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ZNT – Zeitschrift für Neues Testament
znt
1435-2249
2941-0924
Francke Verlag Tübingen
121
2015
1836 Dronsch Strecker Vogel
Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 09.11.2015 - Seite 1 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 1 Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, die neutestamentliche Schrift, der dieses Heft der ZNT gewidmet ist, heißt im aktiven Wortschatz der Bibelwissenschaft bisweilen auch heute noch »das erste Evangelium«. Diesen Platz hat es zwar eingebüßt, als sich in der neutestamentlichen Wissenschaft die Markuspriorität durchsetzte, aber seinen kanonischen Rang als erstes der Vier seinesgleichen hat das Matthäusevangelium doch behalten. Ungeachtet aller kanonischer und wissenschaftlicher Rangfolgen und Platzvergaben ist aber das theologische Eigengewicht seiner Theologie unbestritten und seine unverwechselbare Stimme nicht zu überhören. Ein möglicher Weg der Annäherung besteht darin, sich genauer mit denjenigen Stoffen zu befassen, die im synoptischen Vergleich nur bei Matthäus vorkommen. Diesen Weg beschreitet Uta Poplutz unter der Rubrik »NT aktuell«. Sie gibt einen informativen und instruktiven forschungsgeschichtlichen Einblick in die Arbeit am sogenannten matthäischen »Sondergut«. Ihr Beitrag macht deutlich, in welchem Maße Auffassungen von der Stellung des Matthäusevangeliums in der Theologiegeschichte des 1. Jh. mit quellenkritischen Hypothesen zur synoptischen Frage zusammenhängen. Aktuell ist dieser Beitrag nicht zuletzt deshalb, weil er den neuerdings wieder intensiv und grundsätzlich geführten Debatten um die Zweiquellentheorie und alternative Benutzungstheorien Rechnung trägt. Klaus Wengst eröffnet die Rubrik »Zum Thema« mit einem Beitrag zum matthäischen Verständnis der Tora. Wengst plädiert entschieden dafür, das Matthäusevangelium in seinem originären jüdischen Denk- und Lebenszusammenhang zu belassen und unterlegt seine Position mit Vergleichstexten des rabbinischen Judentums, die nicht nur sachlich, sondern auch philologisch einschlägig sind. Michael Schneider nimmt das Matthäusevangelium literaturtheoretisch in den Blick: Er wendet die von Michail Bachtin geprägten Begriffe der Dialogizität und der Polyphonie auf die Frage an, wie die vielfältigen »Gegner« textfunktional in der Jesus-Erzählung des ersten Evangeliums zu positionieren sind. Bachtins Ansatz erweist sich als geeignet, Textstrukturen offenzulegen, die einer starren und eindeutigen Konstruktion von Identität und Alterität zuwider laufen. Stefan Alkier bietet im ersten Teil seines Beitrages einen wertvollen Überblick zu den wichtigsten Ausprägungen und Begriffen biblischer Intertextualitätsforschung. Wichtige Stichworte hieraus sind: Die »Dezentralisierung von Sinn« und die Rede vom Kanon als »Spielfeld« unbegrenzter Kombinationsmöglichkeiten eines begrenzten Zeichenbestandes. In einer intertextuellen Skizze zum gesamten Matthäusevangelium wird deutlich, dass die matthäische Jesusgeschichte auf Schritt und Tritt eng (aber nicht beengend) mit den Schriften Israels verwoben ist. Die »Kontroverse« dieses Heftes, die von Roland Deines und Manuel Vogel bestritten wird, ist mit der Frage befasst, wie Ethik und Christologie innerhalb des Matthäusevangeliums zueinander ins Verhältnis zu setzen sind. Die beiden Positionen bringen sich in aller wünschenswerten Klarheit gegeneinander in Stellung: Auf der einen Seite steht die Auffassung von Christus als Lehrer, zu dessen Schüler wird, wer seine Lehre befolgt, und auf der anderen eine Christologie, in der es zuerst und vor allem um die Christusbindung im Glauben geht, unbenommen ethischer Konsequenzen. Unter der Rubrik »Hermeneutik und Vermittlung« nimmt Elaine M. Wainwright die Leserinnen und Leser mit auf eine Reise durch ihre eigene akademische Biographie als Matthäusforscherin. Sie beschreibt ihren Weg, auf dem zur feministischen und zur sozialgeschichtlichen Exegese ein ökologischer Ansatz hinzugekommen ist, und sie erprobt jede dieser Methoden am selben Matthäustext, der Schritt für Schritt an Bedeutung gewinnt. Die beiden Rezensionen unter der Rubrik »Buchreport« beschließen das Heft mit der Besprechung zweier Neuerscheinungen, die aus ganz unterschiedlichen Wissenschaftstraditionen stammen und auf ihre Weise die Vielseitigkeit heutiger Interpretationen des ersten Evangeliums unter Beweis stellen. Wir hoffen, dass dieses Heft dazu beträgt, dass das Matthäusevangelium sich von seinen vielen besten Seiten zeigen kann, und wir wünschen unseren Leserinnen und Lesern eine anregende Lektüre. Stefan Alkier Eckart Reinmuth Manuel Vogel Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 2 - 4. Korrektur 2 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Die sogenannte Zwei-Quellen-Theorie, die lange Zeit, nämlich seit ihrer Ausformulierung Anfang des 19. Jahrhunderts bis hinein in die zeitgenössische Exegese, von den meisten v. a. deutschsprachigen Neutestamentlerinnen und Neutestamentlern als Lösung des synoptischen Problems akzeptiert wurde, ist in den letzten Jahren verstärkt in die Kritik geraten. 1 Begründet wurde sie im Jahre 1838 von Christian Hermann Weiße, 2 der neben der Annahme der Markuspriorität vermutete, dass Matthäus und Lukas eine nicht mehr erhaltene Sammlung von Jesusworten sowie jeweils eine weitere Quelle zur Verfügung standen; die 1863 erschienene Studie Die synoptischen Evangelien von Heinrich Julius Holtzmann 3 beförderte diese Hypothese (auch wenn sich Holtzmann später davon distanzierte), 4 die dann erstmals nachhaltig im Jahre 1890 von Johannes Weiß 5 vertreten wurde. Mithilfe dieser Theorie wird die Frage beantwortet, wie die offenkundigen literarischen Übereinstimmungen zwischen den drei synoptischen Evangelien Matthäus, Markus und Lukas zu erklären sind. Die Antwort der Zwei-Quellen-Theorie lautet: durch Benutzung. Demzufolge wurde das Markusevangelium, das den Erzählfaden für Matthäus und Lukas bereitstellte, von beiden Seitenreferenten unabhängig voneinander als erste Quelle verwendet. Neben dem Markusevangelium hatten Matthäus und Lukas, die einander nicht kannten, Zugriff auf eine zweite schriftliche Quelle, die Spruchquelle oder Logienquelle, für die sich seit der Einführung durch Johannes Weiß als Abkürzung das Sigel »Q« durchgesetzt hat. Auf je eigene Art und Weise haben Matthäus und Lukas die Stoffe dieser zweiten Quelle- - die mit Recht auch als Spruchevangelium bezeichnet werden kann 6 -- dann in den Erzählfaden des Markusevangeliums eingearbeitet. 7 Da im Gegensatz zum Markusevangelium die Logienquelle eine rein hypothetische Größe ist, die aufgrund des parallelen Materials bei Matthäus und Lukas rekonstruiert wurde, ist in Bezug auf das Textkorpus, das im Jahre 2000 unter dem leicht irritierenden Titel The Critical Edition of Q als international anerkanntes Referenzwerk publiziert wurde, 8 durchaus mit Unsicherheiten im konstatierten Textumfang zu rechnen. Für die Bestimmung des matthäischen »Sonderguts«, um das es hier geht, ist das möglicherweise von erheblicher Relevanz. 9 Denn dass das Markusevangelium und die Logienquelle nicht die einzigen von Matthäus und Lukas verwendeten Überlieferungen waren, wurde bei der Frage nach den matthäischen und lukanischen Sondertraditionen sichtbar. Es bürgerte sich ein, dasjenige Textgut, das in zum Teil großem Umfang singulär entweder bei Matthäus oder bei Lukas anzutreffen ist, als »Sondergut«, bzw. als »Special Material« zu bezeichnen. 10 Diese äußerst offene Benennung bezieht sich dabei aber zunächst auf eine rein quantitative und aufgrund eines Ausschluss- oder Subtraktionsverfahrens gewonnene »Restkategorie« 11 und beinhaltet noch keine Aussagen über ihre Qualität. Ob dieses »Sondergut« auf mündlichen oder schriftlichen Traditionen beruht und ob es sich-- falls man Argumente für schriftliche Vorlagen findet-- um eine oder mehrere identifizierbare Quellen handelt, waren und sind die wichtigsten Fragen bei der Bestimmung dieses Materials, das außerhalb des Matthäusbzw. Lukasevangeliums in der Regel keine direkten Parallelen aufweist. 12 Bei dem Versuch, das »Sondergut« zu identifizieren, erkennt man den prägenden Einfluss der gerade aktuellen exegetischen Vorstellungen und Methoden. Während man in jüngster Zeit aufgrund intensiver redaktionskritischer und narratologischer Analysen die Rolle der Evangelisten als Schriftsteller und inhaltlich wie formal gestaltender Komponisten vorliegender mündlicher und schriftlicher Traditionen so hoch einschätzt, dass es keine zwingende Notwendigkeit (oder gar Möglichkeit) gibt, weitere hypothetische Quellen zu postulieren, war die Situation Anfang des 20. Jahrhunderts, d. h. vor dem Aufkommen der Redaktionskritik 13 und im Windschatten der letzten Ausläufer der liberalen Leben-Jesu-Forschung, eine andere. Uta Poplutz »M-Quelle« oder Konglomerat? Forschungsüberblick zum sogenannten matthäischen »Sondergut« Neues Testament aktuell »Es bürgerte sich ein, dasjenige Textgut, das in zum Teil großem Umfang singulär entweder bei Matthäus oder bei Lukas anzutreffen ist, als ›Sondergut‹ [...] zu bezeichnen.« »Bei dem Versuch, das ›Sondergut‹ zu identifizieren, erkennt man den prägenden Einfluss der gerade aktuellen exegetischen Vorstellungen und Methoden.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 3 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 3 Uta Poplutz »M-Quelle« oder Konglomerat? »The comparison of the gospels certainly suggests that these passages constituted a source of our gospel Matt. It is in favour of the supposition that they were in fact contained in, or constituted, the original collection of sayings of Jesus to which Papias refers, that it conforms to this ancient and undisputed tradition, and that it explains, as no theory which makes the Matthean Logia a source of both Matt. and Luke or of all three synoptics can explain, how the present gospel of Matt. obtained the name.« 17 Laut Burton übernahm das erste Evangelium den Namen des vorliegenden älteren Dokuments-- »Matthäus«--, das nach seinem von Papias beschriebenen Autor, dem Apostel Matthäus (Eus., Hist. Eccl. 3,39,16), betitelt war und von Burton das Kürzel »M« erhielt. Für Burton stand außer Frage, dass »M« eine konsistente Quelle war, da sie ja mit den von Papias erwähnten Logia identisch sei. Und so stellte er auch keine Untersuchungen zu Kohärenz, Stil oder traditionsgeschichtlichen Fragen wie dem Sitz im Leben an. Das änderte sich mit Burnett Hillman Streeter. In seiner klassischen Ausformulierung einer »Vier-Quellen- Theorie«, die er 1924 mit der Studie The Four Gospels. A Study of Origins 18 vorlegte, formulierte er den Gedanken, dass Matthäus und Lukas über ihre beiden Quellen Markus und »Q« hinaus jeweils eine 19 weitere schriftliche Quelle zur Verfügung stand. Wie Burton zuvor verwendete auch Streeter für die matthäische »Sondergutquelle« das Sigel »M«. Diese »Vier-Quellen-Hypothese«, die es möglich machte, alle Evangelienstoffe der Synoptiker klar bestimmbaren Quellen zuzuordnen, fand vor allen Dingen in der angelsächsischen Forschung in den Jahren unmittelbar nach Streeter Beachtung. 20 Vor Streeter hatte man zwar ebenfalls das Problem der matthäischen und lukanischen Sondertraditionen gesehen, führte diese jedoch zumeist auf verschiedene Rezensionen der Logienquelle (Q Mt und Q Lk ) zurück, eine auch heute noch populäre Auffassung. 21 Mit Recht setzte Streeter dem entgegen, dass es eine positiv nicht begründbare Annahme sei, Matthäus und Lukas hätten als einzige schriftliche Quellen lediglich die »Big Two« gekannt und verwendet. 22 Dieser Punkt verdient auch deswegen besondere Beachtung, da ja von den »Big Two« lediglich eine Quelle-- nämlich das Markusevangelium-- in schriftlicher Bezeugung vorliegt, während die andere- - die Logienquelle-- eine rein hypothetische Rekonstruktion darstellt, so dass sie eben in jüngerer Zeit wieder verstärkt in Zweifel gezogen wird. 23 Weitere Re- Aufgrund der erzielten Fortschritte in der Formulierung der Zwei-Quellen-Theorie war man-- v. a. in der angelsächsischen Exegese-- recht optimistisch, weitere literarische Quellen rekonstruieren zu können. Ein Blick in die Forschungsgeschichte soll die wichtigsten Stationen auf der Suche nach der oder den »Sondergutquelle(n)« des Matthäusevangeliums nachzeichnen, um auf dieser Basis mögliche neue Vorstöße anzuregen. 1. Die »M«-Quelle der älteren Forschung Der erste, wenngleich in diesem Zusammenhang am häufigsten übersehene Exeget, der die Subtraktionsmethode zur Isolierung matthäischer Sondertraditionen anwandte, war Ernest DeWitt Burton im Jahre 1904 mit seiner Studie Some Principles of Literary Criticism and their Application to the Synoptic Problem. 14 Er erstellte eine Liste von nicht bei Markus oder Lukas belegtem matthäischen Material, die eine Sammlung von 230 Versen mit jesuanischen Sprüchen umfasste. 15 Diese Sprüche setzte Burton mit den Logia kyriaka in Papias Testimonium in Verbindung: 16 Prof. Dr. Uta Poplutz ist Universitätsprofessorin für Biblische Theologie mit dem Schwerpunkt Exegese und Theologie des Neuen Testaments am Katholischen Institut der Bergischen Universität Wuppertal. Nach Promotion (Universität Würzburg, 2003) und Habilitation (Universität Luzern, 2009) führte sie eine Lehrstuhlvertretung zunächst an die Universität Mainz (2009/ 10) und dann direkt nach Wuppertal (2010). Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen zur Zeit das Matthäus- und das Johannesevangelium. In den letzten Jahren galt ein besonderes Interesse der Narratologie, für die an der Universität Wuppertal mit dem renommierten Zentrum für Erzählforschung (ZEF) exzellente interdisziplinäre Austauschmöglichkeiten bestehen. Prof. Dr. Uta Poplutz »Weitere Rezensionen einer nicht vorhandenen Quelle zu postulieren, erscheint [...] zwar einfacher, aber kaum weniger spekulativ, als andere mögliche schriftliche Quellen in die Diskussion einzubeziehen.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 4 - 4. Korrektur 4 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Neues Testament aktuell zensionen einer nicht vorhandenen Quelle zu postulieren, erscheint somit zwar einfacher, aber kaum weniger spekulativ, als andere mögliche schriftliche Quellen in die Diskussion einzubeziehen. Und so ist »M« für Streeter eine in Umfang und Gestalt ähnlich zu gewichtende Größe wie »Q«. Anders als Burton diskutierte Streeter nun auch erstmals die Herkunft von »M«. Seiner Ansicht nach wurde »M« um 60 n. Chr. in Jerusalem kompiliert, und zwar als späteres judaistisches Gegengewicht gegen den petro-paulinischen Liberalismus im Umgang mit der Heidenmission und der Frage nach der Gesetzesobservanz. 24 Die Logienquelle »Q« hingegen verortete er in Antiochien und sah in ihr ein deutlich pro-heidnisches Dokument, das den Völkern aber nicht ganz so tolerant wie das paulinische Christentum gegenüberstehe. Da es nach Streeter Überschneidungen von »M« und »Q« gibt, würde »M« immer die judaistischere Version transportieren, während »Q«-- wie in Lukas erhalten--, die heidenchristenfreundliche Position umfasst. Auch wenn sich Streeter mit seinem Vorschlag einer »Vier-Quellen-Theorie« nicht durchsetzen konnte, weil das »Sondergut« in Matthäus und Lukas jeweils viel zu disparat ist, als dass man es unkompliziert einer einzigen Quelle zuschreiben kann, 25 blieb seine Studie einflussreich, da sie dazu motivierte, das Sondergut auf der Suche nach identifizierbaren schriftlichen und/ oder mündlichen Vorlagen eingehender zu analysieren. Einer, der den Gedanken von Streeter weiterführte und das gesamte Material der angenommenen Quelle »M« auflistete, war im Jahre 1937 Thomas Walter Manson mit seiner Studie The Sayings of Jesus. 26 Manson isolierte das matthäische »Sondergut« mittels der bekannten Subtraktionsmethode und teilte es in vier Kategorien ein: (1) redaktionelle Ergänzungen und Formeln, (2) Erzählungen, (3) Testimonien, (4) Lehre. »M« leitete Manson aus der letzten Kategorie ab und rekonstruierte eine umfangreiche zugrundeliegende Quelle. 27 Wie Streeter zuvor, verortete Manson »M« ca. 60 n. Chr. im judenchristlichen Milieu von Judäa bzw. Jerusalem und sah darin eine konservative Reaktion gegen die paulinische Heidenmission. 28 1946 befasste sich George Dunbar Kilpatrick in seiner Studie The Origins of the Gospel according to St. Matthew 29 erneut mit der »M«-Quelle, ging aber wesentlich vorsichtiger ans Werk, da man seiner Ansicht nach nicht eindeutig zwischen der Hand des Redaktors und einer vorgegebenen Quelle unterscheiden könne: »As we have no certain means of distinguishing in detail between the remains of M and the handiwork of the editor, any conjectures must rest on the most uncertain ground.« 30 Hier erkennt man in der Forschungsgeschichte zum »Sondergut« m. E. zum ersten Mal den ernsthaften Einbezug der Möglichkeit kreativer Gestaltung durch den Redaktor, was wenig später-- für das Matthäusevangelium maßgeblich begründet durch Günther Bornkamm-- zur exegetischen Methode der Redaktionskritik entfaltet werden sollte. 31 Dennoch rekonstruierte Kilpatrick, ausgehend von einer Analyse der Bergpredigt (Mt 5-7) und unter Einbezug der Kap. 8-25, eine schriftliche dritte Quelle »M«, die allerdings wesentlich kürzer als bei Streeter oder Manson ausfällt (170 Verse), da er größere Teile des »Sonderguts« Matthäus selbst zuschlägt. Überdies charakterisierte er »M« als »a rudimentary document, more primitive in type if not in date than Mark or even Q«. 32 Der Trend, in der Rekonstruktion von »M« immer zurückhaltender zu werden, setzte sich von da an kontinuierlich fort. Bereits Frederick Clifton Grant rechnete in seiner 1957 erschienenen Monographie The Gospels. Their Origin and Their Growth 33 nicht mehr damit, eine einzige »dritte Quelle« für Matthäus rekonstruieren zu können, sondern vermutete eine Vielzahl von Traditionen und Quellen, die sukzessive zu größeren Blöcken anwuchsen und schließlich zu den vier kanonischen Evangelien wurden. Grant entwickelte eine »Multiple Source Theory of Gospel Origins« 34 und schlug für eine potentielle Quelle »M« zwei Szenarien vor: Entweder-- so seine favorisierte Möglichkeit-- sei »M« einfach eine Ansammlung von Traditionen, die aus Palästina oder Syrien stammten oder-- und das könne man nur mit größter Zurückhaltung vermuten-- »M« wäre eine Art Zwischenschritt zwischen der Logienquelle und dem Matthäusevangelium; dann hätte Matthäus nicht Markus und »Q« kombiniert, wie es die gängige Zwei-Quellen-Theorie besagt, sondern das Markusevangelium und ein größeres Dokument (»M«), das Grant als eine erweiterte »Q«-Fassung versteht (im Grunde genommen wäre das dann Q Mt ) und das zu katechetischen Zwecken zusammengestellt wurde. 35 Die in diesem Modell vorgestellte Größe »M« lokalisierte Grant in Palästina oder im syrisch-antiochenischen Kontext. 2. Status quaestionis Wirft man einen Blick auf neuere exegetische Studien, die das matthäische »Sondergut« behandeln, fällt zunächst auf, dass eine kritische Zusammenschau und Analyse des gesamten Materials eher ein Schattendasein führen, obwohl es knapp ein Fünftel des Evangeliums ausmacht und wirkungsgeschichtlich äußerst relevante Texte enthält: Nicht nur finden Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 5 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 5 Uta Poplutz »M-Quelle« oder Konglomerat? sich dort die Vorgeschichten Jesu (Mt 1 f.) mit einem speziellen Stammbaum, der Magierperikope oder der Erzählung vom Kindermord zu Bethlehem, welcher das Bild König Herodes’ lange Zeit negativ geprägt hat; auch ekklesiologisch wirkmächtige Perikopen wie das Felsenwort mit der Übertragung der Binde- und Lösegewalt an Petrus (Mt 16,17-19), der nur im Matthäusevangelium »der erste« genannt wird (Mt 10,2), die Selbstverfluchung des Volkes von Jerusalem (Mt 27,25) oder die universale Aussendung der Jünger zu allen Völkern (Mt 28,16-20) sind matthäische Sondertraditionen. Besonders durch die Positionierung von Teilen dieses Materials als Rahmen der Erzählung (Pro- und Epilog) erhält es eine wichtige und das Evangelium strukturierende Bedeutung. 36 Selbstverständlich gibt es einige Untersuchungen- - die mehr oder weniger umfangreichen Exkurse in den Kommentaren zum Matthäusevangelium eingeschlossen 37 --, die einzelne Schwerpunkte oder Textblöcke des matthäischen »Sonderguts« in den Blick nehmen: Sowohl die Vorgeschichten 38 als auch die Erfüllungszitate bzw. die intertextuelle Frage nach dem Umgang des Matthäus mit der Schrift 39 wurden eingehenden Analysen unterzogen; auch Einzelstudien wie etwa zu »untypischen« Erzähltexten, 40 den Sprüchen des matthäischen »Sonderguts«, 41 den Gleichnissen der Sondertradition 42 oder dem »Sondergut« in der Passionsgeschichte 43 sind hier einzustellen. In jüngerer Zeit sind im deutschsprachigen Raum aber lediglich zwei Monographien erschienen, die den Anspruch haben, sich mit dem Gesamtumfang des matthäischen »Sonderguts« zu beschäftigen, nämlich die Untersuchungen von Hans-Theo Wrege und Hans Klein. 44 In der angelsächsischen Forschung befassten sich Stephenson H. Brooks und Brice C. Jones, der allerdings nur eine kurze Einführung und den griechischen Text samt englischer Übersetzung des matthäischen und lukanischen »Sonderguts« präsentiert, mit diesem Material. 45 Die beiden deutschsprachigen Monographien zum Gesamtumfang des matthäischen »Sonderguts« von Wrege und Klein listen die veranschlagten Texte mit je unterschiedlichem Umfang und divergierender Systematik auf 46 und fragen dezidiert nach deren »Sitz im Leben«. So identifiziert Hans-Theo Wrege in seinem Werkkommentar zur Zürcher Bibel mit dem Titel Das Sondergut des Matthäus-Evangeliums (1991) in erster Linie zwei Tradentengruppen, die den Disput um verschiedene Kirchenkonzepte erkennen lassen: Zwar wissen sich, so Wrege, beide Gruppierungen von ihrem Hauptbezugspunkt Jesus Christus her legitimiert, jedoch sieht die eine ihn nachösterlich einzig durch Petrus repräsentiert (vgl. Mt 16,17-19), während die andere die gesamte Gemeinde als Adressaten des Auftrags Jesu versteht (vgl. Mt 18,18 47 ). Auf diese Weise kann Wrege die fast wörtliche Wiederholung der Binde- und Lösegewalt, die innerhalb des matthäischen »Sonderguts« einmal Petrus und einmal der gesamten Gemeinde zugeschrieben wird, einer Erklärung zuführen. 48 Neben diesen beiden Gruppierungen, der »Petrusgruppe« und der »Basisgruppe«, deren Ansprüche sich in ekklesiologischen Fragen überkreuzen, erkennt er einen dritten Tradentenkreis, der hinter Mt 5,18 f. steht und dem eventuell auch Mt 10,5 f. und 10,23 zuzuordnen sind. Diese Gruppierung mit ihrer »starren Gesetzesbildung« (sic! ) vermutet Wrege in großer Nähe zum Jakobusbrief. 49 Damit erkennt er in der gesamten matthäischen »Sondergutgemeinde« ein deutlich ausdifferenziertes Judenchristentum. Auch Hans Klein identifiziert in seiner Untersuchung Bewährung im Glauben. Studien zum Sondergut des Evangelisten Matthäus (1996) drei Traditionskomplexe und bestimmt deren »Sitz im Leben«: Die Gleichnisse 50 seien von einem christlichen Gemeindeverband palästinischjüdischer Provenienz getragen, der aus überschaubaren Landgemeinden mit festem Wohnsitz bestand; die Antithesen der Bergpredigt mit ihren verwandten Stoffen 51 wurden ebenfalls von palästinisch-judenchristlichen Kreisen überliefert, die allerdings nicht von Ortsgemeinden, sondern von rigorosen Wanderpredigern getragen wurden; die verschiedenen, oft kurzen Logien und Legenden 52 seien hingegen im hellenistischen Judenchristentum beheimatet, das Petrus als sein Haupt ansah und in der Region um Damaskus zu lokalisieren sei. 53 Als übergreifendes Motiv hinter allen Traditionskomplexen erkennt Klein-- wie der Titel seiner Studie bereits erkennen lässt-- die »Bewährung im Glauben«. 54 Die Monographie von Stephenson H. Brooks aus dem Jahre 1987 (Matthew’s Community. The Evidence of his Special Sayings Material) 55 nähert sich dem matthäischen »Sondergut« über die Analyse der Spruchtraditionen (ohne die Gleichnisse) mit dem Ziel, die Beziehung zwischen der matthäischen Gemeinde und dem Juden- »Wirft man einen Blick auf neuere exegetische Studien, die das matthäische ›Sondergut‹ behandeln, fällt zunächst auf, dass eine kritische Zusammenschau und Analyse des gesamten Materials eher ein Schattendasein führen, obwohl es knapp ein Fünftel des Evangeliums ausmacht und wirkungsgeschichtlich äußerst relevante Texte enthält.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 6 - 4. Korrektur 6 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Neues Testament aktuell tum zu erhellen. 56 Zwar verwendet Brooks noch das Sigel »M«, verknüpft damit aber keine Quellentheorie mehr. Stattdessen untersucht er den Stil, das Vokabular und den Inhalt der Sprüche des matthäischen »Sonderguts« und ordnet sie-- falls sie mit dem Rest des Evangeliums übereinstimmen-- der redaktionellen Hand des Matthäus zu; diejenigen Sprüche, die diesen Test nicht bestehen, versteht Brooks als prä-matthäisches Material (»M«), das allein dem ersten Evangelisten bekannt war und zunächst als rein mündliche Überlieferung in Form von Spruchblöcken ohne schriftliche Matrix tradiert wurde. 57 Im »M«-Material macht Brooks drei verschiedene Haltungen der matthäischen Gemeinde zur Synagoge vor der Abfassung des Evangeliums aus, die drei verschiedene Erfahrungsstufen widerspiegeln: friedliche Koexistenz, zunehmende Konflikte, Trennung. Eine klar bestimmbare theologische Ausrichtung von »M«, die sich von der Perspektive des Matthäus unterscheiden würde, lässt sich laut Brooks jedoch nicht mehr herausarbeiten, da der erste Evangelist ihm durch seine Einfügung in die eigene literarische Komposition unwiderruflich seinen eigenen Stempel aufgedrückt habe. Der Vollständigkeit halber sei auch auf das bereits erwähnte Büchlein von Brice C. Jones, Matthean and Lukan Special Material. A Brief Introduction with Texts in Greek and English (2011) hingewiesen. 58 Wie der Untertitel schon erkennen lässt, geht es Jones nicht um einen eigenständigen Forschungsbeitrag, sondern darum, in Anlehnung an die »Q«- Textausgabe von Frans Neirynck ein praktisches Arbeitsinstrument für Studierende zur Verfügung zu stellen, damit sie die »Sonderguttexte« unabhängig von ihren jeweiligen Kontexten in den Evangelien lesen können. 59 Eine kurze Einführung leitet den Band ein, dann folgen die Texte, die Jones explizit nicht als Rekonstruktionen von »M« oder »L« verstanden wissen will. 60 Die besprochenen Studien führen bei aller analytischen Sorgfalt sehr deutlich ein Problem vor Augen, das eine Gesamtschau des matthäischen »Sonderguts« mit sich bringt: Wie soll man den Umfang des »Sonderguts« eigentlich bestimmen? Gemäß dem auf der Basis der Zwei-Quellen-Theorie angewandten Subtraktionsverfahren müsste zunächst einmal jeder Text, der sich ausschließlich im Matthäusevangelium findet- - d. h. der weder durch die Markusvorlage noch durch eine lukanische Parallele im Stoff der Logienquelle abgedeckt ist-- als »Sondergut« definiert werden. Doch das kann nur der erste arbeitstechnisch notwendige Schritt sein, um eine Ausgangsbasis für die Anwendung weiterer Kriterien zu erhalten. Denn ein solch weit gefasstes Verständnis lässt die Arbeit des Evangelisten bzw. Redaktors vollkommen unberücksichtigt und unterscheidet nicht zwischen der Einfügung von »Sondergut«, redaktioneller Umarbeitung der aus Markus oder der Logienquelle übernommenen Stücke oder dem Einschub von eigenen Textelementen durch Matthäus selbst. Da somit von jedem Autor und von jeder Autorin, die sich mit dem matthäischen »Sondergut« in seiner Gesamtheit befassen will, eine eigene Kriteriologie erst entwickelt und angewendet werden muss, um matthäisches »Sondergut« zu isolieren, fällt auch die Bestimmung des »Sonderguts« äußerst unterschiedlich aus. Das zeigt sich auch in den vorgestellten Studien, welche die für das matthäische »Sondergut« veranschlagten Texte so reduziert haben, dass sich der zugrunde gelegte Stoff in jeder Spezialmonographie unterschiedlich darstellt: Während Wrege die Perikopen von Petrus auf dem Wasser (Mt 14,28-31), die eng mit Mt 27,62- 66 verbundene Erzählung vom Gerücht des Leichendiebstahls (Mt 28,11-15) sowie kleinere Einschübe in der Passionsgeschichte (Mt 27,19.24 f.51b-53) beiseitelässt, eliminiert Klein (aus arbeitsökonomischen? ) Gründen die Vorgeschichten (Mt 1 f.) sowie die Erfüllungszitate; 61 Brooks schließlich konzentriert sich ausschließlich auf ausgewählte Sprüche und Jones lässt die Überschrift (Mt 1,1) und die Ansiedlung der Familie Jesu in Nazaret (Mt 2,22 f.) aus. 3. McDonalds Hypothese Einen völlig neuen Vorstoß, der ohne die klassische Zwei-Quellen-Theorie, aber mit der These einer weiteren matthäischen Quelle argumentiert, legte 2012 Dennis R. McDonald mit seinem umfangreichen Buch Two Shipwrecked Gospels. The Logoi of Jesus and Papias’s Exposition of Logia about the Lord vor. 62 Mit den »Ship- »Wie soll man den Umfang des ›Sonderguts‹ eigentlich bestimmen? « »Da [...] von jedem Autor und von jeder Autorin, die sich mit dem matthäischen ›Sondergut‹ in seiner Gesamtheit befassen will, eine eigene Kriteriologie erst entwickelt und angewendet werden muss, um matthäisches ›Sondergut‹ zu isolieren, fällt auch die Bestimmung des ›Sonderguts‹ äußerst unterschiedlich aus.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 7 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 7 Uta Poplutz »M-Quelle« oder Konglomerat? wrecked Gospels« meint McDonald zum einen Papias’ fünf verlorene Bücher der »Erklärungen der Herrenworte« (Λογίων κυριακῶν ἐξήγησις), zum anderen ein ebenfalls verlorenes Evangelium, das er als »Logoi of Jesus« oder »Q+« bezeichnet und das identisch mit dem Evangelium sei, das Papias fälschlicherweise für eine andere griechische Übersetzung des hebräischen Originals des Matthäusevangeliums hielt. Dieses Evangelium »Q+« wurde von allen drei Synoptikern benutzt. Auch Papias kannte »Q+« und darüber hinaus das Markus- und das Matthäusevangelium, die er allesamt in seinen fünf Büchern zur Darstellung gebracht hat. Lukas hingegen kannte er nicht, aber Lukas kannte Papias, Markus, Matthäus und eben das verlorene Evangelium »Q+«; und es sind diese vielen Dokumente, auf die Lukas in seinem Proömium (Lk 1,1-4) anspielt (»Da es nun schon viele unternommen haben, einen Bericht von den Ereignissen zu verfassen …«). Für Matthäus nimmt McDonald im Kontext seiner »Q+«/ Papias-Hypothese somit zwei Quellen an: das Markusevangelium und ein verlorenes Evangelium, das er zunächst »MQ« (»Matthew’s Q«, in einem noch früheren Stadium »minimal Q« oder »MQ-«) nennt, und das vorher bereits Markus als Quelle gedient hat. 63 Das Besondere an dieser Quelle ist nun, dass McDonald die Rekonstruktion nicht wie üblich mit einem Vergleich von Matthäus und Lukas beginnt, sondern mit Matthäus und Markus; er sucht dabei gezielt parallele Logien, für die man mithilfe einer von ihm entwickelten sorgfältigen Kriteriologie zeigen kann, dass bei Matthäus eine ältere Version als im Markusevangelium erhalten ist (»inverted priority«). 64 In einem nächsten Schritt ergänzt er »MQ« durch Hinzunahme weiterer matthäischer Texte, die nicht auf den Redaktor selbst zurückzuführen sind, um zuletzt mithilfe der lukanischen Traditionen eine umfassende Rekonstruktion von »Q+« vorzuschlagen, die er im Anhang unter dem Titel »Logoi of Jesus« als griechisch-englischen Paralleltext abdruckt. Diese postulierte Quelle ist deutlich länger als die Logienquelle »Q« und enthält viel markinisches Material. 65 Woher allerdings Traditionen wie die Vorgeschichten Jesu oder die antipharisäische Rede Mt 23 stammen, klärt McDonald nicht. 4. Ausblick Mit guten Gründen ist zu konstatieren, dass eine vollständige kritische Sichtung und vor allem Identifizierung der Texte des matthäischen »Sonderguts« angezeigt wäre. Zwar mag diese Aufgabe äußerst komplex und mit vielen Schwierigkeiten behaftet sein-- das hat der forschungsgeschichtliche Abriss gezeigt--, aber m. E. wäre es doch lohnend, diese zum Teil sehr zentralen Stoffe des ersten Evangeliums im Hinblick auf ihre mögliche Herkunft mithilfe aller zur Verfügung stehenden exegetischen Methoden genauer in den Blick zu nehmen. Besonders die in den letzten Jahren in den Fokus gerückten narratologischen Analysen könnten hier vielversprechend sein, indem sie bestimmte Muster im Arrangement des Matthäusevangeliums und möglicherweise auch in den matthäischen Sondertraditionen sichtbar machen können. 66 Das »Sondergut« müsste inhaltlich bestimmt, strukturanalytisch untersucht und auf mögliche traditionsgeschichtliche Prozesse hin geprüft werden. Entsprechende Vorstudien, besonders zu den matthäischen Spracheigentümlichkeiten, liegen bereits vor. 67 Die Forschungsgeschichte hat gezeigt, dass es an einer überzeugenden und methodisch reflektierten Kriteriologie zur positiven Bestimmung des »Sonderguts« fehlt. Das hängt selbstredend mit der Zwei-Quellen-Theorie zusammen, die das »Sondergut« per negativem Ausschlussverfahren definiert, was den zugrundeliegenden Traditionen aber kaum gerecht werden kann. Denn eine »Restkategorie«, wie Michael Wolter die Sonderguttraditionen zurecht genannt hat, kann nicht als Ausgangspunkt für deren positive Bestimmung und Charakterisierung dienen. 68 Alle Versuche, dem »Sondergut« den Charakter einer Quelle mit eigenem theologischem und literarischem Profil zuzuschreiben, mussten bei diesem Ansatz scheitern: »Sie beachten nicht, dass das einzige Merkmal, das alle Texte des ›Sonderguts‹ gemeinsam haben, lediglich eine negative Eigenschaft ist, […] und kehren den Rest-Charakter des Sonderguts in eine primäre, positive Eigenschaft um, die den Texten als solchen anhaften soll und in ihnen vorgefunden werden könne.« 69 »Die Forschungsgeschichte hat gezeigt, dass es an einer überzeugenden und methodisch reflektierten Kriteriologie zur positiven Bestimmung des ›Sonderguts‹ fehlt.« »Die auf der Basis der Zwei-Quellen- Theorie als matthäisches ›Sondergut‹ ausgeschiedenen Traditionen können nur der notwendige arbeitstechnische Ausgangspunkt für genauere Analysen und Kriterien zu dessen Identifizierung sein-- mehr nicht.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 8 - 4. Korrektur 8 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Neues Testament aktuell Nimmt man den Faden der bisher vorliegenden forschungsgeschichtlichen Ansätze auf, könnte es lohnend und m. E. auch möglich sein, das matthäische »Sondergut« als eine eigenständige Größe in den Blick zu nehmen und damit neu zu definieren-- eine differenziertere Bezeichnung eingeschlossen. Das würde dann aber auch implizieren, dass man-- gesetzt den Fall man hielte an der Zwei-Quellen-Theorie fest-- den mühsamen Weg beschreitet, die bisher als »Sondergut« definierten Stoffe daraufhin zu überprüfen, ob sie nicht doch Teilen der Logienquelle entstammen und schlichtweg von Lukas nicht übernommen wurden, wie es zuletzt Burkett durchexerziert hat. 70 Gerade beim Redenstoff scheint diese Möglichkeit alles andere als unwahrscheinlich. 71 Auch das Ausscheiden von Stoffen im Sondergutmaterial, die eine offenkundige Kenntnis des Markusevangeliums voraussetzen und darum möglicherweise nicht eigenständig außerhalb dieser Tradition existierten, wäre ein möglicher Schritt. 72 Kurzum: Die auf der Basis der Zwei-Quellen-Theorie als matthäisches »Sondergut« ausgeschiedenen Traditionen können nur der notwendige arbeitstechnische Ausgangspunkt für genauere Analysen und Kriterien zu dessen Identifizierung sein-- mehr nicht. Ein solchermaßen geänderter Blickwinkel auf das »Sondergut« verspricht eine positive Bestimmung dieser Traditionen, die vielleicht doch mehr als ein Sammelbecken disparater und verschiedener Textblöcke oder Versatzstücke gewesen sein können, auch wenn man eine einzige literarische Quelle »M« wohl kaum namhaft machen kann. Und dennoch: Der Matthäusexegese, aber möglicherweise auch der Bewertung der Zwei-Quellen- Theorie sollte dies in jedem Fall zu interessanten neuen Einsichten und Perspektiven verhelfen. Anmerkungen 1 Zum Diskussionsstand vgl. C. M. Tuckett, The Current State of the Synoptic Problem, in: P. Foster/ A. Gregory (Hg.), New Studies in the Synoptic Problem. Oxford Conference, April 2008 (FS C.M. Tuckett) (BEThL 239), Leuven [u. a.] 2011, 9-50 (Nachdruck in C.M. Tuckett, From the Sayings to the Gospels (WUNT 328), Tübingen 2014, 77-116). Insbesondere Marc Goodacre bestreitet auf der Basis der Farrer-Hypothese (das Markusevangelium liegt Matthäus und Lukas vor, letzterer kennt aber ebenfalls Matthäus) und im kritischen Anschluss an M.D. Goulder, Luke. A New Paradigm. Volume I, Part I: The Argument; Part II: Commentary: Luke 1,1-9,50 (JSNT.S), Sheffield 1989 (und ebd., Volume II, Part II (cont.). Commentary: Luke 9,51-24,53) die Existenz von Q, so etwa in seiner Monographie M. Goodacre, The Case Against Q. Studies in Markan Priority and the Synoptic Problem, Harrisburg 2002. Für den deutschsprachigen Raum vgl. vor allem W. Kahl, Erhebliche matthäisch-lukanische Übereinstimmungen gegen das Markusevangelium in der Triple-Tradition. Ein Beitrag zur Klärung der synoptischen Abhängigkeitsverhältnisse, ZNW 103 (2012), 20-46. Dem viel zitierten Argument von U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament (UTB Theologie), Göttingen 3 1999, 194, dass die Zwei-Quellen-Theorie mit dem geringsten Schwierigkeitsgrad die meisten Phänomene erklärt (im Original mit Kursivsetzungen), widersprach gleichsam vor seiner Formulierung schon E.P. Sanders, The Tendencies of the Synoptic Tradition (SNTS.MS 9), Cambridge 1969, 279: »I rather suspect that when and if a new view of the Synoptic problem becomes accepted, it will be more flexible and complicated than the tidy-twodocument hypothesis. With all due respect for scientific preferences for the simpler view, the evidence seems to require a more complicated one.« 2 C.H. Weiße, Die evangelische Geschichte kritisch und philosophisch betrachtet, 2 Bde., Leipzig 1838. 3 H.J. Holtzmann, Die synoptischen Evangelien. Ihr Ursprung und ihr geschichtlicher Charakter, Leipzig 1863. Vgl. zum synoptischen Problem und dessen Lösungsversuchen M. Ebner, Die synoptische Frage, in: ders./ S. Schreiber (Hg.), Einleitung in das Neue Testament (KStTh 6), Stuttgart 2008, 67-84; hilfreich auch F.R. Prostmeier, Kleine Einleitung in die synoptischen Evangelien, Freiburg i. Br. 2006; warum I. Broer/ H.-U. Weidemann, Einleitung in das Neue Testament, Würzburg 2010, 49 den Neutestamentler Christian Gottlob Wilke mit seiner Studie »Der Urevangelist oder exegetisch kritische Untersuchung über das Verwandtschaftsverhältnis der drei ersten Evangelien« (Dresden/ Leipzig 1838) als Begründer der Zwei-Quellen-Theorie benennen, erschließt sich nicht. Wilke vertritt die Markuspriorität und eine innersynoptische Benutzungshypothese, d. h. Matthäus lag neben dem Urevangelium Markus auch Lukas vor, vgl. ebd., 693: »Der Ordner [sc. Matthäus] war im Besitz des Markusevangeliums, bevor er von Lukas Schrift Kunde erhielt, oder er kannte jenes als das ältere Werk und wußte, daß Lukas nur Zuthaten zu diesem Werke gemacht hatte. Er schaltete daher, was er einzuschalten hatte, in seine Urschrift so, wie Er sie in den Händen hatte, ein […].« 4 Vgl. H. J. Holtzmann, Lehrbuch der historisch-kritischen Einleitung in das Neue Testament, Freiburg i.Br. 1885; dazu W. Kahl, Vom Ende der Zweiquellentheorie oder: Zur Klärung des synoptischen Problems, Transparent 75 (2004), 1-36, hier: 10 f. 5 J. Weiß, Die Verteidigung Jesu gegen den Vorwurf des Bündnisses mit Beelzebul, ThStKr 63 (1890), 555-569; ders., Die Predigt Jesu vom Reiche Gottes, Göttingen 1892 (2. überarb. Aufl. 1900); Weiß verwendet für die ansonsten als »Redenquelle« oder »Logia« bezeichnete »zweite Quelle«, die in griechischer Sprache vorgelegen habe, erstmals das Sigel »Q« (ebd., 37 f.); während das »Sondergut des Lukas« (»LQ«) auf eine einzelne Quelle zurückzuführen sei, sieht es für Matthäus anders aus (ebd., 38): »Das schliesst nicht aus, das [sic! ] Mt trotzdem Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 9 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 9 Uta Poplutz »M-Quelle« oder Konglomerat? nicht nur eine Fülle altertümlichen Materials in seiner conservativen Art uns erhalten hat, sondern dass er auch im Einzelnen Züge höchster Ursprünglichkeit zeigt, selbst da, wo man es nicht erwarten sollte. Für diese Eigentümlichkeiten ist eine ausreichende Erklärung noch nicht erbracht worden.« 6 Vgl. P. Hoffmann, Mutmaßungen über Q. Zum Problem der literarischen Genese von Q, in: A. Lindemann (Hg.), The Sayings Source Q and the Historical Jesus (BEThL 158), Leuven 2001, 255-288, hier: 288. 7 Vgl. dazu Ebner, Die Spruchquelle Q (s. Anm. 3), 85-111. 8 J.M. Robinson/ P. Hoffmann/ J.S. Kloppenborg, The Critical Edition of Q. Synopsis including the Gospels of Matthew and Luke, Mark and Thomas with English, German and French Translations of Q and Thomas, Leuven/ Minneapolis 2000; vgl. auch H.T. Fleddermann, Q: A Reconstruction and Commentary (BiTS 1), Leuven [u. a.] 2005; P. Hoffmann/ C. Heil, Die Spruchquelle Q. Studienausgabe Griechisch-Deutsch, Darmstadt/ Leuven 2002. Irritierend ist der Titel »Critical Edition«, da Editionen nur von Hauptüberlieferungen, d. h. von vollständigen oder fragmentarischen Kopien des zu edierenden Textes, vorgelegt werden können und nicht von Nebenüberlieferungen, die lediglich eine hypothetisch erschlossene Rekonstruktion eines Textes erlauben, dessen Gestalt weder im Umfang noch im Wortlaut exakt bestimmbar ist; vgl. dazu Kahl, Übereinstimmungen (s. Anm. 1), 21-24. 9 Ein Beispiel: Mt 7,6 gilt im Gegensatz zu 7,7 als »Sondergut«, weil es bei Lk nicht begegnet; doch in der frühchristlichen Spruchsammlung des Thomasevangeliums begegnen in ThEv 93 und 94 die Logien Mt 7,6 und 7,7 unmittelbar nacheinander. 10 Der Begriff »Sondergut« wurde m. W. von Johannes Weiß geprägt (s. Anm. 5); auch P. Wernle, Die synoptische Frage, Freiburg i.Br. 1899 spricht vom »Sondergut des Lucas« und »Sondergut des Matthäus«; Weiße, Geschichte (s. Anm. 2), 76 nennt es hingegen »Zurüstungen«; Wilke, Urevangelist (s. Anm. 3), 12 spricht, ebenso wie Holtzmann, Evangelien (s. Anm. 3), 158 von »Eigenthümlichkeiten«; dabei sieht Holtzmann den größten Teil dieser »Eigenthümlichkeiten« als »schriftstellerisches Product« und rechnet für Teile der Bergpredigt und der Rede gegen die Pharisäer mit unbestimmten, jedoch auf keinen Fall bedeutenden »kleineren schriftlichen Aufzeichnungen« (ebd., 162). 11 So M. Wolter, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen 2008, 14.16; s. u. Anm. 68. 12 Vgl. aber z. B. Anm. 9. 13 Vgl. dazu Anm. 31. 14 E. Burton, Some Principles of Literary Criticism and Their Application to the Synoptic Problem, Chicago 1904; vgl. zum Folgenden besonders die Ausführungen von P. Foster, The M-Source. Its History and Demise in Biblical Scholarship, in: P. Foster/ A. Gregory (Hg.), New Studies in the Synoptic Problem. Oxford Conference, April 2008 (FS C.M. Tuckett) (BEThL 239), Leuven [u. a.] 2011, 591-616, hier: 591 f.: »Perhaps the most significant, yet overlooked contribution to the early study was made by Ernest DeWitt Burton.« 15 Vgl. Burton, Principles (s. Anm. 15), 41: Mt 3,14.15; 5,4.7-10.13a.14.16.17.19-24.27.28.31.33- 39a.41.43; 6,1-7.10b.13b.16-18.34; 7,6.12b.15.22; 9,13a; 10,5.6.8a.16b.23.25b.36.41; 11,28-30; 12,5- 7.11.12a.34; 13,14.15.24-30.35-53; 15,12-14.23.24; 16,17-19; 17,24-27; 18,4.10.14.16-20.23-34; 19,10- 12.28; 20,1-15; 21,14-16.28-32.43; 22,1-14; 23,2.3.5.7b- 10.15-22. 24.28.32; 24,10-12.30a; 25,1-11a.13.14-46; 26,52.53. 16 Zu diesem Zusammenhang neuerdings auch McDonald, Two Shipwrecked Gospels. The Logoi of Jesus and Papias’s Exposition of Logia about the Lord (SBLECL 8), Atlanta 2012 (s. u.). 17 Burton, Principles (s. Anm. 15), 41. 18 B.H. Streeter, The Four Gospels. A Study of Origins, Treating of the Manuscript Tradition, Sources, Authorship, and Dates, London 1924. Diese Liste umfasst nicht das komplette Material von M; eine solche Liste legt Streeter im Gegensatz zu den Inhalten von Q, die er minutiös inhaltlich bestimmt, nicht vor. 19 Hier legt sich Streeter nicht ganz fest, was S. Brooks, Matthew’s Community. The Evidence of his Special Sayings Material (JSNT.S 16), Sheffield 1987, 13 schön auf den Punkt bringt: »While Streeter states that M may be either a single or several sources, he tends to discuss M as if it were a single source.« 20 Vgl. dazu auch B.C. Jones, Matthean and Lukan Special Material. A brief Introduction with Texts in Greek and English, Eugene 2011, 10-13; vgl. auch Foster, M-Source (s. Anm. 14), 591-616, hier: 592: »Streeter never refers explicitly to Burton’s previous work in the area of the M source.« 21 Als jüngerer Verfechter dieser Hypothese ist etwa U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1-7) (EKK 1,1), Neukirchen-Vluyn 5 2002, 48, zu nennen. 22 Vgl. Streeter, Gospels (s. Anm. 18), 223; 227; auch wenn Streeter die Annahmen der Zwei-Quellen-Theorie teilt, macht er auf den missverständlichen Titel aufmerksam: »The name ›Two Document Hyptothesis‹ suggests that no other sources used by Matthew and Luke are comparable to the ›Big Two‹. Hence an undue importance has been assigned to Q as compared with the sources used by Matthew and Luke only« (ebd., 223). Vgl. dazu Jones, Special Material (s. Anm. 20), 8-10; Foster, M-Source (s. Anm. 14), 591-616, hier: 593-597. 23 S.o. Anm. 1. 24 Vgl. Streeter, Gospels (s. Anm. 18), 512 f. 25 Vgl. paradigmatisch für zwei Kommentatoren folgende Statements: Luz, Mt I (s. Anm. 21), 51: »Der Textbefund, vor allem die hohe Dichte von red. Spracheigentümlichkeiten in den meisten Sondergutsstoffen, spricht eindeutig dagegen [sc. gegen die Existenz von ›M‹]«; A. Sand, Das Matthäus-Evangelium (EdF 275), Darmstadt 1991, 5: »Diese Vielfalt (ohne erkennbares theologisches Leitmotiv) macht deutlich, dass man das matth. Sondergut nicht einer dritten Quelle zuweisen kann. Vielmehr sind mehrere ›Quellen‹ anzunehmen, darunter auch mündliche […].« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 10 - 4. Korrektur 10 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Neues Testament aktuell 26 T.W. Manson, The Sayings of Jesus as Recorded in the Gospels According to St. Matthew and St. Luke Arranged with Introduction and Commentary, London 1949; zuerst publiziert in H. D. A. Major/ T.W. Manson/ C.J. Wright, The Mission and Message of Jesus. An Exposition of the Gospels in the Light of Modern Research, London 1937, 301-639. 27 Folgende Liste hat Foster, M-Source (s. Anm. 14), 598 auf der Basis der Ausführungen und des Kommentars von Manson zusammengetragen (die von Manson als unsicher eingeschätzten Verse stehen in Klammern): Mt 3,14 f.; 5,7-10.(13-16).17-24.27-39a.43.(44a).(44b-48); 6,1-8. (9-15).16-18.34; 7,6.13 f.15.(16-20).21-23; 10,5-16.23- 25.40-42; 11,1.14 f.28-30; 12,5-7.11 f.34a.36 f.; 13,24- 30.36-53; 15,12 f.22-25; 16,2 f.17-20; 18,10.12-35; 19,10-12.28; 20,1-16; 21,14-16.28-32.43.(44); 22,1-14; 23,1-36; 24,10-12.30a; 25,1-46. Dabei ist es interessant, dass Manson eine noch ältere Sammlung von Lehrtraditionen annimmt, aus der sowohl »M«als auch »Q« geschöpft haben. 28 Vgl. Manson, Sayings (s. Anm. 26), 25: »The extreme respect for the Law coupled with a violent antagonism to the lawyers is best understood in a community at once proud of its Jewish heritage and a loggerheads with the official guardians of that heritage. This can only be the churches of Judea-- or a section of them-- in the years before the fall of Jerusalem.« 29 G.D. Kilpatrick, The Origins of the Gospel according to St. Matthew, Oxford 1946. 30 Ebd., 36. 31 So die richtige Einschätzung von Foster, M-Source (s. Anm. 14), 599 f. Als Vater der Redaktionskritik hat wohl Günther Bornkamm zu gelten, vgl. G. Bornkamm/ G. Barth/ H.J. Held (Hg.), Überlieferung und Auslegung im Matthäus-Evangelium (WMANT 1), Neukirchen-Vluyn 1948. 32 Kilpatrick, Origins (s. Anm. 29), 36. 33 F.C. Grant, The Gospels. Their Origins and Their Growth, London 1957. 34 Vgl. das Diagramm ebd., 51. 35 Vgl. ebd., 49: »It is, of course, possible that M is a later form of Q, edited and arranged by Matthew, or by the School of Christian scribes or teachers which he represents, for catechetical purposes.« 36 Vgl. J. A. Doole, What was Mark for Matthew? An Examination of Matthew’s Relationship and Attitude to his Primary Source (WUNT II/ 344), Tübingen 2013, 36-38. 37 Vgl. hier bes. den Exkurs zu den matthäischen Quellen bei W.D. Davies/ D.C. Allison, A Critical and Exegetical Commentary on the Gospel according to Saint Matthew. Vol. 1: Matthew 1-7 (ICC), London/ New York 2004, 97- 127. 