Rituale gestiftet. Er lebte in der Ritualwelt seiner Zeit und hat sich in der Regel an die gesellschaftlich vorgegebenen rituellen Praktiken gehalten. […] Allerdings hat er die für seine Zeit und für verschiedene jüdische Gruppen typische Ritualisierung des Alltags abgelehnt.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 49 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 49 Peter Wick Übernahme und Zurückweisung von Ritualen und rituellen Praktiken im Markusevangelium noch sprengt sein Einsatz für die Heiligkeit des Tempels den Rahmen von dem, was auch andere jüdische Gruppierungen auf ihrer Agenda stehen hatten. Charismatisch sind hingegen die Art der Handlung und der Ort im Tempel, auf den sie primär bezogen ist. Jesus zieht sich immer wieder mit seiner Gruppe in ein Haus zurück. Doch er lehrt seine Jünger nicht nur dort (Mk 7,17), sondern es kommt auch zu Heilungswundern im Haus (Mk 1,29-31; 2,1-12). Mit dem Gebot »Vater und Mutter zu ehren« setzt er sich sehr für den familiären Generationenvertrag und damit für das Haus ein. Er speist meistens im häuslichen Rahmen nach der damaligen Sitte. Doch zugleich relativiert er in charismatischer Freiheit die Familie, ruft eine neue, nicht durch Geburt und Ehe konstituierte Familie ins Leben (Mk 3,31-35) und bricht mit vielen Speiseordnungen seines Volkes. So erscheint Jesus als der typische charismatische Begründer einer Bewegung, die selbst noch keine eigenen Institutionen schafft, sondern sich im Rahmen der vorgegebenen Institutionen bewegt, von denen sie sich zugleich auch in unterschiedlichem Grad distanziert. Diese Begründung muss aber mit einer zweiten verbunden werden, um die Radikalität der Distanzierung von Reinheits- und Speisegeboten, die das alltägliche Leben betreffen, zu erklären. Der Verfasser dieses Evangeliums ist offensichtlich ein entschiedener Vertreter der frühchristlichen Richtung, die um der Integration der Nichtjuden in die ekklesia willen diese rituellen Praktiken relativiert und als Forderung für nichtjüdische Jesusanhänger zurückweist, nämlich in der Überzeugung, dass Nichtjuden durch ihren Glauben an den jüdischen Messias Jesus nicht zu Juden werden sollen. Er steht damit Paulus sehr nahe, ebenfalls den Beschlüssen, die von der Jerusalemer Führung gefällt worden sind und auch vom Verfasser der deutlich späteren Apostelgeschichte vertreten werden. Er will nicht, dass seine wohl mehrheitlich nichtjüdischen Adressaten anfangen, nach jüdischer Sitte zu leben. 6. Die Ergebnisse im Blick ausgewählter Ritualtheorien Diese exegetischen Beobachtungen können in einen fruchtbaren Dialog mit Ritualtheorien gebracht werden. Dies kann hier allerdings nur ansatzweise geschehen, denn die Ritualforschung (ritual studies) ist zwar eine junge Disziplin, aber bereits sehr komplex geworden. Andréa Bellinger und David J. Krieger bieten dafür eine gute Übersicht, die hier kurz dargestellt werden soll. 26 Rituale stehen stets in einem engen Zusammenhang zur menschlichen Gemeinschaft. Klassisch ist die Bestimmung des Rituals durch Durkheim als Mittel zur Gemeinschaftsstiftung. »Wann immer Menschen zusammenkommen, […] gibt es eine natürliche Tendenz, ihre Handlungen aufeinander abzustimmen, zu koordinieren, zu standardisieren und zu wiederholen. Dies ist die ursprüngliche Form des Rituals. Gemeinsames Handeln dieser Art erzeugt ein Gefühl der Teilnahme an etwas Über-individuellem, etwas Transzendentem.« 27 Rituale vermitteln so eine Gruppenidentität, für die Menschen einen Teil ihrer Individualität preisgeben. »Im rituellen Handeln fügen sich die daran Partizipierenden etwas »Höherem«, werden von etwas Höherem in Anspruch genommen.« 28 So werden nach einer Studie von David I. Kertzers bestimmte Rituale wie die Flagge oder die Nationalhymne dafür eingesetzt, um Menschen eine Gruppenidentität zu vermitteln. 29 Albert Bergesen sieht die Funktion politischer Rituale in der Bestätigung bestehender Machtstrukturen und gesellschaftlicher Konventionen, indem sie durch Ausgrenzung die Identität einer Gemeinschaft sichtbar machen und dadurch die Gemeinschaft stärken. Die rituelle Ordnung bildet die gesellschaftliche Ordnung mit ihren internen Hierarchien und ihren Außengrenzen ab. 30 Er betont unter Bezug auf Douglas und Erving Goffmann, wie Sprechhandlungen ritualisiert werden, um die persönliche Identität in einem bestimmten Milieu zu bestätigen. Mary Douglas vertritt die Sicht, dass gerade Reinheitsrituale und Tabus dazu dienen, die Gruppensolidarität zu stärken. Sie ziehen Grenzen und bringen Ordnung in eine chaotisch erlebte Welt. In diesem Sinne schaffen sie Identität. Wer zu einer Gruppe gehört, nimmt an ihren Ritualen teil und versichert sich damit seiner Identität innerhalb der Gruppe. 31 Nach Victor Turner sind Rituale gemeinschaftsstiftende Handlungen, die gegebene Strukturen auflösen und helfen, dass eine Gemeinschaft sich mit diesem Potenzial von Transformation so weiterentwickeln kann, dass kein Chaos ausbricht. 32 Doch es wird nicht nur die Meinung vertreten, dass Rituale die Wirklichkeit abbilden und sie kontrolliert beeinflussen können. Jonathan Z. Smith vertritt die Ansicht, dass Rituale Ideale einer Gesellschaft abbilden, die in der Realität nicht erreicht werden. Das Ritual zeigt das Gegenbild, das in der Wirklichkeit nicht erreicht werden kann und auch nicht muss. Die Wirklichkeit darf so bleiben wie sie ist. So herrscht innerhalb des Tempelbezirks eine ideale Ordnung, in der alles seinen Sinn hat. Die rituell geordnete Welt kann aber so eine Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 50 - 2. Korrektur 50 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Zum Thema Spannung zur realen Welt auslösen. Menschen können erstere für realer als die reale Welt halten. 33 Es gibt nach Humphrey und Laidlaw so etwas wie eine bestimmte Haltung dem Ritual gegenüber, die konstitutiv für das Ritual ist. »Die rituelle Einstellung distanziert Akteure und Teilnehmer derart von der Handlung, dass sie diese nicht als ihre eigene anerkennen.« 34 »Indem der Mensch rituelle Handlungen ausführt, wird eine Weltordnung artikuliert und damit entstehen zugleich gemeinsam akzeptierte Gültigkeitskriterien.« 35 Durch das Ritual kann Wissen gewonnen und vermittelt und zur Schau gestellt werden. Dies geschieht durch die »Verkörperung« von Sinn durch das Handeln in Zeit und Raum und durch die Transformation der Welt. 36 Rituelles Wissen wird durch das Ritual selbst verwirklicht und vermittelt, ja sogar durch dieses erst erschlossen. »Die rituelle Aussage ist zugleich ihre Geltung und nicht bloß ein Anspruch darauf.« 37 Die Welt wird nicht beschrieben, sondern rituell gestaltet und durch das Ritual artikuliert. Ein Ritual kann nur durch ein anderes Ritual kritisiert oder transformiert werden. 38 Schon der kurze Einblick in diese Ritualtheorien zeigt, welch reiches Feld hier für die neutestamentliche Wissenschaft noch fruchtbar gemacht werden muss. Zum gemeinsamen Nenner verschiedener Ritualtheorien gehört die gemeinschaftsfördernde Funktion von Ritualen. Rituelle Praktiken fördern die Unterscheidung, wer zu einer Gruppe gehört und wer nicht. Sie haben eine stabilisierende Wirkung und verstärken die geltenden Ordnungen und Hierarchien. Sie vermitteln und fördern ein bestimmtes Wissen, welches sich die Ritualteilnehmer durch ihr Mithandeln und nicht durch einen rationalen Diskurs aneignen. Wer an einem Ritual teilnimmt, nimmt an einer Handlung teil, die nicht seinem Denken und Wollen entspringt, er nimmt an etwas Höherem teil, über was er nicht verfügt, dem er sich aber durch seine Partizipation unterstellt. Auch im Markusevangelium hat eine Lektüre, die sich auf rituelle Praktiken konzentriert, gezeigt, dass Jesus selbstverständlich Mitglied der mediterranen, hellenistisch-römischen Gesellschaft und Teil des jüdischen Volkes ist. Indem er gewisse rituelle Praktiken seines eigenen Volkes durch sein charismatisches Auftreten relativiert, der Individualität der menschlichen Situation unterordnet oder sogar dezidiert zurückweist, stört er die klaren Grenzen mancher jüdischer Gruppen- und Volksidentitäten. Dies zeigt sich am Besten an der Aufhebung von Reinheits- und Speisegeboten. Durch eine solche Distanzierung arbeitet der Verfasser an der spezifischen Identität seiner eigenen messianischen Jesusgruppe und ihres Gottesverhältnisses 39 , die sich mit ihrer rituellen Praxis anders als andere jüdische Gruppierungen definiert. Allerdings geschieht dies nicht durch neue, eigene Rituale, dafür ist der Grundcharakter dieser Gruppe noch zu charismatisch ungebunden. Zugleich fordert Jesus seine Anhänger und Gesprächspartner dazu auf, anstelle solcher Rituale die volle Verantwortung für das eigene Handeln entsprechend der Gebote zu übernehmen. Die Verantwortung für die Eltern kann nicht durch ein Ritual delegiert werden, sondern bleibt in der persönlichen Verantwortung. Der Evangelist richtet sich gegen ein bestimmtes Interaktionsritual, mit dem Kinder sich von ihren Unterstützungspflichten gegenüber ihren Eltern lösen konnten. Bei diesem Ritual spielt das Wort »Korban« eine entscheidene Rolle (Mk 7,11f.). Durch solche auf Jesus zurückgeführten Strategien haben sich die markinischen Gemeinden offensichtlich gezielt von ihrem jüdischen Kontext unterschieden, dem sie weiterhin zugerechnet werden müssen. Bemerkenswert ist, dass eine eigene rituelle Praxis in diesem Evangelium gerade nicht sichtbar wird. Die Nachfolge und damit die existenzielle Bindung an die Person Jesu entscheidet darüber, wer zu seiner Gruppe gehört. Zugleich scheint Jesus eine Erfahrung zu vermitteln, die mehr als ein Wissen ist. Sie ist ein mysterion (Mk 4,11). Dieses kann vielleicht als Ersatz für das rituelle Wissen, welches Jesus mit der Rückweisung der Reinheitsgebote untergräbt, gedeutet werden. Die Partizipation an dieser Erfahrung scheint ebenfalls darüber zu entscheiden, wer dazu gehört und wer nicht. Den Zwölfen ist das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben. 40 Denen »draußen«, die die anderen sind, wird alles in Gleichnissen zuteil (Mk 4,11). Die Ritualperspektive verlangt hier nach weiteren Untersuchungen unter Einbezug charismatischer Modelle: Mit welchen Strategien kann sich eine Gruppe soziologisch konstituieren, wenn sie sich partiell von dem sie umgebenden Ritualrahmen löst, aber auf die Einführung eigener Rituale verzichtet? »Zum gemeinsamen Nenner verschiedener Ritualtheorien gehört die gemeinschaftsfördernde Funktion von Ritualen. Rituelle Praktiken fördern die Unterscheidung, wer zu einer Gruppe gehört und wer nicht. Sie haben eine stabilisierende Wirkung und verstärken die geltenden Ordnungen und Hierarchien.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 51 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 51 Peter Wick Übernahme und Zurückweisung von Ritualen und rituellen Praktiken im Markusevangelium 7. Fazit Der Einbezug der Ritualforschung in die neutestamentliche Wissenschaft verspricht neue Fragestellungen und Erkenntnisse und ermöglicht eine weitere spezifische Profilierung der Evangelien und der Paulusschriften untereinander. Obwohl die Tradition von Paulus und die von Markus zum letzten Mahl Jesu ähnlich sind, führt Paulus bei den Korinthern im Gegensatz zu Markus ein Ritual ein, das immer wieder in den Gemeinden vollzogen wird (1Kor 11,23-26), das rituelles Wissen und Teilhabe vermittelt. Auch nach Lukas soll dieses Mahl zur rituellen Praxis der Gemeinde gehören (Lk 22,19). Matthäus spricht von einer tieferen bleibenden rituellen Einbettung seiner Adressaten in das Judentum und zugleich von eigenen rituellen Praktiken, wie unter anderem die Gemeinderegel (Mt 18,15-20) und der trinitarische Taufbefehl (Mt 28,18-20) zeigen. Doch auch bei Markus kann-- so betrachtet-- keineswegs davon die Rede sein, dass Jesus gegen jede rituelle Gestaltung der Gottesbeziehung war. 41 So wird deutlich, dass eine konsequente und kritische Rezeption der Ritualforschung ein Desiderat der neutestamentlichen Forschung ist. Da die neutestamentlichen Schriften Zeugnisse einer charismatischen Bewegung sind, die sich sowohl von Ritualen distanziert, als auch neue schafft, muss die Ritualforschung mit der Charismatismusforschung konsequent verbunden werden. Weshalb schafft der Charismatiker Jesus im Markusevangelium keine neuen Rituale und weshalb tut er das im Matthäusevangelium? Bezeugt das Matthäusevangelium damit eine verstärkte Institutionalisierung des ursprünglichen Charismas? Oder gibt es weitere Deutungsmöglichkeiten, in die sich auch Paulus als charismatische Führungspersönlichkeit mit seinen Briefen integrieren ließe? Anmerkungen 1 Eine hilfreiche Übersicht bietet A. Belliger/ D. J. Krieger, Ritual und Ritualforschung, in: dies. (Hgg.), Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Wiesbaden 5 2013, 7-34. 2 Vgl. C. Strecker,. Die Liminale Theologie des Paulus. Zugänge zur paulinischen Theologie aus kulturanthropologischer Perspektive (FRLANT 185), Göttingen, 1999, 40-71. 3 Diese Arbeit beruht auf folgenden Vorarbeiten, die hier nicht eigens zitiert werden: P. Wick, Die urchristlichen Gottesdienste. Entstehung und Entwicklung im Rahmen der frühjüdischen Tempel-, Synagogen- und Hausfrömmigkeit (BWANT 150), Stuttgart u. a. 2002; P. Wick, Das antike Judentum, in: L. Bormann, Neues Testament. Zentrale Themen, Neukirchen-Vluyn 2014, 5-25. 4 Vgl. Mischna Pessachim 10,3. 5 So auch Philo Spec Leg 2,145. 6 Vgl. S. Safrai, The Temple and the Divine Service, in: M.-Avi-Yonah (Hg.), The World History of the Jewish People 7. The Herodian Period, Jerusalem 1975, 282-337, 309. 7 So L. I. Levine, Jerusalem, Protrait of the City in the Second Temple Period (538 B. C. E.-- 70 C.E.), Philadelphia 2002, 236. 8 So J. Gnilka, Das Evangelium nach Markus (Bd. 2, EKK 2/ 2), Zürich [u. a.]/ Neukirchen-Vluyn 1979, 129; auch G. Guttenberger, Die Gottesvorstellung im Markusevangelium (BZNW 123), Berlin [u. a.] 2004, 158f. (s. besonders Anm. 217). 9 So P. Dschulnigg, Das Markusevangelium (ThKNT 2), Stuttgart 2007, 300; 302 mit anderen (s. Anm. 42). 10 Vgl. auch H.L. Strack/ P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, München 1924, Bd. II, 27. 11 J. Ernst, Das Evangelium nach Markus (RNT), Regensburg 1981, 329. 12 Levine, Jerusalem, 232-237. 13 V. Gäckle, Allgemeines Priestertum. Zur Metaphorisierung des Priestertitels im Frühjudentum und Neuen Testament, Tübingen 2014, bes. 299-310. Gäckle bietet viele weitere Literatur und zeigt mit seiner akribischen Untersuchung von frühjüdischer Tempelkritik, dass im Vergleich dazu in dieser Perikope jegliche Kritik am Priestertum fehlt (303), die Aktion Jesu nicht auf das Gebäude bezogen ist (307) und nicht als grundsätzliche Opposition von Jesus gegen das Heiligtum gedeutet werden kann (307). Mit vorwiegend theologischen Argumenten deutet er dennoch die Unterbindung des Geldumtauschs und Handels als Funktionsstörung gegenüber dem Kult, die diesen symbolisch unterbindet (302; 307). 14 So mit überzeugenden Argumenten gegen den älteren Forschungskonsens F. Avemarie, Jesus and Purity, in: ders. (Hg.), Neues Testament und frührabbinisches Judentum. Gesammelte Aufsätze, Tübingen 2013, 407- 432; 409-415, bes. 415; zuerst in: R. Bieringer/ F. García Martínez/ D. Pollefeyt/ P. J. Tomson (Hgg.), The New Testament and Rabbinic Literature (JSJ Suppl. 136), Leiden 2010, 255-279. 15 Zur Diskussion in Bezug auf Markus s. ausführlich Guttenberger, Gottesvorstellung, 133-147, bes. 141f. 16 J. K. Zangenberg, Pure Stone: Archaeological Evidence for Jewish Purity Practices in Late Second Temple Judaism (Miqwa’ot and Stone Vessels), in: Chr. Frevel/ Chr. Nihan (Hgg.), Purity and the Forming of Religious Traditions in the Ancient Mediterranean World and Ancient Judaism, Leiden 2013, 539-572, bes. 53ff.; 543; 546. 17 J. Neusner, The Idea of Purity in Ancient Judaism, Leiden 1973, 69: »The extension of the Temple purity rules to the household might be seen as an expression of extreme piety. As his presence is everywhere, so we should always behave as if we were in the Temple, that is, in his presence.« Ähnlich E. Regev, Pure Individualism. The Idea of Non-Priestly Purity in Ancient Judaism, JSJ 31 (2000), 176-202; 186- 199, der besonders das Moment der Konkurrenz betont. Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 52 - 2. Korrektur 52 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Zum Thema 18 F. Avemarie zeigt mit guten Argumenten, wie trotz der Verallgemeinerung im Text vor allem von einer Distanzierung Jesu von gewissen pharisäischen Praktiken und bestimmten levitischen Regeln ausgegangen werden muss, dass Jesus sich aber keineswegs vom jüdischen Reinheitsdiskurs abgekoppelt hat, sondern in dessen Rahmen mehr Gewicht auf die Verunreinigung durch Sünde und Reinigung durch Heilung legt; vgl. Avemarie, Puritiy, 415-425. 19 Dazu ausführlich M. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft, Soziologie und Liturgie frühchristlicher Mahlfeiern (TANZ 13), Tübingen [u. a.] 1996, 55- 60; 99-129. Vgl. auch den Artikel »Gastmahl«, Der Neue Pauly, H. Cancik/ H. Schneider/ M. Landfester (Hgg.), Bd. 4, II P. Schmitt-Pantel, II Griechenland, c. Symposien 801-803, 802; G. Binder, III Rom 803-806, bes. 804f. 20 Bemerkenswerterweise alterniert er diese Wörter in derselben Weise, wie er das zwischen der Speisung der Fünftausend und der Viertausend beim Segen/ Danke über die Brote tut. 21 Vgl. M. Klinghardt, Bund und Sündenvergebung. Ritual und Literarischer Kontext in Mt 26, in: M. Klinghardt/ H. Taussig (Hgg.), Mahl und religiöse Identität im frühen Christentum, Tübingen 2012, 159-190, 167f.; vgl. auch J. Heilmann, Wein und Blut. Das Ende der Eucharistie im Johannesevangelium und dessen Konsequenzen (BWANT 204), Stuttgart 2014, 85f. 22 Dies ist hier ganz im Gegensatz zu 1Kor 11,23-26 formuliert. Dort wird die Wiederholung dieses Mahles vorausgesetzt und gefordert. Dieses Mahl ist offensichtlich ein wichtiges Ritual für die Gemeinde in Korinth. Doch weshalb ist im ungefähr zwei Jahrzehnte später geschriebenen Evangelium dieser wiederholende, rituelle Charakter nicht zu finden? Kennt der Evangelist keine rituelle Herrenmahlpraxis in seinen Gemeinden? Versucht er in seiner Jesusdarstellung die Erinnerung an ihn als radikalen Charismatiker wachzuhalten, bei dem das Rituelle ganz in den Hintergrund getreten ist? Diese Frage bedarf ausführlicherer Analysen, als das hier möglich ist. 23 Dazu, im Anschluss an Max Weber, W. Gebhardt, Charisma als Lebensform. Zur Soziologie des alternativen Lebens, Schriften zur Kultursoziologie 14, Berlin 1994, 34ff. 24 Vgl. U. C. von Wahlde, The Relationships between Pharisees and Chief Priests. Some Observations on the Texts in Matthew, John and Josephus (NTS 42), 1996, 506-522, 521f. 25 Dazu L.H. Schiffman, Community Without Temple: The Qumran Community’s Withdrawal from the Jerusalem Temple, in: B. Ego/ A.Lange/ P. Pilhofer (Hgg.), Gemeinde ohne Tempel (WUNT 118), Tübingen 1999, 267-284; 269-272. 26 Vgl. dazu die Einleitung von A. Belliger/ D. J. Krieger, Ritual und Ritualforschung, in: dies. (Hgg.), Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Wiesbaden 5 2013, 13. 27 Ebd., 15. Vgl. hierzu besonders den Aufsatz von D. I. Kertzer, Ritual, Politik und Macht, in: A. Belliger/ D. J. Krieger (Hgg.), Ritualtheorien, 361-386. 28 Belliger/ Krieger, Ritual und Ritualforschung, 21. 29 Vgl. Belliger/ Krieger, Ritual und Ritualforschung, 15, mit besonderem Bezug auf den Aufsatz von Kertzer (vgl. FN 18). 