38 Hier ist als Referenzwerk an erster Stelle der nach wie vor maßgebliche Kommentar zu den matthäischen und lukanischen Kindheitserzählungen von R.E. Brown, The Birth of the Messiah. A Commentary on the Infancy Narratives in Matthew and Luke, London 1977 zu nennen, aber auch die ausführlichen Darlegungen in den Matthäuskommentaren von Luz, Mt I (s. Anm. 21), 117-189 und Davies/ Allison, Mt I (s. Anm. 37), 149-284; exemplarisch sei darüber hinaus auf die Monographien von A. Vögtle, Messias und Gottessohn. Herkunft und Sinn der matthäischen Geburts- und Kindheitsgeschichte (Theologische Perspektiven), Düsseldorf 1971, M. Mayordomo-Marín, Den Anfang hören. Leserorientierte Evangelienexegese am Beispiel von Matthäus 1-2 (FRLANT 180), Göttingen 1998 und A. Wucherpfennig, Josef der Gerechte. Eine exegetische Untersuchung zu Mt 1-2 (HBS 55), Freiburg i.Br. 2008, verwiesen. 39 Grundlegend W. Rothfuchs, Die Erfüllungszitate des Matthäus-Evangeliums. Eine biblisch-theologische Untersuchung (BWANT 88), Stuttgart 1969; K. Stendahl, The School of St. Matthew and its Use of the Old Testament (ASNU 20), Uppsala 1954; G. Strecker, Der Weg der Gerechtigkeit. Untersuchung zur Theologie des Matthäus (FRLANT 82), Göttingen 1962, 49-76; M. J. J. Menken (Hg.), Matthew’s Bible. The Old Testament Text of the Evangelist (BEThL 173), Leuven 2004, sowie darin speziell den Beitrag Menken, Old Testament Quotations in Matthean Sondergut, 255-278. 40 D. Paul, Untypische Texte im Matthäusevangelium? Studien zu Charakter, Funktion und Bedeutung einer Textgruppe des matthäischen Sonderguts (NTA.NF 50), Münster 2005. Paul meint mit untypischen Texten diejenigen Erzählungen des Sonderguts, die mindestens ein dem Volksglauben nahestehendes Motiv (z. B. Träume, Magier aus dem Osten, zur Geburt aufgehender Stern etc.) enthalten, das im Rahmen der kanonischen Evangelien nur im matthäischen Sondergut vorkommt. 41 Manson, Sayings (s. Anm. 26); Brooks, Community (s. Anm. 19); beide verbinden ihre Analysen aber eng mit der Suche nach einer matthäischen Quelle (s. u.). 42 Etwa Brooks, Community (s. Anm. 19). 43 D. Senior, Matthew’s Special Material in the Passion Story. Implications for the Evangelist’s Redactional Technique and Theological Perspective, EThL 63 (1987), 272-294. 44 Vgl. H.-T. Wrege, Das Sondergut des Matthäus-Evangeliums (Zürcher Werkkommentare zur Bibel), Zürich 1991; H. Klein, Bewährung im Glauben. Studien zum Sondergut des Evangelisten Matthäus (BThS 26), Neukirchen- Vluyn 1996. Eine ältere Arbeit liegt mit E. Hirsch, Frühgeschichte des Evangeliums. Zweites Buch: Die Vorlagen des Lukas und das Sondergut des Matthäus, Tübingen 1941 vor; diese Arbeit wurde m. W. kaum rezipiert, was zwar auch mit dieser kaum belegbaren These, aber sicherlich auch mit seiner stark nationalsozialistischen Prägung zusammenhängen mag, die sich etwa in dem Versuch äußerte, Jesus als Arier zu bestimmen; vgl. dazu den instruktiven Beitrag von T. Nicklas, Vom Umgang mit biblischen Texten in antisemitischen Kontexten, HTS 64 (2008), 1895-1921. 45 Jones, Special Material (s. Anm. 20); Brooks, Community (s. Anm. 19). 46 Klein, Bewährung (s. Anm. 44) ordnet die im Evangelium verstreuten Texte anhand formaler und inhaltlicher Aspekte zu diversen Gruppen, während Wrege, Sondergut (s. Anm. 44) mit seiner Studie einem üblichen Kommen- Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 11 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 11 Uta Poplutz »M-Quelle« oder Konglomerat? taraufbau folgt und die identifizierten Texte in ihrer matthäischen Abfolge kommentiert. 47 Vgl. auch Mt 18,20; 25,31-48; 28,20. 48 Vgl. Wrege, Sondergut (s. Anm. 44), 13. 49 Ebd., 137 f. Eine ähnliche Einschätzung formulierte bereits Streeter, Gospels (s. Anm. 18), 512, allerdings für die gesamte Quelle »M«: »It cannot be too emphatically insisted that this element in Matthew reflects, [sic! ] not primitive Jewish Christianity, but a later Judaistic reaction against the Petro-Pauline liberalism in the matter of the Gentile mission and the observance of the law.« 50 Vgl. die drei Kurzgleichnisse Mt 13,44. 45. 47-50 sowie 13,24-30.36-43; 18,23-35; 20,1-16; 21,28-32; 22,2 … 11-14; 25,1-13.31-46; dazu Klein, Bewährung (s.-Anm. 44), 54-132. 51 Vgl. Mt 5,17. 19. 21 f.23 f.27.33 f.34b-37; 7,6; 19,11 f.; dazu Klein, Bewährung (s. Anm. 44), 133-155. 52 Die unter dieser Rubrik subsumierten Sonderguttexte hat Klein zu verschiedenen thematischen Blöcken zusammengestellt: Das Ringen um rechte Frömmigkeit, Petrustraditionen, Logien über den Aufbau der Gemeinde, vgl. ebd., 156-198. 53 Klein, Bewährung (s. Anm. 44), 209-212; zum Traditionshintergrund vgl. auch die Vorarbeit zur Monographie: ders., Frömmigkeit, 466-474. 54 Klein, Bewährung (s. Anm. 44), 210-212. 55 Brooks, Community (s. Anm. 19). 56 Ebd., 15: »An investigation of the unparalleled sayings in Matthew holds promise for understanding the history of the relationship between Matthew’s community and Judaism.« 57 Ebd., 122: »Matthew seems to have used blocks of sayings from his oral tradition that originated in the form of extended complexes of sayings. He also may have been quite selective about which of the M traditions he used.« 58 Jones, Special Material (s. Anm. 20). 59 Ebd., 13: »So this book is largely meant to serve a practical purpose: to bring all the material unique to Matthew and Luke into one place so that it can be studied on its own, in isolation from the larger Gospel narratives.« Zur von Jones selbst erwähnten »Q«-Parallele vgl. F. Neirynck, Q- Parallels. Q-Synopsis and IQP/ CritEd Parallels (SNTA 20), Leuven 2001; ein ähnlich angelegtes Buch wäre J.S. Kloppenborg, Q Parallels. Synopsis, Critical Notes & Concordance (Foundations & Facets/ New Testament), Sonoma 1988. 60 Vgl. Jones, Special Material (s. Anm. 20), 14. 61 Vgl. Klein, Bewährung (s. Anm. 44), 15: »Ausgenommen aus dieser Untersuchung werden die Kindheitsgeschichte und die Sammlung alttestamentlicher Zitate, für die es gründliche Einzelstudien gibt.« Das Problem bei dieser eher technischen Auslassung ist, dass man nun nicht weiß, welchen Tradentenkreisen Klein diese Texte zuordnet. 62 S. Anm. 16. 63 McDonald, Shipwrecked Gospels (s. Anm. 16), 171. 64 Ebd., 95-97. Folgende Stücke zählt er dazu: Mt 5,15. 18. 23 f.29 f.32; 7,1 f.; 10,23.26 f.32 f.34 f.38 f.40; 11,10; 12,30. 32. 38 f.; 17,20; 18,6 f.; 20,16; 21,32; 24,26.43 f.; 25,29. 65 Eine Synopse findet sich ebd., 412-504; der »Q+«-Text mit Übersetzung ebd., 562-619. 66 Vgl. dazu U. Poplutz, Erzählte Welt. Narratologische Studien zum Matthäusevangelium (BThS 100), Neukirchen- Vluyn 2008. 67 Vgl. u. a. W. Schenk, Die Sprache des Matthäus. Die Text- Konstituenten in ihren makro- und mikrostrukturellen Relationen, Göttingen 1987; Luz, Mt I (s. Anm. 21), 52- 78; Davies/ Allison, Mt I (s. Anm. 37), 72-96; S.L. Black, The Historic Present in Matthew. Beyond Speech Margins, in: S.E. Porter/ J.T. Reed (Hg.), Discourse Analysis and the New Testament. Approaches and Results (JSNT.S 170), Sheffield 1999, 120-139. 68 Wolter, Lk (s. Anm. 11), 14: »Mit diesem Begriff [sc. Restkategorien] bezeichnet man Kategorien, unter die solche Phänomene subsumiert werden, die lediglich durch eine negative Eigenschaft miteinander verbunden sind, weil sie sich innerhalb eines bestehenden Kategoriensystems den jeweils verwendeten Hauptkategorien nicht zuordnen lassen und im wahrsten Sinne des Wortes übrig bleiben. […] Auf wundersame Weise verwandelte sich das mit diesem Sammelbegriff bezeichnete Material jedoch schon recht bald in eine eigenständige Größe, und parallel dazu mutierte der Begriff ›Sondergut‹ von einer Restkategorie zu einer Hauptkategorie.« 69 Ebd., 15. 70 So etwa zu finden bei D. Burkett, Rethinking the Gospel Sources, Vol. 2: The Unity and Plurality of Q (SBLECL 1), Atlanta 2009. 71 So bereits W. Marxsen, Einleitung in das Neue Testament. Eine Einführung in ihre Probleme, Gütersloh 4 1978, 124. 72 So etwa der Vorschlag von Doole, Mark (s. Anm. 36), 34, der dies für folgende Texte vermutet: Mt 12,5 f.; 14,28- 31; 15,23 f.; 16,17-19; 17,6 f.; 18,3 f.; 19,10-12; 21,10 f.; 26,25; 26,42b; 27,19; 27,24 f.; 28,2; ebd.: »Each of these presupposes knowledge of the events of Mark’s narrative.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 12 - 4. Korrektur 12 ZNT 36 (18. Jg. 2015) 1. »Antithesen«? Die Bezeichnung der in gleicher Weise aufgebauten sechs Einheiten in Mt 5,21-48 als »Antithesen«-- wahrscheinlich in der Zeit um 1900 aufgekommen-- wurde sehr schnell zu einer nicht hinterfragten Selbstverständlichkeit. Das wirkt bis in die Gegenwart nach, wie etwa der Gebrauch dieses Begriffs nicht nur in dem großen Matthäus-Kommentar von Ulrich Luz zeigt. 1 In der Kirchengeschichte ist der Gebrauch des Begriffs »Antithesen« viel älter. Markion bezeichnet so sein Hauptwerk. In ihm arbeitet er einen Gegensatz zwischen dem gerechten Gott, dem jüdischen Schöpfergott, und dem erst von Jesus offenbarten guten Gott heraus. Im Schema seiner »Antithesen« findet sich auch eine Aufnahme aus Mt 5,38-42: »Im Gesetz heißt es: ›Auge um Auge und Zahn um Zahn‹. Weil der Herr aber gut ist, sagt er im Evangelium: ›Wenn dich jemand auf die Backe schlägt, halte ihm auch die andere hin! ‹ Wie heißt es nun im Gesetz? ›Mantel um Mantel.‹ Der gute Herr aber sagt: ›Wenn jemand deinen Mantel wegnimmt, gib ihm auch das Hemd noch dazu! ‹« 2 Dieser sehr frühe Gebrauch des Begriffs »Antithesen« sollte gegen seine Anwendung auf Mt 5,21-48 misstrauisch machen. Das antithetische Verständnis hat seine einzige Stütze-- und die ist eine nur vermeintliche-- in dem mit »Ich aber sage euch« übersetzten egō de legō hymin. Dieses Sätzchen wird als eine emphatische Entgegensetzung verstanden. Wie an ihm für das antithetische Verständnis alles hängt, sei an zwei Beispielen gezeigt. Käsemann hatte in seinem die »neue Frage nach dem historischen Jesus« einleitenden Beitrag die »Antithesen« der Bergpredigt so charakterisiert: »Sie überbieten formal den Wortlaut der Thora so, wie es ein den Schriftsinn interpretierender Rabbi auch tun könnte. Entscheidend ist jedoch, daß mit dem egō de legō eine Autorität beansprucht wird, welche neben und gegen diejenige des Mose tritt.« 3 Wenn inhaltlich nichts anderes gesagt wird als das, was Rabbinen in Auslegung der Schrift auch sagen können, und das so verstehen, dass sie damit Mose auslegen, wie kann dann die sachlich identische Aussage, im Anschluss an ein Schriftzitat gemacht, als gegen Mose, gegen die Schrift gerichtet verstanden werden? Dafür vermag Käsemann sich nur formal auf das von vornherein antithetisch verstandene egō de legō zu berufen, ohne den behaupteten Gegensatz am Inhalt der Aussage explizieren zu können. Mehr als vier Jahrzehnte später heißt es bei Ulrich Luz, Jesus stelle »den Willen Gottes der Torah selbst gegenüber, die den Alten am Sinai von Gott gesagt wurde: Egō de legō hymin.« 4 Er bezeichnet diesen Satz pointiert als »die Antithesenformel« und behauptet: »Die Bibel wird durch die Antithesen nicht ausgelegt, sondern weitergeführt und überboten.« Das emphatisch verstandene »Ich aber sage euch« stehe bei Jesus »in einer Antithese gegenüber der Bibel« und so sei »die Antithesenformel […] etwas innerhalb des Judentums Besonderes« (331). Reichlich änigmatisch fährt er fort: »Er will damit nicht die Gebote der Bibel abschaffen, wohl aber ihre formale Autorität, welche bloß darin liegt, daß sie biblisch (errethē! ) und traditional ist. Damit verwandeln sich die biblischen Gebote in lebendige Torah und werden im Kommen des Gottesreichs zum unbedingt gültigen, unbedingt verpflichtenden Willen Gottes« (332). Wie anders kann und soll denn das überlieferte Bibelwort nicht bloß formale Autorität sein, sondern lebendiges Gotteswort werden als dadurch, dass es ausgelegt wird? An einer Stelle der rabbinischen Tradition heißt es, dass die Schule Schammajs und die Schule Hillels drei Jahre miteinander stritten, nach welcher sich die Halacha richten solle. Das habe eine Himmelsstimme entschieden, die aber zunächst feststellte: »Diese und jene sind Worte des lebendigen Gottes« (bEr 13b). Zu Mt 5,22 gesteht Luz zu, dass inhaltlich diese »erste Antithese keineswegs originell« sei, fährt dann aber fort: »Jesus formuliert nur schärfer und zupackender als die (! ) jüdische Paränese, indem er seine Mahnung in die Gestalt eines Rechtssatzes kleidet« (340). Übersehen ist dabei, dass auch die-- von Luz zitierte-- Aussage des Rabbi Elieser: »Wer seinen Mitmenschen hasst, siehe, der gehört zu denen, die Blut vergießen« (DER 11), die »Gestalt eines Rechtssatzes« hat. Mit Hilfe der »Antithesenformel« wird dann als Jesu »Besonderes« behauptet, Klaus Wengst Keine »Antithesen«, sondern Auslegung der Tora Zu Mt 5,17-48 Zum Thema »Wie anders kann und soll denn das überlieferte Bibelwort nicht bloß formale Autorität sein, sondern lebendiges Gotteswort werden als dadurch, dass es ausgelegt wird? « Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 13 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 13 Klaus Wengst Keine »Antithesen«, sondern Auslegung der Tora gebrauchten to rēthen als Einleitung von Schriftzitaten. Konradt will das abschwächen, indem er in dem fünfmal gebrauchten akousate »eine Relativierung« erblickt: In ihm stecke »ein Verweis auf den (synagogalen) Prozess der Vermittlung der Toragebote: Euch hat man das so gesagt; ihr habt das in der Synagoge bei der sabbatlichen Toraauslegung so vernommen, dass zu den Alten gesagt wurde«. 6 Dass die dritte Einheit nur mit errethē eingeführt wird, erklärt sich keineswegs »durch die direkte Fortsetzung der vorangehenden Antithese«. Gemeint ist mit dieser Auskunft, dass es um einen inhaltlich benachbarten Bereich geht. Aber das ist nach Konradt auch bei der vierten und fünften Einheit der Fall, wo sich eine solche »Verkürzung« nicht findet. Zum anderen ist gegenüber dieser »Relativierung« auf die biblisch gewichtige Korrespondenz des Hörens auf das von Gott Gesagte zu verweisen. Die »Relativierung« ist nichts als ein Einfall, um die Behauptung stützen zu können, in dem auf diese Weise Eingeführten lägen die abzulehnenden Thesen »der Schriftgelehrten und Pharisäer« vor. Da in 5,27 lediglich ein Dekaloggebot zitiert wird, muss hier die abgelehnte These hineininterpretiert werden. Mit Recht weist Konradt jedoch darauf hin, dass sich bei den Zitaten im Verhältnis zum biblischen Wortlaut »ein gemischter Befund« zeigt. Aber das mindert nicht das Gewicht des Zitierten. Das wird bei der Besprechung der ersten Einheit diskutiert werden. Besonders problematisch ist, dass Konradt »den Schriftgelehrten und Pharisäern« ein Toraverständnis unterstellt, »das die Gebote entweder nur buchstäblich auffasst oder ihre Bedeutung bzw. ihren Geltungsbereich durch Interpretation einschränkt« (78). Er fügt zwar an, »dass die Thesen keine historisch ohne Weiteres verwertbaren Quellen für das tatsächliche Gesetzesverständnis der Pharisäer sind« (79), aber das wird nicht ausgeführt. Für die behaupteten Thesen werden keine Quellenbelege beigebracht, dass es so etwas im Judentum gegeben hätte. Die Charakterisierung der Thesen dient nur dazu, um Jesu Gegenthesen davon abzuheben und positiv zu profilieren, die-- was in Variation öfters wiederholt wird- - »den vollen Sinn der Gebote und ihre eigentliche, tiefere Intention« erschlössen (79). Wo das inhaltlich konkretisiert wird, lassen sich sofort jüdische, vor allem rabbinische Parallelen anführen. Davon finden sich auch viele-- wenig rabbinische-- bei Konradt. Aber sie kommen bei ihm sachlich nicht zum Zuge und irritieren ihn nicht in seiner antithetischen Auslegung. Gegenüber Luz hält er zu Recht fest, dass es »für Matthäus nicht um Überbietung der Gebote geht«, dass es »um Auslegung des Gebots (geht), nicht um dessen Verschärfung oder Überbietung« (80.83). dass er »die Paränese […] der geltenden Rechtsordnung antithetisch gegenüberstellt« und er eine »Abwertung des Rechts« vornehme. Zu wirklicher Klarheit, was das alles heißen soll, kommt es nicht. Ich sehe, dass Jesus im Matthäusevangelium sich am Diskurs über Recht und Gerechtigkeit beteiligt, aber ich sehe nicht, wo er »das Recht« abwertete oder sich gegen »die Rechtsordnung« stellte. An den besprochenen Stellen von Käsemann und Luz hat sich gezeigt, dass die als emphatischer Gegensatz verstandene Einleitung der Aussagen Jesu: egō de legō den Angelpunkt bildet für ein Verständnis der sechs Einheiten von Mt 5,21-48 als Antithesen. Dabei muss es dann jeweils eine These geben, die von der Gegenthese Jesu abgelehnt wird. »Die Hauptfrage« oder »wichtigste Interpretationsfrage« sei daher, wogegen Jesus sich wende. Nach Luz steht »das Wort Jesu der Bibel selbst gegenüber«; nach Konradt hält Jesus sein Verständnis der Gebote den Auslegungen der Tora durch jüdische Autoritäten entgegen. 5 Die bereits angeführte gewundene Ausdrucksweise von Luz in dieser Frage weist schon auf die Schwäche seiner Antwort hin. Da Jesus im Matthäusevangelium sich immer wieder positiv auf die Schrift bezieht, der Evangelist die Jesusgeschichte geradezu mit der Schrift schreibt, ist diese Antwort extrem unwahrscheinlich. Sie ist im matthäischen Kontext auch von daher schlechterdings ausgeschlossen, dass der Evangelist unmittelbar vorher in der als Leseanweisung zu verstehenden Einleitung zu 5,21-48 die unbedingte Geltung der Tora bis ins Kleinste betont (5,17-20). Aber auch der anderen Antwort stehen Beobachtungen am Text entschieden entgegen. Die Einleitungen der sechs Einheiten charakterisieren das dann Ausgeführte als autoritative Zitate aus der Tora. Mit »den Alten« ist die Sinaigeneration gemeint (hebräisch: ha-rischoním). errethē ist eine Variante zu dem öfters von Matthäus Geb. 1942, Studium der Evangelischen Theologie in Bethel, Tübingen, Heidelberg und Bonn, Promotion 1967, Habilitation 1970 in Bonn. Von 1981-2007 Professor für Neues Testament an der Evangelisch- Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum. Prof. Dr. Klaus Wengst Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 14 - 4. Korrektur 14 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Zum Thema Aber er selbst bleibt im alten Schema der Überbietung des Judentums. Wenn also beide Antworten auf die gestellte Alternative, ob Jesus in Mt 5,21-48 sich gegen die Schrift selbst oder gegen (andere) jüdische Auslegungen wende, untauglich sind, steht diese Alternative selbst in Frage; sie ist falsch gestellt. In Frage steht damit das Verständnis dieser sechs Einheiten als Antithesen. Dessen Ansatz- und Angelpunkt, die Wendung egō de legō, kann anders als antithetisch verstanden werden. Man muss noch schärfer sagen: Im Zusammenhang der sechs Einheiten und im Kontext des Matthäusevangeliums erweist sich die philologisch mögliche Übersetzung mit »Ich aber sage« als eine unmögliche. Die beiden scheinbar für sie sprechenden sprachlichen Phänomene-- das mit »aber« übersetzte Wort und das ausdrücklich gesetzte Personalpronomen »ich«, obwohl es schon in der griechischen Verbform enthalten ist-- erklären sich vom hebräischen Sprachhintergrund her. Das hier gebrauchte Wort de ist schon im originär Griechischen nicht durchgehend adversativ verstanden, sondern auch anknüpfend, 7 im neutestamentlichen Griechisch sogar oft. Im Zusammenhang von Mt 5,21-48 findet sich ein eindeutig nicht adversatives de am Beginn von V. 31, wo das Zitat-- und mit ihm eine neue Einheit-- mit errethē de eingeleitet wird. Wenn das die Elberfelder Bibel mit: »Es ist aber gesagt« wiedergibt, ist das schlicht sinnwidrig. Als weiteres Beispiel für ein weiterführendes de sei auf sein durchgehendes Vorkommen im Stammbaum in Mt 1,2-16 hingewiesen. Auch hier übersetzt die Elberfelder durchgehend mit »aber«, auch hier sinnwidrig. 8 Auf der anderen Seite ergibt sich vom Kontext her, dass an etwa 25 Stellen ein kai im Matthäusevangelium adversativ verstanden ist, sodass es im Deutschen mit »aber« wiedergegeben werden sollte. Ich nenne hier nur die beiden Belege in 11,17 und zwei Stellen, an denen in unmittelbarer Nachbarschaft in derselben Funktion einmal ein de und das andere Mal ein kai steht. In 13,22- 23 heißt es von dem auf das Steinige Gesäten nach der Feststellung, dass er das Wort hörte und mit Freuden annahm: ouk echei de ridsan ktl. Anschließend wird von dem unter die Disteln Gesäten nach der Feststellung, dass er das Wort gehört hat, gesagt: kai hē merimna ktl. In 23,3-4 heißt es von den »Pharisäern und Schriftgelehrten« nach der Aufforderung, sich an das zu halten, was sie sagen, sich aber nicht an ihrem Tun zu orientieren: legousin gar kai ou poiousin, und nach der Aussage, sie würden den Leuten schwere Lasten aufladen: autoi de ktl. Dass kai und de im Matthäusevangelium miteinander in derselben Funktion wechseln können, erklärt sich vom hebräischen Sprachhintergrund des Evangelisten her. Sie stehen für hebräisches v e , das sowohl eine adversativ als auch weiterführend anknüpfende Leistung erbringen kann. Welche es hat, entscheidet sich vom jeweiligen Kontext her. Der Einfluss des Hebräischen auf den Evangelisten Matthäus erklärt auch das Setzen des Personalpronomens an Stellen, an denen es im Griechischen nicht gesetzt werden muss und wo auch aus dem Kontext in keiner Weise hervorgeht, dass es betont werden soll. Weil das Hebräische das Präsens mit dem Partizip konstruiert, ist das Personalpronomen erforderlich, um die gemeinte Person eindeutig zu machen. So heißt es in Ex 23,20 in Gottesrede: hinéj anochí scholéach. Die Septuaginta setzt ein egō, obwohl die Verbform die Person schon enthält: idou egō apostellō«. Genauso nimmt Matthäus dieses Zitat in 11,10 auf. In derselben Weise lässt er aber auch zweimal Jesus sprechen: 10,16; 23,34. Nichts weist an diesen Stellen darauf hin, dass das Ich Jesu betont werden soll. Mit legō und de verbunden erscheint ein solches egō im Munde Jesu noch in 16,18: kagō de soi legō. Die Übersetzungen, die hier adversativ anschließen und das Ich betonen, wirken im Zusammenhang eher seltsam (z. B. Elberfelder: »Aber auch ich sage dir«). Die Neue Zürcher und die »Bibel in gerechter Sprache« bieten: »Und ich sage dir.« Dabei wird in dieser Wendung nicht das Ich des Sprechers herausgestellt, sondern es folgt in Wiederaufnahme der Einleitung von V. 17 in der Rede des Sprechenden eine erneute Einleitung, um die folgende Aussage zu betonen. Hinzu kommt eine weitere Beobachtung. Die sechsmalige Redeeinleitung egō de legō hymin steht in Entsprechung zu der sechsmaligen Zitateinleitung errethē. Beides ist in der rabbinischen Literatur exegetische Terminologie. Dem errethē entspricht ne’emár, die dort am häufigsten gebrauchte Einleitung von Bibelzitaten. egō de legō steht für va’aní omér, womit eine Auslegung angeführt werden kann. Da sich in der Sekundärliteratur häufig die Behauptung findet, Rabbinen würden mit dieser Wendung ihre Auslegung der Auslegung eines anderen Rabbi entgegensetzen, 9 sei auf einen dieser Texte genauer eingegangen. In SifDev § 31 wird die Anrede in Dtn 6,4 (»Höre, Israel! «) mit der Aufforderung an Mose in Ex 22,5 verbunden (»Rede zu den Kindern Israels! «) und festgestellt, dass nicht gesagt sei: »zu den Kindern Abrahams« oder »Isaaks«. Der Grund dafür »Im Zusammenhang der sechs Einheiten und im Kontext des Matthäusevangeliums erweist sich die philologisch mögliche Übersetzung mit ›Ich aber sage‹ als eine unmögliche.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 15 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 15 Klaus Wengst Keine »Antithesen«, sondern Auslegung der Tora wird in Jakobs ängstlicher Sorge gesehen, dass nichts »Verworfenes« (p e sólet) aus ihm hervorgehe, wie das bei seinen Vätern der Fall war. Das wird anschließend so ausgeführt: »Aus Abraham ging Ismael hervor, der Götzendienst trieb. Denn es ist gesagt (schene’emár): Da sah Sara den Sohn Hagars, der Ägypterin (Gen 21,9), dass er Götzendienst trieb; eine Auslegung (divréj) Rabbi Akivas.« Bemerkenswert ist hier, dass mit schene’emár zwar ein Schriftzitat eingeführt wird, dass aber dieses Schriftzitat übergangslos mit einer bestimmten Auslegung verbunden ist, deren Autor erst anschließend genannt wird. Der Text fährt fort: »Rabbi Schimon ben Jochaj sagt: ›Vier Auslegungen (d e varím) hat Rabbi Akiva vorgetragen (hajá dorésch) und ich (va’aní) trage sie vor; und meine Auslegungen sind einleuchtender als seine Auslegungen.‹« Hierzu halte ich zunächst fest, dass mit va’aní (»und ich«) kein Gegensatz eingeführt wird. Rabbi Schimon ben Jochaj bringt in den vier Fällen jeweils eine weitere Auslegung, die jedoch keine ausschließenden Alternativen zu denen Rabbi Akivas bilden, die er aber als einleuchtender bewertet. Als erstes Beispiel führt er dann an: »Passt auf! Er sagt (hu omér): ›Da sah Sara den Sohn Hagars, der Ägypterin, dass er Götzendienst trieb.‹ Und ich sage (va’aní omér): Sie waren lediglich Feinde in Bezug auf Felder und Weinberge. Denn als es ans Teilen ging, sagte Ismael zu ihm: ›Ich nehme zwei Teile, weil ich Erstgeborener bin.‹ Ebenso sagte Sara zu Abraham (Gen 21,10): ›Vertreibe diese Sklavin mit ihrem Sohn usw.‹ Und ich halte meine Auslegung für einleuchtender als seine.« 10 Der Bibeltext, jedoch schon mit einer Auslegung verbunden, war zunächst mit einer passiven Form von »sagen« eingeführt worden, in der Gott logisches Subjekt ist. Gott »sagt«; aber was er sagt, wird gleich auslegend weiter gesagt. Als Autor dieses Weitersagens erscheint Rabbi Akiva. Genau dasselbe Zitat mit sachlich derselben und wörtlich nur ganz unbedeutend variierten Weiterführung (avád statt hajá ovéd) hat dann die Einführung: »Er (nämlich Rabbi Akiva) sagt.« Mit demselben Wort »sagen« führt schließlich Rabbi Schimon ben Jochaj seine eigene Auslegung ein: »Und ich sage«, was die Bedeutung hat: Und meine Auslegung lautet so. »Sagen« ist hier also ohne jeden Zweifel ein Auslegungsbegriff und va’aní omér eine bestimmte Form mit diesem Begriff. 11 Die Wendung egō de legō hymin in Mt 5,21-48 lässt sich in Analogie dazu so verstehen, dass weder ein Gegensatz vorliegt noch das Ich betont ist. Zu übersetzen wäre dann: »Ich nun sage euch« 12 , oder freier: »Ich lege das so aus.« 13 2. Die Hochschätzung der Tora und ihrer Auslegung durch Jesus Nachdem Jesus in seiner Lehre auf dem Berg ausgeführt hat, wer glücklich ist und was seine Schülerschaft qualifiziert und bevor er handlungsorientierte Auslegungen der Tora bietet, lässt Matthäus ihn grundsätzlich zur Geltung der Tora Stellung nehmen. Er stellt dabei gleich mit dem ersten Satz unmissverständlich heraus, dass es nicht darum gehen kann, die Tora zu annullieren, sondern sie zu vollbringen: »Meint nicht, dass ich gekommen bin, die Tora und die Prophetenbücher außer Geltung zu setzen. Ich bin nicht gekommen, um sie außer Geltung zu setzen, sondern um sie zu vollbringen« (5,17). Der hier bezeichnete Gegenstand, um den es geht, lautet wörtlich übersetzt: »die Tora und die Propheten«. Das ist zusammenfassende Bezeichnung dessen, was zur Zeit des Matthäus im Judentum als heilige Schrift galt, das, »was geschrieben steht« und »was gesagt worden ist« als grundlegender Bezugspunkt. »Die Propheten« meint daher »die Prophetenbücher« (vgl. 7,12; 22,40). In »der Tora und den Prophetenbüchern« hat Gott seinen Willen kundgetan-- und der soll getan werden. Jesus verneint also hier sehr grundsätzlich, dass er »die Tora und die Prophetenbücher«, also »die Schriften« im Ganzen, außer Kraft setze oder annulliere. Dem katalysai steht als positiver Gegenbegriff plērōsai gegenüber, das in diesem Gegensatz die Bedeutung von »bestätigen«, »aufrichten«, »verwirklichen« gewinnt. Es im Sinne von »erfüllen« zu verstehen, ließ Spekulationen zu, die klare Aussage des Verses doch wieder zu umgehen. 14 Das geschieht erneut bei Konradt. Er gewinnt aus dem plērōsai: »Dies ist mit dem Anspruch verbunden, dass Jesu Gesetzesauslegung den hinter den Geboten stehenden Gotteswillen umfassend aufdeckt.« »Jesu Weisung« sei »Entfaltung des vollen Sinns und der tieferen Intention der Toragebote«. 15 »Inhalt und Intention der Willenskundgabe Gottes in der Tora« würden »erst durch Jesu Lehre in vollgültiger Weise ans Licht gebracht«. »Gottes Wille« werde von ihm »in neuer Weise zur Geltung gebracht; denn Jesus erfüllt Tora und Propheten, indem er den Vollsinn des Gebotenen aufdeckt«. Das sind Wortblasen. Sobald versucht wird, sie inhaltlich zu konkretisieren, findet sich nichts, was nicht anderswo im Judentum in Auslegung der Tora auch gesagt wäre. In V. 19 wird katalyō aus V. 17 noch einmal mit dem Simplex lyō aufgenommen. Dort steht auf der positiven Seite anstelle des plēroō das Tun und Lehren. Damit gibt Matthäus selbst einen Hinweis, wie er das »Erfüllen« versteht, nämlich die Tora handlungsorientiert auszule- Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 16 - 4. Korrektur 16 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Zum Thema gen und das Ausgelegte im Lebensvollzug umzusetzen. So entspricht es auch dem hebräischen Sprachhintergrund und der rabbinischen Verwendung. Dort findet sich häufig die Entgegenstellung von l e vatél (»annullieren«) und l e qajém der Tora. Letzteres ist Piel des Verbs qum (»stehen«) und hat die Bedeutungen »aufrichten«, »zustande bringen«, »ins Werk setzen«, »vollbringen«. So heißt es z. B. in mAv 4,9: »Wer die Tora in Armut verwirklicht (ha-m e qajém), wird sie am Ende in Reichtum verwirklichen (l e qamejáh). Wer aber die Tora in Reichtum zunichtemacht (ham e vatél), wird sie am Ende in Armut zunichtemachen (l e vateláh).« Die bei Matthäus oft begegnende Formulierung hina plērōthē to rēthen hat im Übrigen eine genaue Entsprechung in der hebräischen Wendung l e qajém mah schene’emar: »aufrichten/ vollbringen/ verwirklichen, was gesagt ist«, 16 die im rabbinischen Schrifttum über 200mal begegnet. Das von Matthäus gebrauchte positive griechische Verb plērōsai, dessen erste Bedeutung »erfüllen« ist, ruft zunächst die Vorstellung von einem leeren Gefäß hervor, das gefüllt wird. Hat man es gefüllt, ist die Sache erledigt. Aber eine solche Vorstellung kann hier nicht gemeint sein. Das Verb begegnet auch in Zusammenhängen, in denen es sich von dieser Vorstellung gelöst hat. Damit entspricht es dem deutschen Verb »vollbringen«. Jesus betont also in aller nur wünschenswerten Deutlichkeit, er sei nicht dazu da, dass er das in »den Schriften«-- und in erster Linie in der Tora-- Gesagte und Gebotene breche und außer Geltung setze, sondern er sei gerade dazu da, dass er es aufrichte und in seiner Geltung bekräftige, dass er es vollbringe. Das wird kurz danach in einem weiteren Aspekt unterstrichen: »Wer immer also ein einziges dieser kleinsten Gebote ungültig macht und die Leute so lehrt, wird der Kleinste im Himmelreich genannt werden. Wer sie aber tut und lehrt, der wird ein Großer im Himmelreich genannt werden« (5,19). Die Vorstellung von Rangstufen im Himmelreich findet sich bei Matthäus auch an anderen Stellen (20,21; 18,1.4). Die Annullierung auch nur des kleinsten Gebotes wird also sanktioniert, wenn auch relativ milde. Wer so handelt, wird nicht des Himmelreichs verwiesen. Daher ist wohl an Menschen gedacht, die grundsätzlich derselben Gruppe zugehören, also Messiasgläubige, die aber im Blick auf bestimmte Toragebote eine andere Praxis und Lehre haben, als Matthäus sie für richtig hält. Jesus bestätigt also nach Matthäus »die Tora und die Prophetenbücher«, alle »Schriften«. Er tut das im Folgenden so, dass er in ihrer Auslegung Lehre erteilt, die getan werden soll. Dass er hier als vollmächtiger Ausleger der Tora vorgestellt wird, heißt nicht, dass nach matthäischem Verständnis die Tora nur so weit und insofern gelte, als sie von Jesus ausgelegt wird. Dass die Auslegung Jesu für Matthäus und seine Gemeinde außerordentlich große Bedeutung hat und die entscheidende Richtschnur für das Handeln bietet, leidet keinen Zweifel. Aber was von Jesus an ethischen Weisungen überliefert ist und was Matthäus davon gesammelt hat und in seinem Evangelium bietet, deckt ja längst nicht alle Lebensbereiche ab. Es ist viel zu wenig, um damit wirklich leben zu können. Das wäre auch eine vollständige Überforderung eines Einzelnen-- selbst wenn er der Messias ist. Auch die Christologie ist überfordert, wenn aus ihr die gesamte Ethik entwickelt werden sollte. Und so hat Matthäus sein Evangelium nicht geschrieben, um mit ihm das zu ersetzen, was in seiner Zeit zu den »Schriften« gehörte. Und er hat es auch nicht geschrieben, um die mündliche Tora, die schriftgelehrte Auslegung der rabbinischen Weisen, beiseiteschieben zu können. Er versteht Jesu Auslegung nicht als überbietende Alternative der mündlichen Tora. Das wird gleich deutlich werden. Zwischen den beiden eben besprochenen Aussagen wird betont herausgestellt, dass die Tora Bestand hat und vollständig zu tun ist: »Ja, amen, ich sage euch: Bis dass Himmel und Erde vergeht, vergeht kein einziges Jota und kein einziges Strichlein von der Tora, bis dass alles geschieht« (5,18). 17 Kein einziges Jota: Das griechische Jota und das hebräische Jud sind jeweils in ihrem Alphabet der kleinste Buchstabe. Nicht der kleinste Buchstabe in der Tora wird angerührt. Dem entspricht, was Rabbi Schimon ben Jochaj nach jSan 2,6 (Krotoschin 20c) lehrte: »Das Buch Deuteronomium stieg hinauf, warf sich hin vor dem Heiligen, gesegnet er, und sagte vor ihm: ›Herr der Welt, Du hast in Deiner Tora geschrieben: Jedes Testament, das teilweise ungültig ist (bateláh), ist ganz ungültig. Und sieh doch, Salomo will ein Jud aus mir herausreißen! ‹ Der Heilige, gesegnet er, »Jesus betont […] in aller nur wünschenswerten Deutlichkeit, er sei nicht dazu da, dass er das in ›den Schriften‹ - und in erster Linie in der Tora - Gesagte und Gebotene breche und außer Geltung setze, sondern er sei gerade dazu da, dass er es aufrichte und in seiner Geltung bekräftige, dass er es vollbringe.« »[Matthäus] versteht Jesu Auslegung nicht als überbietende Alternative der mündlichen Tora.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 17 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 17 Klaus Wengst Keine »Antithesen«, sondern Auslegung der Tora »[K]ann das ›Strichlein‹ im Text des Matthäusevangeliums wirklich die mündliche Tora meinen? « sagte zu ihm: ›Salomo und tausend wie er vergehen, aber von dir vergeht kein Wort.‹« Aber auch »kein einziges Strichlein« von der Tora vergeht. Dieses »Strichlein« lässt sich dann verstehen, wenn es die Zierstriche bezeichnen soll, die in Torarollen seit der Antike bis heute an bestimmten Buchstaben angebracht werden und für das Lesen ohne jede Funktion sind. 18 In einer vielschichtigen rabbinischen Geschichte wird deutlich, dass diese Zierstriche metaphorisch für die mündliche Tora stehen. Nach ihr bringt Gott selbst sie am Sinai in der Tora an. Aus ihnen, heißt es, wird Rabbi Akiva Halachot über Halachot, also die Weisungen für die konkrete Lebensgestaltung, entwickeln (bMen 29b). 19 Dahinter steht die rabbinische Konstruktion, dass die mündliche Tora gleich ursprünglich mit der schriftlichen ist und also auch dieselbe Autorität hat. Aber kann das »Strichlein« im Text des Matthäusevangeliums wirklich die mündliche Tora meinen? Das ist alles andere als abwegig, sondern sehr naheliegend. Später im Evangelium konstatiert Jesus: »Auf dem Lehrstuhl des Mose sitzen die Schriftgelehrten und die Pharisäer.« Für Matthäus sind damit die rabbinischen Weisen seiner Zeit im Blick, die die Tora auslegen. 20 Anschließend lässt er Jesus dessen Hörerschaft auffordern, als die vorher »die Leute und seine Schüler« genannt werden: »Alles nun, was immer sie euch sagen, tut und haltet! « (23,2-3a) Da »die Schüler« im Matthäusevangelium transparent für die Gemeinde sind, heißt das, dass hier die mündliche Tora als verbindlich für die matthäische Gemeinde erklärt wird. Das wird durch die Fortsetzung der Rede Jesu nicht aufgehoben. Was er dort angreift, ist die Diskrepanz zwischen Lehren und Tun, nicht aber das Lehren (23,3b-4). 21 Trotz des klaren Wortlauts dieser Stelle will das die übliche christliche Exegese nicht wahrhaben. Eine Ausnahme bildet Fiedler, der die Ausflüchte gegenüber diesem Text darstellt. 22 Dagegen kann Konradt wieder »V. 3a kaum anders denn als eine ironische Aussage verstehen, deren Funktion darin besteht, als Widerlager für V. 3b zu funktionieren: V. 3a dient dazu, den ›heuchlerischen‹ Widerspruch zwischen Reden und Handeln der Schriftgelehrten und Pharisäer hervortreten zu lassen.« 23 Wo steckt die Ironie? Das »Widerlager« kann doch nur funktionieren, wenn das, was sie sagen, gut ist und also auch getan werden sollte. Käme es bloß auf die formale Feststellung einer Diastase zwischen Reden und Handeln an, wieso wird dann Jesu Hörerschaft ausdrücklich zum Tun dessen aufgefordert, was sie sagen? Der Text ist in keiner Weise dunkel; er lässt an Klarheit nichts vermissen: tun, was sie sagen, aber sich nicht an ihrem Tun orientieren, weil es nicht ihrem Sagen entspreche. Die von Konradt aus dem Evangelium angeführten Stellen, die ein solches Verständnis als unmöglich erweisen sollen, wären sehr genau je in ihrem Kontext und im Zusammenhang mit dieser Aussage und hinsichtlich der Situation des Matthäus zu bedenken. Er befindet sich wegen des für Jesus erhobenen messianischen Anspruchs in einem scharfen Konflikt mit der jüdischen Mehrheit, steht aber nichtsdestotrotz in einem sehr differenzierten innerjüdischen Diskurs. Dass die von Jesus im Matthäusevangelium betonte Geltung der Tora auch die mündliche einschließt, lässt sich für einen Einzelfall konkret zeigen. In der folgenden Wehrede wirft er an einer Stelle »Schriftgelehrten und Parisäern« zunächst vor-- auf der Ebene des Evangeliums: Matthäus im Namen Jesu den rabbinischen Weisen seiner Zeit: »Ihr verzehntet Minze, Dill und Kümmel. Aber das Gewichtigere in der Tora lasst ihr beiseite: das Recht, das Erbarmen und die Verlässlichkeit.« Zumindest Schimon ben Gamliel stimmt mit der Aussage Jesu über das Gewichtigere in der Tora sachlich und zum guten Teil auch terminologisch überein: »Auf drei Dingen steht die Welt: auf dem Recht, auf der Verlässlichkeit und auf dem Frieden« (mAv 1,18). Das Gewichtigere an der Tora macht aber das Verzehnten von Minze, Dill und Kümmel nicht überflüssig. Im Matthäusevangelium heißt es dazu abschließend: »Dies muss man tun und darf jenes nicht lassen« (23,23). Also auch das Verzehnten von Minze, Dill und Kümmel ist verbindlich. Das Verzehnten dieser Gartenkräuter ist jedoch nicht Gebot der schriftlichen, wohl aber der mündlichen Tora. »In Luthers Übersetzung ist von einer Gerechtigkeit die Rede, die ›besser‹ sein soll. Damit wird ein qualitativer Unterschied suggeriert. Der griechische Text enthält jedoch zwei eindeutig quantitative Begriffe: das Verb perisseuō (›über das gewöhnliche Maß hinaus‹ bzw. ›im Überfluss vorhanden sein‹) und den Komparativ pleion (›mehr‹, ›größer‹, ›stärker‹, ›weiter‹). Matthäus dürfte dabei da ran denken, dass in Jesu Schülerschaft nicht geschehen darf, was er in 23,3b den ›Schriftgelehrten und Pharisäern‹ vorwirft, dass nämlich Reden und Tun auseinanderfallen.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 18 - 4. Korrektur 18 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Zum Thema Was in 5,17-19 betont worden ist, wird durch V. 20 nicht zurückgenommen: »Ich sage nämlich: Wenn eure Gerechtigkeit nicht in größerem Überfluss vorhanden ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, werdet ihr nicht ins Himmelreich hineinkommen.« In Luthers Übersetzung ist von einer Gerechtigkeit die Rede, die »besser« sein soll. Damit wird ein qualitativer Unterschied suggeriert. Der griechische Text enthält jedoch zwei eindeutig quantitative Begriffe: das Verb perisseuō (»über das gewöhnliche Maß hinaus« bzw. »im Überfluss vorhanden sein«) und den Komparativ pleion (»mehr«, »größer«, »stärker«, »weiter«). Matthäus dürfte dabei daran denken, dass in Jesu Schülerschaft nicht geschehen darf, was er in 23,3b den »Schriftgelehrten und Pharisäern« vorwirft, dass nämlich Reden und Tun auseinanderfallen. 24 3. Jesus als Ausleger im innerjüdischen Diskurs Jesu Lehre vollzieht sich wesentlich als Auslegung der Tora. Das zeigt sich sogleich paradigmatisch, nachdem er die unbedingte Geltung der Tora herausgestellt hat. Danach wird in sechs Einheiten jeweils am Anfang etwas von dem zitiert, »was den Alten gesagt worden ist«, also aus der der Sinaigeneration gegebenen Tora, und anschließend ausgelegt (5,21-48). Dass das, was Jesus nach den Zitaten sagt, als Auslegung verstanden werden muss, ergibt sich zwingend aus den gerade besprochenen und als Leseanleitung zu begreifenden vorangehenden Aussagen. Dass Jesus hier nicht im Gegensatz zur Tora redet, dass er sie keineswegs außer Kraft setzt, sondern Auslegungen im innerjüdischen Diskurs bietet, zeigt sich auch an dem, was er inhaltlich sagt. Im Folgenden bespreche ich paradigmatisch nur die erste und fünfte Toraauslegung, bei der ersten auch nur den Beginn mit 5,21-22. 25 Hier fällt zunächst auf, dass schon das Zitat aus den Zehn Geboten: »Du sollst nicht morden! « in freier Weise fortgeführt wird: »Wer mordet, verfällt dem Gericht«. Es wird hier sehr offen formuliert und nicht ein mögliches Bibelzitat angeführt wie: »Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll durch Menschen vergossen werden« (1. Mose 9,6). Es sollte nicht sogleich unterstellt werden, solche und ähnliche Bibelstellen seien gemeint, sondern die offene und behutsame Formulierung sollte ernst genommen werden. Sie dürfte schon berücksichtigen, dass es in der pharisäischen Tradition eine klare Tendenz gab, Todesurteile zu vermeiden. So heißt es in mMak 1,10: »Ein Sanhedrin, der einen in sieben Jahren tötet, wird terroristisch genannt. Rabbi Elasar ben Asarja sagt: ›Einen in siebzig Jahren.‹ Rabbi Tarfon und Rabbi Akiva sagen: ›Wenn wir im Sanhedrin gewesen wären, wäre niemals ein Mensch getötet worden.‹« Anderer Meinung ist der anschließend angeführte Rabban Schimon ben Gamliel, nach dem ohne die Todesstrafe die Mörder in Israel zunehmen würden. Bei der Interpretation von Bibeltexten, die Todesurteile vorsehen, werden prozessuale Hürden aufgebaut, die ein Todesurteil unmöglich machen (z. B. bSan 71a zu Dtn 21,18-21). In Mt 5,21 ist das Bibelzitat also schon um eine Auslegung erweitert. Das so verstandene Bibelzitat wird selbstverständlich durch die folgende Auslegung nicht in Frage gestellt, sondern es wird durch einen Überschritt in einen anderen Bereich weiter ausgelegt. 26 Die Auslegung Jesu hat ihre Spitze darin, dass sie dem Morden schon im Vorfeld einen Riegel vorschieben will, indem sie in der Rechtssprache aus dem justiziablen Bereich in den nicht-justiziablen übergeht. So heißt es zunächst in V. 22a: »Jeder, der seinem Mitmenschen zürnt, verfällt dem Gericht.« Eine Mt 5,21 f. in Form und Inhalt recht genau entsprechende Aussage, die einem Zeitgenossen des Matthäus zugeschrieben wird, findet sich in DER 11: »Rabbi Elieser sagt (omér): ›Wer seinen Mitmenschen hasst, siehe, der gehört zu denen, die Blut vergießen.‹ Denn es ist gesagt (schene’emár; Dtn 19,11): Und wenn ein Mensch seinen Nächsten hasst und ihm auflauert und sich gegen ihn erhebt.« Rabbi Elieser »sagt«, was in der Schrift »gesagt worden ist«, d. h. er legt sie aus. Hier steht die Auslegung voran und das Schriftwort folgt. In Mt 5,21-48 wird jeweils zuerst angeführt, was »gesagt worden ist«, und das legt Jesus anschließend in seinem »Sagen« aus. Sachlich ähnlich wie bei Rabbi Elieser heißt es an anderer Stelle: »Die Rabbanan lehrten: Jeder, der jemanden hasst, ist wie einer, der ihn mordet« (Kalla Rabbati 8,4). Das wird ebenfalls mit Dtn 19,11 begründet und dann fortgefahren: »Siehe, wenn er die Möglichkeit dazu in der Hand hat, mordet er ihn.« Nach bBM 58b gilt: »Jeder, der seinen Mitmenschen in der Öffentlichkeit beschämt, ist wie jemand, der Blut vergießt.« In der Fortsetzung gehört außer ihm zu den dreien, die in die Hölle hinab-, aber nicht wieder hinaufsteigen, auch, »wer seinen Mitmenschen mit einem schlimmen Beinamen benennt«-- selbst wenn der schon daran gewöhnt ist. Weder Jesus im Matthäusevangelium noch die Rabbinen haben gemeint, das hier in Rechtssätzen Ausgesprochene auch als Recht zu exekutieren. Weder die auf Jesus bezogene Gemeinschaft noch das Volk Israel sind als Gruppen vorstellbar, in denen das hier Sanktionierte nicht auftrat und in denen dann Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 19 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 19 Klaus Wengst Keine »Antithesen«, sondern Auslegung der Tora Zürnende und Beschimpfende entsprechend behandelt worden wären. Dass es um einen Überschritt in den nichtjustiziablen Bereich geht, macht die Fortsetzung in V. 22b noch deutlicher. »Wer zu seinem Bruder sagt: ›Raka! ‹, verfällt dem Synhedrion. Wer sagt: ›Dummkopf! ‹, verfällt dem Höllenfeuer.« Es besteht hier eine auffällige Spannung zwischen den Vordersätzen und Nachsätzen. Doch sei zunächst gefragt, wie sich die drei Vordersätze in V. 22 zueinander verhalten. Zunächst ist allgemein das Zürnen genannt; dann werden zwei recht harmlose Schimpfwörter angeführt. Letztere gelten demnach als Konkretionen des Zürnens. Bei raká handelt es sich um ein ins Griechische transkribiertes aramäisches Wort in syrischer Aussprache. Die Grundbedeutung des aramäischen reqá und des hebräischen req ist »leer«. Als Schimpfwort gebraucht, würde dem im Deutschen am ehesten »Hohlkopf« entsprechen. Chrysostomos, der aus Syrien stammt und zum Teil auch dort lebte, sagt in seiner Auslegung zu dieser Stelle: »Dieses Raka drückt keine starke Beschimpfung aus, sondern vielmehr eine gewisse Verachtung und Geringschätzung-- wie denn auch wir zu Sklaven oder niedriger Stehenden bei Anordnungen sagen: ›Du da, geh weg, du da, sag dem und dem! ‹ So sagen auch diejenigen, die Syrisch sprechen, raka statt ›du da‹« (Matthäushomilien 16,7). Im heute in Israel gesprochenen Iwrit wird das aramäische reqá etwa im Sinne von »Nichtsnutz«, »Tunichtgut« gebraucht. Das im dritten Vordersatz von V. 22 stehende griechische Wort hat die Bedeutung »dumm«, »töricht«, »einfältig«. Als Schimpfwort gebraucht, würde dem im Deutschen »Dummkopf«, »Tölpel« entsprechen. Das aber heißt: Die Aussagen in den drei Vordersätzen von V. 22 liegen alle auf derselben Ebene; es gibt zwischen ihnen keine sachlichen Unterschiede. Versuche, durch freie Übersetzung oder durch Interpretation eine Steigerung oder auch das Gegenteil in sie hinein zu bringen, widersprechen nicht nur dem klaren Wortlaut des Textes, sondern wirken gezwungen bis komisch. Dagegen bieten die Nachsätze eine außerordentlich starke Steigerung: verfällt dem Gericht, dem Sanhedrin als der obersten jüdischen Instanz, dem Höllenfeuer als dem negativen Ergebnis des Gerichtes Gottes. Ist es schon im ersten gesetzten Fall so, dass hier in der Sprache des Rechts ein Überschritt in den nichtjustiziablen Bereich erfolgt, weil nicht im Ernst daran zu denken ist, dass das Zürnen Gegenstand eines Gerichtsverfahrens sein könnte, so gilt das umso mehr für die beiden anderen Fälle. Der Sanhedrin wird sich nicht damit befassen, wenn jemand einen anderen als »Hohlkopf« bezeichnet. Und man wird es auch Gott nicht unterstellen, dass er jemanden zur Hölle verurteilt, der seinen Mitmenschen einen »Dummkopf« nannte. Es liegt hier hyperbolische Redeweise vor, also bewusste Übertreibung, um den gemeinten Sachverhalt so scharf wie möglich herauszustellen. Die Intention dieser Redeweise besteht darin, sensibel zu machen für alle denkbaren Vorstufen des Mordens. Dem Morden ist schon weit in seinem Vorfeld ein Riegel vorzuschieben. Nicht nur das Morden selbst wird untersagt, sondern auch schon alle emotionalen und verbalen Äußerungen, die Mitmenschen herabsetzen. Für diese Intention ließen sich weitere rabbinische (Sifra, Qedoschin, Perek 4; SifDev § 187) Aussagen und auch die frühchristliche in Did 3,2 anführen. Der Überschritt vom justiziablen Bereich in den nichtjustiziablen in der Sprache des Rechts, wobei Gott als Richter gilt, leistet es, dass alles Handeln in die Verantwortung vor Gott gestellt wird. Bei der fünften Toraauslegung (5,38-42) ist es von entscheidender Wichtigkeit, dass das Schriftzitat »Auge um Auge, Zahn um Zahn« nicht isoliert wahrgenommen wird. Jüdisches Zitieren ist in aller Regel ein Anzitieren, das von den Lesenden und Hörenden die Kenntnis der biblischen Kontexte erwartet. So muss hier vor allem der Zusammenhang von Ex 21,22-27 mitgehört werden. Dort geht es in keiner Weise um die Regulierung von Vergeltung. Vielmehr wird im Falle von Körperverletzungen der Schädiger daraufhin angesprochen, dass er über Richter dem Geschädigten entsprechenden Ersatz zu leisten hat, in der Regel in Form von Geld. Darauf basierend hat die rabbinische Tradition ein ausgefeiltes Invaliditätsrecht entwickelt und dafür als Grundsatz formuliert: »Wer seinen Mitmenschen (körperlich) verletzt, ist in Hinsicht auf fünf Dinge (zur Zahlung) verpflichtet: im Blick auf den Schaden, den Schmerz, die Heilung, den Arbeitsausfall und die Beschämung« (mBQ 8,1). Das wird im Einzelnen weiter entfaltet und im Talmud ausführlich und differenziert diskutiert. Es ist daher verfehlt, wenn der Abschnitt Matthäus 5,38-42 in Bibelübersetzungen und Kommentaren immer wieder unter Überschriften mit dem Stichwort »vergelten« gesetzt wird. Das geschieht auch bei Konradt wieder: »Vom Vergeltungsverzicht«. Da er in dem Schriftzitat die abgelehnte These der »Schriftgelehrten und Pharisäer« erkennen will, sieht er hier an ihnen »kritisiert, dass diese die talio als Grundsatz für das persönliche Verhalten in Konflikten aufnehmen: Ein jeder habe das Recht, auf das erfahrene Unrecht mit ›angemessener‹ Vergeltung zu reagieren: ›Auge um Auge, Zahn um Zahn.