30 So der Verweis von Belliger/ Krieger, Ritual und Ritualforschung, 15f. auf A. Bergesen, Politische Hexenjagd als Ritual, in: A. Belliger/ D. J. Krieger (Hgg.), Ritualtheorien, 261-280. 31 Weitere Hinweise finden sich bei Belliger/ Krieger, Ritual und Ritualforschung, 16 und bei M. Douglas, Ritual, Reinheit und Gefährdung, in: A. Belliger/ D. J. Krieger (Hgg.), Ritualtheorien, 77-96. 32 Ausführlich nachzulesen im Aufsatz von V. Turner, Liminalität und Communitas, in: A. Belliger/ D. J. Krieger (Hgg.), Ritualtheorien, 247-258. 33 So die Zusammenfassung von Belliger/ Krieger, Ritual und Ritualforschung, 17. Vgl für die weitere Darstellung J.Z. Smith, Ritual und Realität, in: A. Belliger/ D. J. Krieger (Hgg.), Ritualtheorien, 209-222. 34 Belliger/ Krieger, Ritual und Ritualforschung, 25. Vgl. dazu den Aufsatz von C. Humphrey/ J. Laidlaw, Die rituelle Einstellung, in: A. Belliger/ D. J. Krieger (Hgg.), Ritualtheorien, 133-154. 35 Ebd. 36 Vgl. Belliger/ Krieger, Ritual und Ritualforschung, 25-26. Ausführlich untersucht T.W. Jennings Jr. diesen Bereich in seinem Aufsatz Rituelles Wissen, in: A. Belliger/ D. J. Krieger (Hgg.), Ritualtheorien, 155-170. 37 Ebd. 38 Vgl. ebd. 39 So auch G. Guttenberger, Die Gottesvorstellung im Markusevangelium (Beiheft zur ZNWKAK 123), Berlin [u. a.] 2004, 144. 40 E. Lohmeyer, Das Evangelium des Markus, Göttingen 1963, 83. 41 Gegen Guttenberger, Gottesvorstellung, 161. Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 22.04.2015 - Seite 53 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 53 Einleitung zur Kontroverse: Setzt die Brotrede Joh 6 das Abendmahl voraus? Die Kontroverse zum Thema »Setzt die Brotrede Joh 6 das Abendmahl voraus« ist nicht ein Streit um Worte. Nein: Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage. Was in dem berühmten Monolog von Hamlet eine existenzielle Frage nach Leben und Tod war, wird in der folgenden Auseinandersetzung der Disputpartner zu einer essenziellen Frage nach dem Leben des biblischen Textes, in der es im Kern um das angemessene und richtige Verstehen biblischer Texte geht. Dabei gehen sowohl Udo Schnelle als auch Jan Heilmann übereinstimmend davon aus, dass Joh 6 ein Text ist, der mit der Domäne des Symbolischen und Metaphorischen zu assoziieren ist. Innerhalb dieser Logik eines symbolisch/ metaphorisch konstituierten Weltverhältnisses sind beide Autoren überzeugt, dass der Text als eine Oberfläche gilt, dessen Tiefenstruktur es jeweils zu entbergen gilt. Sie unterscheiden sich jedoch fundamental in der Art und Weise, was es wie zu entbergen gilt bei Joh 6. Udo Schnelles Grundüberzeugung ist, dass Joh 6 das Abendmahl voraussetzt, weil theologische Sinnbildung in Joh 6 gerade am Kreuzpunkt von Ritual und Symbol geschieht. Salopp formuliert ist für Udo Schnelle das Abendmahl, oder, um es etwas genauer zu sagen, die Eucharistie, ein Teil der DNA der frühen johanneischen Gemeinde, an die sich das Johannesevangelium adressiert, und an der sich gerade zeigt, dass die Symbolik im Text einen Wirklichkeitsbezug im Leben der Adressat_innen hat-- eben die Eucharistiefeier. Dieses Verhältnis von biblischem Text und außertextueller Referenz wird von Jan Heilmann bestritten. Heilmanns exegetischer Blick ist dabei auf die Rezeptionskontexte der johanneischen Schrift gerichtet und von dem Gesichtspunkt der Rezeption aus macht er darauf aufmerksam, dass es keineswegs der Kenntnis der Eucharistiefeier bedarf, um Joh 6 mit einem Sinn zu versehen. Unter Einbeziehung der konzeptuellen Metapherntheorie Lakoffs zeigt Heilmann auf, dass das in Joh 6 verwendete Metaphernnetz weit mehr als eine rhetorische Figur und sprachliche Spielerei ist, sondern die Metaphern an der Schnittstelle zwischen Wahrnehmen und Handeln auf der einen und Denken auf der anderen Seite stehen-- und von daher gelangt Heilmann zu dem Ergebnis, dass der Text Joh 6 durchaus als ritualprägend angesehen werden muss, aber eben unter der Voraussetzung seiner Rezeption. Das argumentative Armdrücken zwischen Schnelle und Heilmann stellt in der folgenden Kontroverse energisch die Frage, wie wir biblische Texte verstehen sollen und zeigt in dieser verbalen Konfrontation zu Joh 6, dass die Frage, wie wir biblische Texte verstehen können, immer unausweichlich ist. Kristina Dronsch Kontroverse Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 54 - 2. Korrektur 54 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Die Frage nach »dem Abendmahl« im Johannesevangelium hat eine lange Tradition in der Johannesexegese. Die Hauptbezugspunkte dieser Frage sind das Fehlen der sog. »Einsetzungsworte« beim Mahl Jesu mit seinen Jüngern in Joh 13 und der sog. »eucharistische Abschnitt« in Joh 6,51-58, in dem Jesus den Genuss seines Fleisches und Blutes mit dem Empfang des ewigen Lebens verknüpft. Dieser Textbefund hat in der Forschungsgeschichte dazu geführt, diesen Abschnitt als sekundäre Hinzufügung zu betrachten, die das Fehlen der sog. »Einsetzungsworte« zu beheben versucht. Daneben finden sich auch Positionen, die zwar die literarkritische Abspaltung ablehnen, Jesu Aufforderung, sein Fleisch zu essen und sein Blut zu trinken aber dennoch als Verweis auf »das Abendmahl« verstehen. Den eucharistischen Interpretationsansätzen ist gemeinsam, dass sie ab V. 51 einen Bruch (oder eine Erweiterung) in der thematischen Kohärenz von Joh 6 sehen: Die christologische Perspektive wird zugunsten einer realistisch-materialistischen Ebene geöffnet. In den meisten Beiträgen zum Thema wird methodisch nicht klar zwischen der Frage nach dem intertextuellen Bezug zwischen 6,51-58 und den sog. »Einsetzungsworten« einerseits sowie der Frage nach außersprachlichen Bezügen des Textes zu sozialgeschichtlich identifizierbaren Ritualen der frühen Christen andererseits unterschieden. Zudem wird häufig eine modellhafte Vorstellung der außersprachlichen Referenz der Begriffe »Abendmahl«/ »Eucharistie« vorausgesetzt, die nicht immer klar definiert wird und die vermutlich eine anachronistische Eintragung späterer Ritualvorstellungen darstellt. Die neuere, sozial-, ritual- und kulturgeschichtlich orientierte Mahlforschung hat nämlich gezeigt, dass die Mähler im frühen Christentum in die Kultur antiker Gemeinschaftsmähler einzuordnen und die traditionellen Erklärungsversuche zur »Entstehung des Abendmahls« aus methodischer und sozialgeschichtlicher Sicht problematisch sind: die monolineare Ableitung aus paganen »Kultmählern«, aus vermeintlich singulären Mahltypen des antiken Judentums oder aus einer Symbolhandlung des historischen Jesus sowie diverse Mahltypentheorien. Das bedeutet jedoch nicht, dass hier ein neues lineares Erklärungsmodell geschaffen würde. 1 Vielmehr werden auf die Heterogenität und Spezifika frühchristlicher Mahlpraxis im Rahmen der antiken Mahlkultur genauso verwiesen wie auf die hohe Dynamik und Komplexität der ritualgeschichtlichen Entwicklung. Auch die Notwendigkeit einer tiefergehenden Erforschung der ritualgeschichtlichen Entwicklung wird deutlich benannt. Kritisch hinterfragt wird die Bewertung der sog. »Einsetzungsworte« als kultätiologische Texte, die zuletzt zirkulär ist. Ein Großteil der Forschung betont nämlich einerseits, dass diese nicht als Teil der Mahlgebete fungierten. Andererseits wird angenommen, dass sie schon zur Abfassungszeit auf eine auf der Ritualebene hergestellte Identifikation des Brotes und Weines mit Leib und Blut Christi rekurrierten. Genau diese Identifikation lässt sich aber bis zur Mitte des zweiten Jahrhunderts nicht durch externe Quellen belegen. 2 Damit ist die Problematik der von U. Schnelle zurecht geforderten Bestimmung des Wirklichkeitsbezuges von Joh 6 benannt. Die sog. »Einsetzungsworte« wären die einzigen Quellen, aus denen die geschichtliche Wirklichkeit eines »christlichen Kultmahls« im frühesten Christentum rekonstruiert werden könnte. Aus den Ansätzen der neueren Mahlforschung ist in methodischer Hinsicht zu folgern, dass das Verhältnis von Text und Ritual, d. h. der spezifische Wirklichkeitsbezug, bei jedem einzelnen »Mahltext« präzise bestimmt werden muss. Als heuristisches Modell bietet sich an, die folgenden Ebenen analytisch zu unterscheiden: a) die Ritualebene frühchristlicher Gemeinschaftsmähler; Jan Heilmann »Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben.« Zur Bedeutung einer schwer verdaulichen Aussage Kontroverse »Aus den Ansätzen der neueren Mahlforschung ist in methodischer Hinsicht zu folgern, dass das Verhältnis von Text und Ritual, d. h. der spezifische Wirklichkeitsbezug, bei jedem einzelnen ›Mahltext‹ präzise bestimmt werden muss.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 55 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 55 Jan Heilmann »Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben.« Begriff beschreibt die zahlreichen aufeinander bezogenen Metaphern in der Brotrede. Das Zentrum dieses Netzwerkes wird durch das Ich-bin-Wort in V. 35 gebildet, die metaphorische Ebene der Brotrede wird in V. 27 eingeführt. Bei der genauen Beschreibung des metaphorischen Netzwerkes fällt auf, dass der Bildspendebereich der meisten in Joh 6 verwendeten Metaphern nicht durch die Materialität der Nahrung, sondern durch die Praxis des Essens und Trinkens geprägt ist. Dies zeigt sich u. a. am Gebrauch des Lexems brōsis in V. 27, das statt brōma vorrangig den Vorgang der Nahrungsmittelaufnahme bezeichnet, wie zahlreiche Stellen im Neuen Testament und in anderen antiken Quellen zeigen. 5 Die Basismetapher des metaphorischen Netzwerkes wird v. a. in 6,51a-d explizit zusammengefasst: »Ich bin das lebendige Brot, das aus dem Himmel herabgekommen ist. Wenn einer von diesem Brot isst, wird er leben in Ewigkeit.« Vor dem Hintergrund der programmatischen Ausrichtung des Evangeliums auf die Annahme des Logos und des engen relationalen Verhältnisses von Glauben und dem Empfang des ewigen Lebens, das im Evangelium variantenreich geschildert (2,15 f.; 5,24.38 u. ö.) und mit Hilfe der Erzähltechnik des Missverstehens verdeutlicht wird (neben der Brotrede v. a. 8,12-28), kann man dies auch folgendermaßen verstehen: Wer zu Jesus kommt bzw. den inkarnierten Logos und seine Lehre aufnimmt und an ihn glaubt, wird in Ewigkeit leben. Als heuristisches Mittel und zur Komplexitätsreduktion bietet es sich an, die Basismetaphorik der Brotrede metasprachlich folgendermaßen zu beschreiben: Essen/ Trinken ist Annahme von Lehre bildet die konzeptuelle Basis, auf der das komplexe Metaphernnetzwerk aufgebaut ist. Diese metasprachliche Definition basiert auf der conceptual metaphor theory von Lakoff und Johnson, 6 die beschreibt, dass konzeptuelle Metaphern die alltägliche Kommunikation, die Wahrnehmung und auch menschliches Handeln prägen können. Als Kardinalbeispiel führen die beiden die Metapher Argumentieren ist Krieg an, die unsere Kommunikation über das Argumentieren konzeptualisiert: So werden etwa »Argumente in Stellung gebracht« oder es werden »Grabenkämpfe zwischen den Kontrahenten ausgefochten«. Analog beschreibt die Metapher Essen/ Trinken ist Annahme von Lehre ein nicht nur in der b) der (literarische) Diskurs über Mähler-- in Texten, die jeweils einer eigenen argumentativen oder narrativen Logik folgen; c) die narrative Inszenierung der Mahlpraxis Jesu; d) textliche Phänomene, die sich einer Mahl-, Essens- und Trankmetaphorik bedienen, aber keinen Bezug zu konkreter Mahlpraxis herstellen. Dabei ist zu betonen, dass Kategorie d) einen Wirklichkeitsbezug gerade nicht ausschließt, dieser aber anders zu bestimmen ist. Den Ausgangspunkt meiner Argumentation bilden zunächst Beobachtungen zum metaphorischen Netzwerk in Joh 6, auf deren Grundlage nach der Bedeutung der Aufforderung Jesu, sein Fleisch zu essen und sein Blut zu trinken, zu fragen sein wird. 1. Das metaphorische Netzwerk in Joh 6 Die in der Johannesforschung seit Bultmann fest verankerte Frage nach der Ursprünglichkeit von 6,51e-58 übergehe ich hier. In der gegenwärtigen Forschung wird sie zumeist zugunsten einer literarischen Einheit von Joh 6 entschieden. 3 Ausgangspunkt der Interpretation von 6,51e-58 sollten m. E. zunächst die Beobachtungen zum metaphorischen Netzwerk in Joh 6 4 sein. Dieser Dr. Jan Heilmann, Jahrgang 1984, studierte von 2004 -2009 Evangelische Theologie, Geschichte und Germanistik in Bochum und Wien und war anschließend Wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Evangelisch-Theologischen Fakultäten in Bochum und Münster sowie Lehrbeauftragter für Alte Geschichte in Siegen. Promotion 2013 in Bochum mit einer Studie zu Wein und Blut im Johannesevangelium, seit August 2013 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Evangelische Theologie der TU Dresden. Dr. Jan Heilmann »Bei der genauen Beschreibung des metaphorischen Netzwerkes fällt auf, dass der Bildspendebereich der meisten in Joh 6 verwendeten Metaphern nicht durch die Materialität der Nahrung, sondern durch die Praxis des Essens und Trinkens geprägt ist. […] ESSEN/ TRINKEN IST ANNAHME VON LEHRE bildet die konzeptuelle Basis, auf der das komplexe Metaphernnetzwerk aufgebaut ist.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 56 - 2. Korrektur 56 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Kontroverse Antike bekanntes Konzept der Kommunikation über die Rezeption sowohl von schriftlicher und mündlicher Lehre als auch von Texten allgemein. Der Verfasser des Joh könnte dieses metaphorische Konzept aus Mk 6-8 übernommen 7 und seinen rhetorischen und pragmatischen Zielen entsprechend in seine eigene Erzählung integriert haben. Wie zahlreiche Quellen zeigen, ist diese Metaphorik aber auch sonst in der antiken Welt weit verbreitet: Hinzuweisen ist dabei insbesondere auf die Verknüpfung der konzeptuellen Metaphorik mit dem Wort Gottes in Jer 15,16 und Jes 55,1-3.10 f. einerseits (s. z. B. auch Philo Leg. 2,86; Act- Paul P.Bod. 41,3,14 f.) und mit der Weisheit in Sir 15,3 und Sir 24,3. 19. 21 andererseits. Dabei ist interessant zu beobachten, dass mit dem Verb »verschlingen« in Jer 15,16 eine recht drastische Metaphorik verwendet wird. Die Belege aus Sirach verdeutlichen-- wie auch zahlreiche Belege in der rabbinischen und antiken christlichen Literatur (z. B. bHag 3a; mAv 1,4; 1,11; 2,8; ActPaul P.Hamb. 4,5; EvThom 28 [P. Oxy. 1,1,14-17])--, dass die Metaphorik sich auch auf das Trinken bezogen hat. In Bezug auf Joh 6,51e-58 ist der Beleg in Athen. deipnos. 347e von großer Relevanz, der zeigt, dass die Metaphorik ebenfalls mit dem Essen von Fleisch verbunden war: So sagt einer der Teilnehmer des Tischgesprächs, dass Aischylos seine Tragödien als »Stücke von Fisch/ Fleisch des großen homerischen Abendmahls« (temachē tōn Homērou megalōn deipnōn) bezeichnet hätte. Signifikant ist außerdem die Metaphorik in Aristophanes’ Komödie »Die Acharner« (484), in der die Rezeption der Werke von Euripides als Verschlingen der Person (katapiōn Euripidēn) konzeptualisiert ist. Auch in der antiken Kunst konnte auf die hier diskutierte konzeptuelle Metaphorik zurückgegriffen werden. Claudius Aelianus beschreibt in seiner »Varia Historia« ein Bild des griechischen Malers Galaton, auf dem Homer dargestellt ist, wie er seine Werke erbricht, die wiederum von anderen Dichtern aufgehoben werden. Die Liste der relevanten Quellen könnte noch erhelblich erweitert werden. 8 2. Die metaphorische Bedeutung von Jesu Aussage, sein Fleisch zu essen und sein Blut zu trinken In der Forschung wird mehrheitlich postuliert, dass Joh 6,51e-58 wegen der materialistischen Sprache ausschließlich nicht-metaphorisch verstanden werden könne. Dabei wird zumeist die Semantik des Verbes trōgō (kauen) angeführt, die eine metaphorische Bedeutung von 6,53-58 ausschlösse. 9 In vielen Fällen wird außerdem lediglich thetisch erklärt, dass die Stelle vor dem Hintergrund »des Abendmahls« oder eines christlichen »Kultmahls« Sinn mache. 10 Die folgenden Argumente sind gegen eine solche Sichtweise anzuführen: 1) Das Verb trōgō kann im Griechischen sehr wohl metaphorisch verwendet werden. 11 2) Es gibt durchaus Analogien in der Antike, die zeigen, dass drastische, scheinbar »materialistische« Sprache metaphorisch verwendet wurde. Die oben angeführten Quellen zeigen, dass weder das Trinken noch das Essen von Fleisch im Sinne der hier diskutierten Metaphorik der Aufnahme von Lehre ungewöhnlich war. 3) Weitgehend analogielos bleibt hingegen die Annahme eines »kultischen Mahles« im Hintergrund von Joh 6, bei dem Brot und Wein als Fleisch oder Blut Jesu verzehrt worden wären. 12 Kultmähler, bei denen die Speisen als Fleisch und Blut eines Gottes verzehrt worden seien, also Phänomene wie Theophagie bzw. Omophagie und Sparagmos im dionysischen Kult, werden bezüglich ihrer Historizität sehr kontrovers diskutiert. B. Eckhardt und andere haben gezeigt, dass der historische Beleg solcher »Kultmähler« äußerst schwierig ist. Motive wie das Trinken des Blutes von Menschen oder der Vorwurf, thyesteische Mähler (Kannibalismusvorwurf ) abzuhalten, sind in den antiken Quellen als gewöhnliche literarische Topoi zu verstehen, die vor allem dem Zweck der polemischen Abgrenzung dienten. 13 Die Anknüpfung an den antiken Opferkult, den U. Schnelle für das Abendmahl postuliert, wurde u. a. durch die Interpretation der Mahlgebete als Opfer und nicht über ein vermeintliches Gottessen hergestellt. 4) Vor allem aber sind die signifikanten Unterschiede zwischen den sog. »Einsetzungsworten« und den Prädikationen in der Brotrede zu beachten. Unabhängig von der Frage, ob das Demonstrativpronomen touto in den sog. »Einsetzungsworten« auf das in der erzählten Welt physisch vorhandene Brot verweist oder-- wahrscheinlicher- - das erzählte Ritual der Brotverteilung interpretiert, ist es aufschlussreich zu beobachten, dass Subjekt und Prädikatsnomen in umgekehrter und unumkehrbarer Reihenfolge angeordnet sind: »die berüchtigte Kopula ›ἐστι‹ ist kein mathematisches Gleichheitszeichen, das ontologische Äquivalenz aussagt.« 14 Die Reihenfolge von Subjekt und Prädikatsnomen in V. 55 ist abhängig von der Prädikation in V. 35. Mit der Spe- »Kultmähler, bei denen die Speisen als Fleisch und Blut eines Gottes verzehrt worden seien [...], werden bezüglich ihrer Historizität sehr kontrovers diskutiert.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 57 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 57 Jan Heilmann »Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben.« zifikation der Prädikation durch das Adjektiv alēthēs ist ein weiterer signifikanter Unterschied benannt, der sich ebenfalls aus der Zentralmetapher in V. 35 ableitet. Der Gebrauch des Adjektivs alēthēs ist im Sprachgebrauch des 4. Evangeliums ein wichtiger Indikator für den »Bildcharakter des Dargestellten« 15 und ist intratextuell eng mit dem Motiv des wahren Zeugnisses verknüpft (vgl. 3,33; 4,18; 5,31 f.; 8,13. 14. 17.26; 10,41; 19,35; 21,24). Beide Aspekte deuten auf eine metaphorische Bedeutung von 6,51-58 hin. Diejenigen Exegeten, die eine literarische Abhängigkeit von den sog. »Einsetzungsworten« postulieren, verstehen die Formulierung »Brot geben« (V. 51e) als Referenz auf das Geben von Jesu sōma. Dagegen spricht aber, a) dass das Verb didōmi in V. 51e von der Prädikation in V. 27 und der Zitation von Ex 16,15 in V. 31c abhängig ist. Außerdem ist b) die bekannte Differenz zwischen sarx in Joh 6 und sōma in den sog. »Einsetzungsworten« zu beachten. Es kommt ferner hinzu, dass das Motiv des Gebens von Jesu sōma c) nur in einer der Fassungen der sog. »Einsetzungworte« und zwar im sog. »Langtext« in Lk 22,19 belegt ist. Wenn die Veränderung vom Kurztext zum Langtext tatsächlich auf eine Redaktion eines älteren, proto-lukanischen Evangeliums im zweiten Jahrhundert zurückzuführen ist, das Teil der Bibel Marcions war, 16 dann muss der Langtext mit dem Motiv des Leibgebens für den Verfasser des Joh unbekannt gewesen sein. Das Brot in V. 51e steht ebenfalls für die Lehre Jesu, die er selbst verkörpert und in Form des Johannesevangeliums Text geworden ist. Daraus folgt insgesamt, dass die sog. »Einsetzungworte« eben nicht den Prätext von V. 51 bilden. Der Wechsel von Brot zu Fleisch in V. 51 ist viel einfacher vor dem Hintergrund des für die Brotrede so wichtigen Prätextes in Ex 16 zu erklären, wo Brot und Fleisch ebenfalls zusammen genannt werden (Ex 16,3. 