‹« 27 Auch hier ist wieder zu fragen: Wo gibt es dafür Belege? Es liegt ein reiner Rückschluss aus der antithetischen Behauptung vor. Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 20 - 4. Korrektur 20 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Zum Thema Bei der Auslegung des Schriftwortes durch Jesus ist zunächst zu beachten, dass bei ihm, anders als im biblischen Text, nicht der Schädiger angeredet wird, sondern der Geschädigte: »Ich nun sage euch, sich nicht dem Bösen zu widersetzen. Nein; wer dich auf die rechte Backe schlägt, dem halte auch die andere hin! Und dem, der mit dir sogar um dein Hemd prozessieren will: Lass ihm auch den Mantel! Und wer dir eine Meile Fron abzwingt, mit dem geh zwei! Dem, der dich bittet, gib! Und von dem, der von dir borgen will, wende dich nicht ab! « Die übergreifende Mahnung, »sich nicht dem Bösen zu widersetzen«, wird durch drei Situationsschilderungen mit jeweiliger Handlungsanweisung erläutert. Daraus ergibt sich, dass mit »dem Bösen« Personen gemeint sind. Als böse gilt, wer beleidigend schlägt, wer jemanden in einem Schuldprozess ganz legal bis aufs Hemd auszieht, wer Fronleistungen erzwingt. Weiter ist damit klar, dass Situationen im Blick sind, die die Sphäre des Rechts betreffen. Der Schlag auf die rechte Backe meint den Schlag mit dem Handrücken, der als beleidigend angesehen und höher sanktioniert wird. Die zweite Szene hat ausdrücklich einen Prozess im Blick. Das Erzwingen von Fronleistungen, meistens Transportdiensten, gründet auf Besatzungsrecht. So liegt auch auf der Hand, dass die Geschädigten auf dem Rechtsweg keine Chance haben. Das Recht funktioniert hier für die Stärkeren und Mächtigeren. In solcher Situation empfiehlt der Philosoph Epiktet passive Hinnahme. Er sagt in einem Vergleich: »Deinen ganzen Körper musst du so haben wie ein gesatteltes Eselchen, solange es möglich ist, solange es dir gegeben ist. Wenn aber eine Zwangsverpflichtung kommt und ein Soldat danach greift, lass es! Widersetze dich nicht und murre nicht! Andernfalls bekommst du Schläge und verlierst nichtsdestoweniger auch das Eselchen« (Dissertationen IV 79). Anders als Epiktet rät Jesus bei Matthäus nicht zu passiver Ergebung aus Einsicht in die Notwendigkeit. Das Gegenüber wird von ihm klar als das benannt, was es ist: böse, mag es auch den Schein des Rechts für sich haben. Er gebietet, sich diesem Bösen in seinen verschiedenen Erscheinungsformen nicht zu widersetzen. Durch die drei Szenen macht er aber deutlich, dass er nicht bloße Hinnahme des Unrecht-Rechts meint. Er ermutigt vielmehr zu situationsbezogener Phantasie jenseits des Pochens aufs Recht und jenseits der Gewalt, einer Phantasie, die eine noch mögliche eigene Aktivität findet, die das Unrecht-Recht bloßstellt, eine Aktivität, die absurdes Theater inszeniert, die etwas hintergründig Subversives hat. In der rabbinischen Tradition heißt es: »Nennt dich dein Mitmensch einen Esel, so lege dir einen Sattel auf! « (bBQ 92b) Vor allem aber gibt Jesus noch eine letzte Mahnung, die nicht mehr auf »den Bösen« sieht: »Dem, der dich bittet, gib! Und von dem, der von dir borgen will, wende dich nicht ab! « Jetzt kommen diejenigen in den Blick, die in der Unrechtssituation ebenso und noch mehr leiden als die hier Angesprochenen. Da gilt die ebenso schlichte wie unbedingte Hilfe; da gilt es zu teilen. Die Aussage dieses Verses entspricht zahlreichen einschlägigen Weisungen der jüdischen Bibel und der jüdischen Tradition. Matthäus gibt also seiner Gemeinde in dieser Toraauslegung Jesu für die gekennzeichnete Situation eine doppelte Handlungsanweisung dafür, wie dem verletzten Recht zur Geltung verholfen werden könnte: einerseits phantasievolle, subversive Bloßstellung des Unrechts und andererseits solidarische Hilfe untereinander der unter dem Unrecht Leidenden. Was sich an den beiden besprochenen Stücken aus Mt 5,21-48 gezeigt hat, kann auch an den vier übrigen deutlich gemacht werden: Die für Jesus im Matthäusevangelium wesentliche Rolle des Lehrers nimmt er in Auslegung der Tora wahr. Dabei bewegt er sich ganz und gar im innerjüdischen Diskurs. Anmerkungen 1 U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1-7), EKK I/ 1, 5 2002, 324-416. Auch im neusten deutschsprachigen Kommentar wird er unhinterfragt verwandt: M. Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, NTD 1, Göttingen 2015, 77-96. Nicht von »Antithesen« spricht P. Fiedler. Er stellt Mt 5,21-48 unter die Überschrift »Beispielhafte Weisungen Jesu zum Handeln«: Das Matthäusevangelium, ThKNT 1, Stuttgart 2006, 129-158. 2 Text nach A. von Harnack, Marcion. Das Evangelium vom fremden Gott, Darmstadt 1960 (= Leipzig 2 1924), 280 f. 3 E. Käsemann, Das Problem des historischen Jesus, in: Ders., Exegetische Versuche und Besinnungen. Erster und zweiter Band, Tübingen 1964 (I 187-214), 206. 4 A. a. O. (Anm. 1), 331. 5 Luz, Das Evangelium nach Matthäus, 328; 330; Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, 78. 6 A. a. O. (Anm. 1), 79. 7 Nach H. G. Liddell/ R. Scott, A Greek-English Lexicon, New edition by H. S. Jones, Oxford 9 1940 (reprint 1961), »Anders als Epiktet rät Jesus bei Matthäus nicht zu passiver Ergebung aus Einsicht in die Notwendigkeit. Das Gegenüber wird von ihm klar als das benannt, was es ist: böse, mag es auch den Schein des Rechts für sich haben.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 21 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 21 Klaus Wengst Keine »Antithesen«, sondern Auslegung der Tora ist de »adversative and copulative« (371). Die Wendung hōde de legō in Platon, Gorgias 509d übersetzt Schleiermacher mit: »Ich meine nämlich so«. Vgl. W. Pape, Griechisch-deutsches Handwörterbuch I, Graz 1954 (Nachdruck der 3. Auflage), 527. 8 Dieselbe geradezu mechanische Wiedergabe von de mit »aber« findet sich im Kommentar von Konradt (Anm. 1). 9 Vgl. z. B. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, 328. 10 Siphre ad Deuteronomium, ed. H. S. Horovitz/ L. Finkelstein, Berlin 1939, Nachdruck New York 1969, 49 f. 11 In 4QMMT findet sich mehrfach die Wendung »wir sagen« (anáchnu omrím) als Einleitung einer Halacha in Auslegung von Bibelstellen, die durch inhaltliche Angaben angezeigt, aber auch durch »es steht geschrieben« (katúv) angeführt werden (F.G. Martínez/ E. J. C. Tigchelaar, The Dead Sea Scrolls. Study Edition II, Leiden u. a. 1998, 798/ 800). Auch hier ist »sagen« Auslegungsterminologie. Wenn Luz von einem »emphatischen anáchnu omrím« spricht (ders., Das Evangelium nach Matthäus, 328), trägt er sein antithetisches Verständnis von Mt 5 hier ein, wo das »Wir« aus grammatischer Notwendigkeit stehen muss und also überhaupt nicht »emphatisch« ist und auch nicht in einem Gegensatz formuliert wird. 12 So Fiedler, Das Matthäusevangelium, 129-158. 13 Ähnlich Luise Schottroff in der »Bibel in gerechter Sprache«. 14 Vgl. die Aufstellung und Diskussion bei Fiedler, Das Matthäusevangelium, 123 f. 15 Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, 16; die beiden folgenden Zitate auf S. 76. 16 Vgl. schon W. Bacher, Die exegetische Terminologie der jüdischen Traditionsliteratur I, Leipzig 1899, 170. 17 Konradt wird mit V. 18 schnell fertig, indem er unter »Jota oder Häkchen« unterschiedslos die »als weniger gewichtig eingestuften Gebote« versteht (ders., Das Evangelium nach Matthäus, 76). Warum schreibt Matthäus dann diesen Vers? 18 Bei Fiedler, Das Matthäusevangelium, 124 (Anm. 76) ist diese Möglichkeit nur eben angedeutet. 19 Vgl. dazu P. Lenhardt/ P. von der Osten-Sacken, Rabbi Akiva, ANTZ 1, Berlin 1987, 318-329. 20 Vgl. H.-J. Becker, Auf der Kathedra des Mose, ANTZ 4, Berlin 1990, 17-51. 21 Hinter Mt 23,3b-4 steht die rabbinische Praxis von Gebotserschwerung und Gebotserleichterung. Dabei gilt als Ideal, dass ein Lehrer für sich selbst erschwert, für die Allgemeinheit aber erleichtert. Wer sich anders verhält, wird selbstverständlich kritisiert. Vgl. dazu Becker, Auf der Kathedra des Mose, 126-135. Nun scheint Matthäus einen Lehrer beobachtet zu haben, der sich so verhalten hat. Das wird für ihn im Konflikt, in dem er sich mit der jüdischen Mehrheit befindet, zur allgemeinen Perspektive der Wahrnehmung, in der er deren Lehrer pauschal zu Heuchlern erklärt. 22 Fiedler, Das Matthäusevangelium, 345-347. 23 Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, 355. 24 Konradt übersetzt zwar mit quantitativer Begrifflichkeit, gebraucht dann aber doch Luthers »bessere Gerechtigkeit«, zunächst mit Anführungszeichen, dann ohne, und versteht sie als Befolgen der Gebote »gemäß ihrem vollen und tieferen Sinn«, der »das neue Erschlossensein von Gesetz und Propheten durch Leben und Lehre Jesu« voraussetze (ders., Das Evangelium nach Matthäus, 74.77). 25 Zum gesamten Abschnitt vgl. meine Auslegung in: Das Regierungsprogramm des Himmelreichs. Eine Auslegung der Bergpredigt in ihrem jüdischen Kontext, Stuttgart 2010, 82-137. 26 Nach Konradt hat die Erweiterung des Dekaloggebots mit dem Rechtssatz die Funktion, »eine restriktive Deutung des Tötungsverbots anzuzeigen, die […] den Schriftgelehrten und Pharisäern zur Last gelegt wird«. Indem das Gebot allein als Rechtssatz gelesen werde, folge »ein bloß buchstäbliches Verständnis«. Es gehe dann »allein um den Straftatbestand des Mordes«, mit der Konsequenz, »dass alles, was unterhalb dieser Schwelle liegt, vom Gebot nicht berührt wird« (Das Evangelium nach Matthäus, 81). Dafür kann kein Quellenbeleg geboten werden, wohl aber für die »Gegenthese Jesu«. 27 Konradt, Das Evangelium nach Matthäus, 94. Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 22 - 4. Korrektur 22 ZNT 36 (18. Jg. 2015) 1. Dialoge Das Schlagwort »Dialog« begegnet im Alltag auf Schritt und Tritt. Eingefordert wird ein »konstruktiver Dialog« zwischen Tarifparteien oder zwischen Politikern eines oder mehrerer Staaten. Verschiedene Religionsgemeinschaften oder sogar Universitätstheologien sollen einen »Dialog der Religionen« anstoßen, die Frankfurter Museumslandschaft kennt gar ein Dialogmuseum, in dem Blinde einen »Dialog im Dunkeln« für Sehende anbieten. All diese Dialoge setzen eine prinzipielle Verschiedenheit, mitunter sogar eine Gegensätzlichkeit voraus, die im Dialog dann zumeist in Form von Synthesen überwunden werden sollen: Es wird erwartet, dass sich Tarifparteien oder politische Parteien möglichst rasch auf einen Kompromiss einigen. Der Feststellung der Verschiedenheit-- »Die Welt liegt in Agonie.« 1 -- wird eine synthetische Lösungsperspektive gegenübergestellt: »Wir bekräftigen, daß sich in den Lehren der Religionen ein gemeinsamer Bestand von Kernwerten findet und daß diese die Grundlage für ein Weltethos bilden.« Dialoge gelten als notwendiges Durchgangsstadium von der Verschiedenheit zur Einheit. »Ich gehöre nicht zu jenen schlechten Schriftstellern, die behaupten, sie schrieben nur für sich selber. Das einzige, was Schriftsteller für sich selber schreiben, sind Einkaufslisten, die ihnen helfen sich zu erinnern, was sie besorgen wollten, und die sie hinterher wegwerfen können. Alles andere, einschließlich Wäschelisten, sind Botschaften, die sich an jemanden richten. Es sind keine Monologe, sondern Dialoge.« 2 -- So betont Umberto Eco in seinen Bekenntnissen eines jungen Schriftstellers, dass jeder Text als dialogisch verfasst gelten kann, und zwar mit einer einfachen Begründung: Die Texte sind »Botschaften, die sich an jemand anderes richten.« Texte sind an andere gerichtet, einzelne Stimmen treffen auf andere Stimmen, eine Auseinandersetzung, ein Dialog wird angestoßen. Diese literarischen Dialoge sind für Eco nicht nur Durchgangsstadium, sondern Ausweis schriftstellerischer Qualität. Ein einmal angestoßener Dialog wird hier gerade nicht durch eine Kompromiss-Lösung beendet. Michail Michailowitsch Bachtin ist derjenige unter den großen Literaturtheoretikern des 20. Jahrhunderts, der nicht nur den Begriff der »Dialogizität« geprägt, sondern sich auch am intensivsten mit der dialogischen bzw. monologischen Struktur von Texten auseinandergesetzt hat. Sein Leben und Werk bieten Anlass für philosophische und literaturwissenschaftliche Debatten, genauso wie für biographische und wissenschaftsgeschichtliche Anekdoten. Bachtin, der-- einmal mehr aus eigenem Antrieb, ein anderes Mal durch die politischen Verhältnisse gezwungen-- seine Wohn- und Arbeitsorte wechselte, hinterließ ein kaum zu überblickendes Oeuvre mit vielen unvollendeten, unpublizierten und unübersetzten Texten. Der Altphilologe Thomas Schmitz erklärt diesen Befund mit Bachtins Persönlichkeit: »Bachtin war ungewöhnlich wenig ehrgeizig und legte selbst auf die Veröffentlichung seiner Schriften keinen großen Wert. Eine Reihe seiner Schriften wurde, als er selbst schon in Moskau lebte, von Freunden aus Saransk geborgen, wo sie völlig vernachlässigt in einem Schuppen lagen. Es scheint möglich, dass sich auch heute noch irgendwo auf einer der zahlreichen Stationen von Bachtins unstetem Leben bisher unbekannte Manuskripte finden, die unser Bild seines Denkens verändern würden.« 3 Zu den über Bachtin kursierenden Anekdoten gehört auch, dass dieser geringe Ehrgeiz dazu führte, dass er während der Kriegszeit bereits publikationsreife Texte wieder vernichtete, indem er das Manuskript als Zigarettenpapier nutzte. Noch kontroverser als das Problem der nicht verfügbaren Schriften wird in der Bachtin-Forschung über die Autorschaft verschiedener mutmaßlich unter Pseudonymen bzw. unter dem Namen eines Freundes veröffentlichter Texte diskutiert-- insbesondere dann, wenn diese Texte in ideologische Nähe zum Stalinismus gestellt werden könnten. Während die philosophisch-erkenntnistheoretischen Arbeiten 4 Bachtins keine allzu breite Rezeption erfuhren, gehören wenigstens drei von ihm geprägte Begriffe zum Grundbestand der gegenwärtigen Literaturtheorie: »Karnevalisierung«, »Chronotopos« und schließlich »Dialogizität«. In seiner Dissertation Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur 5 beschreibt Bachtin »Karnevalisierung« bzw. das »Karnevaleske« als das gesellschaftlich akzeptierte (und notwendige), zeitweilige Durchbrechen geltender (kultureller oder literarischer) Konventionen. Mit »Chronotopos« wird der wechselseitige Zusammenhang zwischen Raum- und Zeitstrukturen in einem literarischen Werk bezeichnet, maßgeblich geprägt durch Bachtins gleichnamige Monographie. 6 Michael Schneider Dialog der Gegner Ein Blick auf das Matthäusevangelium mit Michail Bachtin Zum Thema Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 23 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 23 Michael Schneider Dialog der Gegner langue, sondern die parole, die einzelne sprachliche Äußerung, in den Mittelpunkt rücken. Sprache als Äußerung eines Subjekts verdankt sich nach Bachtins Ansatz immer einem Kontext, ereignet sich, ist an bestimmte Situationen gebunden, durch die ein Text ein bestimmtes semantisches Potential erhält: »Die Sprache ist für das in ihr lebende Bewusstsein nicht etwa ein abstraktes System normativer Formen, sondern eine konkrete in der Rede differenzierte Ansicht von der Welt. Allen Wörtern sind der Beruf, die Gattung, die Richtung, die Partei, das bestimmte Werk, die bestimmten Menschen, die Generationen, Altersstufen, Tag und Stunde anzumerken. […] Im Wort sind die kontextuellen Obertöne unvermeidbar.« Ein Text ist nie ein überzeitliches Etwas, sondern Autor, Leser und Text sind raum-zeitlich (chronotopisch) ge- und verbunden. Sprachliche Äußerungen kommen nicht isoliert vor, sondern begegnen einander in Kontexten-- die grundlegende Definition von »Dialogizität«: Daher ist »das literarische Wort nicht ein Punkt (ein feststehender Sinn) […], sondern eine Überlagerung von Text-Ebenen, ein Dialog verschiedener Schreibweisen: der des Schriftstellers, der des Adressaten […], der des gegenwärtigen oder vorangegangenen Kontextes.« 8 Ein Text lebt von der »Dialogizität« der verschiedenen, nicht aufzulösenden Stimmen in ihm. Bachtin hatte mit dieser Definition jede einzelne sprachliche Äußerung im Blick. Genauso wie er sein eigenes Werk als situationsgebundenes versteht, betont er, dass alle sprachlichen Äußerungen nicht im luftleeren Raum vorkommen, sondern in dialogischer Form auftreten- - als Dialog zwischen realen, literarischen oder fiktiven Personen. Sprache entsteht nicht in jeder Äußerung neu, sondern nimmt immer Bezug auf vorherige Äußerungen und fügt sich in gegebene aktuelle Kontexte ein. Jede Äußerung ist in diesem Sinne dialogisch. »Nur der mythische Adam, der mit dem ersten Wort an eine noch jungfräuliche Welt herantrat, der einsame Adam hatte es nicht mit dieser dialogischen, wechselseitigen Orientierung an dem fremden Wort im Gegenstand zu tun«. 9 Der Idealfall einer solchen literarischen »Dialogizität« liegt für Bachtin in Dostojewski-Romanen vor, Strukturmerkmale findet er aber in Texten bis zurück zur Antike. Es geht ihm dabei um »Dialogizität« als ein nicht zur Synthese gebrachtes Nebeneinander verschiedener, auch gegensätzlicher Stimmen im literarischen Text. Schließlich entwickelt Bachtin den Begriff der »Dialogizität« und stößt damit-- in weiten Teilen erst nach seinem Tod-- eine kaum zu überschätzende Debatte innerhalb der Literatur- und Sprachwissenschaft an. Dabei spielte zunächst gar nicht dieser Begriff, sondern der noch wirkmächtigere und in der Rezeption der Bachtinschen Werke entstandene Begriff der »Intertextualität« eine Rolle. »Intertextualität«-- mittlerweile auch breit als Terminus in der Exegese rezipiert 7 -- beschreibt zugleich eine grundlegende Eigenschaft aller wie auch ein besonderes Strukturmerkmal eines spezifischen Textes: Zunächst stehen Texte in einem allgemeinen Sinn in Bezügen zu anderen Texten, entstehen immer schon in Reaktion auf bereits vorhandene Texte, schreiben sich in die Welt aller vorhandenen Texte einer Kultur ein. Sodann lässt sich aber nach spezifischen intertextuellen Bezügen und den Strategien fragen, die ein Text mit der Bezugnahme auf andere Texte verfolgt. Julia Kristeva, die das Paradigma »Intertextualität« prägt, greift dabei auf Bachtins »Dialogizitätsbegriff« zurück und entwickelt diesen weiter. Bei Bachtin findet Kristeva eine grundlegende Orientierung nicht am System der Sprache (langue), sondern an Sprache und Texten in ihrer jeweiligen, konkreten Situation (parole). Beide Theoretiker unterscheiden sich von strukturalistischen Ansätzen ihrer Zeit dadurch, dass sie gerade nicht die Dr. Michael Schneider, Jahrgang 1977, 1996 -2002 Studium der Evangelischen Theologie, Philosophie und Mathematik; 2008 Promotion; Leiter des Dekanats am Fachbereich Evangelische Theologie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main; Forschungsschwerpunkte und -interessen: Matthäusevangelium, Paulinische Theologie, Biblische Intertextualität, Bibeldidaktik, Bibel in Liturgie, Predigt und Kirchenmusik. Dr. Michael Schneider »Sprache als Äußerung eines Subjekts verdankt sich nach Bachtins Ansatz immer einem Kontext.« »Ein Text ist nie ein überzeitliches Etwas, sondern Autor, Leser und Text sind raum-zeitlich (chronotopisch) ge- und verbunden.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 24 - 4. Korrektur 24 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Zum Thema Bachtins Ausführungen zur »Dialogizität« fußen auf der Wahrnehmung des literarischen Wortes als sozialer Erscheinung. Ein Herauslösen aus diesem Bezugsrahmen lässt aus dem lebendigen Wort ein histologisches Präparat entstehen. Ein einheitliches System von Sprache erscheint bei Bachtin nur als ein Projekt, eine Denkfigur, die im Gegenüber zur tatsächlichen Redevielfalt steht. Auch das o. g. Zitat von Umberto Eco greift daher die Bachtinsche Vorstellung eines »Primats des Dialogs über den Monolog« auf: »Jede konkrete Aussage des redenden Subjekts ist ein Angriffspunkt sowohl für die zentripetalen, als auch für die zentrifugalen Kräfte. Die Prozesse von Zentralisation und Dezentralisation, von Vereinheitlichung und Differenzierung überschneiden sich in ihr; sie genügt nicht nur ihrer Sprache als ihrer individualisierten Verkörperung in der Rede; sie genügt auch der Redevielfalt, an der sie aktiv beteiligt ist. Und diese aktive Teilnahme jeder Äußerung an der lebendigen Redevielfalt bestimmt das sprachliche Erscheinungsbild und den Stil der Äußerung nicht weniger als ihre Zugehörigkeit zum normativ-zentralisierten System der Einheitssprache.« 10 Eine Kultur, insbesondere aber jeder Text lebt nach Bachtin von der Partizipation an der lebendigen Redevielfalt. Jede Äußerung ist ein Sich-in-Beziehung- Setzen mit anderen Äußerungen. Dabei-- auch das ist ein Grundgedanke in Bachtins Ansatz-- hat der Andere stets sogar einen perspektivischen Vorteil, kann mich vollständiger wahrnehmen als ich das selbst vermag. »Jedes Verstehen ist das In-Beziehung-Setzen des jeweiligen Textes mit anderen Texten und die Umdeutung im neuen Kontext (in meinem, im gegenwärtigen, im künftigen) […] Die Etappen dieser dialogischen Bewegung des Verstehens sind: Ausgangspunkt-- der vorliegende Text. Bewegung zurück-- die vergangenen Kontexte, Bewegung nach vorn-- Vorwegnahme (und Beginn) des künftigen Kontextes. Der Text lebt nur, indem er sich mit einem anderen Text (dem Kontext) berührt. Nur im Punkt dieses Kontaktes von Texten erstrahlt jenes Licht, das nach vorn und nach hinten leuchtet, das den jeweiligen Text am Dialog teilnehmen läßt. Wir unterstreichen, daß dieser Kontakt ein dialogischer Kontakt zwischen Texten (Äußerungen) ist.« 11 2. Exegetische Monologe »Dialogizität« ist nach dieser kurzen Skizze zum komplexen Bachtinschen Werk offenkundig keine methodische Option zur Analyse eines biblischen Textes. Bachtin bietet stattdessen einen Ansatz, 12 der ein neues Licht auf Einheit und Vielfalt, Polyphonie und Positionalität wirft, auch in biblischen Texten. Bei Bachtin sind Eindeutigkeit, über Synthese hergestellte Einheit genauso wie Widerspruchsfreiheit weder Merkmale einer idealen Ursprungssituation, noch anzustrebende Lösung einer dialogischen Auseinandersetzung. Daher erweisen sich viele Dialoge-- seien sie literarischer oder anderer Natur- - bei näherer Betrachtung gerade nicht als dialogisch im Sinne Bachtins. Wenn die Pointe eines Dialogs in der vollständigen Aufgabe verschiedener Positionen besteht, ist Bachtins Perspektive dezidiert anders. »Dialogizität« in seinem Sinne beschreibt eine Antwortoption auf die Frage, wie mit der Realität des unaufgehobenen Differenten umzugehen ist. In einem Text stehen idealerweise differente Positionen nebeneinander; primäres Ziel ist es nicht, den Dialog aufzulösen, sondern ihn am Laufen zu halten. Damit korrespondiert der bereits erwähnte Aspekt bachtinscher Theoriebildung, dass die eigene Position durch den Anderen immer zutreffender, sicherlich aber umfassender darstellbar ist. Es braucht den Dialog unterschiedlicher Stimmen, um die eigene Position darstellbar zu machen. Bachtin hat keinen systematisch abgeschlossenen hermeneutischen Entwurf, geschweige denn eine theologische Hermeneutik vorgelegt. Dennoch diskutiert er mit dem Konzept der »Dialogizität« Fragestellungen, die für die Exegese von großer Bedeutung sind, im Besonderen die Verhältnisbestimmung von Einheit und Vielfalt bzw. den Umgang mit differenten Positionen, Gegensätzen und Widersprüchen. In vielen exegetischen Zusammenhängen wird Vielstimmigkeit vorwiegend als Problem begriffen, das historisch oder systematisch aufgelöst werden kann. So wird beispielsweise der »Dialogizität« innerhalb einer biblischen Schrift oder zwischen biblischen Einzelschriften regelmäßig damit begegnet, dass diese auf möglichst monologische Sequenzen reduziert wird: »Driven by the › self-evident‹ claims of monologic truth, however, biblical criticism attempted to disentangle the various voices, so that one »Bachtins Ausführungen zur ›Dialogizität‹ fußen auf der Wahrnehmung des literarischen Wortes als sozialer Erscheinung.« »In einem Text stehen idealerweise differente Positionen nebeneinander; primäres Ziel ist es nicht, den Dialog aufzulösen, sondern ihn am Laufen zu halten.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 25 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 25 Michael Schneider Dialog der Gegner could identify the different individual monologic voices. This seemed to be the way to deal with the phenomenon of a text whose multivoicedness contradicted the reigning notions of authorship.« 13 Nach Carol Newsom begegnet also ein historisch-kritischer Ansatz der in den biblischen Texten (bzw. im biblischen Kanon) angelegten Dialogizität, indem versucht wird, aus diesem neue Textabschnitte zu extrahieren, die monologisch strukturiert sind. Aber auch viele literaturwissenschaftliche Ansätze in der Exegese versuchen laut Newsom, Texte monologisch engzuführen: »Literary readings of the new critical persuasion offered to deal with the final form of the text but did so by reading the text › as though‹ it had been the product of a single author. Reader response approaches located unifying consciousness increasingly in the reader.« 14 Newsoms Essay macht deutlich, dass die Analyse biblischer Texte ganz unterschiedlicher Ansätze geprägt ist von der grundlegenden Annahme des monologischen Charakters eines Textes-- dieser wird entweder durch Reduktion eines Gesamttextes auf kleinste, monologische Einheiten oder durch die Annahme eines einheitlichen impliziten Autors oder Lesers erreicht. »Dialogizität« entsteht demgegenüber »at the point of several unmerged voices.« 15 Diese verschiedenen Stimmen können nicht synthetisch ineinander oder in ein systematisches Drittes aufgelöst werden. Neben Carol Newsom findet man eine ganze Reihe US-amerikanischer Veröffentlichungen, die sich mit Bachtin aus exegetischen bzw. theologischen Perspektiven auseinandersetzen: einführende Sammelbände wie Makhail Bakhtin and Biblical Scholarship: An Introduction, 16 exegetische Studien wie Dialogues of the Word: The Bible as Literature According to Bakhtin 17 oder weiterführende exegetische und religionsphilosophische Arbeiten wie Christianity in Bakhtin. God and the exiled author 18 und Corporeal Words. Mikhail Bakhtin’s Theology of Discourse. 19 Im deutschsprachigen Raum wurde sein Ansatz in erster Linie zur theoretischen Fundierung kanonisch-intertextueller Ansätze (Georg Steins) herangezogen. Bachtin hatte dialogische Elemente insbesondere in den Romanen Dostojewskis vorgefunden, und sicherlich haben die neutestamentlichen Texte, die als Autorenliteratur gerade die Position des Protagonisten stark machen wollen, eine andere Grundstruktur als jene. Dies trifft sicherlich auch, wenn nicht in besonderem Maße für das Matthäusevangelium zu, dessen Textstrategie zu weiten Teilen ja gerade darin besteht, eine Perspektive den anderen vorzuordnen. Gerade in einem solchen Text lässt sich aber mit Bachtin fragen, ob es Matthäus gelingt, die Stimme des Protagonisten monologisch vor alle anderen zu stellen. Welche Rolle spielt dabei die (imaginierte) Perspektive der anderen für die eigene Position? Lässt sich die Welt, die das Matthäusevangelium beschreibt, zutreffend in einer monologischen Systematik beschreiben? Wie geht der Text mit Spannungen und Konflikten um? Gibt es unterschiedliche Positionen und wie werden diese zueinander in Beziehung gesetzt? Innerhalb des Matthäusevangeliums erhalten diese Fragen nach dialogischem Nebeneinander bzw. Gegenüber ihre besondere Relevanz in der Thematik der sogenannten »Gegner Jesu«. Diese steht im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen. 3. Wer gegen wen? - die Gegnerfrage im Matthäusevangelium Die Konfliktlinien im Matthäusevangelium sind scheinbar klar gezogen: hier der Protagonist und seine Anhänger-- dort die Gegner; hier Jesus und die Jünger-- dort die Pharisäer, Schriftgelehrten, Hohepriester etc. Dieser Eindruck eines klaren Gegenübers wird in der grundlegenden Monographie von Jack D. Kingsbury Matthew as Story zunächst unterstützt: Er stellt im Wesentlichen drei große story lines innerhalb des Matthäusevangelium-- die des Protagonisten, der Gegner und der Anhänger Jesu-- dar. Kingsbury legt besonderen Wert auf die Untersuchung der auftretenden Gegner, die er aufgrund ihrer vergleichbaren Funktion innerhalb des Evangeliums bei aller Unterschiedlichkeit als single character 20 bezeichnet. Der Protagonist und seine Anhänger befinden sich in fortwährendem Konflikt mit den Gegnern, die diesen zunächst-- mit dem vollzogenen Tötungsbeschluss-- für sich entscheiden. Mit der Ostergeschichte nimmt die Erzählung dann aber eine Wendung: Nicht die Gegner, sondern der Protagonist setzt sich durch. Im »ersten Schluss« der Erzählung (Kreuzigung) hat sich die eine Position, im »zweiten Schluss« (Auferstehung) die andere Position durchgesetzt. Diese scheinbar klare und auf der Hand lie- »Bachtin hatte dialogische Elemente insbesondere in den Romanen Dostojewskis vorgefunden.« »Lässt sich die Welt, die das Matthäusevangelium beschreibt, zutreffend in einer monologischen Systematik beschreiben? Wie geht der Text mit Spannungen und Konflikten um? « Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 26 - 4. Korrektur 26 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Zum Thema gende Analyse wirft wenigstens drei Probleme auf, die im Folgenden vor dem Hintergrund der Skizzen zu Bachtin näher betrachtet werden sollen. 3.1 Welcher Gegner? So wie er in der kommentierenden Literatur verwendet wird, ist »Gegner« ein metasprachlicher Begriff, der im Matthäusevangelium nicht vorkommt. »Gegner Jesu« dient als Sammelbegriff für »die politischen und religiösen Autoritäten seines Volkes«. 21 Das, was mit diesem Sammelbegriff bezeichnet wird, versteht sich aber weder von selbst, noch ausschließlich aus dem Text heraus, indem z. B. bestimmte Handlungen/ Verbalaussagen als typisch für ein gegnerisches Handeln identifiziert werden könnten. Die immer wieder als selbstverständlich vorausgesetzte Kategorisierung, wer »Freund und Feind« ist, wäre zunächst aus dem Text heraus zu erheben. Regelmäßig wird die Frage allerdings über textexterne Plausibilitäten geklärt. Dadurch werden dann zwei grundsätzlich zu unterscheidende Ebenen nicht klar getrennt-- die Rückfrage nach historisch plausiblen Konfliktkonstellationen zur Zeit Jesu (oder zur Zeit der Abfassung des Matthäusevangeliums) und die literaturanalytische Frage nach Figurenzeichnung innerhalb des Matthäusevangeliums. Die implizite Annahme ist zumeist, dass sich im Matthäusevangelium eine »tatsächlich« gegebene Situation wiederspiegelt oder zumindest ihren Niederschlag findet. »Gegner« sind dann solche Personen(gruppen), die zur Zeit der Abfassung des Matthäusevangeliums oder während Jesu Wirken historisch plausibel als Gegner vorgestellt werden können. Die Frageperspektiven lauten daher: Wie lässt sich aus der matthäischen Gemeindesituation heraus die Darstellung »der Pharisäer«, »der Schriftgelehrten«, »der Hohepriester« etc. im Matthäusevangelium plausibel machen? Wer waren die Gegner Jesu, mit denen er sich auseinandersetzte und die schließlich zu seiner Verurteilung geführt haben? Hinter der Vorstellung der »Gegner« als single character scheint schon immer eine genaue Vorstellung darüber zu stehen, wer diese Gegner realhistorisch »waren«. Die matthäische Figurenzeichnung lieferte in einer solchen Perspektive rein deskriptiv Informationen über Konstellationen in den frühen Christengemeinden oder die Lebensumstände Jesu. 22 Die Frage nach den »Gegnern« muss aber zunächst-- wie Hansjörg Schmid treffend für den 1Joh herausgearbeitet hat-- anders gestellt werden: »Die neue Frage lautet: Wie funktioniert der Text? Welche Grenzen zieht der Text, und in welchem Zusammenhang stehen diese Grenzen? Die Frage richtet sich folglich nicht darauf, wie die Grenze zwischen Gemeinde und Gegnern genau aussah, sondern wie und zu welchem Zweck sie gezogen wird. […] Daraus ergibt sich das Programm, Akte der Fremdbezeichnung und Geschichtskonstruktion nicht vorschnell in vermeintlich rekonstruierte Geschichte aufzulösen, sondern in ihrer pragmatischen Funktion zu untersuchen. Nicht wer die Gegner waren, lautet dann die Frage, sondern zu welchem Zweck und in welchem Zusammenhang überhaupt von Gegnern gesprochen wird. Dazu gilt es, in und nicht hinter den Text zu schauen. […] Die Gegnerfrage, wie sie traditionell gestellt wird, ist ein ›Kind des Historismus‹.« 23 Am Beispiel der »Pharisäer« wird die Problematik besonders deutlich: Zweifellos befinden wir uns zur Entstehungszeit der synoptischen Evangelien in einer Zeit, die geprägt ist von Neuformierungsprozessen innerhalb der jüdischen und neu entstehenden christlichen Gemeinschaften: Unterschiedliche jüdische Gruppierungen treten zugunsten einer Gruppe starker pharisäischer Prägung zurück, die dann später mit dem Kollektivbegriff Judentum bezeichnet wird. Nichtsdestotrotz sind wenigstens drei Ebenen berührt, wenn das Matthäusevangelium etwa von »Pharisäern« spricht: a) »Pharisäer« bezeichnet eine religiös-politische Gruppierung zur Zeit Jesu (der dieser Jesus vermutlich relativ nahe stand), gilt b) innerhalb eines beginnenden Abgrenzungsprozesses im 1. Jahrhundert als Sammelbegriff für eine bestimmte jüdische Gemeinschaft (die sich ggf. in Auseinandersetzung mit der matthäischen Gemeinde befand) und bezeichnet c) auf der literarischen Ebene des Matthäusevangeliums eine Figur, die sich (auch) in ihrer spezifischen literarischen Funktion gegenüber dem Protagonisten beschreiben lässt. Die vorschnelle Gleichsetzung aller drei Ebenen führt, nicht zuletzt mit Blick auf die Rolle der Gegner in der Passionsgeschichte, zu erheblichen Kurzschlüssen-- die Wirkungsgeschichte dieser Texte liefert unzählige bedrückende Beispiele dafür. Dabei soll hier keinesfalls die Position vertreten werden, dass die historische Verortung für die Analyse des Matthäusevangeliums irrelevant ist. Gerade mit »Wer waren die Gegner Jesu, mit denen er sich auseinandersetzte und die schließlich zu seiner Verurteilung geführt haben? « Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 27 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 27 Michael Schneider Dialog der Gegner Bachtin muss auch ein neutestamentlicher Text nicht als »abstraktes System normativer Formen, sondern [als] eine konkrete in der Rede differenzierte Ansicht von der Welt« verstanden werden. Es besteht eine große historische Plausibilität für die Annahme, dass es im Umfeld der Entstehung des Matthäusevangeliums auch Konfliktkonstellationen gab, die dessen Abfassung beeinflusst haben. Auch der umgekehrte Weg-- Textabschnitte des Matthäusevangeliums werden zur Grundlage antijudaistischer Agitation-- ist wirkungsgeschichtlich leider allzu oft zu beobachten. Aber gerade deshalb sind die genannten drei Ebenen-- mit der Wirkungsgeschichte eines Textes nach seiner Abfassung müsste man eine vierte ergänzen-- in der Analyse und erst recht im theologischen Urteil klar zu differenzieren. Der Text und die Welt außerhalb des Textes stehen zwar in Bezug; textinterne Polemiken, Konflikte, Auseinandersetzungen lassen sich aber nicht einlinig auf die textexterne Welt übertragen. Genauso wenig lassen sich Kategorien wie die der »Gegner« aus der textexternen Welt einfach auf den Text anwenden-- der Text wäre dann auf die Funktion der Abbildung einer historischen Begebenheit reduziert. 3.2 Welche Gegner? Judy Yates Siker hat in ihrer Untersuchung 24 den Versuch unternommen, zunächst einmal zusammenzutragen, welche Personen(gruppen) gemeinhin als »Gegner« vorgestellt werden und kommt insgesamt auf sechzehn (! ) verschiedene Lexeme: 1) Schriftgelehrte und Pharisäer (Mt 5,20; 12,38; 15,1; 23,2. 13. 15.23. 25. 27.29) 2) Pharisäer (Mt 12,2. 14. 24; 15,12; 19,3; 22,15.34; 23,26) 3) Hohepriester und Älteste (Mt 26,3.47; 27,1.3.4.12.20; Mt 28,11 f.) 4) Pharisäer und Sadduzäer (Mt 3,7; 16,1.11.12) 5) Heuchler/ Hypokritai (Mt 6,2.5.16; 15,7) 6) Schriftgelehrte (Mt 7,29; 9,3; 17,10) 7) Älteste, Hohepriester und Schriftgelehrte (Mt 16,21; 27,41) 8) Hohepriester und Schriftgelehrte (Mt 2,4; 20,18; 21,15) 9) Hohepriester und Pharisäer (Mt 21,45; 27,62) 10) Anhänger/ Schüler der Pharisäer und Herodianer (Mt 22,16) 11) Sadduzäer (Mt 22,23) 12) Schriftgelehrte und Älteste (Mt 26,57) 13) Hohepriester und der ganze Hohe Rat (Mt 26,59) 14) Hohepriester (Mt 26,14) 15) Das ganze Volk (Mt 27,25) 16) Juden (Mt 28,15) Die Zusammenstellung von Yates Siker ist aufschlussreich, weil sie die Vielfalt der gemeinhin als »Gegner« zusammengefassten Personengruppen aufzeigt, die noch einmal größer würde, sobald man die mit den Personen verbundenen Handlungen/ Verbalaussagen ebenfalls differenzieren würde. Wenn es eine Gemeinsamkeit dieser unterschiedlichen »Gegner« gibt, dann ist es schlicht die Tatsache, dass sie sich im Matthäusevangelium in einer Gegensatzbeziehung gegenüber Jesus befinden. Zum selben Ergebnis kommt Yates Siker, wenn sie feststellt, dass Identität durch Alterität definiert bzw. das Andere durch den Text polemisch konstruiert wird. Die angeführten Textstellen zeigen zudem, dass sich diese Gegensatzbeziehung auf der inhaltlichen Ebene insbesondere mit Blick auf die Auslegung der Tora und den daraus resultierenden Schlussfolgerungen erstreckt. Die auftretenden Figuren sind damit weniger Repräsentanten tatsächlicher Gegner der frühen Gemeinden, sondern präsentieren auf möglichst offensichtliche und ggf. auch plakative Weise den Anderen in der Welt des Matthäusevangeliums, um damit die Gegensatzbeziehung überhaupt erst darstellbar zu machen. Das Matthäusevangelium erzählt die Jesus-Christus-Geschichte als Konfliktgeschichte und zeichnet die Figuren neben dem Protagonisten nicht als diejenigen, die einen perspektivischen Vorteil haben. Die Gegner halten den konstitutiven Konflikt aufrecht und offenbaren damit eine bestimmte Funktion im Evangelium: Sie sind prototypisch mögliche Stimmen in der Reaktion auf Jesus Christus. Aber selbst die Differenzierung von Yates Siker greift noch zu kurz. Auch sie lebt von impliziten, aus einer textexternen Perspektive gewonnenen Grenzsetzungen zwischen »Gemeinde« auf der einen und den »Anderen« auf der anderen Seite. Beispielsweise ist klar, dass die Jünger nicht in die Liste der Gegner aufgenommen werden-- »Gegner« sind gerade definiert als »Nicht-Jünger«. Geht man aber rein vom Textbefund aus, lassen sich vergleichbare Oppositionskonstellationen auch mit den Jüngern erheben. So finden wir etwa in Mt 21,15 (»Als aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten die Wunder sahen, die er tat, und die Kinder, die im Tempel schrien: Hosianna dem Sohn Davids! , entrüsteten sie sich«) und »Das Matthäusevangelium erzählt die Jesus-Christus-Geschichte als Konfliktgeschichte.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 28 - 4. Korrektur 28 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Zum Thema in relativer Nähe dazu in Mt 20,24 (»Als das die Zehn hörten, wurden sie unwillig über die zwei Brüder.«) mit ēganaktēsan die identische Verbform für ein Verhalten der »Gegner« und der »Jünger«. Gerade dann, wenn Yates Siker versucht, die Gegnerfrage im Matthäusevangelium mit neueren soziologischen Ansätzen als Identitätskonstruktion eines Gegenübers zwischen »uns« und den »anderen« zu bearbeiten, besteht die Gefahr der zu einseitigen Gleichsetzung: Mit den »Jüngern« wird die eigene Gruppe, mit den »Gegnern« die Gruppe der anderen identifiziert. Eine solche Identifizierung greift in doppelter Hinsicht zu kurz: Die Jünger können sich auch in Gegensatzkonstellationen zu Jesus befinden und die Menge der Antagonisten im Matthäusevangelium ist insgesamt größer als die Menge der historisch plausiblen religiösen und politischen Autoritäten. Während Kingsbury die Gegensatzkonstellationen mit den Jüngern noch bedingt wahrnimmt, werden diese bei Yates Siker als Opponenten aufgrund inhaltlicher Vorentscheidungen gar nicht genannt. Dabei entwickelt das Matthäusevangelium neben der genannten Parallele zwischen Gegnern und Jüngern immer wieder strukturelle Gegensatzbeziehungen zwischen Jesus und seinen Anhängern. Jesus, der Immanuel 25 steht denjenigen gegenüber, die genau daran zweifeln, ob dieser Jesus der Immanuel, der »Gott mit uns« ist. Der matthäische Jesus (z. B. Mt 20,20 f.) hebt diesen Punkt selbst hervor. Gegner wie Jünger befinden sich in fortwährendem Kontakt zum Protagonisten, sind durch Gegensatzbeziehungen zu diesem ausgezeichnet und beschreiben durch diese Konfliktkonstellationen die Koordinaten der Handlung innerhalb des Matthäusevangeliums. Gegner und Jünger zweifeln an der Identität Jesu, leugnen bzw. bestreiten diese öffentlich. Während ein unmittelbares In-Beziehung-Setzen der »Gegner im Matthäusevangelium« mit den »Gegnern der matthäischen Gemeinde« bzw. der »Jünger im Matthäusevangelium« mit der »nachösterlichen Gemeinde« ein klar getrenntes Gegenüber zwischen diesen beiden Gruppen konstruiert, ist deren Funktion innerhalb des Matthäusevangeliums viel stärker vergleichbar: Textpragmatisch sind »Gegner« wie »Jünger« jeweils Personengruppen, die sich zu Jesus in »strukturell erzeugten Gegensatzbeziehungen« 26 befinden. Schließlich bleibt noch zu erwähnen, dass das Matthäusevangelium auch noch gegnerische Figuren kennt, die realhistorisch überhaupt keinen natürlichen Personen(gruppen) zuzuordnen sind-- man denke nur an die Konfliktkonstellationen mit nicht-menschlichen Wesen wie dem Teufel (Mt 4) oder mit Dämonen (Mt 10). 3.3 Konflikte-- Dialoge-- Keine Lösung Das Matthäusevangelium lebt von der Spannung der fortwährenden Gegenüberstellung unterschiedlicher Positionen. Mit Bachtin gesprochen liegen im Text unterschiedliche Stimmen vor, die sich mehr oder weniger deutlich mit der Stimme des Protagonisten und der Stimme des Erzählers gegenüberstehen. Deswegen sind es nicht nur verschiedene »literarische Techniken«, die einen Spannungsbogen aufbauen, der zeigt, »dass das Matthäusevangelium vom Anfang bis zum Schluss gelesen werden will.« 27 Geht man mit Ulrich Luz davon aus, dass das Matthäusevangelium als Ganzes verstanden werden will, muss man konstatieren, dass dieser Spannungsbogen gerade im Aufrechterhalten verschiedener Gegensatzbeziehungen besteht, die bis zum Ende nicht aufgelöst werden. Luz hat diesen Gegensatzbeziehungen innerhalb des Matthäusevangeliums eine wichtige und konstruktive Rolle zugeschrieben: »Von Anfang bis Ende bleiben Leserinnen und Leser aber nur bei der Sache, wenn die jeweilige Geschichte auch einen gewissen Spannungsbogen aufweist […] Die gängige und auch im Deutschen üblich gewordene Bezeichnung plot kann man vorläufig durchaus als eine Art Spannungsbogen bzw. als Grundkonflikt bezeichnen, der im Lauf der Erzählung zum Höhepunkt und schließlich einer Lösung kommt.« 28 Entscheidend ist jedoch, dass Luz davon ausgeht, dass alle Grundkonflikte am Ende der Erzählung gelöst sind. Versucht man, die Konfliktlinien über das gesamte Evangelium nachzuzeichnen, ergibt sich allerdings ein anderes Bild: Wesentliche Merkmale der als »Gegner« konstruierten Gruppen sind die fortwährende Auseinandersetzung mit Jesus, die schließlich zum Tötungsbeschluss führt. Inhaltlich geht es in den Auseinandersetzungen mit diesen gegnerischen Gruppen in erster Linie um die Frage nach der messianischen Würde Jesu (und damit die Frage nach Anerkennung von Macht und göttlich legitimierter Hierarchie) und die Kompetenz zur Schriftauslegung. 29 Matthäus geht in seiner Darstellung dieses gegnerischen Unverständnisses in gewisser Weise konsequenter vor als die anderen synoptischen Evangelien-- keine der anderen Figuren, sondern einzig und allein der matthäische Jesus selbst kann die angemessene Tora-Deutung liefern (Mt 22,34- 39). Das Matthäusevangelium nimmt bei der Darstel- »Gegner und Jünger zweifeln an der Identität Jesu, leugnen bzw. bestreiten diese öffentlich.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 29 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 29 Michael Schneider Dialog der Gegner lung des Konflikts gerade nicht die Rolle des historisch sorgfältigen Beobachters ein, und zwar weder mit Blick auf die Zeit des Lebens Jesu, noch mit Blick auf die Zeit der Abfassung des Evangeliums. Es geht vielmehr um eine bestimmte Textstrategie: Zwei sich gegenüberstehende Parteien sollen möglichst gegensätzlich dargestellt werden. 30 Entscheidend ist aber, dass diese Konfliktbeziehung nicht aufgelöst, sondern bis zum Ende des Evangeliums konsequent durchgehalten wird. Obwohl mit der Kreuzigung zunächst die Geschichte abrupt endet, ist die Geschichte der widerstreitenden Positionen nicht zu Ende erzählt. Das letzte Kapitel spielt zunächst zwei vermeintliche Lösungen des Konflikts durch: Der Protagonist stirbt- - die Gegner haben sich durchgesetzt. Dann aber: Jesus überwindet den Tod- - die Gegner haben sich nicht durchgesetzt. Beide Lösungen lösen aber die grundsätzliche Konstellation nicht auf: »Als sie aber hingingen, siehe, da kamen einige von der Wache in die Stadt und verkündeten den Hohenpriestern alles, was geschehen war. Und sie kamen mit den Ältesten zusammen, hielten Rat und gaben den Soldaten viel Geld und sprachen: Sagt, seine Jünger sind in der Nacht gekommen und haben ihn gestohlen, während wir schliefen. Und wenn es dem Statthalter zu Ohren kommt, wollen wir ihn beschwichtigen und dafür sorgen, dass ihr sicher seid. Sie nahmen das Geld und taten, wie sie angewiesen waren. Und so ist dies zum Gerede geworden bei den Juden bis auf den heutigen Tag.« (Mt 28,11-15) Der Konflikt, der in einem Gegenüber unvereinbarer Stimmen in der Erzählung besteht, existiert unverändert weiter. Die Gegner bleiben Gegner, das Verhalten der Kontrahenten bleibt unverändert. Liest man das Matthäusevangelium in erster Linie nicht in deskriptiver Perspektive als literarische Darstellung textextern vorhandener Konflikte, sondern fragt nach der Funktion der Figurendarstellungen, dann heißt das aber auch: das Konflikthafte, Feindliche, Oppositionelle gehört zur Welt dazu und ist selbst durch Ostern nicht aufgehoben. Dieses Aufrechterhalten der verschiedenen Positionen im Evangelium- - mit Bachtin: Dialogizität- - entspricht mit Blick auf das gesamte Evangelium der Aussage, die W.D. Davies und D.C. Allison in ihrem Kommentar bzgl. der Frage der Feindesliebe auf den Punkt bringen: »Jesus does not promise that love will turn enemies into friends.« 31 So wenig wie der Protagonist des Matthäusevangeliums dafür steht, Feindschaften, Gegnerschaften, Oppositionen, Konflikte aufzulösen, so wenig führt der »Dialog der Gegner« im Matthäusevangelium zu einer Lösung. Das Gebot der Feindesliebe setzt deren fortdauernde Existenz voraus. Daher besteht auch kein prinzipieller Widerspruch zwischen den deutlichen Worten Jesu gegenüber den Gegnern hier und dem Gebot der Feindesliebe aus der Bergpredigt. 32 Jesu Gebot der Feindesliebe setzt auf der Textebene des Matthäusevangeliums die gegnerischen Figuren als vorhandene und bleibende voraus. Das Ideal des Textes ist nicht eine Welt ohne Gegner oder Feinde. Vielmehr wird die Existenz der Gegner in dieser Welt bzw. »bis zum Ende dieser Welt« (Mt 28,20) vorausgesetzt, die Welt wird als Welt der Feind- und Gegnerschaften beschrieben. Ähnliches gilt für die Gruppe der Jünger. Tod und Auferstehung haben auch hier keine durchgreifende Verhaltensänderung zur Folge: »Aber die elf Jünger gingen nach Galiläa auf den Berg, wohin Jesus sie beschieden hatte. Und als sie ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder, zweifelten jedoch« (Mt 28,16 f.). 33 Die Jünger-- gemeinhin der Prototyp der auf der Seite Jesu stehenden Personen- - zeichnen sich auch nachösterlich ambivalent als Niederfallende, aber Zweifelnde aus. 4. Kein Dialogabbruch Die polyphone, dialogische Struktur zwischen Jesus, Jüngern, Gegnern und anderen Gruppen bleibt im Mat- »Obwohl mit der Kreuzigung zunächst die Geschichte abrupt endet, ist die Geschichte der widerstreitenden Positionen nicht zu Ende erzählt.« »So wenig wie der Protagonist des Matthäusevangeliums dafür steht, Feindschaften, Gegnerschaften, Oppositionen, Konflikte aufzulösen, so wenig führt der ›Dialog der Gegner‹ im Matthäusevangelium zu einer Lösung. Das Gebot der Feindesliebe setzt deren fortdauernde Existenz voraus.« »Das Ideal des Textes ist nicht eine Welt ohne Gegner oder Feinde. Vielmehr wird die Existenz der Gegner in dieser Welt bzw. ›bis zum Ende dieser Welt‹ (Mt 28,20) vorausgesetzt, die Welt wird als Welt der Feind- und Gegnerschaften beschrieben.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 30 - 4. Korrektur 30 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Zum Thema thäusevangelium bis zum Schluss bestehen. Ein Dialog der unterschiedlichen Stimmen wird bis zum Ende des Textes nicht aufgelöst. Damit wird aber zugleich über den Text hinausgewiesen, die Konfliktkonstellationen bleiben »bis zum Ende der Welt«, und damit auch in der Gegenwart der Leserinnen und Leser, weiterhin bestehen. Kaum eine Auslegung des Matthäusevangeliums hält diese Spannung aus-- irgendwann muss doch der Konflikt gelöst werden und müssen sich alle Spannungen lösen. So stellt etwa Mark Allan Powell fest: »The purpose of the great commission epilogue, then, is to inform us that these resolutions have set into motion new developments that will be resolved in a story yet to be told.