8. 12). Die Verwendung von sarx statt kreas (LXX) lässt sich am ehesten als Angleichung an die Inkarnationsmetaphorik des Joh (Prolog) erklären. Zudem hätte die Verwendung von kreas eine andere semantische Konnotation in die Brotrede hineingebracht, die vom Verfasser vermutlich nicht intendiert war. kreas bezeichnet nämlich eher das gebratene, also verarbeitete und damit genießbare Fleisch. Die Verwendung von sarx und haima spitzt die Metaphorik eigentlich aufs Äußerste zu, da von den Zuhörern auf der Ebene der erzählten Welt-- wörtlich (miss)verstanden-- verlangt wird, Jesus bei »lebendigem Leib« zu verspeisen. Die Absurdität dieses Bildes macht den Bezug auf ein Ritual äußerst unwahrscheinlich. Im Rahmen der narrativen Gestaltung von Joh 6 wird darüber hinaus genau mit diesem Missverstehen der Metaphorik gespielt. Legt man die maßgeblich von R. A. Culpepper herausgearbeitete Systematisierung typisch johanneischer Missverstehensszenen zugrunde, zeigt sich, dass die metaphorische Sprache in 6,53-58 Teil einer bewusst angelegten Provokation der Zuhörer auf der Ebene der erzählten Welt darstellt: »(1) Jesus makes a statement which is ambiguous, metaphorical, or contains a double-entendre [6,53-58]; (2) his dialogue partner responds or protests which shows that he or she has missed the higher meaning of Jesus’ words [Joh 6,60b/ c: »Hart ist dieses Wort (diese Lehre). Wer kann es hören? «]; (3) […] an explanation is then offered by Jesus [6,62 f.: Wenn ihr nun den Menschensohn seht hinaufsteigend, wo er vorher war? Der Geist ist es, der lebendig macht, das Fleisch hilft gar nichts. Die Worte, die ich zu euch gesagt habe, sind Geist und sind Leben.]« 17 . Es ist symptomatisch, dass Culpepper selber 6,51-71 nicht zu seiner Liste johanneischer Missverstehensszenen rechnet, obgleich der Abschnitt doch alle Charakteristika derselben enthält. Das Ziel der narrativen Gestaltung von Joh 6 liegt in der Konstitution des inneren Kreises der Zwölf. Die drastische Metaphorik und das provozierte Missverstehen sind als Teil der narrativen Strategie zu analysieren, die als Auslöser für die Trennung zwischen den glaubenden und den nicht-glaubenden Jüngern fungieren: Während die Jünger, die Jesus verlassen (V. 66), Jesu Rede wegen einer Hörerhaltung des Unglaubens (V. 64) nur wörtlich (miss)verstehen können, zeigt die stellvertretend für die Zwölf gegebene Antwort von Petrus in V. 68, dass die Jünger Jesus und seine kognitiv herausfordernden Aussagen in Vv. 51- 58 und V. 63 zumindest für den Moment verstanden haben: »Du hast Worte des ewigen Lebens.« (V. 68c) Jesu Aussage in V. 63 und die Antwort von Petrus in V. 68 wiederum geben den Leserinnen und Lesern des 4. Evangeliums einen hermeneutischen Schlüssel an die Hand, um die metaphorische Bedeutung der Aufforderung Jesu, sein Fleisch zu essen und sein Blut zu trinken, verstehen zu können: Der Fleisch und Blut gewordenen Logos Gottes (1,14) ist zu essen und zu trinken bzw. vollständig zu inkorporieren. Jesu Lehre (didaskō! V. 59), die er selbst als fleischgewordenes Wort verkörpert, ist von den Glaubenden aufzunehmen, zu »Jesu Lehre […], die er selbst als fleischgewordenes Wort verkörpert, ist von den Glaubenden aufzunehmen, zu zerkauen und zu verdauen, um ewiges Leben zu haben.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 58 - 2. Korrektur 58 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Kontroverse zerkauen und zu verdauen, um ewiges Leben zu haben. Zu dieser Lehre gehört auch-- wie in der Abschiedsrede deutlich wird--, dass Jesus weggehen und sterben muss und dass die Glaubenden in der Welt (kosmos), die Jesus und die Seinen ablehnt (v. a. 15,18 ff.), ohne ihn leben müssen, aber ewiges Leben schon in der Welt empfangen können. Die Möglichkeit, das ewige Leben zu erlangen, wird nicht erst durch den Kreuzestod hergestellt, sondern ist schon durch die Inkarnation gegeben. Der Kreuzestod ist im Johannesevangelium die Konsequenz der mit der Inkarnation verbundenen offenen Lehre Jesu (18,20 u. ö.) in der Welt, die ihn aber sündig ablehnt (s. schon 1,10). 18 Für die Leserinnen und Leser fungiert Jesu Aufforderung zugleich als Leseanweisung für das gesamte Evangelium, das mehrfach gelesen und richtig verdaut werden muss. Die Brotrede in Joh 6 erweist sich als thematisch kohärenter Text, in dem die Bildebene (Jesus essen = Lehre aufnehmen) stringent durchgehalten wird und nicht in V. 51 zugunsten einer anderen Metapher (Jesus essen = Brot essen) aufbricht. Die Motive vom Essen und Kauen des Fleisches Jesu und vom Trinken seines Blutes beziehen sich nicht metonymisch auf das Essen von Brot oder das Trinken von Wein. In pragmatischer Hinsicht weist in Joh 6 gerade nichts darauf hin, dass die Leserinnen und Leser die Ausführungen auf einen spezifischen Aspekt ihrer eigenen Mahlpraxis beziehen sollen. Gemäß der oben formulierten Unterscheidung ist die gesamte Brotrede als textliches Phänomen zu bewerten, das sich einer Mahl-, Essens- und Trankmetaphorik bedient, aber gerade keinen Bezug zu konkreter Mahlpraxis herstellt. Mit dieser Interpretation erkläre ich Joh 6 gerade nicht zu einem autonomen Text, wie U. Schnelle mir entgegenhält. Schnelle hat völlig recht, dass Metaphern ihre Kraft nur entfalten können, wenn sie in der Wirklichkeit der Leser verankert sind. Dazu bedarf es für die Lektüre von Joh 6 aber keines Kultmahls, bei dem Brot und Wein als Leib und Blut Christi verspeist worden wären. Für die Wirkmächtigkeit der Lehr-Metapher reicht die anthropologische Grundkonstante der Praxis des Essens und Trinkens aus. Wenn ich ein Buch als schwer verdaulich beschreibe, muss mein Leser dies auch nicht vor dem Hintergrund eines weihnachtlichen Festtagsessens lesen, damit die Metapher wirkmächtig ist. Ich stimme Schnelle vollkommen zu, dass Texte »immer in geschichtliche Zusammenhänge eingebettet« sind. Im Falle von Joh 6 ist dieser vielleicht eine Auseinandersetzung mit doketischer Theologie. Im 1.-Johannesbrief, aus dem diese Rekonstruktion der geschichtlichen Situation gewonnen wird, deutet aber nichts darauf hin, dass diese theologische Streitigkeit an einem vermeintlich eucharistischen Kultmahl festgemacht wurde. 19 Vielmehr passt die Lehrmetaphorik in Joh 6 sehr gut zu einer theologischen Lehrstreitigkeit: Die logos-sarx-egeneto-Lehre ist von den Lesern zu kauen. Die frühe Rezeptionsgeschichte von Joh 6,51-58 bestätigt die Interpretation von Joh 6 vor dem Hintergrund der konzeptuellen Metaphorik Essen/ Trinken ist Annahme von Lehre. So formuliert z. B. Origines mit Bezug auf 6,51- 58: »›Und (als) unser Pascha ist nämlich Christus geopfert‹, dessen Fleischteile [sarkes] und Knochen und Blut, wie oben gezeigt wurde, die göttlichen Schriften sind; wenn wir diese verzehren [trōgō! ], haben wir Christus. Dabei wird der Wortlaut (der Schrift) zu seinen Knochen, die Fleischteile zum aus dem Wortlaut erhobenen Sinn. […] Das Blut aber ist der Glaube an das Evangelium des ›neuen Bundes‹« (Orig. pas. 1,96 f. Üb. Buchinger). Bei Makarios Magnes ist das absolute Unverständnis der Aussage Jesu in 6,53 belegt. Es ist signifikant, dass »der Grieche« weder Bezug auf die Ritualebene frühchristlicher Mähler nimmt, noch eine Verbindung zu den sog. »Einsetzungsworten« zieht: »Denn dies ist wirklich nicht nur bestialisch und absurd, sondern absurder als jede Absurdität und bestialischer als jede bestialische Wildheit: Dass ein Mensch vom Menschenfleisch kosten und das Blut von Menschen ihrer Stammesgenossen und Verwandten trinken soll und dass er, wenn er das tut, ewiges Leben haben soll« (Mak. apokr. 3,15,2. Üb. Volp). Noch aufschlussreicher ist die Antwort des Christen Makarios, der »dem Griechen« die Bedeutung des Verses mit Hilfe der hier diskutierten Metaphorik erläutert: »Denn Fleisch und Blut Christi oder der Weisheit (denn Christus und die Weisheit sind dasselbe) sind die Worte des »Wenn ich ein Buch als schwer verdaulich beschreibe, muss mein Leser dies auch nicht vor dem Hintergrund eines weihnachtlichen Festtagsessens lesen, damit die Metapher wirkmächtig ist.« »Die Brotrede in Joh 6 erweist sich als thematisch kohärenter Text, in dem die Bildebene (Jesus essen = Lehre aufnehmen) stringent durchgehalten wird […]. In pragmatischer Hinsicht weist […] gerade nichts darauf hin, dass die Leserinnen und Leser die Ausführungen auf einen spezifischen Aspekt ihrer eigenen Mahlpraxis beziehen sollen.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 59 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 59 Jan Heilmann »Wer mein Fleisch isst und mein Blut trinkt, der hat das ewige Leben.« Alten und Neuen Testamentes auf allegorische Weise ausgedrückt, die man mit Eifer abnagen und verdauen muss, indem man sie sich immer wieder ins Gedächtnis ruft. Aus ihnen erlangt man nicht zeitliches, sondern ewiges Leben. […] So tat es einer nach dem anderen der Heiligen sowohl damals und früher als auch wieder und wieder und noch lange Zeit, wann immer einer das Fleisch der Weisheit abnagte und das Blut trank, das heißt, indem er ihre Kenntnis und die Offenbarung in sich aufnahm, lebte er in Ewigkeit und empfing das Leben, das nie aufhört« (3,23,11 f. Üb. Volp). 3. Neubestimmung des Verhältnisses von Joh 6 und der Entwicklung der frühchristlichen Mahlpraxis Abschließend möchte ich kurze Bemerkungen zu einer Neubestimmung des Verhältnisses von Joh 6 zur Entwicklung der frühchristlichen, eucharistischen Mahlpraxis anführen. Die erste Bemerkung bezieht sich auf die Ignatiusbriefe, die häufig als Beleg für ein Joh 6 analoges, »sakramentalrealistisches« Eucharistieverständnis herangezogen werden. Doch die berühmte »Unsterblichkeitsarznei« in IgnEph 20 beschreibt gerade nicht die heilsvermittelnde Wirkung der vermeintlich durch die sog. »Einsetzungsworte« als Fleisch/ Leib und Blut Christi konsekrierten Speisen und Getränke des Mahles. Vielmehr ist diese Stelle vor dem Hintergrund des in den Ignatiusbriefen dominanten Motivs der Einheit der Gemeinde zu lesen: Ignatius verspricht, die Gemeinde in einem zweiten Schriftstück über den Heilsplan weiterhin aufzuklären (20,1)-- er werde dies vor allem tun, »wenn der Herr mir offenbaren sollte, dass ihr Mann für Mann gemeinsam, alle im Einzelnen in Gnade zusammenkommt, in einem Glauben und in Jesus Christus, […], um auf euren Bischof und das Presbyterium mit ungeteiltem Sinn zu hören, ein Brot brechend; das (ho) ist die Arznei der Unsterblichkeit, Gegengift, dass man nicht stirbt, sondern lebt in Jesus Christus immerfort.« (20,2) Der mit dem neutralen Relativpronomen ho eingeleitete Nebensatz bezieht sich gerade nicht auf das materielle Brot (maskulinum), sondern auf den gesamten vorhergehenden Satz: Die »Arznei der Unsterblichkeit« ist also die Sorge für die ungeteilte Gemeinschaft, die symbolisch dadurch zum Ausdruck kommt, dass in zusammenklingender Einheit (IgnEph 5) ein Brot gebrochen wird, aber etwa auch dadurch, dass alle ungeteilten Sinnes zuhören. Die zweite Bemerkung betrifft die Rezeption des Motivs des Trinkens von Jesu Blut in der Alten Kirche. Modellhaft formuliert, sickerte diese erst langsam in den Mahldiskurs ein. Erst in einem weiteren Schritt wurde sie auch Teil der Ritualsemantik selbst. Diese Beobachtungen korrespondieren mit dem Befund einer hochdynamischen und komplexen ritualgeschichtlichen Entwicklung des eucharistischen Mahles, wie sie von anderen 20 beschrieben worden ist. Für die weitere Forschung ist daher die folgende Hypothese in Betracht zu ziehen: In Joh 6 findet sich nicht nur die wohlbekannte Innovationskraft des Textes des Johannesevangeliums, das Sprache und Theologie des Christentums nachhaltig geprägt hat. 21 Vielmehr hatte diese innovative Kraft auch einen Einfluss auf die dynamische ritualgeschichtliche Entwicklung der eucharistischen Mähler. Und erst vor dem Hintergrund dieser ritualgeschichtlichen Veränderungsprozesse, die durch das Johannesevangelium mitbestimmt worden sind, wurde eine eucharistische Lektüre von Joh 6 möglich. Oder prägnant zusammengefasst: Das Johannesevangelium war in seiner Rezeption ritualprägend, nicht die Rituale waren textprägend. Anmerkungen 1 So etwa der Vorwurf von H.-U. Weidemann, Taufe und Mahlgemeinschaft. Studien zur Vorgeschichte der altkirchlichen Taufeucharistie (WUNT 338), Tübingen 2014, 21 f. 2 Vgl. dazu insgesamt mit den Verweisen auf die Forschung J. Heilmann, Wein und Blut. Das Ende der Eucharistie im Johannesevangelium und dessen Konsequenzen (BWANT 204), Stuttgart 2014, insb. 1-23.229-231.295-298. 3 Vgl. J. Beutler, Zur Struktur von Johannes 6, in: Studien zu den johanneischen Schriften (SBAB 25), Stuttgart 1998, 247-262; H. Thyen, Über die Versuche, die sogenannte ›eucharistische Rede‹ (Joh 6,51c-58) als redaktionelle Interpolation auszuscheiden, in: Studien zum Corpus Iohanneum (WUNT 214), Tübingen 2007, 539-547; U. Busse, Sprachökonomisch optimierte Kommunikation in Joh 6, in: Jesus im Gespräch. Zur Bildrede in den Evangelien und der Apostelgeschichte (SBAB 43), Stuttgart 2009, 274-288. 4 U. Busse, Das Johannesevangelium. Bildlichkeit, Diskurs und Ritual (BEThL 162), Leuven 2002, 273-402; R. Zimmermann, Christologie der Bilder im Johannesevangelium. Die Christopoetik des vierten Evangeliums unter besonderer Berücksichtigung von Joh 10 (WUNT 171), Tübingen 2004, 407-446; J.G. van der Watt, Family of the King. Dynamics of Metaphor in the Gospel according to John (BibIS 47), Leiden 2000, 111-138; J.G. van der Watt, I Am the Bread of Life. Imagery in John 6: 32-51, ActT 2 (2007), 186-204. Siehe auch J. Frey, Das Bild als Wirkungspotenzial. Ein rezeptionsästhetischer Versuch zur Funktion der Brot-Metapher in Johannes 6, in: R. Zimmermann/ H.-G. Gadamer (Hgg.), Bildersprache verstehen. Zur Hermeneutik der Metapher und anderer Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 60 - 2. Korrektur 60 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Kontroverse bildlicher Sprachformen (Übergänge 38), München 2000, 331-361, 344. 5 Vgl. Heilmann, Wein, 145, Anm. 198; 151, Anm. 216. 6 Vgl. G. Lakoff/ M. Johnson, Metaphors We Live by, Chicago, Ill. 1980. 7 Vgl. dazu M. Klinghardt, Boot und Brot. Zur Komposition von Mk 3,7-8,21, BThZ 19, 2002, 183-202; Heilmann, Wein, 174-183. 8 V. a. 1Kor 3,1 f.; Kol 4,6; Hebr. 5,11-14; 6,4 f.; 1 Petr 2,2 f.; Offb 2,17; außerdem Barn. 10,11; 11,11; IgnTrall 6,1; Quint. inst. 2,4,5; Sen. Ep. 84,5; Artem. 2,45 f.; Tert. adv. Marc. 4,7,6; Clem. Al. paid. 1,6,45f.; BerR 70,5. Vgl. Heilmann, Wein, 189-201. 224-231. 9 Vgl. exemplarisch P. Anderson, The Christology of the Fourth Gospel. Its Unity and Disunity in the Light of John 6, Glasgow 1988 (WUNT II 78), Tübingen 1996, 111f; P. Borgen, Bread from Heaven. An Exegetical Study of the Concept of Manna in the Gospel of John and the Writings of Philo (NT.S 10), Leiden 1965, 89-93; H.K. Nielsen, John’s Understanding of the Death of Jesus, in: J. Nissen/ S. Pedersen (Hgg.), New Readings in John (JSNT.S 182), Sheffield 1999, 232-254, 243. 10 Vgl. z. B. C. Dietzfelbinger, Das Evangelium nach Johannes. Teilband 1: Joh 1-12 (ZBK 4/ 1), Zürich 2001, 170. 11 Vgl. dazu H. Blümner, Studien zur Geschichte der Metapher im Griechischen. Erstes Heft: Über Gleichnis und Metapher in der Attischen Komödie, Leipzig 1891, 52 f. 12 So etwa vertreten von S. Petersen, Jesus zum »Kauen«. Das Johannesevangelium, das Abendmahl und die Mysterienkulte, in: J. Hartenstein/ S. Petersen/ A. Standhartinger (Hgg.), »Eine gewöhnliche und harmlose Speise«? Von den Entwicklungen frühchristlicher Abendmahlstraditionen, Gütersloh 2008, 105-130; E. Kobel, Dining with John. Communal Meals and Identity Formation in the Fourth Gospel and its Historical and Cultural Context, Leiden/ Boston, Mass. 2011; E. Kobel, The Various Tastes of Johannine Bread and Blood: A Multi-Perspective Reading of John 6, in: K. Ehrensperger/ N. MacDonald/ L. Sutter Rehmann (Hgg.), Decisive Meals. Table Politics in Biblical Literature (LNTS 449), London 2012, 83-98; modifiziert bei M. J. C. Warren, My Flesh Is Meat Indeed: A Nonsacramental Reading of John 6: 51-58, Minneapolis, Minn. 2015. 13 Vgl. M. J. Edwards, Some Early Christian Immoralities, AncSoc 23, 1992, 71-82.; A.B. McGowan, Eating People: Accusations of Cannibalism Against Christians in the Second Century, JECS 2, 1994, 413-442; A. Keck/ I. Kording/ A. Prochaska (Hgg.), Verschlungene Grenzen. Anthropophagie in Literatur und Kulturwissenschaften (LitAnt 2), Tübingen 1999; D. Fulda/ W. Pape (Hgg.), Das andere Essen. Kannibalismus als Motiv und Metapher in der Literatur, Freiburg i. Br. 2001; C. Leonhard/ B. Eckhardt, Art. Mahl V (Kultmahl), RAC 23, 2009, 1012- 1105; P.A. Harland, Dynamics of Identity in the World of the Early Christians. Associations, Judeans, and Cultural Minorities, New York 2009, 161-181; Heilmann, Wein, 172, Anm. 320. 14 M. Klinghardt, Gemeinschaftsmahl und Mahlgemeinschaft. Soziologie und Liturgie frühchristlicher Mahlfeiern (TANZ 13), Tübingen/ Basel 1996, 439. 15 R. Hirsch-Luipold, Klartext in Bildern. ἀληθινός κτλ., παροιμία - παρρησία, σημεῖον als Signalwörter für eine bildhafte Darstellungsform im Johannesevangelium, in: J. Frey/ R. Zimmermann/ J.G. van der Watt/ G. Kern (Hgg.), Imagery in the Gospel of John. Terms, Forms, Themes, and Theology of Johannine Figurative Language (WUNT II 200), Tübingen 2006, 61-102, 70. 16 Vgl. M. Klinghardt, Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien (TANZ 60), Tübingen 2015. 17 R. A. Culpepper, Anatomy of the Fourth Gospel. A Study in Literary Design, Philadelphia, Pa. 1987, 152. 18 Vgl. die exegetische Begründung für diese Interpretation der soteriologischen Aussagen im Johannesevangelium bei Heilmann, Wein, v. a. 119-121. 147.149f. 201-205; 237f. 273-278, mit Verweis auf J.T. Nielsen, Die kognitive Dimension des Kreuzes. Zur Deutung des Todes Jesu im Johannesevangelium (WUNT II 263), Tübingen 2009. 19 Vgl. J. Heilmann, Antidoketische Mahltheologie in den johanneischen Schriften? , erscheint in: Uta Poplutz/ Jörg Frey (Hgg.), Erzählung und Briefe im johanneischen Kreis: Überlieferungs- und gattungsgeschichtliche Studien zum Corpus Iohanneum (WUNT), Tübingen 2015. Im Publikationsprozess. 