« Das Evangelium hat zwar ein offenes Ende, dennoch scheint klar zu sein, dass eine Lösung bevorsteht! 34 Ist mit dieser in Aussicht gestellten-- freilich in die unmittelbare Zukunft datierten-- Konfliktlösung die Pragmatik des Matthäusevangeliums zutreffend wiedergegeben? Die zeitliche Verschiebung der im Matthäusevangelium noch nicht eingetretenen Konfliktlösung in die Zeit der frühchristlichen Gemeinden fußt weiterhin auf der Annahme, der Text ziele ausschließlich auf eine Lösung der Gegensatzbeziehungen. Wenigstens ebenso plausibel scheint aber ein anderes Modell: Genauso wie das Gebot der Feindesliebe nicht auf Überwindung der Kategorie Feindschaft zielt, beschreibt das Matthäusevangelium Gegensatzbeziehungen, um Strategien zu deren Überwindung zu präsentieren. Gerade Mt 28 macht deutlich, dass die Gegensätze auch über die Auferstehung hinweg weiter bestehen. Indem der Matthäusschluss das Diskursuniversum des Textes überschreitet und auf die Zeit nach der Jesus-Christus- Geschichte zielt, gelten für diese auch vergleichbare Wirklichkeitsannahmen. Das Matthäusevangelium stößt hier auch kein Idealbild christlicher Gemeinden an, die sich gerade dadurch als Nachfolger Jesu erweisen, dass die bisher nicht aufgelösten Konflikte nun ihren Lösungen zugeführt werden. Denkt man das matthäische Diskursuniversum über Mt 28,20b hinaus, dann bestehen in diesem Diskursuniversum die stories weiter, es wird keine Auflösung der unterschiedlichen Stimmen in einer geben. Der Bachtinsche Ansatz-- Gegensatzbeziehungen, die dialogisch unvereint nebeneinander stehen-- bietet m. E. hier eine neue Perspektive. Die relevante Frage ist nicht, wie die Kategorie der Gegnerschaft überwunden werden kann (etwa durch Verwandlung in Freundschaft), sondern wie mit den Gegnern umzugehen ist. Es geht nicht um einen Dialog als Durchgangsstadium, der darauf zielt, bestehende Gegensatzbeziehungen aufzuheben. Es stellt sich vielmehr die Frage, wie auf der Basis der real gegebenen Vielstimmigkeit und Widersprüchlichkeit der Welt mit den Anderen umzugehen ist. Wenn auf der Textebene verschiedene Charaktere (auch die Jünger) legitimerweise als Gegner dargestellt werden können, dann ist auch die Aufforderung, »alle zu Jüngern zu machen« (Mt 28,20) nicht als Überwindungsstrategie für Gegensatzstrukturen zu verstehen. Bernadette Descharmes hat darauf hingewiesen, dass freundschaftliche wie feindschaftliche Beziehungen in erster Linie Beziehungen stiften und damit Weltstrukturen schaffen: »Wie sich zeigte, ist Gegenseitigkeit ein wesentliches Element von philia-Beziehungen. Doch Gegenseitigkeit prägt auch feindliche Beziehungen, also auch den Rachekonflikt. Die Aspekte der Gabe (potentielle Zirkularität, Mimesis, Intentionalität) sind in gleicher Weise auch die Charakteristika der ›Feindschaftsregeln‹.« 35 Nicht alle Feinde werden Freunde, auch Jünger können Gegner sein. Das Matthäusevangelium zielt darauf, die Gegner argumentativ und durch ihr offensichtlich falsches Handeln im Text zu delegitimieren. Ihre Auslegung der Schrift und ihr Handeln nach der Schrift sind unvollkommen und falsch. 36 Demgegenüber sollen sich die Leser des Matthäusevangeliums bewusst werden, dass das Gebot der Feindesliebe gerade darauf abzielt, sich mit Blick auf das bevorstehende Gericht als Kinder Gottes zu erweisen, und zwar des Gottes, der sich allen Menschen zunächst einmal auf gleiche Weise zuwendet: »Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.« (Mt 5,44 f.) Die Pointe dieser Verse besteht dann gerade darin, dass das Ziel des liebenden Umgangs mit den Gegnern weder in psychologischer noch pädagogischer Hinsicht in der Überwindung der Gegnerschaft liegt, 37 sondern darin, sich als Kinder Gottes zu erweisen, dass man-- wie Gott selbst-- sich Gegnern wie Freunden auf angemessene Weise zuwendet. Die Perspektive des Matthäusevangeliums ist kein Minimalkonsens, auf den sich Jesus mit seinen Konfliktpartnern einigt. Die Lösung ist auch kein einseitiger Maximalkonsens, in dem sich Jesus vor aller Welt durchsetzt und die Gegner verstummen. Es findet sich weder ein »gemeinsamer Bestand an Kernwerten« bei Jesus und seinen Gegnern noch hat sich Jesus als strahlender Held mit seiner Position durchgesetzt. Matthäus formuliert kein Weltethos der Einheit, sondern macht deutlich, dass Gegensätze bis zum Weltende unüberwindbar bestehen bleiben. Der Dialog der Gegner bricht nicht ab. Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 31 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 31 Michael Schneider Dialog der Gegner Anmerkungen 1 Informationsseite zum Projekt »Weltethos« (http: / / www. weltethos.org/ 1-pdf/ 10-stiftung/ declaration/ declaration_german.pdf; letzter Abruf am 19. 06. 2015). 2 U. Eco, Bekenntnisse eines jungen Schriftstellers, München 2011, 33. 3 T.A. Schmitz, Moderne Literaturtheorie und antike Texte. Eine Einführung, Darmstadt 2002, 78. Schmitz bietet auf wenigen Seiten eine profunde Einführung in Biographie und Denken Bachtins. 4 Eine der wenigen deutschsprachigen Arbeiten, die sich mit diesem Bereich des Bachtinschen Werks ausführlich auseinandersetzt, ist W. Eilenberger, Das Werden des Menschen im Wort: Eine Studie zur Kulturphilosophie Michail M. Bachtins, Zürich 2009. Eine detaillierte Einführung in das Denken Bachtins bietet auch P. von Möllendorf, Grundlagen einer Ästhetik der Alten Komödie. Untersuchungen zu Aristophanes und Michail Bachtin, Tübingen 1995. 5 M. Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, hg. v. R. Lachmann, Frankfurt 1987. 6 M. Bachtin, Chronotopos, Frankfurt 2008. 7 Für einen forschungsgeschichtlichen Überblick vgl. M. Schneider, Gottes Gegenwart in der Schrift. Intertextuelle Lektüren zur Geschichte Gottes im 1Kor, Tübingen 2011; grundlegend für die Diskussion ist R.B. Hays, Echoes of Scripture in the Letters of Paul, New Haven 1993; einen Überblick über verschiedene intertextuelle Ansätze bietet S. Alkier/ R.B. Hays, Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre (NET 10), Tübingen 2005. 8 J. Kristeva, Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, in: Jens Ihwe (Hg.), Literaturwissenschaft und Linguistik III, Frankfurt am Main 1972, 345-375, hier: 346. 9 M. Bachtin, Die Ästhetik des Wortes, hg. v. R. Grübel, Frankfurt 1979, 172. 10 Bachtin, Ästhetik, 165. 11 Bachtin, Ästhetik, 352 f. 12 Vgl. dazu auch G. Steins, Die »Bindung Isaaks« im Kanon Gen 22, Grundlagen und Programm einer kanonisch-intertextuellen Lektüre, Freiburg 1999, der die Bachtinsche Theorie als Fundierung für seinen Ansatz heranzieht. 13 C.A. Newsom, Bakhtin, the Bible, and Dialogic Truth, JR 76/ 2 (1996), 290-306, hier: 293. 14 Ebd. 15 Ebd. 16 B. Green/ D.A. Knight, Makhail Bakhtin and Biblical Scholarship: An Introduction, Atlanta 2000. 17 W.L. Reed, Dialogues of the Word: The Bible as Literature According to Bakhtin, Oxford 1993. 18 R. Coates, Christianity in Bakhtin. God and the exiled author, Cambridge 1999. 19 A. Mihailovic, Corporeal Words. Mikhail Bakhtin‘s Theology of Discourse, Evanston 1997. 20 J.D. Kingsbury, Matthew as Story, New Haven 1988, 18: »Because all of these groups presented in Matthew‘s story as forming a united front opposed to Jesus, they can be treated as a single character.« Vgl. auch B. Repischinski, The Controversy Stories in the Gospel of Matthew. Their Redaction, Form and Relevance for the Relationship Between the Matthean Community and Formative Judaism (FRLANT 189), Göttingen 2000, besonders Abschnitt VII. 21 So der Untertitel von M. Gielen, Der Konflikt Jesu mit den religiösen und politischen Autoritäten seines Volkes im Spiegel der matthäischen Jesusgeschichte (BBB 115), Bodenheim 1998. 22 Vgl. auch E. Reinmuth, Neutestamentliche Historik. Probleme und Perspektiven, ThLZ.F 8 (2003), 40: »Es geht den Texten des Neuen Testaments mit dem grundlegenden Bezug auf die konkrete Geschichte des irdischen Jesus also nicht um eine Reduktion auf ihre historische Faktizität.« 23 H. Schmid, Gegner im 1. Johannesbrief. Zu Konstruktion und Selbstreferenz im johanneischen Sinnsystem, Stuttgart 2002, 20 f. 24 J.Y. Siker, Unmasking the Enemy: Deconstructing the »Other« in the Gospel of Matthew, PRSt 32/ 5 (2005), 109-124, hier: 115. 25 Das Matthäusevangelium stellt seinen Protagonisten in Mt 2,23 mit einem (veränderten) Jesajazitat (Jes 7,14) als »Immanuel« vor: »Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden ihm den Namen Immanuel geben, das heißt übersetzt: Gott mit uns.« 26 Die Definition für »Konflikt«, die Ralf Dahrendorf (Gesellschaft und Freiheit. Zur soziologischen Analyse der Gegenwart, München 1961, 125) in anderen Kontexten entwirft, erscheint hier sinnvoll auf biblische Texte übertragbar. 27 U. Luz, Die Jesusgeschichte des Matthäus, Neukirchen- Vluyn 2008, 12-17. 28 Luz, Jesusgeschichte, 12. 29 Vgl. M. Konradt, Die vollkommene Erfüllung der Tora und der Konflikt mit den Pharisäern im Matthäusevangelium, in: ders./ D. Sänger (Hg.), Das Gesetz im frühen Judentum und im Neuen Testament, FS Christoph Burchard zum 75. Geburtstag, Göttingen 2006, 129-152, hier: 141 f. 30 Vgl. Y. Siker, die mit einem soziologischen Ansatz eine ähnliche Position vertritt. 31 W.D. Davies/ D.C. Allison, A Critical and Exegetical Commentary on the Gospel according to Saint Matthew. Vol. 1: Matthew 1-7 (ICC), London/ New York 2004, 552. Auf diesen Punkt weist pointiert Stefan Alkier (Jesus und seine Feinde, in: Michael Moxter/ Markus Firchow (Hg.), Feindschaft. Theologische und philosophische Perspektiven, Leipzig 2013, 41-60, hier: 58 f.) hin. 32 Vgl. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (Mt 1-7), EKK I/ 1, Düsseldorf 2002, 352: »Für mich besteht zwischen Jesu Gebot der Feindesliebe und dem, was in den Weherufen mit den Schriftgelehrten und Pharisäern geschieht, ein grundlegender Widerspruch, der nicht wegzuerklären ist.« 33 Zur Übersetzung vgl. u. a. den Kommentar von Frankemölle, der das hoi in diesem Vers nicht auf einen Teil (partitiv), sondern auf alle Jünger (explikativ) bezieht und Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 32 - 4. Korrektur 32 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Zum Thema daher genauso übersetzt (vgl. H. Frankemölle, Matthäus: Kommentar, Bd. 1, Düsseldorf 1999, 542). 34 Vgl. auch U. Poplutz, Erzählte Welt. Narratologische Studien zum Matthäusevangelium, Neukirchen-Vluyn 2008, 53. 35 B. Descharmes, Rächer und Gerächte. Konzeptionen, Praktiken und Loyalitäten der Rache im Spiegel der attischen Tragödie, Göttingen 2013, 72. 36 Yates Siker hat hier eine interessante Perspektive in die Diskussion eingebracht, indem sie den gemeinhin als »Heuchler« wiedergegebenen Begriff hypokritai als in der antiken Theatersprache üblichen Begriff für »Darsteller/ Rollen« übersetzt. 37 Vgl. Alkier, Jesus, 44: »Feindesliebe zielt nämlich im Matthäusevangelium nicht auf den Sinneswandel der Feinde, sondern auf die Identität derjenigen, die den Weg der Nachfolge Jesu einschlagen.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 09.11.2015 - Seite 32 - 4. Korrektur Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 14 - 2. Korrektur Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen • Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • Julian Petkov Altslavische Eschatologie Texte und Studien zur apokalyptischen Literatur in kirchenslavischer Überlieferung Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter (TANZ), Vol. 59 2016, 483 Seiten €[D] 78,00 ISBN 978-3-7720-8531-4 Die Identifizierung und Erschließung des umfangreichen Quellenmaterials bleibt ein zentrales Problem auf dem Weg zu einem besseren Verständnis der Vitalität von Apokalyptik in ihren vielfältigen Erscheinungsformen. Die Studie stellt einen Beitrag zur Klärung der diffizilen Quellenfrage dar. Sie ist dem Zweck gewidmet, den Verästelungen der apokalyptischen Literatur nachzuspüren, die im kirchenslavischen Schrifttum erhalten sind. Es handelt sich hierbei um eine außerordentlich reichhaltige und nur ansatzweise erforschte Überlieferung, die nahezu lückenlos die wichtigsten Etappen der apokalyptischen Literaturgeschichte dokumentiert. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht daher eine ausführliche Analyse des gesamten in Kirchenslavisch erhaltenen apokalyptischen Textmaterials. Ein Textanhang mit Übersetzungen schwer zugänglicher und kaum bekannter Apokalypsen lädt zu weiterer Forschung auf diesem Gebiet ein. Damit liefert die Arbeit erstmalig eine systematische Darstellung der in kirchenslavischer Überlieferung enthaltenen Apokalypsen und präsentiert wertvolles, bislang nicht verfügbares Quellenmaterial. info@francke.de • www.francke.de Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 33 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 33 1. Der intertextuelle Rahmen des Matthäusevangeliums Moises Mayordomo-Marín hat in seiner ertragreichen Studie »Den Anfang hören. Leserorientierte Evangelienexegese am Beispiel von Matthäus 1-2« mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass Lesen kein Additionsverfahren des Sinnes der einzelnen gelesenen Worte ist. Für die beiden ersten Worte des Matthäusevangeliums spielt diese rezeptionsästhetische Einsicht eine entscheidende Rolle, die Mayordomo-Marín trefflich auf den Punkt bringt: »Setzt man beide Begriffe zusammen, dann ergeben sich nach unserer Wahrnehmung zwei unterschiedliche Leseanweisungen: während biblos (i. O. Griechisch) in Anfangsposition auf das gesamte Werk hinzuweisen scheint, verliert genesis (i. O. Gr.) nach Mt 1 jeglichen wörtlich nachweisbaren Bezug zum Text. Diese wie mit einem Skalpell das sprachliche Gewebe trennende Vorgehensweise ist dem gewöhnlichen Rezeptionsprozess, vor allem im Hörvorgang, ganz und gar fremd, denn sprachliches Erfassen richtet sich weniger nach der Bedeutung einzelner Wörter als vielmehr nach größeren syntaktischen Einheiten. In diesem Falle ist eine atomisierende Auslegung irreführend, weil biblos geneseos (i. O. Gr.) als Einheit ein deutlicher intertextueller Rückverweis auf die Septuagintafassung von Gen 2,4 und 5,1 ist und von dorther verstanden werden sollte.« 1 Nimmt man den letzten Vers des Matthäusevangeliums unter die Lupe, findet sich auch dort eine intertextuelle Disposition, denn die Zusage des auferweckten Gekreuzigten »ich bin bei Euch« ist eine Transformation des Namens Immanuel aus Jes 7,14, der in Mt 1,23 auf Jesus bezogen und auch übersetzt wird: »[…] und sie werden seinen Namen Emmanuel rufen, das ist übersetzt: mit uns Gott.« Das Matthäusevangelium erzählt die Transformationsgeschichte, wie aus dem »Gott mit uns« der »Ich bin bei Euch« wird. Ohne die intertextuellen Bezüge des Matthäusevangeliums gerät diese Pointe nicht in den Blick. Dass das Matthäusevangelium zudem durchzogen ist von einer beträchtlichen Zahl intertextueller Bezüge auf die Heiligen Schriften Israels, ist sicher keine Neuigkeit mehr, man denke nur an die so genannten Erfüllungszitate oder die Bergpredigt. Und zieht man die Bezüge zu den anderen Evangelien nicht literaturgeschichtlich, sondern ästhetisch in Betracht, öffnet sich ein weiterer Aspekt der Untersuchung der intertextuellen Schreibweise des Matthäusevangeliums, den ich in den folgenden Ausführungen aber nicht berücksichtigen werde. Umso erstaunlicher ist es, dass es m. a. W. keine Monographie über die intertextuelle Schreibweise dieses Evangeliums gibt. Obwohl die biblische Intertextualitätsforschung seit ihrem Anstoß durch Richard B. Hays enorm viele ertragreiche Studien und Monographien hervorgebracht hat, gibt es m. a. W. keine literaturwissenschaftlich fundierten Studien, die die intertextuelle Schreibweise als solche untersucht hätten. Mit den folgenden Ausführungen möchte ich dieses Desiderat der Forschung zumindest benennen. Daher werde ich die Frage nach der intertextuellen Schreibweise zunächst konzeptionell verorten und sie danach durch Beobachtungen und Überlegungen zum Matthäusevangelium konkretisieren. 2. Eine kleine Einführung in die biblische Intertextualitätsforschung Das hermeneutische Konzept der Intertextualität nimmt Text-Text-Relationen unter der Fragestellung in den Blick, welche Sinneffekte durch diese intertextuellen Beziehungen ermöglicht werden. Intertextuelle Lektüreverfahren können Ergebnisse von Einflussforschung und Quellenkritik aufgreifen, oder auch selbst zu diesen Fragestellungen beitragen. Sie gehen darin aber nicht auf. Sachgemäß wird von Intertextualität erst dann gesprochen, wenn sich durch Text-Text-Relationen Sinnerweiterungen, Sinnverschiebungen oder Sinnverdichtungen ergeben, die ohne Text-Text-Relationen nicht generiert werden können. Bei intertextuellen Schreib- und Lektüreverfahren handelt es sich daher um Dezentralisierungen von Sinn. 2 Stefan Alkier Konzeptionen, Beobachtungen und Überlegungen zur intertextuellen Schreibweise des Matthäusevangeliums Zum Thema »Das Matthäusevangelium erzählt die Transformationsgeschichte, wie aus dem ›Gott mit uns‹ der ›Ich bin bei Euch‹ wird. Ohne die intertextuellen Bezüge des Matthäusevangeliums gerät diese Pointe nicht in den Blick.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 34 - 4. Korrektur 34 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Zum Thema onsorientierte Intertextualitätsphänomene vornehmlich analytisch und rekonstruktiv ermittelt werden, und auf Grund ihrer Fragestellungen und Methoden zwischen legitimen und illegitimen Text-Text-Beziehungen unterscheiden können, ist generative Intertextualität ein prinzipiell unbegrenztes performatives Verfahren. Als einflussreichster exegetischer Vertreter produktionsbzw. rezeptionsorientierter, also mittels einer Kriteriologie begrenzender Intertextualitätskonzepte gilt zu Recht Richard B. Hays. 5 Besonderes Gewicht auf dem Gebiet unbegrenzter, also performativ-generativer Intertextualität kommt Stephen Moore 6 zu. Ein kategorial-semiotisch begründetes integratives Modell schlägt Stefan Alkier 7 vor. Produktionsorientierte Perspektiven: Schon in produktionsorientierter Perspektive sind die Text-Text-Beziehungen frühchristlicher bzw. aus späterer kanonischer Perspektive neutestamentlicher Texte nicht überschaubar. Es ist nicht möglich, ein Verzeichnis aller produktionsorientierten Intertextualitätsbeziehungen der neutestamentlichen Schriften anzufertigen, wie es etwa der »Appendix IV: Loci citati vel allegati« des Nestle- Aland bzw. die Randbeigaben dieser Studienausgabe des griechischen Neuen Testaments suggeriert. Auch die im Erscheinen begriffene kritische Ausgabe kann dies nicht leisten, weil es keine Verfahren gibt, alle produktionsorientierten Text-Text-Beziehungen zu ermitteln. Aber auch die durch offensichtliche intertextuelle Dispositionen erweisbaren Referenzen auf andere Texte sind in den neutestamentlichen Schriften so zahlreich, dass kein Kommentar, keine intertextuelle Interpretation in der Lage ist, alle gleichermaßen zu bedenken und miteinander zu korrelieren, da die zu verarbeitenden Textmengen die menschliche Auffassungsgabe im Akt der Lektüre schlicht überfordern. Es ist daher davon auszugehen, dass auch dem jeweiligen Autor selbst bei weitem nicht alle intertextuellen Bezüge im Akt seines Schreibens bewusst waren, die seinem Text eingeschrieben sind. Wie bedeutend intertextuelle Schreibverfahren für die Abfassung frühchristlicher Schriften waren, sieht man bereits auf der ersten Seite des NT. Die Genealogie des Mt erzeugt ein intertextuelles Verweissystem, in dem die gelisteten Namen als narrative Abbreviaturen dienen, die durch ihre Auswahl und ihre Unterbrechungen die Rezeption der Heiligen Schriften Israels steuern und von da aus den Sinnhorizont des Mt als Ganzes entwerfen. Die sich durch das ganze Mt ziehenden Zitate und Anspielungen Heiliger Schriften Israels verlangen danach, nicht nur die jeweiligen Zitate isoliert zu betrachten, sondern das Mt als Ganzes mit den Schriften, die durch Der unfruchtbare Streit zwischen weiten Intertextualitätskonzeptionen, die sich an der Konzeption Julia Kristevas orientieren und engeren Intertextualitätskonzeptionen, die auf Methodisierbarkeit und kriteriengestützte Begrenzungen von Text-Text-Relationen zielen, wird entspannt, wenn man Intertextualitätsphänomene in drei Bereiche unterteilt, ohne sie gegeneinander auszuspielen. 3 Produktionsorientierte Intertextualität fragt nach solchen referentiellen Text-Text-Beziehungen, die von intertextuellen Dispositionen 4 wie Zitaten, Anspielungen und narrativen Abbreviaturen motiviert werden. In produktionsorientierter Perspektive dürfen nur solche Texte mit einem anderen Text korreliert werden, die dem Verfasser des zu untersuchenden Texts nachweislich bekannt waren oder mit hoher Wahrscheinlichkeit bekannt gewesen sein konnten. Rezeptionsorientierte Intertextualität untersucht Text-Text-Beziehungen, die von konkreten Lesern tatsächlich hergestellt wurden oder von hypothetischen Lesern zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten hätten hergestellt werden können. Generative Intertextualität fragt hingegen auch unabhängig von intertextuellen Dispositionen danach, welche Sinneffekte sich durch solche Text-Text-Relationen ergeben, die weder durch Kriterien produktionsnoch durch solche rezeptionsorientierter Intertextualität begründet werden. Das Kriterium generativer Intertextualität ist die Frage, ob sich durch den intertextuell erzeugten Zwischenraum interessante Sinneffekte ereignen. Während produktionsorientierte und rezepti- Prof. Dr. Stefan Alkier ist seit 2001 Professor für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche am Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. 2009 erschien im Francke Verlag als NET 12 seine Monographie: »Die Realität der Auferweckung in, mit und nach den Schriften des Neuen Testaments«. 2010 erschien, wieder im Francke Verlag, sein Lehrbuch: »Neues Testament« als UTB Basics. Er ist seit Heft 1 der ZNT einer ihrer drei geschäftsführenden Herausgeber. Seit 2008 gibt er zudem den neutestamentlichen Teil des bibelwissenschaftlichen Internetlexikons www.wibilex.de heraus. Prof. Dr. Stefan Alkier Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 35 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 35 Stefan Alkier Konzeptionen, Beobachtungen und Überlegungen zur intertextuellen Schreibweise des Matthäusevangeliums die Zitate, Anspielungen und narrativen Abbreviaturen eingespielt werden, intertextuell zu korrelieren und nach den damit erzeugten Sinneffekten zu fragen. Auch das Markusevangelium eröffnet sein Diskursuniversum mit der Herstellung eines intertextuellen Verweissystems. Indem es den »Anfang des Evangeliums« (Mk 1,1) bei »Jesaja« verortet, verlangt es danach, als Fortsetzung und legitimer Abschluss der Prophetie Jesajas gelesen zu werden. Das von Mk Jesaja zugeschriebene Mischzitat in Mk 1,2 f. lässt das Schreibverfahren des Mk als generative Intertextualität klassifizieren, die allein an der Performanz seiner Erzählung interessiert ist. Anders als Mt und Mk entwirft Lk mit dem Anfang seines Evangeliums mittels typologischer Intertextualität einen historiographischen Horizont. Seine referentiellen intertextuellen Verweise sind kaum weniger gewichtig als die seiner Vorgänger, auf die er sich bereits im Proömium intertextuell anknüpfend und abgrenzend bezieht. Die Heiligen Schriften Israels werden als Verstehensvoraussetzungen nicht nur des lukanischen Doppelwerks, sondern der Jesus-Christus-Geschichte (Eckart Reinmuth) als solcher eingeführt. Die Schrift als Schlüssel der Erkenntnis (Lk 11,52) verlangt eine durchgehende parallele intertextuelle Lektüre der lukanischen Schriften und der Heiligen Schriften Israels. Erst dieser intertextuelle Lektüreakt führt laut Lk 24,27 zum Verstehen des Ereigniszusammenhangs von Kreuz und Auferweckung, sowie der in der Apostelgeschichte dargestellten Ausgießung des Heiligen Geistes (vgl. Apg 2,16-21) und Ausbreitung des Evangeliums über die Grenzen des Volkes Israels hinaus (Apg 15,14-17). Dabei verfolgt Lukas eine Reihe verschiedener intertextueller Schreibverfahren, die von Mimesis (Lk 7,11- 17), über Zitate und Allusionen, bis zur midraschartigen Neuerzählung (Apg 7) und zur Schriftreflexion (Lk 11,52; 24,27) reichen, um nur einige wichtige Verfahren zu benennen. Das Johannesevangelium setzt mit seiner intertextuellen Verschränkung mit der Schöpfungstheologie ein, wie sie insbesondere in Gen 1,1-2,4a als Schöpfung durch das göttliche Wort inszeniert wird (Joh 1,1-4). Diese kosmologische Perspektive prägt das gesamte johanneische Schrifttum, die Apk inbegriffen. Obwohl auf den ersten Blick weniger referentielle Bezugnahmen auf die Heiligen Schriften Israels zu beobachten sind, als es bei den Synoptikern oder in den paulinischen Briefen der Fall ist, ist die intertextuelle Verortung der johanneischen Schriften hermeneutisch wie theologisch keinesfalls geringer einzuschätzen. Das Johannesevangelium erzählt seine Geschichte als Erfüllung der Heiligen Schriften Israels und gleichermaßen als Erfüllung der Worte Jesu, weil beide die Autorität des Leben schaffenden Geistes des Wortes Gottes präsentieren (Joh 2,22; vgl. 17,12; 18,9). Die johanneischen Erfüllungszitate können mit Hartwig Thyens epochalem Johanneskommentar 8 zudem als intertextuelle Disposition des Johannesevangeliums begriffen werden, die es als Kommentar zu den Synoptikern begreifen lässt. So wird etwa Joh 5,47 verständlich als intertextueller Kommentar zu Lk 16,31. Die Apk teilt mit dem Johannesevangelium nicht nur die kosmologische Perspektive, sondern auch die Zurückhaltung hinsichtlich direkter Zitate aus den Heiligen Schriften Israels. Dennoch kann die Apk als die neutestamentliche Schrift mit den meisten intertextuellen Allusionen zu den Schriften Israels, aber auch zu den Synoptikern und der neutestamentlichen Briefliteratur gewertet werden. Nicht zuletzt zum Johannesevangelium weist sie bedeutsame intertextuelle Relationen auf, die darauf verweisen, dass sie teils als Erfüllung des Johannesevangeliums, teils als dessen Fortsetzung konzipiert wurde (vgl. Joh 1,51; Apk 19,11). Bzgl. der Apk ist es besonders ertragreich, nicht nur referentielle, sondern auch typologische 9 intertextuelle Relationen ins Blickfeld zu nehmen, da erst dann die zahlreichen Bezüge auch zu griechischer und lateinischer Literatur auffallen. Letzteres ist noch immer ein Desiderat der Forschung. Der Klassiker der bisherigen Intertextualitätsforschung, Richard B. Hays’ Echoes of Scripture in the Letters of Paul, hat nicht nur wegweisend maßgebliche intertextuelle Referenzen der Paulusbriefe zu den Heiligen Schriften Israels nachgewiesen-- an die neunzig Zitate und noch mehr Allusionen--, sondern diese auch einem neuen hermeneutischen Verständnis zugeführt. Hays konnte aufzeigen, dass Paulus nicht lediglich einzelne Verse der Heiligen Schriften Israels willkürlich aus ihrem Zusammenhang herausreißt, sondern dass deren Kontext eine bedeutsame Rolle für die paulinischen Argumentationen spielt. Die paulinischen Briefe werden somit zu einem Resonanzraum der Schrift, die durch die neue Perspektive des Wortes vom Kreuz in Kontinuität und Diskontinuität zur Tradition steht. Die wechselseitige Berührung des Sinnpotentials der paulinischen Schriften einerseits und der Heiligen Schriften Israels andererseits kann dabei nicht schematisch als Mimesis rabbinischer Hermeneutik und Methodik enggeführt werden, sondern muss Kontext für Kontext mit Blick auf die jeweiligen Sinneffekte erforscht werden. Über die intertextuelle Referenz paulinischer Briefe zu verschiedenen Texten des Tenach hinaus, zeigen u. a. Richard B. Hays, Eckart Reinmuth, Michael Schneider und Stefan Alkier 10 auf, dass das intertextuelle Netz der Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 36 - 4. Korrektur 36 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Zum Thema paulinischen Briefe insgesamt eine narrative Hermeneutik und Epistemologie erzeugt, die vom Anfang der Welt über die Geschichte Israels und die Erwartung des Endes reicht. Der Dreh- und Angelpunkt dieses intertextuell erzeugten narrativen Rahmens ist das »Wort vom Kreuz« (1-Kor 1,18). Dass auch der Hebräerbrief nicht nur mit dem Aufruf der »Wolke der Zeugen« in Hebr 11, sondern durchgehend intertextuelle Bezüge zu den Heiligen Schriften Israels, wie zu den Paulusbriefen und auch zu den Synoptikern und zu den johanneischen Schriften aufweist, wurde schon häufiger festgestellt, bisher aber nur im Ansatz systematisch erforscht. 11 Insgesamt lässt sich sagen, dass die neutestamentliche Intertextualitätsforschung vornehmlich die produktionsorientierte Perspektive eingenommen hat, aber auch auf diesem Feld noch viele Desiderate aufweist. Dass aber die intertextuellen Verfahren wie die jeweilige Auswahl der Bezüge von Text zu Text unterschiedlich ausfallen, verweist schon auf einen wesentlichen Aspekt des Begriffs der Schreibweise: Es geht immer um eine Wahl aus der uneinholbaren Vielfalt von Möglichkeiten und damit immer um Positionierungen gegenüber dem Gegebenen. Rezeptionsorientierte Perspektiven: Es ist ebenso interessant und lehrreich zu erforschen, wie konkrete Leser und Leserinnen, biblische Texten miteinander, aber auch mit anderen Texten kombiniert haben und sich daraus neue, zum Teil überraschende Sinneffekte und intertextuelle Schreibverfahren ergeben, die zur weiteren Produktion insbesondere von Evangelien und Apostelgeschichten bis ins 9. Jh. n. Chr. und sogar darüber hinaus führten. So könnte auch das Problem der sogenannten Pseudepigraphie als rezeptionsorientierte Intertextualität neu bedacht werden, wozu Eckart Reinmuth wichtige Überlegungen und Vorschläge unterbreitet hat, die aber von der Forschung noch zu wenig aufgegriffen wurden. 12 Auch Homilien und Kommentare zu den neutestamentlichen Schriften verdanken sich weitgehend intertextueller Lektüren. Die orthodoxe Hermeneutik könnte unter einer intertextuellen Reformulierung ihres patristischen Ansatzes neue Relevanz auch für die aufgeklärte Bibelauslegung und ihre Rezeptionsgeschichte erlangen. Auch die Erforschung der intertextuellen Bezüge der Weltliteratur zu biblischen Texten bis in die Gegenwart hinein erhielte durch eine intertextuelle Orientierung neue hermeneutische und methodische Impulse. Besonderes Gewicht in rezeptionsorientierter Perspektive kommt aber dem Kanon als Leseanweisung zu. Der biblische Kanon stellt die Einzelschriften in einen neuen intertextuellen Zusammenhang, der die Sinnpotentiale der Einzelschriften verändert. Durch den Zusammenhang des Kanons ist es hermeneutisch begründet und theologisch notwendig, jede biblische Schrift mit jeder anderen biblischen Schrift zusammen zu lesen und diese sich gegenseitig interpretieren zu lassen, auch wenn diese Schriften in produktionsorientierter Hinsicht keine diesbezüglichen intertextuellen Dispositionen aufweisen. Martin Luthers Schriftlehre und insbesondere das Theorem scriptura sui interpres führt in intertextueller Reformulierung nicht zu einer Verengung biblischer Schriften, wie sie mit geistreichen Argumenten und Beobachtungen George Aichele dem Konzept des Kanons als solchem unterstellt hat. 13 Vielmehr werden durch die wechselseitige intertextuelle Leseweise auch höchst überraschende und nicht kalkulierbare Sinneffekte generiert, die gerade nicht zu dogmatisierenden Festschreibungen von Sinn führen, sondern dynamisch in jedem neuen Leseakt und jeder neuen Zusammenstellung von Texten changieren. Der Kanon erweist sich in intertextueller Reformulierung als ein Spielfeld, auf dem mit einem begrenzten Zeichenbestand eine unbegrenzte Zahl von Kombinationsmöglichkeiten und daraus resultierende Sinneffekte im Akt des Lesens entstehen. Auf diese intertextuelle Weise wird auch kanonbezogene Biblische Theologie nicht zum dogmatischen Maß der Dinge, sondern zu einer klar umrissenen Lesestrategie, die innerhalb der Konfession, in der der jeweilige Kanon gilt, ihre Sinndynamik entfalten kann, ohne dass diese Sinnerfahrung dieselbe Geltung in anderen Konfessionen beanspruchen müsste. Die intertextuelle Reformulierung Biblischer Theologie löst darüber hinaus das Problem der Verhältnisbestimmung zwischen den Heiligen Schriften Israels und dem Alten Testament christlicher Bibeln. Intertextuelle Biblische Theologie sucht nämlich nicht länger nach »Es geht immer um eine Wahl aus der uneinholbaren Vielfalt von Möglichkeiten und damit immer um Positionierungen gegenüber dem Gegebenen.« »Der Kanon erweist sich in intertextueller Reformulierung als ein Spielfeld, auf dem mit einem begrenzten Zeichenbestand eine unbegrenzte Zahl von Kombinationsmöglichkeiten und daraus resultierende Sinneffekte im Akt des Lesens entstehen.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 37 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 37 Stefan Alkier Konzeptionen, Beobachtungen und Überlegungen zur intertextuellen Schreibweise des Matthäusevangeliums einer Sinn zentrierenden und damit festschreibenden »Mitte« der Schrift, die in exkludierender Überheblichkeit die Anderen immer ausgrenzen muss, sondern begreift den Kanon als potentielle Symphonie polyphoner Stimmen, die sich im jeweiligen Leseakt neu und anders gegenseitig interpretieren und damit zu je eigenen polyphonen Sinnerfahrungen kommen lassen. 14 Generative Intertextualität: Nur sehr wenige Bibelwissenschaftlerinnen und Bibelwissenschaftler befassen sich mit generativer Intertextualität, da diese Aufgabe den gewohnten Rahmen und die eingeübten Fachkompetenzen der Analyse, Rekonstruktion und Interpretation übersteigt. Generative Intertextualität verlangt kreative Schreibverfahren, die die starre Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst ignorieren. Besonders Stephen Moore setzt sich für die Aufgabe generativer Intertextualität ein, die darauf zielt, durch die experimentelle Zusammenstellung zweier oder mehrerer Texte oder Textwelten in ideologiekritischer Absicht die Konstruktivität und die damit ins Spiel gebrachten Festschreibungen und Machtansprüche aufzuzeigen. Auch wenn diese anspruchsvolle Aufgabe nicht immer gelingt und sogar gelegentlich zu abstrusen Lektüren führt, sollte sie nicht als fachfremd abgetan oder gar belächelt werden, da sie wesentliche Aspekte des Bibellesens thematisch werden lässt, die nicht analytisch rekonstruktiv, sondern nur performativ in den Blick geraten können. Die Chancen generativer Intertextualität wären allerdings unterbelichtet, wenn ausschließlich der ideologiekritische Aspekt dieses Lektüreverfahrens bedacht würde. Tatsächlich handelt es sich leseempirisch gesehen um den Normalfall intertextuellen Lesens im Alltag. Gerade für die gesellschaftsbezogene Bibelarbeit im schulischen Religionsunterricht, in Predigten, Zeitungs- und Fernsehbeiträgen und anderen Medien und Kommunikationssituationen ist es von größter Bedeutung, die Realität der generativ erzeugten Textwelten im Blick zu haben, die biblische Auferweckungsgeschichten mit Zeitungsartikeln über wunderbar aus dem Koma erwachte Patienten, Zombiegeschichten, Comics und Weltliteratur problemlos kombinieren. Erst die Wahrnehmung der generativen Intertextualität als Alltagsphänomen ermöglicht es, diese scheinbar problemlosen Kombinatoriken zu thematisieren. Dabei könnte es ein nicht zu unterschätzender Gewinn einer intertextuell informierten Bibelwissenschaft sein, auch die eigenen traditionell fachbedingten unproblematisierten intertextuellen Zusammenstellungen und deren mitunter Sinnpotentiale abtötenden, zu engen Grenzen zu überwinden und die wissenschaftliche Arbeit durch inspirierende Alltagslektüren neu auszurichten. 3. Inhaltsangabe eines ungeschriebenen Buches Die oben skizzierten intertextuellen Forschungsperspektiven und Ansätze lassen ahnen, dass es keine Monographie geben kann, die alle möglichen intertextuellen Fragestellungen bearbeitet. Die Intertextualitätsforschung ist ein offenes und unabschließbares Forschungsfeld. Gerade deshalb sollte man sich darüber im Klaren sein und die Leser darüber informieren, welche intertextuelle Fragestellung denn in Angriff genommen werden soll. Fragt man nach der intertextuellen Schreibweise des Matthäusevangeliums, bewegt man sich vornehmlich auf dem Feld produktionsorientierter Intertextualität. Es geht bei dieser Fragestellung einer generativen Poetik nicht um die psychologische bzw. historische Rekonstruktion des Schreibprozesses eines realen Autors. Es handelt sich auch nicht um Stilfragen oder um literarkritische bzw. redaktionsgeschichtliche Forschungen. Es geht vielmehr um eine Analyse der Textur als Sinn erzeugendes Gewebe von Zeichen, die auf andere Zeichen verweisen. Auf welche Art und Weise und mit welchen Sinneffekten und Pointen wurden die verwendeten und eingespielten Zeichen ausgewählt und verknüpft, so dass beim Lesen der Eindruck eines kohärenten Ganzen entstehen kann? Der Begriff der Schreibweise, wie ich ihn von Roland Barthes übernehme, betont den Aspekt der Wahl in »Generative Intertextualität verlangt kreative Schreibverfahren, die die starre Grenze zwischen Wissenschaft und Kunst ignorieren.« »Die Intertextualitätsforschung ist ein offenes und unabschließbares Forschungsfeld.« »Fragt man nach der intertextuellen Schreibweise des Matthäusevangeliums, bewegt man sich vornehmlich auf dem Feld produktionsorientierter Intertextualität. […] Es geht […] um eine Analyse der Textur als Sinn erzeugendes Gewebe von Zeichen, die auf andere Zeichen verweisen.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 38 - 4. Korrektur 38 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Zum Thema einem Schreibprozess, der eben nicht alles miteinander verknüpfen kann und daher aufgrund der Ökonomie der Sprache immer eklektisch und daher positionell bleiben muss. Barthes schreibt: »Der Horizont der Sprache und die Vertikalität des Stils bezeichnen also für den Schriftsteller etwas Gegebenes, denn er wählt weder das eine noch das andere. […] In beiden Fällen handelt es sich um Gegebenheiten, um ein vertrautes gestuarium, ein Reservoir an Gesten und Gewohnheiten, in dem die Energie lediglich operativer Natur ist und einmal zur Aufzählung, ein andermal zur Umwandlung verwendet wird, niemals aber, um zu urteilen oder um eine Wahl zu treffen. Jede Form ist aber auch Wert; deshalb besteht zwischen Sprache und Stil noch Raum für eine andere formale Realität: für die ›Schreibweise‹. In jeder beliebigen literarischen Form findet sich die allgemeine Wahl eines Tones, oder wenn man so will: eines Ethos, und hier individualisiert sich ein Schriftsteller eindeutig, denn hier engagiert er sich.« 15 Die spezifische Frage nach der intertextuellen Schreibweise interessiert sich also für die Art und Weise der impliziten und expliziten Einbindung und Funktion von ausgewählten Texten bzw. Textpassagen in die eigene Textur, denn mit der Feststellung von intertextuellen Relationen steht deren Interpretation erst am Anfang. Werden Texte als Belegstellen für die eigene Sicht der Dinge monologisch vereinnahmt, oder bleibt ihre Stimme als eigene Stimme dialogisch hörbar? Unterstützen sich die intertextuell verknüpften Texte, ergänzen sie sich, oder widerstreiten sie einander? Wieviel Raum für Anderes eröffnet die Integration eines anderen Textes im eigenen Text? Werden die intertextuellen Relationen planmäßig an bestimmten Eckpunkten der Textur eingewoben, so dass sich intertextuelle Muster oder Themen ergeben, oder geschieht das Ganze eher beiläufig, planlos? Werden die eingewobenen Texte machtförmig zur Autorisierung und Legitimierung des eigenen Textes gebraucht, oder dient der intertextuelle Bezug zu deren Abwertung und Delegitimierung? Erzeugt die intertextuelle Relation ganz neuen Sinn, neue Dimensionen, Perspektiven oder dienen sie der redundanten Verstärkung des schon Gesagten? Dieses unsystematische Bündel an Fragestellungen ist sicher nicht vollständig. Aber nicht einmal diese unvollständige Liste kann hier am Matthäusevangelium abgearbeitet werden. Um aber nicht gänzlich im Allgemeinen stecken zu bleiben, beschränke ich mich im Folgenden auf wenige, unvollständige und knappe Skizzen. 3.1 Intertextuelle Ouvertüre-- Die Einschreibung der matthäischen Erzählung in die Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel (Mt 1) Nicht nur der erste Vers, sondern das ganze erste Kapitel des Matthäusevangeliums kann als intertextuelle Ouvertüre gelten. Die zahlreichen Namen fungieren als narrative Abbreviaturen. Ihre planvolle Anordnung deutet auf eine Sinn ergebende Abfolge der diversen Geschichten, deren Grammatik Gott als ihre Wirkmacht zu denken aufgibt. Die Auswahl der Namen und die gezielte Durchbrechung der Gleichförmigkeit der Genealogie bei einzelnen Namen mit schlaglichtartigen Details-- z. B. »David zeugte Salomo mit der Frau des Uria«, 1,6b-- lenkt die Rezeption der mit den Namen intertextuell verbundenen Erzählungen aus den Heiligen Schriften Israels. 16 Die Einschreibung des Namens »Jesus, der da heißt Christus« (1,16b) in die Genealogie, verwebt dessen Geschichte, die das Matthäusevangelium als Ganzes erzählt, mit den Heiligen Schriften Israels und dessen durch die Genealogie gesteuerte Rezeption. Diese intertextuelle Schreibweise des ersten Kapitels erzwingt eine Theologie des Evangeliums Jesu Christi, die mit den Schriften Israels und ihrer autoritativen Geltung verwoben ist und daher sachlogisch zum späteren Konzept eines Kanons aus Altem und Neuem Testament führt. 17 Der Rekurs auf den Namen Emmanuel in der Geburtsgeschichte etabliert eine intertextuelle Theologie des Namens, denn er greift Jesaja 7 auf, bezieht diese Prophezeiung interpretierend und umgestaltend auf Jesus, den letzten Namen der Genealogie, auf den also die ganze Geschichte Israels zuläuft. Das Matthäusevangelium erzählt dann durch die Transformationsgeschichte vom Emmanuel »mit uns Gott«, zum »Ich bin bei Euch bis an das Ende der Welt« (Mt 18) die unbegrenzte Öffnung für alle Rezipienten des Mt und ihre Hineinnahme in die Geschichte Gottes mit seinem Volk. Bereits diese intertextuelle Ouvertüre zeigt, dass die intertextuelle Schreibweise des Mt einem ästhetischen und theologischen Gestaltungswillen entspringt. Die geschichtstheologische Ordnung der Genealogie, sowie die narrative Nutzung der Namensbedeutungen erzeugen ein intertextuelles Bedeutungsnetz mit eigenen theologischen Pointen. »Werden Texte als Belegstellen für die eigene Sicht der Dinge monologisch vereinnahmt, oder bleibt ihre Stimme als eigene Stimme dialogisch hörbar? « Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 39 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 39 Stefan Alkier Konzeptionen, Beobachtungen und Überlegungen zur intertextuellen Schreibweise des Matthäusevangeliums 3.2 Die intertextuelle Etablierung eines gemeinsamen Diskursuniversums (Mt 2) Die so genannten Erfüllungszitate bauen dieses intertextuelle Netz dahingehend aus, dass es als von Protagonisten wie Antagonisten gleichermaßen akzeptiertes Diskursuniversum gestaltet wird. Die Feinde Jesu beziehen sich nämlich in 2,6 ebenso auf Prophezeiungen aus den Heiligen Schriften Israels, wie die Erzählstimme des Matthäusevangeliums in 2,15; 2,17 f.; vgl. auch 2,23. Dass Herodes, der Todfeind des neu geborenen Kindes, die Schrift, vermittelt durch die befragten Hohepriester und Schriftgelehrten, als Waffe gegen Jesus einsetzen möchte (vgl. 2,16), unterstreicht ihre Wirklichkeitsgeltung. Zugleich wird aber auch ein dialogisches Schriftverständnis angedeutet, da mit der Schrift nicht zugleich ihre Anwendung als gegeben erscheint. In der Hand des Feindes wird sie zur Waffe, in der Hand des Erzählers zum theologischen Garanten der sinnhaften Einbindung des Geschehens in die durch die Heiligen Schriften Israels zur Sprache gebrachte Geschichtsmächtigkeit Gottes. Wie schon die durch die Genealogie gestaltete Geschichte Gottes mit seinem Volk, so bleibt auch das in Mt 2 Erzählte mittels der intertextuellen Etablierung eines gemeinsamen Diskursuniversums nicht dem Zufall überlassen, sondern es wird vom Gestaltungswirken Gottes her verstanden. 3.3 Die intertextuelle Problembeschreibung (Mt 3) Wie schon Jesus selbst wird nun auch Johannes als Bote des Herrn in die Geschichte Gottes mit seinem Volk intertextuell mittels eines Jesajazitates in Mt 3,3 eingetragen und seine Handlungen und Worte werden damit autorisiert. Seine intertextuelle Kennzeichnung als Elia geschieht durch die Schilderung seiner Kleidung (vgl 2 Kön 1,8). Der eifernde Aspekt der Eliagestalt aus den Königebüchern wird wiederum durch die intertextuelle Aufrufung des Abrahamnamens erreicht. Die Abrahamgeschichten aus Genesis und insbesondere der Aspekt der wunderbaren Entstehung Isaaks werden von Johannes nämlich nicht als Hoffnung gebende Bundesgeschichten zwischen Gott und seinem Volk erinnert. Vielmehr nutzt Johannes diese intertextuelle Abbreviatur, um den Machtaspekt Gottes hervorzuheben und die Abrahamkindschaft nicht als Immunität vor dem Zorn Gottes zu begreifen. Wenn Gott sogar aus Steinen Kinder Abrahams erwecken kann (vgl. 2,9), dann rettet die Abrahamkindschaft nicht vor seinem berechtigten Zorn. Mit diesem intertextuellen Gewebe benennt das Matthäusevangelium das eigentliche Problem, das die Jesus-Christus-Geschichte in der matthäischen Fassung bearbeitet und löst: Der wegen der Sünden seines Volkes berechtigte Zorn Gottes macht auch vor den Kindern Abrahams nicht halt. Der Zorn Gottes (vgl. 3,7b) ist nicht »mit uns« sondern »gegen uns«. Die Lösung aus der Furcht vor der Vernichtung durch den Zorn Gottes besteht in der Zugehörigkeit zu dem »Ich bin bei Euch«, von dem das Matthäusevangelium erzählt. 3.4 Der Kampf um legitime und illegitime Intertextualität (Mt 4) Dass der Bezug auf die Heiligen Schriften Israels nicht schon als solcher ein frommer Akt ist, unterstreicht die Auseinandersetzung zwischen dem Teufel und Jesus in der so genannten Versuchungsgeschichte. Der Teufel wird hier als Diabolos, als Durcheinanderwerfer benannt. Genau das macht er. Er zitiert Passagen aus den Heiligen Schriften Israels, um damit Jesus zu verleiten, ihn anzubeten. Durch diesen Gebrauch wird aus der Heiligen Schrift Gottes ein Teufelswerk. Jesus wehrt dieses Ansinnen des Diabolos mit seinem eigenen Gebrauch der Schrift ab. Damit wird diese Erzählung zu einem Lehrstück dialogischen Schriftverständnisses. Der Bezug auf die Schrift macht noch keinen frommen Gerechten. Dient das jeweilige Schriftverständnis den Werten des Reiches Gottes, oder ist es dem teuflischen Ansinnen alles durcheinander bringender Mächte verpflichtet, eine andere Macht als den Gott Israels, den barmherzigen und gerechten Schöpfer und Neuschöpfer, zu ehren? Erst nachdem die intertextuell gestaltete Versuchungsgeschichte geklärt hat, wie die Schrift zu gebrauchen ist, beginnt Jesu öffentliche Wirksamkeit in 4,12. Auch diese wird mit Bezug auf Jesaja intertextuell interpretiert (vgl. 4,14 ff.), bevor Jesus seine erste große Rede hält. 3.5 Die Inszenierung dialogischer Intertextualität (Mt 5-7) Die intertextuelle Schreibweise des Mt gebraucht die intertextuellen Bezüge zu den Heiligen Schriften Israels nicht lediglich, um sie als die eigene Stimme auszugeben. Wie sehr sie überwiegend dialogisch und weniger monologisch im Sinne Michail Bachtins Konzept der Dialogizität 18 angelegt ist, wird insbesondere bei den so genannten Antithesen der Bergpredigt (Mt 5,21-48) offensichtlich. Ihre Einleitung durch »ihr habt gehört, dass den Alten gesagt wurde« (5,21), bzw. »ihr habt gehört, dass gesagt wurde« (5,27), zeigt das daraufhin Zitierte als eine andere Stimme auf als die des Sprechers Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 40 - 4. Korrektur 40 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Zum Thema der Bergpredigt, der seine eigene Stimme dialogisch mit »Ich aber sage euch« (Mt 5,22a) offenlegt. Die Stimme, die zu den Alten gesprochen wurde, wird durch die passivische Form und ihren Inhalt als Gottes Stimme identifizierbar (vgl. Ex 20,1), bzw. als die durch Mose dem Volk Israel vermittelte Stimme Gottes (vgl. Dtn 5,5). Das »ich aber sage euch« setzt die Gültigkeit des zu den Alten Gesagten nicht außer Kraft. Treffen zwei Stimmen dialogisch aufeinander, können sie sich entweder verstärken, ergänzen oder einander widerstreiten. Da den so genannten Antithesen mit Mt 5,17-20 eine Leseanweisung vorangestellt ist, die den Widerspruch zu den Heiligen Schriften Israels ausschließt, bleiben nur die ergänzende und die verstärkende dialogische intertextuelle Beziehung übrig. Das pragmatische Ziel dieser ergänzenden und verstärkenden Dialogizität wird in 5,20 explizit benannt. »Denn ich sage euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.