20 Klinghardt, Gemeinschaftsmahl, 499-522; A.B. Mc- Gowan, »Is There a Liturgical Text in This Gospel? «: The Institution Narratives and Their Early Interpretive Communities, JBL 118, 1999, 73-87; A.B. McGowan, Rethinking Agape and Eucharist in Early North African Christianity, SL 34, 2004, 165-176; A.B. McGowan, Rethinking Eucharistic Origins, Pacifica 23, 2010, 173- 191; M. Wallraff, Von der Eucharistie zum Mysterium. Abendmahlsfrömmigkeit in der Spätantike, in: P. Gemeinhardt (Hg.), Patristica et Oecumenica. FS W. A. Bienert (MThSt 85), Marburg 2004, 89-104; M. Wallraff, Christliche Liturgie als religiöse Innovation in der Spätantike, in: W. Kinzig (Hg.), Liturgie und Ritual in der alten Kirche. Patristische Beiträge zum Studium der gottesdienstlichen Quellen der alten Kirche (StPatrAG 11), Leuven 2011, 69-97. Vgl. außerdem H.J. deJonge, The Early History of the Lord’s Supper, in: J.W. van Henten (Hg.), Religious Identity and the Invention of Tradition (SThRe 3), Assen 2001, 203-237; P.F. Bradshaw, Eucharistic Origins, Oxford/ New York 2004, 97-115 139-157; J. Konig, Saints and Symposiasts: The Literature of Food and the Symposium in Greco-Roman and Early Christian Culture, Cambridge, UK 2012, 123-130; H. Buchinger, Early Eucharist In Transition? A Fresh Look At Origen, in: A. Gerhards/ C. Leonhard (Hgg.), Jewish and Christian Liturgy and Worship. New Insights into its History and Interaction (JCPS 15), Leiden/ Boston, Mass. 2007, 207- 227; Leonhard/ Eckhardt, Art. Mahl V, 1081-1083. 21 M. Labahn, Die παρρησία des Gottessohnes im Johannesevangelium. Theologische Hermeneutik und philosophisches Selbstverständnis, in: J. Frey/ U. Schnelle (Hgg.), Kontexte des Johannesevangeliums. Das vierte Evangelium in religions- und traditionsgeschichtlicher Perspektive (WUNT 175), Tübingen 2004, 321-363, 363. Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 61 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 61 Ein unvermeidliches Problem der Interpretation antiker Texte besteht darin, gegenwärtige und vergangene Lebens- und Denkwelten in Verbindung zu setzen, ohne dass eine der beiden Zeitebenen ein normierendes interpretatives Übergewicht erhält. Beide Ebenen sind immer da und legen sich im Idealfall gegenseitig aus; real dominiert aber immer die gegenwärtige Welt, denn sie ist als einzige für den Interpreten/ die Interpretin wirklich zugänglich und erlebbar; aus ihr entlehnt er seine Weltsicht und seine Begriffe, um die Vergangenheit für die Gegenwart verstehbar zu machen. Deshalb ist es nur natürlich, dass ein und derselbe Text der Vergangenheit gegenwärtig völlig unterschiedlich ausgelegt wird, weil die Interpreten ihre verschiedenen Welten unvermeidlich mit- und einbringen müssen. Joh 6 ist inzwischen seit über hundert Jahren ein solcher Text, wo Weltsichten, Begriffsanalysen, Wertungen, exegetische Operationen, ganze Dogmatiken aufeinanderprallen, jeweils eine Logik den Sieg davontragen will und jeder dem anderen vorwirft, das Verstehen zu verfehlen. Deshalb ist es sinnvoll und notwendig, bereits zu Beginn der Überlegungen die eigenen Grundlagen für das Verstehen dieses Textes zu benennen. Das johanneische Denken ist aus meiner Sicht ein gleitendes Denken, das immer mehrere Dimensionen umfasst; die narrative Oberfläche und der theologische Tiefensinn können unterschieden, dürfen aber nicht getrennt werden. In reflektierter und zugleich meditativer Weise umkreist der Evangelist das Urgeheimnis der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus und entwirft eine neue bildhafte Zeichensprache des Glaubens, in deren Zentrum einfache und zugleich eingängige Symbole und Metaphern stehen, die unmittelbar auf die Hörer/ Leser wirken, indem sie gleichermaßen ein Verstehen auf emotionaler und intellektueller Ebene ermöglichen. Symbole sind über sich selbst hinausweisende, neue Sinnwelten eröffnende Zeichen, 1 die eine andere Wirklichkeit in unsere Wirklichkeit hineintragen. Sie bilden diese neue Wirklichkeit nicht nur ab, sondern vergegenwärtigen sie so, dass sie wirksam werden kann. Zugleich müssen sie die Fähigkeit besitzen, sich in der Wirklichkeit der Hörer/ Leser zu verankern, um ihre Kraft zu entfalten. Sie repräsentieren sowohl die göttliche als auch die menschliche Welt und partizipieren zugleich an ihnen. 2 Symbole müssen so ausgewählt werden, dass sie einerseits für die Hörer/ Leser rezipierbar sind, andererseits das zu Symbolisierende sachgemäß wiedergeben. Johannes nimmt kulturübergreifende religiöse Urphänomene wie Gott und Welt, Oben und Unten, Licht und Finsternis, Tod und Leben, Wahrheit und Lüge, Geburt und Neugeburt, Wasser, Brot, Hunger und Durst, Essen und Trinken auf, um sie in Jesus Christus in positiver Weise zu erfüllen. Vor allem durch die literarischen Kunstmittel der Repetition, Variation und Amplifikation, durch Zitate, Zahlensymbolik und mehrschichtige Ausdrucksweise, Bildworte und Bildreden, Wortspiele und Ironie, durch Leitworte und Schlüsselbegriffe eröffnet Johannes den Lesern/ Hörern auf ihrem Weg durch das Evangelium eine inkarnatorisch, pneumatologisch und kreuzestheologisch ausgerichtete Sinnwelt 3 . Dabei findet die metaphorische Christologie in den ›Ich-bin- Worten‹ ihren Höhepunkt und ist so ausgerichtet, dass sie das Geheimnis Jesu Christi ausleuchtet, ohne sich auf eine bestimmte sprachliche Realisierung festzulegen. Damit ermöglicht und lenkt sie jene Denkprozesse, die durch die Lektüre des Evangeliums als Einführung in die Grundfragen des christlichen Glaubens ausgelöst werden sollen. Diese grundlegenden Beobachtungen zeigen sich in Joh 6 in großer Dichte. Zunächst ist die bewusste Komposition klar erkennbar: Der Text ist in seiner vorliegenden Gestalt eine vom 4. Evangelisten szenisch-dramatisch gestaltete, literarische Einheit, die sich aus verschiedenen Einzeltraditionen zusammensetzt, die jeweils um das Stichwort Brot organisiert sind. Die Brot-Metapher eignet sich in besonderer Weise, um die Leser/ Hörer von Udo Schnelle Symbol und Wirklichkeit Zu einer notwendigen Bedingung johanneischen Denkens Kontroverse »Symbole sind über sich selbst hinausweisende, neue Sinnwelten eröffnende Zeichen [...], die eine andere Wirklichkeit in unsere Wirklichkeit hineintragen. Sie bilden diese neue Wirklichkeit nicht nur ab, sondern vergegenwärtigen sie so, dass sie wirksam werden kann.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 62 - 2. Korrektur 62 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Kontroverse xis eine ganz entscheidende Rolle bei der Ausprägung johanneischer Texte gespielt haben soll. Voraussetzung dafür ist keineswegs ein wie auch immer gearteter Bezug auf die ›Einsetzungsworte‹, die sich ohnehin nicht exakt rekonstruieren lassen und wahrscheinlich von Anfang an in verschiedenen Versionen überliefert wurden. Heilmann weist ferner auf die Unterschiede zwischen den Abendmahlstexten bei Paulus/ den Synoptikern und Joh 6,51-58 hin (vor allem das Fehlen eines ›materiellen‹ Brotbegriffes) und problematisiert speziell die allgemeine, von außen herangetragene Kategorie der ›Eucharistie/ des Herrenmahls/ des Abendmahls‹ im Neuen Testament als unhinterfragte bzw. selbstverständliche Voraussetzung der Interpretation. Er gesteht zwar zu, dass es auch in den johanneischen Gemeinden durchaus Gemeinschaftsmähler gegeben haben könne, meint jedoch, dass bei den eucharistischen Deutungen von außen Modelle an den Text herangetragen würden, die dieser nicht enthalte und die dann natürlich die Exegese präjudizieren 6 . Zusammenfassend stellt er fest: »Sowohl literarkritisch argumentierende ›eucharistische‹ Deutungsansätze als auch synchrone Versuche der ›eucharistischen‹ Deutung von Joh 6,51e-58 haben sich für die Auslegung dieser Verse als wenig tragfähig erwiesen. Die Auslegung von Joh 6,51e-58 innerhalb des Brotdiskurses hat gezeigt, dass das Motiv des Trinkens von Jesu Blut nicht metonymisch für das Trinken von Wein steht und dass die Bezeichnung ›eucharistischer Abschnitt‹ inadäquat ist. Vielmehr lassen sich die Motive vom Trinken des Blutes Jesu und vom Essen/ Kauen seines Fleisches plausibel innerhalb des Joh 6 entfalteten metaphorischen Netzwerkes verstehen, dem die konzeptuelle Metapher Essen/ Trinken ist Annahme von Lehre zugrunde liegt. Sowohl das Brot als auch das Fleisch und Blut stehen für den inkarnierten logos, den die Jünger bzw. Glaubenden in Form seiner Lehre essen und trinken, also annehmen können. Die konzeptuelle Metaphorik ist ebenfalls in den markinischen Prätexten zu finden. Der Verfasser hat sie aufgenommen und im Hinblick auf seine pragmatischen Ziele in kreativer und innovativer Weise in sein eigenes narrativ-theologisches Konzept integriert.« 7 Als ein Hauptargument für diese Sicht wird zunächst eine Interpration von Joh 6,51e als genitivus objectivus angeführt: »und das Brot hingegen, das ich geben werde, ist mein Fleisch zugunsten des Lebens in (der) Welt.« 8 Damit soll sich folgendes Verständnis nahelegen: »Jesu Fleisch ist zugunsten des Lebens in der Welt.« 9 Demgegenüber ist daran festzuhalten, dass die natürliche der unmittelbaren Lebenserfahrung her immer tiefer zu einer wahren Erkenntnis Jesu Christi als Brot des Lebens zu führen. Joh 6,1-25 und 6,60-71 bilden den narrativen Rahmen für die Lebensbrotrede und den eucharistischen Abschnitt Joh 6,(26-29)30-58(59). Geprägt ist der gesamte Text durch die Interaktion zwischen Jesus auf der einen Seite und dem Volk/ den Juden sowie den Jüngern auf der anderen Seite. Wunder und Rede illustrieren gleichermaßen die Lebensmacht Jesu Christi und zielen auf das Einstimmen in das Petrusbekenntnis Joh 6,68 f. Was aber ist das eigentliche Thema von Joh 6 und speziell von Joh 6,51-58? Überwiegend wird dieser zentrale Abschnitt entweder auf der Ebene des Evangelisten oder einer postevangelistischen Redaktion mit der Eucharistie in Verbindung gebracht. Eine dezidiert andere Position vertritt nun J. Heilmann: »Meine These lautet: Im Erzählverlauf von Joh 6 geht es um die Konstitution der inneren Glaubensgemeinschaft um Jesus. In diese Sinnlinie lässt sich das Motiv ›mein Blut trinken‹ einordnen und darin plausibel erklären.« 4 Eine eucharistische Deutung wird nach Heilmann nicht am Text selbst gewonnen, sondern »über einen angenommenen Bezug zu einer außersprachlichen Realität, einem ›Eucharistieritual‹.« 5 Zunächst betont Heilmann, dass die frühchristlichen Mähler im Rahmen der antiken Gemeinschaftsmähler zu verstehen sind. Dies trifft zweifellos zu; zugleich fragt man sich aber, warum nicht auch die bei der Abfassung des 4. Evangeliums schon ca. sechzig Jahre andauernde frühchristliche Mahlpra- Prof. Dr. Udo Schnelle, geb. 1952, studierte Evangelische Theologie in Göttingen, dort auch Promotion und Habilitation. Er war Gemeindepastor in der Hannoverschen Landeskirche, dann von 1986 -1992 Professor für Neues Testament in Erlangen, seit 1992 in Halle. Prof. Dr. Udo Schnelle Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 63 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 63 Udo Schnelle Symbol und Wirklichkeit und auch von Joh 6,33 her naheliegende Auflösung der sprachlichen Struktur von 6,51e ein genitivus subjectivus ist: »Das Brot aber, das ich geben werde, ist mein Fleisch für das Leben der Welt.« Insbesondere die bewusste Minimierung von hyper durch ›zugunsten‹ und die Eintragung des im Text nicht vorhandenen ›in‹ sind zu kritisieren. Zudem ist es wenig sinnvoll, bei einem von einem intransitiven Verb (zēn) abgeleiteten Verbalsubstantiv (zōē) von einem genitivus objectivus zu sprechen. Das zweite, immer wiederkehrende Argument ist der Vorwurf, dass bei einer eucharistischen Interpretation eine außertextliche Ebene eingetragen wird. Die Autonomie des Textes soll so gegen eine (kirchliche) Besitzergreifung verteidigt werden. Aber: Wird ein Text dadurch autonom, dass ein Exeget ihn dazu erklärt? Kann ein Text autonom sein? Natürlich nicht, denn er spricht immer in eine konkrete Situation hinein, hat eine eigene Geschichte sowie eine Strategie und gerät durch seine Lektüre in die Welt des Lesenden/ Hörenden, in die er fortan verwickelt ist. Von Autonomie keine Spur! Texte erscheinen uns auf der Basis moderner konstruierter Textausgaben als stabile Artefakte, sie waren es aber nie, sondern sie sind immer in geschichtliche Zusammenhänge eingebettet, in Vor- und Nacharbeiten, in Überschreibungen und nicht mehr kontrollierbare Verstehensprozesse. Natürlich sind diese Zusammenhänge sehr schwer aufzuhellen, was aber nicht dazu führen darf, sie unberücksichtigt zu lassen oder gar zu leugnen. Bei Joh 6,51-58 kommt hinzu, dass im Text die Verweise auf die Gemeindeebene deutlich hervortreten. Damit ist der dritte Argumentationsbereich angesprochen: Sinn und Ziel der in Joh 6 dominierenden Symbolik/ Metaphorik. Heilmann geht es vor allem darum, die Materialität der Brotmetaphorik zu minimieren. Aus meiner Sicht ist das Gegenteil der Fall: Für einen antiken Menschen ist es gar nicht möglich, diesen Aspekt zu verflüchtigen, welche Symbolik/ Metaphorik auch immer verwendet wird. Zudem betont die Speisungserzählung als Ausgangspunkt des gesamten Kapitels genau diese Dimension. Die Brotvermehrung verweist auf die Sättigung, die Jesus als Brot des Lebens (Joh 6,35) in der Eucharistie (Joh 6,51c-58) gewährt. Hinzu kommen der außergewöhnliche und Verbindungen geradezu provozierende Gebrauch von sarx, haima und trōgein: 1) Durch den Prolog als programmatischem Eröffnungstext und mitgehendem Anfang ist sarx eindeutig konnotiert: Es ist das kreatürliche Sein, in das der logos eingeht und zu dem er wird; zugleich aber göttlicher logos bleibt, weil in der sarx seine doxa aufleuchtet. Speziell diese Doppelstruktur des wirklich Menschlichen und bleibend Göttlichen ist auch die Voraussetzung für das Verständnis von sarx im eucharistischen Abschnitt. Nach Joh 1,14 erscheint sarx erst wieder in Joh 3,6 und 6,5 ff., nämlich jeweils im Zusammenhang mit Taufe und Eucharistie. Dies ist kein Zufall, denn die Sakramente sind genau der lebensgeschichtliche Ort für die Glaubenden, wo sie an den in der Inkarnation offenbar gewordenen göttlichen Lebenskräften teilhaben. 2) Auch der Gebrauch von haima verweist in diese Zusammenhänge. Es erscheint lediglich in Joh 1,13; 6,53-56 und 19,34, wobei die Korrespondenz zwischen 6,51c-58 und 19,34f. offenkundig ist. Die vom Evangelisten Johannes eingeführte Erwähnung von haima kai hydōr in Joh 19,34b und das Zeugnis des Lieblingsjüngers in 19,35 unterstreichen diese Interpretation: Jesu wahrer Tod hat seine wahre Menschwerdung zur Voraussetzung, beides wiederum ist die Ermöglichung der Heilsbedeutung des Todes Jesu, die sich in Taufe und Eucharistie für die Glaubenden realisiert. 3) Schließlich bestätigt auch das drastische trōgein das für den gesamten Abschnitt charakteristische Ineinander von Symbolik und Realistik, theologischer Reflexion und gemeindlicher Vergewisserung. Es muss im Sinn von ›kauen‹ verstanden werden 10 und zeigt deutlich einen starken inkarnatorischen, aus meiner Sicht antidoketischen Akzent: Nicht das bildhafte ›Essen‹ des Himmelsbrotes oder das geisterfüllte ›Essen‹ des Menschensohnes verleihen das ewige Leben, sondern allein das wahrhaftige Essen des Fleisches und Trinken des Blutes Jesu Christi in der Eucharistie. Damit wehrt trōgein »jedem Versuch einer Verflüchtigung« 11 , denn es betont unüberhörbar die in der Eucharistie gegenwärtige Realität von Inkarnation und Kreuzestod. Offenkundig ist die Korrespondenz zwischen dem eucharistischen Abschnitt und der Fußwaschung (trōgein nur in Joh 6,54.56-58 und in Joh 13,18! ); Johannes bezieht durch trōgein beide Texte aufeinander und verdeutlicht, dass er um den ursprünglichen Ort der Abendmahlsüberlieferung wusste. Fußwaschung und eucharistischer Abschnitt verbindet ein Thema: Jesu heilvolle Hingabe für die Seinen aus Liebe. Wenn ein Text von Brot, Fleisch, Blut, das Dankgebet sprechen, essen und trinken sowie Leben und ewiges Leben spricht, dann werden durch diese starken Begriffe bewusst Assoziationen ausgelöst und Verbindungen zur rituellen Gemeindepraxis hergestellt; die eucharistische »Kann ein Text autonom sein? « Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 64 - 2. Korrektur 64 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Kontroverse und damit rituelle Ebene muss gerade nicht von außen in den Text hineingetragen werden, sondern sie ist bereits durch den Evangelisten Johannes fest im Text verankert! Der von Heilmann immer wieder betonte Aspekt der Lehre ist dadurch in keiner Weise ausgeschlossen, sondern gerade in Joh 6 ständig präsent. Aber die Lehre steht nie für sich, sondern ist eingebunden in eine bestimmte historische Situation und die mit ihr verbundenen Lehrstreitigkeiten. Im Anschluss an den eucharistischen Abschnitt (Joh 6,51c-58) kommt es zu einem Schisma unter den Jüngern (Joh 6,60-66) und zum Petrusbekenntnis (Joh 6,66-71). Um was geht es hier? Die Jünger sind seit Joh 2,11 bereits im Vollsinn Glaubende, so dass die allgemeine Kategorie ›Annahme von Lehre bzw. göttlicher Weisheit‹ viel zu unspezifisch ist, um die Besonderheiten der Textabfolge am Ende von Joh 6 zu erfassen. Vielmehr ist der Text gerade hier transparent für die aktuelle johanneische Gemeindesituation, denn im Hintergrund von Joh 6,60-66 steht eine Spaltung innerhalb der johanneischen Schule (vgl. 1Joh 2,19; ferner 1Joh 2,22f.; 4,1-3; 5,6), die sich an der soteriologischen Bedeutung der irdischen Existenz Jesu entzündete und bei der das Verständnis der Eucharistie offensichtlich eine zentrale Rolle spielte. 12 Der Evangelist projiziert eine Problematik seiner Zeit in das Leben Jesu zurück und legitimiert damit seine Position durch Jesus selbst. Petrus und Judas fungieren als Prototypen eines Verhaltens gegenüber Jesus, das der Evangelist in seiner Zeit als Treue bzw. Verrat wiedererkennt. Lehre gibt es bei Johannes immer mit einem doppelten Realitätsbezug: Im Hinblick auf die Realität des heilstiftenden Lebens und Leidens Jesus Christi und im Hinblick auf das Verständnis und die Aneignung dieser Realität in Taufe und Eucharistie. Auch aus religionsgeschichtlicher und vor allem ritualtheoretischer Sicht ist es unhaltbar, dem 4. Evangelisten jegliches Interesse an den Sakramenten abzusprechen. 13 Das frühe Christentum war in ein sehr komplexes und attraktives religiös-philosophisches Umfeld eingebettet. Dabei wurde das Leben des antiken Menschen in allen Bereichen durch religiöse Vorstellungen und rituelle Vollzüge bestimmt. Sowohl die griechische als auch die römische Religion ist durch rituelle Vollzüge, durch das Handeln nach dem Brauch der Väter bzw. der Stadt geprägt. Durch den rituell korrekten Vollzug der den Göttern geweihten Opfer 14 , durch zeremonielles Schlachten und Essen, durch Reinigungsrituale galt es, Störungen im Verhältnis der Götter zu den Menschen und der Menschen untereinander aufzuheben. 15 Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die frühen Christen aus diesen Grundlagen religiöser Weltsicht und religiöser Praxis ausgestiegen sind. Warum sollten sie auch? Im Gegenteil, gerade der in der johanneischen Theologie dominierende Lebensbegriff fordert Orte der Teilhabe, nämlich Taufe und Eucharistie. Der Evangelist Johannes hat in Joh 6 unabhängige, aber thematisch und motivgeschichtlich verwandte Traditionen seiner Schule aufgenommen und zu einer kompositionellen Einheit geformt. Zentrum des Kapitels ist der eucharistische Abschnitt in V. 51c-58, auf den die redaktionelle Arbeit des Evangelisten zuläuft und der in seiner inkarnatorischen und gegen jede Verflüchtigung der Präsenz des Göttlichen und Irdischen in Jesus Christus geprägten Ausrichtung den Anlass für die jetzt vorliegende Gestalt von Joh 6 bildete. Rituale wie die Eucharistie als Verdichtungen von Wirklichkeit können kollektive Identitäten stabilisieren und erhalten. Ihre lebensweltliche Funktion besteht darin, eine Brücke »von einem Wirklichkeitsbereich zum anderen« 16 zu schlagen. Rituale sind wie Symbole und Metaphorik eine zentrale Kategorie religiöser Sinnvermittlung 17 und Johannes bedient sich ihrer (vgl. Joh 3,5; 13,1-20), um den zentralen Gedanken seiner Sinnbildung ein unverkennbares Profil zu geben: Der inkarnierte, gekreuzigte und auferstandene, in der Eucharistie gegenwärtige Jesus Christus ist der wahre Lebensspender. Der Präexistente und Erhöhte ist kein anderer als der wahrhaft Mensch gewordene und am Kreuz gestorbene Jesus von Nazareth. Voraussetzung für diesen Erkenntnis-, Verstehens- und Erfahrungsakt ist, dass es für die Symbolik/ »Sowohl die griechische als auch die römische Religion ist durch rituelle Vollzüge […] geprägt. […] Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die frühen Christen aus diesen Grundlagen religiöser Weltsicht und religiöser Praxis ausgestiegen sind.