« Den Pharisäern und Schriftgelehrten wird damit nicht jegliche Gerechtigkeit abgesprochen. Es wird ja keine andere Gerechtigkeit eingefordert, sondern die der Pharisäer und Schriftgelehrten als nicht ausreichend qualifiziert. Worin dieser Mangel bestehen könnte, zeigt der Schlusssatz der Bergpredigt auf: »denn er lehrte sie mit exousia (Vollmacht) und nicht wie ihre Schriftgelehrten.« (7,29). Die Übereinstimmung von Jesus, Pharisäern und Schriftgelehrten besteht darin, dass die Gerechtigkeit durch die Heiligen Schriften Israels gelehrt werden soll. Sie teilen also das Diskursuniversum, das maßgeblich durch die intertextuellen Bezüge zu den Heiligen Schriften Israels gebildet wird. Die Stimme des Erzählers in Mt 7,29 bringt aber das Kriterium der Wirksamkeit ein, die dann in den darauffolgenden Wundererzählungen anschaulich konkretisiert wird. Somit lässt sich schließen, dass sich die in 5,17-19 herausgestellte Gültigkeit der Heiligen Schriften Israels zum Matthäusevangelium verhalten wie die Thesen der Bergpredigt zu den so genannten Antithesen. Es ersetzt sie nicht. Vielmehr wird seine Geschichte als die Heiligen Schriften Israels dialogisch ergänzende und verstärkende gute Nachricht zu lesen sein, die den Grund, auf dem sie steht, voll und ganz gelten lässt und nur so eine neue Perspektive darauf eröffnet, die sich als vollmächtig wirksam durch das Wunder des Glaubens erweist. 3.6 Narrative Intertextualität im Zeichen des Wunderbaren (Mt 8-9) Dass die Wundererzählungen in Mt 8 und 9 die Bestätigung für Mt 7,29 liefern und durch diese narrative Grammatik bereits in das von Mt 1-7 installierte intertextuelle Netz verwoben sind, habe ich bereits vermerkt. Hier gilt es nun, mit wenigen Pinselstrichen zu zeigen, dass diese Wunder ohne ihre Bezüge zu den Heiligen Schriften Israels als zu entmythologisierende Mirakel missverstanden werden müssen. Neben der narrativ-intertextuellen Verknüpfung der Wundergeschichten in Mt 8 und 9 durch Mt 7,29 ist zunächst auf ihre summarisch-intertextuelle Interpretation in Mt 8,16 f. zu verweisen: »Am Abend aber brachten sie viele Besessene zu ihm: und er trieb die Geister aus durch sein Wort und machte alle Kranken gesund, damit erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten Jesaja, der da spricht: »Er hat unsere Schwachheit auf sich genommen und unsere Krankheit hat er getragen.« Diese intertextuelle Interpretation wird dann noch in Mt 11,2-6 durch die Täuferanfrage und Jesu Antwort plausibilisiert. Jesu Wunder sind messianische Zeichen, die nur durch den intertextuellen Bezug auf die Heiligen Schriften Israels verstanden werden können. Sie sind keine Zaubertricks eines göttlichen Menschen, sondern Ausdruck der Schöpfungskraft Gottes, die sogar den Tod überwindet. Deshalb preist das Volk sachgemäß Gott, nachdem Jesus den Gelähmten durch sein Wort geheilt hat: »Als das Volk das sah, fürchtete es sich und pries Gott, der solche Macht den Menschen gegeben hat.« (Mt 9,8) 3.7 Diskursive Intertextualität im Zeichen des Konflikts (Mt 10-12) Dass das Weitertragen des Evangeliums in vielfältige soziale und mitunter lebensbedrohliche Konflikte führt, thematisieren die Kapitel 10-12. Diese Problematik wird mittels intertextueller Bezugnahmen vornehmlich diskursiv bearbeitet. Die Gewalt, die Johannes der Täufer erfährt (vgl. Mt 11,9-14; 17,12 f.), wird wie die Gewalt, die den ausgesandten Jüngern droht, mit den Leidenserfahrungen der Propheten verwoben (vgl. Mt 10,40-42). Jesu eigenes Geschick wird schon hier mit intertextuellem Bezug auf Jesajas Gottesknechtslieder in Mt »Jesu Wunder sind messianische Zeichen, die nur durch den intertextuellen Bezug auf die Heiligen Schriften Israels verstanden werden können. Sie sind keine Zaubertricks eines göttlichen Menschen, sondern Ausdruck der Schöpfungskraft Gottes, die sogar den Tod überwindet.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 41 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 41 Stefan Alkier Konzeptionen, Beobachtungen und Überlegungen zur intertextuellen Schreibweise des Matthäusevangeliums 12,15-21 mit direktem Bezug auf Jes 42,1-4 interpretiert. Gewaltlos soll der Knecht Gottes Gottes Rechts- und Lebensordnungen neu aufrichten und kommt deshalb durch die ungerechte Gewaltanwendung zu Tode. Aber nicht nur Jesu Kreuzestod wird schon in diesem Zusammenhang in das intertextuelle Netz der Schreibweise des Mt eingewoben, sondern auch seine Auferweckung, indem diese als Zeichen des Propheten Jona ins Spiel gebracht wird (vgl. Mt 12,38-42). 3.8 Gleichnishafte Intertextualität (Mt 13) Auch Jesu Gleichnisse werden in das intertextuelle Netz des Matthäusevangeliums eingewoben. Sie werden zunächst nicht als didaktische Verstehenshilfen wertgeschätzt, sondern durch den Bezug auf Jes 6,9 in Mt 13,14 f. als Gerichtsrede für diejenigen klassifiziert, die Jesu Botschaft vom Himmelreich, bzw. das Evangelium des Mt nicht zustimmend hören wollen. Diejenigen aber, die sich von dieser Botschaft des Evangeliums treffen lassen, werden seliggepriesen und zwar wiederum mit intertextuellem Bezug auf die Propheten (vgl. 13,16 f.). Wie dialogisch die intertextuelle Schreibweise des Mt verfährt, zeigt sich auch darin, dass eine zweite Deutung der Gleichnisse Jesu mittels intertextueller Bezugnahme in Mt 13,34 auf Psalm 78 eingebracht wird: »Das alles redete Jesus in Gleichnissen zu dem Volk, und ohne Gleichnisse redete er nichts zu ihnen, damit erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten, der das spricht: Ich will meinen Mund auftun in Gleichnissen und will aussprechen, was verborgen war vom Anfang der Welt an.« Die beiden Deutungen des Sinns der Gleichnisse in Mt 13 sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden. Sie erzeugen auf dialogische Weise ein intertextuelles Netz der Interpretation der Gleichnisse Jesu, und eröffnen damit multiperspektivische Lektüren des Matthäusevangeliums als Ganzes. 3.9 Neue Perspektiven eröffnende Intertextualität (Mt 14-20) Die intertextuelle Schreibweise des Matthäusevangeliums bezieht sich nicht nur auf einzelne Aspekte wie etwa die Anklänge der wunderbaren Speisung Israels in der Wüste (Ex 16) in der Geschichte von der Speisung der Fünftausend (Mt 14,15-21), oder die Diskussion von Reinheit und Unreinheit in Mt 15 mit Bezug auf Ex 20. Der stetige Ausbau der Vernetzung der matthäischen Erzählung mit den Heiligen Schriften Israels ist vielmehr ein neue Perspektiven etablierendes Gesamtkonzept des ersten Evangeliums. Dieser Sachverhalt wird in der so genannten Verklärungsgeschichte inszeniert, in der Jesus vor den Augen seiner engsten Jünger verwandelt wird und daraufhin Mose und Elia erscheinen und mit Jesus reden. Mose und Elia können dabei metonymisch als Repräsentanten von Gesetz und Propheten verstanden werden, die mit Jesus kommunizieren. Damit wird aber nicht nur die Jesusgeschichte in das strahlende Licht der Heiligen Schriften Israels eingetaucht und legitimiert. Vielmehr entstehen dadurch auch neue Perspektiven auf das Gesetz und die Propheten, wie etwa in der Diskussion um Reinheit und Unreinheit: »Was zum Mund hineingeht, das macht den Menschen nicht unrein; sondern was aus dem Mund herauskommt, das macht den Menschen unrein.« (Mt 15,11) Gesetz und Propheten werden durch die intertextuellen Bezüge der matthäischen Schreibweise weder blind zitiert noch enthusiastisch außer Kraft gesetzt. Vielmehr erscheinen auch überraschende Interpretationen, die als Verneinung der Überlieferung missverstanden wären, dialogisch der Gültigkeit von Mose und Elia, von Gesetz und Propheten verbunden. Die intertextuelle Schreibweise des Matthäusevangeliums öffnet die Augen für einen Dialog zwischen den alten und neuen Texten, der dann fruchtbar wird, wenn man sich auf die Komplexität und den nicht zu beherrschenden Perspektivenreichtum des intertextuellen Netzwerkes des Matthäusevangeliums mit dem Wunsch der zwei Blinden von Jericho einlässt: »Herr, daß unsere Augen aufgetan werden« (Mt 20,33). Wer könnte den Rückverweis dieser Bitte auf die intertextuelle Gleichnishaftigkeit in Mt 13,13-17 übersehen? 3.10 Mit geöffneten Augen-- Hermeneutische Intertextualität (Mt 21-28) Das durch die Schreibweise des Matthäusevangelium installierte und autorisierte intertextuelle Netzwerk öffnet die Augen für das Verständnis der matthäischen Darstellung von Leiden, Tod und Auferweckung Jesu Christi. Ohne die Einschreibung der Jesus-Christus-Geschichte in die in den Heiligen Schriften Israels erzählte, reflektierte und besungene Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel gerät die Geschichte Jesu entweder zur historischen Erzählung eines Lebens Jesu als letztlich gescheiterter Held oder zum Mythos eines göttlichen Christuswesens. Die intertextuelle Interaktion beider Textwelten vermeidet diese folgenreichen Missverständnisse, indem sie nicht auf Eindeutigkeiten setzt, sondern auf das Sinngeschehen, das sich im Zwischen der verwobenen Texte je neu ereignet. Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 42 - 4. Korrektur 42 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Zum Thema Dass Jesus auf einem Esel in Jerusalem einreitet, ist der wirklichkeitsgestaltenden Gültigkeit dessen geschuldet, was den Alten bei Jesaja (62,11) und Sacharja (9,9) gesagt wurde. Die matthäische Darstellung der Jesus-Christus-Geschichte ist Wirklichkeit gewordene Schrift als schöpferisches Wort Gottes: »Das geschah aber, damit erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten, der da spricht: Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen, dem Jungen eines Lasttieres.« (Mt 21,4 f.) Es übersteigt die Grenzen dieses Aufsatzes, die zahlreichen und komplexen intertextuellen Verwebungen der matthäischen Passionsgeschichte auch nur anzudeuten, wie sie z. B. in der Zeichenhandlung im Tempel explizit werden (vgl. Mt 21,12-17; Jer 7). Zumindest aber eine Konkretisierung sei hier abschließend noch benannt: Die Frage nach der Auferstehung der Toten wird nicht als eine Glaubensfrage diskutiert. Vielmehr geht es um theologische Erkenntnis, die den Bestreitern der Auferweckung der Toten schlichtweg abgesprochen wird. Die Auferweckung der Toten, also auch und vor allem die Auferweckung des Gekreuzigten lässt sich nur denken in der intertextuellen Verwebung der Jesus- Christus-Geschichte mit den Heiligen Schriften Israels. Ihren Bestreitern schleudert die intertextuelle Schreibweise des Matthäusevangeliums entgegen: »Ihr irrt, weil ihr weder die Schrift kennt noch die Kraft Gottes.« (Mt 22,29b) 19 4. Ein kleines Schlusswort für Pluralität und wider die Beliebigkeit Die Schrift zu kennen meint nun aber nicht, einzelne Verse aus dem Zusammenhang zu reißen und sie als Belegstellen für die eigenen Ziele zu missbrauchen, wie es der Teufel praktiziert (vgl. Mt 4,1-11). Es geht vielmehr darum, sie immer wieder zu lesen und Bezüge herzustellen, wie es die intertextuelle Schreibweise des Matthäusevangeliums vorführt. Intertextuelle Lektüren der Schrift sind vom Reichtum ihrer Perspektiven fasziniert, die sich gerade aus dem nicht auszuschöpfenden Zusammenlesen in diesem Zwischen ergeben. Für viele Menschen gerade in unserer Zeit scheint diese unüberschaubare und unbeherrschbare Pluralität erschreckend zu sein und gegen die Wahrheit der Heiligen Schrift zu sprechen, weil Wahrheit monologisch und eindeutig verstanden wird. Die intertextuelle Pluralität der Schrift führt aber nicht zwangsläufig zur Beliebigkeit, sondern eher zur Demut der eigenen begrenzten Perspektive, die sich nicht davor scheut, Position zu beziehen und diese auch zu benennen. So antwortet Jesus auf die Frage nach dem höchsten Gebot: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und in all deinem Durchdenken. Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich: Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst. In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.« Anmerkungen 1 M. Mayordomo-Marín, Den Anfang hören. Leserorientierte Evangelienexegese am Beispiel von Matthäus 1-2 (FRLANT 180), Göttingen 1998, 210. 2 Vgl. dazu S. Alkier, Die Bibel im Dialog der Schriften und das Problem der Verstockung in Mk 4. Intertextualität im Rahmen einer kategorialen Semiotik biblischer Texte, in: S. Alkier/ R.B. Hays (Hg.), Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre (NET 10), Tübingen/ Basel 2005, 1-22, hier: 1. 3 Vgl. dazu S. Alkier, Intertextualität-- Annäherungen an ein texttheoretisches Paradigma, in: D. Sänger (Hg.), Heiligkeit und Herrschaft. Intertextuelle Studien zu Heiligkeitsvorstellungen und zu Psalm 110 (BThS 55), Neukirchen-Vluyn 2003, 1-26. 4 Vgl. S. Holthuis, Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption (Stauffenburg Colloquium 28), Tübingen 1993, 29-36. 5 Vgl. u. a. R.B. Hays, Echoes of Scripture in the Letters of Paul, Yale UP/ New Haven/ London 1989. 6 Vgl. u. a. S. Moore, God´s Gym. Divine Male Bodies of the Bible, New York/ London 1996. 7 Vgl. u. a. S. Alkier, Neutestamentliche Wissenschaft-- Ein semiotisches Konzept, in: C. Strecker (Hg.), Kontexte der Schrift II: Kultur, Politik, Religion, Sprache-- Text, FS Wolfgang Stegemann zum 60. Geburtstag, Stuttgart 2005, 343-360. Vgl. dazu L. Huizenga, The Old Testament in the New, Intertextuality and Allegory, JSNT 38 (2015), 17-35. 8 H. Thyen, Das Johannesevangelium (HNT 6), Tübingen 2005. 9 Vgl. dazu S. Holthuis, a. a. O., 51-88. 10 R.B. Hays, Echoes, a. a. O.; ders., The Faith of Jesus Christ. The Narrative Substructure of Galatians 3: 1-- 4: 11 (The »Die Schrift zu kennen meint […] nicht, einzelne Verse aus dem Zusammenhang zu reißen und sie als Belegstellen für die eigenen Ziele zu missbrauchen […]. Es geht vielmehr darum, sie immer wieder zu lesen und Bezüge herzustellen, wie es die intertextuelle Schreibweise des Matthäusevangeliums vorführt.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 43 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 43 Stefan Alkier Konzeptionen, Beobachtungen und Überlegungen zur intertextuellen Schreibweise des Matthäusevangeliums Biblical Resource Series), 2 Grand Rapids 2002; E. Reinmuth, Narratio und argumentatio-- zur Auslegung der Jesus-Christus-Geschichte im ersten Korintherbrief. Ein Beitrag zur mimetischen Kompetenz des Paulus, ZThK 92 (1995), 13-27; M. Schneider, Gottes Gegenwart in der Schrift. Intertextuelle Lektüren zur Geschichte Gottes in 1 Kor, (NET 17), Tübingen und Basel 2011; S. Alkier, Wunder und Wirklichkeit in den Briefen des Apostels Paulus. Ein Beitrag zu einem Wunderverständnis jenseits von Entmythologisierung und Rehistorisierung (WUNT 134), Tübingen 2001. 11 Vgl. D. M. Moffitt, Atonement and the Logic of Resurrection in the Epistle to the Hebrews (SNT 141), Leiden 2011. 12 Vgl. E. Reinmuth, Zur neutestamentlichen Paulus-Pseudepigraphie, in: N. Walter/ E. Reinmuth/ P. Lampe, Die Briefe an die Philipper, Thessalonicher und an Philemon (NTD 8/ 2), Göttingen 1998, 190-202. 13 Vgl. G. Aichele, The Control of Biblical Meaning. Canon as Semiotic Mechanism, Trinity Press International, Harrisburg 2001. 14 Vgl. S. Alkier/ R.B. Hays (Hg.), Kanon und Intertextualität, Kleine Schriften des Fachbereichs Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt Main 1, Frankfurt am Main 2010. 15 R. Barthes, Am Nullpunkt der Literatur, in: ders., Am Nullpunkt der Literatur. Literatur oder Geschichte. Kritik und Wahrheit, aus dem Franz. von Helmut Scheffel, SV 2471, Frankfurt am Main 2006, 7-69, hier: 17 f. 16 Vgl. S. Alkier, Zeichen der Erinnerung-- Die Genealogie in Mt 1 als intertextuelle Disposition, in: K.-M. Bull/ E. Reinmuth (Hg.), Bekenntnis und Erinnerung. FS zum 75. Geb. v. Hans-Friedrich Weiß, 108-128. 17 Die implizite oder explizite Bestreitung der autoritativen Geltung des Alten Testaments für die christliche Theologie von Friedrich Schleiermacher über Rudolf Bultmann bis zur heutigen Kontroverse, die Notger Slencka ausgelöst hat, ignoriert bei aller Verschiedenheit ihrer Begründungen im Einzelnen die intertextuelle Verwobenheit nicht nur des Mt, sondern der meisten neutestamentlichen Schriften mit den Heiligen Schriften Israels, die genau deswegen theologisch sachbezogen zum alttestamentlichen Kanon werden. Die antialttestamentliche Position dieser Theologen erwächst auch aus einer exegetischen Verkennung der theologischen Konsequenzen intertextueller Schreibweisen. 18 Vgl. dazu den Beitrag von Michael Schneider in diesem Heft. Vgl. auch S. Alkier, Hoffnung Hören und Sehen! Beobachtungen zur Dialogizität des Hebräerbriefes und der Johannesapokalypse, ZNT 29 (2012), 14-24; ders., Unerhörte Stimmen-- Bachtins Konzept der Dialogizität als Interpretationsmodell biblischer Polyphonie, in: M. Köhlmoos/ M. Wriedt (Hg.), Wahrheit und Positionalität, Kleine Schriften des Fachbereichs Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main 3, Leipzig 2012, 45-69. 19 Vgl. S. Alkier, Die Realität der Auferweckung in, nach und mit den Schriften des Neuen Testaments (NET 12), Tübingen/ Basel 2009, insbes. 109-121. Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 09.11.2015 - Seite 43 - 4. Korrektur Martin H. Jung Kirchengeschichte UTB basics 2014, X, 292 Seiten, 30 s/ w Abb., €[D] 24,99 ISBN 978-3-8252-4021-9 Eine Kirchengeschichte kann heute nur als Geschichte des Christentums geschrieben werden, die das Christentum als Religion unter Religionen ansieht und behandelt, dabei auch die außerkirchlichen Vernetzungen und Wirkungen berücksichtigend. Dieses Lehrbuch vermittelt verständlich und übersichtlich das Basiswissen dazu und erläutert historische Zusammenhänge ebenso wie theologische Ideen und Grundeinsichten in ihren geschichtlichen Kontexten. Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 44 - 4. Korrektur Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 09.11.2015 - Seite 44 - 4. Korrektur Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de JETZT BES TELLEN! JETZT BES TELLEN! Matthias Klinghardt Das älteste Evangelium und die Entstehung der kanonischen Evangelien Band I: Untersuchung Band II: Rekonstruktion, Übersetzung, Varianten Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter (TANZ) 60/ 1 | 60/ 2 2015, XVI, 1280 Seiten (zusammen), nur geschlossen beziehbar €[D] 198,00 (zusammen) ISBN 978-3-7720-8549-9 Die Rekonstruktion des ältesten Evangeliums bildet die Grundlage der Untersuchung der kanonischen Evangelienüberlieferung von der ältesten Fassung bis zum kanonischen Vier-Evangelienbuch. Band I enthält die Untersuchung, die das Verhältnis zwischen Lukas und dem ältesten Evangelium bestimmt sowie ein Modell für die Entwicklung der Evangelien bis hin zum kanonischen Vier- Evangelienbuch entwirft. Band II enthält die minutiöse Rekonstruktion dieses Evangeliums mit der Etablierung des Textes, der Verzeichnung der Zeugen sowie der Lesarten. In der Erläuterung wird jede einzelne Rekonstruktionsentscheidung ausführlich begründet und der Überlieferungsweg einzelner Logien und Perikopen nachgezeichnet. Ergänzt wird diese Rekonstruktion durch eine Übersetzung sowie eine Liste derjenigen Varianten des kanonischen Lukas-Evangeliums, die sich mit dem Text des ältesten Evangeliums berühren. Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 09.11.2015 - Seite 45 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 45 Einleitung zur Kontroverse: »Gerechtigkeit« bei Matthäus: Ethisch oder christologisch? Die Kontroverse um die Frage, wie »Gerechtigkeit« bei Matthäus zu verstehen sei, hat es theologisch in sich. Sie hat nicht nur Auswirkungen auf die Deutung der matthäischen Ethik und Christologie, sondern auch auf die Deutung seiner Soteriologie, also auf die Frage, wie Matthäus sich den Weg zum Heil oder Unheil vorstellt, und auf die Bestimmung des Verhältnisses von Christologie und Torafrömmigkeit im matthäischen Denken. Holzschnittartig lassen sich die von Manuel Vogel und Roland Deines vorgestellten Positionen folgendermaßen darstellen: Manuel Vogel deutet »Gerechtigkeit« bei Matthäus ethisch. Jesus erscheint als Tora-Lehrer und als ethisches Vorbild. Nachfolge Jesu heißt dann, ethisch so zu handeln wie Jesus. Diese These impliziert, dass die Nachfolgenden, also die in der matthäischen Gemeinde Getauften, auf die Tora verpflichtet waren, jedenfalls die jüdischen unter ihnen. Den Missionsbefehl deutet Vogel konsequent als »Lehrauftrag«. Die matthäische Rede von der Gerechtigkeit ist nach Vogel von den theologischen Themen der Christologie, der Soteriologie und der Heilsgeschichte strikt zu trennen. Die Vielfalt der neutestamentlichen Stimmen werde damit um eine weitere Stimme bereichert, die aktuell attraktiv sein könne. Denn sie unterfüttere biblisch die Option, sich als Christusanhänger zu verstehen, indem man tut, was Jesus zu tun aufgetragen hat-- ohne auf den (Opfer-)Tod am Kreuz rekurrieren zu müssen. Roland Deines lehnt die separate Deutung des Gerechtigkeitsthemas bei Matthäus ab. Er verortet die Frage nach der Gerechtigkeit im Zentrum der matthäischen Theologie und deutet sie als »Jesus-Gerechtigkeit«. Deines schließt damit für Matthäus aus, dass sich Jesusnachfolge ausschließlich am Tora-Lehrer Jesus orientiert. Die in der matthäischen Gemeinde Getauften waren also nicht (zwangsläufig) auf die Tora verpflichtet. Jesus hat Gesetz und Propheten »erfüllt« und damit die heilsgeschichtliche Wende zum Reich Gottes vollzogen. Rettung erfolgt nicht durch das Halten der Tora, sondern dadurch, dass die Getauften Jesus als Gottes Messias bekennen. Die Kontroverse bildet einen Ausschnitt aus einem umfangreichen Diskurs, der seit einer Reihe von Jahren geführt wird. Er zeigt sich auch in der hier dargestellten Kontroverse selbst: So reagiert Roland Deines auf den Beitrag von Manuel Vogel und Manuel Vogel reagiert seinerseits in einem kurzen Vorspann zu seinem Beitrag auf die Thesen von Roland Deines. Es bleibt den Leserinnen und Lesern überlassen, diesen Diskurs auf der Grundlage der vorgetragenen Argumente weiter fortzuführen und sich selbst eine Meinung zu bilden: zum matthäischen Gerechtigkeitsverständnis und vielleicht auch zur aktuellen Frage der Gerechtigkeit. Hanna Roose Kontroverse Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 46 - 4. Korrektur 46 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Gerechtigkeit, griech. dikaiosynē, entscheidet nach dem Matthäusevangelium über den Eingang in das Reich Gottes (5,20). Dabei muss diese Gerechtigkeit »überfließend mehr« sein als die der Pharisäer und Schriftgelehrten. 1 Aus dieser Feststellung, die zwar häufig, aber eben nur ungenau als Forderung nach einer »besseren Gerechtigkeit« umschrieben wird, erhebt sich die Frage: Was ist der besondere Inhalt dieser Gerechtigkeit? Was macht sie »besser« oder »überfließend reicher«? Zwei Grundlinien lassen sich in der Auslegungsgeschichte unterscheiden, die etwas schematisch als »ethisches« oder »christologisches« Verständnis unterschieden werden. Das ethische Verständnis, das mit Nachdruck von meinem geschätzten Kollegen Manuel Vogel und sehr deutlich u. a. im neuen Matthäus- Kommentar von Matthias Konradt vertreten wird, 2 sieht in der »besseren Gerechtigkeit« die Ermöglichung einer umfassenderen und vertieften Befolgung der Tora durch Leben und Lehre Jesu: »Ein in dieser Form unzulängliches Toraverständnis [gemeint ist: der Pharisäer wie in Mt 23,23 dargestellt] führt zu einem defizitären Gerechtigkeitsniveau, so dass der Zugang zum Himmelreich versperrt bleibt. Die von den Jüngern erwartete › bessere Gerechtigkeit ‹ basiert hingegen darauf, dass die großen Gebote adäquat, d. h. gemäß ihrem vollen und tieferen Sinn befolgt werden. Voraussetzung dafür ist das neue Erschlossensein von Gesetz und Propheten durch Leben und Lehre Jesu.« 3 Die »bessere Gerechtigkeit« ist also das bessere Toraverständnis, das Jesus ermöglicht. Er ist der bessere Toralehrer (so Vogel) im Vergleich zu Pharisäern und Schriftgelehrten, der zudem durch sein Leben bezeugt, was er sagt, während den Pharisäern das Gegenteil unterstellt wird (Mt 23,3b). Dieses ethische Verständnis der Jesusgeschichte sieht auf den ersten Blick überzeugend aus und kann sich auf eine Vielzahl von ethischen Ermahnungen stützen, die als Bedingungen für die dauerhafte heilvolle Gemeinschaft mit Gott genannt werden: Liest man etwa die Seligpreisungen als »sämtlich ethisch ausgerichtet«, dann gelten die darin zugesprochenen Verheißungen denen, »deren Handeln durch das Streben nach Gerechtigkeit geprägt ist«. 4 Ziel der Jüngerexistenz sind »gute Werke« (5,16) und das Nichtbefolgen der Toraauslegung Jesu endet in der Hölle (so als Konsequenz der ersten beiden Antithesen in 5,22.25 f.29 f.; 25,45-46a). Ziel der Bergpredigt ist es jedoch, gerade dies zu verhindern. Der Bergprediger will, dass die Zuhörenden durch die enge Pforte ins Leben hineingehen, denn drinnen oder draußen sein entscheidet für Matthäus über Leben oder Verderben: »Geht hinein durch das enge Tor! Denn weit ist das Tor und geräumig der Weg, der in das Verderben (apōleia) führt und viele sind es, die durch es hindurchgehen. Wie eng ist das Tor und beschwerlich der Weg, der ins Leben führt, und wenige sind es, die es finden« (Mt 7,13). Über dem Tor zum Leben steht das Wort »Gerechtigkeit« (5,20, außerdem 5,6 und 5,11: Gerechtigkeit ist das einzige Stichwort, das zweimal im ersten Versteil der Seligpreisungen auftaucht), darin sind sich alle an der Diskussion Beteiligten einig. Uneinigkeit herrscht dagegen, was es braucht, um am Ende zu den Gerechten zu gehören, die ins Leben eingehen (25,46). 1. Das rechte Tun als Weg ins ewige Leben Das Hineingehen ins Himmelreich (5,20; 7,21; 18,3; 19,23 f.) wird von Matthäus vielfältig variiert: Wie eben zitiert als Hineingehen »ins Leben« (7,13 f., so auch 18,8 f.; 19,17) oder gleichbedeutend »ins ewige Leben« (19,16; 25,46); als »hineingehen zur Hochzeit« im Gleichnis von den zehn Jungfrauen (25,10) oder »in die Freude seines Herrn« im Gleichnis von den anvertrauten Talenten (25,21.23). Gemeint ist dabei immer das eschatologische Heil, für das der Grund im gelebten Leben gelegt wird. Dass es um Leben und Tod in letzter Konsequenz geht, machen auch die mit diesen Eingangsverheißungen verbundenen War- Roland Deines Gerechtigkeit, die zum Leben führt Die christologische Bestimmtheit der Glaubenden bei Matthäus Kontroverse »Der Bergprediger will, dass die Zuhörenden durch die enge Pforte ins Leben hineingehen, denn drinnen oder draußen sein entscheidet für Matthäus über Leben oder Verderben.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 47 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 47 Roland Deines Gerechtigkeit, die zum Leben führt zweifeln, das Ziel dieses Glaubens vor Augen zu stellen: Die verheißene basileia Gottes (5,3-12.20), der zugesagte Lohn (5,12.19b; 6,4. 6. 18, vgl. 16,27), die Bewahrung der »Seele« (10,39; 16,25b) und das ewige Leben (19,29, vgl. 25,46). Diejenigen, die schon zur Gemeinde gehören, werden ermahnt, ihre Zugehörigkeit zu Jesus sichtbar und zeugnishaft für andere (5,16) zu leben und diese Haltung bis zum Ende durchzuhalten. Dass dies keine Selbstverständlichkeit ist, machen Texte wie das Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld deutlich: Bei drei der vier Gruppen findet »die Botschaft von der basileia« kurzfristig Aufnahme, aber sie trägt keine Frucht, d. h. das Durchhalten bis zum Tag der Ernte, das ist die Parusie des Gottessohnes (13,30), ist die entscheidende Herausforderung. Das zeigen ferner die drei Wachsamkeitsgleichnisse (Mt 24,45-25,30), die illustrieren, was in 24,40-44 angedeutet ist: Wenn der Menschensohn überraschend wiederkommt (24,37), dann werden die einen angenommen, die anderen zurückgelassen. Die Gleichnisse selbst geben nicht zu erkennen, wie dieses Bereitsein inhaltlich konkret aussieht. Nach der ethischen Deutung verlangen sie »eine dem Willen Gottes entsprechende Lebenspraxis«, um »für die Parusie bereit zu sein« (Konradt, a. a. O., 379). Voraussetzung dafür, »dass man jederzeit mit Zuversicht vor dem Weltenrichter (25,31-46) erscheinen kann« (a. a. O., 380) ist dann eine ethische Gespanntheit, die sich in »liebende[r] Fürsorge für die Mitmenschen« einsetzt (381). Die Darstellung des Endgerichts in 25,31-46 unterstreicht noch einmal dieses ethische Verständnis, insbesondere wenn man darunter das Gericht unterschiedslos über alle Menschen versteht. Das ist regelmäßig bei denjenigen der Fall, die bei Matthäus das Heil an das eigene Verhalten gebunden sehen: Jedem wird nach seinem Handeln vergolten, weil im Gericht »die Lebenspraxis entscheidend ist« (Konradt, a. a. O., 393, mit Verweis auf 16,27). »Überall, wo Menschen bedürftig und in Not sind, sind Nächstenliebe und Barmherzigkeit gefordert« (ebd.)- - wer diese praktiziert, der handelt im Sinne Jesu, egal, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht (25,37-40). Diese, und nur diese, sind die »Gerechten«, die zum ewigen Leben eingehen. So wie »der königliche Messias Jesus in seinem irdischen Wirken die barmherzige Zuwendung zu den Menschen ins Zentrum gestellt hat«, so sollen seine Nachfolgerinnen und Nachfolger auch handeln. »Als Richter urteilt er nach dem Kriterium, das er selbst vorgelebt hat« (394). Jesus ist dann Vorbild und der wahre, weil einzige Lehrer (23,10). Jüngersein bedeutet, von Jesus lernen. Manuel Vogel spricht von »Vorbild-Christologie« und für viele nungen und Kontrastbeschreibungen deutlich: Der Weg »ins Verderben« (7,13); der fruchtlose Baum, der ins Feuer geworfen wird (7,19, vgl. 3,10; 13,30.40-42; 15,13; ein Feuerofen außerdem in 13,50); die verweigerte Anerkennung durch Jesus im Gericht (7,23; 10,33; 25,12); das Verlieren der »Seele« im Tod um den Preis eines vermeintlich erfolgreichen Lebens auf der Erde (10,39; 16,26, vgl. 10,28); das Hinausgestoßenwerden in die Finsternis, wo »Heulen und Zähneklappern« ist (8,12; 22,13; 24,51; 25,30) und schließlich das Ende im »ewigen Feuer, das für den Teufel und seine Engel bereitet ist« (25,40)-- Matthäus lässt keinen Zweifel daran, dass es in der Botschaft Jesu entscheidend darum geht, das ewige Leben im Reich Gottes zu verbringen und nicht an jenem Strafort, wo anstelle von Gottes Lob nur Heulen und Zähneklappern zu hören ist. Die textpragmatische Absicht dieser Gerichtstexte ist jedoch nicht, die zukünftige und endgültige Trennung als unveränderliches Schicksal zu predigen, sondern auf die gegenwärtige Haltung der Gemeinde und deren Umfeld einzuwirken, 5 sie zur Umkehr bzw. zur tätigen Wachsamkeit zu ermutigen und beiden Adressatengruppen, den schon an Jesus Glaubenden und denen, die noch Prof. Dr. Roland Deines, Jahrgang 1961, verheiratet, Vater eines 17-jährigen Sohnes, geboren und aufgewachsen in Herrenberg (Württemberg); Studium der evangelischen Theologie in Basel und Tübingen, dazu ein Studienjahr an der Hebräischen Universität in Jerusalem. 1997 Promotion mit einer Arbeit über die Pharisäer bei Martin Hengel in Tübingen, 2004 Habilitation in Tübingen mit einer Arbeit über Matthäus. Nach Zwischenstationen in Tübingen, Jena und Beer-Sheva (Israel) seit 2006 am Department of Theology and Religious Studies der Universität Nottingham (GB) tätig, seit 2009 als Professor in New Testament Studies. Mitglied im Leitungsteam des Corpus Judaeo-Hellenisticum Novi Testamenti. Außer mit Matthäus beschäftigt er sich mit neutestamentlicher Archäologie und Zeitgeschichte, Jakobus und dem Jakobusbrief und ist interessiert an der Frage nach Gottes Handeln in der Geschichte als Herausforderung für die biblische Exegese (siehe sein letztes Buch »Acts of God in History«, Tübingen 2013). Prof. Dr. Roland Deines Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 48 - 4. Korrektur 48 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Kontroverse ist genau das der Sinn des Evangeliums. Sich von Jesus inspirieren lassen, der Gerechtigkeit nachzujagen und sich für Frieden in der Welt und für die Bewahrung der Schöpfung einzusetzen. 2. Jesusanity oder Christianity? Warum also nicht hier aufhören? Sollten wir nicht, wie Vogel vorschlägt, die Chance nutzen, die uns das Matthäusevangelium innerhalb des Kanons bietet? Folgt man seiner Anregung, dann hätten wir mit Matthäus eine Stimme im Kanon, die es erlaubt, Jesus nachzufolgen unter Außerachtlassung der möglichen »christologischen und soteriologischen Überformungen«. Hinter diesem Anliegen verbirgt sich der alte Streit um das angeblich einfache Evangelium, das Paulus mit Hilfe von Hellenismus und Philosophie in ein kompliziertes System theologischer Sätze verwandelte, in dem aus dem Prediger aus Nazareth der in die Welt gekommene Welterlöser wurde, der für die Sünden der Menschen sterben musste. Statt wie Jesus die Menschen zu Barmherzigkeit, Nächsten- und Gottesliebe zu inspirieren, steht nun der Glaube an ein kompliziertes System, das als »christologische und soteriologische Überformung[en]« der Botschaft Jesu angesehen wird. Matthäus, so Vogel, vertrete dagegen einen »singulären Akzent« innerhalb des Neuen Testaments (eventuell könnte man ja auch den Jakobusbrief noch dazu setzen), und diesen gelte es zu verteidigen, »im Interesse einer möglichst großen Vielstimmigkeit des neutestamentlichen Christus-Zeugnisses«. Weil, so das Argument, das Matthäusevangelium sich mit einer »christologischen und soteriologischen Unterbestimmtheit« begnüge, darum könnte die Stimme dieses Evangeliums dazu gebraucht werden, »Christusanhänger« zu legitimieren, die zwar mit großer Leidenschaft die Gebote Jesu im Sinne einer Barmherzigkeitsethik zu befolgen bereit sind, sich aber schwer tun mit den christologischen und soteriologischen Bestimmtheiten der paulinischen Theologie und dem daraus erwachsenen christlichen Credo. Im englischen Sprachraum werden diese beiden Varianten von Jesusanhängerschaft als »Jesusanity« und »Christianity« unterschieden. »Jesusanity« bedeutet hier, bei dem Menschen und Lehrer Jesus in die Schule zu gehen, sein Schüler zu werden und seine Lehre in den eigenen Alltag hinein zu übersetzen. Als Beleg für die Möglichkeit einer nonsoteriologischen Jesusschülerschaft wird in der Regel die Redenquelle Q angeführt. Sie gilt in diesen Kreisen nicht primär als eine von mehreren Quellen, die erst zusammen mit diesen (besonders einer Passionserzählung) das ganze Evangelium bildet, sondern wird selbst als Evangelium verstanden. Das ist der entscheidende Punkt bei diesem Argument: Wenn Q ein Evangelium war, das alles enthielt, was zur Nachfolge Jesu nötig war, dann haben wir hier ein »Lost Gospel« (Burton L. Mack), das eine Variante der »Lost Christianities« (Bart D. Ehrman) repräsentiert, für das Jesus ausschließlich als Lehrer entscheidend war-- aber eben nicht als Erlöser, dessen Leben und Wirken in erster Linie von seinem Tod am Kreuz her zu verstehen ist. 6 Das Thomasevangelium gilt als weiterer Vertreter dieser »Lost Christianities«, weil es ebenfalls ohne Passionserzählung bzw. Hinweise darauf auskommt. Die Redenquelle Q, das Thomasevangelium und die Texte anderer »Lost Christianities« repräsentieren die Pluralität des Anfangs (wobei es eine Tendenz gibt, die Spruchevangelien chronologisch als die ältesten Zeugnisse zu werten, so dass sie das eigentliche Urevangelium bilden und damit die eigentliche Absicht Jesu am besten widerspiegeln), die dann vom »orthodox Christianity« (das sind die Antipluralisten, darum immer im Singular: es gibt keine »orthodox Christianities«; das ist die Wurzel allen Übels in der Kirchengeschichte und darüber hinaus) übernommen (Q als Teil von Lukas und Matthäus) bzw. an den Rand (als Häresie) und damit aus kanonischer Reichweite gedrängt wurden. Die »Wiederentdeckung« bzw. theologische »Rehabilitierung« dieser verlorenen Ausdrucksformen der Jesusanhängerschaft gilt als ein Zeichen der Fairness und der historischen Gerechtigkeit (wieviel offener, toleranter und besser ist doch das 21. Jahrhundert im Vergleich zu den Zeiten, als die christliche Orthodoxie alles unter ihrem lähmenden Bannstrahl zwang! ), aber nicht nur das: Es wird der Gegenwart auch als eine Alternative angeboten für diejenigen, die mit der soteriologischen Ausrichtung des traditionellen Christentums samt dem Glauben an Kreuz, Auferstehung und ewiges Leben wenig anfangen können. Bart Ehrmans suggestive Formulierungen sind hierfür typisch: »Many people still today have trouble accepting a literal belief in Jesus’ resurrection or traditional understandings of his death as an atonement, but call themselves Christian because they try to follow Jesus’ teachings. Maybe there were early Christians who agreed with them, and maybe the author of Q was one of them. If so, the view lost out, and the document was buried. In part, it was buried in the later Gospels of Matthew and Luke, which transformed and thereby negated Q’s message by incorporating it into an account of Jesus’ death and resurrection. One more form of Christianity lost to view until recently rediscovered in modern times.« 7 Es ist faszinierend, wie in diesem kurzen Ausschnitt die Adjektive zur Leserleitung eingesetzt werden: Wer Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 49 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 49 Roland Deines Gerechtigkeit, die zum Leben führt will sich in der Postmoderne noch mit »literal belief« (Buchstabenglaube) und »traditional understanding« identifizieren? Das steht für rückwärtsgewandtes Denken. Dagegen die ehrlichen Zweifler, die versuchten (»try«), Jesu Lehren so gut wie möglich zu folgen und dabei unter die Räder kamen. Auch die Postmoderne scheint ohne Märtyrer nicht auszukommen in deren Nachfolge sie sich selbst gerne als bedrängte Avantgarde präsentiert. Über die historische Wahrscheinlichkeit eines solchen Q-Christentums oder »Jesusanity« soll hier jedoch nicht debattiert werden. 8 3. Jesus als Toralehrer oder als etwas »Größeres«? Für die vorliegende Debatte ist entscheidend, ob Matthäus-- trotz Passionserzählung und einer pointierten Christologie-- für ein solches Christentum der Tat in Anspruch genommen werden kann. Manuel Vogel unternimmt den Versuch, Jesus als Toralehrer so in den Vordergrund zu rücken, dass dahinter die anderen Anliegen des Matthäus zurückstehen müssen. Jesus ist der Lehrer einer auf Barmherzigkeit konzentrierten Mosetora, er ist »Toralehrer« aber nicht »Tempelersatz« (worunter die vermittelnde bzw. soteriologische Dimension zusammengefasst ist). Man kann dies allerdings kaum auf der Basis von Mt 12,5-7 entscheiden und damit an der Frage, ob hier von etwas Größerem (Barmherzigkeit) oder einem Größeren (Jesus) die Rede ist. Darüber lässt sich trefflich streiten, und keine Seite wird sich auf dieser Ebene von den exegetischen Argumenten der anderen überzeugen lassen. 9 Die Argumentation, die sich vor allem auf das Neutrum von »Größeres« stützt und dies auf das neutrische Nomen to eleos vorausverweisen lässt, übersieht m. E., dass Matthäus das ganze Gespräch in Richtung auf eine grundsätzliche Frage stilisiert, wofür er sich durchgängig neutrischer Personalpronomina bedient: Die Pharisäer klagen die Jünger an, »etwas« (ho) zu tun, das nicht erlaubt ist (V. 2) und Jesus verteidigt sie mit Verweis auf etwas (ti), das David tat (V. 3), »was« (ho) ihm eigentlich verboten war (V. 4). Der zweite Vergleich zielt auf den Dienst der Priester im Tempel (to hieron), ein ebenfalls neutrisches Substantiv. Diesen Argumentationsgang zusammenfassend schließt Matthäus mit dem nun ebenfalls neutrischen Größeren, das »hier« ist. Gerade das betonte »Hiersein« spricht m. E. dagegen, dass es primär um die erst danach in V. 7 genannte Barmherzigkeit geht (zumindest wenn sie primär ethisch verstanden wird), weil Barmherzigkeit sozusagen schon immer da war. Das gilt jedoch nicht für die mit Jesus angebrochene neue Wirklichkeit der Herrschaft bzw. umfassenden Zuwendung Gottes. 10 Im weiteren Fortgang des Kapitels läuft ebenfalls alles auf die Person von Jesus hin: Die anschließende Konfliktgeschichte mit den Pharisäern wechselt vom »was« zum »wer« (V. 11) und endet (beide Konfliktgeschichten zusammenfassend) mit dem Tötungsbeschluss gegen Jesus (V. 14). Will man wirklich annehmen, dass Matthäus den Pharisäern unterstellen will, dass sie Jesus ausschließlich wegen seiner Betonung von Gottes Barmherzigkeit und seiner Heilung am Sabbat beseitigen wollten? Auch die schon erwähnte Bedrängnis der Jünger im Matthäusevangelium (s. Anm. 4) geschah nicht wegen ihrer guten Werke (zu der nach der ethischen Interpretation auch das Tun der Barmherzigkeit gehört, s. 5,7), sondern sie werden um Jesu bzw. um seines Namens willen verfolgt. Das lässt sich nur schwer damit erklären, dass Jesus lediglich eine abweichende, menschenfreundlichere und kultdistanziertere (ohne aber die Opfer überhaupt in Frage zu stellen, s. 8,4) Torainterpretation im Vergleich zu den anderen Schriftgelehrten vortrug. Der Konflikt entstand vielmehr daran, dass er beanspruchte, den Willen Gottes nicht nur zu kennen, sondern mit seinem ganzen Wirken-- einschließlich des Todes am Kreuz-- präsent zu machen (Mt 26,54.56). Das hebt auch das Selbstbekenntnis Jesu zu seinem Sohnsein in 11,25-30 hervor, die als einführende Verse für Kap. 12 wichtig sind. Durch diese Linse betrachtet werden die pharisäischen Konfliktszenen zu Auseinandersetzungen mit Jesus als dem Sohn (11,27), der den verborgenen Willen des Vaters kennt, aber nur den von ihm Erwählten offenbart. Im Gegenzug werden die Pharisäer als solche dargestellt, die noch nicht einmal die grundlegenden Dinge verstehen (wie auch in 23,23), weil sie die Schrift nicht wirklich zu lesen vermögen (worauf dreimal in den Versen 3, 5 und 7 verwiesen wird). Exegetische Details sind selten ausschlaggebend für das leitende Gesamtbild. Darum halte ich es für wenig hilfreich, einzelne »ethische« Stellen aus dem Matthäusevangelium herauszupicken und unter Absehung des Kontexts und des Gewichts innerhalb der Gesamtstruktur als Belegstellen etwa für das matthäische Tatchristentum heranzuziehen. Damit bestreite ich in keiner Weise, dass Matthäus von denen, die Jesus nachfolgen wollen, ein tatkräftiges, zeugnis- und zeichenhaftes Leben erwartete, das sich durch hingebungsvolle Nächstenliebe auszeichnet. Er macht auch deutlich, wie eingangs gezeigt, dass ein Hören der Botschaft Jesu ohne das entsprechende Tun im Verderben endet. Was ich jedoch in Frage stelle, ist, dass Matthäus »Exegetische Details sind selten ausschlaggebend für das leitende Gesamtbild.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 50 - 4. Korrektur 50 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Kontroverse eine Möglichkeit der Jesusnachfolge favorisiert oder zumindest für möglich hält, die sich ausschließlich an dem Toralehrer Jesu orientiert, zumal er Jesus gerade nicht als Toralehrer stilisiert. Es ist ja doch auffallend, dass Jesus mit Ausnahme der sog. Antithesen der Bergpredigt (die ich in meiner Habilitation als »Gerechtigkeitsregeln« [433] verstehe, die exemplarisch in 2 Reihen mit je 3 Beispielen konkretisieren, was in 5,20 mit der überfließend reicheren Gerechtigkeit gemeint ist) an keiner Stelle von sich aus zu Fragen des Gesetzes ausdrücklich Stellung nimmt. Jesus reagiert auf Anfragen der Pharisäer und Schriftgelehrten nach dem, was erlaubt ist, aber er spricht von sich aus das Thema nicht an. Die einzige Stelle, wo Jesus die Pharisäer etwas fragt, konfrontiert er sie mit Psalm 110 (Mt 22,41-45), d. h. Jesus verwendet die Schrift, um sich als der zu präsentieren, den David seinen »Herrn« nennt. Wenn Matthäus Jesus über die Schrift (d. h. Gesetz und Propheten) reden lässt, dann tritt er nicht wie ein Toralehrer unter anderen auf, sondern als einer, der Tora und Propheten in souveräner Weise zu sich selbst ins Verhältnis setzt. Das unterscheidend Kennzeichnende am Lehren Jesu ist, dass er die großen Zusammenhänge der biblischen Geschichte kennt und sich zu diesen in Beziehung setzt: Er selbst ist der Schlüssel zum Verständnis der Schrift, und am Verhältnis zu ihm und seiner Botschaft entscheidet sich das eschatologische Geschick. 11 Er ist gekommen, um »Gesetz und Propheten« zu erfüllen und er weiß, dass nichts vom Gesetz vergehen wird, ehe alles geschieht (5,17 f.); zugleich macht er deutlich: Während das Gesetz vergehen wird, werden seine Worte nicht vergehen (24,35)! Welcher Lehrer in Israel hätte so etwas zu sagen gewagt? Aber damit nicht genug: Er weiß um »die Geheimnisse des Himmelreiches« und hat die Vollmacht, sie seinen Jüngern zu offenbaren (13,11); er weiß darüber hinaus, was die Propheten und Gerechten der Vergangenheit erhofften (die nach Matthäus ganz gewiss zu denen zählten, die nach Gerechtigkeit hungerten und dürsteten), aber nicht zu sehen erlangten (13,16 f.). Jesus ist gewürdigt, mit Elija und Moses zu reden als den Vertretern von Prophetie und Gesetz, aber am Ende verweist die Himmelsstimme auf ihn allein: Er ist Gottes geliebter Sohn, »ihn sollt ihr hören! « (17,5). Nach Mt 23,37 sagt Jesus, dass er schon oft Jerusalem unter seine Fittiche versammeln wollte. Vor dem Hintergrund der genannten Stellen lässt sich dies am besten so verstehen, dass Matthäus Jesus als die Stimme Gottes aufscheinen lässt, die hinter dem prophetischen Bußruf steht. Jesus weiß zudem, dass sich in seinem Todesschicksal alles erfüllt, was die Schriften der Propheten sagen (26,56). Wer mit so einem Anspruch auftritt (bzw. von Matthäus dargestellt wird), ist nicht einfach ein weiterer Toralehrer, der ein paar Schüler um sich versammelt. 12 Dass sich die Menschen über seine Lehrer wunderten und ihn in seinem Anspruch und seiner Vollmacht von den übrigen Schriftgelehrten zu unterscheiden wussten (7,28 f.), sollte doch Hinweis genug sein, dass Matthäus auch von seiner Leserschaft erwartete, dass sie Jesus von einem gewöhnlichen Toralehrer unterscheiden können. 4. Die Schwergewichte in der Tora (Mt 23,23) Worum geht es also bei der umfassend reicheren Gerechtigkeit, die Jesus von seinen Nachfolgern erwartet? Worin unterscheidet sich die Erfüllung von Gesetz und Propheten vom Toraverständnis der Pharisäer, das der matthäische Jesus als nicht ausreichend darstellt? Was sind die »Schwergewichte der Tora« (23,23)? Zehntabgaben, Schwurhalacha, oder Reinheitsfragen? Das alles hat für Jesus im Hinblick auf das eschatologische Heil keinerlei Gewicht. Selbst das Halten des Dekalogs einschließlich des Liebesgebots reicht nicht aus. Der reiche Jüngling kann von sich behaupten: »Das alles habe ich gehalten« (19,20), und dennoch fehlt ihm noch etwas, nämlich der kompromisslose Anschluss an Jesus selbst. 13 Was aber ist Nachfolge für diesen Mann? Wird ihm der begehrte Eingang ins ewige Leben gewährt, indem er seinen ganzen Besitz den Armen gibt und er dann fortfährt, die Tora in der Form zu leben, wie sie Jesus lehrt? Das Ja zu dieser Frage impliziert für Vogel (wie auch für Ulrich Luz, Matthias Konradt und andere Matthäus-Exegeten) die andauernde Verpflichtung zur vollständigen Einhaltung aller Toragebote - wenn auch in der von Jesus favorisierten Interpretation. Weil Jesus die Tora gehalten hat, müssen es seine Nachfolger auch tun. Die Frage nach der mt Gerechtigkeit hängt darum eng mit der Frage nach dem Juden Jesus zusammen, wie sie die sogenannte »Third Quest« formuliert, in der Jesu umfassender Toragehorsam einen der beiden Dreh- und Angelpunkte bildet. Zwar beschränkt Vogel die Er- »Wenn Matthäus Jesus über die Schrift (d. h. Gesetz und Propheten) reden lässt, dann tritt er nicht wie ein Toralehrer unter anderen auf, sondern als einer, der Tora und Propheten in souveräner Weise zu sich selbst ins Verhältnis setzt.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 51 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 51 Roland Deines Gerechtigkeit, die zum Leben führt wartung einer vollumfänglichen Toraobservanz auf die jüdischen Jesusanhänger, doch dabei trägt er eine Unterscheidung ein, die der Text so gerade nicht hergibt, weil die goldene Regel, Mt 7,12, denselben Zuhörern gilt wie Mt 5,19 f. Aber auch mit dieser Einschränkung geht er m.E. weit über den Befund des Matthäus hinaus. Eine solche auf den Toralehrer bezogene Jesusnachfolge lässt sich zudem für das frühe Christentum zu keinem Zeitpunkt wirklich glaubhaft machen. Sie ist eher als forschungsgeschichtliche Pendelbewegung zu sehen, an denen unsere Disziplin ja nicht gerade arm ist. Dabei wird ein Extrem (in diesem Fall: die Feindschaft Jesu gegen das Judentum seiner Zeit) durch ein übertriebenes Betonen des Gegenteils auszugleichen versucht. Das wurde in den letzten Jahrzehnten ausgiebig getan und die Zeit scheint reif, die Extreme hinter sich zu lassen. Gerade wenn man das Matthäusevangelium nach 70 datiert, stellt sich doch die Frage, wie die Tora überhaupt noch eingehalten werden konnte, nachdem der Tempel zerstört war? Opfer sind nicht mehr möglich, die Tempel- und Wallfahrtsfeste können nicht praktiziert werden, schwere Unreinheiten, die ein Opfer verlangen, nicht mehr beseitigt werden. Die rabbinischen Ersatzlösungen für das Fehlen von Opfer und Tempel waren zur Zeit des Matthäus noch nicht vorhanden und selbst wenn- - warum hätten die Jesusanhänger sich darauf einlassen sollen? Auch angesichts der historisch plausiblen Annahme, dass in den ersten Jahrzehnten nach Jesu Kreuzigung jüdische Jesusanhänger selbstverständlich ihre herkömmliche jüdische Lebensweise fortsetzten (allerdings unter verschobenen Hierarchien, die sich über kurz oder lang auch strukturell auswirkten), ist der zentrale Bezugspunkt für sie nun eindeutig Jesus und nicht mehr länger die Tora in ihrer bisherigen Gestalt. Es ist seine die ganze Schrift erfüllende Wirksamkeit und die Verheißung seiner Gegenwart, die den Eingang ins Himmelreich gewährt. Wenn also seine Anhänger die Tora lesen, dann kann sie im Hinblick auf die berühmte Trias (Mt 23,23) aus Gericht (krisis, Konradt, a. a. O., 358 übersetzt mit »Recht«), Barmherzigkeit (eleos) und Glauben (pistis, Konradt »Treue«) nicht mehr länger verstanden werden, als wäre Jesus nicht gekommen und darum sozusagen alles beim Alten geblieben. Entscheidend ist jedoch, dass die Tora Erstaunliches enthält, wenn man sie tatsächlich einmal auf diese drei Leitbegriffe hin anschaut: 1. Gericht: Matthäus gebraucht krisis insgesamt 12mal und dabei ist immer vom Gericht die Rede (5,21 f.; 12,41 f.; ausdrücklich als »Tag des Gerichts« in 10,15; 11,22.24; 12,36; 23,33). Die einzige Stelle, wo mit »Recht« übersetzt werden kann-- aber nicht muss-- ist in den LXX-Zitaten Mt 12,18.20. Aus diesem Grund ist die Abschwächung in 23,23, wie sie Konradt annimmt, unbegründet. Für den matthäischen Jesus ist das Gericht Gottes das eigentlich Gewichtige in der Tora, und das ist durchaus legitim, wenn man das Gewicht der Gerichtsaussagen am Ende des Pentateuch in den Blick nimmt (Dtn 28-32, die Wahl zwischen Segen und Fluch). Aber auch der Anfang der Tora (= Pentateuch) ist vom Gericht bestimmt: Über das erste Menschenpaar (Gen 3,14-19), über den ersten Totschläger (Gen 4,10-15) und über das erste Menschengeschlecht (Gen 6,5-7). 