« »Wenn ein Text von Brot, Fleisch, Blut, das Dankgebet sprechen, essen und trinken sowie Leben und ewiges Leben spricht, dann werden durch diese starken Begriffe bewusst Assoziationen ausgelöst und Verbindungen zur rituellen Gemeindepraxis hergestellt; die eucharistische und damit rituelle Ebene muss gerade nicht von außen in den Text hineingetragen werden, sondern sie ist bereits durch den Evangelisten Johannes fest im Text verankert! « Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 65 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 65 Udo Schnelle Symbol und Wirklichkeit Metaphorik im Text einen Wirklichkeitsbezug im Leben der Adressaten gibt, hier die Eucharistie. Gerade bei der Eucharistiefeier verdichten sich christologische, soteriologische und ekklesiologische Momente, denn als Ort der heilvollen Gegenwart des Inkarnierten, Gekreuzigten und Verherrlichten lässt das Herrenmahl dem Glaubenden die Gabe des ewigen Lebens zuteil werden. Die gleitende und verbindende Grundstruktur des johanneischen Denkens lässt es als unangemessen erscheinen, diese Zusammenhänge durch künstliche Alternativsetzungen negieren zu wollen. Anmerkungen 1 Zur umfänglichen Symboldiskussion vgl. G. Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, Göttingen 4 1997. Symbol und metaphorische Rede/ Metapher sind in der unabgeschlossenen Polyvalenz der Bildersprache nur schwer zu trennen; die Metapher ist zuallererst eine Sprachform, beim Symbol wird etwas Vorhandenes/ Konkretes mit einer neuen Bedeutung aufgeladen. »Bei Metaphern ist unsere Aufmerksamkeit mehr auf Wörter gerichtet, auf semantische Verträglichkeiten und Unverträglichkeiten sprachlicher Elemente. Bei Symbolen ist unsere Aufmerksamkeit auf die dargestellte Empirie gerichtet« (G. Kurz, Metapher, Allegorie, Symbol, 73). Metaphern müssen gesprochen/ gelesen werden und beziehen sich auf die Gegenwart, Symbole hingegen verbinden Vergangenheit und Zukunft und haben Resultatcharakter. Zugleich ist aber zu betonen, dass es sich dabei um künstliche Trennungen handelt, die sich den Anforderungen des akademischen Betriebs verdanken. 2 Vgl. P. Tillich, Systematische Theologie I, Stuttgart 5 1977, 280: »Von Gott als dem Lebendigen müssen wir in symbolischen Begriffen reden. Jedes wahre Symbol partizipiert jedoch an der Wirklichkeit, die es symbolisiert.« 3 Vgl. T. Popp, Grammatik des Geistes, ABG 3, Leipzig 2001, 457-491. 4 J. Heilmann, Wein und Blut. Das Ende der Eucharistie im Johannesevangelium und dessen Konsequenzen, BWANT 204, Stuttgart 2014, 144. 5 Heilmann, Wein und Blut, 144. 6 Vgl. Heilmann, Wein und Blut, 173. 7 Heilmann, Wein und Blut, 238 f. 8 Heilmann, Wein und Blut, 148. 9 Heilmann, Wein und Blut, 150. 10 Vgl. F. Passow, Handwörterbuch der griechischen Sprache II.2, Leipzig 5 1857, 2001: »nagen, knuppern, knuspern, schroten, zerbeissen, essen, fressen, bes. rohe Speisen mit den Zähnen zerreiben od. zermalmen.« 11 W. Bauer, Wörterbuch zum Neuen Testament, Berlin 5 1971, 1641. 12 Vgl. dazuT. Popp, Die Kunst derWiederholung. Repetition, Variation und Amplifikation im vierten Evangelium am Beispiel von Johannes 6,60-71, in: J. Frey/ U. Schnelle (Hgg.), Kontexte des Johannesevangeliums, WUNT 175, Tübingen 2004, 559-592. 13 Im Hintergrund steht hier noch immer R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 4 1961, 411: »Die Tatsache, daß bei Johannes die ›Heilstatsachen‹ im traditionellen Sinn keine Rolle spielen, und daß das ganze Heilsgeschehen: Menschwerdung, Tod und Auferstehung Jesu, Pfingsten und die Parusie in das eine Geschehen verlegt ist: die Offenbarung der alētheia Gottes im irdischen Wirken des Menschen Jesus und die Überwindung des Anstoßes im Glauben ‒ dieser Tatsache entspricht es, daß auch die Sakramente keine Rolle spielen.« 14 Vgl. Plato, Leges IV 716d: »[…] dass für einen guten Menschen das Opfern und der ständige Verkehr mit den Göttern durch Gebete, Weihgeschenke und alle Formen der Gottesverehrung das schönste und beste und wirksamste Mittel zu einem glücklichen Leben und ihm daher auch ganz besonders angemessen ist.« 15 Vgl. dazu W. Burkert, Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, Stuttgart 2 2011, 93-107. 16 A. Schütz/ T. Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003, 653. 17 Vgl. dazu C. Geertz, Dichte Beschreibung, Frankfurt a.-M.1987. Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 66 - 2. Korrektur 66 ZNT 35 (18. Jg. 2015) »Am Donnerstagabend setzte Franziskus selbst ein Zeichen: Erstmals feierte ein Papst eine Gründonnerstagsmesse in einem Jugendgefängnis. Dabei wusch er die Füße von zehn männlichen und zwei weiblichen Häftlingen. Bei den beiden jungen Frauen handelte es sich nach Angaben aus dem Gefängnis um eine katholische Italienerin und eine muslimische Serbin. Auch dies war ein Bruch mit der Tradition, denn normalerweise nehmen keine Frauen an der traditionellen Fußwaschung teil. ›Wer auch immer ganz oben steht, muss den anderen dienen‹, sagte Papst zu Beginn der Zeremonie« (Frankfurter Allgemeine vom 28. 03. 2013). 1 »Was die meisten weltlichen und kirchenoffiziellen Medien begeistert als weiteren Akt einer außergewöhnlichen Demut des neuen Papstes begrüßten, ist innerkirchlich sehr umstritten. […] Die Fußwaschung habe eine ganz konkrete Bedeutung in der Liturgie des Letzten Abendmahls und sei nicht frei gestaltbar. Abgesehen davon sei sie zwar ein wichtiges Element, aber nur Beiwerk der Gründonnerstagsmesse, das nur mit Blick auf den eigentlichen Mittelpunkt, die Einsetzung des Altarsakraments verständlich werde und Sinn habe. Eine sozialbetonte und mediengerechte Gestaltung der Fußwaschung lenke die Aufmerksamkeit vom Wesentlichen zu einem umgeformten Nebenschauplatz« (Beitrag auf dem Portal Katholisches.info. Magazin für Kirche und Kultur vom 16. 04. 2014). 2 Die Fußwaschungen des 2013 neu eingesetzten Papstes Franziskus werden in der Presse und auf kirchlichen Portalen kontrovers diskutiert und interpretiert. Befürworter der neuen Praxis loben die Demut des Papstes, der seine Macht nutzt, um dem Nächsten zu dienen. Gemäß der Liste der mächtigsten Leute der Welt, die das nordamerikanische Wirtschaftsmagazin Forbes veröffentlicht, belegte Papst Franziskus 2013 Rang vier, unmittelbar nach den Präsidenten aus Russland, den USA und China, da er als spirituelle Leitfigur von 1,2 Milliarden Katholiken Macht über ein Sechstel der Weltbevölkerung habe. 3 Guardini ist sich dieser Macht bewusst, sieht darin aber nichts grundsätzlich Negatives, sondern die Verpflichtung, diese Macht vor Gott verantwortet zu nutzen: »Die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1-17), liturgisch am Gründonnerstag gefeiert, wird zum Zeichen eines ›Machtwechsels‹ und zum Mandat für die Jünger Jesu, sich an diesem Beispiel zu orientieren und einander die Füße zu waschen, nicht den Kopf.« 4 Diese Orientierung am Vorbild Jesu äußert sich für Papst Franziskus konkret im karitativen Dienst am Nächsten, den er als die wichtigste Aufgabe eines Priesters ansieht. In seiner ersten Gründonnerstagspredigt schickt er deshalb seine Priester zu den Menschen, hinaus aus den Kirchengebäuden: »Die Priester sollen dynamischer werden, ›an die äußeren Ränder gehen‹ und das Evangelium denen verkündigen, die ›überhaupt nichts haben‹.« 5 Die Fußwaschung wird dadurch zu einem Sinnbild für den liebenden Dienst am Nächsten, an Männern und Frauen aus unterschiedlichen Völkern und Religionen. Angelo Bazzari, der Vorsitzende der Stiftung Don Carlo Gnocchi, in deren Behinderteneinrichtung der Papst 2014 die Fußwaschung zelebrierte, kommentiert das Ritual mit den Worten: »Es handelt sich ja wirklich um eine universale Geste eines Gottes, der sich zum Menschen macht und der ganzen Menschheit dient. Und es ist ein Zeichen der evangelischen Barmherzigkeit, die durch die Geste des Papstes die ganze Welt des Leidens umarmen will.« 6 Kritiker dieser Neuorientierung sprechen jedoch von einer »aliturgischen« und »mediengerechten Fußwaschung«, die das katholische Hochfest der drei heiligen österlichen Tage, das Triduum Sacrum, durch einen »plakativen Sozialaktivismus« überlagern würde. 7 Die Verantwortlichen zahlreicher katholischer Nachrichtenseiten und Blogs im Internet riefen 2014 die Bischöfe dazu auf, die Gründonnerstagsliturgie wie traditionell üblich in ihren Kirchen zu feiern, um so an die Einsetzung der Eucharistie und des Priestertums durch Jesus Christus zu erinnern. In der Gründonnerstagsliturgie gehe es nicht um das soziale Engagement der Kirche, sondern um die Bedeutung von Altarsakrament und Priesteramt. 8 Aufgrund dieser ekklesiologischen Deutung des Rituals ist es verständlich, dass mit der Fußwaschung an Frauen die Befürchtung-- oder Hoffnung- - aufflammte, der neue Papst könne Frauen zum Priesteramt zulassen. Anni Hentschel Die Fußwaschung - ein verhindertes Ritual Hermeneutik und Vermittlung »Die Fußwaschungen des 2013 neu eingesetzten Papstes Franziskus werden in der Presse und auf kirchlichen Portalen kontrovers diskutiert und interpretiert. Befürworter der neuen Praxis loben die Demut des Papstes, der seine Macht nutzt, um dem Nächsten zu dienen.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 67 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 67 Anni Hentschel Die Fußwaschung - ein verhindertes Ritual Interpretation der Fußwaschungserzählung in Joh 13 sei an dieser Stelle bereits darauf verwiesen, dass sowohl ekklesiologische Deutungen im Hinblick auf die Vorbereitung der zwölf Jünger für ihre eigene Sendung nach Jesu Abschied als auch primär ethisch-moralische Interpretationen im Hinblick auf die Verpflichtung zur Liebe und zum bescheidenen und verantwortungsbewussten Umgang mit Macht möglich und als Lesarten von Joh 13 in der Alten Kirche belegt sind. 1. Die Vielfalt der Fußwaschungen in der Kirchengeschichte Das Ritual der Fußwaschung im Rahmen der Gründonnerstagsfeier ist in den Quellen erst ab dem 7. Jh n. Chr. belegt und hat seine Wurzeln vermutlich in Fußwaschungsritualen der Klöster. 9 Ab dem 3. Jh. n. Chr. ist bezeugt, dass die Fußwaschung in klösterlichen Gemeinschaften sowohl im Bereich der alltäglichen Körperhygiene als auch im Bereich der Gastfreundschaft und Armenfürsorge bewusst nach dem Vorbild Christi praktiziert wurde. 10 Die Brüder, die für den Wochendienst zuständig waren, wuschen am Ende der Woche ihren Mitbrüdern die Füße. Dass dieser Brauch in der Fastenzeit unterlassen werden musste, legt nahe, dass er nicht oder nicht primär im Sinne eines Sklavendienstes verstanden wurde, sondern vielmehr als brüderlicher Liebesdienst, der für die Empfänger mit einer durchaus als Luxus verstandenen körperlichen Pflege verbunden war, Wellness im Kloster. 11 Für manche Klöster ist schließlich belegt, dass am Gründonnerstag in Erinnerung an die Fußwaschung Jesu diese Aufgabe von den Vorstehern selbst versehen wurde. 12 Im Rahmen der Ausgestaltung der Karliturgie fand die Fußwaschung allmählich ihren Platz in der gottesdienstlichen Feier am Gründonnerstag, als Erfüllung des Auftrags Jesu (Mandatum) an seine zwölf Apostel, nicht jedoch als Sakrament. Sie wird in dieser Form erstmals beim Konzil von Toledo 694 erwähnt, das die Bischöfe dazu verpflichtet, am Gründonnerstag den Priestern die Füße zu waschen und sie anschließend zum Mahl einzuladen. 13 Dass sich dieses Ritual bei Bischöfen keiner großen Beliebtheit oder liturgischen Akzeptanz erfreute, lässt die folgende Androhung einer Strafe im Falle fehlenden Gehorsams vermuten. 14 Erst spät wurde die Fußwaschung in die römische Liturgie der Karwoche übernommen, wie das Pontificale Romano-Germanicum für das 10. Jh. bezeugt, bis das Ritual schließlich 1570 offiziell in das Missale Romanum übernommen wurde. 15 Die dargestellten Interpretationen zeigen, wie verschieden das einfache Ritual der Fußwaschung nach dem Vorbild Christi heute verstanden werden kann. Die Handlung an sich, die Papst Franziskus vollzieht, unterscheidet sich nicht von dem, was auch seine Vorgänger taten: Er wäscht in der Gründonnerstagsliturgie zwölf anderen Menschen die Füße. Und doch wurden bei dem Ritual einige Elemente verändert: Als Ort haben wir nicht die Lateranbasilika in Rom, sondern ein Jugendgefängnis bzw. eine Behinderteneinrichtung, als Empfänger der Fußwaschung haben wir nicht zwölf katholische Priester, sondern Männer und Frauen unterschiedlicher Nationen und Religionen. Während die einen besorgt sind, dass die Kirche ihre Tradition und ihre Identität verrate, freuen sich die anderen, dass ein wichtiges Element ihrer-- derselben-- Tradition wieder neu in den Mittelpunkt gestellt wird. Mit Blick auf die Dr. Anni Hentschel, Studium der Evangelischen Theologie in Neuendettelsau, Heidelberg und Erlangen, 1998 Geburt des 1.- Kindes, 2001 Geburt des 2. Kindes. 2000 -2003 Stipendiatin der DFG im Graduiertenkolleg »Wahrnehmung der Geschlechterdifferenz in religiösen Symbolsystemen« an der Universität Würzburg. 2005 Promotion, 2005 -2007 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt »Erstellung eines kritischen Textes der Paralipomena Jeremiou« an der Universität Würzburg. 2007-2010 Vikariat, 2010 -2011 Studierendenpfarrerin in Würzburg, seit 2011 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Neuen Testament an der Universität Frankfurt. Veröffentlichungen u. a.: »Diakonia im Neuen Testament. Studien zur Semantik unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Frauen, WUNT II 226, Tübingen 2007« (Dissertation); »Luther’s relevance for contemporary hermeneutics, in: Kenneth Mtata (Hg.), »You have the Words of Eternal Life.« Transformative Readings of the Gospel of John from a Lutheran Perspective, Minneapolis 2012, 47- 68«; »Gemeinde, Ämter, Dienste. Perspektiven zur neutestamentlichen Ekklesiologie, BThSt 136, Neukirchen-Vluyn 2013«. Dr. Anni Hentschel Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 68 - 2. Korrektur 68 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Hermeneutik und Vermittlung Die Fußwaschung wurde in der Alten Kirche auch als Reinigungsritus zur Sündenvergebung verstanden. Seit dem 3. Jh. n. Chr. ist sie in einigen Regionen, v. a. in Spanien, im Zusammenhang der Taufe belegt. 16 Der Mailänder Bischof Ambrosius hat die Fußwaschung im 4. Jh. explizit als Sakrament betrachtet, das während der Tauffeier zu vollziehen ist und zur Reinigung der ererbten nicht-persönlichen Sünden diene, während die Taufe von den persönlichen Sünden befreie. 17 Er ging davon aus, dass die Schlange gemäß der Sündenfalltradition den Menschen in die Ferse biss, so dass deshalb besonders die Füße von der Sünde gereinigt werden müssten. Ambrosius stand mit dieser Interpretation in einem eingestandenen Konflikt mit Rom, das sich dieser Deutung und Praxis nicht anschloss. 18 Als zentrales Gegenargument wurde angeführt, dass die umfassende Heiligung durch die Taufe nicht durch eine weitere Waschung abgewertet werden dürfe. Als ein wichtiger Kritiker dieser postbaptismalen Fußwaschung ist Origenes zu nennen. Er verstand den Nachahmungsbefehl nicht wörtlich, sondern im übertragenen, v. a. ethischmoralischen Sinn: Jesus fordere ein Tun der Nächstenliebe und Demut. 19 Origenes verstand die Fußwaschung Jesu v. a. als Vorbereitung und pneumatische Vollendung der Jünger für ihre bevorstehende Tätigkeit als Boten des Evangeliums. 20 Durch die Fußwaschung erhielten sie den vollen Anteil an Christus, wurden rein vor Gott und bekamen den Heiligen Geist, sodass ihre Füße für die Verkündigungstätigkeit ausgerüstet waren (vgl. Jes 52,7; Röm 10,15). 21 Sogar die in 1Tim 5,10 erwähnte Fußwaschung der Witwen versteht Origenes nicht wörtlich dahingehend, dass die Witwen anderen Gemeindegliedern die Füße gewaschen hätten, sondern im übertragenen Sinn als Verpflichtung dieser Witwen, das Evangelium anderen Frauen zu verkündigen. 22 Immer wieder wird Joh 13 dahingehend ausgelegt, dass alle Nachfolgenden Jesu dazu verpflichtet seien, Gastfreundschaft zu üben und Nächstenliebe zu praktizieren. Diese moralisch-ethische Interpretation konnte sich sogar unmittelbar mit einer rituellen Praxis verbinden, wie das Beispiel des Caesarius von Arles zeigt: Er kennt den postbaptismalen Ritus der Fußwaschung, versteht diesen jedoch nicht als Sakrament, sondern als Mandatum Christi, das den Täufling bleibend daran erinnert, dass er oder sie ein Leben lang verpflichtet ist, gute Werke der Nächstenliebe zu üben. 23 Dieser nur knappe und bei weitem nicht vollständige Einblick in kirchengeschichtliche Interpretationen und Rituale der Fußwaschung zeigt, wie differenziert die Fußwaschung Jesu verstanden und in die Praxis umgesetzt wurde. Ein wörtliches Verständnis des Auftrags Jesu in Joh 13,14f. ist dabei alles andere als selbstverständlich. Calvin zum Beispiel kritisierte die in der Gründonnerstagsliturgie vollzogene Fußwaschung als ein Missverständnis des johanneischen Textes: »Demzufolge ist ein Nachmachen hier gar nicht am Platze; gerade so gut könnte man auch versuchen, Jesu nach zum Himmel empor zu fliegen. Aber auch hier, wo ein entsprechender Hinweis steht, ist nicht die Meinung, daß wir die Fußwaschung etwa durch eine jährlich wiederholte theatralische Zeremonie buchstäblich nachmachen sollten: vielmehr sollen wir in unserem ganzen Leben uns bereit halten, den Brüdern die ›Füße zu waschen‹, d. h. ihnen die niedrigsten Liebesdienste zu erweisen.« 24 Die Kirchengeschichte und nicht zuletzt die spezifische Gestaltung der Fußwaschung durch Papst Franziskus am Gründonnerstag lehren jedoch auch, dass die rituelle Nachahmung die mit Joh 13 oft verbundene Verpflichtung einer ethisch-moralischen Imitatio Jesu nicht ausschließt. Die Fußwaschung zeigt vielmehr auf anschauliche Weise, dass sich weder ein Ritual noch eine Erzählung auf eine einzelne Interpretation reduzieren oder in Form einer dogmatischen Glaubensaussage adäquat wiedergeben lassen. Eine Handlung, sei sie einmalig oder ritualisiert, sagt mehr als Worte, eine Erzählung ist umfassender als ein dogmatischer Lehrsatz. Beide können als ein plurales Deutungsangebot verstanden und interpretiert werden. 2. Die Fußwaschung-- ein typisches Ritual Rituale gelten häufig als starr und unveränderlich. 25 Das Festhalten an überkommenen Verhaltensmustern, Regeln und Formulierungen wirkt altmodisch und ist für viele mit unserer modernen pluralen Lebenswirklichkeit nicht mehr vereinbar. Insbesondere im Protestantismus gibt es eine kritische Einstellung zu Ritualen, die »aus »Immer wieder wird Joh 13 dahingehend ausgelegt, dass alle Nachfolgenden Jesu dazu verpflichtet seien, Gastfreundschaft zu üben und Nächstenliebe zu praktizieren.« »Rituale gelten häufig als starr und unveränderlich.[...] Insbesondere im Protestantismus gibt es eine kritische Einstellung zu Ritualen.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 69 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 69 Anni Hentschel Die Fußwaschung - ein verhindertes Ritual der der reformatorischen Rechtfertigungserkenntnis entsprechenden Konzentration auf die Relation von Wort und Glaube und einer demgemäßen Reform der gesamten Frömmigkeitspraxis« resultiert. 