2. Erbarmen: Mit den genannten Gerichtsaussagen in der Tora ist jeweils ein Element der Hoffnung und des göttlichen Erbarmens verbunden, das den zweiten Begriff der matthäischen Trias erklären kann (vgl. Gen 3,15; 4,15; 6,8; 8,21 ff. und am Ende Dtn 33, Moses Segen über die Stämme Israels). Ein solches Verständnis von Barmherzigkeit als vergebender Zuwendung Gottes bestätigt auch die Verwendung von eleos in der griechischen Übersetzung der Tora. Das Wort kommt insgesamt 15-mal vor und mit einer Ausnahme (Gen 40,14) bezeichnet es Gottes gnädige Zuwendung zu einem einzelnen Menschen (Abraham, Gen 19,19; 24,12. 14. 24.49; Josef, Gen 39,19; Mose, Num 11,15) oder zu denen in Israel, die ihn lieben und seine Gebote halten (Ex 20,6 par. Dtn 5,10; 7,9.12, vgl. auch Neh 1,5; 9,32). Interessant ist, dass in Gen 19,19 und 24,49 eleos im Parallelismus zu Gerechtigkeit (dikaiosynē) steht, d. h. Gottes Gerechtigkeit ist aufs Engste mit seiner Barmherzigkeit verbunden. Entscheidend ist jedoch, dass sich in Ex 34,7; Num 14,19 (und ähnlich in Dtn 13,18) Gottes Barmherzigkeit in seiner Bereitschaft zeigt, Sünden zu vergeben (zum Fehlen seiner Barmherzigkeit, weil er nicht mehr länger bereit ist zu vergeben, s. Jer 16,13). Auch die Erwählung Davids und seines Hauses ist ein Akt von Gottes Barmherzigkeit (2Sam 7,15 par. 1Chr 17,13; 2Chr 1,8; 6,42; Ps 18,51 [LXX 17,51]). In den Psalmen steht ebenfalls durchgängig Gottes Barmherzigkeit im Sinne seiner gnädigen Zuwendung im Vordergrund, desgleichen bei den Propheten (z. B. Jes 54,8; 56,1). Hier ist Erbarmen dann zudem eine von Gottes Volk erwartete Haltung (Jes 56,1; Hos 4,1 u. ö.). Diese über einen ethischen Wettstreit mit den Pharisäern hinausreichende Bedeutung von eleos entspricht auch der sonstigen Verwendung bei Matthäus: Das Wort kommt außer in 23,23 nur noch zweimal vor, jeweils in dem Zitat aus Hos 6,6 (Mt 9,13; 12,7). Das Hoseazitat wird in beiden Fällen zur Zurückweisung pharisäischer Kritik an Jesu Verhalten gebraucht und kann nur bedingt mit Barmherzigkeit im Sinne einer ethischen Haltung zugunsten der Schwachen gleichgesetzt werden. Im ersten Fall geht es um die Tischgemeinschaft mit den Zöllnern und Sündern, d. h. Erbarmen steht gegen die religiöse Ausgrenzung der Sünder; im zweiten Fall, dem Ährenraufen der Jünger Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 52 - 4. Korrektur 52 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Kontroverse am Sabbat, steht Erbarmen gegen ein starres Festhalten an einem Gebot ohne Berücksichtigung der Umstände. Die Pharisäer handeln vordergründig richtig, aber sie verkennen Gottes Absicht. In Hos 6,6 steht »Erbarmen« im Parallelismus zu »Gotteserkenntnis«, und dass Jesus die Pharisäer wegschickt, um zu »lernen«, lässt erkennen, dass es ihnen gerade daran fehlt. Darum verurteilen sie auch die Unschuldigen (12,7) bzw. verweigern den Schwachen ärztliche (= Gottes) Hilfe. Das »Erbarmen«, das die Pharisäer vernachlässigen, ist »die Zuwendung zu Gott und die damit verbundene Zuwendung zu den Sündern, denen die Zuwendung Gottes gilt.« 14 Im Kontext des Hoseabuches ist allein Gott derjenige, der sein Volk heilen kann, doch die Führer Israels erkennen dies nicht (Hos 5,13-7,1). Zur Zeit Jesu sind es die Pharisäer, die nicht erkennen, wo der eigentliche Schaden liegt, den Jesus gekommen ist zu heilen. Dabei ist bei Hosea wie bei Jesus Sünde das eigentliche Übel, weil es die Menschen von Gott trennt. Das ist sehr schön an der ersten Heilung Jesu im Beisein der Schriftgelehrten erkennbar (9,2 ff.). Bevor er den Gelähmten heilt, vergibt er ihm seine Sünden. Das ist seine Reaktion auf den Glauben derer, die den Kranken zu Jesus brachten (9,2). Dieser Glaube (vgl. auch 9,22) kann hier verstanden werden als das Zutrauen auf Jesus, durch ihn die Zuwendung Gottes zu erfahren. In einer weiteren Heilungsgeschichte im unmittelbaren Kontext des Hos 6,6-Zitats reden zwei Blinde Jesus als Sohn Davids an und bitten ihn, sich ihrer zu erbarmen (9,27). Das hierfür gebrauchte Verb (eleeō) ist von derselben Wurzel gebildet wie das Wort für Erbarmen (eleos), d. h. ein Rückverweis auf 9,13 scheint intendiert: Jesus bringt als Arzt Gottes Barmherzigkeit zu seinem Volk. Hier fragt Jesus zudem ganz direkt nach dem Glauben der beiden, die von ihm geheilt werden wollen: »Glaubt ihr, dass ich es tun kann? « (9,28). Dadurch unterstreicht der Evangelist noch einmal, dass die Zuwendung Gottes und der Glaube an Jesus als Repräsentant Gottes nicht voneinander zu trennen sind. Das theologische Programm des Matthäusevangeliums ist ja von Anfang an die heilvolle Gegenwart Gottes bei seinem Volk: Jesus ist der verheißene Immanuel, das ist »Gott mit uns« (Mt 1,23). 15 Das ist die Verheißung, die über der Geburt Jesu steht. Und es ist die Zusage am Ende (28,20), wenn er seinen Jüngern verspricht, bei ihnen zu sein bis zur Vollendung der Welt (28,20). Diese verheißene Gegenwart geschieht immer da, wo »zwei oder drei in seinem Namen zusammen sind« (18,20), d. h. in der Gemeinschaft derer, die an ihn glauben (vgl. 18,6). Was aber ist das Kennzeichen derer, die an ihn glauben? Sie leben aus der Vergebung, die sie selbst zuallererst empfangen haben und die sie weitergeben an »ihre Schuldiger« (18,21-35; so auch schon in 6,12.14-15). 3. Glaube: Wie gesehen, gehört also auch der Glaube für Jesus zu den Schwergewichten in der Tora, auch wenn die Wortgruppe selbst im Pentateuch nur selten belegt ist. Die wenigen Stellen mit theologischer Bedeutung haben aber allesamt Gewicht. Schon die erste, über den Glauben, der Abraham zur Gerechtigkeit angerechnet worden ist (Gen 15,6), ist grundlegend. An allen anderen Stellen geht es darum, dass Mose mit dem Unglauben Israels (in Ex 4,1-9 konkret, dass sie nicht glauben, dass Gott Mose erschienen ist und ihn beauftragt hat; Num 14,11; Dtn 1,32; 9,23) und seltener dem Glauben Israels an seine Sendung konfrontiert ist (Ex 4,31; 14,31; 19,9). Mose selbst wird zusammen mit Aaron seines fehlenden Glaubens wegen bestraft (Num 20,12). Am Ende stehen sich Gottes Treue und Israels Unglauben gegenüber (Dtn 32,4.20). Die letzte Stelle spricht von Israel als einem »verkehrten Geschlecht« (nahezu identisch wie Mt 17,17), sie sind »Kinder, in welchen kein Glaube ist«, weshalb sich Gott von ihnen abwendet. Matthäus setzt an diesem Punkt an. Er beschreibt, wie sich Gott seinem Volk wieder zuwendet und in diesem neuen Handeln an und für Israel auf Glauben wartet. Dieser ist bei Matthäus sorgfältig christologisch begründet: Zum einen weckt der irdische Jesus durch seine Heilungswunder Vertrauen auf sich selbst: aus Hilfesuchenden werden Glaubende-- unter den Heiden (8,10.13; 15,28) wie in Israel (9,2. 22. 28 f.). Zwar ist an diesen Stellen noch nicht ausdrücklich vom Glauben an Jesus die Rede (vgl. aber oben die Frage in 9,28), aber es ist eindeutig, dass dieser Glaube sich an seine Gegenwart bindet. Das heißt, wo er ist und handelt, da kann erwartet werden, dass Dinge geschehen, die nur Gott tun kann: Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden geheilt und Sünden werden vergeben. Bei seinen Jüngern vertieft Jesus durch seine Natur- und Schöpfungswunder den Glauben: Aus Kleingläubigen (6,30; 8,26; 14,31, vgl. 17,17) werden solche, die nach seiner wahren Identität fragen (8,27) und ihn schließlich als Gottes Sohn und Messias begreifen (14,33; 16,16). Ab Kapitel 16 geht es darum, den Glauben der Jünger zu vertiefen (17,20; 21,21 f.), so dass sie als Sendboten des Messias Jesus bis zu seiner Wiederkunft allen Verführungen widerstehen können. Wenn Jesus sie davor warnt, nicht an die Pseudomessiasse der endzeitlichen Verführungszeit zu glauben, dann impliziert dies doch zweifellos, dass er sie als solche anspricht, die an ihn als den wahren Messias glauben (24,23.26). Auch die Pharisäer werden im Hinblick auf Johannes gefragt, warum sie ihm-- und damit implizit-- Jesus nicht geglaubt haben (21,25.32). Der Glaube an ihn ist die entscheidende Vollmacht seiner Gemeinde und der Grund ihres ewigen Heils. Darum ist es auch so schlimm, wenn Kinder (bzw. die »Kleinen«), die an ihn glauben, verführt werden (18,6). Auch in der Verspottung am Kreuz geht es um den Glauben an Jesus. In 27,42 begegnet der Wortstamm pistzum letzten Mal bei Matthäus. Es ist die deutlichste Infragestellung des messianischen Anspruches Jesu. Er wird verhöhnt, sein rettendes Wirken wird gelästert, weil er sich selbst nicht zu helfen vermag. Einzig wenn er vom Kreuz stiege, wären seine Lästerer bereit, an ihn zu glauben. Im Kontrast Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 53 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 53 Roland Deines Gerechtigkeit, die zum Leben führt dazu steht die Aussage des Centurio unter dem Kreuz: »Dieser war in Wahrheit Gottes Sohn« (27,54). Damit schlägt Matthäus den Bogen zu jenem Hauptmann aus Mt 8,5 ff., dem Jesus als erstem überhaupt Glauben zugesprochen hatte. Dass dieser Glaube am Ende eindeutig als Glaube an Jesus qualifiziert ist, scheint mir eindeutig zu sein. Der von Matthäus in sein Evangelium verflochtene Erzählfaden vom Glauben ist darum christologisch nicht unterbestimmt, sondern eindeutig auf Jesus bezogen. Am Verhältnis zu ihm und seinen Geboten-- aber nicht am Verhältnis zur Tora, die nur in der transformierten (erfüllten) Gestalt der Weisung Jesu weiter Geltung hat -- entscheidet sich das eschatologische Geschick. Was also vernachlässigen die Pharisäer? Sie vernachlässigen das Gericht, das Israel und jedem Einzelnen droht, und das in seiner Schwere nicht überschätzt werden kann. Sie vernachlässigen, dass einzig Gottes Barmherzigkeit (und damit verbunden seine rettende Gerechtigkeit 16 ), wie sie im Kommen des Messias Person geworden ist, sie zu retten vermag aus ihren Sünden. Und darum versäumen sie es, an den Weg der Gerechtigkeit zu glauben, der mit dem Kommen Jesu eröffnet wurde (21,32; vgl. 7,13 f.). Schlimmer noch, sie verschließen auch denen den Weg, die schon im Begriff waren, in Jesus den verheißenen Sohn Davids zu sehen (vgl. 23,13 im Kontext von 12,23 f.). Ich kann darum dem von Manuel Vogel vorgeschlagenen Versuch, alles auf die ethische Karte zu setzen und die soteriologische Christologie des ersten Evangeliums in der Schwebe zu lassen, wenig abgewinnen, so sehr ich das dahinter stehende Anliegen verstehe. Gerade ein Blick in die Kirchengeschichte und auf die christlichen Gemeinschaften, die sich besonders von Matthäus inspirieren ließen (Täuferbewegungen, Mennoniten, Pietisten, Methodisten) lässt erkennen, dass ein starkes ethisches Engagement nicht zu Lasten einer christologisch gegründeten Soteriologie gehen muss. Es lohnt sich also, sich von Matthäus beides sagen zu lassen: Gott ermöglicht durch Jesus eine Überwindung der Sünde und der zerstörenden Mächte und Kräfte, und er ermöglicht im Anschluss und Gehorsam an Jesus ein Leben, das davon geprägt ist, die überfließend reiche eschatologische Gerechtigkeit Wirklichkeit werden zu lassen: In der Zuwendung (eleos) zu den Sündern und Ausgegrenzten und in der tätigen Hilfe der um Jesu willen Bedrängten (wozu die Gegenwart mehr als reichlich bittere Gelegenheit bietet), sowie allen, die er seine geringsten Geschwister nennt (10,42; 25,40). 5. Die Jesus-Gerechtigkeit (Mt 3,15) als Grundlage der Jünger-Gerechtigkeit Diese doppelte Bewegung-- hin zu Jesus und von da zu seinen »geringsten Brüdern«-- lässt sich auch anhand der Gerechtigkeitsterminologie des ersten Evangeliums zeigen. Da ich dies ausführlich dargestellt habe, möchte ich abschließend nur die folgenden Beobachtungen noch einmal herausstellen, die mich dazu geführt haben, die matthäische Gerechtigkeit als »Jesus-Gerechtigkeit« zu charakterisieren. Damit versuche ich auszudrücken, dass sie von Jesus herkommt und zu ihm hinführt und ohne ihn nicht verwirklicht werden kann. Das würde wohl auch mein Jenaer Kollege gelten lassen. Der Unterschied liegt darin, dass er für eine ethische Bestimmtheit bei christologischer und soteriologischer Unbestimmtheit plädiert, während ich meine, dass Matthäus das Gegenteil tut: Die christologische und soteriologische Bestimmtheit ermöglicht es, dass die Jesusnachfolger jene guten Werke tun, die die Menschen den Vater im Himmel preisen lassen. Darum ist es auch wenig hilfreich, mit dem Gerechtigkeitsbegriff in 5,20 zu beginnen: Zum einen, weil auch Matthäus nicht damit anfängt: Dreimal hat er diesen Begriff bis dahin schon gebraucht (3,15; 5,6.10). Zum anderen, weil in 5,20 von der Gerechtigkeit der Jünger die Rede ist (»eure Gerechtigkeit«), die von ihnen nur deshalb erwartet werden kann, weil es zuvor von Jesus heißt, dass er »alle Gerechtigkeit« (3,15) bzw. »Gesetz und Propheten« (5,17) erfüllt und darum denen die Erfüllung ihrer Hoffnung versprechen kann, die nach dieser Gerechtigkeit hungern und dürsten (5,6). Matthäus unterscheidet genau zwischen dem Wirken Jesu, wie es in 3,15; 5,17 f. ausgesagt ist und dem der Jünger, das sozusagen mit 5,19 beginnt. Darum schreibt er in 5,20 und 6,1 deutlich von »eurer Gerechtigkeit«: Die Jünger leben in dem und von dem, das Jesus ermöglicht hat. Matthäus ist der einzige Evangelist, der das Gerechtigkeitsthema mit dem Kommen Jesu verknüpft: Programmatisch geschieht dies in 3,15, dem ersten von »Was also vernachlässigen die Pharisäer? Sie vernachlässigen das Gericht, das Israel und jedem Einzelnen droht, und das in seiner Schwere nicht überschätzt werden kann.« »Die christologische und soteriologische Bestimmtheit ermöglicht es, dass die Jesusnachfolger jene guten Werke tun, die die Menschen den Vater im Himmel preisen lassen.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 54 - 4. Korrektur 54 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Kontroverse Jesus gesprochenen Satz im Evangelium. Jedes Wort ist hier von Bedeutung, und darin lediglich die Demut Jesu erkennen zu können, der sich dem Täufer unterordnet, greift theologisch doch wohl zu kurz. Das wird u. a. aus der Antwort deutlich, die Jesus dem Täufer auf seine Anfrage aus dem Gefängnis gibt (11,2-6). Die abschließende Wendung, »Selig ist, wer an mir keinen Anstoß nimmt«, zeigt, dass auch der Täufer sich der in Jesus erschienenen Weisheit Gottes zu fügen hat (11,19). Es ist sicher richtig, dass der Fokus von 3,15 nicht auf der Sündlosigkeit von Jesus liegt, aber eben auch nicht auf seiner Demut im Unterschied zu den Pharisäern. Wenn überhaupt würde die Stelle etwas über die Demut des Täufers aussagen: Er beugt sich Jesu Willen. Viel wichtiger aber ist doch, wer hier zur Taufe kommt, was er sagt und was dann geschieht: Der vom Heiligen Geist Gezeugte (1,18) wird von Matthäus kunstvoll in das irdische Geschehen eingefügt, wobei die ersten beiden Kapitel bestimmt sind von Erfüllungszitaten, die belegen, dass mit diesem Kind Gottes Verheißung, bei seinem Volk zu sein und die Sünde wegzunehmen, zur Erfüllung gelangt. Jesus ist der »Sohn«, den Gott gerufen hat (2,15). Der Täufer bereitet »dem Herrn« den Weg, d. h. das Wort Jesajas, das beim Propheten auf Gott weist, dient bei Matthäus bzw. dem Täufer zur Ankündigung Jesu. Erzählerisch ist also vorbereitet, dass in diesem »Sohn Davids« (vgl. 1,1.21) der Messias kommt, den Gott als seinen Sohn (2,15) und Repräsentanten seiner selbst anerkennt. Mit 3,15 bringt Jesus seine Bereitschaft zum Ausdruck, ganz dieser Sendung Gottes zu genügen. So wie Johannes seinen Auftrag angenommen hatte, so auch Jesus. In diesem Gehorsam gegenüber Gottes Heilswillen (denn das besagt »Gerechtigkeit« hier: »Wirksamkeit und Durchsetzung der heilschaffenden Gerechtigkeit Gottes« 17 ) kann man seine Demut sehen, aber dann ist damit nicht nur 11,29, sondern auch 20,28 zu verbinden, wo Jesus dem Herrschaftsstreben seiner Jünger seine Lebenshingabe als ultimativen Dienst »zur Erlösung für viele« gegenüberstellt. 18 Auf diesen Gehorsamsakt Jesu hin ergeht die Himmelsstimme, die seine Sohnschaft noch einmal bestätigt (3,17). Die anschließende Versuchungsgeschichte zeigt, dass es in dem Ringen, das Jesus bevorsteht, um das rechte Gottesverhältnis geht, dem alle berechtigten leiblichen Bedürfnisse, alles Über- Gott-Verfügen-Wollen und alles eigene Machtstreben unterzuordnen ist (4,1-10). Die Engel dienen Jesus am Anfang und sie ständen ihm auch bei der Passion zur Verfügung, was die Freiwilligkeit des Leidens des Sohnes (»meint ihr nicht, ich könnte meinen Vater bitten …«) noch einmal unterstreicht (Mt 26,53). Mit den Engeln, die Jesus dienen, beendet Matthäus seine Vorgeschichte. Darin ist die Christologie gewiss nicht unterbestimmt, und die Verknüpfungsfäden zur sich entfalteten Soteriologie sind deutlich gesetzt. 19 Auch der Beginn von Jesu öffentlicher Wirksamkeit ist als messianisches Erfüllungsgeschehen (4,13-16) eingeführt. Die ersten Jünger werden als »Menschenfischer« und nicht als Schüler eines Toralehrers berufen, d. h. »die für Matthäus konstitutive missionarische Dimension der Jüngerschaft« steht von Anfang an im Vordergrund (Konradt, a. a. O., 61). Dieses Zeugnis der Jünger ist aber kein Toraunterricht, sondern die Anwendung der von Jesus verliehenen Vollmacht (10,1-8), die zunächst den verlorenen Schafen des Hauses Israel gilt, die einen neuen, besseren Hirten brauchen. 6. Rückblick: Drei Vollzugsmeldungen Die durch den Täufer eingeleitete heilsgeschichtliche Wende kam mit Jesus in Erfüllung. Was »alle Propheten und das Gesetz geweissagt haben« (11,13) ist nun Wirklichkeit: Es ist alles geschehen (5,17 f.). Der Gottessohn selbst ist gekommen, um als ein Nachkomme Abrahams und Davids »alle Gerechtigkeit« zu erfüllen (3,15), so dass der »Weg der Gerechtigkeit«, die zum ewigen Leben führt, nun für alle offen steht, die umkehren und an dieses neue Handeln Gottes glauben (21,32). Was sein Messias geboten hat, das gilt »bis an der Welt Ende« (28,20) und im gehorsamen Verhältnis zu ihm entscheidet sich das eschatologische Heil. 1. Wer nach diesen Erfüllungsaussagen Jesus in erster Linie als Toralehrer sieht und zumindest seine jüdischen Nachfolger zur vollen Toraobservanz verpflichtet, der füllt neuen Wein in alte Schläuche, die spätestens seit Marcion zerplatzt sind. Die Kirchen- und Theologiegeschichte bis hin zum allerjüngsten »Berliner Streit« bietet reichlich Anschauungsmaterial für die Schwierigkeiten, ohne eine heilsgeschichtliche Hermeneutik, 20 wie sie die oben genannten Stellen in nuce enthalten (und denen weitere aus anderen neutestamentlichen Schriften zur Seite gestellt werden können), an der bleibenden Gültigkeit des ganzen Alten Testaments als Teil der einen christlichen Bibel festzuhalten. Um im Bildwort vom Wein zu bleiben: Der alte Wein kommt zur Reife in den Schläuchen, in die er gefüllt wurde. Indem der Wein »Matthäus unterscheidet genau zwischen dem Wirken Jesu, wie es in 3,15; 5,17f. ausgesagt ist und dem der Jünger, das sozusagen mit 5,19 beginnt.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 55 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 55 Roland Deines Gerechtigkeit, die zum Leben führt getrunken wird, erfüllt er seine Bestimmung (ebenso wie die Schläuche). Wenn neuer Wein geerntet ist, kommt er in neue Schläuche, damit er darin seiner Bestimmung entgegenreift. Jesus hat den Kelch des alten Weins ausgetrunken (20,22; 26,39.42) und damit die Schriften erfüllt, so dass »alles geschehen« ist (26,54.56). Damit ist erfüllt, worauf in 5,18 hingewiesen wurde: Nichts ist von der Tora (verstanden hier als umfassender Begriff für Gottes geoffenbarten Heilswillen, d. h. als short cut für Tora und Propheten) »übergangen worden«, 21 sondern alles ist durch den Tod Jesu am Kreuz geschehen, was in ihr geboten (Glaube), verheißen (Barmherzigkeit) und angedroht (Gericht) worden ist. Als der, der den Kelch des alten Weins im Begriff ist auszutrinken und damit seiner Bestimmung zuzuführen, schenkt Jesus den neuen Wein seinen Jüngern ein (26,27-29). 2. Die Debatte um die matthäische Gerechtigkeit lässt sich möglicherweise auf diesen Nenner bringen: Für die ethische Deutung gilt, dass, weil Jesus die ganze Tora gehalten hat (»erfüllen« verstanden als »halten« bzw. »tun«), auch seine Nachfolger die ganze Tora (bzw. die Heidenchristen eine »Tora light«) halten müssen. Daran hängt ihre Zugehörigkeit zum Reich Gottes und der Eingang ins ewige Leben (und man fragt sich, wozu der Kreuzestod dann nötig war). Für die christologische Deutung gilt, dass, gerade weil Jesus Gesetz und Propheten erfüllt hat (»erfüllen« verstanden als die heilsgeschichtliche Wende hin zum Reich Gottes vollbringen), müssen seine Nachfolger dies nicht mehr tun. Ihre Zugehörigkeit zum Reich Gottes und der Eingang ins ewige Leben hängt davon ab, ob sie Jesus als Gottes Messias vor den Menschen bekennen oder nicht (10,32 f.). Zu diesem Bekenntnis gehört das Tun dessen, was er geboten hat (7,21.24; 28,20), damit der Vater im Himmel durch ihre guten Werke-- wozu in erster Linie ihre missionarische Existenz für andere gehört-- gepriesen wird (5,16). 3. So wie Jesus nur in ganz besonderer Weise Lehrer ist, so sind seine Jünger nur in ganz besonderer Weise Schüler. Sie werden über die »Geheimnisse des Himmelreichs« belehrt, aber nicht über die Feinheiten der Tora. Sie werden dazu ausgesandt, zu heilen, die angebrochene Gottesherrschaft zu verkündigen und sich in all dem zu Jesus zu bekennen: Sie werden um seinetwillen verfolgt und haben die Aufgabe, am Bekenntnis zu ihm bis zum Ende festzuhalten. Hätten sie sich selbst nur als Toralehrer verstanden, selbst einer modifizierten Tora, dann wären sie von den anderen jüdischen Gruppen als eine weitere Sekte wahrgenommen worden. Unerklärlich bleibt dann, warum sie verfolgt wurden. Unerklärlich bleibt dann letztlich, warum Jesus hingerichtet wurde. Und unerklärlich bleibt, wie es zur Ausbildung eigener Gemeinden mit eigenständigen Ritualen (Taufe, Abendmahl) und Strukturen kam. Matthäus dagegen erklärt, warum es dazu kam: Weil mit Jesus Gesetz und Propheten erfüllt wurden und damit eine neue Bedeutung bekommen haben. Sie verkündigen von nun an Gottes rettende Gerechtigkeit aller Welt, Israel zuerst, und dann allen Völkern. Anmerkungen 1 Diese etwas umständliche Paraphrasierung von Mt 5,20 ist nötig, weil die übliche Redeweise von der »besseren Gerechtigkeit« aus der zum Verb gehörenden Umstandsangabe pleion (»mehr«) ein auf Gerechtigkeit bezogenes Adjektiv macht. Das »mehr« bezieht sich jedoch auf das Verb perisseuō (»im Überfluss vorhanden sein«), s. R. Deines, Die Gerechtigkeit der Tora im Reich des Messias. Mt 5,13-20 als Schlüsseltext der matthäischen Theologie (WUNT 177), Tübingen, 2004, 413; 422-425. 2 Ein wichtiger früher Vertreter war Georg Strecker, der diese Position auch auf das politische Engagement der Christen angewandt wissen wollte, die sich immer und überall im Geiste Jesu »für Gerechtigkeit« einsetzen sollen. Zu einer kritischen Darstellung dieser Position s. Deines, Gerechtigkeit, 11-18. 3 M. Konradt, Das Evangelium nach Matthäus (NTD 1), Göttingen 2015, 77. 4 Konradt, Matthäus, 69. Ich habe allerdings in meiner Arbeit nachgewiesen, dass die metaphorische Verwendung von »Hungern und Dürsten« (in Mt 5,6 nach Gerechtigkeit) in der biblisch-jüdischen Tradition nicht ein aktives »Sichmühen um« bedeutet (so z. B. U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (EKK I/ 1), Neukirchen-Vluyn 5 2002, 284), sondern ein Sehnen nach etwas, das überhaupt nicht in der menschlichen Verfügungsgewalt steht (Deines, Gerechtigkeit, 137-154). Zudem lässt sich nicht erklären, warum die Jünger um einer so verstandenen, ethisch orientierten Gerechtigkeit willen verfolgt werden (5,10). Das gilt besonders dann, wenn man die Adressaten des Evangeliums in enger Nähe zum Judentum sieht. Warum sollten andere Juden die Jünger dafür verfolgen, dass sie arm sind, Leid tragen, sanftmütig, barmherzig usw. sind? Ihre bedrängte Situation hängt nicht mit ihrer Ethik, sondern mit ihrer Bindung an Jesus zusammen: Die in Mt 5,11 gebrauchte Wendung »wegen mir« (heneken emou) ist genau parallel zu »wegen Gerechtigkeit« (heneken dikaiosynēs) formuliert; wenn aber Jesus »alle Gerechtigkeit« erfüllt (3,15) und als »der Gerechte« in der Passionserzählung identifiziert wird (27,19), dann erscheint es mir naheliegender, eine mit der Person Jesu verbundene Gerechtigkeit als Grundlage der Verfolgung zu sehen. Mt 27,19 ist der letzte Beleg für das Wortfeld »Gerechtigkeit« und er entlässt die Leser des Evangeliums mit dem Verweis auf den Anfang, wo Jesus sein Wirken mit dem Erfüllen aller Gerechtigkeit verbindet. 5 Vorausgesetzt ist, dass die Adressaten des Matthäus in enger Nachbarschaft mit ihrer jüdischen Mitwelt leben und Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 56 - 4. Korrektur 56 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Kontroverse diese für den Glauben an Jesus als Israels Messias gewinnen wollen. Zutreffend urteilt Konradt, dass Matthäus die »christusgläubige Gemeinde« als »die wahre Sachwalterin der theologischen Traditionen Israels« verteidigt (Konradt, Matthäus, 2) und sich zugleich darum bemüht, Israel von Jesus zu überzeugen. Zur bleibenden Mission an Israel s. Konradt, a. a. O., 162. 6 Vgl. dazu B.L. Mack, The Lost Gospel. The Book of Q and Christian Origins, San Francisco 1993; B.D. Ehrman, Lost Christianities. The Battles for Scripture and the Faiths We Never Knew, New York 2003. 7 Ehrman, Lost Christianities, 58. 8 Zu meinen eigenen Anfragen s. R. Deines, Galiläa und Jesus. Anfragen zur Funktion der Herkunftsbezeichnung »Galiläa« in der neueren Jesusforschung, in: C. Claussen/ J. Frey (Hg.), Jesus und die Archäologie Galiläas, (BThSt 87), Neukirchen-Vluyn 2008, 271-320 (285-297). Die Schwäche dieser These zeigt sich m. E. am deutlichsten darin, dass ihre Vertreter in der Regel eine Redaktionsgeschichte für Q annehmen müssen, um eine orthodoxiefreie, unchristologische und nonsoteriologische frühe Jesusbewegung zu finden. D. h. ein nur in Umrissen rekonstruierbares Dokument wird weiter unterschieden in eine Grundschicht und zwei redaktionelle Bearbeitungen. Das ist ungefähr so, als ob man die verschiedenen Entwurfsskizzen für des Kaisers neue Kleider in eine chronologische Ordnung bringen wollte. 9 Zu meiner Position s. Deines, Gerechtigkeit, 484-489. 10 Vgl. auch Mt 9,16 f. Zu betont christologischem »hier« in einer vergleichbaren Spruchfolge wie 12,6 siehe 12,41-42; das erste Vorkommen von »hier« bei Matthäus (8,29) ist verbunden mit dem Sohn Gottes-Titel und einer heilsgeschichtlichen Zeitansage. Zum Verständnis von Barmherzigkeit in Hos 6,6 als »im Wissen um das Heilshandeln Gottes gründende völlige, ungeteilte Hingabe an Gott« s. Chr. Landmesser, Jüngerberufung und Zuwendung zu Gott. Ein exegetischer Beitrag zum Konzept der matthäischen Soteriologie im Anschluß an Mt 9,9-13 (WUNT 133) Tübingen 2001, 120. 11 Die einzige vergleichbare jüdische Gestalt ist der Lehrer der Gerechtigkeit, wie er im Habakukpesher beschrieben ist. Er kennt ebenfalls exklusives, von Gott stammendes Wissen über das rechte Verständnis der Propheten (1QpHab VII 4), und wer sich zu ihm hält, wird am Tag des Gerichts leben (VIII 1-3, vgl. auch II 2-10). 12 Vgl. dazu R. Deines, Jesus and Scripture: Scripture and the Self-Understanding of Jesus, in: M.R. Malcolm (Hg.), All That the Prophets Have Declared: The Appropriation of Scripture in the Emergence of Christianity, Milton Keynes, 2015, 39-70; 225-234 (Anmerkungen). 13 Das für den Gebotsgehorsam gebrauchte Verb für »befolgen« (phylassō) kommt bei Matthäus nur an dieser Stelle vor (wohl abhängig von Mk 10,20). Weder Jesus noch seine Jünger werden in dieser Weise als Täter der Tora dargestellt. Was Jesus für sich in Anspruch nimmt, ist das Erfüllen von Tora und Propheten, das etwas anderes meint als die Gebote tun (dafür verwendet Matthäus poieō, vgl. Mt 12,2). Statt jedoch zum Tun der Tora anzuhalten, ist die Aufforderung zum Tun (mit poieō) bei Matthäus regelmäßig als Reaktion auf die Botschaft Jesu-- und des Täufers-- zu finden: Mt 3,8.10; 5,19.47; 6.1-3; 7,12.17- 22.24-26; 12,33.50; 21,36.43; 24,46; 25,40.45. 14 So Landmesser, Jüngerberufung, 128, der das hier favorisierte umfassende Verständnis von Erbarmen als Zuwendung Gottes zu den Sündern ausführlich begründet (ebd. 111-131). 15 Auch bei Hosea geht es zentral um die Gemeinschaft Gottes mit seinem Volk, dargestellt als Ehe zwischen Jahwe und Israel. Bevor diese zerrüttete Ehe wieder gelebt werden kann, braucht Israel das ärztliche Handeln Gottes, das in der Umkehr Israels und der Sündenvergebung Gottes konkret wird (Hos 14,2-3). Für Matthäus ist Jesus nicht nur der Arzt, der sein Volk heilt, sondern auch der Bräutigam, der gekommen ist, um eine neue Heilszeit anbrechen zu lassen (Mt 9,14-17 parr. Mk 2,18-22; Lk 5,33-38). 16 Zum engen Zusammenhang von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, indem Gott rettet, wenn er richtet, s. besonders B. Janowski, Der barmherzige Richter. Zur Einheit von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit im Gottesbild des Alten Orients und des Alten Testaments, in: R. Scoralick, Das Drama der Barmherzigkeit Gottes (SBS 183), Stuttgart 2000, 33-91, auch in: ders., Der Gott des Lebens. Beiträge zur Theologie des Alten Testaments 3, Neukirchen-Vluyn 2003, 75-133. 17 P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments, Bd. 1: Göttingen 1992, 70. Zum Zusammenhang von Messias, Davidssohn und eschatologischer Gerechtigkeit s. Jes 9,1-6; 11,1-9; Jer 23,5-6, u. dazu Deines, Gerechtigkeit, 512-638. 18 Vgl. auch Mt 26,28. Es wird oft übersehen, dass bei Matthäus-- wie auch im übrigen NT-- kein anderes Handeln Jesu, etwa seine Wunder, Heilungen oder sein Lehren, mit einer »für euch/ für viele/ für uns«-Formulierung dargestellt wird. Sein Tod und seine Auferstehung und die damit verbundene Sündenvergebung sind das eigentliche Geschehen »für uns«. 19 Zum Zusammenhang der Versuchungsgeschichte mit der Passionsgeschichte s. Konradt, Matthäus, 55; R. Feldmeier, Macht, Dienst, Demut. Ein neutestamentlicher Beitrag zur Ethik, Tübingen 2012, 1-11. Zur unsicheren Deutung bereits von 3,15 auf die Passion s. Deines, Gerechtigkeit, 129 f. 20 Siehe dazu R. Deines, Das Erkennen von Gottes Handeln in der Geschichte bei Matthäus, in: J. Frey/ S. Krauter/ H. Lichtenberger (Hg.), Heil und Geschichte. Die Geschichtsbezogenheit des Heils und das Problem der Heilsgeschichte in der biblischen Tradition und in der theologischen Deutung (WUNT 248), Tübingen 2009, 403-441. 21 Zu dieser Übersetzung von parerchesthai in 5,18 s. Deines, Gerechtigkeit, 337-340. Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 57 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 57 Jesu »Tod und seine Auferstehung und die damit verbundene Sündenvergebung sind das eigentliche Geschehen ›für uns‹«. Wird dieses bestritten oder relativiert zugunsten des Eigengewichts einer Ethik, die an Jesu Toraauslegung orientiert ist, »fragt [man] sich, wozu der Kreuzestod dann nötig war«. Die zitierten Formulierungen meines geschätzten Kollegen und Kontroverspartners Roland Deines scheinen mir das theologische Schwergewicht der vorliegenden Kontroverse klar auf den Punkt zu bringen. Wenn ich Deines richtig verstehe, ist der matthäischen Theologie und-- in enger Beziehung zu derselben- - auch der matthäischen Ethik nach seiner Auffassung erst dann Genüge getan, wenn man die mannigfaltigen sachlichen und terminologischen Sinnlinien freilegt, die das vielgestaltige Ganze der Theologie des ersten Evangeliums auf diese Mitte hin zentrieren und es von dorther zu verstehen erlauben. Wenn dies zutrifft, ist meinem eigenen Beitrag in der Tat eine gravierende Einseitigkeit anzulasten, die das Gesamtgefüge matthäischer Theologie zugunsten eines Teilaspekts ignoriert, der vom Ganzen nur um den Preis einer erheblichen theologischen Schieflage isoliert werden kann. Ich stehe aber unangefochten und ohne jede Verlegenheit im exegetischen Detail auch nach der Lektüre von Deines’ gehaltvollem Beitrag, der auf Schritt und Tritt die Handschrift eines Matthäus- Spezialisten von Rang verrät, zu meiner eigenen Sicht. Tatsächlich lese ich das Matthäusevangelium so, dass »Gerechtigkeit« ein in den Grenzen ethischer Reflexion suffizient zu behandelndes Thema ist, das christologische, soteriologische und heilsgeschichtliche Eintragungen nicht leidet. Der folgende Text ist bis auf Ergänzungen in den Anmerkungen unverändert, d. h. ohne Kenntnis des Beitrags von Roland Deines verfasst. 1 1. Ein Schülerkreis aus allen Völkern Wie wird man ein mathētēs Jesu und was ist überhaupt ein mathētēs? Die Antwort des Matthäusevangeliums lautet: Durch Taufe und Lehre wird man ein solcher. In Mt 28,19 f. ergeht an die nach dem Ausscheiden des Judas verbliebenen elf mathētai der Auftrag zu einer »alle Völker« umspannenden Mission: Sie sollen »hingehen« und alle Völker »zu Jüngern/ Schülern machen« (mathēteuein) und sie außerdem auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes taufen. Das griechische Verb mathēteuein ist bis Anfang des 2. Jh. selten. Der Grammatiker (Ps)Herodian (1.H. 3. Jh.) erklärt es für ungebräuchlich bzw. unzulässig. Man könne mathētēs sagen, notiert er, aber nicht mehr mathēteuein 2 (Die Väter und spätere pagane Autoren haben sich nicht daran gehalten). Die wenigen frühen Stellen bietet Plutarch (derer vier in Mor 832c-f ), hier jedoch nicht in transitiver Bedeutung wie in Mt 28, sondern im Sinne von »Schüler sein«. Eines jedenfalls lehrt der Blick ins Lexikon: mathētai sind »Schüler«. Das gilt auch für Mt 28: Die Schüler, die von Jesus beauftragt werden, sollen dadurch neue Schüler gewinnen, dass sie sie »lehren« (didaskein), das von Jesus Gelehrte zu »bewahren« bzw. »einzuhalten«, »sich daran zu halten« (tērein). Dass der Lehrer Jesus nicht mehr auf Erden weilt, ist kein Makel und kein Hindernis. Von Philosophen weiß man, dass ihre Schülerkreise über ihren Tod hinaus wuchsen. Für die Weitergabe der Lehre Jesu ist formal wie inhaltlich gesorgt: Die von Jesus Beauftragten werden mit der Weitergabe der Lehre des Meisters betraut, deren Inhalt über dasjenige Schriftwerk zugänglich ist, an dessen Ende diese Beauftragung vermerkt ist, d. h. über das Matthäusevangelium. 3 Dort kann man nachlesen, »was ich euch (zu bewahren) aufgetragen habe« (hosa eneteilamēn hymin). Freilich ist Jesus mehr als ein Lehrer. Kein Lehrer sagt von sich: »Mir ist gegeben alle Vollmacht im Himmel und auf der Erde« (28,18). Jesus ist »Sohn Davids« (1,1) und als solcher »der neugeborene König der Juden« (2,2). Als er in Jerusalem einzieht, erfüllt sich das Prophetenwort »Siehe, dein König kommt zu dir« (Mt 21,5 mit Sach 9,9). Der Kreuzestitulus beurkundet das schrecklich: »König der Juden« ist Ursache des Todesurteils (27,37). Die ihn hinrichten, treiben mit dem Königstitel ihren Spott (27,29.42). Aber als Menschensohn und Weltenrichter wird der schuldlos Getötete wiederkehren, als ein »König« (25,34.40), der Manuel Vogel Die Ethik der »besseren Gerechtigkeit« im Matthäusevangelium Kontroverse »[M]athētai sind ›Schüler‹.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 58 - 4. Korrektur 58 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Kontroverse im Einklang mit »Gesetz und Propheten« zu stehen. Von Jesus als »Schüler« zu »lernen« heißt dann, seiner Gesetzesauslegung, die er als davidischer König für verbindlich erklärt, zu folgen. Dass Könige neue Gesetze erlassen, ist in der griechisch-römischen Antike geläufig. Der Nachruhm eines Königs konnte in den Gesetzen bestehen, die man ihm zuschrieb. Bekanntestes Beispiel ist Lykurg aus Sparta. Nach der von Plutarch 6 verarbeiteten mythischen Biographie war Lykurg Sohn eines Königs, der für das von inneren Krisen geschwächte Sparta ein neues Gesetzeswerk schuf. Im Blick auf den davidischen König Jesus ist bemerkenswert, dass Lykurg nie selber real-politisch die Königswürde inne hatte. Eine Wirkung hatte er ausschließlich als Gesetzgeber. Kann man analog sagen: Die Himmel und Erde umspannende Vollmacht des Davididen Jesus äußert sich (vorläufig) darin, dass seine Lehre unter allen Völkern Anhänger findet? Es bleibt als überschießendes Element die Taufe. Aber auch hier gibt es Querverbindungen: Sofern die Taufe als Teil des missionarischen Programms des Matthäusevangeliums Taufe »auf den Namen […] des Sohnes« ist, ist sie Übereignung an ihn. Im Taufritual wird der Täufling Jesus übereignet, ihm unterstellt. Die naheliegende Annahme, dass dies auch Jesu Lehre umfasst, erfährt durch 1Kor 1,13 eine indirekte Bestätigung, ebenso durch 1Kor 10,2. An der erstgenannten Stelle geht es um einen im Einzelnen nicht völlig durchsichtigen Zusammenhang von »Taufe« und einer Art »Schulbildung«. Wenn Paulus die rhetorische Frage stellt »Oder seid ihr etwa auf den Namen des Paulus getauft«, und anschließend über seine Tauftätigkeit in Korinth ausführlich Rechenschaft gibt (1,14-16), dann will er seine nur sporadische Aktivität als Taufender als Argument gegen die Parteibildungen in der korinthischen Gemeinde aufbieten: Er jedenfalls taugt, so wahr er in Korinth nur Wenige getauft hat, und dann beileibe nicht »auf seinen eigenen Namen«, nicht als »Schulhaupt« im Parteienstreit. Dieses Argument ist aber nur dann stichhaltig, wenn in der korinthischen Gemeinde ein Zusammenhang von Tauftätigkeit und Lehrautorität bestand: Die Taufenden sammelten ihre Täuflinge wie einen Schülerkreis um sich. In 1Kor 10,2 sagt Paulus von den Israeliten der Exodusgeneration: »Alle waren auf Mose getauft in der Wolke und im Meer.« Die Berührung mit der (wasserhaltigen) Wolkensäule und dem Meer deutet Paulus als »Taufe auf Mose«. Auch hier meint Taufe die Verpflichtung auf eine Lehre bzw. ein Gesetz, in diesem Fall die Mosetora: Auf den Gesetzgeber Mose getauft zu sein, heißt, sich auf seinem Thron sitzt und Gericht hält. Aber inwiefern kann man Schüler eines Königs sein? Antwort: Indem man die Gesetze, die dieser König erlassen hat, lernt und befolgt. Der syrische Stoiker Mara bar Sarapion hat aus römischer Haft an seinen Sohn einen Brief geschrieben, in dem er Jesus, ohne seinen Namen zu nennen, als »König« bezeichnet. Mara bar Sarapion war kein Christusanhänger, hatte aber allem Anschein nach Kenntnisse von Gruppen von Christusanhängern im syrischen Raum. In seinem Brief erwähnt er (mit einigen historischen Unschärfen) Sokrates, Pythagoras und »den weisen König« der Juden als exempla für das gewaltsame Ende der Weisen, deren Weisheit sie jedoch überdauert, und deren Geschick ihren Feinden vergolten wird: »Was hatten […] die Juden [für einen Nutzen] von der Hinrichtung ihres weisen Königs, da ihnen von jener Zeit an das Reich genommen war? «, fragt er, und fügt hinzu, dass dieser König nicht tot sei »wegen der neuen Gesetze, die er gegeben hat«. 4 Diese Außensicht des Mara bar Sarapion, die mit der Deutung des jüdischen Krieges 66-70 n. Chr. (alternativ: des Bar-Kochba-Aufstandes 132-135 n. Chr.) als Strafe für die Hinrichtung Jesu ein christliches Interpretament verarbeitet, steht auch mit der Auffassung von Jesus als König und Gesetzgeber frühchristlichem Denken nahe, u. zw. namentlich dem matthäischen: Jesus erhebt als davidischer König den Anspruch, mit seinem autoritativen »Ich nun sage euch« (Mt 5,22. 28. 32.39.44 5 ) Prof. Dr. Manuel Vogel, geb. 1964 in Frankfurt am Main, Studium der Evangelischen Theologie in Erlangen, Heidelberg und Frankfurt, 1994-1996 Vikariat in Bayern, 1995 Promotion in Heidelberg, 1996-2003 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institutum Judaicum Delitzschianum in Münster, 2003 Habilitation in Münster, 2003 -2006 Pfarramt in Hessen-Nassau, 2006 -2008 Pfarrer im Hochschuldienst an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, seit 2009 Professor für Neues Testament an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Veröffentlichungen u.a. zu Paulus, Josephus und zum Hellenistischen Judentum. Prof. Dr. Manuel Vogel »[I]nwiefern kann man Schüler eines Königs sein? Antwort: Indem man die Gesetze, die dieser König erlassen hat, lernt und befolgt.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 59 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 59 Manuel Vogel Die Ethik der »besseren Gerechtigkeit« im Matthäusevangelium der Autorität seiner Lehre zu unterstellen. Fazit: Es gibt eine Affinität zwischen der »Taufe auf den Namen des Sohnes« und der Übereignung an Jesus als Lehrer. 7 Die bisher angestellten Überlegungen sollen begründen, dass und warum es statthaft erscheint, den berühmten Missionsbefehl am Ende des Matthäusevangeliums vorrangig als eine Art weltweiten »Lehrauftrag« aufzufassen und das Matthäusevangelium als Handbuch für die zentralen Lehrinhalte. Für die Christologie des ersten Evangeliums bedeutet das: Es geht nicht vorrangig darum »an Jesus zu glauben«-- davon ist im Matthäusevangelium ausdrücklich überhaupt nur in 18,6 die Rede! -- , sondern seiner Lehre zu folgen. Der vorliegende Beitrag dient dem Zweck, diesen innerhalb des Neuen Testaments singulären Akzent gegen seine möglichen christologischen und soteriologischen Überformungen zu verteidigen, und zwar im Interesse einer möglichst großen Vielstimmigkeit des neutestamentlichen Christus-Zeugnisses. Vielstimmigkeit heißt aber vor allem: Unterscheidbarkeit. Das Konzept »Tun, was Jesus zu tun aufgetragen hat«, ist dann ungeachtet seiner je nach theologischem Standpunkt mehr oder weniger stark empfundenen christologischen und soteriologischen Unterbestimmtheit eine legitime Variante, sich als Christusanhänger zu verstehen. 2. Jesus: Toralehrer oder Tempelersatz? Die hier zur Diskussion stehenden Auslegungsalternativen können anhand von Mt 12,1-8 veranschaulicht werden. Über den Markusstoff hinausgehend bietet Mt in der Perikope vom Ährenraufen am Sabbat in 12,5-7 folgenden Text: »Habt ihr nicht im Gesetz gelesen, dass die Priester im Tempel am Sabbat den Sabbat entweihen, ohne sich schuldig zu machen? Ich sage euch aber: Hier ist Größeres als der Tempel! Hättet ihr begriffen, was es heißt: Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer, so hättet ihr die Unschuldigen nicht verurteilt.« In der Frage, was »größer als der Tempel« ist, kann man klar zwischen einer christologischen und einer ethischen Auslegung unterscheiden. Einige Handschriften ändern das neutrische meizon (»Größeres«) in die maskuline Form meizōn (»ein Größerer«) und signalisieren damit, dass das Größere recht verstanden Jesus selbst ist. Die ethische Auslegung, die beispielsweise von U. Luz vertreten wird, setzt demgegenüber einen ganz anderen Akzent: Größer als der Tempel ist »hier«, d. h. in der besonderen Personenkonstellation von hungernden Schülern Jesu und urteilenden Pharisäern die von Jesus in V. 7 mit Hosea 6,6 namhaft gemachte Barmherzigkeit. 8 Das komparative »Größeres« erklärt zugleich das »nicht… sondern« im Hoseazitat im Sinne einer »dialektischen Negation« (U. Luz), die als »mehr… als« aufzulösen ist: Die Forderung nach Barmherzigkeit ist noch dringlicher als das in seiner Gültigkeit nicht infrage gestellte Erfordernis des Tempelopfers. Jesus zieht einen Schluss vom Kleineren auf das Größere, der jenes Kleinere (den Tempel) nicht infrage stellt. Das Tempelopfer ist ja, ganz im Gegenteil, so wichtig, dass es den Sabbat aussticht. Der angestellte Vergleich dient dazu, den Pharisäern klar zu machen, wie gravierend ihr Fehlurteil ist: Der hypothetische (und durch die Tora verhinderte) Missgriff, wegen des Sabbats das Tempelopfer auszusetzen, wäre eine Kleinigkeit gegen ihre harte Haltung, um des Sabbats willen Menschen hungern zu lassen. Es stellt keine Verkürzung dar, hier von einem ethischen Anliegen Jesu zu sprechen. Es geht ihm um »Barmherzigkeit« als dasjenige, worauf man stößt, wenn man »im Gesetz liest« (12,5). Ebenfalls an die Adresse der Pharisäer gerichtet ist der Vorwurf in Mt 23,23, sie hätten zugunsten halachischer Detailfragen »die gewichtigeren Dinge des Gesetzes« (ta barytera tou nomou) aus den Augen verloren, nämlich »Recht, Barmherzigkeit und Treue« (krisis, eleos, pistis). Wichtig ist, dass Jesus sich in 12,6 in keiner Weise selbst thematisiert, etwa als Mittler göttlicher Barmherzigkeit oder dergleichen. Es geht strikt um die ethische Sache einer (wie wir heute sagen würden) »humanen« Handhabung der Mosetora. Wer dagegen Mt 12,6 auf die Person Jesu deutet, kommt nicht umhin, den Tempel für obsolet zu erklären, denn es gibt entsprechend dieser Lesart ja nun Jesus als neuen Heilsmittler, der den Tempel samt seinen Opfern überflüssig macht. In dieser Weise formuliert unter den älteren Auslegern eingängig H.J. Holtzmann: Als »der Heilige Gottes« (ho hagios tou theou, Mk 1,24) sei Jesus mehr als »das Heiligtum« (to hagion). 9 Die Streitfrage lautet mithin: Ist Jesus in Mt 12,6 Tempelersatz oder Toralehrer? Gilt Letzteres, bleibt der Tempel als positive Vergleichsgröße erhalten, und zwar auch noch rückblickend nach dem Verlust desselben im jüdischen Krieg. »Es geht nicht vorrangig darum ›an Jesus zu glauben‹ - davon ist im Matthäusevangelium ausdrücklich überhaupt nur in 18,6 die Rede! -, sondern seiner Lehre zu folgen.« »Die Streitfrage lautet mithin: Ist Jesus in Mt 12,6 Tempelersatz oder Toralehrer? « Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 60 - 4. Korrektur 60 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Kontroverse 3. »Gerechtigkeit«: Eine Sachdiskussion mit den Pharisäern Deutlich ist in Mt 12,1-8 und Mt 23,23, dass Jesus mit Blick auf die Pharisäer (und Schriftgelehrten) argumentiert bzw. diese Gruppen scharf kritisiert. Was an beiden Stellen für das Gesetz gilt, gilt auch für die matthäische Auffassung von Gerechtigkeit. Auch hier geht es um eine auf weite Strecken kontroverse Sachdiskussion vorrangig mit den Pharisäern. Von Gerechtigkeit (dikaiosynē) ist bei Matthäus mit sieben Belegen nicht übermäßig häufig die Rede. Der Begriff ist aber stets von Gewicht für das theologische Ganze des ersten Evangeliums. Wir beginnen mit der programmatischen Forderung einer »besseren Gerechtigkeit« in Mt 5,20. Da der Satz begründend oder erläuternd, jedenfalls weiterführend an 5,19 anschließt, ist dieser Vers mit hinzuzunehmen. M. E. spricht nichts dagegen, die dort genannten »kleinsten Gebote« im Sinne der rabbinischen Unterscheidung von »leichten« und »gewichtigen« Torageboten zu verstehen. 10 Mt 23,23b (»Diese Dinge aber sollte man tun und jene nicht unterlassen«) ist hierzu eine genaue Entsprechung: Die Verzehntung von Minze, Anis und Kümmel wird durch eine an Recht, Gerechtigkeit und Treue orientierte Tora-Auslegung nicht gegenstandslos. Wie verhält sich aber das Votum für strikte Toraobservanz in 5,19 zum Auftrag in 28,20, Schüler aus allen Völkern in all dem zu unterrichten, was Jesus zu halten aufgetragen hat? M. E. lässt sich der gordische Knoten aus strikter Toraobservanz und Heidenmission nur so durchschlagen, dass man sagt: Für den Evangelisten stand völlig fraglos fest, dass Toraobservanz nur von jüdischen Christusanhängern gefordert war, nicht aber von Christusanhängern aus den Völkern. Für die Christusverehrer aus den Völkern galt, dass die ihnen ohnehin geläufige Goldene Regel, die im Matthäusevangelium kühn mit »Gesetz und Propheten« identifiziert wird (7,12), für ein torakonformes Verhalten hinreichend war, d. h. ihnen sozusagen als ein »Tun der Tora« gutgeschrieben wurde. Für jüdische und nichtjüdische Christusanhänger gab es unter dieser Voraussetzung ein überaus breites Mittelfeld dessen, was für beide von elementarer Wichtigkeit war, etwa, wie man beten (6,9-13), oder, dass man einander vergeben soll (6,14f ). 