26 Dabei wird das Wort bzw. die Lehre als das Primäre und Entscheidende angesehen, während das Ritual als eine Handlung betrachtet wird, welche die Lehre illustriert und körperlich ausdrückt, darüber hinaus jedoch keinen eigenen Beitrag leisten kann. 27 Erst die kulturwissenschaftliche Untersuchung des Ritualbegriffs sowie der Ritualvollzüge in den letzten Jahrzehnten hat zu einem neuen Verständnis der Rituale geführt und dabei v. a. den performativen Charakter der Rituale und ihre durchaus variablen Funktionen für Individuen und Gemeinschaften hervorgehoben 28 : »Rituale sind mithin keineswegs nur traditional, konservativ und konservierend, sondern können, je nach Situation, erneuern und innovativ wirken. Zahlreiche Rituale erweisen sich erstaunlich offen für Variationen und Abweichungen und arbeiten mit einer mehrdeutigen, geradezu artistischen Zeichenverwendung; gleichwohl-- oder besser: gerade deshalb-- funktionieren sie hervorragend.« 29 Rituale werden nun auch nicht mehr ausschließlich im Zusammenhang der Religion untersucht, sondern als Bestandteile der sozialen Kommunikation betrachtet, die »realitätserzeugenden Charakter haben. Mit ihren symbolischen Formen, ihrer Sequenzierung von Handlungsverläufen, ihrer Inszenierung performativen Geschehens schaffen Rituale soziale Wirkungen und rufen Antworthandlungen hervor.« 30 Gerade die zunehmende Pluralisierung von Denk- und Lebensgewohnheiten sowie von Wertvorstellungen im Kontext von Moderne und Postmoderne führte zu einer neuen Wertschätzung von Ritualen, welche Sinn stiften, der Strukturierung und Stabilisierung menschlichen Handelns dienen und zur Integration und Konfliktbewältigung in Gemeinschaften beitragen können. 31 Dennoch lassen sich Rituale nicht auf ihre Funktion reduzieren. Sie haben vielmehr einen Sinnüberschuss, der sie variabel macht, und der v. a. dann offensichtlich wird, wenn Rituale von einer Gemeinschaft in eine andere, von einer Religion in eine andere oder einfach nur von einer Situation in eine andere übertragen werden. 32 Eine Handlung, die von ihrem unmittelbaren Kontext abstrahiert wird, ist nicht mehr die gleiche. 33 Papst Franziskus verlässt den Kirchenraum und die Priester, um sich für das Ritual der Fußwaschung an die Ränder der menschlichen Existenz zu begeben und in einem Jugendgefängnis bzw. in einer Behinderteneinrichtung Menschen zu begegnen, die aufgrund eigener Verfehlungen bzw. gesundheitlicher Einschränkungen aus der Gesellschaft ausgegrenzt werden. Er aktualisiert damit in besonderer Weise den in der biblischen Fußwaschungstradition verankerten Sinngehalt, dass diese Handlung ein Ausdruck der umfassenden und ganzheitlichen Liebe Jesu zu den Menschen ist, der darin zugleich die Liebe Gottes zur Welt repräsentiert, d. h. gegenwärtig macht (Joh 13,1; vgl. Joh 3,16). Der ekklesiologische Gedanke, dass Jesus mit dieser Zeichenhandlung seine Jünger auf ihre spätere Sendung vorbereitet, wenn sie selbst ganzheitlich die Liebe Gottes verkündigen sollen, wird dadurch vom Papst jedoch nicht aufgegeben, sondern neu akzentuiert. Die Rolle der Priester, die sich am Vorbild der Apostel orientiert, wird von Franziskus nicht innerhalb der geschützten Kirchenräume rituell in Szene gesetzt, sondern »in der Welt«, der Gottes Liebe gilt. Damit betont er durchaus in kritischer Absicht nicht in erster Linie die Macht und Würde, welche die Priester haben, sondern ihre Verantwortung und konkrete Verpflichtung zur Liebe, die aus ihrer Sendung resultiert. In guter biblischer und altkirchlicher Tradition gehört zur Verkündigung des Evangeliums auch die evangeliumsgemäße Fürsorge für die kranken, armen und benachteiligten Menschen unserer Gesellschaft. 34 Daraus ergibt sich jedoch, dass weder das Lob am innovativen Verhalten des Papstes noch die Kritik an seiner Liturgie- oder Traditionsvergessenheit die Sache mit dem traditionellen Ritual der Fußwaschung am Gründonnerstag zutreffend beschreiben. Nicht traditionsvergessen, sondern einem dem traditionellen Ritual zutiefst inhärenten Sinngehalt folgend zelebriert der neue Papst die Fußwaschung an einem Ort und auf eine Weise, die einen vergessenen Aspekt neu ins Bewusstsein ruft und zugleich den vertrauten Sinngehalt nicht leugnet, sondern neu akzentuiert und kontextualisiert. Hier zeigt sich die Macht eines Rituals, verschiedenste Sinngehalte über große Zeiträume hinweg zu bewahren, derer man sich bei der regelmäßigen Durchführung vielleicht lange nicht bewusst ist, die aber bei Bedarf oder aufgrund eines zeitgeschichtlichen Anlasses neu entdeckt werden können und als Ausgangspunkt zur Gestaltung der Identität und der sozialen Praxis einer Gemeinschaft dienen können. »Gerade die zunehmende Pluralisierung von Denk- und Lebensgewohnheiten sowie von Wertvorstellungen im Kontext von Moderne und Postmoderne führte zu einer neuen Wertschätzung von Ritualen, welche [...] der Strukturierung und Stabilisierung menschlichen Handelns dienen.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 70 - 2. Korrektur 70 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Hermeneutik und Vermittlung 3. Die fremde Praxis der Fußwaschung Die Fußwaschung hat im heutigen kulturellen Kontext Mitteleuropas keine eigenständige Bedeutung. Sie ist ein meist nicht eigens beachteter Teil der Körperhygiene und spielt höchstens bei medizinischen Anwendungen eine gesonderte Rolle. Die in antiken Quellen belegte Fußwaschung ist uns fremd und wird von heutigen Leserinnen und Lesern sehr schnell als niedriger Dienst verstanden und v. a. auch gefühlsmäßig so empfunden. Wenn die uns nicht vertraute Fußwaschung im Rahmen von Gründonnerstagsfeiern rituell praktiziert wird, kostet sie nicht nur oder primär den Liturgen oder die Liturgin Überwindung, sondern gerade auch diejenigen, die sie an sich vollziehen lassen. Das Gefühl, dass mit einer öffentlichen Fußwaschung eine Ehre verbunden sein könnte oder sogar ein gewisser Verwöhnfaktor, ist uns heute in der Regel völlig fremd. Wenn auf diesem kulturellen Hintergrund die Fußwaschungserzählung in Joh 13 oder auch die Fußsalbung durch Maria in Joh 12,1-8 gelesen werden, fließen als Interpretationskategorien deshalb schnell der niedere Sklavendienst einerseits und die Frage nach hierarchischen Beziehungen zwischen Herren und Sklaven, sowie deren Umkehrung durch das-- entsprechend als Selbsterniedrigung verstandene-- Verhalten Jesu in das Textverständnis ein. 35 Die Fußwaschung als Zeichen einer Ehre, als Zeichen einer innigen freundschaftlichen oder sogar intimen Beziehung ist uns, im Gegensatz zu den zeitgenössischen Leserinnen und Lesern des Johannesevangeliums, völlig fremd. Deshalb lohnt sich ein kurzer Blick auf die vielfältigen Vorkommen und Bedeutungen der Fußwaschung in der Antike. 36 Die Fußwaschung gehörte in den antiken Kulturen des Mittelmeerraums, in denen die Menschen v. a. Sandalen trugen, zur alltäglichen Körperhygiene, wie bei uns heute Duschen und Zähneputzen. Juvenal kann in diesem Zusammenhang humorvoll feststellen, dass man dankbar sein könne, wenn einem bei einem abendlichen Spaziergang durch die dunklen Straßen Roms nur das Fußwaschwasser auf den Kopf falle. 37 Wer die tägliche Fußwaschung nicht durchführte, galt als ungebildet und barbarisch 38 : »Eine Handlung, fast so häufig wie Essen u. Trinken, kann also leicht einen vielfältigen Symbolgehalt erhalten u. dann wiederum als Träger solchen Gehaltes in vielfacher Weise zur Verdeutlichung religiöser u. sozialer Ordnungen benutzt werden.« 39 Wichtig war die Fußwaschung im Bereich der Gastfreundschaft, bei der den geladenen Gästen die Möglichkeit gegeben wurde, ihre Füße selbst zu reinigen, bevor man sich zu Tische setzte oder legte. 40 Wenn der Gastgeber die Füße durch einen Sklaven waschen ließ oder diese selbst wusch, galt dies als Zeichen einer besonderen Ehre. 41 Während eine Salbung der gewaschenen Füße mit Öl offensichtlich häufig vorkam, konnte es als Ausdruck eines übertriebenen Luxus kritisiert werden, wenn dem Fußwaschwasser Wein und Duftstoffe zugesetzt wurden. 42 Auch im kultischen Bereich sind Waschungen wichtig. Gewaschene Füße waren Voraussetzung für das Betreten des Heiligtums und spielten vermutlich auch für häusliche religiöse Vollzüge eine Rolle. Bis heute kann im Judentum ein Fußwaschbecken als »Mutter des Gebets« bezeichnet werden. 43 Ein Priester, der wegen der erforderlichen Reinheit häufig zu Waschungen verpflichtet war, konnte umschreibend als jemand bezeichnet werden, »der Hände u. Füße gewaschen hat«. 44 Im Zusammenhang der Ethisierung des Kultes konnten gewaschene Hände und Füße schließlich auch symbolisch für gute Werke und die Ausrichtung auf das Gute verstanden werden. 45 Die Fußwaschung hatte außerdem einen festen Platz in familiären bzw. intimen Beziehungen: Kinder wuschen den Eltern die Füße, die Frau ihrem Ehemann. Die Fußwaschung war in diesem Fall ein Zeichen von Ehre und Liebe. So konnte eine Frau in einer wohlhabenden Familie alle möglichen Aufgaben an ihre Dienerinnen delegieren, u. a. sogar das Stillen ihrer Säuglinge; das Waschen der Füße ihres Mannes und das Richten seines Bettes sowie das Einschenken seines Bechers waren jedoch ihre Aufgaben als Ehefrau, die Intimität und Liebe ausdrückten. 46 Wenn Aseneth in dem Roman Joseph und Aseneth ihrem zukünftigen Ehemann Joseph die Füße wäscht, »Die Fußwaschung hat im heutigen kulturellen Kontext Mitteleuropas keine eigenständige Bedeutung. [...] Die in antiken Quellen belegte Fußwaschung […] als Zeichen einer Ehre, als Zeichen einer innigen freundschaftlichen oder sogar intimen Beziehung ist uns, im Gegensatz zu den zeitgenössischen Leserinnen und Lesern des Johannesevangeliums, völlig fremd.« »Die Fußwaschung gehörte in den antiken Kulturen des Mittelmeerraums, in denen die Menschen v. a. Sandalen trugen, zur alltäglichen Körperhygiene, wie bei uns heute Duschen und Zähneputzen.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 71 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 71 Anni Hentschel Die Fußwaschung - ein verhindertes Ritual zeigt sie ihm ihre innige Liebe, sie wird durch den Vollzug der Fußwaschung jedoch weder als Sklavin noch als unterwürfige Ehefrau dargestellt (JosAs 20,2-6). Dass sich Aseneth selbst als Sklavin des Joseph beschreibt, ist im Kontext des vorausgehenden Handlungsverlaufs zu betrachten: Aseneth, die keinen Mann anschaute, verschmähte zunächst auch Joseph hochmütig (JosAs 4,9-11), bereute dies jedoch später und wünschte sich, wenigstens als Sklavin des Joseph bei ihm sein zu können (vgl. JosAs 4,6-6,8). Sie bittet Gott: »[…] Und du Herr, gib mich ihm als Magd und Sklavin hin. Ich will ihm sein Bett ausbreiten, seine Füße waschen und ihm dienen. Ich will seine Sklavin sein und ihm als Sklavin dienen für ewige Zeit« (JosAs 13,5). Verpflichtungen einer Ehefrau und die Rolle einer Sklavin fließen hier ineinander. Als Joseph schließlich erneut zu Besuch kommt, führt Aseneth ihn auf den Thronsessel des Vaters und wäscht ihm-- trotz seines Widerspruchs-- mit folgender Begründung die Füße (JosAs 20,2-5): »Mitnichten, mein Herr, denn von jetzt an bist du mein Herr, und ich bin deine Sklavin. Warum sagst du das, eine andere Jungfrau solle deine Füße waschen? Deine Füße sind ja meine Füße, deine Hände sind meine Hände, deine Seele ist meine Seele« (JosAs 20,4). Nach der Fußwaschung setzt Aseneth sich neben Joseph auf den Thronsessel, wo ihre zurückkommende Verwandtschaft sie in ihrer himmlischen Schönheit mit Joseph sitzen sieht (JosAs 20,5f ). Der Roman spielt hier also mit unterschiedlichen Rollenvorstellungen, die ausgesprochen-- Aseneth als Sklavin des Joseph-- und zugleich wieder in Frage gestellt-- Joseph als Besitz der Aseneth-- werden. Sie drängt ihn, dass er sich von ihr die Füße waschen lässt, und setzt sich im Anschluss selbst zu seiner Rechten auf den väterlichen Thronsessel. Die Fußwaschung ist in diesem Kontext keineswegs nur ein niedriger oder gar typischer Sklavendienst, sondern vielmehr ein Zeichen der intimen Liebe zwischen Mann und Frau. 47 Eine im Jerusalemer Talmud überlieferte Erzählung illustriert sehr anschaulich, wie komplex die Assoziationen im Hinblick auf Liebe und Ehre sind, die sich mit der Fußwaschung verbinden können 48 : als Rabbi Jischmael (um 135 n. Chr.) nach Hause zurückkommt, will er sich selbst die Füße waschen. Seine Mutter jedoch möchte ihm als Rabbi eine Ehre erweisen, indem sie ihm die Füße wäscht und das Fußwaschwasser trinkt. Rabbi Jischmael wehrt ab, da er darin eine Verletzung des 4. Gebotes sieht, denn schließlich sei es seine Aufgabe als Sohn, der Mutter Ehre zu erweisen. Daraufhin wendet sich die Mutter an die anderen Rabbinen und beklagt sich, dass ihr Sohn gegen das 4. Gebot verstoßen habe: Er hätte ihr die Ehre (! ) nicht zugestanden, ihm als angesehenen Rabbi die Füße waschen zu dürfen. Als Ergebnis ist insgesamt folglich festzuhalten: Nicht alles, was auf den ersten Blick wie Sklavendienst aussieht, ist es auch. 4. Die Fußwaschung Jesu auf den zweiten Blick Der Erzähler des Johannesevangeliums leitet die Erzählung der Fußwaschung Jesu mit zwei Hinweisen ein (Joh 13,1): Einerseits verweist er auf die nun unmittelbar bevorstehende Stunde der Erhöhung, die hier primär als Stunde des Abschieds Jesu aus der Welt charakterisiert wird (vgl. auch 13,3). Andererseits wird für die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft festgehalten, dass Jesus die Seinen liebte und bis zur Vollendung (eis telos) lieben wird. Danach wird knapp und präzise berichtet, wie Jesus den Jüngern die Füße wäscht (Joh 13,4f.). In einem Gespräch mit Petrus, das von Missverständnissen geprägt ist, die als typisch johanneisches Stilmittel angesehen werden können und nichts mit der Dummheit der Figur des Petrus zu tun haben, wird schließlich die Bedeutung dieser Fußwaschung erläutert (Joh 13,6-10). Ein Erzählerkommentar in 13,11 beendet den Gedankengang. Petrus stellt zunächst fragend fest, dass Jesus-- angesprochen als der Herr-- ihm die Füße waschen will (13,6). Im Hintergrund steht vermutlich die Annahme, dass ein Schüler dem Lehrer-- und nicht umgedreht-- als Zeichen der Ehrerbietung die Füße waschen kann, denn auf die Lehrer-Schüler- Beziehung geht Jesus später in Joh 13,13f. explizit ein. 49 Die Antwort Jesu (13,7), dass Petrus »jetzt noch nicht« verstehen könne, was wirklich geschieht, erinnert an Joh 2,22; 12,16. Die umfassende Bedeutung der Fußwaschung wird also erst im Rückblick, nach Jesu Erhöhung und Abschied, erkennbar. Im Anschluss an einen weiteren Einwand des Petrus erklärt Jesus geheimnisvoll, dass es in der Fußwaschung um die Teilhabe an ihm selbst geht (13,8). Die Fußwaschung bzw. das, was sie verdeutlicht, steht offensichtlich im Zusammenhang mit dem Heil, das Jesus seinen Jüngern bringt. Dies erscheint für Petrus nun doch erstrebenswert, er möchte quantitativ noch mehr und bittet Jesus, dass er Kopf, Hände und Füße gewaschen bekommt (13,9). Dies sind die Körperteile, die in der Antike dem Staub weitgehend schutzlos ausgeliefert waren und deshalb üblicherweise regelmäßig gereinigt werden mussten. Mit diesem Missverständnis trägt die Erzählfigur des Petrus nun den Aspekt der Reinigung in das Gespräch ein, der bisher explizit noch keine Rolle gespielt hat-- in 13,8 war nur von Teilhabe die Rede. Jesus reagiert darauf eher Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 72 - 2. Korrektur 72 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Hermeneutik und Vermittlung abwehrend und wechselt das Bild von der Fußwaschung zum Bad: Wer gewaschen ist, wer also ein Vollbad genommen hat, ist ganz rein (13,10). 50 Unabhängig davon, wie man diese schwierige Aussage nun konkret interpretiert und in welchem Verhältnis hier die Waschung und die Fußwaschung stehen, lässt sich doch festhalten, dass Jesus für alle Jünger-- mit Ausnahme des Judas-- die Reinheit bereits feststellt. Dies spricht, wenn man den Text beim Wort nimmt, gegen ein Verständnis der Fußwaschung im Sinne von Reinigung. Von der Reinheit der Jünger spricht das Johannesevangelium ansonsten nur noch einmal in 15,3, wo Jesus ebenfalls feststellt, dass die Jünger schon rein sind und zwar aufgrund des Wortes, das er zu ihnen gesprochen hat. Dem entspricht in Joh 13, dass Judas zwar an der Fußwaschung Anteil hatte, ihm aber die von Jesus in 13,10 angesprochene Reinheit gerade fehlt (13,11). Auch der Umstand, dass die Fußwaschung explizit während des Mahls stattfindet (Joh 13,4.12) und eine vorausgehende Reinigung der Füße zur Vorbereitung auf das Mahl also vermutlich bereits stattgefunden hat, legt nahe, dass die Fußwaschung hier weder im Sinne einer Reinigung noch als dem Mahl vorausgehende gastfreundliche Geste dargestellt wird. 51 Blickt man ausgehend von Joh 13,1 auf die erzählte Fußwaschung und den sich anschließenden Dialog, ergibt sich als naheliegende Interpretation, dass Jesus mit der Fußwaschung zeichenhaft seine Liebe zu den Jüngern ausdrückt. Die wahre, tiefere Bedeutung dieser Liebe wird sich den Jüngern erst nach Jesu Tod erschließen, da sich in seinem Tod zeigen wird, dass er sein ganzes Leben hingab aus Liebe für seine Freunde (vgl. Joh 15,9-13). Durch diese Liebe macht Jesus seine Schüler zu seinen Freunden (15,13ff ), die nicht verpflichtet werden, Sklavendienste zu leisten, sondern zu lieben (13,34f; 15,12.17). Die Fußwaschung Jesu wird von Johannes also nicht als Sklavendienst stilisiert, sondern als ein Zeichen seiner innigen, ja intimen Liebe gegenüber den Seinen, die man auf den ersten Blick von einem Lehrer gegenüber seinen Schülern nicht erwarten würde. 5. Die Sendung der Schülerinnen und Schüler Jesu In den ausführlichen, sich an die Fußwaschung anschließenden Abschiedsreden bereitet Jesus seine Jünger auf die Zukunft vor: Nach dem unmittelbar bevorstehenden Abschied Jesu aus dieser Welt wird der Hass der Menschen, die Jesus nicht als Boten Gottes erkennen, sich auf die Jünger Jesu richten (Joh 14,18-16,3). So wie Gott Jesus in die Welt gesandt hat (vgl. 3,16), wird nun Jesus die Seinen senden (17,11-21). Deshalb sollen sie in der Liebe Jesu bleiben, indem sie die Gebote Jesu halten und sich gegenseitig lieben (15,9-12). Gerade angesichts des ihnen bevorstehenden Abschieds Jesu und der Gefahr, von anderen gehasst zu werden, schärft Jesus die Liebe ein (14,17-21). In diesem Kontext findet sich ein Jesuswort, das auch in der sogenannten ethischen Auslegung der Fußwaschung in Joh 13,16 eine zentrale Rolle spielt und hier explizit als bekannt vorausgesetzt und erinnert wird: »Erinnert euch an das Wort, das ich zu euch gesagt habe: Ein Sklave ist nicht grösser als sein Herr« (15,20a). Erläutert wird diese Aussage nun aber nicht mit der Verpflichtung zum Sklavendienst, sondern durch die Bereitschaft, Verfolgungen wegen ihrer Sendung durch Gott bzw. Jesus auf sich zu nehmen: »Haben sie mich verfolgt, so werden sie auch euch verfolgen. Haben sie mein Wort bewahrt, so werden sie auch das eure bewahren« (15,20b). So wie sich die Liebe Jesu zu den Seinen in seiner Lebenshingabe konkretisiert, die auch die Bereitschaft zum Tod einschließt (3,16; 13,1.3; 17,4.23; vgl. 4,34; 5,36; 19,28.30), sollen auch die Seinen, die Freunde Jesu (15,14f ) bereit sein, ihr ganzes Leben einzusetzen, gerade auch im Angesicht von Verfolgungen. 