11 Mt 5,20 schließt dann folgendermaßen an: Von den mathētai Jesu wird unter Androhung des Ausschlusses von der Gottesherrschaft eine Gerechtigkeit gefordert, die zunächst insofern »besser« ist als die der Pharisäer, als sie an der Geltung der Mosetora für Lebensweise und Gottesverehrung von Juden (und das heißt auch: von jüdischen Christusverehrern) fraglos festhält. Die »bessere Gerechtigkeit« der mathētai soll, was die Anerkennung der Tora als Grundlage jüdischen Lebens betrifft, über jeden Zweifel erhaben sein. Nur zu diesen Bedingungen kann der überbietende Vergleich mit der Gerechtigkeit der Pharisäer überhaupt angestellt werden. Mir scheint dabei übrigens ganz ausgeschlossen, dass in der Situation des Matthäus-Evangelisten die Pharisäer eine nur theoretische Vergleichsgröße darstellen. Vielmehr spiegelt die Auseinandersetzung mit dieser Gruppe die reale Situation des Trägerkreises des Matthäusevangeliums. Dann ist aber fast gleichgültig, ob und in welcher Weise dieser Kreis eigenständig organisiert war. Deutlich ist, dass das Matthäusevangelium den Pharisäern im Antagonismus aufs Engste verbunden ist und an ihnen Maß nimmt. Das erste Evangelium spiegelt ein pharisäisch geprägtes jüdisches Milieu, in welchem es sich behaupten will. Die entscheidende Frage, inwiefern die Gerechtigkeit der mathētai Jesu diejenige der Pharisäer übertreffen soll, ist nach allem bisherigen nicht schwer zu beantworten: Sie soll genau das leisten, was die Pharisäer in ihrem Verhalten und in ihrer Tora-Auslegung schuldig bleiben. In Mt 6,1 erteilt Jesus den Rat: »Gebt aber acht, eure Gerechtigkeit nicht vor den Menschen zu üben, um von ihnen beachtet zu werden.« Nachfolgend geht es konkret um Almosen und Gebet als elementare Vollzüge in der Beziehung zu anderen Menschen und zu Gott. Beides soll nicht der eigenen Statusoptimierung »vor den Menschen« dienen. Der praktische Rat Jesu lautet, beides im Verborgenen zu praktizieren. Mit 5,20 gesprochen ist eine »im Verborgenen« geübte religiöse und soziale Praxis »bessere Gerechtigkeit«. Nach Mt 23,6 f. sind die Schriftgelehrten und Pharisäer vorrangig an ihrer vorteilhaften sozialen Außenwirkung interessiert, erzeugen damit aber nur einen äußerlichen Schein, der über ihre niederen Motive hinweg täuscht. Sie müssen sich sagen lassen: »Ihr erscheint von außen den Menschen gerecht, innen aber seid ihr voller Heuchelei und Gesetzlosigkeit.« Eine »Für den Evangelisten stand völlig fraglos fest, dass Toraobservanz nur von jüdischen Christusanhängern gefordert war, nicht aber von Christusanhängern aus den Völkern.« »Das erste Evangelium spiegelt ein pharisäisch geprägtes jüdisches Milieu, in welchem es sich behaupten will.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 61 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 61 Manuel Vogel Die Ethik der »besseren Gerechtigkeit« im Matthäusevangelium Gerechtigkeit, die sich in der beschriebenen Weise von der der Pharisäer und Schriftgelehrten unterscheidet, ist nun aber in ihrem »besseren« Teil (hier: Verzicht auf religiös-soziale Selbstdarstellung) für jüdische wie für nichtjüdische Adressaten gleichermaßen praktizierbar. 4. Das »Reich der Himmel« und die Lehre Jesu für die Völker Mt 6,33 handelt vom »Reich und seiner Gerechtigkeit«. Bekanntlich spricht das Matthäusevangelium fast durchgängig vom »Reich der Himmel«, und zwar nicht, um gegenüber dem geläufigeren »Reich Gottes« das Wort »Gott« zu vermeiden, das es sonst ja verwendet (51 Belege! ), sondern um die universale Ausdehnung der Gottesherrschaft zum Ausdruck zu bringen. Zu ihrer Verwirklichung trägt die weltweite Mission der Gewinnung von mathētai bei, die der Lehre des davidischen Königs Jesus folgen: Das »Königreich der Himmel« verbreitet sich in dem Maße, wie unter den Völkern Menschen der Lehre Jesu folgen. Wichtig ist, dass »Gerechtigkeit« nach der matthäischen Konzeption für nach der Mosetora lebende Juden wie auch für Christusverehrer aus den Völkern, deren Lebenspraxis nicht der Mosetora verpflichtet ist, gleichermaßen relevant und praktizierbar ist. Daran, wie der Judäerkönig Jesus die Gesetze seiner eigenen Tradition ausgelegt hat, kann man lernen, wie man mit Gesetzen überhaupt umgeht. Das Wort Jesu, der Sabbat sei für den Menschen da und nicht der Mensch für den Sabbat, ist nicht erst heute per Analogieschluss vielfältig anwendbar. Die Rede vom »Reich und seiner Gerechtigkeit« lenkt unseren Blick auf Mt 23,13. Von den Pharisäern und Schriftgelehrten, die sich nach Mt 23,2 auf den »Stuhl des Mose« gesetzt haben, heißt es: »Ihr verschließt das Reich der Himmel vor den Menschen! Ihr selbst kommt nämlich nicht hinein, und die, die hineinwollen, lasst ihr nicht hinein kommen«. Diese Stelle macht deutlich, dass Matthäus (a) auch den Begriff des Reiches Gottes in die kontroverse Sachdiskussion mit Pharisäern und Schriftgelehrten einbezieht, und (b) dass »Reich der Himmel« nach Matthäus elementar etwas mit Tora-Lehre zu tun hat. Man kann mit Mt 23,23 ergänzen: Mit einer Tora- Lehre, die an »Recht, Barmherzigkeit und Treue« ausgerichtet ist. Dabei handelt es sich um Auslegungs- und Handlungsgrundsätze, die universal gültig und somit auch für Jesu Schülerkreis aus den Völkern maßgeblich sind. Als Tora-Lehrer ist Jesus zugleich Vorbild für seine Schüler. Insofern kommt, wenn von Jesu Lehre die Rede ist, zugleich auch Jesu Person ins Spiel, und insofern auch, wenn man so sagen will, Christologie. Dass Lehre und Person nicht voneinander zu trennen sind, zeigt Mt 11,29 f.: »Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir, denn ich bin sanft und von Herzen demütig; und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch drückt nicht, und meine Last ist leicht.« Das »leichte Joch« Jesu steht für seine menschenfreundliche Tora-Auslegung im Unterschied zu derjenigen der Pharisäer, die den Menschen »schwere und unerträgliche Lasten« aufbürden, die sie aber selber gar nicht zu tragen bereit sind. Von Jesus kann man »lernen«, weil er seine Lehre glaubwürdig verkörpert. Will man das »christologisch« nennen, dann im Sinne einer Vorbild- Christologie. 5. Die Taufe Jesu und das »Erfüllen aller Gerechtigkeit« Von hier aus werfen wir noch einen Blick auf den kurzen Dialog zwischen Jesus und dem Täufer in Mt 3,13- 15. Üblicherweise sieht man in diesem Wortwechsel einen Versuch, die als anstößig empfundene Tatsache der Taufe Jesu durch Johannes theologisch zu bewältigen. Aber bei Matthäus ist die Johannestaufe nicht sündenvergebend, sondern es wird nur von den vielen Menschen, die sich von Johannes taufen ließen, vermerkt, dass sie »ihre Sünden bekannten«. Dass der Taufakt selber sündenvergebend ist, sagt Matthäus nicht. Jesus kommt seinerseits, »um sich taufen zu lassen«. Von einem Sündenbekenntnis Jesu verlautet nichts. Mir scheint überhaupt die Auffassung, es gehe an dieser Stelle um eine Art theologischer Altlastenbewältigung aus dem Leben des historischen Jesus, eine falsche Fährte zu legen. Es geht Matthäus nicht um die angesichts seiner Taufe durch »Wichtig ist, dass ›Gerechtigkeit‹ nach der matthäischen Konzeption für nach der Mosetora lebende Juden wie auch für Christusverehrer aus den Völkern, deren Lebenspraxis nicht der Mosetora verpflichtet ist, gleichermaßen relevant und praktizierbar ist.« »Als Tora-Lehrer ist Jesus zugleich Vorbild für seine Schüler. Insofern kommt, wenn von Jesu Lehre die Rede ist, zugleich auch Jesu Person ins Spiel, und insofern auch, wenn man so sagen will, Christologie.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 62 - 4. Korrektur 62 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Kontroverse Johannes in Beweisnöte geratende Behauptung der Sündlosigkeit des Gottessohnes, sondern um eine von Matthäus eigens inszenierte Szene, in der der Statusunterschied zwischen Jesus und Johannes sichtbar werden soll. Dass Jesus einen weitaus höheren Status inne hat als Johannes, wird nach allem, was die matthäische Vorgeschichte hierüber bereits verrät, in 3,11 nochmals kräftig akzentuiert. Die überraschende Wendung der Erzählung besteht nun darin, dass der Ranghöhere sich vor seinem Gegenüber erniedrigt, bis dahin, dass er ihn noch für diese Selbsterniedrigung um Erlaubnis bittet (»Lass es jetzt geschehen«) und das »Erfüllen aller Gerechtigkeit« damit zu beider gemeinsamer Sache macht. Dafür, dass Jesus »sanft und demütig« ist (Mt 11,29), erbringt die Jesuserzählung des ersten Evangeliums somit gleich zu Beginn des öffentlichen Auftretens Jesu den Tatbeweis. Es geht also nicht um die Solidarität Jesu mit menschlicher Fehlbarkeit, sondern um einen eindrucksvollen Aufweis seiner Demut in seiner Unterordnung unter Johannes. 12 Wiederum bilden die Pharisäer und Schriftgelehrten, die »den obersten Platz bei den Mahlzeiten und den Vorsitz in den Synagogen lieben« (23,6), das Kontrastbild. In der Taufszene in Mt 3 wird vorgreifend deutlich, dass die Diastase zwischen Reden und Handeln, die Jesus den Pharisäern und Schriftgelehrten vorhält, auf ihn selbst nicht zutrifft. Derjenige, der im Vollzug der Unterordnung unter Johannes »alle Gerechtigkeit erfüllt«, fordert von seinen Schülern eben diese Gerechtigkeit, die er den Pharisäern abspricht. 6. Rückblick: Drei Fehlanzeigen »Gerechtigkeit« ist ein Grundbegriff matthäischer Ethik. Sie gehört zum Kernbestand dessen, was die Schüler Jesu unter allen Völkern als seine Lehre weitergeben sollen. Es geht am Beispiel der Mosetora um eine humane Handhabung von Gesetzen und um persönliche Integrität, die sich im Verzicht auf Statusvorteile äußert. Jesus ist ein glaubwürdiger Vertreter dieser Lehre, weil er sie selbst befolgt hat. Bei der hier vorgetragenen Interpretation spielen drei Kernthemen neutestamentlicher Theologie überhaupt keine Rolle, nämlich Christologie, Soteriologie und Heilsgeschichte. Diese drei Themen finden sich auch im Matthäusevangelium. Sie sind aber nach meiner Auffassung von dem, was im ersten Evangelium »Gerechtigkeit« heißt, zwar nicht scharf zu trennen, jedoch, und darum ging es mir, klar zu unterscheiden. Anmerkungen 1 Allerdings in Kenntnis seiner Tübinger Habilitationsschrift (Die Gerechtigkeit der Tora im Reich des Messias. Mt 5, 13-20 als Schlüsseltext der matthäischen Theologie, WUNT I/ 177, Tübingen 2005), die uns allererst auf die Idee der Kontroverse für unser Matthäus-Heft gebracht hat. 2 Quelle: ThLG-Recherche zu mathēteu-. Der im ThLG gebotene Text lautet: mathētēs, mathēteuein de ouketi, kaitoi apo tou phoitētēs phoitān legousin., »mathētēs, mathēteuein jedoch nicht mehr, wenngleich man, abgeleitet von phoitētēs [einer, der regelmäßig (den Lehrer) besucht], phoitān sagt«. 3 Vgl. hierzu: M. Klinghardt, Erlesenes Verstehen. Leserlenkung und implizites Lesen in den Evangelien, ZNT 21 (2008), 27-37, hier: 27-30. 4 Übersetzung aus G. Theißen/ A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 3 2001, 84. Zu Mara bar Sarapion vgl. auch A. Merz/ T.L. Tieleman (Hg.), The Letter of Mara bar Sarapion in Context. Proceedings of the Symposium Held at Utrecht University, 10-12 December 2009, Leiden 2012. 5 Dass das de in egō de legō hymin, das hier mit »nun« wiedergegeben wird, nicht adversativ zu verstehen ist, hat K. Wengst in seinem in diesem Heft erschienenen Beitrag ausführlich begründet. 6 Die Lykurg-Biographie Plutarchs ist in der von Hanns Floerke bearbeiteten Übersetzung Johann Friedrich Kaltwassers zugänglich in: Plutarch, Lebensbeschreibungen, Bd. 1, München 1964, 104-140. 7 Näheres hierzu bei K. Berger, Theologiegeschichte des Urchristentums, Tübingen 2 1995, 119. 8 U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus (EKK I/ 2), Zürich/ Neukirchen-Vluyn 1990, 231 f. 9 H.J. Holtzmann, Hand-Commentar zum Neuen Testament, Erster Band: Die Synoptiker.-- Die Apostelgeschichte, Freiburg 2 1892, 93. 10 So etwa P. Fiedler, Das Evangelium nach Matthäus (ThKNT 1), Stuttgart 2006, 126. 11 Eine ganz andere Frage ist, ob und wie tora-observante jüdische Christusanhänger zusammen mit nichtjüdischen Geschwistern nach dem matthäischen Konzept gemeinsame Gruppen bildeten. Ich finde im Matthäusevangelium keinen belastbaren Beleg hierfür. Muss man von getrennt organisierten Gruppen ausgehen? Aber vertrug der gemeinsame Glaube separate Gruppen? Deshalb ist als Alternative zu dem von mir skizzierten Szenario auch denkbar, dass der Matthäus-Evangelist selbstverständlich von einer Vollkonversion nichtjüdischer Christusverehrer zu einem Leben nach der Tora ausging. Diese Sicht wird vertreten von D.C. Sim, The Gospel of Matthew and Christian Judaism. The History and Social Setting of the Matthean Community, Edinburgh 1998. Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 63 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 63 Manuel Vogel Die Ethik der »besseren Gerechtigkeit« im Matthäusevangelium 12 Vergleichbar ist die Begegnung zwischen Maria und Elisabeth in Lk 1,43: Die als Mutter Jesu ranghöhere Maria ordnet sich Elisabeth unter, indem sie es ist, die sich zu ihr auf den Weg macht (zu ihr »kommt«), und nicht etwa umgekehrt. Elisabeth erhebt hiergegen (wie Johannes gegenüber dem »Kommen« Jesu) Einspruch und macht damit deutlich, dass sie sich ihrerseits Maria unterordnet. Zu der in Mt 3,13-15 zu beobachtenden eigentümlichen Gegenläufigkeit im Verhältnis zwischen Jesus und Johannes in den Evangelien und der Apostelgeschichte vgl. M. Vogel, Jesusgemeinden und Täufergruppen zwischen Abgrenzung und Wertschätzung-- eine Skizze, in: N. Förster/ C. deVos (Hg.), Juden und Christen unter römischer Herrschaft. Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung in den ersten beiden Jahrhunderten n. Chr. (Schriften des Institutum Judaicum Delitzschianum, Bd. 10), Göttingen 2015, 74-84. Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 09.11.2015 - Seite 63 - 4. Korrektur Zeitschrift für Neues Testament_35 typoscript [AK] - 12.05.2015 - Seite 14 - 2. Korrektur Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen • Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • Jörg Michael Bohnet Die Himmelfahrten Jesu im lukanischen Doppelwerk Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter, Band 46 2016, ca. 450 Seiten, €[D] 78,00 ISBN 978-3-7720-8216-0 Seit über vier Jahrzehnten wurden die lukanischen Himmelfahrtserzählungen monographisch nicht mehr in der deutschsprachigen Exegese untersucht. In dieser Zeitspanne sind nur wenige exegetische Monographien zum Thema erschienen. Die vorliegende Studie untersucht die Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Erzählungen auf dem Hintergrund von jüdischen und paganen Texten. Dabei zeigt sich, dass Lukas von zwei getrennten Himmelfahrtsereignissen zu berichten weiß. Dementsprechend ist die Erhöhung Jesu im lukanischen Doppelwerk nicht mit den Himmelfahrten, sondern mit der Auferstehung verbunden. Die Missionsworte stehen im Zusammenhang mit dem jüdischen Universalismus und dem römischen Universalismus der Kaiserzeit. Die Apotheose des römischen Kaisers wird durch die Himmelfahrten des in der Auferstehung erhöhten Messias und Kyrios überboten. Das Geschichtsverständnis des Lukas ist endzeitlich orientiert und verfolgt kein Epochenmodell, das die Parusie verzögert. info@francke.de • www.francke.de - Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 64 - 4. Korrektur 64 ZNT 36 (18. Jg. 2015) »Geschichten bestimmen das Leben. Sie vereinen uns und trennen uns voneinander. Wir bewohnen die großen Geschichten unserer Kultur. Wir leben durch Geschichten. Wir sind geprägt von den Geschichten unserer Tradition und Geschichte.« 2 Die Evangelienerzählungen der christlichen Bibel sind Geschichten. Entstanden an unterschiedlichen Orten der römischen Welt des 1. Jh. n. Chr., wurden sie von Anfang an als Geschichten entwickelt. Sie reisten mit verschiedenen Teilen der christlichen Weltgemeinschaft zu Stätten weitab von ihrem ursprünglichen Entstehungsort. Und über Jahrtausende hinweg wurden sie in den unterschiedlichsten Ländern, Kulturräumen und Lebenssituationen ausgelegt. Sie formten die Vorstellungen derjenigen, die sie als literarischen Text lasen, ebenso derjenigen, die sie als Dokument des Glaubens in Anspruch nahmen. Sie weckten bei den Lesenden die höchsten Erwartungen, während sie gleichzeitig dafür hergenommen wurden, Völker zu unterdrücken und deren Kultur zu zerstören. Die Geschichten der Evangelien begegnen uns heute mit all dieser Kraft und Ambivalenz. Das Evangelium nach Matthäus erzählt uns eine dieser Geschichten. Es war eben dieses Matthäusevangelium, das mich als junge Frau, die der gerade aus dem Zweiten Vatikanischen Konzil hervorgegangenen katholischen Kirche angehörte, in seinen Bann zog. Das große Thema des Konzils war Aggiornamento oder Erneuerung: Ein Aufruf zur Reformierung von Lebensweisen, die zwar dem Evangelium entsprachen, für die Welt des 20. Jahrhunderts aber nicht mehr von Bedeutung waren. Zu derselben Zeit wurden weltweit Schreie gegen Ungerechtigkeit laut. Sie ertönten aus den Straßen von Paris, den barrios Zentral- und Südamerikas und aus den großen Metropolen der Welt, wo Hunderte und Tausende einen Protestlauf gegen Ungerechtigkeit antraten und diesen bis heute weiterverfolgen. Diesen innerhalb und außerhalb der katholischen Kirche wirkenden Geist samt einer neuen Vision, die nicht nur die Kirche, sondern auch die Gesellschaft im Ganzen betraf, brachten die Worte aus Mt 13,52 treffend zum Ausdruck: Jeder Schriftgelehrte, der »unterrichtet« ist in der basileia/ »kin-dom« 3 der Himmel, ist wie ein Mensch, der einen Haushalt führt und dabei Neues und Altes »hervorholt«. 4 Dies war der Grund, weshalb ich mich zu Beginn meines bibelwissenschaftlichen Studiums dem Matthäusevangelium zuwandte. Auf dem Hintergrund von fünfzig Jahren, in denen die katholische Weltgemeinschaft aus dem Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils lebt und angesichts einer Welt, die sich seit Jahrzehnten in unterschiedlichen Wellenbewegungen gegen Ungerechtigkeit zur Wehr setzt, möchte ich zeigen, wie das Wort der Bibel, das Wort eines Evangeliums, neu gehört werden kann und neu gehört werden muss. Auf meinem Weg als Matthäusforscherin, auf dem ich seit über dreißig Jahren unterwegs bin, ist mir klar geworden, dass dieses Wort tatsächlich »lebendig und wirksam« ist (Hebr 4,12). Exegetinnen und Exegeten können das im Bibeltext angelegte Potential freisetzen, oder aber sie nehmen den Text so streng in Gewahrsam, dass sein Neues auf unsere heutige Sicht der Dinge gar nicht einwirken kann. Ich möchte nun zeigen, wie der aufmerksame Blick in die Welt und das engagierte Ankämpfen gegen die sie beherrschenden, ineinander verwobenen Systeme der Ungerechtigkeit zur Ausbildung neuer Deutungsperspektiven und biblischer Hermeneutiken führen kann, und zwar im Dialog mit den Veränderungen auf dem Feld der exegetischen Methoden, die bereits die letzten Jahrzehnte der Forschungsgeschichte geprägt und das Aufkommen neuer und auf Befreiung zielender Modelle der Textauslegung befördert haben. Im Folgenden will ich einige dieser methodologischen und hermeneutischen Umbrüche nachzeichnen, unter deren Einfluss meine eigene wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Matthäusevangelium seit drei oder mehr Jahrzehnten steht. 5 Dabei konzentriere ich mich auf Mt 9,18-26. 1. Ein etabliertes methodologisches Paradigma wird brüchig-- die frühen 1980er Jahre Als ich im Jahr 1983 mein bibelwissenschaftliches Postgraduiertenstudium begann, stieß ich auf ein für die Evangelienforschung bahnbrechendes Werk, dessen Veröffentlichung nur ein Jahr zurücklag, nämlich Mark as Story: An Introduction to the Narrative of a Gospel von David Rhods und Donald Michie. 6 Es repräsentierte einen bedeutenden Wandel unter dem in der Litera- Elaine M. Wainwright »Das Wort G*ttes ist lebendig und wirksam« Eine neue Lektüre von Mt 9,18-26 1 Hermeneutik und Vermittlung Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 65 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 65 Elaine M. Wainwright »Das Wort G*ttes ist lebendig und wirksam« geschichte einer am Blutfluss leidenden Frau in den Erzählverlauf einer Geschichte, die von der Auferweckung eines jungen Mädchens handelt; zum anderen die augenfälligen sprachlichen und rhetorischen Strukturparallelen und -unterschiede zwischen diesen beiden zu einem Text verwobenen Einheiten. Ich schließe mit der Feststellung: »In beiden Erzählungen betritt das Weibliche als verunreinigte, außerhalb der Grenzen ritueller Reinheit stehende Entität die Szenerie. Außerdem verstößt die am Blutfluss leidende Frau gegen die geltenden gender-Konventionen. In keiner der Erzählungen hat Wiederherstellung der Gesundheit jedoch die Wiedereingliederung in die patriarchale Familienstruktur (als Quelle der Heilung) zur Folge. Folglich haben Frauen wie Männer unmittelbar Anteil an den Wohltaten der βασιλεία als der rettenden, lebenspendenden Kraft Jesu.« 10 Diese Feststellung basiert nicht nur auf einer sorgfältigen narrativen Analyse, sondern auch auf einer Wahrnehmung von gender und gendering des Textes. Wir wenden unsere Aufmerksamkeit in diesem Sinne nun einer feministischen Hermeneutik zu, die fast zeitgleich mit diesen methodologischen Veränderungen in der Bibelwissenschaft aufkam. Zuvor erscheint es jedoch angebracht, kurz auf einen weiteren, etwa zeitgleichen methodologischen Fortschritt einzugehen, nämlich auf das Aufkommen der sozialgeschichtlichen Interpretation. Dieser Ansatz weist viele Gemeinsamkeiten mit der historisch-kritischen Methode auf. Der Fokus liegt auf der Bedeutung eines Textes in seinem sozialgeschichtlichen oder soziokulturellen Kontext. Die Innovation dieses Ansatzes bestand darin, dass man in einen umsichtigen Dialog mit moderner sozialwissenschaftlicher Theoriebildung eintrat und die dort angewandten Modelle für neue Lektüren biblischer Texte fruchtbar machte. 11 Einige Vertreter und Vertreterinnen feministischer Exegese haben sich kritisch mit diesem und mit anderen Ansätzen befasst. Kritisiert wurde insbesondere, dass die sozialwissenschaftlich informierten Lektüren gleichwohl den patriarchalen und androzentrischen Konstruktionen des 1. Jh. n. Chr. verhaftet blieben. Eine dieser Kritikerinnen ist Elisabeth Schüssler Fiorenza: »Greift feministische Exegese auf soziologische oder anthropologische Rekonstruktionsmodelle zurück, so muss sie darauf bestehen, dass diese Modelle auf ihre kyriozentrischen theoretischen Implikationen und kyriarchischen Verengungen hin überprüft werden.« 12 turwissenschaft weitreichenden Einfluss des new literary criticism. Der Fokus dieser Arbeit lag nicht mehr auf der Ermittlung der Bedeutung eines Textes anhand einer umfassenden Analyse seines antiken Kontexts, so der wichtigste Grundsatz der historisch-kritischen Methode, die den bibelwissenschaftlichen Diskurs für über zweihundert Jahre beherrschte. Die Aufmerksamkeit galt nun vielmehr dem Text selbst und der Art und Weise, wie die Vielzahl seiner literarischen Charakteristika (plot, Charaktere, die dem Text eigene Rhetorik usw.) seine Bedeutung generieren. Jack Kingsbury (1986) 7 und Mark Allan Powell (1990) 8 brachten diese neue Methodik schließlich für die Matthäusforschung zur Anwendung. Die Auswirkungen dieses methodologischen Perspektivwechsels auf die exegetische Arbeit an Mt 9,8-26 werden klar erkennbar, wenn man die in historisch-kritischer Perspektive erfolgende Diskussion dieses Textes im dreibändigen Matthäuskommentar von Davies und Allison (gleichsam als Quintessenz der historisch-kritischen Matthäusforschung) mit meiner eigenen narrativen Analyse zu demselben Text in Toward a Feminist Critical Reading of the Gospel according to Matthew vergleicht. Während Davies und Allison sehr sorgfältig die Sprache des Textes analysieren, 9 erfolgt dies stets aus einer redaktionskritischen Perspektive. Die zentrale Frage lautet: Wo weicht Matthäus von Markus ab, was ist matthäisch? Ein Verfahren, welches wiederum der Erstellung des spezifisch matthäischen Bedeutungsprofils dient. Mein eigener narrativer Zugang akzentuiert dagegen die Art und Weise, wie der Text aus sich selbst heraus seine Bedeutung erzeugt. Besondere Beachtung erfährt dabei zum einen die Einschaltung der Heilungs- Elaine Mary Wainwright war Richard Maclaurin Goodfellow Professor für Theologie an der University of Auckland. Seit 2014 ist sie emeritiert. Zu ihren wichtigsten Veröffentlichungen zählen: »Women Healing/ Healing Women: the Genderisation of Healing in Early Christianity« (Equinox 2006), »Shall We Look for Another: A Feminist Re-reading of the Matthean Jesus« (Orbis 1998), Dies. / R. Myles / C. Olivares, »The Gospel according to Matthew: The Basileia of the Heavens is Near at Hand« (Sheffield Phoenix 2014). Prof. Dr. Elaine M. Wainwright Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 66 - 4. Korrektur 66 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Hermeneutik und Vermittlung 2. Einstieg: Hermeneutik und hermeneutische Perspektivwechsel wahrnehmen Gegen Ende der 1970er und zu Beginn der 1980er Jahre erschienen zwei bedeutende bibelwissenschaftliche Veröffentlichungen, die einer feministischen Bibelauslegung den Weg bereiteten: 1978 erschien God and the Rhetoric of Sexuality von Phyllis Trible, 13 und 1983 In Memory of Her von Elisabeth Schüssler Fiorenza. 14 Beide Arbeiten beeinflussten meine eigene Suche nach einem Deutungsparadigma entscheidend, wie auch die Suche vieler anderer feministischer Bibelwissenschaftlerinnen meiner Generation. Denn beide schafften Rahmenbedingungen, die gender zu einer kritischen Schlüsselkategorie machten und einen simplen »Tu Frau dazu und fertig«-Ansatz unmöglich machten. Es handelte sich dabei in der Tat um Untersuchungen feministischer Bibelhermeneutik. Insbesondere die exegetische Arbeit von Elisabeth Schüssler Fiorenza und ihr Aufruf, sich nicht nur mit biblischen Texten, die von Frauen handeln, kritisch auseinanderzusetzen, sondern mit »allen biblischen Texten, ihren historischen und theologischen Interpretationen« 15 , hatte entscheidende Auswirkungen auf meine eigene Arbeit. 16 Der anfängliche hermeneutische bzw. interpretative Rahmen, den Schüssler Fiorenza hierfür bereitstellte, umfasste vier Stadien: (1) »Verdacht«, (2) »Verkündigung«, (3) »Erinnerung« und (4) »kreative Aktualisierung«. Die beiden Schlüsselkategorien »Verdacht« und »Erinnerung« haben sich für die feministische Bibelexegese bislang am fruchtbarsten erwiesen. Der »Verdacht« verhilft den feministischen Interpretinnen zu einer kritischen relecture des Textes, seines Kontextes und seiner Auslegungstradition. Der hermeneutische Schritt der »Erinnerung« schafft innerhalb des Interpretationsprozesses Raum für semantische Neuschöpfungen, die die Bedeutungsgrenzen der im Text bislang vorherrschenden kyriarchischen und androzentrischen Begrifflichkeiten und Strukturen aufbrechen. Im weiteren Verlauf des Auslegungsprozesses kann es zur »kreativen Aktualisierung«, zum Neuvorstellen oder zum Neuerzählen des weiblichen Charakters im biblischen Text kommen. Dies kann innerhalb und außerhalb des akademischen Diskurses vonstattengehen. 17 Selbiges gilt für das hermeneutische Stadium der »Verkündigung«: Sie entspringt der Interpretationsarbeit von Wissenschaftlerinnen, kommt aber außeruniversitär zum Einsatz, und zwar insofern, als Texte auf unzählige Arten und Weisen in der weiblichen ekklēsia verkündigt werden. Elisabeth Schüssler Fiorenza sieht diese ekklēsia als »radikal demokratischen Diskurs, als politisches Gebilde und […] als Zentrum und Horizont einer kritischen feministischen Hermeneutik und Rhetorik der Befreiung«. 18 Diese ekklēsia bietet Raum für alle, mit dem Ziel, dass feministische Befreiung alle erreicht. Sie versteht sich nicht als exklusiv organisierte Enklave einiger Weniger. Feministische Bibelexegese strebt die religiöse und kulturelle Transformation im Ganzen der Gesellschaft an. Das zentrale Leitmotiv feministischer Hermeneutik bzw. die Brille, durch welche ich das Matthäusevangelium in den 1980er Jahren las, lautete »Inklusion«. Unter Anwendung des narrative criticism wollte ich zunächst die Inklusion von Frauen in der Erzählung wiederfinden. Unter dem Einfluss einer feministischen Hermeneutik stellte sodann die Redaktionskritik das Instrumentarium für die Frage zur Verfügung, inwiefern Frauen am Entstehungsbzw. Redaktionsprozess des jeweiligen Textes beteiligt waren. Daran anknüpfend schaffte der Dialog mit neuen Erkenntnissen, die feministische Historikerinnen des frühen Christentums offenlegen konnten, und deren Widerhall in der matthäischen Erzählstruktur, die Grundlage, um schließlich die Inklusion von Frauen in der Geschichte, insbesondere der Geschichte der matthäischen Gemeinschaft, zu ermitteln. Dies war meine erste umfassende feministische Lektüre des Matthäusevangeliums. Parallel dazu entstanden in dieser Zeit weitere feministische Untersuchungen zu den übrigen drei Evangelien, ebenso wie zu anderen neutestamentlichen Texten. 19 Ein kurzes Zitat aus dem redaktionskritisch ausgerichteten Schlusskapitel zu Mt 9,18-26 verleiht einen Einblick in die aufkommende feministischer Exegese: »Die einfache und doch eindrucksvolle Geschichte von der Auferweckung der Tochter eines Vorstehers wurde in einer frühen vormatthäischen Quelle mit der Geschichte von der Heilung einer am Blutfluss leidenden Frau verbunden, denn beide Geschichten wirken darin zusammen, dass sie die Aufmerksamkeit auf die Grenzen richten, die Frauen wegen ihres Geschlechtes gesetzt wurden, was wiederum ihren Ausschluss vom religiösen und sozialen Gemeinschaftsleben zur Folge hatte […] Die matthäische Redaktion hat eine Geschichte in der Schlichtheit bewahrt, in der sie innerhalb der matthäischen Gemeinde überliefert worden war. Dies ist vielleicht ein Indiz für den zentralen Stellenwert dieser Art von Geschichte oder Geschichten innerhalb der Gemeinschaft oder innerhalb gewisser Bereiche dieser Gemeinschaft.« 20 »Feministische Bibelexegese strebt die religiöse und kulturelle Transformation im Ganzen der Gesellschaft an.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 67 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 67 Elaine M. Wainwright »Das Wort G*ttes ist lebendig und wirksam« In den folgenden Jahrzehnten erfuhr die feministische Exegese eine weitere Fortentwicklung und Verfeinerung, insbesondere durch den Dialog mit der feministischen kritischen Theorie. Exemplarisch verweise ich auf die feministische Philosophin Rosi Braidotti (1994) 21 und ihre Analyse der Kategorie »Differenz«, um den matthäischen Jesus in feministischer Perspektive zu lesen. 22 Diese Kategorie ermöglicht, Stimmen aus unterschiedlichen Interpretationsgemeinschaften zur Geltung zu bringen, die im weiteren Gemeinde-Kontext, in dem das Evangelium entstanden war, von Jesus erzählten: 23 gefährdetes Kind, Befreier, Sophia, Grenzgänger, sämtliche identity marker, die oft im Schatten der expliziten Hoheitstitel Kyrios, Menschensohn und Sohn G*ttes standen, denen bis heute die Mehrheit an Exegetinnen und Exegeten ihre Aufmerksamkeit widmet. Eine derartige Lektüre stellt eine hermeneutische Herausforderung für die historisch-kritische Methode dar, die sich der Wahrnehmung der im Text und seiner Gemeinschaften oder Hauswesen hörbaren vielfältigen Stimmen stets verschlossen hat und auch gegenwärtig noch immer verschließt. Im Rahmen dieser Untersuchung sollen sie sich jedoch erneut Gehör verschaffen. An dieser Stelle ist eine vorwiegend methodologische Bemerkung in diese hermeneutischen Überlegungen einzuflechten, damit deutlich wird, dass beides, Methode und Hermeneutik, bei der Textauslegung in besonderer Weise zusammen hängt: Von Anfang an fehlte innerhalb der Bibelwissenschaften eine spezifisch feministische Methodik. Zur Verfügung stand den feministischen Exegetinnen vielmehr ein breites Methodenspektrum, das von der altbewährten historischkritischen Methode bis hin zu neueren und neuesten Methoden reichte. Diese wie jene wurden, wie ich noch zeigen werde, durch ihre Anwendung im Kontext einer feministischen Hermeneutik vielfach modifiziert. Für den Augenblick möchte ich lediglich darauf hinweisen, dass ich die Methodik, die ich bei meiner feministischen Lektüre des matthäischen Jesus zur Anwendung brachte, als sozio-rhetorisch bezeichnete. Die Arbeit von Vernon Robbins kannte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, doch griff ich seinen sozio-rhetorischen Ansatz für spätere Projekte auf modifizierte Weise auf. Bei jener Lektüre lag der Schwerpunkt auf der Poetik, Rhetorik und Politik des Textes und ich nannte den Zugang engendered reading. Diese Terminologie gibt bereits zu erkennen, wie eng Hermeneutik und Methodik miteinander verflochten sind. Was die hermeneutische Seite betrifft, so wurde schnell klar: Als Frauen aus mannigfaltigen Interpretationsräumen biblische Texte feministisch und kritisch auszulegen begannen, war gender nur eine unter vielen feministischen Analysekategorien, die sich für die Auslegung biblischer Texte als tragfähig erwiesen, um das Ziel einer befreienden Lektüre zu erreichen. Hautfarbe, Abstammung, Erfahrungen mit Kolonialisierung, Religionszugehörigkeit, Sexualität und viele andere Analysekategorien bildeten sich neben gender heraus, was zu einer erheblichen Vielstimmigkeit innerhalb feministischer Bibelinterpretation führte. Mit Blick auf die Matthäusforschung möchte ich die Aufmerksamkeit in diesem Zusammenhang auf die Arbeit zweier Wissenschaftlerinnen lenken. Zunächst auf Amy-Jill Levine, deren Verdienst darin bestand, feministische Forscherinnen des frühen Christentums zur Wahrnehmung der mehr oder weniger subtilen antijüdischen Facetten christlicher Bibelauslegung zu führen. 24 Einen zweiten kritischen Impuls verdankt die westliche feministische Matthäusforschung Musa Dube, die für ihre Evangelienlektüre ein feministisches und ein postkoloniales Paradigma kombiniert. Ihr Ziel ist eine befreiende Lektüre zugunsten derjenigen, die das Evangelium heute im kolonialen/ postkolonialen Kontext lesen. 25 Die Weichen für die weitere Herausbildung einer kritischen Bibelhermeneutik und Methodik sind damit gestellt. 3. Methodik und Hermeneutik: Ein komplexes Wechselverhältnis Fragen der Gerechtigkeit wie Klasse, Abstammung, gender, Kolonialisierung, Sexualität und dergleichen mehr kursieren in unseren Gesellschaften und halten sie in Atem. Die Themen scheinen sich regelrecht zu vervielfältigen. Wie bereits erwähnt bleibt die Bibelwissenschaft davon nicht unberührt. Ökologische Fragen gewinnen in jüngster Zeit erschreckend an Brisanz und fordern die internationale Gemeinschaft heraus. 26 Was für andere Gerechtigkeitsbewegungen galt, gilt auch hier: Bibelexegetinnen und -exegeten verhalten sich solchen Fragen und Herausforderungen gegenüber nicht indifferent. Die folgenden Ausführungen bieten eine knappe Einführung »Als Frauen aus mannigfaltigen Interpretationsräumen biblische Texte feministisch und kritisch auszulegen begannen, war gender nur eine unter vielen feministischen Analysekategorien, die sich für die Auslegung biblischer Texte als tragfähig erwiesen, um das Ziel einer befreienden Lektüre zu erreichen.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 68 - 4. Korrektur 68 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Hermeneutik und Vermittlung in ökologische Hermeneutik, eine Positionierung meines eigenen Ansatzes innerhalb dieses Rahmens, die Skizze einer geeigneten Methode für ökologische Bibellektüre und abschließend eine Interpretation von Mt 9,18-26 auf der Grundlage dieser Methode. Ich kann hier nicht en détail auf die Entstehung der beiden führenden Paradigmen innerhalb der ökologischen Bibelexegese und ihre Entwicklung in den letzten fünfzehn Jahren eingehen: den öko-kritischen Zugang, paradigmatisch vertreten durch die Arbeit von Norman Habel 27 und den sogenannten öko-theologischen Zugang, der üblicherweise mit den Arbeiten von David Horrell und seiner Forschergruppe an der Exeter University in Bezug gebracht wird. 28 Diese Forschungsansätze wurden bereits zur Genüge beschrieben. Vielmehr will ich zeigen, inwiefern meine eigene ökologische Hermeneutik und Lesart nahezu organisch aus einer feministischen (Gerechtigkeits-) Hermeneutik erwachsen ist, die sich über Jahrzehnte meiner bibelwissenschaftlichen und für Gerechtigkeit eintretenden Arbeit entwickelt hat. Die Erkenntnis, dass Frauen in biblischen Erzählungen oft nicht zur Sprache kommen oder vom Erzählverlauf ausgeschlossen werden, entsprechend ihrem Status in der damaligen Gesellschaft, war der Impetus für die Ausbildung einer feministischen Bibelhermeneutik-- in all ihren Schattierungen, wie sie durch die vielfältigen Mechanismen der Unterdrückung herausgefordert wurden. In Analogie dazu ließ die zunehmende Einsicht in das Schicksal des Planeten Erde mitsamt all seinen ander-menschlichen Bestandteilen ein ökologisches Bewusstsein aufkommen, das einige Bibelwissenschaftler und -wissenschaftlerinnen zur Ausbildung einer ökologischen Bibelhermeneutik führte. Für viele feministische Wissenschaftlerinnen, Val Plumwood (1993) wäre hier zu nennen, 29 gehören ein feministisches und ökologisches Bewusstsein essentiell zusammen, da beide auf ein für die westliche Welt und die meisten anderen Kulturen unseres Planeten charakteristisches dualistisches Denken reagieren. Es handelt sich um ein Denken in binären Gegensätzen wie männlich/ weiblich, Verstand/ Körper; Mensch/ Tier und dergleichen mehr. 30 Viele dieser Gegensätze prägen auch die Texte der Bibel und haben Einfluss auf die Wahrnehmung ihrer Interpreten. Hermeneutisch erfordert ökologische Sensibilisierung einen grundlegenden Wandel des Bewusstseins. Der Wechsel der Perspektive allein, weg vom androzentrischen Bezugssystem, das das patriarchale Bewusstsein geprägt hat, und das der Feminismus zu demontieren oder zu ersetzen bestrebt war, reicht nicht aus. Es bedarf eines weiteren Paradigmenwechsels, der die Wendung von einer anthropozentrischen Weltsicht, die für uns Menschen so charakteristisch ist, hin zu einer Weltsicht beschreibt, die anerkennt, dass unser Leben inmitten von anderem Leben (biotischem und abiotischem) sich ereignet, mit dem wir den Planet Erde teilen. Lorraine Code nennt diese Perspektive ökologisches Denken und sieht darin ein neues soziales Vorstellungsvermögen, ein neues Paradigma, mit meinen Worten: eine neue Hermeneutik, die in Analogie zur oben erläuterten feministischen und postkolonialen Hermeneutik sowohl Verdacht als auch Umgestaltung bzw. Protest erfordert. 31 Folgende Stellungnahme Code’s bringt dieses entscheidende Wechselverhältnis zwischen feministischer, postkolonialer und ökologischer Hermeneutik, das auch meinen eigenen Ansatz geprägt hat, zum Ausdruck. Sie schreibt: »Mit diesem Buch möchte ich zeigen, warum ein ökologisch umgestaltetes Wissenschaftsverständnis sich feministischen und anderen postkolonialen Denkerinnen und Denkern für die weitere wissenschaftstheoretische Reflexion anempfiehlt. Es bietet einen konzeptuellen Bezugsrahmen für eine antwortend-verantwortliche Erkenntnistheorie und Subjektivität.« 32 An späterer Stelle stellt Code wichtige Querverbindungen her zwischen den sich verändernden hermeneutischen oder interpretativen Perspektiven einerseits und den daraus gewonnenen Interpretationen und vielfältigen Aktionen andererseits, Verbindungen, die sie bereits an anderer Stelle im selben Aufsatz herstellt: »Es bedarf einer Vielzahl an Untersuchungen zu allen affinen und divergierenden Formen von Unterdrückung, vielfältige Forschungen, die ein und dieselbe Art von Unterdrückung von verschiedenen Standpunkten und aufgrund unterschiedlicher Vorannahmen in den Blick nehmen, Forschungen, die vielfältige Koalitionen und Formen des Aktivismus hervorbringen. Entscheidend ist ein Verständnis der Verbindungslinien, aus denen die ungezählten Formen von »Für viele feministische Wissenschaftlerinnen […] gehören ein feministisches und ökologisches Bewusstsein essentiell zusammen, da beide auf ein für die westliche Welt und die meisten anderen Kulturen unseres Planenten charakteristisches dualistisches Denken reagieren.« »Hermeneutisch erfordert ökologische Sensibilisierung einen grundlegenden Wandel des Bewusstseins.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 69 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 69 Elaine M. Wainwright »Das Wort G*ttes ist lebendig und wirksam« Unterdrückung innerhalb weißer, patriarchalischer, kapitalistischer Gesellschaften ihre sich gegenseitig verstärkende Kraft beziehen. Dann kann die Entwicklung von Strategien der Befreiung gelingen, die solche Zusammenhänge aufbrechen.« 33 Für mein Unterfangen einer ökologischen Lektüre des Matthäusevangeliums 34 ging es nicht nur darum, eine ökologische Hermeneutik zu konzipieren. Ich benötigte ebenso eine exegetische Methode, die eine derartige Lektüre bestmöglich beförderte. Bei meinen neuesten Projekten, insbesondere bei meiner Untersuchung zur Genderisierung von Heilung im frühen Christentum, 35 kam ich zu dem Schluss, dass eine verfeinerte Form der sozio-rhetorischen Methode, wie sie insbesondere von Vernon Robbins entwickelt worden war, sich für eine solche Lektüre als überaus zweckdienlich erwies. 36 Aus diesem Grund bin ich zu einer Methode zurückgekehrt, die sich für eine ökologische Lesart als tragfähig herausstellte. Was im Endeffekt dabei herauskam, ist eine wesentlich modifizierte Anwendung der von Robbins sukzessive ausgebauten sozio-rhetorischen Methodik, 37 in Verbindung mit einer Weiterentwicklung meines eigenen Ansatzes von 2006. Diese meine Methode nannte ich öko-rhetorisch. Wie auch der sozio-rhetorische Zugang ist meine öko-rhetorische Lektüre textbezogen und einem close reading des Textes verpflichtet. Das Schaubild fußt auf einem älteren von Robbins und wandelt dieses ab. 38 Im Zentrum der Interpretation steht der Text mit seinen sämtlichen Bedeutung erzeugenden Bestandteilen. Eigens hinzuweisen ist darauf, dass der Text von der antikmediterranen Welt bzw. Welt des Autors einerseits und der Welt des Interpreten/ Lesers andererseits in Anlehnung an Robbins durch gestrichelte Linien abgegrenzt ist. Dies trägt dem Umstand Rechnung, dass materielle Daten (reale Gegebenheiten, Sachverhalte) ebenso wie sprachliche Zeichen, die der antik-mediterranen Welt des Autors entstammen, sich außerhalb des Textes befinden, aber im Text encodiert werden und auf die intertextuelle und ökologische Struktur des Textes einwirken. Eine wichtige Änderung habe ich an Robbins’ Ansatz vorgenommen: Ich habe das, was er die »sozio-kulturelle Struktur« des Textes nennt, durch »ökologische Struktur« ersetzt. Dadurch will ich die Aufmerksamkeit auf die ander-menschlichen Charaktere im Text lenken, wie z. B. auf Tiere und Vögel, die materielle Beschaffenheit von Orten, Umgebungen und geografischen Räumen, ebenso auf das soziale Leben, welches, berücksichtigt man alle diese anderen Elemente und ihre Funktion innerhalb des Textes, um vieles komplexer ist, als wenn man allein den Faktor Mensch in den Blick nimmt. Die gestrichelten Linien sollen auch auf die Notwendigkeit einer kritischen Hermeneutik gegenüber den Ergebnissen der Analyse des antik-mediterranen Umfelds hinweisen, und ebenso gegenüber dem Text in seinen sämtlichen Texturen. Unter diesen methodischen und hermeneutischen Voraussetzungen wende ich mich nun unserem Text Mt 9,18-26 zu. 39 Dieses Schaubild ist eine abgeänderte Version des Schaubilds von Robbins. 40 4. Eine öko-rhetorische Lektüre von Mt 9,18-26 In Mt 9,18-26 werden die Lesenden mit zwei Heilungsgeschichten konfrontiert. Die eine (die Heilung einer am Blutfluss leidenden Frau) ist in die andere (die Auferweckung der Tochter eines archōn/ Vorstehers) eingeschaltet. Der Heiler, Jesus, ist männlich, die beiden Empfänger der Heilung sind weiblich. Erzählstrategisch sind beide Geschichten platziert im Wunderzyklus Kap. 8-9, der insgesamt zehn »Heilungsgeschichten« umfasst. Drei dieser Geschichten handeln von Frauen, so-- neben den beiden genannten-- auch Mt 8,14-15 (Die Heilung der Schwiegermutter des Petrus). Eine dieser zehn thematisiert die »Stillung« eines Seesturmes (8,23-27). Was die exegetische Arbeit an Mt 8-9 betrifft, so steht im Fokus der Aufmerksamkeit zumeist die Interaktion von Heiler und Empfänger der Heilung. Kaum Beachtung erfährt dagegen die materielle Verfasstheit der zu heilenden und geheilten Körper, ebenso wenig wie die Körper in ihrem Eingebettetsein in geografische, soziale und kulturelle (Lebens-)Räume. 41 Zu verweisen wäre an dieser Stelle auf die Forschungen von Jennifer Glancy, die einen maßgeblichen »Intertext« für eine ökologische Lektüre geheilter Körper bieten. Einer der Gründe, warum Wissenschaftler bei Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 70 - 4. Korrektur 70 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Hermeneutik und Vermittlung ihrer Erforschung frühchristlicher Texte der Materialität kranker und geheilter Körper kaum Beachtung schenken, ist nach Glancy folgender: »Es fehlt uns der Zugang zu antiken Körpern.« 42 Dem würde ich einen weiteren Grund hinzufügen: Aus der Sicht des Anthropozentrismus wird Stofflichem, Materiellem kaum Bedeutung beigemessen. Es ist diese Nicht-Beachtung, die aus Sicht einer ökologischen Hermeneutik zu kritisieren ist. Diese Kritik geht einher mit einer Neukonfigurierung des Textes, die die materielle und sozio-kulturelle Struktur von Mt 9,18-26 in enger Verflechtung mit seiner ökologischen Struktur liest. Seiner inneren Struktur zufolge beginnt der Text mit einer Zeitangabe: »Als er dies mit ihnen redete« 43 (9,18). Eine ökologische Lektüre wird damit zurückverwiesen an den Ort, an dem Jesus »diese Dinge« sagte, an den materiellen Ort, an dem sich Jesus aufhält, als diese spezielle Geschichte beginnt. Ein ähnlicher (topographischer) Rahmen findet sich in 9,10, wo es heißt, dass Jesus in dem Haus zu Tisch sitzt, eine Ortsangabe also, die eindeutig zu bestimmen scheint, um welches Haus es sich dabei handelt, obwohl es für die Lesenden/ Hörenden nicht klar ersichtlich ist, welches Haus damit genau gemeint ist. Eine Möglichkeit ist, dass Jesus immer noch in Kapernaum weilt, wie an früherer Stelle notiert wird (vgl. Mt 4,13). Dort zeichnete der Verweis auf Kapernaum in die ökologische Struktur des Textes die menschliche Gemeinschaft dieses blühenden Ortes ein, der im 1. Jh. n. Chr. am Ufer des Sees Genezareth lag, seine Bauten errichtet aus dem für diese Region typischen Basaltgestein, ebenso wie das komplexe Beziehungsgefüge aus menschlichen und ander-menschlichen Bewohner/ -innen dieses Lebensraumes mit seiner Fischerei- und Landwirtschaft. 44 In dieses Bild fügt sich auch Mt 9,1, wo es heißt, dass Jesus hinüberfuhr und »in seine Stadt« kam. Im Haus versammelt sind Jesus und seine Jünger, aber auch Zöllner und Sünder (9,10). Es ist genau dieses eindeutig identifizierte Haus mit seiner komplexen Sozialstruktur, in das »die Pharisäer« mit der Frage eindringen, warum Jesus mit Zöllner und Sündern isst (9,11). In eben diesem Haus wenden sich die Jünger des Johannes an Jesus mit der Fastenfrage (9,14). Dies ist der komplexe materiale und soziale Raum, der Interkontext, 45 in den ein anderer nun eindringt. Der Neuankömmling, der in diese komplexe Konfiguration eintritt, wird im Text durch idou kenntlich gemacht. 46 Wie erwähnt, handelt es sich dabei um einen archōn, einen Vorsteher, der im Zuge der Entfaltung unserer Geschichte in das bereits vielgestaltig organisierte soziale Gefüge eben dieses Hauses zu eben dieser Zeit eintritt. Das Wörterbuch von Bauer/ Aland gibt archōn mit »Herrscher, Herr, Fürst« bzw. »jemand, der einer Behörde angehört« wieder. 47 In Anknüpfung an Mk 5,22 identifizieren viele Ausleger diesen bei Matthäus genannten archōn als Synagogenvorsteher. Der Akzent scheint aber eher auf der Kennzeichnung der Autorität des archōn zu liegen als auf seiner institutionellen Zugehörigkeit. Es ist eben diese Autorität, die seiner Forderung, vielmehr: seinem gegenüber Jesus geäußerten Befehl, umso mehr Gewicht verleiht: »Komm und lege meiner Tochter die Hände auf, die gerade gestorben ist« (9,18). Gewiss ist Jennifer Glancy zuzustimmen, dass die bibelwissenschaftliche Perspektive keinen unmittelbaren Zugang zu antiken Körpern in ihrem Krank- oder Gesundsein eröffnet. Wir können aber feststellen, dass es der Körper dieser jungen, eben verstorbenen Frau ist, der in den Vordergrund der ökologischen Struktur dieses Textes encodiert ist. Seine materielle Verfasstheit ist schier mit Händen zu greifen. Verstärkt wird dies durch die Forderung des Vorstehers: »Komm und lege ihr die Hände auf sie, komm und berühre sie, so wird sie wieder lebendig.