52 Während Petrus nach der Fußwaschung und ihrer Erläuterung durch Jesus unmittelbar Bereitschaft signalisiert, Jesus auf diese Weise nachzufolgen (13,37) und es zumindest »später« (13,36), nach Jesu Tod und Auferstehung auch wirklich tun wird (21,15-19), ist Judas nicht bereit, diesen Weg zu gehen. Er bleibt nicht in der Liebe, die bereit ist, ihr Leben zu geben, sondern er übergibt selbst Jesus an die, die ihn töten wollen (13,2.11.18.21.26 f.30). Es ist also kein Zufall, dass die gesamte Fußwaschungserzählung narratologisch verknüpft ist mit dem Schicksal von Petrus und Judas, die exemplarisch zeigen, wie man-- mit Jesu Hilfe-- in der Liebe bleiben kann bzw. diese verlässt und sich so selbst in die Nacht begibt. Als Jesus sich nach der Fußwaschung wieder an den Tisch gesetzt hat (Joh 13,12), fragt Jesus noch einmal nach der Bedeutung der Fußwaschung, die er als Lehrer an seinen Schülern vollzogen hat (13,13f.). 53 Jesus fordert seine Schüler auf, nach seinem Vorbild zu handeln (13,15). Dass diese Aufforderung nur auf den ersten Blick »Blickt man ausgehend von Joh 13,1 auf die erzählte Fußwaschung und den sich anschließenden Dialog, ergibt sich als naheliegende Interpretation, dass Jesus mit der Fußwaschung zeichenhaft seine Liebe zu den Jüngern ausdrückt.« Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 73 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 73 Anni Hentschel Die Fußwaschung - ein verhindertes Ritual wörtlich verstanden werden soll, erläutert die folgende, feierlich mit einem wiederholten »Amen« eingeleitete und später in Joh 15,20 erneut aufgenommene Feststellung: »Ein Sklave ist nicht größer als sein Herr, und ein Bote (apostolos) ist nicht größer als der, der ihn gesandt hat« (13,16). Eine Seligsprechung derjenigen, die Jesu Worte verstehen und tun (13,17), leitet schließlich erneut über zur Ankündigung des Verrats durch Judas (13,18). Symbolisiert durch die Fußwaschung erweist Jesus den Seinen seine Liebe, die später ihren endgültigen-- aber keineswegs einzigen-- Ausdruck im Tod Jesu finden wird (13,1.7; 15,13; 17,22-26; vgl. Joh 3,16). Jesus fordert von seinen Jüngern, dass sie einander ebenfalls die Füße waschen, was im übertragenen Sinn also nur bedeuten kann, dass sie sich gegenseitig lieben und auf diese Weise die Liebe Gottes in der Welt bezeugen. So realisieren sie den Auftrag Jesu, ihre eigene Sendung. Dies kann jedoch für sie bedeuten, dass sie in Todesgefahr geraten können und bereit sein müssen, wie Jesus das eigene Leben einzusetzen. Gerade angesichts dieser Bedrohung durch Menschen, die die Sendung Jesu durch Gott nicht erkennen, ist es für die Jüngerinnen und Jünger Jesu wichtig, sich gegenseitig zu lieben und so in der Liebe Jesu und Gottes zu bleiben (Joh 13,34f ). Die Jünger werden also vom johanneischen Jesus nur vordergründig aufgefordert, sich gegenseitig die Füße zu waschen, auf einer übertragenen Bedeutungsebene jedoch dazu verpflichtet, dem Lebensbeispiel Jesu zu folgen und selbst ganzheitlich in Wort und Tat zu lieben. Wenn die Aufforderung Jesu, seinem Beispiel zu folgen, wörtlich in Bezug auf das Waschen von Füßen verstanden wird, ist der tiefere Sinn der bildreich-metaphorischen Rede des johanneischen Jesus noch lange nicht ausgeschöpft. Dennoch kann ein Ritual als erneutes In-Szene-Setzen des Handelns Jesu dazu beitragen, dass auch die darin aufgehobenen Sinngehalte wieder neu in unsere Erfahrungswirklichkeit übermittelt werden. Anmerkungen 1 »Franziskus wäscht Häftlingen in Jugendgefängnis die Füße«, Online-Portal der Frankfurter Allgemeine, http: / / www.faz.net/ aktuell/ politik/ die-wahl-des-papstes/ beginnder-osterfeierlichkeiten-franziskus-waescht-haeftlingen-injugendgefaengnis-die-fuesse-12 131 414.html; Zugriff am 30. 09. 2014. 2 G. Nardi, »Gestenspektakel-- Nach Gefangenen wäscht Papst 2014 Behinderten ›unterschiedlicher Religion‹ die Füße«, Portal: Katholisches.info, http: / / www.katholisches. info/ 2014/ 04/ 16/ gestenspektakel-nach-gefangenenwaescht-papst-2014-behinderten-unterschiedlicher-religion-die-fuesse/ ; Zugriff am 30. 09. 2014. 3 Vgl. M. Sievernich, Einführung, in: J. M. Bergoglio SJ, Die wahre Macht ist der Dienst, Aus dem Spanischen von G. Stein, Freiburg im Breisgau 2014, 9-32, 9. 4 Sievernich, Einführung, 13. 5 »Franziskus wäscht Häftlingen in Jugendgefängnis die Füße«, Online-Portal der Frankfurter Allgemeine. 6 Nardi, Gestenspektakel. 7 Nardi, Gestenspektakel. 8 Nardi, Gestenspektakel. 9 Vgl. B. Kötting, Art. Fußwaschung, RAC VIII, 743-777, 772. Die umfassendste Untersuchung der Praxis der Fußwaschung in der Antike ist nach wie vor der RAC-Artikel von Kötting aus dem Jahr 1972; vgl. auch die Monographien zur Fußwaschungserzählung: W. Lohse, Die Fußwaschung (Joh 13,1-20). Eine Geschichte ihrer Deutung, Diss. theol., Erlangen 1967, bes. 9-15; Chr. Niemand, Die Fußwaschungserzählung des Johannesevangeliums, StAns 114, Rom 1993, 177-187; J. C. Thomas, Footwashing in John 13 and the Johannine Community, JSNT.S 61, Sheffield 1991, 26-60. 10 Vgl. H. auf der Maur, Feiern im Rhythmus der Zeit I. Herrenfeste in Woche und Jahr, Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft Teil 5, Regensburg 1983, 105; vgl. auch Kötting, Fußwaschung, 771 f. 11 Vgl. Kötting, Fußwaschung, 772. Auch manche Eremiten verzichteten wohl bewusst auf die Fußwaschung als Zeichen von Luxus, vgl. ders., 771. 12 Kötting, Fußwaschung, 772. 13 Vgl. auf der Maur, Feiern, 105 (hier jedoch mit einer falschen Jahreszahl); Th. Maas-Everd, Art. Fußwaschung, LThK 4, 252-253. 14 Kötting, Fußwaschung, 773. 15 Auf der Maur, Feiern, 105; vergleichbar ist auch die Entwicklung in den orthodoxen Kirchen, s. dazu M. Petzolt, Art. Fußwaschung. II. Orthodoxe Kirchen, RGG4 III, 444. 16 Zur sogenannten Tauffußwaschung vgl. B. Kleinheyer, Sakramentliche Feiern I. Die Feiern der Eingliederung in die Kirche, Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft Teil 7,1, Regensburg 1989, 74-76. 17 Vgl. G. Richter, Die Fußwaschung im Johannesevangelium, BU 1, Regensburg 1967, 29 f.; Kötting, Fußwaschung, 765 f. 18 Kötting, Fußwaschung, 767. 19 Die sündentilgende Wirkung der Nachahmung der Fußwaschung konnte auch bei einem ethischen Verständnis festgehalten werden: gute Werke wie Fasten, Beten und Almosen tilgen Sünden ebenso wie die aktive Durchführung der Fußwaschung an anderen, vgl. Kötting, Fußwaschung, 762 f. 20 Vgl. Richter, Fußwaschung, 5-7. 21 Kötting, Fußwaschung, 764. Diese Vorstellung der Ausrüstung zur Evangeliumsverkündigung wird auch von weiteren altkirchlichen Theologen bezeugt, u. a. von Hieronymus und Augustin, vgl. Richter, Fußwaschung, 31 f. 22 Vgl. Kötting, Fußwaschung, 770; Origenes Is. hom. 6,3 (GCS 33,272f.). 23 Kötting, Fußwaschung, 767. Wenn die Fußwaschung im Anschluss an eine Kindertaufe vollzogen wird, ist es nach Caesarius von Arles die Verpflichtung der Taufpaten, das Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 74 - 2. Korrektur 74 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Hermeneutik und Vermittlung Kind später an die Fußwaschung und dessen ethischmoralische Bedeutung zu erinnern; vgl. ebd.; dazu auch Richter, Fußwaschung, 34. 24 J. Calvin, Auslegung der Heiligen Schrift. 10. Band: Das Evangelium des Johannes, Neukirchen o. J., 362. 25 Zur Unterscheidung zwischen Ritus als dem kleinsten Bestandteil einer rituellen Handlung und Ritual als dem Gesamtgeschehen vgl. B. Lang, Art. Ritual/ Ritus, HRWG IV, 442-458, 444. 26 R. Preul, Art. Ritus/ Ritual III. Dogmatisch, RGG 4 VII, 556f., 556. 27 Vgl. G. Theißen, Rituale des Glaubens, in: A. Michaels (Hg.), Die neue Kraft der Rituale, Heidelberg 2 2008, 11-44, 33, der trotz seiner ausführlichen Darstellung der Dynamik von Ritualen daran festhält, dass Rituale inhaltlich nichts Neues über ihren verbalisierten Sinn hinaus ausdrücken können: »Die Körper-Sprache der Rituale produziert Semantik, aber keinen Effekt über die Effekte hinaus, die wir auch sonst durch Worte und Zeichen erzielen können.« Es stellt sich jedoch die Frage, ob der Sinngehalt eines Rituals als einer vielschichten Zeichenhandlung überhaupt adäquat verbalisiert werden kann. 28 Vgl. dazu R. Preul, Art. Ritus/ Ritual V. Praktisch-theologisch, RGG 4 VII, 558f, 558; dazu auch Chr. Wulf, Die Erzeugung des Sozialen in Ritualen, in: A. Michaels (Hg.), Die neue Kraft der Rituale, Heidelberg 2 2008, 179-200. 29 D. Kolesch, Rollen, Rituale und Inszenierungen, in: F. Jaeger/ J. Straub (Hgg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Band 2: Paradigmen und Disziplinen, Stuttgart 2011, 277-292, 289. 30 Kolesch, Rollen, Rituale und Inszenierungen, 288. 31 Vgl. Ausführliches dazu bei Wulf, Die Erzeugung des Sozialen in Ritualen, 189-197; Kolesch, Rollen, Rituale und Inszenierungen, 288-290. 32 Dazu A. Michaels, Geburt-- Hochzeit-- Tod: Übergangsrituale und die Inszenierung von Unsterblichkeit, in: ders. (Hg.), Die neue Kraft der Rituale, Heidelberg 2 2008, 237- 260, 257: »Viele Ritualelemente und -sequenzen haben eben keinen Anspruch auf eine eindeutige Sinnzuweisung, wie die Essenzsauger ihn gerne hätten.« 33 Vgl. C. Bell, Ritual Theory, Ritual Practice, New York/ Oxford 1992, 81. 34 Vgl. z. B. Apg 4,32-37; 5,12-16; 20,35; 1Kor 13,1-3; dazu A. Hentschel, Gemeinde, Ämter, Dienste: Perspektiven zur neutestamentlichen Ekklesiologie, BThSt 136, Neukirchen-Vluyn 2013, bes. 108-111; dies., Gibt es einen sozial-karitativ ausgerichteten Diakonat in den frühchristlichen Gemeinden? , PTh 97 (2008), 290-306. Dies zeigt sich noch am Aufgabenbereich des Bischofs in der Alten Kirche, der u. a. auch für die Armenfürsorge zuständig war, vgl. W.-D. Hauschild, Art. Bischof II. Kirchengeschichtlich, RGG 4 I, 1615-1618, 1616. 35 Als Beispiele seien hier nur einzelne Kommentare zum Johannesevangelium genannt, die Liste ließe sich beliebig verlängern: U. Wilckens, Das Evangelium nach Johannes, NTD 4, Göttingen 1998, 208 f.; K. Wengst, Das Johannesevangelium, ThKNT 4,2, 2 Stuttgart 2007, 100-102; H. Thyen, Das Johannesevangelium, HNT 6, Tübingen 2005, 585; 587. 36 Vgl. hierzu grundlegend den ausführlichen Artikel von Kötting, Fußwaschung. 37 Kötting, Fußwaschung, 750; Juvenal 3,268-277. 38 Kötting, Fußwaschung, 748; 750. 39 Kötting, Fußwaschung, 743. 40 Lk 7,38.46; vgl. Kötting, Fußwaschung, 754. 41 Kötting, Fußwaschung 750; in TestAbr Rez A 3,6-9; 6,6; TestAbr Rez B 3,6-9; 6,13 wird selbstverständlich vorausgesetzt, dass Abraham den Fremden selbst die Füße wäscht. In der Charakterisierung des Abraham (TestAbr Rez A 4,6), die sich an die Darstellung seiner Gastfreundschaft unmittelbar anschließt, werden sein Erbarmen, seine Gastfreundschaft, seine Gerechtigkeit, Wahrhaftigkeit und Gottesfurcht gelobt, nicht jedoch seine Bescheidenheit oder Demut, die auf einen besonderen Statusverzicht angesichts der eigenhändig durchgeführten Fußwaschung hinweisen würde! 42 Kötting, Fußwaschung, 748; 754; vgl. Plutarch, Phocion 20,2. 43 Kötting, Fußwaschung, 755. 44 Kötting, Fußwschung, 756. 45 Vgl. Mt 15,1.19 f.; Kötting, Fußwaschung, 754 f. 46 Kötting, Fußwaschung, 756 f. 47 Auch bei Josephs erstem Besuch wird die Fußwaschung nicht als Sklavendienst dargestellt, sondern als Ausdruck der Gastfreundschaft, bei dem nur die Handlung an sich, nicht jedoch die ausführenden Subjekte erwähnt werden; vgl. JosAs 7,1. 48 Vgl. Jerusalemer Talmud Pea 15c; vgl. Kötting, Fußwaschung, 758; K.H. Rengstorf, Art. διδάσκω, ThWNT II, 138-168, bes. 157. 49 Narratologisch ist in Joh 13,13 eine Analepse zu erkennen, die sich primär auf Joh 13,6 bezieht. 50 Zu den mit Joh 13,10 verbunden Problemen in Hinblick auf Textkritik und Interpretation vgl. Thyen, Johannesevangelium, 587 mit weiterer Literatur. 51 Die Gastfreundschaft als Hintergrund der Fußwaschung wird betont von A.J. Hultgren, The Johannine Footwashing (13.1-11) as Symbol of Eschatological Hospitality, NTS 28 (1982), 539-546. 52 Als Bereitschaft zum Martyrium versteht Culpepper die Nachahmung des Vorbilds Jesu (Joh 13,15); R.A. Culpepper, The Johannine Hypodeigma: A Reading of John 13, Semeia 53 (1991), 133-152, bes. 142 f.; vgl. dazu auch Mt 10,24, eine Stelle, die ebenfalls einen Verfolgungskontext voraussetzt (Mt 10,16-39). 53 Dies ist nicht die in Joh 13,7 angedeutete soteriologische Bedeutung, sondern ein weiterer, ethisch relevanter Bedeutungsaspekt der Handlung Jesu; vgl. dazu Thyen, Johannesevangelium, 590 f. Vorschau auf Heft 36 »Matthäusevangelium« Mit Beiträgen von: Uta Poplutz, Klaus Wengst, Elaine Wainwright, Michael Schneider, Roland Deines, Manuel Vogel, Johann Michael Schmidt Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 75 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 75 Buchreport Jared C. Calaway The Sabbath and the Sanctuary Access to God in the Letter to the Hebrews and its Priestly Context (Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament 2. Reihe 349) Mohr Siebeck ISBN 978-3-16-152365-6 Preis: 74,00 € Das Thema Kulttheologie spielt für den Hebräerbrief eine große Rolle. Dies ist vor allem an dem einzigartigen neutestamentlichen Motiv, Jesus als einen ewigen Priester nach der Ordnung Melchisedeks darzustellen, erkennbar. Aufgrund seines einmaligen himmlischen Selbstopfers waltet er als Heilsmittler im himmlischen Heiligtum, denn dort herrscht nach der Auffassung des unbekannten Verfassers der einzig wahre Kult, der den Zugang zur Gegenwart Gottes und die Teilnahme am himmlischen Gottesdienst ermöglicht. Jared C. Calaway widmet sich der komplexen Kulttheologie des Hebräerbriefes in seiner überarbeiteten Dissertation, die er 2010 an der Columbia Universität eingereicht hat. Der Titel »The Sabbath and the Sanctuary. Access to God in the Letter to the Hebrews and its Priestly Context« gibt den Leserinnen und Lesern bereits einen Einblick in das, was sie erwartet: Calaway beschäftigt sich mit den Ausführungen des Hebräerbriefs zum Thema Sabbat und Heiligtum, die ohne Zweifel in einen kultischen Kontext gehören. Daneben geht es um den Zugang zu Gott und um den priesterlichen Kontext, der im Hintergrund der Überlegungen steht. Der Untertitel formuliert ein existenzielles religiöses Anliegen, den Zugang zur Gegenwart Gottes. Die Ausgangsfragen des Einleitungskapitels bringen es auf den Punkt: »Who can approach the sacred and enter the divine presence? How is the sacred, and the divine presence within it, created, maintained, and accessed? « (1). Der Beantwortung dieser Fragen stellt Calaway anschließend eine Prämisse voraus: Für jüdische und frühchristliche Gemeinden gab es einige traditionelle Institutionen, die den Akt der Annäherung an Gott als ein Schauspiel mit einer dynamischen Verflechtung von heiligem Raum und heiliger Zeit illustriert haben und zwar innerhalb der priesterlichen Handlungen am Sabbat und im Heiligtum. Dieser kultische Rahmen ist dem Auctor ad Hebraeos von der hebräischen Bibel bis in die Spätzeit des Zweiten Tempels vorgegeben. In einer neuen Situation, die durch die aufstrebende Bewegung der frühen Christusverehrer entsteht, entbrennt eine Diskussion mit der jüdischen Priesterschaft über die Frage »who could mediate the access to the sacred« (1). Unabhängig davon, ob der Hebräerbrief nun früh (60-75 n. Chr.) oder spät (75-115 n. Chr.) zu datieren ist-- Calaway lässt diese Frage bis zum Schluss offen (184-202), obwohl eine Tendenz zur Spätdatierung spürbar ist (14-15)-- verliert die Priesterschaft durch den jüdischen Krieg und die Tempelzerstörung nicht nur ihre Mittlerfunktion, sondern auch den Ort ihrer Wirksamkeit. Die Lösung der Debatte gewinnt damit an Dringlichkeit. Den priesterlichen Rahmen, um den sich die Darlegung dreht, macht Calaway in der hebräischen Bibel, konkret im Pentateuch, bei Ezechiel und bei Tritojesaja aus (18,21-25). Dieser wird im Hebräerbrief christozentrisch verarbeitet. Daneben richtet der Autor die Beziehung zwischen Sabbat und Heiligtum neu aus und stellt die bisherigen Traditionen auf den Kopf, insbesondere dadurch, dass sich alle entscheidenden Kulthandlungen im Himmel abspielen. War der Sabbat vorher ein Zeitpunkt, an dem der Zugang zur göttlichen Gegenwart geöffnet wurde, bekommt er jetzt eine räumliche Funktion zugewiesen, nämlich als göttliche Sabbatruhe und himmlische Heimat (1). Die himmlische Stiftshütte wird hingegen als Zugangsort zeitlich konnotiert, indem diese als etwas, das dem zukünftigen Zeitalter angehört, dargestellt wird. Als Mittler fungiert der einzig wahre Hohepriester, Jesus. Durch seine Treue und seinen Gehorsam ist er der Einzige, der seine Anhänger reinigen, heiligen und vollenden kann, damit ihnen der Zugang zur göttlichen Gegenwart (2) und Sabbatruhe (31) gewährt wird. Bisher konnte in Wahrheit niemand die himmlische Realität Gottes betreten (2; Hebr 11,4), denn dies wurde erst durch das Selbstopfer Jesu möglich (31). Nun spielen die Themen »Sabbat« und »Heiligtum« eine herausragende Rolle in den Sabbatliedern von Qumran. Diese zieht Calaway als Quelle heran, denn sie »open up new vistas for understanding the complex priestly frameworks within the social networks with which the author and audience of Hebrews interacted« (7). Sie bieten als einzige jüdische Texte aus der Zeit des Zweiten Tempels ein Beispiel dafür, dass und wie der Sabbat und die Stiftshütte als himmlische Realität miteinander in Beziehung gesetzt werden (25) und sie beinhalten eine äußerst seltene Erwähnung eines blutigen Opfers, das sich im Himmel abspielt (28). Damit sind sie neben dem Hebräerbrief die einzige bekannte Quelle für solch eine Vorstellung. Die Konstruktion der Stiftshütte nach dem Bilde Gottes, die am Sinai an Mose ergeht (Ex 25-31; 35-40), ist ein weiteres Motiv, das den Hebräerbrief und die Sabbatlieder nach Calaway verbindet (27). Worauf er hinaus will, wird anhand seiner Kritik an einer Tendenz der bisherigen Forschung deutlich, nämlich der verbreiteten Trennung der Bereiche »Sabbat« und »Heiligtum«. Diese Trennung will Calaway überwinden, ebenso die Separation von Raum und Zeit, denn »the relationship between sacred Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 76 - 2. Korrektur 76 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Buchreport space and sacred time provides a helpful way to discuss the historically shifting interrelationships between how people experience the world physically, ritually, and mythically« (20). An dieser Stelle wird offensichtlich, dass Calaway einen ritualtheoretischen Ansatz verfolgt. Sabbat und Heiligtum gehören nämlich nicht nur in einen kultischen Kontext und stehen in einer Wechselbeziehung, sondern »through the processes of myth-making and ritualization« wird gezeigt, »how the sacred is accessed« (21). Schließlich wird die Heiligkeit Gottes gerade räumlich durch das Heiligtum und zeitlich durch den Sabbat für die Menschen erfahrbar (21). Konkret behandelt Calaway dieses Thema im fünften Kapitel (139-177), wenn es um Rituale des Zugangs geht. Schließlich räumt er ein, dass es nicht möglich ist, alle Fragen, die der Hebräerbrief aufwirft, mit einem einzigen Schlüssel zu öffnen, misst seinem Ansatz jedoch eine hohe Erklärungsleistung für ein breites Spektrum an Forschungsfragen zu (11). Die Darstellung ist in sechs Kapitel gegliedert: Introduction (1-31); The Priestly Inheritance of Hebrews (32- 58); Entering God’s Sabbath Rest and the Heavenly Homeland in the Letter to the Hebrews (59-97); Restituating Moses’ ›Pattern‹ of the Tabernacle (98-138); Rituals of Access (139-177); Conclusions (178-206). Wie sieht der priesterliche Rahmen, der das Fundament der Argumentation bildet, aus? Darum geht es im zweiten Kapitel. Es handelt von der Beziehung zwischen Sabbat und Heiligtum in der hebräischen Bibel. Gleich zu Beginn bezieht er sich auf M. Weinfelds Untersuchung 1 , die besagt, dass die Anweisungen zum Bau der Stiftshütte in Ex 25-31 ihren Höhepunkt im Sabbat erreichen (Ex 31,12-17). Literarisch wird die sabbatzentrierte Schöpfungsgeschichte aus Gen 1,1-2,3 reflektiert. Folglich kommt es darauf an, dass Sabbat und Heiligtum in H 2 qualitativ äquivalent behandelt werden (34), was zu einer wichtigen konzeptuellen Veränderung führt: »H substituted the Sabbath for the ›resting-place‹, turning the place of rest into a time of rest and creating a new spatiotemporal dynamic between the sanctuary and the Sabbath« (37). Das Ganze gipfelt in der Ernennung des Sabbats zum heiligen Zeichen der diathēkē (»covenant« 39), die Gott mit seinem Volk am Sinai schließt (Ex 31,12-17). Nichteinhaltung wird mit Tod und Verbannung bestraft. Die neue Raum-Zeit-Dynamik bewirkt schließlich, dass der Sabbat innerhalb der Konstruktion der Stiftshütte literarisch in den Mittelpunkt des Heiligtums rückt. Die Gegenwart Gottes offenbart sich zeitlich und räumlich in Sabbat und Heiligtum, während beide die Schöpfung Gottes imitieren (45). Nachdem die »Holiness School« zur Befolgung des Sabbats aufgerufen hat, warnt Ezechiel vor der Entweihung desselben. Die Entweihung des Sabbats setzt er mit der des Heiligtums gleich (Ez 23,38-39). Ähnliches findet sich in Lev 19 (47). Die Besonderheit dieses Konzepts besteht darin, dass die Heiligkeit des Heiligtums durch den Sabbat in einem tempellosen Kontext erfahrbar wird (51). In Tritojesaja (Jes 56,1-8) prophezeit das Orakel die volle kultische Partizipation am Heiligtum als Belohnung für das Einhalten des Sabbats (54). Sogar Eunuchen und Fremdlinge sind zu dieser kultischen Feier eingeladen, was den Angaben des Deuteronomiums widerspricht (55). Als Fazit hält Calaway fest, dass Ezechiel, H und Tritojesaja theologisch die Ereignisse ihrer Zeit reflektieren und mögliche Gründe für das Exil benennen. Der Hauptgrund liegt vor allem in der Entweihung des Heiligtums und des Sabbats. Fernab des eigenen Landes gewinnt das transportable Zeltheiligtum folglich an großer Bedeutung, denn durch dieses kann die Gegenwart Gottes überall präsent sein. Die Rolle des Sabbats erfährt in diesem Kontext eine Bedeutungssteigerung: Er wird nicht nur zum zeitlichen Zugangspunkt der Heiligkeit des Heiligtums, sondern »the Sabbath is the access to the sanctuary« (58). In welcher Weise formt der Auctor ad Hebraeos diesen vorgegebenen Rahmen in Hebr 3,7-4,11 um? Calaway nennt mehrere Grundvoraussetzungen: Erstens findet im Hebräerbrief eine Transformation der »spatial land-as-rest traditions into a temporal Sabbath rest of God« statt (60). Zweitens ist Hebr 3,7-4,11 mit Hebr 11,1-12,2 in Beziehung zu setzen. Das versprochene Land wird damit zur himmlischen Heimat und Stadt (11,13-16.39-40) und greift auf das himmlische Jerusalem voraus (12,22-24; 13,10-15). Drittens ist das Eingehen in die Sabbatruhe Gottes vor allem vom inthronisierten Sohn und dem Eingehen in das Heiligtum (10,19) abhängig (61). Viertens geht es im Hebräerbrief darum, die Gemeinde zu ermahnen und sie vor einem Glaubensabfall anhand des Beispiels der Wüstengenration zu warnen. Sie sollen dazu animiert werden, Jesu Vorbild nachzueifern, damit sie die Verheißung erlangen (61). Um seiner Ermahnung Nachdruck zu verleihen wird fünftens die Verheißung der Ruhe mit Ps 95 (94LXX) verbunden und umgeformt. »Hebrews empties rest of its expected spatial dimensions and reinterprets it temporally, transforming the sacred space of the land into the sacred time of the Sabbath« (62). Sechstens kann die Exegese des Hebräerbriefs damit in einen weiten priesterlichen Kontext eingeordnet werden. Zum einen geschieht dies durch häufige Assoziationen zum Begriff katapausis in der Septuaginta (heilige Bundeslade, Ruheort im Heiligtum, Ruhe im Land und Gottes Sabbatruhe) (62). Zum anderen finden sich darin Bezugspunkte zum vorgegebenen priesterlichen Rahmen, z. B. in H, denn H erlaubt es, das Land mit den Charakteristika des Heiligtums und eines eigenen Sabbats, der alle sieben Jahre gefeiert wird, zu versehen. Dabei ist zu differenzieren zwischen »the Sabbath day itself and the Day of Atonement« (63). Siebtens ähneln die Vorstellungen des Hebräerbriefs den Traditionen des zeitgenössischen Judentums in der Spätzeit des Zweiten Tempels (Jubiläenbuch, Sabbatlieder). Dort wird der Sabbat nämlich zeitlich in Beziehung mit Himmel und Erde, Engeln und Menschen gesetzt und als Eingang in die himmlische Realität bezeichnet. Achtens ist die Sabbatruhe im Hebräerbrief mit Gottes Sabbat gleichzusetzten, sie ist ein göttlicher Seinsstatus, der nur in der himmlischen Wirklichkeit real erfahrbar ist. Im Hebräerbrief »it is only accessible in the authors’s present, ›today‹ through obedience and faithfulness and through the perfected perfecter of faith, Jesus« (63). Der Sabbat ist folglich Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 77 - 2. Korrektur ZNT 35 (18. Jg. 2015) 77 keine wöchentliche Ruhepause mehr, die es erlaubt der göttlichen Gegenwart nahe zu kommen, sondern ein anhaltender himmlischer Zustand, den man bestrebt ist zu betreten. Soweit die wichtigsten Punkte zum Transformationsprozess in Hebr 3,7- 4,11 (59-63). Ein paar Elemente, die den Prozess explizit fördern, wollen zusätzlich veranschaulicht werden: Der Transformationsprozess wird zum einen durch das Septuagintazitat von Ps 95 (94LXX) begünstigt. Während der masoretische Text die Ortsnamen Meriba und Massa anführt (Ps 95,8), steht in der LXX parapikrasmos (»Auflehnung«) und peirasmos (»Versuchung«). Damit verändert sich der Sinn des Zitats, der räumliche Sinn wird durch einen Handlungsbezug ersetzt (64). Zum anderen wird der ungehorsamen Wüstengeneration eine Ansammlung an gehorsamen Glaubenszeugen in Hebr 11,1-12,2 gegenübergestellt. Auch sie konnten die Verheißung nicht erlangen, obwohl sie den Befehlen Gottes gefolgt sind. Kanaan war in Wahrheit nämlich nicht das versprochene Land, sondern der Himmel (68). Die verheißene Ruhe ist demnach nicht bloß Land oder himmlische Heimat, sondern »holy time, the Sabbath, God’s seventh-day rest of creation« (75). Indem der Verfasser des Hebräerbriefs das Motiv der katapausis mit katepausen (»er ruhte«) in Gen 2,2 verbindet, setzt er den Begriff der Ruhe mit dem der Sabbatruhe gleich. Zusätzlich benutzt der Autor in Hebr 4,16 das Hapaxlegomenon sabbatismos (79). Dieser Ausdruck unterstreicht womöglich den neuen dauerhaften Seinsstatus des Sabbats. Wegen der vorgegebenen priesterlichen Tradition ist es für Calaway nicht überraschend, dass der Hebräerbrief »relates entering Sabbath rest to approaching the throne and entering the sanctuary in the exhortation« (80). Dabei imitieren die Anhänger im kultischen Akt des Betretens der Sabbatruhe und des Heiligtums Gott und Jesus (eiserchomai: »eintreten«; proserchomai: »hinzutreten«; engizomai: »sich nähern«). Speziell die Priester gehören zum Personenkreis derer, die sich Gott nähern dürfen (Hebr 10,1). Die Sprache ist »high priestly« und während die Glaubenden »imitate God […] [and] Jesus« werden sie zu »heavenly high priests themselves. But it all begins with Sabbath rest, a day, in fact the day, today, a new Day of Atonement« (80). Wie verhält es sich schließlich mit den »rituals of access« im Hebräerbrief? Als Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die »ritualization of Jesus’ crucifixion« zu nennen, denn diese führte zu seiner Inthronisierung und gestattet es seinen Anhängern, das himmlische Heiligtum und die Sabbatruhe zu betreten (139). Ritualisierung versteht Calaway in Anlehnung an Bell 3 als einen Prozess »by which certain objects, events, times, and places are set apart from their mundane counterparts« (139, FN 1). Dieser Vorgang führt einerseits zur Manipulierung des ursprünglichen Kontexts einer Aussage (142). Andererseits zeigt sich, dass viele Aussagen auf einem Vorgängermodell einer bestimmten Erzählung beruhen, die wiederum als Modell für die nächste Erzählung dient. Dabei wird ersichtlich, dass »the textualization that accompanies ritualization« (143) das einzige Fenster ist, das wir besitzen. In einer ritualisierten Umgebung können Texte in einer Vielzahl an Möglichkeiten Anwendung finden. Gerade für das Verständnis von antiken Riten ist diese Zugangsweise entscheidend, um »the representation of ritualization« zu interpretieren, gerade wenn es darum geht »how rituals align sacred space and time« (144). Mit dieser Strategie will Calaway beweisen, dass der Auctor ad Hebraeos bestimmte Traditionen aus der hebräischen Bibel aufnimmt und diese innerhalb von neuen sozio-historischen Bedingungen verarbeitet und aktualisiert. Den Fokus legt er dabei auf das einmalige Selbstopfer Jesu und die Frage, wie dieses im Hebräerbrief zu einem neuen und unwiederholbaren Versöhnungstag wird, der in seinem ursprünglichen Kontext eigentlich ein Sabbat ist (144): »This ritual event relies upon previous iterations of the Day of Atonement, which in H shares the characteristics of the Sabbath« (140). Letztendlich ist dieses Ereignis die »story of Hebrews« (140), die die himmlische Raum-Zeit miteinander verknüpft. Fasst man die bisherigen Erkenntnisse zusammen, so bildet der priesterliche Rahmen m. E. den Kontrapunkt der Untersuchung von Calaway. Die Aussagen des Hebräerbriefs sind die alternierende Stimme. Die Melodie erklingt hauptsächlich in dem Transformationsprozess des (himmlischen) Sabbats und (himmlischen) Heiligtums. Doch ergeben sich in meinen Augen an einigen Stellen Dissonanzen in der Komposition. Calaways Deutung des Begriffs proserchomai als kultischen Terminus (80) erscheint mir problematisch. Dieser ist, wie Riggenbach 4 und Gräßer 5 gezeigt haben, kein terminus technicus für das Nahen des Priesters zu Gott, weder im Hebräerbrief (vgl. 10,1; 7,25), noch im Alten Testament (vgl. Ex 16,9; Lev 9,5). Der Begriff wird höchstens in einem Kontext gebraucht, in dem der Priester durch das Herantreten die Absicht verfolgt, einen heiligen Dienst zu verrichten (vgl. Lev 9,7f; 21,17f; Num 16,40). Auch möchte ich der Behauptung, dass die Glaubensgemeinde »as heavenly high priests themselves« im himmlischen Heiligtum agiert und Jesus nachahmt (80, 176-177), widersprechen. Für den Auctor ad Hebraeos gibt es nur einen einzigen wahren Hohenpriester, nämlich Jesus, der im Himmel in seiner Mittlerfunktion waltet und seinen Anhängern den Zugang in das Allerheiligste öffnet. Ihre Nachahmung besteht darin, seinem Vorbild in Gehorsam und Glaubenstreue nachzueifern, damit sie der anstehenden Vollendung teilhaftig werden können. Nicht eindeutig beantwortet bleibt die Frage, ob der Hebräerbrief platonische oder nicht-platonische Begriffe benutzt. In der Einleitung behauptet Calaway »Hebrews does often use Platonic-sounding language« (10) und später »Hebrews consistently uses Platonic terms in un-Platonic ways« (108). Das Verhältnis von Raum und Zeit erscheint mir etwas eingeengt, da sich dieses bei Calaway im Grunde nur zwischen Sabbat und Heiligtum bewegt. Dies ist selbstverständlich dem Thema geschuldet. Die Verschränkung der perfektischen, präsentischen und futurischen Aussagen sowie ihr spannungsgeladenes Verhältnis zueinander lassen sich allerdings nicht dadurch auflösen, dass der Sabbat räumliche und die Stiftshütte zeitliche Charakteristika zugesprochen bekommen (29). Eine Verschränkung von Raum und Zeit im Ritual als Lösungsansatz scheint mir an dieser Stelle ein produktiver Irrtum zu Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 78 - 2. Korrektur 78 ZNT 35 (18. Jg. 2015) Buchreport sein. Hier wäre es sinnvoller, den Fokus auf den gesamten Hebräerbrief zu legen, da anders die komplexe Zeitstruktur nicht angemessen erfasst werden kann. Insgesamt ist Calaways Darstellung gut komponiert. Seine Thesen und Argumente sind klar formuliert und ausführlich begründet. Die Sabbatlieder als eine Quelle zu benutzen, erscheint mir zum gegenwärtigen Stand der Hebräerbriefforschung förderlich zu sein. Calaway fertigt sogar eine eigene Übersetzung der relevanten Stellen an. Beide Schriften unter den Oberbegriffen »Sabbat« und »Opfer/ Heiligtum« in Beziehung zu setzen, ist als Gewinn anzusehen. In diesem Kontext erweist sich ein ritualtheoretischer Ansatz als fruchtbar. Die »broad similarities and rare traits« zwischen den Sabbatliturgien und dem Hebräerbrief müssen allerdings explizit differenziert werden (182). Diese sind m. E. auf das Alte Testament insgesamt zurückzuführen. Ob der unbekannte Verfasser die Vision eines urbildlichen Tabernakels tatsächlich genauso verarbeitet wie die Sabbatlieder (184), ist fraglich. Genauso ist in Bezug auf das himmlische Opfer zu unterscheiden. Dieses ist in der Sabbatliturgie das Ziel des himmlischen Kultgeschehens, während das Opfer Jesu im Hebräerbrief einem bestimmten Zweck dient. Es scheint mir, dass die Sabbatlieder dabei helfen können strukturell-thematische Vergleiche anzustellen, jedoch wenig dazu beitragen, wenn es um traditionsgeschichtliche oder ganz konkrete Fragen zum Hebräerbrief geht. Dieser Sachverhalt bedarf demnach einer weiterführenden Diskussion. Positiv finde ich den Ausblick auf künftige Forschungsideen zu diesem Thema (202-206). Beachtenswert ist auch die Auswahl der Literatur: Es finden sich viele wichtige deutsche Titel, was im anglo-amerikanischen Raum keine Selbstverständlichkeit darstellt. In Anlehnung an Backhaus kann ich abschließend sagen, dass der Hebräerbrief »ein harter Knoten« 6 ist, der sich durch das Herausziehen einzelner Fäden nicht lösen lässt. Calaway nimmt diese Herausforderung dennoch an und leistet einen Beitrag zu einer Annäherung an ein kompliziertes Thema. (rez. von Elena Belenkaja) Anmerkungen 1 M. Weinfeld, Sabbath, Temple and the Enthronment of the Lord-- the Problem of the Sitz im Leben of Genesis 1: 1-2: 3, in: A. Caquot/ M. Delcor (Hg.), Mélanges bibliques et orientaux en l’honneur de M. Henri Cazelles (AOAT 212), Neukirchen- Vluyn 1981, 501-512. 2 Calaway benutzt dieses Kürzel für die »Holiness School« und nicht für den Heiligkeitstext, vgl. Calaway, The Sabbath and the Sanctuary, 32, FN 1. 3 Vgl. C. Bell, Ritual Theory, Ritual Practice, Oxford 1992. 4 E. Riggenbach, Der Brief an die Hebräer (KNT 14), Leipzig/ Erlangen 2/ 3 1922 (Nachdruck: Wuppertal 1987), hier: 121 f. 5 E. Gräßer, An die Hebräer (EKK XVII/ 1),Zürich/ Neukirchen-Vluyn 1990, hier: 259. 6 Der Begriff geht zurück auf Luther; vgl. dazu K. Backhaus, Zwei harte Knoten: Todes- und Gerichtsangst im Hebräerbrief, in: NTS 55 (2009), 198-217, hier: 199. Bruno Kern Theologie der Befreiung UTB S, 2013, 144 Seiten, €[D] 12,99 ISBN 978-3-8252-4027-1 Die Theologie der Befreiung ist einer der wirkmächtigsten Ansätze systematischer Theologie aus jüngerer Zeit. Die Kenntnis von Geschichte, Methode und Hauptinhalten ist im Theologiestudium beider großer Konfessionen Grundvoraussetzung. Innerhalb des theologischen Diskurses wurden zentrale Gedanken der Theologie der Befreiung von vielen anderen Ansätzen systematischer Theologie rezipiert, etwa von der „Politischen Theologie“ (J. Moltmann, J.B. Metz), der Feministischen Theologie u.ä. Der Band fasst die Grundinformationen zu dieser wichtigen theologischen Strömung zusammen und erläutert sowohl die theologischen Grundlagen als auch die Auswirkungen in der Kultur und Kirche der Gegenwart. Die „Hinwendung zu den Armen“ im Christentum wird so greifbar und verständlich. Glossar und Chronologie vervollständigen den Überblicksband. utb. E i n e A u s wa h l u n s e r e r S t u d i e n b ü c h e r Martin H. Jung Kirchengeschichte UTB basics 2013, 300 Seiten, 30 s/ w Abb. €[D] 22,99 ISBN 978-3-8252-4021-9 Eine Kirchengeschichte kann heute nur als Geschichte des Christentums geschrieben werden, die das Christentum als Religion unter Religionen ansieht und behandelt, dabei auch die außerkirchlichen Vernetzungen und Wirkungen berücksichtigend. Dieses Lehrbuch vermittelt verständlich und übersichtlich das Basiswissen dazu und errr läutert historische Zusammenhänge ebenso wie theologische Ideen und Grundeinsichten in ihren geschichtlichen Kontexten. Zudem bietet es Begriffserklärungen und Arbeitsaufgaben sowie Hinweise zu kirchengeschichtlichen Klausuren und Hausarbeiten. Melanie Köhlmoos Altes Testament UTB basics 2011, VIII, 334 Seiten €[D] 19,90 ISBN 978-3-8252-3460-7 Das kompakte Lehrbuch bietet Theologiestudierenden in Bachelor- und Lehramtsstudiengängen, die das komplexe Fach Altes Testament in wenigen Lehrveranstaltungen erfassen müssen, einen Gesamtüberblick über Entstehung, Geschichte und Theologie des Alten Testaments. Die verrr ständliche Einführung in die historischen, literaturrr wissenschaftlichen und theologischen Grundlagen der alttestamentlichen Wissenschaft setzt keine bibelwissenschaftliche Vorbildung oder Kenntnisse der Alten Sprachen voraus und nimmt immer auch die spätere Berufspraxis der Studierenden in Schule oder Gemeinde in den Blick. Stefan Alkier Neues Testament UTB basics 2010, XII, 313 Seiten €[D] 19,90 ISBN 978-3-8252-3404-1 Den Theologiestudierenden in Bachelor- und Lehrr amtsstudiengängen stehen für den Erwerb der nötigen Grundkenntnisse im Fach Neues Testament in der Regel nur wenige Lehrveranstaltungen zur Verfügung. Zugeschnitten auf dieses Zielpublikum bietet das durch ein Online-Lernportal ergänzte Lehrbuch eine Einführung in die historischen, literaturwissenschaftlichen, hermeneutischen und theologischen Grundlagen der neutestamentlichen Wissenschaft. Ein Band, der elementarisiert, aber nicht simplifiziert, wissenschaftlich up to date ist und der keine bibelwissenschaftliche Vorbildung oder Kenntnisse der Alten Sprachen voraussetzt. Historische, theologische und gegenwartsorientierte Fragestellungen verbinden sich zu einem schlüssigen Konzept. Kurt Erlemann / Thomas Wagner Leitfaden Exegese Eine Einführung in die exegetischen Methoden für das BA- und Lehramtsstudium UTB M 2013, X, 154 Seiten €[D] 19,99 ISBN 978-3-8252-4133-9 Die historisch-kritische Analyse biblischer Texte ist die Grundlage des Studiums der Schriften des Alten und des Neuen Testaments. Der vorliegende Band führt die Leser in die Auslegung der kanonischen Endgestalt der biblischen Texte ein, die Zeugnisse authentischer Modelle der Rezeption und Anwendung von Überlieferungen in frühjüdischen und frühchristlichen Kontexten sind und in dieser Form wegweisend für die Rezeption biblischer Texte wurden. Neben einer Einführung in die einzelnen Methodenschritte bietet dieser Band zahlreiche Beispieltexte aus der universitären Praxis. Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 18.05.2015 - Seite 77 - 2. Korrektur Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Eve-Marie Becker / Stefan Scholz (Hrsg.) Auf dem Weg zur neutestamentlichen Hermeneutik Oda Wischmeyer zum 70. Geburtstag 2014, 152 Seiten €[D] 19,99 ISBN 978-3-7720-8556-7 Diese Festgabe präsentiert einen zentralen Text aus den Arbeiten von Oda Wischmeyer zur Hermeneutik des Neuen Testaments und zeigt durch Repliken aus den Bereichen der neutestamentlichen Wissenschaft, der Patristik, der Religionspädagogik und der Linguistik, wie vielfältig wirksam der Denkansatz dieser Theologin geworden ist. Dokumentiert wird „Kanon und Hermeneutik in Zeiten der Dekonstruktion. Was die neutestamentliche Wissenschaft gegenwärtig hermeneutisch leisten kann“, die kommentierenden und weiterführenden Texte stammen von Barbara Aland, Eve-Marie Becker, Mechthild Habermann, Uta Heil, Dietrich-Alex Koch, Martin Meiser, Stefan Scholz und Wolfgang Wischmeyer.