« Dies ruft der öko-rhetorischen Lektüre die außerordentlich feine Linie zwischen Leben und Tod in Erinnerung, die alles irdische Leben durchzieht und ganz leise scheint darin auch »das Göttliche« auf, dasjenige, das später in der Matthäusgeschichte »lebendiger G*tt« genannt wird (16,16). Die Forderung des Vorstehers ergeht sehr konkret an Jesus: Komm und lege ihr die Hände auf. Sie überschreitet »den Grenzbereich der Reinheitsvorschriften« 48 und könnte Jesus unrein machen. Das geäußerte Vertrauen richtet sich darauf, dass der Akt des Händeauflegens seitens des Heilers Jesus seine tote Tochter wieder zum Leben erwecken wird (»…so wird sie leben«). Dies zeugt von Kraft, von heilender Kraft, freigesetzt im materiellen Akt sich berührender Körper. Der Akt des Händeauflegens auf einen siechenden oder geschwächten Körper wird bereits in früheren Heilungsgeschichten als »Berührung« bezeichnet. Jesus streckt die Hand aus und berührt den Aussätzigen, der sogleich von seinem Aussatz rein gemacht wird (8,3); ebenso berührt er die Hand der Schwiegermutter des Petrus, sodass das Fieber sie verlässt (8,15). Es war Jacques Derrida, der die intime Wechselbeziehung aus Berühren und Berührtwerden untersuchte. 49 Beide Pole, so Derrida, gehören untrenn- »Aus der Sicht des Anthropozentrismus wird Stofflichem, Materiellem kaum Bedeutung beigemessen.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 71 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 71 Elaine M. Wainwright »Das Wort G*ttes ist lebendig und wirksam« bar zusammen: Durch die Innigkeit der Begegnung werden beide, der aktiv Berührende, und derjenige der passiv berührt wird, verändert. Es besteht Grund zu der Annahme, dass eben dieses Ereignis in der Forderung des Vorstehers vorweggenommen wird: Komm und lege ihr die Hände auf, komm und berühre sie, und sie wird wieder lebendig. In öko-rhetorischer Perspektive wird der Akt der Berührung nicht auf das Ereignis der Heilung von Mensch zu Mensch beschränkt. Berühren ist vielmehr ein äußerst bedeutungsträchtiges Medium der Beziehung zwischen menschlichen und ander-menschlichen Bewohnern der Erde-- Tieren, Pflanzen, Erde, Wasser und vielen anderen Elementen. Das heilende Potential der Berührung, für das diese matthäische Geschichte ein Beispiel bietet, kann als eine Art und Weise gedeutet werden, wie Emmanuel - der G*tt »mit uns« aus Mt 1,23- - nicht nur »mit« der menschlichen Gemeinschaft, sondern auch »mit« der ganzen Erde ist, im Sinne einer das ander-Menschliche umfassenden Gemeinschaft. Dies wird in V. 19 weiter veranschaulicht: Hier antwortet Jesus auf die Forderung des Vorstehers »Komm«: Jesus erhebt sich und folgt ihm. Über die bloße Feststellung hinaus sind intratextuelle Echos hörbar: Das Verb »folgen« erklingt aus dem Munde Jesu bei der Berufung seiner Jünger (vgl. Mt 4,19, 8,22; 9,9). Es wird gebraucht, um die Reaktion derjenigen zu beschreiben, die Jesu Einladung folgen (4,20.22; 8,23; 9,9); ebenso wird dadurch die Aktivität der Volksmenge(n) beschrieben, die sich zu Jesus halten, um seine Lehre zu hören und um seine Heilungen zu erleben (4,25; 8,1.10). Mit Blick auf Mt 9,20 ist es Jesus selbst, der »folgt« und damit die Einladung des archōn annimmt: Diese ergeht als ein Aufruf, Leben zu erneuern und am irdischen Prozess des »Werde, Stirb und Werde« mitzuwirken. Jesus, der Emmanuel, ist ein Jünger des »Mit-Seins« G*ttes, das ihn in die vielfältigen Begegnungen mit der Erde in allen ihren biotischen und abiotischen Teilen hineinruft. Die andere Geschichte dringt noch tiefer in dieses Folgen ein. 50 Gerade in ihrer Schlichtheit liegt die Stärke dieser Geschichte von der am Blutfluss leidenden Frau. Wie bereits in der vorangegangenen Geschichte der Vorsteher, so wird nun die Frau mit kai idou eingeführt. Beide Charaktere ziehen die Aufmerksamkeit der Lesenden auf sich. Während jedoch durch die Bezeichnung archōn Autorität und hoher Sozialstatus des Vorstehers kenntlich werden, wird die Frau lediglich über ihren Körper identifiziert: Sie litt seit zwölf Jahren an Blutungen. Die patriarchale und androzentrische naturhafte Gleichsetzung einer Frau mit ihrem Körper, die sich in dieser Identifikation niederschlägt, ruft die Hermeneutik des Verdachts auf den Plan. Einer so neu konfigurierten öko-rhetorischen Lektüre ist es dann möglich, das Augenmerk auf das körperliche Leiden der Frau zu richten. Es macht sich durch einen anhaltenden Blutfluss bemerkbar. Im Brennpunkt steht nun der Körper, Körperflüssigkeiten und die Art und Weise, wie die materielle Beschaffenheit des Körpers durch Krankheit gestört wird. Eine solche Lektüre kann in den Text alle menschlichen und ander-menschlichen Entitäten einzeichnen, deren Körper chronisch zerrissen sind. In der heutigen Zeit kann diese Zerrissenheit das Ergebnis von Pestiziden sein, die Erde und Wasser verseuchen, von gewaltsamem fracking der Erde zur Öl- und Gasgewinnung, von der Zerstörung von Lebensräumen und vielen anderen Gewaltakten, ausgeübt von einer menschlichen Gemeinschaft, die es versäumt, ihr Wechselverhältnis mit den ander-menschlichen Lebewesen zu pflegen, mit denen wir den Lebensraum Erde teilen. Das Handeln der Frau wird mit dem des archōn kontrastiert. Sie dringt nicht in Jesu Raum ein, noch bedrängt sie ihn fußfällig mit einer außergewöhnlichen Forderung. Vielmehr tritt sie von hinten an ihn heran, streckt die Hand aus und berührt den Stoff, den Saum von Jesu Gewand. Die Begegnung vollzieht sich in einem Aufeinandertreffen der Materien: Menschliches Fleisch trifft auf den gewebten Stoff von Jesu Gewand, samt seiner langen Geschichte von Pflanzenleben innerhalb eines Gabenaustauschs, der Leben inmitten des ander-Menschlichen erst möglich macht. 51 Die Frau spricht nur mit sich selbst, mit ihrem geplagten Körper: Könnte ich nur sein Gewand berühren, so werde ich gesund werden. Sie gebraucht das Verb »berühren«: »Wenn ich ihn nur berühre.« Und sie erkennt, dass eine solche Berührung Kraft besitzt: Ich werde genesen, werde »befreit« von Krankheit, 52 von zwölf Jahren des Leidens, meine Gesundheit, meine Ganzheit wird wieder hergestellt. Die Lesenden erfahren nicht, was genau ihre Berührung bei Jesus bewirkt, sondern nur, dass Jesus sich umdreht, sie ansieht und wiedergibt, was sie zu sich selbst gesagt hat, allerdings in leicht abgewandelter Form: »In öko-rhetorischer Perspektive wird der Akt der Berührung nicht auf das Ereignis der Heilung von Mensch zu Mensch beschränkt. Berühren ist vielmehr ein äußerst bedeutungsträchtiges Medium der Beziehung zwischen menschlichen und ander-menschlichen Bewohnern der Erde.« Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 72 - 4. Korrektur 72 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Hermeneutik und Vermittlung Sagte die Frau zu sich selbst, dass ein »Berühren«, die Berührung des Saumes von Jesu äußerem Gewand sie retten werde, so sagt Jesus, es sei ihr »Glaube«, der sie gerettet hat. Die bereits genannte Untersuchung von Elvey zum Motiv der »Berührung« anhand der Parallele Lk 8,43-48 erschließt den Effekt der von der Frau ausgehenden Berührung noch tiefer: »Obwohl die Frau sich offensichtlich fürchtet, ist die Berührung, die von der Frau ausgeht, ein kraftvolles Handeln mit heilender Wirkung. Sie nimmt die riskante Intersubjektivität des Berührens in Kauf, des Berührens eines Anderen. Sie wird nicht nur selbst berührt, indem sie ihn berührt, sondern der lukanische Jesus kommt durch die Berührung der Frau zu sich selbst.« 53 Bei dieser Begegnung wird noch ein anderer Sinn angesprochen, nämlich das »Sehen«. Wollte die Frau auch unsichtbar bleiben, so gerät sie doch in den Blick. Im Text heißt es, dass Jesus sie ansieht. Der öko-rhetorischen Lektüre erschließt sich die Kraft der menschlichen Sinne: Heilendes Berühren und Sehen, das andermenschliches Leben mit den Menschen teilt. Im gegenseitigen Berühren und Sehen ereignet sich Heilung: Von der Stunde an war sie »wiederhergestellt«. Eine derartige Heilung hat eine materielle und soziale Dimension, die sich in der ökologischen Struktur des Textes niederschlägt. Die Lesenden werden mit hineingenommen in den von Jesus ausgehenden Prozess der Heilung, der den rein menschlichen Bereich übersteigt und die ander-menschlichen Glieder gleichermaßen in sich aufnimmt. Dieser Prozess ereignet sich in der Zeit (zu dieser Stunde) und er ereignet sich an Ort und Stelle (Jesus folgt dem Vorsteher den Weg bis zu seinem Haus). Steht allein der Mensch im Fokus der Auslegung, wird das in höchstem Grade Bedeutung schaffende Potential aller im matthäischen Text enkodierten Zeichen eingeschränkt. Die innere Struktur des Textes führt die Lesenden zu der Gruppe zurück, die sich auf dem Weg zum Haus des Vorstehers befindet (V. 19). Sie kommen nun beim Haus des Vorstehers an, das als Ort des Todes beschrieben wird. Flötenspieler und Trauernde versetzen es in Aufruhr (9,23). Der öko-rhetorischen Lektüre entgeht nicht, dass die materielle Beschaffenheit des Hauses zugunsten der Konzentration auf die Sozialität, auf die menschliche Soziokultur, ganz ausgeblendet wird. An eben diesem Ort geschieht nun etwas Außergewöhnliches: Jesus diagnostiziert, was sich im Körper des Mädchens abspielt, und zwar weicht er darin von der Wahrnehmung des Vaters ab: Sie ist nicht gestorben, sondern sie schläft (9,24). An dieser Stelle kommt, was immer es mit der differenten Diagnose Jesu auf sich hat, die Beobachtung von Helen King zum Tragen, dass »Frauen krank sind und Männer ihre Körper (be) schreiben.« 54 Wie V. 25 deutlich macht, verlagert sich der Fokus der Aufmerksamkeit vom (Be)schreiben des Körpers des jungen Mädchens hin zum Engagement zugunsten ihres Körpers in seiner ganzen materiellen Verfasstheit. Wieder ist Berührung wichtig, insofern, als Jesus sie bei der Hand ergreift. Das in V. 25 verwendete Verb kratein kann an manchen Stellen das Ausüben von »Gewalt« oder »Herrschaft« bedeuten. 55 Dies kann als indirekter Hinweis auf eine zerstörerische Kraft verstanden werden, die zuvor Besitz vom Körper des jungen Mädchens ergriffen hat. Der Vater hatte Jesus aufgefordert, »ihr die Hände aufzulegen« (V. 18), damit sie wieder lebendig wird; dies klingt zwar weniger drastisch, doch weist auch das hier verwendete Hauptverb eine offensive Nebenbedeutung auf: »angreifen« oder »zusetzen, nachstellen«. 56 Kampf wirkt sich krankmachend auf die Körper aus, macht sie schwach und gebrochen, mindert Lebensfülle und zerstört Ganzheit. Eine öko-rhetorische Lektüre hat im Blick, dass ein derartiger Kampf und Gebrochenheit (Zerrissenheit) nicht nur die menschlichen Erdenbewohner umfasst. Jesu Begegnung mit dem Mädchen kulminiert darin, dass er sie aufrichtet. In der Sprache medizinischer Anthropologie wird sie samt ihrem Körper anhand einer neuen diagnostischen Beschreibungskategorie kenntlich. Sie wird auf dieselbe Weise benannt wie die Schwiegermutter des Petrus, nachdem sie Jesu Berührung erfahren hat: Beide werden »aufgerichtet«. In Mt 28,6 wird auch der Körper Jesu so beschrieben: Er wird aufgerichtet. Alle erfahren eine Transformation, die sich im Körper vollzieht und den Körper in seiner ganzen materiellen Verfasstheit verwandelt. Berührung hat die Sich-Berührenden transformiert: diejenigen, die aktiv berühren, wie auch diejenigen, die passiv berührt werden. Dasselbe Zusammenspiel von Anruf und Antwort kann auf den Bereich jenseits menschlicher Körper übertragen werden, auf jegliche materielle Begegnungen, dass sie Leben schaffen anstatt Tod zu bringen. »Der öko-rhetorischen Lektüre erschließt sich die Kraft der menschlichen Sinne: Heilendes Berühren und Sehen, das ander-menschliches Leben mit den Menschen teilt.« »Wie berühren wir, wenn Berührung ein Berühren und Berührtwerden ist? « Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 73 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 73 Elaine M. Wainwright »Das Wort G*ttes ist lebendig und wirksam« Diese Geschichte schließt nicht mit der menschlichen oder ander-menschlichen Heilung. Sie schließt mit der Erde selbst (tēn gēn). Die Kunde, das Erzählen von Heilungen, von menschlichen Körpern, die sich auf starke oder schwache Weise berühren oder berührt werden, verbreitet sich. In öko-rhetorischer Lesart lässt sich das Erzählte ausweiten auf die ganze Erde samt all ihren ander-menschlichen Gliedern, worin auch der menschliche Bereich enthalten ist. Es ist ganz so, als würde der Schlussvers für solch eine umfassende Lektüre einstehen. Er öffnet den Lesenden das Verständnis dafür, dass der Bericht über die Heilungen der beiden weiblichen Körper, die Berührung gegeben und von einem Anderen, dem Heiler Jesus, Berührung empfangen haben, in die weitere Umgebung vorgedrungen ist. Man kann die Wendung »in das ganze Land«/ eis holēn tēn gēn ekeinēn auf der Mikroebene des Textes lesen als Verweis auf das Gebiet, in dem die Heilungen stattgefunden und Transformationen sich ereignet haben (Mt 8-9; vgl. auch 4,23; 9,35). Eine Lektüre in öko-rhetorischer Perspektive aber nimmt im Text eine weitere Bedeutungsdimension wahr. Die Heilungsgeschichte des Evangeliums beschränkt sich nicht auf die menschliche Welt, sondern richtet sich an holēn tēn gēn, an die gesamte Erde. Alle Glieder der Erde, ja auch die Erde in ihrer Ganzheit vermag in und durch Begegnung geheilt zu werden, durch ein Berühren, das gleichzeitig ein Berührtwerden ist. Darin ist eine ethische Frage impliziert: Wie berühren wir, wenn Berührung ein Berühren und Berührtwerden ist? 5. Schlussbetrachtung Am Anfang dieses Beitrages stand die Einsicht in die Kraft von Geschichten. Anschließend wurde sukzessive deutlich, dass Geschichten so vielgestaltig sind wie die verwendeten Methoden und hermeneutischen Perspektiven. Mein persönlicher Weg als Matthäusforscherin, der mich durch mancherlei methodologische und hermeneutische Landschaften geführt hat, war und ist nicht minder vielgestaltig. Was mich dabei stets in Bewegung versetzt hat, waren die Schreie nach Gerechtigkeit, die in unserer Welt laut werden, und die Neuaufbrüche in der Interpretation matthäischer Texte, die dafür sorgen, dass ihre Geschichten »lebendig und wirksam« bleiben. Anmerkungen 1 Zur Umschreibung des Göttlichen verwende ich im Folgenden die Bezeichnung G*tt. Auf diese Weise will ich der buchstäblichen Unfassbarkeit des göttlichen Mysteriums Ausdruck verleihen. Insbesondere soll dadurch auch die Bedeutungsgrenze all derjenigen Gottesnamen aufgebrochen werden, die dieses Mysterium in anthropozentrischen Begrifflichkeiten wiedergeben und denen eine maskuline und imperiale Konnotation anhaftet (um nur auf zwei problematische Eigenschaften, die dem Göttlichen üblicherweise zugeschrieben werden, hinzuweisen). Verbunden ist damit die Hoffnung, dass diese Bezeichnung in unsere religiöse Vorstellungsweise eindringt und uns einlädt, das Göttliche in feministischer und ökologischer Perspektive neu zu denken. Mein Dank gilt an dieser Stelle Elisabeth Schüssler Fiorenza (vgl. dies., Jesus, Miriam’s Child, Sophia’s Prophet: Critical Issues in Feminist Christology, New York 1994, 191, Anm. 3), die mich auf diese Praxis aufmerksam gemacht hat. Das biblische Zitat im Titel ist Hebr 4,12 entnommen. 2 M. Mair, Psychology as Storytelling, International Journal of Personal Construct Psychology 1 (1988), 125-137, hier: 127. 3 Ich verwende das griechische basileia oder die Wortschöpfung »kin-dom« anstelle von »Königreich«, um den imperialen und geschlechtsspezifischen Sinngehalt dieser bedeutungsträchtigen und für die Evangelien zentralen Begrifflichkeit zu überwinden. 4 Eine noch radikalere Deutung dieser parabolischen Aussage (13,52) findet sich in einer kürzlich erschienenen ökologischen Auslegung, die das in V. 52 gebrauchte griechische Verb nicht mit »hervorholen«, sondern mit »hinauswerfen« wiedergibt, eine Übersetzung, die der Bedeutung des Verbs im Griechischen sehr nahekommt; vgl. dazu M.D. Nanos, Paul’s Reversal of Jews Calling Gentiles ›Dogs‹ (Philippians 3: 2): 1600 Years of an Ideological Tale Wagging an Exegetical Dog? , Biblical Interpretation 17 (2009), 448-482. 5 Einen guten Überblick über die methodologischen und hermeneutischen Entwicklungen der Matthäusforschung in den letzten drei bis vier Jahrzehnten bieten zwei neuere Veröffentlichungen: M.A. Powell, Methods for Matthew. Methods in Biblical Interpretation, Cambridge 2009; E. Wainwright/ R.J. Myles/ C. Olivares (Hg.), The Gospel according to Matthew: The Basileia of the Heavens is Near at Hand. Phoenix Guides to the New Testament, Sheffield 2014. 6 Vgl. D. Rhoads/ D. Michie (Hg.), Mark as Story: An Introduction to the Narrative of a Gospel, Philadelphia 1982. Eine zweite Auflage dieses Werkes erschien 1999, was für seine Bedeutung für die Evangelienforschung spricht: D. Rhoads/ J. Dewey/ D. Michie (Hg.), Mark as Story: An Introduction to the Narrative of a Gospel, Minneapolis 2 1999. 7 Vgl. J. D. Kingsbury, Matthew as Story, Philadelphia 1986. 8 Vgl. M. A. Powell, What is Narrative Criticism, Minneapolis 1990. 9 Vgl. W. D. Davies/ D.C. Allison (Hg.), The Gospel According to Saint Matthew: A Critical and Exegetical Commentary, ICC, 3 Vols, Vol. 2, Edinburgh 1991, 123-133. Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 74 - 4. Korrektur 74 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Hermeneutik und Vermittlung 10 E.M. Wainwright, Towards a Feminist Critical Reading of the Gospel according to Matthew (BZNW 60), Berlin 1991, 92. Der Kollegin und Matthäusforscherin Amy-Jill Levine gilt an dieser Stelle mein Dank: Nicht nur die Gespräche mit ihr waren ertragreich für meine Forschungen, sondern auch ihre kritische Auseinandersetzung mit einer meiner Interpretationen aus einer frühen Auslegungsphase, die diese beiden jüdischen Frauen in ihrem Verhältnis zur Tora behandelt; vgl. A. J. Levine, Discharging Responsibility: Matthean Jesus, Biblical Law, and Hemorrhaging Woman, in: A.J. Levine/ M. Blickenstaff (Hg.), A Feminist Companion to Matthew, Sheffield 2001, 70-87. 11 Zwei Forscher, die diesen Ansatz im Rahmen der Matthäusforschung zur Anwendung gebracht haben, sind Jerome Neyrey (vgl. ders., Honor and Shame in the Gospel of Matthew, Louisville 1998) und Denis Duling (vgl. ders., A Marginal Scribe: Studies of the Gospel of Matthew in Social-Scientific Perspective, Matrix: The Bible in Mediterranean Context, Eugene 2012). Bei ihrer Analyse des sozio-kulturellen Kontextes des Matthäusevangeliums bedient sich allerdings keiner der beiden einer feministischen Kritik. 12 E. Schüssler Fiorenza, Wisdom Ways: Introducing Feminist Biblical Interpretation, Maryknoll 2001, 147. 13 Vgl. Ph. Trible, God and the Rhetoric of Sexuality, Philadelphia 1978. 14 Vgl. E. Schüssler Fiorenza, In Memory of Her: A Feminist Theological Reconstruction of Christian Origins, New York 1983. 15 E. Schüssler Fiorenza, In Memory of Her (Anm. 14), 33. 16 Denn Gleiches gilt für eine ökologische Lesart des Bibeltextes, die ich später noch ausführlicher entfalten werde: Auch hierfür reicht es nicht aus, sein Augenmerk auf Texte zu richten, deren ökologischer Anknüpfungspunkt offen zutage liegt (z. B. durch die Nennung von Vögeln, Luft und den Lilien auf dem Feld). Die in ökologischer Perspektive Lesenden müssen vielmehr alle Texte ökologisch wahrnehmen, ebenso wie die in feministischer Perspektive Lesenden alle Texte durch die feministische Brille lesen. Letzteres ist das Leitthema der Wisdom Commentary Series, einer feministischen Kommentarreihe, die von Barbara Reid herausgegeben wird und bei Liturgical Press erscheint (vgl. http: / / wisdomcommentary.org). 17 Vgl. z. B. Schüssler Fiorenza, In Memory of Her (Anm. 14), 60-64; vgl. dazu auch meine eigene »kreative Erinnerung« von Martha und Maria in: E. Wainwright, Women Healing/ Healing Women: The Genderization of Healing in Early Christianity, London 2006, 180-182. 18 Vgl. E. Schüssler Fiorenza, Bread Not Stone: The Challenge of Feminist Biblical Interpretation with a New Afterword, Boston 1995, 174. 19 Für einen ausführlicheren Überblick zum breiten Spektrum feministischer Lektüren des Matthäusevangeliums vgl. E. Wainwright/ R.J. Myles/ C. Olivares (Hg.), The Gospel according to Matthew (Anm. 5), 40-52. 20 E.M. Wainwright, Towards a Feminist Critical Reading (Anm. 10), 212 f. 21 Vgl. R. Braidotti, Nomadic Subjects: Embodiment and Sexual Difference in Contemporary Feminist Theory, New York 1994. 22 Vgl. E. M. Wainwright, Shall We Look for Another? A Feminist Rereading of the Matthean Jesus, Maryknoll 1998, 2 f.; 16; 19. 23 Vgl. ebd. 24 Vgl. A. J. Levine, Discharging Responsibility (Anm. 10). 25 Vgl. M. W. Dube, Postcolonial Feminist Interpretation of the Bible, St. Louis 2000; und, als Anwendungsbeispiel, dies., Markus 5,21-43 in vier Lektüren. Narrative Analyse-- postcolonial criticism-- feministische Lektüre-- HIV/ AIDS, ZNT 33 (2014), 12-23. Bei Mk 5,21-43 handelt es sich um die Markusparallele zu Mt 9,18-26, dem Schwerpunkttext dieses Artikels. 26 Vgl. diesbezüglich IPCC, 2014: Climate Change 2014: Synthesis Report. Contribution of Working Groups I, II and III to the Fifth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change [Core Writing Team, R.K. Pachauri and L.A. Meyer (eds.)]. IPCC, Geneva, Switzerland, 151 S., http: / / www.ipcc.ch/ report/ ar5/ syr/ ; Zugriff am 18. 06. 2015. Dies ist wohl eine der dringlichsten ökologischen Aufgaben, die heute die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft erfordert, wenn auch sicher nicht die einzige. Eine Bemerkung am Rande: Zu exakt derselben Zeit, als ich diesen Artikel verfasste, gab Papst Franziskus seine Enzyklika zu Klimawandel und ökologischen Problemen unter dem Titel »Laudato Si« heraus: http: / / w2.vatican.va/ content/ francesco/ en/ events/ event.dir.html/ content/ vaticanevents/ en/ 2015/ 6/ 18/ laudatosi.html; Zugriff am 20. 06. 2015. 27 Vgl. N. C. Habel, Introducing Ecological Hermeneutics, in: Norman C. Habel/ Peter Trudinger (Hg.), Exploring Ecological Hermeneutics, SBL Symposium Series 46, Atlanta 2008, 1-8. 28 Vgl. D. G. Horrell, Introduction, in: D.G. Horrell/ C. Hunt/ Chr. Southgate/ F. Stavrakopoulou (Hg.), Ecological Hermeneutics: Biblical, Historical and Theological Perspectives, London 2010, 1-12. 29 Vgl. V. Plumwood, Feminism and the Mastery of Nature. Feminism for Today, London 1993. 30 Vgl. Plumwood, Feminism (Anm. 29), 43. 31 Vgl. L. Code, Ecological Thinking: The Politics of Epistemic Location, Studies in Feminist Philosophy, Oxford 2006. 32 Vgl. Code, Ecological Thinking (Anm. 31), 21. Als Beispiel für ein früheres Entwicklungsstadium dieser wechselseitig aufeinander bezogenen Lektüreperspektiven in Anlehnung an eine stärker entfaltete ökologische Hermeneutik vgl. E. M. Wainwright, Women Healing (Anm. 17), 11-23. 33 Code, Ecological Thinking (Anm. 31), 199. 34 Vgl. hierzu-- abgesehen von diesem Artikel-- auch mein in Kürze erscheinendes Werk: E.M. Wainwright, Habitat, Human and Holy: The Earth Bible Commentary on the Gospel of Matthew (Erscheint bei: Sheffield Phoenix Press). 35 Vgl. Wainwright, Women Healing (Anm. 17). Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 75 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 75 Elaine M. Wainwright »Das Wort G*ttes ist lebendig und wirksam« 36 Vgl. E. M. Wainwright, Women Healing (Anm. 17), 24- 30. 37 Vgl. E. M. Wainwright, Images, Words, Stories: Exploring Their Transformative Power in Reading Biblical Texts Ecologically, Biblical Interpretation 20 (2012), 280-304, hier: 294-302. 38 Vgl. V. K. Robbins, Exploring the Texture of Texts, Valley Forge 1996, 21. 39 Ausführlicher äußere ich mich zu meiner ökologischen Hermeneutik und Methodologie in: Wainwright, Images, Words, Stories (Anm. 37), 280-304. 40 Vgl. Robbins, Exploring the Texture of Texts (Anm. 38), 21. 41 Neuere sozialwissenschaftliche Untersuchungen zum Thema Heilung im Neuen Testament zeigen, dass der Vollzug der Heilung in ein komplexes Netz aus körperlichen, sozio-kulturellen und symbolischen Elementen eines Gesundheitssystems eingebettet war. Vgl. dazu H. Avalos, Health Care and the Rise of Christianity, Peabody 1999; ebenso J.J. Pilch, Healing in the New Testament: Insights from Medical and Mediterranean Anthropology, Minneapolis 2000. Solche Untersuchungen sind für ökorhetorische Lektüren wichtige Dialogpartner. Der Begriff »Lebensraum« (engl. habitat) in seiner Komplexität und Bedeutungsvielfalt stellt für meine öko-rhetorische Lektüre eine entscheidende Analysekategorie dar. 42 J.A. Glancy, Jesus, the Syrophoenician Woman and Other First Century Bodies, Biblical Interpretation 18 (2010), 342-363, hier: 347. 43 Die Übersetzung des neutestamentlichen Textes ist hier (wie auch im Folgenden) an den Text der Revidierten Lutherbibel (1984) angelehnt. 44 Vgl. D. R. Edwards, Identity and Social Location in Roman Galilean Villages, in: J. Zangenberg/ H.W. Attridge/ D.B. Martin (Hgg.), Religion, Ethnicity, and Identity in Ancient Galilee (WUNT 210), Tübingen 2007, 357-374, hier: 366; 373 f. 45 Ich gebrauche diesen Terminus in Wainwright, Images, Words, Stories (Anm. 37), 301 »… um die komplexe Reziprozität von Autor-Text-Leser in und mit dem Lebensraum als Ort darzustellen, den es in ökologischer Lesart kennenzulernen gilt, wie auch als Ort, der neue Erkenntnisse eröffnet.« 46 Vgl. dazu W. Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments, 6. völlig neubearb. Aufl. hg. v. Kurt Aland und Barbara Aland, Berlin 1988, 753 f.: der Ausdruck idou ist üblicherweise mit »Sieh, Sehet« wiederzugeben. Er zielt darauf, »die Aufmerksamkeit d[er] Hörer o[der] Leser zu erregen« oder »um etwas Neues einzuleiten«. 47 Vgl. BAA (Anm. 64), 227 f. 48 Wainwright, Women Healing (Anm. 17), 147; 226 (Anm. 29). 49 Vgl. A. F. Elvey, The Matter of the Text: Material Engagements between Luke and the Five Senses (Bible in the Modern World 37), Sheffield 2011, 78 f., wo Derridas These kurz diskutiert wird. 50 Für eine wesentlich detailliertere Analyse zu diesen ineinander verwobenen Geschichten, wie auch zu ihren augenfälligen Strukturparallelen im Matthäusevangelium, vgl. Wainwright, Towards a Feminist Critical Reading (Anm. 10), 177-215; dies., Women Healing (Anm. 17), 146-153. 51 Zum Begriff »Gabenaustausch« vgl. die Untersuchung von A. Primavesi, Gaia’s Gift, London 2003. 52 Vgl. BAA (Anm. 46), 1591 f. 53 Vgl. Elvey, The Matter of the Text (Anm. 49), 79. 54 H. King, Hippocrates’ Woman: Reading the Female Body in Ancient Greece, Cambridge 1999, 246. 55 Vgl. BAA (Anm. 46), 910 f. 56 Vgl. BAA (Anm. 46), 613 f. Vorschau auf Heft 37 »Perspektiven des Jüdischen« Mit Beiträgen von: Rainer Kampling, Steve Mason, Dagmar Börner-Klein, Manuel Vogel, James D. G. Dunn, Tobias Nicklas und Martin Rothgangel Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 76 - 4. Korrektur 76 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Buchreport Robert J. Myles The Homeless Jesus in the Gospel of Matthew (The Social World of Biblical Antiquity, Second Series 10) Sheffield: Sheffield Phoenix Press, 2014 236 Seiten, gebunden ISBN 978-1-909697-38-6 Preis: 70,00 € »Nicht zumutbar«-- in eine Decke eingehüllt liegt ein Obdachloser schlafend auf einer Parkbank, den Sitzbänken New Yorks nachgebildet. Einzig die beiden Füße sind klar erkennbar. Füße, die unter einer viel zu kurzen Decke herausragen. Füße, an denen nicht der Staub eines freien Vagabundenlebens klebt, sondern der Dreck eines entbehrungsreichen Lebens. Erst die Wundmale an den Füßen geben dem Betrachter den Hinweis, dass Jesus der Obdachlose ist. Die Reaktionen, die der Künstler auf seine lebensgroße Bronzeskulptur zu hören bekommt, sind eindeutig: »Nicht zumutbar«. Ob der Staub, den dieses Kunstwerk aufgewirbelt hat, in die Augen von Robert J. Myles geflogen ist und ihn zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Obdachlosigkeit Jesu in seiner Dissertationsschrift »The Homeless Jesus in der Gospel of Matthew« angeregt hat, bleibt im Raum der Vermutungen. Aber zumindest haben beide, US-amerikanischer Künstler und australischer Neutestamentler, das Thema Obdachlosigkeit in den Fokus des jeweiligen Werkes gestellt. So wie der Künstler provozieren und zum Nachdenken anregen will, provoziert auch Myles in seiner Dissertationsschrift mit der These, dass Jesu Obdachlosigkeit nicht im Sinne einer selbstgewählten Lebensweise eines Wandercharismatikers zu verstehen ist. Vielmehr entlarvt Myles diese Sichtweise als eine romantisierende Interpretation von Jesu Heimatlosigkeit wie sie in den Evangelien narrativ entfaltet wird. In seinem ersten und umfänglichsten Kapitel unter der Überschrift »Homelessness and Ideology« zeigt Myles, warum diese idealisierende Interpretation von Jesu Nichtsesshaftigkeit einzig und allein als eine neoliberale Spielart des Verständnisses von Obdachlosigkeit zu gelten hat. Hierzu bedient sich Myles des »realm of ideological biblical criticism«. Diese ideologische Bibelkritik ist weniger als ein methodischer Zugang zu verstehen, sondern sei vielmehr »a form of criticism that seeks to uncover and promote rhetorical agendas within the variables of biblical interpretation: the author, the text, and the reader« (16). Dabei speist sich die ideologische Bibelkritik von Myles im Wesentlichen aus den postmarxistischen und lacanschen Gedankengängen des slowenischen Avantgardephilosophen Slavoj Žižek. Da gegenwärtig im Gegensatz zum angelsächsischen Gebiet im deutschsprachigen Raum eine aktuelle Auseinandersetzung mit (post-)marxistischen Theorieansätzen beinahe vollständig im Rahmen der Bibelwissenschaften fehlt, sind diese Ausführungen mit Gewinn zu lesen. Was vielleicht am klarsten nach der Lektüre des ersten Theoriekapitels der Dissertation von Myles wird, ist die Destruktion des Neutralen. Der konsequente postmarxistische Blick auf biblische Texte im Gefolge von Slavoj Žižek zeigt in aller Deutlichkeit, dass es keine Neutralität und Unparteilichkeit bei der Interpretation neutestamentlicher Texte gibt. Ja, die Möglichkeit einer neutralen Position wird überhaupt bestritten. Myles überführt die gegenwärtige Exegese einer ideologischen Blauäugigkeit, die unter dem Verdikt der Objektivität das Thema Obdachlosigkeit Jesu behandelt. Stattdessen zeigt seine Studie auf, wie sich in den vergangenen 40 Jahren eine neoliberale Sichtweise bis in die Interpretation biblischer Texte hinein ausgewirkt hat. Denn nach Myles blendet der romantisierende Blick der westlichen Bibelwissenschaften auf einen von Jesus frei gewählten Lebensstil als umherziehender Wandercharismatiker völlig die realen gesellschaftlichen Gegebenheiten aus. Demgegenüber sei vielmehr die Obdachlosigkeit Jesu ganz im Gefolge von Žižek als ein Symptom zu verstehen, das als ein Produkt der strukturellen Defizite innerhalb des sozio-politischen Gefüges von Palästina im 1 Jh. n. Chr. anzusehen ist. Damit wird Jesu Obdachlosigkeit zu einem ausgezeichneten Element, das-- so zeigen es die weiteren exegetischen Ausführungen von Myles-- für eine doppelte Falschheit des Ganzen einsteht. Nämlich für die Falschheit einer neoliberal geprägten westlichen Exegese sowie für die Falschheit der vorfindlichen soziopolitischen Strukturen im antiken Palästina zur Zeit Jesu. Was in den kommenden fünf Kapiteln folgt, ist eine detaillierte Untersuchung der relevanten Textstellen zu Jesu Obdachlosigkeit im Matthäusevangelium. Dabei wird der Text des Matthäusevangeliums in der in Kapitel 1 dargelegten ideologie-kritischen und anti-neoliberalen Lesart reinterpretiert. Das geografische Gliederungsprinzip des Evangeliums wird von Myles zu einer Topografie der Obdachlosigkeit umgeschrieben. Unter der Überschrift »Displacement« wird Mt 2,13-23 untersucht (52- 81). Myles exegetische Ausführungen zielen auf ein Verständnis der Geschichte von der Flucht nach Ägypten, die eine erzwungene Verdrängung in den Mittelpunkt stellt, so dass in der Konsequenz Mt 2,13-23 »frames homelessness as an objective reality, inseparable from external political and social pressures« (81). Unter der Überschrift »Reaction« wird Jesu erstes öffentliches Auftreten und Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 77 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 77 seine Rede von der basileia Gottes als eine Gegenerzählung interpretiert, die die vorhandene, real existierende Gesellschaftsordnung umkehrt (82-111). Das 4. Kapitel »Destitution« widmet sich im Wesentlichen Mt 8,20. Myles Exegese weist Jesus als denjenigen aus, der in der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung keinen Platz hat. Jesus wird in der Lesart von Myles zu einem »Teil«, das keinen Anteil an den vorhandenen sozio-ökonomischen Strukturen hat (112-134). Im nächsten Kapitel-- »Rejection«-- zeigt der Autor auf, wie dieses Ausschlussverfahren sich auch auf den Weg Jesu ausweitet und letztendlich in Verrat und Verwerfung mündet (135- 162). Das letzte exegetische Kapitel mit der Überschrift »Extermination« zeigt einen matthäischen Jesus, dessen Tod am Kreuz der erwartbare Höhepunkt einer Exklusions- und Isolationsgeschichte ist, deren Strukturmerkmal die Obdachlosigkeit Jesu ist: »…the extermination of an expendable excess to the normal functioning of the economic order fails to account for its own complicity in producing those who fall outside of the system« (190). Mit frischem und parteiischem Blick auf ein Thema, das mit Aktualität in unser gegenwärtiges Zeitgeschehen drängend hineinragt, werden durch Myles Arbeit neue Einsichten in das Matthäusevangelium ermöglicht. In aller Deutlichkeit zeigt der Autor dabei auf, dass es keine ideologiefreie Interpretation biblischer Texte gibt. Wer das nicht anerkennen mag, wird sich mit der Lektüre des Buches »The Homeless Jesus in the Gospel of Matthew« schwer tun und auch Myles Werk-- wie das des eingangs erwähnten Künstlers- - für nicht zumutbar halten. Dennoch trifft auch für Myles Arbeit an mehreren Stellen die Feststellung von Terry Eagleton zu: »[…] Ideologie (ist) wie Mundgeruch immer das, was die anderen haben.« (rez. von Kristina Dronsch) Matthias Konradt Das Evangelium nach Matthäus (Das Neue Testament Deutsch Neues Göttinger Bibelwerk-- Neubearbeitungen - Band 001) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht Academic 2015 XVI, 507 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-51341-5 Preis: 49,99 € In der Vergangenheit sind eine ganze Reihe hochwertiger Kommentare zum Matthäusevangelium im deutschsprachigen Raum erschienen, die sehr unterschiedliche Schwerpunkte bei der Auslegung setzten. Der monumentale vierbändige Kommentar von Ulrich Luz (1985 ff.) zum Beispiel bezog die Wirkungsgeschichte des Textes konsequent in die Auslegung ein; der zweibändige Kommentar von Hubert Frankemölle (1994 ff ) arbeitete rezeptionsästhetisch; einen Schwerpunkt auf im jüdisch-christlichen Gespräch behandelte Themen setzte der Kommentar von Peter Fiedler (2006), der insbesondere die jüdische Perspektive des Textes herausstrich und Rupert Feneberg sah das Matthäusevangelium als eine Schrift für eine heidenchristliche Gemeinde neben der Synagoge an und stellte seinen Kommentar (2009) unter diese Leitperspektive. Nun ist in der Reihe »Das Neue Testament Deutsch« der Kommentar des Heidelberger Ordinarius Matthias Konradt (im Folgenden K.) erschienen. Der Klappentext verspricht, dass in diesem Kommentar »zusammen mit der kompositorischen Gestaltung und den dichten Bezügen auf das Alte Testament besonders die theologische Linienführung herausgearbeitet« werde. Mit 507 Seiten Umfang legt K. den umfangreichsten Band der bisher erschienenen Neubearbeitungen in der Kommentarreihe NTD vor. Den Vorgaben der Reihe gemäß kommt das Buch ohne griechische Schrift und ohne Anmerkungen aus. Gelegentliche Hinweise auf die Fachliteratur werden mit Kurztiteln eingestreut, ausgewählte Literaturhinweise und ein umfangreiches Stellenregister runden den Band ab. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur hat K. in seiner gewichtigen Monographie zur Ekklesiologie des Matthäusevangeliums »Israel, Kirche und die Völker im Matthäusevangelium (WUNT 215), Tübingen 2007« sowie in einer ganzen Reihe von Aufsätzen zum Matthäusevangelium vorgelegt; hier konzentriert er sich nun ganz auf den biblischen Text. Vor der Kommentierung der einzelnen Perikopen findet sich eine kurze Einleitung in Grundfragen der Matthäusexegese, in denen K. seine Sicht der Dinge bündig zusammenfasst (1- 24). K. sieht im Matthäusevangelium einen in den 80er Jahren des 1. Jh.s vermutlich in Südsyrien entstandenen Text eines christusgläubigen Juden, der für eine mehrheitlich jüdisch geprägte Adressatenschaft schreibt, die sich in einem bedrängenden Konflikt mit ihrer jüdischen Umwelt befindet (17-24). Vor diese Einleitungsfragen stellt K. jedoch einige Überlegungen zu Grundcharakteristika und theologischen Themen des Matthäusevangeliums, wodurch die Schwerpunktsetzung des Kommentars bereits klar erkennbar wird. Das Matthäusevangelium ist, wie K. richtig sieht, ein sorgfältig durchkomponiertes Ganzes mit zahlreichen intertextuellen Bezügen. Textwahrnehmungen, die Matthäus lediglich für einen Tradenten oder Redaktor seiner Quellen halten, scheiden so von Vornherein aus. K. schlägt eine Gliederung in sechs gleichberechtigte Teile (1,2- 4,16/ 4,17-11,1/ 11,2-16,20/ 16,21- 20,34/ 21,1-25,46/ 26,1-28,20) vor, die im Kommentar mit römischen Ziffern gezählt werden. Als besonders bedeutsa- Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 78 - 4. Korrektur 78 ZNT 36 (18. Jg. 2015) Buchreport me theologische Themen nennt K. die Christologie, die Ekklesiologie und das Schriftverständnis. Diese drei Themen werden zu Leitlinien seiner Auslegung. Die intra- und intertextuellen Bezüge arbeitet K. bei jeder Perikope extensiv heraus. Die Auslegung jeder Perikope beginnt mit kurzen Hinweisen zur Gliederung des Teiltextes und zur Quellenkritik, die aber nur dann ausführlicher in den Blick genommen werden, wenn sich dadurch die Schwerpunktsetzungen des matthäischen Textes besser erkennen lassen. Weitaus mehr Aufmerksamkeit erhalten die Querverweise innerhalb des matthäischen Textes, die sorgfältig nachgezeichnet werden, so dass der Text als ganzer stets im Blick bleibt. Bezüge auf die Schrift, aber auch auf disparate Traditionen aus frühjüdischen Schriften werden ausgiebig notiert, und häufig werden die intertextuellen Bezüge für ein Verstehen des matthäischen Textes ausgewertet. Beispielhaft ist etwa die Einordnung der sog. »Antithesen« (5,21-48) in die frühjüdischen Diskussionen der Zeit, durch die deutlich wird, dass es sich hier um Toraauslegung Jesu im Rahmen der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Auslegungen von »Pharisäern und Schriftgelehrten« handelt, nicht etwa um eine Ablösung der Tora durch die Lehre Jesu (79). An anderen Stellen kommt die Auswertung der Schriftbezüge dem begrenzten Umfang des Kommentars geschuldet etwas zu kurz. Die zahlreichen Stellenangaben aber regen hier zum vertiefenden Studium an. In der Versuchungserzählung (4,1-11) oder in der Episode von der Flucht der Hl. Familie nach Ägypten (2,13-15) haben die Schriftbezüge ja eine theologische Funktion und dienen nicht nur dazu, der Erzählung »biblisches Kolorit« zu verleihen (so 44.55-- ähnlich 186 [zu 11,21-24]). Ein großer Verdienst des Kommentars ist es, den Nachweis zu führen, dass Matthäus die theologischen Traditionen Israels aufnimmt und seine ethische Unterweisung positiv an die Tora anbindet, um mit seiner »Gesetzesauslegung den hinter [- wieso ›hinter‹? O.R.] den Geboten stehenden Gotteswillen umfassend« aufzudecken (16). Dazu bedient sich Matthäus einer Hierarchisierung der Toragebote, wie dies auch aus dem Diasporajudentum bekannt ist. K. unterstreicht zu Recht, dass die Kirche Israel nicht »ersetzt«, sondern den Gottesvolkgedanken transformiert und universalisiert. In diesem Zusammenhang betont K. allerdings stark, dass die Gemeinde »die wahre Sachwalterin der theologischen Traditionen Israels« (2) sei, die »einzig legitime Sachwalterin« (13) und Jesus für Matthäus »der eine, der den Menschen den Willen Gottes auf der Basis von Tora und Propheten […] erschlossen hat« (76). Wenn das in dieser Exklusivität zutrifft, dann tut Matthäus doch nichts anderes, als dass er »dem Judentum das Alte Testament wegnimmt«, wie dies schon Ulrich Luz in aller Klarheit auf den Punkt gebracht hat (Die Erfüllung des Gesetzes bei Matthäus, in: ZThK 75 (1978) 398-435, hier: 427). Diesem Ausschließlichkeitsanspruch entspricht, dass K. 5,20 als einen Satz über den »Heilsausschluss« der Pharisäer und Schriftgelehrten versteht (76); auch 21,31 (»Amen, ich sage euch, dass die Zöllner und die Huren euch vorangehen in das Reich Gottes«) versteht K. so, dass das »›Tor‹ zum Himmelreich […] geschlossen wird, bevor die Autoritäten eintreten können« (331); und auch in 23,2 f. findet K. keinen Hinweis auf eine prinzipiell anerkannte Halacha der Pharisäer und Schriftgelehrten, sondern sieht hier lediglich die soziale Realität konstatiert und wertet 23,3a (»Alles nun, was sie euch sagten, tut und haltet«) als ironische Aussage (355). Hier ist zu fragen, ob dieser schrifthermeneutische Ausschließlichkeitsanspruch mit dem Signum der Endgültigkeit exegetisch zutrifft, oder nicht spätere ekklesiologische Überlegungen in den Text zurückprojiziert. Auf der Ebene des Matthäusevangeliums findet doch die polemisch überzeichnete Auseinandersetzung mit den jüdischen Gegenspielergruppen noch innerhalb der jüdischen religiösen Kultur statt. Weder exegetisch noch ethisch taugen die gegnerischen Autoritäten als Vorbilder und bedürfen der Umkehr (3,7 f.; 4,17 u. ö.). Aber der Streit wird in Israel um der Zukunft Israels willen geführt-- und dazu gehören nach wie vor auch die Gegner, die für sich allerdings keine Privilegien mehr beanspruchen können. Sachlich geht es nach der Zerstörung Jerusalems deswegen nun darum, sich in handlungsorientierter Perspektive neu auf den Willen Gottes auszurichten und die »bessere Gerechtigkeit« (5,20) zu praktizieren. Auch gegenüber anderen Schriften des frühen Christentums erhebt laut K. das Matthäusevangelium einen Alleinanspruch. Insbesondere im Blick auf eine seiner beiden Hauptquellen sei das Evangelium »markuskritisch, wenn nicht […] antimarkinisch« (21), das gelte im Blick auf die Christologie, das Toraverständnis und die Rolle der Jünger. Matthäus schreibt also seinen Text, um das Markusevangelium zu verdrängen. Das ist ohne Frage eine bedenkenswerte These. Das Matthäusevangelium ist ein kirchliches Evangelium, die Ekklesiologie spielt in ihm bereits eine wichtige Rolle, und die geschilderte Situation der Jünger ist transparent auf die Situation der matthäischen Gemeinde. K. legt in seiner Auslegung einen Schwerpunkt auf dieses Thema und kann eine pointierte Wahrnehmung des matthäischen Textes vorlegen. »Der Bau der ecclesia ist […] für Matthäus ein Werk des Auferstandenen« (262), durch das die Heilsgemeinde entsteht, die mit der Jüngerzelle in Israel beginnt und nachösterlich für Menschen aus allen Völkern offensteht. Den scheinbaren Widerspruch zwischen 10,6 und 28,19 löst K. chronologisch auf: Während vor Ostern der »Radius der Mission« begrenzt ist (162), beginnt der universale »Bau der Kirche […] ›erst‹ mit der nachösterlichen Sendung« Jesu, wobei auch die Sammlung Israels Aufgabe der Jünger bleibt (464). Interpretationen, wonach Israel nach Ostern ausgeschlossen werde, weist K. deswegen scharf zurück (463f ). Das Thema Ekklesiologie macht K. zu einem Leitthema seiner Auslegung, daher erhält die Auslegung der einschlägigen Stellen (16,13-20; 18,15- 20; 26,17-29) besonderes Gewicht. Der souveräne Einsatz theologischer Fachsprache macht den Kommentar anschlussfähig für Diskussionen in anderen theologischen Fächern und hält so wichtige Impulse für kirchliches Denken bereit. Was z. B. könnte es bedeuten, »dass Kirche für Matthäus wesenhaft missionarisch ist« (12)? Ohne Frage ist auch die Christologie ein zentrales Thema im Matthäusevan- Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 13.11.2015 - Seite 79 - 4. Korrektur ZNT 36 (18. Jg. 2015) 79 gelium, das schon in 1,1 eindrucksvoll angeschlagen wird. K. arbeitet sorgfältig heraus, dass Matthäus die davidische Messianität Jesu zu einem Leitmotiv seiner Jesusgeschichte macht, und wie er das Nebeneinander von Davids- und Gottessohnschaft Jesu entfaltet (7). Der soteriologisch bedeutsame Tod Jesu »für die Vielen« (26,28) ist der Grund für die Zuwendung des Heils auch zu den Völkern nach seiner Auferstehung (10). In seinen Textauslegungen geht K. diesen Zusammenhängen immer wieder nach. Der christologische Aspekt rückt allerdings gelegentlich mehr ins Zentrum, als es der matthäische Text nahelegt. Im Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl (22,1-14) z. B. sieht K. in dem »Sohn« den zu Gott erhöhten Gottessohn Jesus und deutet deswegen das gesamte Gleichnis auf das nachösterliche missionarische Wirken der Jünger, in den Ersteingeladenen sieht er dann die religiöse Führungsschicht, in den »Ersatzgästen« das einfache Volk (341). Doch ist der »Sohn« in diesem Text eher ein stumpfes Motiv, das für den weiteren narrativen Verlauf der Erzählung keine Rolle spielt. Nicht die Erhöhung des Gottessohnes ist der archimedische Punkt des Gleichnisses, sondern die Frage nach einer angemessenen Antwort auf die unverbrüchliche Einladung Gottes angesichts der Situation nach der Zerstörung Jerusalems (22,7). In der Auslegung der Gleichnisse insgesamt irritiert angesichts des sonstigen reflektierten Umgangs mit dem biblischen Text ein recht statischer, manchmal ans Allegorisierende grenzender Umgang mit Metaphern. Im Gleichnis vom »Schalksknecht« (18,23-35) z. B. sieht K. im König Gott, im Knecht einen begnadigten Sünder und in den Mitknechten Glieder der Gemeinde (293-295), im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (20,1-16) ist der Weinbergbesitzer Gott, die Lohnauszahlung der endgerichtliche Empfang des Heils, der Denar der Empfang des ewigen Lebens und die unterschiedlich lange Arbeitenden sind »Frühberufene und Spätberufene« (306-311-- ähnlich auch in den Auslegungen zu 21,33-46 und 22,1-14). Der Matthäuskommentar K.s zeichnet insgesamt ein weithin überzeugendes Bild der matthäischen Gemeinde in ihrer Konfliktsituation mit anderen jüdischen Gruppen bzw. Autoritäten, insbesondere den Pharisäern, die sich »im Rahmen eines innerjüdischen Differenzierungsprozesses« (19) abspielt. Für theologisch ausgebildete Leserinnen und Leser bietet das Werk fundierte Textinterpretationen und ist durch die zahlreichen Verweise ein äußerst wertvolles Hilfsmittel und eine wahre Fundgrube. Seinen Platz in der Reihe der wichtigen deutschsprachigen Kommentare zum Matthäusevangelium hat dieses Buch schon jetzt gefunden. (rez. von Olaf Rölver) Bruno Kern Theologie der Befreiung UTB S, 2013, 144 Seiten, €[D] 12,99/ SFr 18,70 ISBN 978-3-8252-4027-1 Die Theologie der Befreiung ist einer der wirkmächtigsten Ansätze systematischer Theologie aus jüngerer Zeit. Die Kenntnis von Geschichte, Methode und Hauptinhalten ist im Theologiestudium beider großer Konfessionen Grundvoraussetzung. Innerhalb des theologischen Diskurses wurden zentrale Gedanken der Theologie der Befreiung von vielen anderen Ansätzen systematischer Theologie rezipiert, etwa von der „Politischen Theologie“ (J. Moltmann, J.B. Metz), der Feministischen Theologie u.ä. Der Band fasst die Grundinformationen zu dieser wichtigen theologischen Strömung zusammen und erläutert sowohl die theologischen Grundlagen als auch die Auswirkungen in der Kultur und Kirche der Gegenwart. Die „Hinwendung zu den Armen“ im Christentum wird so greifbar und verständlich. Glossar und Chronologie vervollständigen den Überblicksband. Zeitschrift für Neues Testament_36 typoscript [AK] - 09.11.2015 - Seite 79 - 4. Korrektur Narr Francke Attempto Verlag GmbH+Co. KG • Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen Tel. +49 (07071) 9797-0 • Fax +49 (07071) 97 97-11 • info@francke.de • www.francke.de Stand: Juli 2015 · Änderungen und Irrtümer vorbehalten! „Wie sollen Christen mit Besitz umgehen? Wie können Reiche zur christlichen Gemeinde gehören? “ - Im Lukasevangelium und besonders im lukanischen Sondergut finden sich zu diesen Fragen divergierende Aussagen. Die vorliegende Studie deutet dies als Indiz für einen kontrovers geführten Diskurs um das Thema Armut und Reichtum/ Umgang mit materiellen Gütern. Ihr liegt nicht daran, ein lukanisches Konzept zu erschließen, sondern die Geschichte eines Diskurses zu rekonstruieren. Die Diskursanalyse interpretiert die einschlägigen Texte als Diskursstrang in einem ethischen Diskurs. Er musste geführt werden, da sich die Frage des Umgangs mit materiellen Gütern als unumgängliche ethische Frage für christliches Leben darstellte. Antworten wurden in der Jesusüberlieferung gesucht und gefunden. Das lukanische Sondergut fand neben den anderen Diskurssträngen Mk und Q den Weg ins Lukasevangelium. Im Schlussteil der Untersuchung wird gezeigt, wie Lukas in seinem Evangelium diese drei konkurrierenden Diskursstränge zum Thema Armut und Reichtum/ Umgang mit materiellen Gütern ordnete. Helga Kramer Lukas als Ordner des frühchristlichen Diskurses um „Armut und Reichtum“ und den „Umgang mit materiellen Gütern“ Eine überlieferungsgeschichtliche und diskurskritische Untersuchung zur Besitzethik des Lukasevangeliums unter besonderer Berücksichtigung des lukanischen Sonderguts NET NEUTESTAMENTLICHE ENTWÜRFE ZUR THEOLOGIE 21 2015, 380 Seiten €[D] 68,00 ISBN 978-3-7720-8569-7 -